MARTIN HENGEL
Zur urchristlichen Gechichtsschreibung
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CALWER VERLAG STUTTGART
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MARTIN HENGEL
Zur urchristlichen Gechichtsschreibung
(§§{J
~
CALWER VERLAG STUTTGART
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Hengel, Martin: Zur urchristlichen Geschichtsschreibung/Martin Bengel. 1. Aufl.- Stuttgart: Calwer Verlag, 1979. (Calwer Paperback) ISBN 3-7668-0615-7
ISBN 3-7668-0615-7 © 1979 by Calwer Verlag Stuttgart. Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlags. Einband: M.Muraro, Ludwigsburg Satz und Druck: Offizin Chr.Scheufele, Stuttgart
Friedrich Lang dem Tübinger Kollegen zum 65. Geburtstag in Dankbarkeit gewidmet
Inhaltsübersieh t
Zeittafel
8
Vorwort
9
I: Antike und urchristliche Geschichtsschreibung 1. Kapitel: Erwägungen zu den Quellen der urchristlichen Geschichte im Rahmen der antiken Geschichtsschreibung und Biographie. . . ..
11
2. Kapitel: Die Apostelgeschichte als Geschichtsquelle .............
36
3. Kapitel: Die urchristlichen Geschichtswerke als Quellen zu einer Geschichte des Urchristentums und die Einheit von Kerygma und Geschichtserzählung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
39
4. Kapitel: Zur historisch-kritischen Methode .... .. ...... ..... . ...
47
5. Kapitel: Unzeitgemäße Gedanken zu Lukas als theologischem Geschichtsschreiber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..
54
II: Die entscheidende Epoche der urchristlichen Geschichte: Der Weg zur universalen Mission 6. Kapitel: Die Hellenisten und ihre Vertreibung aus Jerusalem . . . . ..
63
7. Kapitel: Die Berufung des Paulus .............................
70
8. Kapitel:PetrusunddieHeidenmission .........................
79
9. Kapitel: Der entscheidende Durchbruch in Antiochien ...........
84
10. Kapitel: Das sogenannte »Apostelkonzil « und seine Folgen ... . . ..
93
II1: Anhang: Historische Methoden und theologische Auslegung des Neuen Testaments (Thesen) ............................... 107 Literaturangaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 114
7
Zeittafel Tiberius 14-37 n. Chr.
. Auftreten Johannes des Täufers 27/28 n.Chr. Tod Jesu Passafest 30 n. Chr.
Aretas IV., König von Nabatäa 9 v.Chr.-39 n.Chr.
Verfolgung der »Hellenisten«, Hinrichtung des Stephanus ca. 31/33 n. Chr.
Kaiphas, jüdischer Hoherpriester 18-37 n. Chr.
Bekehrung des Paulus ca.32/34 n.Chr.
Pontius Pilatus, Präfekt von Judäa 26-36/37 n. Chr.
Erster Besuch des Paulus in Jerusalem ca. 34/36 n. Chr. Beginn der Heidenmission in Antiochien ca.34/38 n.Chr.
Caligula März 37-Januar 41 n. Chr. Claudius 41-54 n. Chr. Herodes Agrippa 1., König über ganz Palästina 41-44 n. Chr. Hungersnot in Palästina ca. 47-49 n. Chr.
Martyrium des Zebedaiden Jakobus, Petrus verläßt Jerusalem ca.43 I 44 n. Chr.
Vertreibung der Juden aus Rom (Claudiusedikt) 49 n. Chr.
»Apostelkonzil« (Jakobus an der Spitze der Urgemeinde), Zusammenstoß zwischen Petrus und Paulus in Antiochien ca. 48 n. Chr.
Gallio, Prokonsul von Achaia Mai 51-April 52 n.Chr.
Paulus in Korinth Winter 49/50-Sommer 51 n. Chr. Paulus in Ephesus ca. 52/53-55/56 n. Chr.
Nero 54-68 n.Chr.
Zweiter Aufenthalt des Paulus in Korinth (Römerbrief) ca. Winter 55 I 56 oder 56/57 n.Chr.
Felix, Prokurator von Judäa 52-58 (?) n. Chr.
Verhaftung des Paulus in Jerusalem Pfingsten 56 oder 57 n. Chr.
Festus, Prokurator von Judäa 58(?)-62 n.Chr.
Gefangenschaft in Caesarea ca. 56-58 oder 57-59 n. Chr. Reise nach Rom Winter 58 I 59 oder 59/60n.Chr.
Albinus, Prokurator von Judäa 62-64 n. Chr.
Martyrium des Herrnbruders Jakobus 62 n.Chr.
Neronische Christenverfolgung in Rom 64 n. Chr.
Martyrium des Petrus (und Paulus?)
Ausbruch des Jüdischen Krieges 66 n.Chr.
Flucht der J erusalemer Gemeinde nach Pella
VORWORT
Dieses Bändchen geht zurück auf ein Seminar, das ich im Wintersemester 1974/75 in Tübingen hielt, und auf die Vorbereitung eines Referats, das bei der Arbeitstagung des Evangelisch-Katholischen Kommentars in Zürich im März 1975 diskutiert wurde. Eine Zusammenfassung der Kapitel 6-9 konnte ich wenig später in King's College, London, und an den Universitäten in Bangor und Oxford vortragen. Der Text wurde in der Zwischenzeit mehrfach überarbeitet und ist langsam weiter gewachsen. Die in dem Band enthaltenen zwei Studien erheben in keiner Weise den Anspruch, die umstrittene Problematik ihrer jeweiligen Themen voll zu erfassen, noch auch die Überfülle der dazu entstandenen Sekundärliteratur verarbeitet zu haben. Der Verfasser ist sich ihrer Bruchstückhaftigkeit und Unvollkommenheit wohl bewußt. Sie wollen nicht mehr als Anregungen - beziehungsweise unter Umständen auch »Anstöße« - zum weiteren Nachdenken und Studium geben, gerade dort, wo sie von der heute vorherrschenden Meinung in der neutestamentlichen Disziplin abweichen. Als Ergänzung sind in einem Anhang Thesen zum Problem der historischen Methoden und der theologischen Auslegung des Neuen Testaments angefügt, die in Kerygma und Dogma 19 (1973) S. 85-90 erschienen sind. Es geht mir vor allem darum, auf der einen Seite die heute in der deutschen Forschung mancherorts verbreitete radikale historische Skepsis, die sich freilich nicht selten mit phantastischen Entwürfen verbinden konnte und die im Grunde einen Rückzug aus einer ernstzunehmenden historischen Forschung überhaupt andeutet, in Frage zu stellen, auf der anderen Seite jedoch nicht weniger nachdrücklich der primitiven Verketzerung der historischen - und d. h. immer zugleich kritischen - Methoden entgegenzutreten, ohne die es weder ein historisches noch theologisches Verstehen des Neuen Testaments mehr geben kann. Es ist eigenartig, daß in dieser, wie auch immer begründeten »Flucht aus der Geschichte« sich die Extreme zuweilen zu berühren scheinen. Zugleich möchte diese historisch-theologische Skizze dazu anregen, wieder mehr, als es in Deutschland derzeit geschieht, die gesamte antike Umwelt des Urchristentums zu dessen besserem Verständnis heranzuziehen. Es ist ja bezeichnend, daß seit dem 2. Weltkrieg zwar das Interesse am antiken Judentum - nicht zuletzt aufgrund der immer noch nicht ausgeschöpften 9
Funde von Qumran - in meiner eigenen neutestamentlichen Disziplin sehr gewachsen ist, daß dort jedoch die Kenntnis der hellenistisch-römischen Welt - wenn man von der im neutestamentlichen Bereich steril gewordenen Gnosis-Debatte absieht - eher zurückging. Dies ist um so bedauerlicher, als die deutsche neutestamentliche Forschung, wie die Namen Wilhelm Bousset, Adolf Deißmann, Hans Windisch, Hans Lietzmann, Martin Dibelius und Walter Bauer zeigen, auf diesem Gebiet einstmals Einzigartiges geleistet hat. Gerade das Neue, das Jesus und das Urchristentum brachten, können wir nur erkennen, wenn wir zugleich auch das Gemeinsame sehen, das sie mit der antiken Welt verbindet. Heute, da historisches Wissen und Interesse leider auch bei Theologen mehr und mehr schwinden, und vor allem die Kenntnis des antiken Erbes, des alttestamentlich-jüdischen wie des griechisch-römischen, sich selbst bei den sogenannten »Gebildeten« allmählich verflüchtigt, sollten wir uns als Christen doppelt um ein tieferes geschichtliches Verstehen dessen, was damals vor über 1900 Jahren geschah, bemühen; denn ohne dieses geschichtliche Verstehen wird auch unser theologisches Denken allzuleicht unfruchtbar. Der paulinische Satz: »Denn wir können nichts wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit« (2. Kor 13,8) gilt auch für die -letztlich aus Gottes Hand kommende - historische Wahrheit, die unser ständiges Bemühen und unsere Anerkennung fordert, auch dort, wo sie uns unbequem erscheint. Für das mehrfache Schreiben des Manuskripts danke ich Fräulein Monika Merkle, für seine Durchsicht meinem ehemaligen Assistenten Pfarrer Helmut Kienle. Er hat mit Herrn Fritz Herrenbrück auch das Literaturverzeichnis zusammengestellt. Beim Lesen der Korrekturen unterstützten mich die Herren stud. theol. Harald Storz und Dr. Hermann Lichtenberger. Herr Dr. Christi an Dietzfelbinger hatte die Freundlichkeit, das ganze Manuskript noch einmal mit kritischen Augen durchzusehen. Auch ihm sei ganz herzlich für alle Anregungen gedankt. Herrn Dr. Gerhard Hennig, dem Herausgeber der Calwer Paperbacks, danke ich für wertvolle Hinweise und die Aufnahme in die Reihe. Tübingen, Oktober 1978
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Martin Hengel
I: ANTIKE UND URCHRISTLICHE G ESCHICHTSSCHREIB UNG
1. Kapitel: Erwägungen zu den Quellen der urchristlichen Geschichte im Rahmen der antiken Geschichtsschreibung und Biographie 1.1 Die Grundaporie einer Geschichte des frühen Christentums liegt in der Bruchstückhaftigkeit und Zufälligkeit der uns erhaltenen Quellen. Diese Situation erschwert jedoch nicht nur die Erforschung der Ursprünge unseres Glaubens, sondern der antiken Geschichte überhaupt, und zwar sowohl im politischen wie im geistig-religiösen Bereich. Im Gegensatz zur modernen Geschichtsschreibung ist hier nicht Überfluß, sondern chronischer Mangel an Quellenmaterial das besondere Ärgernis für den Historiker. Man kann nur selten aus dem vollen schöpfen und muß oft - wie der Kriminalist - mit sehr spärlichen Indizien arbeiten, die alle aufs sorgfältigste - gewissermaßen mit der Lupe - zu prüfen sind, die aber zugleich auch nicht überinterpretiert werden dürfen. Das rechte Maß ist hier nicht immer ganz leicht zu finden. Mit anderen Worten: Das Fehlen oder aber die Lückenhaftigkeit der Quellen beeinträchtigt unsere Kenntnis von weiten Teilen der antiken Welt. Was wir wissen, ist dabei weithin von oft sonderbaren Zufällen abhängig. So sind wir z. B. über die Ereignisse in den hellenistischen Staaten nach Alexander d. Gr. im 3. und 2.Jh. v.Chr. oder über das römische Prinzip at im 2. und 3.Jh. n. Chr. ebenso fragmentarisch und im ganzen unzureichend unterrichtet wie über die Entwicklung der zeitgenössischen philosophischen Schulen, etwa der nachplatonischen Akademie, der frühen Stoa oder des sogenannten mittleren Platonismus im 1. und 2. Jh. n. Chr. Noch lückenhafter ist unser Wissen, wenn es um das Schicksal einzelner Gebiete und Provinzen geht. Wie herzlich wenig wissen wir im Grunde über Syrien im 1. Jh. v. Chr. und n. Chr., vor allem auch über das religiöse Milieu, das damals dort herrschte, oder - was dem Neutestamentler noch näher liegtüber Judäa unter den römischen Präfekten 6-41 n. Chr. Noch geringer sind unsere Kenntnisse über die inzwischen selbständig gewordene römische Provinz Judäa in der Zeit zwischen dem Jüdischen Krieg 66-74 n. Chr. und dem Bar-Kochba-Aufstand 132-135 n. Chr., den die profanen antiken Quellen 11
nur ganz am Rande erwähnen. Wir besitzen aus jener Zeit zwar relativ zahlreiche talmudische Nachrichten, aber sie sind völlig zersplittert, an einem historischen Zusammenhang nicht interessiert und zum großen Teil ein kaum entwirrbares Knäuel von Legenden und geschichtlichen Anekdoten. Man kann hier nur sehr mühsam und vorsichtig versuchen, einzelne Ereignisse zu rekonstruieren. Das hier Gesagte gilt auch von anderen Gebieten oder Orten. Man lese nur einmal die einschlägigen Kapitel in der großen Geschichte Antiochiens von Downey nach, um zu sehen, wie sehr unser Wissen über die Schicksale der syrischen Metropole im l.Jh. n.Chr. aus Fragmenten und Vermutungen besteht. Zu einer durchgehenden, auch nur einigermaßen lükkenlosen Geschichte jener Polis, die zum ersten großstädtischen Zentrum des Christentums wurde, reichen die erhaltenen Nachrichten bei weitem nicht aus. Was von Syrien gilt, kann man erst recht auf das kleine Palästina übertragen. Ein schönes Beispiel bietet dafür der schon erwähnte Bar Kochba-Aufstand. Erst durch die zahlreichen neuen Funde aus den Höhlen der Wüste Juda erhalten wir ein lebendigeres Bild von jener verzweifelten Erhebung unter der Anführung des pseudomessianischen »Sternensohnes«, die in einem totalen Vernichtungskrieg endete und die Juden für rund 1700 Jahre aus Judäa vertrieb. Jetzt werden plötzlich auch Einzelschicksale sichtbar, wie das der Jüdin Babatha und ihrer Familie. Aber das bleibt leider die Ausnahme. Gar zu oft sind uns nur noch Spuren erhalten geblieben, Namen von Personen ohne konkrete Inhalte, isolierte Ereignisse, sporadische Nachrichten oder dunkle Legenden - etwa aus der talmudischen Literatur -, bis dann plötzlich größere Fragmente auftauchen, die auf einzelnen, glücklichen Funden beruhen. Ständig stoßen wir auf Lücken und weiße Flecken, stehen quellenmäßig auf ungesichertem Boden und müssen uns mit mehr oder weniger hypothetischen Rekonstruktionen begnügen. Das alles gilt innerhalb der Alten Geschichte im allgemeinen und erst recht für die Geschichte des frühen Christentums im besonderen, vor allem während seiner ersten 150 Jahre. Dem Erkenntnisdrang des Gelehrten sind hier, ob er will oder nicht, enge Grenzen gesetzt. Dies mag für uns ein Ärgernis bedeuten, wir müssen es jedoch um der Wahrheit willen anerkennen. Daran ändert auch die Tatsache nicht allzuviel, daß unsere Kenntnisse seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts durch eine Fülle neuer Entdeckungen ständig erweitert wurden, denn ihr bruchstückhafter Charakter blieb erhalten. Ein wirklich geschlossenes Bild der einzelnen Ereignisse und Epochen der Alten Welt läßt sich auf weite Strecken kaum mehr wiedergewinnen, und das Urchristentum macht hier keine Ausnahme. Denn neue Funde, die alte Fragen zu beantworten scheinen, stellen immer zugleich vor neue Probleme und fordern zu neuen Hypothesen heraus. So sind z. B. gerade die religionsgeschichtlich interessantesten messianischen Texte aus Qumran nur ganz fragmentarisch erhalten.
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Unser Wissen stützt sich hier im Grunde auf das, was Ratten und Würmer von den Rollen in den Höhlen der judäischen Wüste zufällig übrig ließen. Jedes Fragment erweitert zwar unser Wissen, stellt uns aber vor noch mehr neue Rätsel. Bei den literarisch oder historisch bedeutsamen Papyri Ägyptens oder bei den Inschriften ist die Lage häufig ähnlich. Wie oft bricht ein Textfragment gerade an der wichtigsten Stelle ab! Eben darum ist dem Historiker zwar nicht Skepsis - sie wäre hier nur eine Form von allzu bequemer Resignation -, wohl aber selbstkritische Bescheidenheit geboten. Er sollte die Grenzen seiner Erkenntnismöglichkeiten sehen und zugleich innerhalb dieser Grenzen angestrengt und sorgfältig an dem Versuch arbeiten, sie Schritt für Schritt zu erweitern, wobei er deutlich zwischen den verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit seiner Erkenntnis differenzieren muß. 1.2 Wir sahen schon, daß unser Mangel an Quellen teilweise recht zufällige und äußerlich erscheinende Gründe besitzt. Dazu gehört auch die ganze Problematik des antiken Buchwesens und der aberlieferung antiker Texte. Das Schreiben und Vervielfältigen von Büchern war ein mühsameres Geschäft als heute. Schon auf Grund der technischen Schwierigkeiten war ein Autor damals in der Regel zu strenger Beschränkung seines Stoffes gezwungen. Um mit dem Umfang zurechtzukommen, mußte man sein Vorhaben im voraus sorgfältig disponieren, denn die Buchrolle aus Papyrus enthielt nur relativ wenig Raum und war, gemessen am Arbeitslohn des größten Teiles der Bevölkerung, recht teuer. Eine größere Anzahl von Büchern, d. h. wirklich Bibliotheken, konnten sich im Grunde nur reiche Leute leisten. So ist es z. B. sehr fraglich, ob die frühchristlichen Gemeinden durchweg sämtliche Texte des Alten Testamentes besaßen; aber auch den Zugang zu den Schriften, die gegen Ende des 2.Jh.s zum Neutestamentlichen Kanon zusammengefaßt wurden, darf man in der frühen Zeit noch nicht überall voraussetzen. Aus diesem Grund verwendete man gerne Sammlungen von Testimonien und Exzerpte oder zitierte einfach aus dem - damals noch sehr guten - Gedächtnis. Lukas scheint z. B. die Paulusbriefe nicht gekannt zu haben (s. u. S.60), auch Papias und sogar Justin nehmen nicht auf sie Bezug. Dagegen erschienen die Briefe des Apostels um 180 in lateinischer Übersetzung in der afrikanischen Gemeinde von Scih und wurden dort von den römischen Behörden konfisziert. In der Quelle, die uns davon berichtet, fehlt dagegen ein eindeutiger Hinweis auf die Evangelien. Das Problem setzt sich fort bei der Abschrift und Weitergabe überkommener Geschichtswerke, wo sich der Zufall, äußere Schwierigkeiten der Überlieferung und inhaltliche Gründe bei der Zerstörung und Reduzierung von Quellen die Hand reichten. Kaum eines der großen Geschichtswerke der hellenistischen und römischen Zeit blieb unverkürzt erhalten. Beträchtliche Textverluste und verkürzende Zusammenfassungen sind hier die Regel. Ich nenne 13
nur die drei wichtigsten griechischen Historiker der hellenistisch-römischen Zeit, zunächst Polybios und Diodor, die jeweils eine Universalgeschichte von 40 Bänden schrieben, der erste als Zeitgenosse des jüngeren Scipio im 2., der zweite als Zeitgenosse Cäsars im 1. Jh. v. Chr., weiter Dio Cassius, der unter Septimius Severus an der Wende vom 2. zum 3.Jh. n. Chr. wirkte und dessen römische Geschichte 80 Bücher umfaßte. Von Polybios sind uns nur rund ein Drittel seines Werks, davon die ersten fünf Bücher ganz, von Diodor 16 Bücher und recht fragmentarische Exzerpte erhalten, bei Dio Cassius besitzen wir Buch 36-60, Reste aus 78 und 79 und stark verkürzte Zusammenfassungen aus byzantinischer Zeit. Die 144bändige Weltgeschichte des Nikolaos von Damaskus, eines Freundes des Königs Herodes, der sein Werk in J erusalern verfaßte, ging - wie die meisten antiken Geschichtswerke - vermutlich wegen ihres übergroßen Umfangs ganz verloren. Aber auch kleinere Werke blieben nicht unversehrt. Von den für unsere Kenntnis der römischen Geschichte des 1. Jh.s n. Chr. grundlegenden 16 Büchern der Annalen des Tacitus fehlen die für die neutestamentliche Zeitgeschichte bedeutsamen Bücher 7-10, die über die Jahre 37-47 berichteten und auch die Lage in Judäa unter Tiberius und Caligula behandelten, von den 16 Büchern seiner Historien über die Zeit vom Tode Neros bis Nerva haben wir nur noch Buch 1-4 und den Anfang von 5 mit seinem berüchtigten antisemitischen Bericht über die Juden und die Eroberung Jerusalems. Gegenüber den großen Weltgeschichten machen die 20 Bücher der »Jüdischen Altertümer« des Josephus, unsere Hauptquelle für die jüdische Geschichte nach dem Exil und bis zum Beginn des Jüdischen Krieges 66 n. Chr., in denen der aus Jerusalem stammende Priester und Historiker das große Werk des Nikolaos von Damaskus fleißig ausschrieb, einen durchaus bescheidenen Eindruck. Dasselbe gilt erst recht für die sieben Bücher seines Erstlingswerkes, des »Jüdischen Krieges«. Daß gerade die Werke des Josephus, anders als die seines jüdischen Konkurrenten und Gegners, Justus von Tiberias, erhalten blieben, ist ein besonderes Geschenk, dem wir den allergrößten Teil unseres Wissens über die jüdische Geschichte in hellenistischer Zeit seit der Eroberung Palästinas durch Alexander d. Großen verdanken. Eine ganze Reihe von Namen und Erzählungen aus den Evangelien und der Apostelgeschichte werden' erst durch den ausführlicheren Bericht des jüdischen Historikers richtig verständlich. Vermutlich wurden seine Werke wegen diesen Beziehungen zur frühchristlichen Geschichtsschreibung weiter überliefert. Das Werk des Justus, der neben einer Geschichte des jüdischen Krieges auch eine Chronik der jüdischen Könige verfaßt haben soll, ging dagegen bis auf ganz wenige Anspielungen verloren. Der Patriarch Photius (ca. 820-886 n. Chr.) ließ sich noch daraus vorlesen, gab ihm aber eine ganz schlechte Note, da darin nichts »von der Erscheinung Christi, seiner Geschichte und seinen Wundem« berichtet wurde, Seither ist es verschollen. 14
1.3 Auch die umfangmäßige Beschränkung der vier Evangelien oder der Apostelgeschichte ist letztlich durch die bewußte Begrenzung auf eine Buchrolle begründet. Die urchristlichen Gemeinden waren arm und verfügten über keine großen Bibliotheken; auch war für die gottesdienstliche Lesung ein zu großer Umfang hinderlich. Man mußte sich im Inhalt auf das Wichtigste beschränken und anderes, weniger Wesentliches weglassen. Die Unhandlichkeit der Rolle im gottesdienstlichen Gebrauch in Verbindung mit der schroffen Antithese zur jüdischen Muttergemeinde führten dann freilich rasch - vermutlich schon zu Beginn des 2. Jh.s - dazu, daß man von der Rolle zur heutigen Buchform, dem Codex überging, der aus dem Notizbuch entstanden war und - wie schon der Dichter Martial betonte - sehr viel praktischer war als die traditionelle, konservativere Papyrusrolle. Der Zwang zur räumlichen Beschränkung auf eine Rolle war wohl die Hauptursache, die sowohl Matthäus wie Lukas veranlaßten, ihre Markusvorlage teilweise erheblichzu kürzen. Matthäus tat es, indem er die Wundergeschichten des Markus radikal zusammenstrich, Lukas, indem er Dubletten und einen ganzen Teil des zweiten Evangeliums, Mk 6,45 - 8, 10, einfach beiseite ließ. Die Selbstbeschränkung der urchristlichen Geschichtsschreiber hatte so vor allem äußere Gründe und war nicht etwa in dem Mangel an Jesustradition oder einem grundsätzlichen theologischen Purismus begründet. Eines ihrer Hauptproblerne war vielmehr, aus der breiteren, noch reichlich fließenden Tradition die ihnen zusagende Auswahl zu treffen. Das Zeugnis von Lukas 1,1 und Joh 20,30 ist darum mehr als bloße, übertreibende literarische Konvention. Der 4. Evangelist hätte sicher noch »viele andere Zeichen«, die »Jesus vor seinen Jüngern tat« erzählen können. Papias brachte es um 130 n. Chr. in seiner »Auslegung der Herrenworte« (Euseb h.e. 3,39,1) immerhin auf fünf Bücher, wobei er, wie aus den erhaltenen Fragmenten zu schließen ist, freilich die Wildwüchse der Tradition und gute Überlieferung bunt durcheinander mischte. Im Grunde war es schon ein Bruch mit dem Gesetz der einen Buchrolle und der erste Schritt zu einem Geschichtswerk in mehreren Büchern, daß Lukas an sein »erstes Buch« (vgl. Apg 1,1: protos logos) ein zweites anschloß, das die im ersten begonnene Geschichte weiterführte. Er wird seinen Anstoß freilich dazu nicht aus den umfangreichen Geschichtswerken der hellenistisch-römischen Welt mit ihren sehr viel zahlreicheren Büchern empfangen haben, sondern aus der alttestamentlichen Geschichtsschreibung, wo auf den Pentateuch Moses die »prophetischen« Geschichtsbücher Josuas, der Richter und Samue1s folgten, die die Geschichte des durch Gottes Offenbarung an Mose begründeten Gottesvolkes fortsetzten (s. u. S. 33 f). Daß die spätere Bearbeitung zum Verlust einer Quellenschrift führte, können wir im Urchristentum bereits bei der Logienquelle beobachten, die von Matthäus und Lukas ausgeschrieben wurde und dann verloren ging. Daß diese Schrift, deren Vorhandensein zum Teil in der Forschung bezweifelt wurde,
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beiden Evangelisten vermutlich in verschiedener Form vorlag, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Es ist ein Glück, daß dem Markusevangelium nicht dasselbe Schicksal widerfuhr; möglicherweise hat die dahinterstehende Autorität des Petrus das Werk des zweiten Evangelisten vor diesem Schicksal bewahrt (s. u. S.47.79). Ein weiterer Quellenverlust wäre wohl eingetreten, wenn die Absicht Tatians, durch seine Evangelienharmonie, das sogenannte Diatessaron, die vier »getrennten« Evangelien zu ersetzen, sich durchgesetzt hätte. Das nach 170 n. Chr. auf Syrisch oder Griechisch entstandene Werk ordnete den synoptischen Stoff in den Aufbau des Johannesevangeliums ein, ließ aber andererseits die offenkundigen Parallelüberlieferungen weg. Nur die Tatsache, daß die vier Evangelien zur Zeit, als Tatian seine Harmonie verfaßte, bereits in der Kirche schon fest verankert waren, verhinderte ihre Verdrängung. In der syrischen Kirche konnte das Diatessaron dagegen lange Zeit eine führende Rolle spielen, wurde dann jedoch durch die kanonischen »getrennten« Evangelien unterdrückt und ist uns in der Ursprache nicht mehr erhalten. Seine Übersetzung in zahlreiche Sprachen ~eigt, wie groß das Bedürfnis nach einer derartigen zusammenfassenden und die Widersprüche der vier Evangelien ausgleichenden Evangelienharm6nie war. Verloren ging außer dem oben erwähnten fünfbändigen Werk des Papias auch die zweite »Kirchengeschichte« nach dem lukanischen Werk, die »historische Apologie« (v. Weizäcker) des Judenchristen Hegesipp in fünf Büchern, die etwa zur selben Zeit wie das Diatessaron entstand und noch Nachrichten aus dem Urchristentum etwa über das Martyrium des Herrenbruders Jakobus und über das Schicksal der Herrenverwandten enthielt (Euseb, h. e. 2,23; 3,20). Das Werk, das unser Wissen über das frühe Christentum in der zweiten Hälfte des 1. und der ersten Hälfte des 2.Jh.s ganz erheblich erweitern könnte, soll noch im 16. und 17.Jh. als Handschrift in griechischen Klöstern vorhanden gewesen sein. Dennoch teilte es das Geschick des allergrößten Teils der aufblühenden christlichen Literatur des 2. Jh.s n. Chr. und ist uns nicht mehr zugänglich. 1.4 Im ganzen gilt so, daß der Verlust an Informationen damit einsetzte, daß schon die antiken Autoren ihren aus der mündlichen Tradition oder aus schriftlichen Vorlagen stammenden Erzählstoff in der Regel notgedrungen stark eingeschränkt haben und sich die Reduktion der Überlieferung auch bei den »Literatur« gewordenen Werken selbst ständig fortsetzte. Deren Verkürzung ging auf das Konto der späteren Verfasser von Zusammenfassungen und der Exzerpisten. Vieles - oder besser das meiste - ging überhaupt verloren, sei es, weil Stil und Inhalt späteren Generationen nicht behagten, sei es auf Grund von zahllosen Zufällen in einer allzu langen Geschichte der Überlieferung. Die einzige uns erhaltene Handschrift des Diognetbriefes (Ende 2. Jh.) verbrannte z. B. bei der Beschießung von Straßburg während der Bela16
gerung von 1870. Inzwischen war dieser - im Altertum und Mittelalter weitgehend unbekannte und Justin dem Märtyrer zugeschriebene - Brief glücklicherweise mehrfach ediert worden, das erste Mal durch den Drucker und Phi1010gen Henri Stephanus 1592. Die jüngsten Handschriftenfunde auf dem Sinai lassen ermessen, wie unendlich viel an frühchristlicher Literatur in den Klöstern des Orients zerstört oder vergessen wurde und verloren ging. D.h. bis ins 19. Jh. hinein lief parallel zur Weitergabe der Tradition gleichzeitig ein ständiger Traditionsverlust. Dieser beginnt im Grunde schon mit der ersten Niederschrift; denn bereits bei den urchristlichen und frühchristlichen Verfassern wird man damit zu rechnen haben, daß sie von Anfang an ihren Erzählstoff sehr viel häufiger reduziert als novellistisch ausgeweitet haben. Man sollte daher auch bei den Evangelien und der Apostelgeschichte nicht einseitig die erzählerische Expansion des Stoffes in den Vordergrund stellen, sondern stärker von der Reduktion und Zusammendrängung der ursprünglich reicheren Tradition ausgehen. Die breite, ausführliche Erzählung, deren Umfang man je nach Bedarf gestalten konnte, mag mündlich die Regel gewesen sein; sobald sie Schriftform erhielt, wurde sie meist gekürzt; wo wir ihr - etwa bei Markus oder in der Apg - dennoch begegnen, hat sie beispielhaften Inhalt und vorbildlichen Charakter und ist die Ausnahme. Dies ließe sich an der Behandlung der rabbinischen Anekdoten in der Mischna und den Talmudim, an den Evangelien, aber auch sonst in der antiken Geschichtsschreibung - etwa bei Josephus - vielfach nachweisen. Ähnliches gilt vom Lehrvortrag. Die Vorträge des Stoikers Epiktet faßte sein Lieblingsschüler Arrian, in gutes Attisch umstilisiert, in acht Büchern zusammen. Die Hauptgedanken daraus fanden jedoch noch einmal ihren Niederschlag in einem »Handbüchlein«. Der »originale« Epiktet ist uns dabei so wenig erhalten wie der ursprüngliche Sokrates oder Jesus. Bei den Paulusbriefen, etwa im Römerbrief, aber auch in bestimmten Passagen der beiden Korintherbriefe, dürfen wir annehmen, daß sie knappe Zusammenfassungen von Lehrvorträgen enthalten, gewissermaßen eine äußerst komprimierte Quintessenz von dem, was Paulus zwei bis drei Jahre lang in der »Schule des Tyrannus« in Ephesus öffentlich gelehrt hat (Apg 19,9), freilich eingeschränkt auf die Situation der Briefempfänger. Ein schönes Beispiel der bewußten literarischen Verkürzung eines historischen Werkes bietet auch die Geschichte der hellenistischen Reform in J erusalem und des siegreichen Kampfes von Judas Makkabäus aus der Hand des Diasporajuden J ason von Kyrene in fünf Büchern, das ein unbekannter Epitomator im l.Jh. v.Chr. zu einem Band, dem sogenannten 2.Makkabäerbuch, zusammenfaßte, um dem Leser durch leichtere Lektüre bessere Unterhaltung zu bieten, denn »Wein mit Wasser vermischt ist angenehmer und durchaus wohlschmeckend. So ist die wohlgesetzte Schilderung ein Ohrenschmaus für die, die den zusammenfassenden Bericht zu hören bekommen« 17
(2.Makk 15,39). Einem ähnlichen Schicksal der verkürzenden Konzentration unterlagen auch die Werke der römischen Juristen, die zur Zeit Justinians in den Digesten zusammengepreßt wurden. Wie rigoros es dabei zuging, zeigt die Tatsache, daß damals 2000 »Bücher« mit drei Millionen Zeilen zu 50 »Büchern« mit 150000 Zeilen verarbeitet worden sein sollen. Die echter Geschichtsschreibung widersprechende ungebundene,freie »Lust zu fabulieren« finden wir dagegen im Roman oder im frühchristlichen Bereich in den romanähnlichen Apostelakten, aber gerade der Roman galt in der Alten Welt- im Gegensatz zur heutigen Auffassung- als ein literarisches Genus minderen Ranges, als Unterhaltungsliteratur für Halbgebildete. Ein Schriftsteller, der etwas auf sich hielt, befaßte sich nicht mit ihm. Man kann über die »literarische Gattung« der Evangelien und der Apostelgeschichte des Lukas vielerlei Vermutungen anstellen. Religiöse Romane wollten sie gewiß nicht sein. Sie erheben - freilich im antiken Rahmen und nicht im Sinne moderner Maßstäbe - den Anspruch, nicht schriftstellerische Fiktionen, sondern Berichte über wirklich Geschehenes zu bringen. Man wollte nicht einfach unter Verzicht auf die Wahrheit erbaulich unterhalten. Daß man das Problem der frommen Fiktion sehr wohl kannte und zumindest zum Teil kritisch beurteilte, zeigt sich daran, daß nach dem Zeugnis Tertullians (de bapt.17) der Presbyter, der in der 2. Hälfte des 2. Jh.s in Kleinasien die Taten des Paulus und der Thekla »niederschrieb als könnte er dem Ansehen des Paulus etwas von dem seinigen hinzufügen, seines Amtes enthoben (wurde), nachdem er überführt war und eingestanden hatte, daß er das aus Liebe zu Paulus getan habe«. Wie weit die Berichte der urchristlichen Erzähler mit der geschichtlichen Wirklichkeit zu tun haben, hat der modeme Historiker immer neu kritisch zu prüfen. Er darf die Frage nach der Geschichtlichkeit des Erzählten weder kurzschlüssig und voreilig bejahen noch grundsätzlich verneinen. Selbst wunderhafte Legenden können sehr wohl einen wertvollen geschichtlichen Kern besitzen und angebliche »Augenzeugenberichte« und Urkunden Fälschungen sein. Mirakulöse Berichte tauchen auch in der »profanen« antiken Geschichtsschreibung immer wieder auf, denn das Wirklichkeitsverständnis des antiken Erzählers, der mit seinem Bericht häufig nicht nur erzählte, sondern auch interpretierte, war ein wesentlich anderes als das unsere. Auch wenn wir ihre Historizität bezweifeln, haben wir doch nach ihrem geschichtlichen Kern bzw. nach dem Anlaß ihrer Entstehung zu fragen. 1.5 Der das Geschäft des heutigen Auslegers und Historikers so erschwerende Mangel an antiken Quellen hat auch innere Gründe, die mit der methodischen Einseitigkeit der alten Erzähler und Geschichtsschreiber zusammenhängen, die in ihrer Methode vom modemen Betrachter durch einen Graben 18
getrennt sind. Typisch ist für ihr Vorgehen etwa, daß sich ihre Berichte zumeist auf das Geschehen in der Welt der Großen und auf relativ wenige Zentren und Brennpunkte konzentrieren. Es ging den Historiographen des Altertums - zumindest in den uns erhaltenen Werken - um die ihnen wesentlich erscheinenden bewegenden Ereignisse, um die führenden Gestalten, um herausgehobene charakteristische Zeugnisse. Sie stellten nur das dar, was sie und ihre Leser, auf deren Gunst sie angewiesen waren und die sie belehren, ermahnen und - auch - unterhalten wollten, interessierte. Den Überfluß an vielseitiger Information, der für uns selbstverständlich ist, gab es in der Antike noch nicht. Nachrichten waren noch Mangelware. Einen Regelkanon für den angehenden Historiker verfaßte Lukian von Samosata, der Voltaire des Altertums, in seiner Streit- und Lehrschrift »Wie man Geschichte schreiben soll«. Darin verbietet er zwar dem Historiker, nach seinem eigenen Nutzen und nach der Geneigtheit des Lesers zu schielen, da dies seine Freiheit und Wahrhaftigkeit zerstöre (9.61. 63), aber er verspricht dennoch dem Geschichtsschreiber Erfolg bei dem Leser, wenn er bereits im Vorwort Aufmerksamkeit und Wißbegierde erwecke, »wenn er zeigt, daß er über große, notwendige, vertraute und nützliche Dinge berichten wird« (53). Dagegen sei alles Unwesentliche und Geringe beiseite zu lassen; denn wer seine Freunde mit einem opulenten Mahl bewirte, lasse auch nicht gleichzeitig Salzfisch und Erbsenbrei auftragen (56). Auch unter diesem Gesichtspunkt ergab sich der Zwang zur strengen Beschränkung und Auswahl des Stoffes. Lukian macht diese peinlich genaue Sichtung dem Geschichtsschreiber zur Pflicht. Gegenstand der Historiographie war dabei in der Regel die politische Geschichte, die sich auf die großen Metropolen und Residenzen, die Schilderung von kriegerischen Ereignissen, Unruhen und Schicksalsschlägen konzentrierte. Eine besondere Rolle spielten die Taten und Untaten der Herrscher und Usurpatoren, wobei meist der Erfolg den Maßstab zur Beurteilung abgab; bedeutsam war weiter das Schicksal wichtiger Mitglieder der Oberschicht, einzelner Feldherrn, Politiker und Künstler. Ein gewisses Interesse bestand auch für eingestreute geographische, ethnographische und religiöse Belehrung. Daneben gab es auch historische Monographien, d. h. Spezialgeschichten über ganz beschränkte Themen, einzelne Provinzen, Städte, Völker und Heiligtümer oder auch über »merk-würdige« Begebenheiten; doch sind uns davon meist nur die Titel oder Auszüge und Fragmente durch andere Geschichtswerke erhalten. Die Darstellungsweise des antiken Historikers erforderte so einen bewußten Eklektizismus. Man schätzte typische Episoden und programmhafte Reden, die man relativ frei komponierte; auch auf klare Tendenzen und kräftige Zensuren wollte man keineswegs verzichten. Zwar warnt Lukian (7) davor, Geschichtsschreibung und Lobrede zu verwechseln, aber das Recht, zu preisen und zu tadeln, mußte auch er trotz seiner strengen Regeln zugestehen. Die Zensuren sollten jedoch »sparsam
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und überlegt« zugeteilt werden und wirklich begründet sein (59). All das war freilich leichter gesagt als getan. Wohl kein Geschichtsschreiber der Antike wurde der Forderung Ciceros an den Redner, daß er »jeglichen Verdacht der Gunst oder Feindschaft vermeiden« müsse (de oratore 2,15; 62) oder dem Ideal des Tacitus, daß man »von niemandem mit Vorliebe oder Haß sprechen« dürfe (hist.1,1,4), wirklich gerecht (s. u. S.47f). Was vernachlässigt wurde, weil es nicht interessierte, war das Alltägliche und Selbstverständliche. Die Situation der einfachen Bevölkerung, der Handwe~ker und Sklaven, des städtischen Proletariats und der Bauern und Pächter auf dem flachen Land, kurz all das, was heute unter dem Begriff der »Sozialgeschichte« unser besonderes Interesse erweckt, nachdem es aUzulange im Schatten gestanden hatte, konnte man in der Berichterstattung zumeist beiseite lassen. Auf derartiges kam man bestenfalls im Zusammenhang mit Sklavenaufständen und anderen sozialen Unruhen, mit Hungersnöten und schweren Naturkatastrophen zu sprechen. 1.6 Einen Sonderfall bildete die Biographie, die uns schon in der Antike in einer vielfältigen Ausprägung begegnet. Sie wurde, da sie sich auf das Geschick einer Person konzentrierte, von der eigentlichen Geschichtsschreibung unterschieden und hatte ihre eigenen Gesetze. Man darf in ihr ein typisches Erzeugnis der frühhellenistischen Zeit sehen, jener Epoche, in der das Individuum entdeckt wurde. Die klassische Geschichtsschreibung, etwa eines Thukydides, die an öffentlicher Politik und Kriegsführung interessiert war, hatte noch keinen Sinn dafür. Ihre Wurzeln liegen einmal in der Lobrede auf den Herrscher und Feldherrn, zum andern in der orientalischen Novelle, die schon Herodot verarbeitet hatte, und dann vor allem in der Darstellung des philosophischen Lehrers und seiner Schüler, etwa des Pythagoras oder Sokrates. Eine erste Blüte erreichte sie in der Erzählung der Taten Alexanders. Ein Seitenzweig war die Autobiographie, die vor allem aus dem Reise- und Feldzugsbericht hervorging. Der schon erwähnte Freund des Herodes, Nikolaos von Damaskus, der einen großen Teil seines Lebens in Jerusalem verbrachte, verfaßte neben seinem großen 144bändigen Geschichtswerk nicht nur eine Biographie des Augustus, sondern darüber hinaus eine sehr selbstgefällige Autobiographie. Darin rühmt er sich, Herodes in Rhetorik und Geschichtsschreibung unterrichtet zu haben (FGrHist 90 F 135). Griechische Bildung war um die Zeitenwende auch in Jerusalem zu Hause. Von der modemen Biographie im wissenschaftlichen Sinne war die Antike freilich grundsätzlich geschieden. Auch war ihre Form, schon auf Grund ihrer sehr verschiedenartigen Wurzeln, nicht einheitlich. Sie reichte von der nur leicht gerahmten Sammlung von Anekdoten und Sprüchen, wie sie uns in Lukians Demonax oder in den »Leben und Meinungen berühmter Philosophen« des Diogenes Laertius begegnen, bis hin zur rhetorisch aufgeputzten, romanhaf20
