Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte
Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und d...
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Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte
Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche
Herausgegeben von
James D. G. Dunn · Carl R. Holladay Hermann Lichtenberger · Jens Schröter Gregory E. Sterling · Michael Wolter
Band 163
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte Herausgegeben von Wolfgang Kraus
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 0171-6441 ISBN 978-3-11-021565-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Cover design: Christopher Schneider, Laufen
V
Vorwort Am 25. März 2008 feierte Ulrich B. Müller seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass veranstaltete die Fachrichtung Evangelische Theologie der Universität des Saarlandes, an der der Jubilar 16 Jahre lang tätig war, vom 18.-20. April 2008 ein Symposion zum Thema „Urchristliche Theologiegeschichte“. Der Titel des Symposions ergab sich sozusagen ‚zwangsläufig’, da es sich hierbei um einen der Schwerpunkte der wissenschaftlichen Arbeit Ulrich B. Müllers handelt. Freunde und Weggefährten des Julibars waren eingeladen und trugen zum Gelingen der Veranstaltung bei. Im Rahmen des Symposions fand ein Empfang statt, an dem Vertreter der Universität, der Landesregierung und der Kirchenleitungen aus Speyer und Düsseldorf Grußworte sprachen. Hierbei fand der Beitrag, den Ulrich B. Müller für die Fachrichtung Evangelische Theologie der Universität des Saarlandes, für die Ausbildung von Religionslehrer/innen und Theolog/innen im Saarland und der Pfalz geleistet hat, deutliche Würdigung. Die Bedeutung der Forschungsarbeit von Ulrich B. Müller für die neutestamentliche Wissenschaft würdigte Prof. Dr. Jürgen Becker, Kiel. Ulrich B. Müller begann seine wissenschaftliche Laufbahn in Heidelberg unter Karl-Georg Kuhn, bei dem er 1967 mit einer Dissertation zum Thema „Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der Offenbarung des Johannes“ promoviert wurde.1 Die Habilitation erfolgte 1972 in Kiel am Lehrstuhl von Jürgen Becker mit der Arbeit „Prophetie und Predigt im Neuen Testament“.2 Jürgen Becker, der bei dem Symposion in Saarbrücken anwesend war, führte in seiner Würdigung des wissenschaftlichen Werkes von Ulrich B. Müller folgendes aus: „Ohne Zweifel ist eines der großen Felder, auf denen Ulrich Müller immer wieder arbeitet, die frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Davon legt schon die Promotion Zeugnis ab. Diese materialreiche Monographie konzentriert sich auf ein damals wie heute komplexes Problem und ist bis in 1 2
Erschienen in StNT 6, Gütersloh 1972. Erschienen in StNT 10, Gütersloh 1975.
VI
Vorwort
die Gegenwart durch eine breit gestreute Diskussionslage zu beiden Stichworten ‚Messias‘ und ‚Menschensohn‘ geprägt. Immerhin konsensfähig ist diese Annahme: Die Erwartung einer messianischen Herrschergestalt entstand in Israel vor dem Aufkommen der Apokalyptik als heilsgeschichtlich-nationale Hoffnung. Sie bewahrte sich auch bis zum Bar-Kochba-Aufstand zumindest teilweise bei verschiedener Ausgestaltung ihre Eigenständigkeit neben der Apokalyptik. Wie sich dazu jedoch die apokalyptische Menschensohn-Vorstellung verhielt, ist zutiefst umstritten, weil heute noch nicht einmal Einigkeit darüber besteht, ob man von Dan 7 bis zum syrBar ein in Grundzügen gleiches auf eine Person zentriertes Hoffnungskonzept annehmen darf. Zur Zeit der Promotion von Ulrich Müller ging man allgemein jedoch von der jeweiligen Variation eines konsistenten Kerns der Menschensohn-Hoffnung aus. Unter dieser Annahme erörtert Ulrich Müller nun die Frage, wann und wie sich die Menschensohn-Erwartung und die Messias-Hoffnung kreuzten. Er vertritt dabei die mir sympathische Auffassung, dass eine durch konzeptionelle Zielsetzung bestimmte Verschmelzung beider Linien erst nach der Zerstörung des zweiten Tempels erfolgte, also in 4Esr und syrBar. Diese beiden jüdischen Apokalypsen stehen zeitnah bei der Offb Joh, in der gleichfalls eine eigenständige Zusammenführung dieser beiden Erwartungen zu erkennen ist. Damit lässt sich in Umrissen das Milieu erkennen, in das Ulrich Müller mit Recht die Offb Joh hineinstellt, um die Arbeit des Sehers Johannes an der Vereinigung beider Konzepte einschätzen zu können. Ulrich Müller hat dann seine Forschung an der frühjüdischen Apokalyptik mit der Übersetzung und Kommentierung der griechischen Esra-Apokalypse3 und an der urchristlichen Apokalyptik mit verschiedenen Aufsätzen4 komplettiert. Besonders erwähnt seien seine zwei theologiegeschichtlichen Darstellungen, die sein Gesamtbild zur urchristlichen Apokalyptik skizzieren5 und seinen Willen bekunden, bei allen Detailstudien möglichst immer auch die Gesamtentwicklung des Urchristentums in den Blick zu nehmen. Die Arbeit an der Offb Joh krönte er mit dem Erscheinen seines Kommentars zu diesem letzten Buch der Bibel.6 Er liegt indessen in zweiter Auflage vor. Wenn ich zur Offenbarung Informationen brauche, greife ich zu diesem Kommentar, weil er, konzentriert aufs Wesentliche, gut informiert, einen Überblick zur Forschungslage gibt, die Einordnung in die Theologiegeschichte des Urchristentums nicht vergisst und obendrein gut lesbar ist. 3 4 5
6
JSHRZ V/2, Gütersloh 1976. Jetzt zusammen erreichbar in: U.B. MÜLLER, Christologie und Apokalyptik. Gesammelte Aufsätze (ABG 12), Leipzig 2003, 291-325. Apokalyptische Strömungen, in: J. BECKER u.a., Die Anfänge des Christentums, Stuttgart u.a. 1987, 217-254; Apokalyptik im Neuen Testament, in: F.W. HORN (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments, FS G. Strecker (BZNW 75), Berlin/New York 1995, 144-169. Nachdruck beider in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 223-267.268-290. ÖTK 19, Würzburg/Gütersloh 11984, 21995.
Vorwort
VII
Ulrich Müller hat sich endlich in zwei Aufsätzen von 2001 und 2004 nochmals auf die Menschensohn-Problematik mit dem Ziel eingelassen, die urchristliche Erwartung der Parusie des Herrn und die synoptischen Menschensohn-Worte im Blick auf die frühjüdischen Verhältnisse neu zu begreifen7. Dabei revidiert er sein Verständnis der frühjüdischen Menschensohn-Tradition komplett und variiert eine aus dem angloamerikanischen Bereich stammende Auffassung. Sie sieht u.a. die Menschensohn-Aussagen von Dan 7 bis syrBar insgesamt für inkonsistent an und weist darum die Möglichkeit ab, einen gemeinsamen Fundus von Grundzügen zur Kennzeichnung einer spezifischen Heilsperson variiert zu sehen. Darum schlägt Ulrich Müller erstens vor, die urchristliche Parusieerwartung des Herrn (1Thess 1,10; 1Kor 16,22) von der Vorstellung der israelitischen und frühjüdischen Epiphanie Gottes her zu deuten. Der Ausgangspunkt für die synoptischen Menschensohn-Worte wird zweitens mit einem selbstreferenziellen aramäischen bar nasha in der unspezifischen alltagssprachlichen Bedeutung ‚ein Mann wie ich’ definiert. Dieser Sprachgebrauch wird Jesus selbst zugesprochen. Ulrich Müller und ich haben über diese Revision seiner Dissertation schriftlich und telefonisch diskutiert. Er weiß, dass ich ihm hier nicht zustimme. Telefonisch formulierte er dazu: ‚Herr Becker, ich habe auch gar nicht erwartet, dass Sie mir hier folgen würden.’ Statt nun diesen Satz einer semantischen Erörterung zu unterziehen, erinnere ich daran, dass solche Offenheit im Dialog ein Echo unserer Heidelberger Jahre ist. Ein zweiter Schwerpunkt in Ulrich Müllers Arbeit passt unter das Stichwort Prophetie. Dazu gehört selbstverständlich die Habilitationsschrift ‚Prophetie und Predigt im Neuen Testament’. Angesichts eines damals nicht geringen Interesses an der Prophetie im Urchristentum, das sich vor allem auf das geschichtliche Phänomen derselben konzentrierte, zielt Ulrich Müller innovativ auf einen neuen Horizont. Er fragt: Welche größeren Redeweisen prophetischer Mahn-, Gerichts- und Heilspredigt kann man im Neuen Testament aufdecken und vom israelitischen und frühjüdischen Hintergrund her verstehen? Besonders gut gelungen ist dabei m. E. die Erörterung der Sendschreiben in Offb 2-3. Ein Exkurs zu den Sendschreiben im Kommentar zur Offb fußt auf diesen Ergebnissen der Habilitation. Mit der prophetischen Gestalt Johannes des Täufers beginnen die Evangelien ihr Jesusbild zu entfalten. Diesem ‚jüdischen Propheten und Wegbereiter Jesu’ widmet Ulrich Müller eine allgemeinverständliche Studie im Rahmen der Reihe ‚Biblische Gestalten’8 mit dem Ziel, ihn als jüdischen Propheten zu zeichnen, sein Verhältnis zu Christus zu erörtern und das
7 8
Parusie und Menschensohn, ZNW 92 (2001), 1-19, Nachdruck in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 124-143; „Jesus als Menschensohn“ in: D. SÄNGER (Hg.), Gottessohn und Menschensohn (BThSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004, 91-129. Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu (BG 6), Leipzig 2002. Hingewiesen sei auch auf den Vergleich zwischen Johannes und Jesus in: U. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 42-58.
VIII
Vorwort
christliche Täuferbild im Neuen Testament und in der Kirchengeschichte zu skizzieren. Ebenso konzentriert sich Ulrich Müller in einem viel beachteten Aufsatz mit dem Titel ‚Vision und Botschaft’9 auf die prophetische Dimension des Wirkens Jesu. Er erörtert dabei Lk 10, 18: ‚Ich sah Satan einem Blitze gleich vom Himmel fallen’, als Erstvision Jesu in Analogie zu entsprechenden Visionen der alttestamentlichen Propheten. Mit diesem Verständnis erschließt er den Grund für die Gewissheit einer Heilswende, wie sie dem Wirken Jesu zugrunde liegt. Nicht wenige neuere Jesus-Bücher übernahmen diesen Ansatz. Dem großen Thema Paulus begegnet man bei Ulrich Müller in vielen seiner Veröffentlichungen, die ich jedoch bei anderen Stichworten einordne, weil sie m.E. schwerpunktmäßig dort besser hinpassen. Doch fallen unter diese Rubrik ohne Zweifel sein Kommentar zum Philipperbrief10 und die Aufsätze zum Philipperhymnus11, sowie zu den Einleitungsfragen dieses Briefes12. Von den Akzenten, die U. Müller in seiner Auslegung des Phil setzt, sei jetzt nur erwähnt, dass er die harten Worte gegen das Gesetz in Phil 3 als polemische Verzerrung deutet, die durch die Unterscheidung von Gesetz und Sünde im Röm zurecht gerückt werden. Besondere Impulse hat Ulrich Müller auch zum Verständnis des johanneischen Schrifttums beigesteuert. In zwei Aufsätzen13 plädiert er m.E. mit Recht dafür, die paulinische Kreuzestheologie und das johanneische Verständnis des Todes Jesu nicht zu vermengen, sie vielmehr als je eigenständige Konzepte zu betrachten. Im johanneischen Bereich gilt es, die Verben der Bewegung bei der Beschreibung des Auf- und Abstiegs Jesu und die Rede von der Erhöhung und Verherrlichung Jesu der Interpretation zugrunde zu legen. Jesu Tod ist dementsprechend primär heilsnotwendiger Durchgang zum Leben. Dieses Verständnis ist von paulinischer Kreuzestheologie unberührt. Einen einleuchtenden Vorstoß hat Ulrich Müller außerdem zum Verständnis des Parakleten gemacht14. Die Beobachtung, dass das Stichwort ‚Paraklet’ den johanneischen Abschiedsreden eigen ist und diese der literarischen Form nach zur frühjüdischen Testamentsliteratur gehören, führt ihn zu der Annahme, von der Thematik der Regelung der Nachfolge in dieser 9 10 11 12 13 14
Jetzt in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 11-41. Erstveröffentlichung in: ZThK 74 (1977), 416-448. Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK II/1), Leipzig 1993. Der Christushymnus Phil 2, 6-11, ZNW 79 (1988), 17-44. Nachdruck in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 179-205. Der Brief aus Ephesus, in: U. MELL und U.B. MÜLLER (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS J. Becker (BZNW 100), Berlin/New York 1999, 155171. Nachdruck in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 206-222. Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium, KuD 21 (1975), 49-71; Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW 88 (1997), 24-55, Nachdruck in: U. B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 144-175. Die Parakletvorstellung im Johannesevangelium, ZThK 71 (1974), 31-77.
Vorwort
IX
Literatur den Parakleten zu deuten: So wird der Paraklet als von Jesus verheißener Nachfolger qualifiziert, der für die Kontinuität seines Werkes Sorge trägt. Endlich gibt es eine stattliche Zahl an Untersuchungen, die sich zum Urchristentum und seiner theologischen Ausfächerung äußern. Wir begegnen solchen Äußerungen schon z.B. bei zwei Beiträgen zur Apokalyptik, die diese Richtung durch das Urchristentum insgesamt verfolgten. Ich beginne meinen Überblick mit dem Band ‚Krankheit und Heilung’, den Ulrich Müller mit Klaus Seybold zusammen verfasste.15 Im neutestamentlichen Teil stellt Ulrich Müller die Heilungen Jesu, ihre Rezeption in den Evangelien, die paulinische Krankheit und die Heilungen im Urchristentum in den Horizont von Krankheit und Heilung in der Umwelt des Neuen Testaments. Liegt in diesem Band der Schwerpunkt auf Jesu Wirken, so kommen wir, folgt man der urchristlichen Geschichte, als nächstes zu der kleinen, jedoch gehaltvollen Monographie ‚Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu’16. In diesem Band, der ein reges Echo hervorrief und doch wohl zu den Juwelen unter den Veröffentlichungen von U. Müller gehört, geht es ihm um die Fragen, welche Bedeutung das Wirken Jesu bei der Entstehung des Osterglaubens besaß, wie sich die Krisenerfahrung des Todes Jesu und der Osterglaube zueinander verhalten, wie sich das frühjüdische Märtyrerbild und die Hoffnung auf allgemeine Auferstehung auf das Osterverständnis der Jünger auswirkten und wie visionäre Kommunikation im Frühjudentum und im Neuen Testament zu verstehen sind. Es wird also versucht, die Ostererfahrung unter den konkreten Bedingungen der damaligen Zeit auszuleuchten. Mit dem Osterglauben als Initialereignis beginnt die Ausfächerung der Christologie als Rechenschaft des Christentums über den Inhalt des christlichen Glaubens. Dazu steuert Ulrich Müller zwei schon vom Thema her gewichtige Ausführungen bei: Er geht der Inkarnationsvorstellung mit Hilfe eines Längsschnitts durch das Urchristentum nach17 und untersucht in derselben Weise den Hoheitstitel ‚Sohn Gottes’18. In beiden Fällen erweist Ulrich Müller seine exegetische Sorgfalt und Differenzierungskunst. Die Ostererfahrung bewirkte nicht nur die christologische Thematik, sondern auch die Jesusüberlieferung wollte tradiert und je aktualisiert werden. In diesem Terrain untersucht Ulrich Müller die urgemeindliche Rezeption
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K. SEYBOLD / U.B. MÜLLER: Krankheit und Heilung (Biblische Konfrontationen, Kohlhammer TB 1008), 1978. Die Entstehung des Glaubens an die Auferstehung Jesu. Historische Aspekte und Bedingungen (SBS 172), Stuttgart 1998. U.B. MÜLLER: Die Menschwerdung des Gottessohnes (SBS 140), Stuttgart 1990. „Sohn Gottes“ – ein messianischer Hoheitstitel Jesu, ZNW 87 (1996), 1-32; Nachdruck in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 91-123.
X
Vorwort
der gesetzeskrischen Jesusüberlieferung19 und anhand der Verklärungsgeschichte in Mk 9 und die markinische Gestaltung der Jesustradition.20 Mit dem Blick auf Mk kommen wir schon der dritten urchristlichen Generation einen guten Schritt näher. Auch in diesem letzten Abschnitt des Urchristentums platziert Ulrich Müller seine Beiträge: So durchleuchtet er das Spannungsfeld von Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien21 und versucht sich an einer Geschichte der Christologie in den johanneischen Gemeinden.22 Schaut man nach dieser Umschau auf das bisherige Werk zurück, stellt man fest, dass es eigentlich kein großes Feld in der Geschichte des Urchristentums gibt, innerhalb dessen Ulrich Müller nicht mit einem Beitrag die Diskussion beförderte. Alle diese Veröffentlichungen lassen sich endlich unter einen Programmsatz von Ulrich Müller stellen: Wir sollten, so formuliert er einmal ‚das Ziel einer Theologiegeschichte des Urchristentums intensiv verfolgen, da die bleibende Relevanz einer theologischen Position innerhalb des neuen Testaments sachgemäß erst nach konsequenter Berücksichtigung ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Relativität erhoben werden kann’.23“
Nach Aussage von Jürgen Becker hat Ulrich B. Müller bereits in seiner Zeit als Mitarbeiter in der Heidelberger Qumran-Forschungsstelle (der legendären ‚Qumranhöhle’) erlebt, dass ein „Klima nicht-hierarchischen Arbeitens und offener Diskussionsfreude“ eine unerlässliche „Grundbedingung aller wissenschaftlichen Tätigkeit“ darstellt. Es erschien uns daher sachgemäß, ein Symposion durchzuführen, das solchem Arbeiten Raum bietet. Außer den Referenten konnten auch Studierende teilnehmen und sich durch Fragen und Gesprächsbeiträge einbringen. Die Beteiligten haben den Raum genutzt und dafür sei ihnen herzlich gedankt. Da es sich bei dem daraus erwachsenen Band nicht um eine Festschrift handelt, konnten auch zwei Arbeiten des Jubilars selbst aufgenommen werden. Ulrich Müller hat sich darüber hinaus bei der Abfassung der Einführung und durch Übernahme von Korrekturen am Zustandekommen dieses Bandes beteiligt.
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Zur Rezeption gesetzeskritischer Jesusüberlieferung im frühen Christentum, NTS 27 (1981), 158-185; Nachdruck in: U.B. MÜLLER, Christologie (Anm. 4), 59-88. Die christologische Absicht des Markusevangeliums und die Verklärungsgeschichte, ZNW 64 (1973), 159-193. Zur frühchristlichen Theologiegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n.Chr., Gütersloh 1976. Die Geschichte der Christologie in den johanneischen Gemeinden (SBS 77), Stuttgart 1975. Geschichte der Christologie, 9.
XI
Vorwort
Die Durchführung des Symposions und der Druck dieses Band wurden möglich aufgrund von Zuschüssen und Spenden. Der Dank hierfür geht an die Universität des Saarlandes, die Vereinigung des Freunde der Universität des Saarlandes, das Ministerium für Wirtschaft und Wissenschaft im Saarland, die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche), den Kirchenkreis Saarbrücken und den Beauftragten der Evangelischen Kirchen im Saarland. Bei der Durchführung des Symposions waren alle an der Fachrichtung Evang. Theologie tätigen Professoren und Mitarbeiter/innen, die studentischen Mitarbeiter/innen Christoph Aschoff, Kerstin Berberich und Sarah Quirin, sowie die Vertreter/innen der Fachschaft Simone Culmann, Claudia Gehm, Daniela Mütz, Janine Schwab und Andreas Schneider hilfreich und effizient tätig. Bei den Arbeiten an diesem Sammelband (Druckvorlage, Korrekturen, Register) waren neben Prof. Dr. Martin Meiser die studentischen Hilfskräfte Sabine Schmidt, Christian Lustig und Yannis Petsch aus Saarbrücken beteiligt. Die Publikationsliste am Ende des Bandes hat AkRat Jörg Rauber (Saarbrücken) zusammengestellt. Vielen Dank an alle für die gute Arbeit und das gute Miteinander! Den Herausgebern der BZNW gilt der Dank für die Aufnahme in die angesehene Reihe, den Mitarbeitern des Verlages Walter de Gruyter, insbesondere Carsten Burfeind, sei gedankt für die unkomplizierte und professionelle Zusammenarbeit. Saarbrücken, im September 2009
Wolfgang Kraus
XII
Vorwort
XIII
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Einführung
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V
1
1. Jesusüberlieferung und synoptische Tradition Ulrich B. Müller Jesu eschatologische Überzeugung, seine Gerichtsankündigung und die Zukunft Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eckhard Rau „Nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden“. Die Boteninstruktion als Fokus der Logienquelle
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37
Ulrich Mell Der Beitrag von Mk 7,24-30 zum christlichen Völkerevangelium im Kontext antiker Haushaltsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Martin Meiser Der theologiegeschichtliche Standort des lukanischen Doppelwerkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
2. Alttestamentliche und antike Voraussetzungen frühchristlicher Theologie Axel Graupner Exodus 24 und die Frage nach dem Ursprung der Bundestheologie im Alten Testament mit einem Ausblick auf die Herrenmahlsüberlieferung im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Wolfgang Kraus Jesaja 53 LXX im frühen Christentum – eine Überprüfung
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149
XIV
Inhalt
Gudrun Guttenberger Superstitio: Facetten eines antik-religionstheoretischen Diskurses und die Genese des frühen Christentums als religio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
3. Paulus Dieter Zeller Offene Fragen zum urchristlichen ‚Reden im Geist’
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231
Dieter Sänger Die Adressaten des Galaterbriefs und das Problem einer Entwicklung in Paulus’ theologischem Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Gerd Theißen Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth: Versuch einer Einheitsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Samuel Vollenweider Lob am Jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
4. Deuteropaulinen und nachpaulinische Tradition Lukas Bormann Die Bedeutung des Philipperbriefs für die Paulustradition Hanna Roose Die Thessalonicherbriefe im Kontext urchristlicher Überlieferungsprozesse. Methodische Reflexionen
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321
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343
Peter Müller Gegner im Kolosserbrief. Methodische Überlegungen zu einem schwierigen Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Gerhard Sellin Imitatio Dei: Eph 5,1-2
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395
XV
Inhalt
Friedrich Wilhelm Horn Der Beitrag des 1. Petrusbriefes zur frühchristlichen Tauftheologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
5. Johannesoffenbarung Martin Karrer Die Apokalypse und das Aposteldekret
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Michael Tilly Die Offenbarung des Johannes und das Moselied (Dtn 32)
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429
453
Ulrich B. Müller „Die Tiefen des Satans erkennen“. Überlegungen zur theologiegeschichtlichen Einordnung der Gegner in der Offenbarung des Johannes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Hermann Lichtenberger Rom, Luxus und die Johannesoffenbarung
..........................
479
6. Religionspädagogische Perspektiven Bernd Schröder Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments. Eine Sichtung der Befunde in religionspädagogischem Interesse
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497
.......................................
527
................................................................
531
Anhang Bibliographie Ulrich B. Müller
Register
XVI
Inhalt
Einführung Die Beiträge in diesem Band sind nach sechs Themenbereichen geordnet: (1) Jesusüberlieferung und synoptische Tradition, (2) alttestamentliche und antike Voraussetzungen frühchristlicher Theologie, (3) Paulus, (4) Deuteropaulinen und nachpaulinische Tradition, (5) Johannesoffenbarung, (6) religionspädagogische Perspektiven, die sich aus dem neutestamentlichen Befund ergeben.
1. Jesusüberlieferung und synoptische Tradition U.B. Müller erörtert das Problem „Jesu eschatologische Überzeugung, seine Gerichtsankündigung und die Zukunft Israels“. Danach war Jesus davon bestimmt, dass das eschatologische Gerichtshandeln Gottes bereits begonnen hat, was der Visionsbericht vom himmlischen Satanssturz anzeigt (Lk 10,18). Gott würde seine umfassende Heilsordnung auf Erden durchsetzen (z.B. Lk 11,20). Gleichwohl verraten mehrere Gerichtsworte (Q 11,31f; Q 13,29.28, aber auch Q 13,34.35a bzw. Lk 12,49f), dass das vorfindliche Israel auf die Unheilsseite zu stehen kommt. Wie konnte Jesus dennoch von einer unaufhaltsamen eschatologischen Heilswende überzeugt sein, die auch Israel erreicht, wie es das Heilswort Q 22,28.30 nahelegt? Die Spruchquelle führt die theologische Linie, die Jesus vorgegeben hat, auf ihre Weise fort, wenn sie die Gerichtsankündigung gegen Israel aufnimmt, daneben aber die innerisraelische Beschränkung ihres Missionskonzepts zu durchbrechen scheint. E. Rau erörtert diese Neuorientierung in seinem Beitrag „Nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden. Die Boteninstruktion als Fokus der Logienquelle“. Am Schluss der Boteninstruktion Q 10,2-16 wird deutlich, wie Kapernaum ein Ort des Scheiterns der Verkündigung Jesu ist (10,13-15), zugleich aber ein Ort des Aufbruchs für die nachösterliche Verkündigung (10,16), was besonders die hinter Lk 7,1-10 stehende Überlieferung andeutet, die mit dem Glauben des heidnischen Hauptmanns die Öffnung gegenüber den Heiden vorbereitet (vgl. auch Mk 7,24-30).
2
Einführung
U. Mell behandelt das Thema: „Der Beitrag von Mk 7,24-30 zum christlichen Völkerevangelium im Kontext antiker Haushaltsführung.“ Es geht um die Frage, mit welchen Konzepten eine durch jüdische Exklusivitätsansprüche bestimmte Urchristenheit ein Israels Grenzen sprengendes Missionskonzept theologisch begründete. M. Meiser erörtert das Thema „Der theologiegeschichtliche Standort des lukanischen Doppelwerks“. Nachdem das lukanische Werk lange Zeit als heidenchristlich angesehen wurde, gilt Lukas gegenwärtig vielen als Gottesfürchtiger oder Judenchrist, weswegen eine theologiegeschichtliche Neubestimmung notwendig erscheint, die allerdings der Präzisierung von Kriterien theologiegeschichtlicher Positionierung bedarf. Plausibel erscheint die Kennzeichnung des Autors als eines Gottesfürchtigen, der ein Christentum unter den Völkern beschreibt, das sich dem nicht an Christus glaubenden Judentum gegenüber organisatorisch verselbständigt hat.
2. Alttestamentliche und antike Voraussetzungen frühchristlicher Theologie A. Graupner äußert sich zu der Problematik „Exodus 24 und die Frage nach dem Ursprung der Bundestheologie im Alten Testament“ und versucht einen Ausblick auf das Neue Testament. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass die Bundestheologie in der Forschung weithin als jüngeres theologisches Konzept des AT gilt. Für Graupner stellt sich konkret die Frage, ob die Bundestheologie erst im Rahmen deuteronomischer Theologie oder nicht doch vordeuteronomisch entstanden ist, nämlich im Rahmen der Sinaiperikope. Damit rückt der Bundesschluss von Ex 24 in den Blick – der Text, der im NT entscheidend rezipiert wird. Allerdings erfährt die Vorgabe aus Ex 24 tief greifende Veränderungen im NT. Indem das Kelchwort Mk 14,24 bzw. 1Kor 11,25 den „Bund“ auf Jesu Kreuzestod bezieht, löst es den „Bund“ aus der Verbindung mit Gottes Willensoffenbarung und gewinnt so die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes zurück – als Inbegriff der einseitig gestifteten und bedingungslosen Gottesgemeinschaft. W. Kraus diskutiert die Frage, welche Rolle Jes 53 bei der Entstehung des soteriologischen Verständnisses des Todes Jesu zukommt. In seinem Beitrag „Jes 53 LXX im frühen Christentum – eine Überprüfung“ stellt er heraus, dass Jes 53 MT die Vorstellung von der stellvertretenden Lebenshingabe des Gottesknechts als Spitzenaussage der alttesta-
Einführung
3
mentlichen Tradition kennt, wohingegen Jes 53 LXX dieses Verständnis nicht teilt. Wichtig ist nun die Erkenntnis, dass alle neutestamentlichen Stellen, die Jes 53 zitieren (bis auf Mt 8,17) immer den Text der LXX benutzen, der eben nicht den Gedanken vom stellvertretenden Sühnetod enthält. Die gesonderte Betrachtung von 1Kor 15,3; Röm 4,25 und Hebr 9,28, die in der Regel auf dem Hintergrund von Jes 53 interpretiert werden, lässt ebenfalls nicht sicher erkennen, dass Jes 53 dahinter steht. Die Frage, welche Rolle Jes 53 MT bei Entstehung der Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod Jesu im NT gespielt hat, bleibt damit offen. G. Guttenberger „Superstitio. Facetten eines antik-religionstheoretischen Diskurses und die Genese des frühen Christentums als religio“ untersucht die frühen Wahrnehmungskategorien des Christentums durch die Antike. Zunächst geht es um die Verwendung des Begriffs superstitio bzw. deisidaimoni,a im griechisch-römischen Sprachraum, anschließend um die Rezeption der Begriffe in jüdischen Texten (Philo und Josephus). Bei der Frage nach der Rezeption der Begriffe im frühen Christentum spielen die Areopagrede Apg 17 eine bedeutsame Rolle sowie der Bericht des Festus über die religiöse Position des gefangenen Paulus (Apg 25,19). Mit der Aufnahme des superstitio-Begriffs signalisiert das frühe Christentum seine grundlegende Gemeinschaftsfähigkeit sowie seine Kompatibilität mit dem politischen Bereich.
3. Paulus D. Zeller erörtert „Offene Fragen zum urchristlichen ‚Reden im Geist’“. Eine Prüfung der Aussagen über die Glossolalie in 1Kor 12-14 ergibt, dass ein hellenistisches Verständnis derselben nicht naheliegt, vielmehr das Reden in Engelssprachen eher jüdisch bestimmt ist. Speziell Apg 2 lässt die theologiegeschichtliche Mutmaßung zu, dass die Glossolalie zu den Ursprungserfahrungen der Urgemeinde gehört und durch Paulus u.a. den hellenistischen Gemeinden vermittelt ist, wobei sie kein auf Korinth beschränktes Phänomen gewesen sein wird. Auf andere Weise behandelt D. Sänger die theologiegeschichtliche Problematik: „Die Adressaten des Galaterbriefs und das Problem einer Entwicklung in Paulus’ theologischem Denken“. Verdankt sich die paulinische Rechtfertigungslehre erst der Auseinandersetzung des Paulus mit gegnerischen Beschneidungspredigern (Galaterbrief, Philipperbrief) oder ist sie im Kern bereits der Erstverkündigung des Paulus in
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Einführung
Galatien oder Philippi zuzusprechen? Für eine Frühdatierung der Rechtfertigungslehre spricht: Paulus verweist im Galaterbrief mehrfach auf seine Erstverkündigung; gleichzeitig zeigt sich, dass der zentrale Inhalt dessen, was er als „die Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14) bezeichnet, sich nicht von seiner gemeindegründenden Predigt unterscheidet (Gal 1,6-9; 3,1; 5,3). G. Theißen „Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und in Korinth. Versuch einer Einheitsdeutung“ untersucht die Frage nach einer möglichen einheitlichen Front der Gegner des Paulus. Zu beobachten ist: Im Galater- und Philipperbrief dominieren Aussagen, die sich auf Judaisten deuten lassen, in den Korintherbriefen herrschen enthusiastische Züge vor; die Gegner im 2. Korintherbrief fordern keine Beschneidung. Dass dennoch auch in Korinth judaistische Missionare am Werk waren, ohne dass die Beschneidungsfrage akut wurde, dürfte daran liegen, dass die Gegenmissionare in Korinth eine Situation vorfanden, in der die korinthischen Christen nicht nur von außen als Teil des Judentums toleriert wurden (vgl. Apg 18,12-17), sondern sich selbst in einem spirituellen Sinne als Teil Israels verstanden (vgl. die Israeltypologie 1Kor 10,1-13). Die Gegner des Paulus konnten so in Korinth moderater auftreten, d.h. ohne Einforderung von Beschneidung und Speisegeboten, sie kamen aber aus demselben Milieu. S. Vollenweider „Lob am Jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief“ unternimmt es, die Voraussetzungen des Motivs der Ehrung am Jüngsten Tag bei Paulus zu bestimmen. Dabei zeigt sich zunächst, dass die Parusie des Christus nicht nur den alttestamentlich-jüdischen Tag des Herrn assoziiert, sondern auch den hellenistischen Begriff für den Besuch eines Herrschers in einer Stadt (Phil 1,6.10). Vor allem aber geht es um den Stellenwert, den die Anerkennung Gottes, sein Lob und seine Ehrung in der endzeitlichen Erwartung des Paulus innehaben. Das dahinter stehende Szenario scheint darin zu bestehen, dass Christen, besonders Paulus dereinst vor dem göttlichen Forum Anerkennung finden werden (Phil 2,15f; 4,8). Dieses endzeitliche Szenario folgt dem Modell einer öffentlichen Ehrung von städtischen Wohltätern durch eine hochgestellte Amtsperson oder den Kaiser.
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4. Deuteropaulinen und nachpaulinische Tradition Mit dem Artikel von L. Bormann „Die Bedeutung des Philipperbriefs für die Paulustradition“ setzt die Reihe der Beiträge ein, die sich der frühen Rezeption der Paulustradition widmen. Bormann identifiziert fünf charakteristische Sprach- und Sachzusammenhänge (sog. ‚Frames’) im Philipperbrief, die er im Blick auf ihre mögliche Aufnahme im Kolosser- und Epheserbrief untersucht. H. Roose behandelt „Die Thessalonicherbriefe im Kontext urchristlicher Überlieferungsprozesse“. In ihren „methodischen Reflexionen“ erörtert sie die Frage, ob der 2Thess den ersten ersetzen wollte oder ob er eine spätere Leseanweisung für den ersten sein sollte. Gefordert ist ein methodischer Zweischritt: Zunächst ist die Diskontinuität zwischen 1Thess und 2Thess herauszuarbeiten, um den pseudepigraphen Charakter von 2Thess zu begründen. Danach ist zu fragen, wie sich 1Thess durch die Brille von 2Thess liest. Prüfstein dieses methodischen Vorgehens muss die jeweilige Eschatologie sein. In seinem Beitrag macht P. Müller „Gegner im Kolosserbrief. Methodische Überlegungen zu einem schwierigen Kapitel“ auf die mannigfachen Probleme aufmerksam, die einer präzisen Gegnerbestimmung entgegen stehen. So kommen die Gegner in Kol 2 nicht mit eigenen Stellungnahmen zu Wort, sondern nur so wie sie der Verfasser des Kol versteht oder missversteht. Immerhin zeichnet sich im Blick auf ihre Position ab: Die Gegner sprechen von „Philosophie“ und beanspruchen Weisheit. Die Elemente der Welt spielen für sie eine Rolle; sie vertreten eine Verehrung von Engeln. Der Verfasser sieht seine Adressaten in der Gefahr sich zusätzlich zu ihrem Glauben an Christus von den Gegnern menschengemachte Satzungen auferlegen zu lassen. Nach G. Sellin „Imitatio Dei: Eph 5,1-2“ ist der kurze Abschnitt ein Höhepunkt des ganzen Briefes, der für sich zu betrachten ist und weder der Einheit 4,25-31 noch 5,3-14 zugehört. Der Verfasser des Eph ruft hier zur Mimesis Gottes auf und folgt dabei einer platonischphilonischen Onto-Theologie (im Unterschied zu Paulus vgl. Phil 3,17), verändert aber das religionsgeschichtlich vorgegebene Denken, wenn er Christus als Modell für eine solche Imitatio Dei einführt. F.W. Horn „Der Beitrag des 1. Petrusbriefes zur frühchristlichen Tauftheologie“ stellt fest, dass sich die Forschung von der Annahme einer in 1Petr zu rekonstruierenden Taufansprache bzw. Taufliturgie abgewandt
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hat. Die Frage nach einer in 1Petr vertretenen Tauftheologie reduziert sich auf die Vorstellung der Wiedergeburt, besonders auf die Tauftypologie in 1Petr 3,20f. Diese deutet so etwas wie ein Taufversprechen oder eine Taufverpflichtung an, die die Taufe begleitet.
5. Johannesoffenbarung M. Karrer „Die Apokalypse und das Aposteldekret“ zeigt, dass Apk 2,14.20.24 zwei der vier Regeln aus Apg 15,29; 21,25 rezipiert: das Verbot des Verzehrs von Götzenopferfleisch und sexueller Kontakte, die nach dem jüdischen Gesetz unerlaubt sind. Der Autor der Apk konzentriert sich dabei auf sein Grundanliegen, die Reinheit des Gottesvolkes Israel zu wahren, weswegen sexuelle Beziehungen zwischen christlichen Gemeindegliedern jüdischer und nichtjüdischer Herkunft verboten sind. Theologiegeschichtlich zeigt sich daran, dass die Apk ein eindrückliches Dokument des Judenchristentums darstellt. M. Tilly „Die Offenbarung des Johannes und das Moselied (Dtn 32)“ untersucht die spezifischen Funktionen dieser innerbiblischen Intertextualität. Er zeigt, dass der Verfasser eine typologische Korrespondenz zwischen dem richtenden Handeln Gottes beim Exodus aus Ägypten und seinem eschatologischen Gericht über die Feinde der bedrängten christlichen Gemeinden herstellt. U.B. Müller „’Die Tiefen des Satans erkennen ...’ Überlegungen zur theologiegeschichtlichen Einordnung der Gegner in der Offenbarung des Johannes“ führt die Lehre der gegnerischen Prophetin Isebel und ihrer Anhänger auf eine enthusiastisch geprägte Aufnahme deuteropaulinischer Traditionen zurück. Danach ist der Satan bereits endgültig als widergöttliche und die Welt beherrschende Macht gestürzt bzw. vernichtet, weswegen sich Christen unbedenklich auf Normen der griechisch-römischen Stadtgesellschaft einlassen können. Demgegenüber will der eschatologische Vorbehalt des Johannes demonstrieren, dass die Macht des Satans erst in der noch ausstehenden eschatologischen Zukunft vernichtet wird (Apk 20,1-3.7-10). H. Lichtenberger „Rom, Luxus und die Johannesoffenbarung“ behandelt das Thema Luxus und Luxuskritik in der römischen Antike, um anhand von Apk 17f die Rom- und Luxuskritik der Johannesoffenbarung zu erörtern. Gerade in der Schilderung der „Frau“, die Rom darstellt und die mit Purpur gekleidet ist (17,3-4; vgl. 18,16), kommt der von
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Johannes angegriffene Luxuscharakter des Imperiums zum Vorschein. Der „Warenkatalog“ 18,12-16 bestätigt diese Einschätzung. Die Luxuskritik an Rom bewegt sich allerdings nicht in den Bahnen moralisierender Kritik, sondern ist viel grundsätzlicher: Sie attackiert damit den gottlosen Herrschaftsanspruch Roms; mit der prophezeiten Zerstörung Roms hat sich das Luxusproblem gelöst.
6. Religionspädagogische Perspektiven B. Schröder erörtert das Thema „Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments. Eine Sichtung des Befunds in religionspädagogischem Interesse“. Dabei zeigt sich, dass verschiedene Aspekte des Neuen Testaments auch für die Religionspädagogik wegweisend sind. Das betrifft das Gewicht von Sozialisation, die Verknüpfung von Lernprozessen mit rituellen Vollzügen (Taufe, Herrenmahl), die Wertschätzung des Kindes usw. In solcher Hinsicht können die biblischen Schriften für die systematische Normenreflexion der Religionspädagogik relevant werden.
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1. Jesusüberlieferung und synoptische Tradition
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Jesu eschatologische Überzeugung, seine Gerichtsankündigung und die Zukunft Israels Ulrich B. Müller Will man Jesu eschatologische Überzeugung bestimmen, ist man alsbald mit der Frage konfrontiert, ob Jesus ein Apokalyptiker gewesen ist. Man kann sie mit Ja beantworten, „wenn man unter Apokalyptik ... einfach die spezifische, aus der prophetischen Eschatologie hervorgegangene Eschatologie des Frühjudentums versteht.“1 Ein wenig konkreter wird die Auskunft, wenn man meint: „Jesus steht in der Tradition der frühjüdischen Eschatologie; er hat mit dem Täufer manches gemeinsam, und die Ablehnung seiner Botschaft hat ihn ... zu einer verstärkten Betonung des Gerichtsgedankens geführt.“2 Mit diesem Urteil deutet sich die Annahme einer Entwicklung in Jesu Wirken an, die man auch mit dem Stichwort „galiläische Krise“ bezeichnet hat3. Aufgrund seiner Untersuchungen zur Auseinandersetzung Jesu mit den Pharisäern hat E. Rau „die Notwendigkeit einer Neuaufnahme der Frage nach dem Leben Jesu“ betont und dabei „die Hypothese zweier Phasen des Wirkens Jesu“ vertreten4. Eine größere Zahl von Gerichtsworten Jesu setzen eine Ablehnung seiner Verkündigung voraus5, die eine Zuspitzung des Konflikts mit Israel verraten, wie sie am Anfang seines Wirkens nicht vorlag. Von besonderer Bedeutung für das Wirken Jesu ist wohl die visionäre Erfahrung über die himmlische Entmachtung des Satans, die der Visionsbericht Lk 10,18 schildert6. Hier findet sich am ehesten der Anstoß für die besondere Akzentuierung in der eschatologischen Anschauung Jesu. Man hat deshalb Jesu Vision vom Satanssturz als „Schlüsselerlebnis“ bezeichnet7. Doch gilt es hier genauer nachzufra1 2 3 4 5 6 7
M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu (NTA NF 23), Münster 1990, 312. REISER, Gerichtspredigt, 313 bzw. 214. F. MUßNER, Gab es eine „galiläische Krise“? in: P. HOFFMANN u.a. (Hg.), Orientierung an Jesus, FS J. Schmid, Freiburg u.a. 1973, 238-252. E. RAU, Jesus – Freund von Zöllnern und Sündern, Stuttgart u.a. 2000, 159. Q 7,31-35;10,13-15;11,31f.;13,28f.;13,34f. U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft, Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, in: DERS., Christologie und Apokalyptik (ABG 12), Leipzig 2003, 11-41. M. EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit (SBS 196), Stuttgart 22004, 107f.
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gen, um zu präzisieren, worin denn das Besondere dieser visionären Erfahrung bestanden hat, was also von nachhaltiger Wirkung für Jesu Auftreten gewesen ist. Man hat zudem – unter dem Eindruck zweier Phasen im Wirken Jesu – der optimistischen Anfangsverkündigung unter dem Vorzeichen des himmlischen Satanssturzes eine Unheilsprophetie Jesu gegenübergestellt, die eher der Linie seines Lehrers Johannes entspricht: „Es scheint so, als habe Jesus am Ende seines Auftretens erneut eine biographische Wende vollzogen.“8 Gegenüber einem solchen Entwicklungsdenken ist jedoch die Kontinuität in Jesu eschatologischer Überzeugung zu betonen. Sie ist von der Erwartung geprägt, dass Gott das Heil seiner Herrschaft im Rahmen eines umfassenden Gerichtshandelns durchsetzen wird. Die besagte Kontinuität bedeutet allerdings nicht, Jesus habe sein Verhalten gegenüber seinen Zeitgenossen, d.h. Israel, im Verlaufe seines Auftretens nicht verändert. Insofern ist die Annahme zweier Phasen seines Wirkens durchaus diskutabel. Umstritten ist dabei vor allem, wie Jesus die eschatologische Zukunft Israels gesehen hat. Bei dem Versuch, Jesu eschatologische Überzeugung zu charakterisieren, wird der Blick auf das frühjüdische Umfeld Jesu hilfreich sein, dem er als zeitweiliger Anhänger Johannes des Täufers angehörte. Beide prägte eine bestimmte Naherwartung, wobei für Jesus wohl gilt, dass mit dem himmlischen Satanssturz ein Endereignis bereits stattgefunden hat (Lk 10,18). Dies unterscheidet ihn nicht nur vom Täufer, sondern auch von anderen Vertretern jüdischen Denkens, die die Heilswende sehnlichst erwarteten.
1. Akute Endzeitstimmung prägte das frühe Judentum in immer neuer Weise. Angesichts des sich dramatisch verfinsternden Erfahrungshorizonts taucht im Danielbuch die drängende Frage auf: Wie lange noch? „Wie lange noch gilt dieses Gesicht, dass das tägliche Opfer aufgehoben und ein Greuel der Verwüstung aufgestellt ist...?“ (Dan 8,13). Die erste Antwort rechnet mit 1150 Tagen (8,14). Auf die erneute Frage durch einen Engel in Dan 12,6 verlängert sich die Frist auf 1290 Tage (12,11), später dann auf 1335 Tage (12,12). Vor der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr. ist wohl die „Epistel Henochs“ geschrieben (äthHen 92-105). Sie enthält die Wehe-Rufe über die Sünder und Trostreden an die Gerechten. Obwohl die Schrift keinen 8
EBNER, Jesus, 190.
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Zeitplan über das Gerichtsende bietet, betont sie immer wieder die Bedrohlichkeit des Gerichts für die Sünder, indem sie wiederholt die angedrohte Vernichtung mit dem Zeitfaktor „schnell“ bzw. „plötzlich“ versieht (94,1.6.7; 95,6; 96,1.6; 97,10; 98,16).9 Die „Schnelligkeit“ oder „Plötzlichkeit“ des Gerichts ist dabei zum Topos geworden,10 das Gerichtsende ist sehnlichster Wunsch, aber wohl keine unmittelbare Erwartung. Die AssMos, die nur noch mit einer kurzen Regierungszeit der Söhne des Herodes rechnet, sieht Zeit und Geschichte stärker dem Ende zueilen. Ein Schreckensherrscher, dessen Bild der syrische König Antiochus IV. abgibt, gehört zum Szenario der Zeit vor dem Ende. Jedenfalls sieht sich der Verfasser in der Endperiode, von der er sagt: „Von da ab werden die Zeiten ihrem Ende zugehen; plötzlich (wird sich schließen) ihr Lauf, (wenn) vier Stunden (gekommen sind).“ (7,1). Angesichts dieser noch andauernden Bedrohungssituation sollen die Frommen fasten und sich anschließend absondern, was am Beispiel eines Mannes mit Namen Taxo erzählerische Entfaltung findet (AssMos 9): Es gilt lieber zu sterben, als Gottes Gebote zu verletzen: „Denn wenn wir das tun und so sterben, wird unser Blut vor dem Herrn gerächt werden“ (9,7). Dementsprechend schildert die Schrift unmittelbar darauf die eschatologische Heilswende, die mit dem Anbruch der Herrschaft Gottes und dem Ende des Teufels in der ganzen Schöpfung einsetzt (AssMos 10). Anders steht es bei der Gerichtspredigt Johannes des Täufers. Was die Heilswende angeht, bleibt seine Aussage sehr zurückhaltend (Q 3,17). Seine Predigt richtet sich vor allem an solche Juden, die dem Ruf zur Umkehrtaufe noch nicht gefolgt sind (Q 3,7-9), die der Heilssetzung der Abrahamskindschaft vertrauen, ohne zu erkennen, dass diese längst verwirkt ist, das vorfindliche Israel sich also als Unheilskollektiv darstellt. Die überlieferten Drohworte wenden sich an solche Zeitgenossen, die aufgrund einer überholten Daseinsgewissheit („Abrahamskindschaft“) dem „kommenden Zorn“ zu entkommen meinen. Doch „schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt“ – das Zorngericht Gottes steht unmittelbar bevor. Ähnlich verhält es sich in Q 3,16b. Die dortige Ankündigung hat wohl dieselben intendierten Adressaten wie Q 3,7-9. In noch zugespitzterer Weise geht es darum, wie man dem „kommenden Zorn“ entrinnen kann. Johannes wirbt für seine Wassertaufe als letzter Möglichkeit, dem Vernichtungsgericht der Feuertaufe zu entgehen. 9 10
Vgl. G.W.E. NICKELSBURG, 1Enoch 1 (Hermeneia), Minneapolis 2001, 425. NICKELSBURG, 1Enoch 1, 461f.
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2. Jesus von Nazaret hat sich der Wassertaufe des Johannes unterzogen (Mk 1,9) und damit demonstriert, dass er die Gerichtsrede des Propheten Johannes für sich akzeptiert hat. Er folgt der Position des Täufers: „Gott wird in Kürze mit Hilfe eines endgültigen Gerichtshandelns seine universale Heilsordnung auf Erden durchsetzen.“11 Wie lange Jesus zum Täuferkreis gehört hat, ist unbekannt. Jesus selbst hat wahrscheinlich nicht getauft (entgegen der Joh 3,22 erwähnten Notiz, die allerdings 4,2 korrigiert). Man hat den Grund für diese Haltung in der Verzögerungsproblematik sehen wollen, die mit der akuten Naherwartung des Täufers eingesetzt haben dürfte. Angesichts seiner Überzeugung, dass die Axt schon an die Wurzel der Bäume gelegt ist, bot Johannes nach dieser Meinung die Taufe als symbolische Ersatzhandlung an, die die Aufrichtigkeit der Umkehr sichern sollte, weil keine Zeit mehr für ethische Taten bestand. „Wenn sich das Ende hinauszögerte, musste der innere Grund für diese ... Ersatzhandlung entfallen. Verzichtete Jesus vielleicht deshalb auf die Taufe, weil er überzeugt war, dass Gott den Menschen noch eine Chance und Zeit zur Umkehr lässt?“12 Diese Frage lässt sich nicht mit Sicherheit beantworten. Gleichwohl ist mit dem Stichwort Verzögerungsproblematik ein wichtiger Hinweis gegeben. Für den Täuferschüler Jesus musste mit dem Ausbleiben des Feuergerichts, das Johannes angekündigt hatte, eine Irritation eintreten. Eine Neuorientierung war nötig, die eine bessere Einsicht in Gottes eschatologischen Heilsplan ermöglichte. Dabei dürfte das Ausbleiben des Feuergerichts für Jesus ein erster Hinweis gewesen sein, dass Gott sein endgültiges Gerichtshandeln auf andere Weise durchsetzen würde. Und diese Neuorientierung geschah mit Jesu Vision vom Satanssturz aus dem Himmel (Lk 10,18). Dass hier am ehesten der Ursprung seines besonderen Selbstverständnisses greifbar ist, ergibt sich, wenn der ursprüngliche Aussagekontext des Visionsberichts geklärt ist. Aufgrund überlieferungsgeschichtlicher Beobachtungen zu Lk 10,17-20 lässt sich zeigen, wie der Evangelist Lukas das ihm bereits überlieferte Logion bearbeitet hat. Zunächst fallen zwei theozentrisch orientierte Zeilen auf, V.18b und 20b: „Wie der Herabsturz des Satans aus dem Himmel ... auf die Heilsinitiative Gottes zurückgeht, so gilt 11 12
M. WOLTER, „Gericht“ und „Heil“ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer, in: J. SCHRÖTER / R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 355-392: 368. G. THEIßEN / A. MERZ, Gerichtsverzögerung und Heilsverkündigung bei Johannes dem Täufer und Jesus, in: G. THEIßEN, Jesus als historische Gestalt (FRLANT 202), Göttingen 2003, 229-253: 235.
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dies nach Ausweis des Passivum divinum evgge,graptai auch von der Aufnahme der angesprochenen Jünger in die himmlische Bürgerschaft.“ Damit konkurriert aber „die christologische Perspektive“ in der mittleren Passage V.19, die die Vollmacht „über alle Macht des Feindes“ nicht auf die himmlische Entmachtung des Satans, sondern auf einen Hoheitsakt Jesu zurückführt13. Hier spricht sich die lukanische Redaktion aus, die zudem den Anfang von V. 20 anfügt, der die Äußerung der Jünger aus der ganzen Einleitung der Perikope in V.17 aufgreift, die ihrerseits auf Lukas zurückgeht. Überlieferungsgeschichtlich vorgegeben bleiben die beiden theozentrisch orientierten Zeilen (V.18b.20b): „Ich sah den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel stürzen ... Freut euch, dass eure Namen im Himmel (jetzt) aufgeschrieben sind!“
Der Evangelist Lukas hat das ganze Logion in der Weise bearbeitet, „dass er seinen Kommentar nicht an das Logion angehängt, sondern diesem eingepflanzt hat“14, was sich an weiteren Beispielen zeigen lässt, wo Lukas in gleicher Weise Q-Spruchmaterial aufgefüllt hat.15 Welchen Aussagesinn hat das ursprüngliche Logion? Es geht um einen Aufruf zum Jubel, weil der Satan als Ankläger der Menschen aus seiner himmlischen Position entfernt ist (vgl. Hi 1,6-12; Sach 3,1-4; Offb 12,7-10). Die Konsequenz des Satanssturzes ist dabei die Aufnahme der Namen aller derer, die er vor Gott verklagte, in das Buch des Lebens.16 Beide Aspekte meinen Ereignisse im Himmel: Dem Sturz des Satans aus dem Himmel korrespondiert die Aufnahme der Namen im himmlischen Bereich. Für die zum Jubel Angerufenen hat sich bereits erfüllt, was Dan 12,1 verheißt: „Doch in jener Zeit wird dein Volk gerettet werden, jeder, der sich aufgezeichnet findet in dem Buch.“ Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, dass der Aufruf zum Jubel das Heil Israels meint: „Gott ist ... zum Heil seines Volkes entschlossen.“17 Dabei ist vorausgesetzt: Wer in dem Buch aufgeschrieben steht, ist jetzt frei von Schuld. Alttestamentliche Tradition kennt die Vorstellung eines himmlischen Buches, in das Gott die Namen der Reingewaschenen und deshalb Gerechten eintragen lässt (Jes 4,3f.; vgl. aber auch Ex 32,32f.; Ps 69,28f.; Jub 19,9; äthHen 47,3f.;104,1) – ein Vorgang, den der Aufruf zur Freude als im Himmel bereits vollzogen voraussetzt. Lk 10,20 lässt deshalb den eschatologischen Jubel erklingen, wie ihn die Prophetie 13 14 15 16 17
M. THEOBALD, „Ich sah den Satan aus dem Himmel stürzen...“ Überlieferungskritische Beobachtungen zu Lk 10,18-20, BZ NF 49 (2005), 174-190: 179. THEOBALD, Beobachtungen, 183. Z.B. Q 6,27f.35cd; Q 12,51.53; Q 15,4-5a.7. Hiermit modifiziere ich meine Meinung, die ich einst in U.B. MÜLLER, Vision und Botschaft (Anm. 6) vertreten habe. THEOBALD, Beobachtungen (Anm. 13), 182.
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formuliert hat (Zeph 3,14-17; vgl. Jes 12,6; Sach 2,14). Gott hat sich zu einem neuen Heilshandeln aufgemacht, und Jesu Zuwendung gerade auch zu Zöllnern und Sündern steht unter diesem Vorzeichen (z.B. Mk 2,17). Das Logion Lk 10,18b.20b passt in seiner besonderen Prägung zur sonstigen Verkündigung Jesu; denn als Aufruf zum Jubel zeigt das Logion eine Spruchgattung, die den Seligpreisungen formal wie inhaltlich vergleichbar ist (Q 6,20f.; 10,23f.). Jesus proklamiert in den Makarismen, dass Gott jetzt ein neues Erwählungshandeln veranstaltet. Gleichwohl ist von vornherein wichtig, wie Jesu Zeitgenossen sich zu diesem Heilsangebot stellen. Einerseits gilt, dass in Jesu Wirken sich die eschatologische Heilswende abzeichnet (Q 7,22), andererseits heißt es (Q 7,23): „ ... selig ist, wer an mir nicht Anstoß nimmt.“
Wer Jesu Botschaft annimmt, wird auf die Heilsseite zu stehen kommen; wer sich ihr verschließt, verwirkt die Rettung. Darin besteht Übereinstimmung mit der Botschaft Johannes des Täufers. Dennoch signalisiert Jesu Logion Lk 10,18b.20b grundlegend Neues: Israel ist nicht mehr Unheilskollektiv, sofern es das Heilsangebot annimmt. Die Vision vom himmlischen Satanssturz Lk 10,18 hat aber noch weitergehende Bedeutung, die der Aufruf zur Freude in 10,20b nicht unmittelbar zum Ausdruck bringt. Dieser konzentriert sich auf die Heilsaussage, wonach die Namen der Angesprochenen im Himmel aufgezeichnet sind. Doch meint die Entmachtung des Satans darüber hinaus, dass die dämonischen Schadensmächte auf Erden weichen müssen. Jüdische Tradition handelt von Gott, der Beliar binden wird, und „er wird seinen Kindern Macht geben, auf die bösen Geister zu treten.“ (TestLevi 18,12). Gott wird siegreich Krieg gegen Beliar führen, und „die Gefangenen wird er Beliar abnehmen.“ (TestDan 5,10f.). In diesem umfassenderen Sinne hat Jesus den himmlischen Satanssturz interpretiert, wenn er „mit dem Finger Gottes“ die Dämonen austreibt (Lk 11,20). Jedenfalls hat Jesus das himmlische Geschehen dahingehend gedeutet, dass die in der Sphäre Gottes bereits gesetzte Realität sich zum Durchbruch auch auf der Erde anschickt18. Es erfüllt sich, was jüdische Hoffnung so formuliert (AssMos 10,1): „Und dann wird seine (d.h. Gottes) Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen und dann wird der Teufel nicht mehr sein, und die Traurigkeit wird mit ihm hinweggenommen sein.“
Mit dem Satanssturz sind die himmlischen Weichen für den irdischen Durchbruch der Gottesherrschaft gestellt und damit das Ende der tristi18
MÜLLER, Vision und Botschaft (Anm. 6), 14.
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tia (AssMos 10,1) angesagt, womit nicht so sehr die subjektive Befindlichkeit, sondern die umfassende Bedrängnis der Menschen durch die Schadenseinwirkung des Teufels gemeint ist.19 Das bedeutet für Jesus: Mit der von ihm verkündeten Gottesherrschaft ist „die irdische Präsenz des Himmlischen“ gemeint; es geht ja darum, „daß eine im Himmel bereits bestehende Wirklichkeit in den Exorzismen Jesu irdische Realität gewinnt.“20 (Lk 11,20). Im Kontext seiner Überzeugung vom himmlischen Sturz des Satans vermag er seine Dämonenaustreibungen als integralen Bestandteil der Realisierung der Gottesherrschaft zu begreifen (Lk 11,20). Und wahrscheinlich liegt in dieser aufgrund der Vision gezogenen Konsequenz eine Innovation jüdischen Denkens vor, wonach in seinem Handeln sich das punktuell verwirklicht, was im Himmel ewige Realität ist. Jesu Zeitgenossen haben das wohl als anstößig empfunden, wenn man bedenkt, wie Jesus bemüht ist, zweifelnden oder ablehnend reagierenden Menschen nahe zu bringen, dass seine Exorzismen nicht im Bündnis mit Beelzebul erfolgen, sondern „mit dem Finger Gottes“ als Anbruch der Gottesherrschaft geschehen (Q 11,19f.). Entsprechende Überlegungen ergeben sich bezüglich des gewiss authentischen Bildworts von der Bindung des „Starken“ (Mk 3,27). Es setzt Gott als Subjekt voraus,21 der den „Starken“ gebunden hat, und hat somit den Sturz des Satans (des „Starken“) im Blick; zugleich steht es in sachlichem Zusammenhang mit Jesu Exorzismen.22 Mk 3,27 sagt: „Niemand kann hineingehen in das Haus des Starken und seine Gefäße rauben, wenn er nicht zuerst den Starken gebunden hat.“
Vor einem anscheinend zweifelnden Publikum, das zwar Jesu erfolgreiche Exorzismen zur Kenntnis nimmt, sie aber nicht als Erweis der bereits erfolgten Entmachtung des Satans und damit als Ausdruck der Gottesherrschaft anerkennt, betont das Wort: „Erst muß der himmlische Repräsentant der Dämonenwelt ‚gebunden’, d.h. überwältigt sein, bevor es möglich ist, das, was ihm zugeordnet ist, seinen ‚Hausrat’ ... zu plündern.“23 Das Wort Mk 3,27 aktiviert damit eine weisheitliche Klug19 20 21
22 23
J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 109, Anm. 13. M. WOLTER, „Was heisset nu Gottes reich?“, ZNW 86 (1995), 5-19: 14. B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter (FRLANT 170), Göttingen 1996, 191; M. EBNER, Jesus – ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozess (HBS 15), Freiburg u.a. 1998, 371f.; THEOBALD, Beobachtungen (Anm. 13), 189f.; anders BECKER, Jesus, 231. Der futurische Schlusssatz in Mk 3,27 „und dann wird er das Haus ausplündern“ ist wie Mk 2,20 christliche Adaption des Spruches, die ihre spätere Praxis im Blick hat. EBNER, Jesus (Anm. 21), 370. „Gefäße“ (bzw. „Hausrat“) sind hier wohl die Besessenen, die der Exorzist der Verfügung des Satans entreißen kann (vgl. TestNaph 8,6: Wer das Gute nicht will, den wird der Teufel bewohnen „wie sein eigenes Gefäß“. Ähnlich ApkMos 16 und 26).
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heitsregel, wonach man den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun darf, will man Erfolg haben. Von den erfolgreichen Exorzismen lässt sich zurückschließen – so die Argumentation – auf das primäre Geschehen, das die Dämonenaustreibungen überhaupt ermöglicht hat: „Die Exorzismen setzen die Überwältigung des Satans generell voraus.“24 An dieser Stelle ist einem möglichen Missverständnis zu begegnen. Die eben erwähnte Argumentationstendenz von Mk 3,27 könnte zu der Schlussfolgerung verleiten, Jesus selbst habe sein besonderes Sendungsbewusstsein allein aufgrund der Erfahrung gewonnen, dass die Dämonen weichen und Kranke gesund werden, nicht aber als Folge der Vision vom Satanssturz.25 Und in der Tat – der Spruch vom Starken geht davon aus, dass Jesus besondere Exorzismen gelungen sind und dies die Annahme des Satanssturzes nahe legt. Diese Aussagetendenz ergibt sich aber nur aufgrund der besonderen Frontstellung, bei der sich Jesus gegenüber zweifelnden Zeitgenossen verteidigen will. Dabei argumentiert Jesus, wie gesagt, mit Hilfe einer Klugheitsregel, die nahelegt, dass die geschehenen Exorzismen als grundlegenden ersten Schritt die Entmachtung des Satans voraussetzen. Das Wort hat somit eine Art apologetischer Zielrichtung. Es gibt aber keinen Hinweis, wie Jesus selbst sein besonderes Verständnis der Heilswende gewonnen hat. Das ursprüngliche Logion Lk 10,18b.20b ist demgegenüber aussagekräftig: Der Visionsbericht vom Satanssturz ist die grundlegende Basis für den Aufruf zum eschatologischen Jubel angesichts der von Gott initiierten Heilswende. Nur darum konnte Jesus des Schluss ziehen – und ein vorgegebenes jüdisches Denkmodell bot die sprachlichen Möglichkeiten – die göttliche Entmachtung des Satans zeige an, dass die Gottesherrschaft auch irdisch Raum gewinnt in seinen Exorzismen. Denn in AssMos 10,1 ist das Ende des Satans Konsequenz der Gottesherrschaft, gleichzeitig aber auch die Voraussetzung, dass mit dem Ende des Satans die irdische Bedrängnis aufhört. Ganz ähnlich handelt TestLevi 18,10-14 vom zukünftigen Anbruch der Heilszeit, bei dem Beliar von Gott gebunden, d.h. entmachtet wird, und somit Gottes Kinder, d.h. Israel, Macht über die bösen Geister auf Erden erlangen (vgl. auch TestSim 6,6).26 Die Deutung seiner gelungenen Exorzismen als „mit dem Finger Gottes“ gewirkt und somit integraler Bestandteil der 24 25 26
EBNER, Jesus, 370. Vgl. aber P.W. HOLLENBACH, The Conversion of Jesus: From Jesus the Baptizer to Jesus the Healer, ANRW II 25/1 (1982), 196-219; BECKER, Jesus (Anm. 19), 132 f. Dieses Denkmodell setzt kein streng dualistisches System voraus, wie es etwa in 1QM (Gott versus Beliar) und wohl auch TestDan 5,10-13 formuliert ist, wie ja auch Jesus in seiner sonstigen Verkündigung nicht eigentlich dualistisch, sondern eher monistisch denkt (vgl. BECKER, Jesus [Anm. 19], 132f. 222-224).
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anbrechenden Gottesherrschaft ist also sachlich wohl ein zweiter Schritt, der den ersten, die visionär vermittelte Gewissheit, voraussetzt (Lk 10,18). Ist diese Schlussfolgerung richtig, ist die Vision vom Satanssturz gleichwohl kein isoliertes „Schlüsselerlebnis“, sondern intendiert eine Erkenntnis, die möglicherweise einen längeren Verlauf voraussetzt, wozu gelungene Exorzismen gehört haben können, aber ebenso die Notwendigkeit, angesichts der Verzögerung des göttlichen Gerichts, das der Täufer angekündigt hatte, die Zeitsituation eschatologisch neu zu deuten. Doch bleibt es bei der Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Visionserfahrung Jesu, die allererst die spezifische Wertung seiner Exorzismen ermöglichte.
3. Das eschatologische Gerichtshandeln Gottes hat im Himmel mit dem Satanssturz eine eindeutige Markierung geschaffen. Dabei lässt sich zeigen, inwiefern sich dieses Gericht als Heil oder Unheil für die Menschen, d.h. konkret Israel, auswirkt, je nachdem diese Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft annehmen oder sich ihr verweigern. Ist mit dem Sturz des Satans der Ankläger der Menschen entmachtet und ruft Jesus deshalb die Menschen zum Jubel darüber auf, dass Gott zu ihrem Heil entschlossen ist (Lk 10,18b.20b), so findet dieses Geschehen seine besondere irdische Konkretion in Jesu Hinwendung zu Zöllnern und Sündern (Mk 2,17) als geradezu exemplarischen Vertretern des verlorenen Israel. Dabei versucht er mit den Gleichnissen vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme seine Zuhörer mit der metaphorischen Überzeugungskraft der Sprache für die Einsicht zu gewinnen, dass Gott selbst das verlorene Israel sucht. In Lk 15,4f = Mt 18,12f ist der Hirte, der ein verirrtes Schaf nicht aufgibt, der sich zudem über das gefundene Schaf freut, der allein Handelnde; ähnlich steht es bei der Frau, die von zehn Drachmen eine verloren hat: Sie sucht bis sie sie gefunden hat und ruft zur Mitfreude über das Gefundene auf (Lk 15,8f). Die Zuhörer der Gleichnisse werden dem ganz natürlichen Verhalten des Hirten wie der Frau zugestimmt haben. So aber haben sie zu Jesu Gleichnisrede Ja gesagt und sind mit der Gottesherrschaft, die Jesus vertritt in Beziehung gekommen: „Denn sie verstehen: Gott hat sich nach ihnen auf die Suche gemacht, sie gerade gefunden und freut sich über die erfolgreiche Suche.“27 Da aber für die Zuhörer Jesus derjenige ist, der den Anbruch der Gottesherrschaft an27
BECKER, Jesus (Anm. 19), 175.
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sagt, erfahren sie seine Hinwendung zu Zöllnern und Sündern als Einladung in die Gottesherrschaft. So betrachtet erweisen sich die beiden Gleichnisse in Lk 15 als Konsequenz und erzählerische Konkretisierung dessen, was sich Jesus angesichts der Vision vom Satanssturz erschlossen hat und zum Aufruf führte: „Freut euch, dass eure Namen (jetzt) im Himmel aufgeschrieben sind!“ (Lk 10,20). In der Parabel vom verlorenen Sohn Lk 15,11-32 kommt der Aspekt der Freude doppelt zum Ausdruck: im Ruf zur Freude über den heimgekehrten jüngeren Sohn (V.23f) und in der Proklamation einer neuen Ordnung der Gottesherrschaft gegenüber dem Älteren, der sich zu verweigern droht: „Man musste doch (einfach) feiern und sich freuen …“ (V.32). Bei der Schilderung des älteren Sohnes, der seine Leistungen gegenüber dem Vater aufzählt (Lk 15,29), wird man unwillkürlich an den Pharisäer erinnert, der Gott gegenüber seine vorbildliche Gesetzesfrömmigkeit betont und sich vom Zöllner abgrenzt (Lk 18,11f). Und in der Tat: Im Gegenüber von jüngerem und älterem Sohn in Lk 15 findet sich eine wohl nicht zufällige Analogie von Zöllner und Pharisäer in Lk 18,10-14a. Während allerdings die Parabel Lk 15,11ff die Einladung zum Mitfeiern gegenüber dem älteren Sohn offen hält, ja der Vater um ihn wirbt (V.32), ergeht in Lk 18,10-14a die Reaktion Jesu dem Pharisäer gegenüber als Verurteilung (V.14a): „Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, jener nicht.“ Bei der Gestalt des älteren Sohnes in Lk 15 hat die Parabel wohl eine Frömmigkeitshaltung im Blick, die der der Pharisäer entspricht, der „Gerechten“ also, um die Jesus hier wirbt. Umso mehr muss die Abgrenzung auffallen, die das Urteil in Lk 18,14 ausspricht. „Die alternativlose Grundsätzlichkeit des jeweiligen Standpunktes wird am ehesten verständlich, wenn man annimmt, dass Lk 15,11-32 früher gesprochen worden ist als Lk 18,10-14a. Das Gleichnis vom Vater und seinen beiden Söhnen ist dann einer Phase des Wirkens Jesu zuzuordnen, in der dieser hoffte, seine pharisäischen Kontrahenten für sich zu gewinnen…. Das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner … spiegelt demgegenüber wider, dass die Hoffnung von Lk 15,11-32 trog.“28 Zahlreiche Parallelen in der Jesusüberlieferung unterstützen diese Schlussfolgerung, einmal was die Werbung um die sog. Gerechten angeht, als auch ihre Verurteilung durch Jesus.29 Den Endpunkt dieser Auseinandersetzung markiert dann ein polemisches Wort wie Mt 21,31: „Amen, ich sage euch: Zöllner und Dirnen werden vor euch in die Gottesherrschaft eingehen“, sofern man nicht doch eher wegen des zugrunde liegenden Semitismus übersetzen muss: Diese
28 29
RAU, Jesus (Anm. 4), 120. RAU, Jesus (Anm. 4), 100ff bzw. 122ff.
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„werden in die Gottesherrschaft eingehen, ihr nicht.“30 Dies wäre eine genaue, auch sprachliche Parallele zu Lk 18,14a: „ … jener nicht.“ Sachlich gehören hierher jene Wehe-Rufe gegen die Pharisäer, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit authentisch sind, was bei Q 11,42.39b.44 der Fall sein dürfte.31 Obwohl das prophetische „Wehe“ ursprünglich eine Ankündigung bzw. eine Preisgabe an das Gericht Gottes beinhaltet, sind diese Wehe-Rufe „als letzte, vom Gericht her motivierte Umkehrrufe“ zu interpretieren.32 Denn eine Gerichtsankündigung fehlt; anstelle der begründenden Denn-Sätze wäre solch eine Ansage des Gerichtsvollzugs denkbar gewesen. Die Einschätzung als Umkehrruf unterstützt auch das Vorkommen eines Mahnwortes im Kontext des Wehe-Rufs (Mt 23,26 par).
4. Das eschatologische Gerichtshandeln Gottes hat für Jesus bereits begonnen. Er hat den Satan wie einen Blitz vom Himmel stürzen sehen. Gott wird seine umfassende Heilsordnung auf Erden durchsetzen. Jesus ermuntert seine Zuhörer, Gott im Gebet darum anzugehen, in Gestalt seiner weltordnenden Theophanie einzuschreiten und seine Königsherrschaft zu vollenden: „Deine Herrschaft komme!“ (Lk 11,2)33. Gleichwohl muss Jesus feststellen, dass viele Zuhörer überhaupt nicht realisieren, was die Stunde geschlagen hat, dass Gott zu seinem endgültigen Gerichtshandeln entschlossen ist, dabei Israel eine umfassende Heilsmöglichkeit eröffnet hat: „Freut euch, dass eure Namen (jetzt) im Himmel aufgeschrieben sind.“ (Lk 10,20b). Wie Johannes der Täufer sieht er sich genötigt, eine letztlich indifferente Öffentlichkeit, die sich mit dem Blick auf vermeintlich noch größere Sünder in Sicherheit wiegt (die von Pilatus getöteten Sünder etwa), mit Verweis auf das bevorstehende Gericht zur Umkehr zu bewegen (Lk 13,1-5). Auffällig ist ja, dass die Umkehrforderung „Wenn ihr nicht umkehrt, werdet ihr alle genau so umkommen.“ (Lk 13,3.5) nicht durch das neu verkündete Heil moti30 31
32 33
J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 118f. Mt 23,23-27 hat wohl die ursprüngliche Reihenfolge der Weherufe in Q erhalten. Für die umstrittene Authentizität der betreffenden Worte spricht sich mit guten Gründen CH. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (EHS.T 653), Frankfurt a.M. u.a. 1999, 97-133 aus. RAU, Jesus (Anm. 4), 126-143, setzt die Ursprünglichkeit voraus. RINIKER, Gerichtsverkündigung, 132. Zum Theophaniegedanken, der hinter den beiden ersten Vaterunser–Bitten als Theophaniebitten steht vgl. U.B. MÜLLER, Auferweckt und erhöht. Zur Genese des Osterglaubens, NTS 54 (2008), 201-220: 206-209.
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viert ist, sondern durch das drohende Gericht. Jesus sieht seine Zeitgenossen, die die bedrohliche Gerichtssituation nicht erkennen, in ähnlicher Verlorenheit wie Johannes der Täufer seine Adressaten: „ … wer hat euch weisgemacht, ihr würdet dem kommenden Zorn entfliehen. Bringt Frucht, die der Umkehr entspricht!“ (Q 3,7f). Die Umkehr ist letzte Rettungsmöglichkeit. Wahrscheinlich hat Jesus diese seine Gerichtsdrohung gegenüber seinen Anhängern bzw. Zuhörern begründet oder besonders gerechtfertigt. Dies mag deswegen nötig gewesen sein, weil seine anfängliche Verkündigung sich wohl auf das für ihn und seine Zuhörer Neue konzentrierte, die Heilsansage der anbrechenden Gottesherrschaft. Weil viele sich diesem Zuspruch verweigerten, sah Jesus sich genötigt, den Unheilsaspekt göttlichen Gerichtshandelns zu betonen und plausibel zu machen. Jedenfalls scheint dies der Sinn der Parabel Lk 13,6-9 zu sein. Bei näherem Hinsehen zeigt die Parabel zunächst dieselbe Pointe wie Lk 13,1-5, nur dass die Aussage metaphorisch im Blick auf einen unfruchtbaren Feigenbaum formuliert ist.34 Wie ein Feigenbaum, dessen Unfruchtbarkeit schon erwiesen scheint, doch ausnahmsweise noch einmal Schonung erfahren kann, falls er aber auch dann nicht Frucht trägt, abgehauen wird, so werden alle umkommen, die nicht zur Umkehr bereit sind. Beachtlich ist bei der Parabel jedoch die Dialogisierung auf der Bildebene. Der Weinbergbesitzer der Parabel muss schon drei Jahre lang feststellen, dass der Feigenbaum, der in seinem Weinberg steht, keine Frucht trägt. Zu seinem Weingärtner sagt er deshalb: „Hau ihn ab, was saugt er noch das Land aus?“ Es kommt zur Fürsprache des Weingärtners: „Herr, lass ihn noch dieses Jahr, bis ich um ihn herum gegraben und Dünger gelegt habe!“ Er erwägt die Möglichkeit: „Und wenn er in Zukunft Frucht bringen sollte…“, ohne allerdings den Nachsatz auszuführen, vielmehr in Gestalt einer Aposiopese den Satz abzubrechen, was Ausdruck der Erregung sein dürfte,35 was durch die übliche Übersetzung: „ … vielleicht bringt er in Zukunft Frucht“ verdeckt wird. Der Weingärtner schließt mit der bedrohlichen Erklärung: „Wenn aber nicht, wirst du ihn (den Feigenbaum) abhauen.“ Die Reaktion des Weinbergbesitzers wird nicht mehr erzählt, vielmehr überlässt die Parabel dem Zuhörer die Schlussfolgerung: Wie der Feigenbaum abgehauen wird, so werden alle umkommen, die nicht umkehren. Man hat nun gefragt: Dient die Einführung der Gestalt des Weingärtners in der Parabel nur dem Ziel, die Schilderung dramatischer zu 34 35
Die Sprache der Parabel ist weitgehend vorlukanisch, vgl. J. JEREMIAS, Die Sprache des Lukasevangeliums (KEK Sonderband), Göttingen 1980, 227f. BDR § 454,4 und 482.
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gestalten?36 „Oder steht mehr dahinter – verbirgt sich hinter dem fürbittenden Gärtner … Jesus selbst?“37 Dem ist das alte Argument dagegen zu halten: Wie konnte man verkennen, dass die Parabel Lk 13,6-9 nur dieses Warnungswort 13,1-5 unterstützen und rechtfertigen will?38 Die Hörer der Parabel Jesu „sollen auf einem ganz fern liegenden Gebiet, wie es die Behandlung eines unfruchtbaren Feigenbaums ist, das Urteil fällen: ‚Dann muss er eben abgehauen werden’“, um ihrerseits überführt zu sein, dass für sie das Entsprechende gilt: die endgültige Katastrophe, wenn sie nicht umkehren.39 Dabei gilt es zu beachten: Die Notwendigkeit, die Botschaft von Lk 13,1-5 mit der erzählerischen Kraft der Parabel 13,6-9 für die Zuhörer plausibel zu machen, ja zu rechtfertigen, liegt für Jesus wohl in der von ihm selbst, besonders aber von den Zuhörern (auch seinen Anhängern) empfundenen konsequenten Härte dieser Botschaft, die angesichts der Indifferenz bzw. Verweigerung der Adressaten, die Gerichtsdrohung (analog der Johannes des Täufers) aufgreift.
5. Jesu Gerichtsworte setzen die teilweise Erfolglosigkeit der Botschaft Jesu und damit die Ablehnungserfahrung voraus und stellen das Unheilsgeschick derer fest, die sich der Heilsperspektive seiner Botschaft, ja seiner Person verschlossen haben (z.B. Q 11,31f; 13,29.28).40 Man hat sie als Drohworte verstehen wollen; gleichwohl sind auch Jünger als Hörer vorauszusetzen, die die Worte überliefert haben. Diesen gegenüber vermitteln solche Worte die Überzeugung, dass „diese Generation“, die sich Jesu Botschaft verweigert hat, der Verurteilung im Gericht entgegen geht; die Jünger Jesu aber konnten diese Worte „zum Durchhalten ihrer Heilsorientierung“ motivieren.41 Anders steht es bei den Wehe-Worten gegen Chorazin und Bethsaida (Q 10,13f), zu denen noch das Wehe-Wort gegen Kapernaum gehört (Q 10,15). Die Echtheit dieser Worte ist wahrscheinlich; denn „die Polemik gegen Israel unter ‚positiver’ Berufung auf heidnische Städte, der angesprochene geographische Bereich und das eschatologische Wunderverständnis sprechen für Jesus.“42 Die Worte heben sich von 36 37 38 39 40 41 42
Vgl. J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 71965, 170. Ebd. A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu 2. Teil, Darmstadt 1976 (= Tübingen 21910), 441. JÜLICHER, Gleichnisreden, 442. Vgl. E. RAU, Q-Forschung und Jesusforschung, ETL 82 (2006), 373-403: 390f. WOLTER, Gericht und Heil (Anm. 11), 378f. 382. RINIKER, Gerichtsverkündigung (Anm. 31), 328.
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urchristlichen Israel-Predigern (etwa der Spruchquelle Q) deutlich ab, insofern gar nicht ganz Israel angesprochen wird. „Vor allem aber würde die Ablehnung Jesu im Rückblick auf sein Leben kaum ihren Höhepunkt in Kapernaum finden, sondern in Jerusalem als Ort seiner Hinrichtung.“43 Die Worte scheinen den Abschluss von Jesu eher erfolgloser Tätigkeit in Galiläa vorauszusetzen. Das Wort gegen Chorazin und Bethsaida beginnt mit dem WeheRuf (Q 10,13a), dem die Begründung in Gestalt des Schuldaufweises folgt (Q 10,13b). 10,14 enthält die Unheilsankündigung. Dass 10,13f eine ausdrückliche Unheilsansage bringt, unterscheidet dieses WeheWort von den Wehe-Rufen gegen die Pharisäer, denen eine solche Gerichtsankündigung gerade fehlt (Q 11,39-48). An Q 10,13f schließt sich die Gerichtsrede gegen Kapernaum an, die einen ursprünglichen Zusammenhang mit den Wehe-Rufen gegen Chorazin und Bethsaida voraussetzt, wobei die Fortsetzung mit „und du, Kapernaum…“ als variierende Weiterführung des vorangehenden Wehe-Rufes sinnvoll ist44. Die Verurteilung Kapernaums fällt noch schroffer aus als diejenige der beiden vorher genannten Orte. Q 10,15 ist eigentlich nur eine Unheilsansage ohne Begründung. Die einleitende rhetorische Frage: „ … wirst du etwa zum Himmel erhöht werden?“ will Kapernaum durch die sarkastische Anspielung auf das heidnische Babel (Jes 14,13.15) bloßstellen. Q 10,15 ist damit ausschließliche Unheilsansage: Statt in den Himmel erhöht, wird Kapernaum von Gott an den „Ort der Qual“ hinabgestürzt werden.45 Wem gegenüber sind die Worte gesprochen worden? Man hat nun gesagt: Die Wehe-Rufe sind eher Worte über diese Städte. Ihre Bewohner sind nicht mehr als die fiktiven Adressaten, weil diese Worte den definitiven Abbruch der Kommunikation mit ihnen voraussetzen. Die tatsächlich intendierten Adressaten seien aber die realen Hörer, d. h. der Jüngerkreis Jesu, nicht mehr die Bewohner dieser Städte, zu denen der Kontakt bereits abgebrochen ist. Die fraglichen Worte dienen der Vergewisserung und Stabilisierung der realen Hörer im Jüngerkreis Jesu, um die von der Ablehnung Jesu ausgehende Verunsicherung unter seinen Anhängern aufzufangen.46 Weil die Wehe-Rufe sicher in Gegenwart von Jüngern Jesu ausgesprochen wurden, werden sie in der
43 44 45 46
G. THEIßEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien (NTOA 8), Fribourg/Göttingen 1989, 54. RINIKER, Gerichtsankündigung (Anm. 31), 315. M. SATO, Q und Prophetie (WUNT II 29), Tübingen 1988, 131f. Richtig REISER, Gerichtspredigt (Anm. 1), 215: „ Hier wird mit absoluter Autorität das Urteil des eschatologischen Richters verkündet.“ WOLTER, Gericht und Heil (Anm. 11), 379f. 385.
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Tat auch diese genannte Funktion gehabt haben. Ihre eigentliche Intention aber liegt letztlich woanders. Man wird doch wohl vom Machtcharakter prophetischer Unheilsworte reden müssen, die wie in alttestamentlicher Prophetie auch bei Jesus Unheil bewirken bzw. in Gang setzen sollen (vgl. Jes 9,7; Jer 5,14; 6,11f.; Ez 12,25.28; Jes 55,10f). Es liegt hier wahrscheinlich eine Entsprechung vor: Wie Jesus sein punktuelles Heilshandeln als entscheidenden Bestandteil der Durchsetzung der Gottesherrschaft verstand (Lk 11,20), so beansprucht er auch für seine Gerichtsrede bzw. Unheilsansage, dass er damit Gottes Gerichtshandeln wiederum punktuell vollzieht. Wenn Jesus in Q 10,13f.15 für die drei galiläischen Orte Unheil ankündigt, so geschieht dies deshalb, weil die dortigen Bewohner sich geweigert haben, „sein Wirken als den eschatologischen Einbruch der Gottesherrschaft in die Unheilswirklichkeit Israels zu identifizieren.“47Jesu Worte in Q 10,13f.15 markieren in der Tat das endgültige Ende der Kommunikation mit den galiläischen Orten und signalisieren, was man die „galiläische Krise“ genannt hat.48
6. Auch Lk 13,32 deutet im Blick auf andere Motive eine Abkehr Jesu aus Galiläa an, wenn Jesus, vor Nachstellungen seines Landesfürsten Herodes Antipas gewarnt, antwortet: „Geht und sagt diesem Fuchs: Siehe, ich treibe Dämonen aus und vollbringe Heilungen heute und morgen. Aber am dritten Tage bin ich am Ziel.“
Die Bedrohung durch den Fürsten hindert Jesus nicht daran – trotz der Erinnerung an die Hinrichtung Johannes´ des Täufers durch diesen – sein Werk in der ihm gegebenen Zeit durchzuführen; dann aber – so seine Überzeugung – wird ihm von Gott der Abschluss seines Wirkens gesetzt, ist er am Ziel. Lk 13,31f könnte ein Ausweichen aus Galiläa bedeuten. Warum Jesus anschließend (?) zum Passa–Fest nach Jerusalem zog, ist damit noch nicht gesagt. Doch wird Jesus nicht allein deshalb zum Fest gezogen sein, „wie es ganz Israel durch ewige Satzung vorgeschrieben ist“ (Tob 1,6f), sondern er hat „seinen möglichen Tod bewusst in Kauf genommen oder ihn sogar gewollt.“49 Diese alte These ist vor allem durch Jesu auffälliges Verhalten in Jerusalem wahrschein-
47 48 49
WOLTER, Gottes reich (Anm. 20), 15. MUßNER, Galiläische Krise (Anm. 3). U. LUZ, Warum zog Jesus nach Jerusalem? in: J. SCHRÖTER / R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 409-427: 421.
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lich gemacht,50 seine Zeichenhandlung im Tempel (Mk 11,15-16) und die Ankündigung seiner Zerstörung (Mk 13,2 bzw. 14,58) – Handlungen, von denen Jesus wissen konnte, dass sie die tödliche Gegenreaktion der Tempelaristokratie provozieren mussten. Man hat gemeint: „Die Symbolhandlung der so genannten ‚Tempelreinigung’ wird durch die Tempelprophetie interpretiert: Es ging hier nicht um eine Reform des Tempels innerhalb der gegenwärtigen Geschichte, sondern um sein Verschwinden mit dieser vergehenden Welt.“51 Gerade die in Mk 11,1516 beschriebenen Handlungen lassen sich wohl als zeichenhafte Verunmöglichung des Tempelkultes verstehen.52 Jedenfalls ist die Tempelprophetie eine Unheilsansage, die mit der Tempelzerstörung einen Aspekt eschatologischen Gerichts an Israel initiiert. Damit gewinnt Jesu Sendung eine besondere Kontur, die er mit den Worten grundsätzlich formulieren kann (s.u.) (Lk 12,49): „Feuer auf der Erde anzuzünden bin ich gekommen, und wie wünschte ich, dass es schon brenne …“
Wie Jesus mit seinem Heilshandeln punktuell bei der Realisierung der Gottesherrschaft engagiert ist (Lk 11,20), so sieht er sich andererseits auch gesandt, das Feuer göttlichen Gerichts auf Erden in Gang zu bringen. Jesus mochte zum Schluss gekommen sein, Israel besitze im Tempel das Fundament seiner religiösen Selbstgewissheit (vgl. die Abrahamskindschaft bei Johannes dem Täufer), während es sich dem Heil der von Jesus verkündeten Gottesherrschaft verschlossen hat. So konnte er dem Tempel das Ende durch göttliches Gerichtshandeln ansagen,53 wie er es im Falle der galiläischen Städte bereits getan hatte (Q 10,13f.15). Dieser Sichtweise Jesu dürfte das Logion Q 13,34f entsprechen. Es stellt ein Gerichtswort dar, das aus Lagehinweis als Anklage (V. 34), der Ankündigung des Unheils (V.35a) und einer weiteren Ankündigung besteht (V.35b). In der Anklage V.34 nimmt die erste Anrede Jerusalem in ihrer vergangenen Geschichte in den Blick: „Jerusalem, Jerusalem, 50 51 52
53
Vgl. A. SCHWEITZER, Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis (1901), in: DERS., Ges. Werke V, München o. J., 335f. G. THEIßEN / A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 32001, 381. Vgl. nur K. PAESLER, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament (FRLANT 184), Göttingen 1999, 244f. Zur möglichen Bedeutung von Sach 14,20f. als Hintergrund der „Austreibung“ der Händler siehe W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991, 207-209. Die Gestalt des Tempelwortes ist wohl nicht mehr sicher rekonstruierbar. Besonders PAESLER, Tempelwort, 87-91. 256-261, sieht in Mk 13,2b das ursprüngliche Wort Jesu, während Mk 14,58 bereits christologisch umgeformt sei. Andererseits spricht für eine ursprünglich zweiteilige Ansage (wie Mk 14,58), dass sich aus ihr Joh 2,19 und ThEv 71 besser erklären lassen.
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die die Propheten tötet und steinigt, die zu ihr gesandt sind…“ Mit der zweiten Anrede, unterschieden durch den Tempuswechsel (Aorist), kommt der Sprecher zu seiner eigenen Erfahrung: „… wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen…, aber ihr habt nicht gewollt.“ Der Sprecher stellt sich mit der ersten Anrede in eine Reihe mit den Propheten: wie jene wurde er abgewiesen. Er bezieht sich auf sie, „weil er sein Geschick in Analogie zu dem der Propheten und Gesandten versteht, nicht aber weil er als ein übergeschichtliches Subjekt sich mit dem Geschick der Propheten und Gesandten identifiziert.“54 Die Anklage V. 34 meint bei dem hier sprechenden „Ich“ den menschlichen Propheten Jesus, nicht die übergeschichtliche Gestalt der „Weisheit“. Die Unheilsansage V.35 verkündet, stilgemäß eingeleitet mit „siehe“: „Siehe, euer Haus wird euch (zum Unheil) verlassen werden.“ Hier liegt ein Passivum divinum vor: Gott wird das „Haus“ verlassen. „Haus“ könnte die Stadt Jerusalem bezeichnen (äthHen 89,50f.56; 90,28-30); wahrscheinlich aber ist der Tempel gemeint, insofern „Haus Gottes“ bzw. „Haus“ alttestamentlich das Heiligtum meint (z.B. Ex 23,19; Ri 18,31; 2Sam 12,20; 1Kön 8,16-21.31ff; aber auch Apg 7,47). Wenn nun Gott den Tempel verlässt, ist sein Schicksal besiegelt (vgl. Ez 10f.). JosBell 6,299f. bezeugt diese Vorstellung, und syrBar 8,2 formuliert bündig den Grund der Zerstörung des Tempels durch die Römer: „ … er (Gott), der das Haus bewahrte, hat es verlassen.“ Berücksichtigt man den Zusammenhang zwischen Anklage V.34 und Unheilsansage V.35a, ergibt sich die Aussage: Aus der Ablehnung, die Jesus von den Kindern Jerusalems erfahren hat, resultiert die Unheilsprophetie gegenüber dem Tempel als Heiligtum Israels. Was aber bedeutet die Fortsetzung in V.35b, eingeleitet durch die Formel „ich sage euch“? Man hat hier einen inhaltlichen Neuansatz sehen wollen, da V.35b weit über V.35a hinausweist.55 Jedenfalls ist zu berücksichtigen: „Vers 35a umschreibt in passiver Aussage Gottes Gericht an der Stadt, Vers 35b dagegen lässt den Sprecher… von sich selbst sprechen. Die Aussage greift also nicht auf die Gerichtsankündigung, sondern auf die Ablehnung Jesu zurück…“56 Das ist auffällig. V.35b scheint etwas nachtragen zu wollen, was nach der Anklage bezüglich der Ablehnung Jesu als Gerichtsansage als erstes zu erwarten gewesen wäre: die explizite Erwähnung jener, die sich Jesu Werbung verweigert haben (V.34b).
54 55 56
P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA NF 8), Münster 1972, 174. PAESLER, Tempelwort (Anm. 52), 251. HOFFMANN, Studien (Anm. 54), 178.
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In der Tat: Auf den ersten Blick überrascht die Gerichtsaussage gegen den Tempel nach der in V.34 formulierten Anklage. Diese betrifft die Weigerung der Angeredeten, der Sammlung Jesu zu folgen: „… ihr habt nicht gewollt.“ Man würde als erste Gerichtsaussage die Erwähnung jener Verweigerer erwarten, die dem Gericht verfallen. Das geschieht nicht sofort, sondern erst nach der Aussage über den Tempel. Das wirkt nachgetragen – als Ergänzung, weil V.35a dies noch nicht erwähnt hat. Natürlich macht die vorliegende unmittelbare Aufeinanderfolge von Anklage und Gerichtsankündigung der Tempelzerstörung Sinn, wenn man erkennt, dass der Tempel und sein Kult Israels Heilszuversicht garantiert und die Zerstörung desselben das Heilsvertrauen in Frage stellt. Dieser Sachverhalt lässt auch vermuten, welche besonderen Implikationen die Anklage enthält. Der Sprecher wirft Jerusalem und damit Israel vor, sein Heilsvertrauen auf den Tempel zu gründen, nicht aber seinem Versuch einer Sammlung („ der Kinder Jerusalems“) angesichts der anstehenden Gottesherrschaft Folge zu leisten. Das entspricht im Prinzip der Täuferanklage, sich auf die Abrahamskindschaft zu verlassen, statt Werke der Umkehr zu vollziehen. Sieht man Anklage (13,34) und erste Gerichtsansage (13,35a) in dieser Weise, erscheint ihre Abfolge als plausibel. Gleicherweise aber erweist sich V.35b als Nachtrag, weil die Tradenten der Gerichtsrede V.34.35a eine explizite Erwähnung der Angeredeten in der Gerichtsankündigung V.35a vermissten, was dann V.35b nachholt. Entsprechendes gilt für die Erwähnung Jesu in der Gerichtsansage, der ja das Subjekt der Anklage in V.34 ist und dessen christologische Karriere man in V.35b nachträgt. Q 13,34.35a wird doch wohl ein authentisches Wort Jesu sein, V.35b dagegen christlicher Zusatz der Q-Tradenten. Dass sich V.35b kaum als christlicher Zusatz abtrennen lässt, weil die ausführliche Anklage V.34 eine entsprechende breite Gerichtsankündigung erfordert einschließlich V.35b57, leuchtet nicht ein; denn die Unheilsansage an den Tempel V.35a ist gewichtig genug, um als Folge der Anklage überzeugend zu sein. Ein Haupteinwand gegen die Echtheit von Q 13,34f liegt in dem Bedenken: Wie hätte Jesus sagen können, er habe oftmals „deine Kinder“ (d.h. Jerusalems) sammeln wollen; sie aber hätten nicht gewollt? Die Synoptiker kennen schließlich nur eine Reise Jesu nach Jerusalem; sein Wirken konzentrierte sich aber auf Galiläa.58 Doch ist dieser Einwand problematisch, weil er zu einseitig „`deine’, nämlich Jerusalems 57 58
D. ZELLER, Jesus, Q und die Zukunft Israels, in: A. LINDEMANN (Hg), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 351-369: 358 Anm. 29. Vgl. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25) (EKK I/3), NeukirchenVluyn u.a. 1997, 380.
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`Kinder’, mit den Einwohnern Jerusalems identifiziert. Schon Paulus wusste, dass das vielmehr die Kinder Israels, die Israeliten sind (Gal 4,25). So kann also der Text schlicht und einfach bedeuten, dass sich der Sprecher (Jesus) intensiv und ausdauernd um die Kinder Israels bemüht hat…“59 Auch der Tempel („euer Haus“) ist eher das „Haus“ aller Juden als nur der Jerusalemer. So können beispielsweise „Jerusalem“ und „Israel“ gleichbedeutend nebeneinander stehen (PsSal 11,1.7.8).60 Gleichwohl drängt sich eine Erklärung auf, warum die Gerichtsrede Jesu einsetzt mit den Worten: „Jerusalem, Jerusalem…“, obwohl Israel als ganzes gemeint ist: „… wie oft habe ich deine Kinder sammeln wollen“. Nicht nur die Tatsache, dass die Erwähnung Jerusalems den Gedanken an Israel überhaupt assoziieren lässt, erklärt den Sachverhalt, sondern die schlichte Erkenntnis, dass die Gerichtsrede mit der Ankündigung, dass Gott den Tempel verlassen wird, wohl in Jerusalem gesprochen ist. Q 13,34.35a redet konkret die Jerusalemer an, meint aber gleichzeitig die weitgehende Verweigerung Israels gegenüber Jesu Botschaft. Dass damit zwei Gerichtsworte gegen den Tempel auf Jesus zurückgehen, Mk 13,2b bzw. 14,58 und Q 13,34.35a braucht nicht weiter zu erstaunen. Sie stimmen in ihrer Grundaussage überein und machen umso deutlicher, dass die Tempelaristokratie sich genötigt sah, gegen Jesus vorzugehen.
7. Der Vollzug göttlichen Gerichtshandelns hat mit dem himmlischen Satanssturz begonnen, der das Heil derer meint, die jetzt im Himmel aufgeschrieben sind (Lk 10,18b.20b). Er realisiert sich punktuell auf Erden, wenn Jesus mit dem Finger Gottes Dämonen austreibt (Lk 11,20). Er setzt sich mit der prophetischen Unheilsansage gegen die galiläischen Städte fort, besonders aber in den Worten gegen den Tempel. Von dieser Unheilsperspektive handelt wohl Lk 12,49f, ein Wort allerdings, dessen Interpretation Probleme bereitet: „Feuer auf Erden anzuzünden, bin ich gekommen, und wie wünschte ich, dass es schon brenne ...“
Das Wort umschreibt anscheinend Jesu Sendungsauftrag, göttliches Gerichtshandeln gegenüber denen in Gang zu bringen, die sich dem Heilsangebot der Gottesherrschaft verschlossen haben, wobei „Feuer“ 59 60
RINIKER, Gerichtsverkündigung (Anm. 31), 419. So auch z.B. Klgl 2,1.5ff.13; Bar 4,4-8.30-37.
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Gerichtsmotiv ist wie bei Johannes dem Täufer (Q 3,16). Dabei ist nicht nur die Ankündigung des Gerichts gemeint, sondern ihr in der Gegenwart von Jesu Wirken bereits anhebender Vollzug. Ja, man wird die Aussage doch wohl dahingehend zuspitzen dürfen, dass Jesu Sendung mit ihrer Gerichtsansage ansatzweise das in Gang bringt, was nach Johannes dem Täufer Aufgabe des „Feuerrichters“, d.h. Gottes ist (Q 3,16). Dabei ist auf den Kontrast in der Bildsprache von Vor- und Nachsatz V. 49a und V. 49b zu achten, um das Verhältnis zwischen Jesu Tätigkeit und derjenigen Gottes, ausgedrückt durch das Passivum divinum, zu bestimmen. Es geht um die Spannung zwischen dem Einsatz Jesu und der Vollendung durch Gott: Jesu Aufgabe ist es, das Gerichtsfeuer auf Erden anzuzünden (V. 49a) – sein Wunsch geht dahin, dass es lichterloh brennen möge, weil Gott es seinerseits umfassend entfacht hat (V. 49b). Thematisiert ist also die Spannung zwischen Jesu punktuellem Wirken in seinen Gerichtsworten und dem endgültigen Gericht Gottes. Die Bedeutung von avnh,fqh im Sinne der noch ausstehenden Vollendung durch Gott ergibt sich auch aus der Parallelität mit dem entsprechenden Verbum telesqh/| in V. 50, wo es um den endgültigen Vollzug der „Taufe“ an Jesus geht. Das heisst also: Das umfassende eschatologische Gericht Gottes steht noch aus, in Jesu Unheilsansage, in seinen Gerichtsworten wird es jedoch punktuell in prophetischem Vorgriff initiiert. Darin entspricht Lk 12,49 im Prinzip dem, was Lk 11,20 als Funktion Jesu bestimmt, dass gerade in seinem Wirken die Gottesherrschaft ankommt, dementsprechend aber auch das Unheil göttlichen Gerichtsfeuers, sofern die Menschen sich dem Heil versagen. „Feuer anzünden“ hat dabei eine metaphorische Komponente, wie schon prophetische Texte des AT sie enthalten (z.B. Jes 30,27f; 66,15f; Nah 1,6; Ez 21,36; Mal 3,19). Schwierig zu verstehen ist die Fortsetzung des zitierten Wortes in Lk 12,50, die Jesu Gerichtsauftrag auf der Erde mit der Verpflichtung parallelisiert, ein „Untertauchen“ auf sich zu nehmen61, das er dringlich herbeiwünscht: „ ...wie drängt es mich, bis es endlich vollzogen ist.“ Es geht um das Verlangen Jesu, dass Gott das „Untertauchen“ bei ihm vollzieht (vgl. das Passivum divinum telesq//h|/)62. Die Parallelität von V. 49 und 50 zeigt sich formal darin, dass jeweils ein Aussagesatz mit 61
62
„Untertauchen“ ist wohl eine Metapher für „das Versinken des Menschen im Unheil“ (so G. DELLING, Ba,ptisma baptisqh/nai in: DERS., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Ges. Aufsätze, Göttingen 1970, 236-256: 245, mit Verweis auf Aussagen über die Wasserflut als Metapher für die Bedrängnis des Beters in 2Sam 22,5; Ps 69,2f; 42,8). M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 469. Es geht hier nicht um die Angst vor dem Geschehen, sondern darum, dass Gott es möglichst schnell vollziehen möge.
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einem persönlichen Ausruf, eingeleitet durch eine Fragepartikel, kombiniert ist. Inhaltlich erweist sich der Text wohl als zusammengehöriger Doppelspruch63, der Jesu Sendung mit dem Gerichtsfeuer charakterisiert und Jesu Geschick dabei als einen Aspekt desselben ansieht. Es geht um Jesu Wunsch, dass Gott sein Gerichtshandeln vollendet, sei es an den Erdenbewohnern (V.49), sei es auf geheimnisvolle Weise an Jesus selbst (V.50). Beide Male handelt es sich letztlich um eine besondere Konkretisierung dessen, was die zweite Vaterunser-Bitte von Gott erfleht: „Deine Herrschaft komme!“ (Lk 11,2). Beide Male, beim „Feuergericht“ wie dem „Untergetaucht-werden“ geht es um ein vergleichbares Motiv, wobei die Aussagen von V.49 (Feuer) und V.50 (bedrohliche Wasserflut) einander „zu einer Einheit“ ergänzen, so dass man sagen konnte, das „Feuer“ sei „ein Gerichtsgeschehen, in das Jesus selbst einbezogen ist“64, etwa durch die Möglichkeit seines Todes. Lk 12,50 wäre allerdings nicht die letzte Aussage Jesu über sein Geschick gewesen, wie die Ankündigung Mk 14,25 zeigt, die gleichzeitig eine verhüllte Todesansage wie eine Vollendungsverheißung darstellt. Umstritten ist die Frage, ob Lk 12,49f als ganzes ein authentisches Jesuswort darstellt65. Dafür spricht ein Doppeltes. Beide Ausrufsätze (V. 49b und 50b) drücken das Verlangen aus, Gott möge sein Gerichtshandeln vollenden; sie entsprechen inhaltlich der Vaterunser-Bitte an Gott: „Deine Herrschaft komme!“ Darüber hinaus passt V.49 insofern zur Verkündigung Jesu, als die Aussage wie Lk 11,20 voraussetzt, dass Gott sein endgültiges Gerichtshandeln durch den Repräsentanten der Gottesherrschaft durchsetzen will. Die Aussagen unterscheiden sich nur darin, dass Lk 11,20 implizit davon ausgeht, die Zuhörer würden Jesu Verkündigung vom weltordnenden Handeln Gottes annehmen und deshalb auf der Heilsseite zu stehen kommen, Lk 12,49 dagegen das Gerichtsfeuer als Reaktion auf die Verschlossenheit kennt, die das vorfindliche Israel in weiten Kreisen dem Heilsangebot der Gottesherrschaft gegenüber gezeigt hat. Trotz dieser Argumente bleibt besonders Lk 12,50 ein schwierig zu deutendes Wort. Entscheidend aber könnte die Erkenntnis sein, dass die Ausrufe in den beiden parallelen Nachsätzen V.49b und 50b, die den Wunsch nach dem baldigen Vollzug göttlichen Gerichtshandelns zum Ausdruck bringen (aber nicht die Angst davor explizieren in V.50b), nicht im christlichen Sinne christologisch akzentuiert sind. Sie 63 64 65
So mit Recht DELLING, Ba,ptisma (Anm. 61), 246-250. DELLING, a.a.O. 250. Ihm folgend LUZ, Warum zog Jesus (Anm. 49), 424f. Vgl. dazu LUZ, Warum zog Jesus, 422-425. Die Deutung des „Feuers“ auf den Geist des Pfingstgeschehens (Apg 2,3) und damit die nachösterliche Bildung von 12,49 ist nicht wahrscheinlich, da „Feuer“ hier negativ im Sinne des Gerichtsgeschehens konnotiert ist (vgl. aber WOLTER, Lukasevangelium (Anm. 62), 469).