ten Lebensbeschreibung. Auch das romanhafte »Volksbuch«, angereichert durch Fabeln, Anekdoten, Weisheits sprüche und Reiseabenteuer, wie die Vita Aesops, durfte nicht fehlen. Das Ziel der antiken Biographie bestand dabei nicht etwa in der Darstellung der psychologischen, zeitlich scharf umrissenen Entwicklung eines Helden oder der schicksalsbedingten Wandlungen seiner Persönlichkeit, sondern in der Herausarbeitung seinesfestgeprägten Charakters und seines vorherbestimmten Schicksals; man könnte auch sagen: seiner »Arete« und seiner »Tyche«. Man war mehr am Typischen, Bleibenden, Beispielhaften einer Person interessiert als an ihrem Werden und ihren Wandlungen. Der literarische Genuß von »Metamorphosen« konzentrierte sich auf Götterabenteuer oder den satirischen Roman. An den seelischen Metamorphosen eines historischen Helden hatte man weniger Interesse. Die antike Biographie darf daher keinesfalls an den Gesetzen der modernen Lebensbeschreibung gemessen werden. Stärker als bei der Historiographie war in ihr die Grenze zum Roman fließend, wie ja auch wir die romanhafte Biographie als ein literarisches Genus kennen. Ein typisches Beispiel dafür, wie sich historische Biographie in eine romanhafte verwandeln konnte, bietet die Entwicklung der Alexandergeschichte, in der im Lauf der Zeit die romanhafte Fiktion den Geschichtsbericht fast völlig verdrängte und an deren Ende in nachchristlicher Zeit der phantastische Roman mit seinen zahlreichen volkstümlichen Ausläufern steht, die bis in die talmudische Literatur und die mittelalterliche Ritterdichtung hineinreichen. Neben der Bibel wurde die Alexandergeschichte in ihren unzähligen Versionen im frühen Mittelalter zum meistgelesenen Buch. Wir haben hier eine Parallele zur späteren Entwicklung der apokryphen Evangelien vor uns. Aber sowohl in der Alexanderbiographie wie in den »Jesusbiographien« der Evangelien steht am Anfang der relativ vertrauenswürdige Geschichtsbericht und gerade nicht die freie Invention. Natürlich verführte in der Lebensbeschreibung »der Parteien Gunst und Haß« besonders häufig zur Schwarz-Weißmalerei und zu allzu guten oder zu übertrieben schlechten Zensuren. Weiter spielte die für uns unabdingbare chronologische Ordnung in ihr nur eine zweitrangige Rolle; u. U. konnte man, wie die Philosophenbiographien des Diogenes Laertius oder die Caesarenleben Suetons zeigen, weitgehend darauf verzichten oder aber, wie es zum Teil bei Plutarch geschieht, recht unbekümmert damit umgehen. Gerade in der Biographie neigte man weniger dazu, ein kontinuierlich ablaufendes Geschehen darzustellen, man konnte sich vielmehr auch damit begnügen, beispielhafte Anekdoten fast unverbunden aneinanderzureihen. 1.7 Aber auch in manchen größeren Geschichtswerken beschränkte man sich darauf, die einzelnen Ereignisse und Szenen nur locker miteinander zu verknüpfen, ja selbst größere Zeiträume mit wenigen Sätzen zu übersprin21
gen, um dann wieder bestimmte Vorfälle sehr ausführlich zu erzählen. Oft hing diese lockere Form mit der Zufälligkeit des verfügbaren Quellenmaterials oder der Tendenz der Auswahl zusammen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Darstellung der letzten 70 Jahre vor dem Jüdischen Krieg im 18.-20. Buch der »Jüdischen Altertümer« des Josephus. Weiter ist zu beachten, daß größere Geschichtswerke selbst wieder zum Teil ausführliche »biographische« Passagen enthielten, so wieder die »Altertümer« des Josephus, die in Buch 14-17 eine auf zwei entgegengesetzte Quellen, Nikolaos von Damaskus und eine antiherodianisch-priesterliche Quelle, zurückgehende wertvolle Darstellung des Herodes eingearbeitet haben. Die exakte chronologische Ordnung des Stoffes, die für uns selbstverständlich ist, wurde zwar in Annalen und chronikartigen Geschichtswerken einigermaßen eingehalten, sie bildete jedoch nicht die Grundvoraussetzung für jede historische Darstellung und erst recht nicht für ein biographisches Werk. Lukians Mahnung, die Erzählung solle »gleichmäßig und eben voranschreiten, ohne Höcker und Löcher«, betraf weniger den zeitlichen Verlauf des Geschehens als das stilistische Geschick des Verfassers, und dies war, wie Lukian selbst zugibt, weitgehend eine Bildungsfrage. Die Kunst, einzelne Episoden in überzeugender Weise - wie es Lukian fordert - zu einer »festen Kette zu verbinden«, hatte nicht jeder erlernt. Die Warnung des syrischen Literaten vor Brüchen und unverbundenem Aneinanderreihen von Einzelerzählungen zeigt, daß eine derartige, verpönte Art der Geschichtsdarstellung nicht allzu selten war (55). Gerade diese anekdotische Erzählweise begegnet uns in der »Biographie« noch häufiger als in der Geschichtsschreibung im strengen Sinne. Denn die biographische Form der Erinnerung ist eben die Anekdote, da sie in besonderer Weise durch einen Einzelvorgang, man könnte auch sagen durch eine »ideale Szene«, das für den Helden Typische, Charakteristische zum Ausdruck bringt. Durch eine derartige Aneinanderreihung von typischen Worten und Taten konnten Charakter und Schicksal des Helden u. U. auf einleuchtendere Weise dargestellt werden als in einem chronologisch aufgebauten Bericht über die Zufälligkeiten eines Menschenlebens. Die moderne psychologisierende Darstellungsweise, die ausführlich analysiert und begründet, war den antiken Autoren auf jeden Fall fremd. Die konkrete Tat, der treffende Ausspruch, in eine scharf formulierte Anekdote eingefangen, machte psychologische Exkurse überflüssig. Der Held erschien von Anfang an als festgefügte Persönlichkeit, schon die Taten und Ereignisse seiner Jugend beleuchteten sein späteres Schicksal. Nicht er selbst, sein Charakter, veränderte sich, sondern bestenfalls die Welt um ihn. Er konnte nur das werden, was er schon immer war. Wenn Lukas - übrigens in Übereinstimmung mit Paulus selbst (Gal 1,14; Phil 3,6) - den vorchristlichen Paulus als »Eiferer für Gott« darstellt (Apg 22,3), so bedeutet dies die Kehrseite der Zeichnung des Missionars als einer Gestalt, die in allem, was sie redet und tut, vom Eifer für die 22
Sache Christi getrieben wird, auch wenn Lukas das Wort »Eifer« in diesem Zusammenhang nicht mehr verwendet (vgl. Apg 9,15). Daß Paulus sich selbst so einschätzte zeigt 2.Kor 11,2: »Ich brenne um euch mit Gottes Eifer«. Die kühle Emotionsfreiheit galt vielleicht als stoische, nicht aber als christliche Tugend. Die Bekehrung des Paulus ist für Lukas entsprechend nicht das Ergebnis einer inneren psychologischen Entwicklung, sondern ein plötzliches, von außen kommendes wunderbares Geschehen, das Werk Christi selbst, an dessen »Objektivität« auch die dreifache, jeweils verschiedene Darstellung nichts ändert. Von einer länger andauernden inneren Wandlung im Herzen des Pharisäers Saulus vor seiner Bekehrung, die uns heute so interessieren würde und über die die Forschung so viel gerätselt hat, erfahren wir nichts. Paulus bleibt für Lukas auch als Christ der Eiferer für Gottes Sache, der er von Anfang an war, freilich jetzt in der rechten Weise (vgl. Röm 10,3), ja er bleibt selbst pharisäischen Grundsätzen treu (Apg 23,6; vgl. 26,5 f). Aber auch Paulus selbst spricht nicht von einer inneren Entwicklung, sondern allein von Gottes wunderbarem Eingreifen (Gal1,15 f), das seinem Leben eine radikale Wende gab. Die Entwicklungspsychologie ist eine moderne Erfindung. 1.8 Die frühchristlichen Geschichtsberichte, die ja ganz überwiegend» biographischen« Charakter besitzen, bilden dementsprechend durchaus keinen ausgrenzbaren Sonderfall. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wollte man sie als völlig abgeschlossene Inseln innerhalb der antiken Geisteswelt und Literatur betrachten. Das Postulat einer mit historischen Mitteln aufweisbaren isolierten »Heilsgeschichte« und einer von ihrer Umwelt völlig unbeeinflußten, da aus Gottes unmittelbarer Eingebung stammenden, »heiligen« Literatur, die nicht mit profanen Methoden untersucht werden dürfen, verstellt das echte Verständnis des frühen Christentums und damit der Ursprünge unseres Glaubens. Die ersten Christen in Jerusalem, Antiochien, Korinth und Rom sprachen die »religiöse Koine«, die geistige Umgangssprache ihrer nächsten Umwelt, d. h. der jüdischen Synagoge palästinischer und hellenistischer Prägung, und benutzten Literaturfarmen ihrer Zeit. Die ersten christlichen Autoren erhoben auch nicht den Anspruch, inspirierte Schreiber zu sein, so wie sie sich die Propheten des Alten Bundes vorstellten. Ihre Autorität beruhte nicht auf einer Inspirationstheorie, sondern auf dem Wahrheitsanspruch des durch sie erzählten endzeitlichen Heilsgeschehens (s. u. S.42 ff). Die urchristlichen Schriften können darum bei aller unbestrittenen Eigenheit, die mit ihrem besonderen Anspruch, der damit verbundenen theologischen Absicht, dem Bildungsgrad ihrer Erzähler und dem soziologischen Milieu ihrer Gemeinden und Schulen zusammenhängt, von der zeitgenössischen jüdischen bzw. hellenistisch-römischen Bio- und Historiographie nicht völlig abgetrennt und isoliert für sich betrachtet werden. 23
Die fast kanonisch gewordene Studie von Karl Ludwig Schmidt, »Die Stellung der Evangelien in der allgemeinen Literaturgeschichte«, in dem Hermann Gunkel zu seinem 60. Geburtstag gewidmeten »Eucharisterion« (II, 50-134), hat den Graben zwischeq:den antiken Biographien und Geschichtswerken einerseits und den Eva-;;'gelien und der Apostelgeschichte andererseits darum doch wohl zu tief gezogen. In allen Evangelien - auch in dem von den Synoptikern wesentlich abweichenden Johannesevangeliumwerden ausgewählte» Worte und Taten« (Papias bei Euseb, h. e. 3,39,15) des gottgesandten »Stifters« oder »Offenbarers« erzählt, der in seiner göttlichen Würde mit dem Menschen Jesus von Nazareth, einem einfachen jüdischen Handwerker, identisch ist. D. h. sie wollen, bei aller religiösen Erklärung, das Wirken und Leiden eines echten Menschen und nicht einer Scheingestalt darstellen. Auch folgen sie alle einer geographisch-chronologischen Ordnung, die zwar bei den Synoptikern und Johannes divergiert, aber dennoch wesentliche übereinstimmende historische Grundelemente enthält. Der vierte Evangelist, der dasMarkusevangelium kannte, hielt bewußt an seiner andersartigen chronologischen Ordnung fest, weil sie seiner Meinung nach die richtige war. D. h., er übte an der Markusüberlieferung, der sich Lukas und Matthäus angeschlossen hatten, nicht nur theologische, sondern auch historische Kritik. Dennoch darf das grundlegend Gemeinsame nicht bagatellisiert werden: Jesus stammt aus einer jüdischen Familie im galiläischen Nazareth, und wir hören auch von seiner Mutt.er und seinen Geschwistern, zu denen er in einem gespannten Verhältnis steht (Mk 1,9; Joh 1,45; Mk 3,2lf.3lff; 6,3; Joh 2,1 ff.12; 7,3 ff). Seine öffentliche Wirksamkeit knüpft an das Auftreten J ohannes des Täufers an, von dem er sich im Jordan taufen ließ, ein Vorgang, den der vierte Evangelist freilich nur umschreibt und nicht expressis verbis erzählt, da er den Würdeunterschied zwischen J esus und dem Täufer nicht in Frage stellen will. Räumlich hatte das Wirken Jesu seinen Schwerpunkt in einem ganz entlegenen Winkel der Alten Welt, im jüdischen Galiläa, genauer in der Gegend um das Fischerdorf Kephar N achum am Nordufer des Sees von Genezareth. Mit Städten kam er dagegen kaum in Berührung, wenn man von Jerusalem, dem Ort seines Todes, absieht. Dort am Ufer des Sees sprach er zur Volksmenge, die aus den verschiedenen Teilen des Landes zu ihm strömte, dort heilte er Kranke und sammelte die ersten Jünger um sich. Mögen im vierten Evangelium Judäa und Samarien stärker hervortreten als bei denSynoptikern, die Bedeutung des abgelegenen Gebietes um Kephar Nachum wird auch von ihm nicht geleugnet (2,12; 4,46; 6,17ff). Es gehört zu den »unerfindbaren Zügen« in den Evangelien. Das beherrschende Ziel aller vier Evangelisten ist schließlich der Bericht von Jesu Verhaftung, Verurteilung und Hinrichtung am Kreuz in J erusalem sowie von den anschließenden Osterereignissen, der Entdeckung des leeren Grabes bzw. den Erscheinungen des Auferstandenen. 24
K. L. Schmidt hat mit seiner These die Forschung allzusehr in eine einseitige Richtung gedrängt, wenn er die antiken historisch-biographischen Analogien auf die Seite schob und auf die mittelalterlichen Legenden und Volksbücher verwies, etwa auf die Franziskus-Vita des Thomas von Celano oder das Volksbuch des Dr.Faust. Auch die antike Welt kannte volkstümliche Biographien, wie z. B. die Homers, die in mehreren Fassungen umlief, und vor allem die Vita Aesops, die eine lange Traditionsgeschichte aufweist. Der Sklave Aesop beschämt seinen Herrn, den Philosophen Xanthos, durch seine Weisheit mehrfach und erlangt von diesem die Freiheit. An den königlichen Höfen in Babyion und Ägypten übertrifft er Könige und Weise durch seine Klugheit. Die Vita ist hier stark vom aramäischen Achikarroman beeinflußt, der auch jüdischen Kreisen bekannt war (Tob 1,2lf; 2,10; 11,19; 14,lOff). Schließlich wird er wegen seines Freimuts und seiner Klugheit von den Bewohnern von Delphi durch List getötet. Auch die Anekdotensammlung über den scharfzüngigen Philosophen Demonax aus der Feder Lukians könnte man als Analogie anführen. Die Franziskus-Legenden sind demgegenüber bereits durch die Evangelien beeinflußt, und das Volksbuch des Dr. Faust ist ein im Grunde sensationelles Machwerk, das eher der niedrigsten Form des antiken Romans zu vergleichen ist, wie sie uns jetzt etwa in den Papyrusfragmenten der Phoinikika des Lollianos entgegentritt, der eine bunte Mischung von »crime, sex and religion« darbietet. Wenn K.L.Schmidt einerseits zugibt, daß der lukanische Prolog »das Format eines Dokuments der zeitgenössischen Weltliteratur« besitze, andererseits jedoch rügt, »daß bei Lukas das Wollen und das Können in einem eigentümlichen Mißverhältnis zu einander stehen« (132), so läßt er sich - beeindruckt durch die rabiate Kritik Overbecks - zu sehr von den Maßstäben der Modeme oder den großen einsamen Beispielen antiker Historiographie leiten, wie sie uns in den Werken eines Thukydides, Polybios oder Tacitus begegnen. Demgegenüber weist Lukian in seiner Streitschrift darauf hin, daß es in Stil, Aufbau und literarischem Niveau ganz unterschiedliche Geschichtswerke gab. Manche enthielten nur einen »nackten Bericht der Ereignisse«, derart, daß derselbe auch zur Not von einem Soldaten, Bauhandwerker (tektän vgl. Mk 6,3) oder Händler stammen konnte, die ein Tagebuch geführt hatten. Als abschreckendes Beispiel stellt er einen geschichtsbeflissenen Regimentsarzt vor, der zu Ehren des Asklepios über einen Partherfeldzug schrieb (16). Warum sollte da nicht der christliche Arzt Lukas (Kol 4,14) zu Ehren des Christus über den missionarischen »Feldzug« des Paulus von Jerusalem bis Rom schreiben (s. u. S. 36f)? Selbst das Mißverhältnis zwischen einem »brillanten Vorwort« und schwächlicher, ja kindischer Ausführung des eigentlichen Geschichtswerkes bildet eine Zielscheibe des berühmten Spötters; im Gegensatz zu solcher Stümperarbeit fordert Lukian die Einheitlichkeit und Harmonie des Ganzen (23). Auch hier könnte man wieder auf den stilistischen Gegensatz zwischen dem Prolog 25
Lk 1,1-4 und der weiteren Durchführung des Doppelwerkes verweisen. Lukians Polemik legt den Schluß nahe, daß eine derartige, an strengen Maßstäben gemessen mangelhafte Historiographie die Regel bildete, während die großen, vorbildlichen Entwürfe selten waren. Was der Satiriker aus dem syrischen Samosata selbst in seinen polemischen »Biographien« über den Lügenpropheten Alexander oder den Betrüger Peregrinus Proteus dem Leser vorlegte, darf keinesfalls an seinem eigenen strengen Urteil über die absolute Wahrheitsliebe und an seiner Warnung vor überzogener Polemik gemessen werden. Im literarischen Kampfeseifer liebte man die schroffen Schwarzweißtöne und war in keiner Weise kleinlich oder empfindsam. Dies beweist die antipharisäische Polemik in Mt 23 nicht weniger als Kelsos' Schrift gegen die Christen oder die talmudische anekdotenhafte J esusüberlieferung bis hin zu späteren romanhaften Toledot Jeschu. Auch ein Tacitus hat seine vielzitierte Devise »sine ira et studio«, »ohne Haß und Eifer« (Ann.1,1) nie wirklich durchgehalten. Das zeigt nicht nur seine haßerfüllte Darstellung des Tiberius, die unmittelbar folgt, sondern auch seine Berichterstattung über die Juden im 5. Buch seiner Historien, wo er ein wüstes Konglomerat voller antijüdischer Verleumdungen zusammenmischt. Auch was die »polemischen Sünden« anbetrifft, machen einzelne neutestamentliche Schriften hier keine Ausnahme, und es spricht gerade für Lukas, daß er in diesem Punkt eine gewisse - fast möchte man sagen: vornehme - Zurückhaltung zeigt. 1.9 Mit Nachdruck muß man die Einschränkung unterstützen, die K.L.Schmidt seinem ungerecht harten Urteil über Lukas in einem Nachsatz hinzufügt. Es sei »der Stoff«, der »ihm eine Grenze gesetzt hat« (132). Im Blick auf sein Evangelium dürfen wir ja geradezu dafür dankbar sein, daß der dritte Evangelist seine Quellen nicht in rhetorischer Manier umgegossen und »harmonisiert« hat, so wie es Lukian forderte, sondern daß er, wie schon seine Markusvorlage, die Logienquelle oder auch die rabbinischen Pirqe 'Abot und die 'Abot de Rabbi Natan, ja wie Lukian selbst in seinem Demonax, die einzelnen Überlieferungsstücke, Anekdoten, Gleichnisse und Sprüche als» kleine Einheiten« weitgehend erhalten hat. Wir können hier auf die Probleme der mündlichen Tradition und ihrer Regeln - das Wort »Gesetze« sollte man in diesem Zusammenhang besser vermeiden - nicht ausführlich eingehen; doch muß man nach über 50 Jahren Formkritik darauf hinweisen, daß die »formgeschichtliche(( Forschung trotz verheißungsvoller Ansätze zu Beginn der zwanziger Jahre leider allzu rasch scholastisch erstarrte und stagnierte, weil man lange Zeit versäumte, die wichtigsten, von Milieu und Zeit her am nächsten liegenden Formparallelen der überreichen rabbinischen Anekdoten- und Spruchtradition ebenfalls gründlich zu analysieren und zum Vergleich auszuwerten. Hier hätte sich der Forschung ein unendlich reiches,
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durch zahllose Paralleltraditionen kontrollierbares Material zu form- und überlieferungsgeschichtlichen Studien angeboten. So wurden vor allem die jüngsten amerikanischen Arbeiten, etwa von J acob Neusner, in Deutschland viel zu wenig beachtet. Nach wie vor fehlt uns eine gründliche formgeschichtliche Untersuchung der rabbinischen Wundergeschichte und der biographischen Anekdote und ihr Vergleich mit der Evangelienüberlieferung. Das sanfte Ruhekissen, das der große Kommentar von Strack-Billerbeck dem Neutestamentler darbietet, hat die wirkliche Verarbeitung des rabbinischen Materials eher gehemmt als gefördert. Vielleicht würde eine gründliche Analyse der talmudischen Stoffe zeigen, daß die »Gesetze« der mündlichen Tradition doch nicht so leicht zu erheben und festzulegen sind, wie es die Entdeckerfreude der Väter der Formgeschichte vermutete, daß auch hier der Zufall stärker seine Hand im Spiele hat und daß es darum besser gewesen wäre, man hätte gar nicht von festen »Gesetzen«, »wie sie die Volksüberlieferung regieren «, oder gar in noch unglücklicherer Weise von »einer Biologie der Sage« gesprochen (Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums 2 , 8 u. 1). Auch die Rekonstruktion des sogenannten »Sitzes im Leben« blieb zumeist eine relativ fragwürdige Angelegenheit. Daß eine Anekdote oder ein Logion im Gemeindegottesdienst verwendet und geformt wurde, war eine immer plausible Annahme und daher im Grunde eine Banalität. Die »Formung« des Evangelienstoffes wäre darum zunächst einmal unabhängig von der Hypothese eines näher bestimmbaren »Sitzes im Leben« aus dem Textzusammenhang selbst heraus zu untersuchen. Daß geschichtliche Ereignisse, d. h. Geschichte, in der Regel zunächst einmal in Geschichten, d. h. in Anekdoten, und poetisch geformter Lehrvortrag in einzelne Sprüche oder Sprucheinheiten aufgelöst erzählt werden, hängt nicht zuletzt mit der Struktur unseres Gedächtnisses zusammen, das auf diese Weise das Typische, leicht Wiederholbare von Ereignissen und lehrhafter Rede festhält. Um so schwerer fällt unserem Gedächtnis nachher die zeitliche Einordnung der Vorgänge. Der übergreifende Zusammenhang ist, wenn man nicht Kalendereintragungen macht oder Tagebuch führt - und das war bei den Jüngern Jesu sicher nicht der Fall-, später oft fast nicht mehr zu rekonstruieren. Da in der Tradition vor allem paradigmatische Vorkommnisse und Aussagen festgehalten wurden, war auch die zeitliche Abfolge der Ereignisse nicht mehr von entscheidendem Interesse, ihre Einordnung konnte ruhig auf schematische Weise erfolgen. Auf der anderen Seite setzt auch die Konstruktion eines Erzählrahmens feste Erinnerung bzw. Tradition voraus. Dies zeigt sowohl die Zusammenfassung Apg 10,36-40 wie vor allem der Evangelist Markus selbst, der den Rahmen seines Evangeliums durchaus nicht einfach frei erfunden hat. Daß Jesus z. B. nicht nur in Galiläa wirkte, sondern zuweilen - möglicherweise nach dem Tode des Täufers - auf benachbarte heidnische Gebiete wie die Stadtgebiete von Tyrus, Sidon, Caesarea Philippi, das 27
Territorium des Philippus oder die Dekapolis auswich, ist sehr wahrscheinlich. Man kann kaum bezweifeln, daß das Wirken Jesu in Galiläa und Judäa eine elementare Kettenreaktion auslöste und in dem relativ kurzen Zeitraum von ein oder zwei Jahren eine Fülle festgeprägter und bleibender Eindrücke vermittelte. Dabei war gerade wegen des Übermaßes an Wahrnehmungen die exakte chronologische und geographische Einordnung der einzelnen Ereignisse und Worte in einen festen Rahmen von Anfang an mit Schwierigkeiten verbunden und wurde sehr rasch unmöglich. Eine Ausnahme machen die letzten Tage in Jerusalem, von denen selbst Paulus genaue Daten weiß (1. Kor 11, 23ffs.u. S.44f). Es ist inzwischen zum nahezu von allen wiederholten Gemeinplatz geworden, daß wir heute keine »Jesus-Biographie« mehr schreiben können, die modernen historischen Ansprüchen genügte. Die Gegenfrage müßte lauten: Von welcher antiken Persönlichkeit überhaupt können wir eine »Biographie« schreiben, die mit einer modemen Lebensschreibung in der Fülle der Dokumentation und Information auch nur einigermaßen vergleichbar wäre? Wenn wir einmal von Cicero und Caesar absehen, von denen wir außerordentlich viel autobiographisches Material besitzen, kämen nur ganz wenige Gestalten der Antike dafür in Frage. Daß wir über Jesus vielleicht doch mehr wissen, als es eine hyperkritische Attitüde wahrhaben will, zeigt sich an der Tatsache, daß trotz der oben genannten communis opiniounentwegt Jesus-Bücher geschrieben werden. Man möchte fast von einer (Schein-)Blüte dieser theologischen Literaturgattung sprechen. 1.10 Die von der formgeschichtlichen Betrachtungsweise jahrzehntelang gepflegte Vorstellung von den in den Gemeinden »frei umlaufenden«, völlig in isolierte Teilchen aufgelösten Einzeltraditionen ist nicht weniger unrealistisch als der Versuch, eine Vita Jesu zu schreiben. Hier geht man von einer sehr schematischen Anschauung von mündlicher Überlieferung aus. Am Anfang stand nicht die isolierte Einzeltradition, sondern die elementare Fülle der Eindrücke, die durch das kometenhafte Auftreten Jesu hervorgerufen wurde. Dann - noch zu Lebenszeiten J esu - begann die Sammlung, die immer zugleich Auswahl und Einschränkung bedeutete. Dabei ist weiter zu beachten, daß - für antike Verhältnisse - der Traditionszeitraum bis zur Abfassung unserer Evangelien relativ kurz war und nur ca. 30-60 Jahre betrug. In der rabbinisch-talmudischen Tradition waren hier wesentlich größere Zeiträume zu überbrücken. Hinzu kommt die Tatsache, daß die mündliche Tradition des Urchristentums weder jedermann in gleicher Weise verfügbar war, noch erst recht aus der anonymen, freischöpferischen Produktionskraft irgendwelcher nicht näher definierbarer »palästinischer« oder auch »hellenistischer« Gemeinden stammte, die diese Überlieferungen nach ihren jeweils wechselnden
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»Bedürfnissen« bildeten. Es ist im Grunde erstaunlich, wie wenig die »Bedürfnisse« der Gemeinden, wie wir sie aus den neutestamentlichen Briefen kennen, in den synoptischen Evangelien hervortreten. Oft muß man sie gewaltsam in die synoptischen Texte hineinlesen. Der heute mit so leichter Hand und meist ohne nähere Begründung gebrauchte Begriff» Gemeindebildung« vermag die wirklichen historischen Sachverhalte selten zu erklären, häufiger verdunkelt er sie eher. Wohl die allermeisten Erzählungen und Logien der Evangelien werden - wenn auch vielleicht in veränderter Form - einen historischen Anhalt im Wirken Jesu gehabt haben. Hier gilt der banale Grundsatz: Aus nichts wird nichts. Der grundlegende Anstoß zur Entstehung der Jesustradition war der Mensch Jesus, in seiner Verkündigung, seinem Verhalten und Handeln. Wer eine »Gemeindebildung« annimmt, muß dann auch Ort, Zeit und Gründe angeben. Doch über die »Gemeinden«, die derartige Traditionen in hemmungsloser Weise »gebildet« haben sollen, wissen wir im Grunde weit weniger als über Jesus selbst. Oftmals scheinen sie eher modeme Kunstprodukte als historische Wirklichkeit zu sein, so etwa die heute so beliebte »Gemeinde von Q« oder auch die »Häretiker«, gegen die der 2. Evangelist angeblich kämpfen soll. Begriffe wie »Gemeindebildung« können daher wegen ihrer Unschärfe in der Regel so wenig aussagen wie die triviale Bestimmung des »Sitzes im Leben« einer Tradition durch Gottesdienst oder Missionspredigt. Im Grunde sollte man dann gleich die ganze Evangelienüberlieferung als »Gemeindebildung« bezeichnen, denn sie wurde durch »die Gemeinde« - was auch immer dieses Wort bedeuten mag - ausgewählt, übersetzt, geformt, redigiert und schließlich niedergeschrieben. In Wirklichkeit war jedoch die mündliche Tradition in der Regel nicht an anonyme »Gemeinden«, sondern an wohlbekannte einzelne autoritative Traditionsträger gebunden. Solche Autoritäten erscheinen schon bei Paulus, wenn er von Kephas, Jakobus, Bamabas, den »Aposteln vor mir« (Gal1,17; vgl. Röm 16,7) oder den »Brüdern des Herrn« (l.Kor 9,5) spricht. Die Geschichte des Urchristentums wie auch die der »synoptischen Tradition« verlief durchaus nicht so anonym und disparat, wie es die Vertreter der radikalen Formkritik vermuten und wie es heute, da man so gerne von »schöpferischen Kollektiven« schwärmt, gewünscht wird. Am Anfang des Urchristentums stehen klar umrissene »Persönlichkeiten«, Johannes der Täufer, dann in einzigartiger Weise Jesus selbst und darauf die uns bekannten Autoritäten. Die Weitergabe und Gestaltung der mündlichen Jesusüberlieferung ging an den führenden Köpfen der Urgemeinde ganz gewiß nicht einfach vorbei. Vor allem Simon Petrus, der so häufig an erster Stelle genannt wird, muß hier eine beherrschende Stellung eingenommen haben. Freilich wird man auch nicht die eigene theologische Arbeit der Tradenten in Formung und Auswahl der Tradition unterschätzen dürfen. Aber es ist sehr schwer, in den Texten ge29
wisse Überlieferungsstücke eindeutig einer Gemeinde oder einem Lehrer zuzuweisen. Am leichtesten geht das im Blick auf die Evangelisten selbst, die der zweiten oder dritten Generation entstammen. Inzwischen hat man längst erkannt, daß sie nicht bloße »Sammler« und »Redaktoren« anonymer und amorpher Traditionen waren, sondern wie schon die Tradenten, auf deren Schultern sie stehen, theologische Persönlichkeiten und d. h. doch wohl auch zugleich Autoritäten und Lehrer, die selbst wieder einer älteren Lehrtradition verpflichtet sind. Eben darum ist es auch unwahrscheinlich, daß zwischen den von unserem frühesten Zeugen, Paulus, genannten Autoritäten wie Kephas oder Johannes (Gal 2,9) und den späteren Evangelisten überhaupt kein Zusammenhang besteht. Die Geschichte des Urchristentums in den ersten 60 bis 70 Jahren bis zur Abfassung der vier Evangelien verlor sich nicht ins Anonyme, Grenzenlose und Imaginäre, sie blieb überschaubar und wurde von der Autorität bestimmter Personen getragen, die damals allgemein bekannt waren. Das zeigen der 1. Clemensbrief und die Ignatiusbriefe nicht weniger als die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe. 1.11 Man darf in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß der Apologet Justin sowohl in seiner Apologie (66,3; 67,3) wie vor allem im Dialog mit Tryphon in fast stereotyper Weise 15 mal die synoptischen Evangelien - die er allein zur Kenntnis nimmt - als »Erinnerungen« (apomnämoneumata) bezeichnet, und zwar in der Regel »der Apostel« (dial.100,4; 101,3; 102,5 u. ö.); in einem Fall spricht er jedoch exakter von »den Erinnerungen, die von den Aposteln und ihren Schülern verfaßt wurden« (103,8). Es mag sein, daß der Apologet mit diesem Begriff unter anderem auch auf das bekannteste Beispiel der Gattung der »apomnämoneumata«, die »Erinnerungen« Xenophons an Sokrates, anspielen will, die er kannte, da er daraus in Apol. 2,11 die Fabel von Herakles am Scheidewege zitiert. Aber man wird in diesem festgeprägten Sprachgebrauch doch mehr als nur einen apologetischen Kunstgriff vermuten dürfen. Für Justin, seine Hörer und Leser waren die Evangelien wirklich »biographische Erinnerungen« an Jesus, die von den Aposteln bzw. deren Schülern niedergeschrieben worden waren, und die man mit der - überwiegend auf Philosophen bezogenen - biographischen Erinnerungsliteratur der Antike durchaus vergleichen konnte. Aulus Gellius nennt z. B. (noct. Att. 14,3.5) die MemorabilienXenophons »dictorum atque factorum Socratis commentarü«, d.h. »Erinnerungen an die Aussprüche und Taten des Sokrates«. Bei dieser Formel werden wir zugleich an die von Papias erhaltene, ältere Nachricht des Presbyters erinnert, daß Markus als »Dolmetscher des Petrus die Worte und Taten des Herrn, an die er sich erinnerte (emnämoneusen) genau aufgeschrieben habe, freilich nicht in der richtigen Ordnung« (Euseb h. e. 3,39,15). Papias gebraucht in diesem Zusammenhang zweimal das Verb erinnern, das zweitemal sogar das Kompositum »apomnä30
moneuein«, das dann Justin in seiner Apologie wieder aufnahm: »Wie die gelehrt haben, die alles, was unseren Erlöser Jesus Christus betraf, als Erinnerung aufgezeichnet haben« (apomnämoneusantes: Apo1.33,5). Daß es sich bei diesem Sprachgebrauch um keinen Einzelfall handelte, zeigt Euseb, der dem. ev. 3,6,2 die Evangelien die schriftlichen »apomnämoneumata« der Jünger nennt und Clemens Alexandrinus, der in analoger Weise von »hypomnämata« sprechen kann (Euseb, h. e. 2,15,1 vgl. 3,24,5). Die lateinische Entsprechung »commentarü« findet sich bei Tertullian (ieun.10,3), der die Evangelisten auch als »Commentatores« bezeichnet (adv. Marc. 4,2,4; de resurr. 33,5; de carne Christi 22,1). Auch Irenäus spricht mehrfach davon, daß die Evangelisten Erinnerung wiedergeben (adv. haer. 2,22,3; 4,2,3; 4,10,1: Johannes; 5,21,2: Lukas). Man könnte hier außerdem auf Lukas verweisen, der zweimal (Apg 11,16; 20,35) von der »Erinnerung« an ein »Wort des Herrn« spricht, eine Formulierung, die sich im 1. Klemensbrief (13,1; 46,7) und bei Polykarp wiederholt (Phil 2,3). Das für alle Geschichtsschreibung grundlegende Motiv der »Erinnerung« läßt sich so aus der Jesusüberlieferung am allerwenigsten verbannen. Es geht nun nicht darum, die Evangelien und die von Schülern stammenden antiken »Philosophenbiographien« im Stil der »apomnämoneumata« möglichst nahe zusammenzubringen. Die Evangelien sind gewiß» Erinnerungen« von besonderem Charakter. P.-Wendland hat gegen die einstmals »beliebte Vergleichung der evangelischen Ueberlieferung mit den Memorabilien Xenophons und Arrians Aufzeichnungen der Gespräche Epiktets« mit Recht protestiert (Die urchristlichen Literaturformen 266 Al). Zwischen beiden steht die gerade in der Antike besonders hohe Bildungsschranke. Markus ist für Wendland keine »schriftstellerische Individualität« (267), m. a.W., er hat nicht die antike Schule durchlaufen, schreibt ein barbarisches Griechisch und hat keinerlei schulgemäßen rhetorischen Schliff. Aber gerade bei ihm sieht Wendland im Anschluß an Herder dennoch den »lebendigen Laut eines Erzählers ... die naive und frische Art volkstümlicher Erzählung, die ... ihre Mittel zu berechnen und die Wirkungen sicher zu treffen weiß, in gewissem Sinne doch eine Kunst, weil sie Uebung und Tradition voraussetzt« (270). D.h. er ist ein erzählerisches Naturtalent. Das legt die Vermutung nahe, daß Markus selbst, bevor er sein Evangelium niederschrieb, diese Erzählungen oftmals gehört bzw. sie selbst erzählt hatte. Vermutlich war er persönlich als urchristlicher Missionar bzw. Missionsgehilfe des Petrus auch zugleich Erzähler von J esustradition gewesen. Man wird hinzufügen müssen: Ein Erzähler, der auch seinen Stoff vorzüglich zu disponieren weiß und der theologisch denken und argumentieren kann. Für Matthäus und den gebildeteren Lukas gilt das noch mehr. Der antike Betrachter sah sehr wohl die Stil- und Bildungsunterschiede, etwa zwischen Markus und Xenophon; aber ihm sprang doch zugleich auch das Gemeinsame der biographischen» Erinnerungslitera31
tur« ins Auge, er nahm offenbar - im Gegensatz zu der Mehrzahl der deutschen Neutestamentler heute - keinen Anstoß daran, die Evangelisten als Verfasser von biographischen Jesuserinnerungen zu betrachten, die auf die Jünger Jesu selbst zurückgingen. Die Frage ist, ob wir recht haben, wenn wir den Evangelien diesen biographischen Charakter grundsätzlich absprechen. 1.12 In einer gewissen Gegenbewegung zur Formkritik hat man in jüngster Zeit, vor allem in Amerika, die nächste Parallele zur Geschichtserzählung des Neuen Testaments im sogenannten aretalogischen Roman sehen wollen, der eine besondere Form der romanhaften Biographie mit stark religiösem und wunderhaftern Einschlag darstellt. Man dachte dabei an Werke wie den vorchristlichen Moseroman des ägyptischen Juden Artapanos, die vita Mosis aus der Feder Philos, die platonisierende vita Apollonii des Philostratos, die nach 217 n. Chr. veröffentlicht wurde, oder auch die noch späteren Pythagoras-Viten des Porphyrios und vor allem des J amblichos. Während es sich bei dem frühen Werk des Artapanos um eine teilweise grotesk anmutende jüdischhellenistische Mose-Haggada handelt, die auch bei J osephus ihre Spuren hinterlassen hat, sind die anderen Werke hochrhetorische Kunstprodukte, wobei die letztgenannten Schriften, die Viten des Apollonios von Tyana und des Pythagoras, die Kenntnis der Evangelien bereits voraussetzen. Porphyrios z.B. hat unter anderem eine kluge und gründliche Evangelienkritik verfaßt. Zwar ergeben sich vereinzelte, zum Teil interessante Parallelen zu den Evangelien, doch zeigt ein Vergleich noch mehr die beträchtlichen, ja grundsätzlichen Unterschiede. Sie liegen nicht zuletzt darin, daß die Evangelien über eine historische Gestalt berichten, deren Erinnerung 30-60 Jahre nach ihrem Tode in der christlichen Gemeinde bei allen Entstellungen noch lebendig war. Dagegen wurde z. B. das Werk des Philostratos erst rund 120 Jahre nach dem Tode des Helden auf Wunsch der Kaiserin Julia Domna, der Witwe des Septimius Severus, geschrieben und überdeckte mit seinem rhetorisch-romanhaften Putz die Gestalt des in der 2. Hälfte des 1. Jh.s n.Chr.lebenden Neupythagoreers und Wundertäters Apollonios so sehr, daß von der historischen Person kaum mehr etwas sichtbar wird. Auch andere, autobiographische Zeugnisse für den »aretalogischen Roman«, etwa die religiösen Selbstbekenntnisse in den »hieroi logoi« des Rhetors Aristides, die missionsgeschichtlich aufschlußreiche Imuthes-Asklepios-Aretalogie (OxyrhynchusPapyri 1381) oder das l1.Buch der Metamorphosen des Apuleius sind trotz aller Parallelen im einzelnen doch relativ weit von der neutestamentlichen »Geschichtsschreibung« entfernt, da dort gerade nicht im Ich-Stil das religiöse Erleben eines Individuums mit einer Gottheit, sondern Gottes Geschichte mit von ihm erwählten und gesandten Menschen erzählt wird, hinter der der einzelne Fromme mit seinen religiösen Empfindungen und außerordentlichen Erlebnissen in auffallender Weise zurücktritt. Was diese Texte32
gegenüber unserem modemen Weltverständnis - mit den neutestamentlichen Schriften verbindet, ist die Empfänglichkeit gegenüber dem Wunder und der unmittelbaren göttlichen Offenbarung, wobei freilich die urchristlichen Texte sehr viel mehr unter der Strenge theologischer Reflexion stehen. Das zeigen nicht nur die Evangelien und die Apostelgeschichte des Lukas, sondern erst recht die Paulusbriefe, in denen man manchen autobiographischen Passagen (z. B. 2. Kor 11 und 12) cum grano salis ebenfalls »aretalogisehen« Charakter zusprechen könnte. 1.13 Das Vorbild für die Sammlung und literarische Darbietung »biographischer« Jesusüberlieferung wird so weder im »aretalogischen Roman« noch im autobiographischen »aretalogischen Bekenntnis« zu suchen sein, für die wir zudem kaum eindeutige vorchristliche Beispiele besitzen, sondern eher in der alttestamentlich-jüdischen Geschichtsdarstellung, die sich ja auf weite Strecken aus »biographischen« Partien zusammensetzt. So finden wir bereits in der Genesis die »Erzväter-Biographien«, die zumindest bei Jakob relativ ausführlich die entscheidenden Ereignisse zwischen Geburt und Tod schildern. Es folgt, von Exodus bis Deuteronomium, das noch breiter erzählte »Leben Moses«, das zugleich die Mose anvertraute göttliche »Lehre« einschließt, darauf die Geschichte der Eroberung des Landes durch Josua, d.h. ein Bericht, der sich auf die zeitlich begrenzte Wirksamkeit eines Gottesmannes beschränkt. Die Erzählung über David und sein Königtum ist kaum weniger reichhaltig; sie bringt sogar einzelne poetische Stücke des königlichen, von Gottes Geist inspirierten (2. Sam 23,2) Dichters. Die Elia-Elisa-Geschichten enthalten vor allem Wunder- und Jüngererzählungen, die zahlreiche Parallelen zur Evangelientradition aufweisen. Der Rechenschaftsbericht Nehemias hat dagegen autobiographischen Charakter. Den meisten dieser biographischen Komplexe der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist gemeinsam, daß sie aus Einzelerzählungen, die bestimmte, markante Szenen bzw. Anekdoten enthalten, zusammengesetzt sind. Sie wurden zunächst in mündlichen Sammlungen überliefert und stehen z. T. auch jetzt noch relativ unverbunden nebeneinander. Josephus bezeugt uns in seiner Apologie contra Apionem gegen Ende des 1. Jh.s n. Chr., also etwa zu der Zeit, als auch die Evangelien und die Apostelgeschichte entstanden, daß der griechisch gebildete Jude die erzählenden Schriften des jüdischen Kanons als Geschichtswerke sui generis verstand, die sich grundsätzlich durch ihre göttliche Autorisierung und Inspiration von den Werken heidnischer Historiker unterschieden und darum in besonderer Weise zuverlässig waren. Denn »nicht jedem war das Schreiben erlaubt«, sondern allein »denProfeten« (1,37). Sie schrieben so in vertrauenswürdiger Weise die heilige Geschichte von der Schöpfung bis zur Zeit Artaxerxes' I. nieder, den man mit dem Ahasveros des Buches Esther identifizierte und in 33
dem man den Zeitgenossen Esras, des letzten Profeten, sah. Die späteren Schriften stünden dagegen nicht mehr in diesem hohen Ansehen, weil dann »die exakte Sukzession der Profeten« abgebrochen sei (1,41). Die neutestamentlichen Geschichtserzähler wollten - bei allem Wissen um die Verschiedenheit ihrer Botschaft - doch an die hier vorgegebene Tradition anknüpfen. Beruft sich Josephus auf das schriftliche Zeugnis der Profeten, so Lukas auf die Tradition (kathös paredosan) derer, die »von Anfang an Augenzeugen und Verkündiger des Wortes wurden«. Wenn Matthäus sich in 13,52 selbst als »Schriftgelehrter, belehrt durch die Herrschaft der Himmel« beschreibt, so weist dies auf ein neues Selbstbewußtsein besonderer Art hin, das durch die erzählte Sache bedingt ist. Dasselbe gilt vom Evangelium des Markus, der sein Werk als »Evangelium Jesu Christi« verfaßt, und vom vierten Evangelisten, der nach 19,35 und 21,24 die Autorität seines Werkes durch das Zeugnis, ja die Verfasserschaft des Lieblingsjüngers begründet. D.h. die neutestamentlichen Geschichtswerke sind nicht als erbauliche Romane zur frommen Unterhaltung, sondern als autoritative »messianische Erzählungen« geschrieben, die Glauben fordern (Joh 20,31). 1.14 Was die Darstellung der Evangelien inhaltlich von den »biographischen« Geschichtserzählungen des Alten Testaments unterscheidet, ist, daß sie nicht nacheinander das Wirken von mehreren z. T. sehr verschiedenartigen »Gottesmännern« erzählen wollen, die vor langer Zeit wirkten, sondern sich ganz bewußt auf die eine, messianisch-eschatologische Gestalt Jesu von Nazareth konzentrieren, der vor wenigen Jahren gelebt hatte, der als Messias und Gottes Sohn das endzeitliche Heil für alle Menschen erschließt und dessen Geschichte darum selbst Heilsbotschaft, »Euangelion«, ist. Darum müssen in den Evangelien alle Personen neben Jesus, die Jünger oder auch seine Gegner, mehr oder weniger eine Statistenrolle ohne selbständige Bedeutung spielen. Weniger in der äußeren literarischen Form als in dem absoluten, endgültigen, unüberbietbaren endzeitlichen Offenbarungsanspruch liegt das Neue, das die Evangelien bringen. Es war jedoch ohne Zweifel diese Beziehung zur vorausgehenden »heiligen« alttestamentlich-jüdischen Geschichte und ihren »biographischen« Erzählungen in Verbindung mit dem Anspruch, die dort berichtete Geschichte Gottes mit seinem Volk zu erfüllen und zu überbieten, die der urchristlichen Überlieferung von Jesus von Anfang an ihren eigentümlichen Charakter gab. Dieser Anspruch führte mit einer gewissen inneren Notwendigkeit zu einer eigenen Geschichtsschreibung als Darstellung des Heilsgeschehens. Die mündliche Erzählung drängte Schritt für Schritt zur endgültigen schriftlichen Fixierung und Zusammenfassung. Dies gilt vor allem für die Zeit nach dem Tod der ersten Generation ab dem 7. Jahrzehnt n.Chr. In der Literatur der anderen hellenistisch-römischen Kulte findet sich dage34
gen für die urchristliche Form der Geschichtsdarstellung kaum Vergleichbares. Zwar hat man in den Heiligtümern eines Asklepios oder Sarapis die Heilungswunder der Götter aufgeschrieben und gesammelt, auch sollen verschiedene Schriftsteller, darunter der berühmte Demetrios von Phaleron, als Berater des ersten Ptolemäers bei der Begründung des Sarapiskultes, wunderbare Heilungen und Anweisungen, die dieser Gott in Träumen gab, in mehreren Büchern aufgezeichnet haben (Artemidor, Oneirocriticon 2,44); aber derartige Mirabilia bleiben doch von den Geschichtsberichten des Urchristentums relativ weit entfernt. Die wohl nächste Parallele, die jüngst entdeckte Biographie Manis, eines gnostischen Religionsstifters aus dem 3. Jh. n. ehr., ist ihrerseits wieder direkt von der urchristlichen Tradition, des Paulus und der Evangelien, abhängig. Die jüdisch-rabbinische Überlieferung, die ja über eine Fülle biographischer Anekdoten von bedeutenden Lehrern verfügt, die man leicht hätte zu »Biographien« verarbeiten können, hat dagegen bewußt auf deren systematische Zusammenfassung verzichtet und diese ganz in den Dienst der juridisch-kasuistischen Thoradeutung in Mischna und Talmud bzw. der Schriftauslegung, des Midrasch, gestellt. Die biographische Anekdote ist dort weitgehend nur noch Illustration und Exempel für den speziellen Kasus der Halacha, und sie hat damit ihre historische Eigenbedeutung fast völlig verloren. Das Rabbinat hat so der Auslegung der Thora die ganze eigene geschichtliche Überlieferung total ein- und untergeordnet. Die Ereignisse der Gegenwart nach der Zerstörung des Heiligtums und dem Verlust Judäas, einer Gegenwart, die völlig unter der Herrschaft der »gottlosen Macht«, d.h. Roms, stand, waren nicht mehr wert, aufgeschrieben zu werden. Das heilsgeschichtliche Bewußtsein, das die alttestamentlich-jüdische Geschichtsschreibung hervorgebracht hatte, ging im Grunde auf das Urchristentum über. Man könnte sich fragen, ob diese Entwicklung im Rabbinat nicht unter anderem eine Reaktion auf die Entstehung der Evangelien war. Auch das Leben des einzelnen Lehrers, selbst der ganz Großen wie Rillel, Akiba oder Jehuda han-nasi, trat völlig hinter der Lehre von der rechten Gebotserfüllung, d. h. der Thora, zurück. Man könnte freilich im Blick auf das Phänomen der neuen »urchristlichen Geschichtsschreibung« von einem Selbstwiderspruch sprechen. Denn welchen Sinn hatte es, jenes die Geschichte beendende »endzeitliche Heilsgeschehen« nun selbst wieder als fortlaufende Geschichte zu erzählen? Overbeck hat auf diesen Punkt vor allem im Zusammenhang seiner Kritik der Apostelgeschichte hingewiesen. Die Frage ist, ob nicht das Wirken und der Ausgang Jesu sowie die Geisterfahrung seiner Jünger eine elementare Erschütterung auslösten, die die urchristlichen Gemeinden dazu nötigte, diese Ereignisse als Heilsbotschaft erzählend zu verkündigen und verkündigend zu erzählen und daß eben darin das Bewußtsein des »Endes der Geschichte« zu einer neuen »kerygmatischen« Geschichtsschreibung hindrängte (s. u. S.42ff). 35
2.Kapite1: Die Apostelgeschichte als Geschichtsquelle 2.1 Unser besonderes Interesse gilt im folgenden jedoch nicht so sehr den Evangelien als der Apostelgeschichte des Lukas und dem darin dargestellten Weg der J esusbotschaft nach dem Auftreten J esu, seinem Tode und den gemeindegründenden Auferstehungsereignissen. Was bei ihr zunächst auffällt, ist der fast anstößige Eklektizismus in der Auswahl des Stoffes. Doch eben darin unterscheidet sie sich gar nicht so sehr von den Evangelien und anderen antiken Geschichtswerken. Durchweg stehen einzelne Ereignisse von besonderer Bedeutsamkeit im Mittelpunkt der fortlaufenden Erzählung, die nicht selten durch knappe - historisch jedoch u. U. wertvolle - Summarien verbunden werden: Himmelfahrt und Pfingsten, Erfolge und erste Verfolgung in Jerusalem, das Martyrium des Stephanus, die Berufung des Verfolgers Paulus, die erste Bekehrung eines Heiden, die wunderbare Befreiung des Petrus, die erste Missionsreise des Paulus und des Barnabas, das »Apostelkonzil«. Die chronologische Ordnung ist insgesamt wesentlich besser als in den Evangelien, obwohl auch sie Fehler und Ungenauigkeiten enthält. Das nimmt nicht wunder: Für Lukas umfaßt die öffentliche Wirksamkeit Jesu eine Zeit von kaum mehr als einem Jahr, während sich die in der Apostelgeschichte geschilderten Ereignisse auf rund 30 Jahre verteilen. Hier war eine chronologische Ordnung leichter möglich und zudem auch notwendiger. Zugleich fällt die Konzentration auf einzelne autoritative Persönlichkeiten auf, von denen die ersten beiden auch in den Evangelien eine Rolle spielen: Petrus und Johannes, dazu Stephanus und Philippus, Barnabas und Paulus, und schließlich der Herrnbruder Jakobus. Die beherrschende Persönlichkeit des ersten Teils bleibt dabei Petrus; ab 13,9 ist es Paulus, den Lukas bis dahin Saulus genannt hatte. Die Schilderung seiner göttlichen Führungen und eigenen Taten drängt von jetzt ab in einer beinahe ärgerlichen Ausschließlichkeit alle anderen urchristlichen Autoritäten in den Hintergrund. Petrus verläßt mit Kap. 15 die Szene, Jakobus und seine Ältesten treten nach der konfliktgeladenen Begegnung mit Paulus 21,18-26 ab. Die letzten 6 Kapitel sind ganz dem gefangenen Apostel gewidmet; die christliche Gemeinde kommt nur noch ganz am Rande ins Blickfeld, so in Si don (27,3), in Puteoli (28,14) und dann in Rom (28,15). Die Gemeinden in Palästina scheinen nach Lukas die Gefangenschaft des Apostels gar nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Folgerichtig werden wir auch nur über einige wenige Hauptstädte und Gemeinden informiert: Jerusalem, Caesarea, Damaskus, Antiochien, Philippi, Thessalonich, Korinth, Ephesus und schließlich, als Ziel, die Welthauptstadt Rom. Andere Gestalten und Orte, das Schicksal der Mehrzahl der »zwölf Apostel«, die Anfänge der Kirche in Alexandrien oder Rom werden bewußt ausgeblendet. Dabei sind auch die im Grunde meist spärlichen Nachrichten über die einzel36
nen Orte und Gemeinden nicht Selbstzweck; sie werden fast nur in Zusammenhang mit bestimmten beherrschenden Personen, in erster Linie Paulus, mitgeteilt. Wir können darum auch nicht - wie es heute gerne geschieht - so ohne weiteres behaupten, Lukas sei über die Frühzeit des Christentums nur das bekannt gewesen, was er berichtete. Er wußte gewiß wesentlich mehr, als er niederschrieb; wenn er etwas verschwieg, hatte dies bestimmte Gründe. Durch diese strenge Beschränkung des Stoffes wurden seine Helden erst »ins rechte Licht gerückt«. 2.2 Von ihrer literarischen Gattung her ist die Apostelgeschichte, deren Überschrift »praxeis ton aposto[on(( (»Taten der Apostel(() ihrem Inhalt nicht gerecht wird und darum wohl sekundär ist, eine recht eigenwillige »historische Monographie((, eine Spezialgeschichte, welche die missionarische Entfaltung einer jungen religiösen Bewegung in Verbindung mit zwei überragenden Persönlichkeiten, Petrus und Paulus, darstellt. Auf die Gattung dieser »historischen Monographien(( wurde schon hingewiesen (s.o. S.19); leider sind uns von den zahlreichen Werken dieser Art fast nur Fragmente erhalten. Neben den schon erwähnten Stadt-, Provinz- und Völkergeschichten gehörten dazu auch Berichte über Philosophenschulen wie etwa die Werke des Aristotelesschülers Aristoxenos über Pythagoras und die Pythagoreer und das Buch des Epikureers Idomeneus über die Sokratiker. Ein Beispiel aus der Zeit des Lukas sind die Aigyptiaka des ägyptischen Priesters und Stoikers Chairemon, der Erzieher des jungen Nero wurde; er schilderte in idealen Farben die ägyptische Priesterschaft als die wahren Stoiker. An Beispielen, die das Judentum betreffen, wären zu nennen die Schriften überwiegend heidnischer Schriftsteller »über die Juden(( (peri Iüdaiön), von denen meist nur noch die Verfassern amen und wenige Fragmente erhalten sind. Ihren häufig antisemitischen Charakter kann man den Exzerpten des Josephus in contra Apionem, aus Apollonios Molon, Apion oder dem 5.Buch der Historien des Tacitus entnehmen. Diesen heidnischen Polemiken standen jüdische Apologien desselben Titels gegenüber. Eine Familiengeschichte als Thema einer Monographie enthält der von Josephus im 12. Buch seiner Antiquitates erhaltene Tobiadenroman; an der alttestamentlichen Geschichtsschreibung orientiert ist das l.Makkabäerbuch, das im Grunde nur den Aufstieg der Priesterfamilie der Hasmonäer erzählt. Das Werk J asons von K yrene, das im 2. Makkabäerbuch zusammengefaßt ist, oder auch die zeitgeschichtlichen Monographien Philos über die Verfolgung der Juden in Alexandrien und die Gesandtschaft an Kaiser Caligula schlagen die Brücke von der jüdischen zur hellenistischen Geschichtsschreibung. Daß sich die Apostelgeschichte dennoch von all diesen »Analogien(( ganz wesentlich abhebt, liegt einmal am theologischen Selbstverständnis des Verfassers - der urchristliche Glaube schuf ein eschatologisches und d.h. zugleich religiös-mis37
sionarisches Selbstbewußtsein, das für die antike Welt in revolutionärer Weise neu war -, und zum anderen daran, daß man sie nicht vom Evangelium des Lukas trennen kann; die beiden Bücher müssen als eine historische und theologische Einheit verstanden werden. 2.3 Die häufig bruchstückhaft überlieferten antiken Geschichtswerke (s. o. S.13 f) sind - glücklicherweise - nicht unsere einzigen Quellen, über die wir verfügen. Sie werden ergänzt durch die Originalzeugnisse von Zeitgenossen in Poesie oder Prosa, durch die unzähligen Inschriften und Papyri, d. h. Privatbriefe, Verträge oder Geschäftspapiere, wobei diese fast ganz auf Ägypten beschränkt bleiben; über das dortige Alltagsleben sind wir daher für die hellenistisch-römische Zeit am besten informiert. Die zeitgeschichtlichen Anspielungen dieser Originalzeugnisse liefern einen entscheidenden Beitrag zur Kritik der eigentlichen Geschichtsschreiber, andererseits wird ihre historische Einordnung oft erst durch deren Berichte möglich. Des Aristophanes' Komödien und die Geschichte des peleponnesischen Krieges von Thukydides beleuchten sich gegenseitig, und unsere Detailkenntnisse über den Ausgang des römischen Bürgerkrieges, die Zeit eines Pompeius und Caesar, erhalten wir vor allem aus dem vielseitigen Werk Ciceros, jener Persönlichkeit in der Antike, über die wir, vor allem durch seine eigenen Schriften, am meisten wissen. Die Regierung des Augustus wird nicht nur durch Nikolaos von Damaskus, Tacitus, Sueton oder Cassius Dio, sondern auch durch Dichter wie Horaz, Ovid und Vergil erhellt, und eine Hauptquelle für die Zeit Domitians, Nervas und vor allem Traians sind die Briefe des jüngeren Plinius. Eine ähnliche Rolle spielen gegenüber der Apostelgeschichte die echten Briefe des Paulus, die der auctor ad Theophilum selbst gar nicht kannte. Sie machen eine historisch-kritische Beurteilung der Apostelgeschichte überhaupt erst wirklich möglich und werden andererseits in ihrem eigenen geschichtlichchronologischen Zusammenhang nur durch den Bericht des Lukas voll verständlich. Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte muß dabei an den paulinischen Originalzeugnissen kritisch gemessen werden. Man kann also einerseits sagen: Paulusbriefe und Acta erklären sich gegenseitig. Doch die Briefe besitzen dabei als Primärquellen selbstverständlich das größere Gewicht. Andererseits wäre ohne die gewiß unvollkommene, fragmentarische, ja zuweilen irreführende Darstellung des Lukas uns nicht nur die zeitliche und geographische Einordnung des Paulus und seines Werkes schwer möglich; auch die Entfaltung seiner großen Mission rund um die Ägäis und ihre Vorgeschichte wie auch sein Streben nach Rom und Spanien (Röm 15,22-29) blieben für uns weitgehend im Dunkeln. Die Bedeutung der lukanischen Apostelgeschichte als historische Quelle wird erst sichtbar, wenn man einmal konsequent versucht, ihre Daten aus unserem Wissen über das Urchristentum zu eliminieren. Der Beitrag des Lukas zum historischen 38
Verständnis des Paulus ist, trotz aller tendenziösen Verzeichnungen, wesentlich größer als viele Forscher heute wahrhaben wollen. Die Herkunft des Paulus aus Tarsus, seine Verbindung mit Jerusalem, die Bedeutung Antiochiens und des Barnabas für den frühen Paulus, die Reihenfolge der paulinischen Briefe, die Dauer seines Aufenthaltes in den missionarischen Zentren, die Chronologie seines Wirkens: dies alles und noch vieles andere wäre uns ohne die Apostelgeschichte ganz oder teilweise unbekannt. Eine weitere Quelle, die an vielen Punkten die Apostelgeschichte erläutert und besser zu verstehen hilft, sind die fast zu gleicher Zeit entstandenen Antiquitates des Josephus. Durch sie können wir z. B. die Regierungszeit Herodes Agrippas 1. (vgl. Apg 12 mit Ant. 19,274-363) chronologisch einordnen (41-10. März 44 n. Chr.); über seinen Tod erzählen J osephus und Lukas zwei verwandte, doch voneinander unabhängige Berichte, wobei die lukanische Fassung volkstümlicher gefärbt ist (12,19-32 vgl. Ant. 19,346-349). Erst durch Josephus verstehen wir die Hinweise auf die profetisch-messianischen Aufrührer Judas Galiläus und Theudas, bei denen Lukas die historische Reihenfolge verwechselte, und auf den »Ägypter, der 4000 Sikarier in die Wüste führte« (21,38 vgl. Ant. 20,169-172). Auch die Charakterisierung der Prokuratoren Felix und Festus sowie des Königs Agrippa II. wird durch Josephus bestätigt und ergänzt. Die Vertreibung der Juden aus Rom durch Claudius (Apg 18,2) wird durch die berühmte Sueton-Notiz bekräftigt und dort mit christlichen Aktivitäten in Verbindung gebracht (s. u. S.91). Selbst einzelne Inschriften leisten wertvolle Beiträge. So setzt die Theodotos-Inschrift aus J erusalem die Rolle der Hellenisten in Apg 6 in das richtige Licht (s. u. S. 63 ff), und die berühmte Gallioinschrift aus Delphi ermöglicht uns nicht nur, den Aufenthalt des Paulus in Korinth zu datieren, sondern darauf gründend eine Chronologie des Paulus und des Urchristentums zu entwerfen. Die Apostelgeschichte ist so an vielen Punkten mit anderen zeitgenössischen Geschichtsquellen verbunden.
3. Kapitel: Die urchristlichen Geschichtswerke als Quellen zu einer Geschichte des Urchristentums und die Einheit von Kerygma und Geschichtserzählung 3.1 Nach dem bisher Gesagten muß man nun doch betonen, daß im Vergleich mit anderen Bereichen und Epochen der antiken Geschichte und unter Berücksichtigung der oben bereits beschriebenen generellen Zufälligkeit und Bruchstückhaftigkeit der erhaltenen Zeugnisse die Quellenlage für die ersten 39
Jahrzehnte des Urchristentums, von Johannes dem Täufer bis zur neronischen Verfolgung oder bis zum Ausbruch des Jüdischen Krieges, im Grunde so schlecht gar nicht ist. Radikale Kritik, die am Ende eine »tabula rasa« übrig läßt, zeugt daher meist nur von der Unfähigkeit zu wirklich historischem Denken, zumal ihr häufig nicht das ehrliche» Ignoramus«, sondern wilde Rekonstruktionen folgen. Es gibt eine Kritik, die das Attribut »kritisch« nicht mehr verdient, weil sie keine Selbstkritik kennt. Eben darum sollte man heute an dem so beliebten und sachlich richtigen Adjektiv »historischkritisch« von der Sache her festhalten. Abzulehnen wäre nur ein damit verbundenes falsches Pathos, weil eben dieses echter kritischer Haltung widerspricht. Wir können die Quellenbasis für das Urchristentum ja noch weiter ausdehnen; denn außer den schon genannten Quellen, den Evangelien, der Apostelgeschichte und den echten und sekundären Paulusbriefen, besitzen wir auch eine Fülle anderer, meist pseudepigraphischer Schriften aus der Zeit etwa zwischen 70 und 110 n. ehr., aus denen sich Rückschlüsse auf die »Gründerzeit« ziehen lassen; hinzu kommen Nachrichten bei Papias, Hegesipp und Euseb sowie Notizen bei Josephus, Tacitus, Sueton, dem jüngeren Plinius und aus der rabbinischen Tradition. Unsere Kenntnisse der jüdischen und hellenistischen Umwelt, durch die Funde von Qumran, die gnostischen Texte von Nag Hammadi, rabbinische Nachrichten und zahlreiche Inschriften und Papyri erweitert, liefern ebenfalls Hilfsmittel zur historischen Rekonstruktion. Daß man bei jeder einzelnen Nachricht ihren historischen Gehalt kritisch prüfen, zwischen Legende und Historie unterscheiden muß, ist selbstverständlich. Dies gilt jedoch für alle antike Berichterstattung, da die Legendenbildung schon zu Lebzeiten großer Männer begann. Doch auch die streng genommen »unhistorische Legende« oder »ideale Szene« kann historisch wertvoll sein, weil gerade sie gerne Wesenhaftes, Typisches, etwa den Gesamteindruck einer Person oder eines Ereignisses wiedergeben, und weil sie damit deren früheste Wirkungs geschichte zum Ausdruck bringen. Ob sich die plastischen Anekdoten über Demonax bei Lukian im einzelnen wirklich ereignet haben, läßt sich heute kaum mehr mit Sicherheit entscheiden, und doch geben sie in ihrer Gesamtheit ein eindrückliches Bild dieses von Lukian so sehr verehrten kynischen Philosophen; erst recht fällt es niemand ein, an seiner »Historizität« zu zweifeln, obwohl wir ihn nur durch Lukian kennen.
3.2 Gemessen an dem »Reichtum« der frühchristlichen Quellen ist unser Wissen über andere Erscheinungen der antiken Geistes- und Religionsgeschichte, etwa über Pythagoras und die frühe pythagoreische Bewegung in Italien, über den historischen Simon Magus, den echten Apollonios von Tyana und seinen geistigen Enkel, den Mysteriengründer Alexander von Abonuteichos, über die Gründung des Sarapis- und die Hellenisierung des Isiskultes, über die essenische Bewegung oder die Praxis der jüdischen Mission, 40
eher gering. Wir verdanken unsere eingehende Kenntnis der Ursprünge des Christentums vor allem dem Tatbestand, daß Lukas und ebenso die beiden anderen synoptischen Evangelisten, ja in gewisser Weise sogar der Verfasser des vierten Evangeliums, nicht einfach Prediger einer abstrakten Botschaft, sondern zugleich eben ganz bewußt» Geschichtsschreiber«, man könnte auch sagen »Geschichtserzähler«, sein wollten, die durch ihren Geschichtsbericht die neue Botschaft vom Kommen des Messias Jesus verkündigten. Sie besaßen zwar keinen oder nur geringen literarischen Ehrgeiz und - wenn wir von Lukas absehen - auch keine wirkliche literarisch-rhetorische Bildung, um so mehr aber ein theologisches Interesse, das zugleich auch ein geschichtliches war. Es ging ihnen darum, mit dem Bericht vom Wirken und Leiden J esu von Nazareth nicht weniger als die Geschichte von Gottes endzeitlicher Selbstmitteilung, seinem Kommen zu den Menschen zu erzählen und eben darin den alttestamentlichen Geschichtsbericht, an den sie alle in irgendwelcher Weise anknüpfen, durch die Erzählung von der Erfüllung der Verheißung zu vollenden. Lukas führte dann diese Erzählung weiter durch die Geschichte von der Sendung der Jünger, dem Kommen des Geistes und der durch diesen geleiteten Mission, die im Wirken des Paulus kulminierte. Er führte damit Ansätze weiter, die sowohl in der Evangelientradition wie auch in den älteren Briefen des Paulus sichtbar werden. Die urchristlichen Geschichtsschreiber erzählten diesen Bericht von der endzeitlichen Vollendung als ein Gegenwart und Zukunft bestimmendes, Zeit und Ewigkeit umfassendes, einzigartiges und alle angehendes - gleichwohl aber trotz alledem vergangenes - Geschehen, das die Geschichte des Alten Bundes ein für allemal abschließt und zugleich die verlorene Menschheit mit Gott versöhnt. Es war ein Geschichtsbericht, der darum als Erzählung zugleich Glauben an das darin zur Sprache kommende Handeln Gottes selbst forderte. Die Zeit des Alten Bundes und die Erfüllung seiner Verheißungen in der durch das Wirken und Leiden J esu bestimmten und von seinem Geist beherrschten Gegenwart mußten sich dabei durchaus nicht ausschließlich in positiver Weise entsprechen; ihr Verhältnis war ja wohl schon von Jesus selbst zugleich antithetisch formuliert worden: »Das Gesetz und die Profeten gehen bis Johannes. Von da ab wird die Gottesherrschaft verkündet, und jeder drängt mit Gewalt in sie hinein« (Lk 16,16). Bereits das kritische Jesuswort vom neuen Tuch auf dem alten Kleid und vom neuen Wein in den alten Schläuchen (Mk 2,21 f) deutet auf diese Antithese hin, die sich in den paulinischen Aussagen vom Neuen und Alten Bund (2. Kor 3,6.14) voll entfaltet und die der Johannesprolog dann durch den Satz umschreibt: »denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden« (1,17). Lukas bringt - auf seine Weise - diesen Bruch in der Apg durch die Stephanusrede Apg 7 und dann in dem Petrus in den Mund gelegten Satz über das Gesetz als das »Joch«, »das weder unsere Väter noch wir tragen konnten« (15,10), zum 41
Ausdruck, eine Deutung der Thora, die jüdischer Tradition schroff widersprach. 3.3 Die neutestamentliche Wissenschaft war deshalb schlecht beraten, als sie sich einreden ließ, Geschichte und Kerygma seien sich ausschließende Gegensätze. Die Folge war, daß man den urchristlichen Verfassern unterstellte, sie wollten in der Regel gar nicht eigentlich Geschichte erzählen, sondern nur verkündigen. Als Beispiel verweise ich auf einige Sätze aus einem vielzitierten Werk über das zweite Evangelium: »Gleichsam als> Überschrift< wird hier (scil. in Mk 1,1) euangelion über das ganze Werk gesetzt ... Es ist ein Evangelium. Das aber heißt von Anfang an: das Werk ist als Verkündigung zu lesen, ist als solches Anrede, nicht aber >Bericht von J esus<. Daß hier auch Berichtetes auftaucht, ist unter diesem Aspekt fast zufällig. Es ist jedenfalls nur Material. Paulus kann auf dieses Material weitgehend verzichten ... Reihenfolge, historisches Nacheinander, das alles ist zwar im Material enthalten oder dort mindestens angelegt, verkündigt aber wird in der Gegenwart in diese Gegenwart hinein« (W.Marxsen, Der Evangelist Markus. 1959,87). Hier wird durch die Brille eines massiven Vorverständnisses hindurch die Intention des Evangelisten Markus in völlig verzerrter Weise dargestellt. Kein Wunder, daß man auf Grund eines derartigen Zerrbildes den Evangelisten Lukas, angeblich die einzige Ausnahme, als »Theologen der Heilsgeschichte« des Verrates am wahren Evangelium bezichtigen konnte. In Wirklichkeit verkündigen die neutestamentlichen Verfasser gerade, indem sie das Handeln Gottes innerhalb eines ganz konkreten Zeitraums in der Geschichte, an einem bestimmten Ort und durch wirkliche Menschen als Geschichtsbericht erzählen. Es ist kein Zufall, daß Paulus in seinen Briefen zuweilen in Andeutungen auf das Erzählen von Jesusgeschichte hinweist, Andeutungen, die ein »MehrWissen« bei den Lesern voraussetzen (1. Kor 11,23 ff; 15,3 ff; Röm 1,3; 15,8; PhiI2,8; Ga14,4 u. ö.). Man muß annehmen, daß er bei seiner - in den Briefen ganz zurücktretenden - Missionspredigt selbstverständlich auch Jesuserzählungen vortrug, und hier in erster Linie die Passionsgeschichte, die Erzählung von der Kreuzigung J esu. Man darf dabei nicht übersehen, daß uns die Missionspredigt des Paulus nur noch in Spuren bekannt ist; er hat keinen Anlaß, sie in seinen Briefen in extenso zu wiederholen. Um so schwerer wiegen diese vereinzelten Hinweise. Man konnte in der Antike keinen Menschen, der am Kreuz, d.h. den schimpflichen Tod des gemeinen Verbrechers, gestorben war, als Gottessohn und Welterlöser proklamieren, ohne klar und deutlich von seinem Wirken, Leiden und Sterben zu berichten. Die Zuhörer der urchristlichen Missionare waren nicht weniger wissensdurstig als wir es heute sind. Gewiß wollten schon sie nähere Informationen über den Menschen J esus haben. M. a. W.: Der Erhöhte wurde gerade dadurch beschreibbar, daß man vom Irdischen, seiner Wirksamkeit und seinem Sterben erzähl42
te. Der zur Rechten Gottes Erhöhte war für die Gemeinde kein blasser Schemen. Man kannte ihn aus den Erzählungen seiner Boten. An die Stelle der apokalyptischen Ausmalung der himmlischen Seinsweise des Erhöhten zur Rechten Gottes, die ja in den neutestamentlichen Schriften stark zurücktritt, trat der Bericht von seinem heilvollen Wirken und grausamen Sterben in Galiläa und Jerusalem, und darüber hinaus, etwa in der Apostelgeschichte (und selbst in der Johannesapokalypse), der Hinweis auf die gegenwärtige Wirkung seines Geistes und Wortes und auf das Leiden seiner Gemeinde. Auch das beliebte Schlagwort von der »Vergegenwärtigung« des Heilsgeschehens in der urchristlichen Predigt sollte in diesem Zusammenhang nicht mißbraucht werden. Gerade der Sprachgebrauch des Paulus zeigt durch die sehr sorgfältige Verwendung der Vergangenheitsform des Aorists in der Rede vom Tod und der Auferstehung Jesu, daß es sich nicht um ein beliebig wiederholbares oder gar zeitloses, sondern um einmaliges (ephapax Röm 6,10) Ereignis handelt, das darum - streng genommen - durch die Predigt nicht eigentlich »vergegenwärtigt« werden kann; vielmehr werden die angesprochenen Hörer in das vergangene Geschehen zurückversetzt, mit ihm »gleichzeitig« gemacht: »Oder wisset ihr nicht, daß wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft worden sind, in seinen Tod hineingetauft worden sind?« (Röm 6,3). Es gibt darum keine Verkündigung des Evangeliums, ohne daß zugleich vergangene Geschichte erzählt wird. Auch die kürzeste christologische »Bekenntnisformel« des Urchristentums, »Christus starb für uns«, enthält mit dem Subjekt und Prädikat »Christus starb« in nuce ein erzählerisches, geschichtliches Element. Das Verb »starb« drückt durch seine Vergangenheitsform, den griechischen Aorist apethanen, ein abgeschlossenes, einmaliges Geschehen der Vergangenheit aus, und das Subjekt Christos ist m.E. ein Hinweis darauf, daß Jesus, wie die Kreuzesinschrift (Mk 15,26) zeigt, als Messias, griechisch Christos, verurteilt und getötet wurde. Daß das Berichtete nicht die bloße historische Neugierde befriedigte (die man nicht verachten soll), sondern einzigartige Bedeutung für die Gegenwart besaß, ist eine Selbstverständlichkeit. Die urchristlichen Geschichtserzähler waren natürlich keine Archivare oder Archäologen, die die Vergangenheit um ihrer selbst willen interessierte. Dies waren die antiken Historiker in der Regel überhaupt nicht, sie griffen zur Feder, um ihre Zeitgenossen für die Gegenwart und Zukunft (Thuk 1,22) zu belehren. Ein großer Teil der antiken Geschichtsschreibung war zudem aktuelle Zeitgeschichte. Man schrieb in der Regel für die Gegenwart und vom Standpunkt der jeweiligen Gegenwart aus. Das streng historische Bewußtsein des Abstandes vom Vergangenen gab eszumindest im modernen Sinne - noch nicht. Für die Verfasser der Evangelien hatte sich das Heilsgeschehen mit Jesus von Nazareth in unmittelbarer, noch lebendiger Vergangenheit ereignet, sie schrieben, wenn man so will, »eschatologische Zeitgeschichte«. Dies unterschied sie von der heiligen Urge43
schichte des Pentateuch, wo die lebendige Kette der Überlieferungs träger • längst abgebrochen und man allein auf das geschriebene Wort angewiesen war. Die Rabbinen wollten zwar durch die Lehre von der beständigen mündlichen Tradition von Mose und vom Sinai her diese Einschränkung überwinden, aber sie wußten im Grunde selbst, daß dies eine Fiktion war. Das Besondere des urchristlichen Geschichtsberichts lag so darin, daß dem hier als Ereignis der jüngsten Vergangenheit Berichteten einzigartige Heilsbedeutung für alle Hörer zukam, daß das nur kurze Zeit zurückliegende Geschehen zugleich Gottes Heilsangebot für jeden Menschen enthielt, das im glaubenden Vertrauen aufgenommen und im Unglauben zurückgewiesen werden konnte. Der vielumstrittene Begriff »Heilsgeschichte« sollte von diesem besonderen »Heilsangebot« her verstanden werden, das in Gottes Geschichte mit Jesus von Nazareth gründet, und nicht aus der falschen Vorstellung abgeleitet werden, daß darin immer nur von» heilvoller Geschichte« die Rede sein müsse. Im Gegenteil: Von der menschlichen Seite her betrachtet kam nicht zuletzt auch das Unheil zur Sprache, so im Unverständnis und in der Leidensscheu der Jünger, im Verrat des Judas und in der Verleugnung des Petrus, ja überhaupt in der Erzählung der Passion Jesu. Die für das Urchristentum typische Einheit von Evangeliumsverkündigung und Geschichtserzählung wird aus einer redaktionellen Bemerkung deutlich, die der Evangelist Markus Jesus in den Mund legt. Mk 14,9 sagt dieser über die unbekannte Frau, die ihn in Bethanien salbte: »Wahrlich, ich sage euch, wo immer das Evangelium in der ganzen Welt verkündigt wird, wird auch erzählt werden, was sie getan hat, ihr zum Gedenken«. Hier setzt Markus als selbstverständlich voraus, daß im Zusammenhang mit der Predigt der frohen Botschaft in allen Gemeinden auch die Tat dieser Frau berichtet wurde, daß also Verkündigung (käryssein) und GeSchichtserzählung (laIein) untrennbar miteinander verbunden sind. Die schriftliche Fixierung der »Geschichte Jesu« in der ersten Beschreibung seines messianischen Wirkens und Sterbens - man könnte ruhig sagen: in der ersten »Jesus-Biographie« - geht bereits von einer festen, verbreiteten Erzähltradition aus, auf die der Evangelist in ganz selbstverständlicher Weise aufbauen konnte. Dies gilt vor allem auch für die Geschichte der Passion, aus der nach 1. Kor 11,23 ff bereits Paulus einen größeren Bericht mit konkreten Daten gekannt haben muß. Die Kreuzigung Jesu war für den antiken Hörer deshalb ein so furchtbarer Anstoß, den man unter den fortschrittlichen Gebildeten doketisch verschleiern mußte, weil sie ein grauenhaft konkretes Geschehen war, das, wollte man es nicht verfälschen, nicht auf ein unanschauliches »punctum mathematicum« reduziert werden konnte. Eine derartige Reduktion führt zur Abstraktion, und durch die Abstraktion verflüchtigt sich die dahinter stehende Realität ins Wesenlose. Würde das Kreuz J esu zum bloßen, beliebig manipulierbaren Symbol, wie es dann in der Gnosis geschah, so hätte man das Ärgernis des 44
Kreuzes beseitigt. Darum mußte die Passionsgeschichte von den urchristlichen Missionaren - einschließlich des Paulus - in ausführlicher Weise erzählt werden. Wenn Paulus historisch sehr konkret von »der Nacht« berichten konnte, »in der Jesus ausgeliefert wurde« (1. Kor 11,23), so hatte er sicher noch wesentlich mehr über diese Nacht und die Auslieferung J esu mitzuteilen und setzte das Wissen darüber bei den Korinthern voraus. Denn auch seine Hörer müssen mehr über diese »Auslieferung Jesu« und sein Leiden bis zum Tode »ja zum Tode am Kreuz« (Phil2,8) gewußt haben als das bloße Faktum des Todes Jesu. 3.4 Weiter fällt auf, daß Paulus außerdem zahlreiche Bausteine zu einer »Apostelgeschichte(( bereitstellt; er trägt in 1.Kor 15,2-11, 1.Kor 9,lff, 1,12f; 3,4ff. 2lf, Röm 15,14ff und vor allem Gal1 und 2 einzelne Abschnitte vor, die man fast zu einer solchen zusammenfassen könnte. Dabei ist es für ihn selbstverständlich, daß die Gemeinden über die hier aufgeführten Personen und Ereignisse bereits gut Bescheid wissen. Häufig begnügt er sich mit Andeutungen, weil die Leser sehr viel besser informiert waren, als wir es heute sind. Auch das, was in der Gemeinde Jesu nach der Auferstehung geschehen war, blieb in den heidenchristlichen Gemeinden des Paulus nicht bedeutungslos für den Glauben. Dies hatte u. a. seinen Grund darin, daß für Paulus selbst sein apostolisches Wirken eine unmittelbare und notwendige Konsequenz der heilsbegründenden J esusgeschichte darstellte, durch das die Frist zwischen Auferstehung und Parusie ausgefüllt wurde, wobei hier immer auch sein Verhältnis zu den andern Aposteln mit zu reflektieren ist. War J esus als der Gekreuzigte zugleich der auferstandene und erhöhte Herr, so mußte er seine Boten aussenden, damit sie ihn zum Heil der Menschen verkündigten (Röm 10,12 -18). Darum hatte Gott Paulus und die anderen Apostel zu »Botschaftern an Christi Statt(( gemacht (2. Kor 5 ,20); der Auferstandene selbst wirkte in seinen apostolischen Boten. 3.5 Eben deshalb war das Heilsgeschehen nach urchristlicher Deutung »Geschichte((, die nicht nur den Tod und die Auferstehung Jesu als das eigentliche heilsbegründende Ereignis, sondern auch seine Sendung und sein Wirken sowie die Bevollmächtigung der Apostel durch den Auferstandenen umfaßte, eine Geschichte, die für die Apostel und Evangelisten, für Paulus wie für Lukas, als solche nicht nur ein.Geflecht aus menschlicher Leistung oder hybrider Selbstverwirklichung, kurz ein »Gemächte der Sünde(( war (G.Klein, ZNW 62,1971,42), sondern in und trotz allem menschlichen Tun zugleich Gottes Tat, die Verwirklichung des göttlichen Heilswillens gegen alle menschliche Selbstbehauptung darstellte. Bei der Beurteilung dieses Geschehens ist allerdings die Voraussetzung grundlegend, daß sowohl das vernichtende Urteil über die »Geschichte(( als Versuch menschlicher Selbstver45
wirklichung wie erst recht die Erkenntnis der Geschichte Jesu und der Apostel als Gottes Werk Einsichten des Glaubens sind, die aus dem ständigen Fluß der Ereignisse nicht positivistisch abgelesen werden können, sondern ein Betroffensein durch das Wort Jesu und seiner Boten voraussetzen. Es geht hier nicht um das Phantom einer isolierten, mit historischen Mitteln abgrenzbaren »Heilsgeschichte«, sondern um ein glaubendes Verstehen der Geschichte Jesu im Urchristentum selbst als desjenigen Geschehens, in dem Gott zum Heile aller Menschen gehandelt hat, wobei solches Verstehen des Glaubens eben darin wirksam wird, daß es dazu drängt, die Geschichte Jesu zum Lobe Gottes nachzuerzählen. Darum kann die moderne, Fakten suchende historisch-philologische Analyse der frühchristlichen Geschichtsquellen niemals zu dem Urteil führen, daß Gott selbst in der Geschichte Jesu und seiner ersten Boten gegenwärtig war, sondern allein das gehorsame Hören auf deren Botschaft, die den Geschichtsbericht, die Erzählung, notwendigerweise mitumfaßte. Als das Paradigma für die Kraft dieser Botschaft erscheint vor allem Paulus, und zwar sowohl in seinen Briefen (1. Kor 15,10; Gal1,15 ff) wie in der Darstellung des Lukas (Apg 9,15). Der Auferstandene, der ihm begegnete, war keine gnostische Hypostase, sondern niemand anderes als der eine Mensch J esus von N azareth, der aus dem jüdischen Volk stammte, dessen leiblichen Bruder Jakobus Paulus gekannt hatte (1. Kor 9,5; Gal1,19), der in der letzten Nacht vor seinem Tode das Herrenmahl eingesetzt hatte und dann gekreuzigt worden war und den Gott zu sich erhöht hatte, der damit eine ganz eigene Geschichte verkörperte und der als der Erhöhte zugleich die Ausbreitung der neuen Botschaft bewirkte. D. h. dieser J esus war zugleich der wirkungsmächtige Grund der neuen endzeitlichen Gemeinde und ihrer missionarischen Verkündigung. Bildete Jesus den Grund des Heils, so wurde Paulus als sein »dreizehnter Zeuge« (Chr. Burchard) das unüberbietbare Werkzeug für die Ausbreitung desselben. Aus diesem Grund zeichnet ihn Lukas als einzigartiges Beispiel eines Zeugen Jesu; darum kann er auch im neutestamentlichen Kanon zum eigentlichen zentralen »apostolos« werden. 3.6 Die Form der Geschichtserzählung ist nun bei den einzelnen neutestamentlichen Autoren freilich recht verschieden. Hier spielte sowohl das Maß ihrer griechischen oder jüdischen Bildung als auch ihr theologisches Denken, ihre Herkunft und ihre Schulzugehörigkeit eine entscheidende Rolle. Bei Lukas ist gewiß der Grad an schulmäßig rhetorischer Ausbildung am höchsten; bei Matthäus steht das judenchristliehe, der pharisäischen Tradition verpflichtete Lehrhaus im Hintergrund, bei Johannes hingegen eine fast esoterische, stark judenchristlich geprägte Schulgemeinschaft, die in vielem der palästinisch-jüdischen Mystik verpflichtet ist. Markus steht hier dem Urgeschehen relativ am nächsten; in seinem Werk ist noch jener starke missionari-
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sche Impuls lebendig, den wir auch bei Paulus finden; sein Blick richtet sich noch bewußt auf Galiläa als die Heimat Jesu und den wichtigsten Ort seiner Wirksamkeit und auf J erusalem nur als die Stätte seiner Verwerfung und Passion. Der Verfasser ist zwar literarisch ungebildet, aber ein theologisch befähigter, ja begnadeter Erzähler. Er ist doch wohl mit Johannes Markus (Apg 12,12; 13,5; 15,37), der später mit Petrus verbunden wurde (l.Petr 5,13), identisch (s. u. S. 79f). Sicherlich war er nicht, wie heute gerne vertreten wird, ein unbekannter Heidenchrist. Herkunft, Bildung, Stil und Arbeitsweise der einzelnen Verfasser hängen so eng miteinander zusammen und bedingen auch die Form der Verarbeitung ihrer Traditionen. Es ergibt sich aus alledem von selbst, daß die urchristlichen Geschichtsberichte nie rationale Beweismittel für die Wahrheit und Realität des von Gott ausgehenden Heilsgeschehen sein wollen, die durch ihre Demonstration Sicherheit verschaffen und den Glauben überflüssig machen. Sie sind vielmehr gerade als Erzählung immer zugleich Zeugnis, das zum glaubenden Einverständnis auffordert. Diese Erzählung konnte man natürlich auch im negativen Sinne lesen, wie die Beispiele der antichristlichen Polemiker, Kelsos oder Porphyrios, etwa bei ihrer Auswertung der Passionsgeschichte, zeigen. Aber durch ein solches - abwertendes oder auch neutrales - bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen wurde das in J oh 20,31 angeieigte eigentliche Ziel der Erzähler: »damit ihr glaubet ... «, verfehlt. In diesem Ziel sind sich alle neutestamentlichen Geschichtserzähler einig; auch das »Erkennen« der Zuverlässigkeit der Jesusüberlieferung in Lk 1,4 meint ein Erkennen, das den Glauben nicht aus-,. sondern einschließt.