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erwarten wie die zweite Vaterunser-Bitte Jesu das Eingreifen Gottes, nicht dasjenige Christi als des kommenden Herrn (vgl. das Maranatha). Lk 12,49f ist deshalb als Jesuswort verständlich, nicht als urchristliche Bildung. Das Wort weist (wie wohl die authentischen Gerichtsworte Jesu) ans Ende seines irdischen Wirkens, als die Ablehnung seiner Botschaft immer deutlicher zu werden schien.
8. Jesu Gerichtsreden gegen die galiläischen Städte oder den Tempel in Jerusalem sind geprägt von der grundsätzlichen Überzeugung, Gott würde mit Hilfe eines endgültigen Gerichtshandelns seine universale Ordnung auf Erden durchsetzen, nur dass für die davon betroffenen Menschen ein unterschiedliches Geschick einhergeht. In Jesu Perspektive bedeutet die Vision vom Satanssturz, dass der himmlische Ankläger entmachtet und Gott zum Heil seines Volkes entschlossen ist (Lk 10,18b.20b). Doch setzen die genannten Gerichtsreden voraus, dass das vorfindliche Israel sich dem Heil der Gottesherrschaft weitgehend verweigert hat. Angesichts dieser Diskrepanz drängt sich die Frage geradezu auf, wie Jesu das eschatologische Schicksal Israels gesehen hat. Bei dem Versuch einer Antwort hat man von der Berufung des Zwölferkreises der Jünger auszugehen, der sicherlich eine vorösterliche Erscheinung ist, der Initiative Jesu entstammt (Mk 3,14f) und im Osterbekenntnis 1Kor 15,3-5 bereits vorausgesetzt ist. Bedeutungsvoll ist dabei die Zwölfzahl, die auf die Vorstellung von Israel als Zwölfstämmevolk Bezug nimmt. Wenn Jesus zwölf Jünger in die besondere Nachfolge ruft, so soll diese Zeichenhandlung signalisieren, dass Jesu Heilsbotschaft ganz Israel zugedacht ist. Israel aber hat sich zum großen Teil verweigert, wie die genannten Gerichtsreden erkennen lassen. Eine Antwort auf das sich stellende Problem könnte das allerdings höchst umstrittene Israel-Logion geben, das wohl den Schluss der Spruchquelle bildet, dessen Rückführung auf den historischen Jesus allerdings nicht sicher ist und dessen Heils- oder Unheilsaussage über Israels Geschick davon abhängt, ob man das entscheidende Verbum mit „richten“ oder „herrschen“ zu übersetzen hat (Q 22,28.30): „Ihr…, die ihr mir nachgefolgt seid, werdet… auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten.“
Vor einer Überbewertung des Israel-Logions für die Frage nach Israels Zukunft warnt die Einsicht, dass das Logion primär eine Verheißung für die Jünger und deren eschatologische Vollmacht macht, weniger den Ton auf die Folge für Israel legt. Andererseits ist nicht zu leugnen,
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dass doch wohl die Sammlung der zerstreuten Stämme vorausgesetzt scheint: Sie sind das Gegenüber der Jünger Jesu, die über sie herrschen bzw. sie richten werden. Doch muss man beim „Richten“ der Jünger gar nicht so alternativ interpretieren. Es muss nicht ein Strafgericht sein. Berücksichtigt man die Aufgabe des Messias, Israel zu sammeln und die Stämme des Volkes zu richten (PsSal 17,26.43), meint das fragliche Verbum „ein königliches Regieren in Gerechtigkeit, das die Möglichkeit des Richtens einschließt, aber grundsätzlich positiv zu verstehen ist.“66 Dieser Deutung des Logions auf eine königliche Herrschaft der Jünger hat man die Interpretation entgegengehalten, wonach im Israel-Logion die Vorstellung vom apokalyptischen Gericht der Gerechten über die Ungerechten aufgegriffen sei, was letztlich im Sinne eines Strafgerichtes zu verstehen wäre.67 Dieser Deutung des fraglichen Verbums kri,nein ist aber zu widersprechen, insofern zahlreiche Septuaginta-Stellen die Bedeutung „Recht verschaffen“ oder „Durchsetzen der Rechtsordnung Gottes“ in Israel aufweisen.68 Im übrigen könnte die Verbindung von Stämmen Israels und Thronen in Q 22,28.30 durch Ps 122,5 bedingt sein.69 Denn nach Ps 122,4 wallfahren die Stämme nach Jerusalem: „… dort standen Throne zum Gericht, Throne des Hauses Davids.“ (122,5). Das hier erwähnte Gericht ist kein Strafgericht, sondern bringt Frieden und Heil für Israel (V.6-9). Q 22,28.30 dürfte auf dem Hintergrund von Ps 122 deshalb eine Heilsaussage für die Jünger Jesu enthalten, die für das Eschaton die Durchsetzung der Rechtsordnung unter den Stämmen Israels sichern. Ob dieses Wort dem historischen Jesus zuzusprechen ist, ist unsicher. Ob es nur „wegen des kompensatorischen Charakters“ Jesus abzusprechen ist,70 leuchtet nicht ein (vgl. Lk 12,8f.). Ein Problem bleibt aber die sachliche Differenz gegenüber den Gerichtsreden gegen die „galiläischen Städte“ (Q 10,13-15) oder „diese Generation“ (Q 7,31-34; 11,31f.). Doch ist dieser mögliche Widerspruch nicht überzuberwerten; denn der Ausdruck „diese Generation“, der die Generation vor dem eschatologischen Ende meint, lässt sich nicht einfach mit Israel als ganzem identifizieren. Die Erinnerung an die Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob in Q 13,29.28 oder die jüdischen Märtyrer ist zudem ein Hinweis 66
67 68 69 70
G. THEIßEN, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis, in: DERS., Jesus als historische Gestalt (FRLANT 202), Göttingen 2003, 255-281: 267, ähnlich H. ROOSE, Eschatologische Mitherrschaft (NTOA 54), Fribourg / Göttingen 2004, 53-57. Z.B. ZELLER, Zukunft Israels, in: LINDEMANN (Hg.), Sayings Source (Anm. 57), 363. Bezogen auf den König: Ps 71,2 LXX; bezogen auf die Gestalt der Richter in Israel: LXX Ri 3,10; 10,2.3; 12,7.9.14; 15,20a; 1Reg 4,18; für den Makkabäer Jonathan 1Makk 9,73. THEIßEN, Gruppenmessianismus (Anm. 66), 268. ZELLER, Zukunft Israels (Anm. 57), 364.
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auf ein ganz anderes Israel als das gegenwärtige, das sich Jesus verweigert hat, d.h. das Israel der vollendeten Gottesherrschaft.71 Der mögliche Widerspruch würde ganz entfallen, falls das Israel-Logion zeitlich vor jenen Gerichtsreden gesprochen wäre, die ans Ende der Wirksamkeit Jesu gehören und auf die weitgehende Ablehnung reagieren. Doch ist dies unwahrscheinlich, weil das Israel-Logion die eschatologische Zusage an die Jünger aufgrund ihres lange bewiesenen Beharrens in der Nachfolge Jesus zu machen scheint. In der Tat könnte die Verheißung an die Jünger gerade in den letzten Tagen Jesu erfolgt sein. Jesus selbst hat mit Mk 14,25 eine verhüllte Todesprophetie ausgesprochen, gleichzeitig aber eine Vollendungsansage für seine Person gemacht, die seine Teilnahme am eschatologischen Mahl der vollendeten Gottesherrschaft impliziert. Er hat für sich mit einer neuen Tischgemeinschaft im Eschaton gerechnet. In diesem sachlichen und auch zeitlichen Kontext wird die Verheißung an die Jünger im Israel-Logion ihren Ort haben. Sie konkretisiert dann im Blick auf den Zwölferkreis, was die Verheißung Lk 12,8 für diejenigen aussagt, die sich zu Jesus vor den Menschen bekannt haben. Sie ordnet und bestimmt die zukünftige Rolle der Jünger – sozusagen als testamentarische Verfügung. Dabei ist eines noch gesondert zu beachten: Hat Jesus trotz möglichen Todes seine Teilnahme am eschatologischen Heilsmahl der Gottesherrschaft erwartet (Mk 14,25), dann hat er selbstverständlich auch mit Mahlgenossen gerechnet. Das werden nicht nur die Patriarchen und jüdische Märtyrer gewesen sein (vielleicht auch Angehörige der Völker Q 13,29.28), sondern gerade die Jünger und ihr 71
Q 13,29.28 bereitet allerdings erhebliche Interpretationsprobleme. Ursprüngliche QFormulierung dürfte dabei in Mt 8,12 erhalten sein. „Die Söhne des Reiches“ in Mt 8,12 ist trotz Mt 13,38, wo der Ausdruck wiederkehrt, nicht matthäische Redaktion, vielmehr scheint Matthäus den Ausdruck in 13,38, angeregt durch 8,12, wiederaufzunehmen, allerdings in anderer Bedeutung, jetzt bezogen auf die Christen. In Lk 13,28 erweist sich die Anrede in der 2. Person „ihr“ als redaktionell, weil durch den Kontext bedingt, in den das Wort durch Lukas zum Zweck der durchgehenden Anrede in der 2. Person eingefügt ist. Ist also die Mt-Fassung am ehesten die ursprüngliche Q-Fassung und geht das Wort in dieser Form auf Jesus zurück, sind „die Söhne des Reiches“ nur die fiktiven Adressaten, über die geredet wird. Die wirklich intendierten Adressaten dürften die Jünger Jesu sein, die tatsächlichen Zuhörer der Rede Jesu (vgl. dazu WOLTER, Gericht und Heil [Anm. 11], 382). Der Ausdruck „die Söhne des Reiches“ meint dabei Israel, das der eigentliche bzw. ursprüngliche Ansprechpartner der von Jesus proklamierten Gottesherrschaft ist. Doch will das Wort nicht (als prophetisches Machtwort) Israel dem eschatologischen Unheil preisgeben, wie dies wohl die Gerichtsworte an die galiläischen Städte beabsichtigen, da es gar nicht unmittelbar an Israel gerichtet ist. Es will eher die Verunsicherung von Jüngern Jesu abfangen, die sich angesichts der Ablehnung Jesu durch Israel einstellen musste. Ihnen wird durch den Blick auf das drohende Unheilsgeschick Israels indirekt bestätigt, dass sie durch die Annahme der Botschaft Jesu auf der Heilsseite zu stehen kommen.
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Gegenüber, das eschatologische Israel, auch wenn dies menschliche Vorstellungskraft sprengen mochte. Die eschatologische Heilswende, die der Visionsbericht Lk 10,18 anzeigt, ist trotz aller Widerstände für Jesus unaufhaltsam. Dass dies auch für die Zwölf galt, beweist der nach Jesu Hinrichtung alsbald entstehende Osterglaube, wonach Christus auferweckt wurde am dritten Tag, erschienen dem Kephas und den Zwölfen (1Kor 15,3-5). Jesus hatte die Jünger aufgefordert, um das Kommen der Gottesherrschaft zu beten (Lk 11,2), d.h. Gott um die Verwirklichung der endgültigen Heilswende zu bitten, die sich im Zuge seiner eschatologischen Theophanie realisieren würde. Diese Theophaniehoffnung blieb für die Jünger trotz des Todes Jesu wirksam. Ja, sie erfüllte sich auf ganz überraschende Weise, wenn der Osterglaube die erwartete Theophanie Gottes in Gestalt der Christophanie Jesu erfuhr72. Jesus hatte sich den Jüngern als der entscheidende Repräsentant der Gottesherrschaft gezeigt, wenn er „mit dem Finger Gottes“ die Dämonen austrieb (Lk 11,20). Bekannte sich Gott aber zu seinem irdischen Agenten, indem er ihn trotz Tod rehabilitierte, dann konnte dies in den Augen der Jünger bedeuten, dass mit Ostern der irdische Repräsentant der Gottesherrschaft zum himmlischen avancierte. Gottes Heilsangebot an Israel, das im Wirken des irdischen Jesus offenbar wurde, war durch den Tod Jesu nicht aufgehoben, vielmehr setzte es sich in der nachösterlichen Mission der Jünger fort (vgl. die Spruchquelle Q), auch wenn „dieses Geschlecht“ sich weiterhin verweigerte.
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Näheres dazu U.B. MÜLLER, Auferweckt und erhöht (Anm. 33), 201-220.
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„Nicht einmal in Israel habe ich einen so großen Glauben gefunden.“ Die Boteninstruktion als Fokus der Logienquelle Eckhard Rau Was ist das missiologische Konzept der Logienquelle? Und was lässt sich über den literarischen, aber auch über den historischen Zusammenhang sagen, in dem es unter Berufung auf Jesus propagiert worden ist? Das sind die beiden Fragen, die ich im Folgenden erörtern möchte. Sie führen ins Zentrum der Probleme, mit denen uns das Konstrukt ’Q’ konfrontiert, und werden in der Forschung zu Recht in erster Linie im Anschluss an die Boteninstruktion von Q 10,2-16 behandelt. Wenn ich mich dem anschließe, kann ich mich in der Einzelexegese weithin auf die Ausführungen anderer berufen. Neu ist erst der Versuch, die Boteninstruktion in doppelter Weise zu kontextualisieren. Einerseits soll sie in der Sicht derer gelesen werden, die ihr im Rahmen einer fortlaufenden Lektüre der Logienquelle begegnen. Und andererseits möchte ich Beziehungen zu Texten außerhalb der Logienquelle zur Sprache bringen. Erst bei letzterem geht es um die Frage nach dem historischen Ort von Q, und so sei schon hier betont, dass ich dazu nicht mehr als eine Hypothese anbieten kann, deren Unwägbarkeiten groß sind. Doch hoffe ich, dass eine neue Idee der eingefahrenen Diskussion trotzdem einen neuen Impuls zu geben vermag.
1. Forschungsgeschichtliche Konturierung der Fragestellung Seit ihren Anfängen vor einem halben Jahrhundert hat sich die neuere Q-Forschung außerordentlich intensiv mit dem redaktionsgeschichtlichen Profil der Logienquelle befasst. Seit geraumer Zeit konzentriert sich die Diskussion auf eine Reihe von Versuchen, besonders den von John S. Kloppenborg, in Q mehrere, sukzessiv ineinander gearbeitete
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Überlieferungsschichten zu unterscheiden1, und auch unabhängig von Stratigrafien wird meist wie selbstverständlich mit einem längeren Wachstumsprozess gerechnet, der sich an einer großen Fülle kleinerer und größerer Eingriffe und Ergänzungen ablesen lasse. Was dabei jeweils als Redaktion identifiziert wird, ist allerdings methodologisch und sachlich so stark umstritten2, dass sich nachvollziehen lässt, warum sich der erste große Q-Kommentar aus der Feder von Harry T. Fleddermann unter Verleugnung aller analytischen Fragestellungen ausschließlich der synchronen Ebene des Wortlauts der Logienquelle zuwendet, der mit erstaunlicher Sicherheit – wenn auch unabhängig von der ‚Critical Edition’ – rekonstruiert wird3. Bei der Lektüre gewinnt man geradezu den Eindruck, der Autor von Q sei der autonome Produzent seiner sprachlich, literarisch und theologisch ungemein kohärenten Texte – und dies, obwohl es heißt: „Most of the words we find in Q come from Jesus' lips“4. Doch lesen wir weiter, es sei schwierig, wenn nicht unmöglich, die Logienquelle für die Jesusforschung in Anspruch zu nehmen, weil Jesus uns hier ausschließlich als literarische Figur begegne, die den Christen zwischen Auferstehung und Parusie die Botschaft und das Wirken Jesu nahe bringen wolle5. Ich glaube kaum, dass Fleddermanns Position aus dem Engpass der gegenwärtigen Forschung herausführt. Das größere Recht gegenüber Schichtungstheorien und komplizierten Redaktionsprozessen dürfte noch heute bei Frans Neirynck liegen, der bereits am Ende seines großen Forschungsberichts von 1982 lapidar konstatiert: „The more common approach describes the redaction as mainly compositional“6. Denn, so lässt sich mit Gerd Theißen hinzufügen: „Redaktionelle Zusätze und Kommentare lassen sich nicht eindeutig von traditionellen Elementen unterscheiden. Nur Auswahl, Kombination und Komposition von Jesusüberlieferungen sind sicher Redaktion“7.
1
2 3 4 5 6 7
J.S. KLOPPENBORG, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Philadelphia (PA) 1987. Vgl. H.T. FLEDDERMANN, Q. A Reconstruction and Commentary (Biblical Tools and Studies 1), Leuven/Paris/Dudley (MA) 2005, 33f., der neben Kloppenborg nennt M. Sato, A. Jacobson, D. C. Allison. Zur Kritik an Kloppenborgs Ansatz vgl. die bei E. RAU, Q-Forschung und JesusForschung. Versuch eines Brückenschlags, EThL 82 (2006), 373-403: 380 Anm. 56 genannte Literatur. FLEDDERMANN, Q (Anm. 1). Ebd., 171. Ebd., bes. 169-172. F. NEIRYNCK, Recent Developments in the Study of Q, in: J. DELOBEL (Hg.), Logia – Les Paraboles de Jésus – The Sayings of Jesus, FS J. Coppens (BEThL 59), Leuven 1982, 29-75: 75. G. THEIßEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Fribourg/Göttingen 21992, 214.
Boteninstruktion der Logienquelle
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Die Überlieferungen, von denen Theißen spricht, sind überwiegend Worte Jesu, die oft bereits zu kleineren Clustern verbunden sind8, und die Kompositionen sind Reden, zu denen die Worte unter formalen und thematischen Gesichtspunkten miteinander verknüpft worden sind. Narrative Strukturen sind demgegenüber nur rudimentär ausgebildet. Sie sind, wie ich zu zeigen hoffe, für das redaktionelle Verständnis der Worte gleichwohl von kaum zu überschätzender Bedeutung. Dieter Lührmann ist die Einsicht zu verdanken, dass die Redekompositionen der Logienquelle ihr redaktionelles Profil nicht zuletzt aus der Platzierung der Gerichtsdrohung gewinnen9. Diese findet ihre schärfste Zuspitzung in Worten, die die Repräsentanten ‚dieses Geschlechts’ unwiderruflich dem Unheil überantworten, weil sie Jesus und sein Wirken abgelehnt haben10. Adressaten sind: 2. Pers. Pl. (11,47f), Chorazin, Bethsaida, Kapernaum und Jerusalem (10,13-15; 13,34f), die Söhne der Basileia (13,28f), die Erstgeladenen zum Mahl der Basileia (14,16-24) – oder eben: h` genea. au[th (7,31-35; 11,29f; 11,31f; 11,49-51). Der Ausdruck meint nicht etwa ganz Israel, sondern in Aufnahme der pejorativen Konnotationen, die ihm insbesondere von der Sintflut- und Wüstengeneration her anhaften, die Masse derjenigen Zeitgenossen der jetzt lebenden Generation, die sich trotz ihrer genealogischen Wurzeln bei den Vätern Israels in Israel halsstarrig gegen Jesus verschlossen haben11. Ihre Ablehnung Jesu betrifft das Gesamtspektrum seines Wirkens: die Verkündigung (11,31f), die Krafttaten (10,13-15), die Mahlgemeinschaft (7,31-35; 14,16-24), ja Jesu Sendung im Ganzen (13,34f). Mit alledem begibt sich ‚dieses Geschlecht’ in die Kontinuität mit den Taten seiner Väter (11,47f), deren Schuld in der Tötung der Propheten kulminiert (11,49-51; 13,34f). Die ersten beiden Reden mit je einem Wort dieser Art finden sich zu Beginn des Hauptteils von Q, der von Q 7,18 bis 22,30 reicht12. Die erste widmet sich in 7,18-35 Johannes dem Täufer, die zweite in 9,57-11,13 der Jüngerschaft. Die dritte Rede in 11,14-52, die vier Worte gegen ‚dieses Geschlecht’ besitzt13, setzt sich mit Gegnern auseinander. Sie verfügt
8 9 10 11 12 13
Vgl. bes. die entsprechenden Mk-Parallelen. D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen-Vluyn 1969. Vgl. Q 7,31-35; 10,13-15; 11,29-30; 11,31-32; 11,47-48; 11,49-51; 13,28-29; 13,34-35; 14,16-24. Vgl. M. MEINERTZ ‚Dieses Geschlecht’ im Neuen Testament, BZ 1 (1957), 283-289; E. LÖVESTAM, Jesus and „This Generation“. A New Testament Study (ConB.NT 25), Stockholm 1995. Zur Gliederung der Logienquelle vgl. Anm. 24. Q 11,29f.31f.47f.49-51.
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über eine für Q singuläre Exposition (11,14-16), die gegenüber den beiden vorausgehenden Reden einen deutlichen Neuansatz markiert14. Die Rede über den Täufer besitzt in dem Gleichnis von den spielenden Kindern in Q 7,31-35 ein Wort gegen ‚dieses Geschlecht’15, das zwei Besonderheiten aufweist: Erstens bezieht sich die Anklage nicht wie sonst auf das Verhalten gegenüber Jesus allein, sondern auch gegenüber Johannes: Wie die Kinder beim Spiel finden beide trotz der konträren Form ihres Auftretens keine Resonanz, die dieser Form gerecht wird, sondern werden auf übelste Weise beschimpft. Zweitens folgt auf die Anklage keine Gerichtsankündigung, sondern die Aussage, dass die Weisheit, die Johannes und Jesus in Kontinuität mit den Propheten gesandt hat16, von ihren Kindern17 ins Recht gesetzt wird. Das zeigt: Der erdrückenden Mehrheit ‚dieses Geschlechts’ steht die Minderheit derer gegenüber, die Jesus und Johannes als Boten der Weisheit anerkennen und die sich durch die Worte gegen ‚dieses Geschlecht’ tröstend vergewissern, dass sie trotz ihrer Minderheit auf der richtigen Seite stehen18.
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Für Rekonstruktion und Interpretation von Q-Texten sind im Folgenden regelmäßig zu Rate gezogen worden: FLEDDERMANN, Q (Anm. 1); IQP und CritEd nach F. NEIRYNCK, Q-Parallels. Q-Synopsis and IQP/CritEd Parallels (SNTA 20), Leuven 2001, 65-119; KLOPPENBORG, Formation (Anm. 1); A. POLAG, Fragmenta Q. Textheft zur Logienquelle, Neukirchen-Vluyn 1979; S. SCHULZ, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; D. ZELLER, Kommentar zur Logienquelle (SKK NT 21), Stuttgart 1984. Für Q 7,1-10 kommt hinzu: U. WEGNER, Der Hauptmann von Kapernaum (Mt 7,28a; 8,5-10,13 par Lk 7,1-10). Ein Beitrag zur Q-Forschung (WUNT II 14), Tübingen 1985. Für Q 9,57-10,16: P. HOFFMANN, Studien zur Theologie der Logienquelle (NTA NF 8), Münster 1972, 235-311; J. SCHRÖTER, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997, 144-217. Ich gehe mit U. LUZ , Das Evangelium nach Matthäus, Teilbd. 1-2 (EKK I/1-2), Zürich/Neukirchen-Vluyn 1985/1990, hier: I/2, 182-190, von der Einheitlichkeit von Q 7,31-35 aus, lässt sich doch zeigen, dass die These vom sekundären Charakter der Anwendung, aber auch der Aussage über die Rechtfertigung der Weisheit die Schwierigkeiten des Textes nicht behebt. Zur Auslegung vgl. neben Luz bes. P. MÜLLER, Vom misslingenden Spiel (Von den spielenden Kindern). Q 7,31-35 (Mt 11,16-19 / Lk 7,31-35), in: R. ZIMMERMANN (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 100-109. Vgl. Q 11,49-51. Vgl. Prov 8,32; Sir 4,11. Dies ist ausführlich begründet worden von M. WOLTER, ‚Gericht’ und ‚Heil’ bei Jesus von Nazareth und Johannes dem Täufer. Semantische und pragmatische Beobachtungen, in: J. SCHRÖTER / R. BRUCKER (Hg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin/New York 2002, 355-392. Vgl. jedoch schon HOFFMANN, Studien (Anm. 14). 170; A. POLAG, Die Christologie der Logienquelle (WMANT 45), Neukirchen-Vluyn 1977, 130; KLOPPENBORG, Formation (Anm. 1), 167f.
Boteninstruktion der Logienquelle
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Die Rede über die Jüngerschaft, die deutlich zweigeteilt ist, soll hier nur in ihrem ersten Teil ins Auge gefasst werden. Er umfasst Q 9,5710,16 und enthält die von zwei Nachfolgeworten eingeleitete Boteninstruktion, die seit Paul Hoffmann als Schlüssel für das Selbstverständnis der Q-Gruppe gilt19. Sie besitzt in 10,13-15 einen Weheruf über Repräsentanten ‚dieses Geschlechts’, der als Hauptargument für die verbreitete, kaum je in Frage gestellte These dient, die Logienquelle spiegele das drohende oder bereits vollzogene Scheitern der Q-Mission Galiläas wider. Und in der Tat: Das Wort kündigt drei Orten im Nordwesten des Sees Gennesaret das Gericht an, weil sie Jesus abgelehnt haben. Liegt es da nicht nahe, dass hier der eigene Misserfolg die Feder führt? Gegen den Konsens, den diese Interpretation für sich in Anspruch nehmen kann, hat Marco Frenschkowski geltend gemacht, es gebe keinerlei „tragfähige Indizien für frühchristliche Gruppen in Galiläa20, die parallel mit der Jerusalemer Urgemeinde existiert haben könnten“. In Q hätten wir vielmehr „das Dokument einer Tradition vor uns ..., die sich ihrer galiläischen Wurzeln bewusst ist und diese nicht verdrängt oder überlagert“21. Ich selber möchte hinzufügen: Diese Wurzeln sind das Wirken Jesu, und da speziell Q 10,13-15 in der Regel für authentisch gehalten wird, dürfte hier nicht das Scheitern der Q-Mission ins Auge gefasst sein, sondern der negative Ausgang des Auftretens Jesu22. Dann aber stellt sich die Frage: Wie ist zu erklären, dass diejenigen, die durch die Komposition der Boteninstruktion ihr eigenes Wirken legitimieren wollen, die Aufmerksamkeit auf das eschatologische Unheil von galiläischen Orten des Wirkens Jesu lenken? Wirkt die Q-Gruppe selber außerhalb Galiläas? Aber wo? Um hier eine Antwort zu finden, wende ich mich in Weiterführung früherer Äußerungen23 zunächst der Boteninstruktion selber zu. Es folgt ein Gang durch die vier Stücke des Einleitungsteils von Q, der 3,77,10 umfasst. Das sind: 1. Zwei Worte Johannes des Täufers (3,7-9.16f); 2. die Versuchungsgeschichte (4,1-13); 3. die Eröffnungsrede (6,20-49); 4. die Geschichte über den Hauptmann von Kapernaum (7,1-10). Denn 19 20 21 22
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Vgl. HOFFMANN, Studien (Anm. 14), 235-311. Vgl. auch die Kritik von B.A. PEARSON, A Q Community in Galilee?, NTS 50 (2004), 476-494, bes. 489-493. M. FRENSCHKOWSKI, Galiläa oder Jerusalem? Die topographischen und politischen Hintergründe der Logienquelle, in: A. LINDEMANN (Hg.), The Saying Source Q and the Historical Jesus (BEThL 108), Leuven 2001, 535-559: 540f. Vgl. z. B. M. REISER, Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund (NTA NF 23), Münster 1990, 207-215; C. RINIKER, Die Gerichtsverkündigung Jesu (EHS.T 653), Bern u.a. 1999, 301-333, bes. 317-320. RAU, Q-Forschung (Anm. 2), bes. 389-400.
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meine zentrale These lautet: Die Sequenz dieser vier Stücke macht den Leser und die Leserin mit den Voraussetzungen vertraut, die sie brauchen, um die Boteninstruktion des Hauptteils zu verstehen, die geradezu als Fokus der Logienquelle verstanden werden kann24. Vertieft man sich in die Vierersequenz, fällt zweierlei besonders auf. Erstens beginnt nicht nur der Einleitungsteil, sondern auch der Hauptteil von Q mit dem Rekurs auf den Täufer. Es ist deshalb von vornherein zu erwarten, dass Jesu Verhältnis zu ihm für den Gesamtzusammenhang, also auch für die Boteninstruktion, von großer Bedeutung ist. Zweitens wird die Eröffnungsrede von den beiden einzigen ausgeführteren Erzählungen gefasst, die Q besitzt und deshalb schon immer besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Wie sich zeigen wird, haben sie für die Deutung der Worte, die Q überliefert, eine Schlüsselfunktion, und da die Geschichte über den Hauptmann von Kapernaum das Achtergewicht besitzt, ist auch hier schon vor jeder Einzelexegese damit zu rechnen, dass gerade sie uns Aufschluss darüber gibt, wie der Einleitungsteil auf die Boteninstruktion zu beziehen ist.
2. Nachfolge und Sendung Die Boteninstruktion wird in Q 9,57-60 durch zwei dialogisch situierte Worte Jesu eingeleitet, die zeigen, wie hart die Konsequenzen der Nachfolge sind. Das erste verrät, warum sie an dieser Stelle in Q platziert sind: Es konfrontiert mit der ‚Hauslosigkeit’ des Menschensohns, deren Lebensform die Instruktion im Einzelnen thematisiert. Das zweite Wort schärft den Bruch mit der Herkunftsfamilie ein, der dabei vorausgesetzt, wenn auch nirgends direkt zur Sprache gebracht wird.
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Der Blick in FLEDDERMANN, Q (Anm. 1), 110-112 zeigt, dass Q in der Regel entweder gegliedert wird in 11 bis 14 kleinere Einheiten (A. Polag, W. Schenk, J.S. Kloppenborg) oder in 4 bis 5 größere Blöcke mit jeweils mehreren Untereinheiten (T.W. Manson, J.D. Crossan, A.D. Jacobson, H.T. Fleddermann). Verleitet durch die beiden Passagen über den Täufer (Q 3,7-9.16f. und 7,18-35), wird bei der zweiten Alternative durchweg davon ausgegangen, dass 3,7-7,35 eine Einheit darstellt, der es um das Thema ‚Johannes und Jesus’ geht. Der eigene Vorschlag, einen Einleitungsteil mit vier Stücken (3,7-7,10) und einen Hauptteil mit einer Reihe von Redekompositionen (7,18-22,30) zu unterscheiden, basiert primär auf Beobachtungen zur Platzierung der Worte gegen ‚dieses Geschlecht’. Ob sich mehrere Reden des Hauptteils zu größeren Blöcken zusammenfassen lassen, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Vgl. jedoch bereits die Gliederung von 9,57-11,13 in 9,57-10,16 und 10,21-11,13 oder den Neuansatz von 11,14-16, der die Kompositionen von 7,18-35 und 9,57-11,13 gegenüber der Fortsetzung als zusammengehörig erkennen lässt.
Boteninstruktion der Logienquelle
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Die eigentliche Instruktion, die die Boten in Q 10,2-16 mit Ausnahme von 10,13-15 durchgehend in 2. Pers. Pl. anspricht, enthält fünf Worte Jesu. Das erste bringt den eschatologischen Horizont der Sendung zur Sprache (10,2), das zweite den gefahrvollen Kontext (10,3), das dritte die Durchführung im Einzelnen (10,4-12)25, das vierte die Gerichtsperspektive (10,13-15) und das fünfte die ideelle Basis (10,16). Zu Beginn werden die Angesprochenen in Q 10,2 aufgefordert, vor Gott dafür einzutreten, dass er mehr Arbeiter in den qerismo,j schickt als die wenigen, die sie selber sind26. Qerismo,j zielt dabei auf die Sammlung derer, die sich der Nähe des Reiches Gottes öffnen (10,9)27. Doch sind die Ernte-Metapher und ihr Bildfeld nicht erst beim Täufer (3,16f) primär auf den Vollzug des Gerichts ausgerichtet28, so dass schon hier und nicht erst in 10,12.13-15 der Gerichtshorizont der Arbeit der Boten zur Sprache kommt29. Das bestätigt der in Q 10,3 anschließende Vergleich von der Sendung wie Schafe unter Wölfe: So wie Gott bzw. dessen Weisheit die Propheten und in Kontinuität mit den Propheten Jesus sendet30, so sendet Jesus selber die, die zuvor Arbeiter genannt wurden, die Gott sendet (10,2), als Wehrlose unter Feinde, die sich der Sammlung für das Reich Gottes widersetzen.
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Die Einheitlichkeit von Q 10,4-12, die hier vertreten wird, ist in der Forschung sehr umstritten. Anlass zu literarkritischen Operationen ist neben der Doppelung des Essensmotivs in Q 10,7 und 10,8 insbesondere die Parallelität der Formulierung vom Kommen in ein Haus und Kommen in eine Stadt, mit der die beiden Abschnitte 10,57 und 10,8-12 eingeleitet werden. R. ZIMMERMANN, Folgenreiche Bitte! (Arbeiter für die Ernte). Q 10,2 (Mt 9,37f. / Lk 10,2 / EvThom 73), in: DERS. (Hg.), Kompendium (Anm. 15), 111-118: 116, vertritt in Form einer Frage die Auffassung, dass „die Bittenden am Ende zugleich die Gesandten“ sind. Er macht dadurch darauf aufmerksam, dass zwischen Q 10,2 und 10,3-12 nicht die Spannung besteht, die postuliert D. ZELLER, Redaktionsprozesse und wechselnder ‚Sitz im Leben’ beim Q-Material, in: DELOBEL (Hg.), Logia (Anm. 6), 395-409: 402, nach dem sich 10,2 an eine Gemeinde richtet, „die man sich wie Apg 13,1-3 zum Gebet vor der Aussendung versammelt denken kann“, während 10,3-12 die Regeln der Ausgesandten selber darbietet. Dadurch verliert ZELLERs These, ebd. 408, „dass die Tradition der Wanderprediger in den von ihnen initiierten Gemeinden einen neuen SiL (sc. Sitz im Leben) fand“, eine ihrer wichtigsten Stützen. Vgl. Mk 4,26-29. Vgl. P. VON GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung (NTOA 18), Fribourg/Göttingen 1993, bes. 182204; ZIMMERMANN, Bitte (Anm. 26), 114-116. Vgl. bes. REISER, Gerichtspredigt (Anm. 22), 243-245; ZIMMERMANN, Bitte (Anm. 26), 114-116. Vgl. Q 10,16; 11,49-51; 13,34-35.
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3. Im Horizont des Gerichts: Übergeht die Reinheitstora beim Mahl, heilt Kranke und verkündigt die Nähe des Reiches Gottes! Q 10,4-12, das dritte Wort und zugleich das Zentrum der Boteninstruktion, das eine eigene kleine Rede darstellt, wird in 10,4 durch die sog. Ausrüstungsregel eröffnet, die zwei Imperative enthält. Der erste fordert die Boten auf, vier Dinge nicht bei sich zu tragen, ohne die sich normalerweise niemand auf den Weg in die Fremde macht: Kein Geld zum Kauf dessen, was sie brauchen, keinen Reisesack zur Mitnahme von Brot gegen den Hunger, keine Sandalen zum Schutz vor Verletzung der Füße, keinen Stock zur Abwehr von Räubern und wilden Tieren (10,4a)31. Mit anderen Worten: Wehrlos wie Schafe unter Wölfen, sollen sich die Boten den Gefahren der Reise aussetzen, und sie sollen dies, dem Mammon entsagend (16,13), als Arme tun, die das Reich Gottes suchen und die Sorge um Nahrung und Kleidung ihrem himmlischen Vater anvertrauen (12,22-31), der sie Menschen finden lässt, die ihnen die Sorge abnehmen. Wie stark die Ausrüstungsregel auf dieses Ziel ausgerichtet ist, zeigt der zweite Imperativ: Die Boten sollen unterwegs niemanden grüßen (10,4b). Erlaubt ist der Gruß erst dort, wo er die Tür zu einem Quartier öffnet, das als Basis für die Arbeit an der Einholung der Ernte dienen kann. Die Ausführung dieses Gedankens erfolgt in drei Schritten: Der erste fasst in 10,5-7 die Ankunft in einem Haus ins Auge, bei dem vorausgesetzt wird, dass es sich in einem Ort befindet, der als Wirkungsstätte geeignet ist. Hier soll der Gruß als Symbolon eingesetzt werden, das die Auffindung des richtigen Gastgebers ermöglicht32. Entsprechend der Friedfertigkeit, die besonders der Verzicht auf den Stock verrät, lenkt er Frieden und Heil auf das Haus herab. Je nach dem, wie darauf – zweifellos nach Aufklärung über den Zweck der erbetenen Gastfreundschaft – vom Hausherrn reagiert wird, sei erkennbar, ob es sich bei ihm um einen ‚Sohn des Friedens’ handelt. Wenn ja, erhalte er an der Segenskraft des Grußes Anteil, wenn nein, kehre diese zum Grüßenden zurück. Ist ersteres der Fall, stellt der ‚Sohn des Friedens’ den Boten mehr zur Verfügung als für kurze Zeit ein Dach über dem Kopf, wie in der Fremde üblich seit je. Dies Mehr 31 32
Bei der Frage nach der Q-Fassung der sog. Ausrüstungsregel ist Lk 10,4 z.T. von Lk 9,3 her zu korrigieren. Vielleicht war in Anlehnung an Mk 6,9; Mt 10,10 und Lk 9,3 ursprünglich auch noch der Verzicht auf ein zweites Gewand gefordert. Zum Symbolon vgl. O. HILTBRUNNER, Gastfreundschaft in der Antike und im frühen Christentum, Darmstadt 2004, 43-45.
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jedenfalls ist vorausgesetzt, wenn die Fortsetzung davor warnt, das Haus zu wechseln, sondern im einmal gefundenen Quartier zu bleiben, um vom Gastgeber in Form von Essen und Trinken den Lohn zu empfangen, den jeder Arbeiter verdient. Summa: Hier erhalten die Boten, worauf sie bei der Ausrüstung im Vertrauen auf Gottes Fürsorge verzichten, und hier ist – offensichtlich für längere Zeit – der Stützpunkt für ihre Mitarbeit an der Einholung der Ernte. Der zweite und dritte Schritt der Anweisung regelt in 10,8-12, wie sich die Angesprochenen zu verhalten haben, wenn sie in eine Stadt kommen und dort so, wie es 10,5-7 ins Auge fasst, entweder gastlich aufgenommen oder nicht aufgenommen werden. Für den Fall der Aufnahme werden die Boten in 10,8-9 in drei Imperativen zur Durchführung der eigentlichen Aufgabe ihrer Sendung aufgefordert. Als erstes heißt es: "Esst das euch Vorgesetzte". Das bezieht sich kaum erneut auf die Beköstigung im Quartier, sondern auf die Teilnahme an der Mahlgemeinschaft, bei der es nicht nötig sei, die von Bewohnern des Ortes – z. B. Zöllnern – gestifteten Speisen33 auf Einhaltung der (pharisäischen?) Reinheitstora zu überprüfen (11,3941)34. Zweitens sollen die Boten die Kranken der Stadt heilen und drittens ihren Bewohnern sagen, das Reich Gottes sei ihnen nahe gekommen. Sie lassen also den Ort, in dem sie auftreten, an den wichtigsten Aspekten des Wirkens Jesu teilhaben. Diese begegnen uns z.B. auch in der Antwort an den Täufer (7,22-23), wo der Makarismus zugleich verrät, dass es die Möglichkeit gibt, sich der jesajanischen Dignität des Auftretens Jesu zu verschließen und dadurch an Jesus bzw. der Deutungshoheit, die er für sich beansprucht, zu ‚ärgern’. Bei Nichtaufnahme sollen die Boten nach Q 10,10-11 an der Stadt eine Fluchgeste vollziehen, die sie gleichwohl nicht verunsichern dürfe in der Erkenntnis, dass das Reich Gottes nahe ist. Die Geste selber hat weitreichende Folgen. Denn, so beteuert Jesus in 10,12, Sodom werde es am Tag des Gerichts erträglicher gehen als jener Stadt. Unabhängig von der Frage, ob wir hier eine redaktionelle Analogiebildung zu 10,14 vor uns haben35, wird auf diese Weise deutlich: Die Boteninstruktion läuft 33 34
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Vgl. M. EBNER, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge (SBS 196), Stuttgart 2003, 157-159. Vgl. EvThom 14(4-5), wo das Gebot, das Vorgesetzte zu essen, mit einer Mt 15,11 (par. Mk 7,15) entlehnten Formulierung begründet wird. Anders als SCHRÖTER, Erinnerung (Anm. 14), 189-192 annimmt, stellt sich das Problem kultischer Verunreinigung beim Essen keineswegs erst in heidnischen Städten. Vgl. E. RAU, Jesus – Freund von Zöllnern und Sündern. Eine methodenkritische Untersuchung, Stuttgart 2000, 128-133. Vgl. LÜHRMANN, Redaktion (Anm. 9), 62f., nach dem Q 10,12 gebildet worden ist, um 10,13-15 mit der Boteninstruktion zu verknüpfen. Dagegen spricht, dass Analogiebildungen in der Regel nicht vor, sondern nach dem Wort platziert sind, an dem
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auf eine Gerichtsdrohung zu, die den Adressaten der Sendung die Möglichkeit zur Umkehr offen hält. Der Drohung aber wird durch das Wort gegen Repräsentanten ‚dieses Geschlechts’, das in 10,13-15 folgt, allergrößter Nachdruck gegeben. Denn hier wird das Motiv vom erträglicheren Geschick von Fremdvölkern eingesetzt, um hervorzuheben: Chorazin, Bethsaida und Kapernaum haben die Möglichkeit zur Umkehr ein für allemal verspielt.
4. Das Wehe über Chorazin und Bethsaida und Kapernaums Sturz in die Unterwelt Statt wie bisher die Boten spricht Jesus in Q 10,13-15 diejenigen an, denen die Gerichtsankündigung gilt. Das sind nicht Orte des Wirkens der Boten, sondern des Wirkens Jesu: Zunächst Chorazin, das in der Jesusüberlieferung außer dieser Stelle keinen Niederschlag gefunden hat, danach, parallel dazu, Bethsaida, das auch sonst als Ort des Auftretens Jesu bezeugt ist36, und zum Schluss, deutlich zugespitzt formuliert und mit Achtergewicht versehen, Kapernaum, das das Zentrum des Wirkens Jesu gewesen sein dürfte37. Über Chorazin und Bethsaida ruft Jesus 10,13 das Wehe der Totenklage aus, weil sich die Bewohner durch seine Krafttaten nicht zur Umkehr bewegen ließen. Sie haben, so lässt sich konkretisieren, die Heilungen und Exorzismen offensichtlich nicht als Zeichen der Präsenz des Reiches Gottes verstanden, sondern sich deren Aussagekraft durch den Beelzebul-Vorwurf entzogen (11,14-23). Dieser Gedanke hat großes Gewicht, wird er doch mit der Fiktion untermauert, wären Tyrus und Sidon an ihrer Stelle, hätten diese die Umkehr längst vollzogen. Deshalb lautet die Unheilsankündigung von 10,14: Den beiden in den Fremdvölkerorakeln der Propheten wegen ihres Reichtums und des daraus erwachsenden Hochmuts verurteilten Handelsmächten38 werde es entsprechend dem, was den Boten über Sodom zugesichert worden ist (10,12), im Gericht besser ergehen als den Orten des Auftretens Jesu.
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sie sich orientieren. M. E. kann der Vers genauso gut den ursprünglichen Abschluss von 10,4-12 markieren. Dann würde 10,13-15 auf Chorazin und Bethsaida applizieren, was die Instruktion von Anfang an als Möglichkeit ins Auge gefasst hat. Auch dann allerdings hat 10,12 die Aufgabe, 10,13-15 mit der Boteninstruktion zu verknüpfen. Vgl. Mk 6,45; 8,22; Lk 9,10; Joh 1,44. Vgl. Q 7,1; Mk 1,21; 2,1; 9,33; Mt 4,13; 9,1; 17,24; Lk 4,23; Joh 2,12; 4,46; 6,17.24.59. Vgl. Jes 23; Ez 26-28; Joel 4,4-8; Sach 9,2-4.
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Doch damit nicht genug! Den Höhepunkt markierend, wird dem Fischerort Kapernaum in 10,15 dasselbe Geschick in Aussicht gestellt, wie Jes 14,13-15 es für das mächtige Babylon, die Inkarnation allen Frevels unter den Völkern, ins Auge fasst: Statt, wie es als Hoffnung unterstellt wird, in den Himmel erhöht zu werden, werde der Hauptschauplatz des Wirkens Jesu in die Unterwelt hinabsteigen. Nach Auffassung des Sprechers rechneten es sich die Bewohner offensichtlich als Auszeichnung zu, Jesus in ihrer Mitte zu haben. Sie könnten stolz darauf gewesen sein, seine Worte zu hören, verdienen aber das Gericht, weil sie dem Hören keine Taten folgen ließen (6,47-49). Ja, sie könnten sich der Gemeinschaft beim Mahl und der Lehre der Worte gerühmt haben, die Jesus auf ihren Straßen vortrug, werden aber das Tor zum Reich Gottes verschlossen finden, weil der Mahlherr sie wegen ihres Eintretens für den Frevel verleugnet (13,24-27)39. In der Unheilsankündigung an die galiläischen Orte begegnen wir zum ersten Mal dem mehrfach belegten, viel diskutierten Phänomen, dass Vertretern der Völker das Heil oder gar die Mitwirkung am Gericht über ‚dieses Geschlecht’ in Aussicht gestellt wird. In 11,31-32 wird nicht ein fiktives, sondern ein tatsächliches Verhalten zur Anklage genutzt: Die Südkönigin kam von weither, um die Weisheit Salomos zu hören, und die Nineviten kehrten auf die Botschaft des Jona hin sogar um. Beide werden deswegen über ‚dieses Geschlecht’, das sich weder von der Weisheit Jesu anlocken noch durch seine Botschaft zur Umkehr bewegen ließ, zu Gericht sitzen. 13,28-29 fasst statt der Vergangenheit die Zukunft ins Auge, und da wir eine Unheilsankündigung ohne Begründung vor uns haben, wird auf das Verhalten nicht rekurriert. Gesagt wird nur dies: Das Herbeiströmen der Völker zum Mahl des Reiches Gottes an der Seite der Väter Israels kontrastiert dem Hinauswurf der Söhne der Basileia40. Die Parallele in 14,16-24 dagegen thematisiert, 39
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Die Bezeichnung als evrga,tai avdiki,aj (Lk 13,27) bzw. als evrgazo,menoi th.n avnomi,an (Mt 7,23) legt es nahe, dass es sich bei den Angesprochenen nicht um einfache Juden handelt, sondern um Antipoden der evrga,tai von Q 10,2, die sich in den Umkreis des Wirkens Jesu begeben, um dort so, wie es besonders deutlich in Q 11,52 zum Ausdruck kommt, gegen seinen Einfluss auf ’die Menschen’ zu arbeiten. Dies könnte sich im Kontext der Mahlgemeinschaft speziell gegen Vertreter des pharisäischen Standpunktes richten. Vgl. RAU, Jesus (Anm. 34), bes. 133-143. Seit D.C. ALLISON, Who Will Come from East to West? Observations on Matt. 8.11-12 – Luke 13.28-29, IBS 11 (1989), 158-170 wird das Herbeiströmen der Vielen oft nicht auf die Völker, sondern auf die Diasporajuden bezogen. Vgl. M.F. BIRD, Who Comes from the East and the West? Luke 13.28-29 / Matt 8.11-12 and the Historical Jesus, NTS 52 (2006), 441-457 (Lit.). So sehr es für diese Vorstellung biblische Belege gibt, so sehr scheint mir deren Inanspruchnahme für die Erklärung von Q 13,28f eine apologetische Konstruktion zu sein, die – der Sache nach zu Recht, aber auf falsche Weise – verhindern will, dass die Verurteilung ‚dieses Geschlechts’ ganz Israel im Auge hat: Sie gelte den Opponenten Jesu, nicht aber der Diaspora.
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warum die Erstgeladenen ‚dieses Geschlechts’ vom Mahl ausgeschlossen werden, verschweigt aber erneut, wodurch sich die Ersatzgäste aus den Völkern für die Teilnahme qualifizieren. Wenn Repräsentanten der Völker ein positives Verhalten gegenüber Jesus unterstellt wird, geht der Blick zurück in die große Vergangenheit Israels. Die Gegenwart spielt nur beim Schuldaufweis gegen ‚dieses Geschlecht’ eine Rolle, und wo die Aufmerksamkeit auf die eschatologische Zukunft gelenkt wird, sucht man vergeblich nach einer Antwort auf die Frage, ob und wie das Herbeiströmen der Völker durch ihr Verhalten gefördert werden kann. Dies alles unterstreicht, dass sich der, dem wir hier begegnen, in keiner Weise um Anerkennung und Erfolg unter den Völkern bemüht hat. Deren positive Charakterisierung ist primär ein Reflex auf sein Widerfahrnis der Ablehnung durch ‚dieses Geschlecht’ und unterstreicht so kontrastiv wie nur möglich, dass das Gericht über die, die sich in Israel Jesus gegenüber verschlossen haben, unerbittlich ist41. Die Boteninstruktion wird in 10,16 durch ein Wort abgeschlossen, das uns in Anlehnung an die verbreitete Vorstellung vom Gesandten42 verrät, was die Angesprochenen dazu befähigt, an der Sendung durch Jesus auch dann festzuhalten, wenn dieser nicht bei ihnen ist. Auch dann nämlich gilt: Wer sie hört, hört Jesus zu sich sprechen, tun die Boten doch nichts anderes, als dessen Worte weitersagen. Dies allerdings ist nur die Basis für die Pointe, die die Fortsetzung bringt: Da die Boten in den Worten, die sie sagen, deren Sprecher repräsentieren, verwerfen die, die die Boten verwerfen, Jesus selbst und mit Jesus den, der Jesus gesandt hat. Das verleiht der vorausgehenden Gerichtsdrohung die denkbar größte Autorität. Durch 10,16 erfahren wir, warum die Worte Jesu festgehalten werden: Damit die Boten sie weitersagen. Ausschließlich hier finden sie die Orientierung für ihre Arbeit, setzen sie doch lediglich fort, was Jesus ihnen aufgetragen hat. Die Bedürfnisse der eigenen Gegenwart lassen sich deswegen weniger an den Veränderungen ablesen, die die Worte selber erfahren, als an der Platzierung, die sie in einer Redekompositi-
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Trotzdem stellt sich natürlich die Frage, ob die Boten Jesu in diesen Worten nicht mit einer Offenheit gegenüber den Völkern konfrontiert werden, die so ungewöhnlich ist, dass sie in einer neuen Konstellation den Blick auf deren Repräsentanten in der eigenen Gegenwart verändern kann. An Q 7,1-10 möchte ich zeigen, dass dies in der Tat der Fall gewesen sein dürfte. Vgl. J.A. BÜHNER, Der Gesandte und sein Weg im 4. Evangelium (WUNT II 2), Tübingen 1977, bes. 118-166.181-271.
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on erhalten. Was die Boteninstruktion betrifft, ist der redaktionelle Eingriff in den Wortlaut jedenfalls außerordentlich gering43.
5. Der Kommende, der Feuertäufer und das Feuergericht Es ist singulär, dass eine Schrift, die der Autorität Jesu verpflichtet ist, mit Worten einer anderen Autorität eröffnet wird, die weder hier noch an anderer Stelle relativiert oder gar außer Kraft gesetzt werden. Es handelt sich um zwei Worte Johannes des Täufers, die nach allem, was wir wissen, das Zentrum seiner Verkündigung markieren44. Sie leben von ihren Metaphern von Baum und Frucht, von Ernte, Weizen und Spreu, deren Bildfelder im zeitgenössischen Judentum eine breite Basis haben45. Das erste Wort ist die Unheilsankündigung von Q 3,7-9, die sich aus dem Scheltwort von 3,7-8 und dem Drohwort von 3,9 zusammensetzt. Das Scheltwort unterstellt den in einer ersten Charakterisierung als Otterngezücht beschimpften Hörern und Hörerinnen in einer rhetorischen Frage die Auffassung, sie könnten dem kommenden Zorn entrinnen, ohne karpoi, zu erbringen (poiei/n), die der von Johannes geforderten meta,noia entsprechen. Von der Notwendigkeit zur Umkehr, so lautet die Zuspitzung, entlaste nicht einmal die Berufung auf Abraham als Vater. Das Drohwort verweist daraufhin auf das unmittelbar vor der Tür stehende Gericht, das pa/n ou=n de,ndron mh. poiou/n karpo.n kalo,n im Feuer vernichten werde. Das zweite Wort spezifiziert in 3,16-17: Es ist der Kommende, der die Angesprochenen (mit heiligen Geist und) mit Feuer taufen und durch Scheidung der Spreu vom Weizen das angekündigte Feuergericht vollstrecken wird46. Fragt man, was den Autor zu dieser ungewöhnlichen Eröffnung der Logienquelle durch Täuferworte motiviert haben mag, richtet sich der Blick als erstes auf Q 7,18-23, führt Jesus hier doch gleich zu Beginn der Rede über Johannes aus, inwiefern er selber der Kommende ist. Von Frucht und Umkehr, vom Feuergericht und Feuertäufer ist dabei allerdings weder hier noch in den anderen Worten der Komposition die 43
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Man kann erwägen, ob die Redaktion neben der Zufügung von Q 10,12 auch noch dafür verantwortlich ist, dass der Ort des Wirkens der Boten in 10,8.10(12) als po,lij bezeichnet wird. In diesem Fall könnte to,poj in Mk 6,11 das Ursprüngliche bewahrt haben. Die Überlegung erübrigt sich allerdings, wenn semitisches ry[ im Hintergrund steht. Vgl. bes. REISER, Gerichtspredigt (Anm. 22), 154-182. Vgl. VON GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik (Anm. 28), bes. 122-141. Falls das Geistmotiv primär ist, ist es auf den positiven Aspekt des Erntevorgangs bezogen, das Einsammeln des Weizens.
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Rede. Folgt daraus, dass der Jesus der Logienquelle die Gerichtserwartung des Täufers abrogiert? Zur Vorsicht mahnt bereits die Beobachtung, dass es zwischen dem Schelt- und Drohwort gegen das Otterngezücht und den Worten gegen ‚dieses Geschlecht’ mannigfache Beziehungen gibt. Beim Täufer heißt es, vor dem Gericht rette nur die der meta,noia entsprechende Frucht, nicht aber die Berufung auf die Herkunft von Abraham, dem Gott selbst aus Steinen Kinder erwecken könne. Und bei Jesus wird die Härte des Gerichts durch den Blick auf ein positives Verhalten von Repräsentanten der Völker unterstrichen. Ja, zweimal ist dabei ganz im Sinne des Täufers von meta,noia die Rede (10,13-15; 11,31f)47. Und einmal heißt es sogar, dass die Völker zum Mahl der Basileia mit Abraham, Isaak und Jakob herbeiströmen, während die Söhne der Basileia herausgeworfen werden (13,28f). Werden hier nicht die, die sich auf Abraham als ihren Vater berufen, durch dessen aus Steinen erweckte Kinder verdrängt? Mir scheint, der Blick auf die Worte gegen ‚dieses Geschlecht’ signalisiert: Der Jesus von Q sagt sich keineswegs los von der Gerichtserwartung des Täufers. Liest man die Logienquelle zwei Stücke weiter, zeigt sich spätestens beim Doppelgleichnis vom Hausbau zum Abschluss der Eröffnungsrede, dass er sie seiner Verkündigung des Reiches Gottes in eindrucksvoller Weise amalgamiert.
6. Der Mandatar des Reiches Gottes In einer vom Dialog dominierten Narratio, einer Art ’Wortgeschichte’, die uns in der Logienquelle sonst nur noch beim Hauptmann von Kapernaum begegnet, führt uns die Versuchungsgeschichte von Q 4,1-13 in drei Szenen vor Augen, wie schriftkundig und schlagfertig Jesus im Kampf mit dem Teufel seine Gottessohnschaft bewährt, von der in den ersten beiden Szenen die Rede ist. Wie Christopher M. Tuckett gezeigt hat48, ist ui`o.j tou/ qeou/ hier weder christologischer Titel noch im engeren Sinne messianisch konnotiert, sondern zeichnet Jesus aus als den, der einerseits Repräsentant aller Söhne ist, die Gott im Sinne der Logienquelle zu ihrem Vater haben, der als Sohn in ausgezeichnetem Sinne andererseits aber auch die einzigartige Vollmacht besitzt, den Seinen Gottes Vatersein zu offenbaren49. Mit der Eröffnungsklausel wendet 47 48 49
Vgl. außerhalb von Q nur noch Lk 13,1-5. C.M. TUCKETT, The Temptation Narrative in Q, in: F. VAN SEGBROECK u.a. (Hg.), The Four Gospels 1992, FS F. Neirynck I-III (BEThL 100), Leuven 1992, I, 479-507. Vgl. Q 6,35f.; 10,22; 11,2-4.11-13; 12,22-31.
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sich der Teufel dementsprechend „to one who is/claims to be/struggles to be an obedient son of God: i.e. to Jesus and by implication to Q Christians who claim God as their Father“50. Dem korrespondiert, dass die Versuchungsgeschichte ungewöhnlich zahlreiche Beziehungen zu Einzelüberlieferungen von Q aufweist51. Tuckett folgert daraus: „By placing such a story to the start of the document, the Q-editor provides the reader with an important hermeneutical key for what is to follow“52. Man wird sogar sagen dürfen, dass der Text niemals selbständig existiert hat, sondern ein literarisches Produkt ist, das erst für den Kontext der Logienquelle geschaffen worden ist53. Vermutlich rekurriert der Autor zu Beginn (Q 4,1-2a) auf eine ähnlich knappe, für Deutungen offene Tradition vom peirasqh/nai Jesu wie Mk 1,12-1354. Er erläutert jedoch, dass das lange Fasten zum Hunger führt, und nutzt dies als Exposition für die erste Szene (Q 4,2b-4), die ihrerseits eine Art Introitus für die zweite und dritte Szene ist (4,9-12.58). Er verschafft sich auf diese Weise die Möglichkeit, den Motiven seiner Überlieferung, an denen ihm besonders gelegen ist, gleich am Anfang seiner Schrift einen signifikanten Haftpunkt zu geben. Anders formuliert: Hier kommt weder eine späte Redaktion zu Wort, die von einer früheren unterschieden werden könnte55, noch haben wir eine späte „addition“ zu Q1 und Q2 vor uns56. Wir können vielmehr demjenigen auf die Finger sehen, der auf die Redaktion der Logienquelle, und dass heißt ja: auf ihre kompositionelle Strukturierung, maßgeblichen Einfluss hatte57. Dass die Redaktion ‚später’ ist als die Worte Jesu, die sie in Form von Reden überliefert, versteht sich dabei von selbst. Vom 40-tägigen Fasten hungrig geworden, widersteht Jesus in der ersten Szene von Q 4,1-4 der Aufforderung des Teufels, sich durch die Macht seines Wortes Brot zu verschaffen. Wissend, dass keiner von Brot 50 51
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TUCKETT, Narrative (Anm. 48), 495f. TUCKETT, Narrative (Anm. 48), bes. 494-506. Vgl. L. SCHOTTROFF / W. STEGEMANN, Jesus von Nazareth – Hoffnung der Armen (UB 639), Stuttgart 1978, 72-77; A. LINDEMANN, Die Versuchungsgeschichte Jesu nach der Logienquelle und das Vaterunser, in: D.-A. KOCH / G. SELLIN / A. LINDEMANN (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 91-100; SCHRÖTER, Erinnerung (Anm. 14), 446-448. TUCKETT, Narrative (Anm. 48), 506. Vgl. M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 178, der allerdings nicht Q, sondern Lk im Blick hat, wenn er meint, die Versuchungsgeschichte sei „von vornherein mit der Erzählung von der Taufe Jesu, der Geistverleihung und der Proklamation als Gottessohn verbunden“ gewesen. Für Q ist dies zumindest umstritten. Vgl. die Diskussion bei SCHRÖTER, Erinnerung (Anm. 14), 443-445. Anders SCHULZ, Q (Anm. 14), 182, der in Mk ein Exzerpt der Q-Überlieferung sieht. So POLAG, Christologie (Anm. 18), 15-17.146-151. So KLOPPENBORG, Formation (Anm. 1), 246-262. Anders LÜHRMANN, Redaktion (Anm. 9), 56, nach dem Q 4,1-13 keinerlei Aussage über die Redaktion von Q erlaubt.
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allein lebt, wird er dadurch zum Vorbild derer, die er im Vaterunser lehrt, mit dem Kommen des Reiches Gottes zugleich um das Brot zu bitten, mit dem dort zu rechnen ist (11,2-4)58. Ja, Jesus stellt sich an die Seite der Armen, denen er die Sättigung verheißt, die ihnen das Reich Gottes bringt (6,20-21). Und er demonstriert, auf welcher Basis er seine Boten ohne jeden Proviant in die Fremde schickt, um dort die Nähe des Reiches zur Wirkung bringen (10,4-12). Konkret: Er lebt vor, warum er sie auffordern kann, sich in Vertrauen auf die Fürsorge Gottes nicht um Nahrung und Kleidung zu sorgen, sondern alle Energie auf die Suche des Reiches Gottes zu richten (12,22-31). In der zweiten und dritten Szene tritt Jesus als Anwalt der Sache des Gottes Israels auf. In deutlicher Steigerung gegenüber dem Eintreten für den Sinn des Fastens stellt er sich zunächst der Verpflichtung, ku,rion to.n qeo,n sou nicht zu versuchen, und danach erweist er sich sogar als Protagonist des Hauptgebotes, ku,rion to.n qeo,n sou allein zu verehren. In der zweiten Szene von 4,9-12 möchte der Teufel Jesus dafür gewinnen, Gott durch den Sturz von der Zinne des Tempels dazu herauszufordern, seine Macht zur Rettung zu offenbaren. Er agiert dabei als Archetyp derer, die von Jesus in versucherischer Absicht ein Zeichen vom Himmel fordern, weil sie sich der Einsicht entziehen, dass die Exorzismen die Präsenz des Reiches Gottes bezeugen (11,16-23). Jesus dagegen weiß: ouvk evkpeira,seij ku,rion to.n qeo,n sou (4,12). Er stellt dadurch seine Fähigkeit zur Zurückweisung der Zeichenforderung unter Beweis (11,29f.). Ja, er weiß, was auf dem Spiele steht, wenn er die Seinen im Vaterunser um Bewahrung vor dem peirasmo,j zu bitten lehrt (11,2-4). Um Gottes kurio,thj geht es erst recht in der dritten Szene von 4,5-8, mit der die Versuchungsgeschichte ihren Höhepunkt erreicht. Um den Preis der Proskynese verspricht der Teufel seinem Antipoden die Herrschaft über pa,saj ta.j basilei,aj tou/ kosmou/. Jesus weist dies entschieden zurück, weiß er doch: ku,rion to.n qeo,n sou proskunh,seij kai. auvtw|/ mo,nw| latreu,seij (4,8). Er qualifiziert sich dadurch, so ist die unausgesprochene Konsequenz, zum Mandatar der Alternative zu den Reichen der Welt: der basilei,a tou/ qeou/. Man sieht: Der Kampf mit dem Teufel gibt dem Autor der Logienquelle die Möglichkeit, Jesus vorzustellen als den, der seine Gottessohnschaft unter Beweis stellt, indem er – ohne dass der Ausdruck selber fällt! – dem Reich Gottes in all seinen Facetten Raum schafft. „God“, fasst Tuckett zusammen, „is the God who demands exclusive worship. 58
Zu den verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten vgl. z. B. LUZ, Matthäus I/1 (Anm. 15), 345-348.
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Hence neutrality is impossible. But part of the claim of God is via the claims associated with His Kingdom; and any rival 'kingdom' is here claimed to be demonic in origin“59. Dagegen sucht man vergeblich nach einer Spur der Gerichtsperspektive, die der Täufer eingeführt hat, und offen bleibt auch, warum so nachdrücklich auf der Alleinverehrung des Gottes Israels insistiert wird. Ersteres klärt sich, wenn die Lektüre der Logienquelle zum Schluss der Eröffnungsrede vorgedrungen ist, letzteres, wenn sie sich auch auf die daran anschließende Geschichte über den Hauptmann von Kapernaum erstreckt.
7. Wer meine Worte hört und nicht tut Nachdem der Teufel ihn geschlagen verlassen hat (Q 4,13), wendet Jesus sich nach Q 6,20a an seine maqhtai,, deren Kreis bei den Leserinnen und Lesern der Logienquelle als bekannt vorausgesetzt wird. Er hält ihnen in 6,20b-49 seine erste Rede, die als drittes Glied des Einleitungsteils einen völlig anderen Charakter hat als die übrigen Redekompositionen von Q. Sie wird in 6,20b-21 in markanter Korrespondenz zur Klimax der Versuchungsgeschichte mit dem programmatischen, triadisch aufgefächerten Makarismus der Armen eröffnet, die hungern und weinen, weil ihnen der Zugang zur Lebensfreude versperrt ist, die das Essen den Menschen bereitet: Das Reich Gottes wird ihren Hunger stillen und ihre Tränen beim Festbankett mit den Vätern in Lachen verwandeln60. Der Makarismus gilt zweifellos auch denen, die sich der Nähe des Reiches Gottes öffnen, mit der die Boten Jesu sie konfrontieren (10,9). Er gilt aber auch den Boten selbst, werden diese durch den Verzicht auf die Mitnahme von Proviant doch selber zu Armen, die hungern, solange Gott ihnen nicht einen Sohn des Friedens schickt, der sie als Lohn für ihre Arbeit in seinem Haus beköstigt (10,4-7). Der vierte Makarismus in 6,22-23 macht die Applikation auf die Boten sogar ausdrücklich. Denn Hass und Verleumdung, deretwegen die Jünger hier in direkter Anrede selig gepriesen werden, gehören zweifellos mit zu dem Leidensgeschick, das den Adressaten der Boteninstruktion mit dem Vergleich von der Sendung wie Schafe unter Wölfe in Aussicht gestellt wird (10, 3).
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TUCKETT, Narrative (Anm. 48), 506. Vgl. E. RAU, Arm und Reich im Spiegel des Wirkens Jesu, in: C. BÖTTRICH (Hg.), Eschatologie und Ethik im frühen Christentum, FS G. Haufe (Greifswalder theol. Forschungen 11), Frankfurt a. M./Berlin u.a. 2006, 249-268.
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Mit einer Beteuerungsformel neu einsetzend, folgt den Makarismen in 6,27-49 eine Komposition von Worten Jesu, bei denen es sich überwiegend um Mahnungen handelt. Dazu gehört an erster Stelle das Gebot der Feindesliebe in 6,27-36, wo uns in den Einzelforderungen gleich zu Beginn ein Ethos begegnet, das ausgezeichnet zu der demonstrativen Wehrlosigkeit passt, mit der Jesus seine Boten aussendet (10,4) – auch wenn sich nur Weniges speziell auf Gefahren bezieht, denen der Wanderer ausgesetzt ist. Das könnte noch am ehesten der Fall sein bei der paradoxen Reaktion, mit der nach 6,29-30 auf Backenstreich, Kleiderraub und Forderungen jederlei Art geantwortet werden soll. Gegen Ende der Rede gibt es in 6,43-46 eine Sequenz, die in einem Dreischritt das poiei/n zum Thema macht61. Sie beginnt mit einer weisheitlichen Belehrung, nach der es einen unlösbaren Zusammenhang gibt zwischen der Qualität eines Baumes und seinem poiei/n des karpo,j: Ein guter Baum bringt gute und ein schlechter Baum bringt schlechte Frucht hervor, so dass aus der Art der Frucht auf die Art des Baumes zurück geschlossen werden kann (6,43f). Dies wird anschließend auf den Menschen übertragen: Der gute Mensch bringt aus dem Schatz seines Herzens Gutes hervor, der böse Böses, das mit Nachdruck als böse Rede spezifiziert wird (6,45). Am Schluss fordert Jesus in Form einer rhetorischen Frage dazu auf, nicht bei der ehrfurchtsvollen Anrede als Kyrios stehen zu bleiben, sondern zu tun, was er sagt: poiei/te a] le,gw (6,46). Wer die Logienquelle bis zu dieser Stelle gelesen hat, weiß, dass hier die Metaphorik von Q 3,7-9 zum Tragen kommt: So wie Johannes der Täufer das Tun der Frucht fordert, die der vor ihm zu vollziehenden Umkehr entspricht, fordert Jesus das Tun der Frucht seiner Worte. Johannes bringt dies in einem Scheltwort zur Sprache, das mit dem Feuergericht droht, während Jesus mit der Gesetzmäßigkeit der Schöpfung argumentiert. Folgt daraus, dass er das Gerichtsmotiv beiseite schiebt? Das in Q 6,47-49 unmittelbar anschließende Doppelgleichnis vom Hausbau, das den Schluss der Eröffnungsrede markiert, verrät das Gegenteil62. Es verheißt jedem, der die lo,goi Jesu hört und tut (o` poiw/n), Bewahrung vor dem Gericht, und es droht jedem, der sie hört und nicht tut (o` mh. poiw/n), den Untergang an. Letzteres besitzt das Achtergewicht, so dass wir eine Parallele zu 3,7-9 vor uns haben, die zeigt, wie der Je61 62
Vgl. bes. VON GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik (Anm. 28), 141-151. Zur Einzelexegese vgl. bes. RINIKER, Gerichtsverkündigung (Anm. 22), 275-287; B.H. GREGG, The Historical Jesus and the Final Judgement Sayings in Q (WUNT II 207), Tübingen 2006, 79-91; M. MAYORDOMO, ‚Einstürzende Neubauten’ (Hausbau auf Felsen oder Sand). Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,47-49), in: ZIMMERMANN (Hg.), Kompendium (Anm. 15), 92-99.
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sus der Logienquelle die Gerichtsverkündigung des Täufers seinem eigenen Anliegen adaptiert. Dabei ist sachlich ohne Gewicht, dass die Vernichtung nicht dem Feuer, sondern einer Art Sintflut zugeschrieben wird63. Belangvoll sind dagegen zwei andere Besonderheiten: Das Gericht orientiert sich an der Stellung zu den Worten Jesu, und der Drohung geht eine Verheißung voraus64. Es gibt noch eine dritte, für unsere Fragestellung besonders wichtige Differenz: Während der Täufer die, denen er das Gericht androht, direkt anspricht, führt Jesus seinen Jüngern vor Augen, was jeder, der seine Worte hört, vom Eschaton zu erwarten hat. Anders formuliert: Er lehrt diejenigen, die sich selber längst auf die Seite derer geschlagen haben, die die Worte tun, welches die theologische Basis der Gerichtsdrohung ist, zu der er sie in der Boteninstruktion bevollmächtigt (10,1012.13-15): Wer sie nicht aufnimmt, hat in den Worten der Boten, die ihnen die Nähe des Reiches Gottes zusprechen, die Worte Jesu gehört, ohne sich auf deren Praxis einzulassen, und wird deshalb dem Unheil überantwortet werden. Mehr noch: Die Eröffnungsrede im Ganzen ist mit ihrer programmatischen Verheißung des Reiches Gottes am Anfang, mit den Mahnungen, die daran anschließen, und mit dem Doppelgleichnis vom Hausbau am Schluss eine Einweisung in die Grundlagen der Boteninstruktion. Zugespitzt lässt sich geradezu sagen: Statt mit Geld, Ranzen, Sandalen und Stock schickt Jesus seine Boten mit der Eröffnungsrede wie Schafe unter die Wölfe in die Fremde, um dort Mahlgemeinschaft zu halten, Kranke zu heilen und die Nähe des Reiches Gottes zu ver-
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Vgl. die Erwähnung der Gehenna als Strafort in Q 12,5 und die auch im übrigen Judentum geläufige Parallelisierung von Endzeit und Sintflut in 17,26-27. Das eine wie das andere signalisiert eine Veränderung der Perspektive, die sich auch in der Rede von 7,18-35 über Johannes den Täufer widerspiegelt. Bei der Antwort auf die Frage nach dem Kommenden spricht Jesus in 7,18-23 bezeichnenderweise nicht vom Feuertäufer, sondern von der Erfüllung der jesajanischen Heilsverheißungen und preist selig, wer sich nicht an ihm ärgert. Selig ist demnach, wer sich der Deutung des Wirkens Jesu von Jesaja her, die Jesus selber – in einem Wort! – vornimmt, nicht entzieht. Dabei wird vorausgesetzt, wenn auch nicht zum Thema gemacht, dass es auch die Möglichkeit des Ärgerns gibt, die das Gericht zur Folge hat. Die Verschiebung von 3,7-9 zu 6,47-49 macht aber auch verständlich, warum Jesus den Täufer in 7,24-28 anschließend in den höchsten Tönen preist, im Blick auf die Basileia dagegen herabsetzt. Ersteres dürfte die Hochschätzung seiner Verkündigung widerspiegeln, letzteres die Unzulänglichkeit von deren Heilsperspektive im Blick haben. Und schließlich: Auch im Gleichnis von 7,31-35 werden Übereinstimmung und Differenz ins Auge gefasst, wenn es heißt, Johannes und Jesus sähen sich trotz der konträren Form ihres Auftretens gemeinsam der Ablehnung durch ‚dieses Geschlecht’ ausgesetzt. Auch hier wird vorausgesetzt, dass ‚dieses Geschlecht’ dem Gericht verfällt. Gesagt aber wird dies nicht, weil die Aufmerksamkeit denen gilt, die der Weisheit Recht geben, indem sie deren Boten Folge leisten.
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kündigen. Wer sie aufnimmt, entgeht dem Gericht, wer nicht, kommt darin um.
8. Kapernaum – Ort des Scheiterns, Ort des Aufbruchs Im Anschluss an die Eröffnungsrede heißt es in Q 7,1, nachdem Jesus deren Worte beendet hatte, sei er nach Kapernaum gegangen. Dies ist eine für Q singuläre Verknüpfung zweier Texte, die noch vor jeder Beobachtung inhaltlicher Art vermuten lässt, dass die Eröffnungsrede für das Geschehen in Kapernaum, von dem wir in 7,2-10 erfahren, von großer Bedeutung ist. Aus dem Weheruf von Q 10,13-15 wissen wir, dass Kapernaum für Jesus ein Ort größter Erniedrigung war. Die Bewohner rechneten sich seine Präsenz in ihrer Mitte offenbar als Auszeichnung zu – vielleicht, weil sie seine Worte hören konnten. Sie werden jedoch dem Gericht verfallen, weil sie die Präsenz nicht nutzten – vielleicht schenkten sie den Worten keinen Glauben, ‚taten’ sie also nicht. Wenn der Ort am See Gennesaret jetzt noch einmal erwähnt wird, kann dies trotz der Seltenheit, in der in Q Ortsnamen vorkommen65, auf Zufall beruhen, aus dem nicht allzu viel gefolgert werden darf – zumal die Lokalisierung des Geschehens traditionell ist. Denkbar ist aber auch, dass Q 7,1 eine Geschichte ankündigt, die erzählt, wie es in Kapernaum zur Zurückweisung Jesu gekommen ist, die der Weheruf thematisiert. Ich hoffe zeigen zu können, dass zwischen 10,13-15 und 7,1-10 in der Tat eine enge Beziehung besteht. Doch sagt uns 7,1-10 nichts über die näheren Umstände der Ablehnung, die Jesus in Kapernaum widerfuhr. Wir erfahren vielmehr, dass er am Ort seines Scheiterns einem neuen Aufbruch das Wort redet. Angekommen in Kapernaum, tritt nach 7,2-5 ein Hauptmann an Jesus heran und legt ihm den Fall seines schwer erkrankten Sklaven vor66. Er tut damit dasselbe, was der Helfer immer tut, wenn sich eine Kranke oder ein Kranker wegen der Schwere ihres bzw. seines Gebrechens nicht selber zu Jesus begeben kann67. Das gilt auch für die Parallele in Joh 4,46-54. Diese verrät, dass der Autor der Logienquelle in Q 7,1-10
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Über Q 7,1 und 10,13-15 hinaus kann nur noch auf 13,34f. (Jerusalem) hingewiesen werden. Der Q-Version kommt Mt 8,5b-6 am nächsten. Vgl. Mk 5,22-24.35-43 (V.22f.); 7,24-30 (V.25f.); 9,17f. sowie Fragment 1 des geheimen EvMk (GMk) (Exposition). Vgl. G. THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur Erforschung der synoptischen Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 1974, 59f.
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auf eine Überlieferung zurückgreift68, die er, wie immer sie gelautet haben mag, vermutlich vollständig neu formuliert. Ähnlich wie bei der Versuchungsgeschichte ergreift er insbesondere nach der Exposition im Dialog des Hauptteils (7,6-10) selber das Wort – allerdings nicht, um Jesus erneut zu zentralen Aspekten der Q-Überlieferung im Ganzen in Beziehung zu setzen, sondern um den Schluss der Eröffnungsrede in ein neues Licht zu rücken. Letztlich tut er dabei allerdings nichts anderes, als in souveräner Beherrschung der Erzähltechnik einer Fernheilung zwei Motive seiner ‚Vorlage’ zu spezifizieren: Erstens rückt er ins Zentrum der Aufmerksamkeit, was wir in Joh 4,50 über den Glauben des Helfers erfahren, von dem es heißt: evpi,steusen tw/| lo,gw|| o]n ei=pen auvtw/| o` VIhsou/j) Zweitens legt er fest, dass statt eines basiliko,j (Joh 4,46.49), bei dem es sich um einen Beamten oder Söldner von Herodes Antipas handeln wird, ein e`kanto,ntarcoj auftritt. Denn nur ein Militär vom Rang eines Centurio ist in der Lage, Jesus mit dem für die Pointe wichtigen Wort gegenüberzutreten, dass er unter einer evxousi,a steht, die er im Befehl, der Gehorsam verlangt, auch für sich selber in Anspruch nimmt69. Gedacht ist dabei wohl nicht an einen Centurio im Dienst des Landesherrn, sondern der Römer. Dessen Präsenz in Kapernaum mag unter historischen, nicht aber unter literarischen Gesichtspunkten anachronistisch sein70. Sachlich von Gewicht ist allein, auch wenn es erst aus der Gegenüberstellung zu Israel in Q 7,9 zu erschließen ist: Mit dem Hauptmann betritt ein Repräsentant der Völker die Bühne des Geschehens71, der anders als bei den Worten gegen ‚dieses Geschlecht’ weder der großen Vergangenheit Israels entlehnt ist noch der eschatologischen Zukunft, sondern in der erzählten Gegenwart zu Hause ist. Auf Intervention des Helfers hin kommt es in den vergleichbaren Wundergeschichten durchweg, wenn auch in sehr verschiedener Weise, dazu, dass Jesus sich des bzw. der Kranken erbarmt. Einmal heißt es sogar, dass er mit dem Helfer zu ihr geht (Mk 5,24)72. Bei Q 7,6a dagegen legt der Erzähler Jesus nur die Absicht des Kommens in den Mund:
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Vgl. bes. WEGNER, Hauptmann (Anm. 14), 18-74. Vgl. D.R. CATCHPOLE, The Centurion's Faith and its Function in Q, in: VAN SEGBBROECK u.a. (Hg.), Four Gospels I (Anm. 48), 517-540: 528. Anders z. B. K.-H. OSTMEYER, Armenhaus und Räuberhöhle? Galiläa zur Zeit Jesu, ZNW 96 (2005), 147-170: 52 Anm. 33, der aus der Abwesenheit des römischen Militärs in Galiläa folgert, der Hauptmann „an der Grenzstation zur Tetrarchie des Philippus dürfte als ausländischer Offizier im Heer des Antipas gedient haben“. Vgl. CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 527, der meint, dass ein Centurio "is in itself ethnically neutral", diesen ebd. 539f. allerdings auch in Q 7,9 nicht als Vertreter er Völker qualifiziert sieht. Vgl. GMk Fragment 1.
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evgw. evlqw.n qerapeu,sw avuto,n73. Er lässt die Absicht jedoch nicht zur Tat werden, weil er einzig daran interessiert ist, dem Hauptmann in 7,6b-8 die Chance einer Entgegnung zu geben, die es Jesus in 7,9 ermöglicht, dessen pi,stij zu rühmen. Nach Q 7,6b macht der Centurio zunächst geltend, er sei nicht wert, dass Jesus sein Haus betritt. Heißt das, dass er einen Juden nicht zur Verletzung der Reinheitstora verleiten will74? Aufgrund der ehrfurchtsvollen Anrede mit ku,rie, aber auch der stilistischen Parallele in 3,16 ist eher davon auszugehen, dass er seine Unwürdigkeit und Niedrigkeit betont75. Statt Jesus einen Besuch zuzumuten, bittet er ihn 7,7b in Explikation der Exposition von 7,2-5: avlla. eivpe. lo,gw|| kai. ivaqh,tw o` pai/j mou. Zur Erläuterung seines Vertrauens auf die Macht des lo,goj Jesu weist er in 7,8a zunächst auf die Autoritätsstruktur seines Berufes hin: So wie er selber u`po. evxousi,an eines Vorgesetzten steht, hat er seinerseits Soldaten unter der Befehlsgewalt. Letzteres entfaltet er 7,8b in drei Beispielen, die zeigen, dass es für das Verhältnis zu seinen Untergebenen nur ein einziges Gesetz gibt: das von Befehl und Gehorsam. Das erste und zweite Beispiel, das unanschaulich ‚diesen’ und einen ‚anderen’ (sc. Soldaten) als Befehlsempfänger nennt, bezieht sich auf das zweck- und ziellose Gehen und Kommen) Das dritte Beispiel dagegen, auf dem das Achtergewicht ruht, gibt dem Befehlsempfänger ein Gesicht. Es ist der Sklave, dessen Aufgabe es ist, das Befohlene zu tun. Dementsprechend heißt es: kai. (zu ergänzen: le,gw) tw/| dou,lw|| mou/\ poi,hson tou/to( kai. poiei/) Sein Berufsethos befähigt den e`kato,ntarcoj, in bewundernswerter Weise zu erkennen, dass Jesus das Gehorsam heischende Wort nicht aus eigener Autorität für sich in Anspruch nimmt: „As with the centurion's being under authority so that he has power to issue commands which are obeyed, so also Jesus' authority which derives from God implies that he needs only to speak and the demons of sickness will obey“. David R. Catchpole, dem wir diese Formulierung verdanken76, scheint freilich nicht gesehen zu haben, dass der Centurio in seiner Rede im Kontext der Logienquelle mehr offenbart als sein Vertrauen auf die Macht des Heilungswortes. Denn wenn er in unüberbietbarer Prä73
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Schon angesichts von Mk 5,24 empfiehlt es sich nicht, Q 7,6a mit LUZ, Matthäus I/2 (Anm. 15), 14 als Frage aufzufassen, die Jesus ähnlich wie Petrus in Apg 10,28 einen Vorbehalt gegenüber dem Kontakt mit dem Hauptmann zuschreibt, wie er auch der Reserve gegenüber der Syrophönizerin in Mk 7,27 entspricht. An diesem für die Struktur der Geschichte wichtigen Punkt besteht zwischen Q 7,1-10 und Mk 7,24-30 ein gravierender Unterschied. So z. B. WEGNER, Hauptmann (Anm. 14), 375-380; LUZ, Matthäus I/2 (Anm. 15), 12 Anm. 1. Vgl. CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 526f.; FLEDDERMANN, Q (Anm. 1), 350f.; WOLTER, Lukasevangelium (Anm. 53), 272. CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 533f. unter Berufung auf SCHULZ, Q (Anm. 14), 243.
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zision zur Sprache bringt, was er über den Zusammenhang von Befehl und Gehorsam weiß, demonstriert er zugleich: Aus täglichem Umgang mit dem, dessen Heilung ihm schon aus Eigennutz am Herzen liegt, weiß er auch, dass jemand wie Jesus, der in der Autorität Gottes handelt, die Vollmacht hat, von jedem, der seine lo,goi hört, am Ende der Eröffnungsrede zu fordern, was über Heil und Unheil entscheidet: poi,hson auvtou,j. Zu tun, was Jesus verlangt, ist aus der Sicht des Soldaten deshalb eine ganz und gar selbstverständliche Pflicht. Wird der Hauptmann auf diese Weise nicht zum Vorbild für alle, die Jesu Worte hören77? Dafür spricht, dass Jesus sich vor der Konstatierung der Heilung (7,10), die den Schluss der Geschichte markiert78, in 7,9 bemerkenswerterweise nicht dem Hauptmann selber zuwendet, sondern toi//j avkolouqou/sin) VAkolouqei/n aber begegnet uns in Q erst wieder in den beiden Nachfolgeworten von Q 9,57-6079, die der Einleitung von 10,2-16 dienen. Daraus folgt: Jesus spricht nicht den o;cloj an (so Lk 7,9), sondern die in der Nachfolge stehenden maqhtai,80, die er durch die Eröffnungsrede befähigt, der Boteninstruktion Folge zu leisten. Was aber gibt Jesus den Seinen in Kapernaum als Lehre aus der Wundergeschichte mit auf den Weg? Voll Staunen über die Einsicht, die der Hauptmann in seiner Rede offenbart, beteuert er: le,gw u`mi/n( ouvde. evn tw/| VIsrah.l tosau,thn pi,stin eu-ron. Auffällig ist hier der Aorist) Er signalisiert, dass Jesus bereits an dieser Stelle der Logienquelle – noch vor den ersten beiden diesbezüglichen Worten in 7,31-35 und 10,13-15 – die negative Bilanz seines Auftretens kennt: ‚Dieses Geschlecht’ hat ihn abgelehnt81. Das ist die dunkle Folie, auf deren Hintergrund er an dem Ort, an dem sich diese Bilanz in zugespitzter Weise konstelliert (10,1315), eine pi,stij preist, die genauso wie in Joh 4,50 eine pi,stij an den lo,goj dessen ist, der die Macht zur Heilung hat. Groß aber ist dieser Glaube, weil er sich der Logik beugt, die für jeden gilt, der Jesu Worte hört: Sie müssen getan werden. 77 78
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Vgl. LÜHRMANN, Redaktion (Anm. 9), 58; CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 537. Ich halte es mit WEGNER, Hauptmann (Anm. 14), 221-235 anders als z.B. FLEDDERMANN, Q (Anm. 1), 344-346 für ausgeschlossen, dass die Geschichte bereits mit dem Wort Jesu in Q 7,9 abschloss – ohne jeden Hinweis auf den Erfolg der Therapie des Sklaven. Wie auch CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 522 ohne nähere Begründung vermutet, kommt Mt 8,13 dem ursprünglichen Schluss m. E. am nächsten. Dafür spricht nicht nur der Rekurs auf das pi,stij-Motiv von Q 7,9 und die sprachliche Nähe zu Q 7,7, sondern auch die weitgehende Übereinstimmung mit Mt 15,28. Denn so richtig es ist, dass Mt 15,28 eine Neufassung von Mk 7,30 vorliegt, so unwahrscheinlich ist es, dass die frühere Stelle an die spätere angeglichen ist. Sehr viel plausibler ist der umgekehrte Vorgang, dass Mt 15,28 in Anlehnung an Mt 8,13 (= Q) formuliert worden ist. Vgl. außerdem die beiden unsicheren Belege in Q 14,27 und 22,28. Vgl. CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 539. Vgl. LUZ, Matthäus I/2 (Anm. 15), 15.
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Was bedeutet es, dass das Lob einem römischen Centurio zuteil wird? Soll dies den Boten den Aufbruch zu den Völkern ans Herz legen82? Auch wenn die nach wie vor kontroverse Diskussion83 darauf aufmerksam macht, wie ambivalent das Wort Jesu letztlich ist, spricht im Blick auf die Logienquelle im Ganzen m. E. mehr dafür, dass der Glaube des Römers Israel reizen soll, seine Reserve gegenüber Jesus aufzugeben84. Dies gilt umso mehr, als Jesus durch die Versuchungsgeschichte gegen den Verdacht geschützt ist, dass sein positives Votum über den Repräsentanten der Völker die Alleinverehrung des Gottes Israel in Frage stellt. Er sagt ja auch nicht, Israel habe keinen Glauben, sondern konstatiert im Blick auf ‚dieses Geschlecht’ einen Mangel an Glauben in Israel85. Ouvde. evn tw/| VIsrah,l meint deshalb: Soweit es ‚dieses Geschlecht’ betrifft, ist Jesus nicht einmal im Volk Gottes, wo es eigentlich anders sein sollte, auf einen so großen Glauben gestoßen. Denn Catchpole, der anders als ich selber den Centurio nicht als Repräsentanten der Völker auffasst, hat Recht, wenn er schreibt: „When the centurion is praised for his quite remarkable faith it is within the setting of the mission of Jesus to Israel. He has done what no one in Israel has previously done“86. Sein Glaube soll die Boten Jesu ermutigen, Israel jenseits ‚dieses Geschlechts’ zum Nacheifern zu verlocken87. Das aber provoziert die Frage: Wohin machen sich die Boten mit dem, was die Eröffnungsrede sie über das Reich Gottes, über die Mahnungen Jesu und über das Verhältnis zu seinen Worten lehrt, auf den Weg? Wo kann realistischerweise damit gerechnet werden, dass sie bei ihrer Arbeit an der Einholung der Ernte einer Gestalt wie der des e`kato,ntarcoj von Kapernaum begegnen? Und schließlich: Ist es möglich, die Boten und ihre Praxis in die uns bekannte Geschichte des Urchristentums einzeichnen?
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So LÜHRMANN, Redaktion (Anm. 9), 60.86-88. Vgl. WEGNER, Hauptmann (Anm. 14), 304-334.425-428. Vgl. die sorgfältige Abwägung des Pro und Contra bei WEGNER, Hauptmann (Anm. 14), 327-334. Vgl. CATCHPOLE, Faith (Anm. 69), 538. Ebd., 540. Indirekt lässt sich dies auch von Q 22,28-30 her stützen, der zweiten Stelle, an der die Logienquelle von Israel spricht. Hier geht aus dem Hinweis auf die zwölf Stämme hervor, dass das Gericht über Israel sehr viel weiter ausgreift als nur auf ‚dieses Geschlecht’. Ja, das Thronszenarium zeigt, dass das Gericht auch als forensisches Geschehen aufgefasst werden kann, das einen doppelten Ausgang hat. Anders als ‚diesem Geschlecht’ bringt es Israel im Ganzen nicht nur Unheil, sondern auch Heil.
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9. Von Jerusalem über Cäsarea nach Syrophönizien Das Wort, das in Q 10,16 die Boteninstruktion abschließt, beginnt: „Wer euch hört, hört mich...“ Es erhellt, warum wir in der Logienquelle selber weder über die Träger ihrer Überlieferung noch über deren Aktualisierung direkte Auskunft erhalten. Das eine wie das andere ist versteckt in dem, was Jesus sagt. Konkret: Weil die Konsequenzen, die Q aus Jesu Ablehnung durch ‚dieses Geschlecht’ zieht, in die Worte Jesu eingezeichnet sind (und nur in sie!), stößt die Frage nach dem historischen Kontext ihrer Tradierung, ihrer Neufassung und ihrer kompositionellen Strukturierung immer wieder ins Leere. Alles, was trotzdem über die ‚Anwendung’ des missiologischen Konzepts der Logienquelle gesagt werden kann, ist schon deshalb ungleich hypothetischer als alles, was Q-intern geklärt werden kann. Es hängt einzig davon ab, ob es gelingt, Beziehungen zu Texten außerhalb der Logienquelle zu entdecken. Mit guten Gründen ist hierzu in der Q-Forschung bisher nur Weniges gesagt worden. Es wäre deshalb schon viel, wenn der eigene Beitrag der Diskussion einen neuen Impuls zu geben vermag. Eine erste denkbare Spur liefert die Geschichte von der Syrophönizerin in Mk 7,24-30. Wie seit langem gesehen, steht sie der Q-Erzählung über den Hauptmann von Kapernaum nahe, ist aber kaum zufällig außerhalb Galiläas lokalisiert: Im Gebiet von Tyrus, vor der Durchreise durch Sidon (Mk 7,31) – also dort, wo das Wehe von Q 10,13-15 sein positives Bild von Fremdvölkern festmacht! – gelingt es einer Frau, Jesus durch einen ebenso geschickten wie klugen lo,goj für den Exorzismus an ihrer Tochter zu gewinnen (Mk 7,29). Jesus rühmt sie freilich nicht gegenüber Dritten – seinen Boten –, sondern spricht sie selber an, und er beugt sich ihr nicht, weil der lo,goj ihre pi,stij unter Beweis stellt, sondern weil er ‚auch’ (kai,) den ‚Hündlein’ die Teilhabe am Brot der ‚Kinder’ ermöglicht (7,28), ohne das von Jesus eingeforderte prw/ton der Sättigung der Kinder (7,27) in Frage zu stellen88. Zu alledem gibt es in Q 7,1-10 keinerlei strukturelle Entsprechung. Es ist deswegen auch kein Zufall, dass die Frau – dazu fehlt erst recht eine Entsprechung! – vorgestellt wird als [Ellenij syrophönizischer Herkunft (7,26), die anders als der Hauptmann sich erst gegen Jesu Wunsch nach Verborgenheit durchsetzen muss, bevor sie ihm ihre Bitte um Heilung der Tochter vorlegen kann (7, 24f.). Dies alles zeigt, dass es nicht darum geht, Israel über die Vermittlung der Boten durch eine Vertreterin der Völker zum Glauben zu verlocken. Eingezeichnet in die Narratio seiner Vita, akzep88
Zu beachten ist, dass Jesu Einsatz für das prw/ton der Kinder von vornherein den Platz für das kai, der Hündlein offen hält, den die Frau in ihrer Entgegnung geschickt nutzt.
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tiert der mk Jesus hier vielmehr das ihm abgenötigte missionarische Programm, dem auch Paulus verpflichtet ist, wenn er schreibt, das Evangelium sei „eine Kraft Gottes zur Rettung für jeden Glaubenden, VIoudai,w| te prw/ton kai. [Elleni“ (Röm 1,16)89. Mk 7,24-30 könnte widerspiegeln, dass es auf Dauer kaum möglich war, die Position von Q 7,1-10 vor dem Umschlag in eine aktive Hinwendung zu den Völkern zu schützen, und die Vorbehalte, die Jesus in seinem Votum äußert, könnten ein Reflex der Einwände sein, die dagegen vorgebracht worden sind. Erfolgt aber ist der Umschlag offensichtlich im Umkreis der phönizischen Küstenstädte, die Mk zum Ort einer Weichenstellung macht, die weder von den Trägern der Logienquelle noch gar von Jesus selber vorgenommen worden ist, sondern von den Hellenisten der Urgemeinde. In Apg 11,19-21 jedenfalls heißt es in erstaunlicher Nähe zur Struktur von Mk 7,24-30: Vertrieben aus Jerusalem, seien die Hellenisten bis nach Phönizien, Zypern und Antiochien gekommen und hätten dort, so wird in deutlicher Entsprechung zu Jesu Eintreten für das ‚Zuerst’ der ‚Kinder’ betont, niemandem das Evangelium ausgerichtet eiv mh. mo,non VIoudai,oij) Erst in Antiochien seien einige von ihnen in nicht weniger deutlichen Entsprechung zum Eintreten der Griechin ‚auch’ für die ‚Hündlein’ auf die Idee gekommen, sich mit der Verkündigung Jesu als des ku,rioj zu wenden kai. pro.j tou.j [Ellenaj( also nicht etwa: „auch an die Völker“, sondern: „auch an die Griechen“. Denn nur durch diese sprachliche Differenz kommt der Anspruch zur Geltung, ein für allemal das Trauma der Überfremdung durch die [Ellenej überwunden zu haben, das die VIoudai,oi seit Antiochus IV. Epiphanes verfolgte90. Daran partizipiert auch Paulus – lange, nachdem er sich von der antiochenischen Gemeinde getrennt hatte. Kombiniert man Apg 11,19-21 mit Mk 7,24-30, liegt es nahe zu vermuten, dass es die Hellenisten waren, die die innerisraelitische Orientierung des missiologischen Konzepts der Logienquelle durchbrachen. Nach Lk allerdings haben sie in Antiochien nur in eine überaus erfolgreiche Praxis überführt, was den Ertrag der in Apg 10,1-11,18 unmittelbar zuvor platzierten Geschichte über die Bekehrung des Hauptmanns Cornelius ausmacht, die den Abschluss der Reise markiert, die Petrus von Jerusalem aus über Lydda und Joppe an der Küste bis nach Cäsarea und von dort zurück nach Jerusalem führt (Apg 9,32-11,18). Hier jedenfalls wird in Entsprechung zur antiochenischen Öffnung für die Griechen, wenn auch ausgeweitet auf die Völker im Ganzen, in großer 89 90
Vgl. Röm 2,9-11; Apg 3,26; 13,46. Vgl. E. RAU, Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum, Stuttgart 1994, bes. 73-75.79-117 in Anlehnung an H. WINDISCH, Art. [Ellhn ktl, ThWNT II (1935), 501-514, bes. 504f.
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Breite begründet, inwiefern Jesus Christus ist pa,ntwn ku,rioj))) evn panti. e;qnei (10,34-36). Die ursprüngliche, kaum rekonstruierbare Form der Bekehrungsgeschichte war zweifellos nicht der Ausweitung des antiochenischen Missionsprogramms verpflichtet. Es ist deshalb wohl kaum ein Zufall, dass Cornelius ein römischer e`kantonta,rchj ist, und auch nicht, dass nicht die Hellenisten, sondern Petrus der Protagonist des Vorstoßes zu den Völkern ist. Mir scheint, beides könnte verraten, dass die Darstellung, die unverkennbar spätere Verhältnisse widerspiegelt91, gleichwohl noch erkennen lässt, wem wir das missiologische Konzept der Logienquelle zu verdanken haben: Dem Einflussbereich derer, die Jesus in Galiläa nachgefolgt und als Boten unterstützt hatten. Weil sie der Ablehnung durch ‚dieses Geschlecht’ nicht das letztes Wort überlassen wollten, wären sie nach dieser These noch einmal aufgebrochen, diesmal von Jerusalem aus zunächst nach Westen und dann entlang der Küste nach Norden über Cäsarea – vorbei am verloren gegebenen Galiläa! – bis Syrophönizien, um unter Juden im Sinne der Boteninstruktion der Logienquelle für die Reich-Gottes-Verkündigung Jesu zu werben. Angesichts der Ethnografie der durchwanderten Gebiete würde es nicht wundern, wenn es auch zu ermutigenden Kontakten mit einzelnen Heiden kam, und so mag es nahe gelegen haben, Israel beim Vorstoß nach Norden durch den exorbitanten Glauben eines Vertreters der römischen Besatzungsmacht zum Nacheifern zu verlocken92. Wollte man dem in der Logienquelle einen Platz geben, bot sich ganz besonders eine Wundergeschichte an, die in Kapernaum lokalisiert ist. Sie ermöglicht es Jesus, am Ort seiner bittersten Niederlage zugleich einem Neuanfang das Wort zu reden. Zwar ist die Geschichte über die Bekehrung des Hauptmanns Cornelius von Cäsarea sowohl formal als auch inhaltlich weit entfernt von der Geschichte über den Glauben des anonymen Hauptmanns von Kapernaum. Doch lassen die zahlreichen göttlichen Eingriffe, das hartnäckigen Sträuben des Petrus und die massive Kritik, deren er sich in Jerusalem zu erwehren hat, mehr als deutlich erkennen, wie konflikthaft es gewesen sein muss, die Instrumentalisierung des Glaubens des e`kato,ntarcoj für die Werbung unter Juden zugunsten der antiochenischen Öffnung zu den Griechen hinter sich zu lassen.
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Nach allem, was wir wissen, ist die Position, die Petrus hier vertritt, erst denkbar, nachdem die Jerusalemer Säulen auf dem Apostelkonzil die antiochenische Zuwendung zu den e;qnh akzeptiert hatten (Gal 2,9). Zur Möglichkeit einer von jüdischer Seite positiven Sicht auf einen römischen Hauptmann vgl. THEIßEN, Lokalkolorit (Anm. 7), 237f.
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Mir ist bewusst, dass die Lokalisierung der Logienquelle in Jerusalem nahezu die gesamte Q-Forschung gegen sich hat. Sie ist die Kehrseite der Infragestellung ihrer Zuweisung an Galiläa, für die ich mich auf Marco Frenschkowski berufen habe. Dieser meint, Q sei „in Jerusalem gesammelt und zusammengestellt – wenn auch aus galiläischem Traditionsgut“ über – so füge ich selber hinzu – das Auftreten Jesu. Ja, Frenschkowski vertritt die These, die Logienquelle sei „ein, wenn nicht sogar das entscheidende Dokument der Jerusalemer Urgemeinde“93. Er scheint freilich nicht bedacht zu haben, was es bedeutet, der Urgemeinde die Abfassung einer griechischen Schrift zuzutrauen, als welche die Logienquelle zu gelten hat94. Ich selber werde dieses Problem erst im nächsten Abschnitt aufgreifen und möchte an dieser Stelle nur noch die Frage stellen, ob die Logienquelle nicht vielleicht speziell mit den Zwölferkreis in Verbindung gebracht werden kann, wird diesem doch in Q 22,28-30 eine Mitwirkung am Gericht über die zwölf Stämme Israel zugesichert95. Könnte es nicht sogar sein, dass das programmatische Schlusslogion von Q den Impuls dazu gegeben hat, die Aussendung auszudehnen über Galiläa hinaus? Das Gericht, dem man verfallen, aber auch entgehen kann, so wäre dann vorauszusetzen, hat einen sehr viel größeren Horizont als den begrenzten Radius des Wirkens Jesu, dem sich ‚dieses Geschlecht’ verschlossen hat.
10. Ausblick und Resümee Wenn es richtig ist, dass sich die Träger der Q-Überlieferung mit denen identifizierten, die Jesus wie Schafe unter Wölfe sandte, dann setzen sie deren Sendung zu Israel fort im Horizont des Gerichtes, das Jesus ‚diesem Geschlecht’ ankündigte, als es sich ihm in Galiläa mit Kapernaum als Zentrum definitiv verschloss. Die Boten selber machen sich diese Ankündigung zu eigen, um die Drohung zu erhärten, dass dem Gericht auch diejenigen verfallen, die sich der Zusage der Nähe des Reiches Gottes verschließen, mit der sie sich im Vertrauen auf Gottes Fürsorge in demonstrativer Armut und Wehrlosigkeit zu ihnen auf den Weg machen. Sie berufen sich dafür auf die Gerichtsverkündigung Johannes
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FRENSCHKOWSKI, Galiläa (Anm. 21), 549 (Hervorhebungen getilgt). Vgl. FLEDDERMANN, Q (Anm. 1), bes. 155-157; KLOPPENBORG, Formation (Anm. 1), 51-64; C.M. TUCKETT, Q and the History of Early Christianity. Studies in Q, Edinburgh 1996, 83-92. Zur Exegese vgl. bes. J. VERHEYDEN, The Conclusion of Q: Eschatology in Q 22,8-30, in: LINDEMANN (Hg.), Sayings Source (Anm. 21), 695-718 (Lit.).