4. Kapitel: Zur historisch-kritischen Methode 4.1 Die - angeblich - rein »immanente« und »wertfreie«, da »historischkritische« Erkenntnis geschichtlicher Ereignisse ist erst eine» Errungenschaft« der Neuzeit. In der Antike hatte man es noch kaum nötig, sein» Vorverständnis« oder »erkenntnisleitendes Interesse« schamhaft zu verleugnen. Der Glaube an die Möglichkeit übernatürlicher, göttlicher Einwirkungen in den Geschichtsverlauf, an wunderbare Ereignisse war die Regel und wurde nur von ganz wenigen völlig abgelehnt. Das Geschichtsbild Herodots, des ersten großen griechischen Historikers (5.Jh. v.Chr.), gründete auf seiner Überzeugung von der absoluten Herrschaft des unabänderlichen Geschicks, dem kein Sterblicher entrinnen kann, wobei die Götter dem übermäßigen Glück 47
in der Regel das Unglück und der Hybris die gerechte Strafe folgen lassen. Bei dem bedeutendsten hellenistischen Geschichtsschreiber, Polybios (2. Jh. v. Chr.), ist zwar die Schicksalsgöttin Tyche meist nur noch Chiffre für den wechselhaften, oft willkürlichen Gang der Ereignisse, der dann letztlich doch die Tüchtigsten, d. h. die Römer, begünstigt; aber auch er kann sich in eklatanten Fällen auf das Eingreifen der göttlichen Strafgerechtigkeit berufen. N ach dem wenig später lebenden Stoiker Poseidonios dagegen, der das Geschichtswerk des Polybios fortsetzte und wie kein anderer Schriftsteller in der Antike universales Wissen und philosophische Gestaltungskraft in seine Historiographie einbrachte, darf die Geschichte niemals unter der Herrschaft des blinden Zufalls gesehen werden, vielmehr bezeuge sie das sinnhafte Walten des göttlichen »Logos« bzw. der »Vorsehung«. Von Poseidonios hängt wohl Diodorus Siculus ab, der in den echten Historikern »Diener der göttlichen Vorsehung« sah (11,3). Cassius Dio, an der Wende vom 2. und 3.Jh. n. Chr., glaubte felsenfest an die geschichtliche Bedeutsamkeit aller Arten von göttlichen Vorzeichen, bewies in seiner ersten Schrift das Gottesgnadentum des Kaisers Septimius Severus und ließ sich bei seiner Geschichtsschreibung durch Träume leiten. Als hoher römischer Beamter kannte und haßte er die Christen, Grund genug, sie in seinem großen Geschichtswerk nie zu erwähnen, sondern sie im wahrsten Sinne des Wortes »totzuschweigen«: damals wie heute ein beliebtes Mittel politischer Polemik. Gemeinsam ist der überwiegenden Mehrzahl der antiken Historiker so die Anschauung, daß Geschichte nicht Werk der Menschen allein, sondern zugleich Wirkungsfeld übermenschlicher Mächte sei, der Glücksgöttin Tyche oder der Heimarmene, eines irrationalen göttlichen Willens oder aber der göttlichen »Vorsehung« der Stoiker. Nur die Epikureer glaubten an die absolute Herrschaft des willkürlichen Zufalls, dem der Mensch mit seinem freien Willen gegenüberstehe. Seine Vollendung fand das antike Geschichtsdenken gewiß nicht zufällig in einem christlichen Werk, das zugleich den einzigen großen geschichtsphilosophischen Entwurf der Alten Welt darstellt, nämlich in Augustins »Gottesstaat«; hier steht ebenfalls nicht der Mensch als beherrschende Kraft im Mittelpunkt, vielmehr treten sich die »civitas terrena diaboli«, die irdische Herrschaft des Teufels, und die »civitas dei«, die Gottesherrschaft entgegen: In der Betrachtung der Geschichte erweist sich, daß der Mensch als einzelner wie als Kollektiv nicht das »Maß aller Dinge« ist, sondern unter der Gewalt transsubjektiver »Mächte« steht. Gegenüber den sehr verschiedenen Geschichtsauffassungen griechischer und hellenistisch-römischer Historiker war das Eigentümliche der alttestamentlich-jüdischen Geschichtsschreibung die glaubende Gewißheit, daß der Gott, der Israel erwählte, allein Herr der Geschichte sei und sie in Gericht und Gnade lenke. Dafür ein jüdisch-hellenistisches Beispiel: Wir besitzen Fragmente eines Dramatikers Ezechiel, die den Exodus aus Ägypten ganz im
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Stile eines Aischylos und Euripides darstellen, mit dem einen Unterschied, daß - im Gegensatz zur griechischen Tragödie - das Schicksal in diesem Drama keine Rolle spielt, sondern das ganze Geschehen Gottes heilsamem Willen unterworfen ist. Diesem alttestamentlich-jüdischen Geschichtsbild stehen die neutestamentlichen Erzähler bei allen Unterschieden am nächsten. Wenn wir hier wieder Lukas als den bedeutendsten Geschichtsschreiber des Neuen Testaments herausgreifen, so kann ein Vergleich seines Werkes mit dem des Josephus oder mit den Makkabäerbüchern, und hier vor allem mit dem auf J ason von Kyrene zurückgehenden 2. Makkabäerbuch, seine besondere Nähe zur jüdisch-hellenistischen Historiographie zeigen, Lukas ist offenbar von einer festen Tradition religiöser Geschichtsbetrachtung beeinflußt, die im Grunde von der Septuaginta ausgeht. Daß er ganz bewußt in dieser Überlieferung stehen will, ergibt sich auch aus der Nachahmung des Septuagintastils. Sie hat bei hellenistischen Historikern eine Parallele in der von Lukian (15 f) verspotteten Imitation des Herodot mit seinem ionischen Dialekt oder der des Thukydides. 4.2 Unser Verständnis von Historie ist sicherlich von den Geschichtsauffassungen der Antike ganz wesentlich verschieden. Dennoch wäre es eine Illusion, wollte man die Existenz einer modernen, keimfrei positivistischen »historisch-kritischen« Methode voraussetzen, welche die angeblichen »bruta facta«, d. h. die realen Ereignisse, wie Schmetterlinge aufspießt und sammelt. Hier handelt es sich um eine abgestandene, wohl nur noch von Theologen weitergegebene Karikatur. Es gibt keine echte Geschichtsschreibung ohne Interesse und Wertung, ohne das bohrende Fragen nach tieferen Zusammenhängen, nach Ursachen und Wirkungen, ohne das Nachsinnen über Zufall und Schicksal, über menschliche Größe und menschliches Versagen, über Schuld und Verhängnis. Als Christ wird man noch einen Schritt weitergehen und behaupten müssen, daß Sinn und Einheit der Geschichte - wider allen Augenschein - nur auf Grund des Glaubens an Gottes die Einheit von Schöp~ fung und Erlösung bezeugende Offenbarung gedacht werden können. So wenig man mit historischen Methoden und aus der Betrachtung der Geschichte Gottesbeweise führen kann, so wenig ergibt sich aus der Anwendung historisch-kritischer Methoden die Anerkennung einer »atheistischen« Geschichtsbetrachtung, in der es die Frage nach Gottes Wirksamkeit nicht geben dürfe, nicht geben könne. Ähnliches gilt für die Kategorien Determination und Freiheit. Bei jedem Fragen nach tieferen Gründen historischer Ereignisse stößt der Forscher rasch auf unüberschreitbare Grenzen, auf die Frage nach dem »Warum«, die er nicht mehr zureichend beantworten kann. Das Studium der Geschichte macht so immer wieder die tiefen Aporien, ja die Ausweglosigkeit unseres Menschseins sichtbar, ohne daß die bloße Betrachtung vergangenen Geschehens zunächst eine Antwort auf die hier aufbre-
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chenden Fragen anbieten könnte. Darin liegt ihre Bedeutung wie ihre Beschränkung. Es ist allzu verständlich, daß die großen Historiker - schon in der Antike - selten fortschrittsgläubig waren, sondern eher dem Pessimismus zuneigten. Ein eindrückliches Beispiel dafür stellt Tacitus dar. Es gehört demgegenüber zu der unverwechselbaren Eigenart der urchristlichen Botschaft und der in ihr erzählten Geschichte, daß sie aus der Vergangenheit heraus den Betrachter, der ja immer zugleich auch ein Hörender ist, vor die Grundfrage nach der Wahrheit und Lüge seines Daseins stellt und eben darin jene unverbindliche Distanz zum Hörer und Betrachter aufhebt, die sonst für die Zuwendung zu längst Vergangenem die Regel ist. Der Hörer und Betrachter wird vielmehr in jenes einstige Geschehen an und mit Jesus, man könnte auch sagen: »in die Gegenwart Jesu« hineingenommen. In dieser Begegnung mit ihm und seiner für den Glauben einzigartigen Geschichte, durch die sich uns Gott selbst als liebender Vater bezeugt, werden wir auch des Sinns und der Einheit der Geschichte gewiß, denn diese - in J esus offenbar gewordene Liebe des Vaters - verbindet uns mit allen Menschen, den Gewesenen und den Kommenden, und bezeugt, daß wir alle von Gott geliebte Geschöpfe sind. Sinn und Einheit kann so die Geschichte etwa ganz konkret im Gebet des Vaterunser gewinnen. An die Stelle von Fortschrittsglaube und Pessimismus tritt hier die vertrauensvolle Anrufung des Schöpfers der Welt und Herrn der Geschichte als »unser Vater«, wobei diese Anrede zugleich den dankbaren Lobpreis seiner Güte mitumschließt. Indem wir ihn »Unser Vater« anrufen, heiligen wir seinen Namen. 4.3 Wenn wir uns aber jenem »einstigen Geschehen mit und an Jesus« zuwenden wollen, so müssen wir immer auch fragen, was damals wirklich geschah, wie es um die Ereignisse steht, die uns durch die urchristlichen Geschichtsschreiber berichtet werden. Eine derartige Zuwendung setzt aber heute - unserem Wahrheitsbewußtsein entsprechend - die historisch-philologische Erforschung der neutestamentlichen Quellen voraus, denn ohne sie ist ein wirkliches Verstehen des Neuen Testamentes für uns heute unmöglich geworden. Diese Zuwendung wird auf zweifache Weise behindert. Einerseits durch eine grundsätzliche Diffamierung der sogenannten »historisch-kritischen Methode«, hinter der die Angst vor der geschichtlichen Wahrheit steht, auf der anderen Seite durch einen Mißbrauch dieser Methode, der ihre Möglichkeiten und Grenzen verkennt und sie in eine dogmatische Methode verwandelt, und unter Berufung auf sie postuliert, »daß nicht sein kann, was nicht sein darf«. An sich würde der Ausdruck »historische Methode« genügen, der Begriff »historisch-kritisch« findet sich vor allem im theologischen Sprachgebrauch und hat einen apologetischen Unterton. Denn daß jede wissenschaftliche historische Arbeit immer zugleich auch eine kritische sein muß, ist eine Selbstverständlichkeit, die eigentlich nicht mehr besonders be50
tont werden müßte. Ohne kritische Analyse der Quellen gibt es keine Geschichtswissenschaft, keine Erforschung vergangener Ereignisse. Die »historisch-kritische Methode« stellt dabei nur eine notwendige Sammlung von »Werkzeugen« zur Erschließung vergangenen Geschehens dar; d.h. sie ist durchaus kein einheitliches, fest umrissenes Verfahren, sondern eher ein Bündel von zum Teil sehr unterschiedlichen Arbeitsweisen. Wie fast alle geistesgeschichtlichen Methoden ist sie dabei stets auch dem Wechsel der geistigen Strömungen unterworfen, die mit dem echten wissenschaftlichen Fortschritt leider nicht immer identisch sind. Das Adjektiv »kritisch« muß daher stets auch die Selbstkritik mitumfassen. Zum Schutz vor einer scholastischen Fixierung sollte sie stets eine offene Methodenvielfalt darstellen. Dies schließt auch aus, daß in der Exegese eine bestimmte Methode absolut gesetzt wird. Ebenso sind die mit ihrer Hilfe eruierbaren »Ereignisse« der Vergangenheit nur sehr bedingt als eindeutige, banale »bruta facta« zu bezeichnen; sie erweisen sich in der Regel selbst wieder als vieldeutig. Jedes einzelne Ereignis kann von verschiedenen Zeugen zu gleicher Zeit unter ganz verschiedenen Aspekten gesehen werden, die uns oft als widersprüchlich erscheinen. Die Rede vom» brutum factum« enthält demgegenüber die Tendenz, die vergangene Wirklichkeit zu simplifizieren und abzuwerten. Oft genug soll ihr abschätziger Gebrauch nur eine Fluchtbewegung aus der Geschichte selbst rechtfertigen. Man tut darum gut daran, diese Redeweise als kurzschlüssig und irreführend aus dem theologischen Sprachgebrauch zu entfernen. Die eigentlichen »facta« der Vergangenheit, das, was einstmals geschah, sind unserem Zugriff immer nur sehr bedingt zugänglich. Dies gilt in besonderer Weise für Ereignisse der Antike, weil hier unsere Quellenbasis so sehr beschränkt und zufällig ist (s. o. S. 11 ff). Wir können ja die reale Welt der Vergangenheit mit den stets unzureichenden Mitteln unserer Analyse und Rekonstruktion immer nur umrißhaft wieder zum Leben erwecken. Dies gilt sowohl von jenem Jesus, der am Ufer des Sees Genezareth Bauern und Fischer lehrte, wie auch von dem größten urchristlichen Missionar und Theologen, Paulus, der die ersten, konventikelhaft kleinen Missionsgemeinden in den römischen Provinzhauptstädten gründete. Allzuhäufig gelangen wir bei unserem Geschäft an die Grenze »historisch-kritischer« Arbeit. Falsch angewandt macht diese Arbeit zudem vergangenes Geschehen nicht wieder lebendig, sondern löst es in einen Nebel vager Hypothesen auf. Hier wäre zuweilen eher die Rede von einer >>unhistorisch-unkritischen Methode« angebracht. Das Wissen um die eigenen Grenzen und die beständigen Fehlerquellen sollte darum den Historiker bescheiden und stets offen für Korrekturen seiner Rekonstruktionsversuche machen. Aber er darf dennoch kein Skeptiker werden; denn die Texte, mit denen er als Theologe und Neutestamentler umgeht, widerstreben der destruktiven Skepsis nicht weniger als der ungezügelten Phantasie. Er hat ihnen verantwortungsvoll gegenüberzutreten, in dem Wissen
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darum, daß von den ihm anvertrauten Zeugnissen über Jesus und das Urchristentum eine Kraft ausging, welche die Menschheit zutiefst erschütterte und die bis heute fortwirkt, indem sie Glauben gewährt und Gemeinschaft schenkt. 4.4 Wirklich lebensvoll werden die Ereignisse entschwundener Zeiten am ehesten dort, wo sie lebendige Anschauung gewinnen, man könnte auch sagen, wo sie »nacherlebbar« werden. Darum besteht die Kunst des Historikers in der den Leser beeindruckenden Anschaulichkeit, welche die tote Vergangenheit zum Leben bringt, nicht dagegen in der trockenen Detailsammlung, die Archivalien aneinanderreiht, noch erst recht in der zersetzenden radikalen Analyse, bei der sich alles ins Imaginäre verflüchtigt. Den Hörer oder Leser zu echtem »Mit-Erleben« zu führen, war bereits das Ziel so großartiger biblischer Erzähler wie Markus und Lukas. Sie erfaßten das Wesen vergangenen Geschehens besser, als es bloße Protokolle vermocht hätten. Lukas stand dabei mit seinem »dramatischen Episodenstil« (Haenchen) in einer breiten Tradition hellenistischer Geschichtsschreibung, die durch die Konzentration auf bestimmte paradigmatische Ereignisse dem Leser die geschichtliche Wirklichkeit lebendig vor Augen führen wollte. Der moderne Historiker kann diesen Stil gewiß nicht einfach nachahmen, aber er soll doch auch versuchen, in seiner Darstellung die alten Quellentexte und ihren geschichtlichen Hintergrund durchsichtig und damit verständlich zu machen. Hier treten uns Möglichkeiten und Aufgaben entgegen, die das vom wissenschaftlichen Historiker, wie man meinen könnte, zunächst allein angestrebte Ziel des geschichtlichen» Faktenwissens« weit hinter sich lassen. Er kann die Texte nicht einfach in einem Gewaltakt »zum Reden bringen«, sondern muß sie zuallererst zu sich selbst reden lassen, sich in sie einhören, um behutsam, Schritt für Schritt mit Hilfe der ihm gegebenen historisch-philologischen Methoden zu versuchen, einzelne Züge und zugleich das Ganze deutlicher und klarer zu erfassen und in lebendiger Weise darzustellen. Nur dort, wo der Historiker und Exeget selbst der beste Hörer ist, wird er auch andere zu einem besseren Hören und Verstehen führen können. 4.5 Die den neutestamentlichen Geschichtserzählungen angemessene Haltung des Forschers ist bei alle dem diejenige, die sich nicht dem in diesen Texten vorgetragenen Zeugnis und Anspruch von vornherein verschließt, sondern Bereitschaft zum offenen »Vernehmen« der darin mitgeteilten Sache mitbringt und daher die Aussagen der Texte - mögen sie uns zunächst noch so fremdartig erscheinen - ernst nimmt und von ihrem inneren Anliegen her zu verstehen sucht. Dazu gehört auch, daß man ihren Anspruch als kerygmatische Geschichtsberichte nicht leugnet, sondern akzeptiert. Die Frage nach den Absichten eines neutestamentlichen Verfassers kann z. B. nie daran vor-
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beigehen, daß ein solcher Autor, der innerhalb der christlichen Gemeinde und in ihrem Dienst steht, nicht in erster Linie seine theologische Individualität und Originalität und noch weniger sein rhetorisches Geschick und seine historische Gelehrsamkeit zur Schau stellen will, sondern unter Zurückstellung seiner Person vorgegebene Traditionen verarbeitet, die das zurückliegende, die Gegenwart der Gemeinde jedoch ganz und gar bestimmende Heilsgeschehen beschreiben. Die heute so beliebte redaktionsgeschichtliche und strukturalistische Betrachtungsweise wird diesem Sachverhalt dann nicht gerecht, wenn sie die Frage nach den hinter dem Text stehenden Traditionen und deren »historischem Grund« grundsätzlich als unwesentlich und uninteressant ausblendet. Ein Text ist niemals eine völlig isolierte Größe. Wir sollten uns daher auch vor der Versuchung eines» Textfetischismus« hüten. Gerade durch die Isolierung und Absolutsetzung eines» Textes an sich« wird die historische Wirklichkeit, die hinter ihm steht, ignoriert. Jeder Text begegnet in einem bestimmten »Kon-Text«, und er hat als solcher Verweisfunktion, »Zeugencharakter«. Die urchristlichen Erzähler wollten Gottes Taten in einem bestimmten Bereich der Vergangenheit so berichten, daß sie für die Gegenwart zum Glaubenszeugnis werden; sie tragen dabei weder unveränderliche Protokolle vor, noch verflüchtigen sie das glaubensbegründende Geschehen von einst, so daß es völlig unanschaulich wird. Wir begegnen in ihren Geschichtserzählungen zugleich der verpflichtenden Bindung an die gemeinde gründenden Traditionen, man könnte auch sagen: an vergangene und als solche doch zugleich ganz gegenwärtige Wahrheit und Wirklichkeit, wie auch einer schöpferischen Freiheit der Gestaltung, die eine Frucht des Geistes war und die es wagen konnte, die alte Geschichte neu zu erzählen, um den Hörer an dieser teilnehmen zu lassen. Nur dem, der auf diese - im Vergleich mit anderen antiken Texten auffällige - Eigenart des neutestamentlichen Erzählguts eingeht, erschließt sich auch die vielfältige und spannungsvolle Beziehung zwischen der einfachen Erzählung als scheinbarer »Tatsachenmitteilung« und der komplexen, zeitlich zurückliegenden Realität, die dahinter steht und die die Entstehung dieser Texte letztlich verursacht hat. Auf Grund dieser Dialektik von zeugnishaftem Bericht und bezeugtem Heilsgeschehen, das als vergangenes dem direkten Zugriff entzogen ist, werden unsere modernen - um der Wahrheit willen notwendigen - Rekonstruktionsversuche immer nur Stückwerk bleiben. Wir bekommen nur Umrisse und Schatten dessen, was einstmals geschah, zu Gesicht und müssen darum ständig bereit sein, unsere Hypothesen zu korrigieren. Aber selbst diese »Umrisse« und »Schatten« sprechen eine Sprache, die eindrücklich und deu'tlich genug ist. Wollten wir auf sie verzichten, würden wir überhaupt nicht mehr verstehen, was damals geschah. Es gibt jedoch keinen echten Glauben, der dem Verstehen ausweicht und der die geschichtliche Erkenntnis leichtsinnig verachtet.
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4.6 Die hier angemessene historische Methode erfordert äußerste Sorgfalt, behutsame Intensität, Verantwortung und Ehrfurcht gegenüber der Wahrheit. Diese Ehrfurcht, mit der innere Freiheit Hand in Hand geht, hat selbst der so ironische und kritische Lukian mehrfach hervorgehoben (38.41.61). Für eine ängstliche, die historische Wahrheit verdrängende Apologetik sollte heute in der christlichen Theologie kein Raum mehr sein. Auf der anderen Seite müßten jedoch die neutestamentlichen Texte auch dafür zu schade sein, daß man sie zu Objekten eines hemmungslosen, ehrgeizigen Spieltriebes herabwürdigt. Es muß in diesem Zusammenhang auffallen, daß die sogenannte »radikale Kritik« während ihrer fast zweihundert jährigen Geschichte nicht weniger häufig zu kritiklosen Spekulationen geführt hat als die apologetischfundamentalistische Ängstlichkeit. Gerade die Geschichte der radikalen Actakritik gibt uns manch warnendes Beispiel. Mit den oftmals so peinlichen »Rettungsversuchen« des gelehrten Theodor Zahn vereinen sich die Hypothesen der Hyperkritiker darin, daß hier wie dort der wahre Geschichtswert der Acta Apostolorum verkannt und ad acta gelegt wird, dafür aber neue Apostelromane entstehen, das eine Mal über Lukas hinaus, das andere Mal völlig an ihm vorbei.
5. Kapitel: Unzeitgemäße Gedanken zu Lukas als theologischem Geschichtsschreiber 5.1 Die von H. Conzelmann (Die Mitte der Zeit, 1954, 51964) eingeführte und seither häufig wiederholte These von dem dreifachen lukanischen Geschichtsschema war gewiß anregend, aber dennoch irreführend. Weder wollte der auctor ad Theophilum im Evangelium die Geschichte J esu als »die Mitte der Zeit« darstellen, noch in der Apostelgeschichte das darauffolgende Geschehen als »Zeit der Kirche«. In Wirklichkeit umfaßt das gesamte Doppelwerk die eine Geschichte Jesu Christi, die auch die Frist zwischen Auferstehung und Parusie als die Zeit seiner Verkündigung in den »letzten Tagen« (Apg 2,17) mit einschließt und die Lukas als Zeit der messianischen Erfüllung der profetischen Verheißungen gegenüber der Epoche des Alten Bundes deutlich abgrenzt. Die Zweiteilung des Werkes ergab sich mit Notwendigkeit aus der Unterscheidung zwischen dem Wirken des Irdischen und dem des Erhöhten, der durch den Geist in der Predigt seiner Boten am Werke ist. Diese notwendige Unterscheidung zwischen der irdischen Existenz Jesu und seinem Wirken als erhöhtem Herrn ist bereits in der Zweistufigkeit alter christologischer Bekenntnisse und Hymnen angedeutet (Röm 1,3 f; Phil 2,6-11; 54
1. Tim 3,16). Lukas grenzt den Bericht von den Boten Christi freilich Schritt für Schritt zielstrebig auf den einen paradigmatischen Zeugen Paulus ein. Auch der Vorwurf, er nehme eine anti-eschatologische Haltung ein, beruht auf einem Irrtum. Lukas wendet sich nur gegen eine fehlgeleitete enthusiastische »Nächsterwartung« und die damit verbundenen, die Gemeinde in die Irre führenden apokalyptischen Berechnungen (vgl. Lk 17,20). In Wahrheit möchte er durch sein Werk den Leser in die der Parusie vorausgehende Zeit der Bewährung im Leiden und der missionarischen Verkündigung einweisen. Beides findet er bei Paulus beispielhaft verwirklicht. Die - relativ - positive Haltung des Lukas gegenüber dem römischen Staat beruht nicht darauf, daß er, als Vorläufer der Apologeten, öffentliche Duldung und Anerkennung der neuen Religion durch die römischen Behörden erreichen will, da sie das wahre Judentum darstelle und so an der Duldung der jüdischen Religion teilhabe - diese Deutung Haenchens verkennt die Haltung des Lukas völlig -, vielmehr weiß er genau, daß die Gemeinde weiteren, immer schwerer werdenden Verfolgungen entgegengeht. In Wirklichkeit möchte er - ähnlich wie der 1. Petrusbrief in vergleichbarer Situation - mit Nachdruck betonen, daß die gegen die Christen vorgebrachten Beschuldigungen zu Unrecht erhoben werden. Ein weiterer Gesichtspunkt, der Lukas beeinfIußte, war die Erfahrung, daß es auch einsichtige und gerechte Beamte gab, die sich den Christen gegenüber tolerant verhielten. Vielleicht darf man ein Grundmotiv des lukanischen Doppelwerkes, das ja einem Vertreter der Oberschicht gewidmet ist und sich nicht zuletzt an Leser aus der gebildeten Mittelschicht richtete, die mit dem Christentum sympathisierten, mit der Aufforderung 1. Petr 3,15 umschreiben: seid »stets bereit zur Verantwortung einem jeden gegenüber, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung in euch«. Es handelte sich bei den Christen nicht um eine anarchistische, amoralische Winkelsekte, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen mußte (Apg 26,26). Das Motiv ihrer Wirksamkeit und das Band, das sie zusammenschloß, war darum nicht der von Tacitus den Christen vorgeworfene »Haß gegen das Menschengeschlecht« (»odium humani generis«, Ann. 15,44). Mit billiger Apologetik hat die lukanische Geschichtsschreibung herzlich wenig zu tun; die hier geforderte »apologia« ist bestimmt durch die Verantwortung eines Glaubens, der das sichere esoterische Konventikel verschmäht, der trotz drohender Verfolgung die offene Auseinandersetzung nicht fürchtet und zugleich weiß, daß das letzte Urteil Gott selbst durch seinen Christus als dem kommenden Richter (10,42; 17,31) sprechen wird.
5.2 Hinter anderen antiken Geschichtsschreibern steht Lukas an Vertrauenswürdigkeit nicht zurück. Man hat ihm großes Unrecht getan, wenn man ihn in die Nähe der erbaulichen, weitgehend fiktiven, romanhaften Schriftstellerei im Stile der späteren Apostelakten rückte, die Fakten je nach Bedarf 55
und Belieben frei erfindet. Von den späteren Apostelromanen (s. o. S.18) trennt ihn eine tiefe Kluft. Die - an antiken Maßstäben zu messende - relative Zuverlässigkeit seiner Berichterstattung kann man durch einen synoptischen Vergleich mit Matthäus und Markus im Evangelium nachprüfen. Wir haben keinen Grund zur Annahme, daß er in der Apostelgeschichte völlig anders verfuhr als in seinem ersten Werk und daß er sich hier weitgehend der freien Erfindung verschrieb. Selbstverständlich läßt er u. U. alles rigoros weg, was sich nicht zu seinem erzählerischen Ziel fügt, er verkürzt manche Ereignisse fast bis zur Unverständlichkeit und deutet anderes nur ganz kurz an (s.o. S.36f). Gleichzeitig malt er novellistisch aus, was er hervorheben will, und bedient sich des Stilmittels der mehrfachen Wiederholung. Auch kann er historisch getrennte Traditionen um seines Ziels willen verbinden und Zusammengehöriges trennen, um eine ihm zusagende Ereignisfolge zu erreichen. Dies alles findet sich auch bei griechisch-römischen Profanhistorikern. Dagegen kann man ihm kaum nachsagen, daß er in hemmungsloser Weise um des billigen Effektes willen einfach Ereignisse produziert, Szenen als freie Kolossalgemälde aus dem Nichts geschaffen und seine Traditionen bewußt verfälscht habe. Es geht ihm ganz gewiß nicht einfach um fromme Erbauung, selbst auf Kosten der Wahrheit. Er ist nicht bloßer» Erbauungsschriftsteller« , sondern ernstzunehmender Historiker und Theologe zugleich. Seine Berichterstattung hält sich durchaus im Rahmen dessen, was für die Antike als zuverlässig galt. Das bedeutet: Die Versicherung des Verfassers Lk 1,3 ist mehr als bloße Konvention, sie enthält ein echtes theologisch-historisches Programm, das allerdings nicht mit den Maßstäben eines modemen historischkritischen Wissenschaftlers gemessen werden darf. Die in die Apostelgeschichte eingestreuten Reden dienen gewiß immer auch der Entfaltung seiner eigenen theologischen Gedanken, doch geschieht das in der Regel unter Verwendung älterer Traditionen, wobei Lukas häufig versucht, die einzelnen Redner zutreffend zu charakterisieren. Eben ein solches Vorgehen fordert wieder Lukian vom echten Historiker: die Worte des Redners sollen zu seiner Person und zu seiner Sache passen (58). Schon Thukydides (1,22) betonte, das es »schwierig war, die Reden in wörtlicher Genauigkeit wiederzugeben«, darum stellte er sie dar, »wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen mußte«. Die in der Literarkritik gerne überstrapazierte stilkritische Methode zur Trennung von Redaktion und Tradition läßt sich bei Lukas nur mit allergrößter Vorsicht anwenden, da er - wie alle antiken Historiker, die etwas auf sich hielten - seine Vorlagen, wenn es sich nicht um autoritative Jesusworte handelte, nicht einfach abgeschrieben, sondern stilistisch umgegossen hat. Im Grunde behandelte er Jesusworte bereits ähnlich wie Schriftzitate (vgl. Apg 20,35). Sein feines Stilgefühl zeigt sich etwa darin, daß er im ersten Teil der Apostelgeschichte, wo der Schauplatz des Geschehens überwiegend in Jerusalem und Palästina liegt, mit sehr viel mehr aus der Sep56
tuaginta geschöpften »Semitismen« arbeitet als im zweiten Teil des Werkes, wo er die Heidenrnission des Paulus in Kleinasien und Griechenland und dessen Gefangenschaft und Reise nach Rom darstellt. Dennoch behält sein Stil im ganzen ein erstaunlich einheitliches Gesicht. Man könnte aufgrund dieser weitreichenden Originalität und Einheitlichkeit des Stils behaupten, die ganze Apostelgeschichte sei »redaktionell« gestaltet, und versuchen, das Zerrbild des Lukas als eines erbaulichen Romanschriftstellers stilistisch zu begründen. In Wirklichkeit wäre dies ein verhängnisvoller Fehler. Zu den stilkritischen Argumenten müssen darum bei der Analyse immer auch historische und theologische hinzutreten. Nur so gelangt man zu einem ausgewogenen Urteil. 5.3 Bei der Darstellung lukanischer Theologie sollte weiter beachtet werden, daß die bei Lukas im N. T. am schärfsten ausgeprägte bewußte Zuwendung zur Vergangenheit, aus der zurückliegenden Zeit des autorisierenden Gründungsgeschehens, sein Aufsuchen alter Traditionen, sein Befragen von Überlieferungsträgern und seine Verwendung von Quellenmaterial seine Theologie mitgeprägt haben. Sein »historischer Sinn« hat auch sein theologisches Denken beeinflußt. Man kann darum nicht behaupten, daß er nur kritiklos seine eigene theologische Gegenwart in die Vergangenheit eintrage, sondern muß umgekehrt beachten, wie sehr seine Theologie durch archaische Vorstellungen - wenn man den Begriff archaisch bei einem Zeitraum von 50-60 Jahren gebrauchen darf -, auf die er bei der Suche nach alter Tradition stieß, geformt wurde. Er wollte sich an der für ihn autoritativen Urzeit des Glaubens orientieren, weil er mehr als seine christlichen Zeitgenossen geschichtlich zu denken verstand. Dies gilt für seine einfache Erhöhungschristologie ohne Präexistenzvorstellung und Schöpfungsmittlerschaft, seine Vorliebe für den »Gottesknecht« bei auffälliger Zurückhaltung gegenüber dem Titel »Gottessohn«, für die Definition des Abendmahls als »Brotbrechen«, die enthusiastische Geistvorstellung, die typisch lukanische Armentheologie u. a.m. Er ist so der erste theologische Vertreter eines »ad fontes«, d.h. eines »zurück zu den urchristlichen Quellen« (vgl. Lk l,lf). Wenn er sich etwa zwischen 80 und 90 n. Chr., in einer Zeit der Unterdrückung durch Domitian und der beginnenden gnostischen Bedrohung - die freilich in seinem Werk kaum sichtbar wird und als Motiv nicht überschätzt werden darf-, angesichts der Gefahr kirchlicher Aufspaltungen und apokalyptischer Schwärmerei bewußt den Anfängen zuwandte und der Kirche seiner Zeit in dem Doppelwerk den irdischen Jesus und den erhöhten Christus vor Augen stellte, der sich durch seine Boten und Zeugen selbst verkündigt und die Gemeinde durch Wort und Geist lenkt, so muß dies als ein legitimes Unternehmen angesehen werden. Daß die Darstellung der Apostelgeschichte Konflikte oftmals nur andeutet und damit abschwächt, hängt mit seiner paräneti57
schen Absicht zusammen. Streitigkeiten gab es in seiner kirchlichen Gegenwart vermutlich mehr als genug; Lukas sah seine Aufgabe darin, sie im Aufblick zu dem einen Herrn der Kirche und kommenden Richter und durch die Orientierung an dem von ihm gewirkten Ursprung zu überwinden. Dadurch, daß er bei den innerkirchlichen Konflikten vor allem den Kampf um die Gültigkeit des jüdischen Gesetzes hervorhebt, bezeugt er im Grunde nur seine relative Zuverlässigkeit; denn gerade diese Frage war zur Zeit der Abfassung seines Werkes längst zugunsten der uneingeschränkten gesetzesfreien Mission entschieden; auch hatte das palästinische Judenchristentum seine Führungsrolle in der Kirche spätestens seit dem Martyrium des Jakobus 62 n. Chr. verloren. Wenn Lukas - gegen die historische Situation seiner Zeitimmer wieder die Judenchristen einschließlich des Paulus grundsätzlich als gesetzestreu darstellt, so will er damit sagen, daß die Christen das wahre Israel sind und daß der Bruch mit dem Judentum, d.h. der in den Synagogengemeinden der Diaspora organisierten Gemeinschaft, nicht von den Christen, sondern von jüdischer Seite selbst verursacht wurde (Apg 28,26ff). Die Christen hatten nicht von sich aus die Synagoge verlassen, sondern waren aus ihr mit Gewalt hinausgedrängt worden. Man wird in der Tat kaum bezweifeln können, daß der Raum der Synagoge für die Urchristenheit, wie schon bei J esus selbst, ein wichtiger Ort für die missionarische Lehre und Diskussion gewesen war, <Jen man ungern und nur unter äußerem Zwang verließ. Dies gilt selbst noch für Paulus, der ganz bewußt seine Heidenmission bei den »Gottesfürchtigen« in der Synagoge begann. Die Nachricht Apg 16,3, daß Paulus seinen späteren Reisegefährten, Timotheus, den Sohn einer jüdischen Mut. ter und eines heidnischen Vaters, selbst beschnitten habe, ist keine lukanische Fälschung. Auf Grund seiner jüdischen Mutter war Timotheus Jude. Durch die Verweigerung der Beschneidung hätte Paulus die Apostasie unterstützt und in keiner Synagoge mehr auftreten können. Eben das wollte er vermeiden. Es war die - verständlicherweise empörte - Mehrheit in den jüdischen Synagogengemeinden, die die urchristlich-apokalyptischen Unruhestifter hinauswies. Daß es auch Ausnahmen gab, bezeugt Lukas durch seinen Bericht über die Juden in Beröa, welche die Botschaft des Paulus bereitwillig aufnahmen (17,10-12). Zur Zeit des Lukas war dieser Bruch freilich längst vollzogen, d. h. auch in diesem Punkt trägt er nicht seine kirchliche Gegenwart in die vergangene Geschichte ein, sondern greift ein wirkliches Problem der Frühzeit auf, wenn auch - wie er es gerne tut - in etwas schematisierter Form. Sicherlich wird etwa durch den betonten Hinweis des Lukas auf das Pharisäertum des Paulus (23,6) und seine Predigt in der Synagoge die Problematik der paulinischen Haltung zum Gesetz unzulässig vereinfacht, ja verzeichnet. Andererseits betonte Paulus selbst sein Pharisäertum und seine Liebe zu Israel (PhiI3,5f; Röm 9,lf; 10,1). Es ist kaum zu bezweifeln, daß nicht nur die Vertreibung der gesetzeskritischen »Hellenisten « aus der Syna58
goge, sondern auch der endgültige Bruch zwischen dem nach der Tempelzerstörung sich erneuernden Judentum und den palästinischen Judenchristen wohl von jüdischer Seite aus vollzogen wurde. Man wird noch hinzufügen müssen, daß Lukas unter allen nicht jüdischen Schriftstellern der Antike das Judentum, seinen Gottesdienst in Tempel und Synagoge, seine Bräuche und Parteien bei weitem am besten kennt und im ganzen sachlich, ja positiv darüber berichtet. Vom antiken Antisemitismus, der ihm ebenfalls nicht unbekannt war (vgl. Apg 16,20f), ist bei ihm keine Spur zu finden. Zu seiner Zeit waren die Christen offenbar noch selbst die Opfer der heidnischen Feindschaft gegen die Juden. 5.4 Wenig hilfreich für das Verständnis des Lukas ist das beliebte, schlagwortartige Etikett des »Frühkatholizismus«, das kaum etwas zu einem historischen und theologischen Verstehen des Urchristentums beizutragen vermag. Dagegen entspricht es nur allzugut dem heute verbreiteten Verlangen nach griffigen Klischees. Diesem Etikett widersprechen, was Lukas betrifft, nicht nur dessen enthusiastische Geistauffassung, sondern auch sein Verständnis der kirchlichen Ämter, die, zumindest außerhalb Jerusalems, noch nicht hierarchisch fixiert waren (s. u. S. 95). Auch seine altertümliche Sakramentslehre, die noch keine »Sakramentsmagie« kennt, und die nicht minder archaische Christologie kann man schwerlich als »frühkatholisch« bezeichnen. Der auctor ad Theophilum ist eher der zurückliegenden Zeit der Ursprünge als dem kommenden 2. Jahrhundert zugewandt. Matthäus erscheint hier als der kirchlichere und d. h. »modernere« Theologe. Sein Evangelium entfaltete dann auch ab dem 2.Jh. die größere Wirksamkeit, denn es bestimmte die Zukunft des kirchlichen Ethos; Johannes auf der anderen Seite wurde für die Christologie wegweisend. Daß im Lukasevangelium etwa in den Gleichnissen vom verlorenen Sohn und vom Pharisäer und Zöllner die Botschaft Jesu von der bedingungslosen Gnade gegenüber dem Sünder am reinsten erklingt, wurde in der alten Kirche leider zu wenig beachtet und wird selbst heute noch zuweilen aufgrund der Scheuklappen einer radikalen Lukaskritik vergessen. Lediglich Marcion fand daran besonderen Gefallen, was für das lukanische Doppelwerk allerdings keine positive Propaganda bedeutete; vielleicht liegt hier der Grund dafür, daß es in den uns erhaltenen Notizen des Papias nicht erwähnt wird. 5.5 Für die uns im folgenden besonders interessierende Zeit von der Stephanusverfolgung bis zum »Apostelkonzil« (s.u. S.63ff, 93ff) verarbeitete Lukas vor allem zwei »Quellenstränge«, die wir allerdings nicht mehr zusammenhängend rekonstruieren können; a) die sogenannte antiochenische oder Hellenistenquelle, die m. E. die Stephanus- und Philippusgeschichten sowie die Berichte über Barnabas und den frühen Paulus enthielt; b) eine 59
Sammlung von Petruserzählungen. Bei beiden Quellen darf man annehmen, daß Lukas durchaus nicht alles darin Enthaltene übernahm, sondern seinen Stoff im Blick auf sein erzählerisches Ziel streng auswählte. Dieses Ziel bestand darin, den Weg des Evangeliums von der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem, der er mit Recht zentrale Bedeutung zumißt, zur weltweiten paulinischen Heidenmission stufenweise, Schritt für Schritt darzustellen. 5.6 Als Autor steht hinter dem Doppelwerk wahrscheinlich doch der Arzt Lukas (Kol 4,14; vgl. Phm 24). Er dürfte Paulus auf der sogenannten zweiten Missionsreise begegnet sein (Apg 16,10 ff) und ihn später von Troas nach J erusalem (ab 20,5) und schließlich von Caesarea nach Rom (ab 27,1) begleitet haben. D. h. die Aussagen im Wir-Stil weisen auf den Verfasser selbst hin. Sie gehen weder auf eine ältere selbständige Quelle noch auf bloße literarische Konvention zurück, die Augenzeugenschaft vortäuschen soll. Die Leser - als erster Theophilus, dem das Doppelwerk gewidmet war und der den Verfasser persönlich gekannt haben muß, - haben die Wir-Berichte von Anfang an nicht anders verstehen können. Dieses» Wir« erscheint deshalb nur in Reiseschilderungen, weil Lukas damit lediglich anzeigen wollte, daß er »mit dabei war«. Die Erlebnisse seiner Person sind dagegen uninteressant, Paulus bleibt der alleinige Mittelpunkt. Die ganz gewiß erheblichen Differenzen zwischen dem Paulusbild der Apostelgeschichte und den Originalbriefen des Paulus erklären sich aus dem Zeitabstand von etwa 30 Jahren zwischen den Ereignissen, die Lukas miterlebte, und der Abfassung seines Werkes, weiter aus der Tatsache, daß Lukas vermutlich die paulinischen Briefe nicht kannte. Er mag gewußt haben, daß Paulus zuweilen Briefe an seine Gemeinde schrieb; diese standen ihm aber zur Zeit der Abfassung zwischen 80 und 90 nicht zur Verfügung. Als er endgültig zum Begleiter des Paulus wurde, waren diese Briefe alle - mit Ausnahme des Philemon- und vielleicht des Philipperbriefes - schon geschrieben. Sie entstanden ja auf dem Höhepunkt der paulinischen Mission, während der sogenannten zweiten und dritten Missionsreise, und Lukas schloß sich Paulus erst auf der Reise nach Jerusalem für längere Zcit an. Er hatte später offenbar keine Möglichkeit mehr, sich über den Apostel durch dessen eigene Werke zu informieren. Schließlich muß er als Paulusbegleiter, bei aller Verehrung für den einzigartigen Missionar, dessen Theologie keineswegs ganz verstanden und übernommen haben. Wer bedenkt, welche theologischen Metamorphosen mancher einstmals »steile Barthianer« oder »strenge Lutheraner« in den letzten 30 Jahren erlebten oder wie sehr sich in den» Kirchenkampflegenden« über einen Zeitraum von nur 40 Jahren hinweg Schein und Wirklichkeit vermengten, der wird Lukas nachsichtiger beurteilen, als es seine strengen Kritiker während der letzten Jahrzehnte getan haben. War er doch ein Sohn seiner Zeit, die noch keine »historisch-kritische Methode«, 60
keine leicht zugänglichen Informationsmöglichkeiten in wohlgefüllten Bibliotheken und Archiven und erst recht keine methodenstrengen neutestamentlichen Proseminare kannte. Daß Lukas die paulinische »theologia crucis« nicht aufnimmt und daß die Rechtfertigung allein aus Glauben ohne des Gesetzes Werke bei ihm stark zurücktritt (vgl. jedoch Apg 13,38f: Paulus, und 15,11: Petrus), sind ohne Zweifel schwerwiegende Mängel. Aber welcher unter den Paulusschülern ist dem Erbe seines Meisters ganz treu geblieben? Kann man im Blick auf die sogenannten »deuteropaulinischen« Briefe nicht doch auch Lukas noch zu den »Paulusschülern« rechnen? Wer ihm seinen durchaus fragwürdigen »Paulinismus« und seine sonstigen »Freiheiten« dennoch nicht verzeihen kann, der sollte einmal darüber nachdenken, wie viele darauf stolz sind, Schüler eines großen theologischen Lehrers zu sein, und ihn in Laudationes verehren, obwohl sie sich inzwischen meilenweit von ihm entfernt haben. In wie vielen Fällen möchte man es nicht als eine Gnade bezeichnen, daß der tote Lehrer die Irrungen und Wirrungen seiner Schüler nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte? Wer hier wirklich ganz ohne Sünde ist, der möge Lukas wegen seines unpaulinischen »Paulinismus« weiterhin mit Steinen bewerfen. Der Bedeutung des Lukas als des ersten theologischen »Historikers« des Christentums werden wir nur gerecht, wenn wir sein Werk als Quelle ernst nehmen, d. h. wenn wir versuchen, in kritischer Betrachtung desselben die von ihm erzählte Geschichte unter Heranziehung und im Vergleich mit anderen Quellen rekonstruierend nachzuzeichnen. Die heute so beliebte radikale »redaktionsgeschichtliche Betrachtungsweise«, die in ihm vor allem den frei produzierenden Theologen sieht, verkennt sein eigentliches Anliegen, daß er als christlicher »Historiker« bewußt über das den Glauben begründende und ausbreitende Geschehen der Vergangenheit berichten und nicht etwa in erster Linie seine }} Theologie« darstellen will. In dem nun folgenden zweiten Teil soll paradigmatisch für die Zeit zwischen der Verfolgung der Hellenisten und dem Apostelkonzil, d.h. für den entscheidenden Zeitraum von rund 25 Jahren der Versuch einer nachzeichnenden Rekonstruktion gewagt werden. Es wird dabei deutlich, was wir Lukas auch an historischem Wissen und Verstehen verdanken, weil wir aufgrund seines Werkes zwar keine durchgehende »Geschichte des Urchristentums« schreiben, wohl aber doch die Entwicklung von der ersten Gemeinde in Jerusalem bis hin zur universalen Mission des Paulus umrißhaft darstellen können.