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des Täufers, die nach Auffassung von Q durch Jesus folgendermaßen rezipiert worden ist: Um der Alleinverehrung des Gottes Israels Raum zu schaffen, hat Jesus sich im Kampf mit dem Teufel durch Zurückweisung der Versuchung zur Herrschaft über ‚alle Reiche der Welt’ zum Mandatar des ‚Reiches Gottes’ qualifiziert, der seine Boten durch Einweisung in dessen Magna Charta für die Armen dazu bevollmächtigt, die Adressaten ihrer Sendung vor die Alternative von Heil und Unheil zu stellen – je nachdem, ob sie die Worte Jesu nicht nur hören, sondern auch tun. Denn die Ablehnung durch ‚dieses Geschlecht’ ist nicht das Letzte, was zur Sache des Reiches Gottes zu sagen ist: Ausgerechnet in Kapernaum, wo die Ablehnung für Jesus besonders schmerzhaft ist, tritt ein Repräsentant der Völker auf, der einen so erstaunlichen Glauben an die Macht des Wortes Jesu hat, dass dieser ihn seinen Boten als Ansporn für ihre Weiterarbeit in Israel ans Herz legt. So etwa stellt sich mir das missiologische Konzept der Logienquelle dar. Es basiert auf der Boteninstruktion von Q 9,57-10,16, wird als Ganzes aber erst erkennbar, wenn man die Instruktion von dem Zusammenhang her liest, der ihr vorausgeht. Dieser umfasst die vier Stücke von 3,7-7,10, die den Einleitungsteil von Q bilden, erstreckt sich aber auch auf die Rede von 7,18-35 über den Täufer, mit der der Hauptteil eröffnet wird. Fragt man, welcher Mittel sich die Redaktion bedient, um ihr Anliegen zur Sprache zu bringen, so ist als erstes hervorzuheben, wie meisterhaft sie die Worte Jesu zu größeren Einheiten ‚komponiert’. So kann ein einzelnes Wort so geschickt platziert werden, dass es zum Schlüssel für das Verständnis einer ganzen Rede wird. Das erhellt z. B. die Bedeutung, die der Makarismus von Q 6,22f für die Kontextualisierung der Eröffnungsrede hat oder der Weheruf von 10,13-15 für die Pointe der Boteninstruktion. Beachtlich ist aber auch die Fähigkeit, das hermeneutische Potenzial der Akoluthie zu nutzen: Nur wer das Scheltund Drohwort des Täufers in Q 3,7-9 kennt, wird merken, worauf Jesus in der Belehrung von 6,43-46 abhebt, und nur wer beides im Kopf hat, besitzt die Chance, die Pointe des Doppelgleichnisses von 6,47-49 zu verstehen, die ihrerseits das Fundament für die Gerichtsdrohung von 10,12 legt, deren Gewicht durch 10,13-15 unterstrichen wird. Bei alledem ist wichtig: Der Akoluthie geht es nicht ums ein Nacheinander in der Zeit, sondern im Prozess des Lesens. Das zweite Mittel der Redaktion, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, ist die narrative Einbettung der Worte Jesu. Sie reicht von der Adressierung und Situierung eines Wortes wie in Q 7,18-23 und 9,57-60 oder einer Rede wie in 3,7a; 6,20a und 10,2a
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über die Verknüpfung, die 7,1 vornimmt, bis zu den beiden Erzählungen von 4,1-13 und 7,1-10, die, was Q im Ganzen betrifft, insbesondere um 11,14-16 zu ergänzen sind. Die hier vorliegende, so verschiedenartige ‚Narrativierung’ der Überlieferung, bei der oft nur schwer zwischen Tradition und Redaktion zu unterscheiden ist, erlaubt es, die Deutung zu profilieren, die den Worten Jesu durch die Platzierung in einer Redekomposition gegeben wird. Ja, wahrscheinlich stellt erst die Narratio die Mittel bereit, die erforderlich sind, um die Fülle der Worte trotz ihrer Disparatheit zu einem Gesamtbild von der Gestalt Jesu zusammenzuführen. Das alles zeigt, wie notwendig es ist, die quantitativ so differente Erzähl- und Wortüberlieferung zu unterscheiden, nicht aber voneinander zu isolieren oder gar gegeneinander auszuspielen. Die beiden einzigen ausgeführten Erzählungen der Logienquelle verraten, dass der Autor trotz seiner Konzentration auf die Wortüberlieferung Zugang zu Jesusgeschichten hat, ja, dass er die Technik ihrer stilgemäßen Generierung beherrscht – auch wenn wir uns keinerlei Urteil über die Breite des Formrepertoires erlauben können, das ihm vertraut ist. Doch darf über diesem Befund, der sich differenzieren lässt96, nicht übersehen werden, dass die Narrativierung selbst in Q 7,1 nicht die Darstellung einer Abfolge von Ereignissen intendiert, wie es der Erzählfaden eines Mk, Mt, Lk und Joh in je verschiedener Weise suggeriert. Schon deshalb dürfte es problematisch sein, die Logienquelle als Evangelium zu bezeichnen oder auch nur auf dem Weg zum Evangelium zu sehen – ohne dass mit dieser Abgrenzung bereits die nach wie vor offene Frage ihrer literarischen Form beantwortet wäre97. M. E. ist Q ein Unikum, das jenseits seiner Rezeption durch Mt und Lk keine eigene Zukunft hatte98. Vielleicht ist die Bindung an eine sehr frühe Phase der Konzeptualisierung der Gestalt Jesu dafür verantwortlich, vielleicht das Fehlen eines narrativen Fadens, vielleicht die Einbindung in das Mt- und Lk- Evangelium, die Q der Substanz nach aufbewahrt, aber als eigene Größe überflüssig macht, und vielleicht kommt eine Kombination all dieser und noch anderer Faktoren der Wahrheit am nächsten99. 96 97
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Vgl. FLEDDERMANN, Q (Anm. 1), 92-100. Vgl. z. B. KLOPPENBORG, Formation (Anm. 1), bes. 8-40.317-328; TUCKETT, Q (Anm. 95), 103-106; SCHRÖTER, Erinnerung (Anm. 14), zusammenfassend 459-461; FLEDDERMANN , Q (Anm. 1), 100-110; P. HOFFMANN / C. HEIL (Hg.), Die Spruchquelle. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt/Leuven 2002, 17-19. Vgl. D. ZELLER, Eine weisheitliche Grundschrift in der Logienquelle? in: VAN SEGBROECK u.a. (Hg.), Four Gospels I (Anm. 48), 389-401: 401. Auch das EvThom stellt keine formgeschichtliche Parallele dar. Vgl. z. B. SCHRÖTER, Erinnerung (Anm. 14), zusammenfassend 478-481; E. RAU, Jenseits von Raum, Zeit
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Vergegenwärtigt man sich die Begrenztheit der Mittel, verdient Bewunderung, wie umfassend es der Redaktion gelingt, die Neuakzentuierung des Überkommenen mit dessen Bewahrung zu verbinden. Dass es sich beim Überkommenen um Worte des Erhöhten aus dem Munde von Propheten handelt, die sekundär dem Irdischen zugeschrieben wurden, ist ebenso wie deren Zuweisung an späte Schichten ein apologetisches Konstrukt, das einzig die Funktion hat, Jesus von der Verantwortung für Apokalyptik und Gericht freizusprechen100. Wir haben es in der Logienquelle vielmehr mit Worten zu tun, die nahezu durchweg auf die historische Gestalt Jesu von Nazareth zurückgehen, was selbstverständlich einschließt, dass sie im Prozess ihrer mündlichen und schriftlichen Überlieferung ebenso vielfältigen wie verschiedenartigen, ja gegenläufigen Veränderungen ausgesetzt sind und dass auch mit einer kleinen – m. E. sehr begrenzten – Zahl von Neubildungen zu rechnen ist101. An vielen Stellen lässt sich zeigen, dass sich die Bewahrung des Überkommenen sogar auf den Sinn erstreckt, den die Worte Jesu im Kontext seines Auftretens haben. So ermöglicht es die weithin redaktionell formulierte Versuchungsgeschichte, den triadisch aufgefächerten Makarismus der Armen zum Motto einer Redekomposition zu machen, die die Boten Jesu für ihre Arbeit im Horizont der Nähe des Reiches Gottes ausrüstet. Dass darin, aber auch in der Versuchungsgeschichte selber, eine sachgemäße Auffassung der Gestalt Jesu zu Wort kommt, wird sich nicht gut bestreiten lassen. Ja, wer Q mit einem Rekurs auf den Täufer eröffnet, bringt zum Ausdruck, dass er weiß, welch fundamentale Bedeutung dieser für Jesus hat102. Es wundert deswegen nicht, dass der Weg, der vom Schelt- und Drohwort des Täufers zum Doppelgleichnis vom Hausbau und von dort zur Gerichtsdrohung der Boteninstruktion führt, weitgehend dasselbe zur Sprache bringt wie Marius Reisers Vergleich von Gericht und Heil bei Johannes und Jesus103. Im Übrigen ist es ja auch primär die Logienquelle, die uns ge-
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und Gemeinschaft. „Christ – Sein“ nach dem Thomasevangelium, NT 65 (2003), 138159. Dies habe ich ausführlich an anderer Stelle dargelegt und begründet: RAU, Jesus (Anm. 34), 44-69. Vgl. DERS., Q-Forschung (Anm. 2), bes. 381-389. Vgl. RAU, Jesus (Anm. 34), 49-67.71-74, wo unter dem Stichwort der Kontextualisierung auch zur Diskussion gestellt wird, welche Faktoren und Motive für die Veränderungsprozessen verantwortlich sind. Vgl. bes. J. BECKER, Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth (BThSt 63), Neukirchen-Vluyn 1972; DERS., Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 58-99. Vgl. REISER, Gerichtspredigt (Anm. 22), 307: „Der Täufer sagt: Wer dem Gericht entrinnt, gelangt ins Heil. Jesus sagt: Wer das Heil verwirft, verfällt dem Gericht. Gericht und Heil sind zwei Seien einer Medaille. Der Täufer hält dem Volk die Gerichtsseite vor, Jesus de Heilsseite; aber beide wissen, was auf de anderen Seite ist, und machen auch keinen Hehl daraus. Wie es beim Worfeln Stroh zum Verbrennen
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genwärtig dazu zwingt, der Gerichtsverkündigung in unserem Jesusbild den Platz einzuräumen, der ihr lange verweigert worden ist104. Grundsätzlich formuliert, folgt aus solchen Beispielen: Die QForschung hat Redaktion und Tradition voneinander zu unterscheiden, darf sie aber nicht gegeneinander ausspielen, und die Jesusforschung hat nicht nur, wie üblich seit je, die von Q überlieferten einzelnen Worte Jesu zu berücksichtigen, sondern muss sich auch der redaktionellen Perspektive der Logienquelle stellen105. Mir scheint, mit der für Q charakteristischen Fähigkeit, das eigene Anliegen in Treue gegenüber den Worten Jesu zur Sprache zu bringen, ist am ehesten im Einflussbereich der Jünger zu rechnen, die Jesus in Galiläa nachgefolgt und mit ihm nach Jerusalem gezogen sind. Die Träger der Q-Überlieferung so nah an Jesus selber heranzurücken, führt zugegebenermaßen zu großen Problemen. Dazu gehört weniger, dass diejenigen, die ihn nach Jerusalem begleitet hatten, selbstverständlich wussten, was dort zu seinem Tod führte, die Logienquelle dagegen weder direkt noch indirekt darauf Bezug nimmt – m. E. auch nicht im Jerusalemwort von 13,34-35106. Sehr viel schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob im Umkreis derjenigen, die ihre Wurzeln in Galiläa hatten und von denen nur Einzelne zweisprachig gewesen sein werden, Leute namhaft gemacht werden können, die in der Lage waren, aber auch willens, eine griechische Schrift zu verfassen oder verfassen zu lassen. Anders formuliert: Der Autor von Q muss unter Griechisch Sprechenden gesucht werden, die in der Frühzeit des Christentums unserer begrenzten Kenntnis nach eigentlich nur unter den Hellenisten zu finden sind. Diese aber haben die innerjüdische Orientierung von Q spätestens in Antiochien hinter sich gelassen. Das nötigt zu der Frage: Ist es denkbar, dass das missiologische Konzept der Logienquelle von einem Mitglied der Urgemeinde aus dem Kreis der Hellenisten literarisch gleichwohl vertreten worden ist? Besonders wenn Q tatsächlich „ein, wenn nicht das entscheidende Dokument der Jerusalemer Urgemeinde“ gewesen sein sollte (Frenschkowski), kann erwogen werden, ob der Autor – nicht zuletzt auch im Interesse der Galiläer – zum Ausdruck bringen möchte, wie viel die Öffnung gegenüber den Griechen dem galiläischen Flügel der Gemeinde zu verdanken hat. Die Logienquelle wäre dann ein Dokument der Versöhnung, das historisch gesehen erst einige Zeit nach der gegenseigibt, aber auch Weizen zum Einsammeln, so gibt es beim eschatologischen Mahl Gäste, aber auch Ausgeschlossene.“ 104 Vgl. REISER, Gerichtsverkündigung (Anm. 22); RINIKER, Gerichtsverkündigung (Anm. 22); RAU, Q-Forschung (s. Anm. 2), bes. 381-384. 105 Vgl. RAU, Q-Forschung (Anm. 2), bes. 389-393. 106 Vgl. ebd., bes. 392.399-402.
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tigen Akzeptanz denkbar ist, zu der es auf dem Apostelkonzil kam. Es kommt hinzu: Obwohl es höchst unwahrscheinlich ist, dass schon Petrus die Parole von Jesus Christus als dem Kyrios aller, aus jedem Volk, vertreten hat, könnte die Abfolge der Geschichten von der Bekehrung des Cornelius (Apg 10,1-11,18) und von der Entstehung der antiochenischen Gemeinde (Apg 11,19-21) ja durchaus etwas Richtiges festgehalten haben. Stärker noch gilt dies für die Geschichte von Jesu Begegnung mit der Syrophönizerin (Mk 7,24-30). Sie lässt sich als Variante der Geschichte über die Begegnung mit dem Hauptmann von Kapernaum verstehen, geht aber ganz und gar eigene Wege. Danach ist es Jesus selber, der gezwungenermaßen akzeptiert, dass es im Gebiet der syrophönizischen Küstenstädte zur Sprengung der Fessel kommt, die er dem Hauptmann trotz der Vorbildlichkeit seines Glaubens auferlegt: Das Brot steht zuerst den Kindern (Juden / Jüdinnen) zu, zugleich aber auch den Hündlein (Griechen / Griechinnen). Ist es ein Zufall, dass der Erzähler dafür nicht einen Soldaten aufbietet, sondern eine Frau, nicht einen Römer, sondern eine Griechin, d. h. eine Anhängerin der griechischen Kultur, die ihre Wurzeln vor Ort hat?107 Mir scheint, beides könnte widerspiegeln, wo und unter welchen Bedingungen der von der Logienquelle vorbereitete, wenn auch nicht selbstvollzogene Aufbruch zu den Völkern in Angriff genommen worden ist. Mir ist bewusst, wie hypothetisch es ist, neben den ‚Hebräern’, zu denen die Galiläer der Urgemeinde gehören, auch die Hellenisten mit der Logienquelle in Verbindung zu bringen, wenn man sich zugleich genötigt sieht, diesen die Missiologie von Q abzusprechen. Aber ich denke, die Nähe von Mk 7,24-30 zu Q 7,1-10 einerseits und zu Apg 11,19-21 andererseits ist ein Argument, das Beachtung verdient. Außerdem: Könnte es nicht sein, dass diejenigen, die der Parole des VIoudai,w| te prw/ton kai. [Elleni von Mk 7,24-30 und Apg 11,19-21 verpflichtet sind, das Lob des Hauptmanns von Kapernaum als Ermutigung für ihren eigenen Aufbruch zu den Griechen / Völkern verstehen mussten? Noch die kontroverse Exegese von heute zeigt ja, wie ambivalent Jesu Wort über den Glauben des Hauptmanns ist an die, die er, ausgerüstet mit der Eröffnungsrede, bettelarm, friedfertig und wehrlos zu Menschen Israels schickt, um ihnen die Nähe des Reiches Gottes zuzusprechen und sie an dessen Prolepse in Mahlgemeinschaft und Krankenheilung teilhaben zu lassen, aber auch dem Unheil zu überantworten, wer sich dem Angebot des Heils verschließt. Die Überlegungen im Anschluss an die Bemerkung zur griechischen Sprache zeigen, dass der historische Ort der Logienquelle, den 107 Vgl. THEIßEN, Lokalkolorit (Anm. 7), 73-75.
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ich zur Diskussion stelle, eine Reihe schwieriger Fragen aufwirft. Das Risiko des Scheiterns ist deshalb groß. Aber ich glaube, in der gegenwärtigen Situation ist es produktiver, das Risiko einzugehen, als sich weiterhin auf den eingefahrenen Gleisen der Q-Forschung zu bewegen. Und außerdem: Die Beobachtungen zur Missiologie, aber auch zu den literarischen Phänomenen der Logienquelle werden von einer Infragestellung des vorgeschlagenen historischen Kontextes ebenso wenig berührt wie die Überlegungen über die Nähe zur historischen Gestalt Jesu.
Der Beitrag von Mk 7,24-30 zum christlichen Völkerevangelium im Kontext antiker Haushaltsführung Ulrich Mell Zu den theologischen Voraussetzungen, damit aus der innerjüdischen Jesusbewegung um die Aufrichtung der Gottesherrschaft eine eigenständige Religionsgemeinschaft werden konnte, gehört ohne Zweifel das Völkerevangelium. Die Überzeugung des Urchristentums, dass das Heil nicht auf Israel beschränkt ist, sondern allen Völkern gilt, ist für viele neutestamentliche Schriften eine Selbstverständlichkeit.1 Und wenn einmal doch die Verkündigung unter Nichtjuden und ihre Zugehörigkeit zur Kirche Jesu Christi als Besonderheit angesprochen wird, bleibt dieses Geschehen mit der verbalen Stilisierung als Reichtum eines göttlichen Geheimnisses (vgl. Kol 1,27) als ein offenes Problem bestehen oder wird durch Kennzeichnung als Friedensevangelium (vgl. Eph 2,14-18) in eine Sphäre gerückt, die eine Erklärung als irdisch bedingtes Ereignis kaum noch zuzulassen scheint. Bei der geschichtlichen Frage nach der Entstehung des Völkerevangeliums verbergen neutestamentliche Schriften nicht, dass das Angebot einer göttlichen Zuwendung zu allen Menschen nicht von Anfang an bestand, sondern sich erst etablieren musste: Nach der Darstellung des MtEv geht die weltweite Mission zwar auf Jesus zurück, aber dieser habe den zu seinen Lebzeiten auf Israel beschränkten Missionsauftrag (Mt 10,5f.23, vgl. 15,24) als Auferstandener korrigiert und um Taufe und Belehrung aller Völker erweitert (28,18-20). Etwas anders schildert es die lk Apg, die erst Petrus mit der Taufe des röm. Hauptmanns Kornelius im palästinischen Cäsarea zum Bahnbrecher der Völkermission erklärt (Apg 10,1-11,18) und der Gemeinde im syrischen Antiochia unter Führung von Barnabas die erste systematische Missionsverkündigung unter „Griechen“ zuspricht (11,20). Wieder anders stellt sich der Ursprung der allgemeinen Mission in der Sicht von Paulus dar, der behauptet, dass mit seiner damaszeni1
Vgl. Mt 28,18-20; Mk 13,10 par. (später 16,15f); Lk 24,47; Joh 3,16; 4,42c; 1Tim 3,16. Anders nur Apk 14,6f, wonach für die Völker durch das „Gerichtsevangelium“ eine Umkehr erst für das Ende der Zeiten erwartet wird.
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schen Berufung zum Apostel der Missionsauftrag an die Völker verbunden ist (vgl. Röm 1,1.5; 15,16; Gal 1,16). In der neutestamentlichen Forschung setzt sich zunehmend die Ansicht durch, dass erst nach Jesu Tod, als die christliche Gemeinde mit der Auferstehungsverkündigung im Frühjudentum wirkte, die Heilsbeteiligung von Nichtjuden eingesetzt hat.2 Ist nicht auszuschließen, dass Jesus von Nazaret in seinem galiläischen Wirkungsgebiet3 oder durch eine Wanderung durch die an seine Heimat nördlich angrenzende röm. Provinz Syrien4 oder erst recht in der hellenisierten Stadt Jerusalem Kontakte zu Nichtjuden gehabt haben könnte,5 so hat er seine Sendung allein auf Israel bezogen.6 Das belegt am eindeutigsten die symbolische Zeichenhandlung der Berufung von zwölf Jüngern.7 Für diese historische Sicht spricht, dass in frühester Zeit die christliche Gemeinde nur aus Israelchristen bestand, sich in der Anfangszeit die Verkündigung ausschließlich an Juden richtete8 und große Teile des Israelchristentums die spätere Heilspartizipation von Nichtjuden ohne gesetzliche Mindeststandards ablehnte.9
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Vgl. W. HEITMÜLLER, Zum Problem Paulus und Jesus, ZNW 13 (1912), 320-337: 332 (Nachdr. in: K.H. RENGSTORF (Hg.), Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, [WdF 24], Darmstadt 1969, 124-143: 138); M. HENGEL, Zwischen Jesus und Paulus. Die ‚Hellenisten’, die ‚Sieben’ und Stephanus (Apg 6,1-15; 7,54-8,3), ZThK 72 (1975), 151-206: 199f (Nachdr. in: DERS., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III [WUNT 141], Tübingen 2002, 1-56, Nachtrag: 57-67: 49f); F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments Bd. 1, Tübingen 22005, 298, u.a.m. Vgl. Q 7,1-10; Mk 3,8 par.; 5,1-25; Mt 10,5. Vgl. z.B. die biografische Deutung von Mk 7,24-30 durch G. THEIßEN, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Fribourg/Göttingen 21992, 83 (aufgenommen von TH. SCHMELLER, Jesus im Umland Galiläas. Zu den markinischen Berichten vom Aufenthalt Jesu in den Gebieten von Tyros, Caesarea Philippi und der Dekapolis, BZ 38 [1994], 44-66, bes. 60), die von einer tatsächlichen Reise des historischen Jesus in nichtjüdisches Gebiet ausgeht. Dazu J. ZANGENBERG, Nichtjuden in Palästina, in: K. ERLEMANN u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 53-58. Gegen A. JÜLICHER, Die Gleichnisreden Jesu 2 Tle., Tübingen 21910 (Nachdr. Darmstadt 1976), II 259, der Mk 7,27f als Beleg für den „Universalismus“ des historischen Jesus ansieht. – Die Lk 10,1-12 par. noch zu Jesu Lebzeiten berichtete Aussendung von 70 bzw. 72 Jüngern, deren Symbolzahl die Völker der Welt anzeigt (vgl. die Völkerliste Gen 10), dürfte als Rückprojektion beurteilt werden, insofern die bestehende urchristliche Völkermissionspraxis auf eine Anordnung des Religionsstifters Jesus zurückgeführt wird, dazu F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas, Bd. 2 (EKK III/2), Neukirchen-Vluyn u.a. 1996, 62f. Vgl. Mk 3,14f parr., dazu J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin/New York 1996, 32-34. Vgl. Q 22,30; Lk 24,21; Apg 6,1-7. Israelchristlichen Widerstand belegen u.a. die Berichte einer Nachmission von Völkerchristen in Antiochia (vgl. Gal 2,4) und später in Galatien (vgl. 5,1-4; 6,12f) sowie das Scheitern einer Tischgemeinschaft von Israel- und Völkerchristen in Antiochia (vgl. 2,12f).
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Dürfte geschichtlich zwischen verschiedenen Entwicklungsstadien der Völkermission zu unterscheiden sein, der vereinzelten Heilsbeteiligung von Nichtjuden,10 der regionalen Einrichtung von separaten Völkergemeinden11 und einer „weltweit“12 betriebenen Völkermission, so soll im Folgenden der gewiss spannende Gang der urchristlichen Missionsgeschichte nicht im Vordergrund stehen.13 Die folgende Erörterung beschäftigt sich vielmehr mit der Frage, mit welchen Konzepten eine durch jüdische Exklusivitätsansprüche geprägte Urchristenheit die Israels Grenzen sprengende Universalisierung theologisch begründete. Zu den neutestamentlichen Texten, die eine Heilsbeteiligung von Nichtjuden berichten, gehört dabei zweifelsohne die Erzählung von Jesu Heilung der Tochter einer Syrophönizierin Mk 7,24-30. Mit dieser Wundererzählung hat sich Ulrich B. Müller in einem Aufsatz zur Rezeption gesetzeskritischer Jesusüberlieferung im frühen Christentum beschäftigt und angenommen, dass sie „die Heidenmission urchristlicher Missionare durch Verweis auf ein Tun Jesu begründen“ will.14 Träger seien galiläische Christen, die Mission in Syrien, u.a. im Gebiet von Tyrus, trieben. Mit seinen Hinweisen gibt Ulrich B. Müller einen exegetischen Konsens wieder.15 Ob und wenn ja, in welcher Weise seine bzw. diese Einschätzung zutreffend ist, soll in diesem Aufsatz untersucht werden.
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Vgl. Apg 10,48; Gal 2,3. Vgl. Apg 11,20f. Vgl. Röm 15,16.19f. Vgl. dazu E. DASSMANN, Kirchengeschichte I. Ausbreitung, Leben und Lehre der Kirche in den ersten drei Jahrhunderten (StTh 10), Stuttgart 22000, 34-41. U.B. MÜLLER, Zur Rezeption gesetzeskritischer Jesusüberlieferung im frühen Christentum, NTS 27 (1981), 158-185: 178 (Nachdruck in: DERS., Christologie und Apokalyptik. Ausgewählte Aufsätze [ABG 12], Leipzig 2003, 59-88: 80). Vgl. L. SCHENKE, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums (SBB), Stuttgart 1974, 262f; R. PESCH, Das Markusevangelium I (HThK II/1), Freiburg u.a. 31980, 390, u a.m. – Die Ansicht von R. FELDMEIER, Die Syrophönizierin (Mk 7,24-30) – Jesu „verlorenes“ Streitgespräch?, in: DERS. / U. HECKEL (Hg.), Die Heiden. Juden, Christen und das Problem des Fremden (WUNT 70), Tübingen 1994, 211-227: 222f, einen Zusammenhang mit der Gottesherrschaftsverkündigung des historischen Jesus herstellen, konnte sich nicht durchsetzen.
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1. Zur formkritischen Analyse Der griechische Text von Mk 7,24-30 ist bis auf zwei kleinere Unsicherheiten in den V. 24c16 + 28b17 gut überliefert und lautet in deutscher Übersetzung: (24) Von dort (sc. Gennesaret, s. Mk 6,53) aber brach er (sc. Jesus, s. 6,30) auf und ging in das Gebiet von Tyrus. Und er ging (dort) in ein Haus und wollte, dass es niemand erfährt; doch konnte es nicht verborgen bleiben. (25) Vielmehr hörte sogleich eine Frau von ihm, deren Töchterchen einen unreinen Geist hatte, (und) sie kam und warf sich zu seinen Füßen nieder. (26) Die(-se) Frau aber war eine Griechin, der Herkunft nach eine Syrophönizierin. Und sie bat ihn, dass er den Dämon aus ihrer Tochter austreibt. (27) Und er sprach zu ihr: „Lass vorrangig die Kinder satt werden! Denn es ist nicht recht, den Kindern ihr Brot wegzunehmen und es den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.“ (28) Sie aber antwortete und sprach zu ihm: „Herr! Und doch ernähren sich die unter dem Tisch befindlichen Hunde von den von Mädchen und Jungen [fallen gelassenen] Brotkrümeln!“ (29) Und er sagte ihr: „Wegen dieses Wortes gehe! Der Dämon ist aus deiner Tochter ausgefahren.“ (30) Und sie ging fort in ihr Haus und fand das Kind auf dem Bett liegend, und der Dämon war ausgefahren.
Dieser in Bibelausgaben mit der Überschrift „Die Syrophönizierin (Kanaanitin)“18 inhaltlich nur unzureichend markierte Abschnitt stellt eine überaus spannende Erzählung dar. Sie schildert, wie der um Hilfe an einem namentlich nicht genannten Mädchen gebetene Wundertäter Jesus erst auf die sachlich überzeugende „Argumentation“ (Mk 7,29a: lo,goj, nicht „Glaube“, so anders Mt 15,28a!)19 ihrer gleichermaßen ano-
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In Mk 7,24c ist trotz schlechterer Bezeugung der Aorist hvdunh,qh der epischen und ionisch-hell. Schreibweise vorzuziehen, mit B. ALAND e.a. (Ed.), Novum Testamentum Graece post Eberhard et Erwin Nestle, Stuttgart 272006 (9. Druck). Aufgrund der bei der Vervielfältigung von Evangelienhandschriften zu beobachtenden Gesetzmäßigkeit, dass Kopisten dazu neigen an den Paralleltext anzugleichen – i.d.F. Mt 15,28 –, wird in Mk 7,28b aufgrund der guten Bezeugung durch u.a. die Handschrift P45 mit ALAND, Novum Testamentum Graecum (s. Anm. 16), ein kürzerer griech. Text vorausgesetzt. Viele deutsche Übersetzungen folgen noch dem textkritischen Urteil älterer NT-Ausgaben (u.a. Nestle-Aland 25. Aufl.). K. ALAND (Ed.), Synopsis Quattuor Evangeliorum. Locis parallelis evangeliorum apocryphorum et patrum adhibitis, Stuttgart 131986, 220. Eine paradigmatische Auslegung von Mk 7,24-30, die im Verhalten der syrophönizischen Frau ein Beispiel für den auch gegen Widerstände am Zutrauen zu Jesus festhaltenden Glauben sieht (so herausragend M. LUTHER, Auff den andern Sontag ynn der fasten Euangelion. Matthei 15 [Fastenpostille 1525], WA 17/II, 200-204: 200, vgl. J. ROLOFF, Das Kerygma und der irdische Jesus, Göttingen 1974, 159-161), kann sich nicht auf den Text Mk 7,24-30 stützen, sondern interpretiert die synoptische Parallele Mt 15,21-28.
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nym bleibenden Mutter bereit ist, mittels Fernheilung ihre kranke Tochter von einem Dämon zu befreien (Mk 7,29bf). In formkritischer Hinsicht enthält die Erzählung alle Motive, die sie der Gattung einer Wundergeschichte, präziser gesagt einer „Fernheilungswundererzählung“20 zuweisen lassen:21 Auf das eingangs der Geschichte in zwei Schritten berichtete Auftreten von Jesus in einem Haus in der Gegend von Tyros (Mk 7,24) folgt die Einführung einer Gesandtin, in diesem Fall einer besorgten Mutter, die für eine räumlich entfernt lebende Hilfsbedürftige, ihre Tochter, beim Wundertäter um Heilung nachsucht (V.25f). Charakterisiert wird die Notsituation der jungen Frau als eine Form von schwerer psychosomatischer Krankheit und geschildert wird mittels einer Proskynese, dass die bittende Gesandtin vollkommenes Vertrauen in die göttliche Heilungsmacht des Wundertäters hat. Der Wundertäter aber erschwert mit einem abweisenden Wort das in ihn gesetzte Zutrauen zu seiner Wundertätigkeit (V.27), worauf der Wunderglaube der Mutter sich in einer als unbedingte Vertrauenserklärung zu wertenden Entgegnung äußert (V.28). Erst daraufhin folgt der Zuspruch des sich zur Wundertat bereitfindenden Wundermannes, sodass das Wunder, die Heilung bzw. der Exorzismus an der jungen Frau, abschließend festgestellt werden kann (V.30). An der Wundergeschichte fällt auf, dass der Ort des Zusammentreffens von Bittstellerin und Wundertäter unklar bleibt, nämlich wo genau in der relativ großen „Region von Tyrus“ (Mk 7,24a) das von Jesus betretene Haus lag und warum sein Versuch misslingen musste, seinen Aufenthalt den Bewohnern gerade durch das Aufsuchen eines bewohnten Hauses zu verbergen. Die redaktionskritische Erforschung des MkEv hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Motiv des Nicht-Verborgen-Bleiben-Könnens Jesu auch Mk 1,45; 2,1f; 3,20; 6,31-33; 9,30 vorliegt und unter den Evangelienschriften nur die narrative Konzeption des MkEv von einer Reise Jesu in nördlich von Galiläa gelegene Gebiete – die sog. „Nordreise“ (7,24-37) – weiß. Darum nimmt die Markusforschung an, dass der Evangelist die von jeglichem Lokalkolorit der Gegend um Tyrus frei seiende Wundergeschichte aus seiner Gemeindetradition übernommen und um das sog. „Messiasgeheimnismotiv“ (= 7,24bc) erweitert hat.22 20 21 22
PESCH, MkEv (s. Anm. 15), 386 (Hervorhebung R. Pesch). Vgl. G. THEIßEN, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 1974, 57-89. Mit W. WREDE, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 31963, 142; K. KERTELGE, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (StANT 23), München 1970, 151; SCHENKE, Wundererzählungen (s. Anm. 15), 254f;
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Auch die Ortsangabe „Tyrus“ hat der Redaktor der Kennzeichnung der Frau als Syrophönizierin entnommen23 und für seine Reiseschilderung in V.24a (und V.31a) hinzugesetzt.24 Die vormarkinische Wundergeschichte begann etwa mit den Worten: „(Und) eine Frau hörte von Jesus25, deren Töchterchen …“ (vgl. V.25).26 Sieht man sich die vormarkinische Wundertradition (= Mk 7,25-30*) jetzt textanalytisch näher an, so fällt sogleich ihre Uneinheitlichkeit auf: Völlig unmotiviert wechseln nämlich Bezeichnungen: Ist zunächst von einem „Töchterchen“ (quga,trion, Deminutiv von quga,thr) die Rede, das einen „unreinen Geist“ (pneu/ma avka,qarton) hat (Mk 7,25), so später von einer „Tochter“ (quga,thr), die von einem „Dämon“ (daimo,nion) geheilt wird (V.26b.29b.30b). Zudem ist das aus Wundergeschichten bekannte Komplementärmotiv von Erschwernis und Überwindung, nämlich dass der Wundertäter sich zunächst entzieht und erst durch einen Beweis über den Wunderglauben des Bittstellers zur helfenden Tat überwunden wird, sprachlich umfangreich entfaltet (V.27f). Legt sich aus dem Missverhältnis zwischen extensiv ausformulierten Kurzdialog und reduziert erzähltem Wunder, insofern die Heilungstätigkeit nur noch angedeutet wird (vgl. Mk 7,29b), in formkritischer Hinsicht nahe, nicht mehr von einer Heilungsgeschichte, sondern von der im Markusevangelium anzutreffenden Mischgattung einer
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D.-A. KOCH, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), Berlin 1975, 90; H.-J. KLAUCK, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten (NTA NF 13), Münster 1978, 273; J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus I (EKK II/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 1978, 290; Z. KATO, Die Völkermission im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (EHS.T 252), Bern u.a. 1986, 82f; M. FANDER, Die Stellung der Frau im Markusevangelium. Unter besonderer Berücksichtigung kultur- und religionsgeschichtlicher Hintergründe (MThA 8), Altenberge 21990, 63-66, u.a.m. gegen PESCH, MkEv (s. Anm. 15), 387. Die Ortslage „Gegend von Tyrus“ stellt auf der synchronen Textebene eine Doppelung zur Kennzeichnung der Frau als gebürtige Syrophönizierin (V.26a) dar. Da die Frau als gebürtige Nichtjüdin stilisiert ist (s.u.), lag es für den Redaktor von der atl.jüd. Tradition her nahe, die Region von Tyrus als nächste Ortslage zu Galiläa zu wählen, gilt die Stadt doch zusammen mit Sidon als „Inbegriff einer heidnischen Stadt“ (PESCH, MkEv [s. Anm. 15], 387), vgl. Ez 26-28 (auch Mt 11,21f). S. die ähnliche Formulierung Mk 10,1; mit R. BULTMANN, Die Geschichte der Synoptischen Tradition (FRLANT 29), Göttingen 91979, 38.68; KERTELGE, Wunder (s. Anm. 22), 151; KOCH, Bedeutung (s. Anm. 22), 91; GNILKA, MkEv (s. Anm. 22), 290; KATO, Völkermission (s. Anm. 22), 84; FANDER, Stellung (s. Anm. 22), 64, gegen SCHENKE, Wundererzählungen (s. Anm. 15), 254. Als eigenständige Erzählung wird sie am Beginn den Wundertäter namentlich eingeführt haben. S. die ähnliche Formulierung Mk 5,25f; mit KERTELGE, Wunder (s. Anm. 22), 151; GNILKA, MkEv (s. Anm. 22), 290; KATO, Völkermission (s. Anm. 22), 85.
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‚theologischen Wundergeschichte’ auszugehen, so dürften die inhaltlichen Spannungen entwicklungsgeschichtlich zu interpretieren sein: Eine gute Annahme ist,28 dass eine ursprüngliche Geschichte über einen Fernheilungsexorzismus29 am Beginn um die Charakterisierung der bittenden Stellvertreterin als Nichtjüdin (V.26a, s.u.) und die Krankheitsschilderung ihrer Tochter als Besitznahme von „einem unreinen Geist“ (V.25b)30 so verändert wurde, damit in einem Kurzgespräch zwischen Wundertäter und Bittstellerin (V.27f)31 die aus jüdischer Sicht zur Unreinheitsthematik gehörende Frage des Umganges von Juden mit Nichtjuden diskutiert werden kann: Denn aufgrund levitischer Reinheits-Thora meiden Juden den Umgang mit götzenverehrenden Nichtjuden (vgl. Ex 23,32f; Dtn 6,14f). Da in der sozio-kulturellen Metaphernwelt „Brot“ sowohl für „lebenswichtige Nahrung“ (vgl. Q 11,3) als auch für das umfassende „Lebensheil“ stehen konnte (vgl. Joh 6,48.51.58), lag ein inhaltlicher Zusammenhang bereit, das Heilungsgeschehen seelisch-körperlicher Gesundheit mit der Versorgungsthematik zu verbinden. Wie auch immer aber die Formierung der apophthegmatischen Wundergeschichte32 in diachroner Hinsicht erklärt werden kann, dem Evangelisten Markus lag eine auf literarische Weise entstandene33 und „mit Bedacht konzipierte Einheit“34 vor. Das vormarkinische Streitgespräch anlässlich eines provozierenden Anlasses besitzt dabei zwei inhaltlich aufeinander bezogene Schwerpunkte: 1. Da ist zunächst die sorgfältige Charakterisierung der Bittstellerin zu nennen:35 Die Bezeichnung als „Griechin“36 kennzeichnet die Frau zu27 28 29
30 31 32 33 34 35
36
Vgl. im Mk z.B. noch 2,1-12; 3,1-5; 9,14-29. Mit KERTELGE, Wunder (s. Anm. 22), 152; SCHENKE, Wundererzählungen (s. Anm. 15), 260; PESCH, MkEv (s. Anm. 15), 385; KATO, Völkermission (s. Anm. 22), 85. Zur Form von Mk 7,25.26b.29bf* vgl. Q 7,3-9. – Das Problem dieser diachronen Vermutung ist, dass sowohl die exorzistische Wundererzählung als auch der mittige streitgesprächsartige Dialog (Mk 7,27f*) formanalytisch Fragment bleiben (so KLAUCK, Allegorie [s. Anm. 22], 275), vgl. dieselbe Problematik bei Mk 2,1-12. Vgl. das Unreinheitsthema in mk Wundergeschichten noch Mk 1,23.26; 5,2.8.13. Der Kurzdialog Mk 7,27f expliziert das zum Wundergeschichteninventar gehörende Erschwernismotiv sowie das Motiv der Vertrauensäußerung des Stellvertreters, dazu THEIßEN, Wundergeschichten (s. Anm. 21), 62-65.120f.252. So KOCH, Bedeutung (s. Anm. 22), 85.87, im Anschluss an BULTMANN, GST (s. Anm. 24), 38. Vgl. KOCH, Bedeutung (s. Anm. 22), 85-87. KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 275. Sie erfolgt stilgemäß zweiteilig, vgl. Apg 4,36c; 18,2a; Josephus, Vit. 427; c. Ap. 1,179f; Philo, Abr. 251. Darum ist die Annahme eines redaktionellen Zusatzes unbegründet, gegen SCHENKE, Wundergeschichten (s. Anm. 15), 255f; KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 273, u.a.m. Mit „Griechin“ ist aus jüd. Optik eine Angehörige der Völker gemeint. Der Begriff steht stellvertretend für „Nichtjüdin/Nichtjude“ (nicht: Heidin/e!), dazu H. WINDISCH, Art. [Ellhn ktl., ThWNT II (1935), 501-514, besonders: 504-514.
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nächst hinsichtlich ihrer kulturellen Identität,37 um sodann mit der Aussage „der Herkunft nach eine Syrophönizierin“, ihre landsmannschaftliche Zugehörigkeit festzulegen. Damit legt die theologische Erzählung Wert darauf, dass Mutter – und folglich auch ihre heilungsbedürftige Tochter – als gebürtige Nichtjüdinnen wahrgenommen werden, die aus der nördlich von Palästina liegenden Levante stammen. Und ohne dass die Erzählung einen entsprechenden Hinweis gibt, soll vom Rezipienten der Wundertäter antithetisch der Geburt und Herkunft nach dem Judentum zuordnet werden.38 2. Der zweite Höhepunkt des theologischen Apophthegmas liegt in der Erläuterung des für jüdische Sozialisation ungewöhnlichen Umstandes, dass ein jüdischer Wunderheiler seine ihm vom Gott Israels für die Gesundung des Gottesvolkes geschenkte Heilungskraft (vgl. Ps 103,3) zugunsten des Wohlergehens einer religionsfremden Person einsetzt. Auf diese Problemstellung geht der sprachlich farbig formulierte Dialog39 zwischen Wundertäter und Bittstellerin ein. Mk 7,27f sind als Einheit zu betrachten,40 weil der Gedanke der Versorgung aller Hausgenossen bemüht wird. Der Aufbau des Gesprächs ist folgender: 1. Jesus 1.1 Imperativische Versorgungsregel (V.27a) Mit „Lass zuerst die Kinder satt werden!“ wird in Befehlsform eine Regel vorgetragen, die die vorrangige Versorgung bestimmter Haushaltsglieder festlegt. 37
38 39 40
Dass Mutter (und Tochter) aufgrund der Bezeichnung als „Griechinnen“ in sozialer Hinsicht als Oberschichtangehörige gelten sollen, ist sprachlich nicht fundamentiert (gegen THEIßEN, Lokalkolorit [s. Anm. 4], 73-75). Auch die Annahme von S.H. RINGE, A Gentile Woman’s Story, in: L.M. RUSSEL (Ed.), Feminist Interpretation of the Bible, Philadelphia 1985, 65-72: 70, dass die Frau eine ledige Mutter oder gar eine Witwe sei, weil sie selbst und nicht etwa der Vater beim Wundertäter um das Wohl des Kindes bittet (vgl. Mk 5,22f parr.; 9,17 parr.), darf als eine historisierende Fehlinterpretation des feststehenden Motivinventars von Heilungsgeschichten gewertet werden. Schließlich ist nicht zu erkennen, dass die beiden Frauen entsprechend Gen 3,6 in der Figur der (den Mann) zur Sünde verführenden Frau erscheinen, gegen FELDMEIER, Syrophönizierin (s. Anm. 15), 221. Erst auf der mk Textebene wird die jüdische Abkunft des Wundertäters Jesus auf das palästinische Judentum hin präzisiert, vgl. Mk 1,9 (Geburtsort Nazaret); 6,3. Vgl. den Wechsel der Begriffe, so wird „Kind“ Griechisch einmal mit te,knon (Mk 7,27c), dann aber mit paidi,on (V.28fin.) bezeichnet. Anders in der Folge von JÜLICHER, Gleichnisreden (s. Anm. 6) II 256: BULTMANN, GST (s. Anm. 24), 38; KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 273; GNILKA, MkEv (s. Anm. 22), 290; MÜLLER, Rezeption (s. Anm. 14), 80, u.a.m. – Häufig wird prw/ton für sekundär gehalten, weil es angeblich nur den vorläufigen Vorrang der Kinder vor den Hündlein konzediere (vgl. SCHENKE, Wundererzählungen [s. Anm. 15], 256) und so die ablehnende Antwort von Mk 7,27b abmildere (vgl. KLAUCK, Allegorie [s. Anm. 22], 273). Dieser Einwand ist nicht schlüssig, wie die sozialgeschichtliche Analyse (s.u.) zeigen wird.
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1.2 Ethische Begründung (V.27b) Diese Position wird in ethischer Hinsicht mit den Worten „Denn es ist nicht recht, den Kindern ihr Brot wegzunehmen und es den Hunden zum Fraß vorzuwerfen.“ fundiert. 2. Syrophönizische Frau 2.1 Höfliche Anrede (V.28a) Die Replik der Syrophönizierin beginnt mit dem höflichen Gruß „Herr!“, der Jesus als Autorität akzeptiert. 2.2 Hinweis auf Versorgungspraxis (V.28b) Der abschließende Hinweis „Und doch ernähren sich die unter dem Tisch befindlichen Hunde von den von Mädchen und Jungen [fallen gelassenen] Brotkrümeln!“ geht auf die Praxis der Versorgung von Hausgliedern ein. Der Einwand aus der Praxis ist für den Wundertäter so schlagend,41 dass er seinen eigenen Standpunkt als relativiert (an-) erkennt und sich als argumentativ Bezwungener zur (einmaligen) Wunderhilfe an einer Religionsfremden bereitfindet (Mk 7,29f).
2. Antike Haushaltstheorie und Haushaltswirklichkeit Mit der Sprachlichkeit von Tisch, gemeinschaftlichem Essen und Brot als Nahrungsmittel führt das „dialogisierte Bildwort“42 sozialgeschichtlich den Lebensbereich des antiken Haushaltes vor Augen. Vorausgesetzt ist eine alltägliche Hausszene: Die Speisen sind zur (frühabendlichen Haupt-?) Mahlzeit hergerichtet. In einem bescheidenen Haushalt nehmen seine (arbeitsfreien) Mitglieder auf dem Boden sitzend an einem niedrigen Tisch Platz, während in einem vermögenden in einem Speisezimmer getafelt wird: Man liegt auf Speisesofas43 oder sitzt auf Stühlen, umgeben von einem oder mehreren Tischen. Hauptbestandteil jeder Mahlzeit ist Brot.44 Mk 7,27f (par.) legen nahe, dass es als fest gebackenes, rundliches Fladenbrot gereicht wird.45 41 42 43 44 45
Im Griechischen wird Mk 7,28a durch den Gebrauch der griech. Präsensform, die im Deutschen mit dem Präteritum wiederzugeben ist, die Wichtigkeit der Entgegnung der Frau hervorgehoben. KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 273. Vgl. Mk 2,15. In der Antike ist Getreide das wichtigste Grundnahrungsmittel, vgl. Gen 3,12; Q 11,3, dazu U. FELLMETH, Essen und Trinken im antiken Palästina, in: U. MELL (Hg.), Pflanzen und Pflanzensprache der Bibel, Frankfurt a.M. u.a. 2006, 71-89, 73f. In der Regel aus Weizenmehl hergestellt (vgl. Q 13,21). Nur in ärmeren Haushalten wurde das mit Hefe angesetzte Fladenbrot aus Gerstenmehl hergestellt (vgl. Joh 6,9.13; Josephus, Bell. 5,427).
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Das mit der Hand in Stücke gebrochene bzw. zerrissene Brot wird mit einer Zukost aus Gemüse, Käse, Milch, Früchten und/oder (Salz-) Fisch (selten Fleisch) separat dazu oder auch mit ihnen gemischt verzehrt.46 Auch Hunde werden von dem Geruch der aufgetischten Speisen angezogen.47 Mit dem Deminutiv48 ist nicht der herrenlose Straßenhund,49 der sich streunend von Unrat, Blut, Aas und Tierkadavern ernährt,50 sondern der zum Haushalt gehörende gezähmte Haus- und Stubenhund gemeint.51
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Vgl. A.C. ANDREWS / TH. KLAUSER, Art. Ernährung, RAC 6 (1966), 219-239: 222.226.230; A. LUMPE, Art. Essen, RAC 6 (1966), 612-635: 613.623; M. SIGISMUND, Ernährung / Lebensmittel, in: K. ERLEMANN u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 2, Neukirchen-Vluyn 2005, 31-33: 31f; FELLMETH, Essen (s. Anm. 44), 74-77; DERS., Brot und Politik. Ernährung, Tafelluxus und Hunger im antiken Rom, Stuttgart/Weimar 2001, 27-32. Vgl. Homer, Od. 17,309. Die Sitte, Haushunde zum Mahl mitzunehmen, war so eingeführt, dass Hunden, die nicht an einem Gastmahl teilnehmen konnten, von ihrem Halter die Leckerbissen mitgebracht wurden, so Od. 10,216f. Das in der Bibel nur Mk 7,27f par. Mt 15,28f gebrauchte griech. Wort für Hund (kuna,rion) ist ein Deminutiv (von ku,wn, wie kuni,dion, s. F. BLAß / A. DEBRUNNER, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, hg. v. F. REHKOPF, Göttingen 182001, § 111.3; H.G. LIDDELL / R. SCOTT [Comp.], A Greek-English Lexicon, Oxford 1996, s.v.) und in der Gräzität eher selten anzutreffen (so A.L. CONNOLLY, 66. kuna,rion, in: G.H.R. HORSLEY [Ed.], New Documents Illustrating Early Christianity Vol. 4, North Ryde 1987, 157-159: 158). Es kann einen kleinwüchsigen oder jungen Hund bezeichnen, der sich u.U. aggressiv verhält. Eine deutsche Übersetzung mit „Hündlein“ ist in einer modernen, hundefreundlichen Gesellschaft nicht angeraten, weil sie zu verniedlichenden Assoziationen führen würde. Vgl. Mt 7,6; Lk 16,21, dazu auch H. VON LIPS, Schweine füttert man, Hunde nicht – ein Versuch, das Rätsel von Matthäus 7,6 zu lösen, ZNW 79 (1988), 165-186: 171. Vgl. Ex 22,30; 1Kön 21,19.23f; 2Kön 9,36; Ps 68,24; Ps-Phokylides 147f. – Der Mk 7,27f gewählte Ausdruck für „Hund“ lässt also eine pejorative Interpretation nicht zu, wie sie besonders in atl.-jüd. Literatur für den (Paria-)Hund anzutreffen ist (dazu P. MAIBERGER, Art. Hund, NBL II [1995] 203f: 204; G.J. BOTTERWECK, Art. blk, ThWAT IV [1984] 156-166: 163; griech. und röm. Belege bei CHR. HÜNERMANN, Art. Hund, DNP 5 [1998], 755-758: 756f): Dieser wird verachtet (vgl. 1Sam 24,15; 2Kön 8,13; Spr 26,11; Koh 9,4), ist wegen seines Krankheit übertragenen Bisses (d.i. die Tollwut, vgl. Columella, agr. 7,12,10.14) gefürchtet (vgl. Ps 22,17) und gilt als unrein (vgl. Ex 22,30). Unter Streitenden kann darum „Köter“ als Schimpfwort gebraucht werden (LXX: ku,wn: 2Sam 3,8; 16,9), sodass in urchristlicher Polemik die Tiermetapher das Gefährliche an Vertretern von Irrlehre markiert (vgl. Mt 7,6; Phil 3,2; 2Petr 2,22; Apk 22,15; Did 9,5; IgnEph 7,1). Zu beachten ist, dass erst in der allegorischen Fassung Mt 15,26f durch den Zusatz V. 24 indirekt (!) Nichtjuden mit dem Deminutiv „Hund“ bezeichnet werden. Damit bereitet sich in israelchristlicher Sprache vor, was erst in nachntl. Zeit (gegen JÜLICHER, Gleichnisreden [s. Anm. 6] II 256: äthHen 89,42a.47; 90,4 sind „Hunde“ Deckname für ein Israel feindlich gesinntes Volk, wahrscheinlich die Philister) üblich wird, und zwar in rabb. Literatur, insofern ein Nichtjude abwertend als „(Paria-)Hund“ bezeichnet werden kann (Belege bei [H. STRACK] / P. BILLERBECK, Das Evangelium nach Matthäus [Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch Bd. I], München 1926 [Nachdr. München 81982], 725f). Mit W. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. v. K. U. B. ALAND, Berlin/New York
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Das Halten von Haushunden war zu hell.-röm. Zeit in allen Bevölkerungsschichten verbreitet. Sie wurden als Nutztiere geschätzt,52 da sie für die Bewachung des Anwesens53 und für die Abfallbeseitigung in Haus und Hof sorgten:54 So stellen Hunde Käfern und Mäusen55 nach und ernähren sich von Küchenabfällen.56 Als an die Lebensweise des Menschen eng angepasstes und zu Gehorsam erzogenes Tier57 wurden Haushunde ikonografisch als beliebte Tischgenossen abgebildet.58 Als Gefährte des Menschen59 tragen sie Namen60 und werden im Haushalt vorwiegend von Kindern als tägliche Spielgefährten geschätzt,61 denen sie nicht zuletzt als Streichel- und Kuscheltiere62 willkommen sind. Das antike Mahl ist dabei von zwei sich widersprechenden Verhaltensweisen gezeichnet: 1. Im Unterschied zu den wenigen im Luxus schwelgenden Oberschichthaushalten, die ihre Schoßhündchen mit Speisen zu überfüttern beliebten,63 ist es für sonstige Mahlteilnehmer unüblich, ihre unter dem Tisch ständig nach Fressen geifernden Hunde (vgl. Jes 56,11)64 mit Brot, 1988, s.v.: „Stuben- und Schoßhund“, gegen JÜLICHER, Gleichnisreden (s. Anm. 6) II 256f; KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 275f, u.a.m. Vgl. Ps-Phokylides 202; Columella 7,12,3ff über den Hofhund im Unterschied zum streunenden Hund. Vgl. Jes 56,10; JosAs 11,1; TestHi 9,3; Columella 7,12,1.3ff. Vgl. BQ 80a+b, R. Jischmael, T 3 (BILL. I 722). Die Hauskatze wird in der röm. Antike erst im 4. Jh. n.Chr. im Zusammenhang von Mäuseplagen genannt. Es sei denn, man gibt den Haushunden besonderes (Kraft-)Futter, vgl. Columella 7,12,10. Vgl. 1Sam 17,43; Columella 7,12,6. Beispiele bei J. BORCHHARDT, Die Bauskulptur des Heroons von Limyra. Das Grabmal des lykischen Königs Perikles (Istanbuler Forschungen 32), Berlin 1976, 132 mit Taf. 55,2; E. SIMON, Die griechischen Vasen, München 21981, Abb. XI; O. KEEL, Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes, Fribourg 22008, 95, Abb. 114 (zum Grabkult vgl. H.-J. LOTH, Art. Hund, RAC 16 [1994], 773-828: 801). Auch werden Haushunde zu Füßen ihres Besitzers dargestellt (Beisp. aus Ägypten bei N. de G. DAVIES, The Rock Tombs of El Amarna vol. 4 [ASE 16], Oxford 1906, Table 25) und nicht selten werden sie auf Geräten des täglichen Gebrauchs abgebildet (ägypt. Belege bei H.G. FISCHER, Art. Hunde, LÄ III [1980], 77-81: 79). Als anhängliche Begleiter werden sie auf gefährlichen Reisen eingesetzt, vgl. Tob 6,1; 11,4; röm. Belege bei S. IHM, Art. Haustiere, DNP 12,2 (2003), 989-991: 990. Die Namen spiegeln ihre körperlichen oder psychischen Eigenschaften oder auch das innige Verhältnis zu ihrem Halter wider, vgl. AZ 54b, R. Gamaliel II., T 2 (BILL. I 725), griech. Belege bei LOTH, Art. Hund (s. Anm. 58), 787; HÜNERMANN, Art. Hund (s. Anm. 50), 757. Vgl. Plinius, Ep. IV 2,3f, griech. Belege bei G. VAN HOORN, Choes and Anthesteria, Leiden 1951, 47 mit Abb. 320ff. Vgl. Seneca, Trostschrift an Marcia 12,2. Vgl. Petronius 64,6; Carmina Latina Epigraphica 1176,7ff; Martial 1,109. Zur übertriebenen Zuneigung zu Haustieren s. Martial 7,87. Vgl. auch Varro, rust. 2,9; Apostolius, Centuria 16,83. 6
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(rohem) Fleisch oder anderen Speisen zu füttern: Handelt es sich doch um Lebensmittel, die für die menschliche Ernährung wichtig und mit viel Arbeit und Mühe hergestellt wurden.65 Diese Einstellung zum sorgsamen Umgang mit wertvoller Nahrung spiegelt sich in einem Grundsatz der antiken Ökonomik wider, einer Wissenslehre über die richtige Führung eines gegliederten Hauswesens.66 In der Frage der Versorgung lautet Aristoteles’ Empfehlung an den Hausherrn folgendermaßen (gen an 2,6 = 744b): „Denn wie ein guter Haushalter pflegt die Natur nichts fortzuwerfen, woraus sich noch etwas Brauchbares machen lässt. Und im Hauswesen ist die beste Nahrung für die Freien bestimmt, die geringere, die davon abfällt, für die Dienerschaft, während man den Abfall den Haustieren überlässt. So wie dies also für das Wachstum die äußere Vernunft anordnet, genau so tut es in den werdenden Geschöpfen selber die Natur ...“.
Das Prinzip einer rationalen Haushaltsführung legt darauf Wert, dass die in einem Haushalt erwirtschafteten Lebensmittel nicht verschwendet werden. Zu beachten ist, dass Haustiere zu den auf Versorgung Anspruch habenden Hausgliedern zählen. Jedoch haben u.a. Hunde einen so niedrigen Status, dass ihre Ernährung stets nachrangig und zudem nur mit Speiseabfällen zu erfolgen hat. Mk 7,27b (par.) drückt diesen Versorgungsgrundsatz antiker Ökonomik (ouv ... evstin kalo,n) in positiver und negativer Weise aus: Das wertvolle Lebensmittel Brot dient im Hauswesen vorrangig (prw/toj% der Ernährung des ersten Standes. Und: es ist untersagt, Brot an Hunde zu verfüttern. Bei der Befolgung dieser haushaltsethischen Regel ist es am Tisch Gang und Gebe, die für den menschlichen Verzehr sich als ungenießbar erweisenden Speiseanteile wie Knochen, Schalen, Fischgräten etc. auf den Boden fallen zu lassen.67 An diesen Tischabfällen können sich noch während des Mahles68 – und erst recht nach ihm! – Haushunde gütlich tun. Diese Tischsitte war so geläufig, dass sie zu einer stehenden Redefigur führte: „Selbst einem Hund gibst du zu fressen.“69 2. Auf der anderen Seite – und das ist für die Mahlpraxis genauso kennzeichnend – kann es von der bei Tisch versammelten Haus65 66
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Vgl. JosAs 10,13; Ber 50b Bar. (BILL. IV/2 637). Zur antiken Oikonomia-Literatur, die sich diskursiv um die Haushaltsthemen Bewahrung und Erwerb wie Wirtschaft etc. bemüht, vgl. K. LEHMEIER, OIKOS und OIKONOMIA. Antike Konzepte der Haushaltsführung und der Bau der Gemeinde bei Paulus (MThSt 92), Marburg 2006. Vgl. Apuleius, Met. 7,14. Vgl. Martial 3,82,19, auch Johannes Chrysostomos 17,2 (= PG 49,173f). Quintilian, inst. 8,3,22, vgl. Pes 118a, R. Eleazar b. Azarja, T 2 (BILL. I 724). S. die Abbildung am Ende dieses Beitrages aus: Simon, Vasen (s. Anm. 58), Abb. XI. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hirmer.
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gemeinschaft in keiner Weise verhindert werden, dass Hunde sich von unabsichtlich (!) herunterfallenden Speisen ernähren. Diese Ungeschicklichkeit wird bei allen Mahlteilnehmern vorkommen, die bei ihrer Sättigung keine Sorgfalt an den Tag legen. Mk 7,28 zufolge kommt diese Fahrlässigkeit besonders bei (kleinen) Kindern vor, die bei der Nahrungsaufnahme (noch) überfordert sind. Wird in der hellenistischrömischen Esskultur mit den Fingern von den auf Tabletts oder in Schüsseln bereitstehenden bzw. gereichten Speisen genommen,70 so gibt es genügend Speiseteile, die auf dem Weg zum Mund aus lauter Unachtsamkeit zu Boden fallen. Diese Kleinteile, darunter auch Brotkrümel, werden von den Haushunden genauso gierig vom Boden aufgefressen wie die ihnen absichtlich hingeworfenen Speiseabfälle. Summa: Ein genauer Beobachter der antiken Mahlpraxis wird einen widersprüchlichen Umgang des Hauswesens mit kostbaren Lebensmitteln feststellen müssen. Bei der täglichen Mahlzeit wird fahrlässig der Grundsatz antiker Ökonomiktheorie missachtet: Nämlich, dass Haustiere nur mit ungenießbarem Abfall, nicht aber mit den für die menschliche Ernährung vorgesehenen Speisen – auch wenn es sich nur um winzige Brocken Brot handelt! – versorgt werden dürfen. Und da die Hunde nicht vom Gemeinschaftsmahl etwa durch Anleinung ausgesperrt werden, gerät der Widerspruch zur allseits akzeptierten Normalität.71
3. Die erwählungstheologische Metaphorik unabsichtlicher Haustierversorgung Von der täglich bei Tisch stattfindenden Versorgung von Hunden wurde in antiker Literatur im übertragenen Sinn negativ72 und positiv Gebrauch gemacht. Interessanterweise ist bei Philostratos (Vit.Apol. 1,19, ca. 3. Jh. n.Chr.) ein formal Mk 7,27f ähnelndes Gespräch zwischen Damis von Ninive, einem großen Verehrer von Apollonios von Tyana, 70 71 72
Vgl. Ovid, Ars amatoria III, 755ff. Als Essbesteck dienten lediglich Messer und Messerchen und verschiedene Arten von Löffeln, vgl. FELLMETH, Brot (s. Anm. 46), 17f mit Abb. 1. Vgl. JÜLICHER, Gleichnisreden (s. Anm. 6), II 256. Als Zeichen tiefster Erniedrigung der Feinde erzählt davon Ri 1,7, wenn der von den Israeliten besiegte König Adoni-Zedek sich rühmt, siebzig an Händen und Füßen verstümmelte Könige hätten das unter seinen Tisch Gefallene für sich zum Essen (mit dem Mund) aufsammeln müssen. Und für den jüd. Morallehrer Ps-Phokylides ist das Bild einer sich von Tischabfällen anderer, d.i. vermögender Leute ernährende Person ein abzulehnender, weil schmarotzender Lebensentwurf, da er sich nicht durch den von eigener Arbeit erworbenen Lohn seine Autarkie bewahrt (156f).
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und einem namentlich unbekannten Schwätzer überliefert. Letzterer kritisiert Damis’ Schriftstellerei, nämlich Tagebücher mit dem bezeichnenden Titel „Brosamen“ anzulegen, in denen schlichtweg alles aufgezeichnet wird, was der große Meister Apollonios von sich gibt, und zwar auch das von ihm nur beiläufig Gesagte: „Es sei ja ganz recht, alle Lehren und Meinungen dieses Mannes aufzuschreiben, aber daß er auch solche Kleinigkeiten zusammenlese, stelle ihn den Hunden gleich, die die Abfälle vom Tisch vertilgen.“
Der mit dem abwertenden Vergleich vom ‚Brot der Hunde’ als subalterne Existenz gescholtene Damis weiß sich zu wehren und kontert: „Ja, wenn es sich um Mahlzeiten der Götter handelt und es Götter sind, die da schmausen, gibt es zweifellos auch Diener, denen viel daran liegt, dass nichts, was an Ambrosia übrigbleibt, verloren geht.“
Möchte der Autor dieses literarischen Dialogs, Flavius Philostratos, mit der von ihm verwendeten Metapher über die Nahrung der Hunde erreichen, dass literarische Fragmente die ehemals mündlich vorgetragene göttliche Weisheit des Apollonius vollgültig repräsentieren, so ist die haushaltsökonomische Metaphorik Mk 7,27f von Israels Erwählungstheologie geprägt. Dafür sprechen drei Hinweise: 1. Beobachtung: Hinsichtlich von Theorie und Praxis der Haushaltsversorgung ist auffällig, dass Mk 7,27f nur Vertreter zweier Gruppierungen genannt werden: Freie und Haustiere. Angehörige des Sklavenstandes fehlen. Diese Reduktion lässt sich zunächst aus dem Erzählzusammenhang erklären: Aus den fehlenden Angaben darf doch angenommen werden, dass die beiden phönizischen Frauen dem Stand der Freien angehören. Und da der Wundertäter um Hilfe an einem kranken Mädchen angegangen wird, werden im Bildwort anstelle von Erwachsenen Kinder, also junge Menschen im Alter von vier bis zwölf Jahren,73 erwähnt. Über das narrative Arrangement hinaus aber spielt die Kindeserwähnung an die im Frühjudentum weit verbreitete metaphorische Bezeichnung der Israeliten als Söhne und Töchter JHWHs an.74 Von R. Aqiba (T 1) ist dabei ein erwählungstheologisch begründetes jüdisches Selbstverständnis überliefert (Av 3,14, vgl. Jdt 9,4): „Geliebt sind die Israeliten, denn sie sind Kinder Gottes genannt.“ 2. Beobachtung: Ist Brot das Hauptnahrungsmittel der antiken Bevölkerung, so kann es aufgrund seiner ernährungsphysiologischen Qualität für den Lebensunterhalt im Allgemeinen stehen.75 Im Falle des provo73 74 75
Nach 2Makk 7,27 werden Kinder drei Jahre lang gestillt und nach Gen 17,25 tritt mit dem 13. Jahr die körperliche Reife ein. Vgl. Hos 2,1; Weish 9,7; 18,13. Vgl. Q 11,3; Mk 6,8 par.; 2Kor 9,10; 2Thess 3,12.
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kanten Apophthegmas bezieht sich „Brot“ auf die Gesundung des Mädchens und meint obendrein ihre uneingeschränkte Teilnahme am Leben. Damit greift die Brotmetapher die in jüdisch-christlicher Tradition symbolisierte Teilnahme am futurisch-eschatologischen (Lk 14,15): „Selig, wer am Brot in der Gottesherrschaft teilhaben wird!“ wie präsentisch-eschatologischen Heil (Joh 6,35, vgl. 48.51): „Ich bin das Brot des Lebens …!“ auf. 3. Beobachtung: Ist „Herr!“ gegenüber einer männlichen Autorität als wertschätzende Anrede bekannt,76 so liegt in urchristlicher Sprache mit ku,rioj ein christologischer Titel über Jesus als den durch Gottes Schöpfermacht zu neuem Leben Erweckten vor.77 Das Gemeindebekenntnis zu Jesus als dem einzigen „Herrn aller“78 besitzt dabei die Pointe, dass seine Homologie ohne erwählungstheologischen Unterschied Juden wie Nichtjuden rettet. So heißt es Röm 10,12: „Da gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen; ein und derselbe ist ja der Herr von allen, reich für alle, die ihn anrufen.“
Diese drei Beobachtungen zur metaphorischen Sprachtradition zusammen lassen ausschließen, dass es sich bei Mk 7,27f um eine Allegorie79 oder um eine Halballegorie80 handelt.81 Gemessen am Kriterium der Wirklichkeitsnähe zählt die Bildlichkeit zu der von Adolf Jülicher in die moderne Gleichnisauslegung eingeführte Kategorie eines Gleichnisses im eigentlichen Sinn82: Sind doch dem antiken Rezipienten die Rationalität hauswirtschaftlicher Versorgung und die dazu in Widerspruch stehende Mahlpraxis bekannt. Angesichts der Zuspitzung der Versorgungsmaxime auf Kinder als Teil der freien Hausgenossenschaft, des Verweischarakters von Brot auf erfülltes Leben und der christlichen Bekenntnisrede von Jesus als dem göttlichen Herrn aller Menschen
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Vgl. Mt 25,11; Joh 12,21; 20,15. Vgl. Mk 11,3 par.; als Anrede Q 7,6; Mt 8,2; Lk 5,8.12 u.ö. Vgl. auch die religiöse Bedeutung der Proskynese Mk 7,25fin., die Ausdruck totaler Unterwerfung unter einen Herrn ist, dazu H. GREEVEN, Art. proskune,w ktl., ThWNT VI (1959), 759-767, bes. 764ff. Vgl. Röm 10,9; 1Kor 12,3. So KLAUCK, Allegorie (s. Anm. 22), 276f; PESCH, MkEv (s. Anm. 15), 388, u.a.m. So JÜLICHER, Gleichnisreden (s. Anm. 6), II 256. Bereits die verschiedenen griech. Begriffe für „Kind“ und die Bezeichnung „Haushund“, die im Gegensatz zum „(Paria-)Hund“ nicht als konventionalisierte Metapher bekannt war, stehen gegen eine allegorische Verschlüsselung. Das Beispiel bei Philostrat erläutert zudem, dass antike Rhetorik die Metaphorik in unterschiedlichen Kontexten einsetzt. Zudem ist an dem Paralleltext Mt 15,21-28 zu studieren, wie erst durch den Zusatz V.24 eine hintergründige Allegorie entstanden ist, dazu U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus II (EKK I/2), Neukirchen-Vluyn u.a. 31999, 436f. Vgl. JÜLICHER, Gleichnisreden (s. Anm. 6), I 69-92.
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handelt es sich in Anlehnung an Wolfgang Harnisch gesprochen um eine „kühne“ Metaphorik83. Ihr argumentatives Ziel ist es gerade nicht, den für die Ordnung des antiken Hauswesens konstitutiven Unterschied zwischen Freigeborenen (und Sklaven) und Haustieren einzuebnen.84 Vielmehr unterscheidet die Haushaltsmetaphorik zwischen einem mit Absicht gewünschten und einem unabsichtlich zustande kommenden Handlungsresultat. Während in der Jesusrede die haushaltsökonomische Maxime präsentiert wird, Lebensmittel nur freien Hausgliedern zur Verfügung zu stellen und Haustiere nur mit Essensabfällen zu versorgen, macht die Gegenrede der Frau darauf aufmerksam, dass dieser Grundsatz in der Praxis durch ein unabsichtliches Tun durchbrochen wird: Bei Tisch können sich Haushunde auch an ihnen verbotenen Nahrungsmitteln sattfressen.
4. Die Theologie von Gottesverehrern außerhalb Israels Gehört es zu Israels essentiellen Glaubensüberzeugungen, dass Gottes Verheißung von Volksmehrung und Herrschaft ausschließlich den Nachkommen Abrahams gilt (vgl. Gen 17), so ist überraschenderweise in Israels ureigenen Heiligen Schriften davon zu lesen, dass es anerkannte JHWH-Verehrer außerhalb des einen Erwählungsvolkes gibt.85 Neben dem sog. Tempelweihgebet Salomos (vgl. 1Kön 8,41-43) ist dabei auf zwei mit Mk 7,25-30* gattungsmäßig verwandte Wundererzählungen zu verweisen: 1. In 2Kön 5,1-19 wird erzählt, dass Naaman, ein Heerführer des Königs von Aram, durch den israelitischen Wundertäter Elischa von seinem Aussatz geheilt wurde. Nach dem heilenden Bad im Jordan bekennt er (V.15c): „Wahrhaftig, nun weiß ich, dass es auf der ganzen 83 84 85
Vgl. W. HARNISCH, Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung, Göttingen 42001, 125ff. Etwa in dem Sinne, dass die ‚hausständische Differenz’ von Kindern und Haushunden in ein geordnetes Miteinander verwandelt werde, so FELDMEIER, Syrophönizierin (s. Anm. 15), 213. Vgl. dazu V. HAARMANN, JHWH-Verehrer der Völker. Die Hinwendung von Nichtisraeliten zum Gott Israels in alttestamentlichen Überlieferungen (AThANT 91), Zürich 2008. – Im Lichte dieser Arbeit ist die Behauptung, die nichtisraelitischen Seeleute im Jon (1,14) seien durch ihre Umkehr zu „Proselyten“ geworden (U. MELL, Theologie östlich von Osten. Zum geschichtlichen Ort des Jona-Buches, in: K.-M. BULL / E. REINMUTH (Hg.), Erinnerung und Bekenntnis, FS H.-F. Weiß (Rostocker Theologische Studien 16), Münster 2004, 67-91: 77 [wieder abgedruckt in: DERS., Biblische Anschläge. Ausgewählte Aufsätze (ABG 30), Leipzig 2009, 11-40]) zu korrigieren.
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Welt keinen Gott gibt außer in Israel!“ und geht mit diesem Glauben geheilt ins JHWH-fremde Syrien zurück, nicht ohne jedoch vorher kiloweise Erde aus Samaria für seinen privaten JHWH-Kult in Damaskus zu akquirieren (vgl. V.17-19). 2. Und im Jonabuch ist 1,14-16 zu lesen, dass die wundervolle Rettung vor maritimem Tod aus nichtisraelitischen Seemännern JHWHVerehrer macht, die in der Furcht des Schöpfers JHWH86 dem Gott Israels Gelübde und – wie auch immer dies auf einem hölzernen Boot auf hoher See bewerkstelligt werden kann – diverse Schlachtopfer darbringen. Mit diesen alttestamentlichen Texten, dass es gewürdigte JHWHVerehrer außerhalb Israels gibt, die weder in das Gottesvolk integriert87 noch zu Proselyten werden müssen88, liegt für Israelchristen genügend Schriftgrund bereit, um die Außergewöhnlichkeit nichtjüdischer Heilspartizipation als thoragemäß und damit göttlich gewollt zu legitimieren. In Anknüpfung an diese jüdische Option lässt die ‚theologische Wundergeschichte’ Mk 7,25-30* einer Nichtjüdin Heil widerfahren, ohne auf ihren religiösen Statuswandel einzugehen: Weder muss sie einen Nachweis ihres rechten Glaubens vorlegen89 noch kultische Verehrung an den Gott Israels90 üben. Es reicht für den Erzähler aus, dass ihre dämonisch verzerrte Lebensexistenz ein unüberhörbarer Appell um Hilfe ist, damit ihr die Gesundheit wirkende Schöpferkraft des Gottes Israels vermittelt werde. Und, gemessen an Israels Identität als erwähltes Volk der Verheißung, bleibt sie auch nach ihrer Gesundung, was sie als Kranke schon war: eine Völkerfremde. Der Kontakt zum hilfsbereiten Judentum in Gestalt des jüdischen Wundertäters Jesus ist in der Erzählung auf ein Minimum reduziert: Nicht die Betroffene, das kranke Mädchen, sondern ihre Mutter kommuniziert in der Öffentlichkeit mit dem jüdischen Wundermann. Auch muss der Wundermacher aufgrund seiner überragenden Heilungskraft, die selbst über große Distanzen wirken kann, nicht in eigener Person das irgendwo in Phönizien liegende Haus aufsuchen, um mit seinem Exorzismus Erfolg zu haben. Auf diese erzählerische Weise wird im Ansatz jede Möglichkeit einer thorawidrigen Verunreinigung, die bei
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Vgl. zu Jon 1,14 Ps 115,3; 135,6. So Rut. Vgl. Mt 23,15. Vgl. anders JosAs. Vgl. anders Jon 1,16.
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der Begegnung von Juden und Nichtjuden entstehen könnte, unterbunden. Das thoraobservante Israelchristentum, dessen Handschrift bei der vormarkinischen Tradition unschwer zu erkennen ist, will aber mehr. Es gibt der Reihe von Exempeln fremder Gottesverehrer nämlich eine schlüssige Theorie. Genauer gesagt gibt es der Außergewöhnlichkeit israelabseitigen Heils mit dem dialogisierten Bildwort Mk 7,27f* eine handfeste theologische Begründung: Ausgangspunkt ist die allgemeine Erfahrung, dass menschliches Handeln absichtliche und unabsichtliche Resultate erzielen kann. Ethische Theoriebildung fasst die Empirie in den Grundsatz der Einheit menschlichen Handelns, das sich aus rational gewolltem und fahrlässig zustande kommenden Handeln zusammensetzt. Theologisch übertragen auf Gottes Handeln entsteht ein fürsorgliches Gottesbild: Als allmächtiger Hausvater seiner Schöpfung lässt Gott in seiner weisen Ökonomik des Menschenhauses auch nachrangig gesetzten Hausgliedern durch ein unbeabsichtigtes Handeln Segensglück zukommen. Dieses unabsichtliche Heilshandeln geschieht ebenso wie sein absichtliches (vgl. Dtn 7,7f) aus lauter unverdienter Liebe. Schließlich ergibt sich verheißungstheologisch ein Paradox, insofern abseits der Hauptlinie der Erwählung des Gottesvolkes Israel eine Nebenlinie entsteht, die sich als ein absichtlich-unabsichtliches göttliches Erwählungshandeln an Israelfremden bezeichnen lässt.
5. Vergleich mit israelchristlichen Missionskonzepten Basis einer theologiegeschichtlichen Verortung des israelfixierten Heilskonzeptes von Mk 7,25-30* im Urchristentum ist die Gegebenheit, dass es in urchristlicher Theologie verschiedene Missionskonzepte gab, die (noch) nicht von einem universalen Evangelium für alle Völker einschließlich Israel sprachen. Insbesondere ist auf zwei israelbezogene Entwürfe aufmerksam zu machen: 1. Im Jahre ca. 48/9 n.Chr. wurde in Jerusalem auf dem sog. „Apostelkonvent“ zwischen Vertretern der christlichen Gemeinde von Antiochia und der Jerusalemer Muttergemeinde im Angesicht des christusgläubigen, nichtjüdisch geborenen Titus aus dem syrischen Antiochia91 eine bilaterale Vereinbarung geschlossen. Sie hielt u.a. fest, dass in christlicher Verkündigung ein sog. „Evangelium der Unbeschnittenheit“ exi91
Vgl. Gal 2,1.
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stiert, das nichtjüdisch geborenen Menschen Heil ermöglicht und dabei von Moses rituellen Thoranormen befreit: Darum muss sich der gläubige Titus keiner Beschneidung unterziehen (vgl. Gal 2,3). Dieses Evangelium für Nichtjuden steht gleichberechtigt neben dem sog. „Evangelium für die Beschnittenheit“ (V.7). Die Existenz des „neuen“ Evangeliums wurde dabei in Jerusalem mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass in ihm dieselbe Gnadentheologie präsent wird, die auch die petrinische (Erst-)Verkündigung an Israel auszeichnet (vgl. V.8). Jedoch legt das für nichtjüdisch Geborene Evangelium jedem Völkerchristen bzw. jeder völkerchristlichen (Einzel-)Gemeinde einen finanziellen Beitrag zur Linderung der Not Jerusalemer Christen auf (vgl. V.10). Theologischer Sinn der Verbindung von ‚geschenkter Gnade’ und zu ‚leistender Ökonomie’ ist es, jedem durch die Verkündigung des „Evangeliums der Unbeschnittenheit“ geretteten Nichtjuden das Israelzentrierte seines Heilsstandes zu verdeutlichen und zugleich die Einheit der jungen Christenheit zu wahren, in der Evangeliumsverkündigung bemerkenswerterweise auf zweierlei Wegen geschieht. Ein Vergleich von Mk 7,25-30* mit dem auf dem Jerusalemer Treffen vereinbarten Kompromiss zeigt wenig Übereinstimmung. Das einzig Gemeinsame dürfte darin bestehen, dass das Heil für Israel wie die Völker konzeptionell als Einheit gedacht wird: Evangeliumsbegriff hier, Handlungstheorie dort. 2. Deutlich mehr theologische wie auch erzählerische Nähe besteht zu einer für die Schrift „Q“ rekonstruierbaren ‚theologischen Wundergeschichte’, die die ‚Glaubensüberzeugung’ eines römischen Zenturios über die Wundermacht Jesu in den Mittelpunkt stellt (Lk 7,1-10 par.):92 Wie der imperiale Erfolg des Römischen Reiches auf dem militärischen Prinzip von Befehl und unbedingtem Gehorsam beruht, so ist es nach dem Zenturio auch mit der unbedingten Stärke des Wundertäters Jesus über alle schöpfungsfeindlichen Mächte bestellt (vgl. V.8). Das anerkennende Jesus-Wort: „Nicht einmal in Israel habe ich einen solch großen Glauben gefunden!“ (Q 7,10b) stellt dabei heraus, dass auch einige wenige Nichtisraeliten zum Gott Israels gehorsames Vertrauen aufbauen können.93 Und bestätigt die Realität dieses seltenen Glaubens durch die wunderbare Gesundung des sterbenskranken (römischen) Burschen (V.10).94 92 93 94
Dazu U. WEGNER, Der Hauptmann von Kafarnaum (Mt 7,28a; 8,5-10.13 par Lk 7,110). Ein Beitrag zur Q-Forschung (WUNT II 14), Tübingen 1985, mit einer QTextrekonstruktion 270f. Vgl. Röm 2,14f. Aufgrund der wunderhaften Bestätigung der Aussage über den nichtjüdischen Glauben des röm. Zenturio kennt „Q“ die vereinzelte Heilsbeteiligung von Nichtju-
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Analog zu dieser ‚theologischen Wundergeschichte’ und gleichzeitig sie fortführend legt Mk 7,25-30* mit dem dialogisierten Bildwort V.27f den Schwerpunkt auf die Zueignung des Heils an Nichtjuden. Ausgehend von der für Israel in Geltung stehenden Verheißung entwickelt die vormarkinische Tradition eine inklusive Heilsvorstellung, zu der einige wenige Angehörige der Völker gehören. Damit bedenkt sie den Fall, dass im außerpalästinischen Kontext, nämlich in der Diasporasynagoge, durch christliche Verkündigung Israels Heil unabsichtlich auch den aus jüdischer Sicht zu den Völkern gehörenden Menschen vermittelt wird: Im öffentlichen Gottesdienst der Synagoge treffen sich nämlich Sabbat für Sabbat Juden und Nichtjuden zum gemeinsamen Gebet an den wahren und lebendigen, den einen Gott. Um das synagogal im Glauben an JHWH sich konstituierende Israel hat sich dabei eine Glaubensschar von „Gottesfürchtigen“ eingefunden, die Israels Monotheismus wie seine Ethik der Nächstenliebe von ganzem Herzen bejaht, sich aber nicht dazu bereitfinden kann, die mosaischen Gesetze in ritueller Hinsicht umfassend zu befolgen und zur mosaischen Religionsgemeinde zu konvertieren. Nach jüdischer Thora zählt diese Gruppe von Gottesgläubigen trotz ihrer positiv-religiösen Einstellung zu Israel zur Masse der rettungsbedürftigen Völker.95 Von den Diasporagemeinden im syrischen Damaskus96 wie Antiochia97 ist nun bekannt, dass die zu ihnen geflohenen Israelchristen aus dem Kreis um den ehemaligen Diasporajuden Stephanus98 von ihrem christlichen Auferstehungsglauben erzählen und mit dem endzeitlichen Sammlungskonzept von ganz Israel sowohl jüdisch-heterodoxen Samaritanern99 als auch rituell deviantem Judentum100 das Israel verheißene Heil (vgl. 1Thess 1,9f) anbieten. Ihre Evangeliumsverkündigung trifft im öffentlichen Raum der Diasporasynagoge auch auf nichtjüdisch geborene Gottesfürchtige, von denen einzelne zu dem das Rettungsheil
den durch urchristliche Mission, mit D. LÜHRMANN, Die Redaktion der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen-Vluyn 1969, 87, gegen WEGNER, Hauptmann (s. Anm. 92), 334. 95 Zu den „Gottesfürchtigen“ vgl. jetzt B. WANDER, Gottesfürchtige und Proselyten, in: K. ERLEMANN u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 50-52 (Lit.). 96 Vgl. Gal 1,23; 2Kor 11,32f. 97 Vgl. Gal 2,3 und Apg 11,20. 98 Apg 11,19, dazu HENGEL, Hellenisten (s. Anm. 2). 99 Vgl. Apg 8,5-7.14-17; Joh 4,5ff. 100 Vgl. Apg 8,26-40, dazu A. LINDEMANN, Der „äthiopische Eunuch“ und die Anfänge der Mission unter den Völkern nach Apg 8-11, in: C. BREYTENBACH / J. SCHRÖTER (Hg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, FS E. Plümacher (AGJU 57), Leiden/Boston 2004, 109-133.
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verheißenden christlichen Auferstehungsevangelium finden (vgl. Apg 11,20f). Literatursoziologisch betrachtet, entstammt die ‚theologische Wundergeschichte’ Mk 7,25-30* einem sich in Hausgemeinden organisierenden Israelchristentum. Sie reflektiert die in Synagogen der röm. Provinz Syrien vereinzelt vorkommende Erfahrung, dass nichtjüdisch geborene „Gottesfürchtige“ zum Glauben an das Auferstehungsevangelium finden. Der diese Sonderfälle nachträglich legitimierende vormarkinische Wundertext datiert theologiegeschichtlich in das vierte Jahrzehnt des 1. Jh. n.Chr., als unter Israelchristen die Heilsweitergabe an Angehörige der Völker umstritten war (vgl. Mk 7,27b mit Gal 2,4.). Noch fehlt eine breite Erfahrung mit völkerchristlicher Mission101 und noch ist kein Paulus da, der als rhetorisch begabter Theologe die in der syrischen Diaspora stattfindende thorafreie Völkermission palästinischen Israelchristen als geistgewirkt vorstellen kann (vgl. Gal 2,2). Die ‚theologische Wundergeschichte’ gehört damit wie Q 7,1-10 zu den ersten tastenden Versuchen, die Praxis der vereinzelten Heilsbeteiligung von Nichtjuden an Israels Schalom zu rechtfertigen, ohne dabei den Grundsatz zu beschädigen, dass das göttliche Heil in erster Linie Israel meint. Im Gegensatz zur Jerusalemer Vereinbarung (vgl. Gal 2,3.10)102 eignet sich die in Mk 7,27f* zutage tretende inklusive Heilsvorstellung aufgrund ihrer Beschränkung auf den Einzelfall jedoch nicht zur Begründung einer aktiven Völkermission.103
6. Zur urchristlichen Wirkungsgeschichte von Mk 7,27f Auffälligerweise ist im Neuen Testament eine Israel und die Völker umfassende Darlegung des Evangeliums unter Verwendung von prw/toj (= „vorrangig“) sowohl Apg 13,46 (vgl. 3,26) als auch Röm 1,16 (vgl. 2,9f) bezeugt. Mit Bezug auf Ferdinand Hahn104 hat Ludger Schenke darum davon gesprochen, dass Mk 7,27 das „hellenistisch-juden-
101 Vgl. Apg 13f. 102 Vgl. Gal 2,9fin., gemeint sind nicht die Aufteilung der Missionsgebiete, sondern die Verständigung über die unterschiedlichen Zielgruppen der beiden Evangelien. 103 In Hinsicht der Interpretation der vormarkinischen Wundergeschichte Mk 7,25-30* ist der oben zitierten Auffassung des Jubilars also nicht zuzustimmen. 104 F. HAHN, Das Verständnis der Mission im Neuen Testament (WMANT 13), Neukirchen-Vluyn 1965, 63f.
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christliche Missionsprogramm“ repräsentiere.105 Die Frage stellt sich, ob Paulus und die Verfasser/-innen des Markusevangeliums wie des lukanischen Doppelwerkes auf dem missionstheologischen Grundsatz der ‚theologischen Wundergeschichte’ Mk 7,25-30* fußen. Ein Textvergleich erbringt dabei Folgendes: 1. Apg 13,46 ist erzählerischer Bestandteil des Berichtes über die von Barnabas und Paulus vom syrischen Antiochien aus geführte Missionsreise nach Zypern und Pisidien (= Apg 13f). Im pisidischen Antiochia kommt es zur Ablehnung des christlichen Rettungsevangeliums durch die ansässigen Juden, worauf Paulus und Barnabas folgende öffentliche Erklärung abgeben: „Euch (sc. den Juden) musste zuerst (prw/toj) das Wort Gottes verkündigt werden. Weil ihr es aber abweist und euch selbst des ewigen Lebens nicht wert erachtet, siehe, wenden wir uns an die Völker.“
Mit Mk 7,27f hat dieser geschichtliche Grundsatz christlicher Mission kaum eine Gemeinsamkeit. Er spiegelt die (relativ späte) Auffassung des lukanischen Doppelwerkes um 80/90 n.Chr. wider: Es lässt am Schluss seines Opus magnum in Apg 28,28 die völkerchristliche Geschichtstheorie vernehmen,106 dass nach einer gewissen Zeit vorrangig geübter Israelmission aufgrund von offenkundiger Ablehnung das christliche Rettungsevangelium sich (primär) den Völkern zuwendet.107 Diese Abkehr von einer auf Israel fixierten christlichen Mission dokumentiert die Apostelgeschichte mit vielen Beispielen108 und erklärt sie durch erzählerische Aufzählung zum Teil der vergangenen (!) urchristlichen Geschichte. Demgegenüber vertritt Mk 7,27f* die Überzeugung, dass vereinzelte Mitglieder der Völker gleichzeitig mit Israel, jedoch immer nachrangig, am Heil partizipieren können. Ein zeitliches Nacheinander von Israel- und Völkermission – wie von der Apostelgeschichte behauptet – liegt außerhalb des Gesichtskreises.
105 SCHENKE, Wundererzählungen (s. Anm. 15), 259. Während L. Schenke mit F. Hahn annimmt, dass Mk 7,27 ein späterer Einschub sei, ist der Vers nach der oben angestellten Analyse konstitutiver Bestandteil der vormarkinischen Tradition. 106 Dazu R. VON BENDEMANN, „Trefflich hat der heilige Geist durch Jesaja, den Propheten, gesprochen ...“ (Apg 28,25) – Zur Bedeutung von Jesaja 6,9f für die Geschichtskonzeption des lukanischen Doppelwerkes, in: N.C. BAUMGART / G. RINGSHAUSEN (Hg.), Das Echo des Propheten Jesaja. Beiträge zu seiner vielfältigen Rezeption (LThB), Münster 2004, 45-73. 107 Vgl. analog die israelchristliche Missionstheologie des Mt, nämlich erzählerisch in der Jesus-Biographie Mt 10,5f.23 (auch 15,24) mit 28,18-20 zu verbinden. 108 Zur lk Beweisführung gehört auch das Arrangement, dass sich die christliche Verkündigung zuerst den Juden, bei Ablehnung aber den Nichtjuden zuwandte, vgl. Apg 13,14ff, bes. 46; 16,11ff, bes. 31f; 18,1ff, bes. 7f.
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2. Mehr Gemeinsamkeiten stellen sich im Vergleich mit Röm 1,16 ein, ein Text, der programmatisch das Corpus des Römerbriefes109 eröffnet: „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht. Denn es ist eine Gotteskraft zum Heil für jeden glaubenden (Menschen), vorrangig (prw/ton)110 für den Juden, dann aber auch für den Griechen.“
Gemeinsam mit Mk 7,27f* wird in diesem um ca. 56 n.Chr. entstandenen paulinischen Text die Gleichzeitigkeit des durch das Evangelium ausgelösten Heilsgeschehens an Israel und den Völkern behauptet, um zugleich – in dialektischer Ergänzung – den bleibenden heilsgeschichtlichen Vorrang von Israel zum Ausdruck zu bringen. Mit dem Text von Mk 7,25-30* ist zudem die Bezeichnung der nichtjüdischen Völker als „Griechen“111 und der Aspekt der göttlichen (Wunder-) Kraft112 gemein. Während aber die vormarkinische Tradition nur von Einzelfällen ausgeht, kommt Paulus in prinzipieller Weise auf die christliche Mission zu sprechen. Ist Röm 1,16 von paulinischem Sprachgebrauch geprägt,113 so zeigt doch der wiederholte Gebrauch der Formulierung VIoudai/oj te prw/ton kai. [Ellhnoj in 2,9ff, dass Paulus geprägte Formelsprache verwendet. Ist für sie jüdische Herkunft aufgrund der Völkerperspektive ausgeschlossen,114 so dürfte es sich um urchristlich entwickelte Terminologie handeln: Da im Kontext der Diasporasynagoge durch andauernde christliche Verkündigungsmission aus Einzelfällen Gruppen von heilsbegabten Gottesfürchtigen entstehen, ja, sich im weiteren Verlauf der von Antiochia ausgehenden Mission auch Gemeinden nur aus Völkerchristen etablieren (vgl. Apg 11,19f), wurde eine grundsätzliche Sprachregelung in einem von Israelchristen dominierten Urchristentum notwendig: Dass das in christlicher Mission vermittelte Evangeliumsheil für Israel wie für alle (gottesfürchtige) Völker offen stehe, dass es aber immer den heilsgeschichtlichen Vorrang Israels respektiert. Paulus, der ehemals in das Missionswerk der antiochenischen Gemeinde eintrat115 und über die Zeit zum sprachgewaltigen Vertreter der in dieser Gemeinde geübten Völkerbeteiligung ohne Thoraunterstel109 110 111 112
Röm 1,16-15,13. Zum Sprachgebrauch vgl. 2Kor 8,5. Vgl. Mk 7,26a. Vgl. Mk 7,29f. Zum Verständnis von du,namij Qeou/ auch als göttliche Wunderkraft vgl. Apg 8,10. 113 To. euvagge,lion s. 1Kor 4,15; 9,23; 15,1; Gal 2,6.14; Phil 1,7; 2,22; 1Thess 2,4; du,namij Qeou/ s. 1Kor 1,18.24; 2,5; 2Kor 6,7; 13,4; eivj swthri,an s. Röm 10,1; 10,10; 2Kor 7,10; Phil 1,19; panti. tw/| pisteu,onti s. Röm 10,4. 114 Die Wendung VIoudai/oj te kai. {Ellhn findet sich nur urchristlich, vgl. Apg 14,1; 18,4; 19,10.17; 20,21; Röm 3,9; 10,12; 1Kor 1,24. 115 Vgl. Apg 11,25.
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lung heranreifte,116 könnte sehr gut mit der in der syrischen Kirche entwickelten Einzelfalllegitimation von Mk 7,25-30* in Berührung gekommen sein. Im Römerbrief könnte Paulus eine Anleihe bei ihrer Missionstheologie machen117 und räumt mit der antiochenischen Formel „für den Juden zuerst als auch für den Griechen“ (Röm 1,16; 2,9) um „der Kontinuität des Heilsplanes willen dem Judentum eine Prävalenz“118 ein, ohne dabei den christlichen Grundsatz der soteriologischen Gleichberechtigung von Israel und den Völkern zu vernachlässigen. Im Fortgang seiner im Römerbrief im Diatribe-Stil präsentierten Theologie vertritt er dabei die Überzeugung, dass der im Evangelium offenbar werdende Glaube an Christus Juden und Griechen vor der zürnenden Gerechtigkeit Gottes rettet. Markiert Gottes Zorn u.a. jegliches Vorrechtsdenken Israels als Sünde (3,9, vgl. 3,22f; 10,12), so bleibt doch andererseits Gottes Verheißung für Israels Heil in Kraft (vgl. 3,1; 9,4-6). Der Widerspruch, so Paulus prophetisch in 11,25-36, wird sich erst in einem zukünftigen endgeschichtlichen Finale auflösen: Dann wird die derzeit von Völkerangehörigen im Glauben gefundene Gerechtigkeit, die Israel gehört, von einer Konversion ganz Israels zu eben diesem Glauben und seiner Gerechtigkeit bestätigt.
7. Der missionstheologische Erzählkontext im Markusevangelium Die eigenständig und ehemals ohne Zeit- und Ortsbestimmung überlieferte ‚theologische Wundergeschichte’ Mk 7,25-30* wurde bei ihrer Aufnahme in das um 70 n.Chr. geschriebene Markusevangelium in die vom Erzähler thematisch arrangierte Episode Mk 6,30-8,21 eingegliedert. Mit dem zumeist wunderhaften Kontext (vgl. Mk 6,30ff; 7,31-8,10) ist die ‚theologische Wundererzählung’ durch die Stichworte „Brot“ (vgl. 7,2.5; 8,5f.14.16f.19) und „Essen“ (vgl. 6,31.36f.42.44; 7,2-5; 8,1f.8) verbunden. Im neuen narrativen Zusammenhang erscheint die Hauptperson als der in Palästina gebürtige Wundertäter „Jesus“ (s. Mk 6,30) und der Ort, von dem der Wundertäter zur Reise aufbricht, wird von V. 53 her als nordpalästinische „Landschaft Gennesaret“ verständlich.
116 Vgl. Gal 2,2. 117 Vgl. HAHN, Mission (s. Anm. 104), 64: „Die bei Paulus so geläufige Wendung prw/ton VIoudai/oj … ist von ihm nicht erst geschaffen, sondern bereits übernommen worden“. 118 E. KÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 41980, 21.
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Der „konservative Redaktor“119 belässt aber die inhaltliche Komposition der ‚theologischen Wundergeschichte’ unkommentiert, um aber „die Gegend von Tyrus“ als allseits bekannte nichtjüdische Region zu einer Station auf dem Reiseweg Jesu zu machen (Mk 7,24a). Und da das Bekenntnis zu Jesus als (göttlichem) „Herrn“ erst aufgrund der glaubenden Zustimmung zu seiner Auferstehung von den Toten entstehen kann,120 gibt er der Geschichte, die er vor der Auferstehungserzählung 16,1-8 in der zur Vergangenheit zählenden Lebenszeit Jesu (s. 15,39) spielen lässt, das sog. Messiasgeheimnismotiv (7,24b) bei: Erst im göttlichen Licht der Auferstehung kann und soll das christliche Kyriosbekenntnis zu Jesus den lesenden und hörenden Rezipienten des Markusevangeliums retten. In der markinischen Erzählung über die öffentliche Wirksamkeit Jesu behandelt der fiktive Abschnitt der „Nordreise“ den Übergang des Evangeliums von Israel zu den Völkern, und zwar als eine Verstehensaufgabe für die nachfolgenden Jüngerschaft:121 Sie soll mit dem Überschuss göttlicher Gnade umgehen lernen (vgl. Mk 6,52) und bei der entstehenden Kirche aus Israel- und Völkerchristen auf ihre Einheit achtgeben (vgl. 8,14-21). Das Erinnerungszeichen (Mk 8,19) der zwölf Körbe (6,42f), die nach erfolgter wunderhafter Speisung der 5.000 (6,30-44) eingesammelt werden, bedeutet das Heil für ganz Israel, das sich nach traditioneller Überzeugung aus zwölf Stämmen zusammensetzt (vgl. Q 22,30; Apg 26,7). Diese göttliche Seligkeit, und das erläutert die sich anschließende Seewandelgeschichte (Mk 6,45-51), besitzt zudem einen großartigen Überfluss (V.52). Sie zielt auf das Heil für alle Völker, wie es die zweite Speisungswundergeschichte für die 4.000 (8,1-9) mit den sieben Körben (V.8)122 als Denkzeichen für die Jüngerschaft (8,20) festhält. Da aber die mosaische Reinheits-Thora den Übergang des göttlichen Segens zu den von ihr als unrein klassifizierten Nichtjuden hindert, kann erst nach einer Erzählung ihrer Überwindung durch die Konzeption einer ethischen Herzensreinheit das Heil zu der nichtjüdischen Menschheit gelangen (vgl. 7,1-23, bes. V.21-23, analog Apg 10). Die erste gerettete Nichtjüdin ist das per Fernheilung von einem unreinen Dämon befreite Mädchen, die für die markinische Narratio zur „‚Mutter der Heidenmission’“123 avanciert, während die sofort anschließend erzählte Thera119 Vgl. PESCH, MkEv (s. Anm. 15) 2, auch 15ff.48ff; GNILKA, MkEv (s. Anm. 22), 25. 120 Vgl. Mk 12,36; 13,20.35. 121 Dazu G. RAU, Das Markusevangelium. Komposition und Intention der ersten Darstellung christlicher Mission, ANRW II 25.3 (1985), 2036-2257, bes. 2116ff. 122 Zur Zahl „sieben“ als altorientalische Anzeige für eine universale Gesamtheit vgl. S. KREUZER, Art. Zahl, NBL 3 (2001), Sp. 1155-1169, bes. 1164f. 123 RAU, Markusevangelium (s. Anm. 121), 2126.
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pie eines Taubstummen in der nichtjüdischen Dekapolis (Mk 7,31-37) diesen geschlechterparitätisch zum ‚Vater der Völkermission’ erklärt. Wie die in Mk 8,17-21 für das Jüngerverstehen namhaft gemachte Zahlensymbolik der „zwölf“ und „sieben“ Körbe der vorher erzählten Speisungswundergeschichten anzeigt, geht es dem Markusevangelium in der Episode 6,30-8,21 um ein Israel und die Völker umfassendes Evangeliumsheil. In der Reiseerzählung erscheint Jesus, der auch einige nicht zum jüdischen Stammland zählende Gebiete wie Phönizien124 und die Dekapolis125 besucht, aufgrund zweier dort stattfindender exemplarischer Wundertaten an Nichtjuden als Stifter einer universalen Religion. Während die erste ‚theologische Wundererzählung’ die Völkermission mit Argumenten begründet (7,24-30)126, will die zweite schrifttheologisch überzeugen (V.31-37 in Verbindung mit Jes 35,5fLXX)127. Denn das Markusevangelium ist zu seiner (Publikations-) Zeit fest davon überzeugt, dass sich durch kirchliche Evangeliumsverkündigung die christliche Religion über die ganze Ökumene ausbreiten wird (vgl. Mk 13,10).
124 Vgl. Mk 7,24a und 31b. 125 Vgl. Mk 7,31c. 126 In Hinsicht der Interpretation von Mk 7,24-30 im markinischen Kontext ist der oben zitierten Einschätzung Ulrich B. Müllers mithin zuzustimmen. 127 Zu Mk 7,31-37 vgl. R. VON BENDEMANN, Auditus et Testamentum - Die Heilung des Tauben/Stummen in der Dekapolis (Mk 7,31-37), in: W. HÄRLE u.a. (Hg.), Systematisch Praktisch, FS R. Preul (MThSt 80), Marburg 2005, 55-69.
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Aus: E. Simon, Vasen, Abb. XI (s. Anm. 58). Mittelkorinthischer Kolonettenkrater. Gastmahl: Herakles bei Eurytos und seinen Söhnen; vor ihnen die Königstochter Jole (600/590 v.Chr.).
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Der theologiegeschichtliche Standort des lukanischen Doppelwerks Martin Meiser Theologiegeschichte ist nach den Ausführungen des Jubilars das Vorhaben, verschiedene frühchristliche Gruppen konkret nach Raum, Zeit und Soziologie zu beschreiben und das gegenseitige Verhältnis dieser Gruppen zueinander präzise zu erfassen.1 Will man diese Aufgabenbestimmung auf das lukanische Doppelwerk anwenden, so liegen die methodischen Probleme auf der Hand: Der Autor steht als schriftstellerische Persönlichkeit vor Augen, die das Christentum auch höheren Bildungsschichten als ernstzunehmende religiöse Option nahe bringen will – steht er nur für sich selbst2 oder steht er auch für eine wie auch immer zu beschreibende Gruppe?3 Lukas präsentiert seine Stoffe so, dass es vor allem in der Apostelgeschichte nicht gelingt, aus sprachlichen Gründen zwischen Tradition und Redaktion zu unterscheiden – doch wie kann man sicher sein, dass Indizien, die heute hinsichtlich einer bestimmten Lokalisierung ins Feld geführt werden, nicht einfach weitergegebener Tradition entstammen?4 Ferner schreibt Lukas eine historische Monographie in zwei Bänden – inwieweit ist das, was er über die Vergangenheit schreibt, auch für seine eigene Gegenwart theologisch relevant?5 Wie unmittelbar einleuchtet, ist davon eine der Kernfragen des lukanischen Doppelwerks berührt, die Israelthematik, deren 1
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U.B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr., Gütersloh 1976, 9.12; vgl. DERS., Zwischen Johannes und Ignatius. Theologischer Widerstreit in den Gemeinden der Asia, ZNW 98 (2007), 49-67. So M. HENGEL, Der Jude Paulus und sein Volk. Zu einem neuen Acta-Kommentar, ThR 66 (2001), 338-368: 348. So M. KLINGHARDT, Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums (WUNT II 32), Tübingen 1988, 312f. R. BULTMANN betont, „dass mit dem Nachweis der Einheit einer Komposition nicht über die etwaige Verwendung von Quellen entschieden ist“ (R. BULTMANN, Zur Frage nach den Quellen der Apostelgeschichte, in: DERS., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, ausgewählt, eingeleitet und hg. v. E. DINKLER, Tübingen 1967, 412-423: 418). Vgl. P. HOFFMANN, Q 6,22 in der Rezeption durch Lukas, in: C. MAYER / K. MÜLLER, G. SCHMALENBERG (Hg.), Nach den Anfängen fragen, FS G. Dautzenberg, Gießen 1994, 293-326: 302.
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Erfassung wiederum Konsequenzen hat für die Verhältnisbestimmung des Lukas zu anderen frühchristlichen Schriftstellern. Schließlich teilt das lk Doppelwerk mit einem großen Teil anderer frühchristlicher Literatur gewisse Eigenheiten hinsichtlich der Einleitungsfragen: Es ist ursprünglich anonym überliefert, für die Zeit seiner Entstehung lassen sich gewisse Indizien beibringen, die Frage der Lokalisierung ist noch schwieriger lösbar. Allzu aufgeregt ist die Diskussion um all diese Fragen bisher nicht. Das liegt nicht nur daran, dass die eine Hälfte dieser Fragen nicht beantwortet werden kann, die andere Hälfte nicht beantwortet zu werden lohnt.6 Insgesamt gesehen dominierte in der Lukasforschung bisher weithin ein Konsens, das lukanische Doppelwerk als Werk eines Heidenchristen7 außerhalb der Landesgrenzen Israels am Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts anzusehen und in den Kreis der spätneutestamentlichen und frühen neben- bzw. nachneutestamentlichen Schriften einzureihen. Philipp Vielhauer hat in einer berühmt gewordenen Formulierung 1951 diesen Konsens zum Ausdruck gebracht; ihm zufolge steht Lukas „mit den Voraussetzungen seiner Geschichtsschreibung nicht mehr im Urchristentum, sondern in der werdenden frühkatholischen Kirche.“8 Die Fortsetzung dieses Zitates spiegelt aber Fragen, die damals wie heute diskutiert werden: „Seine (scil. des Lukas) Auffassung der Geschichte und sein Bild des Urchristentums sind auch die ihren (scil. der frühkatholischen Kirche); ob er sie ihr gegeben oder von ihr empfangen hat, ist eine Frage, deren Beantwortung nur von der breiteren Basis einer neutestamentlichen und patristischen Untersuchung aus versucht werden könnte.“9 Heute steht jedoch nicht mehr nur die Datierungsfrage wieder neu zur Diskussion, vielmehr ist auch die These der heidenchristlichen Herkunft des auctor ad Theophilum keineswegs mehr selbstverständlich; vielen gilt Lukas als Gottesfürchtiger10 oder als Judenchrist. In dieser Lage mag eine theologiegeschichtliche Neubesinnung durchaus angebracht sein. 6 7
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E. PETERSON, Der Brief an WEIß / F. HAHN, Würzburg W.G. KÜMMEL, Einleitung
die Römer, Ausgewählte Schriften, Bd. 6, hg. v. B. NICHT1997, 2. in das Neue Testament, Heidelberg 201984, 118; I. BROER, Einleitung in das Neue Testament, Bd. 1: Die synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte und die johanneische Literatur (NEB.E 2/I), Würzburg 1998, 131; U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007, 258f. PH. VIELHAUER, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, in: DERS., Aufsätze zum Neuen Testament (ThB 31), München 1965, 9-27: 26. PH. VIELHAUER, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, 26f. J.A. FITZMYER, The Gospel according to Luke. Introduction, Translation, and Notes, Vol. I: Luke I-IX (AncB 28), Garden City/New York 21983, 35-47; C.A. EVANS, Luke and the Rewritten Bible: Aspects of Lucan Hagiography, in: J.H. CHARLESWORTH / C.A. EVANS (eds.), The Pseudepigrapha and Biblical Interpretation (JSPE.S 14), Sheffield 1993, 170-201: 175; R. FELDMEIER, Das Lukasevangelium, in: K.-W. NIEBUHR
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1. Kriterien theologiegeschichtlicher Positionierung Bei dem Versuch einer Theologiegeschichte geht es bekanntlich um das Nacheinander, Miteinander und Gegeneinander einzelner Positionen. Als Kriterien für eine relative Chronologie will ich insgesamt vier benennen, von denen allerdings kaum eines für sich allein ausreichend ist für eine Aussage, die sich wenigstens als wahrscheinlich einstufen lässt. Das erste Kriterium ist: Je mehr sich Einflüsse aus verschiedenen Traditionsbereichen11 vermischen, umso eher legt sich eine Spätdatierung einer Schrift nahe. Das zweite Kriterium ist die Ausstrahlungskraft einzelner theologischer Zentralthemen in der Breite der in Frage stehenden Schrift. Beide Kriterien sind für sich allein nicht beweiskräftig, da sie ja einfach auf den Bildungsstand des Verfassers verweisen könnten; Ausschläge nach oben und nach unten würden so nicht erfasst. Darum nenne ich als drittes Kriterium die Entwicklung binnenkirchlicher technischer Alltagssprache und als viertes Kriterium die thematische Vergleichbarkeit. Je mehr aus diesen vier Bereichen konvergiert, umso wahrscheinlicher ist eine dementsprechende These.
2. Die Einleitungsfragen 2.1. Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Wie schon angedeutet, ist der Konsens hinsichtlich der Datierung durch die Frühdatierung bei Alexander Mittelstaedt12 ebenso in Frage gestellt wie durch Versuche der Spätdatierung auf ca. 100 bei Barbara Shellard13, auf die Zeit zwischen 110 und 120 bei Richard I. Pervo14, auf
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(Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 2000, 109-126: 116; W. KRAUS, Lukas: Urchristlicher Schriftsteller zwischen Judentum und Hellenismus, in: C. BARNBROCK / W. KLÄN (Hg.), Gottes Wort in der Zeit: verstehen – verkündigen – verbreiten, FS V. Stolle, Münster 2007, 227-244: 244. Formuliert in Anlehnung an Th. HECKEL, Juden und Heiden im Epheserbrief, in: M. KARRER / W. KRAUS / O. MERK (Hg.), Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 176-194: 178. A. MITTELSTAEDT, Lukas als Historiker. Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes (TANZ 43), Tübingen/Basel 2005, 132, datiert das Lukasevangelium auf 59 und die Apostelgeschichte auf das Jahr 62. B. SHELLARD, New Light on Luke. Its Purpose, Sources and Literary Context (JSNT.S 215), London/New York 2002, 34. R.I. PERVO, Dating Acts. Between the Evangelists and the Apologists, Santa Rosa (CA) 2006, 343.
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die Zeit bis 130 bei Christopher Mount und Mogens Müller15, allgemein bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts von Andrew Gregory.16 Auch die einst von Albrecht Ritschl vorgetragene These, das jetzige Doppelwerk enthalte nachmarcionitische Zusätze, wird wieder vorgetragen.17 Für seine Frühdatierung bringt Mittelstaedt i.w. folgende Argumente vor: Lk 19,41-44; 21,20-24 lassen sich nicht mit den tatsächlichen Vorgängen bei der Zerstörung Jerusalems in Einklang bringen; wenn Lukas drei gescheiterte Aufstandsversuche erwähnt, könnte man auch die Erwähnung der großen Katastrophe erwarten, ebenso wie man erwarten kann, dass Lukas auch das Ende des Paulusprozesses darstellt: Ein Martyriumsbericht hätte der lk Tendenz entsprochen, die Schicksale Jesu und Pauli einander anzunähern, ein erster Freispruch hätte aufs beste die politische Unverdächtigkeit des Christentums erwiesen. Auch die Datierung des Markusevangeliums auf die Zeit um 70 sei keineswegs sicher. Anfragen und Gegenargumente liegen auf der Hand: Die unpräzisen Verweise auf die Zerstörung Jerusalems könnten lediglich besagen, dass der Verfasser fernab der Ereignisse schreibt18, wie die Benutzung apokalyptischer Sprache eo ipso etwas anderes ist als reale Berichterstattung; dass Lukas die Katastrophe von 70 nicht erzählt, mag in seiner generellen Tendenz begründet liegen, dass ihm die Jerusalemer Urgemeinde je länger je mehr aus dem Blickfeld gerät. Wenn tatsächlich sowohl der Tod des Paulus als auch ein Freispruch so gut ins Konzept des Verfassers der Apostelgeschichte gepasst hätte, versteht man nicht, dass er nicht bis zum Ende des Paulusprozesses gewartet und 15
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J.C. O’NEILL, The Theology of Acts in its Historical Setting, London 1961, 17f.; C. MOUNT, Pauline Christianity. Luke-Acts and the Legacy of Paul (NT.S 104), Leiden 2002, 168; M. MÜLLER, The Reception of the Old Testament in Matthew and LukeActs: From Interpretation to Proof from Scripture, NT 43 (2001), 313-330: 330. A. GREGORY, The Reception of Luke and Acts in the Period before Irenaeus. Looking for Luke in the Second Century (WUNT II 169), Tübingen 2003, 353. J.B. TYSON, The Date of Acts. A Reconsideration, Forum 5 (2002), 33-51; M. KLINGHARDT, Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513. KLINGHARDT zufolge hat ein kirchlicher Redaktor durch Lk 1,1-4 und Apg 1,1ff. überhaupt erst das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte zu einer Einheit verbunden, Lk 1-2 sowie Lk 3,1b-4,15 ergänzt sowie die Perikope von der Verwerfung Jesu in Nazareth gegenüber dem Exorzismus Lk 4,31-37 umgestellt und den Anfang mit dem Jesajazitat erst ergänzt, wodurch die Nazareth-Perikope eine Reihe von Vorausverweisen auf andere wichtige Texte des Lk Doppelwerkes ergebe. M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 3, hält KLINGHARDT u.a. entgegen, „dass Markions Evangelium an vielen Stellen Formulierungen enthält, die eindeutig der lukanischen Redaktion zuzuweisen sind“; ferner enthalte das Evangelium Markions nicht nur lukanisches Sondergut und Q-Stoffe, sondern auch Markusstoff. Allerdings sieht WOLTER, Lukasevangelium, 10, durch Mittelstaedt gezeigt, dass Lk 19,41-44; 21,20-24 keine Datierungskriterien ergeben.
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seine Darstellung dem tatsächlichen Verlauf angepasst hat. Der Abstand zu Paulus ist sachlicher, aber auch zeitlicher Natur, wie schon der Verweis auf die Ältestenverfassung (Apg 14,23) nahe legt, und in Lk 1,1-4 bezeichnet sich Lukas als Mann der zweiten oder dritten Generation. Viele Einzelheiten in Terminologie und Theologie rücken das lukanische Doppelwerk in den Kreis der neutestamentlichen Spätschriften und der frühen nachneutestamentlichen Literatur.19 So ist eine Datierung vor 70 n. Chr. nach wie vor unwahrscheinlich. Für die vorgetragenen Spätdatierungen sind als Standardargumente das Schweigen des Papias zu nennen wie generell der Umstand, dass eine Rezeption des lk Doppelwerkes vor Justin20 überhaupt nicht und vor Irenäus nach dem Urteil einiger21 nicht zwingend nachweisbar ist. Barbara Shellard listet die Themen auf, die das lukanische Doppelwerk mit anderen Werken des frühen zweiten Jahrhunderts verbinden, die Sicherung der apostolischen Tradition, das Insistieren auf der Leiblichkeit der Auferstehung Jesu, die Betonung der Notwendigkeit der Perseveranz im Glauben (Lk 8,15) und die Furcht vor Apostasie (Lk 12,47f) sowie die Stellungnahme zugunsten einer Buße auch der Glaubenden selbst nach schwerer Sünde (Lk 22,31-34; Apg 8,22).22 Richard Pervo zufolge setzt Lukas das Ämtermodell des Ignatius voraus, hat aber gewisse Vorbehalte, wenn er die Ältesten von Ephesus in Apg 20,28 als „Bischöfe“ bezeichnet23; auch Beobachtungen zur Entwicklung kirchlicher Strukturen24 sowie ein breiter Fundus bestimmter Terminologie25 begründen literaturgeschichtlich seinen Ort in der Zeit der neutestamentlichen Spätschriften und der sog. Apostolischen Väter. Christo19 20
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Vgl. PERVO, Dating Acts, 207-258. Justin spricht nur allgemein im Plural von „den Evangelien“ (1. apol. 66). An Berührungen mit lk Tradition sind zu notieren: 1 apol. 26; 56 mit Apg 8 (Simon der Magier); 1. apol. 31 mit Lk 24,50-53 (Unterscheidung von Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, die aber nicht datiert wird); 1. apol. 33,4f. mit Lk 1,32f. (Ankündigung der Geburt Jesu durch einen Engel an Maria mit der Bezeichnung „Sohn des Höchsten“; 1. apol. 39 „Von Jerusalem gingen Männer aus in die Welt, zwölf an der Zahl, ganz ungebildet und der Rede nicht mächtig, aber durch die Kraft Gottes haben sie dem ganzen Menschengeschlecht gezeigt, dass sie von Christus gesandt waren, allen das Wort Gottes zu predigen) mit Apg 4,11f. (Unbildung der Zwölf); 1. apol. 40 mit Lk 23,6-12; Apg 4,27f. (Rolle des Herodes Antipas beim Tod Jesu); 1. apol. 50,12 mit Lk 24,25-27.50-53). Alters- und Abhängigkeitsbeweis fehlen bei Lukas, begegnen aber bei einigen Apologeten des 2. Jhdts. (Justin, 1. apol. 59; 60; Tatian, apol. 31-41; Theophilus von Antiochien, Autol. 3,16; nur Athenagoras führt keinen Alters- und Abhängigkeitsbeweis; von Quadratus und Meliton ist zu wenig erhalten). – Zu der Rezeption des lk Doppelwerkes bei Justin vgl. jüngst GREGORY, Reception, 225ff.; WOLTER, Lukasevangelium, 3. Vgl. vor allem MOUNT, Pauline Christianity, passim. So die Auflistung bei SHELLARD, New Light on Luke, 27. PERVO, Dating Acts, 213. PERVO, Dating Acts, 220; 225. PERVO, Dating Acts, 229-292.
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pher Mount begründet seine Datierung mit der Zwischenstellung zwischen Clemens von Rom und Ignatius einerseits, Marcion andererseits; von antimarcionitischer Polemik lasse das lukanische Doppelwerk noch nichts verlauten.26 Mogens Müller greift Martin Reses Beobachtung auf, derzufolge der eigentliche Schriftbeweis weder bei Paulus noch in Q noch im Markusevangelium begegnet, und will diese Liste um Matthäus ergänzt wissen. Erst bei Lukas werde das anders: Die Heilige Schrift dient bei ihm, so Mogens Müller, dazu, Gottes Handeln in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Deuten die Erfüllungszitate bei Matthäus i.w. das Leben Jesu in der Vergangenheit, so ist Lukas an den Implikationen der Heiligen Schrift auch für die eigene Zeit interessiert. Nach Lukas ist die Schrift in sich selbst klar und verständlich. Die Selbstverweigerung der Juden demgegenüber ist allein auf ihre Verhärtung zurückzuführen.27 Andrew Gregory argumentiert rezeptionsgeschichtlich bei einem strengen Maßstab zur Beurteilung einer Vergleichbarkeit im Sinne einer literarischen Abhängigkeit. Seinen Ausführungen zufolge ist der Gebrauch des Lukasevangeliums in der Zeit vor Justin, die Rezeption der Apostelgeschichte in der Zeit vor Irenäus nicht nachweisbar; Gleichartigkeit des Stoffes kann auch auf Abhängigkeit von mündlicher oder anderer schriftlicher Tradition oder einer gemeinsamen Quelle statt auf Abhängigkeit von der Endredaktion der jeweiligen Synoptiker verweisen28; bestimmte Texte, die auf die lk Endredaktion zurückweisen, lassen sich ihrerseits nicht gesichert in die Zeit vor Justin bzw. Irenäus datieren.29 Die These einer Spätdatierung verdient jedenfalls erhöhte Aufmerksamkeit. Dies gilt umso mehr, als man gerade für wichtige Schriften, die bisher an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert oder in das frühe zweite Jahrhundert angesetzt wurden, immer wieder Spätdatierungen vorgelegt hat: Der erste Clemensbrief wurde in früheren Zeiten auf die Zeit um 14030 oder 15031, die Mandata des Hirten des 26 27 28 29 30 31
MOUNT, Pauline Christianity, 168. M. MÜLLER, Reception, 326-328. GREGORY, Reception, 88. 113. 137. 149. GREGORY, Reception, 158, zum Thomasevangelium; 172 zum Nag Hammadi-Corpus. G.A. VAN DEN BERGH VAN EYSINGA, La littérature chrétienne primitive, Paris 1926, 181-183, aufgrund der vermuteten Intention, die Macht des Klerus zu untermauern. H. DELAFOSSE, La lettre de Clement Romain aux Corinthiens, RHR 97 (1928), 53-89, aufgrund der antimarkionitischen Tendenz. Dass antignostische Polemik fehlt, hängt m.E. mit der strikt durchgehaltenen Intention des Briefes zusammen, die Unruhestifter in Korinth zur Unterordnung zu mahnen. – Daneben gibt es für den Ersten Clemensbrief aber auch die Datierung vor 70. Nach K. ERLEMANN, Die Datierung des ersten Klemensbriefes – Anfrage an eine communis opinio, NTS 44 (1998), 591-607: Die These einer domitianischen Christenverfolgung ist nicht zu halten, daher können die angeblichen Verfolgungsaussagen eine Datierung zur Zeit Domitians nicht erzwingen. Nach TH.J. HERRON, The Most Probable Date of the First Epistle of Clem-
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Hermas auf die Dekade 160-170,32 die Apologie des Aristides auf die nachhadrianische Zeit,33 die Ignatiusbriefe wurden mittlerweile auf die Zeit um 170,34 die Johannesoffenbarung auf die Zeit um 132 datiert.35 Auch wenn sich von diesen Spätdatierungen bisher keine wirklich durchsetzen konnte, zwingen sie doch zur methodischen Vorsicht. Zunächst seien die zur Widerlegung einer Spätdatierung unbrauchbaren Argumente genannt. Berührungen mit den sog. „Apostolischen Vätern“ können immer auch auf gemeinsame kirchliche Binnensprache verweisen36, sind kaum eindeutig literarkritisch zu verwerten. Dass Lukas den Monepiskopat nicht thematisiert und antimarcionitische Polemik nicht thematisiert, wäre bei einer Entstehung im Westen des Imperium Romanum wenig aussagekräftig, denn dies hat ähnlich wie die Zeichnung eines eigenen Witwenstandes Parallelen in dem immerhin um 140 zu datierenden „Hirt des Hermas“.37 Wenig aussagekräftig ist die relativ freundliche Beurteilung der römischen Staatsmacht; dass Lukas von der Bedrängnis der Christen durch den römischen Staat nichts weiß38, scheint mir unsicher; auch wurde die Herrschaft Domitians in den Provinzen wohl anders empfunden als in der Hauptstadt Rom.39 Ein zwingendes Argument gegen die Spätdatierung ist auch damit nicht gegeben, dass das Problem der Häresie in Apg 20,29 benannt
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ent to the Corinthians, in: E.A. LIVINGSTONE (ed.), StPatr 21, Leuven 1989, 106-121, sind 1Clem 40f. am ehesten verständlich, wenn der Tempel noch steht. Auch seien die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte unbekannt. C. ANDRESEN, Die Kirche der alten Christenheit, Stuttgart u.a. 1971, 692. K.-G. ESSIG, Erwägungen zum geschichtlichen Ort der Apologie des Aristides, ZKG 97 (1986), 163-188. R.M. HÜBNER, Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, ZAC 1 (1997), 44-72, datiert die Ignatiusbriefe aufgrund der Polemik gegen die valentinianische Gnosis und der Christologie sowie der Martyriums- und Amtstheologie um 170. Zur Kritik vgl. A. LINDEMANN, Antwort auf die Thesen von Reinhard M. Hübner, ZAC 1 (1997), 185-194; G. SCHÖLLGEN, Die Ignatianen als pseudepigraphisches Briefcorpus. Anmerkungen zu den Thesen von Reinhard M. Hübner, ZAC 2 (1998), 16-25. TH. WITULSKI, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007. H. CONZELMANN, Die Apostelgeschichte (HNT 7), Tübingen 1963, 3. Im 1. Clemensbrief sind Episkopen in 1Clem 42,5; 44,4 erwähnt. Auch im „Hirt des Hermas“ stehen mehrere Presbyter an der Spitze der Gemeinde (vis II 4,3; auch in vis III 5,1 werden evpi,skopoi, dida,skaloi und dia,konoi im Plural erwähnt). H. KLEIN, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt (KEK I/3), Göttingen 2006, 69, für das Lukasevangelium. M. MEISER, Lukas und die römische Staatsmacht, in: M. LABAHN / J. ZANGENBERG (Hg.), Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft. Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies (TANZ 36), Tübingen/Basel 2002, 175-193, 181.
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wird, aber offensichtlich als nicht allzu bedrohlich erscheint40, und dass Lukas nur wenig erkennen lässt von den gruppenübergreifend analogen Erfahrungen der dritten christlichen Generation, dass sich ideologische Gegensätze verfestigen (1Joh 2,19; Jud 4) und das Gespräch fruchtlos bleibt (vgl. Apk 2,21; Tit 3,10) und man daher zur Distanz mahnen muss41. Das kann in seiner Einschätzung der kirchlichen Lage begründet sein, die andere zeitgenössische Autoren keineswegs teilen mussten. Dass Lukas die Briefe des Paulus nicht erwähnt42, wird gerne als Argument gegen die Spätdatierung verwendet.43 Tatsächlich sind in den Jahren nach 100 Paulusbriefe in Ein- oder Mehrzahl in Kleinasien, Griechenland und Rom bekannt.44 Was allerdings Lukas von Paulus wusste bzw. wissen konnte oder hätte wissen sollen, können wir nun einmal nicht wissen. Auch Justin setzt nirgends die Kenntnis der Paulusbriefe voraus. Dann ergibt sich daraus aber auch für das lukanische Doppelwerk kein Kriterium der Datierung. Argumente sind eher zu gewinnen, wenn man das Kriterium der thematischen Vergleichbarkeit und das Kriterium der Entwicklung binnenkirchlicher technischer Alltagssprache in drei Feldern heranzieht: in der Beschreibung des Verhältnisses zwischen dem Christentum und dem nicht an Jesus glaubenden Judentum45, in der Entwicklung der Christologie sowie in der Entwicklung der kirchlichen Strukturen. Wie wird bei Lukas, wie bei den Schriftstellern des zweiten Jahrhunderts das Verhältnis des Christentums zu dem nicht an Jesus glaubenden Judentum in Worte gefasst?
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Darauf verweisen auch P. POKORNÝ / U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 533. Lukas ist mehr darum bemüht, „die Ausübung des Dienstes Pauli … als verpflichtendes, ideales Vorbild für den Dienst der Gemeindeleiter zu zeichnen“ (A. VÖGTLE, Exegetische Reflexionen zur Apostolizität des Amtes und zur Amtssukzession, in: DERS., Offenbarungsgeschehen und Wirkungsgeschichte. Neutestamentliche Beiträge, Freiburg u.a. 1985, 221-279: 261, in anderem Kontext). 2Tim 3,5; 2Joh 10f.; Apk 2,24f.; Did 11,2; IgnTrall 9,1 u.ö. Nach A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979, 167-171, kennt der Verfasser der Apostelgeschichte den Römerbrief (wegen Röm 15,22-28, vgl. Apg 19,21), 2Kor 10-13 (wegen 2Kor 11,32f., vgl. Apg 9,23-25) und vielleicht auch den Galaterbrief (wegen Gal 2,12f.; vgl. Apg 15,1f.) und benutzt sie „als ‚historische’ Quellen für seine Darstellung“. Doch besteht hierüber in der Lukasforschung kein Konsens. KÜMMEL, Einleitung, 153; BROER, Einleitung, 157. 1Clem 47,1-4; 49,5; IgnEph 12,2; EpPolyk 3,2. Methodisch ähnlich J. NOLLAND, Luke 1-9:20 (WBC 35 A), Dallas 1989, xxxvii.
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Lukas erzählt, so die traditionelle Deutung, zur Legitimation des beschneidungsfreien Heidenchristentums46 in seinem Doppelwerk von der boulh, Gottes47, die das Evangelium zu den lukanischen Adressatinnen und Adressaten gelangen ließ. Die Kirche ist eingewurzelt im lao,j, dem Gottesvolk Israel. In ihm wirkt Jesus als Wohltäter; er gewinnt neben dem Zwölferkreis einen weiteren Kreis von Anhängern, und dieser weitere Kreis ist der Kern der Sammlung des Gottesvolkes, dem auch nachösterlich das Bundesangebot Gottes gilt; schließlich treten die Nichtjuden hinzu. Ein großer Teil Israels verweigert sich jedoch gegenwärtig48 dem in Jesus ergehenden göttlichen Heilsangebot (Apg 13,46f; 18,6; 28,25-28), obwohl dem Paulus der Apostelgeschichte keinerlei Tendenz zur Thoraabrogation unterstellt werden kann. Die innere Auseinanderentwicklung zwischen Christen und Juden sieht Lukas als weitgehend erfolgt, wie es m.E. auch in der Außenwahrnehmung durch Tacitus, Plinius und Sueton sichtbar wird. Dabei ist der Abstand des Lukas von den Autoren des zweiten Jahrhunderts jedoch unübersehbar. Denn die Art der lukanischen Auseinandersetzung mit dem Thema ist die Schuldzuweisung kurz nach einem Trennungsprozess, noch kein Rückblick aus langen Jahren Distanz. Das Faktum der Auseinanderentwicklung wird konstatiert, ist aber noch keine Selbstverständlichkeit.49 Im zweiten Jahrhundert ist der Antijudaismus bei christlichen Schriftstellern anderer Art, und dies gilt auch dann, wenn man die Bundestheologie des Barnabasbriefes nicht verallgemeinern will.50 Hier 46
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Zum Anliegen der Legitimierung vgl. G. WASSERBERG, Aus Israels Mitte – Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas (BZNW 92), Berlin/New York 1998, 365; U. SCHNELLE, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 489. Der Begriff stammt aus LXX, vgl. Jes. 5,19; 14,26; 19,17; 46,10; 55,8; Jer 27 (50),45; 29 (49), 20. Vgl. J. SCHRÖTER, Heil für die Heiden und Israel. Zum Zusammenhang von Christologie und Volk Gottes bei Lukas, in: C. BREYTENBACH / J. SCHRÖTER / D.S. DU TOIT (Hg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, FS E. Plümacher (AGJU 57), Leiden 2004, 285-308: 307f. Er konstatiert hierin eine gewisse Nähe u.a. zu Röm 9 – 11. Das scheint mir aber, so wünschenswert es wäre, ein argumentum e silentio. V.A. LEHNERT, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas (NTDH 25), Neukirchen 1999, 203-296, interpretiert Apg 28,26f. als eine paradoxe Intervention, die Israel dazu provozieren soll, den Verstockungsvorwurf zu widerlegen. M.E. zu Recht betont W. STEGEMANN, Zur neueren exegetischen Diskussion um die Apostelgeschichte, EvErz 46 (1994), 198-219: 218, „wie sehr er (scil. Lukas) offensichtlich unter der traumatischen Erfahrung der Ablehnung der Evangeliumsverkündung durch die Mehrheit des Judentums leidet“. Zwar weiß auch Lukas von der sofortigen Selbstverweigerung der Israeliten in Form des goldenen Stierbildes zu berichten (Apg 7,39f.), doch betont Lukas, anders als der Verfasser des Barnabasbriefes (Barn 4,8; 5,12; 14,1-5), selbst noch nachösterlich das Bundesangebot Gottes an Israel (Apg 3,25f.).
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greift das dritte vorhin genannte Kriterium, die sich entwickelnde christliche Binnensprache. Die Juden sind in der Didache generell „die Heuchler“51, von deren Fastentagen man sich abgrenzt (Did 8,1), sind für Ignatius von Antiochien einfach das Frühere, Vergangene in der unumkehrbaren Heilsgeschichte52; die Rückwendung von Christen zu einer jüdischen Lebensweise zeigt den Einfluss des Fürsten dieser Welt!53 Umgekehrt vereinnahmt Ignatius die alttestamentlichen Propheten in der Weise, dass sie kata. Cristo,n vIhsou/n gelebt hätten und deshalb verfolgt worden wären54. In anderer Weise antijüdisch ist das Thomasevangelium in seinen späteren Schichten: Die Propheten Israels gelten ihm einfach als die Toten.55 Im Petrusevangelium ist das Fest der ungesäuerten Brote, der Verfasserfiktion zuwiderlaufend, „ihr Fest“, eben als jüdisches Fest (EvPetr 2/5); das Wort „Die Sonne darf über einem Getöteten nicht untergehen“ wird eingeleitet mit der Formel „Denn es steht ihnen geschrieben“ (EvPetr 5/15) – als ob das AT nicht auch im Christentum Bedeutung hätte! Der jüdische Tempelkult wird im Barnabasbrief als „beinahe heidnisch“ abqualifiziert (Barn 16,2), bei den Apologeten als Irrtum gebrandmarkt.56 Anders als bei Justin57 geht es bei Lukas noch nicht um die Diskussion einzelner Schriftstellen oder gar um Vorwürfe der Textverfälschung.58 Auch Vielzahl typologischer Auslegungen im zweiten Jahrhundert bei Autoren wie Barnabas und Justin hat bei Lukas noch keine Parallele. Umgekehrt sind Selbstbezeichnungen wie „dieses Volk“ (im Gegenüber zum „ersten Volk“)59, „das neue Volk“60 oder „das dritte Geschlecht“61 oder Charakterisie-
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Umgekehrt ist im zweiten Jahrhundert eine kleine Differenzierung wie Apg 19,9, dass es „einige“ waren, deren Verhalten Paulus zum Umzug in die Halle des Tyrannos veranlasst hat, nicht zu erwarten. IgnMagn 9,3. IgnPhilad 6,1f.; vgl. Barn 2,10. IgnMagn 8,2. EvThom 52,2 = NHC II,2 p. 42,12-18. Zur Problematik der genauen Beschreibung der abgelehnten Beziehung vgl. J. SCHRÖTER / H.-G. BETHGE, Das Evangelium nach Thomas, in: Nag Hammadi Deutsch: NHC I,1-V,1, eingel. und übers. von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften, hg. v. H.-M. SCHENKE / H.-G. BETHGE / U.U. KAISER (GCS NF 12), Berlin/New York 2001, 151-181: 173 Anm. 122. Kerygma Petri, bei Clemens von Alexandrien, str. VI,41,2 f.; Aristides, apol. 14,3. – H. PAULSEN, Das Kerygma Petri und die urchristliche Apologetik, ZKG 88 (1977), 1-37, rechnet mit der Entstehung zw. 100 und 120 n. Chr. Justin, dial. 72,1-73,6. Justin, 1. apol. 41,4 zu Ps 96,10; vgl. ferner dial. 72,1-73,6. Barn 13,1. Barn 5,7. Kerygma Petri, bei Clemens, str. VI 41,6.
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rungen wie „das neue Gesetz unseres Herrn Jesus Christus“62 Lukas noch nicht geläufig. Ein zweites Feld für eine relative Chronologie ist das Feld der Christologie. Einerseits bemerkt Vielhauer zu Recht, die Gestalt Jesu sei bei Lukas zu einer Gestalt der Vergangenheit geworden und markiere eine Phase im großen heilsgeschichtlichen Plan Gottes. Dies widerrät einer Frühdatierung63 ebenso wie der spätneutestamentliche Wortschatz hinsichtlich der Würdetitel64 und die Tatsache der Verehrung Jesu als Kyrios im Gottesdienst (Lk 24,5265; Apg 7,59f). Wie selbstverständlich gewisse Dinge vorausgesetzt sind, zeigt sich auch daran, dass man über die Funktion Christi gegenüber den Nichtjuden außer der Richterfunktion und der Notwendigkeit der Reinigung durch Glauben an ihn nicht viel erfährt.66 Dass Christus im Lukasevangelium noch nicht als „unser Gott“67 bezeichnet wird, mag wenig besagen. Wichtiger ist es, auf die Entfaltung der Christologie im zweiten Jahrhundert zu achten. In dieser Zeit entwickelt sich die Fleischwerdung Christi als ein Topos mit eigenständiger Ausstrahlungskraft. Sie wird nicht nur erzählt, sondern in Anfängen dogmatischen Denkens mit anderen christlichen Topoi verknüpft. Im Barnabasbrief wird sie mit der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen begründet (Barn 5,10), ist aber zugleich äußerer Ermöglichungsgrund der Passion (Barn 5,11, ähnlich Barn 6,7) und der Auferstehung Christi (Barn 5,6). Nach 2Clem 9,1-5 begründet sie christliche Ethik: Auch unser Fleisch wird auferstehen und unterliegt dem göttlichen Gericht. Bei Justin strahlt sie auf die Abendmahlstheologie aus: Wie Jesus Christus Fleisch und Blut angenommen hat, so sind die eucharistischen Gaben nicht gemeines Brot und nicht gemeiner Trank, son62 63
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Barn 2,6. Die Existenz adoptianischer Vorstellungen besagt nur, dass Lukas auch Traditionselemente aufnehmen konnte; zu bedenken ist aber das Nebeneinander der Vorstellung, Gott habe Jesus Christus auserwählt, und der Hohenpriestertitulatur in 1Clem 64,1, im selben Vers! Der Pais-Titel für Christus begegnet in 1Clem 59,2-4; Apg 3,13.26; 4,27.30; Did 9,2; 10,2f.; NHC VII,2, 133 = GCS NF 12, 670. Als der Richter der Lebendigen und der Toten wird Christus prädiziert in Apg 10,42; 2Tim 4,1; EpPolyk 2,1; 2Clem 1,1; Barn 7,2. Der Kyrios-Titel ist nach P. POKORNÝ, Theologie der lukanischen Schriften (FRLANT 174), Göttingen 1997, 117, „für die lukanische Theologie nicht typisch. Seine Entfaltung bei Lukas bestätigt nur, welche Autorität er in der Kirche gewonnen hat und wie er wegen seiner Rolle in der griechischen Religion und im Kaiserkult die Bedeutung Jesu im hellenistischen Milieu auszudrücken vermochte“. G. LOHFINK, Gab es im Gottesdienst der neutestamentlichen Gemeinden eine Anbetung Christi?, in: DERS., Studien zum Neuen Testament (SBAB.NT 5), Stuttgart 1989, 245-265: 247-249. U.a. dies legt für mich auch nahe, dass Theophilus doch wohl bereits Christ war, als ihm das lukanische Doppelwerk gewidmet wurde. So aber Hebr 1,8; Joh 1,1; 20,28; IgnEph praescr.; IgnEph 18,2; IgnRöm 3,3; 6,3.
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dern Fleisch und Blut des inkarnierten Christus.68 Dogmatisches Denken ist bereits zu komprimierenden Formeln fähig wie „zuerst leidensfähig, dann leidensunfähig“ in IgnEph 7,2 oder zur Formel der zwei Parusien69, ebenso zum Ausgleich der einander scheinbar widersprechenden Traditionen bzw. Bibelstellen wie in den Worten „aus dem Samen Davids, aber vom Heiligen Geist“ (IgnEph 18,2). Pflanzenmetaphorik kann sich übersteigern: Die Pflanze der fremden Lehre würde, wenn sie eine Pflanzung Gottes wäre, sich als Äste des Kreuzes zeigen (IgnTrall 11,1f). Von all dem ist Lukas noch weit entfernt. Lk 24,36-49 wird gerne auf antidoketische Tendenzen gedeutet, aber das Motiv der Fleischlichkeit Christi ist noch nicht wie bei Ignatius mit der Inkarnation verbunden.70 Die lk Darstellung der Jungfrauengeburt sucht zwar die Vorstellung der sexuellen Zeugung von dem Geschehen fernzuhalten, trotzdem muss Justin den Vorwurf abwehren, die Christen wüssten auch nichts anderes zu erzählen als die Griechen mit der Geschichte von Zeus und Danae.71 So gilt für Jesu Jungfrauengeburt überspitzt gesagt: Lukas hat ein Problem überhaupt erst geschaffen, das Justin lösen muss. Ein drittes Feld mit Indizien für Datierungsfragen ist das Feld der kirchlichen Ordnung und der kirchlichen Sitte. Terminologische Überschneidungen mit anderen neutestamentlichen Spätschriften und Schriften des zweiten Jahrhunderts sind zu notieren, wenn to. plh/qoj für die Gemeinde72 und h`gou,menoi für ihre Vorsteher gebraucht werden kann73, ebenfalls in der Kennzeichnung der Presbyter als innergemeindlicher Amtsträger.74 Lukas sieht wie der 1. Clemensbrief theologisch das Amt der Presbyter bzw. der evpi,skopoi (Apg 20,28 begegnet der Begriff bei ihm das einzige Mal) mit der Aufgabe betraut, die Kontinuität der in Gott gründenden, von Christus den Menschen vermittelten und an die Apostel übergebenen Tradition zu wahren. Neben den Überschneidungen sind aber auch die Divergenzen in den Blick zu nehmen: Die Bezeichnung Cristianoi, wird in Apg 11,26; 26,28 noch als Fremdbezeichnung eingeführt, ist bei Ignatius von Antiochien bereits Selbstbezeichnung.75 Lukas kennt den „ersten Tag der 68 69 70 71 72 73 74 75
Justin, 1. apol. 66,2. Justin, dial. 49,2. IgnSmyrn 7,1. Justin, dial. 67,2. Apg 15,30; 19,9; 1Clem 54,2; IgnSmyrn 8,2. Hebr 13,7.17.24; Apg 15,22; 1Clem 1,3; vgl. die Bezeichnung prohgou,menoi bei Hermas, vis II,2,6 / 6,6. Apg 11,30; 14,23; 20,28; Jak 5,14; 1Petr 5,1.5; 1Clem 44,5; 2Clem 17,3 u.ö. IgnEph 11,2; IgnRöm 3,2; IgnMagn 10,3.
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Woche“ als Tag der Gemeindeversammlung (Apg 20,7), aber noch nicht die Bezeichnung „Herrentag“76 und die Begründung mit der Auferstehung Jesu.77 Das Vater Unser ist ihm ein von Jesus gelehrtes Modellgebet (Lk 11,1), aber noch nicht das dreimal täglich gebetete christliche Grundgebet (Did 8,3). Das Verbot des Götzenopferfleisches ist für ihn noch Regelung zum Ausgleich innerchristlicher Probleme, nicht wie in Apk 2,14; Did 6,3 Teil einer generellen Abgrenzungsstrategie gegenüber griechisch-römischer Religiosität. Von der präexistenten, geistlichen Kirche78 weiß Lukas auch noch nicht zu reden. Einen eigenen Stand der Märtyrer79 kennt Lukas ebenfalls nicht. Zur Datierungsfrage sei abschließend festgehalten: Mittelstaedts Frühdatierung des lukanischen Doppelwerkes ist unwahrscheinlich. Nach wie vor empfiehlt sich seine Einordnung in den Kreis der spätneutestamentlichen und frühen neben- und nachneutestamentlichen Schriften; aus der Gruppe der letzteren weist der 1. Clemensbrief die größte Nähe zum lukanischen Doppelwerk auf, während die Ignatiusbriefe doch schon eine fortgeschrittenere theologische und allgemeinkirchliche Entwicklung zeigen. Eine Datierung des lukanischen Doppelwerkes nach 120 n. Chr. lässt sich nicht wahrscheinlich machen; zwischen 90 und 120 scheint sie gut denkbar. Abschließend sei nochmals festgehalten, dass strikt evidente Beweisführungen nicht möglich sind.
2.2. Zur Lokalisierung des lukanischen Doppelwerkes Bisher diskutiert wurden Antiochia80, Cäsarea81, Kleinasien82, Griechenland im Allgemeinen83 oder speziell Makedonien84 bzw. der Raum der 76 77 78 79 80 81 82
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So aber Apk 1,10; Did 14,1; IgnMagn 9,1; EvPetr 12/50; EpAp 18/29 kopt. So aber IgnMagn 9,1; Justin, 1. apol. 67; Barn 15,9. 2Clem 14,1; vgl. Hermas, vis II 4,1/8,1. Hermas, vis III 4,3 neben vis III 5,2. Der antimarcionitische Prolog; A. STROBEL, Lukas, der Antiochener, ZNW 49 (1958), 131-134; R. GLOVER, ‚Luke the Antiochene’ and Acts, NTS 11 (1964), 97-106. H. KLEIN, Zur Frage nach dem Abfassungsort der Lukasschriften, EvTh 32 (1972), 467-477, von ihm im Kommentar revoziert (s.u.); A. MITTELSTAEDT, Lukas, 162. Für K. BERGER gilt Ephesus nicht unbedingt als Heimat des Lukas, sondern als „Zielort des lukanischen Doppelwerkes“: „der von Lk beabsichtigte Ausgleich zwischen Juden- und Heidenchristen war im 1. Jh. nirgends so aktuell wie dort. Lk lässt Paulus in Milet für die Ältesten aus Ephesus sein Testament machen. Querverbindungen zu den Pastoralbriefen sind längst beobachtet worden. Die Nachwirkungen paulinischer Theologie in Apg sind am ehesten vom Ort der paulinischen Schultradition her zu erklären“ (K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen/Basel 1994, 697). W. WIEFEL, Das Evangelium nach Lukas (ThHK 3), Berlin 1987, 4; POKORNÝ, Theologie, 18.
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Ägäis85 und Italien86 bzw. Rom87. Vergleicht man diesen Katalog mit der geographischen Verbreitung des Christentums am Ende des 1. Jahrhunderts, dann ergibt sich ein nur wenig spektakulärer Befund: Lediglich Syrien und Israel fehlen auf der Landkarte88, letzteres angesichts der geringen diesbezüglichen geographischen Kenntnis des Lukas mit gutem Grund. Für eine Lokalisierung in Kleinasien sind der Ausgleich zwischen Juden- und Heidenchristen89 sowie Bezüge zu den Pastoralbriefen namhaft gemacht worden, für eine Lokalisierung in Griechenland u.a. die relativ genaue Wiedergabe verwaltungstechnischer termini vor allem hinsichtlich der Provinz Makedonien, für eine Lokalisierung in Italien die Bukolik in Lk 2,8-1490, das Interesse an der Romreise, die generelle Perspektive der Apostelgeschichte „von Jerusalem nach Rom“91, die Nähe zu 1Clem 5; 42 in Paulusbild und Amtsverständnis92 sowie die Verbreitung zunächst im Westen des Imperium Romanum93. Man wird allerdings mit Alfons Weiser festhalten: „Zu einer eindeutigen Ortsbestimmung reichen die Indizien … nicht aus“94. Methodische Einschränkungen sind namhaft zu machen: Geburtsort des Evangelisten und Abfassungsort seines Doppelwerkes müssen keineswegs iden-
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89 90 91
92 93 94
P. PILHOFER, Lukas als avnh,r Make,dwn, in: DERS., Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996-2001 (WUNT 145), Tübingen 2002, 106-112; H. KLEIN, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt (KEK I/3), Göttingen 2006, 68. H. CONZELMANN / A. LINDEMANN, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 142004, 360. J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt (NTD 5), Göttingen 1981, 4f. Euseb, h.e. 2,22; Hieronymus, de viris inlustribus 7; THEOPHYLAKT, in Lc., PG 123, 684 A. SHELLARD, New Light on Luke, 36; S. SCHREIBER, Begleiter durch das Neue Testament, Düsseldorf 2006, 47. Manche Gelehrte verzichten verständlicherweise überhaupt auf eine Festlegung, so z.B. W. MARXSEN, Einleitung in das Neue Testament, Gütersloh 31964, 151; KÜMMEL, Einleitung, 154; PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter. de Gruyter Lehrbuch, Berlin/New York 1975, 407. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte, 18, unter Verweis auf Apg 15,28f. und Apk 2,24. WOLTER, Lukasevangelium, 10. U. SCHNELLE, Einleitung, 287. SCHREIBER, Begleiter, 47. H. OMERZU, Das Schweigen des Lukas. Überlegungen zum offenen Ende der Apostelgeschichte, in: F.W. HORN (Hg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin/New York 2001, 127-156: 155, vermutet jedoch aufgrund der mangelnden Informationen, die dem Evangelisten für die Gestaltung von Apg 28 zur Verfügung standen, dass Lukas nicht in Rom geschrieben habe. SCHNELLE, Einleitung, 287. ROLOFF, Apostelgeschichte, 4f. A. WEISER, Die Apostelgeschichte, Teilband 1: Apg 1-12 (ÖTK 5/1), Würzburg/Gütersloh 1981, 40.
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tisch sein95; ferner ist mit einer möglichen Reisetätigkeit des Evangelisten zu rechnen; schließlich ist nicht zwingend, dass Evangelium und Apostelgeschichte am selben Ort entstanden sein müssen. Die Bedeutung des Paulus, die ihm Lukas in der Apostelgeschichte zumisst, könnte darauf schließen lassen, dass die von Lukas anvisierten Leser in den Gemeinden des paulinischen Missionsgebietes zu suchen sind.96 Dass Papias von Lukas schweigt, vermag eine Lokalisierung im Westen (Griechenland oder Italien) ebenfalls zu stützen. M.E. sind die Indizien für den Westen etwas stärker als für den Osten, d.h. Kleinasien. Aber ein gesichertes Wissen ist nicht zu gewinnen.
2.3. Zur religiösen Herkunft des Verfassers Für die heidenchristliche Herkunft des Evangelisten hat man früher „eine durchgehende Distanz gegenüber jüdisch-palästinensischen Sitten und Gewohnheiten“ namhaft gemacht – so die Formulierung von Josef Ernst, die er noch 1993 wiederholt.97 Doch mehren sich in jüngster Zeit die Stimmen, die Lukas als Gottesfürchtigen, als Proselyten98 oder gar als gebürtigen Juden bezeichnen. Zugunsten der Beheimatung des Lukas im Judentum nennt Jakob Jervell 1991 den Sprachgebrauch von lao,j sowie das jüdische Bild der nichtjüdischen Geschichte in Apg 14,1799, Eckart Reinmuth 1994 die lukanische Verhältnisbestimmung zwischen Israel und den Völkern sowie zusätzlich die Parallelen zwischen Lukas und dem „Liber Antiquitatum Biblicarum“100, Rebecca Denova 1997 das Anliegen des Lukas, Juden gegenüber die Messianität Jesu zu erweisen und die Anwesenheit von Nichtjuden im Gottesvolk
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Auch dann sind immer noch mehrere Möglichkeiten denkbar. H. CONZELMANN, Der geschichtliche Ort der lukanischen Schriften, in: G. BRAUMANN (Hg.), Das LukasEvangelium. Die redaktions- und kompositionsgeschichtliche Forschung (WdF 280), Darmstadt 1974, 236-250: 245; F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas, Bd. 1: Lk 1,19,50 (EKK III/1), Neukirchen-Vluyn/Zürich 1989, 23; SCHNELLE, Einleitung, 287, halten Makedonien für die Herkunftsregion des Lukas, aber nicht für den Abfassungsort des lukanischen Doppelwerkes; umgekehrt optiert KLEIN, Lukas, 69. 96 A. WEISER, Apostelgeschichte 1, 40. 97 J. ERNST, Das Lukasevangelium (RNT), Regensburg 61993, 31. 98 Diese Bestimmung ist nicht erst neueren Datums, vgl. Hieronymus, qu. Gen. 46,27 (CC.SL 72, 50). 99 J. JERVELL, Gottes Treue zum untreuen Volk, in: C. BUSSMANN / W. RADL (Hg.), Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas, FS G. Schneider, Freiburg/Basel/Wien 1991, 15-27; ähnlich dann M. WOLTER, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: C. BREYTENBACH u.a. (Hg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung, FS E. Plümacher (AGJU 54), Leiden 2004, 253-284: 284. 100 E. REINMUTH, Pseudo-Philo und Lukas (WUNT 74), Tübingen 1994, 132-137.
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zu rechtfertigen101, Jervell 1998 das jüdische Christusbild, die um den Begriff lao,j konzentrierte Ekklesiologie, die Soteriologie, die Anschauung von der Weitergeltung der Thora für Judenchristen, die von Lk 1 bis Apg 28 erscheinende jüdische Begrifflichkeit, das Paulusbild als Bild des „ewigen Pharisäers“, die biblizistische Sprache.102 Sylvia Hagene zufolge steht die lukanische Geschichtsschreibung der jüdischen näher als der hellenistischen; Kriterien der Unterscheidung beider sind die religiöse Dimension der Geschichte und das Interesse am Volksganzen.103 Michael Wolter bescheinigt in seinem Lukaskommentar dem Evangelisten eine „ausgezeichnete Kenntnis der Septuaginta, die sogar so weit ging, dass er Septuaginta-Stil imitieren konnte …, und die ihn in die Lage versetzte, seine Jesusgeschichte als Fortsetzung der Geschichte Israels zu erzählen“104 und macht ferner seine Kenntnis der Lehrdifferenzen zwischen Pharisäern und Sadduzäern namhaft (Apg 23,6-8), seine präzise Schilderung jüdischer Milieus in Lk 1-2105 und vor allem „das herausragende Interesse an der Israelfrage, das Lukas allererst veranlasst haben dürfte, die Geschichte der Trennung von Christentum und Judentum als Bestandteil der Geschichte Israels zu schreiben“.106 Kerstin Schiffner schließlich wiederholt die bei Jervell und Reinmuth gegebenen Hinweise auf Apg 14,15-17, wo die Idolatrie und die Abwesenheit des Gottes Israels als für die Geschichte der Nichtjuden konstitutiv gezeichnet werden.107 Ausschlaggebend ist für Dietrich Rusam neben der profunden Bibelkenntnis das Interesse des Lukas, „Jesus als den in den Schriften Vorherverkündigten zu 101 R.I. DENOVA, The Things Accomplished Among Us. Prophetic Tradition in the Structural Pattern of Luke-Acts, (JSNT.S 141), Sheffield 1997, Kap. 7. 102 J. JERVELL, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt (KEK III), Göttingen 1998, 50; zuvor schon KLINGHARDT, Gesetz und Volk Gottes, 305. – Noch darüber hinaus geht J. RIUS-CAMPS, El mesianismo de Jesús investigado por el rabino Lucas a partir de sus funetes juías y cristianas. Un escrito a modo de ‘demostración (evpi,deixij) dirigido al sumo sacerdote Teófilo, EstBib 63 (2005), 527-557. Seiner Ansicht nach ist das lk Doppelwerk von einem in Jerusalem groß gewordenen pharisäischen Rabbiner geschrieben und will dem Hohenpriester Theophilus die Frage nach der Messianität Jesu beantworten. 103 S. HAGENE, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie (NTA NF 42), Münster 2003, 53-58. 104 WOLTER, Lukasevangelium, 9. 105 WOLTER, Lukasevangelium, 9, verweist auf W. RADL, Das Lukas-Evangelium, (EdF 261), Darmstadt 1988, 23. 106 WOLTER, Lukasevangelium, 9. 107 K. SCHIFFNER, Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schriftlektüre (BWANT 172), Stuttgart 2008, 54. Man könnte noch ein kleines Detail ergänzen: Speisen für rein erklären (Apg 10,15) ist prinzipiell gesehen Erteilung von Thora, nicht deren Abrogation. Das Adjektiv kaqaro,j, auf Speisen bezogen, begegnet Lev 11,47, von kultisch reinen, opferungsfähigen Tieren TLevi 9,13; das Verbum kaqari,zein i. S. v. „für rein erklären“ bei Philo, sobr. 49 (dort auf den Stillstand des Aussatzes bezogen).
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erweisen“.108 Rick Strelan führt neben der Schriftkenntnis des Lukas die Tatsache ins Feld, dass einem jüdischer Lehrer, zumal einem Lehrer priesterlicher Abstammung, in der Urgemeinde größere Autorität für die Sammlung, Gestaltung und Weitergabe der Tradition zugebilligt werde als einem heidenchristlichen Lehrer.109 In der neueren Forschung wird zunehmend deutlich, wie schwierig es ist, zwischen der These des Gottesfürchtigen und der These des genuin jüdischen Lukas die Grenze zu ziehen. Drei allgemeine und drei für Lukas spezifische Gesichtspunkte erschweren die Grenzziehung. Die drei allgemeinen Gesichtspunkte sind die Gefahr des circulus vitiosus zwischen Gesamtkonzept und Einzelbeobachtungen, das eigene Präjudiz in der Frage, was man von einem genuin jüdischen Schriftsteller erwarten müsste und was auch als (partielle) Kenntnis des Judentums durch Nichtjuden plausibel ist, sowie die Entwicklung einer christlichen Binnensprache; die drei spezifisch lukanischen Gesichtspunkte sind die Benutzung von Traditionen durch Lukas, seine Intelligenz im Umgang mit Terminologien, die er nicht selbst geschaffen hat, und schließlich seine schriftstellerischen Tendenzen. So mag der folgende Versuch weniger in der definitiven Entscheidungsfindung als vielmehr in der Gewichtung der Argumente sein Recht haben. Aufgabe des Exegeten ist es in solchen Fällen, sich die Entscheidung schwer zu machen. Um mit dem Sicheren anzufangen: Das, was Lukas aus der ihm vorliegenden Tradition übernommen haben kann, sagt am wenigsten über die eigene jüdische Kompetenz aus. Dazu gehört der Verweis auf die Lehrdifferenzen zwischen Pharisäern und Sadduzäern ebenso wie der Verweis auf die Himmelsstimme. Auch die präzise Schilderung jüdischer Milieus in Lk 1; 2 kann sich dem Einfluss der Tradition verdanken. Aber schon im nächsten Fall wird die Entscheidung schwieriger, und ich wage sie nicht zu fällen: Timotheus als Sohn einer jüdi108 D. RUSAM, Das Lukasevangelium, in: M. EBNER / S. SCHREIBER (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie 6), Stuttgart 2008, 184207: 195. 109 R. STRELAN, Luke the Priest. The Authority of the Author of the Third Gospel, Aldershot/Burlington 2008, 106. Der Verweis auf die dem Evangelisten zugebilligte Autorität (vgl. schon die Bemerkung bei R. PESCH, Das Markusevangelium, Bd. 1, [HThK II/1], 5. Aufl. Freiburg 1989, 11: „Ein Heidenchrist kommt … in früher Zeit kaum als die Jesustradition verantwortende Autorität in Frage“) ist bedenkenswert, auch wenn wir über das Verständnis zeitgenössischer menschlicher Autoritäten im Urchristentum an der Wende zum 2. Jh. nicht sehr viel wissen. Dass Lukas seinem Herkommen nach jüdischer Priester gewesen sein soll (R. STRELAN, Luke, 121), leuchtet indessen nicht ein. Bei STRELAN werden Texte wie Lk 4,16-21; 19,9 (129f) oder Lk 2,34 (137) überdeutet, die Unterschiede zwischen den eigentlich priesterlichen Interessen in Reinheits- und Kalenderfragen und der lukanischen Darstellung solcher Themen zu wenig gewürdigt.
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schen Mutter gilt halachisch als Jude und hätte eigentlich am achten Tag hätte beschnitten werden müssen, nicht erst im Erwachsenenalter (Apg 16,3). Entweder weiß Lukas das nicht; dann wäre dies ein Argument gegen seine jüdische Herkunft. Oder aber es liegt eine Tradition vor, die darauf hinausläuft, dass der genannte Grundsatz bei Timotheus tatsächlich nicht beachtet wurde – dann fiele Apg 16,3 als Basis jedweder diesbezüglichen Argumentation völlig aus. Die Intelligenz des Lukas im Umgang mit Terminologien, die er nicht selbst geschaffen hat, betrifft seine Kenntnis der Sprache der Septuaginta. Deren Kenntnis ist allerdings auch im Heidenchristentum vorauszusetzen, wie schon A. v. Harnack gegenüber Th. Zahn geltend gemacht hat.110 Die Adaption biblischen Stils111 bedingt zumeist keinen korrespondierenden Zugewinn an expliziten intertextuellen Bezügen, wie das andernorts für frühjüdische Exegese typisch ist.112 Für den angeblich durchgehenden biblizistischen Stil beruft sich Jervell auf eine einschlägige Aufstellung bei J.A. Fitzmyer,113 doch verweist diese, wenn man sie genauer in Augenschein nimmt, auf die ungleiche Verteilung einiger dieser Phänomene zwischen Apg 1-12 einerseits, Apg 13-28 andererseits, vor allem aber auf die ungleiche Verteilung zwischen Evangelium und Apostelgeschichte überhaupt.114 Die biblizistische Sprache
110 A. v. HARNACK, Probabilia über die Adresse und den Verfasser des Hebräerbriefes, ZNW 1 (1900), 16-41: 18f. 111 Die von ihm in Mk 1,9; 2,23 vorgefundene Wendung evge,neto evn ... (kai,) + folgender Verbalsatz trägt Lukas gegenüber den Markusparallelen genauso ein (Lk 5,12.17; 6,6.12; 8,22; 9,18.28.37), wie er sie in den redaktionell formulierten Einleitungen zu Q-Texten verwenden kann (Lk 11,1). Über die Hintergründe dieser ungleichmäßigen Behandlung der Markusvorlagen (warum sind Lk 4,31.33.38 nicht ebenso gestaltet?) kann man nur spekulieren. Bei einigen, aber nicht bei allen Belegen wird das jüdische Kolorit unterstrichen. – Biblischem Stil entspricht ferner das einleitende (kai,) ivdou, in seiner Häufigkeit bei Lukas gegenüber den 8 mk Belegen, von denen Lukas nur 2 Belege (Mk 10,28.33) übernommen hat. 112 Theologisch bedeutsam sind nur die Erweiterungen in Lk 4,16-30 gegenüber Mk 6,16a, die Verschiebung der Erzählpragmatik in Lk 10,25-29 gegenüber Mk 22,28-34 und die mögliche Veränderung von Mk 9,7 in Lk 9,35: Mit dem Begriff evlelegme,noj (statt wie Mk 9,7 avga,phtoj) könnte auf Jes 42,1 (dort allerdings evklektoj) angespielt, Jesus damit als Gottesknecht prädiziert sein. 113 JERVELL, Apostelgeschichte, 84 Anm 192. 114 Als markanteste Beispiele seien genannt: Die Formel kai. ivdou, begegnet 26 mal im Evangelium, aber nur sechsmal in Apg (5,28; 10,30; 27,24), davon dreimal als kai. nu/n ivdou, 13,11; 20,22.25. Die Konstruktion evge,neto de + finites Verb ohne Kopula begegnet 22 mal im Evangelium, mit der Ausnahme 10,25 nirgends in Apg., der substantivierter Infinitiv mit Artikel im Dativ und voranstehendem evn begegnet 32 mal im Evangelium, siebenmal in Apg (Apg 2,1; 3,26; 4,30; 8,6; 9,3; 11,25; 19,1). Das unbetonte kai. copulativum + auvto,j begegnet im Evangelium 20 mal, in der Apostelgeschichte an vier Stellen (15,27; 22,20; 24,16; 7,36). Die Wendung avpokriqei,j + verbum dicendi begegnet im Evangelium 39 mal, in Apg 8 mal, davon nur zweimal jenseits von Apg 16, nämlich in der Einleitung der Rede, mit welcher der Dämon die sieben Söhne des
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herrscht also vor allem in den Teilen, die im Lande Israel spielen, und zeigen so das Geschick des Historikers, der sich der Umgebung der erzählten Handlung auch in seiner Darstellung anzupassen hatte. Die theologische Funktion des biblischen Rückbezuges für Lukas, wie sie in letzter Zeit vor allem durch D. Rusam herausgearbeitet worden ist115, hilft ebenfalls nur bedingt zur Entscheidung, da man schwer abschätzen kann, was man einem Heidenchristen generell zutrauen darf. Apg 12,20-23; 14,15-17 sind zweifellos nur auf jüdisch-hellenistischem Hintergrund verständlich.116 Doch selbst in der Areopagrede sind biblische Anklänge festzustellen, so die Wendungen ceiropoihtoi. naoi, in Apg 17,24 und evx e`no,j, auf Adam oder Noah bezogen, in Apg 17,26. Allerdings können sich solche Einflüsse auch heidenchristlicher Bibellektüre verdanken, die ihrerseits nicht ohne Einfluss auf die sich ausdifferenzierende christliche Binnensprache geblieben ist. Jüdische und spätere christliche Apologetik argumentieren in diesen Themenfeldern ohnehin analog; die gemeinsamen Voraussetzungen erschweren methodisch jedoch, aus der Behauptung einer Analogie die Behauptung einer Genealogie zu machen. Richtig ist, dass das lukanische Doppelwerk einem ausschließlich durch griechisch-römische Tradition geprägten Zeitgenossen unverständlich wäre117; das ist schon an den nirgends erklärten Wendungen basilei,a tou/ qeou/ und ui`o.j tou/ avnqrw,pou ersichtlich. Doch verweist das nicht zwingend auf die Verwurzelung des Lukas im Judentum, sondern doch wohl eher auf eine sich entwickelnde christliche Binnensprache, der sich auch die Kenntnis der Septuaginta verdankt.118 Die schriftstellerischen Tendenzen des Lukas sind an einem Punkt in Anschlag zu bringen, der m.E. vorschnell gegen eine Herkunft des Lukas aus dem Judentum eingewandt wird, nämlich in der Exegese zu Lk 2,22-24. Bei der Reinigung der Mutter Jesu nach Lev 12,4 f. ist nur die Anwesenheit ihrer selbst erforderlich. Die Auslösung der Erstgeburt (nach Ex 13,2), mit der die Anwesenheit Josephs und Jesu in der
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Skevas des Hauses verweist, in Apg 19,15 (er tut es also, eingeführt in biblischer Sprache!), und in Apg 25,9. D. RUSAM, Das Alte Testament bei Lukas (BZNW 112), Berlin/New York 2003, 494. Zu Parallelen zwischen diesem Text und alttestamentlich-frühjüdischen Texten vgl. KRAUS, Lukas, 236f. A.D. NOCK, Rez. M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte, Gnomon 25 (1953), 497-506: 501. Dass der Adressat des lukanischen Doppelwerkes Theophilus nicht als Nichtchrist, sondern als Christ zu charakterisieren ist, wurde in der Forschung schon mehrfach begründet. Gestützt wird die Annahme auch durch den Umstand, dass das Verbum pisteu,ein zur Benennung des angemessenen Verhältnisses zu Gott stets unkommentiert erscheint und dass in der Apostelgeschichte nirgends thematisiert wird, welche die im Evangelium mitgeteilten Details über Jesus von Nazareth für den nichtchristlichen und nichtjüdischen Leser eigentlich haben sollen.
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Szene begründet werden soll, könnte bei jedem im Lande wohnenden Priester geschehen.119 Man muss dazu nicht nach Jerusalem kommen. Bevor man Lukas jedoch eine diesbezügliche Unkenntnis unterstellt, muss man seine literarische und theologische Tendenz berücksichtigen: Jesus soll im Tempel sein, an zentraler Stelle in Israel. Das soll für Simeons und Hannas Auftreten die passende Szenerie bereitzustellen und die bekannte Bedeutsamkeit der beiden Prophetien Lk 2,29-32; 2,34f. unterstreichen. Dass Lukas die fünf Schekel nicht erwähnt, mag als Zugeständnis an den Geschmack seiner Leser verständlich sein; Lukas will Pedanterie vermeiden. All das bedeutet aber: Lk 2,22-24 fällt für diese Frage als Argument weitgehend aus. Nun ist die Rezeption jüdischer Motive und Sachverhalte zu beleuchten. Zur jüdischen Christologie des Verfassers bemerkte schon Ph. Vielhauer: „Inwiefern seine eigene Anschauung sich mit den Vorstellungen vom pai/j qeou/ und avrchgo,j (Apg 3,13.26; 4,27.30; 3,15; 5,31) deckt, ist nicht sicher zu entscheiden. Er reproduziert sie, aber er expliziert sie nicht.“120 E. Plümacher rechnet mit einer bloßen archaisierenden Tendenz und verweist auf Parallelen bei Livius.121 Die Prophetenchristologie stellt Züge Elias und Elisas122, Jeremias123 und des endzeitlichen Propheten nach Dtn 18,15.18124 zusammen, deren Funktion unterschiedlich ist: Die Machttaten sollen Jesus als Messias auf Erden beglaubigen125, die Prophetenerwartung nach Dtn 18 als gegenwärtige Autorität für die Gläubigen126 wie als zukünftigen Richter. Daneben steht die Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten, die das 119 Mekh Ex 13,2 (22b). 120 VIELHAUER, Zum „Paulinismus“ der Apostelgeschichte, 22; ähnlich H. CONZELMANN, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 51964, 158. 121 E. PLÜMACHER, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972, 74f. 122 Lk 7,16; 24,19. Das Stichwort lo,goj begegnet von Elia Sir 48,1, von Elisa Sir 48,13, von den te,rata und den e;rga Elisas ist Sir 48,14 die Rede. Der Begriff du,natoj in Lk 24,19 ist in der LXX manchmal zur Charakterisierung des Wirkens der Richter verwendet (Ri 6,12; 11,1), gelegentlich auch zur Kennzeichnung der Macht Gottes (Jer 39 LXX (32 MT), 19). 123 Lk 13,34f.; 19,41-44; 23,27-31. 124 Apg 3,22f. 125 Vgl. U. BUSSE, Die Wunder des Propheten Jesus. Die Rezeption, Komposition und Interpretation der Wundertradition im Evangelium des Lukas (FzB 24), Würzburg 1977, 175: „Die Machtdemonstrationen haben bei Lukas propagandistische Wirkung“. Lukas knüpft mit dem Stichwort evpiske,ptesqai an Gottes Rettungstaten für einzelne (Gen 21,1; 1 Sam 2,21) wie für das Volk Israel an (Gen 50,24; Ex 3,16; 4,31; Judith 8,33; Ruth 1,6). Das Motiv erscheint nur selten in der Gebetssprache, vgl. aber Ps 79,15; 105,4; Jer 15,15. 126 Lk 9,35 („hört auf ihn“). Zum Bezug der Verklärungsperikope auf Dtn 18 vgl. W. KRAUS, Die Bedeutung von Dtn 18,15-18 für das Verständnis Jesu als Prophet, ZNW 90 (1999), 153-176: 164.
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Schicksal Jesu wie seiner Boten begreiflich macht. Auch das Leiden ist Erfüllung prophetischer Vorhersage (Apg 8,32-35) und deshalb weder die Widerlegung der Ansprüche Jesu noch auch allgemeiner Zeichen seines Scheiterns.127 Das Nebeneinander der verschiedenen Prophetenkonzeptionen bei Lukas kann auch als der Versuch verstanden werden, möglichst viel Biblisches auf Jesus zu beziehen, eben in der Absicht, Jesus als den Messias Israels zu erweisen.128 Dass Lukas in Bahnen biblischer, d.h. „alttestamentlicher“ Ethik denkt, ist offensichtlich129; zwischen dem Täufer und Jesus besteht nicht nur Unterordnung, sondern auch Parallelität der ethischen Forderung130. Wichtiger ist die Behandlung halachischer Fragen durch den Evangelisten. Zweifellos kennt Lukas die Funktion der Speisegesetze als Teil der Distanzierung zwischen Juden und Nichtjuden (vgl. Apg 10,15; 10,28 und 10,34 f. miteinander), allerdings ist solche Kenntnis auch aus der Außenperspektive denkbar. Dass Lukas in Apg 15 die Beschneidung auf Mose und nicht auf Abraham zurückführt, mag man damit erklären, dass sie pars pro toto für die Thorathematik insgesamt zu stehen kommt.131 Die Leute von Judäa werden die Beschneidung aber historisch gesehen wohl kaum als bloßes e;qoj bezeichnen132, wie es Lukas beschreibt; die Redeweise vom „Gesetz des Mose“133 ist auch schon als semantische Opposition zu „Gesetz Gottes“ gedeutet worden. Die Thora als Joch zu bezeichnen, das „weder unsere Väter noch wir tragen
127 Lukas ist hierin Apologet, wie insgesamt zu beachten ist, dass sich dem Christentum die apologetische Aufgabe seit dem Tag des irdischen Lebensendes Jesu gestellt hat. 128 Zum Thema der Soteriologie verweist J. JERVELL, Gottes Treue (s. Anm. 99), 21, auf den Sachverhalt, dass die dem Volk Israel und seinen Angehörigen gegebenen Heilsverheißungen niemals aufgehoben worden sind. Angesichts von Apg 13,46f.; 18,6; 28,25-28 ist das faktisch ein argumentum e silentio, das ich nicht übergewichten will. Auf Apg 28,26-28 hat kritisch dazu schon E. GRÄßER, Forschungen zur Apostelgeschichte (WUNT 137), Tübingen 2001, 39, verwiesen. 129 Vgl. Lk 16,29. 130 Vgl. Lk3,11/6,37; Lk 3,13/19,8b. 131 D.R. SCHWARTZ, God, Gentiles, and Jewish Law: On Acts 15 and Josephus’ Adiabene Narrative, in: H. CANCIK / H. LICHTENBERGER / P. SCHÄFER (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion, FS M. Hengel Bd. 1, hg. v. P. SCHÄFER, Tübingen 1996, 263-282: 279. Er vermutet, Lukas habe den Bericht des Josephus über die Konversion des Königshauses zu Adiabene gelesen – nur in dieser Erzählung sei ein analoges Verfahren zu erkennen. 132 D.R. SCHWARTZ, God, Gentiles, and Jewish Law, 272f. Er bezeichnet in diesem Zusammenhang Lukas als „non-Jew“ (273). Zur Redeweise von den jüdischen e;qh vgl. Lk 1,9; 2,42; 22,39; Apg 6,14; 15,1; 16,21; 21,21; 26,3; 28,7. 133 Zu diesem Sprachgebrauch vgl. Lk 2,22; 5,14; 16,19.31; 24,27.41; 26,32; Apg 6,11; 13,28; 15,1.8.21; 21,21; 24,27; 26,32; 28,23. Man kann allerdings fragen, ob damit stets eine Abwertung bzw. eine Opposition zum jüdischen Gesetz impliziert ist.
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konnten“ (Apg 15,10), ist nicht an Ps 1; 19; 119 orientiert.134 Dass jeder Glaubende gerechtfertigt wird in dem, worin er durch das Gesetz des Mose nicht gerechtfertigt werden konnte (Apg 13,38f), wirkt wie eine Zusammenfassung zentraler paulinischer Anliegen, aber eine Zusammenfassung, die deren Durchsetzung schon längst im Rücken hat, sie nicht erst erkämpfen muss. Speise- und Reinheitsgebote sowie das Gebot der Beschneidung interessieren Lukas nur insofern, als sie die Hereinnahme von Nichtjuden in den lao,j betreffen135; dabei wären auch andere halachische Fragen zu klären, etwa die Frage des Termins der regelmäßigen Gemeindeversammlung, die man kaum so ignorieren dürfte wie es Apg 20,7-11 tut. Ungenau sind die Angaben zum Nasiräat in Apg 18,18 und Apg 21,23f.136 In Num 6,12-20 ist die Auslösung des Nasiräats am Zentralheiligtum vorgesehen, und die Nachrichten über tatsächlich praktizierte Nasiräatsgelübde in der Zeit des Zweiten Tempels bestätigen, dass die Auslösung in Jerusalem erfolgte.137 Auch in späterer Literatur wird das Abscheren des Haares zumindest als im Mutterland Israel erfolgend gedacht.138 Apg 18,18 wäre diesbezüglich singulär in antiker Literaturgeschichte. In Apg 21,24 kann die Aufforderung „Reinige dich mit ihnen“ kaum ein Nasiräatsgelübde meinen, da dafür die Mindestzeit 30 Tage betrug, die aber nicht außerhalb Israels verbracht wurde.139 Apg 21,24 meint eher die Lösung leichterer levitischer Verunreinigun-
134 Die Niedrigkeitsdoxologien aus Qumran sind keine Parallele dazu, denn sie dienen der Verherrlichung, nicht der Relativierung der Thora. Einen möglichen Ausweg bietet W.R.G. LOADER, Jesus’ Attitude to the Law. A Study of the Gospels (WUNT II 97), Tübingen 1997, 373: Apg 15,10 wende sich nicht negativ gegen die Thora; gesagt sei vielmehr: „In effect Luke is having Peter remind his Jewish colleagues that they are just as much sinners as Gentiles are“. Lukas hätte damit die faktische Deutung von Aussagen wie Gal 2,16 rezipiert: Die e;rga no,mou rechtfertigen nicht, weil kein Mensch sie faktisch ganz erfüllt (so auch KLINGHARDT, Gesetz und Volk Gottes, 111f.). 135 Dieser Begriff ist tatsächlich zumeist für Israel gebraucht, bezeichnet jedoch an wichtiger Stelle, in Apg 15,14, aufgrund des Rückverweises auf die Petrusrede (Apg 15,7) als durch Petrus gesammeltes Gottesvolk aus den Heiden. 136 Historisch gesehen richtig an der Darstellung Apg 21,23f. ist jedoch, dass die Übernahme der nicht unerheblichen Kosten für die Auslösung durch andere überhaupt als möglich erachtet wurde, vgl mNaz 2,5. 137 In der Reihenfolge der referierten Ereignisse sind zu nennen: bNed 9b; 1 Makk 3,4753; jBer VII 2 (11b); Josephus, Ant 19,294; mNaz 3,6; Josephus, Bell 2,313f. – Dass das Nasiräatsgelübde in der Qumran-Literatur nicht eigens thematisiert wird, muss nicht verwundern: Die Qumrangemeinschaft verstand sich insgesamt als priesterlich und damit dem priesterähnlichen Status des Nasiräers von Haus aus überlegen. Immerhin: Der Priester soll eine Weihe (nezaer) sein für das Allerheiligste (1QSb 4,28). 138 NumR 10 (161 c). 139 mNaz 1,3.
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gen, zu denen auch der Aufenthalt des Paulus außerhalb des Landes Israel gehört.140 So halte ich die Gründe, die für eine jüdische Herkunft des Lukas sprechen, für beachtenswert141, aber nicht für völlig durchschlagend. Gleichwohl sind sie zu bedenken, wenn nun der theologiegeschichtliche Standort des Lukas erhoben werden soll. Aber selbst die These, Lukas sei Gottesfürchtiger, muss mit einer Schwierigkeit fertig werden, die meist übersehen wird: Der Widerstand gegen Jesus wie gegen seine Verkündiger entzündet sich mehrfach gerade daran, ob Nichtjuden in den lao,j einbezogen werden sollen oder nicht; Lukas schreibt den nicht an Jesus glaubenden Juden eine eindeutig negative, den an Jesus glaubenden Juden zunächst eine skeptische und dann eine tolerierende Haltung zu. Im Hinblick auf die bekannten Zeugnisse in griechischrömischer wie jüdischer Literatur, die die Anziehungskraft des Judentums auf Nichtjuden belegen,142 kann diese Darstellung des nicht an Jesus glaubenden Judentums nicht als historisch zutreffend beurteilt werden. Zusätzlich aber ist zu fragen: Ist sie seitens eines Gottesfürchtigen möglich? Lukas müsste eigenes Erleben vergessen – oder seinen polemischen Absichten geopfert haben.
3. Lukas zwischen Juden- und Heidenchristen? Für die theologiegeschichtliche Frage zum lukanischen Doppelwerk ist an die klassische These von F.C. Baur zu erinnern, derzufolge Lukas eine Aussöhnung zwischen der petrinischen und der paulinischen Partei im Urchristentum erstrebt.143 Nicht nur aus Gründen der wissen140 mNaz 7,3. 141 Allerdings müssen, betrachtet man das vor allem in Philo und Josephus greifbare hellenistische Judentum, auch Argumente relativiert werden, die gelegentlich die heidenchristliche Herkunft des Lukas begründen sollen, u.a. seine Beherrschung der griechischen Sprache und Literazität (so zu Recht STRELAN, Luke, 105) und seine Kenntnis in juristischen Fragen (dazu vgl. E. HEUSLER, Kapitalprozesse im lukanischen Doppelwerk. Die Verfahren gegen Jesus und Paulus in exegetischer und rechtshistorischer Perspektive [NTA NF 38], Münster 2000, passim). 142 Von jüdischen Missionsversuchen spricht Horaz, serm. I 4, 143; Übertritte von Nichtjuden zum Judentum sind bei Tacitus, Hist. V,5,2 vorausgesetzt. Von der erhofften Bekehrung von Nichtjuden vgl. in jüdischer Literatur Tob 14,6; Jdt 14,10; äthHen 10,21; vgl. ferner JosAs. Zur realen Überzeugungskraft jüdischer Bräuche auf Nichtjuden vgl. Seneca, bei Augustin, De civitate Dei 6,11 (victi victoribus leges dederunt); Plutarch, de superstitione 3, 166 A; zur Überzeugungskraft jüdischer Gesetze vgl. Josephus, Contra Apionem 2, 282f. passim. Auf die wahrscheinliche Existenz der sog. Gottesfürchtigen kann hier nur verwiesen werden. 143 SHELLARD, New Light on Luke, passim, trägt wiederum eine ähnliche Theorie vor, die mit einer die Zweiquellentheorie ablehnenden literarkritischen Rekonstruktion einhergeht: Lukas wolle durch sein um 100 geschriebenes Doppelwerk verschiedene
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schaftlichen curiositas sei auch eine bei Theophylakt von Ochrid aufbewahrte Tradition erwähnt, derzufolge Lukas das Evangelium mit Erlaubnis des Petrus, die Apostelgeschichte mit Erlaubnis des Paulus geschrieben habe.144 Gerade hier wird aber zu fragen sein, ob Lukas als Schriftsteller für sich allein steht, oder ob man Rückschlüsse auf seine Gemeinde ziehen kann, und wenn ja in welche Richtung, etwa dergestalt, dass Lukas nicht für eine rein heidenchristliche Gemeinde, sondern für eine aus Juden- und Heidenchristen zusammengesetzt Gemeinde schreibt. Matthias Klinghardt hat entschieden in letzterem Sinne votiert; ihm zufolge repräsentieren die Pharisäer im lukanischen Werk die strengen Judenchristen, die Schriftgelehrten die nichtchristlichen Juden, die o;cloi und die sozial Randständigen die gemäßigten Judenchristen, die Gottesfürchtigen die Heiden. Lukas steht den Randständigen am nächsten. Einwände sind jedoch nicht ausgeblieben. Zwischen Pharisäern und Schriftgelehrten wird, so R. von Bendemann, im Evangelium nicht streng unterschieden (vgl. die Erwähnung der farisai/oi in Lk 11,43, der grammatei/j in 11,53f); die erzählerische Rhetorik in puncto Pharisäer und Schriftgelehrte läuft der von Klinghardt behaupteten Integrationsleistung geradezu diametral zuwider.145 Man kann ergänzen: Lukas zeigt in Apg 6-8 sowie in Apg 15; 21 m.E. deutlich genug, dass er verschiedene Gruppierungen innerhalb des Judenchristentums vor Augen hat. Die Position der christlichen Pharisäer in Apg 15,5 teilt er nicht, aber er stellt sie keineswegs mit den in Lk 11 angesprochenen Pharisäern auf eine Linie. Es ist daher nicht nötig, zusätzlich die Darstellung
urchristliche Ströme versöhnen: die heidenchristlich/paulinische Tradition, in den Evangelien durch Mk verkörpert, das Judenchristentum des Mt und das sehr eigene Judenchristentum des Johannes. Die lukanische Abhängigkeit von Matthäus unter Verzicht auf die Q-Hypothese (83) begründet sie u.a. mit der Akoluthie und den „minor agreements“; dass Lukas das Johannesevangelium verarbeitet haben soll, begründet sie vor allem mit lukanischen Texten, die markinische und johanneische Eigenheiten kombinieren (218), mit dem Umstand, dass Lukas an den Stellen stärker von Markus abweicht, wo auch johanneische Parallelen vorliegen (236 u.ö.), und mit Texten aus der Passionsgeschichte, die bei Markus und Matthäus keine Parallele haben, und in die johanneische Formulierungen ohne den johanneischen Kontextbezug eingegangen sind (248). Ob dies literarische Abhängigkeit zu belegen vermag, bleibt indes zu fragen. 144 Theophylakt, in Lc., PG 123, 685 A. Dorotheus von Gaza wird als Urheber dieser These benannt. In den erhaltenen Werken dieses Autors lässt sie sich m.W. nicht nachweisen. 145 R. V. BENDEMANN, Zwischen DOXA und STAUROS. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium (BZNW 101), Berlin/New York 2001, 398. Von den erzählten Pharisäern und Schriftgelehrten eröffnet sich kein Fenster zur Gegenwart von Judenchristen bzw. nicht an Jesus glaubenden Juden in der Welt des Evangelisten (a.a.O., 407).
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der Pharisäer und der Schriftgelehrten aus dem Evangelium auf innerchristliche Verhältnisse abzubilden. Nun aber zur eigenen Standortbestimmung des Lukas: 1) Er schreibt für Heidenchristen von einem heidenchristlichen Standort aus. 2) Judenchristen nimmt er wahr, hat aber kein selbständiges Interesse an ihnen. In den Reden gegenüber den nicht an Jesus glaubenden Juden werden die Judenchristen nirgends als nachahmenswertes Vorbild empfohlen, deren positive Erfahrungen in der neuen Gemeinschaft Sekundärkonversionen von bisher nicht an Jesus glaubenden Juden nach sich ziehen könnte. 3) Das Zusammenleben sieht er für die Kirchengebiete Antiochien, Syrien und Kilikien durch das Aposteldekret geregelt, für die übrigen Kirchengebiete ist kein verlässlicher Hinweis gegeben. ad 1. Diejenigen, die für sich Kontinuität zu dem lao,j qeou/ Israel beanspruchen dürfen, sind in den Augen des Lukas die Anhänger Jesu aus Juden und Heiden. Dass der Plan Gottes die endzeitliche Sammlung Israels impliziert, wird letztmalig in der Apostelgeschichte in der ersten Hälfte des Amoszitates Apg 15,16 gesagt. Der Plan Gottes sieht aber vor allem auch den Einbezug von Nichtjuden in das Gottesvolk vor; das ist „gottgewollt“146 und in der Heiligen Schrift angekündigt. Daran drohen die nicht an Jesus glaubenden Juden zu scheitern, und das haben auch einige der an Jesus glaubenden Juden erst lernen müssen, wie Apg 10,1-11,18 in aller Ausführlichkeit belegen. Es sind aber dann die Jerusalemer Autoritäten Petrus und Jakobus, die gegen die Bedenken anderer Judenchristen die beschneidungsfreie Heidenmission unter gewissen Auflagen nicht nur tolerieren, sondern als gottgewollt (Apg 15,15) und geistgewirkt (Apg 15,28) deklarieren. Doch ist der aktuelle Standpunkt des Lukas, wie ad 2. zu zeigen ist, nicht ein Standpunkt jenseits der Partikularität von Juden- und Heidenchristentum147: ad 2. Dass Lukas nur bei Juden auf Massenbekehrungen zu sprechen kommt, hat Jervell betont.148 Auch für die jüdische Diaspora vermerkt 146 D. RUSAM, Das Alte Testament bei Lukas, 494. 147 Vgl. auch H. GANSER-KERPERIN, Das Zeugnis des Tempels. Studien zur Bedeutung des Tempelmotivs im lukanischen Doppelwerk (NTA NF 36), Münster 2000, 378, mit dessen Sichtweise sich die hier vorgetragenen Aufstellungen eng berühren. 148 Der bis zu diesem Hinweis Jervells vorherrschende Eindruck einer erfolgreichen Mission des Christentums unter Nichtjuden ist durch Apg 13,48; 14,27; 15,12; 21,19; 28,28 bestimmt. Nichtjüdische Christen konnten in diesen Stellen ihre eigene Zugehörigkeit zur Kirche angekündigt finden.
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Lukas wiederholt, dass Juden zum Glauben an Jesus kommen; von Judenchristen weiß Lukas in Antiochia in Pisidien, Ikonium, Lystra, Beröa, Korinth, Ephesus und Rom.149 Im Hinblick auf diese Bekehrungen bezieht die Wendung evn panti. e;qnei (Apg 10,35) auch Israel mit ein. Dementsprechend stehen einige Belege für den Begriff vIoudai/oi nicht wie sonst zumeist für die die Verkündiger Jesu ablehnenden Juden, sondern für diejenigen, die zum Glauben kommen, vgl. Apg 13,43; 14,1b; 17,10-12; 18,19. Es ist durchaus im Sinne des Lukas, wenn für den Judenchristen Apollos Empfehlungsbriefe geschrieben werden (Apg 18,28). Die Rücksichtnahme des Paulus auf jüdisches (Apg 16,3) wie judenchristliches (Apg 21,26) Empfinden muss nicht pure Apologetik sein. Lukas teilt die Position der christlichen Pharisäer (Apg 15,5) nicht, aber er spricht ihnen nicht ab, Christen zu sein. Ein selbständiges Interesse an ihnen als einer Gruppe innerhalb der jeweiligen christlichen Gemeinde oder gar ein aktuelles, auf die eigene Gegenwart bezogenes Interesse an ihnen kann ich bei Lukas jedoch nicht erkennen.150 Die Legitimität der beschneidungsfreien Heidenmission steht für Lukas außer Frage; dass er sein Werk zu dem Zweck schreibt, um diese Legitimität zu erweisen, setzt jedoch eine aktuelle Gesprächssituation im Gegenüber zu Judenchristen voraus, wofür m.E. textinterne Signale nicht zwingend gegeben sind: Apg 15 kann auch als Darstellung der Vergangenheit gelesen werden, die zwar historisch die Gegenwart erklärt, aber theologisch darüber hinaus keine weiterreichenden Implikationen erkennen lässt. Die Mahnungen, an den Herrn zu glauben (Apg 16,31) und mit festem Herzen an dem Herrn zu bleiben (Apg 11,23; vgl. Apg 14,22) sind semantisch offen formuliert151 und haben nur indirekte Verweisfunktion auf die lukanische Jesusdarstellung mit ihrer Bezogenheit auf Israel; Apg 20,28-35 nimmt biblische Motive für die Rechtfertigung des Verhaltens des Apostels auf, die aber nur textextern zu erschließen sind und nicht textintern vermittelt werden; im übrigen fehlt selbst hier z.B. der Verweis, an der Schrift zu bleiben (anders 2Tim 3,14-17). Wirkungsgeschichtlich gesehen hat Lukas den späteren christlichen Antijudaismus nicht verhindert. Die von ihm wie von anderen geteilte Theorie, dass letztlich die jüdischen Oberen 149 Apg 13,43; 14,1; 16,1; 17,10-12; 18,8; 18,24-28; 21,20; 28,24. 150 Man muss auch mit der Möglichkeit rechnen, dass Lukas um die in Röm 15,31 angedeuteten Probleme weiß, vgl. Apg 24,17. 151 Allerdings bietet auch Paulus’ Formulierung zur Umschreibung christlichen Lebens oft in gewisser semantischer Offenheit und ohne unmittelbaren Bezug zur Thora als Quelle christlicher Ethik: „(des berufenden) Gottes würdig leben“ (1Thess 2,12); „für Gott leben“ (Gal 2,19; Röm 6,11); „für Gott Frucht bringen“ (Röm 7,4); „erkennen, was der Wille Gottes ist“ (Röm 12,2); „des Evangeliums von Christus würdig leben“ (Phil 1,27). Eine Ausnahme bildet nur Röm 8,4.
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schuld sind am Tod Jesu, hatte ohnehin nicht das Potential dazu, ebenso wenig die in der Apostelgeschichte zunehmend pauschalisierende Darstellung der Konflikte zwischen Paulus und (den) nicht an Jesus glaubenden Juden.152 ad 3. Das sog. Aposteldekret wirkt auf den Leser nicht als Konzession an die Judenchristen153, sondern als Erleichterung zugunsten der Heidenchristen, und man hat den Eindruck, nur dank geschickter Strategie des Petrus und des Jakobus kann sich die Position des Paulus und Barnabas mit Abstrichen behaupten. Das ergibt sich m.E. aus der Personenführung in Apg 15,6-21: Die Diskussionsbeiträge der christlichen Pharisäer werden nicht referiert, sondern sind dem Leser nur aus dem Hinweis auf den großen Streit zu entnehmen; es ist dann Petrus, der das eigene gegenteilige Erleben (s. Apg 10,1-11,18) als Erfahrung des Wirkens Gottes deutet und die theologischen Grundlagen der Kirchengemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen benennt; dann ergänzen Barnabas und Paulus die bei Petrus angedeutete Faktizität des Handelns Gottes durch die Darbietung der Fakten aus ihrem eigenen Wirken; Jakobus nimmt nicht auf Paulus und Barnabas, sondern auf die in Jerusalem immer noch anerkannte Autorität des Petrus Bezug, beweist sodann, dass das soeben Gehörte der Heiligen Schrift entspricht und leitet, ohne dass den christlichen Pharisäern die Möglichkeit einer Reaktion eingeräumt würde, sofort zur Beschlussfassung über; diese firmiert als Erleichterung für die Heidenchristen und besagt nur implizit für den Leser, dass auch dem judenchristlichen Empfinden Rechnung getragen werden soll.
4. Zusammenfassung Zum theologiegeschichtlichen Standort des lukanischen Doppelwerkes sind keine Aussagen möglich, die Unwiderleglichkeit beanspruchen, 152 Im Vorderteil der Apostelgeschichte gelten zunächst nur die Führungsschichten Israels als Gegner der Jesusanhänger (vgl. selbst noch die Differenzierung zwischen den Jerusalemer Juden und anderen Juden in Apg 13,27.32), bis in Apg 12,3 von „den Juden“ als den Gegnern die Rede ist. Im zweiten Teil stehen differenzierende Angaben wie Apg 14,19; 19,9 und selbst noch Apg 17,13; 21,27; 28,24 neben den pauschalen Angaben (oi` vIoudai/oi) in Apg 13,45.50; 14,4 (zu Beginn der 1. Missionsreise!); 17,5; 18,12; 20,19; 21,11; vgl. ferner den Kontrast zwischen „ihnen“ und den Nichtjuden Apg 22,18.21 (im Munde Christi!). Die pauschalierende Angabe oi` vIoudai/oi in Apg 23,12 wird durch die Zahlenangabe Apg 23,13 erst nachträglich eingeschränkt. 153 Johannes Chrysostomus, comm. in Gal. (PG 61, 636). Die Nachgiebigkeit der anderen Apostel, den Judenchristen weiterhin die Beschneidung zu belassen, sei Klugheit, um sie nicht von vornherein zu verprellen.
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sondern nur Vermutungen, die anhand gewisser Textsignale plausibilisiert werden können, und zwar mit einem unterschiedlichen Grad an Gewissheit. Noch am ehesten lässt sich eine Datierung um die Wende zum zweiten Jahrhundert vermuten. Plausibel ist die Kennzeichnung des Autors als eines Gottesfürchtigen, sofern man die Schilderung des nicht an Jesus glaubenden Judentums der bloßen Polemik zuzuschlagen bereit ist. Wo das Lukasevangelium, wo die Apostelgeschichte entstanden ist, wissen wir nicht. Lukas will Theophilus und die für ihn stehenden Christen über das Leben und Wirken Jesu ebenso informieren wie über die geschichtliche Entwicklung seiner Bewegung. Der Standpunkt, von dem aus Lukas schreibt, ist ein Christentum unter den Völkern, für das m.E. ein Mehrfaches kennzeichnend ist: 1) Gegenüber dem nicht an Jesus glaubenden Judentum hat es sich auch organisatorisch verselbständigt; 2) eine Orientierung an religiösen Traditionen Israels besteht in Fragen des Monotheismus und des Bildes eines geschichtlich handelnden Gottes sowie in der Ethik, aber kaum mehr in rituellen Fragen; 3) gleichwohl sieht man sich in einer in Gottes Wollen begründete und in der Heiligen Schrift angekündigte Kontinuität mit Israel, die man den nicht an Jesus glaubenden Juden der eigenen Zeit nicht mehr zuerkennt. 4) Diese Ausprägung des Christentums um die Jahrhundertwende steht neben anderen Ausprägungen wie dem Judenchristentum in Israel und in Syrien. Sachlich mindestens ebenso weit entfernt steht es aber von den im zweiten Jahrhundert sichtbaren verschiedenen gnostischen Strömungen.
2. Alttestamentliche und antike Voraussetzungen frühchristlicher Theologie
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Ursprung der Bundestheologie
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Exodus 24 und die Frage nach dem Ursprung der Bundestheologie im Alten Testament mit einem Ausblick auf die Herrenmahlsüberlieferung im Neuen Testament Axel Graupner
1. Die Bundestheologie gilt gegenwärtig weithin als jüngeres theologisches Konzept, das frühestens in der Mitte des 7. Jh. entwickelt wurde. Wegweisend für diese Auffassung war die Einschätzung Julius Wellhausens: „Auch in der späterhin so sehr beliebt gewordenen Form des Bundes hat die Theokratie nicht seit Moses existiert. Das Verhältnis Jahves zu Israel war von Haus aus ein natürliches; kein zum Nachdenken geeignetes Zwischen trennte ihn von seinem Volke“. Erst durch die Verkündigung der Propheten „trat die Natur und der Inhalt der Bedingungen, die Jahve an das Volk zu stellen hatte, in den Vordergrund der Betrachtung … Sachlich entstand auf diese Weise der Begriff des Bundes … Der Name Berith aber findet sich bei den alten Propheten noch nicht … Der Name Berith hat wahrscheinlich einen ganz anderen Ausgangspunkt. Die alten Hebräer hatten für Gesetz keine andere Vorstellung und keine andere Bezeichnung als die des Vertrages … Dieser Sprachgebrauch, Berith (d.i. Vertrag) für Gesetz ließ sich nun sehr bequem der prophetischen Grundidee anpassen und nach derselben deuten, wonach das Verhältnis Jahves zu Israel bedingt war durch die Forderungen seiner Gerechtigkeit, deren Inhalt durch sein Wort und seine Weisung explicit wurde … Seit dem feierlichen und folgenschweren Akte, durch den Josia dies Gesetz einführte, scheint die Idee der Bundesschließung zwischen Jahve und Israel in den Mittelpunkt der religiösen Reflexion gerückt zu sein; sie herrscht im Deuteronomium, bei Jeremias, Ezechiel, in Isa. 40–66, Lev. 17–26, und am meisten im Vierbundesbuche [s.c. in der Priesterschrift].“1
1
J. WELLHAUSEN, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin/Leipzig 1883. 61905 = 1927; ND 1981, 415–417.
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Bestimmend für die Einschätzung, dass die begriffliche Fassung der Gemeinschaft von Gott und Volk als tyrb „Bund“ wesenhaft nachprophetisch ist, war die enge Verbindung von Bund und Gesetz. Ist das Gesetz jünger als die Propheten, kann der theologische Gebrauch des Begriffs tyrb „Bund“ nicht älter sein. Lex post prophetas! Wellhausens Auffassung machte zunächst Schule2, traf aber im 20. Jh., genauer: zwischen 1920 und 1970, vielfach auf Widerspruch.3 Exemplarisch sei hier nur an Gerhard von Rads Deutung der Sinaiperikope als Festlegende eines seit der Frühzeit in Sichem gefeierten Bundes(erneuerungs)festes erinnert, das sich mit der Abfolge von Paränese, Rechtsvortrag, Bundesschluss sowie Segen und Fluch auch im Aufriss des Deuteronomiums spiegelt.4 Erinnert sei auch an die im Begriff „Bund“ zentrierte Theologie des Alten Testaments von Walter Eichrodt5 und den Versuch von Georg E. Mendenhall, auf der Grundlage eines Vergleichs zwischen der Formung hethitischer Staatsverträge und Elementen der Sinaiperikope die Wurzeln der Bundestheologie bis in die Spätbronzezeit hinauf zu verfolgen6.
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3
4 5 6
Vgl. beispielsweise B. BAENTSCH, Exodus – Leviticus – Numeri (HK I/2), Göttingen 1903, 216 in Anschluss an R. KRAETZSCHMAR, Die Bundesvorstellung im Alten Testament in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Marburg 1896, 122ff, im Blick auf Ex 24,3–8: „Der Gedanke, dass das Verhältnis Jahves zu seinem Volke auf einer Berith mit wechselseitig festgesetzten Leistungen und Zusicherungen beruhe, ist nicht alt; selbst bei den Propheten des 8. Jahrhunderts wird diese Vorstellung noch nicht als gangbar vorausgesetzt. Ihre klassische Durchführung hat dieselbe erst im Deut[eronomium]. gefunden“ oder B. STADE, Biblische Theologie des Alten Testa5 ments I, Tübingen 1905. 1957, 192: Die Bundesvorstellung „hat in der alten Zeit keinerlei Rolle gespielt“ (vgl. auch S. 36). Zur Forschungsgeschichte vgl. E. KUTSCH, Art. Bund I. Altes Testament, TRE 7 (1981) 397–410 (Lit.!), bes. 397f, U. RÜTERSWÖRDEN, Art. Bund: (www.)wibilex(.de) (Stand Jan. 2006) und C. KOCH, Vertrag, Treueeid und Bund. Studien zur Rezeption des altorientalischen Vertragsrechts im Deuteronomium und zur Ausbildung der Bundestheologie im Alten Testament (BZAW 383), Berlin/New York 2008, 1–14. G. VON RAD, Das formgeschichtliche Problem des Hexateuch (1938), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 8), München 41971, 9–86, bes. 28–48. W. EICHRODT, Theologie des Alten Testaments, Stuttgart/Göttingen I 1933. 81968, II 1935.61974, III 1939. 61974. G.E. MENDENHALL, Recht und Bund in Israel und im Alten Vorderen Orient (ThSt 64), Zürich 1960; DERS. / G.A. HERION, Art. Covenant, ABD 1 (1992) 1179–1202. Weitere einflussreiche Versuche, das bundestheologische Konzept von altorientalischen Verträgen abzuleiten: K. BALTZER, Das Bundesformular (WMANT 4), NeukirchenVluyn (1960) 21964, aufgenommen von G. VON RAD in seiner Kommentierung des Deuteronomiums (Das fünfte Buch Mose [ATD 8], Göttingen 1964); W. BEYERLIN, Herkunft und Geschichte der ältesten Sinaitraditionen, Tübingen 1961; D.J. McCARTHY, Treaty and Covenant (AnBib 21A), Rom 1963. Kritisch zu diesen Versuchen: F. NÖTSCHER, Bundesformular und „Amtsschimmel“, BZ 9 (1965), 181–214 und D.J. McCARTHY selbst in der zweiten, 1978 erschienen Auflage seines Buches (s. o.). Er hält zwar in Anschluss an J. HALBE (Das Privilegrecht Jahwes Ex 34,10–26 [FRLANT 114], Göttingen 1975) daran fest, dass sich der Begriff „Bund“ bereits beim Jahwisten
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Alle Versuche, die Annahme einer Verwurzelung der Bundestheologie bereits in der Frühzeit Israels zu plausibilisieren, haben sich nicht halten lassen. Die Gründe dafür sind eben so elementar wie durchschlagend. Von einem Bundes(erneuerungs)fest wissen das Alte Testament selbst, allem voran seine Festkalender (Ex 23,14–17; 34,18.22f; Dtn 16,1–16; vgl. Lev 23; Num 28f; ferner Ex 12f), nichts. Es ist ein Konstrukt. Die Propheten des 8. und noch des 7. Jh. verwenden tyrb „Bund“ wenn überhaupt, dann nicht als theologische Vokabel.7 Die hethitischen Staatsverträge sind räumlich wie zeitlich weit entfernt. Außerdem ergeben sich formale Übereinstimmungen etwa mit der Sinaiperikope nur, wenn man die Ergebnisse der Literarkritik und Redaktionsgeschichte übergeht.8 Es ist das Verdienst von Lothar Perlitt, mit seiner umfassenden Monographie zur „Bundestheologie im Alten Testament“9 die Einsicht Wellhausens, dass die Erfassung der Gemeinschaft von Gott und Volk mit Hilfe des Begriffs tyrb „Bund“ nicht in frühe Zeit zurückreicht, sondern ein relativ junges Konzept repräsentiert, dessen Ursprung im Deuteronomium liegt, durchgesetzt zu haben, und zwar bis in die Lehrbücher hinein10. Exempel ist der Grundbestand von Dtn 7 (V.9– 11.12b.13)11, die Probe aufs Exempel der Nachweis, dass die Prophetie des 8. Jh. „Bund“ noch nicht als theologische Vokabel kennt. Allerdings modifiziert Perlitt Wellhausens Einsicht in theologisch bedeutsamer Hinsicht, indem er mit Martin Noth12 in Dtn 7 V.12a ausscheidet und V.12b als eigenständigen Satz auffasst:
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findet, und zwar in Ex 34,10*, meint aber: Die Sinaiperikope „combines many views of covenant, but none of them seems to reflect the genre of the treaty“ (276). So bereits L. KÖHLER, Alttestamentliche Theologie, ThLZ 7 (1935), 255–318, bes. 272f, in seiner Kritik an der Konzeption der Theologie W. EICHRODTS (s. Anm. 5). Möglich ist allenfalls eine Beeinflussung der alttestamentlichen Bundestheologie durch die Verträge aus Sefire (Mitte 8. Jh.) oder neuassyrische Vasallenverträge aus dem 8. und 7. Jh. E. OTTO, Das Deuteronomium (BZAW 284), Berlin/New York 1999; H. U. STEYMANS, Deuteronomium 28 und die adê zur Thronfolgeregelung Asarhaddons (OBO 145), Fribourg/Göttingen 1995. Vgl. dazu aber die kritischen Anmerkungen von U. RÜTERSWÖRDEN, Dtn 13 in der neueren Deuteronomiumforschung, in: A. LEMAIRE (Hg.), Congress Volume Basel 2001 (VT.S 92), Leiden/Boston 2002, 185–203. L. PERLITT, Bundestheologie im Alten Testament, WMANT 36, Neukirchen-Vluyn 1969. Vgl. beispielsweise W.H. SCHMIDT, Alttestamentlicher Glaube, Neukirchen-Vluyn 102007, 161–166 („Exkurs: Bund“), bes. 162f. Dabei ist „’die Sache’“ unstreitig „älter als der Begriff“ (163) und kann auch ohne ihn begegnen. Vgl. dazu U. RÜTERSWÖRDEN, Bundestheologie ohne berit, ZAR 4 (1998), 85–99. Bundestheologie (s. Anm. 9), 55ff. M. NOTH, „Die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch“ (1938), in: DERS., Gesammelte Studien zum Alten Testament (ThB 6), München 31966, 155–171, 166 Anm. 28.
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„Die tyrb wurde den Vätern zugeschworen ([bvn). Ihre Verknüpfung mit allen Geboten ist nicht im Begriff verankert, sondern bedarf des Neueinsatzes: v. 11.12b! Aber auch dort stehen das Halten der Gebote und die Geltung des Vätereides nicht in einem konditionalen, sondern in einem reziproken Verhältnis. tyrb ist in dieser Schicht nicht Chiffre für das Gesetz, sondern für die Verheißung, und damit ist ein gewichtiger Unterschied gegenüber der dtr Bundestheologie markiert.“13
Entstanden ist dieses Konzept in den Jahrzehnten nach Hiskia.14 Auffällig ist freilich, dass das Wort „Bund“ in Dtn 7,9.12b ganz selbstverständlich fällt. Obwohl der theologische Gebrauch des Begriffs eine Neuerung darstellt, wird er nicht eingeführt oder erläutert. Die Verfasser gehen vielmehr davon aus, dass der Leser weiß, was gemeint ist. Erst das Ende von V.13bβ: „auf dem Boden, den Jahwe deinen Vätern geschworen hat, dir zu geben“ füllt den Begriff, verweist damit aber auf etwas, was dem vorexilischen Dtn vorausliegt, von ihm literarisch nicht erfasst wird. Lothar Perlitt hat dieses Problem selbst gespürt und bestimmt Gen 15 als narrativen Referenztext für Dtn 7,9f.11.12b.1315: „An jenem Tag schloss Jahwe mit Abram einen Bund (ging Jahwe eine Verpflichtung zugunsten Abrahams ein16): ‚Deinen Nachkommen gebe ich dieses Land vom Bach Ägyptens bis zum großen Strom, dem Euphrat’“.