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II: DIE ENTSCHEIDENDE EPOCHE DER URCHRISTLICHEN GESCHICHTE: DER WEG ZUR UNIVERSALEN MISSION
6. Kapitel: Die Hellenisten und ihre Vertreibung aus J erusalem 6.1 Mit Recht wird seit F. Chr. Baur hinter dem Bericht des Lukas über die Spannungen zwischen den christlichen »Hebräern« und »Hellenisten« in Jerusalem (Apg 6,1ff) ein historischer Kern, und zwar der Hinweis auf eine neue, entscheidende Stufe in der Entwicklung der Urgemeinde vermutet. Ein in der Forschung dabei wenig beachtetes, jedoch auffallendes Phänomen ist die Tatsache, daß die Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Messias Jesus von Nazareth wenige Jahre, ja vielleicht nur Monate nach dem gemeindegründenden Auferstehungsgeschehen in besonderer Weise auchgriechischsprechende Juden erfaßte, die aus den verschiedensten Teilen der Diaspora stammten und in Jerusalern ansässig waren. Diese überraschende Wirkung nach außen, über die Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, unterscheidet das Urchristentum von allen anderen jüdisch-palästinischen Bewegungen, den Sadduzäern und Pharisäern, den Essenern und der Täuferbewegung, deren Wirksamkeit vor der Tempelzerstörung weitgehend auf Palästina beschränkt blieb. Die Liste der »Sieben« Apg 6,5 enthält mit Ausnahme der Namen Philippus und Nikanor keine typischen Judennamen, wie sie etwa für Ägypten oder Palästina bezeugt sind; man möchte - schon von den durchweg griechischen Namen her - meinen, daß die »Sieben« aus der Feme kamen; beim letzten, dem Proselyten Nikolaos, wird als Herkunftsort dann auch Antiochien angegeben. Nach Apg 11,20 stammten jene aus Jerusalern vertriebenen Judenchristen, die in Antiochien erstmals planmäßig zur gesetzesfreien Heidenrnission übergingen, aus der K yrenaika und aus Zypern, Gebieten, die noch von der Ptolemäerzeit her eine große und völlig hellenisierte jüdische Diaspora besaßen. Vielleicht darf man hier daran erinnern, daß nach Mk 15,21 schon ein Simon aus der nordafrikanischen Stadt Kyrene Jesu Kreuz getragen hatte und daß seine Söhne, der eine mit dem griechischen Namen Alexander, der andere mit dem römischen Namen Rufus, vermutlich Glieder der christlichen Gemeinde wurden. Entsprechend nennt Apg 13,1 unter den Profeten und Lehrern in der syrischen Hauptstadt den Kyrenäer Lukios (Lucius) und Barnabas aus Zypern. Manaen (Menahem), der dritte 63
unter den dort Genannten, der als »syntrophos« des Tetrarchen Herodes bezeichnet wird, war dagegen ein Jugendgenosse oder ein vertrauter Freund des Herodes Antipas gewesen, d. h. er entstammte wohl dem griechisch gebildeten Laienadel in Jerusalern oder in Galiläa: ein Zeichen dafür, daß die neue Botschaft auch Glieder der Oberschicht erreichte. Dies war vermutlich schon bei Jesus der Fall gewesen (Lk 8,3). In dem Kyrenäer Lukios hat man verschiedentlich einen versteckten Hinweis auf Lukas selbst sehen wollen und dabei zugleich auf den ersten Wir-Beleg des westlichen Textes in Apg 11,28 verwiesen. Diese Hypothese ist jedoch sehr unwahrscheinlich. 6.2 Die Frage ist, warum gerade griechischsprechende Juden von der neuen eschatologischen Heilsbotschaft so angezogen wurden und sie wieder mit solchem Eifer vertraten, daß sie verfolgt und aus Jerusalern vertrieben wurden. M. E. läßt sich dies nur mit der Annahme sinnvoll erklären, daß bereits die Verkündigung Jesu Züge enthielt, die besonders die Juden aus der Diaspora faszinierte. Die Botschaft J esu hatte von Anfang an eine Neigung hin zur universalen griechischsprechenden Welt und vielleicht sogar hin zu gewissen Motiven griechischen Denkens. Es zeigen sich in ihr nicht nur enge Beziehungen z~r jüdischen Weisheit, sondern zuweilen auch Anklänge an die griechische Gnomik und vor allem an kynische Gedanken. Wir finden in ihr jene Universalität, die E.Käsemann mit dem Stichwort »Der Ruf der Freiheit« umschrieben hat. :"6 die aggre88ive Verkündigung der» Hellenisten(j; in den ~chischsprachigen Synagogen J erusalems zur Lynchjustiz an ihrem Führer Stephamls und zur Vertreibung der Gruppe führte, versteht man am besten von der Voraussetzung her, daß die »Hellenisten« Thesen vortrugen, deren Hrsprung in der Botschaft Jesu selbst zu suchen ist und die die endzeitliche Aufhebung des Tempelkultes sowie die Revision der Mosethora durch den wahren Gotteswillen zmn Inhalt hatteA Ihre Kritik an der Thora hatte zwar noch nicht jene theologisch durchreflektierte Radikalität, wie sie uns bei Paulus begegnet, sie !Jtellte jedoch schon die endzeitliche Offenbarungsautorität Q,eS gekreuzigten Messias Jesus über die Autorität des Mose und darum das lÄebesgebot über das Ritualgesetz (Apg 6,8-14). Das heißt, die »Hellenisten« vertraten die anstößige Behauptung, daß die heilsgeschichtliche Bedeutung J esu als des Messias Israels die des Mose grundsätzlich übertreffe; an die Stelle des jüdischen »Evangeliums« von Exodus und Sinai trat das EvangeliumJesu als Gottes abschließende, unüberbictbare eschatologische Offenbarung. Die Vollmacht zu dieser Kritik empfingen sie aus der Gabe des Geistes, die sie als Zeichen der angebrochenen Endzeit verstanden.~.l llmg der aramäischsprechenden Judenchristen war im Blick auf das Gesetz 1Uruc;khaltender, man könnte auch sagen konservativer... Sie blieben stärker in der palästinischen Frömmigkeitstradition verwurzelt, die seit der MakkaJ,äerzeit in jedem Angriff auf Thora und Heiligtum ein Sakrileg erblicken 64
mußte. Freilich cWrfen wir auch bei ihnen für die früheste Zeit noch nicht jestrengen Gesetzesgehorsam voraussetzen, der uns später in der Jerusa}emer Gemeinde unter der Leitung des Jakobus begegnet (Gal 2,1 ff. 11 ff; ~pg 21,18ff), denn auch sie standen ja noch unter dem unmittelbaren Eindruck der Verkündigung Jesu.
~en
6.3 Die durch die Kritik der »Hellenisten« an Gesetz und Kult ausgelöste Verfolgung bestand wohl in erster Linie in Maßnahmen der synagogalen »Gemeindezucht« gegenüber dieser Gruppe. Ihre Gegner waren die Glieder der griechischsprachigen Synagogen in Jerusalern (Apg 6,9), aus denen die judenchristlichen »Hellenisten« selbst hervorgegangen waren (vgl. Apg 9,29). Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß auch die höchste jüdische Gerichtsbehörde in Jerusalern, das vom sadduzäischen Priesteradel beherrschte Synhedrium, mit der neuen Häresie befaßt wurde, da die Hohepriester und Sadduzäer nicht nur J esus an Pilatus ausgeliefert hatten, sondern auch von Anfang an mit Gewalt gegen die Führer der ersten Gemeinde in Jerusalem vorgegangen waren (Apg 4 und 5). Über den Vollzug der traditionellen Prügelstrafe waren diese Disziplinierungsversuche nicht hinausgegangen. Das Recht der Hinrichtung war ja den jüdischen Behörden verwehrt und stand allein dem römischen Präfekten zu (vgl. Jos. Bell. 2,117; 6,302 f; Ant. 20,202). Wenn darum Lukas berichtet, der Pharisäer und Gelehrtenschüler Paulus habe als ein vom Synhedrium beauftragter Richter fungiert und mit anderen zusammen Todesurteile gefällt (Apg 22,4; 26,10; vgl. 9,1), so handelt es sich dabei um eine übertreibende Ausmalung, zumal Lukas an anderer Stelle (22,19; vgl. 26,11) Paulus nur Synagogenstrafen vollziehen läßt. Dagegen sollte man nicht mehr daran zweifeln, daß Paulus in Jerusalem an der Zerschlagung der Gemeinde der »Hellenisten« maßgeblich beteiligt war. Darauf weist schon der Gebrauch des Verbs »porthein« in Gal1,13.23 (vgl. Apg 9,21) hin. Die »Gemeinde Gottes«, die Paulus »zerstörte«, war eben die der »Hellenisten« in Jerusalern. Von einer »Zerstörung« einer anderen Gemeinde wissen wir nichts. Die »Hellenisten« hatten bald nach dem Ostergeschehen - vermutlich aus sprachlichen Gründen - eine selbständige Gottesdienstgemeinschaft gebildet, deren Leiter die »Sieben« von Apg 6,5 wurden. Die gottesdienstliche Verselbständigung führte jedoch offenbar rasch zu organisatorischen und wirtschaftlichen Spannungen zwischen ihnen und der größeren aramäischsprechenden »Muttergemeinde« (Apg 6,1ff), wobei auch theologische Differenzen eine gewisse Rolle gespielt haben können. Eine längere Wirkungsdauer war diesem kleinen griechischsprachigen, messianisch-apokalyptischen Konventikel in Jerusalern allerdings nicht beschieden. Die Unterdrückung und Verfolgung zwang die Hellenisten zur Emigration und damit zugleich zur Mission außerhalb der Heiligen Stadt und Judäas. 65
6.4 Der größere, aramäischsprechende Teil der Urchristenheit war von diesen Vorgängen offenbar kaum betroffen; nach Apg 8,1 blieben die »Apostel« alle in Jerusalem und wurden nicht vertrieben. Das ist gewiß lukanisch formuliert, muß aber doch einen geschichtlichen Hintergrund haben. Es ist auch nirgendwo von einer Rückkehr Vertriebener und Zerstreuter die Rede, d.h. zerstreut wurden vermutlich nur die griechischsprechenden Judenchristen, die sich um Stephanus und den Kreis der »Sieben« gesammelt hatten. Ihnen fiel das Verlassen der Stadt und des jüdischen Palästinas wohl nicht allzu schwer, da sie als Rückwanderer aus der Diaspora dort längst nicht so stark verwurzelt waren wie die bodenständigen aramäischsprechenden Judenchristen. Wahrscheinlich sahen sie in der Ermordung des Stephanus ein Zeichen des Gerichts über Jerusalem, die Stadt, wo Jesus selbst getötet worden war (Lk 13,34 = Mt 23,37; vgl. Hebr 13,12; Offb 11,8). Dieser hatte bereits bei der Aussendung seiner Jünger darauf hingewiesen, daß sie Verfolgung und Vertreibung zu erwarten hätten (Mt 1O,23a). Das gewaltsame Vorgehen ihrer Gegner bedeutete darum für die »Hellenisten « eher eine Bestätigung ihres Weges als eine Entmutigung; ihre Aktivität wurde dadurch nicht verringert. Das Pogrom bzw. die erzwungene Auswanderung aus Judäa konnte sie nur in ihrer Kritik an Tempel und Ritualgesetz bestärken und bewirkte außerdem eine Umorientierung ihrer missionarischen Bemühungen. Hatten sie sich in J erusalem an ihre griechischsprechenden Volksgenossen in den dortigen Diasporasynagogen gewandt, so rückten jetzt - außerhalb des jüdischen Kemgebietes - ganz neue Gruppen in ihr Blickfeld, die man cum grano salis als Randsiedler des Judentums bezeichnen kann. Auch diese Zuwendung zu verachteten und zweitrangigen Randgruppen entsprach der Intention der Verkündigung J esu. Hier sind in erster Linie die als Häretiker geltenden Samaritaner zu nennen, weiter die nur locker mit den jüdischen Synagogengemeinden verbundenen heidnischen »Gottesfürchtigen«, die die Beschneidung bzw. die Proselytentaufe noch nicht vollzogen hatten, wobei die Grenze zwischen ihnen, den bloßen »Sympathisanten« für jüdische Gebräuche und den wirklichen Heiden fließend war. Dafür ein Beispiel: Josephus konnte Ant. 20,195 selbst Poppäa, die Frau Neros, eine »Gottesfürchtige« (theosebäs) nennen. Sie mag gewisse Sympathien für die jüdische Religion gehegt haben; eine Monotheistin war sie nicht, da sie sich selbstverständlich am heidnischen Kult beteiligte. Die aus dem jüdischen Palästina vertriebenen »Hellenisten« wurden so allmählich dazu gedrängt, über den Kreis der Volljuden hinaus auch am Judentum interessierte Heiden anzusprechen, m. a. W., sie schlugen den Weg zur Heidenmission ein, die in ihrer letzten Konsequenz eine gesetzesfreie sein mußte. 6.5 Die geographische Ausbreitung der jungen urchristlichen Bewegung können wir nur noch punktuell verfolgen. Es ist durchaus möglich, daß sich 66
schon von Galiläa aus in den benachbarten Städten der phönizischen Küste, in Damaskus oder im Ostjordanland kleine judenchristliche Gemeinden gebildet hatten, zumal bereits Jesus selbst über die Grenzen Galiläas hinaus gewirkt hatte. Zuverlässige Nachrichten darüber besitzen wir jedoch nicht. Erst recht haben wir keinen Anlaß zu vermuten, daß bereits von diesen ersten kleinen Gemeinden außerhalb Palästinas die eigentlichen Impulse zur Mission unter den Heiden ausgegangen seien. Es fällt hier auf, daß Paulus und Lukas darin übereinstimmen, daß Galiläa in der weiteren Entwicklung des Urchristentums keine Rolle mehr spielte. Paulus nennt nur J erusalem und die Gemeinden in Judäa, Galiläa dagegen überhaupt nicht; bei Lukas erscheint es nur einmal am Rande in einer redaktionellen Notiz (Apg 9,31). Das heißt: das abgelegene, »hinterwäldlerische« Galiläa verlor rasch seine Bedeutung für die weitere Geschichte des Urchristentums und konnte sie auch nach der Zerstörung Jerusalems 70 n. Chr. nicht zurückgewinnen. Wenn es im Markusevangelium in betonter Weise im Mittelpunkt steht, so ist dies allein darin begründet, daß man es als Ort des Wirkens Jesu kannte und daß es in einen Gegensatz zum ungehorsamen Jerusalem gestellt werden konnte. Eine spätere neue Bedeutung der galiläischen Gemeinden für die Gesamtkirche spiegelt sich hier sicher nicht wieder. Sie läßt sich auch in den übrigen frühchristlichen Quellen in keiner Form nachweisen. Alle Vermutungen über die Rolle der galiläischen Gemeinden für die Entstehung des Markusevangeliums führen zu unbegründbaren Spekulationen. Das jüdische Galiläa war auch im 1. Jh. n. Chr. keineswegs stärker »hellenisiert« als Jerusalem und Judäa, vielmehr waren der Fremdenhaß und das jüdische Nationalbewußtsein aufgrund der Grenzlandsituation dort eher noch stärker ausgebildet als etwa in der jüdischen Metropole Jerusalem mit ihrem internationalen Gepräge und ihren Beziehungen nach aller Welt. 6.6 Den eigentlichen missionarischen Impuls empfingen die Gemeinden außerhalb Judäas - soweit solche überhaupt schon bestanden - durch den Zuzug der »Hellenisten«, die ihre missionarischen Bemühungen über die jüdischen Synagogen hinaus ausdehnten. Wir finden bei Lukas gelegentliche Andeutungen über die Existenz solcher Gemeinden in den phönizischen Städten (Apg 11,19; 15,3). Ihre innere Haltung läßt sich aus der positiven Einstellung gegenüber Paulus erschließen. Nach dem Wir-Bericht Apg 21,3 -7 wurden dieser und seine Genossen auf der Reise nach J erusalem von den Gemeinden in Tyrus und Ptolemais-Akko gastfrei empfangen; ähnliches geschah gemäß Apg 27,3 auf der Romreise in Sidon. Diese Gastfreundschaft hebt sich deutlich von dem zurückhaltenden Empfang in J erusalern ab (21,15 ff), wo Paulus nur von einer Minderheit freudig aufgenommen wurde. Man darf hier wohl einen Hinweis darauf sehen, daß diese phönizischen Gemeinden mit der paulinischen Mission eher übereinstimmten als die 67
Jerusalemer. Vollends deutlich wird dies durch den Empfang des Paulus im Hause des Philippus in Caesarea (Apg 21,8ff). Auch dieses ehemalige Mitglied der »Sieben« scheint Werk und Auftrag des Paulus gebilligt zu haben. Eine weitere Gemeinde, in der die vertriebenen »Hellenisten« ihre Wirksamkeit entfalteten, war offenbar Damaskus. Nur so wird verständlich, daß der Pharisäer Paulus - wohl weniger vom Synhedrium als von seinen griechischsprechenden Synagogengenossen in Jerusalem - in diese wichtige Handelsstadt gesandt wurde, um im Rahmen der dortigen Synagogengemeinde (Apg 9,20), die nach Josephus groß und einflußreich war (Bell. 2,559f), gegen neue Umtriebe der messianischen Sekte vorzugehen. Auch hier hat Lukas die rechtliche Kompetenz des Abgesandten aus Jerusalem dramatisch übertrieben, wenn er von einem Auftrag der höchsten jüdischen Autorität, des Hohepriesters spricht, die dortigen Christen gefangen nach der jüdischen Hauptstadt zu bringen (9,2; vgl. 22,5). Dagegen war es durchaus sinnvoll, daß die jüdischen »Hellenisten« in Jerusalern einen in der Behandlung der Christen erfahrenen Sendboten nach Damaskus schickten, damit er hier gegen die widerspenstigen Apostaten ähnliche Gemeindezuchtverfahren anrege wie in Jerusalem. Auch darin mag er recht haben, daß die Initiative zu dieser Sendung von ihm selbst ausging (9,2). Daß Paulus nach seiner Lebenswende, vom Aufenthalt in Arabien abgesehen, über zwei Jahre in Damaskus blieb, daß er dort wahrscheinlich getauft und in die Gemeinde aufgenommen wurde, daß er schließlich an diesem Platz nach dem Zeugnis der Gemeinden in Judäa als ehemaliger Verfolger »jetzt den Glauben verkündigt(e)«, d.h. lehrte und missionierte (Gal1,15ff. 23; Apg. 9,19ff; vgl. 2.Kor 1l,32f), das alles ist nur denkbar, wenn die dortige Gemeinde seindoch wohl von Anfang an gesetzesfreies - Evangelium akzeptierte. Auch diese Gemeinde scheint so von den judenchristlichen »Hellenisten« beherrscht gewesen zu sein. 6.7 Das schönste Beispiel für die Wirksamkeit der »Hellenisten« gibt uns Lukas in den beiden Philippusgeschichten, die er vermutlich aus einer größeren Anzahl ähnlicher Erzählungen ausgewählt hat. Philippus wird in dem Katalog der »Sieben« Apg 6,5 an zweiter Stelle nach Stephanus genannt, in Apg 21,8 erhält er den Titel »der Evangelist«. Er muß offenbar im Kreis der »Hellenisten« eine bedeutende Rolle gespielt haben. Bei den von Lukas ausgewählten Missionslegenden fällt zunächst auf, daß sie in einem schroffen Gegensatz zu der aus streng judenchristlichen Kreisen stammenden und J esus zugeschriebenen Weisung Mt 10,5 stehen: »Auf den Weg zu den Heiden geht nicht, und in eine Stadt der Samaritaner geht nicht hinein«. Nach Apg 8,5 begibt sich Philippus jedoch geradewegs »in eine Stadt Samariens«, und nach 8,26 sendet ihn der Engel auf den »Weg zu den Heiden«.
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6.7.1 Auffallend sind weiter, ähnlich wie schon im Stephanusbericht, die verschiedenen Formen ekstatischer »Geistesleitung«, vor allem in der zweiten Erzählung (Apg 8,26.29.39ff), ein Zug, der durch die Nachricht von den vier profetisch begabten Töchtern des Philippus ergänzt wird (21,9). Unabhängig von Lukas hören wir über diese profetischen Frauen später bei Papias, in dem Brief des Bischofs Polykrates von Ephesus an Viktor von Rom und bei dem römischen Presbyter Gaius. Philippus sei mit ihnen später nach Hierapolis in Phrygien übergesiedelt (Euseb. h. e. 3,31. 39). Zwei der Töchter seien Jungfrauen geblieben, eine sei in Ephesus verheiratet gewesen. Papias will von ihnen noch Wundergeschichten erfahren haben. Man wird in dieser Betonung des Geistes und der Gabe der Profetie selbst bei Frauen einen archaisch-enthusiastischen, für die »Hellenisten« typischen Zug vermuten dürfen. Nach Lukas begründete Philippus die Mission in Samarien, und wir haben keinen Grund, an dieser Nachricht zu zweifeln. Der zweite Mann unter den »Sieben« hinter Stephanus ergriff damit eine missionarische Initiative, die am besten als Konsequenz seines christologischen Denkens verständlich wird. Denn gerade hier konnte er an die positive Haltung Jesu gegenüber den Samaritanern (Lk 9,52ff; 1O,30ff; 17,16; Joh 4) anknüpfen; vermutlich sah er auch in ihnen, gegen Mt 10,5 f, ein typisches Beispiel für die »verlorenen Schafe des Hauses Israel«. Im Gegensatz zu den gesetzesstrengen Judenchristen wußte er sich von dem Auferstandenen gerade zu diesen »Häretikern« gesandt. Die Verknüpfung seiner Mission mit dem Besuch von Petrus und Johannes in Samarien Apg 8,14ff wurde dagegen vielleicht erst von Lukas vorgenommen. O. Cullmann könnte mit seiner Vermutung recht haben, daß Joh 4,38 f auf zwei Stufen der Samaritanermission hindeute, eine erste durch Philippus bzw. die »Hellenisten«, eine zweite, spätere durch Petrus und die Jerusalemer. Anknüpfungspunkte für die Missionspredigt bei den Samaritanern waren etwa, daß auch sie den Tempelkult in J erusalem und erst recht die pharisäische Paradosis zur Thora ablehnten und daß sie keinen politisch-königlichen Messias, sondern eine profetische Erlösergestalt nach Dtn 18,15-18 erwarteten. 6.7.2 Die Geschichte von der Bekehrung des äthiopischen »Finanzministers« schildert dagegen die Gewinnung eines »Gottesfürchtigen«, der als Eunuch wegen seines Körperfehlers nicht Vollproselyt werden konnte (Dtn 23,2). Für die »Hellenisten« bestanden derartige gesetzliche Barrieren kaum mehr. Indem Philippus seine missionarische Wirksamkeit in den Bereich der Städte Gaza, Azotus-Asdod und Caesarea verlegte und in Caesarea seinen Wohnsitz nahm, konzentrierte er sich auf die überwiegend heidnisch-hellenistischen Gebiete der Küstenebene, wo der Gegensatz zwischen Juden und griechischsprechenden Palästinern besonders schroff war. Auch hier konnte noch das Vorbild Jesu wirksam sein, der zu einem bestimmten 69
Zeitpunkt das jüdische Galiläa verließ und sich in den hellenistisch-phönizischen Stadtgebieten von Tyrus, Sidon und Caesarea Philippi autbielt (Mk 7,24. 31; 8,27). Hinzu tritt eine eschatologische Motivierung. Die Mission des Philippus in den heidnischen »Philisterstädten« des völlig hellenisierten Küstengebietes könnte darüber hinaus als der Versuch betrachtet werden, die alte Gerichtsweissagung Zeph 2,4 f in Segen zu verwandeln. 6.7.3 Es ist sehr wahrscheinlich, daß Philippus und andere »Hellenisten« in diesem Gebiet allmählich, schrittweise zur gesetzesfreien Heidenmission übergingen, wobei »Gesetzesfreiheit« zunächst den Verzicht auf die Forderung der Beschneidung und die Beobachtung des Ritualgesetzes bedeutete. Damit ergab sich nun die Frage nach dem Verhältnis dieser neuen judenchristlich-hellenistischen Gemeinden zu den Gemeinden im jüdischen Kernland, die Aramäisch sprachen. Möglicherweise setzte sich hier die schon in Jerusalem vollzogene organisatorisch-gottesdienstliche Trennung von »Hebräern« und »Hellenisten« (Apg 6,lff) fort. Man muß aber damit rechnen, daß die frühe judenchristliche Gemeinde in J erusalem den Übertritt der Mission zu den Samaritanern, den »Gottesfürchtigen«, den relativ äußerlichen »Sympathisanten« und schließlich auch zu einzelnen echten Heiden außerhalb des jüdischen Siedlungsgebietes zunächst duldete, ohne daran Anstoß zu nehmen, weil auch in ihr während der Frühzeit die aus der Verkündigung J esu stammende innere Freiheit noch stärker wirksam war als in späterer Zeit. Heidenmission in großem Stil scheint mir dagegen auch von den »Hellenisten« zunächst nicht ins Auge gefaßt worden zu sein. Dazu bedurfte es noch weiterer Anstöße. Für Lukas selbst hat das in Apg 8 Berichtete deshalb entscheidende Bedeutung, weil sich hier der richtungsweisende Auftrag des Auferstandenen Apg 1,8 in nuce erfüllt. Durch die Vertreibung der »Hellenisten« aus Jerusalem wurde das Evangelium nach Samarien getragen und erreichte schließlich, in der Gestalt des heimreisenden Äthiopen, das »Ende der Erde« (vgl. Zeph 3,10; Ps 68,32 und Lk 11,31): Äthiopien war für die antike Geographie die äußerste Grenze der bewohnbaren Welt im heißen Süden.