Der Text wird – ein wenig unscharf – als „(proto-)dt Traditionsdeutung“ auf der Grundlage eines älteren (elohistischen) Textes ein- und „einer religiös und theologisch schöpferischen Bewegung“ zugeordnet,
13 14
15 16
PERLITT, Bundestheologie (s. Anm. 9), 61. PERLITT, Bundestheologie (s. Anm. 9), 63. Diese zeitliche Ansetzung ist allerdings nicht unumstritten geblieben. Vgl. etwa T. VEIJOLA (Das 5. Buch Mose. Deuteronomium 1,1 – 16,17 [ATD 8,1], Göttingen 2004, 4f), der im Anschluss an C. LEVIN (Die Verheißung des neuen Bundes [FRALNT 137], Göttingen 1985, bes. 83ff) die Bundestheologie im Dtn auf einen frühnachexilischen Redaktor (DtrB) zurückführt, und C. KOCH, Vertrag (s. Anm. 3), der mit einer „’verspäteten’ Rezeption“ (S. 264.313) des aramäischen und neuassyrischen Vertragsrechts rechnet und die Ausbildung der dtn Bundestheologie in die frühexilische Zeit datiert (315ff, bes. 317). Die Frage kann und muss hier nicht diskutiert werden. Angemerkt sei jedoch, dass der signifikante und theologisch gewichtige Unterschied zwischen dem Konzept des Bundes in Dtn 7,9–11.12b.13 und jenen Stellen, an denen tyrb „Bund“ Inbegriff der Verpflichtung Israels auf Gottes Willenskundgabe ist (4,13.23; 5,2f; 17,2; 28,69 u.a.), leichter verständlich wird, wenn man eine Entwicklung annimmt: ein älteres (vorexilisches) Verständnis des Begriffs ist später (in exilisch-nachexilischer Zeit) gesetzlich zugespitzt worden. Bundestheologie (s. Anm. 9), 68ff. H. SEEBASS, Genesis II/1. Vätergeschichte I (11,27 – 22,24), Neukirchen-Vluyn 1997, 64 in Anschluss an E. KUTSCH, Verheißung und Gesetz. Untersuchungen zum sogenannten „Bund“ im Alten Testament (BZAW 131), Berlin/New York 1973, 6f.
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„die im Dt ihren (auch literarisch) traditionsverknüpfenden Niederschlag gefunden hat“ – mit der Schlussfolgerung: „Darum gehört das Theologumenon vom ‚Väterbund’, besser: von der eidlichen Zusage des Landes an die Väter, in die Epoche, in der es schließlich auch Literatur geworden ist: in die deuteronomische. So erklärt es sich, dass dieses Theologumenon für Dtn 7 bereits brauchbar war und keiner pointierten Einführung bedurfte. Der Abraham-‚Bund’ ist wie der Väter‚Bund’ der Ausdruck des früh-dt Ringens um Vergewisserung der bedrohten Gabe Jahwes.“17
Gen 15 ist – das hat bereits das 19. Jh. empfunden – ein hoch komplexer Text. Er ist gewiss nicht quellenhaft18, aber auch nicht erst dtr Provenienz oder gar ein spätes, nachpriesterschriftliches Kompendium der Heilsgeschichte.19 In einem Grundbestand, der allerdings nicht leicht abzugrenzen ist, ist er vor-deuteronomisch, wahrscheinlich jehowistisch. Den Grundbestand dürften V.1.2a mit Versteil b als crux interpretum und V.4–6.9f.11.12aα(β)b* (ohne hk'vex] „Finsternis“).17f bilden. V.3.7f.(12aβ.)13–16.19f sind dagegen Zusätze: V.3 setzt unnötigerweise mit neuer Redeeinleitung ein und stellt eine Doppelung zu V.2 dar, ist aber kaum das Relikt einer Parallelfassung, sondern eine aus V.4 (vry „erben“) und V.5 ([rz „Nachkommenschaft“) entwickelte Reaktion auf die kaum mehr heilbare, weil schon früh eingetretene Textverderbnis in V.2b.20 V.7f setzen unvermittelt mit einer Selbstvorstellung Jahwes neu ein und geben dabei die in V.5 vorausgesetzte nächtliche Situation auf, fallen mithin aus dem Zusammenhang heraus. Zudem weisen beide Verse eine dem Kontext gegenüber jüngere Ausdrucksweise auf. V.7 lehnt sich an die dtr gefärbte Präambel des Dekalogs Ex 20,5; Dtn 5,6 an. Auch die Zielbestimmung „um dir dieses Land zu geben, damit du es in Besitz nimmst“ entspricht dtr Sprachgebrauch.21 Dabei knüpft V.7 mit der Vorstellung einer Herausführung des Erzvaters an den jahwistischen Faden22, mit der Angabe „aus Ur Chasdim“ dagegen an die
17 18 19 20 21 22
Bundestheologie (s. Anm. 9), 77. A. GRAUPNER, Der Elohist. Gegenwart und Wirksamkeit des transzendenten Gottes in der Geschichte (WMANT 97), Neukirchen-Vluyn 2002, 182–187 (Lit.!). So zuletzt auch M. KONKEL, Sünde und Vergebung. Eine Rekonstruktion der Redaktionsgeschichte der hinteren Sinaiperikope (Exodus 32 – 34) vor dem Hintergrund aktueller Pentateuchmodelle (FAT 58), Tübingen 2008, 257. So bereits B.D. EERDMANS, Alttestamentliche Studien I. Die Komposition der Genesis, Gießen 1908, 39. H.D. PREUß, Deuteronomium (EdF 164), Darmstadt 1982, 192 mit Belegen. Vgl. Gen 12,1–3 J gegenüber 11,31f; 12,5 P: Abraham bricht nicht auf Jahwes Geheiß hin, sondern aus eigenem Antrieb auf.
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Priesterschrift an23, setzt mithin die Vereinigung beider Darstellungen bereits voraus. Die Vorhersage des Geschichtsverlaufs V.13–16 knüpft mit den Stichworten [dy „wissen“ (V.13aα; vgl. V.8) und [r:z< „Nachkommenschaft“ (V.13aα; vgl. V.5) wie mit dem Thema Landbesitz an den Kontext an, unterbricht aber den Zusammenhang zwischen V.12aα („Als die Sonne unterging“) und V.17 („Als nun die Sonne untergegangen und Finsternis eingetreten war“).24 Der Abschnitt weist mit der Angabe „400 Jahre“ (V.13) auf Ex 12,40 voraus und nimmt mit der Ankündigung eines Begräbnisses „in gutem Alter“ (V.15) Gen 25,8 im Wortlaut vorweg, setzt mithin wie V.7f bereits die priesterschriftliche Darstellung voraus, scheint aber älteres (vorexilisches) wie jüngeres (nachexilisches) Gut zu enthalten.25 Die Aufzählung der Völker V.19–21 schließt nur mühsam an V.18 an und bietet nach den geographischen Angaben V.18b eine zweite Beschreibung der Größe des Landes.26 Schwieriger ist das Nebeneinander der parallel formulierten Angaben V.12aβ/b „Da fiel ein Tiefschlaf auf Abram“ / „siehe, ein großer Schrecken '' fiel auf ihn“ zu beurteilen. Schließen sich hm'DEr>t; „Tiefschlaf“ und hm'yae „Schrecken“ aus? Hier warnt Hi 4,12–16 vor einem vorschnellen Urteil. Allerdings dürfte hk'vex] „Finsternis“ in Versteil b eine Glosse sein, die das seltene Lexem hj'l'[] in V.17 vorgreifend erläutern möchte.27 Für die Zuweisung des Grundbestandes an die jehowistische Redaktion spricht vor allem, dass er bereits eine Mischung von Eigenarten der jahwistischen und der elohistischen Darstellung bietet, außerdem mit der Verwendung der Wortereignisformel V.1aα2 und der Umstandsangabe „in einer Schauung“ V.1aβ sowie dem hi. von !ma (s.u.) die Prophetie des 8. Jh. voraussetzt, aber noch nicht die Priesterschrift und noch keine dtn/dtr Sprach- und Stileigentümlichkeiten aufweist. Aus J stammen neben dem Gebrauch des Gottesnamens die grundle23 24
25
26 27
Vgl. Gen 11,31 P; ferner – als Ausgleichsversuch zwischen jahwistischer und priesterschriftlicher Darstellung – 11,28bβ R JE/P. H. SEEBASS, Genesis II/1. Vätergeschichte I (11,27 – 22,24), Neukirchen-Vluyn 1997, 75. Nach anderer Auffassung beginnt der Einschub bereits mit V.12 (C. WESTERMANN, Genesis 12 – 36 [BK I/2], Neukirchen-Vluyn 1981, 268) oder gar V.11 (H. GESE, Die Komposition der Abrahamserzählung, in: DERS., Alttestamentliche Studien, Tübingen 1991, 29–51, 43 mit Anm. 43, u. J.-C. GERTZ, Abraham, Mose und der Exodus. Beobachtungen zur Redaktionsgeschichte von Gen 15, in: DERS. / K. SCHMID / M. WITTE [Hg.], Abschied vom Jahwisten. Die Komposition des Hexateuch in der jüngsten Diskussion [BZAW 315], Berlin/New York 2002, 63–81, 71ff). Eine literarische Fuge ist aber weder zwischen V.11/12 noch V.10/11 erkennbar. Vgl. S. KREUZER, 430 Jahre, 400 Jahre oder 4 Generationen – Zu den Zeitangaben über den Ägyptenaufenthalt der „Israeliten“, ZAW 98 (1986), 199–210, bes. 202ff, der V 13a.14.16 als Geschichtssummarium aus joschijanischer Zeit bestimmt, in dem sich die Hoffnung auf ein Ende des assyrischen Exils ausdrückt. Vgl. C. WESTERMANN, BK I/2 (s. Anm. 24), 273; H. SEEBASS, Genesis II/1 (s. Anm. 16), 78. H. SEEBASS, Genesis II/1 (s. Anm. 16), 64.
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genden Themen Nachkommenschaft (11,30; 12,2) und Landverheißung (12,7), an E erinnern neben der Einleitung „Nach diesen Ereignissen“ (V.1aα1) die nächtliche Situation der Offenbarung (V.5) und die Aufforderung ar:yTi-la; „Fürchte dich nicht!“ (V.1bα1).28 Vor-deuteronomisch bedeutet aber nicht „(proto-)dt“. Das Charakteristikum deuteronomischer Bundestheologie, die Zusammenstellung von „Bund“ und Willensoffenbarung Gottes, fehlt. Stattdessen verbindet der Text in Aufnahme eines Kennwortes der Verkündigung Jesajas (7,9; 28,16; 30,15) „Glaube“ (!ymah V.6) und „Bund“ (V.18). Dabei weist Gen 15 mit den Repräsentationen Jahwes V.17bα, !v'[' rWNt', einem „rauchenden Backofen“, und vae dyPil', einer „Feuerfackel“, die die Gasse zwischen den zerteilten Tieren durchschreitet (V.17bβγ), kaum zufällig auf die Begleitphänomene der Epiphanie Jahwes bzw. Gottes auf dem Sinai voraus29: !v'[' „Rauch“ und vae „Feuer“ Ex 19,18 J (vgl. 13,21 J) sowie ~dIyPil; „Fackeln“ V.20,18a RJE als Zusammenfassung der Phänomene ~yqir"b „Blitze“ V.16aα2 E und vae „Feuer“ V.18bα J.30 Die Verbindung !v'[' rWNT; „rauchender Backofen“ Gen 15,17aβ deutet außerdem auf den Vergleich des Berges mit einem rauchenden !v'b.Ki „Schmelzofen“ Ex 19,18 J voraus.31 Dabei dürfte der terminologische Unterschied beabsichtigt sein. rWNT; „Backofen“ ist in Jerusalemer Tradition Sinnbild für Jahwes Überlegenheit über die Feinde (Jes 31,9; Mal 3,19; vgl. auch Ps 21,10).32 Das Bild dient der Intention des Abschnitts: Angesichts der Infragestellung des Landbesitzes in assyrischer Zeit, die Gen 15,11 bildhaft zum Ausdruck bringt, höht der Jehowist die Landverheißung zur berith auf, zu einer einseitigen Selbstverpflichtung Jahwes, die durch Jahwes in Gestalt eines rWNT; „Backofen“ epiphane Macht (V.17bα1) garantiert und durch eine bedingte Selbstverfluchung (9f.17bα2βγ) affirmiert wird.33
.
28
29 30 31 32
33
Zur Einleitung „Nach diesen Ereignissen …“ vgl. Gen 22,1; 39,7; 48,1 E; 22,20 Rdtr; außerdem 40,1 J. Zur nächtlichen Situation der Offenbarung vgl. Gen 20,3.6; 28,12; 31,11.24; 37,5ff.9ff; 40,5ff; 41,1ff; 46,2; Num 22,20 E; ferner Gen 22,3 E; außerdem 31,10 RJE. Zur Aufforderung ar:yTi-la; „Fürchte dich nicht!“ vgl. 35,17 E; im Plural: 50,19.21; Ex 20,20 E; ferner Gen 26,17 RJE. M. OEMING, Art. rWNT' tannûr, ThWAT VIII (1995), 709–714: 712. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 122ff.126ff. Vgl. außerdem hj'l'[] „Finsternis“ Gen 15,17 mit lp,r"[] „Wolkendunkel“ Ex 20,21. H. WILDBERGER, Jesaja (BK X/3), Neukirchen-Vluyn 1982, 1246–1248 (mit altorientalischen Parallelen), aufgenommen von H. Seebass, Genesis II/1 (s. Anm. 16), 74. Zu Mal 3,19 vgl. A. MEINHOLD, Maleachi (BK XII/8), Neukirchen-Vluyn 2006, 382. - Zur Verwurzelung des Jehowisten in spezifisch Jerusalemer Traditionen vgl. Ex 3,15 und W. H. SCHMIDT, Exodus (BK II/1), Neukirchen-Vluyn 1988, 132f z.St. Der Ritus V.9f.17bα2βγ lässt die Wendung tyrb trk, wörtlich: „einen Bund schneiden“, verständlich werden. Zu seinem Verständnis als bedingte Selbstverfluchung vgl. den vordtr Bestand von Jer 34 (V.8*.9–13), besonders V.18*: „Ich mache die Män-
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Damit stellt der Grundbestand von Gen 15 vor die Frage, ob die Bundestheologie tatsächlich erst im Rahmen deuteronomischer Theologie oder nicht doch vordeuteronomisch entstanden ist, nämlich im Rahmen der Sinaiperikope. Hier rückt wie von selbst der Bundesschluss in Ex 24 in den Blick34, ein Text, der im Neuen Testament prominent rezipiert wird, mithin für die urchristliche Theologiebildung grundlegende Bedeutung hatte.35
2. Ex 24 bietet ein Nach- und Ineinander sehr verschiedenartiger Motive: Weitergabe der Willensoffenbarung Gottes und Gehorsamsverpflichtung des Volkes, Blutritus und Bundesschluss sowie visio dei und Mahlgemeinschaft in der unverstellten Gegenwart Gottes. Eine Gliederung sucht zunächst einen Überblick zu geben: 1–2
3–8
9–11
34 35
Einleitung 1 Befehl an Mose, zusammen mit Aaron, Nadab und Abihu sowie 70 Ältesten zu Jahwe hinaufzusteigen (a) und „von ferne“ anzubeten (b) 2 Einschränkung: „Nur Mose soll sich nahen“ (a) und nach 19,12.13a erneute Tabuisierung des Berges für das Volk Blutritus am Fuß des Berges und Bundesschluss 3 Ausführungsbericht zu 20,22: Kundgabe „aller Worte Jahwes“ und „der Gesetze“ durch Mose Selbstverpflichtung des Volkes zum Gehorsam (vgl. 20,19) 4aα Verschriftung der Worte Jahwes 4aβγb Errichtung eines Altars, außerdem von zwölf Malsteinen als Symbol für die zwölf Stämme Israels 5 Darbringung von Opfern für Jahwe 6.8 Blutritus, davon umschlossen: 7 Verlesung „der Bundesurkunde“ mit neuerlicher Selbstverpflichtung des Volkes zum Gehorsam Ausführung der Anweisung V.1a
ner, die meinen Bund übertraten, [...] den sie vor mir schnitten, 'wie' (cj. BHS) das Kalb, das sie in Stücke schnitten und durch dessen Teile sie hindurchtraten [...]’“ (W. THIEL, Die deuteronomistische Redaktion von Jeremia 26–45 [WMANT 52], Neukirchen-Vluyn 1982, 38–43, bes. 41f). Zu vergleichen ist auch der Vertrag zwischen BarGa’yah von KTK und Mati’-Il von Arpad Sfire I A Z. 40 (TUAT I/2, 2005, 181f). Anders H. SEEBASS, Genesis II/1 (s. Anm. 16), 73f, der unter Berufung auf hethitische Texte V.9f.17bα2βγ als apotropäischen Ritus deutet. Zu Ex 34 s. u. Anm. 60. Mk 14,23 par. Mt 26,28 (vgl. 1 Kor 11,25; Lk 22,20), außerdem Hebr 9,1.15.18–22.
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9 10 11a 11b
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Aufstieg Moses mit Aaron, Nadab und Abihu sowie 70 Ältesten Gottesschau (√har „sehen“ – larfy yhla „den Gott Israels“) Feststellung: „Aber gegen die Vornehmen der Israeliten streckte er seine Hand nicht aus“ Gottesschau (√hzx „schauen“ – ~yhlah „Gott / die Gottheit“) und Mahl in der Gegenwart Gottes
Da die Anweisung zum Aufstieg V.1a erst in V.9 ausgeführt wird, zerfällt das Kapitel grob in zwei Erzählzusammenhänge, die Szene auf dem Berg V.9–11 mit visio dei und Mahlfeier der „Vornehmen Israels“ in der Gegenwart Gottes und den Blutritus am Fuß des Berges mit Gesetzesverkündigung, Verpflichtung des Volkes zum Gehorsam und Bundesschluss V.3–8. Da V.3–8 den Zusammenhang zwischen V.1–2.9–11 unterbrechen und anders als die Szene V.9–11, die den Gottesnamen meidet, von Jahwe redet, gehören die Teile kaum seit je zusammen.36 Zudem sind sie in sich kaum einheitlich. In V.1–2.9–11 stimmen Einleitung und Hauptteil in wesentlichen Punkten nicht überein. V.1f sprechen von Jahwe, V.9–11 meidet den " .yI yhel{a/ Gottesnamen und spricht stattdessen vom „Gott Israels“ (laerf / ; V.11). Entgegen dem Befehl V.1b ist von einer V.10) bzw. „Gott“ (~yhil{ah Verehrung Gottes auf dem Berg nicht die Rede. Die Repräsentanten Israels beten nicht „von ferne“ an, sondern feiern nach der Gottesschau auf dem Berg ein Mahl in der unverstellten Gegenwart Gottes. Erst recht weiß die Szene auf dem Berg nichts von der Einschränkung V.2: „Mose soll sich Jahwe allein nahen, aber sie sollen sich nicht nahen“. V.9 deutet zwar mit dem Singular des Prädikats einen Vorrang Moses an und hebt neben Mose Aaron sowie Nadab und Abihu namentlich heraus. Der Kern der Szene gibt aber jede Unterscheidung auf und spricht nur noch von „den Vornehmen der Israeliten“ als Gruppe. Diese Widersprüche zeigen zusammen mit dem Wechsel des Gottesnamens, dass die Einleitung V.1f der Szene auf dem Berg erst nachträglich vorangestellt wurde. V.1f sind nicht nur der Szene auf dem Berg gegenüber sekundär, sondern auch in sich uneinheitlich. Obwohl sich die Anweisung allein an Mose richtet (V.1aα1), geht V.1b zur Anrede an die Gruppe über, während V.2 von Mose zweifach in dritter Person redet, ein Umstand,
36
Anders E. OTTO, Die nachpriesterschriftliche Pentateuchredaktion im Buch Exodus, in: M. VERVENNE (Hg.), Studies in the Book of Exodus. Redaction – Reception – Interpretation (BEThL 126), Leuven 1996, 61–111, 78ff.
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der bereits für die Septuaginta als Anstoß gewirkt hat.37 Dies lässt nur den Schluss zu, dass eine zwar sekundäre, aber ältere Einleitung (V.1a) später noch einmal erweitert wurde (V.1b.2). Innerhalb des Abschnitts V.9–11 fällt auf, dass Mose seinen Vorrang als Anführer der Gruppe beim Aufstieg bereits in V.10 verliert („sie sahen“) und im Kern der Szene V.11 keine eigene Aufgabe mehr hat. Dasselbe gilt für Aaron sowie Nadab und Abihu. Außerdem lässt der Plural „die Vornehmen“ eher an eine Gruppe, die 70 Ältesten, denken als an herausragende Einzelgestalten der Frühzeit. Die Vermutung liegt nahe, dass die namentliche Hervorhebung einzelner in V.9 gegenüber V.11 überlieferungsgeschichtlich sekundär ist, Mose und Aaron sowie Nadab und Abihu erst später in die Szene integriert wurden.38 Ursprünglich wurde das Volk wohl nur von den „70 Ältesten“ vertreten, die in V.11 als „Vornehme der Israeliten“ bezeichnet werden. Dabei dürfte die Erwähnung Aarons sowie Nadabs und Abihus in V.9 sogar literarisch sekundär sein; denn im Unterschied zu Mose haben sie nicht einmal in der Einleitung der Szene V.9 eine Funktion.39 Seit langem ist erkannt, dass die Verlesung der „Bundesurkunde“ V.7 den Blutritus V.6.8 unterbricht, der Abschnitt V.3–8 mithin aus zwei Schichten besteht: dem Ritus und einer jüngeren Bearbeitung, die ihn mit Jahwes Willensoffenbarung verbindet.40 Der Grundbestand wird allerdings verschieden abgegrenzt. So rechnet E. Zenger nur V.4aβγb.5 37
38
39 40
Sie mildert den Anstoß ab, indem sie anstelle der zweiten die dritte Person bietet. Außerdem scheint sie einen Widerspruch zwischen der Anrede V.1b, die Mose mit seiner Begleitung zusammenschließt, und V.2 empfunden zu haben, der ausdrücklich zwischen ihnen unterscheidet. Jedenfalls stellt sie durch den Wechsel von der zweiten zur dritten Person von vornherein klar: Das „von ferne“ gilt nur für den weiteren Personenkreis, nicht für Mose. Vgl. J.W. WEVERS, Notes on the Greek Text of Exodus (SBL.SCSt 30), Atlanta (GA) 1990, 379. Zur Hinzufügung von tw/| kuri,w| am Ende des Verses und der mehrfach vom masoretischen Text abweichenden Wiedergabe des Gottesnamens in der Septuaginta s. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 133 Anm. 506. M. NOTH, Überlieferungsgeschichte des Pentateuch, Darmstadt 21960, 196, vgl. 178.204f; A.H.J. GUNNEWEG, Leviten und Priester. Hauptlinien der Traditionsbildung und Geschichte des israelitisch-jüdischen Kultpersonals (FRLANT 89), Göttingen 1965, 86f. „Namen ohne Funktion soll man nicht trauen.“ L. PERLITT, Bundestheologie (s. Anm. 9), 183. B. BAENTSCH, Exodus (s. Anm. 2), 213–215 u. in seinem Gefolge v.a. Anders D.J. McCARTHY, Treaty (21978, s. Anm. 6) 266; E.W. NICHOLSON, The Covenant Ritual in Exodus xxiv 3–8, VT 32 (1982) 74–86, 77f; DERS., God and His People. Covenant and Theology in the Old Testament, Oxford 1986, 167ff; E. BLUM, Studien zur Komposition des Pentateuch (BZAW 189), Berlin/New York 1990; L. SCHMIDT, Israel und das Gesetz. Ex 19,3b–8 und 24,3–8 als literarischer und theologischer Rahmen für das Bundesbuch, ZAW 113 (2001), 167–185, 171. Dabei gesteht E. Blum immerhin zu, dass 24,3–8 eine „vorgegebene Überlieferung“ darstellt, die von KD teilweise neu geprägt“ wurde, allerdings „ohne dass Spuren einer solchen Bearbeitung im Text dingfest zu machen wären.“ (99) Die ältere Forschung hat hier schärfer gesehen.
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dazu41, während L. Perlitt42 und W. H. Schmidt43 noch V.6 bzw. V.8abα hinzunehmen. Letzteres ist das Nächstliegende, da V.6 und V.8a eng aufeinander bezogen sind, ohne V.8a die Funktion der zweiten Hälfte des Blutes offen bliebe44 und V 8bα als Deutung für den im Alten Testament singulären Ritus kaum verzichtbar ist.45 Darüber hinaus enthält der Abschnitt in V.4aβb ein Zeugma. Mazzeben werden nicht erbaut (hnb), sondern aufgestellt (bych) oder aufgerichtet (~yqh).46 Die zwölf Denksteine als Repräsentanten der zwölf Stämme sind wohl eine spätere Ausgestaltung der Szene, die ihre gesamtisraelitische Bedeutung unterstreicht. Der Zusatz ist allerdings kaum jung (exilisch-nachexilisch), da er in Widerspruch zum dtn Verbot der Errichtung von Masseben 16,22 steht.47 Umstritten ist außerdem das Nebeneinander der verschiedenen Opferarten in V.5, da der Opferterminus ~ymil'v. aus dem Satzbau herauszufallen scheint. Man erwartet 41
42 43
44 45
46 47
Die Sinaitheophanie. Untersuchungen zum jahwistischen und elohistischen Geschichtswerk (FzB 3), Würzburg 1971, 72–76.176; TH.B. DOZEMAN, God on the Mountain. A Study of Redaction, Theology and Canon in Exodus 19–24 (SBL.MS 37), Atlanta 1989, 28. PERLITT, Bundestheologie (s. Anm. 9), 191ff. W.H. SCHMIDT, Exodus, Sinai und Mose (EdF 191), Darmstadt 21990, 87f. So auch B. RENAUD, La théophanie de Sinai Ex 19–24. Exégèse et Théologie (CRB 30), Paris 1991, 75. Vgl. außerdem A. PHILLIPS, A Fresh Look at the Sinai Pericope, VT 34 (1984), 39– 52.282–294, 285. J. JEREMIAS, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung (WMANT 10), Neukirchen-Vluyn 2 1977, 196. Allerdings wird man – gelegentlichen Zweifeln zum Trotz (J. L’HOUR, L’alliance de Sichem, RB 69 (1962), 355–361; E. RUPRECHT, Exodus 24,9–11 als Beispiel lebendiger Erzähltradition aus der Zeit des babylonischen Exils, in: R. ALBERTZ (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments, FS C. Westermann, Göttingen 1980, 138–173, 164ff) – Ritus und Wort überlieferungsgeschichtlich zu unterscheiden haben: V 8bα fasst mit der Vokabel tyrb „Bund“ nachträglich in einen Begriff, was der Ritus anschaulich-symbolhaft zum Ausdruck bringt. – Dass der Ritus eine Übertragung des Ritus der Priesterweihe auf ganz Israel darstellt (so zuletzt L. SCHMIDT, Israel [s. Anm. 40], 170 in Anschluss an E. OTTO, Pentateuchredaktion [s. Anm. 36], 79; E. RUPRECHT [s.o.], 167; E.W. NICHOLSON, Covenant Ritual [s. Anm. 40], 83ff; E. BLUM, Studien [s. Anm. 40], 51f), ist weniger wahrscheinlich; vgl. W. GROß, Zukunft für Israel. Altttestamentliche Bundeskonzepte und die aktuelle Debatte um den Neuen Bund (SBS 176), Stuttgart 1998, 16–19, A. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18); 130 Anm. 494; DERS., „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“. Erwägungen zur Funktion von Ex 19,3b–8 innerhalb der Sinaiperikope, in: DERS. / M. WOLTER (Hg.), Moses in Biblical and Extra-Biblical Traditions (BZAW 372), Berlin/New York 2007, 33–49, 41f; M. KONKEL, Sünde (o. Anm. 19), 272f, der allerdings 24,6–8 „insgesamt als Nachtrag“ einstuft und V.3–5 als hintere Verankerung des Bundesbuches im Erzählzusammenhang bestimmt (261–264). Vgl. Gen 35,14.20; 2Sam 18,18; 2Kön 17,16 bzw. Lev 26,1; Dtn 16,22 und dazu J. GAMBERONI, Art. hb'Cem;, ThWAT IV (1984), 1067f. M. KONKEL, Sünde (s. Anm. 19), 261f. Samaritanus und Septuaginta beseitigen den Widerspruch, indem sie in Anschluss an jüngere, nach-dtn Ausdrucksweise (Jos 4,1– 9.20f; 24,26) hbcm „Malstein(e)“ durch ~ynba „Steine“ ersetzen.
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entweder vor ~ymlv die Kopula (vgl. Jos 22,27) oder eine cstr.Verbindung (~ymlv yxbz; vgl. Ex 29,28; Lev 7,32.34; 10,14; 17,5; Num 10,10; Jos 22,23; 1Sam 10,8; 2Chr 30,22; 2Chr 33,16; Spr 7,14 sowie handschriftliche Zeugen des Samaritanus). Der Masoretische Text ist aber nicht singulär (vgl. 1Sam 11,15) und entgegen gelegentlich geäußertem Bedenken48 nicht zu beanstanden. „~ymlv ist Apposition zu ~yxbz“.49 Ein ausgestaltender Zusatz – möglicherweise mit Rückbezug auf das Altargesetz 20,23–26 (V.24) – bildet dagegen das tatsächlich syntaktisch nicht eingebundene ~yrIP' „Stiere“ am Ende des Verses.50 Muss man außerdem noch einmal innerhalb der Bearbeitungsschicht literarkritisch unterscheiden? Zwei Auffälligkeiten nötigen zu dieser Frage: Schon früh wurde erkannt, dass V.3 einen doppelten Bezug aufweist.51 Die Verbindung „alle Worte Jahwes“ kann sich nicht auf das Bundesbuch beziehen; denn die Wurzel rbd spielt in ihm keine Rolle. Dagegen ist sie für die Einleitung des Dekalogs und seine Überlieferung konstitutiv: hL,aeh' ~yrIb'D>h;-lK' tae ~yhil{a/ rBed:y>w: „Und Gott redete alle diese Worte …“ (20,1; vgl. Ex 34,28; Dtn 4,13; 10,4). Umgekehrt lässt sich der Ausdruck „und alle Rechtssätze“ nicht auf den Dekalog beziehen52, sondern schlägt auf die Überschrift 21,1 zurück: ~yjiP'v.Mih; hL,aew> ~h,ynEp.li ~yfiT' rv,a} „Und dies sind die Rechtssätze, die du ihnen vorlegen sollst“. Dieser doppelte Bezug fällt allerdings bereits in der Selbstverpflichtung des Volkes zum Gehorsam V.3b weg. In der Fortsetzung ist nur noch von den „Worten Jahwes“ die Rede. Daneben fällt auf, dass Gottes Willensoffenbarung zweifach promulgiert wird und sich das Volk zweifach zum Gehorsam verpflichtet. Beide Eigenarten sind verschieden erklärt worden: a) Der Ausdruck „und alle Rechtssätze“ in V.3 ist sekundär, eine Verbindung mit dem Bundesbuch erst nachträglich hergestellt worden.53 b) Die doppelte Promulgation der Willensoffenba48 49
50
51 52 53
W.H. SCHMIDT, Exodus (s. Anm. 43), 88 Anm. 119; vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 132. B. BAENTSCH, Exodus (s. Anm. 2), 215; vgl. B.K. WALTKE / M. O'CONNOR, An Introduction to Biblical Hebrew Syntax, Winnona Lake 1990, 12.3b (Nr. 1); T. SEIDL, Art. ~ymil'v., ThWAT VIII (1995), 101–111, 108 und zuletzt M. KONKEL, Sünde (s. Anm. 19), 262. Die Tendenz zur Ausgestaltung setzt sich in der Textgeschichte fort. So erweitert der Samaritanus die Angabe über die Opfertiere zu der in der Opfergesetzgebung geläufigen Form: rqb ynb ~yrp. Vgl. Num 28,11.19.27; 29,13.17; im sg. Ex 29,1; Lev 4,3.14 u.v.a. B. BAENTSCH, Das Bundesbuch Ex 20,22–23,33, Halle 1892, 29ff.77. So M. KONKEL, Sünde (s. Anm. 19), 262f. BAENTSCH, Exodus (s. Anm. 2), 212f.214; H. HOLZINGER, Einleitung in den Hexateuch, Freiburg i. Br./Leipzig 1893, 247; R. SMEND, Die Erzählung des Hexateuchs. Auf ihre Quellen untersucht, Berlin 1912, 160; M. NOTH, Das 2. Buch Mose. Exodus (ATD 5), Göttingen 61978, 160; E. ZENGER, Sinaitheophanie (s. Anm. 41), 74; E.W. NICHOLSON, God (s. Anm. 40), 165; L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) (BZAW 188), Berlin/New York 1990, 300.413; L. SCHMIDT, Israel (s.
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rung Gottes wie die doppelte Selbstverpflichtung des Volkes – zunächst in V.3b als Antwort auf die mündliche Weitergabe der Worte Jahwes V.3a, dann in V.7b als Antwort auf die Verlesung ihrer Kodifizierung (V.4aα) im Rahmen des Ritus V.7a – legen es nahe, zwischen 24,3 als Ausführungsbericht zu Jahwes Befehl 20,22 und Verankerung des Bundesbuches im hinteren Erzählrahmen sowie V.4aα.7.8bβ als einer weiterführenden Bearbeitung, die Bundesbuch und Bundesschluss zu verbinden sucht, zu differenzieren. Tatsächlich geht V.4aα einen erheblichen Schritt über 20,22 hinaus, indem er erzählt, dass Mose die empfangene Offenbarung nicht nur – 20,22; 21,1 entsprechend – weitergegeben, sondern zusätzlich verschriftet und durch ihre Verlesung im Rahmen des Ritus zur Grundlage des Bundesschlusses gemacht hat.54 In diesem Fall müsste man allerdings die Verbindung „alle Worte Jahwes“ aus V.3a eliminieren.55 Beide Optionen überzeugen nicht. Zum einen: Weder die Verbindung hwhy yrbd-lk ta „alle Worte Jahwes“ noch der durch Kopula angeschlossene Ausdruck ~yjpvmh-lk ta „alle Rechtssätze“ sind in V.3 syntaktisch zu beanstanden. Ein formaler Grund, der dazu nötigt, sie aus V.3 herauszulösen, ist nicht erkennbar. Zum anderen: V.7 ist keine bloße Wiederholung von V.3. Vielmehr ist ein Erzählfortschritt erkennbar, insofern zwischen erste und zweite Kundgabe der Willensoffenbarung Jahwes ihre Verschriftung tritt. Die Auslegung wird zeigen, dass in dem doppelten Bezug in V.3a auf Dekalog und Bundesbuch, dem Wegfall des Bezuges auf das Bundesbuch bereits in der Selbstverpflichtung des Volkes V.3b und der Verlesung der Kodifizierung der Willensoffenbarung Jahwes mit anschließender erneuter Selbstverpflichtung des Volkes im Rahmen des Ritus wesentliche Intentionen der Bearbeitungsschicht zu Tage treten.
54 55
Anm. 40), 171f. Vgl. auch C. LEVIN, Der Jahwist (FRLANT 157), Göttingen 1993, 365f. Ihm zufolge schloss 24,3 (ohne ~yjpvmh-lk taw) ursprünglich unmittelbar an die Kundgabe des Dekalogs an und bildet zusammen mit 19,3a das älteste Stratum. Damit bleibt aber der Wechsel zwischen Elohim 19,3a; 20,1 und Jahwe 24,3 (V.3 LXX ist lectio facilior) und die im gegenwärtigen Zusammenhang isolierte Stellung des Dekalogs unerklärt. Die Mitteilung des Gesetzes ist „sekundär verdoppelt“. R.G. KRATZ, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments (UTB 2157), Göttingen 2000, 143. W. OSWALD, Israel am Gottesberg. Eine Untersuchung zur Literargeschichte der vorderen Sinaiperikope Ex 19–24 und deren historischem Hintergrund (OBO 159), Fribourg/Göttingen 1998, 261f.91–94.119f.115f.
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3. Wie hat man sich die Entstehung des Kapitels vorzustellen? Klimax, Höhepunkt, auf den die Handlung in Ex 24 zuläuft, ist buchstäblich die Szene auf Berg V.9*–11. Sie dürfte das älteste Stratum bilden und aus der elohistischen Darstellung stammen. Diese Zuweisung war allerdings bereits in der älteren Forschung nicht unumstritten. Gegenwärtig gilt V.9–11 als jüngere oder gar junge Ausgestaltung der Sinaiperikope. Darum seien die Hauptgründe für die Zuweisung des Abschnitts an E kurz rekapituliert56: 1) Der Abschnitt meidet wie die elohistische Darstellung insgesamt den Gottesnamen. V.10 setzt an seine Stelle die Prädikation „der Gott Israels“, die im Tetrateuch sonst nur als Apposition zum Gottesnamen begegnet. V.11 gebraucht anstelle des Tetragramms Elohim. 2) Wie der Singular des Prädikats in V.9* anzeigt (l[yw), fällt Mose wieder eine Führungsrolle zu. So wie er das Volk aus dem Lager heraus Gott entgegen an den Fuß des Berges geführt hat (19,17b E), führt er nun die Repräsentanten Israels auf den Berg hinauf. 3) Mit der Mahlfeier in der Gegenwart Gottes auf dem Berg, bei der die „Vornehmen der Israeliten“ das Volk repräsentieren, während Mose nicht mehr namentlich erwähnt wird, kehrt ein Motivzusammenhang wieder, der bereits in 18,12* E begegnet. Dabei führt 24,11 die Szene 18,12* steigernd weiter. Die Mahlfeier findet nicht am Fuße des Berges, sondern auf dem Berg selbst statt. Da Gott sichtbar gegenwärtig ist, entfällt die in 18,12* nötige Opferhandlung. Die Unmittelbarkeit der Gottesbegegnung macht jede kultische Vermittlung überflüssig. 4) Außerdem spiegelt sich in dem Interpretament V.10, das den Überlieferungskern V.11 vorgreifend erläutert, indem es anstelle der aramäischen Wurzel hzx ihr hebräisches Äquivalent har verwendet und die epiphane Gottheit ausdrücklich als larfy yhla „Gott Israels“ identifiziert, ein Hauptanliegen des Elohisten: die Betonung der Transzendenz Gottes in seiner Kondeszendenz: „unter seinen Füßen (war etwas) wie das Gebilde eines Lapislazuli-Ziegels und wie der Himmel selbst an Reinheit (Klarheit)“. Gott wohnt nicht auf Erden, auf dem Berg, sondern im Himmel.57
56 57
GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 133ff.151ff (Lit.!). Vgl. auch die Interpretation der älteren, in Ex 19,3a E rezipierten Vorstellung, dass Gott auf dem Berg ständig gegenwärtig ist, mit Hilfe des Verbs awb in 20,20 E: Der Berg ist nicht Wohnstätte Gottes, sondern nur Ort seiner Epiphanie.
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Tatsächlich fügt sich V.9*–11 vorzüglich in den elohistischen Faden ein. Nachdem das Volk auf Gottes Furcht gebietende Epiphanie (19,16aα2b.17.19) in angemessener Weise reagiert hat, indem es Gottes Transzendenz in seiner Kondeszendenz anerkannt (20,18b) und so – Paradox der Gnade: durch Gott selbst bewirkt – die Prüfung bestanden hat (V.20a), die auf ein posse non peccare abzielt (V.20b), gewährt der königliche Gott 70 Ältesten als Repräsentanten des Volkes eine Audienz in seiner unverstellten Gegenwart und besiegelt damit in unüberbietbarer Weise seinen unbedingten Willen zu der in Herausführung und Errettung begründeten Gemeinschaft.58 V.1a, der als invertierter Verbalsatz formuliert ist, greift auf die kaum zufällig nur fragmentarisch erhaltene, weil der jahwistischen Darstellung diamentral widersprechende Anweisung an Mose zur Vorbereitung auf die Theophanie 19,3a.13b E zurück und dient der Einbindung von 24,9*–11 in die jahwistische Darstellung. Der Halbvers dürfte darum von RJE stammen. V.1b.2 knüpfen dagegen an die Tabuisierung des Berges 19,12.13a J an und tragen auf der Linie von 20,19.21, die der Einfügung und Verankerung des Bundesbuches im Erzählzusammenhang dienen59, das Konzept der exklusiven Mittlerschaft Moses ein und entwerfen damit geradezu eine Gegengeschichte zu V.9–11: Selbst Aaron, der in der nachgeholten Anweisung an Mose 19,21–24 (RJE?) ausdrücklich auf den Berg befohlen wurde, wird nun wieder aus der Gegenwart Gottes ausgeschlossen.60 Von welcher Hand stammt die Einschaltung 24,4aβγ.5ab*.6.8abα? Sprache wie Hauptzüge der Handlung – Altarbau (V.4), Opferdarbringung (V.5) und Blutritus (V.6.8) – schließen es aus, dass die Szene erst dtr oder gar nachpriesterschriftlich ist. Handelt es sich um eine jehowistische Schöpfung? Die Unsicherheit der älteren Forschung in der Zuweisung des Abschnitts an J oder E61 legt diese Vermutung nahe: Wie der Grundbestand von Gen 15 bieten 4aβγ.5*.6.8abα eine für jeho58 59 60
61
Zur komplexen Komposition der elohistischen Gottesbergperikope und ihren vielfältigen Intentionen vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 144ff. Vgl. GRAUPNER, Elohist (s. Anm. 18), 126ff. Das Konzept der exklusiven Mittlerschaft bestimmt auch den zweiten Bundesschluss innerhalb der Sinaiperikope, Ex 34. Der Bund wird nicht mehr mit Israel geschlossen – V.27fin dürfte Zusatz sein –, sondern nur dg
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wistische Texte typische Mischung aus Eigenarten der jahwistischen wie elohistischen Darstellung. Jahwistisch ist der Gebrauch des Gottesnamens; aus E stammen die Situierung der Szene und das Motiv der Opferdarbringung am Fuße des Berges (18,12; 19,17b). Der Begriff „Bund“ als Deutung des Ritus weist auf Gen 15* zurück. Das jüngste Stratum des Textes bildet die Bearbeitung 24,3.4aα.7.8bβ, die mit der Abfolge „alle Worte Jahwes“ und „alle Rechtssätze“ in V.3 bereits die erst spät erfolgte Vorschaltung des Dekalogs vor das Bundesbuch voraussetzt. Dass die Bearbeitung jünger ist als Ex 20,19.21, die der Einschaltung des Bundesbuches dienen, zeigt sich auch im Detail: Die Sprache der Bearbeiter erinnert zwar an dtn/dtr Diktion. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, dass exakte Parallelen fehlen. Insbesondere die Verwendung des pi. von rps als Terminus für die Offenbarung des Willens JHWHs ist untypisch für dtr Kreise. 24,7b nimmt die Selbstverpflichtung des Volkes 20,19a auf und präzisiert sie bereits durch die ungewöhnliche Abfolge der Verben hf[ und [mv: „Hören“ heißt „Gehorchen“.62 Als V.3.4aα.7.8bβ hinzukamen, war die Einfügung des Bundesbuches längst vollzogen. Ob dies auch für 24,1a RJE gilt, kann und muss hier auf sich beruhen bleiben.63
4. Trifft diese Skizze der Genese von Ex 24,1–11 zu, liegt der Ursprung der Bundestheologie nicht im Deuteronomium, sondern in der Sinaiperikope. Konzeption und Intention der sinaitischen Bundestheologie liegen am Tage: Der Begriff „Bund“ qualifiziert die im Blutritus zur Darstellung kommende Gemeinschaft von Gott und Volk64 als einseitige, kultisch gestiftete, mithin unverbrüchliche Selbstverpflichtung JHWHs zugunsten Israels. Damit dürfte der Jehowist wie in Gen 15* affirmativ auf die Erschütterungen reagieren, die Erfüllung der prophetischen 62
63
64
Der Samaritanus, der Codex Ambrosianus und die Peschitta verderben diese Pointe, indem sie die Abfolge der Verben umkehren. Vgl. auch 4QpaleoExodm Col. XXVI Z. 29 (DJD 9, 108 mit Anm. zu Z. 29 auf S. 109). Die Vulgata hat sie verstanden: et erimus oboedientes. Vgl. aber auch M. KONKEL, Sünde (s. Anm. 19), 272.290–293, der das [m'v.nIw> „als Blankoverpflichtung auf alle zukünftigen JHWH-Worte“ (291) deutet. Im gegenwärtigen Zusammenhang setzt der Halbvers „das explizite Subjekt der Redeeinleitung des Bundesbuches von 20,22aα – nämlich JHWH – voraus“ (L. SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Bundesbuch [s. Anm. 53], 35). Ein Anschluss an 20,20 ist aber auch möglich. Die 3. Pers. m. sg. würde dann auf ~yhil{a/h' „Gott“ zurückweisen. Zu dieser Bedeutung des Ritus vgl. W.H. SCHMIDT, Wort und Ritus. Beispiele aus dem Alten Testament, PTh 74 (1985), 68–83.
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Unheilsansage (Am 8,2; Hos 1,9; Jes 9,7ff; Mi 1,6) in der nationalen Katastrophe von 722 v.Chr., dem Untergang des Nordreiches, ausgelöst hatte. Dabei ist wie in den dem Jehowisten vorgegebenen Darstellungen von einer Verpflichtung des Volkes auf Gottes Willenskundgabe noch nicht die Rede. Erst die späte, bereits die Einschaltung des Dekalogs voraussetzende Bearbeitung 24,3.4aα.7.8bβ stellt eine Beziehung zum Bundesbuch her, führt Gottes Willenskundgabe und Bundesschluss zusammen. Zur Selbstverpflichtung Jahwes tritt die Verpflichtung des Volkes. Aus dem Nacheinander von Willensoffenbarung (20,1–17.22ff) und Bundesschluss wird ein Ineinander, Gottes Willenskundgabe zur Grundlage des Bundes (V.8bβ). Dass der Bestand des Bundes vom Gehorsam des Volkes abhängig ist, wird aber noch nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – gesagt. Dies geschieht erst in der noch jüngeren Vorschaltung 19,3b–8, die Bund und Gehorsam gegen Gottes Willensoffenbarung identifiziert: Auf Jahwes Stimme hören (lqb [mv 24,7; 19,5aα) heißt seinen Bund bewahren (tyrb-ta rmv V.5aβ).65 Erst auf dieser Redaktionsstufe wird tyrb „Bund“ zum Inbegriff der unbedingten Inanspruchnahme Israels durch den Gotteswillen.66 Darüber hinaus sucht die Bearbeitung in der durch die Grundschicht eröffneten bundestheologischen Perspektive auf der Linie von Dtn 5 zwischen den „Worten Jahwes“ und den „Rechtssätzen“, zwischen Dekalog und Bundesbuch, zu differenzieren und ihr Verhältnis zu bestimmen. Mose gibt zwar beides weiter, „alle Worte Jahwes“ (V.3aα), d.h. den Dekalog, und „alle Rechtssätze“ (V.3aβ), d.h. das Bundesbuch, verschriftet aber nur „die Worte Jahwes“ (V.4aα), den Dekalog. Entsprechend werden nur die „Worte Jahwes“, der Dekalog, als tyrbh rps, als „Bundesurkunde“, im Rahmen des Bundesschlussrituals verlesen (V.7a). Nur sie bilden die Grundlage des Bundes (V.8bβ).67 In dieser Perspektive erscheinen „die Rechtssätze“, das Bundesbuch analog den ~yjiP'v.mi und ~yQIxu, den „Satzungen und Rechtssätzen“, die das Corpus des Deuteronomium bilden (Dtn 12,1), als Ausführungsbestimmungen zum Dekalog, die mit der Verpflichtung auf den Dekalog 65
66
67
19,3b–8 und 24,7 gehören darum kaum derselben Redaktionsschicht an. So L. SCHMIDT, Israel und das Gesetz. Ex 19,3b–8 und 24,3–8 als literarischer und theologischer Rahmen für das Bundesbuch, ZAW 113 (2001), 167–185; M. KONKEL, Sünde (s. Anm. 19), 272. A. GRAUPNER, „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“. Erwägungen zur Funktion von Ex 19,3b–8 innerhalb der Sinaiperikope, in: DERS. / M. WOLTER (Hg.), Moses in Biblical and Extra-Biblical Traditions (BZAW 372), Berlin/New York 2007, 33–49. Auf derselben Linie liegt die Identifikation der tyrIB.h; yrEb.DI „der Worte des Bundes“ Ex 34,28bα – dem Zusammenhang nach: des Privilegrechts V 14*.17–23.25f – mit den ~yrIb'D>h; tr
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gleichsam mit anerkannt werden (Ex 24,3b). Dabei knüpft die Bearbeitung an die ihr vorgegebenen Kompositionen der Sinaiperikope wie des Deuteronomium an, insofern beide den Dekalog der jeweils folgenden Rechtssammlung, dem Bundesbuch bzw. dem dtn Gesetz, nicht nur vor-, sondern auch überordnen, und zwar durch den Modus seiner Kundgabe. Im Unterschied zum Bundesbuch bzw. zum Corpus des Dtn ist der Dekalog unmittelbare Willensoffenbarung Gottes an Israel.68 Allerdings ist die Bearbeitung durch ihre Vorgaben in Ex 24 gezwungen eben jenes Unterscheidungsmerkmal aufzugeben. Auch der Dekalog wird durch Mose vermittelt. Sie kann dies aber ohne Bedenken tun, da in Intention und Aussage kein Unterschied entsteht. Der Vorrang des Dekalogs bleibt gewahrt, ja wird unterstrichen. Erst ein noch späterer Glossator hat darin ein Problem gesehen und die Vorstellung, dass auch der Dekalog durch Mose vermittelt wurde (V.3), in Dtn 5 interpoliert (V.5)69 und damit in der antik-jüdischen und mittelalterlichen Rezeption für Verwirrung hinsichtlich des Modus der Dekalogkundgabe gesorgt.70
5. Das Neue Testament rezipiert – dies darf, soweit Vf. sieht, in der neutestamentlichen Wissenschaft als Konsens gelten – Ex 24,8 in der markinischen und von ihr abhängigen matthäischen Gestalt des Kelchwortes: „Dies ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird“ (Mk 14,24), wobei Matthäus hinzufügt: „zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28).71 Die Aufnahme spiegelt das spannungsvolle, Kontinuität wie Diskontinuität umfassende Verhältnis beider Testamente wider. Die Abendmahlsparadosis greift aufgrund bestimmter Evidenz stiftender
68 69 70
71
Vgl. W.H. SCHMIDT / H. DELKURT / A. GRAUPNER, Die zehn Gebote im Rahmen alttestamentlicher Ethik (EdF 281), Darmstadt 1993, 25. Dass Dtn 5,5 ein Zusatz ist, wurde bereits von A. DILLMANN (Die Bücher Numeri, Deuteronomium und Josua [KeH 13], Leipzig 21886, 266) erkannt und in der Folge nahezu unisono vertreten. Vgl. dazu M. KONKEL, Was hörte Israel am Sinai? Methodische Anmerkungen zur Kontextanalyse des Dekalogs (QD 212), Freiburg 2005, 11–42. – Dtn 5,5 versucht allerdings nicht nur, Sinaiperikope und Horebtheophanie auf der Vorstellungsebene zu synchronisieren, sondern verfolgt auch theologische Intentionen. Vgl. dazu A. GRAUPNER, Vom Sinai zum Horeb oder vom Horeb zum Sinai? Zur Intention der Doppelüberlieferung des Dekalogs: Verbindungslinien, FS W.H. Schmidt, Neukirchen-Vluyn 2000, 85–101, 86 Anm. 4, und U. RÜTERSWÖRDEN, Das Buch Deuteronomium (NSKAT 4), Stuttgart 2006, 47. J. BECKER, Das Herrenmahl im Urchristentum, MdKI 1/2002, 3–11, 6.
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Kongruenzen72 auf den Bundesschluss Ex 24 als Modell zurück, um das Christusereignis zu deuten. Die Vorgabe wird dabei aber tiefgreifend verändert: 1) An die Stelle des Opferbluts (Ex 24,5.6.8abα) tritt das Blut des Gekreuzigten. Damit wird die diaqh,kh radikal aus der Bindung an den Opferkult gelöst.73 An die Stelle des Opferkultes tritt die Vergegenwärtigung des Todes Jesu in der Mahlgemeinschaft, dessen soteriologische Bedeutung Matthäus – singulär in der Abendmahlsüberlieferung, aber wirkmächtig – hervorhebt: „zur Vergebung der Sünden“. 2) Aus der Beziehung der diaqh,kh auf Jesu Kreuzestod folgt weiterhin: Sie ist nicht mehr auf Israel beschränkt, wird vielmehr geöffnet: Jesu Blut ist „für viele vergossen“.74 Dabei ist die Frage, ob „viele“ ein Semitismus ist und „alle“ bedeutet (vgl. 1Kor 10,17a) oder wörtlich zu nehmen ist, eine theologische Vexierfrage: Gerufen sind alle, jedoch: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“ (2Thess 3,2). 3) Vor allem: Indem das Kelchwort die diaqh,kh auf Jesu Kreuzestod bezieht, löst es den Bund wieder aus der Verbindung mit Gottes Willensoffenbarung Ex 24,3.4aα.7.8bβ, die – paulinisch gesprochen – „zwischeneingekommen ist“ (Röm 5,20) und die Ex 19,5 mit der Ineinssetzung von Gehorsam und Bund gesetzlich zuspitzt, und gewinnt so die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs tyrb zurück: diaqh,kh wird wieder zum Inbegriff der einseitig gestifteten und bedingungslosen Gottesgemeinschaft, nun aber in universalem Horizont. Dieser Bund ist tatsächlich eine kainh. diaqh,kh (1Kor 11,25; vgl. Lk 22,20). Nach üblicher Auffassung greift die paulinisch-lukanische Fassung des Kelchwortes allerdings nicht auf Ex 24,8, sondern auf Jer 31(38 LXX),31–34 zurück.75 Ist diese Entgegensetzung einer markinisch72 73 74 75
P. LAMPE, Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 130–141, bes. 132–134. Zu diesem kultkritischen Aspekt des Kelchwortes vgl. G. THEIßEN / A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 380ff. Ob das Abendmahl als „Ersatzritual für den Opferkult“ (384) richtig erfasst ist, erscheint mir allerdings zweifelhaft. Vgl. W. SCHMITHALS, Das Evangelium nach Markus (ÖTK 2/2), Gütersloh 1979, 616f. M. THEOBALD, Paschamahl und Eucharistiefeier. Zur heilsgeschichtlichen Relevanz der Abendmahlsszenerie bei Lukas (Lk 22,14–38), in: DERS. / R. HOPPE (Hg.), „Für alle Zeiten zur Erinnerung“. Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur (SBS 209), Stuttgart 2006, 133–180, 172; J. SCHRÖTER, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart (SBS 210), Stuttgart 2006, 126; E. TÖNGES, Die Tradition des (Neuen) Bundes in den Abendmahlsüberlieferungen und in der Schrift an die Hebräischen Gemeinden, in: J. HARTENSTEIN / S. PETERSEN / A. STANDHARTINGER (Hg.), „Eine gewöhnliche und harmlose Speise“?, Gütersloh 2008, 200–221, 201– 209.210–212.
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matthäischen und einer paulinisch-lukanischen Tradition hinsichtlich ihres alttestamentlichen Bezugs aber sinnvoll?76 „Weder steht bei Jeremia etwas von Blut, noch haben spezifische Elemente aus Jer 31(38),31–34 Spuren im Becherwort hinterlassen. – Demgegenüber ist von einem durch ‚Blut’ geschlossenen ‚Bund’ in Ex 24,8 die Rede, auf welchen Text die mk-mt Fassung des Becherwortes unzweideutig Bezug nimmt. Es empfiehlt sich darum, die bei der Interpretation des pln-lk Becherwortes häufig konstruierte Antithese gegenüber dieser Überlieferung zugunsten einer flexibleren Zuordnung aufzugeben.“77
Jedenfalls: Die paulinisch-lukanische Fassung des Kelchwortes enthält mit der Kennzeichnung der diaqh,kh als kainh. diaqh,kh neben dem Rückbezug auf Ex 24,8 („Bund – Blut“) ein weiteres Interpretament, dass sie gegenüber der markinisch-matthäischen Fassung als reflektierter, mithin jünger erscheinen lässt. Dabei liegt der Gedanke an den „neuen Bund“ Jer 31,31–34 allerdings nicht fern (2Kor 3,6; vgl. Hebr 8,7–13; 10,15–18). Muss sich die christliche Gemeinde aber nicht eingestehen: Das, was Jer 31,31–34 verheißt, die Einmütigkeit von Gott und Mensch (V.33) und die Unmittelbarkeit der Gotteserkenntnis aller (V.34), ist (noch) nicht Wirklichkeit? „Erfüllung“ bedeutet offenkundig nicht, dass wir keine Hoffnung mehr nötig hätten. Das Alte Testament enthält „auch für den christlichen Glauben noch uneingelöste … Verheißung. Darum blickt er nicht nur auf das Alte Testament zurück, sondern auch mit ihm gemeinsam voraus.“78 Ihr Unterpfand hat diese Verheißung im Deus präsens, christlich gesprochen: im Gekommenen; „denn für alle Verheißungen Gottes ist in ihm das Ja“ (2Kor 1,20; vgl. Röm 15,8). Diese Hoffnung schließt, folgt man dem Apostel Paulus, Israel ein (Röm 11,25–27).
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Damit ist natürlich nicht der Umstand gemeint, dass Lukas auch die markinische Fassung des Kelchwortes kennt, wie seine Fortsetzung Lk 22,20c zeigt („das für euch vergossen wird“), die in der paulinischen Version fehlt. M. WOLTER, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 706. W.H. SCHMIDT, Die Verheißung des Neuen Bundes. Jeremia 31,31–34: Kirche und Israel (Didaskalia 34), Kassel 1989, 27–44: 39f.
Jesaja 53 LXX im frühen Christentum – eine Überprüfung Wolfgang Kraus Jes 531 spielt in der Diskussion, wie es zum soteriologischen Verständnis des Todes Jesu kam, eine hervorgehobene Rolle. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die im MT belegte Vorstellung von der stellvertretenden Lebenshingabe des Gottesknechtes. Dass diese Vorstellung im MT belegt ist, dass es sich dabei um eine Spitzenaussage der alttestamentlichen Tradition handelt,2 und dass die Vorstellung der Stellvertretung auch beim Verständnis des Todes Jesu eine Rolle spielt, sollte nicht strittig sein. Die Frage stellt sich jedoch, wie gerade Jes 53 auf die frühe neutestamentliche Traditionsbildung eingewirkt hat. Die Antwort auf diese Frage ist nach wie vor umstritten. In einer Predigtmeditation in den GPM zum Karfreitag 2008 schreibt Birgit Weyel unter Aufnahme einer Überlegung von Bernd Janowski: „Das Christusgeschehen wurde bereits in neutestamentlicher Zeit, wie Apg 8 illustriert, ‚immer wieder im Licht der Ebed JHWHLieder, insbesondere von Jes 53, gedeutet’.“3 In dieser allgemeinen Form wird man B. Weyel zustimmen können und müssen. Doch wenn man genauer nachfragt, wie denn diese Deutung von Jes 53 her näherhin aussah, dann ist die Diskussion nach wie vor offen. 1
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Wenn im Folgenden von Jes 53 die Rede ist, dann ist damit in der Regel das vierte Gottesknechtslied gemeint, das genau den Abschnitt Jes 52,13-53,12 umfasst. Die Literatur zu Jes 53 ist nahezu unübersehbar. Wertvolle Literaturhinweise zu Jes 53 LXX verdanke ich Arie van der Kooij, Leiden. Da es im Folgenden um eine These geht, die zur Diskussion gestellt werden soll, verzichte ich darauf, die Literatur in extenso aufzuführen. Zur Interpretation von Jes 53 MT s. H.-J. HERMISSON, Das vierte Gottesknechtslied im deuterojesajanischen Kontext, in: B. JANOWSKI / P. STUHLMACHER (Hg.), Der leidende Gottesknecht. Jesaja 53 und seine Wirkungsgeschichte mit einer Bibliographie zu Jes 53 (FAT 14), Tübingen 1996, 1-25; daneben den Beitrag von Bernd JANOWSKI, Er trug unsere Sünden. Jes 53 und die Dramatik der Stellvertretung, in: JANOWSKI / STUHLMACHER (Hg.), Gottesknecht, 27-48; weiterhin ERNST HAAG, Stellvertretung und Sühne nach Jes 53, TThZ 105 (1996), 1-20; B. JANOWSKI, Ecce homo. Stellvertretung und Lebenshingabe als Themen Biblischer Theologie (BThSt 84), NeukirchenVluyn 2007, 53-58; A. SCHENKER, Knecht und Lamm (Jesaja 53). Übernahme von Schuld im Horizont der Gottesknechtlieder (SBS 190), Stuttgart 2001. B. WEYEL, Das verzauberte Leben (Jes [52,13-15] 53,1-12 – 21.3.2008 – Karfreitag), GPM 62 (2008), 182-187: 183.
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Wolfgang Kraus
Die Minimalposition kommt etwa in der Zusammenfassung bei Herbert Haag zum Ausdruck, wenn er schreibt: „die Anwendung der G(ottes)K(necht)-Vorstellung auf Jesus [ist] das Werk der jungen Kirche mit sehr begrenzter Reichweite“.4 Die Maximalposition formuliert etwa Peter Stuhlmacher: „Die in Röm 4,25; 1Kor 15,3b-5; 1Petr 2,22-25; Heb 9,28 u. ö. hervortretende christologische Deutung von Jes 53 war nicht erst und nur eine Frucht nachösterlicher Glaubenserkenntnis, sondern ihre Wurzeln liegen bereits in Jesu eigenem Verständnis seiner Sendung und seines Todes. Er selbst hat die bereits frühjüdisch nachweisbare messianische Deutung von Jes 53 aufgenommen und seinen Leidensweg – gegenüber der Tradition ganz eigenständig! – im Lichte des Gotteswortes verstanden, das ihm in Jes 43,3-4 und Jes 53,11-12 vorgegeben war.“5 Im Urchristentum wurde dann Jesu Weg vom Geschick des Gottesknechtes als Gesamttext her „transparent“.6 Aus den Abendmahlsworten, deren älteste Form Stuhlmacher in Mk 14,22.24 findet, gehe hervor, dass Jesus selbst im Kelchwort in Aufnahme von Ex 24,8 und Jes 53,10-12 seine Lebenshingabe als „Schuldtilgung“ (~va) verstanden habe.7 Ich will im Folgenden keine neue These zur Entstehung der soteriologischen bzw. sühnetheologischen Deutung des Todes Jesu vorlegen.8 Ich frage vielmehr nach Spuren von Jes 53 im Neuen Testament und dabei besonders: was lässt sich aus Zitationen von Jes 53 im Neuen Testament schließen? Am Anfang steht eine doppelte schlichte Bobachtung, aus der ich dann eine methodische Folgerung ziehe. Es finden sich im Neuen Testament sieben (bzw. acht, wenn man 1Petr 2 doppelt zählt) explizite Zitate von Jes 53.9 Die folgende Tabelle nennt die Verse aus Jes 52,13-53,12, die neutestamentlichen Belege und die inhaltlichen Kontexte innerhalb derer zitiert wird. 4 5 6 7 8
9
H. HAAG, Der Gottesknecht bei Deuterojesaja (EdF 233), Darmstadt 1985, 78. P. STUHLMACHER, Jes 53 in den Evangelien und in der Apostelgeschichte, in: JANOWSKI / STUHLMACHER (Hg.), Gottesknecht, 93-105: 94. STUHLMACHER, Jes 53, 94. STUHLMACHER, Jes 53, 97. Ich frage auch nicht danach, ob das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der Kategorien von Stellvertretung und Sühne angemessen und sinnvoll ist. Dazu habe ich mich mehrfach geäußert, vgl. zuletzt W. KRAUS, Der Erweis der Gerechtigkeit Gottes im Tode Jesu nach Röm 3,24-26, in: L. DOERING / H.-G. WAUBKE / F. WILK (Hg.), Judaistik und Neutestamentliche Wissenschaft (FRLANT 226), Göttingen 2008, 192-218. Anmerkungsweise möchte ich jedoch betonen, dass ich die grundsätzliche Kritik an der Sühnevorstellung, wie sie vielfach geäußert wird, jüngst wieder von K.-P. JÖRNS, Lebensgaben Gottes feiern. Abschied vom Sühnopfermahl: eine neue Liturgie, Gütersloh 2007, für fragwürdig halte. Weitere Belege werden in dem Beitrag von P. STUHLMACHER genannt. Es handelt sich jedoch nicht um explizite Zitate.
Jesaja 53 LXX
151
Jesaja
NT
Inhalte / Kontext
52,15 LXX
Röm 15,21
Mission, Apostolat
53,1 LXX
Joh 12,38
Unglaube Israels, im Kontext Jes 6,9f
53,1 LXX
Röm 10,16
Mission, Unglaube Israels
53,4 MT
Mt 8,17
Heilungstätigkeit Jesu
53,4.5.6.9.11.12 LXX
1Petr 2,22.24f
Christolog. Bekenntnis in ethischem Kontext
53,7f LXX
Apg 8,32f
Christolog. Kontext – bezogen auf das Leiden
53,12a LXX
Lk 22,37
Christolog .Kontext- bezogen auf die Kreuzigung
In Apk 14,5 liegt wohl kein Zitat aus Jes 53,9, sondern aus Zeph 3,13 vor (vgl. den Plural auvtw/n).10 Die Stelle Mk 15,28 ist textkritisch sekundär, vermutlich ist sie eingedrungen aus Lk 22,37.11 Zwei Sachverhalte sind an dieser Aufstellung auffällig: 1) An keiner Stelle findet sich als Aussage des Zitattextes selbst die Vorstellung, dass der Knecht / Jesus sein Leben stellvertretend für andere hingegeben habe. 2) Bis auf Mt 8,17 wird jeweils die LXX und nicht der MT zitiert.12 Aber auch in Mt 8,17 geht es nicht um Stellvertretung, sondern um Jesu Heilungstätigkeit, die mit einem Zitat aus Jes 53,4 beschrieben wird. Letztere Beobachtung, dass bis auf diesen einen Fall stets die LXX zitiert wird, muss m.E. zu der methodischen Folgerung führen, dass vor 10 11 12
H.W. WOLFF, Jesaja 53 im Urchristentum, 41984, 105; STUHLMACHER, Jes 53, 103 Fn. 36. S. neben dem Apparat bei Nestle-Aland27 B.M. METZGER, A Textual Commentary on the Greek New Testament, London/New York 1971, 119. Nachweise s.u.
152
Wolfgang Kraus
der Frage, wie Jes 53 auf die neutestamentliche Traditionsbildung eingewirkt hat, eine Analyse des LXX-Textes von Jes 53 als solchem zu stehen hat. Der Text der LXX muss erst für sich wahrgenommen werden, und seine Aussage darf nicht vom MT her determiniert oder mit dem MT vermischt werden. Dies ist eine Einsicht, die sich auch aus dem übrigen Studium der LXX nahe legt – und zwar m.E. unabweisbar. Die LXX ist in der Tat größtenteils eine Übersetzung hebräischer oder aramäischer Texte. Aber sie muss, soll sie nicht nur als Steinbruch zur Verifikation unsicherer hebräischer Lesarten dienen, zunächst als Text für sich betrachtet werden – und zwar Buch für Buch. Marguerite Harl, die Initiatorin und Promotorin des französischen Übersetzungsprojektes ‚La Bible d’Alexandrie’ sprach davon, die LXX sei im Prozess der Rezeption in der Alten Kirche „un oeuvre autonom, détachée de son modèle.“ geworden.13 Nun ist genau zu beachten, in welchem Sinn der Teil der Aussage, „détachée de son modèle“ gilt. Wenn damit die Beziehung zur semitischen Vorlage bestritten werden sollte, dann müsste widersprochen werden. Bezieht es sich aber auf die Verstehbarkeit der Übersetzung ohne ihre semitische Vorlage, dann liegen die Dinge anders. Und das meint wohl der erste Teil der Aussage M. Harls, die LXX sei „un oeuvre autonom“, ein eigenständiges, ein auf sich stehendes Werk, das als griechischer Text unsere Aufmerksamkeit verdient.14 Denn es war ja doch vermutlich für Menschen gedacht, die Griechisch und (vielleicht eingeschränkt oder überhaupt) nicht Hebräisch sprachen, und wurde von Anfang an von solchen Menschen benutzt. Nur wenn die Aussage eines LXX-Textes für sich festgestellt wurde, kann der Vergleich mit dem MT oder der angenommenen hebräischen / aramäischen Vorlage erfolgen. Nicht jedoch darf der LXX-Text grundsätzlich vom MT her gelesen oder sein Verständnis durch den MT präjudiziert oder bei Unsicherheiten durch ihn normiert werden.15 13
14
15
M. HARL, Traduire la Septante en Français: Pourquoi et Comment?, in: DIES., La Langue de Japhet: Quinze Études sur la Septante et le Grec des Chrétiens, Paris 1992, 33–42: 36. An anderer Stelle nennt M. Harl die LXX ein „œuvre littéraire au sens plein du terme“ (33). Zur Diskussion s. W. KRAUS, Hebräische Wahrheit und Griechische Übersetzung. Überlegungen zum Übersetzungsprojekt Septuaginta-deutsch (LXX.D), ThLZ 129 (2004), 989-1007; DERS., Contemporary Translations of the Septuagint: Problems and Perspectives, in: W. KRAUS / R.G. WOODEN (Hg.), Contemporary Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures (SBL.SCSt 53), Atlanta/Leiden 2006, 63-84. Die im Aristeasbrief erstmals bezeugte Legende zur Entstehung der Septuaginta (hier ist nur der Pentateuch gemeint), wirbt für die Genauigkeit der Übersetzung aus der hebräischen Vorlage. Dazu habe Demetrius, der Bibliothekar von Ptolemaios II, extra Handschriften und Gelehrte, die am Schluss ihre Übersetzungen verglichen haben, aus Jerusalem heranbringen lassen. Indirekt ist diese Legende ein Zeugnis für
Jesaja 53 LXX
153
Hinter dieser Feststellung steht natürlich ein bestimmtes Verständnis der LXX, das in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten ist. In der programmatischen Einleitung der neuen englischen Übersetzung der LXX „A New English Translation of the Septuagint and Other Greek Translations Traditionally Included under that Title (NETS)“16 wird vorausgesetzt, die LXX sei ursprünglich gemeint als „a Greek translation which aimed at bringing the Greek reader to the Hebrew original rather than bringing the Hebrew original to the Greek reader. Consequently, the Greek’s subservience to the Hebrew may be seen as indicative of its aim.”17 Dies führt dazu, dass das Modell einer ‚Interlinearübersetzung’ der hebräischen Vorlage herangezogen wird: “[F]or the vast majority of books the linguistic relationship of the Greek to its Semitic parent can best be conceptualized as a Greek interlinear translation of a Hebrew original within a Hebrew-Greek diglot.”18 Wobei beide Begriffe “interlinear” und “diglot” als Metaphern verstanden werden sollen. Im Projekt Septuaginta Deutsch (LXX.D)19 sind wir aufgrund der Analysen des griechischen Textes zu der Überzeugung gekommen,
16 17
18 19
die Eigenständigkeit der Übersetzung und die mancherlei Differenzen zur hebräischen Vorlage. Zur LXX-Legende von Aristeas bis Augustin vgl. die geraffte Zusammenfassung in: W. KRAUS / M. KARRER (Hg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, 1503-1507. A. PIETERSMA und B. WRIGHT (Hg.), A New English Translation of the Septuagint and Other Greek Translations Traditionally Included under that Title, Cambridge/New York 2007. To the reader of NETS, a.a.O., XIV. Der erste Teil der Aussage ist einem Aufsatz von S. BROCK entnommen (The Phenomenon of the Septuagint, OTS 17 [1972], 11-36: 17), der dieses Statement jedoch abgibt um die psychologische Haltung zum Ausdruck zu bringen, die unterschiedlichen Übersetzungsmodellen zugrunde liegt: „The psychological reasoning underlying the difference between these two types of translation [scil. free and literal] is obvious; the free translation aims at bringing the original to the reader, while the literal one the reader to the original.” Von einer “subservience” des Griechischen liest man bei Brock allerdings nichts. To the reader of NETS, a.a.O., XIV. Im Zuge des Projektes LXX.D sind folgende Aufsatzbände erschienen: H.-J. FABRY / U. OFFERHAUS (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel (BWANT 153), Stuttgart u.a. 2001; S. KREUZER / J.P. LESCH (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, Band 2 (BWANT 161), Stuttgart u.a. 2004; W. KRAUS / R.G. WOODEN (Hg.), Septuagint Research. Issues and Challenges in the Study of the Greek Jewish Scriptures (SBL.SCSt 53), Atlanta/Leiden 2006; H.-J. FABRY / D. BÖHLER (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Band 3: Studien zur Theologie, Anthropologie, Eschatologie und Liturgie der Griechischen Bibel (BWANT 174), Stuttgart u.a. 2007; M. KARRER / W. KRAUS (Hg.), Die Septuaginta – Texte, Kontexte, Lebenswelten (WUNT 219), Tübingen 2008; W. KRAUS / O. MUNNICH (Hg.), La Septante en Allemagne et en France: Septuaginta Deutsch et La Bible d’Alexandrie (OBO 263), Fribourg/Göttingen 2009). Die Septuaginta – Texte, Theologien und Einflüsse, hg. von M. KARRER und W. KRAUS unter Mitarbeit von M. MEISER (WUNT), Tübingen (in Vorbereitung). Neben dem Übersetzungsband LXX.D erscheint ein Erläuterungs-
154
Wolfgang Kraus
dass es (1) keine „overall-theory“ für die LXX insgesamt geben kann, sondern dass jedes Buch für sich betrachtet werden muss und (2) dass – je nach Buch unterschiedlich – die Übersetzer auch bewusste Veränderungen – also modifizierende Interpretationen – vorgenommen haben.20 Diese Modifikationen, Adaptionen oder Versuche der Inkulturation machen es notwendig, den griechischen Text „auf Augenhöhe“ zu übersetzen. In einem zweiten Schritt ist dann selbstverständlich die Relation zu der angenommenen hebräischen bzw. aramäischen Vorlage zu bedenken.21 Den Nachweis modifizierender Interpretation hat etwa Martin Rösel für Gen 1-11 LXX geliefert: „Übersetzung als Vollendung der Auslegung“.22 Man kann auch auf unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des Tempelentwurfs zwischen Ez 40-48 MT und LXX verweisen, die Michael Konkel herausgearbeitet hat.23 Ganz eklatant wird es, bedenkt man die Unterschiede beim Buch Ester zwischen MT und LXX. John W. Wevers ist der Meinung, dass die griechische Fassung, in der Gott viel stärker als im MT explizit eine Rolle spielt, die Aufnahme des Buches in den Kanon erleichtert hat.24 Was das Buch Jesaja angeht, so ist bei vielen Forschern seit der Untersuchung von Isac Leo Seeligmann,
20
21 22 23 24
band: W. KRAUS / M. KARRER (Hg.), Septuaginta Deutsch. Erläuterungen zum griechischen Alten Testament, (in der Redaktionsphase). So betont auch M. HENGEL, Zur Wirkungsgeschichte von Jes 53 in vorchristlicher Zeit, in: JANOWSKI / STUHLMACHER (Hg.), Gottesknecht, 49-91: 76, dass die Septuaginta „alles andere als ein einheitliches Werk [sei], vielmehr eine Schriftensammlung, deren Entstehung sich über 300 Jahre hinzog.“ (Hengels Beitrag auch in: DERS., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II (WUNT 109), Tübingen 1999, 72-114, und erweitert als: M. HENGEL with the collaboration of D.P. BAILEY, The Effective History of Isaiah 53 in the Pre-Christian Period, in: B. JANOWSKI / P. STUHLMACHER (Hg.), The Suffering Servant. Isaiah 53 in Jewish and Christian Sources, Grand Rapids 2004, 75-146.) Die Begrifflichkeit „auf Augenhöhe“ hat Helmut Utzschneider geprägt. H. UTZSCHNEIDER, Auf Augenhöhe mit dem Text, in: FABRY / OFFERHAUS (Hg.) Im Brennpunkt: Die Septuaginta (I), 11-50. M. RÖSEL, Übersetzung als Vollendung der Auslegung. Studien zur GenesisSeptuaginta (BZAW 223), Berlin 1994. Vgl. hierzu W. KRAUS, Contemporary Translations of the Septuagint: Problems and Perspectives, in: KRAUS / WOODEN (Hg.), Septuagint Research, 63-84. Dort werden weitere Beispiele genannt. J.W. WEVERS, The Interpretative Character and Significance of the Septuagint Version, in: M. SAEBO (Hg.), Hebrew Bible/Old Testament I.1, Göttingen 1996, 84-107. Zu nennen wäre auch das Jeremia-Buch. Die Diskussion um die Priorität von MT oder LXX ist keineswegs abgeschlossen. Vgl. zur Sache die konträren Auffassungen von G. FISCHER, Die Diskussion um den Jeremiatext, in: KARRER / KRAUS (Hg.), Die Septuaginta, 612-629, und H.J. STIPP, Zur aktuellen Diskussion um das Verhältnis der Textformen des Jeremiabuches, in: a.a.O., 630-653, sowie H. ENGEL, Erfahrungen mit der LXX-Fassung des Jeremiabuches im Rahmen des Projektes ‚Septuaginta Deutsch’, in: FABRY / BÖHLER (Hg.), Brennpunkt 3, 80-96.
Jesaja 53 LXX
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1948,25 die Position anerkannt, dass es sich hier um eine an vielen Stellen relativ freie, theologisch interpretierende Wiedergabe einer hebräischen Vorlage handelt.26 Ich wende mich deshalb in einem ersten Schritt Jes 53 LXX zu.27 Dabei behalte ich stets den MT im Auge, versuche aber den LXX-Text nicht vom MT her zu verstehen.28
1. Jes 53 LXX – Übersetzung und Verständnis Der Text Jes 52,13-53,12 ist sprachlich schwierig und an manchen Stellen nicht eindeutig zu übersetzen.29 Schon Karl Friedrich Euler hat ge25 26
27
28
29
I.L. SEELIGMANN, The Septuagint Version of Isaiah. A Discussion of its Problems (MEOL 9), Leiden 1948 ( = DERS., The Septuagint Version of Isaiah and Cognate Studies, hg. von R. HANHART und H. SPIECKERMANN [FAT 40], Tübingen 2004, 119-294). Vgl. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 76: „Die Jesajaübersetzung wurde vermutlich von einer Person angefertigt, die gegenüber dem häufig schwierigen Text zuweilen unsicher war und darum manchmal eher interpretierend und aktualisierend paraphrasierte als exakt übersetzte. Insgesamt handelt es sich jedoch um keine schlechte Übertragung; man kann sie philologisch und theologisch als eine beachtliche ‚hermeneutische’ Leistung bezeichnen. Gleichwohl ist es bei zahlreichen Abweichungen von MT schwierig zu sagen, ob der Übersetzer eine abweichende hebräische Textvorlage besaß oder sich selbst Freiheiten erlaubte.“ Die Möglichkeit, dass der Übersetzer von Jes LXX eine andere Vorlage hatte als eine dem proto-masoretischen Text nahestehende, ist grundsätzlich nicht auszuschließen. Eine solche Vorlage hat A. ZILLESSEN, Jesaja 52,13-53,12 hebräisch nach LXX, ZAW 25 (1905), 261-284, zu erstellen versucht. Solche Versuche können aber seit den Untersuchungen von J. ZIEGLER, Untersuchungen zur Septuaginta des Buches Isaias (ATA XII/3), Münster 1934, SEELIGMANN, Version, und A. VAN DER KOOIJ, Die alten Textzeugen des Jesajabuches (OBO 35), Göttingen 1981, im Grunde als überholt angesehen werden. Die Position von Seeligmann wurde jüngst durch R. Troxel teilweise infrage gestellt: R.L. TROXEL, LXX-Isaiah as Translation and Interpretation. The Strategies of the Translator of the Septuagint of Isaiah (JSJ.S 124), Leiden 2007. Troxel argumentiert dafür, der Autor “was concerned to convey the sense of Isaiah to his readers” (291). Seine Absicht war es “to deliver a translation that would make the book’s sprawling networks of meaning intelligible to his Greek-reading coreligionists.” (109). Troxel geht im Grunde noch einen Schritt weiter als Seeligmann was Freiheit bzw. Gebundenheit des JesajaÜbersetzers angeht. Diese methodische Vorgehensweise fordert auch A. VAN DER KOOIJ, ‘The Servant of the Lord’: A Particular Group of Jews in Egypt According to the Old Greek of Isaiah. Some Comments on LXX Isa 49,1-6 and Related Passages, in: J. VAN RUITEN / M. VERVENNE (Hg.), Studies in the Book of Isaiah. FS Willem A.M. Beuken (BEThL 122), Leuven 1997, 383-397: 384. C. BREYTENBACH hat bei der Tagung von Septuaginta Deutsch, im Juli 2008 in Wuppertal einen Vortrag gehalten unter dem Titel: JesLXX 53,6.12 und die urchristlichen Hingabeformeln, der in dem in Vorbereitung befindlichen Tagungsband in WUNT erscheinen wird. Sein Beitrag und der hier vorgelegte sind jedoch unabhängig voneinander entstanden. Vgl. zur Sache D.A. SAPP, The LXX, 1QIsa, and MT Versions of Isaiah 53 and the Christian Doctrine of Atonement, in: W.H. BELLINGER JR. / W.R. FARMER (Hg.), Jesus and the Suffering Servant. Isaiah 53 and Christian Origins, Harrisburg 1998, 170-192;
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fragt, ob der Übersetzer den hebräischen Text wirklich verstanden habe, als er ihn übersetzte.30 Euler hat dann verschiedene Indizien konstatiert, die das Verständnis von Jes 53 LXX verunklaren: 1) Der Wechsel in den Personen I. II. III. in 52,13-15 und in 53,8f. Die Frage stellt sich, wo eigentlich die Kyrios-Rede beginnt. 2) Der Unterschied von h`mei/j in V.1f.4-6 und u`mei/j in V.10-12. In V.4-6 sind es die a`marti,ai bzw. avnomi,ai h`mw/n, in V.8 und 10-12 die der u`mei/j bzw. des lao,j, die den Grund für das Leiden des Gottesknechtes darstellen. 3) Der ständige Tempuswechsel: Aor., Fut., Präs., Pf., Impf. und zwar innerhalb einer Aussage: V.5f; V.7. 4) Und schließlich die schwebende Bedeutung bestimmter Ausdrücke: V.8. ai;rein– einmal auf kri,sij, einmal auf zwh, bezogen. V.11f avnafe,rein – fortschaffen oder aufnehmen? Ich beginne im Folgenden mit den relativ sicher zu übersetzenden Versen und taste mich von dort aus vor zu den weniger sicheren. Beginnen wir mit V.9-10. Der MT lautet in Übersetzung (im Anschluss an Hermisson): 9: Und man gab ihm bei Frevlern sein Grab, bei Übeltätern seine Grabstätte. Obwohl er kein Unrecht getan hat und in seinem Munde kein Trug war. 10: Aber JHWH, dessen Plan es war, ihn zu schlagen,31 heilte den, der sein Leben als Schuldausgleich/Ersatzleistung einsetzte. Er wird Nachkommenschaft sehen, lange leben, und der Plan Jahwes wird durch ihn gelingen.32
Der hebräische Text ist schwierig und ohne Konjekturen kommt man nicht aus. Klar ist, dass in V.9 der Knecht das Subjekt des Satzes ist. Er bekommt sein Grab bei Frevlern. Die Übersetzung in V.9ab mit „Übeltäter“, die auf einen Parallelismus membrorum abzielt, wird möglich,
30 31
32
E.R. EKBLAD, Isaiah’s Servant Poems according to the Septuagint. An Exegetical and Theological Study (CBET 23), Leuven 1999. K.F. EULER, Die Verkündigung vom leidenden Gottesknecht aus Jes 53 in der griechischen Bibel (BWANT 66), Stuttgart 1934, 16ff. B. JANOWSKI, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff (SBS 165), Stuttgart 1997, 70ff, übersetzt V.10 folgendermaßen: „Aber JHWH gefiel es, ihn zu schlagen, er machte ihn krank. Wenn er einsetzt sein Leben als Schuldtilgung, wird er Nachkommenschaft sehen, lange leben, und Jahwh’s Plan – durch ihn wird er gelingen.“ HERMISSON und JANOWSKI sind sich in der Übersetzung der entscheidenden Passage in V.10b einig, auch wenn die Übersetzungen für V.10a Differenzen aufweisen. HERMISSON, Gottesknechtslied, 8. Für V.10ab gibt HERMISSON noch eine andere Übersetzungsmöglichkeit, die er aber später selbst ablehnt.
Jesaja 53 LXX
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wenn man mit den Ausfall eines [ nach dem r rechnet und nicht ryv[ liest, sondern [r yf[.33 Die im MT genannten ‚Reichen’ geben keinen Sinn. In V.9b gehen MT und LXX weitgehend parallel. Lediglich das eu`ri,skein der LXX hat kein hebr. Äquivalent. Anders in V.9a. Hier bietet die LXX: kai. dw,sw ... Aber ich werde die Bösen (dahin)geben ... Die Aussage des hebräischen Textes, wonach der Knecht bei Frevlern sein Grab erhielt und bei Übeltätern seine Grabstätte bzw. sein Steingrab, wird in der LXX zu einer Aussage darüber, dass Gott anstelle (avnti,) des Grabes und des Todes des Knechtes Böse und Reiche (dahin)geben werde.34 V.10 ist nach allgemeiner Überzeugung die entscheidende Aussage des ganzen Textes.35 Dabei ist V.10a schon im MT nur hypothetisch zu erschließen, das muss auch Hermisson einräumen,36 klar ist jedoch der adversative Einsatz zu Beginn: „aber JHWH“. V.10 bildet den Wendepunkt der ganzen Rede.37 Hermisson ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Wie immer der Text wiederherzustellen sein mag – von einem Jahwe-Handeln muss am Anfang die Rede sein.“38 V.10b ist insofern klar, als es hier heißt, dass der Knecht sein Leben als Schuldausgleich bzw. Ersatzleistung39, oder wie Bernd Janowski es deutet, als „Schuldtilgung“ einsetzt.40 „Israel, das zur Übernahme seiner Schuldverpflichtung nicht imstande war, muss aus ihr ausgelöst werden, um noch eine Zukunft zu haben. Diese Befreiung kommt von einem Unschuldigen, der sein Leben in Entsprechung zum ‚Plan’ JHWHs (V.10a.b) und als Konsequenz seines eigenen Wirkens (vgl. V.79) hingibt.“41 Damit liegt in Jes 53,10 insofern eine Spitzenaussage alttestamentlicher Tradition vor, als hier singulär einer für andere stellvertretend sein Leben hingibt. Diese Stellvertretungsaussage in V.10 bietet die LXX nicht. Der Text lautet vielmehr: V.10a: „Und (möglich ist auch adversativ: Aber) der Herr will ihn reinigen von dem (Schicksals-/Unglücks-)Schlag.“ 33 34 35 36 37 38 39 40 41
HERMISSON, Gottesknechtslied, 8 Fn. 31. Der Begriff ‚Reiche’, der im unkorrigierten MT belegt ist, stellt einen Hinweis darauf dar, dass dem Übersetzer wohl der auch uns bekannte Konsonantentext vorlegen hat. HERMISSON, Gottesknechtslied, 10; vgl. JANOWSKI, Sünden, 40f. HERMISSON, Gottesknechtslied, 10. HERMISSON, Gottesknechtslied, 16. HERMISSON, Gottesknechtslied, 16. HERMISSON, Gottesknechtslied, 8. JANOWSKI, Sünden, 40f.43. JANOWSKI, Sünden, 43.
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Vor allem V.10b lautet in der LXX völlig anders. Aus dem Schuldausgleich bzw. der Schuldtilgung (~va) des MT ist in der LXX eine Aussage über das notwendige Tun der Angeredeten geworden: „Wenn ihr peri. a`marti,aj darbringt, wird eure Seele eine langlebige Nachkommenschaft sehen.“42 Dabei ist zu erwähnen, dass peri. a`marti,aj normalerweise nicht die Übersetzung von ~va, sondern von tajx darstellt.43 Eine Ausnahme ist Lev 5,7. Die Wendung dürfte jedoch bewusst gewählt sein, da sich die Aussage zurückbezieht auf V.4.5.6, wo von a`marti,ai die Rede war, die verübt wurden. Für diese soll dargebracht werden. Damit ist in V.10 aus der Aussage des MT über die Lebenshingabe des Knechtes als Schuldtilgung oder Ersatzleistung in der LXX eine Aufforderung an die Angeredeten geworden. Die Verheißung der Nachkommenschaft bezieht sich folgerichtig auch nicht mehr auf den Knecht wie im MT, sondern auf diejenigen, die peri. a`marti,aj dargebracht haben. Im Unterschied zum MT haben wir deshalb auch in V.11 in der LXX keinen Neueinsatz, sondern der Satz von V.10a wird in V.11 LXX fortgeführt: „Der Herr wird etwas wegnehmen von der Mühsal der Seele des Knechtes und ihm Licht zeigen. Der Herr wird einem Gerechten Gerechtigkeit verschaffen.“ Also nicht: der Knecht macht die vielen gerecht oder: der Knecht verhilft vielen zur Gerechtigkeit, sondern: ihm selber wird zur Gerechtigkeit verholfen.44 Wir können nach dem Bisherigen zwischenbilanzieren: Die Spitzenaussage des MT, wonach der Knecht stellvertretend leidet und stirbt, wird in der LXX an den entscheidenden Stellen nicht wiedergegeben, son-
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43
44
Das Verbum di,dwmi, das ein sehr breites Bedeutungsspektrum aufweist, ist in Verbindung mit peri. a`marti,aj als „darbringen“ zu übersetzen, nicht als „geben“. Dass es in der Opfersprache als „darbringen“ gebraucht werden kann, erhellt zweifelsfrei aus Lk 2,24 (vgl. W. BAUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl. hg. von K. u. B. ALAND, Berlin/New York 1988, 387, Ziff. 1a). Die wörtliche Übersetzung von peri. a`marti,aj lautet: „für die Sünde“ oder „um der Sünde willen“, jedoch kann die Begrifflichkeit im Sinn eines t.t. auch das „Sündopfer“ bezeichnen, und zwar entweder in der vollen Form peri. th/j a`marti,aj (vgl. Lev 4,3.14; 5,8.9) oder in abgekürzter Form peri. a`marti,aj (vgl. Lev 5,11; 7,37) bzw. th/j a`marti,aj (vgl. Lev 4,8.20.25). Zur Sache vgl. W. KRAUS, Der Tod Jesu als Heiligtumsweihe (WMANT 66), Neukirchen-Vluyn 1991, 191-193 und die dort genannte Literatur. Von Lev 5,12-6,14 her, wo das „Schuldopfer“ verhandelt wird, wäre eher peri. th/j plhmmelei,aj zu erwarten. Vgl. zur Sache M. VAHRENHORST, Hinweise zur Opferterminologie im Septuaginta-Pentateuch, in: KRAUS / KARRER (Hg.), Septuaginta Deutsch – Erläuterungen, bei Lev 1,1 (in Druckvorbereitung). Dies wird von STUHLMACHER, Jes 53, 98 Fn. 24 ausdrücklich ebenso festgestellt. Es werden daraus aber keine Konsequenzen gezogen. Es gilt vielmehr als Indiz, dass Paulus in Röm 4,25 den hebräischen Text vor Augen habe, dazu s.u.
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dern verändert zu einer Aussage, dass die Angeredeten peri. a`marti,aj darbringen sollen. Kommen wir von hier aus zu V.6. Der MT bietet (Übersetzung im Anschluss an Hermisson): V.6: Wir alle irrten umher wie Schafe, ein jeder kümmerte sich um seinen Weg. Aber JHWH ließ ihn treffen unser aller Sünde. 45
Die LXX ist in V.6a nicht grundsätzlich vom MT unterschieden.46 Anders jedoch in V.6b, hier heißt es: kai. ku,rioj pare,dwken auvto.n tai/j a`marti,aij h`mw/n. Der Dativ tai/j a`marti,aij ließe sich als Dativus causae (BDR § 196) verstehen. Dann wäre zu übersetzen: „Aber der Herr hat ihn wegen unserer Sünden ausgeliefert.“47 Wenn in V.10 LXX die Stellvertretungsaussage enthalten wäre, dann müsste in der Tat so übersetzt werden. Das ist jedoch nicht der Fall. Daher ist es auch möglich, den Dativ als eigentlichen Dativ zu verstehen (BDR § 187). Dann ist zu übersetzen: „Aber der Herr hat ihn unseren Sünden ausgeliefert.“ Der Knecht wurde nicht ausgeliefert, um unserer Sünden willen, auch nicht stellvertretend zur Tilgung unserer Sünden oder um für diese zu leiden, sondern an unsere Sünden wurde er übergeben, d.h. er wurde ihnen ausgeliefert und musste sie erleiden. „Sünden“ sind hier die bösen Taten, die Menschen dem Knecht zugefügt haben, die Verfehlungen derer, die sich an dem Knecht vergangen und ihn ins Leiden gebracht haben. Damit ist klar, dass die a`marti,ai, von denen Jes 53,6 LXX spricht, konkrete Verfehlungen der Menschen an diesem Knecht sind, keine in einem anderen Zusammenhang begangene Taten Dritter. Ich bin der Ansicht, dass auch an den anderen Stellen von Jes 53 LXX unter a`marti,ai die Verfehlungen von Menschen an diesem Knecht zu verstehen sind, wenn der Kontext es nicht ausdrücklich anders erfordert. Mit dem Verständnis dieser, in der Übersetzung relativ eindeutiger, Verse im Hinterkopf, können wir uns jetzt auch jenen Formulierungen zuwenden, deren Übersetzung nicht völlig eindeutig bzw. schwebend ist, um dann schließlich ein Gesamtverständnis des Text anzusteuern. 45 46 47
HERMISSON, Gottesknecht, 7. A. van der KOOIJ weist mich brieflich (am 17.3.2009) darauf hin, dass es sich aufgrund von Jes 3,12; 30,20f LXX seiner Meinung nach darum handelt, dass die ‚wir’Gruppe von (bösen) Leitern in die Irre geführt wurde. Aber wäre dann nicht zu erwarten, dass pare,doken auvto,n und tai/j a`marti,aij h`mw/n umgestellt wären?
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52,13-15: Von einem Knecht ist die Rede, der in den Augen der Menschen entehrt und verachtet war, von Gott jedoch erhöht und verherrlicht werden wird. Worauf sich das sunh,sei bezieht (er wird zur Einsicht kommen) lasse ich noch offen. Es wird uns beschäftigen bei V.11. 53,1-3: Die Verse sprechen von der Niedrigkeit des Knechts. Er ist entehrt, verachtet, aber v.a. angesehen als einer, den ein Schicksalsschlag getroffen hat, der deshalb sein Antlitz abwendet. 53,4-5: Dieser (er)trägt (fe,rei) unsere Sünden und leidet Schmerzen peri. h`mw/n. Fe,rein heißt normalerweise „schleppen“, „tragen“, aber auch „ertragen“ oder „sich gefallen lassen“. Wenn man nicht von vornherein in Jes 53 LXX die Vorstellung der Stellvertretung angesprochen findet, dann muss die Stelle offener übersetzt werden und die Wiedergabe darf nicht durch die Vorstellung von der Stellvertretung normiert werden. Dann aber heißt der Vers: „dieser erträgt unsere Sünden und leidet Schmerzen um unsertwillen“. Wir können von V.4 her noch nicht eindeutig sagen, worin die a`marti,ai bestehen. Klar ist, dass die Menschen die Situation des Knechtes falsch beurteilten. Sie hielten ihn für einen, der unter einem Schicksals- oder Unglücksschlag steht. V.5 heißt in der geläufigen Form der Luther-Übersetzung: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Dies ist nicht das, was die LXX beinhaltet. Die Aussage wird im Griechischen gebildet durch dia, mit Akkusativ. Dies gibt den normalerweise den Grund oder die Ursache an (BDR § 222). Also wäre wiederzugeben: „Wegen/aufgrund unserer Gesetzlosigkeiten ist er verwundet und wegen/aufgrund unserer Sünden ist er mit Krankheit beladen.“ Von V.6 her wird deutlich, was damit gemeint ist: Der Knecht wurde den a`marti,ai ausgeliefert. Das heißt, die a`marti,ai und avnomi,ai von V.5 dürften die Ursache sein, durch die der Knecht verwundet und beladen ist – sie haben zu seiner Verwundung und Beladung geführt. V.5b stelle ich noch einen Augenblick zurück. 53,6 wurde schon erörtert (s.o.). 53,7 beschreibt das Verhalten des Knechtes in Leid und Tod: „Und er – weil er misshandelt ist48 – öffnet nicht den Mund; wie ein Schaf wurde er zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm49, das vor seinem Scherer stumm ist, so öffnet er seinen Mund nicht.“ 53,8: Der Vers ist in seiner Logik nicht leicht zu entschlüsseln. M.E. enthält er vier Aussagen: Das Recht des Knechtes wurde in der Erniedrigung aufgehoben (8a). Wer ist fähig, von seiner Generation, von sei48 49
V.7: ‚weil er misshandelt ist’ wörtl.: ‚wegen des Misshandeltseins’. V.7: Schaf und Lamm sind gegenüber dem MT umgestellt.
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nem Geschlecht angemessen zu berichten (8b)? Seine Hinwegnahme von der Erde bedeutet die Gegenbewegung (8c). Damit endet der Gedanke und es ist ein Punkt zu setzten. Der letzte Teil des Verses setzt neu ein: Die avnomi,ai des Volkes haben den Knecht in den Tod geführt (8d). Grammatikalisch wäre für die zweite Vershälfte auch eine andere Konstruktion möglich: „Weil sein Leben von der Erde hinweggenommen wird, wurde er von den Gesetzlosigkeiten meines Volkes in den Tod geführt.“ Aber die Logik ist in diesem Fall kaum verständlich. Vom Kontext her bedeutet die Hinwegnahme von der Erde/vom Land seine Erhöhung.50 53,9-10 wurde schon erörtert (s.o.). 53,11: Im ersten Halbvers geht es darum, dass Gott diesem Erniedrigten hilft. Er wird Licht sehen. Damit ist ein Rückverweis auf 52,13 gegeben. In 52,13 ist das Verbum sunh,sei im Verbund mit erhöhen und verherrlichen gebraucht. Hier in 53,11 begegnet es noch einmal: Licht wird ihm gezeigt und er wird für die Einsicht gestaltet. Ich verstehe das im Sinn der Erkenntnis Gottes, im Sinn des Verstehens der göttlichen Wege, das dem Knecht zuteil wird. V.11b lautet: kai. ta.j a`marti,aj auvtw/n auvto.j avnoi,sei. Wie ist avnafe,rw zu verstehen? Im Sinn von „aufheben“ oder „wegtragen“ oder eher „auf sich nehmen / auf sich laden“? avnafe,rw steht in Jes 53,11 für lbs und 53,12 für afn. Es wird häufig mit „tragen“ oder „wegschaffen“ wiedergegeben. „Das scheint a[naferw] aber nicht zu bedeuten.“51 Walter Bauer geht wegen des ana- von der Bedeutung „aufladen“, „aufbürden“, „zu tragen geben“ bzw. „(sich) aufladen“ aus. Ich übersetze daher V.11b: „und ihre Sünden wird er selbst auf sich nehmen“. 53,12: Im ersten Halbvers geht es zunächst um die Konsequenz dieses Handelns: „Deshalb wird er viele beerben und der Mächtigen Beute als Teil erhalten, dafür, dass seine Seele dem Tod ausgeliefert wurde und er unter die Gesetzlosen gerechnet wurde.“ Der zweite Halbvers nimmt noch einmal Bezug auf das Tun des Knechtes, jedoch anders als V.11 nicht im Futur, sondern im Perfekt: „Er hat die Sünden vieler auf sich genommen (ertragen) und wurde wegen ihrer Sünden ausgeliefert.“ Zu ergänzen ist hierbei in Analogie zu V.12a: dem Tod (V.12a: paredo,qh eivj qa,naton h` yuch. auvtou/). Also nicht: avpe,qanen u`pe.r tw/n a`martiw/n h`mw/n wie in 1Kor 15,3, sondern: dia. ta.j a`marti,aj auvtw/n paredo,qh (eivj qa,naton).52 50 51 52
So auch J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 1981, 141; J. JERVELL, Die Apostelgeschichte (KEK III), Göttingen 1998, 273. BAUER, Wörterbuch, 125. Nach O. HOFIUS, Das vierte Gottesknechtslied in den Briefen des Neuen Testaments, in: JANOWSKI / STUHLMACHER (Hg.), Gottesknecht, 107-127: 119 Fn. 57 (der Aufsatz von Hofius auch in: DERS., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000,
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Ich fasse die bisherigen Ergebnisse zu Jes 53 LXX zusammen: Geht man von den eindeutig zu übersetzenden Aussagen in Jes 53 LXX aus und kommt von dort zu den schwebenden, dann ist ein Verständnis im Sinne stellvertretender Lebenshingabe des Knechtes nicht enthalten, zumindest nicht eindeutig enthalten.53 Es sind vielmehr die Sünden und Verfehlungen der Menschen, die auf ihn fielen, die ihn trafen und ihn verwundeten. Nicht anstelle der anderen leidet und stirbt er, sondern aufgrund der anderen und deren Untaten. Jes 53 LXX ist deshalb anders zu verstehen als Jes 53 MT. Jes 53 LXX liest sich am besten im Kontext der Vorstellung eines zu Unrecht leidenden Gerechten, dem aber von Gott zu seinem Recht verholfen wird. Die von Martin Hengel geäußerte Vermutung ist deshalb kaum richtig: Hengel vermutet, dass der Bezug auf den leidenden Gerechten und die These vom Fehlen des Stellvertretungsgedanken in Jes 53 LXX, wie dies etwa bei Lothar Ruppert54 oder Eberhardt Ruprecht55 geschehe, die „in Deutschland verbreitete Aversion gegen den Opfergedanken“ im Hintergrund habe.56 Ich halte dieses Urteil für ungerechtfertigt. Von einem „Opfer“ ist ja auch in Jes 53 MT nur bedingt die Rede. Präzis geht es um „Schuldtilgung“ oder „Ersatzleistung“. Entscheidend ist dort jedoch die stellvertretende Hingabe des Lebens. Diese kann ich in Jes 53 LXX so eindeutig nicht finden.57 Im Gegenteil ist es so, dass die These von der auch in Jes 53 LXX vorliegenden Vorstellung stellvertretender Lebenshingabe nur durch eine Lesung der schwebenden Stellen von Jes 53 MT her möglich ist. Wenn man 53,4.5.11b.12b LXX von 53,6b.10 MT her liest, dann allerdings, aber auch nur dann kann man den Stellvertretungsgedanken auch
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55 56 57
340-360), handelt es sich bei u`pe.r tw/n a`martiw/n in 1Kor 15 lediglich um eine sprachliche Variante zu dia. ta.j a`marti,aj. Ich kann das so nicht nachvollziehen. Auf 1Kor 15 komme ich nachher noch zu sprechen. Vgl. M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998, 123 zu Jes 53 LXX: „Dass er unsere Sünden trage, unseretwegen Schmerz empfinde, durch unsere Gesetzlosigkeiten verwundet und wegen unserer Sünden schwach gemacht sei (vv.4a.5), verlor den Charakter eines Sühnegeschehens. Die Täter bedürfen vielmehr eigens der Sündopfer ... Die LXX drängt das Sühneleiden des Knechtes zurück.“ L. RUPPERT, Der leidende Gerechte. Eine motivgeschichtliche Untersuchung zum Alten Testament und zwischentestamentlichen Judentum, fzb 5, Würzburg 1972, 5962. RUPPERT, 61, spricht übrigens ausdrücklich davon, dass der Übersetzer in V.46.11b.12 „das Sühneleiden des pai/j ... durchaus getreu“ wiedergebe. E. RUPRECHT, Die Auslegungsgeschichte zu den sogenannten Gottesknechtsliedern im Buche Deuterojesaja unter methodischen Gesichtspunkten bis zu Bernhard Duhm, Diss. masch. Heidelberg 1972, 34f. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 79 Fn. 49. Anders HENGEL, Wirkungsgeschichte, 78, der für Jes 53 LXX notiert: „Das Heil wirkende stellvertretende Sühneleiden ist zwar an einigen Punkten abgeschwächt, aber immer noch eindeutig.“
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in Jes 53 LXX ausgedrückt finden.58 Aber gerade V.6b.10 LXX stehen dazu völlig konträr. Liest man hingegen Jes 53 LXX als griechischen Text und versucht diesen zu verstehen, ist eine Stellvertretungsvorstellung darin nicht zweifelsfrei enthalten, der Text wird vielmehr besser verständlich im Rahmen der Vorstellung von einem in Leid und Tod geratenen Gerechten, dem jedoch durch Gott zu seinem Recht verholfen wird, d.h. im Sinn von Erniedrigung und Erhöhung des Knechtes.59 Der bisher zurückgestellte V.5b ist in diesem Kontext so zu verstehen, dass das, was mit dem Knecht geschieht, also seine Erniedrigung und Erhöhung, für diejenigen, die es erfahren, zur Erziehung dient. Damit lässt sich Jes 53 LXX m.E. kohärent verstehen (s. die zusammenhängende Übersetzung am Ende dieses Beitrages). Wer ist dieser pai/j qeou/ in der Septuaginta? Handelt es sich um eine individuelle oder kollektive Gestalt? Diese Frage ist wiederum vom LXX-Text her zu beantworten und darf nicht durch den MT normiert oder präjudiziert werden.60 Verschiedene Möglichkeiten diskutiert Martin Hengel.61 Eine „einseitig kollektive Deutung auf Israel“ erscheint ihm deswegen unmöglich, weil sich das „wir“ sonst auf die Heiden beziehen müsste, was angesichts von 53,1 und 5 nicht durchführbar sei, vielmehr seien die ‚wir’ aus V.1-7 wohl mit den ‚Vielen’ in V.11.12 gleichzusetzen: „das zweifelnde irrende Israel“.62 Eine Deutung auf einen individuellen „leidenden Gerechten“ wird von Hengel als undurchführbar angesehen. Grundsätzlich neigt Hengel jedoch einer individuellen Deutung zu, und hält es sogar für möglich, dass „es sich um eine Person mit eschatologischer Heilsfunktion handeln könnte,“63
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60 61 62 63
E. FASCHER, Jesaja 53 in christlicher und jüdischer Sicht, Berlin 1958, 7ff, ist hinsichtlich des Zitats in Apg 8,32f der Meinung, dass V.8b nicht weggelassen wurde, um die Sühnetodaussage zu vermeiden (9), vielmehr gebe auch die LXX Philippus die Gelegenheit, Sühnetod und Erhöhung Jesu von Jes 53 her zu interpretieren (9). Das halte ich für nicht durchführbar. Die Veränderung ist m.E. auch theologiegeschichtlich erklärbar: Jes 53 MT stammt vermutlich aus der exilischen oder frühnachexilischen Zeit, d.h. einer Phase, in der kein geordneter Tempelkult stattfand. Dass in einer solchen Phase das Theologumenon eines stellvertretenden Leidens und Sterbens eines Gottesknechtes gebildet werden kann, ist nachvollziehbar. Die Traditionsgeschichte der Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod der Märtyrer bestätigt diese Entwicklung indirekt: Die Vorstellung findet sich voll ausgebildet erst in 4Makk, d.h. einer Schrift vom Ende des 1. Jhs. n.Chr., also wiederum in einer Zeit ohne Tempelkult. Vgl. zur Sache KRAUS, Tod Jesu, 33-41; DERS., Erweis, 203f (Lit!). Darauf legt auch A. VAN DER KOOIJ, Servant, 384, großen Wert. Verschiedene Möglichkeiten diskutiert HENGEL, Wirkungsgeschichte, 80-85. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 81. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 83 (kursiv im Original).