7. Kapitel: Die Berufung des Paulus 7.1 Die grundsätzliche Überwindung der Gesetzesschranke und die volle Entfaltung der Heidenmission sind untrennbar mit der Person des ehemaligen Pharisäers Saulus-Paulus verbunden. Er wurde vermutlich im kilikischen Tarsus, d. h. in der griechischsprechenden Diaspora, geboren, war aber der 70
Sohn eines Pharisäers und Palästina juden, der gleichzeitig das römische Bürgerrecht besaß (Apg 22,3; 23,6; 26,5; PhiI3,5f). Die bei Hieronymus erhaltene Nachricht, Paulus sei als ganz junger Mensch mit seinen Eltern aus dem nordgaliläischen Gischala als Kriegsgefangener nach Tarsus gekommen, ist in der uns vorliegenden Form kaum historisch, da sie sich schwerlich mit der Nachricht von dem ererbten römischen Bürgerrecht des Apostels vereinbaren läßt. Er wäre dann nicht Vollbürger , sondern nur Freigelassener gewesen. Woher Hieronymus diese sonderbare Notiz hat, wissen wir nicht. Sie könnte auf einen Autor des 2. Jh.s, etwa Hegesipp, zurückgehen. Seine Ausbildung erhielt Paulus nach den Angaben des Lukas nicht in der Diaspora, sondern in Jerusalern, und es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, daß er im Lehrhaus »zu Füßen« Gamaliels 1., des Sohnes (oder Enkels) des großen HilleI, gesessen hat (Apg 22,3). Die Familie Hillel hat auch später immer besonderes Interesse an der Diaspora, der jüdischen Mission und der griechischen Sprache und Kultur gezeigt, war doch Hillel selbst als Diasporajude aus Babylonien nach Jerusalem gekommen. Von dem Enkel Gamaliels, der denselben Namen trug und das Patriarchat begründete, berichtet die talmudische Tradition, daß in seinem Hause fünfhundert Kinder die Thora und fünfhundert griechische Weisheit gelernt hätten (bSota 49b; BQ 83 a), d. h. die Beherrschung griechischer Sprache und Rhetorik und rabbinisches Denken waren kein absoluter Gegensatz. Seit dem 3. Jh. v. Chr. waren in J erusalem nicht nur die traditionellen jüdischen Weisheits- und Thoraschulen, sondern auch die griechische Schule zu Hause. In der sich kritisch nennenden Forschung, die eine Ausbildung des jungen Pharisäers Paulus zu J erusalem und seine dortige Verfolgertätigkeit gerne bezweifelt, wurde leider viel zu wenig darüber nachgedacht, was es bedeutet, wenn Paulus selbst davon spricht, daß er Pharisäer und als solcher »im Gesetz untadelig« war (PhiI3,6) und daß er die Mehrzahl seiner Altersgenossen im »Iudaismos«, d. h. im Gesetzesstudium, bei weitem überflügelte (GalI, 14). Von einem organisierten Diasporapharisäerturn und von pharisäischen Schulen außerhalb Jerusalems vor 70 n. Chr. wissen wir nichts. Offenbar war für einen pharisäischen Gelehrtenschüler ein wirkliches Studium der Thora nur in der Heiligen Stadt selbst möglich, die nicht nur der kultische, sondern auch der geistige Mittelpunkt des gesetzesstrengen Judentums war. Auch heute konzentrieren sich die rabbinischen Gesetzesschulen, die sogenannten Jeslwöt, vor allem wieder auf Jerusalem. Zion und Thora gehörten und gehören aufs engste zusammen. Zudem bleibt es, wenn man ein Studium des pharisäischen Schriftgelehrten Paulus in Jerusalem ablehnt, gänzlich unerklärlich, wie dieser angeblich völlig hellenisierte Jude aus dem kilikischen Tarsus gerade nach Damaskus gekommen sein soll (vgl. Gall,17 und 2. Kor 11,32). Für ihn mußte doch Jerusalem, das religiöse Zentrum des gesetzestreuen Judentums sehr viel wichtiger gewesen sein (vgl. Röm 15,19). Erst für die Zeit nach dem Bar-Kochba-Aufstand hören wir von pharisä71
ischen Schulgründungen außerhalb des Heiligen Landes, in Rom und vor allem in Babylonien. Dem jüdisch-hellenistischen Schulbetrieb in Alexandrien standen die Rabbinen dagegen stets sehr skeptisch gegenüber. 7.2 Geistig ist Paulus so ein Wanderer zwischen zwei Welten; er lebte in zwei Sprachbereichen und Kulturen. Das zeigt schon sein hebräisch-lateinischer Doppelname Saulus-Paulus. Gerade diesen Zug der zweifachen Kulturzugehörigkeit hat er mit den aus Jerusalem vertriebenen »Hellenisten« gemein. Seine eigentliche geistige Heimat in Jerusalem werden die griechischsprachigen Synagogen in der Heiligen Stadt gewesen sein, von denen es offenbar eine ganze Anzahl gab (Apg 6,9). Auf diesem Hintergrund wäre es gut verständlich, daß er, der »Eiferer für das Gesetz« (Gal1,14; PhiI3,6; Apg 22,3), an der Stephanusverfolgung aktiv beteiligt war und einige Zeit später nach Damaskus entsandt wurde, um dort den Umtrieben der aus Jerusalem verjagten Christen entgegenzuwirken. Wenn man das sogenannte »Apostelkonzil« auf das Jahr 48 oder 49 n. Chr. legt, so ergeben sich für seine Berufung etwa die Jahre 32-34 n. Chr. Das heißt, man darf seine Christusvision, die er selbst als die letzte »Erscheinung« des Auferstandenen betrachtet (1. Kor 15,8), nicht allzuweit von dem gemeindegründenden Auferstehungsgeschehen absetzen. Die früheste Entwicklung der nachösterlichen Gemeinde muß in recht stürmischer Weise verlaufen sein. In der Begegnung mit dem zu Gott erhöhten Jesus, den er bisher mit äußerstem Haß als einen von Gott gerichteten Volksverführer und Betrüger (vgl. bSanh 43a) verworfen hatte, erfuhr Saulus-Paulus die entscheidende Wende seines Lebens. Schon als Verfolger muß er in Streitgesprächen und Verhören mit den Grundzügen der Jesusüberlieferung und der Gemeindetheologie bekannt geworden sein, d. h. er hatte gerade als Pharisäer »Christus auf fleischliche Weise gekannt« (2.Kor 5,16). Dieses viel mißbrauchte Pauluswort bezieht sich auf seine eigene pharisäische Vergangenheit als Christenverfolger und Hasser des Christus, nicht auf den sogenannten historischen Jesus. Sie hat für den Apostel ihre Bedeutung verloren. Jetzt kennt er Christus nicht mehr so. Wenn er in Phi13,6 betont, er habe »im Eifer die Gemeinde verfolgt«, so weist dies deutlich auf Gewaltanwendung um des Gesetzes willen hin; sein Eifer galt der Unversehrtheit der Thora. Als Vorbild solchen Eifers stand dem zeitgenössischen Judentum Pinehasvor Augen, der nach Num 25 einen jüdischen Apostaten und dessen heidnische Verführerin eigenhändig getötet und dafür die Verheißung eines besonderen priesterlichen Bundes mit Gott erhalten hatte. In Ps 106,30 f ist davon die Rede, daß Pinehas durch seine eifernde Tat Sühne wirkte und ihm diese »zur Gerechtigkeit angerechnet wurde«. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der pharisäische Schriftgelehrte Paulus vor seiner Bekehrung in eben diesen Kategorien dachte. Das Ereignis von Damaskus brachte für ihn den radikalen Bruch, die unerwartete, totale Lebenswende. 72
Der bisherige Verfolger, der unter Berufung auf die durch die »Hellenisten« gefährdete Thora sich maßgeblich an der Zerschlagung dieser Gruppe beteiligt hatte, erkannte nun durch die Begegnung mit dem Auferstandenen, daß zwischen dem Heilsweg der Thora und dem gekreuzigten Messias Gottes nur ein grundsätzliches Entweder-Oder bestehen konnte, d. h. er dachte den gesetzeskritischen Ansatz Jesu und der »Hellenisten« bis zur letzten theologischen Konsequenz weiter. Die Folge seiner Erkenntnis, daß Christus für jeden Glaubenden das Ende des Gesetzes als Heilsweg bedeute (Röm 10,4), daß der Glaube von Gott »zur Gerechtigkeit angerechnet« werde (Gen 15,6; Röm 4,3; GaI3,6), mit anderen Worten, daß Gott gerade den Gottlosen gerechtspreche (Röm 4,5 vgl. 5,6), war ein uneingeschränktes Ja zur Heidenmission: Christus hatte ihn berufen und sandte ihn von jetzt an als seinen Boten zu den» Völkern« (Gall,16). Paulus verstand sich dabei selbst als »gerechtfertigter Gottloser<<. Noch im deuteropaulinischen 1. Timotheusbrief spiegelt sich dieses Selbstverständnis als Sünder wider, der Gottes Erbarmen erfuhr: » ... daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu retten, unter welchen ich der erste bin« (1,15). 7.3 Obwohl Paulus in Gal 1 darüber nichts sagt, scheint ihn die griechischsprechende judenchristliche Gemeinde in Damaskus, zu deren Unterdrükkung er ausgesandt worden war, positiv aufgenommen und in die Gemeinschaft des Glaubens eingeführt zu haben. Wahrscheinlich spielte dabei der von Lukas Apg 9,10 ff erwähnte Judenchrist Ananias eine wesentliche Rolle, vielleicht als Vermittler zwischen den dortigen Christen und dem dort noch unbekannten Paulus. Ob diese Einführung in die Gemeinde vor oder erst nach dem für uns dunklen Aufenthalt in »Arabien« geschah, läßt sich freilich nicht mehr sagen. Gall,15 ff ist so sehr in dem Bestreben geschrieben, jede Verbindung mit anderen Gemeinden und Autoritäten auf ein Minimum zu reduzieren, daß man mit der Möglichkeit rechnen muß, daß Paulus selbst über wesentliche Ereignisse schweigend hinweggeht; so hören wir ja auch nichts über seine jahrelange enge Verbindung mit der Gemeinde in Antiochien, in deren Auftrag er mit Barnabas das» Apostelkonzil « besuchte. Auch Dauer und Zweck des arabischen Aufenthaltes bleiben ungewiß. Er kann sich auf wenige Monate beschränkt haben. Vielleicht hat Paulus in »Arabien« seine ersten missionarischen Versuche gemacht; sicher ist dies jedoch keineswegs. Während Paulus selbst sagt, er habe erst nach drei Jahren J erusalern besucht (Gall,18), läßt Lukas die zeitliche Ausdehnung des Aufenthaltes in Damaskus im Ungewissen, er redet unbestimmt von »vielen Tagen« (Apg 9,23). Die längste Zeit dieser zwei bis drei Jahre scheint Paulus, auch nach seinem eigenen Bericht, in oder im Umkreis von Damaskus zugebracht zu haben. Er zog sich schließlich das Mißfallen des für die Sicherheit der Karawanenstraßen zuständigen nabatäischen Scheiks zu, der seinerseits dem 73
König Aretas IV. (9-39 n. ehr.) verantwortlich war, und floh, da sein Leben bedroht war, mit Hilfe von Gemeindegliedern bei Nacht aus der Stadt. Freunde ließen ihn, da die Tore bewacht waren, mit einem Korb durch eine Luke an der Stadtmauer hinunter. Daß bei dieser Affäre die über die Verwandlung des Pharisäers Paulus in einen christlichen Missionar mit Recht enttäuschten einflußreichen und politisch mächtigen Juden von Damaskus die Hände im Spiel hatten, ist nicht unwahrscheinlich; keinesfalls sollte man hier einen Gegensatz zwischen 2. Kor 11,32f und Apg 9,23ff konstruieren. Vermutlich wird dort nur derselbe Vorgang unter verschiedenen Aspekten geschildert. Wahrscheinlich suchte Paulus nach dieser FluchtJerusalem auf, um, wie er selbst sagt, Petruskennenzulernen (Gal1,18). Daß er so lange mit dem Besuch der Muttergemeinde in der jüdischen Hauptstadt gewartet hat, mag damit zusammenhängen, daß bei den Gemeinden der »Hellenisten« außerhalb Judäas und erst recht bei Paulus selbst, als dem vermutlich ersten Vertreter einer konsequenten gesetzesfreien Heidenrnission, nach allem, was vorgefallen war, gegenüber Jerusalem gewisse »Kontaktschwierigkeiten« bestanden; auch mußte er die Bedrohung durch seine ehemaligen Freunde in den griechischsprachigen Synagogen Jerusalems fürchten. 7.4 Auf der anderen Seite zeigt die Tatsache, daß Petrus- Kephas den Besucher aus Damaskus empfing und zwei Wochen lang beherbergte, daß solche Distanz nicht unüberwindbar war. Was in diesergar nicht so ganz kurzen Zeit verhandelt wurde, wird immer ein Geheimnis bleiben. Die beiden bedeutendsten Gestalten der christlichen Urgeschichte werden das ausgetauscht haben, was sie interessierte, und dazu gehörte bei Paulus meines Erachtens auch die petrinische Jesustradition, die, wie die Rolle des Petrus in allen Evangelien zeigt, in den griechischsprechenden Gemeinden des römischen Reiches die vorherrschende wurde (s. u. S.79f). Zugleich lernten sie sich persönlich näher kennen. Wenn Paulus in den späteren Briefen von Kephas spricht, setzt er immer voraus, daß dieser nicht nur ihm, sondern auch den Gemeinden bereits wohlbekannt ist. Auch in allen Evangelien erscheint Petrus als die wichtigste Jüngergestalt, er steht darum grundsätzlich an der Spitze der verschiedenen Jüngerkataloge. Als zweiten nennt Paulus noch den Herrnbruder Jakobus. Auch ihn hat er damals kennengelernt, sein eigentlicher Gesprächspartner war jedoch Petrus. Sowohl nach dem Galaterbrief wie bei Lukas sind Petrus und Jakobus auch in Zukunft die wichtigsten Kontrahenten des Paulus in J erusalem, aber - wie der erste Korintherbrief und der Zusammenstoß in Antiochien (2,11 ff) zeigen - nicht nur dort. Es besteht hier auch eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Selbstzeugnis des Apostels und der Darstellung der Apostelgeschichte vom späteren »Apostelkonzil«. An einem Punkt ist freilich der Bericht des Lukas Apg 9,26ff, der allgemein von »den Aposteln« spricht, irreführend: Die anderen Apostel hat Paulus ge74
rade nicht kennengelernt. Dabei ist jedoch zu beachten, daß auch Lukas keine Autorisierung des Paulus durch die Zwölf behauptet. Von einer Unterordnung kann nicht die Rede sein; aus 9,28 ließe sich sogar eine Gleichstellung herauslesen. Die Möglichkeit, daß der ehemalige Verfolger durch den späteren Missionskollegen Barnabas, nicht bei den (zwölf) Aposteln, wohl aber bei Petrus und Jakobus eingeführt wurde (vgl. Apg 9,27), muß nicht die Erfindung des Lukas sein. Wenn Paulus sich für die Anknüpfung von Kontakten mit den Jerusalemer Autoritäten eines Mittelsmannes bedient hätte, so wäre dies durchaus verständlich, da man annehmen kann, daß zwischen seinen Missionsprinzipien und denen der Mehrheit der Jerusalemer Gemeinde schon damals erhebliche Unterschiede bestanden. Unglaubhaft ist freilich die angebliche Furcht vor dem einstigen Verfolger, von der Lukas Apg 9,26 berichtet; nach Gal 1,23 wußte die Gemeinde schon längst, daß der bisherige Gegner ein christlicher Missionar geworden war. Zur lukanischen Tendenz gehört es jedoch, innere theologisch bedingte Spannungen zugunsten äußerer Ursachen abzuschwächen. Die Zurückhaltung, ja »Furcht« gegenüber Paulus könnte so durch die ungewöhnlichen, neuen theologischen Einsichten des ehemaligen Pharisäers und Gegners bedingt gewesen sein. Andererseits ist es nicht unwahrscheinlich, daß Paulus gemäß Apg 9,29 versuchte, nach zwei- bis dreijähriger Trennung mit seinen ehemaligen Genossen in den Diasporasynagogen Jerusalems eine Diskussion zu beginnen, jedoch deren Zorn so erregte, daß er den Aufenthalt nach vierzehn Tagen durch schleunige Flucht abbrechen mußte. Wenn Paulus die Stadt verlassen hätte, weil er dort um sein Leben fürchten mußte, würde dies besser erklären, warum er sie anschließend so lange mied. Im Galaterbrief, wo er seinen Kontakt mit J erusalem möglichst herabspielen muß und wo er sich nur auf knappe Andeutungen beschränkt, hatte er keinen Anlaß, auf diese Hintergründe einzugehen. Es gibt noch einen weiteren Hinweis darauf, daß Paulus in Jerusalemzu missionieren versuchte. NachRöm 1,16; 11,14 und 1. Kor 9,20 war er seine Botschaft ja nicht nur den Heiden, sondern immer auch den Juden schuldig, und in Röm 15,19 finden wir die wenig beachtete Behauptung des Apostels, daß er »von Jerusalem und Umgebung« (oder weniger wahrscheinlich: und im großen Bogen) bis nach lllyricum das Evangelium von Christus verbreitet habe. Einen Anhalt in der historischen Wirklichkeit muß diese Angabe wohl besitzen, denn daß der Apostel hier die Unwahrheit s~t, ist kaum anzunehmen. D.h. Paulus scheint hier auf eine - und sei es noch so kurze- Missionsverkündigung in J erusalem selbst Bezug zu nehmen. Das »en kyklo« könnte sich auf seine Wirksamkeit in Damaskus, »Arabien« und eventuell Caesarea (Apg 9,30) sowie auf die Reise von Damaskus nach J erusalem beziehen. Freilich, all diese Erwägungen führen zu keiner völligen Gewißheit. Das Problem wird dadurch nicht einfacher, daß Lukas den Paulus in seiner Rede vor der aufgeregten Volksmenge in Jerusalem (Apg 22,17-21) 75
über eine Christusvision im Tempel berichten läßt, die er nach seiner Bekehrung vor Damaskus dort empfangen habe. In dieser Vision ist es der erhöhte Herr selbst, der dem Paulus befiehlt, die Stadt unverzüglich zu verlassen, da dort sein Zeugnis nicht angenommen werde; er selbst werde ihn vielmehr »in die Ferne zu den Völkern senden«. Vielleicht knüpft Lukas hier an eine Tradition an, die mit dem Selbstzeugnis des Paulus in Röm 15,19 zusammenhängt, wonach die paulinische Mission von Jerusalern selbst ausging. Der Inhalt der Vision entspricht freilich ganz dem lukanischen Schema Judenmission, Ablehnung durch die Juden, Heidenmission, das wie ein roter Faden das ganze Werk durchzieht (vgl. 13,46; 18,6; 28,25ff u.ö.). 7.5 Es ist durchaus möglich, ja wahrscheinlich, daß der frühe Paulus sich als Missionar noch nicht mit so eindeutig ausschließlichem Vorrang wie in späterer Zeit, vor und erst recht nach dem» Apostelkonzil«, zu den Nicht juden gesandt wußte. In den ersten Jahren nach seiner Berufung dürfte er auch - vermutlich weitgehend fruchtlose - Versuche gemacht haben, jüdische Volksgenossen für sein Evangelium zu gewinnen, unbeschadet seiner grundsätzlichen gesetzesfreien Heilsbotschaft. Diese schloß ja nicht aus, daß er - aus Liebe zu seinem eigenen Volk (Röm 9,lff; 10,1; 11,14)- »für die unter dem Gesetz wie einer unter dem Gesetz« lebte (1. Kor 9,20), um sie zu gewinnen (vgl. Apg 16,3; 21,26) bzw. um seine missionarische Wirkungsmöglichkeit nicht einzuschränken. Unter seinen Missionsgehilfen und in seinen Gemeinden spielten die Judenchristen immer noch eine wesentliche Rolle. Obwohl er einzelne zum Glauben führen konnte (Röm 11,14), stieß er doch in der Regel gerade hier - verständlicherweise - auf erbitterte Ablehnung. Hinter der Rede vom Ungehorsam und von der Verhärtung Israels in Röm 10,21; 11,7ff steht dazu nicht zuletzt die eigene enttäuschende Missionserfahrung des Apostels gegenüber seinen Volksgenossen. Im Gegensatz zur Mehrheit der Juden werden dagegen die »Gottesfürchtigen« im Umkreis der Synagoge - wie auch später zur Zeit der großen »Missionsreisen« - aufmerksame Hörer seiner Predigt gewesen sein. Für den Juden war der »Gottesfürchtige« streng genommen, d.h. rechtlich nach der Thora, noch ein Heide. Josephus bezeugt, daß »gottesfürchtige« Frauen gerade in Damaskus besonders zahlreich waren; auch in Antiochien hatte die jüdische Mission bereits kräftig vorgearbeitet (Bell. 2,560; 7,45). Nach Bell. 2,463 besaß bei Ausbruch des Jüdischen Krieges jede Stadt im südlichen Syrien »judaisierende Sympathisanten, die verdächtig waren« und die man, da sie »nach beiden Seiten hin zweifelhaft« erschienen, zwar nicht - wie die jüdischen Minderheiten - kurzerhand umbringen wollte, die man aber »als gemischte Gruppe doch wie wirkliche Fremde fürchtete«. Man kann fragen, ob Josephus mit dieser Sondergruppe nicht gleichzeitig die Christen meinte, die ja im 1. Jh. n. Chr. weithin noch als judaisierende Sekte galten. In diesem Milieu am Rande synago76
galer Gemeinden werden Paulus, zugleich aber auch die» Hellenisten «, zuerst zögernd, mit der Zeit aber - zumindest in Antiochien - in vollem Einsatz als Missionare gewirkt haben, die auch Nicht juden ansprachen und auf die Forderung der Beschneidung und der Einhaltung des Ritualgesetzes und der Speisevorschriften verzichteten, da dies für das endzeitliehe Heil bedeutungslos geworden war. Gerade unter den am ethischen Monotheismus des Judentums interessierten Gruppen am Rande der Synagogengemeinden konnten sie mit besonderen Sympathien rechnen, und zwar aus mehreren Gründen: Einmal wurde die jüdisch-eschatologische, mit profetischen und apokalyptischen Elementen durchsetzte Argumentation der christlichen Missionare bei den heidnischen Sympathisanten des Judentums noch einigermaßen klar verstanden. Für einen echten Sarapis- oder Dionysosgläubigen oder einen Verehrer der Syrischen Göttin war ihre Botschaft dagegen nahezu unverständlich. Die Verkündigung gegenüber reinen Heiden bedurfte noch einer besonderen vorbereitenden monotheistisch-ethischen Verkündigung (vgl. 1. Thess 1,9f; Apg 14,15ff; 17,22ff), d.h. das ursprüngliche eschatologische Kerygma der Judenchristen mußte ihnen gegenüber dmch Elemente der jüdisch-hellenistischen Missionspredigt ergänzt werden. Der Glaube an die Autorität der profetischen Schriften des Alten Bundes, auf die sich die Christen beriefen, konnte, anders als bei wirklichen Heiden, bei den »gottesfürchtigen« Synagogenbesuchern bereits vorausgesetzt werden. Auf der anderen Seite war bei ihnen das Interesse an Ritualgesetz und Tempelkult, das für das palästinische Judentum so wesentlich war, relativ gering. Der Verzicht auf die Beschneidung in Verbindung mit der unvollständigen Einhaltung der Thora war es ja, was diese »Gottesfürchtigen« in gesetzesstrengen jüdischen Augen immer noch Menschen zweiter Klasse bleiben ließ. Auf den jüdischen Friedhöfen in Jerusalem und Rom und auch sonst in der Diaspora begrub man zwar Proselyten, aber keine »Gottesfürchtigen«. Offiziell wurden diese trotz ihres Besuches der synagogalen Gottesdienste und ihrer partiellen Beobachtung des Gesetzes weiterhin als Heiden angesehen, wenn sie nicht durch Beschneidung und Tauchbad ganz zum Judentum übertraten. Der Satiriker J uvenal schildert, wie in Rom, an der Wende vom 1. zum 2.Jh., die Väter von Vollproselyten sich ohne Beschneidung und vollen Übertritt zum Judentum mit der bloßen Beobachtung des Sabbats und der Enthaltung von Schweinefleisch begnügten. Erst die Söhne gerieten, verführt durch das schlechte Vorbild der Väter, diese überbietend, vollends ganz auf Abwege: »Und sie halten für gleich mit menschlichem Fleisch das des Schweines, dem ihr Vater entsagt, und beschneiden sich frühe die Vorhaut; aber nicht zu achten gewohnt die Gesetze der Römer, lernen sie jüdisches Recht und befolgen die Satzungen alle, 77
ganz wie Moses gelehrt sie hat in verborgenen Schriften, keinem zu zeigen den Weg, der nicht dasselbe glaubt, nur den beschnittenen Mann zur labenden Quelle zu führen. Aber der Vater ist schuld, der stets am siebenten Tage faul war und sich auch nicht mit geringstem Geschäfte befaßte.« (14,98ff Üs. v. W.Plankl) Die hier selbst für den heidnischen Satiriker sichtbare Abstufung, nach der erst die zweite Generation den völligen Übertritt wagte, war für die Mission der» Hellenisten « und des Paulus hinfällig geworden, denn die Beschneidung und die Einhaltung der ganzen Thora, ihrer 613 Gebote und Verbote, die bisher noch ein Hemmnis bildeten, hatten jetzt ihre grundsätzliche Bedeutung verloren; nicht die Erfüllung, sondern allein das gehorsame Vertrauen in Gottes endzeitliches Heilswerk, durch seinen Messias offenbart, wurde als der Weg zum wahren, ewigen Leben proklamiert (vgl. Joh 14,6). Für eine Unterscheidung zwischen bloßen »Gottesfürchtigen« und »Vollproselyten« war bei den Heidenchristen, die sich taufen ließen und den christlichen Gottesdienst besuchten, kein Raum mehr. Die neue Heilsbotschaft konnte dem Außenstehenden als universales, »entschränktes« Judentum erscheinen, ohne die von den gebildeten Heiden als abergläubisch verspottete Last des Gesetzes (vgl. Apg 15,10.28; GaI5,1). Die Übersiedlung des Paulus in seine Heimatstadt Tarsus (Apg 9,30) könnte ein Hinweis darauf sein, daß er zunächst - ähnlich wie vielleicht schon in »Arabien« - als Einzelgänger und Außenseiter missionierte; denn es ist fraglich, ob in dieserfrühen Zeh (ca. 34/36 n. Chr.) im kilikischen Tarsus bereits eine nennenswerte christliche Gemeinde bestand. Wie weit er dort erfolgreich war, wissen wir nicht. Es fällt auf, daß er später von den Gemeinden in Kilikien (und Syrien) nicht mehr expressis verbis spricht (vgl. nur noch Gal1,21; 2,11) und daß wir seine Herkunft aus Tarsus nur durch Lukas erfahren (Apg 21,39; vgl. 9,11). Man hat den Eindruck, als betrachtete er diese Epoche seiner Wirksamkeit später als abgeschlossen. Nachdem er von Barnabas, wohl noch vor Ende der dreißiger Jahre, nach Antiochien geholt worden war (Apg 11,25), muß man bei der ihm eigenen überragenden theologischen Denkkraft und missionarischen Energie von da an auch seine aktive Mitwirkung bei der Gestaltung des Kerygmas der griechischsprechenden judenchristlichen Gemeinde in Syrien mit in Rechnung setzen. Von einer im strengen Sinne» vorpaulinischen « Gemeinde kann man eigentlich nur für die zwei bis vier Jahre bis zu seiner Bekehrung (ca. 32/34 n. Chr.) bzw. bestenfalls bis zum Ende der dreißiger Jahre reden. Die in der wissenschaftlichen Literatur so häufig auftauchende Bezeichnung »vorpaulinische Gemeinde« ist so chronologisch häufig irreführend. Man sollte genau von den }>lleben-« bzw. }>llichtpaulinischen Gemeinden« sprechen. 78
8. Kapitel: Petrus und die Heidenmission 8.1 Im Gegensatz zu dem Bild, das F. Chr. Baur vom Urchristentum entwarf und das teilweise bis heute nachwirkt, war Kephas-Petrus nicht der typische Vertreter des strengen gesetzestreuen Judenchristentums und damit auch nicht der eigentliche Gegner des Paulus. Er gehörte gerade nicht zum Kreis der »Judaisten«; nach allem, was wir wissen, forderte er keineswegs grundsätzlich die Beschneidung und die Einhaltung des Ritualgesetzes von ?en Heidenchristen. Im Gegenteil, er muß vielmehr eher eine vermittelnde Stellung in der allmählich aufbrechenden Konfrontation zwischen den in der Mehrzahl sich immer strenger an die Thora bindenden palästinisch-jerusalemischen Christen und den von den Hellenisten gegründeten Gemeinden außerhalb des jüdischen Siedlungsgebietes eingenommen haben. Ja, er ging im Grunde, mit einer gewissen zeitlichen Verschiebung, einen ähnlichen Weg wie die» Hellenisten «. Diese» Toleranz«, ja »Liberalität« des ehemaligen galiläischen Fischers hängt doch wohl damit zusammen, daß er als Jünger Jesus besonders nahegestanden hatte und später die Erinnerung an die bei seinem Meister wahrgenommene Freiheit nicht verleugnen konnte. Sehr wahrscheinlich hat Petrus einen großen Teil der bei Markus erhaltenen Jesustraditionen an die griechischsprechende Gemeinde vermittelt. Die spätere Papiasnotiz über das Markusevangelium (Euseb, h. e. 3,39,15), die ja auf ältere Nachrichten des Presbyters zurückgeht (s. o. S. 47), hat durchaus einen gewissen historischen Wert und ist nicht einfach als frei erfundene, apologetische Konstruktion abzutun. In den Jahren zwischen 130 und 140 n. Chr., und 70 Jahre nach dem Martyrium des Petrus, waren die verläßlichen Traditionen über diese große Gestalt der frühesten Kirche noch nicht völlig durch die pseudepigraphische, romanhafte Produktion verdrängt. Papias hat sich zudem um die Exploration vertrauenswürdiger, alter Traditionsträger bemüht. Das apokryphe Petrusevangelium, die pseudoklementinischen »Kerygmata Petrou« und die Petrusakten sind vermutlich erst ab der 2. Hälfte des 2. Jh.s, die Petrusapokalypse vielleicht zu gleicher Zeit und der 2. Petrusbrief kurz zuvor entstanden. Es ist auffallend, daß in dieser späteren Petrusliteratur Markus und sein Evangelium keine Rolle mehr spielen; hier erhob man vielmehr den Anspruch, ohne Vermittlung eines Mannes der 2. Generation unmittelbar den Zugang zur apostolischen Autorität zurückgewonnen zu haben. Die Papiasnotiz hat darum gerade in ihrer äußersten Knappheit einen ganz anderen Charakter. Dafür, daß dahinter ältere Überlieferung steht, spricht u.a. auch l.Petr 5,13. Zunächst war das Wirkungsgebiet des Petrus auf Jerusalem und das jüdische Palästina beschränkt. Das wird etwa dadurch bestätigt, daß er nach den Legenden Apg 9,32-43 - ganz im Gegensatz zu Philippus - nur die rein jüdi-
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schen Städte der Küstenebene Lydda und Joppe besucht und nach der überwiegend heidnischen Residenz des Präfekten, Caesarea, gegen seinen Willen erst gerufen werden muß, d. h. er sucht die heidnische Hauptstadt Palästinas nicht freiwillig auf. Wenn er in Joppe bei einem wegen seines unsauberen Gewerbes verachteten Gerber wohnte (9,43), so zeugt dies andererseits wieder von seiner Großzügigkeit. Für die »Liberalität« des Petrus spricht weiter, daß er in der frühesten Zeit - damals noch der erste Mann unter den Zwölfen in Jerusalem - die relative »Verselbständigung« der Gruppe der »Heilenisten« durch eine eigene gottesdienstliche Versammlung duldete, ohne die Kirchengemeinschaft abzubrechen, und daß er - zu einem späteren Zeitpunkt - in Samarien missionierte. Apg 8,14-25 stammt m.E. aus einer Sammlung von Petruserzählungen; der Bericht wurde von Lukas überarbeitet und mit der Philippusmission so verbunden, daß der Eindruck einer Inspektion durch die Jerusalemer Autoritäten erweckt wurde. Im ursprünglichen Bericht war - ähnlich wie in den Pseudoclementinen und in den Petrusakten - Simon Magus vermutlich ausschließlich Gegenspieler des Petrus. Es spricht für die Ursprünglichkeit des Berichts, daß bei Lukas Petrus dem Simon in Samarien begegnet, während nach den apokryphen Apostelakten das erste Zusammentreffen in Jerusalem stattfindet und Simon anschließend, von Petrus überwunden, von Judäa nach Rom flieht (Actus Verc. c.23, vgl. SYLDidascalia p.120,23). Auch hier folgt Lukas seiner Devise, längst nicht alles zu sagen, was er weiß. Er bringt sicher nur Ausschnitte aus den Petrusgeschichten, die ihm bekannt sind. Die Cornelius-Erzählung (Apg 10,1-11,18) zeigt, wie Petrus sich für die Taufe eines einzelnen »Gottesfürchtigen«, der durch sein militärisches Amt am Übertritt zum Judentum gehindert war, samt dessen Familie einsetzte, ohne die vorhergehende Beschneidung zu fordern. Die Geistausgießung als »Gottesurteil« vor dem Vollzug der Taufe dürfte dabei in dieser Erzählung ursprünglich sein. Selbst gewisse Kreise der palästinischen Gemeinde stellten die konkreten endzeitlichen Offenbarungen und Anweisungen des Herrn über die für sie durch das Kommen des Messias überholten rituellen Gebote der Thora. D. h. die maßgebliche Offenbarungsquelle war jetzt, im Zeichen des Anbruchs der messianischen Zeit, der zu Gott erhöhte Messias und Menschensohn selbst, nicht mehr die Thora, die Mose einst am Sinai empfangen hatte. Der, welcher gesagt hatte: »Siehe, hier ist mehr als Jona! ... siehe, hier ist mehr als Salomo!« (Mt 12,4lf; Lk 11, 32. 31), dessen Autorität mußte auch die des Mose übertreffen und war in der Lage, diesen zu korrigieren. Nichts anderes wollen die Antithesen der Bergpredigt zum Ausdruck bringen, die den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Gemeinde am Sinai und dem Messias als dem Verkündiger des wahren Gotteswillens aufzeigen: »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist. .. , ich aber sage euch ... « (Mt 5,2lf vgl. 27f. 3lf. 33f. 38f. 43f). Die Spannung zwischen Mose und seiner Thora einerseits und der Autorität des 80
Messias J esus andererseits war schon der palästinischen Gemeinde durch die Verkündigung Jesu vorgegeben und blieb in ihr als kritisches Ferment zunächst noch wirksam. Erst allmählich kam es in ihr - nicht zuletzt unter dem Druck der jüdischen Umwelt und unter dem Einfluß des Hermbruders J akobus - zu einer neuen Wertschätzung des Gesetzesgehorsams und einer entschiedeneren Rückbindung an die Thora, obwohl die Haltung der palästinischen Judenchristen auch in diesem Punkt durchaus nicht völlig einheitlich war. Noch zu Beginn des 2. Jh.s n. Chr. wurde den Judenchristen in Kapernaum nachgesagt, daß sie den Sabbat mißachteten und den Neffen des R. Jehoschua verhext hätten, so daß er an einem Sabbat auf einem Esel ritt (Koh R 1,8 § 4). Einerseits hielt die rabbinische Polemik den judenchristlichen Häretikern ihre Laxheit gegenüber der Thora vor, andererseits wird von schriftgelehrten Diskussionen mit einzelnen Judenchristen über Fragen der Halacha berichtet. Schließlich weist auch die Tatsache, daß Paulus 14 Tage bei Petrus in Jerusalern weilen konnte, darauf hin, daß zwischen den beiden nach Herkunft, Bildung und Charakter so verschiedenen Aposteln eine grundsätzliche Verständigungsbereitschaft bestand. Wenn es dennoch zu Spannungen zwischen ihnen kam, so lag dies kaum an einer sich völlig widersprechenden Haltung gegenüber dem jüdischen Gesetz, sondern daran, daß sich hier zwei selbstbewußte Persönlichkeiten, die aus völlig unterschiedlichen Traditionsbereichen kamen, gegenüberstanden. 8.2 Als der sadduzäerfreundliche König Herodes Agrippa I. ca. 43/44 n. Chr. den Zebedaiden Jakobus enthaupten ließ (Apg 12,2), andere Glieder der Gemeinde verhaftete (12,1) und Petrus zwang, Jerusalem oder, was wahrscheinlicher ist, das palästinische Machtgebiet des Königs wenigstens für eine gewisse Zeit zu verlassen (Apg 12,17), trat der konservativere, gesetzesstrengere Hermbruder Jakobus in der Jerusalemer Urgemeinde an seine Stelle. Obwohl Jakobus zu Lebzeiten Jesu nicht zur Jüngerschaft gehört hatte, sondern seinem Bruder kritisch gegenübergestanden hatte (Joh 7,5; Mk 3,21. 31 ff), wuchs von jetzt an sein Einfluß ständig. Sein Aufstieg wurde durch die Blutsverwandtschaft mit Jesus, durch seine vorbildliche Thorafrömmigkeit, die ihm den Ehrennamen »der Gerechte« einbrachte, und gewiß auch durch die besondere Kraft seines Charakters gefördert. Es waren wohl nicht zuletzt seine persönliche Ausstrahlung und seine Gesetzestreue, die einen Fortbestand der Jerusalemer Gemeinde in einer schwieriger werdenden Situation ermöglichten. Vor allem zu pharisäischen Kreisen scheint er ein erträgliches, schiedlich-friedliches Verhältnis geschaffen zu haben, während die Haltung des sadduzäischen Priesteradels gegenüber den Judenchristen immer negativ blieb. Es mag dies damit zusammenhängen, daß die Familie Jesu selbst ursprünglich dem Milieu pharisäischer Frömmigkeit na81
hegestanden hatte. Dies würde auch erklären, warum sich Jesus und die Urgemeinde von allen jüdischen Gruppen am meisten mit den Pharisäern und ihren Schriftgelehrten auseinandersetzten und warum die urchristliche Eschatologie in so vielen Punkten mit der pharisäischen Apokalyptik verwandt ist. Die jüdische Forschung, die - zu Unrecht - heute Jesus gerne als einen »Pharisäer besonderer Art« bezeichnet, hat hier doch einen historischen Zusammenhang richtig erkannt, auch wenn sie daraus falsche Konsequenzen zog. Als im Jahre 62 n. Chr., während der Vakanz in der Prokuratur nach dem Tode des Festus, der sadduzäische Hohepriester Hannas, der Sohn des Hannas der Leidensgeschichte, den Herrnbruder Jakobus und weitere Judenchristen wegen angeblichen Gesetzesfrevels hinrichten ließ, protestierten andere, gesetzesstrenge - d. h. offenbar pharisäische - Kreise gegen diese Parteijustiz, sowohl bei König Agrippa II., dem Schutzherrn des Tempels, wie bei dem von Alexandrien anreisenden Prokuratoren Albinus und erreichten die sofortige Absetzung des Hohenpriesters (Josephus, Ant 20,200ft). Die so unterschiedliche Einschätzung der Pharisäer und der Sadduzäer in ihrem Verhältnis zum Urchristentum bei Lukas könnte durchaus auf Jerusalemer Tradition zurückgehen und muß keineswegs eine Konstruktion lukanischer Apologetik sein. Sehr wahrscheinlich war die Beurteilung der messianisch-apokalyptischen, aber zugleich politisch friedfertigen Sekte der Christen zwischen Sadduzäern und Pharisäern kontrovers. Auch die Autorität, die der Jesus des Matthäusevangeliums 23,2f den »Schriftgelehrten und Pharisäern« einräumt, ist - zumindest teilweise - auf diesem Hintergrund zu verstehen. Wenn Lukas Apg 15,5 von christlichen Pharisäern spricht und 21,20 den Jakobus auf die zahlreichen judenchristlichen »Eiferer für das Gesetz« hinweisen läßt, so wird dies historischer Wirklichkeit entsprechen. Der zunehmende Einfluß des Jakobus in den Jahren nach der Verfolgung durch Agrippa I. ist beim »Apostelkonzil« 48 n. Chr. daran zu erkennen, daß er unter den drei »Säulen« an erster Stelle vor Petrus und dem Zebedaiden Johannes genannt wird (GaI2,9). Daß diese Aufzählung eine Rangfolge festhält, sollte angesichts der zahlreichen neutestamentlichen Jüngerkataloge mit der Reihenfolge Petrus, Jakobus der Zebedaide, Johannes (Mk 3,16f; 5,37; 9,2; 13,3; 14,33; vgl. auch 6,2 die Aufzählung der Brüder Jesu, wo Jakobus an der Spitze steht) nicht bezweifelt werden. Wie sehr selbst Petrus schließlich die dem Jakobus nahestehenden Judenchristen und d. h. zugleich deren Meister zu fürchten hatte, ergibt sich aus dem Zusammenstoß mit Paulus in Antiochien Ga12,11 f. Hier wird erst recht die grundsätzliche »liberale« Haltung des Petrus gegenüber dem Gesetz offenbar; denn bevor die Sendboten des Jakobus in Antiochien eintrafen, hatte er mit einer gewissen Selbstverständlichkeit volle Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen geübt. Paulus bescheinigt ihm ja in seiner schroffen Polemik, daß er, Petrus, »auf heidnische und nicht auf jüdische Weise« lebe (GaI2,14).
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Nicht durch seine Gesetzesstrenge, sondern durch seine Wankelmütigkeit bzw. seinen Opportunismus bedrohte er nach der Meinung des Paulus die Wahrheit des Evangeliums. Möglicherweise konnte Petrus seine »liberale« Haltung durch ein visionäres Erlebnis begründen, das von Lukas in den Zusammenhang der Corneliuserzählung eingefügt wurde (Apg 1O,9ff). Aus Apg 11,2 ff geht weiter hervor, daß.Petrus wegen seiner »laxen« Position gegenüber der Thora in Jerusalem angegriffen worden war. Man kann darum annehmen, daß er persönlich den strengen Standpunkt der Judaisten nie geteilt hat, ja man muß vermuten, daß der offensichtliche Rückgang seines Einflusses in der Jerusalemer Muttergemeinde mit seiner relativen »Laxheit« gegenüber der Thora zusammenhing. Dagegen war sichjakobus klar bewußt, daß die judenchristliche Gemeinde in Jerusalem in einer überwiegend feindlichen Umgebung auf die Dauer nur weiterbestehen konnte, wenn sie sich selbst als ein Vorbild der Gesetzestreue darstellte. Nur so konnte sie der Neutralität (vgl. Apg 5,38 f) bzw. der Duldung der Pharisäer gegenüber der offenen Feindschaft des sadduzäischen Adels gewiß sein. Nach dem Zurücktreten der »Zwölf« hat Jakobus, an der Spitze der Ältesten, schließlich die Leitung in Jerusalem ganz übernommen. Petrus, der in Ga12,7f als der eigentliche Beauftragte für die - nach dem Urteil des Paulus freilich wenig erfolgreiche (vgl. Röm 11) - Judenmission dargestellt wird, blieb bei dieser Lage in J erusalem nur die Möglichkeit, in die griechischsprechende Diaspora auszuweichen, wo seine Wirksamkeit in Antiochien, Rom und - zumindest als Ausstrahlung - in Korinth sichtbar wird. 8.3 Sowenig Paulus die Mission unter Juden völlig aufgab, sowenig ist anzunehmen, daß sich Petrus in der späteren Zeit allein auf die Juden beschränkte. Das Beispiel des Cornelius zeigt, daß »Gottesfürchtige« schon relativ früh in sein missionarisches Blickfeld gekommen waren. Bei dem offensichtlichen Mißerfolg der Verkündigung gegenüber dem eigenen Volk mußte die Heidenmission immer interessanter werden, zumal Petrus für Juden- und Heidenchristen als erster Auferstehungszeuge, vertrauter Jesusjünger von einst und Träger der Jesustradition aus erster Hand eine einzigartige Autorität besaß. Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief lassen sich am besten erklären, wenn man in ihnen Abgesandte der mit Paulus konkurrierenden Petrusmission sieht, zumal Petrus-Kephas bereits in 1. Kor einen beträchtlichen Einfluß auf die korinthische Gemeinde ausgeübt haben muß, der Paulus Schwierigkeiten bereitete (1. Kor 1,12; 3,22; vgl. 15,3). Aus diesem Grunde ist die Auseinandersetzung des Apostels mit seinen Gegnern in 2. Kor 10 und 11 so überaus mühsam und sind die theologischen Differenzen so schwer greifbar. Paulus kann und will hier nicht offen reden. So sehr sich der Standpunkt des Petrus im Blick auf das Gesetz dem der »Hellenisten« angenähert hatte, sowenig konnte er wohl Paulus die schwere Demütigung vergessen, die 83
ihm von diesem in Antiochien zugefügt worden war, zumal die judenchristlichen Führer der dortigen Gemeinde samt Barnabas offenbar dem Petrus recht gegeben hatten und auf dessen Seite getreten waren (GaI2,13). Die Gemeinde in Antiochien und d.h. damit wohl die Gemeinden Syriens überhaupt traten von jetzt an unter den Einfluß des Petrus. Dies begründet m. E. die besondere Rolle, die Petrus in dem in Syrien entstandenen Matthäusevangelium spielt (14,28f; 16,16ff; 17,24; 18,21), die noch über das Petrusbild des in Rom verfaßten Markusevangeliums, das ebenfalls in der Petrustradition steht, hinausgeht. Der Hermbruder Jakobus tritt dagegen in allen Evangelien völlig zurück. Die Gemeinde in Judäa mußte sich auf die Dauer gegenüber der heidenchristlichen Kirche isolieren. Dieser Bruch mit der syrischen Metropole erklärt auch, warum Paulus sich beharrlich über seine lange Wirksamkeit in Antiochien ausschweigt, bis auf die eine, bezeichnende Erwähnung GaI2,11: »Als aber Kephas nach Antiochien kam ... «.