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wobei man im Sinn einer Konkretion auf eine historische Gestalt schließlich an Onias III. denken „könnte“.64 Einen anderen Vorschlag, der sich jedoch auch im Umfeld des letzten legitimen Zadokiten bewegt, hat Arie van der Kooij unterbreitet:65 Seine methodische Forderung lautet: „In order to reach a better understanding of LXX Isaiah the best thing therefore is to take the Greek version seriously in its own right by means of a contextual approach. The aim of this method is to find out whether there are clear indications of coherence, on the level of text and content, within a given passage (immediate context) and between passages within the whole of LXX Isaiah (context of the book as a whole).”66 Van der Kooij geht aus von der Tatsache, dass in Jes 42,1 LXX der Knecht eindeutig kollektiv, und zwar als ‚Jakob’ bzw. ‚Israel’ verstanden wird: „Jacob is my servant, I will help him; Israel is my chosen, my soul has accepted him.“67 „The Greek text is easily understood as an interpretation of the verse in the light of other passages where ‘Jacob’ and ‚Israel’ are called the servant of God (cf. Isa 44,1.21; 45,4), but one wonders to whom this designation might refer: to the people of Israel as a whole, or to a part of the people.”68 In Jes 49,1-6 LXX, insbesondere von der in V.5 erwähnten Sammlung her, legt sich eine spezifische kollektive Deutung nahe: „Here we have a clear indication that the Servant ‚Israel’ (vs 3) who is called to gather the people of Jacob/Israel, is seen as a group, because it makes sense of a group, not of an individual, to say, that one shall ‚be gathered’ ... The Servant is a group supposed to be outside the land of Israel.”69 Dieses kollektive Verständnis des Knechtes als „a particular group“70 wird unterstützt von anderen Passagen aus Jesaja-LXX, insbesondere von 10,24; 11,16 und 19,18f.24f, die wiederum – im Gegensatz zum MT – untereinander korrespondieren.71 Van der Kooij kommt zu dem Ergebnis: „In the light of the available evidence it seems likely that ‚my people in Egypt’ in LXX Isaiah [19,24] refers to the (priestly) group of Onias, a group that understood themselves as the Servant of the
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HENGEL, Wirkungsgeschichte, 83-85: 84 (kursiv im Original). VAN DER KOOIJ, Servant, 383-397. VAN DER KOOIJ, Servant, 384. Jes 42,1 in der Übersetzung von A. VAN DER KOOIJ, Servant, 383. VAN DER KOOIJ, Servant, 383f. VAN DER KOOIJ, Servant, 388. VAN DER KOOIJ, Servant, 390. VAN DER KOOIJ, Servant, 390-394.
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Lord.“72 Arie van der Kooij hat dieses kollektive Verständnis in seinem Aufsatz nicht explizit auf Jes 53 LXX ausgedehnt. Er ist jedoch der Meinung, dass im letzten Gottesknechtskapitel individuelles und kollektives Verständnis miteinander verschränkt sind: Es ist der Hohepriester, der zusammen mit den Hauptpriestern ein Priesterkollegium bildet.73 Dass man den Gottesknecht in der Rezeption der Jesaja-LXX dann auch dezidiert individuell verstehen konnte, geht aus SapSal 2,10-5,23, insbes. 2,12-20 und 5,1-6, hervor. Die Bezüge auf Jes 53 LXX begegnen auf Schritt und Tritt. In 2,13 wird der Gerechte pai/j qeou/ genannt, vgl. Jes 52,13. Von Erniedrigung und Folter spricht 2,19. In 3,2 wird der Umgang mit dem Gerechten mit dem Stichwort „Misshandlung“ (ka,kwsij) bezeichnet, vgl. Jes 53,4b. Wer sein Vertrauen auf Gott setzt, 3,9, wird „verstehen“ (sunie,nai), vgl. Jes 52,13.15; 53,11. SapSal 5,2 spricht davon, dass die Gottlosen „außer sich geraten“ (evksth,sontai), vgl. Jes 52,14. SapSal 5,4 nennt das Ende des Knechtes „ehrlos“ (a;timon), vgl. Jes 53,35. Der Irrtum, dem man verfallen war, wird in 5,6 mit evplanh,qhmen wiedergegeben, vgl. Jes 53,6. Die Sapientia Salomonis ist etwa um die Zeitenwende entstanden. In dieser Zeit war die Vorstellung von der passio iusti zu einem gängigen Motiv geworden. Eine religiöse Erfahrung wurde durch Schriftbezüge untermauert. Hengel stellt fest: „Jes 53 verliert hier seine eigentümlichen Züge fast ganz.“74 Auch fehle in der SapSal das „Motiv des stellvertretenden Leidens zur Überwindung fremder Schuld völlig“.75 Die Bedeutung für die Ausbildung der frühesten Christologie schätzt Hengel daher sehr gering ein.76 Doch könnte gerade das Fehlen des letztgenannten Motivs einen Hinweis auf das Verständnis von Jes 53 in der fraglichen Zeit enthalten.
2. Jes 53 LXX in Zitaten im Neuen Testament Überblickt man die bisherigen Arbeiten, in denen Jes 53 in seiner Beziehung zum Neuen Testament untersucht wurde, so wird zwar in der Regel konstatiert, dass LXX und MT sich erheblich unterscheiden, aber 72 73 74 75 76
VAN DER KOOIJ, Servant, 396. Parallelen für eine kollektive Deutung und die Identifizierung des Knechtes Gottes mit einer spezifischen Gruppe, finden sich in Dan 11,33 und 12,3. A. VAN DER KOOIJ brieflich am 8.4.2009. Ein solche Verschränkung findet v. d. Kooij auch in Jes 9,6 und 32,1-2. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 82. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 82. HENGEL, Wirkungsgeschichte, 82.
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in den allerwenigsten Arbeiten wird mit dieser Einsicht auch wirklich Ernst gemacht, und werden Konsequenzen daraus gezogen. Sollen Beziehungen zwischen neutestamentlichen Aussagen und Jes 53 herausgearbeitet werden, so werden vielmehr MT und LXX häufig miteinander vermischt, so als hätten die neutestamentlichen Autoren stets beide Texte auf ihrem Schreibtisch vor Augen gehabt und hätten je nach Bedarf daraus zitiert. Der schon einmal angedeutete Befund, dass abgesehen von Mt 8,17 an keiner weiteren Stelle im Neuen Testament bei expliziten Zitaten Jes 53 MT im Hintergrund steht, sondern stets die LXX, und dass an keiner Stelle der Zitattext selbst eindeutig das Thema Stellvertretung beinhaltet, wird häufig durch Bezug auf den MT überspielt. Otfried Hofius etwa beginnt seinen Beitrag „Das vierte Gottesknechtslied in der Briefen des Neuen Testaments“ mit dem Satz: „In den christologischen und soteriologischen Aussagen der neutestamentlichen Briefe finden sich mehrfach Bezugnahmen auf das vierte deuterojesajanische Gottesknechtslied Jes 52,13-53,12.“77 Er will, so betont er zu Anfang, nicht danach fragen, welcher Text, ob MT, LXX oder Targum im Hintergrund stehe, sondern will untersuchen, in „welchem theologischen Sinn und Verständnis“ Jes 53 rezipiert wurde,78 speziell, wie die Stellvertretungsaussage aufgenommen wurde.79 Hofius geht dann zunächst ausführlich auf Jes 53 MT ein, arbeitet die Stellvertretungsaussage heraus und setzt diese in Beziehung zu neutestamentlichen Texten beginnend mit Paulus. Ich halte dieses Vorgehen für methodisch zumindest fragwürdig. MT, LXX und Targum werden eklektisch herangezogen – je nachdem, welche Texttradition besser passt – und werden dann von einem angenommenen Gesamtverständnis her interpretiert. Problematisch erweist sich dieses Verfahren bei Röm 5,15-19, wo Hofius die Aussage in V.19b auf Jes 53,11b zurückführen will, dies aber vom griechischen Text her nicht möglich ist. Deshalb wird konstatiert: „Paulus muss einen von Jes 53,11b LXX abweichenden und dem hebräischen Wortlaut entsprechenden Text vor Augen haben.“80 Die Position von Dietrich-Alex Koch, wonach Paulus „Jes 53 als passionstheologisch fruchtbaren Text überhaupt noch nicht kennt“,81 wird von Hofius als „keineswegs überzeugend“ bestritten,82 – aber eben keineswegs argumentativ widerlegt.
77 78 79 80 81 82
HOFIUS, Gottesknechtslied, 107. HOFIUS, Gottesknechtslied, 107. HOFIUS, Gottesknechtslied, 108. HOFIUS, Gottesknechtslied, 123 Fn. 72. Dietrich-Alex KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986, 234. HOFIUS, Gottesknechtslied, 117 Fn. 48.
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Wir gehen die infrage kommenden neutestamentlichen Stellen der Reihe nach in der gebotenen Kürze durch:
Röm 10,16 Schon Hans Walter Wolff hat betont, dass Jes 53,1 hier „genau nach der Septuaginta“ zitiert werde.83 V.16 variiert einen Gedanken, der schon in Röm 10,14 anklang und in V.17 explizit formuliert wird: der Glaube kommt aus der Predigt.84 Paulus benutzt also das Zitat aus Jes 53 LXX letztlich nicht darum, etwas über Jesus, sondern über sich selbst und seine Mission auszusagen. Endete die Erörterung der Stelle bei Wolff noch mit der Frage: „Sollte nur die vielfache Beziehung zur Heidenmission ihn daran gefesselt haben, und nicht auch der Inhalt von Jes. 53?“,85 so hat Florian Wilk gezeigt, dass Paulus gerade sein Selbst- und Missionsverständnis aus Jesaja-LXX bezogen hat, ja, dass Paulus sich selbst in der Funktion des Gottesknechtes sah. Aus Gal 1,15f folgert Wilk: „Seit seiner Geburt ... hat Gott ihn dazu bestimmt und erwählt, Gottes ‚Knecht’ zu sein; als solchen hat Gott ihn jetzt berufen.“86 Dabei ist von entscheidender Bedeutung, dass Paulus im Kontext seiner Berufung in vielfacher Hinsicht auf Stellen aus der LXX-Fassung der Gottesknechtslieder explizit Bezug nimmt (Jes 49,1.5 in Gal 1,15; Jes 42,1 in Gal 1,15; Jes 49,7b in 2Kor 5,20; Jes 42,1; 49,3 in Gal 1,10; Jes 42,6 in Gal 1,15).87 Jes 53,1a LXX wird in Röm 10,16 zitiert als „Bestätigung seiner Erfahrung – ... – daß ‚Israel’ das Evangelium von Christus de facto nicht angenommen hat.“88 Das Zitat bezieht sich auf die eigene Gegenwart, stellt also, wie Florian Wilk es nennt, „gleichsam eine ‚prophetische Klage’ über den Unglauben dar, den die meisten Juden der christlichen Botschaft entgegenbringen“.89 Jes 53 wird also in Röm 10,16 weder christologisch, noch soteriologisch gebraucht, sondern ‚missionstheologisch’, um das apostolische Selbstverständnis des Paulus zu explizieren.90 83 84 85 86 87 88 89 90
WOLFF, Jesaja 53, 93. WOLFF, Jesaja 53, 93. WOLFF, Jesaja 53, 94. F. WILK, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, 367f; vgl. DERS., Paulus als Nutzer, Interpret und Leser des Jesajabuches, in: S. ALKIER / R. HAYS (HG.), Die Bibel im Dialog der Schriften, Tübingen/Basel 2005, 93-116. WILK, Bedeutung, 368 Fn. 3. WILK, Bedeutung, 79 (kursiv im Original). WILK, Bedeutung, 182. Nach KOCH, Schrift, 234, gehört das Zitat in Röm 10,16 zu den „Anführungen aus Jes 53 ohne jeden christologischen Bezug“.
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Dies wird bestätigt durch das zweite explizite Zitat aus Jes 53 LXX bei Paulus: Röm 15,21.
Röm 15,21 Man kann Hans Walter Wolff zustimmen, wenn er schreibt: „Hier zeigt sich unmißverständlich, daß Paulus Jes. 53 im Blick auf ganz persönliche Fragen seines missionarischen Einsatzes las.“91 Es ist Jes 52,15b, der hier zitiert wird. Im Kontext des Paulus bezieht sich peri. auvtou/ selbstverständlich auf Jesus. Man kann daher mit Dietrich-Alex Koch von einer Anführung aus Jes 53 sprechen, „die ein christologisches Verständnis“ aufweist, jedoch ohne „die Thematik von Passion und Tod Jesu“ zu betreffen.92 Aber es geht eigentlich nicht primär um Christologie. Das Zitat hat hier begründende Funktion:93 Es gibt „Norm“ und „Ziel“ der paulinischen Missionstätigkeit an.94 Der thematische Kontext ist wiederum das apostolische Selbstverständnis des Apostels. Paulus liest Jes 52,15b LXX als „prophetischen Hinweis auf ‚die Besonderheit seiner missionarischen Aufgabe’.“95 Dies wird, wie Wilk gezeigt hat, bestätigt durch die Aufnahme des Kontextes: Paulus fasst nämlich Jes 52,7-12 als Prophetie auf, „die sich in der von Jerusalem ausgehenden Verkündigung Christi erfüllt.“96 Röm 15,21 gehört, was den christologischen Aspekt eines Zitats aus Jes 53 anbetrifft, zusammen mit zwei weiteren Stellen: Mt 8,17 und Joh 12,38.
Mt 8,17 Jes 53,4 wird hier im Rahmen eines Reflexionszitates angeführt. Die Stelle ist in doppelter Hinsicht interessant: Sie ist einerseits die einzige im Neuen Testament, in der relativ eindeutig der hebräische Text im Hintergrund steht.97 Andererseits wird auch hier nicht auf das stellvertretende Leiden und Sterben abgehoben. Vom Kontext her können die 91 92 93 94 95 96 97
WOLFF, Jesaja 53, 94. KOCH, Schrift, 234. WILK, Bedeutung, 80. WILK, Bedeutung, 81, vgl. 175.233. WILK, Bedeutung, 176 unter Zitat von Jeremias. WILK, Bedeutung, 234. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus I (EKK I.2), Neukirchen-Vluyn u.a. 1990, 18, erkennt eine „gewisse Affinität“ zu Aquila. Er vermutet, dass das Zitat „am ehesten aus einer vormt Sammlung oder Bearbeitung von Mt 1,32-34“ stammt (18).
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beiden Verben e;laben und evba,stasen mit „wegnehmen“ und „wegtragen“ wiedergegeben werden.98 Dietrich-Alex Koch schreibt m.E. zurecht: „Jes 53,4 bietet sich zwar für eine Anwendung auf das stellvertretende Leiden Jesu geradezu an, Mt verwendet das Zitat aber keineswegs in diesem Sinne, sondern als Nachweis, daß die Machttaten Jesu dem Willen Gottes entsprechen.“99 Ulrich Luz hat diese Auffassung in seiner Auslegung von Mt 8,17 bestätigt und weitergeführt: „Vom Leiden des Gottesknechtes ist also im matthäischen Kontext nicht die Rede. ... Es wird genau derjenige Teil von Jes 53,3-5 herausgegriffen, der nicht vom Leiden des Gottesknechtes spricht. Unser Zitat ist ein Beispiel dafür, daß frühchristliche wie damalige jüdische Exegese einzelne Schriftworte manchmal (!) völlig unabhängig von ihrem Kontext zitiert.“100 Nach Mt 8,17 findet das vierte Gottesknechtslied „seine Erfüllung nicht in Jesu Tod, sondern in seinen Exorzismen und Heilungen.“101
Joh 12,38 In Joh 12,38 wird mit einem Zitat erklärt, dass der Unglaube des Volkes (V.34) trotz der Machttaten Jesu (V.37) eine Erfüllung (plhro,w) des Wortes Jes 53,1 LXX darstellt.102 Das Zitat steht im Kontext mit einem weiteren aus Jes 6,10, wobei letzteres textlich dem MT nahe steht. Aus der Zitation von Jes 53,1 LXX kann nach Rudolf Schnackenburg nicht geschlossen werden, dass Jes 53 einen starken Einfluss auf Johannes gehabt habe, denn es handle sich hier um eine „Zwischenbemerkung“ und der Gottesknecht käme „nicht in den Blick“.103 Peter Stuhlmacher hat dem mit Hinweis auf 1Joh 2,1-2; 4,10 und Joh 1,29.36 widersprochen.104 Nun sollen sprachliche Anklänge der genannten Stellen an Jes 53 nicht bestritten werden. Allerdings handelt es sich bei dem in 1Joh 2,1-2; 4,10 entscheidenden, sinntragenden Begriff i`lasmo,j um einen in Jes 53 nicht belegten Terminus. Außerdem ist die Sühneaussage, 98 LUZ, Matthäus I, 19. 99 KOCH, Schrift, 234 (kursiv im Original) mit Bezug auf H.-J. Held. 100 LUZ, Matthäus I, 19. Anders STUHLMACHER, Jes 53, 101f, der darin eine Ausweitung der Mt „wohlbekannte[n] Deutung des Leidensweges Jesu aufgrund von Jes 53 (...) auf Jesu Sendung und Heilstätigkeit insgesamt“ erblickt. Dies werde deutlich, wenn Mt 12,17-21 mitbedacht werde (102). 101 KARRER, Jesus Christus, 125. 102 Die andere Akzentsetzung gegenüber dem Zitat bei Paulus betont WILK, Bedeutung, 184 Fn. 29. 103 R. SCHNACKENBURG, Das Johannesevangelium II (HThK IV/2), Freiburg u.a. 1971, 516. 104 STUHLMACHER, Jes 53, 103f.
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um die es in 1Joh geht, in der LXX nicht belegt. Daher ist ein Bezug zumindest nicht stringent nachweisbar. Was Joh 1,29.32 angeht, so liegen die Dinge ebenfalls nicht so klar, wie bei Stuhlmacher angenommen. Mit dem Lamm könnte Bezug genommen werden auf (1) Jes 53,7.11, (2) auf das Passahlamm, Ex 12, und (3) auf das tägliche Tamidopfer, Num 28,3f.105 Der direkte Bezug auf Jes 53,7 bereitet schon deshalb Schwierigkeiten, weil der Knecht dort nur mit dem Lamm verglichen wird, außerdem stimmen die Verben nicht überein. Daher könnte vielleicht doch der Bezug auf das Passahlamm wahrscheinlicher sein – zumal das Passahlamm in neutestamentlicher Zeit Opfercharakter mit Sühnekraft hatte.106 Eine wirklich begründete Entscheidung ist m.E. nur schwer möglich, denn auch hier stimmt die Begrifflichkeit nicht überein.107
Lk 22,37108 In Lk 22,37 – die Parallelaussage in Mk 14,27b ist textkritisch unsicher und wohl aus Lk eingedrungen – haben wir ein Zitat aus Jes 53,12 vorliegen. Das Zitat stimmt nicht völlig mit dem LXX-Text überein. Heißt es in Jes 53,12 LXX kai. evn toi/j avno,moij evlogi,sqh, so bietet Lukas kai. meta. avno,mwn evlogi,sqh. Dass Lukas Jes 53 LXX kennt, geht aus Apg 8,32f unzweideutig hervor.109 Die Ersetzung von evn durch meta, erklärt sich am besten als „leichte stilistische Verbesserung“ oder Variation und nicht als Hinweis darauf, dass Lukas den MT zitiert.110 105 Vgl. dazu schon KRAUS, Tod Jesu, 265f. 106 Näheres bei KRAUS, Tod Jesu, 266. Der Opfercharakter des Passahlammes in neutestamentlicher Zeit geht m.E. aus der Formulierung in 1Kor 5,7 eindeutig hervor, trotz des Einspruchs von CH. SCHLUND, ‚Kein Knochen soll gebrochen werden’. Studien zu Bedeutung und Funktion des Pesachfestes in Texten des frühen Judentums und im Johannesevangelium (WMANT 107), Neukirchen-Vluyn 2005, 182-193. M.E. nimmt sie die Formulierung evtu,qh nicht ernst genug. 107 Wenn jedoch die Interpretation von Ch. Schlund im Anschluss an L.L. Johns zutreffen würde, wonach das Lamm im johanneischen Kontext als ein „Symbol für Verletzlichkeit und ‚gewaltlosen Widerstand’“ zu verstehen sei (SCHLUND, Knochen, 175), dann könnte ein motivischer Anklang an Jes 53 LXX und das Verhalten des Knechtes vorliegen, allerdings nicht im Sinn von Sühne oder Stellvertretung, sondern von „ertragen“ der Sünde der Welt. 108 Zur Passion nach Lukas vgl. jüngst die Arbeit von U. MITTMANN-RICHERT, Der Sühnetod des Gottesknechtes. Jes 53 im Lukasevangelium (WUNT 220), Tübingen 2008, die jedoch eine andere als die im vorliegenden Aufsatz entwickelte Position vertritt. 109 HOLTZ, Untersuchungen, 41-43; vgl. H. KLEIN, Das Lukasevangelium (KEK I/3), Göttingen 2006, 677 Fn. 4. 110 HOLTZ, Untersuchungen, 43; ähnlich KLEIN, Lukasevangelium, 677 Fn. 4, der es für wahrscheinlicher hält, dass Lukas „im Hinblick auf 23,32f (sic! es muss wohl Apg 8,32f heißen) variiert“. STUHLMACHER, Jes 53, 97, geht davon aus, dass Lukas „nicht nach der Septuaginta, sondern im Anschluss an den hebräischen Text“ zitiere, aller-
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Das Zitat betrifft die Passion Jesu, spricht jedoch nur darüber, dass Jesus unter die Übeltäter gerechnet wurde, nicht aber von einer Stellvertretung oder einer sühnenden Wirkung seines Todes. Nun ist die Vorstellung des Sühnetodes bei Lukas insgesamt weniger betont als in den übrigen Evangelien.111 Lukas dürfte zwar durchaus die Vorstellung vom stellvertretenden Tod Jesu gekannt haben (vgl. Lk 22,20; Apg 20,28),112 hat sie jedoch für seine Leser nicht als vorrangig erachtet und nicht näher expliziert. Sein Verständnis des Todes Jesu geht deshalb in eine andere Richtung bzw. betont einen anderen Aspekt. In Lk 22,37 geht es ihm darum, mit Jes 53,12 LXX die Erniedrigung Jesu hervorzuheben.113 In diese Richtung geht interessanterweise auch die zweite Anführung aus Jes 53 im luk. Doppelwerk.
Apg 8,32f Das Zitat in der Apg zeigt bei etwa 40 Wörtern „fast völlige Übereinstimmung“ mit Jes 53,7f LXX.114 Nach Peter Stuhlmacher werde im Text „nicht näher ausgeführt“, wie das Evangelium aussah, „das Philippus dem ’Kämmerer’ ... verkündigt hat“, klar sei jedoch, dass „Philippus
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dings ohne nähere Begründung. Für die Variation zwischen den genannten Präpositionen in weiteren altkirchlichen Zitaten s. HOLTZ, Untersuchungen, 43 Fn. 1. Zum Verständnis des Todes Jesu bei Lukas s. W. KRAUS, Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser. Zum lukanischen Verständnis der Passion Jesu, in: R. GEBAUER und M. MEISER (Hg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums, FS O. Merk (MThSt 76), Marburg 2003, 29-43. Dazu KRAUS, Das jüdische Evangelium, 30. MITTMANN-RICHERT (s.o. Fn. 108) hat versucht nachzuweisen, dass die lukanischen Einsetzungsworte Jes 53 MT aufnehmen. Sie hat dies – im wesentlichen in Aufnahme der Arbeiten von Stuhlmacher und Grimm – verbunden mit der zusätzlichen Annahme, das Verständnis der stellvertretenden Lebenshingabe in Aufnahme von Aussagen aus Jes 43 und 53 bereits auf Jesus selbst zurückführen zu können. Diesen Versuch kennzeichnet ein doppeltes Problem: 1. Es lassen sich keine echten begrifflichen Anklänge nachweisen, sondern MITTMANN-RICHERT muss es unternehmen, motivische Anklänge im Hintergrund zu erkennen. Die genaue sprachliche Herleitung bleibt daher ungeklärt und die Unmöglichkeit, sprachliche Bezüge wirklich nachweisen zu können, bedeutet eine grundsätzliche Infragestellung dieser Position. 2. Die Behauptung, den Bezug der Einsetzungsworte auf die Stellvertretungsaussagen in Jes 43 und 53 auf Jesus selbst zurückführen zu können, ist keineswegs erwiesen. Dabei liegt zunächst überhaupt nichts daran, ob die Lebenshingabe des Gottesknechtes (Jes 53,12) im opfertheologischen Sinn verstanden werden muss oder nicht. Es geht vielmehr grundsätzlich um den Nachweis des Bezuges auf das Gottesknechtslied. Es bliebe ein Rätsel, warum Jes 53 MT in der frühen Christenheit nicht erkennbar häufiger zitiert oder auf ihn angespielt wurde, wenn es sich um eine schon auf Jesus zurückführbare Interpretation seines Todes handelte. HOLTZ, Untersuchungen, 31. Kleinere Differenzen werden bei HOLTZ, 31f, diskutiert. Dass Lukas den LXX-Text vor Augen hat, ist kaum bestreitbar.
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den Jesajatext auf Jesus bezogen, also christologisch ausgelegt hat.“115 Was in diesem Zusammenhang „christologisch“ meint, verlangt nach näherer Präzisierung. Ist mit einem christologischen Verständnis zugleich verbunden, dass Lukas aufgrund von Jes 53 ein „Gesamtbild von Jesu Wirken, Leiden und Erhöhung als Knecht Gottes“ vor Augen stellen will?116 Doch selbst wenn Lukas das möchte, ist damit nur gesagt, dass Jesus als leidender Gerechter gezeigt werden soll. Dies halte ich in der Tat für sehr wahrscheinlich (vgl. Lk 23,47). Eine Stellvertretungsaussage wie in Jes 53 MT ist jedenfalls nicht angezielt.117 Wie Jürgen Roloff m.E. zurecht betont, steht vielmehr das Schema von Erniedrigung und Erhöhung im Hintergrund. Jesus wird verstanden als „Gottesknecht, der als Prototyp des im Alten Testament geschilderten leidenden Gerechten das über ihn verhängte Leid geduldig und im Gehorsam gegen Gott auf sich nimmt.“118
1Petr 2,22.24f Dass der Verfasser des 1Petr das vierte Gottesknechtslied kennt und für sein Verständnis des Leidens und Sterbens Jesu nutzbar macht, scheint aufgrund von 1Petr 3,18 und 2,22-25 unbestreitbar.119 Bei 1Petr 3,18 ist ein direkter Bezug auf Jes 53 zumindest noch fraglich und keinesfalls unzweifelhaft evident. Zum einen ist die Terminologie mit Jes 53 LXX nicht gleich. Da in 1Petr 2,22-25 aber die LXX im Hintergrund steht, könnte anzunehmen sein, dass dies auch für 3,18 gelten sollte. 1Petr 3,18 spricht davon, dass Jesus a[pax peri. a`martiw/n e;paqen, di,kaioj u`pe.r avdi,kwn. Weder das peri, noch das u`pe,r sind in Jes 53 LXX in stellvertretendem Sinn belegt (u`pe,r begegnet gar nicht, peri, in V.4 beinhaltet nicht Stellvertretung). Zum andern lässt sich auch die zweite Hälfte des Verses: „damit er euch zu Gott hinführe“, womit ja das Ziel des Handelns Jesu beschrieben sein soll, nicht aus Jes 53 herleiten. Hofius geht deshalb davon aus, dass die Stellvertretungsaussage 115 STUHLMACHER, Jes 53, 101. 116 STUHLMACHER, Jes 53, 100. 117 Der Verzicht auf den Opfer- und Sühnegedanken entspricht nach A. WEISER, Die Apostelgeschichte. Kapitel 1-12 (ÖTK 5.1), Gütersloh/Würzburg 1981, 213, „der spezifisch luk[anischen] Sicht“. 118 ROLOFF, Apostelgeschichte, 141; vgl. JERVELL, Apostelgeschichte, 272f; WEISER, Apostelgeschichte I, 213. 119 R. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15/I), Leipzig 2005, 112, spricht von einer „an Jes 53 orientierte[n] Passionserinnerung“; vgl. C. BREYTENBACH, ‚Christus litt euretwegen’. Zur Rezeption von Jes 53 im 1. Petrusbrief, in: J. FREY / J. SCHRÖTER (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005, 437-454.
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aus Jes 53 hier zwar aufgenommen, zugleich aber sühnetheologisch – also im Sinn kultischer Sühne – weiterinterpretiert werde.120 Dies wird von Reinhard Feldmeier anders beurteilt: Er sieht weniger das sühnende Sterben als eher das Leiden betont.121 Von kultischer Sühne ist jedenfalls überhaupt nicht die Rede, selbst wenn man einen Bezug auf Jes 53 für evident hält.122 Der Bezug von 1Petr 3,18 auf Jes 53 scheint mir angesichts der nicht völlig übereinstimmenden Begrifflichkeit keineswegs eindeutig, gleichwohl jedoch wahrscheinlich. 1Petr 2,22 zitiert weitgehend Jes 53,9 LXX, wobei avnomi,a in Jes 53 durch a`marti,a in 1Petr ersetzt wurde. Die Verwendung des Zitats zielt auf Jesu vorbildhaftes Verhalten, an dem sich die Angeredeten im 1Petr ein Beispiel nehmen und seinen Fußtapfen nachfolgen sollen. 1Petr 2,23 könnte „inhaltlich“ durch Jes 53 „angeregt“ sein.123 1Petr 2,25 zitiert Jes 53,6 LXX. Dabei wird mit dem Zitat eine Parallelisierung zwischen dem Verhalten der Adressaten des 1Petr mit dem des Gottesknechtes aus Jes 53 vorgenommen. In 1Petr 2,24 werden Elemente aus JesLXX 53,4aa, V.11bb, V.12ca und schließlich V.5bb aufgenommen. Auch wenn keine Zitateinleitung vorliegt, so ist „die Aufnahme von Jes 53LXX eindeutig.“124 Die Aussage, dass Jesus die Sünden getragen habe (V.24aa), wird in V.24ab durch die Formulierung des Verfassers weitergeführt: evn tw|/ sw,mati auvtou/ evpi. to. xu,lon. Auch wenn Hofius zutreffend feststellt, dass „Christi Tod in diesen Sätzen nicht als ein stellvertretendes Tragen der Straffolge unserer Sünden“ angesehen wird,125 so wird Jesu Tod dennoch als ein „Sühnegeschehen interpretiert“.126 Jes 53 LXX dient dabei als Ausgangspunkt, um die durch Jesu Tod erfolgte Tilgung der „Sündenwirklichkeit“ auszusagen.127
120 HOFIUS, Gottesknechtslied, 126. 121 FELDMEIER, Brief des Petrus, 134; so auch BREYTENBACH, Christus litt euretwegen, 448f. 122 Richtig BREYTENBACH, Christus litt euretwegen, 448. 123 L. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief (KEK XII/1), Göttingen 1978, 206. 124 KOCH, Schrift, 234 Fn. 9. 125 HOFIUS, Gottesknechtslied, 125. 126 KOCH, Schrift, 234; vgl. N. BROX, Der erste Petrusbrief (EKK XXI), Neukirchen-Vluyn u.a. 1979, 138, der darüber hinaus auch einen Anklang an den „schuldlosen Sündenbock“ aus Lev 16,20-22 für möglich hält. Vorsichtiger KARRER, Jesus Christus, 124: „1Petr 2,21-24 benützt umfangreich die LXX. Jes 53,10b [MT] scheidet folgerichtig für die Pointe der Soteriologie aus. Der 1Petr entwickelt sie frei nach Jes 53,12: Christus trage die Sünden hinauf ans Kreuz (v.24). Das lässt sich nur in einem sehr weiten Sinn Sühne nennen.“ In diese Richtung argumentiert auch BREYTENBACH, Christus litt für uns, 447 Fn. 47: „Ausgeschlossen ist allerdings ein Opfergedanke, denn Sünden werden nie als Opfer auf den Altar getragen.“ 127 HOFIUS, Gottesknechtslied, 126.
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Wir können diesen Abschnitt so zusammenfassen: An den meisten Stellen, an denen Jes 53 im Neuen Testament zitiert wird, geht es nicht um Stellvertretung. Das wäre auch deshalb schwer möglich, da in der Regel die LXX zitiert wird und diese die Stellvertretungsaussage nicht enthielt. 1Petr 2 stellt eine Ausnahme dar. Hier geht es in der Tat um Jesu Tod als Sühne. Doch selbst im 1. Petrusbrief, in dem die Vorstellung von der Stellvertretung grundsätzlich bekannt ist (1Petr 3,18f), wird beim Zitat aus Jes 53 in 1Petr 2,22-25 die Formulierung, dass Jesus die Sünden ans Holz hinaufgetragen hat, nur teilweise aus Jes 53 gewonnen, teilweise jedoch vom Autor selbst formuliert.
3. Jesaja 53 LXX im Hintergrund von Aussagen im NT Werfen wir noch einen kurzen Blick auf drei Stellen, bei denen man zwar vorsichtig sein sollte, von einem Zitat aus Jes 53 zu sprechen, die aber in der Forschung in der Regel auf dem Hintergrund von Jes 53 verstanden werden: 1Kor 15,3; Röm 4,25; Hebr 9,28.
1Kor 15,3 Nach Peter Stuhlmacher spricht 1Kor 15,3b unter Aufnahme des u`pe,r aus der Abendmahlsparadosis „vom Tod des Christus u`pe.r tw/n a`martiw/n h`mw/n“. Die Wendung kata. ta.j grafa,j lasse „vor allem an die Erfüllung von Jes 53,5.10-12 denken“.128 Nach Otfried Hofius soll 1Kor 15,3b-5 – auch wenn sich keine absolute Sicherheit gewinnen lasse – sachlich auf Jes 53 zurückgehen. Er nennt vier textliche Bezüge zwischen der viergliedrigen Formel und Jes 53, die dies klar machen sollen.129 Die Formulierung u`pe.r tw/n a`martiw/n h`mw/n versteht er dabei als
128 STUHLMACHER, Jes 53, 99. Vorsichtiger J. FREY, Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: J.Ch. JANOWSKI / B. JANOWSKI / H.P. LICHTENBERGER in Zusammenarbeit mit A. KRÜGER (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Band 1. Interdisziplinäres Symposion Tübingen 2004, Neukirchen-Vluyn 2006, 87–121: 102: Der Verweis auf ‚die Schriften’ sei „relativ allgemein, so dass sich ein Bezug auf eine spezifische Stelle wie etwas Jes 53 kaum nachweisen lässt.“ Ausschließen, so FREY, lasse er sich allerdings auch nicht (103). 129 HOFIUS, Gottesknechtslied, 118 Fn. 56. Die vier Elemente der vorpaulinischen Formel entsprächen demnach Aussagen aus Jes 53: I: avpe,qanen ktl Jes 53, 4a.5.6b.8b.11b.12b.c // II: evta,fh Jes 53,9a // III: evgh,gertai Jes 53,10b.11a; 52,13 // IV: w;fqh Jes 52,15b; 53,1.
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„sprachliche Variante“ zu dia. ta.j a`marti,aj h`mw/n.130 1Kor 15,3 wird von Hofius mit Jes 53,5a MT bzw. 53,5ab LXX parallelisiert. Die Schlussfolgerung lautet: u`pe,r in 1Kor 15,3 sei kausal zu verstehen. Belegt wird das mit 3Kgt 16,18f, wo es von Simri heißt: avpe,qanen u`pe.r tw/n a`martiw/n auvtou/. Die Wendung avpoqnh,skein u`pe.r tw/n a`martiw/n entspreche hebräisch afn bzw. lbs + Sündenterminus: „die Straffolgen der eigenen Schuld tragen.“131 Die Argumentation enthält eine Reihe von Problemen. Grundsätzlich ist festzustellen, dass bei den Parallelen, die Hofius zwischen 1Kor 15 und Jes 53 zieht, unklar bleibt, ob eine Beziehung auf den hebräischen Text oder die LXX vorliegt. Simri starb nach in 3Kgt 16,18f wegen seiner eigenen Sünden. Es lässt sich mit dieser Stelle lediglich der Gebrauch von u`pe,r c. gen. in kausalem Sinn belegen. Das u`pe,r in 3Kgt 16,18f steht für hebräisch l[. In Jes 53,5 fehlen afn und lbs. In Jes 53,5 ist von Krankheiten und Schmerzen, aber nicht von Sünden die Rede. In Jes 53,11b/12b kommen zwar hebräisch afn und lbs vor, werden dort jedoch nicht mit l[ konstruiert. Die Bezüge sind also bei weitem nicht so eindeutig, wie Hofius dies behauptet. Jörg Frey nennt den Bezug daher „eher implizit“; 1Kor 15,3 „’erinnert’ lediglich an diese Schriftstelle, ohne daß sich der Rückbezug streng nachweisen ließe.“132 Ich würde noch vorsichtiger formulieren. Ein Bezug von 1Kor 15,3 auf Jes 53 scheint mir deshalb nur schwerlich nachweisen, weil (1) das u`pe.r tw/n a`martiw/n von 1Kor 15,3 in Jes 53 nicht vorkommt und (2) in 1Kor 15,3 von avpoqnh,skein und nicht von paradido,nai wie in Jes 53 die Rede ist. Es kommt schließlich (3) jenseits der bisherigen Diskussion noch ein weiterer Grund hinzu: 1Kor 15,2 wird paradido,nai im Sinn von „überliefern“ und keineswegs von „ausliefern“ gebraucht wird, also völlig anders als in Jes 53. Die Begrifflichkeit in 1Kor 15,3b-5 lässt einen direkten Bezug auf Jes 53 daher eher unwahrscheinlich erscheinen.133 Das wechselweise Heranziehen von hebräischem Text und LXX scheint mir dabei methodisch fragwürdig.
130 HOFIUS, Gottesknechtslied, 119 Fn 57. Der Plural kata. ta.j grafa,j stehe der Tatsache nicht entgegen, dass Jes 53 die einzige Stelle ist, in der es um Stellvertretung im AT geht, denn der Ausdruck bedeute „gemäß der Schrift“ (119). 131 HOFIUS, Gottesknechtslied, 119. 132 FREY, Deutung, 103. 133 Vgl. GOPPELT, Der Erste Petrusbrief, 206: „Die älteste christologische Formeltradition über die Sühnebedeutung des Todes Jesu, z.B. 1Kor 15,3 und Röm 4,25, griff überraschenderweise nicht auf Jes 53 zurück.“
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Röm 4,25 Eine Beziehung von Röm 4,25a zu Jes 53 bestreiten zu wollen, scheint unmöglich. In den meisten Kommentaren wird nicht das ‚dass’, sondern nur das ‚wie’ diskutiert.134 In Röm 4,25 hat nach P. Stuhlmacher „vor allem der hebräische Text von Jes 53,5.11 Pate gestanden.“135 Den Grund dafür sieht er darin, dass die LXX es nahe gelegt hätte, statt von paraptw,mata von a`marti,ai zu sprechen. Auch sei im LXX-Text nicht von der Rechtfertigung der Vielen, sondern von der Wiedereinsetzung des Gottesknechtes, d.h. von seiner Rechtfertigung die Rede. Nach O. Hofius berührt sich Röm 4,25a eng mit Jes 53,12cb LXX und erinnert zugleich an Jes 53,5a LXX. Röm 4,25b lasse hingegen an Jes 53,11 MT denken.136 Wie ist das doppelte dia, zu verstehen? Von Jes 53 her wäre das erste dia, kausal, das zweite final zu deuten. Bei Paulus bekämen beide jedoch finalen Sinn, da Paulus die Formel „im Sinne des von ihm vertretenen Sühnegedankens“ gebrauche.137 Es sei daher zu übersetzen: „Er ist zur Sühnung unserer Verfehlungen (in den Tod) dahingegeben und zu unserer Gerechtmachung auferweckt worden.“138 Beide Argumentationslinien enthalten Schwierigkeiten. Die Vermischung von Bezügen zu MT und LXX scheint mir, wie gesagt, vor allem methodisch problematisch. Lexikalisch wird Bezug genommen auf Jes 53 LXX, theologisch jedoch auf den MT. Dabei werden Halbverse der jeweiligen Version herangezogen und mit den neutestamentlichen Belegen in Beziehung gesetzt.139
134 Vgl. die Kommentare von CRANFIELD, DUNN, FITZMYER, KÄSEMANN, KUSS, LEENHARDT, MICHEL, SCHLIER, WILCKENS und jüngst R. JEWETT, Romans. A Commentary (Hermeneia), Minneapolis 2007: „There is a consensus that this widespread use of paradi,dwmi in early Christian confessions was influenced by the Suffering Servant song in Isa 53.” Ausnahmen sind etwa GOPPELT, s.o., daneben KOCH, Schrift, 237f, D.G. POWERS, Salvation through Participation: An Examination of the Notion of the Believers’ Corporate Unity with Christ in Early Christian Soteriology (CEBT 29), Leuven 2001, 128-130. 135 STUHLMACHER, Jes 53, 98. 136 HOFIUS, Gottesknechtslied, 121. 137 HOFIUS, Gottesknechtslied, 122. Ein finales dia, mit Akkusativ ist im neutestamentlichen Griechisch nicht eindeutig nachweisbar, vgl. dazu KRAUS, Tod Jesu, 93-95. 138 HOFIUS, Gottesknechtslied, 122 (kursiv im Original). 139 Einen Vorschlag für eine andere hebräische Vorlage von Röm 4,25a hat H. PATSCH, Zum alttestamentlichen Hintergrund von Römer 4,25a und 1.Petrus 2,24, ZNW 60 (1969), 273-279, eingebracht. Er vermutet, dass sowohl Röm 4,25a als auch Jes 53,12b LXX unabhängig voneinander auf eine gemeinsame hebräische Vorform zurückgehen, wie sie in 1QJesa bzw. 1QJesb belegt ist. Dem wurde von J. JEREMIAS, Neutestamentliche Theologie I, Gütersloh 1971, 281f Fn. 80, mit dem Argument widersprochen, dass dann beide Übersetzungen [gp hi. „unabhängig voneinander mit a) demselben Verbum, b) passivisch und c) präterital wiedergegeben haben sollten“, was als „ausgeschlossen“ zu gelten habe (vgl. KOCH, Schrift, 237 Fn. 21).
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Nach Jörg Frey werde in Röm 4,25a bis auf das Stichwort paraptw,mata „exakt Jes 53,12 LXX“ aufgenommen, und Jes 53,5 lese ebenfalls dia. ta.j a`marti,aj h`mw/n. Daher klinge der Halbvers 4,24a „wie eine Zusammenfassung von Jes 53,5.12 LXX“.140 In 4,25b sei die Entsprechung zwar nicht so eng, das Lexem dikaiou/n begegne jedoch in Jes 53,11 LXX, so dass sich die Folgerung nahe lege, „beide Stichoi von Röm 4,25 [seien] in zusammenfassender Aufnahme von Jes 53 formuliert“ worden. 141 Aussagen mit dia, und Sündenbegriff im Akkusativ finden sich in der Tat in Jes 53,5.12 LXX, in V.5 allerdings mit evtraumati,sqh und memala,kistai gebildet, nicht so in V.12. Der Begriff paradido,nai findet sich in Jes 53,12 LXX, hier jedoch nicht mit paraptw,mata wie in Röm 4, sondern mit a`marti,ai kombiniert. Andererseits findet sich die Aussage der dikai,wsij von Menschen (Röm 4,25b) nicht in Jes 53,12 LXX, sondern nur im MT. Vielmehr wird in V.11 LXX von der Rechtfertigung des Knechtes gesprochen. Es begegnet also zwar das Lexem dikaiou/n, aber völlig anders gewendet. Und schließlich sind die Verursacher für das Ausgeliefertwerden in Jes 53,12 LXX und Röm 4,25a nicht kompatibel. Das entscheidende Argument für eine Anknüpfung an Jes 53 im frühesten Christentum sieht Jörg Frey aber nicht im Nachweis expliziter Zitate gegeben. Sachlich entscheidend sei vielmehr, dass die „Aussage der Stellvertretung mit Sündenbegriff“ sowohl in Jes 53 als auch in Röm 4,25 vorliege. Daraus sei die Anknüpfung „am klarsten“ ersichtlich.142 Nun müsste diese Argumentation noch einmal überdacht werden, wenn – wie oben vertreten – in Jes 53 LXX eine solche Vorstellung nicht vorliegen würde. Eine direkte stringente Herleitung von Röm 4,25 aus Jes 53 LXX – unter der Voraussetzung, dass dort bereits ein Verständnis von Stellvertretung vorgelegen habe, was jetzt auf Jesus Anwendung finde – scheint mir deshalb zumindest zweifelhaft. Als schlüssig bewiesen kann eine solche Ableitung jedenfalls nicht gelten.
Hebr 9,28 Beim Verständnis von Hebr 9,28 ist Otfried Hofius m.E. ausdrücklich zustimmen. „Dass hier Jes 53,12ca LXX (auvto.j a`marti,aj pollw/n 140 FREY, Deutung, 103. 141 FREY, Deutung, 104. Röm 4,25 sei daher sehr viel stärker von „alttestamentlichfrühjüdischen Vorgaben“ bestimmt, als von der pagan-hellenistischen Vorstellung eines ‚Sterben für’ jemanden“ (107). 142 FREY, Deutung, 104.
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avnh,negken) aufgenommen wird, kann nicht zweifelhaft sein.“143 Von einem Zitat würde ich zwar nicht sprechen, denn weder gibt es eine Zitateinleitung, noch stimmt Hebr 9,28 völlig mit Jes 53,12 LXX überein. Wie jedoch auch Martin Karrer erneut betont hat, steht das Verbum avnafe,rein zusammen mit einem Terminus für Schuld außer in Jes 53 nur noch Num 14,34 LXX.144 Daher scheint der Bezug auf Jes 53,12 LXX zwingend.145 Die Formulierung klingt so, als sei in Hebr 9,28 davon die Rede, dass „Christus stellvertretend für die Vielen die Straffolge ihrer Sünden getragen habe.“146 Diese Auffassung wird von Hofius zurecht verneint: „Ein solches Verständnis wird jedoch durch die vor- und übergeordnete Aussage, daß Christus ‚zum Opfer dargebracht worden ist’, von vornherein ausgeschlossen. Die Opferterminologie (prosfe,resqai) zeigt nämlich deutlich genug an, daß die Aussage von Jes 53,12ca LXX in die soteriologische Gesamtsicht des Hebräerbriefes hineingenommen ist: in die Lehre vom Selbstopfer des Hohenpriesters Christus, das der Verfasser als ein Sühnegeschehen begreift, durch das die Sündenwirklichkeit beseitigt und den Sündern der Zugang zu Gott eröffnet worden ist.“147 Das bedeutet jedoch, dass der Hebräerbrief Jes 53 LXX nicht als Sühnegeschehen interpretiert hat. Ob das nicht einen indirekten Hinweis zu dem beinhaltet, was oben Abschnitt I zu Jes 53 LXX ausgeführt wurde? Nimmt der Hebräerbrief Jes 53 in der von Hofius herausgestellten Weise etwa deshalb so und nicht anders auf, weil der Zitattext die Vorstellung von stellvertretender Sühne gar nicht enthielt bzw. so nicht verstanden wurde?
4. Fazit Wie es zur Vorstellung vom stellvertretenden Sühnetod Jesu im Neuen Testament kam, ist mit meinen Überlegungen nicht beantwortet. Das war auch nicht beabsichtigt. Soviel ist klar: Jes 53 LXX, jener Text, der im NT in der Regel zitiert wird, stand bei den frühen Autoren nicht im 143 HOFIUS, Gottesknechtslied, 124. 144 M. KARRER, Der Brief an die Hebräer. Kapitel 5,11-13.25 (ÖTK 20/2), Gütersloh 2008, 170. Vgl. S. FUHRMANN, Vergeben und Vergessen. Christologie und Neuer Bund im Hebräerbrief (WMANT 113), Neukirchen-Vluyn 2007, 221 Fn. 390, mit Bezug auf Schröger, Gräßer und Weiß. 145 Vorsichtig urteilt FUHRMANN, Vergeben, 220ff: vergleichbar sei noch Ez 36,15 (221 Fn. 389). Wegen der Differenzen zwischen Jes 53,10 MT und LXX könne Hebr 9,28 nicht direkt auf Jes 53 referieren (221). Er denkt daher eher an die Auslegungstradition von Jes 53 als Hintergrund (222). 146 HOFIUS, Gottesknechtslied, 124. 147 HOFIUS, Gottesknechtslied, 124.
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Hintergrund und hat dafür nicht das Modell abgegeben. Jes 53 LXX wurde zunächst herangezogen, um Erniedrigung und Erhöhung Jesu auszusagen. Dass Jes 53 MT später im Sinn von stellvertretender Lebenshingabe Bedeutung bekam und einer schon bestehenden soteriologischen Interpretation des Todes Jesu eingefügt wurde, soll damit nicht bestritten werden. Hierher könnte dann auch Mk 10,45 gehören.148
148 In Mk 10,45 handelt es sich nicht um ein Zitat aus Jes 53, sondern um eine sehr komplexe Bezugnahme. Grundsätzlich halte ich die Stelle mit J. ROLOFF (Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu [Mk. X.45 und Lk. XXII.27], in: DERS., Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hg. von M. KARRER, Göttingen 1990, 117– 143) nicht für ein Jesus-Logion, sondern für eine nachösterliche Zusammenfassung der heilsmittlerischen Sendung Jesu (mit nachösterlicher Entstehung rechnen auch G. THEIßEN / A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996, 104.371.458). Das Wort könnte gebildet sein auf der Basis der Abendmahlsüberlieferung aus dem Wort Jesu vom Dienen, wie es sich in Lk 22,27 findet. Der Bezug zur Abendmahlsüberlieferung wird noch durch eine andere Überschneidung nahegelegt: Von den ‚Vielen’ spricht nicht die paulinisch-lukanische, sondern nur die markinische Abendmahlsüberlieferung (Mk 14,24). Durch das inklusive avnti. pollw/n in Mk 10,45b kann auf Jes 53 angespielt sein. Allerdings fehlt das avnti, in Jes 53 LXX, wie auch, was schwerer wiegt, der Begriff lu,tron. Dieser ist in der LXX bei 46 Belegen nie die Übersetzung von ~va (vgl. zur Sache KRAUS, Tod Jesu, 179-183.195-197). Auch in dem verschiedentlich als traditionsgeschichtlichem Hintergrund favorisierten Bezugstext Jes 43,3f (Stuhlmacher und Grimm) findet sich gerade nicht der Begriff lu,tron. Hier steht vielmehr a;llagma als Wiedergabe von rpwk. Man könnte höchstens auf Umwegen argumentieren: rpwk hat mehrfach auch lu,tron als griechisches Äquivalent: Ex 21,30; 30,12; Num 35,31; 35,32; Prov 6,35; 13,8 (dazu KRAUS, Tod Jesu, 182.196). Daher könnte hinter lu,tron in Mk 10,45 hebr. rpwk stehen. Allerdings: die Ursache und das Ziel des Einsatzes von Leben in Jes 43,3f lässt sich nur schwerlich mit Jesu Lebenshingabe vergleichen. Die Bezugsverhältnisse sind daher so nicht zu lösen. Jedenfalls steht nicht einfach Jes 53,10-12 LXX im Hintergrund von Mk 10,45. Die lexikalisch nachweisbare Bezugnahme besteht (1) in den ‚Vielen’ und (2) in yuch, / vpn. Für den Gebrauch des Stichwortes lu,tron / rpwk kann Jes 53 nicht dienen. Das hebräische Äquivalent von avnti. pollw/n kann wohl in ~ybrl aus Jes 53,11 MT gesucht werden; von ‚vielen’ spricht aber auch die LXX (V.12). Entscheidend bleibt dann der motivische Bezug, nämlich der, dass einer sein Leben für andere einsetzt. Hierbei hat Jes 53 eine singuläre Bedeutung. Das gilt allerdings nicht für die LXX, sondern für den hebräischen Text. Man muss daher mit einer freien Verarbeitung verschiedener Elemente unterschiedlicher Herkunft rechnen und muss sich vielleicht für Mk 10,45 mit dem beschränken, was bereits Jürgen Roloff formuliert hat: „In einer in der Schrift lebenden Gemeinde musste das Bild des sich im Dienen hingebenden Jesus fast zwangsläufig die entsprechenden Wendungen aus Jes. liii an sich ziehen, ohne dass es dabei einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Kontext bedurft hätte.“ (ROLOFF, Anfänge, 142.)
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Übersetzung von Jes 531 Der leidende Gottesknecht und seine Erhöhung [52,13-53,12] 13 Siehe, mein Knecht wird zur Einsicht gelangen2 + und wird erhöht und überaus geehrt3 werden. 14 Dementsprechend wie sich viele über dich4 entsetzen werden – so entehrt5 wird deine Gestalt6 sein vonseiten der Menschen, und deine Ehre7 vonseiten der Menschen –,8 15 ebenso werden viele Völkerschaften über ihn staunen, und Könige werden ihren Mund geschlossen halten; denn diejenigen, denen nichts über ihn9 verkündet wurde, werden sehen, und die, die nicht gehört haben, werden zur Einsicht gelangen. 531 Herr, wer glaubte unserer Kunde?10 Und der Arm des Herrn – wem wurde er enthüllt? 2 Er wuchs auf11 vor ihm wie ein kleines Kind, wie eine Wurzel in dürstendem Land, keine (Wohl-)Gestalt hat er und keine Ehre; und wir sahen ihn, und er hatte keine (Wohl-)Gestalt und keine Schönheit;
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Die Übersetzung erfolgt in Anlehnung an und Diskussion mit Septuaginta Deutsch (LXX.D). Die bei Jes 53 in LXX.D beteiligten Übersetzer und Bearbeiter sind: J. KABIERSCH, K. BALTZER, H. GÖRGEMANNS, F. WILK. Textliche Grundlage ist grundsätzlich J. ZIEGLER, Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum Auctoritate Academiae Scientarum Gottingensis editum, XIV Isaias, Göttingen 19833; die Ausgaben von A. RAHLFS, Septuaginta, Stuttgart 1935 und deren Revision durch R. HANHART, Stuttgart 2006, werden stets verglichen. V.13: zur Einsicht gelangen oder: Verständnis erlangen, verstehen, vgl. 52,15 und 53,11. V.13: geehrt oder: verherrlicht (doxasqh,nai). V.14: über dich: MT liest ebf. „über dich“ (aläjcha), BHS schlägt im App. vor: alajw = „über ihn“ zu lesen. V.14: entehrt oder: ehrlos, in Unehren sein. V.14: Gestalt griech. eivdo,j. Das Wort heißt Aussehen, Gestalt, es ist mehrfach gebraucht: neben 52,14 noch 53,2a.2b.3. V.14: Ehre oder: Ansehen, Würde. Do,xa ktl hat Leitwortcharakter: V.13: doxasqh,setai, V.14a: avdoxh,sei, V.14b: do,xa, 53,1: do,xa. V.14: vonseiten der Menschen zweimal avpo, mit Genitiv; Genitiv im Sinn des Urhebers, BDR § 210, 2. V.15: über ihn oder: darüber. V.1: unserer Kunde oder: der uns zugekommenen Botschaft.
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sondern seine Gestalt war verachtet, zurückstehend hinter allen Menschen, ein Mensch, der unter einem (Unglücks-)Schlag12 steht und Krankheit13 zu tragen weiß, denn er hält sein Antlitz abgewandt, er wurde verachtet und nicht anerkannt. + Dieser erträgt14 unsere Sünden und leidet um unsertwillen15 Schmerzen,16 aber wir hielten ihn für einen, der in Mühsal, unter einem (Unglücks-)Schlag + und im Elend sei. Er aber wurde verwundet aufgrund unserer Gesetzlosigkeiten und ist mit Krankheit beladen17 aufgrund unserer Sünden:18 Erziehung (, die) zu unserem Frieden (dient, liegt) auf ihm,19 durch seine Strieme sind wir geheilt. Wir alle gingen wie Schafe in die Irre, (jeder) Mensch ging auf seinem Weg in die Irre; aber der Herr lieferte ihn + unseren Sünden aus20. Und er – weil er misshandelt ist21 – + öffnet nicht den Mund; wie ein Schaf wurde er zur Schlachtung geführt, und wie ein Lamm22, das vor seinem Scherer stumm ist, so öffnet er seinen Mund nicht. In der Erniedrigung wurde sein + Recht aufgehoben;23 seine Generation24 – wer wird (von ihr) berichten? Denn25 hinweggenommen von der Erde26 wird sein Leben. Von27 den Gesetzlosigkeiten28 meines Volkes wurde er in den Tod geführt. V.2: Er wuchs auf Cj. bei ZIEGLER (vgl. MT): avne,teile me,n; RAHLFS liest mit den Hss. „wir verkündeten“ (avnhggei,lamen). Die Verwechslung von avnate,llein und avnagge,llein ist in der handschriftlichen Überlieferung der JesLXX mehrfach erfolgt: Jes 42,9; 43,19; 45,8; 47,13 (ZIEGLER, Isaias, 99). HENGEL, Wirkungsgeschichte, 85, vermutet ein sehr frühes Abschreiberversehen. V.3: (Unglücks-)Schlag griech. plhgh, meint eigentlich den Hieb oder die Folge davon: die Wunde, im übertragenen Sinn auch das Unglück oder den Schicksalsschlag (BAUER, Wörterbuch, 1343). V.3: Krankheit oder Gebrechen. V.4: erträgt griech. fe,rein heißt schleppen, (geduldig) tragen, ertragen, sich gefallen lassen (BAUER, Wörterbuch, 1704f). V.4: um unsertwillen oder: uns zugute, für uns (peri, mit Genitiv). V.4: leidet ... Schmerzen wörtlich: liegt in Wehen. V.5: mit Krankheit beladen oder: gebrechlich geworden. V.5: aufgrund oder: wegen. Andere übersetzen: um ... willen. Es steht jedoch zweimal dia, mit Akkusativ, anders in V.4: dort peri, mit Genitiv. V.5: Erziehung (,die) zu unserem Frieden (dient, liegt) auf ihm oder: unsere Erziehung zum Frieden ruht auf ihm; möglich wäre auch: Züchtigung (, die) auf unseren Frieden (gerichtet ist, fällt) auf ihn. V.6: lieferte ihn unseren Sünden aus andere übersetzen: „gab ihn dahin wegen unserer Sünden“, aber hier steht kein dia, mit Akkusativ, sondern Dativ Plural: ku,rioj pare,dwken auvto.n tai/j a`marti,aij h`mw/n. V.7: weil er misshandelt ist wörtlich: wegen des Misshandeltseins. V.7: Schaf … Lamm: Umstellung gegenüber dem MT. V.8: sein + Recht aufgehoben oder: der Rechtsentscheid, das Rechtsurteil über ihn. V.8: seine Generation oder: sein Geschlecht. V.8: denn griech. o[ti, vgl. BDR § 456, 1. V.8: von der Erde oder: vom Land.
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Aber ich werde die Bösen für29 sein Grab und die Reichen für seinen Tod (dahin)geben,30 denn er hat keine Gesetzlosigkeit getan, und es wurde kein Trug in seinem Mund gefunden. 10 Und der Herr will ihn reinigen von dem (Unglücks-)Schlag. Wenn ihr ein Sündopfer31 darbringt, wird eure Seele eine langlebige Nachkommenschaft sehen. Aber der Herr will + (etwas) wegnehmen von der Mühe seiner Seele, 11 um ihm Licht zu zeigen und (ihn) für die Einsicht zu gestalten, Gerechtigkeit zu verschaffen einem Gerechten, der Vielen gut dient. Und ihre Sünden wird er selbst auf sich nehmen.32 12 Deshalb wird er viele beerben und der Mächtigen Beute als Teil erhalten, dafür, dass seine Seele dem Tod ausgeliefert33 wurde und er unter die Gesetzlosen gerechnet wurde; und er selbst hat die Sünden vieler auf sich genommen34 und wegen ihrer Sünden wurde er (dem Tod) ausgeliefert.35
Zeichenerklärung: Normale Schrift: LXX und MT (BHS) stimmen überein. Kursive Schrift: LXX und MT (BHS) unterscheiden sich. + Zeichen: MT (BHS) hat erkennbar mehr Text.
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V.8: von mit ‚von’ beginnt ein neuer Gedanke, daher ist davor ein Punkt zu setzen. V.8: von den Gesetzlosigkeiten hier avpo, mit Genitiv im Sinn des Urhebers, vgl. BDR § 210, 2. V.9: für oder: anstelle (avnti,). V.9: für sein Grab … für seinen Tod sinngemäß „um seiner Tötung willen“. V.10: ein Sündopfer wörtlich: (etwas) für die Sünde. V.11: auf sich nehmen oder: ertragen, s.u. V.12. V.12a: ausgeliefert oder: dahingegeben. V.12: auf sich genommen oder: ertragen, griech. avnafe,rein wörtlich: hinaufbringen, (sich) aufbürden, auch: darbringen (Opfer), aber nicht: wegschaffen, vgl. BAUER, Wörterbuch, 125, 3. V.12b: ausgeliefert oder: dahingegeben, ergänze: dem Tod, vgl. V.12a.
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Superstitio. Facetten eines antik-religionstheoretischen Diskurses und die Genese des frühen Christentums als religio Gudrun Guttenberger
1. Einleitung Als das frühe Christentum zu Beginn des 2. Jahrhunderts erstmals in der griechisch-römischen Literatur als eine eigenständige Größe erwähnt wurde, erfolgte seine Klassifikation als superstitio. In den Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der römischen Oberschicht muss diese Klassifikation als so evident und ihre Notwendigkeit als so drängend erschienen sein, dass sowohl Tacitus, als auch Suetonius und Plinius sie vornahmen.1 Die drei frühsten Erwähnungen des Christentums bestimmen dieses mithin einhellig als superstitio.2
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Suetonius, Tacitus und Plinius gehören zur römischen Oberschicht, Tacitus und Plinius waren gleichaltrig und kannten einander (Plinius, Ep. VII 20; IX 23,2). Tacitus entstammte vermutlich dem Ritterstand (zur Diskussion der Herkunft vgl. S. SCHMAL, Tacitus, Darmstadt 2005, 14-18), Plinius dem Senatorenstand; beide waren in engem zeitlichen Zusammenhang Statthalter in der Asia (Tacitus, 112-113) und in Bithynia Pontus (Plinius, 110-111). Suetonius, ebenfalls dem Ritterstand entstammend, war ein jüngerer Freund des Plinius (Plinius, Ep. III 8). Die Bezeichnung des frühen Christentums als superstitio spiegelt die gemeinsame Sicht römischer Oberschichtsmit-glieder zu Beginn des 2. Jhs. Plinius kannte zudem zumindest einige Schriften von Tacitus (Ep. VII 20); Vgl. dazu S. BENKO, Pagan Rome and the Early Christians, Bloomington 1986, 14.21; D. LÜHRMANN, Superstitio. Die Beurteilung der frühen Christen durch die Römer, ThZ 62 (1986), 191- 213: 191. Eine entsprechend frühe griechischsprachige Klassifikation des Christentums mittels des Begriffs deisidaimoni,a ist nicht überliefert. Zwar lassen sich Einzelvorwürfe des Kelsos dem typischerweise als deisidaimoni,a klassifizierten Phänomenkomplex zuordnen (vgl. D.B. MARTIN, Inventing Superstition. From the Hippocratics to the Christians, Cambridge [MA] 2004, 140-159), eine ausdrückliche Bezugnahme ist jedoch nicht belegt. Dieser Befund legt es nahe, den lateinischen Begriff zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu nehmen. Das Vorgehen von MARTIN, Superstition, der die Begriffsgeschichte im griechischen Sprachraum ausführlich nachzeichnet, dem Begriff superstitio jedoch nur wenige Seiten (125-139) widmet, ist schwer nachvollziehbar und sachlich kaum angemessen.
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Tacitus und Suetonius beziehen sich im Zusammenhang ihrer Darstellung der Regierungszeit Neros auf die Christen. Suetonius schreibt Nero die Verhängung der Todesstrafe für römische Christen zu und bestimmt dieses als neue und böswillige superstitio: „afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficae“ (Nero 16).3 Die Verwendung des Adjektivs maleficus ist im forensischen Kontext signifikant, weil damit die böse Absicht gefasst und als Näherbestimmung zu superstitio weiterhin auf den Bereich der Ausübung böser Magie verwiesen wird.4 Die römischen Christen treten damit ins Bewusstsein der römischen Oberschicht im Kontext staatlicher restriktiver Regulierung von illegitimen und gefährlichen Formen der Religion. Tacitus kommt im Zusammenhang des Brandes Roms und der Gerüchte, Nero selbst habe den Brand gelegt, auf die Christen zu sprechen und erklärt die Wahl dieser Gruppe durch deren Charakterisierung als exitiabilis superstitio. („quos per flagitia invisos ... in praesens exitiabilis superstitio rursum erumpebat, non modo per Iudeam … sed per urbem etiam …“ Ann. XV 44). Dabei führt er die Entstehung der Bewegung auf Judäa und Christus zurück. Mit der Erwähnung Judäas ist das Christentum für die Leser und Leserinnen gleich doppelt als superstitio gekennzeichnet, gelten für Tacitus doch insbesondere Ägypter und Juden5 als Vertreter von superstitio, die er ausdrücklich als Alternative zur religio (Tacitus, Hist. V 13) pejorativ markieren kann. Tacitus nimmt das frühe Christentum damit als eine östliche, dem Judentum verwandte Größe wahr und spricht ihm jede religiöse Würde ab. Mit dem Verweis auf die Verhängung der Todesstrafe über den Gründer steht auch hier die Strafbarkeit der christlichen superstitio am Rande des Wahrnehmungsfeldes.6 Plinius minor thematisiert in seinem Brief an 3
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Suetonius bezeichnet ägyptische und jüdische Religion im Zusammenhang einer Vertreibung aus Rom als superstitio; im gleichen Absatz ist auch von der dann unterlassenen Vertreibung von Astrologen die Rede (Tib. 36). Nero wird als contemptor der Religion und als superstitiosus beschrieben: Verehrt habe er nur die Dea Syra, was er später jedoch zugunsten der Verehrung einer imaguncula puellaris aufgegeben habe (Nero 56). Ein letzter Beleg beschreibt die Verehrung Minervas durch Domitian adverbiell als superstitiosus (Dom. 15). Vgl. BENKO, Rome, 20f; gegen LÜHRMANN, Superstitio, 195. Vgl. Tacitus, Ann. II 85; Hist. I 11; II 4; IV 81.83; V 8. Als nicht minder abscheulich beurteilt Tacitus die religiösen Bräuche der Briten und Germanen (vgl. Ann. XIV 30; Hist. IV 54.61). Vgl. M. STERN, The Jews in Greek and Latin Literature, in: S. SAFRAI und M. STERN (Hg.), The Jewish People in the First Century (CRINT 1.II), Assen 1976, 1101-1159: 1153-1157; BENKO, Rome, 16. Anklagen vor Gericht wegen superstitio kennt Tacitus und berichtet von zwei Fällen unter Nero gegen römische Bürger der Oberschicht, die er für verleumderisch hält: Statilius Taurus sei nach seiner Rückkehr aus der Provinz Africa wegen magica superstitio (Ann. 12.59), Pomponia Graecina wegen superstitio externa angeklagt worden. Ersterer nahm sich das Leben, die an zweiter Stelle Erwähnte wurde freigesprochen.
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Trajan die Frage nach dem angemessenen staatlichen Umgang mit den Christen in Bithynien; in seinem Bericht über sein bisheriges Vorgehen schildert er das Ergebnis seiner Zeugenbefragungen, die insbesondere der Untersuchung der Frage dienten, ob bereits die Mitgliedschaft strafbewehrte Verbrechen impliziere. Sowohl die Aussagen inzwischen aus der christlichen Gemeinde wieder ausgeschiedener Personen als auch die Befragung zweier ministrae unter Folter hätten keine Hinweise auf solche Verbrechen ergeben, sondern „nihil aliud … quam superstitionem pravam et immodicam“ (Ep. X 96,8) zutage gefördert. Wenige Sätze später beschreibt Plinius die dynamische Ausbreitung des Christentums in Bithynien und charakterisiert diese als superstitionis istius contagio, verwendet also eine Metapher aus dem Bereich der Krankheit. Die beiden Adjektive, pravus und immodicus, charakterisieren die superstitio eher als Irrtum und Zeichen fehlender Bildung denn als strafwürdiges Vergehen; auch die Verwendung der Metapher aus dem medizinischen Bereich könnte zwar Assoziationen mit einem Schadenszauber, also böser Magie, anklingen lassen, legt den Akzent aber anders als Tacitus nicht auf die Strafverfolgung, sondern auf die Verständigung auf Maßnahmen zur Regulierung und Wiedergewinnung der Kontrolle. Im Folgenden ist nun zu fragen, welche inhaltlichen und funktionalen Implikationen die Klassifikation als superstitio für die Wahrnehmung des frühen Christentums hatte. Versucht wird in einem ersten Schritt die Skizzierung der sich am Begriff superstitio resp. deisidaimoni,a kristallisierenden Debatte über legitime Religionsausübung in römischen und griechischen Texten.7 In einem nächsten Schritt wird nach 7
In der griechisch-römischen polytheistischen Gesellschaft wurde das Gespräch über die legitime Religion anders als im jüdischen und dann frühchristlichen Kontext nicht in den Kategorien der wahren oder falschen Religion geführt (zur Götzenpolemik in der frühchristlichen Auseinandersetzung mit den griechisch- römischen Religionen vgl. 1Thess 1,9; Apg 14,15; vgl. dazu KLAUCK, Magie [s. Anm. 128], 74.), sondern über die Qualifikation bestimmter Formen der Religionsausübung als „Magie“, „Goetie“ oder „Aberglauben“. Vgl. Seneca, Clem. II 5.1: „religio deos colit, superstitio violat“; vgl. weiter Ep. 123.16. Zur älteren Forschung vgl. R. MCMULLEN, Paganism in the Roman Empire, New Haven/London 1981, 2 u.ö. mit der Bestimmung römischer ‚Intoleranz’ gegenüber dem Christentum als Ausnahme, und LÜHRMANN, Superstitio, 195. Zur neueren Forschung vgl. M. BEARD / J. NORTH / S. PRICE, Religions of Rome 1: A History, Cambridge (MA) 1998, 212f, mit dem Versuch, römische Religionsgeschichte als Integrations- und Konfliktgeschichte getragen von einem konstanten römischen Dominanzwunsch plausibel zu machen: „ Rom was never a religious ‚free for all’. The Roman élite undoubtedly conceived of its own religious system as superior to the cults of its conquered subjects. No Roman propounded the view that Rome should respect the religious liberty of other peoples … In setting boundaries between the legitimate and the illegitimate, between ‘us’ and ‘them’, the Roman élite identifies a set of transgressive religious stereotypes … against whom they waged war, with the stylus and the sword …” Vgl. weiter G. LUCK, Witches and Sorcerers in Classical Literature, in: B. ANAKARLOO / S. CLARK (Hg.), Witchcraft and Magic in Europe, London 1999, 91-158,157.
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der Rezeption dieser Debatte und der Partizipation an ihr anhand der Verwendung des Begriffs deisidaimoni,a in jüdischen Texten gefragt. In einem letzten Schritt wird ausgehend von der offensiven Aufnahme des begrifflichen Instrumentariums und seiner Umgestaltung in der altkirchlichen Auseinandersetzung mit vor allem der griechischrömischen Religion nach den Spuren einer Bekanntheit mit der Debatte im frühen Christentum gesucht. Eine philologisch sorgfältige Untersuchung bedürfte zunächst einer Differenzierung nach den einzelnen Derivaten der griechischen und der lateinischen Wurzel; weiterhin wäre eine Analyse der Wortfelder sowie eine Erarbeitung des semantischen Gehalts der Begriffe im Kontext der jeweiligen Schrift bezogen auf den jeweiligen Autor, eingezeichnet in ein diachrones, die religionsgeschichtlichen Veränderungen berücksichtigendes, und in ein synchrones, auch regionale Besonderheiten beobachtendes Feld notwendig. Schließlich müsste die Verwendung in nichtliterarischen Zeugnissen beachtet werden. Eine solche sorgfältige Untersuchung ist ausgesprochen wünschenswert, im Rahmen dieses Beitrags jedoch nicht möglich. Vielmehr kann hier nicht mehr als eine knappe Skizze der Grundlinien der Verwendung des Nomens superstitio resp. deisidaimoni,a, der zugehörigen Adjektive und Verben (überwiegend partizipial verwendet) geboten werden. Bei wichtigen Texten und bei unklarer Verwendung wird der Kontext berücksichtigt und werden semantische Felder in Ansätzen mit einbezogen.
2. Die Verwendung des Begriffs superstitio resp. deisidaimoni,a im griechisch-römischen Sprachraum 2.1. Zum lateinischen Begriff superstitio Die Etymologie des lateinischen Begriffs superstitio weist vermutlich auf superstes zurück und bezeichnet eine divinatorische Fähigkeit.8 Der semantische Gehalt des Wortes entwickelt sich in drei Phasen:9 8
Cicero überliefert als volkstümliche Etymologie, superstitiosi seien diejenigen genannt worden, „qui totos dies precabantur et immolabant, ut sibi sui liberi superstites essent“ (Cicero, Nat.Deor. II 72). Auf superstes als das, was überlebt und die Zeit überstanden hat, führt den Begriff ebenfalls zurück LUCK, Witches, 101, als das vom Opfer Übriggebliebene; vgl. C. FRATEANTONIO, Superstitio, NP 11 (2001), 11131115: 1113. Im Anschluss an É. BENVISTE (Le vocabulaire des institutions Indoeuropéenes II Paris 1969, 273f) bestimmt D. GRODZYNSKI in ihrem gründlichen Aufsatz Superstitio, Revue des études anciennes 79 (1974), 36-60, 37f superstitio als diejenige divinatorische Fähigkeit, die dem superstes als Zeugen des Wandels und der
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1) Erstmals ist das Adjektiv im 3. vorchristlichen Jh. bei Plautus belegt und wird dort als Ausdruck für divinatorische, mantische Fähigkeiten und ohne Abwertung verwendet.10 2) Für Cicero hat der mit religio zu einem Paar11 zusammengestellte Begriff bereits deutlich pejorativen Klang: „ita factum est in superstitioso et religioso alterum vitii nomen alterum laudis“ (Nat.Deor. II 72).12 Neben Cicero sind vor allem Varro (ap. Augustin, Civ.Dei 6.9), Columella (Rust. I 8.6; XII 1.3), Horaz (Sat. II.3 89f), Livius (1.31; 4.30; 6.5; 7.2; 10.39; 26.19; 29.14; 39.16), Seneca13 und Plinius (Nat.Hist. XXX 2.7) als Autoren des ersten vor- und ersten nachchristlichen Jh. zu nennen, die den Begriff in vergleichbarer Weise verwenden.14 Zum Gegen-
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Änderungen zueigen ist. Nicht durchgesetzt hat sich der Vorschlag von W.F. Otto, den Begriff als Übersetzung von e;kstasij zu verstehen. Vgl. W.F. OTTO, Religio und superstitio, AR 12 (1909), 533-554 sowie 14 (1911), 406-422. Ihm schließt sich R. MUTH, Vom Wesen römischer ‚religio’, ANRW II.16.1 (1978), 290-354: 351f an. Diskutiert wird weiter die Erklärung als „durch Zauberkraft überlegen“. Vgl. K. LATTE, Römische Religionsgeschichte, 268 Fn.1.; dazu MUTH, Religio, 351; GRODZYNSKI, Superstitio, 37. Vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 59. Amphitrio 323 (Merkur ‚riecht’ die Ankunft des Sosias und macht sich kampfbereit, was dieser als die Fähigkeit zur Vorhersage des Kommenden interpretiert); Curculio 397 (Curculio interpretiert eine unhöfliche Bemerkung Lycos als superstitiosus mit der Begründung: „vera praedicat“ – gemeint ist also ein übernatürliches Wissen); Rudens 1139 steht das substantivierte Adjektiv parallel zu hariola. Superstitiosus bezeichnet „celui qui devine les réalités cachées“ (GRODZYNSKI, Superstitio, 37). Ähnlich verwendet Ennius das Wort parallel zu hariolus; hier findet sich jedoch bereits eine unmissverständliche Abwertung, die möglicherweise auf die griechischen Vorlagen des Ennius zurückgeht und im Kontext epikureischer Religionskritik zu verstehen ist; vgl. Cicero, Div. I 132; vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 37f; R. ROSS, Superstitio, The Classical Journal 64 (1969), 354-358, 355. Vgl. Seneca, Clem. II 5,1; vgl. dazu GRODZYNSKI, Superstitio, 40. Eine negative Bewertung religiöser Handlungen kann jedoch im 1. Jh. n.Chr. auch mit dem Adjektiv religiosus bezeichnet werden: P. Nigidus Figulus zitiert ein vorliterarisches Kultlied (antiquum carmen), in dem religiosus das zu vermeidende Verhalten kennzeichnet: „religentem esse opportet, religiosus ne fuas“(Gellius, Noctes Atticae IV 9,1), wobei Gellius in seiner Erläuterung religiosus durch nimius und superstitiosus näher bestimmt. Vgl. zur Interpretation der Stelle MUTH, Religio, 343.345. Vgl. weiter die negative Verwendung des Nomens im Plural bei Plinius, Nat.Hist. XXVIII 24. Seneca verwendet den Begriff sowohl in seinen philosophischen (Ep. 22,15; 95,35.48; 108,22; 121,4; 123,16, Clem. II 5,1 u.a.) als auch in seinen dramatischen Schriften (Thyestes 678). Ganz eigenständig verwendet Vergil, Aen. XII 817 den Begriff: Die Szene gibt ein Gespräch zwischen Iuppiter und Iuno wider, das an entscheidender Stelle in die Beschreibung des letzten, das künftige Schicksal der Troer und Italer bestimmenden, Kampfes zwischen Aeneas und Turnus diesen kommentierend und seinen Ausgang erklärend, das dramatische Geschehen zugleich herauszögernd und von diesem Distanz schaffend, eingeschoben wird. Iuno beschwört, von Iuppiter auf das fatum des Aeneas, das ihn zu den Göttern erhöht, hingewiesen (XII 795), dass sie nicht mehr in das Kampfgeschehen zuungunsten der Troer eingreife. Ihren Schwur leistet sie beim
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stand einer eigenen Abhandlung wird die superstitio bei Seneca.15 Divination und Magie gehören weiter zum semantischen Feld. Für Cicero und Columella wird superstitio zum Kennzeichen irrationaler, bildungsferner und volkstümlicher – insbesondere mit ländlichem Milieu und Frauen verbundenen – Formen der Divination.16 Neben dieser abwertenden sozialen Zuordnung wird der Begriff für in inhaltlicher Hinsicht als „irrationnelle, inefficace, vaine et fallacieuse“17 zu bewertende Formen von Glauben und Ritus verwendet. In Opposition stehen Begriffe aus den semantischen Feldern von Naturerkenntnis und Philosophie. Dem an Mythen und anthropomorphen Gottesbildern sich orientierenden Volksglauben steht als superstitiosus die philosophische, die Götter wahrhaft verehrende religio gegenüber.18 Dem offiziellen, sich an dem mos maiorum orientierenden Kult, dessen Beachtung den vir civilis aus-
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fons des Styx, weil die himmlischen Götter diesem superstitio entgegenbringen (reddere). An dieser Stelle ist also ungewöhnlicherweise von der superstitio der Götter die Rede. Im vertrauten semantischen Feld hingegen befindet sich die inhaltliche Beziehung auf die Unterwelt und ihre Herrscher. Aen. XII 817 muss in der Verwendung des Begriffs als so eigenständig gelten und zudem im Kontext der pejorativen Verwendung von superstitio in Aen. VIII 187 verstanden werden, dass man Vergil nicht als Beispiel einer positiven Verwendung des Begriffs nennen sollte. Gegen P. GRAY Godly Fear. The Epistle to the Hebrews and Greco-Roman Critiques of Superstition, Academia Biblica 16, Leiden 2003, 37. In Fragmenten erhalten bei Augustinus, Civ.Dei VI 10f. Im Einzelnen werden die Mythen, Götterbilder in therio- und anthropomorpher Form genannt, aber auch die stoische, Naturkräfte als göttlich verstehende Theologie, außerdem rituelle Handlungen, insbesondere Selbstverletzungen und die Selbstkastration, die als Ausdruck von furor und insanitas gelten. Die Kritik bezieht sich neben den Riten des Osiriskults aber auch auf die traditionellen römischen Formen der Götterverehrung, wie sie Iuppiter, Iuno und Minerva entgegengebracht werden: das Vortragen von Namen vor Iuppiter, das Baden und Salben, das Frisieren von Iuno und Minerva. Im Hinblick auf das Judentum wird nach dem Referat Augustins besonders die Sabbatfeier kritisiert. Vgl. dazu BEARD / NORTH/ PRICE: Religions, 218; M. LAUSBERG, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 7), Berlin 1970, 197-227; DERS., Seneca Operum Fragmenta. Überblick und Forschungsbericht (1879-1961), ANRW II 36.3 (1986), 1888-1899; zur Kritik am römischen Kult bes. 1891f. 1896; H.W. ATTRIGDE, Philosophical Critique of Religion (ANRW II 16.1) (1978), 45-78: 67-69. Vgl. Col.Rust. I 8,6; XII 1.3; Cicero, Div. II 129; Nat.Deor. II 70. Vgl. ROSS, Superstitio, 356. Zur Verbindung mit (alten) Frauen vgl. weiter Nat.Deor. III 92; De domo sua 105, Div. I 7; II 19.125; die Berichte über den Tod des Germanicus bei Tacitus, Ann. II 69–74,2; III 7,2; angeklagt wurde eine Frau, die auf dem Weg nach Rom verstarb. Vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 39; vgl. weiter C. KUNST, The Daughters of Medea. Enchanting Women in the Greco-Roman World, in: M. LABAHN / B.J.L. PEERBOLTE (Hg.), A Kind of Magic. Understanding Magic in the NewTestament and its Religious Environment, London 2007, 147-159 und LUCK, Witches, passim sowie BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 217. GRODZYNSKI, Superstitio, 40. Cicero, Div. I 126; II 83. Vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 41.43. Zur Kritik am anthropomorphen Volksglauben vgl. Cicero, Nat.Deor. II 63.70; Varro, ap. Augustin, Civ.Dei VI 9 und Seneca, De superstitione, ap. Augustin, Civ.Dei VI 10.
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macht,19 als religio20 sind „unrömische“ und neu eingeführte Kulte als superstitio kontrastiert.21 Medizinische Metaphern können zur Beschreibung herangezogen werden: superstitio ist morbus mentis (Horaz, Sat. II 3,79) und insania (Seneca, Ep. 123,16; vgl. Augustin, Civ.Dei VI 10). Weiterhin eignet dem Begriff die Vorstellung des Übertriebenen (nimius)22. Eine wichtige Veränderung des semantischen Gehalts wird bei Plinius maior greifbar: Für ihn rücken Magie und superstitio nahe aneinander heran. Plinius steht der Magie ausgesprochen kritisch gegenüber; sie ist für ihn fraudulentissima artium23 und gewinnt ihre besondere, verführerische Überzeugungskraft durch die Kombination von Heilkunst, Religion und Astrologie.24 Plinius kann sich mit dem Stichwort superstitio auf den gesamten Komplex der Magie beziehen,25 die bei ihm geradezu als eine Weltreligion erscheint.26 In der philosophische Diskussion bezeichnet superstitio eine Form von Religion, die falsche Gottesvorstellungen, nämlich solche, die durch ausgeprägte Gottesfurcht bestimmt sind, reflektiert: Im Hintergrund stehen die epikureische Religionskritik und die philosophische Diskussion derselben;27 das Konzept entspricht in diesem Diskurs der griechischen deisidaimoni,a.28 19 20 21 22 23 24 25
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Quintilianus, Inst.Orat. XII 2,21; Valerius Maximus I 1,9. Plinius, Panegyr. 74.5. Vgl., BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 216. Quintilianus, Inst.Orat. IX 4.25; vgl. auch Aulus Gellius, Noctes Atticae IV 9,2; vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 41. Plinius, Nat.Hist. XXX 1,1. Plinius, Nat.Hist. XXX 1,2. Plinius, Nat.Hist. XXX 1,7: Plinius diskutiert, wie Thessalien zur ‚Heimat’ der Magie werden konnte, mithin von wo aus und wer die Magie nach Thessalien importiert haben könnte: „Orphea putarem e propinquo eam primum pertulisse ad vicina usque superstionem a medicina provectum …“ Gegen MARTIN, Superstition, 129. 265 der der Annahme, Plinius bezeichne Magie als superstitio, widerspricht. Plinius steht vielen Formen der Religion kritisch gegenüber und kann auch Phänomene, die in seiner Zeit üblicherweise religio genannt wurden, als superstitio bezeichnen bzw. religio im negativen Sinn verwenden (Nat.Hist. XXVIII 24). Vgl. T. KÖVESZULAUF, Plinius d.Ä. und die römische Religion, ANRW II 16.1 (1978), 187-288: 193; ATTRIDGE, Critique (s. Anm. 15), 60f; GRODZYNSKI, Superstitio, 39 und BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 218-221, die den Befund bei Plinius in den Zusammenhang der Ausbreitung der Magie im 1. Jh. stellen und die Integration der Magie in den superstitio – Begriff für eine der wichtigsten Weiterentwicklungen von dessen semantischen Gehalt im 1. Jh. halten. Die Textbasis für diese These ist jedoch sehr schmal. Lukrez bestimmt als Epikureer die wahre Religion in Abgrenzung einer durch Furcht bestimmten Haltung als „pacata posse omnia mente tueri“ (Rer.Nat. V 1203); vgl. Cicero, Nat.Deor. I 43.115-117; Div. II 148f. Polybios, VI 56,9-12 bezeichnet die ausgeprägte Religiosität der Römer als deisidaimoni,a; die Bemerkung muss jedoch vor dem Hintergrund der religions-kritischen Haltung des Polybios verstanden werden. Auch Minucius Felix charakterisiert römi-
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Insgesamt wird in dieser zweiten Phase der Begriff dazu verwandt, vorwiegend nach innen – also innerhalb der ‚eigenen’ religiösen Tradition29 – legitime von illegitimen Formen der Religionsausübung zu unterscheiden; der Begriff superstitio ist eine „Angriffswaffe“ im intrareligiösen Dialog der Zeit. 3) Vom zweiten Jahrhundert an bezeichnet superstitio die fremde, unrömische und bedrohliche Religion der anderen.30 Neben den bereits erwähnten Autoren Suetonius, Tacitus und Plinius minor ist Iuvenal (Sat. III 62) als Zeuge zu nennen. Zuweilen kann der Begriff die Astrologie meinen (Tacitus, Hist. II 78,2), die respekt- und furchteinflößende Macht des Namens (Tacitus, Hist. III 58,8) oder die Verehrung eines apotropäischen Amuletts (Suetonius, Nero 66). Weiterhin kann ausgeprägte Wundergläubigkeit Gegenstand des Verdikts sein (Tacitus, Hist. IV 81).31 Eine Anklage wegen superstitio magica könnte ebenso wie die wegen superstitio externa (Tacitus, Ann. XIII 32) strafrechtlich
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sche Religion als durch die Furcht vor dem Zorn der Götter bestimmt (7,2). Die Auseinandersetzung mit römischer Religion wird hier jedoch bereits mit Hilfe des superstitio – Begriffs geführt. In der Einleitung wird das Ergebnis des Gesprächs vorweggenommen „quo Q. Caecilium superstitiosis vanitatibus etiam nunc ... ad veram religionem reformavit.“ (1,5); Minucius Felix beendet seine Verteidigungsrede, in der die Widerlegung des superstitio – Vorwurfs durch Q. Caecilius (IX 2) und die polemische Verwendung desselben durch den christlichen Apologeten eine wichtige Rolle spielt (z.B. 24,2; 25,1) mit: „cohibeatur superstitio impietas expietur vera religio reservetur.“ (38,7). Es muss also erwogen werden, ob die Kennzeichnung römischer Religion als „Furcht vorm Zorn der Götter“ durch den superstitio– Begriff in seiner Schnittmenge mit dem deisidaimoni,a-Begriff überhaupt dominiert und von diesem polemischen Anliegen her erklärbar wird. Vgl. zum „Wesen römischer Religion“ weiter MUTH, ‚religio’, 291-298; Insofern die Furcht vor dem Zorn der Götter als für die traditionelle römische Religion typisch angenommen wird (so z.B. H. KLEINKNECHT, Art. ovrgh,, ThWNT V [1954], 382-392), trifft die griechische mittels des deisidaimoni,a-Begriffs formulierte Kritik das Konstrukt römischer religio im Kern. Zur ira deorum vgl. R. VON BENDEMANN, "Zorn" und "Zorn Gottes" im Römerbrief, in: D. SÄNGER / U. MELL (Hg.), Johannes und Paulus. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, FS Jürgen Becker (WUNT 198), Tübingen 2006, 179-215. Superstitio gilt gleichwohl als internationales Phänomen; vgl. Cicero, Div. II 148: „superstitio fusa per gentis“. Schon Cicero kann sich auf das Judentum als barbara superstitio (Flacc. 67) beziehen. S. CALDERONE, Superstitio, ANRW I.2 (1972), 377-396, 383 nimmt eine in allen Epochen vorwiegend interreligiöse polemische Verwendung des Begriffs an: „superstitiones sono tutte le forme di rapporto dell’uomo con la sfera divina, che non rientrino nello spirito e nella tradizione religiosa ufficiale di Roma: culti privati, culti stranieri.“ GRODZYNSKI, Superstitio, 44-47 diskutiert die Belege, insbesondere die bei Livius, und findet die Annahme, dass superstitio vor dem 2. Jh. nicht typischerweise die Religion der anderen bezeichnet, bestätigt, auch wenn das keineswegs eine Hochschätzung anderer Religionen bedeute. Vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 44. Als Beispiel dient der hilfsbedürftige Ägypter, der sich auf Geheiß des Serapis an Vespasian um Heilung wandte; als supersitiosus werden die Ägypter, nicht etwa Vespasian bezeichnet. Vgl. dazu SCHÄFER, Judeophobia, 188.
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relevant gewesen sein (Tacitus, Ann. XII 59,2).32 In dieser Phase dient der Begriff der Konsolidierung der eigenen religiösen Identität und der Abgrenzung nach außen im interreligiösen Diskurs. Daneben kann er weiter bestimmte religiöse, vorzugsweise magische Praktiken bezeichnen, die nunmehr jedoch nicht mehr auf die Unterschichten begrenzt werden. Diese Akzentuierung des Begriffs superstitio in der Zeit der ausgehenden Republik und des frühen Prinzipats steht nach Beard / North / Price im Zusammenhang der durch die Konsolidierung des Imperium Romanum auftretenden Aufgabe, römische Identität als eine das ganze Reich integrierende Größe zu bestimmen. Für diese Identität, für dieses „Römertum“ als ideelle Größe, habe die römische religio eine zentrale Rolle gespielt.33 In diesem Prozess sei es nötig geworden, die legitime, Römertum repräsentierende Form von Religiosität, begrifflich fassbar als religio, von einer illegitimen Form, begrifflich als superstitio verhandelt, zu unterscheiden.34 Der Begriff erhellt also zuerst durch diese seine Funktion und erst in zweiter Linie aus seinen Inhalten. Dieser Funktion entsprechen staatliche Maßnahmen zur Zurückdrängung von zur superstitio zählenden Phänomenen. Zwar gehört die Verehrung der Gottheiten unterworfener Völker zu den ehrwürdigen römischen Gewohnheiten,35 gleichwohl sollte deren Ausbreitung insbesondere in der Oberschicht kontrolliert werden; gerade eine Vernachlässigung und Verdrängung traditionell römischer Kulte erschien als unerwünscht. In diesen Kontext gehören die bei Seneca und Tacitus überlieferten Prozesse wegen superstitio. Im Hinblick auf die Unterschichten galten religiöse Veränderungen als möglicher Quell für Aufruhr.36 Das Verbot magischer Praktiken und die Vertreibungen von Astrologen, Divinationskundigen, Juden, Isisanhängern u.a. während des ersten vor- und nachchristlichen Jh. gehören in diesen Zusammenhang. Rechtliche 32
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Ebenfalls aus der Regierungszeit des Tiberius überliefert Seneca, Ep. 108,22 einen vergleichbaren Fall: Tiberius hatte alienigena sacra verboten; als Ausweis solcher superstitio – die Begriffe stehen parallel – galt der Verzicht auf Fleischgenuss. Das Verbot veranlasste Senecas Vater auf seinen Sohn derartig einzuwirken, dass dieser seine aus philosophischen Gründen auferlegte vegetarische Ernährung aufgab. Anders als bei Tacitus ist hier superstitio aber nicht als ausdrücklicher Anklagepunkt erkennbar. Vgl. MUTH, ‚religio’, 291-298 mit Verweis auf die klassischen Belegstellen für die ausgeprägte Religiosität der Römer als deren profilgebendes und den politischen sowie militärischen Erfolg garantierendes Merkmal wie z.B. Cicero, Harusp. 19; Nat.Deor. II 8; Horaz, Carm. III 6,1-8; Vergil, Aen. VI 851-853 u.ö. BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 215f. Z.B. Minucius Felix, Octavius VIf; vgl. BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 228. Cassius Dio, 52. 36.1-3; vgl., BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 230-233. Vgl. weiter Tacitus, Ann. II 32; Hist. I 22; Suetonius, Tib. 36; Cassius Dio LXII 15,8f.
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Grundlage für diese Vorgehensweisen waren Bestimmungen des XIITafel-Gesetzes und die Lex Cornelia de sicariis et veneficiis von 81 v.Chr. Das XII-Tafel-Gesetz37 verbot das malum carmen – den magischen, zauberischen Spruch und vermutlich agrarischen Schadenszauber. Möglicherweise findet sich auch der Begriff veneficium – im engeren Sinn für Gifte, im weiteren für magische Tränke und Praktiken – bereits hier. Die Lex Cornelia bildete die eigentliche Grundlage für das Vorgehen gegen Magie und superstitio.38 Das Gesetz richtete sich gegen insbesondere heimtückischen Mord und gegen venefici, Giftmischer, Magier und andere Vertreter von superstitio.39 Der berühmteste Prozess aufgrund der Lex Cornelia wurde zur Aufarbeitung des Todes von Germanicus im Jahr 19 n.Chr. in Syrien geführt, der nach der Darstellung bei Tacitus (Ann. II 69) durch Gift und magische Praktiken herbeigeführt wurde. Der Statthalter Piso wurde u.a. wegen veneni crimen (Tacitus, Ann. III 14) angeklagt, jedoch nicht verurteilt.40
2.2. Zum griechischen Begriff deisidaimoni,a Der griechische Begriff deisidaimoni,a hat eine vergleichbare, die Abgrenzung zu fremden Kulten treffende Funktion, in der Regel nicht übernommen. Superstitio wird im Griechischen gewöhnlich auch nicht mit deisidaimoni,a, sondern mit mataio,thj (Euseb, H.E. IX 7.3-14) oder avqeo,thj (z.B. Cassius Dio LXVII 14) wiedergegeben.41 2.2.1. Der griechische Begriff deisidaimoni,a leitet sich von dei,dw, einem den Zustand von Furcht und Scheu bezeichnenden Verb, und dem einen weiten Bereich übernatürlicher Mächte bezeichnenden Abstractum ta. daimo,nia ab. Die Begriffsgeschichte ist zu vielfältig und umfangreich, als dass sie in diesem Rahmen annähernd angemessen wiedergegeben werden könnte. Angezeigt ist also eine Beschränkung auf einige besonders eindrückliche Verwendungsweisen: (1) Der Begriff spielt in der 37 38 39 40 41
Zu den Problem der Rekonstruktion und der Interpretation vgl. D. COLLINS, Magic in the Ancient Greek World, Cambridge (MA)/Oxford 2008, 142-145. Zur kontroversen Diskussion der Quellenlage vgl. R. GORDON, Imagining Greek and Roman Magic, in: ANAKARLOO / CLARK (Hg.), Witchcraft, 253-266, bes. 263; COLLINS, Magic, 146.149. Vgl. COLLINS, Magic, 147, mit Verweis auf BEARD / NORTH / PRICE, Religions. Eine Giftmischerin namens Martina war angeklagt und nach Rom gesandt worden (Ann. II 74), auf der Reise aber plötzlich verstorben (Ann. III 7); zum Prozess gegen Piso vgl. Tacitus, Ann. III 10-18. Vgl. BEARD / NORTH / PRICE, Religions, 225. Als Ausnahme kann Plutarch gelten, der in Ansätzen eine Synthese von griechischer und römischer Begriffstradition vornimmt.
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Komödie und verwandten Gattungen eine Rolle: Religiöses Verhalten oder religiöse Vorstellungen, insofern sie lächerlich und komisch sind, werden bevorzugt dem deisidai,mwn zugeschrieben. (2) In der Medizin können Verhaltensweisen, die als unwirksam oder schädlich gelten und die als Relikte traditioneller Heilkunst vom Standpunkt einer wissenschaftlichen Medizin abgewertet werden, mit dem Begriff charakterisiert werden. (3) In der Philosophie, Historiographie und Geographie kann der Begriff im Zusammenhang einer religionskritischen Haltung nahezu alle religiösen Verhaltensweisen bezeichnen oder zur Kennzeichnung illegitimer Verhaltensweisen und Vorstellungen in Abgrenzung zu legitimen verwendet werden. Wie beim lateinischen Begriff superstitio verbindet sich auch mit der deisidaimoni,a bis in klassische Zeit hinein keine negative Wertung.42 Die frühesten Belege finden sich bei Xenophon43, Aischylos44 und Aristoteles, die jedoch noch keine von Worten wie euvse,beia, euvla,beia oder qeose,beia abweichende, oder sogar pejorative Bedeutung erkennen lassen.45 Eine solche positive oder neutrale Verwendung des Wortes lässt sich als gebräuchlich bis ins 1. nachchristliche Jahrhundert und auch danach noch vereinzelt nachweisen.46 Als nomen vitii begegnet der Begriff erstmals bei Theophrast und bei Menander. Mit deisidai,mwn ist eine von dreißig Prosaskizzen Theophrasts, des Aristotelesschülers und dessen Nachfolgers als Leiter der Akademie von 322 an, überschrieben, die dieser unter dem Titel ‚characteres’ vermutlich bereits 31947 zusammenstellte. Der deisidai,mwn übertreibt zum einen allgemein verbreitete religiöse Verhaltensweisen, insbesondere solche apotropäischen und kathartischen Typs, zum andern „sieht er Gespenster“48. Theophrast überschreibt seinen ‚character’ mit der Definition: deisidaimoni,a sei deili,a pro.j to. daimo,nion (16,1).49 Der deisidai,mwn geht z.B. den ganzen Tag über mit einem Lorbeerblatt im Mund (zur Reinigung) umher (16,2). Wenn ihm ein Wiesel über den 42 43 44 45 46 47 48
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Frühe Verwendungsweisen im negativen Sinn verzeichnet GRAY, Fear, 45, bei Hippokrates, Decent. 5 und Eudoxos, Fragm. 141. Hist. III 3,58. Fragmenta 32B 334.2 bei Menodotos überliefert Vgl. P.J. KOETS, Deisidaimoni,a. A Contribution to the Knowledge of the Religious Terminology in Greek, Purmerend 1929, 5-31, Vgl. die Belege bei KOETS, Deisidaimoni,a, 5-31; MARTIN, Superstition, 79-108; GRAY, Fear, 43f. Vgl. T.B.L. WEBSTER, An Introduction to Menander, Manchester 1974, 44. Zur Differenzierung der Phänomene vgl. H. BOLKESTEIN, Theophrastos’ Charakter der Deisidaimonia als religionsgeschichtliche Urkunde, Gießen 1929, 74-76; aufgenommen von M. STEIN, Definition und Schilderung in Theophrasts’ Charakteren (BzA 28), Stuttgart 1992, 199. Vgl. weiter KOETS, Deisidaimoni,a, 35f. Vgl. dazu die stoische Definitionen als fo,boj qew/n h' daimo,nwn (SVF III 99,13; fr 409). Zum Verhältnis vgl. STEIN, Definition, 201.
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Weg läuft, setzt er seinen Weg nicht fort, bevor ihn nicht ein anderer genommen oder er drei Steine über den Weg geworfen hat (16,3). Hat er einen Traum, läuft er zuerst zum Traumdeuter, dann zum Mantiker und schließlich sogar zum Vogelschauer, um zu erfahren, zu welchem Gott oder zu welcher Göttin er beten müsse (16,11). Beim Anblick eines Epileptikers speit er aus (16,14). Hat eine Maus seinen Getreidesack angenagt hat, geht er zum ‚Exegeten’, um ihn um Rat zu fragen. Wenn er dann den Rat erhält, den Sack flicken zu lassen, bringt er vorsorglich jedenfalls ein Sühnopfer dar (16,6). Der deisidai,mwn wird als eine Person gezeichnet, die in der ständigen Furcht vor übernatürlichen Mächten lebt, von denen sie Schaden befürchtet und die sie keinesfalls zu verärgern und möglichst gnädig zu stimmen trachtet. Während z.B. das Ausspeien vor „Verrückten“ (maino,menoj) und Epileptikern üblich war,50 werden die meisten anderen geschilderten Verhaltensweisen auch bei der Mehrheit der Bevölkerung Ablehnung und Spott hervorgerufen haben.51 Menander benannte eine leider nur fragmentarisch erhaltende Komödie mit deisidai,mwn.52 Als Charakterisierung eines komischen, zum Lachen und Spott reizenden Verhaltens zählt auch eine dem Diogenes von Diogenes Laertius zugeschriebene Anekdote, die den Ritus, sich vor der Statue der Gottheit niederzuwerfen (prospi,ptein), kritisiert: Frauen werden mit Beschämung, Männer mit Aggression bedroht.53 In beiden Fällen behauptet er die erbrachte Verehrung als unerwünscht und die Gottheit beleidigend. In beiden Fällen erscheinen die Verehrenden als komisch und zudringlich. Insbesondere volkstümliche und traditionelle Frömmigkeit sind Gegenstand kynischen Spotts.54 Für Lukian ist die Religion seiner Zeitgenossen, insbesondere die sich am Wunder, am Orakel, an Prophezeiungen und allem Außeralltäglichen sich orientierende, Gegenstand stetigen spöttischen Staunens
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Vgl. z.B. Plautus, Capt. 550, wo aggressives Verhalten (rabiosus) selbst den eigenen Eltern gegenüber mit dem qui insputatur morbus verbunden wird, womit vermutlich die Epilepsie gemeint ist. Vgl. STEIN, Definition, 200. Weitere Belege des Begriffs in De Piet. 8.9 und 12 zum rechten Opfern. Menander wird von Diogenes Laertios (Biogr. V 36; 79) als Schüler des Theophrast bestimmt. Zum Verhältnis von Theophrast und Menander vgl. H.-D. BLUME, Menander (EdF 293), Darmstadt 1998, 7. Diogenes Laertius, Biogr. VI 37f: „Als er einst sah, wie ein Weib sich in höchst anstößiger Weise vor den Göttern niederwarf, wollte er ihr ihren Aberglauben austreiben, … und sagte: ‚Schämst du dich nicht, o Weib, dich vor dem etwa hinter dir stehenden Gotte – denn alles ist seiner voll – bloßzustellen?’ Dem Asklepios stellt er als Weihgeschenk einen anstürmenden Fechter auf, der die vor dem Gott aufs Gesicht Niederfallenden umzubringen drohte …“ Vgl. KOETS, Deisidaimoni,a., 38; vgl. weiter Diogenes Laertius, Biogr. VI 24 über ovneirokri,tai und ma,nteij; VI 42 über Reinigungsriten, Gebete und Träume; vgl. VI 73 zu tabuiertem Verhalten wie Tempelraub und Anthropophagie.
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und zentrales Thema vor allem im Alexander und den Philopseudeis.55 Dabei stehen sich deisidaimoni,a und magei,a phänomenologisch nahe,56 wobei letztere gewissermaßen professionelle Rollen hervorbringt (den go,hj), erstere hingegen sich dazu rezipierend und ermöglichend verhält.57 Für Lukian steht die Kritik an der deisidaimoni,a im Rahmen seiner grundsätzlich religionskritischen Haltung, die philosophische Religion nicht per se ausschließt. Diese überführt er, indem er deren Affinität zur volkstümlichen Religiosität und zu magischen Praktiken inszeniert: Potentiell wird damit jede Religion als deisidaimoni,a klassifiziert. Als angemessene Reaktion leiten die Schriften Lukians diesen Phänomenen gegenüber dazu an, sie als Gegenstand der Unterhaltung wahrzunehmen und dem Genre des Komischen zuzuordnen. 2.2.2. Ob die sehr divergenten und vielgestaltigen medizinische Texte einer Textgruppe zuzuordnen sind und ob diese einen kohärenten und gar eigenständigen Beitrag zur Begriffsverwendung leisten können, ist überaus fragwürdig.58 Gleichwohl soll darauf hingewiesen werden, 55
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Einer wie Alexander von Abonuteichos benötige viele reiche deisidai,monej (9.13), womit das gesamte Phämonen, für das Alexander steht, als ein der deisidaimoni,a zugehöriges und auf diese angewiesene beschrieben wird. Zu beachten ist auch die Verbindung von deisidaimoni,a und Gewinnstreben. In Philops. 37 werden die vorangegangenen Erzählungen, die sich mit Totenerscheinungen und Wundertätern beschäftigten, als solche bestimmt, die bei jungen Leuten Schreckhaftigkeit und deisidaimoni,a hervorrufen; die theophrastische Beschreibung ist im Hintergrund deutlich erkennbar. Unmittelbar im Anschluss werden – die Schrift abschließend – Orakel, Prophezeiungen und Göttersprüche (qe,sfata) thematisiert und ebenfalls unter den Oberbegriff deisidaimoni,a gestellt. Lukian nimmt die Philosophenschulen dabei nicht von seiner Kritik aus: Stoiker, Platoniker, Peripatetiker und Pythagoreer gehören zu den Anhängern des Alexander (Alex. 25, Peripatetiker fehlen) und finden sich unter den ‚abergläubischen’ Freunden im Philops. Vgl. H.-G. NESSELRATH, Lukian und die antike Philosophie, in: M. EBNER / H. GZELLA / H.-G. NESSELRATH / R. RIBBAT (Hg.), Lukian, Die Lügenfreunde, Darmstadt 2001, 135-152: 144. Die traditionelle und volkstümliche Religion sowie ihre philosophisch reflektierte Form stehen damit unter dem negativen Urteil. H.-G. NESSELRATH, Lukian und die Magie, in: EBNER / GZELLA / NESSELRATH / RIBBAT (Hg.), Lukian, 153-166: 154-158; zur Religionskritik Lukians vgl. ATTRIDGE, Critique (s. Anm. 15), 61-63; H.D. BETZ, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen, Berlin 1961. Vgl. z.B. Lukianus, Alex. 5.5: Alexander erhält eine Ausbildung in Magie, Beschwörungen, Liebeszauber etc. zu Lukians Haltung zur Magie vgl. Lukianus, Nec. 6-9; Dem. 23;25; vgl. weiter NESSELRATH, Magie, 154-158. Vgl. Lukianus, Alex. 9.11: Alexander errichtet sein Orakel in Paphlagonien, weil die dortige Bevölkerung „abergläubisch“ und leicht zu täuschen sei. Vgl. dazu Act 14,14. Zum Verhältnis von Magie und Goetie bei Lukian vgl. NESSELRATH, Magie, 158-162. Gegen MARTIN, Superstition. Dieser widmet dem Corpus Hippocraticum (ebd., 3651) und Galen (ebd. 109-125) je ein Kapitel, ohne auf Belegen des Begriffs aufbauen zu können (Corpus Hippocraticum vacat; Galen, ein Beleg: In Hipp. libr IV epidemiarum comm. VI.17b.256.3). Zur Eigenart medizinischer Texte vgl. R. VON BENDEMANN / K. SCHERBERICH, Krankheit und Gesundheit / Lebenswartung, in: K. ERLE-
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dass sich begrifflich in zwei medizinischen Texten eine im Vergleich zum Bisherigen eigenständige Verwendungsweise zeigt: avdeisidai,mwn sollen der Arzt (Hippocrates, Decent. 5.1) und die Hebamme (Soranus, Gyn. I 4) sein:59 Eine gute Hebamme wird nichts auf Träume und Omina geben, sie darf nicht traditionelle, volksmedizinische Verhaltensweisen vor das Nützliche stellen, z.B. soll sie die Nabelschnur mit einem eisernen Messer durchschneiden (und keine anderen Materialien verwenden), obwohl Eisen als böses Omen angesehen werde (Soranus, Gyn. II 80).60 Die Freiheit von deisidaimoni,a zählt zum Berufsethos und ist unmittelbar handlungsorientiert. Die Begründung erfolgt bei Soranus ausdrücklich von dem Ziel, vom helfenden Handeln her: mh. u`peridei/n to. sumfe,ron (Gyn. I 4). 2.2.3. Obgleich der Begriff erstmals bei Theophrast kritisch verwendet wird, finden sich erst spät Belege für die Diskussion illegitimer Formen von Religion, die die peripatetische Konzeption aufnehmen.61 Zu verweisen ist auf Philo von Alexandrien und Plutarch,62 die mit BestimMANN u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 2, Neukirchen-Vluyn 68; R. VON BENDEMANN / J. NEUMANN, Antike Medizin, in: a.a.O., 215-222.
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Der mit einem alpha privativum versehene Begriff begegnet nur äußerst selten; neben den genannten Stellen ist auf Diodorus Siculus` Darstellung Sullas (XXXVIII/XXXIX 7,1.12) zu verweisen: Sulla erweist sich als avdeisidai,mwn, indem er tw/n i`erw/n crh,mata („Gelder, die den Göttern gehören [und von den Menschen nur treuhänderisch benutzt werden]“, GRAF, Griechische Religion, in: H.G. NESSELRATH, Einleitung in die griechische Philosophie, Leipzig u.a. 1997, 457-504: 459) bei Bedarf requiriert, ohne sich vor der Rache der Gottheit zu fürchten. Vgl. dazu auch Plutarch, Sulla 12 ebenfalls unter Verwendung des Begriffs. Freiheit von deisidaimoni,a fordert Soranus auch von der Amme, begründet hier jedoch mit der Gefahr, die von der Vernachlässigung des Neugeborenen durch eine übermäßige Beschäftigung mit religiösen Riten oder deren Art einhergehen könnte. Gegen die Interpretation von GRAY, Fear, 47 (falsche Stellenangabe 2.88 nicht 2.85), wonach sich durch die Milch der schlechte Charakter der Amme übertrage. Vgl. Stobaios, Anth. II 7.25.33, wo euvse,beia als e[xij qew/n kai. daimo,nwn qerapeutikh, bestimmt wird, metaxu. ou;sh avqeo,thtoj kai. deisidaimoni,aj. Der Begriff fehlt bei Platon; wirkungsgeschichtlich relevant wurden jedoch dessen Äußerungen zu magischen Praktiken im Spätwerk der Nomoi (Leg. 932e-933e), die er als avse,beia (908d; 909b) klassifiziert. Im Zusammenhang magischer Praktiken wird die Rolle der Furcht reflektiert (933c). Platon fordert Bestrafungen, im Fall von professioneller Tätigkeit sogar die Todesstrafe. Vgl. NESSELRATH., Magie, 163f. Auch das Votum gegen private Kulte (909d-910d) erweist sich als einflussreich und wird bereits mit den besonderen Gefahren für Frauen, Kranke und besonders Bedürftige und deren Neigung zu illegitimen Praktiken begründet. Vgl. R. v. Bendemann. / G. Faßbeck, Formen nichtöffentlicher Frömmigkeit bei Griechen und Römern, in: K. Erleman u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur 3, Neukirchen-Vluyn 2005, 224-229. Beim Sokratesschüler Aristipp begegnet die deisidaimoni,a (verwendet ist das Verb deisidaimone,w) neben Neid und der sexuellen Abhängigkeit sowie der Todesfurcht (Diogenes Laertius, Biogr. II 91.9; 92.8). Eine angemessene Darstellung des Begriffsgebrauchs bei Plutarch erfordert neben einer Darstellung der Position in „de superstitione“ und einem begründeten Urteil über die Orthonymität der Schrift (vgl. SMITH, Superstitione, 1-6; GRAY, Fear, 84-88)
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mung der euvse,beia als der Mitte zwischen deisidaimoni,a und avqeo,thj ein zentrales aristotelisches ethisches Konzept aufnehmen (Eth.Nic. B 6; 1106 b 36). Innerhalb dieses Konzeption steht vor allem das Moment des Übertriebenen und des Getriebenen, des eines freien Mannes unwürdigen Verhaltens, im Vordergrund.63 Die ausführlichste erhaltene Auseinandersetzung mit deisidaimoni,a findet sich in der gleichnamigen Schrift Plutarchs, die verschiedentlich zur Folie für Untersuchungen frühchristlicher Texte geworden ist. Dabei ist stärker als es üblich ist64 zu berücksichtigen, dass dieser Text ein eigenständiges Profil trägt, das nicht auf die allgemeine Diskussion übertragen werden darf. Insbesondere die Verschmelzung griechischer Vorstellungen mit römischen Besonderheiten, dabei vor allem die Verwendung des Begriffs für fremde Religionen,65 ist ungewöhnlich. Innerhalb stoischer Philosophie wird deisidaimoni,a im Rahmen der pa,qoj-Lehre behandelt. Bei Chrysipp begegnet deisidaimoni,a als Form des fo,boj an sechster Stelle nach o;knoj, avgwni,a, e;kplhxij, aivscu,nai sowie qo,ruboi und vor de,oj und dei,mata (Fragm.Mor. 394,16); genauer bestimmt er deisidaimoni,a als fo,boj qew/n kai. daimo,nwn (Fragm.Mor. 408,4).66 Konkret erscheinen als deisidaimoni,a der wörtliche Glaube an die Mythen, anthropomorphe Gottesvorstellungen, Dämonenglaube, kurz: die traditionelle, volkstümliche Religion im Gegensatz zur philosophisch reflektierten Form im stoischen Denken.67 Die Mantik hingegen, durchaus beliebter Gegenstand der Kritik in der deisidaimoni,a-Debatte,68 zählt im stoischen Denken keineswegs zur deisidaimoni,a.69
63
64 65 66 67 68 69
eine ebenso gründliche und kontextbezogene Analyse der Verwendung des Begriffsgebrauchs in den übrigen Schriften, insbesondere in den Viten und in der antiepikuräischen Schrift „non posse suaviter vivi secundum Epicurum“. Weiterhin muss eine solche Analyse vor allem in Beziehung gesetzt werden zu Gottesidee, Dämonenkonzept, Gerichtsvorstellung und Furchtbegriff bei Plutarch. Eine solche Untersuchung sprengt den Rahmen des hier vorgelegten Beitrags. Vgl. Pollux, Onomast. I 21,1 (u`pertimw/n o` deisidai,mwn); vgl. GRAY, Fear, 48; MARTIN, Superstition, 51-78, versucht eine Rekonstruktion des Ortes innerhalb aristotelischer Philosophie und zielt darauf, die Kritik innerhalb großer Entwicklungslinien in der griechischen Philosophie plausibel zu machen. Zur Kritik vgl. P. RIPAT, Rezension Bryn Mawr Classical Review (2005). Vgl. KOETS, Deisidaimoni,a 43. ATTRIGDE, Critique (s. Anm. 15), 76, bestimmt die Schrift z.B. als „example of the common opinion of religious philosophy in the early empire.“ Gegen GRAY, Fear, 51. Zur Affektenlehre bei Chrysipp vgl. M. POHLENZ, Die Stoa I, Göttingen 41970, 143150. Vgl. Cornutus, Nat.Deor. 50,6; 76,13 mit der Gegenüberstellung von euvse,beia und deisidaimoni,a. Vgl. KOETS, Deisidaimoni,a, 46-51. z.B. Polybios IX 19,1; Diodorus Siculus XIII 12,6; XIII 86,1-3; XV 52,6. Zum Befund bei Diodorus Siculus vgl. MARTIN, Superstition, 79-93; GRAY, Fear, 44; 47. Die Mantik (vgl. POHLENZ, Stoa I, 106-108; II, 62) ist im Zusammenhang der pro,noiaLehre verankert und verweist auf die Liebe und Fürsorge der Götter (vgl. SVF II 1021; Cicero, Nat.Deor. I 43; vgl. dazu POHLENZ, Stoa I, 98; II, 55f).
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In der Schule Epikurs wird jede Furcht der Gottheit gegenüber, die zugleich als Essenz der Religion gilt, als unangemessen und zu vermeidend beschrieben.70 In den von Epikur überkommenen Texten ist der Begriff nicht belegt, bei dem Epikureer Polystrat begegnet er als Ausdruck für das negativ bewertete Abhängigkeitsgefühl des Menschen von der Gottheit (Über die grundlose Verachtung, col. 20b10). Lukrez lobt zu Beginn seiner Schrift de rerum natura die epikureische Philosophie als die Befreiung von der Bedrückung durch die durch Furcht und knechtischer Niedrigkeit gekennzeichnete Religion (I 6283).71 Im Vordergrund der konkreten Vorstellungen stehen häufig neben der Angst vor dem Zorn und den Strafen der Götter die Angst vor der Unterwelt und ihren Schrecken.72 Von religionskritischer Seite kann zwar die Angemessenheit der Vorstellung von strafenden Göttern und den Schrecken der Unterwelt negativ beschieden, ihre Nützlichkeit für die Disziplinierung der Bevölkerung und insbesondere der Abschreckung von Übeltätern aber hervorgehoben und zu diesem Zweck zu ihrer Bewahrung und Unterstützung aufgerufen werden.73 Insbesondere Frauen gelten als zur deisidaimoni,a hingeneigt.74 Nur am Rande begegnet hingegen der Begriff zur Abgrenzung von anderen Religionen:75 Plutarch empfiehlt, dass eine Ehefrau dieselben Götter wie ihr Mann verehren solle, und weder übertriebene, neugierige Gottesverehrung (peri,ergoi qrhskei,ai) noch fremde Kulte (xeni,ai deisidaimoni,ai) betreiben solle.76 Agatharchides von Knidos bezichtigt das Judentum wegen der Einhaltung der Sabbatruhe der deisidaimoni,a (Josephus, Ant. XII 5f.; c.Ap. I 208; vgl. Plutarch, Superstit. 169C). Strabo (Geogr. XVI 2.37) erläutert, dass die deisidaimoni,a dem Judentum keineswegs genuin zuzu70 71 72 73
74 75
76
Zur epikureischen Religionskritik vgl. ATTRIGDE, Critique (s. Anm. 15), 52-56. Möglicherweise kann Demokrits negative Klassifizierung der deisidaimoni,a neben fo,boj als pa,qoj (Test. I 108) dieser Traditionslinie zugeschrieben werden. Vgl. auch Diodorus Siculus IX 19,1; XV 53/54; XXXIV/XXXV 2,47; Strabo, Geogr. I 2,8; Polybios X 2,9; XII 24,5; Plutarch, non posse suaviter 1092C3; 1100F1. Strabo, Geogr. I 2,8; VII 3,3 (Frauen); Polybios VI 56,6; Diodorus Siculus XXXIV/XXXV 2,47; vgl. auch Plutarch, Num. 8. Vgl. GRAY, Fear, 46. Die große Bedeutung der Religion, die Polybios (VI 56,6) bei den Römern beobachtet, steht im religionskritischen Kontext: Die Religion ist eine Funktion politischen Handelns. Strabo, Geogr. VII 3,3f; Polybios XII 14,5. Gegen GRAY, Fear, 47; Gray verweist auf den Ausdruck deisidai,monej de. fu,sei ba,rbaroi bei Xenophon von Ephesus (Eph. III 11,4f.); die von einer Vergewaltigung bedrohte weibliche Heldin entzieht sich der Gefahr durch den Verweis darauf, dass sie von ihrem Vater der Isis geweiht worden sei; die Angabe überzeugt den Barbaren Psammis, weil er als solcher deisidai,mwn ist. Eine eindeutig negative Wertung des Begriffs lässt sich dem nicht entnehmen; zu berücksichtigen ist weiterhin, dass Götter im Roman in das erzählte Geschehen vielfach eingreifen. Vgl. N. HOLZBERG, Der antike Roman. Eine Einführung, Düsseldorf 2001, 75f. Conjug. Praec. 140D.8; vgl. auch Quaest. Rom. 272B; Amat. 756C; Sert. 11.3.
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schreiben, sondern auf eine Neuerung durch Priester zurückzuführen sei, die Beschneidung und Speisegebote als der deisidaimoni,a zugehörige Verhaltensweisen hinzugefügt hätten.77 An beiden Stellen ist es zweifelhaft, ob das Judentum als fremde Religion oder ob es im Rahmen des allgemeinen Diskurses über legitime religiöse Verhaltensweisen der deisidaimoni,a beschuldigt wird. Bei Agatharchides ist erkennbar, dass die Charakterisierung mit den für die Betroffenen schädlichen Folgen zusammenhängt: Religion, die schadet, die Leben (oder die Stadt/den Staat) vernichtet, gilt als deisidaimoni,a; ähnlich denkt Soranus. Deutlich wird, dass der deisidaimoni,a-Begriff nicht vorwiegend über seine inhaltlichen Konkretionen erhellt; er ist auch im griechischen Sprachraum in erster Linie ein polemischer Begriff. Hinsichtlich des semantischen Gehalts lässt sich eine Affinität zum fo,boj und zum unwürdigen, maßlosen Verhalten feststellen. Dieses kann als komisch inszeniert werden; durchgehend ist es den Mitgliedern der Unterschichten, überdurchschnittlich häufig Frauen, zugeschrieben. Vergleichsweise enge Verbindungen bestehen zur Religionskritik epikureischer und skeptischer Tradition. Im Vergleich zur römischen Tradition sind die Verbindungen zur Magie weniger deutlich ausgeprägt; weiterhin bleibt die Verwendung für die Abgrenzung nach außen zu anderen Kulturen hin, für die fremde Religion marginal.
2.3. Das Aufleben des Diskurses an der Wende zum 2. nachchristlichen Jahrhundert Sowohl im römischen als auch im griechischen Sprachraum entstehen mit Senecas „de superstitione“ und Plutarchs „peri. deisidaimoni,aj“ im (fortgeschrittenen) 1. Jahrhundert zwei Schriften über das Phänomen. Im römischen Raum erfährt der Begriff seit der Jahrhundertwende eine wesentliche Veränderung, die mit den fundamentalen Herausforderungen römischer Identitätsbildung verknüpft ist. Die Schriften des Apuleius machen für die folgenden Jahrzehnte mit der komplementären Perspektive auf das Phänomen bekannt. Im griechischen Raum sind aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts mit Lukians satirischen Erzählungen Texte überliefert, die auf eine beträchtliche Aufmerksamkeit für die mit deisidaimoni,a und magei,a umschriebenen Phänomene schließen lassen. Diese Hinweise auf eine verstärkte Diskussion über legitime und illegitime Formen der Religionsausübung im fortgeschrit77
Vgl. zu Strabos Darstellung der Juden, STERN, Literature, 1128-1137, bes. 1133.
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tenen ersten und der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts lassen nach dem Umgang mit dem Phänomen und dem Vorhandensein analoger Debatten im jüdischen und frühchristlichen Bereich fragen. Der mittels der Begriffe superstitio resp. deisidaimoni,a erschließbare Diskurs über die legitime Form der Religionsausübung, die überwiegend in gehobenen Schichten geführt wurde, ermöglichte es, die Ambivalenz des Phänomens „Religion“ zu thematisieren: Neben erwünschten und gesellschaftlich hochzuschätzenden gibt es auch unerwünschte, als gefährlich, schädlich, krankhaft oder menschenunwürdig zu beurteilende Formen. Eine sehr grobe Skizze kann der Orientierung dienen: Die Legitimität von religiösem Verhalten wird in diesem Diskurs (durchaus nicht widerspruchsfrei) an seine Öffentlichkeit und Verankerung im Kult einer politischen Einheit, an seine Traditionalität, an seine Anschlussfähigkeit für Rationalität und Philosophie, an seine Lebensdienlichkeit und – damit verbunden – an die Fähigkeit, Religion maßvoll auszuüben, gebunden. Notwendigerweise spiegeln sich in der Verortung dieser Demarkationslinie, möglicherweise sogar bereits in dem Bedürfnis nach einer solchen, Interessen gesellschaftlicher Gruppen.
3. Rezeption und Reaktion im antiken Judentum Der Begriff deisidaimoni,a wird sowohl von Philo als auch von Josephus rezipiert; eine ausdrückliche Reaktion auf die Klassifizierung des Judentums als deisidaimoni,a findet sich nur bei Josephus.78
3.1. Philo von Alexandrien Philo verwendet den Begriff ausschließlich im pejorativen Sinn zur Unterscheidung von legitimer und illegitimer Religionsausübung innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft. Es finden sich Einflüsse vor allem peripathetischer jedoch auch stoischer Tradition: euvse,beia bilde die Mitte zwischen avse,beia und deisidaimoni,a, die sich durch Übertreibung auszeichne.79 Der deisidai,mwn behindere die rechte Gottesverehrung (kw,lusij), sei unaufrichtig (u`po,krisij), gleiche einem bettelnden Possenreißer (bwmolo,coj, Deus 102), schade (zhmi,a) sich selbst und de78 79
Der Begriff fehlt in der LXX ebenso wie in den übrigen griechischsprachigen jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit. Sacr. 15.6; Deus 163.6; 164.5; sacr. 15.6. spec. IV 147.3: Wer zur euvse,beia etwa hinzufüge, schaffe deisidaimoni,a, wer etwas wegnehme, bringe avse,beia hervor.
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nen, die mit ihm zu tun haben, und erweise sich damit als Fremder, der keine Bürgerrechte verdiene.80 In stoischer Tradition kann Philo die deisidaimoni,a als Ausprägung des pa,qoj in eine Reihe mit Affekten und den entsprechenden Lastern stellen (sacr. 15.6f). Die illegitime Form der Gottesverehrung unterscheidet sich von der legitimen dadurch, dass jene sie nicht tecnikw/j betreibe. Keine katV avreth.n evpisth,mh dürfe avnepisthmo,nwj betrieben werden. VEuse,beia steht als letztes Glied einer Reihe nach fro,nhsij, swfrosu,nh und avndrei,a;81 die kunstwidrige Weise der Gottesverehrung, deisidaimo,nwj nämlich, findet sich parallel zu panou,rgwj, feidwlw/j kai. avneleuqe,rwj sowie qrase,wj. Unter einer solchen kunstgerechten Gottesverehrung versteht Philo vor allem die durch die allegorische Auslegung biblischer Texte sich erhellende philosophische Religion.82 Auffallend ist die ausführliche und emphatische Abgrenzung von den Vertretern eines wörtlichen Verständnisses, die den Eindruck erweckt, zur Debatte um die legitime Ausübung der Religion zu gehören. Die Gegner seiner Auslegung nämlich vermessen (parametrou/sin) das Reine und Heilige an zähen Worten und Namen sowie an absonderlichen Riten.83 Philo bezeichnet diese als deisidaimo,nej und verweist sie aus seiner Zuhörerschaft.84 Deisidaimo,nej sind aber auch diejenigen, die Gott unreflektiert, äußerlich und traditionell verehren.85 Philo verwendet den Begriff analog zum Gebrauch im griechischen Sprachraum; insbesondere Plutarch steht ihm gedanklich und strukturell nahe.86 Liest man Philo vor dem Hintergrund seines älteren Zeitge80 81 82
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Deus 103; vgl. Theophrast, Piet. 8,9 und 12 (deka,zein to. qei/on); Maximus Tyros, Dialeix. 14,6 (ko,lax qeou/). In der Reihe der klassischen Kardinaltugenden ersetzt euvse,beia hier die dikaiosu,nh. Vgl. hierzu grundlegend J. PORTER, Tugend TRE 34 (2002), 184-197; P. STEMMER, Tugend (HWP 10), 1998, 1532-1548. Cher. 42.2; mut. 138.2; somn. I 230.1; praem. 40.9. Zur Allegorese bei Philo vgl. G. SELLLIN,: Die Allegorese und die Anfänge der Schriftauslegungin: H. GRAF REVENTLOW (Hg.), Theologische Probleme der LXX und der hellenistischen Hermeneutik, Gütersloh 1997, 91-138. Cher. 42.2; Zur Übersetzung vgl. GOOLD, Works II, 35 und 483. Auch Philo, mut. 138.2 findet sich eine solche Einschränkung der Adressatenschaft. Da auch hier wie in Cher. 42 die Idee der göttlichen Zeugung eines Kindes thematisiert wird, haben COLSON / WHITAKER, Philo’s Works V, 590 angenommen, es werde das Missverständnis einer eines geschlechtlichen Umgangs Gottes mit einer Frau befürchtet. Gegen diese Annahme spricht m.E., dass Philo die Frauenfiguren im Kontext ebenfalls allegorisch interpretiert (Cher. 41), so dass hier nicht Gott und Frau, sondern Gott und Sinneswahrnehmung zusammenkommen. Weiterhin erklärte die Annahme nicht die o.g. Abgrenzungen. Praem. 40.9; somn. I 230,1. Vgl. zu Philo insgesamt KOETS, Deisidaimoni,a, 47-50, ATTRIDGE, Critique (s. Anm. 15), 72f. Das betrifft insbesondere die Aufnahme und Weiterführung der Konzeption der euvse,beia als Mitte zwischen deisidaimoni,a und avqeo,thj bzw. avse,beia. Vgl. Plutarch, Superstit. passim, bes. 164F; 167E; 171E; GRAY, Fear, beschränkt unverständlicherweise
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nossen Strabo bildet er zu dessen Wahrnehmung des Judentums das binnenperspektivische Pendant: Die jüdische, philosophische Religion wird zur deisidaimoni,a, wenn man ihre Aussagen und Riten wörtlich und für das Wesentliche nimmt.
3.2. Josephus Die Verwendungsweise bei Josephus bedarf sorgfältiger Untersuchung; die Annahme, er gebrauche den Begriff häufig positiv,87 ist zu undifferenziert. Josephus setzt den Begriff überwiegend in der Figurenrede nichtjüdischer Erzählfiguren (Ant XII 259; XIV 228.223.234.237.240; XIX 290) ein. Neben Vertretern römischer Oberhoheit wird ein Brief der Samaritaner an Antiochus IV zitiert. In den meisten Fällen, in denen (angeblich) römische Aussagen zitiert werden, steht deisidaimoni,a für die jüdische Religion im Zusammenhang einer Begründung der Verleihung von Privilegien für die jüdischen Bevölkerung.88 Die Verwendungsweise ist hier neutral, zumindest nicht klar erkennbar pejorativ. In einem weiteren Fall verschiebt sich das Bild etwas: Im Zusammenhang der Darstellung des Eingreifens des Claudius durch seine Dekrete nach den alexandrinischen Unruhen zugunsten der Juden in Alexandria und überall werden letztere ermahnt, ta.j tw/n a;llwn evqnw/n deisidaimoni,aj nicht zu verachten (Ant. XIX 290). Auch hier ist die Verwendung nicht eindeutig pejorativ; das Wort bezeichnet jedoch deutlich fremde, nichtrömische Religionen. Im Brief der Samaritaner an Antiochus IV dient die Bezeichnung der Sabbatobservanz als avrcai,a deisidaimoni,a der Abgrenzung von den Jerusalemer Juden, denen sie sich zu Unrecht als verwandt dargestellt vorstellen. Sowohl die Anrede des Antiochus IV als Gott (Ant. XIV 258), die Selbstklassifizierung als Sidonier (Ant. XIV 258.260), als auch die Bereitschaft, den Tempel auf dem Garizim dem Zeus Hellenios zu weihen, sind Ausweis einer abtrünnigen Haltung. Dieser distanzierenden Funktion des gesamten Abschnitts muss die Klassifikation der Sabbatobservanz als deisidaimoni,a zugeschrieben werden, so dass hier ein Überwiegen polemischer und pejorativer Verwendungsweise anzunehmen ist, auch wenn damit die eigene Praxis – diese abweichend von jü-
87 88
seine Untersuchung Philos im Umfang auf eine halbe Druckseite (ebd., 50), obgleich er die mögliche Relevanz Philos für den Verfasser des Hebräerbriefes eigens thematisiert (vgl. ebd., 27). Besondere Nähe zusätzlich zu Seneca und Apollonius von Tyana vermerkt ATTRIGDE, Critique (s. Anm. 15), 73. Vgl. KOETS, Deisidaimoni,a, 104-106. Befreiung vom Kriegsdienst wegen Sabbat- und Speisegeboten, Ant. XIV 228; 223; 234; 237; 240.
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discher Tradition begründet – benannt und mittels des Verweises auf das hohe Alter mit einer gewissen Ehrwürdigkeit ausgestattet wird.
Die Bezeichnung jüdischer Religion als deisidaimoni,a ist bei Josephus überwiegend Fremdbezeichnung für das Judentum, deren Wertung neutral ist, zuweilen jedoch ins Negative hinein changiert. Er greift hiermit erkennbar die Verwendungsweise im lateinischen Sprachraum auf. An fünf Stellen verwendet der Erzähler selbst den Begriff; in vier Fällen geht es dabei um die Charakterisierung einer Haltung, die strenge Toraobservanz fordert. In drei Fällen führt die strenge Toraobservanz zu Konflikten mit der römischen Kultur und ihren Dominanzansprüchen. Auffallend ist also auch in dieser Gruppe von Belegen eine enge Anbindung an die Beziehung zur römischen Kultur, insofern diese als konflikthaft erlebt wird. Im Zusammenhang der sog. Feldzeichenkrise erzählt Josephus davon, wie Pilatus die Jerusalemer Bevölkerung unter Gewaltandrohung – die Gruppe jüdischer Demonstranten war von römischen Truppen umstellt worden – zur Duldung der Feldzeichen aufforderte; die Reaktion dieser – sie inszenieren ihre Martyriumsbereitschaft – habe Pilatus veranlasst, die umstrittenen Gegenstände entfernen zu lassen; als Motivation für diese Entscheidung gibt er das Staunen des Pilatus über th/j deisidaimoni,aj a;kraton an (Bell. II 174). Auch hier wird die römische Fremdwahrnehmung bezeichnet; auch hier geht mit dieser Bezeichnung ein projüdisches Verhalten der römischen Hoheit einher; in der Interpretation des Erzählers schwingt die Unterstellung einer verhaltenen Bewunderung jüdischen Verhaltens mit. In vergleichbarer Weise verwendet Josephus den Begriff bei seiner Widergabe der krisenhaften Ereignisse nach der Amtsübernahme durch Cumanus. In einer Reihe von drei Zwischenfällen, in denen sich die Spannung zwischen jüdischer Bevölkerung und römischer Verwaltung entlud, schildert Josephus an zweiter Stelle die Reaktion der Bevölkerung auf eine vermutlich als Bestrafung für das Unterschlupfgewähren für antirömischen Straftätern gedachte Zerstörung einer Torarolle in einem Dorf in der Gegend von Beth Horon. Die aufgebrachte Bevölkerung habe sich daraufhin in Caesarea versammelt und die Bestrafung des schuldigen Soldaten gefordert; angetrieben wurde sie nach der Darstellung des Erzählers von deisidaimoni,a (Bell. II 230). Anders als bei der Feldzeichenepisode wird hier keine Fremdwahrnehmung formuliert; wie dort geht die Geschichte zugunsten der jüdischen Bevölkerung aus: Cumanus lässt den Soldaten hinrichten. Deisidaimoni,a erscheint als eine typisch jüdische, Respekt verschaffende Größe. Zu dieser Textgruppe ist schließlich die Darstellung des Konflikts zwischen Herodes und Jerusalemer Juden zu zählen, die wegen der Ausschmückung des Theaters und Amphitheaters aufbrachen; Josephus stellt
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einleitend die Verwendung der Gebäude für Tierkämpfe dar und bewertet solche Unterhaltung als avsebe,j (Ant. 15.275);89 eigentliches Ärgernis für die Juden sei aber die Ausstattung des Theaters gewesen: Diese interpretierten die tro,paia als toi/j o[ploij perieilhmme,naj Bilder (Ant. 15.276) und betrachteten sie folglich als Verletzung der Tora. Josephus schildert anschließend, wie Herodes vergeblich versucht habe, sie von ihrer deisidaimoni,a abzubringen. Auch hier erscheint deisidaimoni,a als Charakterisierung strenger und kompromissloser Toraobservanz. Anders als in den beiden vorigen Episoden, geht die Geschichte hier jedoch anders aus: Herodes überführt die deisidaimo,nej des Irrtums, indem er vor ihren Augen die tropai,a abnehmen lässt und offenbar macht, dass sich darunter eben keine Bilder, sondern nur die bildlosen Holzaufhängungen befanden. Die Juden lassen sich nicht nur von der Gegenstandslosigkeit ihrer Befürchtungen überzeugen, sondern brechen in Gelächter aus; unvermittelt tritt neben die Toraobservanz die Souveränität der Monotheisten, derer, die Götterbilder verlachen können. Parallel zu euvse,beia90 verwendet der Erzähler den Begriff schließlich bei der Schilderung der Umkehr und religiösen Neubesinnung Manasses, die zu einer Restituierung des legitimen Kults in Jerusalem führt (Ant. 10.42), deutlich im positiven Sinn. Deisidaimoni,a nennt er die euvse,beia Alexandras, als diese dem Anliegen der Pharisäer, Gegner anzuklagen und hinzurichten, nachgibt. Der Fürbitte ihres Sohnes Aristobul sei es zu verdanken gewesen, dass die Angeklagten mit dem Exil statt mit dem Tod bestraft wurden. Josephus hebt die Frömmigkeit der Alexandra hervor und macht diese auch dafür verantwortlich, dass sie den besonders frommen (euvsebe,steron ei=nai) Pharisäern übermäßig großen Einfluss einräumt (Bell. I 108.112); gleichwohl bewertet er ihre Bereitschaft, dem Anliegen der Pharisäer nachzugeben, negativ. Hier verwendet der Erzähler den Begriff ansatzweise kritisch, und zwar bezogen auf seine eigene Religionsgemeinschaft; es wird kein Zufall sein, dass Josephus das kritische Potential des Begriffes aktualisiert, wenn der Gegenstand der Kritik das Verhalten einer Frau ist.91
89
90 91
Die negativen Wertungen des assimilierenden Verhaltens des Herodes erfahren im Kontext eine deutlich negative Bewertung; vgl. M. BRÄNDL, Der Agon bei Paulus. Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik (WUNT II 222) Stuttgart 2004, 156f. Zur Bedeutung der euvse,beia (in der Schrift Contra Apionem) vgl. C. GERBER, Ein Bild des Judentums für Nichtjuden von Flavius Josephus. Untersuchungen zu seiner Schrift Contra Apionem (AGJU 40), Leiden/New York/Köln 1997, 289-295. Vgl. Bell. I 112 und Ant. XIII 407.417.430f zur Kritik an der Herrscherin. Vgl. T. ILAN, Josephus and Nicolaos on Women, in: H. CANCIK / H. LICHTENBERGER / P. SCHÄFER (Hg.), Geschichte, Tradition, Reflexion, FS M. Hengel, Bd. 1, hg. v. P. SCHÄFER, Tübingen 1996, 221-262: 237-242.
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Auffallend ist, dass der einzige Beleg, der dem Erzähler zugeordnet ist und den Begriff uneingeschränkt positiv, parallel zu euvse,beia und unabhängig von Konfliktsituationen verwendet, eine Figur der fernen Vergangenheit betrifft. Diese ausschließlich positive Verwendungsweise könnte ein literarisches Stilmittel sein – wie griechische Literatur ihre Helden unkritisch als deisidai,mwn charakterisiert, so auch Josephus.92 Die kritische Verwendung des Begriffs in Bezug auf Alexandra könnte auf Bekanntheit mit dem entsprechenden intrakulturell kritischen Sprachgebrauch im griechischen und römischen Bereich weisen. Als letzte Textgruppe sind die beiden Stellen zu besprechen, an denen sich Josephus argumentativ mit der kritischen Klassifikation des Judentums als deisidaimoni,a durch Agatharchides von Knidos auseinandersetzt. Seine Argumentation erschließt seine Verwendung des Begriffs in den erzählenden Texten: In Ant. XII 5 führt er ein Zitat des Agatharchides93 folgendermaßen ein: ovneidi,zwn h`mi/n deisidaimoni,an w`j diV auvth.n avpobalou/si th.n evleuqeri,an. Josephus ist sich klar darüber, dass die Charakterisierung durch deisidaimoni,a eine Schmähung ist. Ihm kann also keineswegs ein naiver, positiver Gebrauch des Begriffs unterstellt werden, insbesondere dann nicht, wenn er ihn nichtjüdischen Erzählfiguren in den Mund legt. Weiterhin wird erkennbar, dass es ihm im folgenden um die Interpretation dieser Zuschreibung geht: Agatharchides sieht in der deisidaimoni,a nämlich die Ursache für den Verlust der Freiheit – gemeint ist die Eroberung Jerusalems durch Ptolemaios I.94 Die Juden hätten nicht zu Waffen gegriffen, um die Stadt zu verteidigen dia. th.n a;kairon deisidaimoni,an und seien auf diese Weise unter die Herrschaft eines bösen Regenten (calepo.j despo,thj) geraten.95 Josephus korrigiert die Darstellung des Agatharchides nicht ausdrücklich, sondern erzählt den Fortgang des Geschehens in einer Weise weiter, die die Sabbatobservanz und die Eroberung Jerusalems als Beginn und Ursache einer positiven Entwicklung für die Juden darstellt: Ptolemaios habe eine große Anzahl von Juden nach Ägypten umgesiedelt, ihnen dort jedoch das griechische Bürgerrecht in Alexandrien verliehen, so dass den zwangsweise Umgesiedelten viele freiwillig folgten. Eine zusätzliche Bedingung für die positive Entwicklung war nach Josephus, dass Ptolemaios erkannte, dass die Juden ihre Eide und Bündnisse fest zu halten pflegten, was sie zu verlässlichen Untertanen macht (Ant. XII 8); ohne dass es ausdrücklich be92 93 94
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Vgl. z.B. Xenophon, Ag. 11,8. Zu Agatharchides vgl. STERN, Jews, 1120f. Zur Identifizierung des gemeinten Sachverhalts vgl. G. SCHÄFER, Judeophobia. Attitudes towards the Jews in the Ancient World, Cambridge (MA) 1997; 83; weiter G. SCHIMANOWSKI, Die Bedeutung des Sabbat bei Josephus, in: J.U. KALMS (Hg.), Internationales Josephus-Kolloquium Aarhus 1999 (Münsteraner Judaistische Studien 6) Münster 2000, 97-121: 105. Zum Vorwurf vgl. weiter Plutarch, Superstit. 169C; vgl. GRAY, Fear, 101.
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nannt würde, wird von diesem von Ptolemaios als Tugend wahrgenommenen Verhalten ein neues Licht auf ihre Sabbatobservanz geworfen: die Treue und Verlässlichkeit der Juden ist übergeordnetes Merkmal, das den Juden nur vordergründig zum Nachteil, in der Folge jedoch zum Vorteil wurde. Schließlich wird Ptolemaios nicht als harter Herrscher, sondern im positiven Sinn als filo,timoj geschildert (Ant. XII 9).
Josephus streitet um die Interpretationshoheit über den Begriff: Er möchte sie in den Diskurs um die legitime Religion als eine positive Größe ausweisen.96 Nach außen, in der überwiegend im römischen Sprachraum geführten Diskurs um die superstitio als die fremde, römische Interessen und römische Herrschaft in Frage stellende Religion, geht es ihm darum, die jüdische deisidaimoni,a als Ausprägung der Treue und Verlässlichkeit auszuweisen, die unter günstigen Bedingungen auch auf einen fremden Herrscher übertragen wird. Ziel ist es, die mit dem Begriff superstitio verbundenen Vorbehalte römischer Oberschichtangehöriger hinsichtlich der Loyalität der Anhänger fremder Religionen als gegenstandslos zu erweisen. Nach innen, in der Aufnahme und Weiterführung der Diskussion überwiegend im griechischen Sprachraum, geht es ihm um den Aufweis, dass die deisidaimoni,a nicht schädlich und destruktiv sei. Ein zweites Mal kommt Josephus in c.Ap. I 205-212 deutlich ausführlicher auf den Vorwurf des Agatharchides zu sprechen: Josephus referiert Äußerungen des Agatharchides im Anschluss an die Besprechung von Hekataios von Abdera.97 Mit Agatharchides verweist er auf einen Schriftsteller, der die Juden kritisch erwähnt; Josephus bestimmt als den Zielpunkt dieser Kritik die euvh,qeia der Juden.98 Die anschließende Paraphrase des Agatharchidestextes gibt zusätzlich zu dem aus Ant. XII 9 bekannten Text den Kontext des Zitats wider: Stratonike, Tochter des Seleukiden Antiochus I, habe auf der Flucht ihr Leben verloren, weil sie diese um eines Traumes willen unterbrach; dieses als deisidaimoni,a zu charakterisierende Verhalten habe Agatharchides verspottet. Agatharchides aktualisiert damit sowohl den Topos von der zweifelhaften Religiosität der Frauen als auch, in der Linie Theophrasts, den von der Übertreibung eines Glaubens an omina. Im Anschluss 96 97 98
Vgl. am Beispiel der Sabbatobservanz, SCHIMANOWSKI, Bedeutung, 111. Vgl. G.C. HANSEN, Der Judenexkurs des Hekataios und die Folgen, in: J.U. KALMS (Hg.), Internationales Josephus-Kolloquium (s. Anm. 94), 11-21. Vgl. dazu c.Ap. II 247 wo Josephus ganz auf der Linie stoischer Religionskritik sich über Mythen und Anthropomorphismen negativ äußert; diejenigen, die diese für wahr halten, seien der euvh,qeia zu bezichtigen; Josephus verwendet das Wort also im religionskritischen Kontext in einem semantischen Feld, das im deisidaimoni,a–Diskurs von Bedeutung ist.
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daran finde sich die Besprechung jüdischen Verhaltens bei der Belagerung Jerusalems durch Ptolemaios. Solches Verhalten kennzeichnet Agatharchides vor allem als unvernünftig (a;noia: 210; 211) und nennt es einen Traum (evnu,pnion), womit auf das Verhalten der Stratonike zurückgewiesen wird (207). Josephus kommentiert den Vorwurf auch hier ausdrücklich damit, dass er eine Umwertung vorschlägt: dieses Verhalten sei tatsächlich lobenswert, weil es der Treue gegenüber dem Gesetz und der euvse,beia Vorrang vor der swthri,a des Vaterlands und des eigenen Lebens gebe (212). Dieser defensiven Strategie stellt Josephus jedoch eine offensive zur Seite, die sich durch seine Komposition erschließt: Unmittelbar vor der Besprechung der Erwähnung der Juden durch Agatharchides gibt er als letzte Episode in seiner Darstellung der Erwähnungen von Juden durch Hekataios von Abdera ein Geschehen wieder, in dem die jüdische Figur die Vernunft im Sinn des Agatharchides, die Rolle des deisidai,mwn hingegen ein im Heer Alexanders mitziehender Mantiker (202) innehat. Erzählt wird, wie ein jüdischer Bogenschütze namens Mosollamos einen Vogel, dessen Verhalten dem ma,ntij Auskunft über das weitere Vorrücken des Heeres geben sollte, kurzerhand mit einem gezielten Schuss tötet. Den Protestierenden wirft Mosollam daraufhin Wahnsinn (mai,nomai) und unselige Raserei (kakodai,mwn) vor. Im Anschluss erklärt er in nüchterner Rationalität, dass der Vogel keine Auskunft über die Zukunft hätte geben können, da er ja sein eigenes Schicksal nicht vorhergesehen habe.99 Die Auswahl ist geschickt getroffen, da an der Person Alexanders die Frage nach illegitimer und legitimer Religionsausübung verhandelt wurde,100 die Auspicien zugleich jedoch typisch waren für römische Religiosität insbesondere im Bereich der res publica.101 Josephus macht damit in aller Vorsicht darauf aufmerksam, dass die Zuschreibung von Aberglauben abhängig von der jeweiligen Perspektive des Betrachters ist.
99 Zu den Motiven der Episode vgl. HANSEN, Judenexkurs, 17f. 100 Vgl. Plutarch, Alexander 75 zum übertriebenen Glauben an Vorzeichen und Ängstlichkeit in der Phase der zum Tod führenden Erkrankung; vgl. weiter die Relevanz des Themas in der Doppelbiographie Alexander und Caesar: Während Alexander sich in der Phase seiner zum Tod führenden Erkrankung zu sehr an omina orientiert und er in Gefahr steht, den Weg der euvse,beia in Richtung der deisidaimoni,a zu verlassen, verachtet Caesar kurz vor seiner Ermordung klare Vorzeichen, insbesondere den Traum Calpurnias, obgleich er sie von deisidaimoni,a frei weiß (Caesar 63); GRAY, Fear, 52, hierzu leider wiederum nur kurz und summarisch. 101 Vgl. BEARD / NORTH / PRICE, Religion, 22-24.179. Zur vorzüglichen Verbindung der divinatorischen Interpretation des Vogelflugs mit römischer vor griechischer Kultur vgl. Cicero, Div. I 28-33; vgl. C.J. CLASSEN, Griechisches und Römisches bei Ammianus Marcellinus, in: DERS., Zur Literatur und Gesellschaft der Römer, Stuttgart 1998, 214-242, 234f.
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3.3. Zusammenfassung Die Verwendung des Begriffs bei Philo und Josephus macht plausibel, dass ein Diskurs über legitime und illegitime Religionsausübung auch in Teilen jüdischer Kultur geführt wurde. Dabei kann Philo als Zeuge für eine kritische Verwendung des Begriffs innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft zur intrakulturellen Selbstverständigung gelten. Josephus hingegen macht erkennbar, dass er in den Diskurs die Interpretation des semantischen Gehalts und vor allem die Bewertung des Begriffs betreffend eingetreten ist; als seine Ziele werden erkennbar: (a) der Aufweis, dass deisidaimoni,a der Wohlfahrt nicht schädlich sein müsse, (b) die Einladung, einen Perspektivwechsel zu vollziehen, der deisidaimoni,a als Zeichen für Treue und nicht für Illoyalität versteht, 102 und schließlich (c) indirekt und vorsichtig, dass irrationale religiöse Verhaltensweisen keineswegs typisch jüdisch sind, rationales Verhalten in religiösen Fragen mithin auch bei Juden, irrationales auch bei Griechen und Römern zentral verankert sei.
4. Rezeption und Reaktion im frühen Christentum 4.1. Verwendungsweisen in der altkirchlichen Literatur von der Mitte des 2. Jahrhunderts an Von der Mitte des 2. Jahrhunderts an gewinnt der Begriff in der Auseinandersetzung des sich nunmehr als eigenständige Religion verstehenden frühen Christentums besonders mit der griechisch-römischen Religion, aber auch mit dem Judentum an Bedeutung. 103
4.1.1. Im Verhältnis zur griechisch-römischen Religion Zunehmend wird die griechisch-römische Religion als solche als deisidaimoni,a bestimmt, zuweilen verbunden mit der Gleichsetzung ihrer Gottheiten mit Dämonen, verstanden als gottfeindlichen Zwischenwesen. Der Begriff begegnet – nicht überraschend – überwiegend
102 Vgl. am Beispiel der Toraobservanz, GERBER, Bild, 281f. 103 Zur Verwendung des Begriffs in der Alten Kirche vgl. GRODZYNSKI, Superstitio, 4852; KOETS, Deisidaimoni,a, 84-96; MARTIN, Superstition, 160-186; 207-243.
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in apologetischen und protreptischen Texten.104 Tatian (Oratio 22.1.10) bezeichnet den Schauspieler, der auf der Bühne in die Rolle von Gottheiten schlüpft als deisidaimoni,aj evpitomh, und greift im Kontext auf Motive der philosophischen deisidaimoni,a-Kritik an traditioneller Religion zurück: ein Ankläger aller Götter sei eine solche Person, als Anklagepunkte werden Ehebruch, Mord etc. aufgezählt. Der betroffene Schauspieler kann zugleich der avqeo,thj bezichtigt werden (22.2); die beiden Begriffe werden von komplementären zu parallelen Ausdrücken. Zu Beginn des Abschnitts bestimmt Tatian die dida,gmata als zu Ehren der ponhroi. dai,monej veranstaltet, so dass seine Bestimmung der Götter als böse Dämonen (Oratio 8f) im Kontext aktualisiert wird. Dennoch findet sich hier noch keine Neubestimmung griechisch-römischer Religion als Furcht vor Dämonen. Zum Schlüsselbegriff in der Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Religion wird deisidaimoni,a in der alexandrinischen Schule105 bei Klemens und bei Origenes, schließlich insbesondere bei Eusebius. Die Belege bei Klemens erschließen die Position der Alexandriner angemessen: 16 der 27 Belege des Begriffs finden sich im Protreptikos.106 Auf dem Hintergrund seiner Bestimmung griechisch-römischer Götter als Dämonen verwendet er deisidaimoni,a als Leitbegriff für die Bezeichnung griechisch-römischer Religion (Protrept. I 7.5; III 42.8; 44.1; 44.3), insbesondere der Mysterienkulte (Protrept. II 13.2), die in Opposition zur christlichen qeose,beia stehen (Protrept. X 90.3f; 108.3); strukturell wie bei Plutarch und bei Philo107 steht die christliche qeose,beia als monotheistischer Glaube in der Mitte zwischen der avqeo,thj und der polytheistischen deisidaimoni,a (Protrept.
104 Erstmals ist der Begriff bei Justin Mart., Apol. II 3,5 belegt, steht hier jedoch als Genitiv abhängig von avnqrwpareskei,a parallel zu pro,lhyij und in Opposition zum avkribh.j kai. evxetastiko.j lo,goj, bezeichnet also die Rücksicht auf Menschen, die traditionellen und in philosophischer Sicht irrationalen religiösen Vorstellung anhängen, die als Hindernis für ein vernünftiges zurückgedrängt werden soll. Im Kontext bezeichnet der Begriff sicherlich griechisch-römische Religion, der Akzent liegt aber auf einer binnenperspektivischen Klassifizierung religiöser Haltungen vergleichbar dem Gebrauch in der philosophischen Religionskritik. Bei Irenäus und Hippolyt fehlt der Begriff. 105 Das Konstrukt einer institutionalisierten alexandrinischen Schule geht auf Euseb zurück (H.E. V 10; VI 6.); dazu U. NEYMEYR, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte, Leiden 1989 (SVigChr 4), 42-45. 93-95 zu Klemens als ‚Leiter’ dieser Schule; vgl. weiter C. SCHOLTEN, Die alexandrinisch Katechetenschule, JAC 38 (1998), 16-37; A. VAN DEN HOEK, The „catechetical“ School of Early Christian Alexandria and Its Philonic Heritage (HThR 90), Cambridge (MA) 1997, 59-87. 106 Zum Protreptikos vgl. NEYMEYR, Lehrer, 50-54. 107 Zum mittelplatonischen Einfluss auf Klemens vgl. R. M. BERCHMANN, From Philo to Origen: Middle Platonism in Transition (BJS 69), Chico 1984, 9-11. 55-81.
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II 25,1);108 gleichwohl kann a;qeoj auch als Adjektiv zur Näherbestimmung des deisidai,mwn stehen (Protrept. X 96,4). In der lateinischsprechenden Kirche findet sich die Gleichsetzung von superstitio mit der griechisch-römischen Religion zuerst bei Minucius Felix und bei Tertullian: Minucius Felix bestimmt die traditionelle griechisch-römische Religion per se als superstitio, die in Opposition zur vera religio steht (1,5; 9,2; 25,1.8; 38,7). Besonderes Augenmerk kann dabei auf die Verehrung von Statuen gelegt werden (2,4; 13,5; 24,11).109 Tertullian verwendet superstitio neben idololatria durchgehend für die Verehrung „heidnischer“ Gottheiten110 und für die griechisch-römische Religion insgesamt111 sowie für die dem „Heidentum“ gleichgestellten Häresien.112 Daneben lässt sich bei ihm auch die Verwendung des Begriffs für ein unerwünschtes, übertriebenes und ängstliches religiöses Verhalten innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft belegen.113 Bekanntschaft mit der philosophischen Diskussion der illegitimen Formen der Religion zeigen seine Verweise auf Senecas Beiträge sowie auf die Person des Numa.114
4.1.2. Im Verhältnis zum Judentum Die Charakterisierung des Judentums als deisidaimoni,a findet sich in der christlichen Literatur des 2. und 3. Jahrhunderts selten; es wird kaum zufällig sein, dass der Begriff in der Schrift an Diognet, die in ihrer Art der Abgrenzung vom Judentum ungewöhnlich deutlich ist,115 gleich 108 Aufgenommen wird die Auslegung von Dtn 23,1f durch Philo, Migr 69, dort allerdings ohne den Begriff der deisidaimoni,a. 109 Aufnahme der Bezeichnung gallischer Religion als superstitio (6,2), parallel zu religio (5,8; 10,3), für den christlichen Glauben (9,2) und näherbestimmt durch anilis in Opposition zu religio für einen minderwertigen und illegitimen Glauben (13,5) in der Rede des Caecilius; zur Bezeichnung speziell römischer Religion als superstitio in 24,10 und 25,1 s.o. Zur wahrscheinlichen Abhängigkeit von Senecas de superstitione und zu den Einzelheiten vgl. M. LAUSBERG, Untersuchungen zu Senecas Fragmenten (UALG 7), Berlin 1970, 225-227. 110 Vgl. z.B. Tertullian, Apol. 6,8; 24,2, Idol. 15,2ff. u.ö. 111 Vgl. z.B. Tertullian, Marc. I 9,2 parallel zu idololatria; Cor. 10,3.7; Idol. 8,4; Scorp. 10,6; Ieunio adv. Psych. 2,4; u.ö. 112 Tertullian, Marc. I 5,5. 113 Orat. 13,1; 15,1. 114 Vgl. zu Seneca und philosophischer Religionskritik Tertullian, Apol. 12,6; 21,9; 46,4; Tertullian Marc. I 13,4; zur Bekanntschaft mit der Schrift Senecas vgl. LAUSBERG, Operum Fragmenta, 1888; zu Numa vgl. Tertullian, Apol. 21,9; 25,12; Tertullian, Praesc. 40,6. 115 Vgl. H.E. LONA, An Diognet (KAV 8), Göttingen 2001, 146f. Zu Diognet vgl. weiter GRAY, Fear, 11. In den verwandten Texten KerPetr und Aristides, Apol. fehlt der Begriff hingegen. Zur Verwandtschaft vgl. H. PAULSEN, Das Kerygma Petri und die urchristliche Apologetik, in: DERS., Zur Literatur und Geschichte des frühen Chris-
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zweimal vorkommt. Deisidaimoni,a charakterisiert nach dem Vf. der Schrift an Diognet das Judentum prinzipiell: Im Proömium folgen auf die Adresse und die Hervorhebung des Interesses Diognets an der qeose,beia tw/n cristianw/n in Frageform drei diese qeose,beia erschließende Hauptthemen: nämlich die Fragen nach Gott, nach der gegenseitige Liebe und nach dem Offenbarungszeitpunkt bzw. der Neuheit der Lehre. Die Frage nach Gott betreffend werden zwei untergeordnete Schritte vorgenommen, die sich wiederum in zwei Bewegungen untergliedern: Zuerst werden die Konsequenzen christlicher qeose,beia das Verhältnis zur Welt und zum Tod betreffend erwähnt, dann werden Abgrenzungen vorgenommen, und zwar im Verhältnis zu den von den Griechen tentums. Gesammelte Aufsätze, hg. v. U. EISEN (WUNT 99), Tübingen 1997, 173-209: 179; LONA, Diognet, 30f. Der Begriff in engem Zusammenhang mit dem Judentum findet sich weiter bei Origenes, Cels. VII 41: „ivoudaikh.n deisidaimoni,an“; die Christen werden einerseits gegen die Griechen abgegrenzt, als solche, die Bilder und Statuen abgetan haben, andererseits gegen die jüdische deisidaimoni,a. Unmittelbar anschließend findet sich jedoch ein Lob des Mose und der Propheten als weiser Führer, die die Menschen die o`do.j qeosebei,aj gelehrt haben, in Abgrenzung zu dem Vorschlag des Kelsos, sich Dichter und Philosophen als solche zu wählen, so dass die pejorative Charakterisierung hier beiläufig und topisch bleibt und keineswegs das Gewicht antijüdischer Polemik trägt. Tertullian, Marc. II 18,3, sieht Ähnlichkeiten zwischen dem jüdischen Opferkult mit dem ‚heidnischen’. Der Opferkult gilt als Zugeständnis an die zu Idolatrie und Abfall neigenden Israeliten und als Hilfestellung, bei der Verehrung des einen Gottes zu bleiben. Superstitio bleibt kennzeichnend für polytheistische Kulte und wird eben nicht für die jüdische Religion verwendet. Bei Minucius Felix begegnet die Bezeichnung jüdischer Religion als superstitio (33,2) als Zitat eines vorweggenommenen Gegenarguments; die Charakterisierung erfolgt ohne besondere Polemik; die Abgrenzung erfolgt über das Konstrukt von Abfall und Strafe (13,4). Die ausdrückliche polemische Verwendung des Begriffs und die Verbindung mit der Sabbatobservanz finden sich wieder bei Ambrosius, Exp. in Luc. III 26, wo das Judentum als inanis superstitio bezeichnet und darüber hinaus für den Polytheismus der Heiden verantwortlich gemacht wird. Zur antijüdischen Polemik in der alten Kirche vgl. J. ULRICH, Euseb von Caesarea und die Juden. Studien zur Rolle der Juden in der Theologie des Eusebius von Caesarea (PStT 49), Berlin/New York 1999, 232-236. Zur Diskussion um die Art und Weise der Aufnahme und Weiterführung griechisch-römischer antijüdischer Urteile im frühen Christentum vgl. J.M. BÖTTRICH, Hostility to Jews as a Cultural Construct: Hellenistic, Egyptian and Early Christian Paradigms, in: C. BÖTTRICH / J. HERZER/ T. REIPRICH (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 209) Tübingen 2007, 365-386: 378-386; zur Bezeichnung der Juden als deisidaimo,nej bzw. superstitiosi vgl. Strabo, Geogr. XVI 2,37 vgl. weiter Plutarch, Superstit. 166A; 169C; indirekt auch de Stoicorum repugnantiis Mor. 1051E parallel zu syrischen Vorstellungen und denen der ‚Dichter’; Seneca, Ep. 95,47: Sabbatriten neben traditionellen römischen religiösen Riten; Quintilianus, Inst.Orat. III 7,21 über Mose; Tacitus, Hist. V 8,2f.13 (vgl. STERN, Literature, 1153-1157: 1155); bei Apuleius steht die Rede von den Iudaei superstitiosi im Kontext ethnographischer Typologie (Florida 6). Vgl. weiter de Deo Socratis 3; 19; zum Vorwurf vgl. STERN, Literature, 1142; Zur Einordnung antijüdischer Polemik in ethnographische Typologie in griechisch-römischer Literatur vgl. BARCLAY, Hostility, 366-368; L.H. FELDMAN, Judaism and Hellenism Reconsidered (JSJ 107), Leiden 2006, 157-172, zum Vorwurf der superstitio ebd. 173; zum superstitioVorwurf gegenüber dem Judentum insgesamt vgl. SCHÄFER, Judeophobia, 187-192.
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als Götter Angesehenen und zur jüdischen deisidaimoni,a. Die abgrenzende Verwendung und die Opposition zu qeose,beia machen deutlich, dass der Begriff pejorativ verwendet wird. Naheliegend, im Einzelnen aber nicht durchgehend belegbar, ist die Vermutung, dass die christliche qeose,beia als die rechte Mitte zwischen der avqeoth,j der Griechen und der deisidaimoni,a der Juden verstanden werden soll. Die Abgrenzung erfolgt in Umfang und Grundsätzlichkeit symmetrisch. Das Christentum versteht sich tatsächlich als kaino.n ge,noj (Diog 1,1),116 das dem Judentum nicht signifikant näher steht als der griechisch-römischen Religion.117 Auf die Abgrenzung zum Judentum kommt der Vf. in den Kapiteln 3 und 4 zurück. Zwar sei den Juden zuzugestehen, dass sie mit ihrer Verehrung des einen Gottes des Alls und Herrschers richtig urteilen (Diog 3,2a), ihre Art und Weise der Verehrung jedoch, nämlich durch einen Opferkult, dem Irrtum griechisch-römischer Religion in nichts nachstehen.118 Es folgt eine differenzierte Beschreibung der Irrtümer des Judentums; genannt werden vier durch je ein wertendes nomen regens bestimmte Bereiche jüdischer Frömmigkeit, nämlich Speisegebote, Sabbat, Beschneidung sowie Fasten und Neumond. Dabei werden die ersten beiden und letzten beiden Themen syntaktisch und semantisch zusammengeordnet. Die Beachtung der Speisegebote gilt als yofodeh,j, die Sabbatobservanz als deisidaimoni,a;119 die Beschneidung als avlazonei,a, ‚Fasten und Neumond’ als eivrwnei,a. VAlazonei,a und eivrwnei,a bilden dabei ein Paar;120 yofodeh,j, womit die übermäßige Schreckhaftigkeit und Ängstlichkeit bezeichnet wird, und deisidaimoni,a gehören zu demselben semantischen Feld, das durch übermäßige religiöse Furcht bestimmt ist.121 Die Anbindung des deisidaimoni,a-Vorwurfs an die Sabbatobservanz ist von Agatharchides her vertraut. Im folgenden Abschnitt begegnen weitere aus der Debatte um die legitime Religion bekannte Stichworte: Die Sabbatobservanz wird als avsebh,j klassifiziert, die Einteilung in Trauer- und Festzeiten als avfrosu,nh, die dargestellte Religiösität als avpa,th. Dass die Sabbatobservanz zugleich als deisidaimoni,a und avse,beia bewertet werden kann, zeigt die unsystematische und deutlich pragmatisch orientierte Art der Aufnahme solcher Stichworte an. Der Vf. greift – möglicherweise absichtlich (Diog 4,1c) – griechisch-römische antijüdische Polemik auf.122
116 117 118 119 120 121 122
Vgl. KerPetr 2d; Aristides, Apol. 2,2; vgl. LONA, Diognet, 78f. Vgl. LONA, Diognet, 142.147. Vgl. LONA, Diognet, 117f. Vgl. Strabo, Geogr. 16.2.37. Aristoteles, Eth.Nic. 1108a20-22; Vgl. dazu LONA, Diognet, 126f. Vgl. Lukianus, Philops. 37,9; weiter Eusebius, H.E. VIII 14,8. Vgl. LONA, Diognet, 145f.
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4.2. Präfigurationen im Neuen Testament Im Vergleich zu der vom Ende des 2. Jahrhunderts an breiten und vergleichsweise zentralen Verwendung des Begriffs in der christlichen Literatur, nimmt sich der Befund im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern kärglich aus. In neutestamentlichen Texten ist der Begriff nur zweimal, und zwar beim Verfasser des lk Doppelwerks belegt, in Apg 17,22, wo Paulus in seiner Rede auf dem Areopag die Athener als deisidaimone,steroi o;ntej anredet, und in Apg 25,19, wo Festus in seinem Bericht über den Gefangenen Paulus an Agrippa von der Anhörung der gegnerischen Ankläger berichtet und dabei zusammenfassend zwei Streitpunkte nennt: peri. th/j ivdi,aj deisidaimoni,aj und peri, tinoj VIhsou/. In den Schriften der apostolischen Väter fehlt der Begriff.
4.2.1. Zum Forschungsgegenstand Gleichwohl hat das Phänomen in letzter Zeit in der Forschung verstärkt Aufmerksamkeit gefunden, und zwar in zwei unterschiedlich akzentuierten Fragestellungen: Zum einen sind die Beiträge zu nennen, die neutestamentliche Texte auf dem Hintergrund von Plutarchs „de superstitione“ interpretieren.123 Hierzu gehören die Untersuchungen von H. Braun, 124 M. Theobald125 und die Untersuchung von P. Gray.126 Hier 123 Der Beitrag von M. SMITH, De Superstitione (Mor. 164E-171F), in: H.D. BETZ (Hg.), Plutarchs Theological Writings and Early Christian Literature, Leiden 1975, 1-35, stellt nach der Diskussion der Verfasserfrage (er bestimmt die Schrift als pseudepigraphisch, ebd. 1-6) und der Wiedergabe des Gedankengangs der Schrift überblicksund z.T. stichwortweise Parallelen in neutestamentlicher und frühchristlicher Literatur zusammen. Ausdrückliches Urteil bleibt der Gattung des Beitrags entsprechend aus. Andeutungsweise verortet Smith neutestamentliches Denken am Beispiel der Gottesfurcht differenziert: „Such a background (die positive Wertung der Gottesfurcht in alttestamentlich-jüdischer Tradition insbesondere im Zusammenhang der Einschärfung von Toraobservanz) would explain the unusual acute contrasts of NT Texts, which combine the most outspokenly terrifying apocalyptic framework with a constantly reiterated and perhaps slightly nervous insistance on grace, mercy, love, peace, confidence, and joy.“(13) 124 H. BRAUN, Plutarchs Kritik am Aberglauben im Lichte des Neuen Testaments, in: DERS., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 21967, 120-135. Braun kontrastiert die von deisidaimoni,a freie, ideale Gottesvorstellung Plutarchs als eine harmlose und hinter den Einsichten christlicher Harmatiologie und Gotteslehre zurückbleibende, der neutestamentlichen Rede vom rettenden oder vernichtenden Gott (123.129), dessen Liebe und Freundlichkeit sich eben nicht von selbst verstehe, sondern der Offenbarung bedürfe (129), theologisch unterlegenen Ansatz. 125 M. THEOBALD, Angstfreie Religiosität. Röm 8,15 und 1Joh 4,17f im Licht der Schrift Plutarchs über den Aberglauben, in: N. EL KHOURY / H. CROUZEL / R. REINHARDT (Hg.), Lebendige Überlieferung. Prozesse der Annäherung und Auslegung, FS H.J.
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wird insbesondere das Phänomen der religiösen Furcht zum Kristallisationspunkt. Die Beiträge sind jeweils als Verteidigung des frühen Christentums als vera religio in den Kategorien ihres jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexts anzusehen, im Kontext existentialer Hermeneutik, in der Epoche nach der humanwissenschaftlichen Wende und seit Beginn des neuen Jahrhunderts im Spannungsfeld von Integration und Partikularismus. Die der Begrifflichkeit innewohnende Aufforderung zu einer Diskussion legitimer und illegitimer Religionsausübung wird also aufgenommen und weitergeführt. Zum anderen kommen von der Frage nach dem Verhältnis von Magie und frühen Christentum her mit deisidaimoni,a bzw. superstitio bezeichneten Phänomene in den Blick.127 Schwerpunkte der BeschäftiVogt, Beirut/Ostfildern 1992, 321-343. Theobald verteidigt in Auseinandersetzung mit dem Beitrag Brauns die Intention Plutarchs, eine „humane Frömmigkeit“ (332) zu skizzieren, „die sich mit der Würde des Menschen verträgt“ (334) als legitim. Eine solche Frömmigkeit sieht Theobald in Röm 8,15 und 1Joh 4,17f mit je eigenem Profil in Auseinandersetzung mit Gerichts- und Sündenvorstellung als Leitbild christlichen Glaubens ausgedrückt und konzipiert. 126 P. GRAY, Godly Fear. The Epistle to Hebrews and Greco-Roman Critiques of Superstition, Leiden/Boston 2004. Gray erkennt beim Vf. des Hebräerbriefs einerseits die Intention, religiöse Furcht aufgrund des Christusgeschehens als der Gottesbeziehung der Christen unangemessen darzustellen (185f), hebt jedoch hervor, dass im Hebräerbrief andererseits in Weiterführung alttestamentlicher Traditionen Gott als legitime Quelle der Furcht wahrgenommen und beschrieben werde (214; 226). Gray akzentuiert, dass die Freiheit von religiöser Furcht nicht wie bei Plutarch durch die Eigenschaften der Gottheit begründet wird, sondern sich allein vom Christusgeschehen her eröffnet (226 u.ö.). 127 Eine Beschäftigung mit Magie im frühen Christentum ist herausgefordert, sich in drei diskursiven Kontexten zu verorten und zu bewähren: (1) innerhalb des religionswissenschaftlichen (und soziologischen) Diskurses, in dem der Magiebegriff eine konstitutive Rolle für das Selbstverständnis der Disziplin spielt; vgl. einführend H.G. KIPPENBERG, Art. Magie, HRWG IV (1998), 85-98; DERS., Einleitung: Zur Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, in: DERS. / B. LUCHESI, Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt 1978, 9-51; D. PEZZOLI OLGIATTI, From magei,a to Magic: Envisaging a Problematic Concept in the Study of Religion, in: M. LABAHN / B.J.L. PEERBOLTE (Hg.), A Kind of Magic. Understanding Magic in the New Testament and its Religious Environment, London 2007, 3-19; (2) innerhalb der altphilologischen und althistorischen Diskurse, die in den vergangenen zehn Jahren eine beträchtliche Anzahl von Veröffentlichungen hervorgebracht haben; einen Überblick über neuere Arbeiten bei R. GORDON, Imagining Greek and Roman Magic, in: ANAKARLOO / CLARK (Hg.), Witchcraft, 159269, bes. Bibliographical Essay, 266-269; M. BECKER, Ma,goi – Astrologers, Ecstatics, Deceitful Prophets: New Testament Understanding in Jewish and Pagan Context, in: LABAHN / PEERBOLTE (Hg.), Magic, 87-106: 87f; (3) innerhalb des theologiegeschichtlichen und theologischen sowie exegetischen Diskurses; vgl. C.H. RATSCHOW / R. ALBERTZ / D. HARMENING / H.-J. RUPPERT, Art. Magie, TRE 21 (1991), 686-703; C.H. RATSCHOW, Magie und Religion, Gütersloh 1947; F. WIGGERMANN / H.D. BETZ / D. BRANDY / J. JOOSTEN / M.FRENSCHKOWSKI / M. WALLRAFF / U. KÖPF / H. STEIB, Art. Magie I-V, RGG4 V (2002), 661-675; G. DELLING, ma,goj ktl., ThWNT IV (1942), 360363; H. BALZ, ma,goj (EWNT II) (1981), 914f; J.A. SCURLOCK, Magic, ABD 4 (1992), 464-471. Die Begriffsverwendung changiert abhängig vom Erscheinungsdatum, vom
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gung sind als Querschnittsthema die Wunderüberlieferung und als Textcorpus das lukanische Doppelwerk.128
Differenzierungsniveau und der primären Verortung in den genannten diskursiven Kontexten. Eine differenzierte Diskussion der Begriffe deisidaimoni,a und superstitio stehen im Kontext der Magiediskurse m.W. aus (vgl. auch das Fehlen des Begriffs bei PORTER, Magic, 108). Der Beitrag von N. BROX, Magie und Aberglaube an den Anfängen des Christentums, TThZ 83 (1974), 157-180: 157, verwendet beide Begriffe nahezu synonym und von den o.g. Diskursen unberührt. Die neueste monographische Veröffentlichung, D.B. MARTIN, Superstition. From the Hippocratics to the Christians, Cambridge (MA), London 2003, skizziert nahezu ausschließlich die Verwendung des Begriffs in der philosophischen Diskussion und die Verbindung mit den jeweiligen Gottesvorstellungen. Martins eigener Akzent liegt auf der Behauptung, dass dieses philosophische Konzept sich weder durchgehend durchgesetzt habe (Diodor Siculus), noch dass es widerspruchsfrei zu vertreten sei (Plutarch). Eine Aufnahme der Magiediskurse bzw. selbst deren Zurkenntnisnahme unterbleibt vollständig. Zur Kritik vgl. P. RIPAT in (BMCR) 2005: „Martin betrays little familiarity with current or recent scholarship on either Greek or Roman religion … [and] fails to engage with recent scholarship on magic in antiquity.” Zur neuesten Theoriediskussion vgl. REIMER, Magic, 1-46 und S. PORTER, Magic in the Book of Acts, in: LABAHN / PEERBOLTE (Hg.), Magic, 107-121. Magie kann sich – so akzentuieren insbesondere die soziologischen Definitionsansätze – wie deisidaimoni,a und superstitio primär über die polemische Funktion der Begriffsverwendung erklären und die illegitime Religion bzw. die Religion der nicht akzeptierten Gruppe bezeichnen; vgl. S. GARRETT, The Demise of the Devil. Magic an the Demonic in Luke’s Writings, Minneapolis 1989, 4f; A.M. REIMER, Miracle and Magic. A Study in the Acts of the Apostles and the Life of Apollonius of Tyana, London 2002, 9f; daneben wird mit dem Begriff aber immer wieder auch bestimmte religiöse Praxis bezeichnet. Im Ganzen gehört der Begriff deisidaimoni,a resp. superstitio in den antiken Quellen stärker und ausschließlicher als der Begriff magei,a resp. magia in den Bereich des Diskurses über Religion; er dient m.W. niemals der Selbstbezeichnung; vgl. zur Verwendung des Magiebegriffs PEZZOLI-OLIGIATI, magei,a, 16f. 128 Hier sind für die neueste Forschung insbesondere die Beiträge zu nennen, die in dem von M. LABAHN und B.J.L. PEERBOLTE herausgegebenen Tagungsband (s. Anm. 127) zusammengestellt sind, zudem die Untersuchungen P. BUSCH, Magie in neutestamentlicher Zeit (FRLANT 218), Göttingen 2006, T.E. KLUTZ, Magic in the Biblical World: From the Rod of Aaron to the Ring of Solomon (JSNT.S 245), London 2003, M. BECKER., Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus (WUNT II 144), Tübingen 2002, A.M. REIMER, Miracle and Magic. A Study in the Acts of the Apostles and the Life of Apollonius of Tyana, London 2002, sowie die Aufsätze von M. AUBIN, Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament, ZNT 7 (2001), 1624, und N. FÖRSTER, Der Exorzist El’azar: Salomo, Josephus und das alte Ägypten, in: J.U. KALMS (Hg.), Internationales Josephus Kolloquium Amsterdam 2000 (Münsteraner Judaistische Studien 10), Münster 2001, 205-221; weiterhin sind die Arbeiten von B. KOLLMANN, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in der Antike (FRLANT 170), Göttingen 1996, H.J. KLAUCK, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (SBS 167), Stuttgart 1996, sowie S. GARRETT, The Demise of the Devil. Magic and the Demonic in Luke’s Writings, Minneapolis 1989, hervorzuheben.
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4.2.2. Deisidaimoni,a im Neuen Testament Eine Annäherung an das Thema im Rahmen des frühen Christentums ist zuerst an die beiden Belege für den Begriff deisidaimoni,a im NT gewiesen, zumal sie innerhalb des Untersuchungsfeldes dieses Beitrags signifikant sind. Eine solche Zugangsweise ist methodisch eindeutiger als Versuche, orientiert an Plutarchs Schrift verwandte Motive oder Strukturen aufzufinden und die Bekanntheit mit der religionsphilosophischen und –politischen Diskussion zu postulieren. Die Analyse der beiden Acta-Belege erweist die Verwendung des Begriffs als die Entwicklung im 2. Jh. de facto präformierend. Zudem wird erkennbar, dass dem Vf. der Acta der Gebrauch des Begriffs im lateinischen Sprachraum bekannt und vertraut ist, sowie dass an die Diskussion im griechischen religionsphilosophischen Diskurs angeknüpft wird. Beide Belege begegnen in einem apologetischen bzw. protreptischen Kontext.129 Schließlich sind die Belege in dem Werk, der Apostelgeschichte, zu finden, für das zwar nicht der Begriff, jedoch aber das Phänomen, Magie und Verwandtes, von Bedeutung ist, und zwar an eben den Stellen, an denen über legitime Religion im Kontext griechischen bzw. römischen Denkens diskursiv, nicht narrativ verhandelt wird.
4.2.2.1. Im Verhältnis zur griechisch-römischen Religion Apg 17,16-34 schildert den Aufenthalt des Paulus in Athen und stellt dessen Rede auf dem Areopag in den Mittelpunkt der Schilderung. Die Rahmenerzählung (Apg 17,16-21.32-34) gliedert sich im ersten Teil in drei kleine Abschnitte: Vers 16 lässt Paulus auftreten und schildert seine Wahrnehmung der Stadt.130 V.17 erzählt von der Tätigkeit des Paulus in Athen: seinem Wirken in der Synagoge und auf der Agora.131 Die Verse 18-20 führen Epikureer und Stoiker als Hörer des Paulus ein, berichten von deren Verständnis und Reaktion auf die „Lehre“ des Paulus und stellen die Szene für die Areopagrede auf. V.21 fügt einen Erzählerkommentar das Verhalten nunmehr wieder allgemein der Athener betreffend und deren Reaktion auf Paulus bereits interpretierend 129 Das Stichwort fehlt in Apg 17, wird jedoch im Hintergrund des Textes über die Sokratesanspielungen und die Ortslage, den Areopag aktualisiert. 130 Die Stadtbesichtigung, Periegese, gilt als typisches Element antiker Reiseschilderungen und legt einen Akzent auf die Sehenswürdigkeiten, natürlich insbesondere auf die Heiligtümer der Stadt; vgl. KLAUCK, Magie, 89f. 131 Zur Zuordnung der Gottesfürchtigen zu den Juden und zur Hinwendung zu den „reinen“ Heiden etwas gezwungen vgl. J. JERVELL, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt (KEK III), Göttingen 1998, 443.
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ein. Die Schilderung des Athenaufenthalts des Paulus aktualisiert athenisches Lokalkolorit132 und rückt Paulus an Sokrates heran.133 Der zweite Teil des Erzählrahmens (Apg 17,32-34) thematisiert den begrenzten Erfolg der paulinischen Predigt.134 Die Areopagrede (Apg 17,22-31) beansprucht einerseits innerhalb der Reden der Acta eine Sonderstellung135 und weist deutliche theologische und sprachliche Eigenheiten auf,136 andererseits steht sie als eine Musterrede neben den Reden an jüdische Gemeindemitglieder in der Synagoge (Apg 13,16-49) und an die christliche Gemeinde (Apg 20,18-35); sie ist weiterhin der Ansprache an die ungebildeten Heiden, die Barnabas und Paulus als Götter zu verehren bereit sind (Apg 14,15-17) – typische Kennzeichen superstitiö132 Zu nennen sind die große Anzahl von Götterbildern, die Neugier der Athener, die Begegnung mit den Philosophen, das Auftreten auf der Agora, der Areopag (vgl. dazu E. HAENCHEN, Die Apostelgeschichte übersetzt und erklärt (KEK III), Göttingen 71977, 465; KLAUCK, Magie, 89-95). Zur Ortslage vgl. F.E. BRENK, „We Are of His Race“. Paul and the Philosophy of His Time, in: DERS., With Unperfumed Voice. Studies in Plutarch, in Greek Literature, Religion and Philosophy, and in the New Testament Background (PAwB 21), Stuttgart 2007, 402-433. 405-407; W. ELLIGER, Mit Paulus unterwegs in Griechenland, Stuttgart 1998, 69-88. 133 Auftreten auf der Agora, Einführung neuer Götter, Areopag, Beginn der Rede; vgl. HAENCHEN, Apostelgeschichte, 465; KLAUCK, Magie, 91. M.G. GIVEN, Paul’s True Rhetoric, Ambiguity, Cunning and Deception in Greece and Rome, Harrisburg 2001, 56-60 betrachtet auch den Ausdruck to. pneu/ma auvtou/ evn auvtw|/ als Anspielung auf Sokrates, genauer auf dessen daimo,nion. Der Vorschlag kann im Rahmen der ausdrücklich eklektischen Methodik des Buches (ebd., 43f) als konsequent gelten. Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass nach Quintilianus, Inst.Orat. IV 4,5 Sokrates beschuldigt wurde, novas superstitiones einzuführen. 134 Vgl. KLAUCK, Magie, 95f. 135 M. DIBELIUS, Paulus auf dem Areopag, in: DERS., Aufsätze zur Apostelgeschichte, hg. v. H. GREEVEN (FRLANT 60), Göttingen 21953, 29-70: 55.70, bezeichnete die Rede zugleich als Höhepunkt innerhalb der Apostelgeschichte (ebd. 29) als auch als „Fremdkörper“ innerhalb des NT (ebd. 44.59.65) und wesentlich „stoisch und nicht christlich“ (ebd. 59); zur Gegenposition, die alttestamentlich-jüdischen Anspielungen hervorhebend vgl. B. GÄRTNER, The Areopagus Speech and Natural Revelation (ASNU 21), Uppsala 1955, 199. Eine vermittelnde Position vertritt W. NAUCK, Die Tradition und Komposition der Areopagrede, ZThK 53 (1956), 11-52; vgl. auch HAENCHEN, Apostelgeschichte, 461; A. LINDEMANN, Die Rede von Gott in der paulinischen Theologie (1979), in: DERS., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 9-26, 14; KLAUCK, Magie, 109. Zur Integration in das lukanische Doppelwerk vgl. R.C. TANNEHILL, The Narrative Unity of Luke-Acts II, Philadelphia 1990, 210-212. Die Rede vom Fremdkörper immer noch bei JERVELL, Apostelgeschichte, 252 zusammen mit der Interpretation der Rede als das Heidentum „rein negativ“ bewertend, vgl. ebd., 449. Als beabsichtigte Zwischenposition zwischen jüdischen und griechischen Traditionen „Paul is standing in the midst, betwixt and between“ interpretiert GIVEN, Rhetoric, 42. 136 Hapaxlegomena oder sehr selten sind neben deisidai,mwn z.B. a;gnwstoj, bwmo,j, o`roqesi,a; katoiki,a, katei,doloj, filo,sofoj, spermolo,goj, kaino,teroj, xe,noj; zum gehobenen, attischen Stil vgl. JERVELL, Apostelgeschichte, 452; Die Adressaten der Areopagrede unterscheiden sich von den Zuhörern der Musterpredigt in Agp 14 durch ihre Bildung und Urbanität (vgl. KLAUCK, Magie, 92).
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sen Verhaltens übrigens137 –, zu vergleichen.138 Die Areopagrede spielt vielfältig auf insbesondere stoische Philosophie, Anthropologie und Theologie an.139 Durch die Erwähnung der Götterbilder und die von außen unsichtbare Erregung des Paulus über diese (V.16) zusammen mit der die Anknüpfung an griechisch-römische Vorstellungen suchenden Areopagrede in ihrem ersten großen Teil (V.22-29) entsteht ein Spannungsfeld. Der Redenbeginn mit der auf die Zuhörer zielenden captatio benevolentiae (kata. pa,nta w`j deisidaimoneste,rouj u`ma/j qewrw/) wird zugleich für die Lesenden vor dem Hintergrund von V 16 als eine kritischen Äußerung erkennbar, ermöglicht durch die Ambiguität des Begriffs deisidaimoni,a.140 Die Zweifelhaftigkeit des deisidaimoni,a-Begriffs wird unterstrichen durch die die Verwendung des unzweifelhaft positiv konnotierten euvsebe,w für die Verehrung des „unbekannten Gottes“ (V.23); diesem Spannungsfeld zuzuordnen sind die Tempel- und Kultkritik in V.24 und die Bilderkritik in V.29: Es entsteht ein Kontrast zwischen der richtigen Gottesverehrung, wie Paulus sie – in den Augen des Verfassers der Areopagrede – in Übereinstimmung mit der griechischen philosophischen Gotteslehre entfaltet, und der religiösen Praxis in Athen. Die angesprochenen Kritikpunkte: Tempel, traditioneller Kult und Bilderverehrung haben nicht nur in der philosophischen Diskussion ein Widerlager, sondern gehören ausdrücklich in die Religionskritik des philosophischen deisidaimoni,a-Diskurses: Erinnert sei insbesondere an die in Senecas Schrift „de superstitione“ genannten Kritikpunkte. Der Paulus der Acta versucht einen Schulterschluss mit der griechischen Philosophie gegen die traditionelle griechische Frömmigkeit141 137 Vgl. Lukian, Alex. 9,11. 138 Vgl. TANNEHILL, Unity, 210; KLAUCK, Magie, 89.110. Zur Diskussion über die Funktion der Areopagrede vgl. JERVELL, Apostelgeschichte, 453, der die Rede eben nicht für ein Muster, sondern für ein „Intermezzo“ hält, mit der der Vf. der Apg bewusst nur einen Einzelfall darstellen will. 139 Vgl. DIBELIUS, Areopagrede, passim; KLAUCK, Magie, 97-107; HAENCHEN, Apostelgeschichte, 458-464.467; F.E. BRENK, Plutarch, Judaism and Christianity, in: DERS., Voice, 97-117: 105-107; DERS., Paul, 408-414, weist auf möglichen mittelplatonischen Einfluss hin. 140 Vgl. KLAUCK, Magie, 97; GIVEN, Rhetoric, 48-56.69f. 141 Zu beachten ist, dass die Zuhörer nach Auskunft der V.18f ausschließlich Philosophen sind; diejenigen unter den zufällig Anwesenden in V.18, die dem traditionellen Kult anhängen, der in den V24.29 kritisiert wird, sind offenbar nicht als Zuhörer vorgestellt; Paulus redet also keineswegs zu „reinen Heiden“ (JERVELL, Apostelgeschichte, 453) als solchen, die unter einem Verdikt stehen, sondern zu einer Gruppe von Menschen, mit deren Gottesvorstellung er durchaus Gemeinsamkeiten benennen kann. Dass der Ort der Rede, der Areopag, zugleich auch das Auditorium charakterisiere und damit Personen meint, die für das religiöse Leben in Athen Verantwortung tragen (so TANNEHILL, Unity, 216f), erscheint nicht plausibel. Zum Schulterschluss mit der philosophischen Religion vgl. F.E. BRENK, Mixed Mono-
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mittels für den jüdischen Monotheismus anschlussfähigen Bruchstücken philosophischer Gotteslehre, wie bereits im hellenistischen Judentum vorgenommen und wie auch von griechisch-römischer Seite aus beobachtet, und verwendet die mit dem deisidaimoni,a-Begriff verbundene philosophische Religionskritik als übergeordnetes Muster. Die Ambiguität der captatio benevolentiae in V.22 soll also nicht nur für die Lesenden, sondern auch für die Zuhörer in der erzählten Welt durchschaubar sein. Das Verfahren ähnelt durchaus dem des Strabo auf griechisch-römischer Seite, der im Hinblick auf das Judentum zwischen einem positiv zu bewertenden Monotheismus und insbesondere kultisch bestimmter deisidaimoni,a unterscheidet. Deisidaimoni,a erweist sich somit als Schlüsselwort für die Dreier-Konstellation in Apg 17,16-34. Im Hinblick auf die mit Magie zu beschreibenden Phänomene wie sie in den Acta thematisiert werden, wird durch die Aufnahme der unter dem Stichwort deisidaimoni,a verhandelten Religionskritik eine weitere, dieses Mal theoretisch fundierte Differenzierung des frühen Christentums erreicht: Paulus partizipiert an der Debatte über illegitime Formen der Religionsausübung und sucht den Konsens mit der philosophisch begründeten Kritik; er und seine Tätigkeit sind nicht der Gegenstand solcher Religionskritik. Die Rede endet mit dem Verweis auf Auferstehung und kommendes Gericht;142 die Reaktion der Zuhörer wird als geteilt beschrieben. Damit thematisiert der lk Paulus nicht nur ein Proprium frühchristlicher Verkündigung, sondern ruft im Kontext des deisidaimoni,a-Diskurse auch einen unter dem Verdikt superstitiösen Denkens stehenden Topos, „die Schrecken der Unterwelt“, auf. Jedoch ist dieser Topos im Rahmen zeitgenössischer Philosophie keineswegs eindeutig als superstitiös konnotiert. Plutarch vertritt eine sehr ausgeprägte Vorstellung göttlicher Vergeltung, die für den Mittelplatonismus typisch sein könnte,143 so dass vermutet werden kann, dass auch die geteilte Reaktion auf den Abschluss der paulinischen Rede innerhalb eines griechisch-römischen philosophischen Diskurses verständlich sein könnte und nicht zwingend als Scheitern des Kommunikationsversuchs des lk Paulus mit zeitgenössischer Philosophie gedeutet werden muss.
theism. The Areopagos Speech of Paul, in: DERS., Voice, 470-494: 478. Zu Senecaanspielungen – unter Absehung von “de superstitone“ – vgl. DIBELIUS, Areopagrede, 51. 142 Vgl. zum Verhältnis, JERVELL, Apostelgeschichte, 450. 143 Vgl. BRENK, Judaism, 107-114, bes. 109f, DERS., Paul, 413.433; DERS., Monotheism, 473f. Zum Fehlen platonischer Zuhörer vgl. ebd. Zu den Spannungen zwischen Plutarchs Position in „de superstitione“ 167A und in „de sera numinis vindicta“ vgl. SMITH, Superstitione, 4f.19f, GRAY, Fear, 95-98.
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Für missionarische Verkündigung wird mit der Verwendung der deisidaimoni,a-Begrifflichkeit ein alternatives Modell zur Bekehrungsterminologie144 eingeführt:145 Während die Bekehrungsvorstellung den Bruch mit der griechisch-römischen Religion mittels der Kategorien falsch/richtig inszeniert, wird mit der Verwendung des deisidaimoni,a– Musters der Akzent auf graduelle Unterschiede gelegt, die sich mittels der Endpunkte einer Strecke „nicht angemessen“ – „angemessen“ besser beschreiben lassen und auf der die Position weniger durch Bekehrung als durch Unterweisung und Bildung verändert wird. Wie der Verfasser der Acta die Areopagrede bewertet wissen will, wird überwiegend an den VV 32-34 diskutiert und hängt von grundlegenden konzeptionellen Entscheidungen die Acta betreffend ab. Die Areopagrede will die christlichen Lesenden nicht nur auf die Vereinbarkeit ihres Glaubens mit grundlegenden Einsichten der griechischen Philosophie hinweisen,146 sondern sie zusätzlich daran erinnern, dass sie auch mit ihrer Kritik und ihrer Ablehnung traditioneller griechischer Frömmigkeit nicht allein stehen, und sie für diese Ablehnung auch Vernunftgründe geltend machen können. Die Zurückweisung des traditionellen griechischen Kultes, Tempel-, Kult- und Bilderkritik zeigen die Christen nicht nur als die Anhänger des lebendigen Gottes in Abgrenzung zu den Verehrern von ei;dwla, sondern auch als Vertreter einer höheren Bildung in Abgrenzung zu der „abergläubischen“ Dummheit der einfachen Bevölkerung. Neben diese Anknüpfung an die Verwendung des Begriffs im griechischen Sprachraum tritt eine (natürlich unbeabsichtigte) vorbereitende, präformierende Funktion hinsichtlich der Verwendung im zweiten und dritten Jahrhundert: deisidaimoni,a bezeichnet bereits hier die griechisch-römische Religion und legt einen besonderen Akzent auf die Bilderverehrung.147
144 Terminologisch mit evpistre,fw in Act überwiegend für Heiden, z.B. 11,21; 14,15; 15,19. Vgl. auch 1Thess 1,9. Vgl. G. BERTRAM, Art. stre,fw ktl., ThWNT VII (1964), 714-729: 725-728. 145 Vgl. dazu ansatzweise KLAUCK, Magie, 109 die missionarische Strategie der Areopagrede mit Tempel-, Kult- und Bildkritik als „etwas zurückhaltender“ als 1Thess 1,9 und Apg 14,15-17. 146 KLAUCK, Magie, 111. 147 Weiterhin lassen sich schon Ansätze für die Vereindeutigung des vagen griechischen dai,mwn-Begriffs finden, während die Philosophen die Lehre des Paulus als die Einführung xe,nwn daimoni,wn interpretieren (V.18, zu beachten ist dabei jedoch die Anspielung auf Xenophon, Mem. I 1,1, wo Sokrates als derjenige, der vermeintlich kaina. daimo,nia – auch dort im Kontrast zu den ou[j h` po,lij nomi,zei qeou,j – einführe, vorgestellt wird), spricht Paulus ausschließlich von qeo,j. Eine Identifikation der traditionellen griechischen Götter mit den daimo,nia erfolgt allerdings weder durch Paulus noch durch den Erzähler.
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4.2.2.2. Im Zusammenhang der Thematisierung jüdischer Religion Der zweite Beleg für deisidaimoni,a in den Act findet sich im Gespräch zwischen dem Procurator Festus und König Agrippa II in Apg 25,19 im Mund des Römers. Die Szene erschließt sich in ihren Grundstrukturen erst im größeren Kontext der Schilderung des Fortgangs des Paulusprozesses unter Festus (Apg 25,1-26,32). In einer ersten zweigeteilten Szene (Apg 25,1-12) wird von der Wiederaufnahme des Prozesses gegen Paulus unter Festus erzählt: Festus gibt der Forderung nach Wiederaufnahme durch die Jerusalemer nach, verweigert aber die Verlegung des Prozessortes nach Jerusalem (Apg 25,1-5). Von der Anhörung von Kläger und Beklagten und der Appellation des Paulus an den Kaiser als Reaktion auf den Vorschlag des Festus, den Prozessort nun doch zu verlegen, wird anschließend berichtet (Apg 25,6-12). V.12 fasst das kommende Geschehen zusammen: Paulus wird nach Rom ziehen (Apg 25,12). Apg 19,21 wird aufgenommen, Apg 26,32 knüpft daran an, von Apg 27,1 an wird die Romreise des Paulus geschildert. Dazwischen geschoben werden nun zwei Szenen, die die Handlung nicht weiterbringen, sondern vertiefend kommentieren: Ein Bericht über die Begegnung zwischen Agrippa und Berenike einerseits und Festus andererseits (Apg 25,13-22) sowie eine neuerliche Anhörung des Paulus (Apg 25,21-27; 26,1f), die diesem Gelegenheit für eine weitere Apologie, ausdrücklich an Agrippa gerichtet, gibt,148 jedoch in ihrem Schlussteil mit ihrem missionarischen Impetus auf das gesamte Publikum, Festus und die lokale Oberschicht eingeschlossen, ausgeweitet wird (Apg 26,29). Auch hier ist die Konstellation beteiligter Personen und Gruppen intentional spannungsvoll. Beteiligt sind neben dem Vertreter der römischen Obrigkeit, Festus, Agrippa und Berenike als Repräsentanten des jüdischen Königshauses. Das Verhältnis dieser beiden Größen zueinander und zu Paulus wird von dem Verfasser der Act sorgfältig ausbalanciert. Der Begriff deisidaimoni,a begegnet in der Schilderung des Falles Paulus und des bisherigen Verhaltens des Procurators durch Festus Agrippa gegenüber: Wiedergegeben wird die Kommunikation mit den Jerusalemern, die Anhörung und Anklage (zhth,mata de, tina peri. th/j 148 Als Apologien waren bereits die Rede vor den Jerusalemern (Apg 22,1) und diejenige vor Felix (Apg 24,10) charakterisiert worden; die Rede vor Agrippa wird besonders betont, nämlich dreimal (Apg 26,1.2.24) als Apologie bestimmt. Möglicherweise sticht diese letzte Apologie hervor, weil sie sich mit ihrer Adresse an den jüdischen Klientelkönig Agrippa II sowohl an (gedachtes) jüdisches als auch an römisches Publikum richtet, bzw. an eine Synthese von Juden- und Römertum, wie es dem Verfasser der Acta als ein hermeneutisches Ideal vorschwebt.
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ivdi,aj deisidaimoni,aj ... kai.. peri, tinoj VIhsou/, V.19) sowie die Appellation des Paulus durch Festus. Der römische Procurator verwendet also diejenige Bezeichnung für die jüdische Religion, die als typisch für römischen Sprachgebrauch galt. Zu fragen ist nun, wie der Erzähler die Ambiguität des Begriffs einsetzt. Die Erzählstrategie erschließt sich in diesen Szenen durch die Charakterisierung ihrer beiden Hauptfiguren, Festus und Agrippa. Agrippa wird als eine positive Figur eingeführt; Paulus – an dessen Äußerungen der ‚point of view’ des Autors erkennbar wird – begrüßt die Gelegenheit, seine Sache vor diesem darstellen zu können (h[ghmai evmauto.n maka,rion, Apg 26,2) und begründet dies mit dessen Sachkundigkeit; Paulus bezieht sich dabei natürlich nicht mit dem Begriff deisidaimoni,a, sondern mit e;qh (Apg 26,3) auf das Judentum; bereits hier wird deutlich, dass die römische Perspektive und Begrifflichkeit weder als angemessen und sachkundig noch als neutral oder gar positiv gelten soll. Die positive Charakterisierung Agrippas wird durch die Schilderung der Reaktion auf die Apologie des Paulus fortgeführt: Paulus ruft Agrippa als Zeugen für die Wahrhaftigkeit seiner Schilderung auf, Agrippa reagiert zustimmend und begibt sich in größtmögliche Nähe zur christlichen Gemeinschaft.149 Agrippa und Paulus werden damit als wahre Juden zusammengeordnet und sogar im Hinblick auf den christlichen Glauben einander stark angenähert. Festus hingegen wird negativ, genauerhin als schwach und unaufrichtig charakterisiert. Dem Rezipierenden wird dies vor allem an den Abweichungen zwischen erzähltem Geschehen (Apg 25,1-12; 25,22) und der Wiedergabe dieses Geschehens in der Figurenrede des Festus (Apg 25,13-21; 25,25-27) klar. Ohne dass Festus ausdrücklich lügen würde, stimmen die beiden Versionen nicht überein; die Lesenden vertrauen der Darstellung des Erzählers, insbesondere dessen Kommentaren, die Festus als jemanden zeichnen, der den Jerusalemern gefallen möchte (Apg 25,2.9); der großartige Verweis des Festus auf das e;qoj `Rwmai/oj (Apg 25,16) und auf seine fehlende Zuständigkeit (Apg 25,20) erscheinen vor diesem Hintergrund als desavouiert; hier versucht ein römischer Beamter seine charakterliche Schwäche als Prinzipientreue, Korrektheit und Respekt vor der anderen Religion zu deklarieren. 150 Auch bei Festus wird die Charakterisierung durch die Reaktion auf die Rede des Paulus untermauert: Er beschuldigt Paulus, den Verstand verloren zu haben (mai,nomai) und greift damit auf im Lateinischen belegte Interpretationen von superstitio zurück; außerdem erklärt er die mani,a durch übermäßiges Studium, verwendet also auch 149 Vgl. zum Verständnis des Ausdrucks Cristiano.n poih/sai, HAENCHEN, Apostelgeschichte, 615; JERVELL, Apostelgeschichte, 597. 150 Zur Charakterisierung des Festus vgl. TANNEHILL, Unity, 306-314.