9. Kapitel: Der entscheidende Durchbruch in Antiochien 9.1 Mit dieser Skizze der Entwicklung des Petrus haben wir dem historischen Geschehen weit vorausgegriffen. Ein zweiter Brennpunkt in der Geschichte des Urchristentums neben Jerusalern wurde die von vertriebenen »Hellenisten« gegründete, schon mehrfach erwähnte Gemeinde von Antiochien, der drittgrößten Stadt der Alten Welt neben Rom und Alexandrien und Hauptstadt der damaligen römischen Doppelprovinz Syrien und Kilikien. Der römische Statthalter in Antiochien hatte sogar eine gewisse Oberaufsicht über den Präfekten in Judäa. D.h. zwischen Judäa und Antiochien bestanden - anders als gegenüber Alexandrien und Ägypten - unmittelbare politische Beziehungen. Mit Antiochien erreichte die urchristliche Gemeinde erstmalig eine antike Großstadt. Es gibt wohl kaum religionssoziologische Parallelen zu dem erstaunlichen Tatbestand, daß die ursprünglich rein ländliche, galiläische Jesusbewegung in kürzester Zeit in Jerusalem zu einer überwiegend städtischen Gemeinde wurde und dann in Antiochien ausgesprochengroßstädtischen Charakter annahm, eine soziale Gestalt, die dann für die paulinische Mission und die folgenden 300 Jahre der Kirchengeschichte typisch werden sollte. Dieser energische Drang vom entlegenen, als barbarisch und unzivilisiert geltenden Galiläa in die jüdische Hauptstadt und schließlich in die Metropolen des römischen Reiches ist ein Ausdruck für die Vitalität und missionarische Kraft der neuen jüdisch-apokalyptischen Sekte. Lukas wird mit seiner aus der antiochenischen Quelle stammenden Notiz recht ha84
ben (Apg 11,20), daß erst in der Freiheit und Bindungslosigkeit der Großstadt und durch den Anstoß der aus Jerusalem vertriebenen ortsfremden »Hellenisten« der volle Durchbruch zur offenen Heidenmission erfolgte, ohne daß jetzt noch die Einhaltung der Thora ganz oder teilweise eine Rolle spielte. Die Mission unter den Nicht juden wurde jetzt zur selbständigen Aufgabe und geschah nicht mehr nur sporadisch in besonderen Einzelfällen und beschränkt auf die »Gottesfürchtigen«, sondern mit einer gewissen Planmäßigkeit, und zwar gegenüber allen Heiden. Das auslösende Moment mag auch hier die Weisung des Geistes in Verbindung mit grundsätzlichen theologischen Überlegungen gewesen sein. An die Stelle des bisherigen selbstverständlichen Vorrangs der Judenmission trat jetzt der Auftrag, in gleicher Weise das Gottesvolk aus Juden und Heiden zu sammeln. 9.2 Ein noch weitergehender Schritt begegnet uns bei Paulus und wohl auch bei Barnabas, die bewußt den Schwerpunkt ihrer missionarischen Arbeit ganz auf die Nicht juden verlagerten. Bei Paulus geht die Tendenz zur Heidenmission nach Ga11,15f schon auf seine Berufung vor Damaskus zurück; bei Barnabas wird diese Wende erst nach seinem Eintreffen in Antiochien und vielleicht unter dem Einfluß des Paulus erfolgt sein. Dieser gab dem Vorrang der Heidenmission auch eine theologisch-apokalyptische Begründung. Für ihn mußte nach Röm 11 vor dem Kommen des K yrios die von Gott bestimmte» Vollzahl der Heiden« gewonnen werden, damit durch den Glauben der Völker »die Eifersucht Israels geweckt werde« und in der erwarteten Parusie dann »ganz Israel gerettet werden« könne (1l,11.25f). Die Tatsache, daß Paulus sich (und Barnabas) in Gal 2,2 ff so betont mit der Heidenmission identifiziert und daß er in exklusiver Weise darüber mit den Jerusalemer Autoritäten verhandelte, zeigt, daß die systematische und intensive Zuwendung zu den Heiden und der daraus resultierende Vorrang der Heidenmission auch außerhalb des jüdischen Palästina noch keine von jeder Gemeinde anerkannte Selbstverständlichkeit geworden waren und daß darüber hinaus dieselbe einer besonderen theologischen Begründung bedurfte, die keiner so gut geben konnte wie Paulus, der ehemalige pharisäische Schriftgelehrte. Die sporadische Mission unter den »Gottesfürchtigen« und »Sympathisanten« wird man von der gezielten und entschlossenen Heidenmission, die der Predigt vor Nicht juden den heils geschichtlichen Vorrang gab, als deren Vorstufe wohl unterscheiden müssen. Dieser letzte Schritt wurde begünstigt durch den Freiheitsraum der syrischen Hauptstadt; er setzte daneben eine weitgehende Unabhängigkeit von den jüdischen Synagogengemeinden wie auch eine gewisse Distanz gegenüber der bislang vorherrschenden Tendenz in den bisherigen christlichen Gemeinden, der Judenmission den Vorrang zu geben, voraus, vor allem aber natürlich gegenüber der Muttergemeinde in Jerusalem. Vermutlich war auch der politische Einfluß der synagogalen Gemeinde in der
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Großstadt Antiochien nicht so bedeutend wie in Damaskus oder Caesarea. Man hatte hier von dieser Seite weniger Schwierigkeiten zu erwarten. Nach Apg 1l,22f entsandte die Jerusalerner Gemeinde auf die Nachricht von dieser revolutionären Neuerung hin den Sendboten Joseph Barnabas, einen aus Zypern stammenden Leviten, der jedoch nach Apg 4,36 f seit den Anfängen zur Jerusalemer Urgemeinde gehört hatte, nach Antiochien, wo er begeistert den neuen Weg beschritten haben soll: Er holte Paulus von Tarsus nach Antiochien, ging mit ihm auf Missionsreisen und vertrat ca. 10 Jahre später zusammen mit ihm erfolgreich das Anliegen der Antiochener in Jerusalern. Diese Entsendung des Barnabas als »Inspektor« der neuen Entwicklung in Antiochien entspricht allzusehr der lukanischen Tendenz, als daß sie ohne weiteres glaubhaft wäre. Auf der anderen Seite ist es jedoch unbegründet, mit Haenchen und anderen zu vermuten, Barnabas habe von Anfang an zu den aus Jerusalem vertriebenen »Hellenisten« und Begründern der Gemeinde in Antiochien gehört. Lukas hatte keinen Grund, die Wirklichkeit so grob zu verfälschen. Man müßte bei der späteren Bedeutung des Barnabas dann auch erwarten, daß er schon im Kreis der »Sieben« erwähnt worden wäre. Es besteht kein Anlaß daran zu zweifeln, daß sich der Levit aus Zypern ursprünglich nach Apg 4,36 und 9,27 zu der von den »Zwölfen« geleiteten J erusalemer Kerngemeinde, d. h. zu den» Hebräern«, rechnete. Es gibt eine Reihe von Indizien, die darauf hinweisen, daß diese sogenannten »Hebräer«, d. h. der aramäischsprechende, zahlenmäßig größere Gemeindeteil in Jerusalern, gerade in der frühen Zeit durchaus keinen »monolithischen Block« bildeten, sondern eine ganze Reihe von Gliedern besaßen, die mit der Entwicklung außerhalb Palästinas offen sympathisierten, während sie der Verschärfung der Gesetzesfrömmigkeit im palästinischen Judenchristentum eher mißtrauten. Beispiele für solche Christen aus Jerusalem, die zugleich enge Kontakte mit den freieren griechischsprechenden Gemeinden pflegten, sind außer Barnabas dessen Vetter oder Neffe Johannes Markus, der spätere Verfasser des ältesten Evangeliums, weiter Silas-Silvanus, der Jerusalemer Reisebegleiter des Paulus auf der sogenannten zweiten Missionsreise, der Profet Agabus und wohl auch der Zyprier Mnason, der Paulus nach Apg 21,16 bei seinem letzten Besuch in Jerusalem beherbergte. Die Bezeichnung »Hebraioi« in Apg 6,1 bedeutete ja nicht, daß alle Glieder dieser Gruppe des Griechischen nicht mächtig waren, sondern nur, daß ihre Muttersprache Aramäisch war. Für die Träger der genannten Namen wird man Zweisprachigkeit annehmen dürfen. Aus diesen Gründen möchte ich am ehesten einen bewußten Übertritt, man könnte sagen eine »Absetzbewegung« des Barnabas von Jerusalem nach Antiochien vermuten, hinter der theologische und persönliche Motive standen. Zu den Gemeinsamkeiten, die den Leviten aus Zypern und den Pharisäer aus Tarsus verbanden, gehörten nicht nur die Überzeugung von der Notwendigkeit der gesetzesfreien Heidenrnission,
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sondern auch ihre Ehelosigkeit und die dadurch begünstigte völlige Freiheit vom Unterhalt durch die Gemeinden. Paulus verdiente sich als Lederarbeiter sein tägliches Brot, der Beruf des Barnabas ist uns unbekannt. Vielleicht hatten die beiden die Möglichkeit, in ihrem Handwerk zusammenzuarbeiten, wie es Paulus später mit Prisca und Aquila in Korinth und Ephesus tat (Apg 18,2 f). Eben darin unterschieden sich die Städter Paulus und Barnabas .von den Jerusalerner Aposteln und den Brüdern Jesu, die überwiegend galiläische Fischer und Bauern gewesen waren und denen die Großstadt ursprünglich fremd war. Die städtischen Handwerker waren beweglicher und unabhängiger als die Landleute aus Galiläa, die zudem noch für Weib und Kind zu sorgen hatten (1-. Kor 9,4-6) und darum mehr als Paulus und Barnabas auf die Unterstützung durch die Gemeinden angewiesen waren. Dadurch, daß Barnabas den ihm bekannten ehemaligen Schrütgelehrten Paulus aus Tarsus nach Antiochien holte, wurden sicherlich die neuen Aktivitäten der dortigen Gemeinde im Bereich der Heidenmission weiter verstärkt und die theologische Reflexion angeregt. Möglicherweise hatte Paulus schon vorher Kontakte mit Antiochien geknüpft und die dortige Entwicklung beeinflußt. Über die wenigen Angaben des Lukas hinaus wissen wir freilich kaum Sicheres. Die rund 14 Jahre der Wirksamkeit des Paulus in der damaligen Doppelprovinz »Syrien und Kilikien« (GaI1,21; 2,1) gehören zu den großen Unbekannten einer Geschichte des Urchristentums. Gewiß ist im Grunde nur, daß dort, im Milieu der selbstbewußten und aktiven antiochenischen Gemeinde, das spätere paulinische Programm der missionarischen Eroberung der »Oikumene« sich allmählich vorbereitete und heranreifte. 9.3 Daß die Mitglieder der neuen Messiasgemeinde in Antiochien - vermutlich von den dortigen römischen Behörden _. die besondere, latinisierende Bezeichnung »Christianoi/Christiani« erhielten (Apg 11,26 vgl. l.Petr 4,16), deutet auf ihre organisatorische Verselbständigung gegenüber den jüdischen Synagogengemeinden hin. Die erfolgreiche messianische Sekte konnte jetzt dem fremden Beobachter als eigene Gruppe erscheinen, die sich vom Judentum gelöst hatte. Sie erhielt einen eigenen Namen, der sich von den bisherigen Bezeichnungen wie »Galiläer« oder »Nazoräer« (Apg 24,5), die auf jüdische Gruppen hingewiesen hatten, durch seine Selbständigkeit grundsätzlich unterschied. Die Schwierigkeiten dieses Lösungsprozesses und die Konflikte, die damit verbunden waren, können wir freilich nur von ferne erahnen. Von dem byzantinischen Chronographen Malalas, der ältere römische Quellen bearbeitet, hören wir, daß es in Antiochien zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Caligula (37-41 n. Chr.) ähnlich wie in Alexandrien zu antijüdischen Unruhen kam. Möglicherweise beschleunigten diese die Verselbständigung der neuen jüdisch-apokalyptischen Bewegung. 87
9.4.1 Zwischen der Entwicklung des urchristlichen Missionsgedankens und der Entfaltung der Christologie besteht eine gewisse innere Parallelität. Auch diese Parallelentwicklung wird in der Darstellung des Lukas angedeutet. An sich ist bei Lukas, ähnlich wie bei Paulus, das absolute »ho kyrios« bzw. »ho kyrios Iäsüs (Christos)« [»der Herr« bzw. »der Herr Jesus (Christus)«] mit Abstand der häufigste christologische Titel. Dies entspricht dem Sprachgebrauch der griechischsprechenden Gemeinde außerhalb Palästinas. Um so mehr fällt auf, daß in den ersten fünf Kapiteln der Apostelgeschichte ganz gegen den sonstigen Gebrauch, das absolute »ho kyrios« ziemlich selten auf Jesus (2,47; 5,14 vgl. 1,21 »ho kyrios Iäsüs«; in 4,33 ist die Lesart unsicher), dagegen mehrfach auf Gott bezogen wird (2,25; 3,20; 4,26; vgl. das bloße Kyrios 2,20f.39; 3,22). In Apg 2,36 wird, ähnlich wie in Röm 1,3f, eine altertümliche adoptianische Christologie angedeutet: Durch die Auferstehung habe Gott Jesus zum »kyrios« (Ps 110,1) und »christos«, zum »Herrn« und »Gesalbten«, gemacht. Nur in diesen ersten Kapiteln erscheint auch viermal die ganz archaische Bezeichnung Jesu als »Gottesknecht« (3,13.26; 4,27.30). Häufig ist daneben auch noch die Bezeichnung Jesu als Messias, das titulare»christos« (2,31.36; 3,18.20; 4,26; 5,42), das später nur noch in jener Verkündigung, die sich gezielt an Juden richtet, auftaucht (9,22; 17,3; 18,5.28; 26,23). Ebenso gehört die einzigartige Nennung des Menschensohns durch den Märtyrer Stephanus (7,56) zu den altertümlichen Relikten in der lukanischen Darstellung der Frühzeit. Selbst wenn alle diese christologischen Anspielungen »redaktionell« sein sollten, ist dieser Sprachgebrauch ganz gewiß nicht zufällig; die Titel sind vielmehr mit Bedacht ausgewählt. Mit anderen Worten: Lukas arbeitet auch hier mit dem ihm eigenen »historischtheologischen« Sachverstand. In Wirklichkeit ist jedoch die Scheidung zwischen »Redaktion« und »Tradition« in der Apostelgeschichte außerordentlich schwierig; die grundsätzliche Bestreitung älterer Traditionen in den von Lukas komponierten Reden macht diese unverständlich und beruht auf einem Akt exegetischer Willkür. 9.4.2 Völlig fehlt in den ersten Kapiteln der Titel »Sohn Gottes«. Er erscheint - nicht zufällig - überhaupt nur einmal im Zusammenhang mit der Predigt des Paulus (9,20); außerdem läßt Lukas den Apostel in der Rede im pisidischen Antiochien das Sohneswort Ps 2,7 zitieren (13,33). Ebensowenig beruht es auf Zufall, daß er dem Petrus in seiner Ansprache vor der Großfamilie des Cornelius, d. h. bei der ersten Bekehrung mehrerer Heiden, die Aussage in den Mund legt, Jesus Christus sei »der Herr aller« (»hutos estin panton kyrios«, 10,36), eine Formulierung, die von Röm 10,12 her interpretiert werden muß: »Denn es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche. Denn derselbe ist der Herr aller, er erweist seinen Reichtum gegenüber allen, die ihn anrufen<(. Die universale Christologie der »Hellenisten«, die in dem 88
Auferstandenen und Erhöhten nicht mehr den exklusiven Messias Israels, sondern den Herrn aller Menschen sah, drängte zu einer universalen Mission ohne Gesetzesschranken. Wenn Lukas in Apg 11,20 formuliert, die judenchristlichen »Hellenisten« zyprischer und kyrenäischer Herkunft hätten in Antiochien erstmals »die Griechen angesprochen, indem sie den Herrn J esus verkündigten« (»euangelizomenoi ton kyrion Iäsun«), so gibt er ihre zentrale christologische Formel zutreffend wieder. Die Akklamation »kyrios IäsUs«, »Herr ist Jesus« (1. Kor 12,3; Röm 10,9; PhiI2,11) wurde zum grundlegenden Bekenntnis der griechischsprechenden heidenchristlichen Gemeinden, wie sie uns dann in den paulinischen Briefen begegnen. Die Verwendung des Kyriostitels ist nicht als Anleihe bei heidnischen Kulten, etwa angeblichen Mysteriengöttern, zu erklären - dafür, daß Mysteriengötter kyrios genannt wurden, gibt es keine vorchristlichen Belege -, sondern sie ist eine Konsequenz des christologischen Denkens: Bereits in der Jerusalemer Urgemeinde hatte man den erhöhten Menschensohn mit »maran '"tha«, »unser Herr, komm« (l.Kor 16,22; vgl. Offb 22,20) angerufen, und vermutlich wurde dort auch schon das »mein Herr« in Ps 110,1: »Jahwe (ausgesprochen als ,adonaj) hat zu meinem Herrn ('adoni) gesagt: >Setze dich zu meiner Rechten ... <<< auf den Auferstandenen und zur Rechten Gottes Erhöhten bezogen. Der Anfang von Ps 110,1 enthält gerade in seiner aramäischen Fassung ein schönes Wortspiel: »,amar mare leman.«. Daß »mare« - gegen ältere falsche Behauptungen - im palästinischen Judentum auch in absoluter Form als Gottesbezeichnung verwendet wurde, beweisen nicht nur das Hiob-Targum aus Höhle 11Q von Qumran, sondern auch die aramäischen Henoch-Fragmente aus Höhle 4. Der nächste Schritt war dann in der frühen griechischsprechenden Gemeinde die Vorstellung, daß Gott, der Vater, d.h. der »kyrios« der Septuaginta, seinen Kyrios-Namen auf den auferstandenen und erhöhten Sohn überträgt. Diese Übertragung des Kyrios-Namens wird etwa in Phil2,9ff durch die Formel »und er schenkte ihm den Namen, der über alle Namen ist« zum Ausdruck gebracht. Hatte in der frühen palästinischen Gemeinde der Messiastitel bereits den kerygmatisch nicht verwendbaren, rätselhaften Menschensohntitel verdrängt, so trat in der griechischsprachigen Gemeinde außerhalb Palästinas »kyrios« sehr rasch an die Stelle des titularen »christos«, das für den Nicht juden ebenfalls unverständlich war und gerne mit dem beliebten Sklavennamen Chrästos verwechselt wurde. Die analog zu »kyrios Iäsus« gebildete ältere Akklamation »christos IäsUs« wurde deshalb - selbst bei den Judenchl'isten - rasch zum Eigennamen. Paulus verwendet sie nur noch in dieser Weise. Die Bezeichnung der Christen in Antiochien als »Christianoi« zeigt, daß dieser christologische Umbildungsprozeß, der am Ende Christos nicht mehr titular, sondern als Eigenname verstand, bereits gegen Ende der dreißiger Jahre abgeschlossen war.
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9.4.3 In der griechischsprechenden Gemeinde wurde dann - ebenfalls als ein Ergebnis konsequenten christologischen Denkens - die Präexistenz-, Schöpfungsmittler- und Sendungsvorstellung ausgebildet. Nur durch die Einführung der Präexistenzkategorie konnten Einzigartigkeit, Absolutheit und Unüberbietbarkeit der endzeitlichen Offenbarung Gottes in seinem Messias J esus von N azareth gegenüber der himmlischen Engelhierarchie wie auch der präexistenten Weisheit-Thora festgehalten und proklamiert werden. Die Entwicklung des christologischen Denkens, die Ablösung von der Autorität derThoraMoses und das Fortschreiten hin zur Heidenmission gingen soHand in Hand. Bereits Paulus setzt diese hier genannten christologischen Vorstellungen als selbstverständlich voraus. Wenn sich Lukas ihnen gegenüber in späterer Zeit zurückhaltend zeigt und auf Präexistenz und Schöpfungsmittleraussagen verzichtet, so hängt dies vermutlich mit dem archaisierenden man könnte auch sagen »historisierenden« - Charakter seiner Christologie zusammen. 9.5 Die von den »Hellenisten« in Antiochien und vor ihnen wahrscheinlich schon von dem Außenseiter Paulus vollzogene grundsätzliche und uneingeschränkte Hinwendung zur Heidenmission räumte dieser gegenüber der Judenmission praktisch einen Vorrang ein. Es bildeten sich jetzt in »Syrien und Kilikien«, die damals zu einer römischen Provinz zusammengefaßt waren, Gemeinden, in denen die echten Heidenchristen mehr und mehr überwogen, auch wenn die Judenchristen bzw. die ehemaligen »Gottesfürchtigen« noch lange die geistige Führung behalten sollten. Im Grunde kommen nahezu alle theologisch bedeutsamen Gestalten der Kirche des 1. Jh.s n. Chr. aus dem Judentum oder dessen Umkreis. Selbst Lukas, m.E. der einzige Heidenchrist unter den Evangelisten, scheint ein ehemaliger »Gottesfürchtiger« gewesen zu sein. Nur so erklärt sich seine - für einen Nicht juden in der Antike einzigartige - Kenntnis der Septuaginta, der dazugehörigen apokryphen und jüdisch-hellenistischen Literatur wie auch der synagogalen Institutionen. Freilich war mit dem Übergang zur planmäßigen Heidenrnission nicht von vornherein der Gedanke der Mission der ganzen »Oikumene« gegeben. Auch die Tätigkeit der gesetzesfreien Missionare blieb geographisch zunächst auf einen verhältnismäßig kleinen Raum beschränkt: auf die Doppelprovinz »Syrien und Kilikien« (Gal1,21; vgl. Apg 15,23), wozu vielleicht noch Zypern kam (Apg 11,19). 9.6 Sonderbar ist, daß wir über das ägyptische Christentum des 1.Jh.s n.Chr. überhaupt nichts wissen. Apg 18,24 nennt den jüdischen Alexandriner Apollos; doch bleibt zu fragen, wo er seine erste Berührung mit der christlichen Botschaft hatte und ob er nicht als Täuferjünger nach Ephesus kam und erst dort von Prisca \!lnd Aquila zum christlichen Glauben bekehrt 90
wurde. Lediglich die spätere Fassung der Apg im Codex D weiß zu berichten, daß Apollos schon in seiner Heimatstadt Alexandrien im Evangelium unterrichtet worden sei (18,25). Historischen Wert hat diese Notiz kaum. Möglicherweise war Agypten und hier vor allem Alexandrien mit seiner großen Diaspora zunächst ein Schwerpunkt der judenchristlichen Mission. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Ägypten und der Cyrenaika war größer als in allen anderen Provinzen des römischen Reiches außer Syrien. Es lebten dort mehr Juden als im palästinischen Mutterland. Durch den furchtbaren Judenaufstand und die daran anschließende Ausrottung des Judentums 116/117 n. Chr. wären dann die frühen judenchristlichen ägyptischen Gemeinden praktisch völlig verschwunden. Ein weiterer Grund für das Fehlen von Nachrichten könnte die Tatsache sein, daß die römischen Behörden - wie z. B. der Claudiusbrief zeigt - die Auswanderung von Juden aus Judäa nach Alexandrien und Ägypten mit einem gewissen Mißtrauen betrachteten. Dagegen ist nicht unwahrscheinlich, daß die Gemeinde in Rom durch aus Jerusalem vertriebene »Hellenisten« begründet wurde, da zwischen der Judenschaft in der palästinischen und in der römischen Metropole seit der Eroberung J erusalems durch Pompeius 63 v. Chr. und der Überführung zahlreicher Kriegsgefangener nach Rom (Philo, Leg. ad Gai. 155f) eine enge Verbindung bestand. Vielleicht ist von diesem Hintergrund aus der Hinweis des Paulus auf Andronikos und Iunia(s), »die angesehen sind unter den Aposteln« - doch wohl in Jerusalem - und »die vor mir in Christus waren«, zu erklären (Röm 16,7). Da der Name Iunia(s) nur als Frauenname nachweisbar ist, sahen die altkirchlichen Ausleger in ihnen ein Ehepaar. Eine bei Augustin (ep. 102,8) erhaltene dunkle Notiz, die auf die Schrift des Porphyrios gegen die Christen zurückgehen soll, berichtet, daß das »Gesetz der Juden« kurz nach oder während der Regierungszeit des Caligula (März 37 - Januar 41) von Syrien nach Rom gekommen sein soll. Da die Juden schon seit dem Ende des 2. Jh.s v. Chr. in Rom nachweisbar sind, dürfte sich diese Nachricht auf die jüdische Sekte der Christen beziehen, die zunächst noch innerhalb der jüdischen Synagogen Roms missionarisch zu wirken versuchten. Die bekannte Sueton-Notiz über die häufigen »durch Chrestus verursachten Unruhen« unter den römischen Juden (Claudius 25,4) mag dann mit dem Versuch der dortigen Judenchristen zusammenhängen, auch in Rom zur gesetzesfreien Heidenmission überzugehen; die Unruhen führten schließlich zu einer Ausweisung zumindest eines Teils der Juden aus Rom im Jahr 49 n. Chr., wobei vermutlich die Judenchristen als Anstifter besonders betroffen waren (Apg 18,2). 9.7 Eine erste, im Grunde noch vorsichtige Ausdehnung der Mission über die Provinzgrenzen von »Syrien und Kilikien« hinaus geschah durch die sogenannte erste Missionsreise des Barnabas und Paulus, die noch vor dem}) Apo91
stelkonzil« stattfand. Die erste Station war Zypern. Sonderbarerweise berichtet Lukas hier nichts von den - vermutlich schon bestehenden - Gemeinden auf der Insel; nach Apg 11,19 waren vertriebene »Hellenisten« auch dorthin gelangt. Lukas schweigt wohl darüber, weil diese Insel später das eigentliche Missionsgebiet des Barnabas und Johannes Markus (Apg 15,39) wurde und er allein an der Entfaltung der paulinischen Mission interessiert war. Die Darstellung des Lukas ist hier - wie auch sonst - abkürzend und einlinig. Er hat nur die Entwicklung im Auge, die zu Paulus hinführt. Fast alles andere läßt er unter den Tisch fallen. Wir hören von ihm auch nichts über die Gründung von Gemeinden in Ägypten, der K yrenaika, dem nördlichen und östlichen Kleinasien, Armenien, Ost syrien, dem Partherreich oder Italien. Daß auf dieser Reise nur die Kilikien am nächsten liegenden Gebiete Kleinasiens, Pamphylien, Pisidien und Lykaonien, aufgesucht wurden, ist kein Zufall, sondern zeigt, wie zögernd die geographische Ausweitung der Mission erfolgte. Es liegt keinerlei Grund vor, diese Reise in den Bereich der Legende zu verweisen, denn man darf annehmen, daß den großen Reisen in den ägäischen Raum kleinere Vorstöße in die an Kilikien angrenzenden Landschaften vorausgingen und daß Paulus erst durch das» Apostelkonzil « die Freiheit zu einer »weltweiten« Missionsplanung erhielt, die bei der ersten Reise gerade noch nicht sichtbar wird. Es handelte sich um ein begrenztes, von Antiochien aus gefördertes Unternehmen. Eine von der Apostelgeschichte völlig unabhängige Tradition spricht im deuteropaulinischen 2. Timotheusbrief (3,11) von den Leiden des Apostels im (pisidischen) Antiochien, in Ikonium und Lystra. Genau dieselbe Reihenfolge dieser drei Städte finden wir in Apg 13 und 14, wobei Paulus und Barnabas aus jeder Stadt gewaltsam vertrieben werden. Die Steinigung des Paulus in Lystra wird durch das »einmal gesteinigt« im Selbstzeugnis des Apostels 2. Kor 11,23-33 (25) bestätigt. Lukas kannte diese erschütternde Aufzählung der Leiden des Apostels nicht; das »dreimal habe ich Schiffbruch erlitten, eine Nacht und einen Tag habe ich im Abgrund des Meeres zugebracht« hätte er sich kaum für eine effektvolle Schilderung entgehen lassen. Der Hinweis auf den dreimaligen Schiffbruch läßt vermuten, daß Paulus wesentlich mehr gereist ist, als wir durch Lukas wissen. Auch die fünfmalige Synagogenstrafe der 39 Schläge und das »dreimal ausgepeitscht«, die Strafe römischer Behörden, gehen über das von Lukas Berichtete weit hinaus. Von einer Auspeitschung hören wir nur Apg 16,22f. D.h. diese kleinere Reise nach Zypern und Kleinasien könnte beispielhaft für mehrere ähnliche Reisen im syrisch-kilikischen Raum und in den westlich und nördlich daran angrenzenden kleinasiatischen Gebieten stehen. In Gal1,21-2,1 sagt Paulus nicht eindeutig, wo er sich während der 14 Jahre nach seinem ersten Besuch in Jerusalem überall aufgehalten hat. Wir hören von ihm nur, daß er von dort kommend »in die Gegenden von Syrien und Kilikien« kam; hier lag der Schwerpunkt seiner Missionstätigkeit. 92
Dies schließt einzelne grenzüberschreitende Unternehmungen in diesem langen Zeitraum keinesfalls aus. Wir haben daher auch keinen Grund, die Reise von Apg 13 und 14 gegen die lukanische Anordnung in die Zeit nach dem» Apostelkonzil « zu verlegen und dieses in eine frühere Zeit zu datieren. Dadurch würde die ganze urchristliche Chronologie, die auf der Gallio-Inschrift, Lk 3,1 und Ga12,1 beruht, in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten. Zugleich wird deutlich, daß der Übergang zur konsequenten Heidenmission nicht notwendig »Weltmission« bedeutete. Heidenmission konnte zunächst durchaus in provinziellem Maßstab betrieben werden. Das von Paulus inRöm 10,18 und 15,7ff,durchMarkusMk 13,10,durchLukasApg 1,8 und im Sendungsbefehl des Matthäusevangeliums 28,18f vertretene Programm der Mission der ganzen »Oikumene« hat sich erst allmählich aus der gesetzesfreien Mission der »Hellenisten« in Antiochien herausentwickelt. Angeregt durch gewisse universalistische Verheißungen der Psalmen und Deuterojesajas (vgl. Ps 19,5 = Röm 10,18; Ps 117,1 = Röm 15,11; Jes 52,15 = Röm 15,21) wurde es nur möglich durch die für Paulus typische grundsätzliche eschatologische Vorordnung der Heidenmission vor die Judenmission. Vermutlich hat Paulus als erster diese religiös, ethnisch und geographisch universale Konzeption entwickelt und theologisch begründet; andere - darunter vielleicht sogar Petrus selbst (vgl. Mk 13,10) - sind ihm darin nachgefolgt. Nach den Verhandlungen in Jerusalem suchte Paulus als »Apostel der Heiden« (Röm 11,13) auf seinen großen, provinzüberschreitenden Reisen dieses Menschenmaß übersteigende Programm zu verwirklichen. Seine Pläne reichten bis nach Spanien, d.h. bis an die Grenze der damaligen Welt (Röm 15,28; vgl. Röm 10,18 = Ps 19,5). Das »Apostelkonzil« war ein Markstein auf diesem Wege.
10. Kapitel: Das sogenannte »Apostelkonzil« und seine Folgen 10.1 Trotz der teilweise gegensätzlichen Entwicklung in Antiochien und Jerusalem brachen die Verbindungen zwischen beiden Gemeinden nie völlig ab. Zwar wird das vierzehnjährige Fernbleiben des Paulus von Jerusalem seine guten Gründe gehabt haben; dennoch besteht kein Anlaß, den Nachrichten des-Lukas über Besuche aus Jerusalem in Antiochien zu mißtrauen. So reisten nach Apg 11,27ff Profeten aus Jerusalem in die syrische Hauptstadt, unter denen Lukas Agabus hervorhebt, der eine - wohl apokalyptisch als Teil der messianischen Wehen zu deutende - Welthungersnot vorausgesagt haben soll. In Wirklichkeit sind uns freilich aus der Zeit des Claudius nur 93
geographisch begrenzte Hungerkatastrophen bekannt, in Palästina nach den Berechnungen vonJ.Jeremias eine in den Jahren 47-49 n. Chr. Gemäß dem Bericht des Lukas hätten damals Barnabas und Paulus im Auftrag der Antiochener zur Unterstützung der notleidenden Gemeinden in Judäa eine Kollekte nach Jerusalem gebracht. Aufgrund seiner eigenen Angaben Ga12,1 kann jedoch Paulus an dieser Reise nicht beteiligt gewesen sein; auch ist es kaum möglich, die Notiz Apg 11,29f auf den Besuch des »Apostelkonzils« Apg 15,2 ff zu beziehen. Außerdem ist der Frühansatz des» Konzils« ins Jahr 43 oder 44 aus chronologischen Gründen auszuschließen; auch wissen wir nichts von einer Hungersnot in dieser Zeit. Die Reise in die kleinasiatischen Grenzgebiete Apg 13 und 14 war nicht eine Folge, sondern eine der Voraussetzungen des »Konzils«. Die Befürchtung des Paulus GaI2,2, »ob ich nicht vergeblich laufe oder gelaufen bin«, deutet ja auf eine bereits zurückliegende erfolgreiche Missionsverkündigung von nicht geringem Ausmaße hin. Auch ein Zusammenhang zwischen der Verfolgung der Urgemeinde durch Herodes Agrippa 1. und den Beschlüssen des sogenannten »Konzils« sollte nicht hergestellt werden. Agrippa 1. wollte sich vermutlich bei der Jerusalemer Führungsschicht, d. h. den sadduzäischen Kreisen, beliebt machen. Von der Hinrichtung J esu bis hin zum Tod des Herrnbruders Jakobus 62 n. Chr. waren nicht so sehr die pharisäischen Schriftgelehrten, sondern der sadduzäische Priesteradel die eigentlichen Vertreter einer harten Politik gegenüber der neuen messianischen Sekte in Jerusalem. Die Namen der drei »Säulen« Ga12,9 deuten auf einen Zeitpunkt des »Apostelkonzils« nach dem Tod des Zebedaiden Jakobus hin, da dieser in der älteren Evangelientradition bei Markus (und Matthäus) stets vor seinemBruder J ohannes, jedoch nach Petrus steht, d. h. im Rang vor seinem Bruder Johannes stand. Erst Lukas stellt den Zebedaiden Johannes vor seinen Bruder Jakobus, m.E. ein Zeichen dafür, daß Johannes weiterwirkte und nicht zusammen mit seinem Bruder getötet wurde. Die umstrittene Reise des Barnabas und Paulus Apg 11,29f; 12,25 muß freilich keine freie lukanische Erfindung sein; sie könnte sich z. B. auf eine Reise beziehen, die Barnabas alleine unternahm; Lukas hätte dann den Namen seines späteren Gefährten Paulus hinzugefügt, so wie er zuvor manchmal dem Petrus den Johannes zur Seite stellte (3,1. 3f. 11; 4,13. 19; 8,14). Der Levit aus Zypern wird auf der Rückreise seinen jungen Verwandten Johannes Markus nach Antiochien gebracht haben (12,25), der dann Barnabas und Paulus auf ihrer Reise nach Zypern begleitete, jedoch nach der Landung an der kleinasiatischen Küste in Pamphylien den Mut verlor und nach J erusalem zurückkehrte (13,13). Wir hätten es bei dieser Besuchsnotiz mit einer jener Ungenauigkeiten zu tun, die uns im lukanischen Bericht nicht selten begegnen. So berichtet Lukas Apg 12,2 von der Hinrichtung des (Zebedaiden) Jakobus durch Herodes Agrippa 1. und läßt wenig später in 12,17 ganz unvermittelt den befreiten Petrus eine Botschaft an Jakobus senden, 94
ohne zu erklären, daß es sich jetzt um einen ganz anderen, nämlich den Bruder Jesu, handelte. Klarheit und Exaktheit waren - wie bei vielen antiken Historikern - nicht immer seine Stärke. Er war aber auch ganz gewiß kein phantasievoller Romanschreiber; gerade solche Ungenauigkeiten könnten z.B. auf verarbeitete Quellen hinweisen. 10.2 Es lag wohl in der gegensätzlichen Entwicklung der Verhältnisse in beiden Gemeinden begründet, daß gegen 48 n. Chr. ganz andere Besucher aus Jerusalem in Antiochien auftauchten, welche die dort schon über zehn Jahre geübte planmäßige Heidenmission plötzlich in Frage stellten. Dies weist auf die Verschärfung der theologischen Situation in Jerusalem hin, wo sich inzwischen eine radikal gesetzesstrenge Fraktion gebildet hatte, die selbst die von Petrus zuweilen vollzogene Aufnahme »gottesfürchtiger« Heiden in die Gemeinde ohne Beschneidung erbittert ablehnte und das Halten der Mosethora zur grundsätzlichen Bedingung des Heils machte. Dieser Gang der Dinge mag mit dem wachsenden Druck der jüdischen Umgebung in der palästinischen Heimat und der ständigen Gefahr neuer Verfolgungen (1. Thess 2,14f), mit dem zunehmenden Einfluß des Herrnbruders Jakobus und der »Ältesten« (vgl. Apg 11,30; 12,17) wie auch mit dem Zurücktreten der ehemaligen Jesusjünger, dem Kreis der »Zwölf«, und damit der unmittelbaren Jesustradition in Palästina zusammenhängen. Eine derartige Entwicklung zeigt sich auch daran, daß Teile der Jesusüberlieferung in Palästina z. T. gesetzlich umgeformt wurden (Mt 5,18; 10,5; Lk 16,17; Mt 23,2f. 23c). Die judenchristlichen Besucher aus Jerusalem beobachteten wohl zunächst eine Zeitlang die Missionstätigkeit und die völlige Gleichberechtigung der Heidenchristen in Antiochien und traten dann mit ihren streng gesetzlichen Forderungen hervor, die sich vor allem auf die Beschneidung konzentrierten und die die Existenz der inzwischen überwiegend heiden christlich gewordenen Gemeinde aufs schwerste bedrohen mußten. Paulus spricht in Gal 2,4 schroff von »eingeschlichenen Falschbrüdern, die sich eingeschlichen haben, um unsere Freiheit, die wir in Christus Jesus haben, auszuspionieren, damit sie uns versklaven könnten«. Dieser Hinweis, der m. E. auf die zurückliegenden Vorgänge in Antiochien anspielt, zeigt, daß solche Freiheit selbst außerhalb Palästinas noch nicht Allgemeingut war; sie wurde in konsequenter Weise nur von einzelnen Gemeinden geübt; Antiochien besaß hier offenbar eine Führungsrolle. In bestimmten Gruppen der Jerusalemer Gemeinde sah man darin eine gefährliche Tendenz zur Apostasie, über die man sich durch die Abgesandten zunächst informieren wollte, um dann Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die·Antiochener gingen nun ihrerseits zum Gegenangriff über, um in dieser die Existenz der Gemeinde bedrohenden Frage Klarheit zu erhalten. Dazu sandten sie Barnabas und Paulus als die fähigsten und tatkräftigsten Vertreter der gesetzesfreien Mission nach Jerusalem (Apg 15,2), wo95
bei nach Paulus den entscheidenden Anstoß eine besondere »Offenbarung« gab (GaI2,2), sei es der Spruch eines Gemeindeprofeten (vgl. Apg 13,1ff) oder ein eigenes visionäres Erlebnis des Apostels. Er betont diesen Punkt in Gal 2,2 ausdrücklich, denn es liegt ihm in seinem Schreiben an die Galater daran, seine völlige Unabhängigkeit von allen menschlichen Autoritäten herauszustellen. Nicht der Wunsch einer Gemeinde, sondern Gottes Befehl habe ihn veranlaßt, die schwere Reise nach Jerusalem anzutreten. Aus diesem Grunde verschweigt er die Vorgeschichte des »Konzils« nahezu vollständig. Dafür gibt uns Lukas in Apg 15,lff wertvolle Hinweise. Nach 15,2 reisten Barnabas und Paulus mit mehreren Begleitern. Paulus selbst erwähnt nur den Heidenchristen Titus (GaI2,3), dessen Mitnahme eine bewußte Herausforderung der Judaisten in Jerusalem darstellte. Wahrscheinlich hatte auch Barnabas, der für die Verhandlungen in J erusalem nicht weniger wichtig war als Paulus und dessen Bedeutung im Bericht des Paulus im Galaterbrief wohl in unangemessener Weise zurücktritt, einen oder mehrere Begleiter bei sich. Man hielt in Antiochien die Gesandtschaft nach Jerusalem darum für sinnvoll, weil man wußte, daß die judaistischen Scharfmacher, die in der Gemeinde agiert hatten, bis jetzt nur einen Teil der Gemeinde in Jerusalem hinter sich gebracht hatten, d. h. man hoffte, doch noch eine positive übereinkunft erreichen zu können. Paulus und Barnabas wurden vermutlich auch deshalb als Sendboten ausgewählt, weil sie am überzeugendsten theologisch-schriftgelehrt argumentieren konnten. Die Streitfrage mußte mit theologischen Argumenten ausdiskutiert werden, und dies bedeutete zugleich mit Hilfe einer geistgewirkten Deutung des Alten Testaments, das für das Urchristentum weiterhin Heilige Schrift blieb. Nach dem Urteil des Paulus Ga12,2 hätte ein völliger Bruch mit der Urgemeinde in Jerusalem alle bisherige Missionsarbeit gegenüber Nicht juden sinnlos werden lassen. Eine Kirchenspaltung war für ihn ein unmöglicher Gedanke. Auf der Himeise unterrichtete man die von den »Hellenisten« begründeten Gemeinden in »Phönizien und Samarien« (Apg 15,3), die schon durch ihre geographische Lage stärker dem Einfluß der Gemeinde in J erusalem ausgesetzt waren. Offenbar standen sie dennoch dem Anliegen der Antiochener Abgesandten nicht ablehnend gegenüber. In Jerusalem erfolgte zunächst eine Vorstellung vor der ganzen Gemeinde (GaI2,2; vgl. Apg 15,4), dann wurden die eigentlichen Verhandlungen mit den Vertretern der Gemeindeleitung geführt, d. h. nach dem zuverlässigen Bericht des Paulus mit den drei »Säulen«. Lukas spricht dagegen von den für ihn obligaten »Aposteln«, die hier - zusammen mit ihrem Wortführer Petrus - in seinem Werk zum letzten Mal auftreten und neben die er bereits die »Ältesten« treten läßt. In Apg 15,22 berichtet er, das von Jakobus vorgeschlagene »Aposteldekret« habe die Zustimmung der Apostel und Ältesten »samt der ganzen Gemeinde« gefunden. Es sei beschlossen worden, mit Paulus und Barnabas zwei Jerusalemer Boten nach
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Antiochien zu senden, die in einem Schreiben das Dekret der dortigen Gemeinde zustellen sollten (15,22-29). Damit ist für den Verfasser der Apg der Konflikt harmonisch und zur Zufriedenheit beider Gemeinden gelöst. Eine wirkliche Opposition gegen die Heidenmission ist nach Lukas undenkbar, die Urkirche und ihre apostolische Führungsspitze stehen für ihn völlig unter der Leitung des Geistes Gottes (vgl. Apg 15,28). Dieses idealisierende Bild entspricht sicher nicht der Wirklichkeit, die vielschichtiger und komplizierter war und die wohl auch in dem biographischen Bericht des Paulus Gal 2,1-10 vereinfacht wird. Immerhin markiert die Aufeinanderfolge von Aposteln und Ältesten bei Lukas innere Veränderungen in der Jerusalerner Gemeinde, die darauf hinausliefen, daß Jakobus mit den Ältesten die Führung übernahm und Petrus samt dem älteren Kreis der Apostel allmählich verdrängte. Der Hervorhebung der drei »Säulen« in der Darstellung des Paulus entspricht bei Lukas, daß die beiden wichtigen Reden Petrus und Jakobus in den Mund gelegt sind. Steht bei Paulus der Herrnbruder an erster Stelle unter den »Säulen«, so läßt ihn Lukas das den Konflikt lösende Schlußwort mit dem Vorschlag des sogenannten)} Aposteldekrets« sprechen: Er ist auch für ihn die entscheidende Autorität, die den Streit mit einem Kompromiß beendet, der von den Heiden den Verzicht von Götzenopferfleisch, Blutgenuß und ungeschächtetem Fleisch sowie sexuelle Enthaltsamkeit außerhalb der Ehe forderte. Von derartigen gesetzlichen Zugeständnissen weiß jedoch Paulus nichts, ja er beteuert, daß ihm und Barnabas keine Auflagen gemacht worden seien (GaI2,6). Man wird ihm hier gegen den Bericht des Lukas vertrauen dürfen (s.u.S.98). 10.3 In Wirklichkeit hatte das entschlossene und unnachgiebige Auftreten des Paulus und des Barnabas gegenüber den »Säulen« Erfolg. Diese folgten der Forderung der Radikalen nach Beschneidung des Griechen Titus nicht, sondern erkannten das Recht der gesetzesfreien Mission durch die beiden Sendboten und die Gemeinde in Antiochien an. Die Gründe dieses überraschenden Erfolges können wir nicht mehr im einzelnen erkennen. Die überzeugende Argumentation des Schriftgelehrten Paulus bei der Erläuterung seines Evangeliums (GaI2,2) dürfte ebenso eine Rolle gespielt haben wie gewisse kirchenpolitische Erwägungen. Man wollte in J erusalem weder die in jahrelanger Arbeit aufgebauten Missionsgemeinden im Norden Syriens zerstören noch die Kirche spalten, zumal man nicht nur die Missionspraxis der syrischen Gemeinden seit vielen Jahren geduldet, sondern selber - wie die Corneliusepisode zeigt - in besonderen Fällen sogar innerhalb Palästinas Ausnahmen gemacht hatte; Heidenchristen gab es ja auch in den griechischsprachigen Küstenstädten. Wahrscheinlich handelte es sich hier nach der Sicht der Jerusalemer um ein Problem, das bereits in der jüdischen Mission der Diaspora seit eh und je akut und zugleich umstritten gewesen war. Man 97
konnte schwerlich »gesetzlicher« sein als jene jüdischen Diasporagemeinden, die einen weiten Kreis von »Gottesfürchtigen« um die synagogale Kerngemeinde herum nicht nur duldeten, sondern sogar begrüßten, und die in Konfliktfällen vornehmen heidnischen Sympathisanten den Rat gaben, sichum Ärgernisse und Verfolgung zu vermeiden -lieber nicht beschneiden zu lassen (Josephus, Ant.20,34-42). Zudem waren die Vertreter der strengen Richtung in Jerusalem offenbar immer noch in der Minderheit; Lukas mag recht haben, wenn er von Pharisäern spricht, die sich der christlichen Bewegung angeschlossen hatten und nun ihre pharisäische Gesetzesauffassung in das Judenchristentum einbrachten (Apg 15,5; vgl. Mt 23,2f. 23): Auf die weitere Entwicklung der urchristlichen Gemeinde in der Heiligen Stadt sollten sie freilich von jetzt mehr und mehr Einfluß gewinnen und dadurch die Spannungen gegenüber den überwiegend heidenchristlichen Missionsgemeinden verschärfen. In der Schilderung des letzten Besuches des Paulus in der Jerusalemer Urgemeinde Apg 21,17-26 zeigt selbst Lukas klar die konfliktgeladene Situation. Hier wird besonders deutlich, daß er mehr wußte, als er sagen wollte. Der Sieg des Paulus und des Barnabas ergibt sich insbesondere daraus, daß ihnen keinerlei gesetzliche Auflagen gemacht wurden. Das von Lukas - gewiß nicht zufällig - dem Jakobus in den Mund gelegt »Aposteldekret« geht in Wirklichkeit wohl auf einen einige Zeit später ohne Paulus geschlossenen Kompromiß zurück, der nach dem Zusammenstoß in Antiochien (Gal 2,11 ff) die zerbrochene Tischgemeinschaft zwischen Heidenchristen und gesetzestreuen Judenchristen wiederherstellen sollte. Möglicherweise konnte Jakobus darin seine Position durchsetzen. Barnabas und die antiochenische Gemeinde scheinen im Gegensatz zu Paulus diesen Kompromiß akzeptiert zu haben. Eine derartige Bestimmung gewann vor allem in Gebieten Bedeutung, wo das judenchristliche Element zahlenmäßig noch stark vertreten war, etwa in Syrien oder Phönizien und in Teilen Kleinasiens. Paulus hat es dagegen nie anerkannt und praktiziert. Seine Briefe enthalten keinerlei eindeutigen Hinweise auf das »Dekret«, dessen Wirksamkeit sich anderwärts bis weit ins 2. Jh. hinein verfolgen läßt. Wahrscheinlich betont der Apostel in Galater 2,6 die Freiheit von Verpflichtungen deshalb so sehr, weil seine Gegner in Galatien ihm die Übernahme eben solcher Auflagen unterstellt hatten. Lukas könnte in diesem Zusammenhang, ähnlich wie bei seinem Bericht von der Bekehrung des Paulus, aus Quellen geschöpft haben, die z. T. der paulinischen Darstellung widersprachen und das Dekret als Teil des »Apostelkonzils« betrachten, auch wenn es später beschlossen wurde. Man ist versucht, hier wieder an die sogenannte »antiochenische Quelle« zu denken. Daß Lukas davon wußte, daß Paulus selbst das »Aposteldekret« nicht anerkannt hatte, darf man vielleicht aus Apg 21,25 erschließen, wo Jakobus es als etwas Neues, ihm anscheinend Unbekanntes vorträgt. 98
10.4 Das im »Aposteldekret« angesprochene Problem trat freilich in der Form des Streites zwischen den »Schwachen« und »Starken« auch in paulinischen Gemeinden und dann wieder in Rom auf. Der Apostel versuchte es jedoch weniger durch autoritäre Anweisungen als durch die Berufung auf das Liebesgebot und die Freiheit des Glaubens zu lösen. Typisch für sein Urteil in diesem Zusammenhang ist jener lapidare Satz, den er ans Ende der Erörterungen zu dieser Frage in Röm 14 stellt: »Alles aber, was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde« (V. 23). Auf die Existenz des »Aposteldekrets« geht er mit keinem Wort ein; entweder kannte er es nicht, oder aber - was mir wahrscheinlicher erscheint - zeigte er dadurch seine Ablehnung, daß er es ignorierte. Die einzige wirkliche »Auflage« der Jerusalemer bestand nach Paulus darin, daß die beiden Heidenmissionare in ihren Missionsgemeinden eine Kollekte für die »Armen« in Judäa einziehen sollten. Diese Kollekte würde sich besonders gut dadurch erklären, daß die Jahre 47-49 n.Chr. Palästina eine schwere Hungersnot brachten. Doch sind mit den »Armen« m.E. nicht einfach die sozial Armen gemeint, vielmehr handelt es sich hier um eine religiöse Selbstbezeichnung der Urgemeinde, die sich in der späteren Bezeichnung der palästinischen Judenchristen als» Ebioniten« erhalten hat. Schon die Essener von Qumran hatten sich selbst »die Armen« genannt. Während Paulus die Kollekte als Zeichen des Dankes für das von Jerusalem ausgegangene Evangelium verstand (Röm 15,27), könnten die Jerusalemer Autoritäten in ihr eine Parallele zur jüdischen Didrachmensteuer für den Tempel gesehen haben (Mt 17,24 ff), durch die gerade die Judenschaft der Diaspora ihre besondere Verbundenheit mit dem Heiligtum zum Ausdruck bringen wollte. An sich war diese Steuer in rechtlich fixierter Form noch relativ jung; sie stammt wohl aus der Hasmonäerzeit. Als Begründung für sie verwies man auf Ex 30,11-16 (vgl. 38,25f). In Palästina trat sie neben den anderen Abgaben für Heiligtum und Priester zurück, um so wichtiger war sie als Band zwischen Diaspora und Tempel. Daß sie in der Urgemeinde umstritten war, zeigt Mt 17,24 ff. Man entrichtete sie, obwohl durch das Kommen des Messias von ihr befreit, um den jüdischen Volksgenossen kein Ärgernis zu geben. Die Führer der Urgemeinde in Jerusalem hätten dann in Analogie zur Tempelsteuer eine neue Abgabeverpflichtung in freierer Form eingeführt, um so eine Anerkennung des rechtlichen und heilsgeschichtlichen Vorranges der Urgemeinde in Jerusalem und Judäa herbeizuführen. Weniger wahrscheinlich ist die Deutung der Kollekte als Vorwegnahme der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion, in der, nach den Verheißungen des Profeten, die Völker der Welt ihre Gaben in die Heilige Stadt bringen. Typisch für die Arbeitsweise des Lukas ist, daß er in seinem Bericht über das »Konzil« und die paulinische Mission den Anschein erweckt, als ob er von der Kollekte gar nichts wisse, bis er in einer Verteidigungsrede des Paulus vor Felix 99
(Apg 24,17) andeutet, daß er sehr wohl darüber informiert war. Lukas sagt durchaus nicht alles, was er weiß, und wenn er etwas mitteilt, kann er - für uns - wichtige Tatbestände nur mit einer Nebenbemerkung erwähnen.
10.5 Dengenauen Wortlaut der Abmachung und erst recht ihre Auslegung durch die verschiedenen Beteiligten können wir nicht mehr erschließen. Daß Paulus in Gal 2,7 ein schriftliches Protokoll wörtlich zitiert, ist unwahrscheinlich. In Wirklichkeit ging es ja nicht primär um die Aufteilung der Mission unter Juden und Heiden zwischen Petrus und ihm, sondern um eine Anfrage der Gemeinde Antiochiens, die er - zusammen mit Barnabas - in J erusalem vertrat. Darüber hinaus möchte man vermuten, daß die dort getroffene Übereinkunft paradigmatische Bedeutung für andere syrische Gemeinden erhielt, die ebenfalls Heidenrnission betrieben und vor ähnlichen Problemen standen. Entscheidend scheint mir die Schlußformel Gal 2,9 zu sein: »damit wir zu den Heiden, sie aber zur Beschneidung (gesandt sind)«. Aus ihr geht hervor, daß die Delegaten der Antiochener mit der Verantwortung für die Heidenmission und die »Säulen« in Jerusalem mit der Verantwortung für die Judenmission betraut wurden. Damit erhielten nicht nur Paulus und Barnabas als Missionare, sondern zugleich die gesamte Gemeinde in Antiochien eine besondere Bedeutung neben der Muttergemeinde in Jerusalern und den dortigen Autoritäten. Demgegenüber ist die Übertragung der Mission unter Juden und Heiden aufPetrus und Paulus Gal2,7fwohl eine ad hoc von Paulus formulierte Zuspitzung der Übereinkunft, welche die weitere Entwicklung bis hin zur Abfassung des Galaterbriefes deutlich macht: In den Jahren nach dem »Konzil« wurde Paulus nach seinem eigenen Verständnis zum Heidenmissionar schlechthin (1. Kor 15,10; Röm 11,13), so wie Petrus, der Jerusalern wohl endgültig verlassen hatte, jetzt als Hauptträger der Judenmission erschien. Jakobus dagegen fehlte die aktive Beweglichkeit des Missionars. Er blieb bewußt als Leiter der - zumindest seiner Meinung nach - führenden Gemeinde in der Heiligen Stadt bis zu seinem Martyrium 62 n. Chr. 10.6 Mit der Jerusalemer Übereinkunft wurde gleichzeitig das Evangelium des Paulus und damit auch sein Apostolat von den Autoritäten der Urgemeinde als legitim anerkannt. Die Schwierigkeit des wegen seiner Parenthesen und Anakoluthe nicht leicht verständlichen Berichts GaI2,1-10 liegt darin, daß Paulus seine Person und den eigenen Missionsauftrag so ganz in den Mittelpunkt stellt, während er den Auftrag der antiochenischen Gemeinde verschweigt und seinen Gefährten Barnabas recht stiefmütterlich behandelt. Der ständige Wechsel zwischen der ersten Person pluralis und singularis muß hier besonders beachtet werden. Es wird an diesem Punkt das besondere - man darf wohl sagen - einmalige apostolische Selbstbewußtsein des Paulus sichtbar. Sicherlich hat er mit den Jerusalernern keine Sonderver100
einbarungen über sich selbst getroffen. Dennoch bezieht er in der spannungsvollen Situation des Galaterbriefes die ganze Abmachung auf sich. Diese Einseitigkeit seines autobiographischen Berichts darf nicht übersehen werden; die lukanische Erzählung mit ihren Harmonisierungstendenzen ist jedoch noch fragwürdiger. Eine weitere Frage ist, ob die Jerusalemer Autoritäten, vor allem Jakobus, die Absprache, die ja, wenn sie streng vollzogen worden wäre, eine Zweiteilung der Mission zur Folge gehabt hätte, welche in praxi weder geographisch noch personell zu verwirklichen war, nicht in einem ganz anderen Licht sahen, als dies Paulus in seinem Bericht tut. Mußte diese Zweiteilung, wenn sie ernst genommen wurde, nicht auf die organisatorische, gottesdienstliche und rechtliche Trennung zwischen juden- und heidenchristlichen Gemeinden hinauslaufen, wobei diese Trennung aufgrund der Volkszugehörigkeit und des Gesetzesgehorsams noch sehr viel schwerwiegender war als die sprachliche zwischen »Hellenisten« und »Hebräern« einstmals in Jerusalem? Gemeinsam war dann nur das zukünftige Heil; die gegenwärtige »koinonia«, die Gemeinschaft etwa im Herrenmahl, war dagegen in Frage gestellt. Die gottesdienstliche Trennung von Juden- und Heidenchristen bei der Eucharistie, in die Petrus, Barnabas und die anderen Judenchristen in Antiochien, erschreckt durch den Besuch der Abgesandten des Jakobus, einwilligten (Gal 2, 11ff), deutet wohl die von Jakobus angestrebte Lösung an. Nur bei einer klaren Scheidung hätte verhindert werden können, daß Judenchristen, wie Petrus selbst, in überwiegend heidenchristlicher Umgebung immer wieder mit den Reinheitsgeboten brachen, ja sich allmählich an ihre heidenchristliche Umwelt assimilierten. Freilich, für den Vollzug einer derartigen Trennung, wie sie Jakobus wohl gewünscht hätte, war es schon längst zu spät; der relative Mißerfolg der Judenmission und die Ausbreitung der heidenchristlichen Gemeinden führten sie von selbst ad absurdum. Auch der Kompromiß des »Aposteldekrets« war auf die Dauer gesehen eher ein Zeichen des Rückzugs als ein Erfolg für die »Ritualisten«. Dies gilt, obgleich sie zunächst auch ihrerseits missionarische Aktivitäten entfalteten und zum Teil beträchtliche Erfolge erzielten. So zum einen in Syrien, wo auch außerhalb des geschlossenen jüdischen Siedlungsgebiets noch jahrhundertelang streng judenchristliche Gemeinden nachzuweisen sind. In der Gemeinde des Matthäus, die m. E. im Grenzgebiet zwischen Syrien und Palästina zu suchen ist und die die Heidenrnission unbedingt bejahte, lag die Trennung vom jüdi-. schen Gottesdienst offenbar noch nicht allzulange zurück. Sie war endgültig offenbar erst nach der Tempelzerstörung erfolgt. Weitere Beispiele sind die Irrlehrer in Galatien und die judaisierenden Engelverehrer in Kolossä, die sich um die Reinheit von Speise und Trank, um »Festzeiten, Neumonde und Sabbate« kümmerten (KoI2,16). Selbst Ignatius muß noch mit Judaisten in Magnesia und in Philadelphia streiten, und Kerinth wird nicht nur des Doke101
tismus, sondern auch des Judaismus beschuldigt. Das judenchristliche Element behielt - trotz Paulus - gerade in Kleinasien mehr Einfluß, als gemeinhin angenommen wird. Es gehört zu den tragischen Entwicklungen in der Geschichte des Christentums, daß die »Kirche aus den Juden«, die auch nach dem Jahr 70 n. Chr. große Beharrungskraft zeigte, im weiteren Verlauf von der jüngeren »Kirche aus den Heiden« nicht geduldet und mitgetragen wurde, trotz der Warnung, die Paulus in Röm 11,17 ff ausgesprochen hatte. 10.7 F. Chr. Baur hatte durchaus recht, wenn er-wie schon vor ihm die reformatorischen Theologen - die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes und das Problem der Heidenmission in den Mittelpunkt der Geschichte des Urchristentums stellte. Allerdings standen sich »These« und »Antithese« nicht in der Weise schematisch gegenüber, wie er behauptete; auch war die »Synthese«, die angeblich zum sogenannten »Frühkatholizismus« führte, nicht erst ein späteres Resultat. Die historische Entwicklung verlief wesentlich vielschichtiger und komplizierter, als Baur meinte. Der häufig mißbrauchte Begriff »Frühkatholizismus« ist kaum geeignet, zum Verständnis der urchristlichen Geschichte irgend etwas beizutragen; man sollte am besten auf ihn ganz verzichten, da er zu einer klischeehaften Betrachtung des Urchristentums verbunden mit schiefen Wertungen verführt. Wenn man will, kann man »frühkatholische Züge« selbst bei Jesus und Paulus entdecken; die damit bezeichneten Phänomene sind fast durchweg jüdisches Erbe. Die wirkliche Geschichte läßt sich grundsätzlich nicht in dogmatische Klischees einfange>, auch nicht in solche, die sich »kritisch« kostümieren. Gerade die Männer des Kompromisses wie Barnabas und Petrus tendierten von Anfang an auf jene - historisch und theologisch notwendige - »Synthese« hin, welche die Einheit von Juden- und Heidenchristen in der Kirche bewahrte und zugleich die universale Mission bejahte. Am Beginn stand auch nicht der schroffe »Nomismus« der Jerusalemer, sondern der überwältigende Eindruck der thorakritischen Verkündigung J esu, der vor allem bei den» Hellenisten« wirksam wurde und zu den Anfängen der Heidenmission führte. Erst mit den Jahren kam es in Jerusalem, nicht zuletzt aufgrund des Druckes der jüdischen Umwelt, zu einer sich verstärkenden gesetzlichen Regression. Die letzte theologische Konsequenz aus der Gesetzeskritik der» Hellenisten « zog ihr ehemaliger Verfolger Paulus, für den Gottes endzeitliche Offenbarung in Christus das Gesetz als Heilsweg ein für allemal ausschloß. Die Gemeinde in Jerusalern, die in dieser Frage durchaus nicht einheitlich dachte, gab der gesetzesfreien, universalen Heidenrnission trotz innerer Spannungen und erheblicher Bedenken auf dem »Apostelkonzil« grundsätzlich grünes Licht. Doch kam es - in eigenartiger Verkehrung der Situation - wenig später in Antiochien zu jenem schwerwiegenden Zusammenstoß zwischen Paulus und den Vertretern der »Synthese« (GaI2,l1ff), der bewirkte, daß Paulus die 102
Bindung an die bisherige» Basisgemeinde« in Antiochien und an seinen Missionsgefährten Barnabas abbrach und in völliger Unabhängigkeit seine großen Missionsreisen begann, durch die er die römische »Oikumene«, Provinz für Provinz, dem »Gehorsam des Glaubens« unterwerfen wollte. Auch Lukas kann, bei aller Harmonisierung, diesen schroffen Bruch nicht ganz verschweigen. Nach seiner Darstellung Apg 15,36ff entstand zwischen Paulus und Barnabas in Antiochien ein »erbitterter Streit« (»paroxysmos«), wobei er freilich als Ursache nur die Frage erwähnt, ob der mit Barnabas verwandte Johannes Markus als Missionsgehilfe mitzunehmen sei, der auf der sogenannten ersten Reise so kläglich versagt hatte (13,13). Ich halte es für möglich, daß Lukas um die tieferen Ursachen der Auseinandersetzung wußte, sie aber absichtlich verschwieg. Die Wege der beiden Missionare, die so lange erfolgreich miteinander gearbeitet hatten, gingen für immer auseinander. Für Paulus begann jedoch jetzt, nach der großen Enttäuschung und scheinbaren Niederlage in Antiochien, die erfolgreichste und theologisch fruchtbarste Periode seiner Wirksamkeit, die für die weitere Geschichte der Kirche die entscheidenden Weichen stellte. 10.8 Eine bleibende Frucht der jetzt folgenden, etwa siebenjährigen Missionsarbeit in Kleinasien, Makedonien und Achaia sind die echten Briefe des Apostels, die auf den nun folgenden beiden Reisen geschrieben wurden. Ein oder auch zwei Briefe könnten noch aus der Gefangenschaft in Caesarea oder in Rom stammen. Die völlig veränderte Situation wird durch die überraschende Wahl des Jerusalemers Silas-Silvanus als des neuen Reise-Partners beleuchtet. Nachdem Paulus - gewiß gegen seinen Willen - von der Verpflichtung gegenüber Antiochien und Barnabas frei geworden war, versuchte er jetzt, als unabhängiger Missionar, stärker als bisher ein positives Verhältnis zuJerusalem aufzubauen, das er 14 Jahre lang gemieden hatte. Wieweit er damit dauerhaften Erfolg hatte, ist eine andere Frage. Vielleicht rechnete er mit der Unterstützung des »liberaleren« judenchristlichen Flügels in der jüdischen Hauptstadt. Die Entwicklung der Dinge dort arbeitete jedoch gegen ihn. Dennoch bemühte er sich, die Verbindung aufrechtzuerhalten. In seinen Briefen spielt nur noch die jüdische, nicht mehr die syrische Hauptstadt eine wesentliche Rolle. Weder Damaskus noch Antiochien, sondern allein J erusalern nennt er in dem großzügigen Überblick über sein Missionswerk Röm 15,19 als Ausgangspunkt seiner Verkündigung. Nach Abschluß seiner Arbeit in den griechischsprachigen Provinzen des Ostens, vor seinem Aufbruch nach Rom und Spanien, erfüllte sich für ihn, der dies wohl ahnte (Röm 15,30ff; vgl. Apg 20,22ff), in der Heiligen Stadt, die ihn unwiderstehlich anzog, sein Schicksal. Bezeichnenderweise hören wir nichts davon, daß er während seines Prozesses von der Gemeinde in Jerusalem unterstützt worden wäre. Fühlte diese sich durch seine Gesetzeskritik kompromittiert
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(Apg 21,21)? Die geplante Reise nach Rom trat er erst zwei Jahre später als Gefangener an, um sich dort vor dem Gericht des Kaisers zu verantworten. 10.9 Ein eigenartiger Widerspruch ist es, daß der Zusammenstoß in Antiochien ihn gerade in Konflikt mit jenem Mann der Urgemeinde brachte, der als enger Jünger Jesu wohl schon immer gegenüber der Thora eine gewisse »freiheitliche« Auffassung vertreten und sie auch in Antiochien durch die Tischgemeinschaft mit den Heiden dokumentiert hatte: mit Petrus. An sich besaß dieser unter den Jerusalemer Autoritäten vermutlich am ehesten Verständnis für das paulinische Anliegen. Die übernahme der Führung in der Heiligen Stadt durch Jakobus drängte auch ihn zur Mission außerhalb Palästinas in der griechischsprechenden Diaspora, und man wird annehmen dürfen, daß er sich hier auf die Dauer nicht auf die Judenmission beschränkt hat, zumalihm dabei seine eigene» liberale« Haltung im Wege stehen mußte. Auf diese Weise kam es zu jenen Spannungen zwischen seiner und der paulinischen Arbeit, die in den Korintherbriefen und wohl auch durch gewisse apologetische Äußerungen des Paulus im Römerbrief angedeutet werden. Paulus und Petrus wurden auf dem Missionsfeld nolens volens zu »Konkurrenten«, obwohl die Gesetzesfrage kaum mehr zwischen ihnen stand. Im 1. und 2. Korintherbrief, wo sich Paulus m.E. mehrfach mit Sendboten der Petrusmission und ihren Angriffen gegen sein Apostolat auseinandersetzt, steht das Gesetz als Heilsweg gerade nicht mehr zur Diskussion. Möglicherweise hat sie dann die Verfolgung in Rom unter Nero wieder zusammengeführt. 1. Clemens 5,2-7 zeigt die Getrennten als Märtyrer Hand in Hand; sie sind »die größten und gerechtesten Säulen«: »Petrus, der wegen ungerechter Eifersucht nicht eine oder zwei, sondern viele Mühen erduldete und so, nachdem er Zeugnis abgelegt hatte, an den gebührenden Ort der Herrlichkeit gelangte. Wegen Eifersucht und Streit zeigte Paulus den Kampfpreis der Geduld; siebenmal in Ketten, vertrieben, gesteinigt, Herold im Osten wie im Westen ... ; er lehrte die ganze Welt Gerechtigkeit, kam bis an die Grenze des Westens und legte vor den Machthabern Zeugnis ab; so schied er aus der Welt und gelangte an den heiligen Ort, das größte Beispiel der Geduld.« Petrus wird hier zwar zuerst genannt, doch scheint der Verfasser nicht allzuviel über ihn sagen zu wollen - der eigentliche Träger weltweiter Mission ist für den Heidenchristen Clemens - ganz wie bei Lukas - Paulus. Wenn Lukas, in ähnlicher Weise wie Clemens von Rom, Petrus und Paulus zusammen in den Mittelpunkt seiner Apostelgeschichte stellt und dabei Schritt für Schritt Petrus zurück-, Paulus nach vorne treten läßt - die Legitimation der Heidenmission des Paulus ist für ihn gewissermaßen das letzte Werk des Petrus (Apg 15) -, so bedeutet dies eine eindeutige Option für den »dreizehnten Zeugen« und beweist, daß der auctor ad Theophilum trotz aller theologischen Anstöße, die er dem Paulinismus der heutigen Theologie bie104
tet, ein entschiedener Pauliner - freilich ganz eigener Prägung - war. Das Mittelstück der Apostelgeschichte von der Auseinandersetzung zwischen »Hellenisten« und »Hebräern« bis zum Jerusalemer »Konzil« umschreibt den Weg der Jesusbotschaft von der Gemeinde der Apostel bis zum Missionswerk des Paulus. In ihm vollendet sich für Lukas die Selbstverkündigung des Erhöhten, die durch die zwölf Apostel eingeleitet wird. Auch wenn ihm Lukas - seinem Apostelideal entsprechend - den Ehrentitel »Apostel« gewissermaßen nur mit der linken Hand gewährte (Apg 14,4. 14), weil er nicht zu den »Zwölfen« gehörte, die Jesus von Anfang an begleitet hatten und Auferstehungszeugen waren (1,2lf), ist er für ihn doch der paradigmatische Missionar, ja noch mehr, unter Einschließung seiner Leiden um Christi willen (9,16), ein einzigartiger Zeuge Jesu. Es ist- auch von Lukas her gesehen, der ja die Paulusbriefe nicht erwähnt und wohl auch nicht kannte - völlig konsequent, wenn im neutestamentlichen Kanon die echten Briefe des Paulus die tragende Mitte der sogenannten» Apostelschriften « darstellen. Paulus wurde als Missionar und Lehrer zum eigentlichen »aposto[os« für die Kirche, und zugleich ist er der einzige, den wir wirklich näher kennen. Vermutlich hat Lukas - ohne es zu wissen - entscheidend dazu beigetragen, dem Werk des Paulus diese einzigartige Stellung in der frühen Kirche zu verschaffen. Sein »moderierter« und darum gewiß für uns fragwürdiger Paulinismus hat dem wahren Paulus und seinen Schriften mit zu ihrer Bedeutung in der Kirche und zu ihrem Platz im Kanon verholfen. Darüber hinaus bleibt das aus diesem Paulinismus heraus entstandene Werk des Lukas eine für die Geschichte des frühen Christentums einzigartige, wertvolle Geschichtsquelle, die uns den Weg des einstmaligen Pharisäers und Gelehrtenschülers zum beispielhaften Missionar der Kirche historisch und theologisch besser verstehen läßt, selbst dort, wo Lukas um seiner harmonisierenden Tendenz willen Brüche und Konflikte abschwächt. Gerade in seiner einlinigen Darstellung des Weges der urchristlichen Mission von den »Hellenisten« des Stephanuskreises bis zur konsequenten Heidenmission des Paulus in den fünfziger Jahren erweist sich Lukas als der erste christliche »Historiker«, dessen Werk die Kirche bis zum heutigen Tage mehr verdankt, als wir Theologen es teilweise heute wahrhaben wollen.
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IH. ANHANG
Historische Methoden und theologische Auslegung des Neuen Testaments (Thesen)
1. Zur Kritik »der historisch-kritischen Methode« 1.1 Die Redeweise von »der historisch-kritischen Methode« ist fragwürdig. 1.1.1 In Wirklichkeit gibt es eine Vielfalt von »historischen Methoden«. 1.1.2 Dieser Methodenvielfalt entspricht die Vielschichtigkeit der historischen Forschung und ihrer Ergebnisse. 1.1.3 Die historische Forschung muß immer offenbleiben zur Erprobung neuer Methoden. Neu entdeckte Phänomene erfordern u. U. die Anwendung neuer Methoden. 1.1.4 Die Anwendbarkeit und Sachgemäßheit historischer Methoden erweist sich an ihrem Gegenstand, d. h. im Forschungsvollzug, nicht in der abstrakten Reflexion auf »die historisch-kritische Methode« an sich. 1.2 Die ständige Berufung auf »die historisch-kritische Methode« in der theologischen Diskussion der vergangenen 70 Jahre hat letztlich psychologische und dogmatische Gründe. 1.2.1 Ihren klarsten Ausdruck finden diese in der Unterscheidung zwischen »historischer« und »dogmatischer Methode« bei Troeltsch. 1.2.2 Ein Hauptmotiv ist die Furcht vor der Abwertung der »dogmatischen Methode«, die als unwissenschaftlich gilt, während man für »die historischkritische Methode« Wissenschaftlichkeit postuliert. 1.2.3 Die Grenzen und Konsequenzen dieser auf einen »dogmatischen« Positivismus reduzierten» historisch-kritischen Methode« sind zu wenig kritisch bedacht worden. 1.2.4 Grundaxiom »der historisch-kritischen Methode« ist das Postulat der für den Menschen durchschaubaren und verfügbaren »einen Wirklichkeit«, das sich in der Historie als »die prinzipielle Gleichartigkeit alles historischen Geschehens« (Troeltsch) darstellt. 1.2.5 Die »Allmacht der Analogie« als der »Schlüssel zur Kritik« (Troeltsch) entscheidet allein über Tatsachenfeststellung und kausale Verknüpfung. 1.2.6 Damit wird die - zudem noch eingeschränkte - gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung zum entscheidenden Kriterium dafür gemacht, was in der Vergangenheit geschehen sein ka= und was nicht. 107
1.2.7 Gerade im Bereich »biblischer Geschichte« stoßen wir immer wieder auf die Frage der Möglichkeit »analogielosen Geschehens«. Die dogmatisch fixierte »historisch-kritische Methode« muß diese Möglichkeit von vornherein ausschließen.
2. Die Vielzahl und Komplexität historischer Erkenntnishorizonte und die Konsequenzen für das »historische« und »theologische Verstehen« 2.1 Vergangenes Geschehen stellt sich für uns in einer unüberschaubaren Vielfalt dar. 2.1.1 Historische Rekonstruktion und Interpretation führen notgedrungen zu einer Vereinfachung ursprünglich sehr viel komplexerer Sachverhalte. 2.1.2 Der Gefahr der Simplifizierung kann man nur durch eine der Sache angemessene Methodenvielfalt begegnen. 2.1.3 Im Bereich der antiken Geschichte führt die Zufälligkeit und Bruchstückhaftigkeit der erhaltenen Quellen und die Distanz zwischen dem damaligen und unserem Bewußtsein besonders leicht zu einer simplifizierten Darstellung vergangener Wirklichkeit. 2.2 Auch die Vielfalt der Standpunkte historischer Betrachter schafft verschiedene Erkenntnishorizonte. 2.2.1 Die kritische Kontrolle über das eigene Vorverständnis und die erkenntnisleitenden Interessen kann diese einschränken, aber nicht völlig ausscheiden. 2.2.2 Gerade im geistes- und religionsgeschichtlichen Bereich ist u. U. ein positives Vorverständnis und existentielles Interesse an der in der Quelle dargebotenen Sache die Voraussetzung für ein echtes Verstehen. 2.2.3 Historisches Faktenwissen bedeutet noch nicht Verstehen. Letzteres ist vielmehr identisch mit dem Erfassen der Intention des Autors eines Textes. 2.2.4 Dagegen ist der Anspruch, wir könnten die Intention des Autors besser verstehen als dieser selbst (W. Dilthey), häufig fragwürdig. 2.3 Die Verschiedenartigkeit historischer Erkenntnishorizonte führt zu einer unterschiedlichen Vermittelbarkeit der aus den Quellen gewonnenen Erkenntnisse. 2.3.1 Im Bereich der Feststellung von klar umrissenen Fakten ist am ehesten volle Intersubjektivität möglich. 2.3.2 Im Bereich geistesgeschichtlichen Verstehens und der darauf aufbauenden Interpretation ist die Intersubjektivität bereits eingeschränkt.
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2.3.3 Im Bereich der Wertungen oder der positiven bzw. negativen Antwort auf den Wahrheits anspruch historischer Quellen, Personen oder Gruppen ist Intersubjektivität oft nur kontingente Möglichkeit und als solche unverfügbar. 2.3.4 Man könnte - in einem sehr groben Raster - bei historischen Quellenaussagen, die einen mich betreffenden ethischen oder religiösen, d. h. »existentiellen« Wahrheits anspruch enthalten, von drei möglichen »Erkenntnisstufen« sprechen: Wissen, Verstehen, Zustimmung bzw. Ablehnung. Mit jeder Stufe nimmt die verfügbare Vermittelbarkeit ab. 2.3.5 In der historisch-theologischen Exegese kommt alles darauf an, daß sich im Bereich des» Verstehens« historische und systematisch-theologische Verstehensbemühungen miteinander verbinden, damit der Wahrheits anspruch des ausgelegten Textes in einer heute verantwortbaren Weise zur Sprache kommt. 2.3.6 Die Anerkennung theologischer Wahrheit in einer Textaussage kann durch keine historische Methode erzwungen, sehr wohl aber vorbereitet werden. Umgekehrt kann durch eine unsachgemäße Anwendung historischer Methoden der Wahrheitsanspruch des Textes für mich und andere verstellt werden. 2.4 Historische und theologische Urteile unterscheiden sich in der Gewißheitsfrage. 2.4.1 Historische Erkenntnis führt zu »zufälligen Geschichtswahrheiten« (Lessing), die in der Regel nur eine stark abgestufte Skala von Wahrscheinlichkeitsgraden für sich beanspruchen können. 2.4.2 Der Glaube gründet dagegen auf der gewissen Zusage. Theologische Urteile müssen daher assertorische Form besitzen: tolle assertiones et Christianismum tulisti (Luther). 2.4.3 Das theologische Urteil wird so dem »Faktum« der freien Selbstmitteilung Gottes an einem konkreten Ort der Geschichte einen Gewißheitsgrad zusprechen, den historische Forschung mit allen ihren Methoden weder erreichen kann noch will. 2.4.4 Historische Forschung vermittelt der Theologie durch die biblischen Disziplinen und die Kirchengeschichte den Zugang zu ihren entscheidenden Inhalten. Sie kann jedoch den Wahrheitsanspruch der Theologie nicht begründen. Dessen Begründung liegt in der nicht mehr hinterfragbaren Gewißheit der promissio Dei in Jesus Christus, die uns in der Einheit der Botschaft des Alten und des Neuen Testaments begegnet und die in der Geschichte der Kirche immer neu bezeugt wird.
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3. Die Notwendigkeit historischer Wahrheitsfindung und ihre Grenze 3.1 Die mit den historischen Methoden erfaßbaren Inhalte der Geschichte stellen sich dar als das aus der Vergangenheit gewonnene »kollektive Bewußtsein« der Menschheit. 3.1.1 Aufgabe historischer Forschung ist die ständige Erweiterung und Korrektur dieser »Bewußtseinsinhalte«. 3 .1.2 Verfälschung, Unterdrückung und Verweigerung historischer Informationen und Erkenntnisse könnte man mit dem Akt der »Verdrängung« vergleichen; sie widersprechen nicht nur der allgemein menschlichen Forderung nach sachlicher Wahrheit, sondern sie können sogar zum zerstörenden Selbstbetrug führen. 3.1.3 Die stetige Erweiterung, Kontrolle und Korrektur des historischen »Bewußtseins« ist als »gutes Werk« der Wahrheitsfindung grundsätzlich theologisch zu bejahen. 3.2 Seitdem in der Aufklärung die naive Einheit von »Historie« und »biblischer Geschichtserzählung« zerbrach, ist den historischen Disziplinen der Theologie die erweiternde, kontrollierende und korrigierende Erforschung ihrer Vergangenheit um der sachlichen Wahrheit willen aufgegeben. 3.2.1 Diese historische Forschung innerhalb der Theologie kann den Geltungsanspruch des christlichen Glaubens weder begründen noch widerlegen, wohl aber dient sie der Erweiterung und Korrektur des historischen »Gesamtbewußtseins in der Theologie«. 3.2.2 Die aus der historischen Forschung in der Theologie je und je erwachsende Anfechtung zwingt diese zur Reflexion über ihre eigentliche Sache und macht sie dadurch »selbst-bewußter« und »sach-bezogener«. 3.2.3 Beispiel: Die Kritik Lessings, daß »zufällige Geschichtswahrheiten (nie) der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten werden können«, weist die Theologie darauf hin, daß sie es nicht primär mit »notwendigen Vernunftwahrheiten«, sondern mit der freien Selbsterschließung Gottes in Jesus Christus zu tun hat. 3.3 Genauso wie das menschliche Bewußtsein - das nicht vom »Selbstverständnis« abgetrennt werden kann - vor die Sinnfrage seiner Einzelexistenz gestellt wird, stellt sich für dasselbe als Teil des menschlichen »Gesamtbewußtseins« die Frage nach dem Sinn und der Einheit der Geschichte. 3.3.1 Die Frage nach dem Sinn der Einzelexistenz läßt sich aus der Frage nach dem Sinn der gesamtmenschlichen Geschichte nicht herauslösen. Die Antwort auf die erste Frage erfordert, daß damit auch die zweite Frage beantwortet wird und umgekehrt. 3.3.2 Mit den Mitteln historischer Methoden kann hier freilich keine Ant110
wort gegeben werden. Eine solche ist nur als »theologisches Urteil« möglich. 3.3.3 Diese Antwort darf weder- vulgärexistentialistisch - in der Form der Reduktion auf die Einzelexistenz gegeben werden, noch - vulgärmarxistisch - unter Eliminierung derselben in der Form der nur für das Kollektiv gültigen Utopie. 3.3.4 Die Sinnfrage löst sich für den einzelnen wie für die Menschheit durch den Bezug auf Gott als Schöpfer und Herrn der Geschichte und auf das Reich Gottes als die Vollendung von Schöpfung und Geschichte. 3.3.5 Ein derartiger Bezug ist christologisch zu begründen: D.h. Gott als Schöpfer und Herr der Geschichte und damit auch der Zukunft erschließt sich dem Menschen durch die Offenbarung seiner Liebe in Jesus Christus als dem »eine(n) Worte Gottes, das wir zuhören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben« (Barmen, 1. These).
4. Das Neue Testament als historische Quelle und Glaubenszeugnis und die sachgemäße Anwendung historischer Methoden 4.1 Die im Neuen Testament gesammelten Schriften sind die durch ihre kirchliche Autorisierung erhalten gebliebenen ältesten Quellen über das die christliche Kirche begründende Urgeschehen, »die Urkunde der kirchengründenden Predigt« (Martin Kähler). 4.1.1 Zugleich sind sie Glaubenszeugnisse, die den Hörer auf die in Jesus von N azareth geschehene und in der apostolischen Verkündigung proklamierte Selbsterschließung Gottes zum Heil aller Menschen hinweisen. 4.1.2 Bei einer sachgemäßen historischen und theologischen Auslegung der neutestamentlichen Schriften muß dieser Doppelcharakter als älteste Geschichtsquellen und Glaubenszeugnisse zum Ausdruck kommen. 4.1.3 Bereits ein großer Teil der neutestamentlichen Texte bzw. Schriften weisen durch ihre Form als »kerygmatische Geschichtserzählungen« bzw. als »kerygmatische Geschichtsschreibung« daraufhin, daß die Heilsbotschaft als Anrede zugleich immer auch - zumindest in nuce - Bericht vom Heilsgeschehen ist und daß ihre Grundlage auf einem geschichtlichen Ereignis beruht, das auch mit historischen Methoden erforscht werden kann. 4.2 »Theologische Exegese«, die glaubt, sie könne das Neue Testament ohne die Anwendung sachgemäßer historischer Methoden »auslegen«, verschließt sich nicht nur gegenüber der Wahrheitsfrage, sondern steht in der Gefahr einer Vergewaltigung der Textaussagen und der doketischen Spekulation.
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4.2.1 Die Anwendung historischer Methoden bei der Exegese des N euen Testaments wird gerade von der Tatsache her gefordert, daß die Schriften des Neuen Testaments bezeugen, daß Gott ein für allemal in einem konkreten Menschen zu einer bestimmten Zeit geredet hat. 4.2.2 Wir können daher nicht »theologisch« von der Selbsterschließung Gottes in J esus und dem apostolischen Zeugnis reden, ohne zugleich mit den MitteIn historischer Forschung Gestalt und Inhalt dieses Redens zu erfassen. 4.3 Die neutestamentlichen Schriften erfordern für ihre Auslegung nicht die Vorgabe einer zusätzlichen, von allen »historischen Methoden« qualitativ verschiedenen, spezifisch »theologischen Auslegungsmethode«. 4.3.1 Dies bedeutet, daß das Neue Testament gegenüber anderen antiken Quellen weder isoliert noch einnivelliert werden darf. Es muß - wie jeder Text, der ein tieferes Verstehen fordert und einen Wahrheits anspruch enthält - die Anwendung der ihm entsprechenden sachgemäßen »Auslegungsmethoden« verlangen. 4.3.2 Dazu gehört einmal das Eingehen auf die alttestamentlich-jüdische Vorgeschichte des» Redens Gottes« (Hebr 1,1), die sich unmittelbar in Sprache und Form der neutestamentlichen Schriften niedergeschlagen hat, wie auch die Beachtung der Wirkungsgeschichte und der Auslegungstradition. 4.3.3 Zu dieser sachgemäßen Bezogenheit auf den Gegenstand der Auslegung gehört weiter die grundsätzliche Offenheit des Auslegers, die ihm im Neuen Testament begegnende Botschaft wirklich zu »vernehmen«, sich auf sie einzulassen und ihrem »Anspruch« zu »entsprechen«. 4.3.4 Die Wahrheit der neutestamentlichen Botschaft bedarf so keiner zusätzlichen methodischen »Absicherungen«. In dieser Freiheit kommt der Glaube der Kirche an die efficacia Sacrae Scripturae zum Ausdruck. 4.4 Die zustimmende Annahme ihres Wahrheits anspruchs ist nicht geforderte Leistung, sondern unverdientes Geschenk. Sie führt den Ausleger immer aufs neue in das Wagnis der Textauslegung hinein. Nur durch dieses ständig neue »Überwundenwerden« von der Botschaft des Neuen Testaments wird der Exeget zum wirklich »theologischen Ausleger«: Illuminatio est actus gratiae, quo Spiritus per ministerium verbi docet et sincero magis magisque informat (Hollaz). 4.4.1 Die Erfahrung ständiger Begegnung mit den Texten des Neuen Testaments eröffnet dabei den Blick für die Konturen seiner »christologischen Mitte«. Sie kann mit Formeln wie »solus Christus«, »sola gratia«, »iustificatio impii« oder »theologia crucis« umschrieben werden. Darin kommt die Gabe unverdienter Sinn erfüllung durch die Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus als dem uns zugesprochenen Worte Gottes zum Ausdruck. 4.4.2 Die kirchliche Auslegungstradition gibt dem theologischen Ausleger grundlegende Verständnishilfen und unterliegt gleichzeitig seiner Kritik, 112
die sich theologisch auf die Mitte der neutestamentlichen Botschaft gründet. 4.4.3 Das sich hier abzeichnende glaubende Vorverständnis ist kein sicherer Besitz, sondern ist - wie alle Theologie - ständig der Anfechtung preisgegeben. Es wird gewiß die Auslegung befruchten, muß sich aber andererseits stets neu der kritischen Befragung durch die Botschaft des Neuen Testaments stellen. 4.4.4 In alledem kann auf die sachgemäße Anwendung historischer Methoden nie verzichtet werden. Wir können uns der Frage nach der historischen Wahrheit nicht entziehen und stehen immer in der Gefahr textferner spekulativer Konstruktionen. Gerade die Exegese, die aus einem glaubenden Vorverständnis heraus geschieht, wird sich mit besonderer Sorgfalt und Akribie sämtlicher zur Verfügung stehender historischer Methoden bedienen.
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Literaturangaben
TEIL I
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3. Kapitel M. Hengel, Kerygma oder Geschichte, Theologische Quartalschrift 151 (1971) 323-336 -, Mors turpissima crucis, Die Kreuzigung in der antiken Welt und die »Torheit« des »Wortes vom Kreuz«, in: Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann zum 70. Geburtstag, Tübingen-Göttingen 1976, 125-184 -, Englische erweiterte Fassung: Crucifixion, London-Philadelphia 1977 H. Ristow - K. Matthiae (Hg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin 1960 J. M. Robinson, Kerygma und Geschichte im Neuen Testament, in: H. Köster J. M. Robinson, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 20-66 J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1970 G. N. Stanton, Jesus of Nazareth in New Testament Preaching, London 1974
4. Kapitel W.G.Doty, Contemporary New Testament Interpretation, Englewood Cliffs 1972 E. Krentz, The Historical-Critical Method, Philadelphia 1975 H.-1. Marrou, Über die historische Erkenntnis, Darmstadt 1973 H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung, Wiesbaden 1966 P. Stuhlmacher, Schriftauslegung auf dem Wege zur biblischen Theologie, Göttingen 1975
5. Kapitel C. K. Barrett, Luke the Historian in Recent Study, London 1961 The Beginnings of Christianity, Part I, The Acts ofthe Apostles, ed. F. J. Foakes Jackson - K. Lake, Vol. II; Prolegomena; III; Criticism, London 1922 O. Betz, The Kerygma of Luke, Interpretation 22 (1968) 132-146 E. M. Blaiklock, The Acts of the Apostles as a Document of First Century History, in: W. W. Gasque- R.P.Martin (Hg.), Apostolic History and the Gospel, Biblical and
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TEIL 11 Darstellungen der urchristlichen Geschichte: F.F.Bruce, New Testament History, London 21971 H. Conzelmann, Geschichte des Urchristentums, Göttingen 31976 F. V. Filson, Geschichte des Christentums in neutestamentlicher Zeit, Düsseldorf 1967 L. Goppelt, Die apostolische und nachapostolische Zeit (Die Kirche in ihrer Geschichte, I, Lieferung A), Göttingen 21966 -, Christentum und Judentum im ersten und zweiten Jahrhundert, Gütersloh 1954 H. Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, I, Berlin 41961 A. Schlatter, Die Geschichte der ersten Christenheit, Stuttgart 21971
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Arbeiten zur urchristlichen Mission: H. Frohnes - U. W. Knorr (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, I, München 1974 F. Hahn, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 21965 A. von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, 1.11, Leipzig 41924 M. Hengel, Die Ursprünge der christlichen Mission, New Testament Studies 18 (1971/72) 15-38 H. Kasting, Die Anfänge der urchristlichen Mission, München 1969 S. G. Wilson, The Gentiles and the Gentile Mission in Luke-Acts, Cambridge 1973
Bücher zu Paulus: G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart usw. 21970 G.Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 1972 R. N. Longenecker, Paul, Apostle of Liberty, New York usw. 1964 A.D.Nock, Paulus, Zürich-Leipzig 1940 H. Ridderbos, Paulus, Wuppertal 1970 B.Rigaux, Saint Paul et ses lettres, Paris-BIÜgge 1962 A. Suhl, Paulus und seine Briefe, Gütersloh 1975
Kommentare zur Apostelgeschichte:
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8. Kapitel C. K. Barrett, Cephas and Corinth, in: Abraham unser Vater, Festschrift für Otto Mi-
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9. Kapitel P. Gaechter, Jerusalem und Antiochia, in: ders., Petrus und seine Zeit, Innsbruck usw. 1958, 155-212
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F.Hahn, Christologische Hoheitstitel, Göttingen 21964 M. Hengel, Christologie und neutestamentliche Chronologie, in: Neues Testament und Geschichte, Oscar Cullmann zum 70. Geburtstag, Zürich usw. 1972, 43-67 -, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977 W.Kramer, Christos Kyrios Gottessohn, Zürich 1963 s. auch die Arbeiten zur urchristlichen Mission o. S.117
10. Kapitel M.Dibelius, Das Apostelkonzil, in: ders., Aufsätze zur Apostelgeschichte, Göttingen 31957, 84-90 T.Fahy, The Council of Jerusalem, The Irish Theological Quarterly 30 (1963) 232-261 P. Gaechter, Jakobus von Jerusalem, in: ders., Petrus und seine Zeit, Innsbruck usw. 1958, 258-310 -, Geschichtliches zum Apostelkonzil, Zeitschrift für katholische Theologie 85 (1963) 339-354 A. S. Geyser, Paul, the Apostolic Decree and the Liberals in Corinth, in: Studia Paulina in honorem Johannis de Zwaan septuagenarii, Haarlem 1953, 124-138 S. Giet, L' Assemblee apostolique et le decret de Jerusalem, Qui etait Simeon?, Recherches de science religieuse 39 (1951/52) 203-220 H. Katzenmayer, Das sogenannte Apostelkonzil von Jerusalem, Internationale kirchliche Zeitschrift, Neue Folge 31 (1941) 149-157 G. Klein, Galater 2,6-9 und die Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde, Zeitschrift für Theologie und Kirche 57 (1960) 275-295 = Rekonstruktion und Interpretation (mit Nachtrag), München 1969, 99-128 B. Reicke, Der geschichtliche Hintergrund des Apostelkonzils und der Antiochia-Episode, Gal 2,1-14, in: Studia Paulina in honorem Johannis de Zwaan septuagenarii, Haarlem 1953, 172-187 W.Schmithals, Paulus und Jakobus, 1963 A. Strobel, Das Aposteldekret in Galatien: Zur Situation von Gal I und II, New Testament Studies 20 (1974) 177-190 H. Waitz, Das Problem des sog. Aposteldekrets und die damit zusammenhängenden literarischen und geschichtlichen Probleme des apostolischen Zeitalters, Zeitschrift für Kirchengeschichte 55 (1936) 227-263 G. Zuntz, An analysis of the report about the >Apostolic Council< in: Opuscula selecta, 1972, 216-251
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