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den Topos des Übertriebenen.151 Festus versteht die paulinische Verkündigung ebenso wenig wie das Judentum und beschreibt beide in einer despektierlichen Art und Weise. Die Erzählerabsicht tritt differenzierter zutage, wenn man die Darstellung des Verhältnisses zwischen Agrippa und Festus beobachtet: Festus beansprucht Überordnung; sie wird ihm formal auch gewährt: Das Königspaar sucht Festus auf, nicht umgekehrt (Apg 25,13.23), Festus eröffnet die Anhörung des Paulus, begrüßt Agrippa als seinen Gast (Apg 25,24) und definiert deren Zweck (Apg 25, 26). Andererseits ist Agrippa der eigentliche Handlungssouverän: Festus fragt ihn um Rat (Apg 25,14), Agrippa verlangt eine erneute Anhörung (Apg 25,22), Agrippa fordert Paulus zum Reden auf (Apg 26,1) und spricht das abschließende Urteil über den Angeklagten (Apg 26,28.31f); Agrippa übernimmt die Initiative bei der Beratung über Paulus (Apg 26,30a). Festus repräsentiert formale, Agrippa inhaltliche Autorität. Berücksichtigt man weiter, dass die Appellation an den Kaiser von Paulus ausgeht (vgl. die unterschiedlichen Akzente in Apg 25,11f.; 21.25) und Agrippa römischer Klientelkönig war, der bis in die 90er Jahre hinein in Rom lebte, wird deutlich, dass der Verfasser einen erzählerischen Keil zwischen Festus und den Kaiser treibt: Es erhebt sich die Frage, ob Festus Rom tatsächlich vertritt, ob Agrippa nicht der bessere Vertreter Roms ist, und Paulus damit an der Seite Agrippas nicht nur dem Judentum, sondern auch Rom wesentlich näher steht als der Procurator. Deisidaimoni,a erscheint damit Ausdruck einer Perspektive auf das Judentum, wie sie von unverständigen, schwachen und angeberischen Vertretern der römischen Verwaltung eingenommen wird und die für die Beurteilung des frühen Christentums nichts Gutes erwarten lässt. Die Distanzierung des Festus vom Kaiser hält dabei die Möglichkeit offen, dass dieser das Christentum anders, so wie es der römische Klientelkönig Agrippa zeigt, beurteilen könnte. Der Verfasser der Acta ist offenbar mit Grundzügen der Verwendung des Begriffs im lateinischen Sprachraum, insbesondere im politischen Kontext, vertraut und macht sich diese für die Lenkung seiner Leser und Leserinnen zunutze. Damit findet sich im NT zugleich ein Anknüpfungspunkt für die Verwendung des Begriffs in der antijüdischen Polemik wie sie im Brief an Diognet und bei Ambrosius begegnet. Anders als bei diesen Autoren ist für den Vf. der Acta deisidaimoni,a dabei jedoch deutlich Ausdruck einer unzureichenden und negativ zu qualifizierenden, eben nicht „christlichen“ Perspektive auf das Judentum. 151 Vgl. Horaz, Sat. II 3,79; Seneca, Ep. 123,16. Quintilianus, Inst.Orat. IX 4,25; vgl. auch Aulus Gellius, Noctes Atticae IV 9,2.
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4.3. Zur Genese des Christentums als religio beim Verfasser der Acta Die Textgrundlage im Neuen Testament ermöglicht es ihrer geringen Breite zum Trotz, einen Einblick in die erste christliche Auseinandersetzung mit der Fremdwahrnehmung aus griechisch-römischer Perspektive zu gewinnen, wie sich mittels des für diese Perspektive als dominant erweisenden Begriffs der superstitio resp. deisidaimoni,a erschließt. Erkennbar wird an der Verwendung des Begriffs, wie sich das frühe Christentum einerseits im Spannungsfeld religiöser Kräfte – Judentum und traditionelle griechisch-römische Religion – und andererseits im Diskurs über diese – philosophische Religionskritik und römische, politisch akzentuierte Wahrnehmung des Judentums – ansatzweise seinen Platz sucht. Dem Verfasser der Acta liegt dabei daran, seinen Lesern und Leserinnen deutlich zu machen, dass das Christentum mit den jeweils besten Kräften seiner Umwelt in Kontinuität steht bzw. anschlussfähig ist: Mit dem wahren Judentum, mit der wahren griechischen Philosophie und Dichtung und vielleicht auch mit dem wahren Römertum. Die Konflikte hingegen werden als solche mit untergeordneten Personen und Gruppen, die außerdem aus unsachgemäßen Motiven handeln, relativiert: mit der Jerusalemer Oberschicht, mit Prokuratoren wie Felix oder Festus, mit der unaufgeklärten Religiosität des einfachen griechisch-römischen Volkes und religiösen Scharlatanen. Der Verfasser der Acta bereitet damit in der dritten frühchristlichen Generation, zu einem Zeitpunkt als das frühe Christentum im Begriff stand durch die griechisch-römische Umwelt als eine eigenständige, jedoch illegitime Religion wahrgenommen zu werden, Wahrnehmungsmuster und Argumentationsstrukturen vor, die es erleichterten, sich in den Diskurs über die Legitimität und Illegitimität von Religionen einzubringen und die eigene Sache offensiv zu vertreten.
5. Abschließende Überlegungen Mit der Aufnahme der deisidaimoni,a-Debatte, wie sie sich in Apg 17 erstmals abzeichnet und dann im 2. Jh. weitergeführt wird, stößt man auf einen Aspekt beginnender Verschränkung des frühen Christentums mit dem rationalen, philosophischen Religionsdiskurs. Schon innerhalb der Acta und weit darüber hinaus in die Kirchengeschichte hinein entsteht durch die gleichzeitige Hochschätzung von Wundern und Prodigien (vorwiegend Träumen und Visionen) eine für das Christentum typische Spannung. Mit der Aufnahme und Bewertung des superstitio-
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Begriffs, wie sie sich in Apg 25 darbieten, signalisiert das frühe Christentum eine grundlegende Gemeinschaftsfähigkeit, eine Kompatibilität mit dem Politischen, gibt aber zugleich mit seiner Aufnahme der Wundergläubigkeit und damit der Überzeugung vom überraschenden Eingreifen Gottes zugunsten der Hilf- und Machtlosen auch der Perspektive und den religiösen Bedürfnissen der Unterschichten Raum. Während sich in der deisidaimoni,a- und besonders des superstitioDiskurses im griechisch-römischen Sprachraum auch die Interessen einer herrschenden Schicht im Hinblick auf die Kontrollierbarkeit von religiösen Vollzügen spiegelt, desavouiert der lk Gebrauch dieses Kontrollbedürfnis als Zeichen von Schwäche. Im zweiten Jahrhundert finden wir den Diskurs sowohl im griechischen als auch im lateinischen Christentum überwiegend polemisch gegen griechisch-römische Religion gewendet, wobei eine Verschmelzung mit aus jüdischer Tradition stammender idololatria-Kritik erfolgt. In beiden Hinsichten konnte das frühe Christentum an Entwicklungen im frühen Judentum anknüpfen, die Philo und Josephus bezeugen: Bei Philo findet sich ganz ähnlich wie bei Plutarch der Versuch, begrifflich eine legitime von einer illegitimen Form der Religionsausübung zu unterscheiden, bei dem die Vereinbarkeit mit philosophischer Rationalität eine gewichtige Rolle spielt. Josephus setzt sich mit der Charakterisierung des Judentums als superstitio und deisidaimoni,a auseinander, wobei er einerseits darauf abzielt, römische Befürchtungen, jüdische Religion sei nicht gesellschaftskompatibel, zu relativieren, und andererseits die Lebensdienlichkeit jüdischer Religion durch eine Neubewertung historischer Abläufe herausstellt. Behutsam wendet er den Begriff auch kritisch gegen die griechisch-römische Religion. Damit wird er zum Vorläufer der bereits in Apg 17 erkennbaren und vom 2. Jh. an sehr breit verwendeten antiheidnischen Polemik mithilfe der Begriffe deisidaimoni,a und superstitio. Vor diesem Hintergrund ist ein zweiter Strang der christlichen Verwendung der Begriffe in der antijüdischen Polemik im Diognetbrief und später bei Ambrosius gravierend: Trotz der Weiterführung der jüdischen, monotheistischen Tradition, der die Anschlussfähigkeit für den religionsphilosophischen Diskurs im griechisch-römischen Sprachraum zu danken ist, findet sich im alten Christentum zumindest bei einigen seiner Vertreter die Bereitschaft, griechisch-römische Religionskritik am Judentum begrifflich als deisidaimoni,a und superstitio gefasst, aufzunehmen und selbständig zuzuspitzen. Das kritische Potential des deisidaimoni,a- resp. superstitio-Diskurses nach innen, in die eigene Glaubensgemeinschaft hinein, hingegen wird in der christlichen Rezeption für eine lange Zeit nicht realisiert. Damit
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begibt sich das frühe Christentum einer Möglichkeit, zwischen legitimer und illegitimer Verehrung des „richtigen“ Gottes zu unterscheiden. Über alltägliches, privates rituelles Verhalten im frühen Christentum wissen wir wenig. Wo uns im Neuen Testament Spuren begegnen (z.B. Mk 7,1-23; Gal 4,8-11; Kol 2,16-23), stehen sie in anderen begrifflichen Kontexten als dem durch deisidaimoni,a bezeichneten. Erstmals bei Tertullian findet sich eine kritische mit dem Begriff verbundene Besprechung solchen alltäglichen und privaten rituellen Verhaltens, das als zwanghaft, irrational und verselbständigt wahrgenommenen wird. Dem frühen Christentum weitgehend fremd ist die Vorstellung, dass religiöses Verhalten übertrieben, übereifrig sein könne. Ansätze entsprechender Überlegungen, ohne Verwendung der Begrifflichkeit allerdings, finden sich im Kontext der für die deisidaimini,a-Debatte einschlägigen Sabbatdiskussion, insgesamt in abgrenzender, also nicht das religiöse Verhalten der eigenen Glaubensgemeinschaft kritisierender Funktion. Schließlich weist der deisidaimoni,a- resp. superstitio-Diskurs auf eine grundlegende theologische Frage: die nach der Ambivalenz des Göttlichen, nach dem Verhältnis von Güte und Grausamkeit, Verlässlichkeit und Willkür, Fürsorge und Gleichgültigkeit. Im philosophischen Strang der griechisch-römischen Debatte wurde die euvse,beia als Antwort auf die metaphorisch lichte Seite der Gottheit verstanden, die deisidaimoni,a als Reflex ihrer dunklen Seiten. Das Beunruhigende an der Religion, das beträchtliche Selbst- und Fremdgefährdungspotential religiösen Verhaltens wurde damit ebenso wie die dunkle Seite des Göttlichen thematisierbar und möglicher Gegenstand des Gesprächs. Abhängig von dem jeweiligen Standort des Betrachters konnten die Grenzen zwischen religio und superstitio situationsangemessen verhandelt und gezogen werden. Jüdisch-christlicher Gottesvorstellung ist eine Konzeption von Gottesfurcht inhärent, die der philosophischen Debatte im griechischrömischen Kontext in vielen Texten inkommensurabel ist. Trotz vereinzelter Ansätze einer Thematisierung des Phänomens verfehlter Gottesfurcht wie in Röm 8 und 1Joh 4 haben die Übernahme monotheistischer Tradition einerseits und die Dämonisierung der antiken Götterwelt andererseits den diskursiven Zugang zur gefährlichen Seite der Religion und vor allem zur dunklen Seite der Gottheit erschwert. Das Gespräch über legitime und illegitime Religionsausübung, eine Verständigung über den Umgang mit dem Gefährdungspotential von Religion innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft, innerhalb einer postchristlichen Gesellschaft und auch im Kontext interkulturelle
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Kommunikation bleibt jedoch ein Desiderat. In welchen Fällen die antiken Kategorien von euvse,beia, deisidaimoni,a und avse,beia oder avqeoth,j für einen Verständigungsprozess heute tauglich sind, ist zu prüfen; in einem nächsten Schritt wäre zu besprechen, wie sie denn von Fall zu Fall zu füllen wären. Für das Gelingen von Dialogen ist der Perspektivenwechsel eine wichtige Voraussetzung. Es wäre daher zu fragen, welche in unserem jeweiligen (sub)kulturellen Kontext als legitim geltenden Formen von Religion für Bewohner anderer Deutewelten als superstitiös oder gottlos gelten und was daraus folgen könnte. Wenn die Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen dabei den Verkürzungen eines funktionalen Religionsbegriffs absagen und sich darüber bewusst sind, dass sie sich im Hintergrund auch zu den dunklen Seiten der Gottheit verhalten, gewinnt ein solcher Diskurs an Tiefe. Wenn sie sich zusätzlich daran erinnern, dass superstitiöses Verhalten ein Reflex auf versagte Lebenschancen und Freiheitsrechte sein kann, gewinnt er an Wärme.
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3. Paulus
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Offene Fragen zum urchristlichen ‚Reden im Geist‘ Dieter Zeller Bevor man theologiegeschichtliche Fragen angehen kann, wie wir es uns hier vorgenommen haben, sind oft religionsgeschichtliche Fragen zu klären, wofür ich mich eher zuständig fühle. Beides, die religionsgeschichtliche und die theologiegeschichtliche Betrachtung, hängt eng zusammen. Ein theologiegeschichtliches Datum wäre z.B., dass die Glossolalie in Korinth – soweit erkennbar im Unterschied zu anderen paulinischen und nicht-paulinischen Gemeinden – hoch im Kurs stand. Bei der Frage warum kommen aber sofort religionsgeschichtliche Momente ins Spiel.
1. Die Glossolalie – eine hellenistische Version der Prophetie? Das „Reden im Geist“ (vgl. 1Kor 12,3) umfasst nach Ausweis von 1Kor 14,6.26 verschiedene Formen der Kommunikation von Gott her (Offenbarung, Prophetie), zu Gott hin (Lobgesang, Glossolalie)1 und über Gott (Lehre). Die auffälligsten Formen sind sicher das Reden in „Sprachen“, wie Glossolalie wohl wiedergegeben werden muss, und die Prophetie. Um ihre Bewertung scheint es auch bei der Meinungsverschiedenheit zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde zu gehen, die sich hinter 1Kor 12-14 abzeichnet. Sie wird oft auf verschiedene religionsgeschichtliche Konzeptionen von Prophetentum zurückgeführt. So D. Hill2: „Presumably Paul derived his view of the phenomenon from Old Testament/Jewish models and possibly from contact with prophets influenced by such models (like those in Acts), whereas the Corinthians‘ understanding seems to reflect the Greek ecstatic model: those who practised according to it were employed in the mystery cults and their activities and 1 2
Dazu kommen noch Akklamationen wie Abba (vgl. Röm 8,15), die freilich allen Christen zugeschrieben werden. D. HILL, New Testament Prophecy, Atlanta 1979, 121.
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experience were described ... by terms like mainomai, mantis, enthousiasmos“.
Auch unser Jubilar U.B. Müller ordnet in seiner immer noch lesenswerten Habilitationsschrift die korinthische Prophetie der hellenistischen Form des Prophetismus zu, weil darin die ekstatische Glossolalie ein wesentliches Element darstelle.3 In große Nähe zu dieser Praxis der korinthischen Ekstatiker komme TestHiob 48-50, wo die Töchter Hiobs die Sprache der Engel sprechen.4 Er hebt diese überspitzte Auffassung von einer „milderen“ ab, die jüdisch-hellenistische Schriften wie LibAnt – Philo ausgenommen – bezeugen. Danach verträgt sich die Vorstellung der Inspiration, ja sogar die der Umwandlung des Menschen, mit verständlicher Rede.5 Für die Korinther dagegen sei die himmlische Sprache der Glossolalie der Beweis für den Besitz des Geistes, mithin auch der Inbegriff der Prophetie gewesen.6 Hier kann ich schon die Annahme, die Korinther hätten zwischen Prophetie und Glossolalie nicht getrennt, die Trennung sei erst eine Schöpfung des Paulus,7 nicht mitvollziehen. Lalei/n glw,ssaij ist eine typische Prägung des christlichen Soziolekts, die Paulus in Korinth als bekannt voraussetzt. Dass man dieses Phänomen dort von der Prophetie unterschied, ist umso wahrscheinlicher, wenn man auch dort der Meinung war, der Sprachenredner rede direkt mit Gott.8 Das hat man kaum als Eigentümlichkeit der Prophetie angesehen. Doch verdient vor allem die Behauptung, das korinthische Reden im Geist sei hellenistisch geprägt gewesen, genauere Prüfung. 3 4 5
6
7 8
U.B. MÜLLER, Prophetie und Predigt im Neuen Testament (StzNT 10), Gütersloh 1975, 31. Andererseits bezeugt ihm die Entsprechung von Glossolalie und Sprache der Engel S. 32 mit Anm. 47 jüdische Beeinflussung. Ebd. 34f. Die von Josua vor seinem prophetischen Reden berichtete Verwandlung (LibAnt 20,2) gehöre dem hellenistischen Denken zu. In MÜLLERS späterem Aufsatz „Sohn Gottes“ – ein messianischer Hoheitstitel Jesu, ZNW 87 (1996), 1-32, 22 wird jedoch deutlich, dass diese Verwandlung nicht nur noch einmal 27,10 bei Kenas erwähnt wird, sondern dass sie schon 1Sam 10,6 (%ph nif., vgl. das qal V.9 mit „sein Herz“ wie TestHiob 49,1) Sauls Mutation zum ekstatischen Propheten umschreibt, also gut alttestamentlich ist. Die Konzeption hält sich bis Montanus durch, vgl. seinen Ausspruch nach Epiphanius, Haer. 48,11,9: „Siehe, der Herr ist es, der die Herzen der Menschen erregt und den Menschen ein (neues) Herz gibt.“ Vgl. weiter S. 44: Die ekstatische Rede der Korinther sei nicht von der ursprünglich deuteronomistischen Tradition vom Propheten als Bußprediger beeinflusst. S. 51f: Die hellenistische Prophetenvorstellung gehe im Unterschied zur alttestamentlichjüdischen davon aus, dass der Geist unmittelbar aus dem Propheten spricht. Unter dem Eindruck dieses „spätjüdischen Prophetenbegriffs“ suchen die Korinther „die Bewährung des in Paulus redenden Christus (2Kor 13,3)“ (S. 129). Ebd. 29-31. Dagegen etwa S.B. CHOI, Geist und christliche Existenz (WMANT 115), Neukirchen-Vluyn 2007, 147. Letzteres vertritt auch U.B. MÜLLER, ebd. 30 mit Anm. 40.
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1.1. Indizien im 1. Korintherbrief selber Schon seit langem haben die Exegeten im 1Kor Pointen gegen die Haftung der Korinther an ihre frühere ekstatische Religiosität entdeckt. Das beginnt bei manchen Autoren bereits bei 11,5. Die Frauen, die mit unverhülltem Haupt prophezeien, hätten sich wie die Mänaden des Dionysos gebärdet, die in Raserei ihr Haar frei flattern lassen (vgl. Euripides, Bacch. 695f; Livius 39,13,12; Vergil, Aen. 7,394.403).9 Aber abgesehen davon, dass die Mänaden immer noch etwas auf dem Kopf hatten (eine Binde, einen Kranz aus Efeu oder Stechwinde, aus Schlangen), setzt diese Interpretation fälschlich10 voraus, dass es in 1Kor 11,2ff um eine geordnete Haartracht geht. Paulus wünscht aber einen Schleier als Kopfbedeckung der Frauen. Dass er abgelegt wird, ist nicht Symptom prophetischer Ekstase11, sondern Aufbegehren gegen das traditionelle Geschlechterverhältnis. Eine spätere Stelle, die allerdings grammatikalisch wie von der Aussageabsicht her schwierig ist, 12,2f, scheint eine Parallele zu ziehen zwischen dem früheren Götzendienst und dem Reden im Geist. Das Analogon bilde die Ekstase. So etwa J. Weiß: „sie kennen die Ekstase, wissen, wie es ist, wenn Jemand ein willenloses Werkzeug in der Hand eines göttlichen Wesens ist; darum werden sie verstehen, wie P. V.3 urteilt.“12
Nun gebraucht zwar Paulus das Verb a;gesqai auch für das Angetriebensein durch den Heiligen Geist (Gal 5,18; Röm 8,14). Aber, wie auch Conzelmann bemerkt, ist damit in 12,2 nur gesagt, dass die Korinther in ihrer heidnischen Vergangenheit ihrer nicht selbst Herr waren. Wie Gal 4,3.8f wird der Dienst für nichtige Götter als Sklaverei empfunden. Speziell an die ekstatische Mantik denkt erstmals Chrysostomus.
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11 12
Vgl. R. KROEGER / C. KROEGER, An Inquiry into Evidence of Maenadism in the Corinthian Congregation, SBL.SP 1978, 2,331-338, 332f; die Belege für aufgelöstes Haar der Frauen im Kult bei W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/2), Neukirchen-Vluyn u.a. 1995, 493 zeigen, dass es keineswegs nur in einem ekstatischen Kult wie dem des Dionysos vorgeschrieben war. Vgl. J. DELOBEL, 1 Cor 11,2-16: Towards a Coherent Interpretation, in: A. VANHOYE (Hg.), L’ apôtre Paul (BEThL 73), Leuven 1986, 369-389, bes. 374-376 und neuerdings P.T. MASSEY, The Meaning of katakalu,ptw and kata. kefalh/j e;cwn in 1 Corinthians 11.2-16, NTS 53 (2007), 502-523. Dabei sträuben sich die Haare und stehen zu Berge: Vergil, Aen. 6,48; Lukan, Bell.Civ. 5,171. J. WEIß, Der erste Korintherbrief (KEK V), Göttingen 101925, 294. Er liebäugelt mit der Lesung w`j avnh,gesqe “wie ihr entrückt wurdet“, die besser zu seinem ekstatischen Verständnis passt. Ferner z.B. H. CONZELMANN, Der erste Brief an die Korinther (KEK V), Göttingen 1981, 250f; SCHRAGE, 1Kor (s. Anm. 9), VII/3, Neukirchen-Vluyn u.a. 1999, 114.119.
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Da die Stadt Korinth stark hellenistisch geartet sei, mache Paulus zunächst den Unterschied zwischen Mantik und Prophetie klar. Der unfreiwillige Zug zu den Götternbildern wird gleich mit der Weissagung verbunden. Dabei wird einer vom unreinen Geist gefesselt gezwungen, Dinge zu sagen, von denen er nichts weiß. „Das ist nämlich der Mantik eigen, das Außer-sich-Sein, das Zwang-Erleiden, das Gestoßenwerden, das Gezogenwerden, das Geschlepptwerden wie ein Verrückter.“13
Es wäre aber doch merkwürdig, wenn das heidnische Dasein der Korinther durch solch eine Ausnahmeerscheinung wie das zwanghafte Orakel der Pythia charakterisiert wäre.14 Und auch die anderen ekstatischen Kulte, die angeführt werden, sind entweder Randphänomene (z.B. durften sich in der Zeit des Paulus nur die einheimischen Priester der Kybele in Trance kastrieren, römischen Bürgern war die Teilnahme an ihren orgiastischen Aufzügen ursprünglich verboten; seit Claudius können sie sich allerdings als Kannophoren oder Dendrophoren am Frühlingsfest beteiligen15) oder ihre Raserei ist nurmehr in liturgischer Nachahmung oder literarisch bzw. auf der Bühne und im Bild präsent. So im Kult des Dionysos. Seine Anhänger trafen sich in der Kaiserzeit hauptsächlich zu geselligem Beisammensein; dabei konnten dionysische Rollenspiele aufgeführt werden.16 Dies war wie das Wein-Trinken Sache der Männer, während die Mänadengruppen eigentlich nur Frauen umfassten. Und hier müssen wir das mythische Vorbild von der rituellen Realisierung unterscheiden. Zu letzterer sagt Henrichs: „By all indications, the peculiar religious identity of the maenads had more to do with sweat and physical exhaustion than with an abnormal state of mind“ (146f).
Ekstatische Kulte erregten zwar Aufsehen, betrafen aber die Durchschnittskorinther kaum existentiell. Der Hauptgrund aber, weshalb diese Deutung nicht überzeugt, ist, dass V.2 und 3 nicht mit „wie ... so“ aufeinander bezogen sind; sie bil13 14 15
16
In epist. 1 ad Cor. homilia 29,1, ed. J.-P. MIGNE (PG 61), Paris 1859. Hierzu passt in der Tat auch nicht, dass die Götzenbilder als „stimmlos“ bezeichnet werden. Vgl. H. HEPDING, Attis (RVV 1), Gießen 1903, 142.144.150.164f. Zu den Spuren des Kybele-Kults in Korinth vgl. A.J.M. WEDDERBURN, Baptism and Resurrection (WUNT 44), Tübingen 1987, 250 Anm. 2. Neuere Funde aus Häusern östlich des Theaters bei Ch.K. WILLIAMS II, Roman Corinth: The Final Years of Pagan Cult Facilities along East Theater Street, in: D.N. SCHOWALTER / ST.J. FRIESEN (Hg.), Urban Religion in Roman Corinth (HThS 53), Cambridge (MA) 2005, 221-247, 225.231. Vgl. A. HENRICHS, Greek Maenadism from Olympias to Messalina, HSCP 82 (1978), 121-160; DERS., Changing Dionysiac Identities, in: B.F. MEYER / E.P. SANDERS (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition III: Self-Definition in the Greco-Roman World, Philadelphia 1982, 137-160: 143-147; R. TURCAN, L’élaboration des mystères dionysiaques à l’époque hellénistique et romaine: de l’orgiasme à l’initiation, in: A. MOREAU (Hg.), L’initiation, Montpellier 1992, I 215-233.
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den auch keinen Gegensatz, sondern die Partikel dio, zeigt ein Begründungsverhältnis an. V.2 eignet sich besonders gut als negative Begründung für V.3b, wenn man paraphrasieren darf: Weil die Verehrung der heidnischen Götter eine ohnmächtige Knechtschaft ist, kann niemand den ersten Schritt zum Christusglauben, der sich im Kyriosbekenntnis äußert, tun ohne die befreiende Wirkung des göttlichen Geistes. V.3a stellt dann immer noch ein Problem dar, auf das ich hier aber nicht eingehen kann. Fazit: Die Korinther waren zwar in ihrer Mehrheit hilflos den leblosen Götterbildern verfallene Heiden; es wird aber nicht behauptet, dass Ekstase sozusagen ihre heidnische Grunderfahrung war. Auch in den 13,1 vergleichsweise erwähnten Instrumenten, dem „tönenden Erz“ und der „lärmenden Zimbel“, findet man oft eine Anspielung auf die die Korinther angeblich prägenden ekstatischen Kulte. So schreibt Chr. Wolff: „Da Paulus einer Überschätzung des ekstatischen Moments im Gottesdienst wehren will (12,2), kann man annehmen, daß er mit ‚Erz‘ und ‚Zimbel‘ auf deren Bedeutung in orgiastischen Kulten anspielt und die lieblose Glossolalie mit heidnisch-kultischer Geräuschkulisse, die die Hörer künstlich in Begeisterung versetzt, gleichstellt.“17
Besonders fühlt man sich an die Verwendung des ku,mbalon im Kybelekult erinnert.18 Doch spielt die Zimbel auch im atl. Tempelkult eine große Rolle (vgl. nur Ps 150,5LXX aivnei/te auvto.n evn kumba,loij avlalagmou/). Und es ist zu bedenken, dass bei metaphorisch-abschätziger Anwendung von Musikinstrumenten auf Menschen19 ihr kultischer Gebrauch nicht mehr von Bedeutung ist. Wie in 1Kor 14,7 Flöte und Kithara, die sehr häufig im Kult eingesetzt werden, nur Beispiele für „leblose Dinge, die Töne von sich geben“ sind, so wird 13,1 der lieblose Sprachenredner zu einem bloßen Stück Metall, doch wohl im Gegensatz zu einer lebendigen Stimme. Glossolalie ohne Liebe ist kein Gebet mehr, sondern nur noch „Gedöns“.
17
18 19
CHR. WOLFF, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig 22000, 314f. Vgl. schon WEIß, 1Kor (s. Anm. 12); SCHRAGE, 1Kor (s. Anm. 12) 285f bleibt zunächst unsicher, stimmt aber dann WOLFF vorsichtig zu („kann man ... nicht unbegründet vermuten“). Dagegen G. BARBAGLIO, La prima lettera ai Corinzi (SOCr 16), Bologna 1996, 703; E.J. SCHNABEL, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (HTA), Wuppertal/Gießen 2006, 761. Material bei SCHRAGE, ebd. Anm. 45; Apuleius, Met. 8,30 handelt allerdings nicht vom Kult der Isis – ihre Verehrer rasseln mit dem sistrum –, sondern dem der Dea Syria. Bekanntes Beispiel: Tiberius nennt den Schriftsteller Apion cymbalum mundi, obwohl er eher propriae famae tympanum heißen müsste. Vgl. Plinius, Nat.Hist. praef. 25 zitiert in G. STRECKER / U. SCHNELLE (Hg.), Neuer Wettstein II 1, Berlin/New York 1996, 370f.
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Weiter liegt in 14,14-19 mit dem Gegensatz von Reden im gottgegebenen „Geist“ zum „Reden in Vernunft“ unzweifelhaft ein Reflex platonischer Inspirationslehre vor, und zwar in der Radikalität, wie sie Philo ausgebildet hat.20 Dass in der Gottbesessenheit der göttliche Geist den menschlichen Verstand verdrängt, soll garantieren, dass der Prophet überhaupt nichts Eigenes verkündet, sondern nur Worte Gottes (vgl. etwa Spec. IV 49). Es ist aber zu bemerken, dass Paulus dieses Modell nicht auf die Prophetie anwendet – sie gilt ihm anscheinend als eine Form des „Redens in Vernunft“ –, sondern auf die Glossolalie, um ihre Unverständlichkeit herauszustellen. Und 2. ist es Paulus, der dieses Modell handhabt, wie er auch sonst mit Brocken einer populären philosophischen Anthropologie um sich wirft, z.B. spricht er Röm 7,22 vom „inneren Menschen“ im Sinne von „Vernunft“ (vgl. V.23). Wir können also anhand von 14,14-19 nicht zurückschließen auf das Verständnis, das die Korinther von der Glossolalie hatten. Schließlich scheidet auch das oft herangezogene Urteil der Außenstehenden über die Glossolalen 14,23 o[ti mai,nesqe als Beleg für eine hellenistische Auffassung der Korinther aus. Denn 1. sind es nicht die Korinther, sondern Ungläubige, die dieses Urteil abgeben.21 Und 2. ist es sehr unwahrscheinlich, dass diesen eine positive Bewertung im Sinn der bei ihnen üblichen religiösen mani,a den Mund gelegt wird.22 Das Sätzchen meint vielmehr verächtlich: „Ihr seid verrückt“ (vgl. Joh 10,20; Apg 12,15; 26,24f).23 So fehlen m.E. im Text von 1Kor 12-14 klare Indizien für ein hellenistisches Verständnis der Glossolalie in Korinth. Die steigernde Anspielung auf das Reden in Engelssprachen 13,1 lässt vielmehr vermuten, dass dieses eher jüdisch bestimmt war.
1.2. Neuere Ansätze zur religionsgeschichtlichen Verortung der Glossolalie Zwar warnen immer noch einige Forscher, man könne das kai. tw/n avgge,lwn 1Kor 13,1 nicht für das Verständnis der Sprachengabe auswerten, weil es hyperbolisch formuliert sei und einen irrealen Fall meine. Aber die meisten sehen darin doch einen Hinweis darauf, wie wenigs20 21 22 23
Überblick bei WEDDERBURN, Baptism (s. Anm. 15) 254-263. Deshalb schlachtet G. DAUTZENBERG, Art. Glossolalie, RAC 11 (1979), 225-248: 229 die Stelle dafür aus, dass Paulus sich der griechischen Verständnismöglichkeit glossolalischen Redens bewusst ist. Gegen ST.J. CHESTER, Divine Madness? Speaking in Tongues in 1 Corinthians 14.23, JSNT 27 (2005), 417-446. Richtig BARBAGLIO, 1Kor (s. Anm. 17) 755; A. LINDEMANN, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 309; SCHNABEL, 1Kor (s. Anm. 17) 822 mit Anm. 617.
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tens die Korinther dieses Charisma auffassten. Passt das Sprechen von Engelssprachen doch bestens zu dem ihnen zugeschriebenen eschatologischen Enthusiasmus. Dieses Einstimmen in die den Menschen an sich unverständlichen himmlischen Chöre lässt sich zwar nicht aus dem Alten Testament ableiten, wird aber doch vor allem mit Hilfe des jüdisch-hellenistischen TestHiob 47-52 im Judentum angesiedelt.24 In der Apokalyptik können zwar der Visionär (vgl. 1Hen 40; ApkZeph 825) bzw. die Erwählten (Apk 14,2f) die Stimme der Engel verstehen, die vor dem Thron Gottes singen. Aber niemand anderes kann den Gesang vernehmen, und wenn der Seher davon berichtet, wird betont, dass er dies „mit Fleischeszunge“ und mit dem Odem seines Mundes tut (1Hen 14,2; ApkZeph 11,3; 12,6: von Engeln übergebene Schriftrollen in der Sprache des Visionärs beschrieben und vorgelesen). Auch sein Lobpreis Gottes erfolgt nur mit diesen menschlichen Mitteln (1Hen 84,1-3). Die Sprache der Engel ist also von der der Menschen unterschieden.26 Um so erstaunlicher ist es, dass das um das 1. Jh. n.Chr. im hellenistischen Judentum entstandene TestHiob 48-51 als Wirkung wunderbarer Bänder, die ihnen der Vater übergeben hatte, bei den Töchtern Hiobs eine Verwandlung des Herzens beschreibt, die auch ein Gotteslob „in engelhafter Sprache“ zur Folge hat. Dabei wird deutlich, dass die einzelnen Engelklassen ihre je eigene Sprache (dia,lektoj) sprechen. Das würde die paulinische Rede von einer Vielfalt („Arten“ 1Kor 12,10.28) von Sprachen verständlich machen. Trotz ihrer himmlischen Herkunft sind die Lieder der drei Schwestern angeblich nachzulesen. Das setzt voraus, dass sie in einer den Menschen zugänglichen Sprache niedergeschrieben wurden. Dazwischen liegt der Vorgang des u`posh,meiou/sqai durch die Schwestern untereinander, dem der angebliche Verfasser zuhört (vgl. 51,3f); viele Autoren parallelisieren ihn mit der „Übersetzung“ der Glossolalie.27 Zumindest wird ähnlich wie 1Kor 24 25
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Z.B. DAUTZENBERG, Art. Glossolalie (s. Anm. 21) 233-235. Vgl. in der Übersetzung von B.J. DIEBNER in JSHRZ V die achmimische Fassung 13,3: Nachdem der Seher ein Engelsgewand angelegt hat, beginnt er mit ihnen zu beten. „Ich verstand ihre Sprache, welche sie mit mir redeten“. Ähnlich AscJes 8,17: Jesaja ist es gegeben, mit den Engeln zu lobsingen. Daneben behauptet eine nationalistische Tradition, die Engel verstünden nur Hebräisch: BILL. III 449f. Dagegen CH. FORBES, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and its Hellenistic Environment (WUNT II 75), Tübingen 1995, 185. Das Simplex shmeiou/sqai bedeutet zwar nach LIDDELL-SCOTT manchmal auch „etwas als ein Zeichen interpretieren“, das Kompositum ist jedoch hauptsächlich im Sinn von „aufzeichnen“, „unterzeichnen“ belegt. Das Buch des Hiobbruders enthielt wohl nicht „sehr viele Deutungen der Lieder“ (B. SCHALLER in JSHRZ III 371), sondern ihre Aufzeichnungen (shmeiw,seij). Das vorhergehende u`poshmeiou/sqai wäre wie bei Origenes, Cels. VII 32 mit „darlegen“ wiederzugeben. Es impliziert eine Übersetzung aus der Engelssprache in die gemeinverständliche.
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14,27 die Kompetenz des Sprachbegabten durch diesen selber der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Auf der anderen Seite bricht die bisher angenommene heidnische Mentalität als Grundlage der korinthischen Praxis mehr und mehr weg. Während etwa der unbedarfte Aufsatz „Tongues and the Mystery Religions of Corinth“ von W. House28 abschließend behauptet, dass viele korinthische Christen ihre anfängliche religiöse Unterweisung von Mysterienreligionen und anderen heidnischen Kulten empfangen hätten, sich nach ihrer Bekehrung aber nicht von heidnischen Haltungen befreien konnten, „they confused the true work of the Spirit of God with the former pneumatic and ecstatic experiences of the pagan religions, especially the Dionysian mystery or the religion of Apollo“,
hat Ch. Forbes29 die antiken Zeugnisse nach glossolalieähnlichen Erscheinungen untersucht und kam zu einem negativen Ergebnis. Was den Kult des Dionysos angeht, zeigte er z.B., dass der Ausdruck glw,tthj bakcei/a Aristophanes, Ran. 357 die Sprache des großen Vorgängers Kratinos metaphorisch als Bacchusfeier bezeichnet.30 Dadurch wird sie nicht zu einem „Stammeln von Worten oder Lauten ohne Zusammenhang und Sinn“31, sondern, wie aus der Parallele zu o;rgia Mousw/n hervorgeht, will Aristophanes der an den Großen Dionysien aufgeführten Komödiendichtung des Kratinos huldigen, die mit Weihen gleichgesetzt wird. Eher vergleichbar mit der Glossolalie scheinen zunächst die begeisterten Rufe „Euoi“ o. ä.,32 die bei Euripides, Bacch. 159 als „phrygische Schreie“ charakterisiert werden. Forbes setzt sie aber christlichen fremdsprachigen Akklamationen gleich.33 Sie sind zwar kürzer als die Äußerungen der Glossolalen, sie haben jedoch wenigstens mit ihnen die Adressierung an die Gottheit gemeinsam, so sehr, dass daraus wieder Gottesnamen werden. 28 29 30 31
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W. HOUSE, Tongues and the Mystery Religions of Corinth, BS 140 (1983), 134-150, vor allem „conclusion“ 147f. S.o. Anm. 27. Zustimmung bei A.C. THISELTON, The First Epistle to the Corinthians (NIGTC), Grand Rapids/Cambridge/Carlisle 2000, 971; LINDEMANN, 1Kor (s. Anm. 23) 297; SCHNABEL, 1Kor (s. Anm. 17) 714f. Ebd. (s. Anm. 27) 130 gegen J. BEHM, Art. glw,ssa ThWNT I (1933), 719-726: 722: „The tongue is that of Cratinus, not of Dionysiac worship.“ Auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner bringt BEHM, ebd. die Glossolalie, um ähnliche Phänomene der Weltreligionen danebenstellen zu können. Das entspricht höchstens dem äußeren Eindruck, nicht aber der Selbstwahrnehmung der „Sprachen“redner. Dazu s. HENRICHS, Identities (s. Anm. 16) 156 mit Anm. 164. Im Sabazios-Kult (vgl. Demosthenes, Cor. 260) Euvoi/ Saboi/ vergleichbar im Apollo-Kult vIhi,e Paia,n (z.B. Pindar, Paen. 2,35), bei den Eleusis-Pilgern ;Iakce w= ;Iakce (vgl. Aristophanes, Ran. 316f). 147f, vgl. Anm. 1.
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Wie im Art. von Behm wird auch immer wieder die „divinatorische Mantik der delphischen Pythia“ und anderer Orakelmedien zum Vergleich mit der Glossolalie herangezogen. Diese Seher und Seherinnen mögen tatsächlich in Ekstase geraten sein, obwohl das heute auch bestritten wird. Das bedeutet aber nicht, dass etwa die Pythia, von Lorbeerblättern und dem dem Erdspalt entsteigenden Dampf bekifft, nur ein unartikuliertes Kauderwelsch34 von sich gegeben hätte, das dann erst die Propheten in verständliches Griechisch gegossen hätten. Ch. Forbes35 entkräftet die Texte, die man für ein semantisch unbestimmtes Lallen der Pythia angeführt hat. Sie spricht zwar oft zweideutig und rätselhaft, aber gerade die viel zitierte Passage aus Lukan, Bell.Civ. 5,161-174.208-224 zeigt, dass Erregung und ein Schrei zwar die Inspiration ankündigen, dass dann aber in der Regel artikulierte Worte folgen. Ähnliches gilt für die Cumäische Sibylle, wie Vergil, Aen. 6,46-51.7780.99-102 sie beschreibt. Nachdem Apollon ihren Widerstand gebrochen hat, spricht sie V.125-155 Klartext. Freilich, die Verkündigung ist an die Menschen gerichtet; das erschwert es, die Rede der Seherinnen mit dem an Gott adressierten Sprachenreden zu vergleichen. Immerhin ergibt sich eine Verhältnisgleichheit von Sprachengabe und deren Übersetzung zu der dunklen Äußerung des Orakels und dem vernunftgeleiteten Geschäft der u`pokritai, wie von Plato, Tim. 71e-72b geschildert. Sie sind allerdings Interpreten, nicht „Übersetzer“36, und bedürfen nicht eines zusätzlichen Charismas wie die zur Übersetzung Befähigten bei Paulus. Es fällt also schwer, eine der Glossolalie verwandte Erscheinung in der Antike namhaft zu machen. Da aber Paulus sich selber als Sprecher von „Sprachen“ – in größerem Umfang als alle Korinther zusammen – vorstellt (14,18), kann man vermuten, dass er selbst diese Gnadengabe in Korinth mit inauguriert hat.37 Oder ist die Sprachenrede vielleicht Import aus dem Osten, genauer aus der Urgemeinde? Eine dahingehende interessante Hypothese hat J.P.M. Sweet38 1966 zu 14,21ff vertreten. Danach hätten die Anhänger des Petrus in Korinth die Parole aus34 35 36 37 38
Engl. „gibberish“. Dagegen etwa S. PRICE, Delphi and divination, in: P.E. EASTERLING / J.V. MUIR (Hg.), Greek Religion and Society, Cambridge 1985, 128-154. 107-117.136-138. Die Wiedergabe mit „Dolmetscher“ (SCHLEIERMACHER) trifft nicht zu. Skeptisch dagegen F.W. HORN, Das Angeld des Geistes (FRLANT 154), Göttingen 1992, 253-256. J.P.M. SWEET, A Sign for Unbelievers: Paul’s Attitude to Glossolalia, NTS 13 (1966/7), 240-257, im Anschluss an T.W. MANSON. HORN, Angeld, 218f, hat das übernommen, während es für SCHRAGE, 1Kor (s. Anm. 12) 407, ungewiss bleibt, ob Paulus auf eine korinthische These eingeht. Eine ganze Reihe von Autoren hält es für möglich, dass das Zitat in der Auseinandersetzung der Urkirche mit den Juden geformt und tradiert wurde; vgl. WOLFF, 1Kor (s. Anm. 17), 355.
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gegeben „Das Zungenreden ist ein Zeichen für die Gläubigen“ im Sinn von: „Zeichen des Gläubigseins“. Erst die Petriner hätten so die auf palästinensischem Boden heimische Glossolalie über andere enthusiastische Phänomene gestellt. Das Zitat Jes 28,11f sei ein antijüdischer apologetischer Testimonientext, wie der Adressat „zu diesem Volk“ noch erkennen lässt. Paulus bediene sich seiner, um zu beweisen, dass das Zungenreden eher ein Zeichen ist, das sie in ihrem Unglauben verstockt. Dieser Vorschlag scheitert aber daran, dass er den Dativus (in)commodi bei shmei/on im Sinn eines Genetivus obiectivus („Zeichen des vorhandenen Glaubens“) nimmt. Paulus hätte wie 2Kor 12,12 shmei/a tou/ avposto,lou schreiben müssen shmei/on tw/n pisteuo,ntwn. Auch dass das Zitat aus Jes 28,11f schon vor Paulus auf die Glossolalie angewandt wurde, obwohl es sich ja eigentlich auf Fremdsprachen bezieht, ist alles andere als sicher. Wahrscheinlich hat es erst Paulus in seinen – auch so schwierigen – Gedankengang eingepasst.39 So wenig also eine hellenistische Version von Prophetie und Glossolalie in Korinth fest steht, so wenig lässt sich auch die gegenteilige Behauptung, die Überbewertung der Glossolalie in Korinth gehe auf petrinischen bzw. palästinensischen Einfluss zurück, beweisen.
1.3. Eine eigentümliche Geist – Konzeption in Korinth? Entzieht sich demnach die Glossolalie einer genaueren religionsgeschichtlichen Verortung, so hat in neuerer Zeit vor allem F.W. Horn40 einen „pneumatischen Enthusiasmus in Korinth“ für die Differenzen mit und zu Paulus verantwortlich gemacht. Die Hochschätzung der Glossolalie, die im übrigen auf Korinth beschränkt sei, wurzle in einer „substanzhaften“ Auffassung vom Heiligen Geist und seinem Wirken. Der funktionale Aspekt des Geistes als endzeitlicher Kraft sei in einem Teil der Gemeinde verdrängt worden von der Vorstellung gegenwärtiger Partizipation an der himmlischen Pneumasphäre. Dies sei wesentlich durch eine „mysterienhafte Taufinterpretation“ bedingt. Außer diesem Relikt heidnischer Vergangenheit spürt Horn noch judenchristlich-hellenistischen Einfluss auf.
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Vgl. D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums (BHTh 69), Tübingen 1986, 122f.151f. HORN, AaO. (s. Anm. 37), 160-301. Er zeichnet hypothetisch eine Entwicklung der Geist-Auffassung bei Paulus nach. Vgl. die Rezension von S. VOLLENWEIDER, ThLZ 120 (1995), 147-150. Ich wage es hier, einen lieben und tüchtigen Kollegen zu kritisieren, weil ich weiß, dass er selbst eine gewisse Distanz zu seinen „Jugendsünden“ gewonnen hat und für ein Gespräch offen ist.
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Diese auf den ersten Blick eindrucksvolle Rekonstruktion muss sich einigen Anfragen stellen.41 Sie seien hier der Kürze halber als Gegenthesen formuliert. • Die in der Schule von G. Strecker übliche Entwicklungshypothese lebt ein Stück weit von Argumenten e silentio. Das Schweigen kann aber auch daher rühren, dass gewisse Dinge selbstverständlich sind. Es genügt, wenn sie nur kurz angetippt werden.42 Zum Beispiel könnte die angeblich nur in Korinth vorhandene Glossolalie auch in 1Thess 5,19 „Löscht den Geist nicht aus“ mitgemeint sein, auch wenn bzw. gerade weil hinterher eigens von Prophetie die Rede ist. Ganz abgesehen davon, dass die Apostelgeschichte auch in Ephesus ein Reden in Sprachen erwähnt (19,6), wieder in Tateinheit mit Prophezeien. • Der Begriff pneumatikoi, lässt sich nicht als exklusive Selbstbezeichnung korinthischer Glossolalen erweisen.43 Wie allein schon Gal 6,1 lehrt, gehört er zu einem christlichen Soziolekt, ebenso wie die 1Kor 12,1 angesprochenen pneumatika, und wahrscheinlich auch der Gegensatz pneumatiko,j – yuciko,j.44 • Die Gegenüberstellung von Funktion (Kraft) und Substanz ist – wie Horn selbst bewusst ist45 – problematisch. Vor allem lassen sich beide Aspekte nicht sauber auf Paulus im Frühstadium und die korinthischen Pneumatiker verteilen. Zu 1Kor 10,3f muss Horn zugeben, „dass Pl hierbei ein realistisches Sakramentsverständnis bekundet, dass also der Geist substanzhaft mit der Speise übereignet wird“.46 Auch 1Kor 12,13c belegt ihm „eine substanzhafte Übereignung des pneu/ma“47, was wohl doch zunächst die Überzeugung des Apostels ist. Gerade an dem Beispiel „mit dem Geist getränkt“ lässt sich aber zeigen, dass die Vorstellung vom Geist Gottes als einer be41
42 43 44 45 46 47
Vgl. V. RABENS, The Development of Pauline Pneumatology: A Response to F.W. Horn, BZ 43 (1999), 169-172; A.J.M. WEDDERBURN, Pauline Pneumatology and Pauline Theology, in: N.G. STANTON u.a. (Hg.), The Holy Spirit and Christian Origins. FS J.D.G. Dunn, Grand Rapids/Cambridge 2004, 144-156; F. PHILIP, The Origins of Pauline Pneumatology (WUNT II 194), Tübingen 2005; J. BECKER, Die Auferstehung Jesu Christi, Tübingen 2007, 228-232. Wie 1Kor 15,56 die Gesetzeslehre, ein Vers, den F.W. HORN als Glosse ausscheidet, weil er nicht ins Göttinger Entwicklungsschema passt. Vgl. seinen Artikel 1Kor 15,56, ZNW 82 (1991), 88-105. Gegen HORN, Angeld (s. Anm. 37) 180-201. Vgl. den erhellenden Aufsatz von J.M.G. BARCLAY, Pneumatiko,j in the Social Dialect of Pauline Christianity, in: STANTON u.a. (ed.), Spirit (s. Anm. 41) 157-167. Vgl. Kap. 3 S. 48-60. Ebd. 169f. Dennoch schließt er 171 von da auf das „naturhaft-magische“ Denken eines Teils der Gemeinde. Ebd. 170, vgl. 174f. Paulus setze in der Gemeinde als bekannt voraus, dass der Geist einer Flüssigkeit vergleichbar ist.
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•
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lebenden, Wachstum fördernden Flüssigkeit gut atl.-jüdisch ist.48 Eine derartige der Gewissheit dienende Veranschaulichung bedeutet noch keine substanzhafte Beschaffenheit des Geistes selber. Den Korinthern war die Taufe heilsentscheidend, weshalb sie sie auch bei den Toten nachgeholt haben (1Kor 15,29). Das ist wohl eine magische Ersatzhandlung, bedeutet aber noch kein „mysterienhaftes Taufverständnis“. Die Texte, auf die man sich seit Rohde immer wieder beruft, belegen keine stellvertretend für Verstorbene übernommenen Weihehandlungen.49 Aus 1Kor 1,13 kann man weder herauslesen, dass der Name des Täufers beim Taufakt eine Rolle gespielt hätte, noch passt das Modell Mystatoge-Myste auf sein Verhältnis zum Täufling.50 Um einen hellenistischen Einschlag der Glossolalie wahrscheinlich zu machen, übernimmt Horn die Herleitung des Idioms glw,ssaij lalei/n von dem philologischen Fachterminus glw/ssa, der einen veralteten, kryptischen, der Erklärung bedürftigen Ausdruck meint.51 Den Bogen zur ekstatischen Mantik schlägt Horn durch den Verweis auf Plutarch, Pyth. 24 (= Mor. 406EF). Danach hat der Gott Apollon in der jetzigen Diktion seiner Priesterin Versifizierung (e;ph), seltsame Ausdrücke (glw,ttaj), Umschreibungen und Undeutlichkeit beseitigt. Bei Horn werden die glw,ssai zur früheren Form der Orakel überhaupt, indem er zu „Kap. 40“ springt, wo Plutarch zur Begründung angebe, „dass die Glossen der Pythia unmittelbar durch mantische Gottesbegeisterung übermittelt worden seien und die Ekstase zur Voraussetzung hatten.“ Es handelt sich aber gar nicht mehr um dieselbe Schrift, sondern um die folgende De defectu oraculorum 432d, wo von glw,ssai überhaupt nicht die Rede ist. Leider auch nicht in dem nächsten angeführten Text Plato, Tim 71, wo der Prophet angeblich die glw,ssai der Seherin memoriert und beurteilt. Ganz in der Luft hängt auch die Folgerung, die glw,ssai der in der Ekstase Gottbegeisterten seien „Göttersprache“ gewesen. Das erlaubt Horn aber, „sowohl Ausdruck als auch die mit ihm Vgl. Jes 32,15; 44,3f und die Rede vom „Ausgießen“ des Geistes Joel 3,1; Ez 39,29; weitere Belege für die Wasser-Geist-Metapher in Qumran und im Judentum bei HORN, Angeld (s. Anm. 37) 59.247f. Gegen HORN, Angeld (s. Anm. 37) 167, vgl. D. ZELLER, Gibt es religionsgeschichtliche Parallelen zur Taufe für die Toten (1Kor 15,29)?, ZNW 98 (2007), 68-76. Zu HORN, Angeld (s. Anm. 37) 162-165 nach J. WEIß, 1Kor (s. Anm. 12) XXXII.19. In den zentralisierten Mysterien wie Eleusis oder Samothrake entsteht aus der Initiation kein bleibendes Verhältnis zum Mystagogen. Denn der Eingeweihte kehrt wieder nach Hause zurück. Ebd. 206-209 nach F. BLEEK, Über die Gabe des glw,ssaij lalei/n in der ersten Christlichen Kirche, ThStKr 2 (1829), 1-79; ausgebaut bei C.F.G. HEINRICI, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5. Abt.), Göttingen 81896, 377-381.
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verbundene Sache in deutlicher Parallele zu Korinth“ zu sehen. Hier wie in dem folgenden Abschnitt über Glossolalie und Göttersprache (211-214) sollte man deutlicher unterscheiden zwischen der an die Menschen gerichteten Sprache des Gottes, der sich mit „Ich“ in den Äußerungen der Pythia meldet, und der „Sprache der Engel“, mit der die Glossolalen und die Töchter Hiobs Gott preisen. Erstere ist grundsätzlich Menschen verständlich, sie bedarf höchstens der Interpretation, letztere aber ist ohne Übersetzung nicht zugänglich.
2. Einige theologiegeschichtliche Mutmaßungen In der Schlussfolgerung bin ich mit Horn aber wieder einig: Das Anliegen der Glossolalen in Korinth wird „die eschatologisch eröffnete Möglichkeit, Gott in der Sprache der Engel zu preisen“ gewesen sein.52 Dafür genügt als Auslöser eine starke Enderwartung und die Geistgabe als Befähigung, mit Gott zu kommunizieren. Diese Grundausstattung kann durchaus von Paulus vermittelt worden sein. Dafür, dass sie sich im Gottesdienst der Gemeinde als Mitvollzug des himmlischen Gottesdienstes entfaltete, brauchen keine Faktoren der römischhellenistischen Umwelt benannt zu werden. In der Qumrangemeinde beobachten wir ja ähnliches.53 Sicher, bei der Wertschätzung der Glossolalie mag das augenfällig Ekstatische mitgespielt haben, die Erfahrung, dass ein Mensch „ein anderer wurde“, er plötzlich eine andere Sprache sprach. Das konnte als hörbares Indiz dafür erscheinen, dass der heilige Geist von einem Menschen Besitz genommen hatte. Das Analogon der Pythia, die ein ganz anders geartetes pneu/ma in sich aufnimmt (vgl. als ältestes Zeugnis mit pneu/ma Strabo 9, 3, 5), ist für diesen Schluss nicht unbedingt nötig, ja, nicht einmal naheliegend.54 Es gibt mithin auch keinen Grund, die Glossolalie als ein auf die Gemeinde in Korinth begrenztes Phänomen55 zu betrachten und von 52 53 54 55
Ebd. 214. Dass „neben diesem Traditionsbereich der apokalyptischen Himmelssprache auch die Bereiche bacchantischer Rausch und Inspirationsmantik mitzubedenken“ sind, möchte ich dagegen bezweifeln. Vgl. O. HOFIUS, Gemeinschaft mit den Engeln im Gottesdienst der Kirche, ZThK 89 (1992), 172-196. Gegen H. KLEINKNECHT, Art. pneu/ma usw., A pneu/ma im Griechischen, ThWNT VI (1959), 333-357, 343: „im pneumagewirkten glwssolalei/n, das in Korinth (1K 12-14) Reflex pythischer Weissagung ist“. HORN, Angeld (s. Anm. 37), 204. Die Behauptung, Glossolalie sei notwendig an ein bestimmtes christliches Selbstverständnis gebunden, welches in urchristlicher Zeit nur im pneumatischen Enthusiasmus in Korinth zu finden sei (ebd. 201), versuchten wir im Vorangehenden zu entflechten.
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der übrigen frühen Christenheit abzukoppeln. Wenn auch der Verfasser der Apostelgeschichte keine Anschauung von im Gottesdienst praktiziertem Sprachenreden mehr gehabt haben mag und dieses Charisma in Apg 2 nicht sachentsprechend als Xenolalie deutet, so spricht solches Mitschleppen von Unverstandenem eher für einen historischen Kern seiner Berichte über die Erscheinung. Glaubwürdig ist also, dass Glossolalie zu den Anfangserfahrungen der Jerusalemer Urgemeinde gehörte. Nur wenn man sie ausschließlich vor dem Hintergrund griechischer Inspirationsmantik deutet, wäre sie den Judenchristen fremd. Jüdische Christen hatten jedoch in der atl. Prophetie ein Modell für das „Reden im Geist“. Dass dieses auch auf die Glossolalie angewandt werden konnte, zeigt das Joel-Zitat Apg 2,16—21, auch wenn darin nicht direkt von Glossolalie die Rede ist; das ist ja eigentlich auch im Zitat aus Jes 28,11f in 1Kor 14,21 nicht der Fall. Dass das palästinensische Urchristentum nicht pneumatisch-enthusiastisch beschleunigt war,56 leuchtet mir angesichts von Lk 3,16Q; 12,10Q nicht ein. Möglicherweise dienten die Ersterfahrungen der Urgemeinde dann auch als Paradigma für spätere Bekehrungen. Dass die Gabe des Sprachenredens wie in der Perikope von der Bekehrung des Cornelius die Herabkunft des Geistes auch auf Heiden bestätigte (Apg 10,44-46), ist daher nicht unwahrscheinlich.57 Zumal das lalei/n glw,ssaij hier wohl nicht das Reden in fremden Sprachen bedeuten wird, das von den Umständen her ziemlich sinnlos wäre.58 Das Sprachenreden wird sachgemäß als megalu,nein to.n qeo,n umschrieben. Freilich legt die Parallele Apg 2,11 nahe, dass – wenigstens im Sinn des Lukas – der Lobpreis Gottes in verständlicher Sprache erfolgte. Die Apostelgeschichte lässt also vermuten, dass es einen Ort für Glossolalie in den Anfängen des Glaubens gab, eine Funktion, die in die Heiden missionierenden Gemeinden hinüberwanderte und ihr Tun bestätigte. Dieser Sitz im Leben schließt ihre Ausübung in der Gemeindeversammlung, wie sie uns als einziger 1Kor bezeugt, nicht aus.59 56
57 58
59
So HORN, Angeld (s. Anm. 37), 380-383. Dagegen J. BECKER, Die Gemeinde als Tempel Gottes und die Tora, in: D. SÄNGER / M. KONRADT (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament (NTOA 57), FS Chr. Burchardt, Göttingen/Fribourg 2006, 13f; DERS., Auferstehung (s.o. Anm. 41). Vgl. – leider ohne genauere Analyse – PH.F. ESLER, Glossolalia and Admission of Gentiles into the Early Christian Community, BTB 22 (1992), 136-142. Anders CHR. WOLFF, Lalei/n glw,ssaij in the Acts of the Apostles, in: A. CHRISTOPHERSEN u.a. (Hg.), Paul, Luke and the Graeco-Roman World, FS A.J.M. Wedderburn (JSNT.S 217), Sheffield 2002, 189-199, 197: Der Leser soll auch hier e`te,raij aus 2,4 einfügen. Haben Cornelius und seine Leute Aramäisch gesprochen? Schon vorher gab es keine Verständigungsschwierigkeiten mit Petrus. Vgl. SCHNABEL, 1Kor (s. Anm. 17), 714 „Wenn die Glossolalie für Lukas die Anfangserfahrung einer Gruppe ist, schließt das nicht aus, dass er die Glossolalie auch als
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Vielleicht zählt das Sprachenreden auch zu den Machttaten, die Gott im Zusammenhang mit der Verleihung des Geistes bei den Galatern wirkte (vgl. Gal 3,5). Vgl. auch die „Zuteilungen der heiligen Geistes“, die den Gipfel der göttlichen Zeichen und Wunder und vielfachen Machttaten für die Erstlingshörer des Heilswortes Hebr 2,4 bilden. Noch der unechte Markusschluss nennt unter den Zeichen, die dem zum Glauben Kommenden (Aorist!) folgen werden, als zweites: „Sie werden in neuen Sprachen sprechen“ (Mk 16,17c). Dabei kann offen bleiben, ob das Attribut kainai/j die eschatologische Neuheit60 oder das bisherige Unbekanntsein markiert. Für letzteres spricht nicht nur der Plural, sondern auch die Tatsache, dass der Autor sehr stark Lk-Apg verpflichtet ist. Wie dem auch sei und wie fern der Verfasser auch dem Phänomen stehen mag: Er bezeugt eine mögliche Rolle der Glossolalie beim Gläubigwerden.61 Wie anders sollte der Empfang des Geistes sinnenfällig werden? Doch nicht durch Prophetie, deren Erfüllung noch aussteht, während das Sprachenreden eine schon gegenwärtige Verwandlung anzeigt. Gleichwohl wurde das Zitat aus Joel 2,28-32LXX, das eigentlich von Prophetie handelt, ein Akzent, den Lukas Apg 2,18 durch die Einfügung von kai. profhteu,sousin eher noch verstärkt, auf die Glossolalie angewandt. Ein Hinweis darauf, dass wenigstens Lukas beide Phänomene eng benachbart sieht. Das geht auch aus dem Parallelismus Apg 19,6 hervor: Die Täuferjünger, über die der heilige Geist kam, redeten in Sprachen und prophezeiten. Dann sollte man beide Erscheinungen auch nicht nach ihrer religionsgeschichtlichen Heimat auseinanderdividieren, so sehr uns Paulus lehrt, dass sie sich durch ihre Kommunikationsrichtung und ihre Verständlichkeit unterscheiden. Eine letzte Beobachtung: Man hat immer schon betont, dass das Joel-Zitat potentiell universalistisch ist: Gott will seinen Geist über alles Fleisch ausgießen. Die Söhne und Töchter der angesprochenen Israeliten bzw. die Knechte und Mägde Gottes werden im jetzigen Kontext der Apostelgeschichte (vgl. 2,39) erweitert um die Schar derer aus der Ferne, die Gott hinzuberufen wird. Besonders der letzte Vers (zitiert Apg 2,21) verheißt jedem das Heil, der den Namen des Herrn anrufen wird. Da auch Paulus Röm 10,13 mit einer Anspielung auf Joel 2,32LXX die Universalität des Heilsangebotes im auferstandenen Herrn unter-
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fortwährende Praxis einzelner Christen gekannt hat“. Ob Lk sie gekannt hat, sei dahingestellt. Sie konnte jedenfalls in beiden Sitzen im Leben praktiziert werden. So HORN, Angeld (s. Anm. 37), 203. U.B. MÜLLER stützte diese Annahme in der Diskussion mit dem Hinweis, dass das mit der Verwandlung des Herzens einhergehende „Nicht mehr Irdisches sinnen“ (TestHiob 48,2) bzw. „Nicht mehr Weltliches begehren“ (TestHiob 49,1; vgl. 50,2) ein typisches Motiv der Konversion sei. Vgl. Kol 3,2; Phil 3,19; Tit 2,12; 1Joh 2,15-17.
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streicht und die atl. Stelle wohl in der formelhaften Selbstbezeichnung der Christen als „die den Namen des Herrn Anrufenden“ (vgl. 1Kor 1,2 u.ö.)62 weiterlebt, kann man annehmen, dass der Vers in der Rechtfertigung der Heidenmission von Belang war. Dabei mag man auch die vorangehenden Verse mitgehört haben und Glossolalie wie Prophetie als Bestätigung der Ausgießung des Geistes auch auf die Heiden empfunden haben. Doch ist diese Vermutung schon spekulativ. Dass die Problematik der Heidenmission später in den Hintergrund trat, könnte auch mit ein Grund dafür sein, dass die Glossolalie ab der 2. Generation des Christentums selten wurde. Einer der beiden erschlossenen Sitze im Leben entfiel.
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Joel 3,5 war aber kaum der einzige für die Formel maßgebende LXX-Text. Vgl. nur Ps 98,6.
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Die Adressaten des Galaterbriefs und das Problem einer Entwicklung in Paulus’ theologischem Denken Dieter Sänger Um Paulus ist es nie ruhig gewesen. Dafür ist seine Biographie zu ungewöhnlich, sein Denken zu komplex, sein theologischer Anspruch zu herausfordernd, die Resonanz auf sein Wirken zu ambivalent. Er konnte sich zurücknehmen, wenn trotz persönlicher Differenzen Einigkeit in der Sache bestand (Phil 1,15–18), und kompromisslos sein, sobald er die „Wahrheit des Evangeliums“ (Gal 2,5.14) gefährdet sah (Gal 2,11–14; 6,17a). Paulus, der vormalige Pharisäer1 und spätere Völkerapostel2, ist ein Eiferer und weltoffener Christ zugleich. Die Höhenlage und analytische Kraft seiner Gedankengänge beeindrucken3. Die Konsequenz, mit der er sein missionarisches Programm verfolgt hat, nötigt Bewunderung ab. Dass noch immer Neues an ihm und seinem Werk zu entdecken ist, macht nicht zuletzt die Größe des wohl bedeutendsten Theologen in der Geschichte der Christenheit aus. Wie kein Zweiter hat Paulus in 1
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Im Rückblick auf seine vorkonversionelle Vergangenheit sagt Paulus von sich selbst, er sei kata. no,mon Farisai/oj gewesen (Phil 3,5, vgl. Gal 1,14). Als Pharisäer wird Paulus sonst nur noch in der Apostelgeschichte vorgestellt (23,6; 26,5, vgl. 22,3 [indirekt]), auch hier jedesmal in Form einer Selbstbezeichnung. Die unterschiedlich beantwortete Frage, wo er mit dem Pharisäismus in Kontakt getreten ist, mag hier ebenso auf sich beruhen wie die damit verbundene andere, ob es vor 70 n.Chr. außerhalb von Palästina überhaupt Pharisäer und spezifisch pharisäische Schulen gegeben hat. Zumindest fehlen eindeutige Belege. Das gilt auch für Mt 23,15 (von in der Diaspora lebenden Pharisäern ist hier nicht die Rede) und Josephus, Ant. 20,38–48 (es fehlt jeder Hinweis, der Izates zur Beschneidung bewegende Jude Eleazar [20,43] sei ein Pharisäer gewesen). Vgl. nur A.J. SALDARINI, Pharisees, Scribes and Sadducees in Palestinian Society, Edinburgh 21999, 134–143, und M. HENGEL, Der vorchristliche Paulus, in: DERS., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192: 116–123. Während HENGEL die pharisäische Bewegung streng auf das palästinische Kernland beschränkt, hält SALDARINI es für wahrscheinlich, dass sie auch in den angrenzenden Gebieten wie z.B. Antiochien und dem nicht weit davon entfernt gelegenen Tarsus Fuß fassen konnte. Röm 1,5.14; 15,18; Gal 1,16; 2,7.9, vgl. Apg 26,16–18. Dass seine Briefe schwer verständlich und vor willkürlicher Auslegung nicht geschützt sind, beklagt schon der Verfasser des 2. Petrusbriefs (3,15f). Über den genauen Umfang der von ihm vorausgesetzten autoritativen Sammlung paulinischer Briefe wissen wir allerdings nichts.
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Kirche und Theologie impulsgebend gewirkt. Dieser Aneignungs- und Fortschreibungsprozess beginnt schon in neutestamentlicher Zeit. Obwohl die aus dem Traditionsreservoir der authentischen Paulinen schöpfenden pseudepigraphen Briefe ganz eigene Akzente setzen und sich in vielerlei Hinsicht von ihnen unterscheiden, haben sie doch eines gemeinsam. Sie wollen die nach dem Tod des Apostels entstandene Autoritätslücke schließen und sein Erbe unter veränderten Bedingungen lebendig erhalten. Im zweiten Jahrhundert gibt es nur wenige Schriften, die keine Hinweise auf Paulus oder seine Briefe enthalten (z.B. Didache, Barnabasbrief, Pastor Hermae, 2. Clemensbrief). Dieser Negativbefund hat jedoch nichts mit fehlender Pauluskenntnis, Paulusvergessenheit oder gar antipaulinischen Ressentiments zu tun. Wie sehr der Apostel außerhalb christlich-gnostischer Kreise geschätzt wurde, zeigen etwa Ignatius von Antiochien, Polykarp, Justin, Tertullian u.a. zur Genüge4. Im pelagianischen Streit beruft sich Augustin vor allem auf ihn und macht ihn zum Kronzeugen seiner Gnadenlehre5. Die reformatorische Erkenntnis, dass der Mensch allein in Jesus Christus gerechtfertigt wird sola gratia und sola fide, ist ohne den Apostel nicht denkbar6. Und der theologische Neuaufbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdankt sich wesentlich der Römerbriefauslegung des damals noch unbekannten Schweizer Pfarrers Karl Barth aus Safenwil7. Aber Paulus irritiert, provoziert und polarisiert auch. Er war umstritten und ist es bis heute geblieben. Schon zu seinen Lebzeiten schieden sich an ihm die Geister. Den einen galt er als von Gott beauftragter Verkündiger des Evangeliums, der religiös, ethnisch oder sozial definierte Grenzen im Bereich der evkklhsi,a christologisch für überholt erklärt (1Kor 12,13; Gal 3,28, vgl. Röm 3,22f; 10,12; Kol 3,11). Andere hielten ihn aus eben diesem Grund für einen Renegaten, der sich von seinen jüdischen Ursprüngen distanziert hat und den umfassenden 4
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Vgl. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979; DERS., Der Apostel Paulus im 2. Jahrhundert, in: DERS., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche. Studien zu Paulus und zum frühen Paulusverständnis, Tübingen 1999, 294–322. V.H. DRECOLL, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins (BHTh 109), Tübingen 1999; W. WISCHMEYER, Paulus und Augustin, in: E.-M. BECKER / P. PILHOFER (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 323–343. Besonders wichtig waren für Augustin Röm 9,10–16; 1Kor 4,17 und Phil 2,13. Sein Verhältnis zu Paulus beleuchtet unter rechtfertigungstheologischem Aspekt S. WESTERHOLM, Perspectives Old and New on Paul. The „Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids/Cambridge 2004, 3–21. Dessen zentrale Bedeutung für die theologische Fundierung der reformatorischen Exklusivpartikel betont nachdrücklich E. JÜNGEL, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 52006. K. BARTH, Der Römerbrief, Bern 1919 (= Zürich 1963).
Adressaten des Galaterbriefs
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Geltungsanspruch der Tora, Israels Erwählung und die Bundesverheißungen zur Disposition stellt8. In jüngster Zeit ist Paulus wieder zum Streitfall geworden. Maßgeblichen Anteil daran hat die sog. ‚New Perspective on Paul‘. Ihr Versuch, die Bedeutung der Rechtfertigungslehre zu relativieren, zielt auf einen Paradigmenwechsel in der Paulusforschung9. Im Zentrum der Kritik steht die weithin von Martin Luther geprägte protestantische Auslegungstradition. Durch ihre in der „Gospel/law dialectic“10 zum Ausdruck kommende nomistische Vorurteilsstruktur, die Krister Stendahl als ein Produkt des „introspective conscience of the West“11 diagnostiziert, habe sie nicht nur dazu beigetragen, das zeitgenössische Judentum als eine Religion der Werkgerechtigkeit und Gesetzlichkeit zu stigmatisieren, sondern auch der Rechtfertigungslehre eine hermeneutische Leitfunktion für Paulus zuerkannt. Sie liefere aber keineswegs den Schlüssel zum Verständnis seiner Theologie. Daher könne die Rechtfertigungslehre weder ihre alles strukturierende Mitte noch der authentische Wahrnehmungs- und Interpretationshorizont der paulinischen Anthropologie sein12. 8
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Vgl. Röm 2,28f; 3,31; 1Kor 7,19; 10,25f; Gal 2,11–14; 5,6; 6,15, ferner Apg 21,20f und zum Problem E.P. SANDERS, Paul, the Law and the Jewish People, Philadelphia 1983, 171–210; J.M.G. BARCLAY, Paul among Diaspora Jews: Anomaly or Apostate?, JSNT 60 (1995), 89–120, bes. 111ff; W.D. DAVIES, Paul: From the Jewish Point of View, in: W. HORBURY u.a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism, Vol. III: The Early Roman Period, Cambridge 1999, 678–730: 730 („To Jews and Jewish Christians he doubtless appeared as an apostate from Judaism.“). Vgl. CHR. STRECKER, Paulus aus einer „neuen Perspektive“. Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung, KuI 11 (1996), 3–18. J.D.G. DUNN, Was Paul against the Law? The Law in Galatians and Romans: a testcase of text in context, in: DERS., The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005, 259–277: 260. K. STENDAHL, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, in: DERS., Paul among Jews and gentiles and other essays, London 1977, 78–96 (= HThR 56 [1963], 199–215). Exemparisch sei verwiesen auf J.D.G. DUNN, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 334–389, und N.T. WRIGHT, Paul. Fresh Perspectives, London 2005, 57f.120–122.158–160. In seiner Duplik auf die Repliken seiner Kritiker verwahrt sich DUNN gegen den Vorwurf, er marginalisiere die Bedeutung der Rechtfertigungslehre, The New Perspective: whence, what and whither?, in: DERS., The New Perspective on Paul (s. Anm. 10), 1–88, bes. 17–22.37 (Anm. 151). Vielmehr gehe es ihm darum deutlich zu machen, „that there is another dimension (or other dimensions) of the biblical doctrine of God’s justice and of Paul’s teaching on justification which have been overlooked and neglected, and that it is important to recover these aspects and to think them through afresh in the changing circumstances of today’s world“, ebd. 21f. Aber es ist ein Unterschied, ob man ihren „most important aspect“ für Paulus selbst in „the fundamental critique of Israel’s tendency to nationalist presumption, not to say racial pride“ erblickt, so J.D.G. DUNN, The Justice of God. A renewed perspective on justification by faith, in: DERS., The New Perspective on Paul (s. Anm. 10), 187–205: 199, oder sie in das Zentrum der paulinischen Theologie rückt, vgl. D.A. HAGNER, Paul and Judaism: Testing the New Perspective, in: P. STUHLMACHER
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Nun besteht im ersten Punkt, und zwar quer durch die verschiedenen Lager, ein breiter Konsens. Das in der neutestamentlichen Exegese lange Zeit dominierende Bild des antiken Judentums wird der historischen Wirklichkeit nicht gerecht. Es erweist sich als Projektionsfläche der im 16. Jahrhundert aufgebrochenen Kontroverse um die kriteriologische Funktion der reformatorischen Exklusivpartikel und ist insofern anachronistisch. Seine Korrektur ist überfällig und wird zu Recht angemahnt13. Jedoch ist mit dieser Neujustierung des Koordinatengefüges von Gesetz und Gnade/Erwählung bzw. Bund einerseits, Gebotsgehorsam und Heil/ewiges Leben andererseits noch keineswegs schon darüber entschieden, welche Rolle die Rechtfertigungslehre bei Paulus spielt und wie sie im Gesamt seiner Theologie zu gewichten ist. Dies umso weniger, als der religionssoziologische bzw. missionspragmatische Referenzrahmen, in den die Rechtfertigungslehre nunmehr eingespannt
13
(Hg.), Revisiting Paul’s Doctrine of Justification. A Challenge to the New Perspective, Downers Grove 2001, 75–105: 77; P.T. O’BRIEN, Was Paul a Covenantal Nomist?, in: D.A. CARSON u.a. (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Vol. II: The Paradoxes of Paul (WUNT II 181), Tübingen 2004, 249–296: 274.282. Besonders wirkungsvoll von E.P. SANDERS, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 41993 (= Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen [StUNT 17], Göttingen 1985). Er hat zweifellos das große Verdienst, den Erwählungsgedanken als ein konstitutives Element der jüdischen Soteriologie rehabilitiert zu haben. Sie auf den meritorischen Aspekt zu beschränken und darin ihr Proprium zu sehen, wie es allzu häufig geschehen ist, bedeutet in der Tat eine Engführung. Freilich enthält Sanders’ grundlegende These, in funktionaler Hinsicht lasse sich die religiöse Struktur des palästinischen Judentums als „Bundesnomismus“ (covenantal nomism) beschreiben, ihrerseits ein reduktionistisches Moment, da sie gegenläufige Tendenzen vorderhand ausblendet. Denn im nachbiblischen Judentum, vor allem in der rabbinischen Literatur, kann die Teilhabe an der kommenden Welt bzw. das ewige Leben durchaus konditioniert, d.h. als Folge eines gehorsamen Tuns seitens des Menschen verstanden werden, vgl. F. AVEMARIE, Tora und Leben. Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55), Tübingen 1996, 338ff.376ff. Zwar richten sich kritische Einwände gegen die Dominanz der Lohnerwartung als motivierender Faktor oder Bestrebungen, das Erfüllen der Gebote kasuistisch zu verrechnen, z.B. mAv 1,3; yPea 1,1 [34]; SifDev 41 [87]. Aber dass die Rabbinen optional zum erwählungstheologisch begründeten Gnadencharakter der Verheißung ewigen Lebens auch eine „vergeltungsbezogene[] Soteriologie“ vertreten, so F. AVEMARIE, Erwählung und Vergeltung. Zur optionalen Struktur rabbinischer Soteriologie, NTS 45 (1999), 108–126: 121, ist kaum zu bestreiten. In diesem Sinne auch PH.S. ALEXANDER, Torah and Salvation in Tannaic Literature, in: D.A. CARSON u.a. (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Vol. I: The Complexities of Second Temple Judaism (WUNT II 140), Tübingen 2001, 261–301, und E. CONTRA, Salvation for the Righteous Revealed. Jesus amid Covenantal and Messianic Expectations in Second Temple Judaism (AGJU 51), Leiden/Boston 2002, 50ff (mit weiterem Verweis auf TO und TPsJ zu Lev 18,5; SifraLev zu 18,1–30; TJon zu Ez 20,11.12.21). Im außerkanonischen Traktat Avot de Rabbi Natan wird die Verkoppelung von menschlichem Handeln und endzeitlichem Heil prägnant zum Ausdruck gebracht: Wer die Tora erfüllt, „erbt das Leben dieser Welt und das Leben der kommenden Welt“ ARN (A) 10; fast gleichlautend ARN (B) 26.
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wird, so dass sie primär als ein auf die Überwindung ethnischer und religiöser Grenzen zielendes theologisches Konstrukt fungiert, seinerseits nicht frei von vorgängigen Setzungen ist, deren Plausibilität gleich in mehrfacher Hinsicht – exegetisch, historisch, hermeneutisch – zunehmend kritisch beurteilt wird14. Daher erscheint die Frage, ob die Rechtfertigungslehre für das paulinische Denken nicht nur konstitutiv, sondern in der uns zugänglichen Zeitspanne der Wirksamkeit des Apostels auch noch rekonstruktiv zugänglich ist, oder ob „justification by faith in Christ alone is an insufficient statement of the gospel“15, beim gegenwärtigen Stand der Diskussion durchaus noch nicht im Sinne der New Perspective beantwortet. In der aktuellen Kontroverse meldet sich unter veränderten Vorzeichen ein Problem zurück, das seit etwa einhundert Jahren auf der exegetischen Agenda steht. Bereits William Wrede und Albert Schweitzer haben die Frage nach dem Pauli theologiae proprium gestellt und im Sinne der New Perspective beantwortet, freilich mit jeweils unterschiedlicher Begründung. Beide hielten die Rechtfertigungslehre, wie sie ausgeführt erstmals im Galaterbrief und dann programmatisch entfaltet im Römerbrief begegnet, für ein Sekundärphänomen. Wrede ist sogar der Ansicht, man könne „in der Tat das Ganze der paulinischen Religion darstellen, ohne überhaupt von ihr Notiz zu nehmen“16. Sie sei nicht mehr als eine situationsgebundene „Kampfeslehre des Paulus“, die „nur aus ... seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich (werde) und nur für diese gedacht (sei)“17. Schweitzer erblickt in der Rechtfertigungslehre lediglich einen „Nebenkrater, der sich im Hauptkrater der Erlösungslehre“ gebildet habe18. Er bezeichnet sie daher als ein „Fragment“, als „etwas Unselbständiges und Unvollständiges“19, ja als „ein unnatürliches Gedankenerzeugnis“, 14
15 16 17
18 19
Mittlerweile räumt J.D.G. DUNN, der wohl prominenteste Vertreter der New Perspective, selbst ein, er habe „the social and national dynamic behind Paul’s language“ zu einseitig betont, The New Perspective: whence, what and wither? (s. Anm. 12), 27f, und präzisiert: „All I want to do is to remind ... that there is also a social and ethnic dimension to Paul’s own understanding and expression of the gospel“ (28). DUNN, a.a.O., 32. W. WREDE, Paulus (RV 1. Ser. 1/5–6), Halle 1904 = Tübingen 21907, 72 (Nachdr. in: K.H. RENGSTORF [Hg.], Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, [WdF 24], Darmstadt 21969, 1–97: 67). A.a.O., 67. Von „Kampfeslehre“ spricht etwa auch G. STRECKER, Befreiung und Rechtfertigung. Zur Stellung der Rechtfertigungslehre in der Theologie des Paulus, in: DERS., Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 229–259: 257. Ähnlich urteilen DUNN, Theology (s. Anm. 12), 340 („a polemical doctrine“), und U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 532 („situationsbedingte und polemische Zuspitzung paulinischer Theologie“). A. SCHWEITZER, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 21954, 220. A.a.O., 221.
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weil Paulus sich mit ihr „den Weg zur Ethik ab[schneide]“20. Bestimmend sei für den Apostel nämlich seine Christusmystik, die er „als reales Miterleben (des) Sterbens und Auferstehens“21 Jesu Christi verstehe. In der Taufe, die das „Sein-in-Christus“ bewirke, vollziehe sich die Erlösung. Demgegenüber habe die Rechtfertigungslehre keine eigenständige Bedeutung. Sie sei nur ein Moment im Kontext der Erlösungslehre und habe im Wesentlichen die Funktion, „den Gedanken der Sündenvergebung“ mit dem „der Freiheit vom Gesetz“22 zu verbinden. Insofern verwundert es nicht, dass die ‚New Perspective on Paul‘ eine starke Affinität zu Schweitzer zeigt und ihn zu ihren geistigen Vätern rechnet. Ed Perish Sanders, der ihr mit seiner These, die religiöse Grundstruktur („Pattern of Religion“) aller frühjüdischen Gruppierungen lasse sich als Bundesnomismus („Covenantal Nomism“) beschreiben, das historische Widerlager geliefert hat, rekurriert kaum von ungefähr immer wieder auf Schweitzer. Wie er ist Sanders der Auffassung, die durch die Taufe vermittelte Teilhabe am Tod Christi – paulinisch gesprochen: das den Übergang des Menschen aus dem Sünden- in den Heilsbereich bewirkende „in Christus Sein“23 (ei=nai evn Cristw/| VIhsou/) – bilde „the heart of Paul’s theology“24 und bringe ihr zentrales Anliegen prägnant zum Ausdruck25. Der Hinweis von Wrede, Schweitzer und anderen, dass im ältesten Paulusbrief (1Thess) und in den beiden Korintherbriefen die Rechtfertigungslehre fehlt, ist zweifellos zutreffend. Jedenfalls dann, wenn man die Betonung auf das Stichwort Lehre legt und darunter die argumentative Entfaltung und Begründung einer kognitiv konstruierten Sinnwelt versteht26. Der in den genannten Briefen zu verzeichnende Negativbefund wird vielfach dahingehend interpretiert, Paulus habe zur Zeit ihrer Abfassung die Rechtfertigungslehre gedanklich noch nicht realisiert, geschweige denn vorgetragen. Unter dieser Voraussetzung wird sie anderen soteriologisch akzentuierten Deutekategorien sachlich wie chronologisch nachgeordnet und in ein periodisiertes Entwicklungs20 21 22 23 24 25 26
A.a.O., 220. A.a.O., 13. A.a.O., 219. Die wichtigsten kritischen Anfragen notiert E. GRÄSSER, Albert Schweitzer als Theologe (BHTh 60), Tübingen 1979, 188–191. SANDERS, Paul and Palestinian Judaism (s. Anm. 13), 447–474 (= Paulus und das palästinische Judentum, 421–449.653–658). A.a.O., 502 (= Paulus und das palästinische Judentum, 480). Vgl. A. SCHWEITZER, Mystik (s. Anm. 18), bes. 102–140. Vgl. M. WOLTER, Ethos und Identität in paulinischen Gemeinden, NTS 43 (1997), 430–444: 441. Zum unterschiedlichen semantischen Gehalt und zur begrifflichen Differenzierung von Rechtfertigungslehre und Rechtfertigungsbotschaft vgl. M. BEINTKER, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundigungen, Tübingen 1998, 2.
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modell eingepasst. Ihre erst im Galater- und Römerbrief konzeptionell entfaltete Gestalt gilt dann als Indiz für ein spätes Reflexionsstadium, von dem die paulinische Frühzeit noch wenig bis nichts erkennen lässt27. Freilich bleibt bei dem zumindest unterschwellig einen genetischen Prozess suggerierenden Entwicklungsmodell oft ungeklärt, ob sich dieser Prozess vornehmlich endogenen oder exogenen Faktoren verdankt28. Zudem erscheint es problematisch, innerhalb der paulinischen Korrespondenz noch eine Frühphase von einer Spätphase zu unterscheiden und den frühen und späten Paulus mit der Zeit seiner literarischen Wirksamkeit zu identifizieren29. Und das aus einem doppelten Grund. Zum einen stammen alle erhaltenen Briefe – grob gesagt – aus 27
28
29
Vgl. U. WILCKENS, Christologie und Anthropologie im Zusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre, ZNW 67 (1976), 64–82, bes. 67ff; DERS., Die Entwicklung des paulinischen Gesetzesverständnis, NTS 28 (1982), 154–190; H. HÜBNER, Das Gesetz bei Paulus. Ein Beitrag zum Werden der paulinischen Theologie (FRLANT 119), Göttingen 31982; STRECKER, Befreiung und Rechtfertigung (s. Anm. 17), 237; H. RÄISÄNEN, Paul’s Conversion and the Development of His View of the Law, NTS 33 (1987), 404–419; U. SCHNELLE, Wandlungen im paulinischen Denken (SBS 137), Stuttgart 1989, 49–76; K. HAACKER, Wohin mit der Rechtfertigungslehre?, in: S. KREUZER / J. V. LÜBKE (Hg.), Gerechtigkeit glauben und erfahren. Beiträge zur Rechtfertigungslehre (VKHW NF 7), Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 2002, 108–119: 113. Skeptisch bis ablehnend hingegen M. HENGEL / A.M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998, 27–30; S. KIM, Paul and the New Perspective. Second Thoughts on the Origin of Paul’s Gospel, Grand Rapids/Cambridge 2002, 45–53. Statt von einer Entwicklung von Wandlungen zu sprechen hilft m.E. auch nicht weiter. Jede Wandlung indiziert eine (Fort- oder Rück-)Entwicklung (Progress bzw. Regression), und jede Entwicklung schließt als Oberbegriff eine Wandlung notwendig ein. Das Spektrum der aktualisierten Möglichkeiten ist breit: Variation, Modifikation, Akzentverschiebung, Nivellierung, Relativierung, Perspektivenwechsel, Positionswechsel, Revision. Problematisch ist nicht das hinter den Termini Entwicklung und Wandlung sich verbergende Sachanliegen, sondern ihre unscharfe Definition und daraus resultierend ihr häufig diffus bleibender semantischer Gehalt. Vgl. W.G. KÜMMEL, Das Problem einer Entwicklung in der Theologie des Paulus, NTS 18 (1971/72), 457f; R. V. BENDEMANN, „Frühpaulinisch“ und/oder „spätpaulinisch“? Erwägungen zu der These einer Entwicklung der paulinischen Theologie am Beispiel des Gesetzesverständnisses, EvTh 60 (2000), 215–229; F. HAHN, Gibt es eine Entwicklung in den Aussagen über die Rechtfertigung bei Paulus?, in: DERS., Studien zum Neuen Testament, Bd. II. Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit (WUNT 192), hg. von J. FREY / J. SCHLEGEL, Tübingen 2006, 271–297: 272f. Die Problematik wird bei STRECKER, Befreiung und Rechtfertigung (s. Anm. 17), 230, exemplarisch deutlich. Obwohl er den Galaterbrief früh datiert und gleich nach dem 1. Thessalonicherbrief ansetzt – die weitere Reihenfolge: 1/2Korinther-, Römer-, Philipper-, Philemonbrief –, spiegelt für ihn der 1. Thessalonicherbrief noch ein frühes Stadium der paulinischen Theologie, während das Zirkularschreiben an die Galater der Spätphase zuzurechnen sei. Zwischen beiden Briefen müsste sich demnach eine grundsätzliche Wandlung im theologischen Denken des Apostels vollzogen haben. Offen bleibt, warum die Rechtfertigungslehre dann erst wieder im Römerbrief begegnet. Vgl. auch DUNN, New Perspective: whence, what and wither? (s. Anm. 12), 33–37.
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dem letzten Lebensjahrzehnt des Apostels. Im Philemonbrief bezeichnet er sich selbst als „alten Mann“ (presbu,thj, V.9)30. Zum anderen ignoriert die hier vorgenommene Einteilung in „früh“ und „spät“ den viel längeren Zeitraum zwischen seiner Christusvision vor Damaskus und der Abfassung des ersten uns überlieferten Schreibens. Berücksichtigt man die im Galaterbrief genannten Zahlen (1,18; 2,1)31 und datiert man den 1. Thessalonicherbrief in die Anfangszeit (50/51 n.Chr.) des Gründungsaufenthalts in Korinth, dauerte diese Zeitspanne immerhin 17–19 Jahre. Nur in ihr gibt es den frühen Paulus. Gewiss ist mit Entwicklungen im paulinischen Denken zu rechnen. Schon deshalb, weil die Größe, die wir in kondensierter Form als Paulus’ ‚Theologie‘ bezeichnen, immer auch geschichtlich zu verstehen ist. Ihre Entstehung ist eingebettet in einen vorgegebenen geographischen, politischen, sozio-kulturellen, ökonomischen und religiösen Kontext. Dieser spannungsreichen Vielfalt korrespondiert eine sich jeweils unterschiedlich darstellende und differenziert wahrgenommene ekklesio30 31
Orientiert man sich an Philo, Op. 105, wird Paulus zwischen 50 und 56 Jahren alt gewesen sein, als er den Brief schrieb. Trotz der bekannten Unsicherheit, ob jeweils drei bzw. vierzehn volle Jahre gemeint sind, ergibt ihre Addition einen Näherungswert. R. SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II 79), Tübingen 2004, 162–167, möchte in der Jahresangabe von 2,1 auch den Jerusalemer Aufenthalt während des Apostelkonvents unterbringen und interpretiert deshalb die präpositionale Wendung dia. dekatessa,rwn evtw/n im Sinne von „im Verlauf von vierzehn Jahren (der Wirksamkeit in Syrien und Zilizien) noch einmal“, a.a.O., 163. Der Wechsel von e;peita meta, (1,18) zu e;peita dia, besagt jedoch nicht, dass Paulus hier an ein Ereignis denkt, das während bzw. im Verlauf der 14 Jahre stattgefunden hat, vgl. F. SIEFFERT, Der Brief an die Galater (KEK IX), Göttingen 91889, 77–79. Wie J. MURPHY-O’CONNOR, Paul. A Critical Life, Oxford/New York 21997, 24–28, verdichtet J.-P. LÉMONON, L’épître aux Galates (CB.NT 9), Paris 2008, 33.78f, den genannten Zeitraum noch mehr. In ihn falle nicht nur Paulus’ 1. Missionsreise mit Barnabas, sondern auch seine zweite mit Silas (Apg 15,41–18,23a). Die enger gefasste Gebietsangabe in Gal 1,21 spreche nicht dagegen, weil Paulus hier bewusst auf Details verzichte und sich damit an die Empfehlung der Rhetoriker halte, eine Narratio klar, kurz und glaubwürdig zu gestalten (Quintilian, Inst.Orat. IV 2,31.41), ebd. 78. Demnach hätten beide Reisen vor dem Jerusalemer Apostelkonvent stattgefunden, den LÉMONON auf 51/52 n.Chr. datiert. Jedoch gibt er, von anderen Einwänden abgesehen, keine Antwort auf die Fragen, warum a) Paulus die Partnerschaft mit Barnabas aufgekündigt hat und b) erst nach seiner Rückkehr aus Makedonien und Griechenland das auf dem Konvent verhandelte Problem virulent geworden sein soll, obwohl es spätestens nach der 1. Missionsreise zur Klärung anstand (vgl. Apg 15,1.5). Denn wie SCHÄFER geht auch LÉMONON davon aus, dass in ihrem Verlauf die galatischen Gemeinden gegründet wurden. Trotz ihrer paganen Herkunft (Gal 4,8.10, vgl. 5,2f.6; 6,12f.15) wurden sie von Paulus weder mit der Beschneidungsforderung konfrontiert noch auf das Einhalten der Speise- und Reinheitsgebote verpflichtet (vgl. Gal 2,11–14). Es erscheint wenig plausibel anzunehmen, die dadurch evozierte Frage nach dem ekklesiologischen Status der e;qnh hätte über Jahre hinweg brach gelegen. Oder soll man unterstellen, von alledem sei in Jerusalem nichts bekannt gewesen? Zumindest Gal 2,4f spricht dagegen.
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logische Realität. In ihr lebte Paulus, auf sie versuchte er einzuwirken – während seiner Anwesenheit in den Gemeinden spontan und direkt, bei Abwesenheit mit zeitlicher Verzögerung durch Boten oder Briefe. Ebenfalls trifft zu, dass ein Großteil der in die Briefe eingestreuten biographischen Notizen mehr als nur privaten Charakter besitzt. Sie verraten ein Gespür für den psychologischen Effekt solcher Mitteilungen und zielen in pragmatischer Hinsicht darauf ab, ein Einvernehmen zwischen Briefabsender und -empfänger herzustellen. Doch ändert das nichts an ihrer eminent theologischen Funktion. Die Adressaten an der persönlichen Lebensgeschichte teilhaben zu lassen gehört zur Kommunikationsstrategie des Apostels, mit der er auf negative Ereignisse in seinen Gemeinden reagiert und sie zu korrigieren sucht. Der Einfluss des darin beschlossenen dialogischen Potentials auf das Wachsen und Werden der paulinischen Theologie ist nicht zu unterschätzen. Sie war kein von Beginn an fertiges Gebilde. Unmittelbar nach seinem Damaskuserlebnis wäre Paulus gewiss nicht in der Lage gewesen, seine uns bekannten Briefe zu schreiben32. Ihnen geht eine Fülle eigener Erfahrungen in sehr unterschiedlich strukturierten Gemeinden und zu bewältigender theologischer Herausforderungen voraus, die einer vertiefenden Reflexion bedurften. Schon von daher war es Paulus verwehrt, zu allen Zeiten dasselbe zu sagen, auch wenn er dasselbe meinte. In dieser allgemeinen Beschreibung des entwicklungsgeschichtlichen Problems besteht ein breiter Konsens. Das ändert sich aber, sobald es um die Frage nach der inneren Stimmigkeit und sachlichen Stringenz des paulinischen Denkens geht. Präziser noch: Orientiert es sich an einer Leitprämisse, die in theologischer Hinsicht für den Apostel nicht nur unverzichtbar, sondern konstitutiv ist? Wer Paulus attestiert, zumindest in ihrer literarisch dokumentierten Phase sei seine Theologie ein vornehmlich kontingenten Faktoren sich verdankendes unsystematisches Konstrukt, das logisch wenig schlüssig und in sich widersprüchlich sei, wird diese Frage natürlich von vornherein verneinen33. Aber gibt es vielleicht doch „elementare Linien und Grundentscheide, die sich durchhalten, weil sie von einem gemeinsamen Denkansatz 32
33
Erinnert sei nur an das berühmte Diktum von W. WREDE, Paulus (RVV 1/5–6), Halle 1904, 79 (RENGSTORF [Hg.], Paulusbild [s. Anm. 16], 1–97: 74): „Athene sprang gewappnet in voller Kraft aus dem Haupte des Zeus hervor. So ist die Theologie des Paulus nicht entstanden. Sie ist gewachsen und geworden, und wir begreifen sie wie alles Geschichtliche nur in dem Maße wirklich, als wir in ihr Werden hineinsehen“. Vgl. exemplarisch SANDERS, Paul and Palestinian Judaism (s. Anm. 13), 433.518–520 (= Paulus und das palästinische Judentum, 408.497–499); DERS., Jewish People (s. Anm. 8), 29–43.81–86.128f; H. RÄISÄNEN, Paul’s Theological Difficulties with the Law, in: DERS., The Torah and Christ. Essays in German and English on the Problem of the Law in Early Christianity (SESJ 45), Helsinki 1986, 3–24; DERS., Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 21987, 69f.102f.144–147.152f.266f.
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herkommen“34, so dass trotz Variabilität ihrer Ausgestaltung eine alles integrierende Konstante erkennbar bleibt? Und gilt das speziell im Blick auf die Rechtfertigungslehre? Wie Petr Pokorný und Ulrich Heckel jüngst wieder zu Recht betont haben35, besitzt der Galaterbrief in diesem Zusammenhang eine Schlüsselfunktion. Dabei geht es erst in zweiter Linie um seine Datierung. Viel entscheidender ist, wo und wann Paulus die galatischen Gemeinden gegründet hat. Und zwar deshalb, weil er sich in dem Brief mehrfach ausdrücklich auf seine Erstverkündigung bezieht (1,6–9; 3,1; 5,3, vgl. 2,16; 4,13–15.18f; 5,21). Dieser Tatbestand lässt ungeachtet der zur Abfassungszeit völlig veränderten Situation in Galatien darauf schließen, der Apostel knüpfe bei den Empfängern an ihnen schon Bekanntes an und rufe es abermals in Erinnerung. Doch wann und bei welcher Gelegenheit hat Paulus unter den Galatern missioniert36 und wo ist ihr Wohngebiet zu lokalisieren? Beide Fragen sind nicht voneinander zu trennen. Die eine schließt die andere
34 35 36
J. BECKER, Paulus. Der Apostel der Völker (UTB 2014), Tübingen 31998, 395. P. POKORNÝ / U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick (UTB 2798), Tübingen 2007, 207.214–227. Von dieser Frage ist die andere zu unterscheiden, wie oft er sich vor der Abfassung des Galaterbriefs bei ihnen aufgehalten hat. Aus dem Brief selbst ist letzte Sicherheit nicht zu gewinnen. Viel hängt davon ab, wie man das substantivierte Adjektiv to. pro,teron in 4,13 übersetzt: entweder analog zu Joh 7,50; Hebr 10,32 und 1Petr 1,14 mit „zuerst“ bzw. „früher, einst“ im Sinne von „das einzige Mal“ (so u.a. E. DE WITT BURTON, A Critical and Exegetical Commentary on the Epistle to the Galatians [ICC], Edinburgh 1975 [= 1921], 241, vgl. ebd. 239–341; H.D. BETZ, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 49.389 [mit Anm. 48]; R.N. LONGENECKER, Galatians [WBC 41], Dallas 1990, 190; J.L. MARTYN, Galatians. A New Translation with Introduction and Commentary [AncB 33A], New York u.a. 1997, 420), oder aber, was sprachlich ebenfalls möglich ist, mit „das erste Mal“ (so u.a. A. STEINMANN, Der Leserkreis des Galaterbriefes. Ein Beitrag zur urchristlichen Missionsgeschichte [NTA 3/4], Münster 1908, 214.225; H. SCHLIER, Der Brief an die Galater [KEK VII], Göttingen 15(6)1989, 209f; F. MUßNER, Der Galaterbrief [HThK 9], Freiburg u.a. 52002, 5f [mit Anm. 27].306f; F.J. MATERA, Galatians [Sacra Pagina Series 9], Collegeville 1992, 25; F.F. BRUCE, The Epistle to the Galatians. A Commentary on the Greek Text [NIGTC], Grand Rapids 1998 [= 1982], 209; J. BECKER, Der Brief an die Galater, in: DERS. / U. LUZ, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser [NTD 8/1], Göttingen 18(1)1998, 7–103: 15 [zurückhaltender ebd. 68]; LÉMONON, L’épître aux Galates [s. Anm. 31], 33.148). Wer die zweite Alternative favorisiert, geht neben dem Gründungsaufenthalt in den galatischen Gemeinden noch von mindestens einem weiteren Besuch aus (vgl. Apg 18,23). Da jedoch to. pro,teron doppeldeutig ist und der Galaterbrief ansonsten nur auf die Erstverkündigung Bezug nimmt (1,6–9; 3,1; 5,3, vgl. 5,21), lassen sich aus der relativen Zeitangabe in 4,13 keine weitreichenden Schlussfolgerungen für den persönlichen Kontakt zwischen Paulus und den Galatern und die Datierung des Zirkularschreibens ableiten. SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 58–62, bezieht den Ausdruck auf mehrere voneinander zu unterscheidende Reisen des Apostels nach Galatien.
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mit ein. Zunächst zur Briefadresse37. Es gibt nur zwei Alternativen. Entweder sind die galatischen Gemeinden im südlichen Teil der römischen Provinz Galatien zu suchen oder im zentralanatolischen Hochland, dem ursprünglichen Siedlungsgebiet der 278/277 v.Chr. aus dem Westen eingedrungenen galatischen Stämme38. Mit der Lokalisierungsfrage haben sich bereits die Kirchenväter beschäftigt, freilich ohne verschiedene Möglichkeiten zu erörtern. Sofern sie sich zum Thema äußern, dominiert nach heutiger Begrifflichkeit die Landschaftshypothese39. Freilich sind die politischen und geographischen Verhältnisse, an denen sie sich orientieren, das Ergebnis einer mehrfachen territorialen Neugliederung. Gegenüber der uns interessierenden paulinischen Zeit haben sich die Grenzen der römischen Provincia Galatia erheblich verschoben. Das schränkt die Verwertbarkeit der jeweiligen Angaben erheblich ein. Zur Lokalisierung der Empfängergemeinden tragen sie deshalb wenig bis nichts aus.
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Im Folgenden nehme ich auf, was in meinem demnächst erscheinenden Beitrag „Die Adresse des Galaterbriefs. Neue (?) Überlegungen zu einem alten Problem“ in: M. BACHMANN / B. KOLLMANN (Hg.), Umstrittener Galaterbrief (BThSt 106), Neukirchen-Vluyn 2009, wesentlich ausführlicher und begründeter dargestellt ist. Zu den historischen, politischen und geographischen Verhältnissen von Anfang des 3. Jh. v.Chr. bis zum Ende des 1. Jh. n.Chr. vgl. F. STÄHELIN, Geschichte der kleinasiatischen Galater, Osnabrück 1973 (= Leipzig 21907); L. BÜRCHNER, Art. Galatia, Galatike [chora], Galliograikia, PRE 7/1 (1910), 519–534; G. BRANDIS, Art. h` Galati,a , ebd. 534–559; D. MAGIE, Roman Rule in Asia Minor to the End of the Third Century after Christ, 2Bde, Oxford 21971 (= Princeton 1950); B. LEVICK, Roman Colonies in Southern Asia minor, Oxford 1967; A.H.M. JONES, The Cities of the Eastern Roman Provinces, Oxford 21971, 453–467.1303–1329; K. BEHLKE, Galatien und Lykaonien, mit Beiträgen von M. RESTLE (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Phil.Hist. Klasse, Denkschriften Bd. 172 [TIB 4]), Wien 1984, bes. 48–53; R.K. SHERK, Roman Galatia. The Governors from 25 B.C. to A.D. 114, ANRW II 7/2 (1980), 954–1052; S. MITCHELL, Population and the Land in Roman Galatia, ebd. 1053–1081; DERS., Anatolia I: The Celts in Anatolia and the Impact of Roman Rule, Oxford 2001 (= 1993), 13–41; K. STROBEL, Die Galater im hellenistischen Kleinasien. Historische Aspekte einer keltischen Staatenbildung, in: Hellenistische Studien. Gedenkschrift für Hermann Bengtson, München 1991, 111–134; DERS., Galatien und seine Grenzregionen. Zu Fragen der historischen Geographie Galatiens, in: E. SCHWERTHEIM (Hg.), Forschungen in Galatien (Asia Minor Studien 12), Bonn 1994, 29–65, bes. 35ff; DERS., Keltensieg und Galatersieger. Die Funktionalisierung eines historischen Phänomens als politischer Mythos der hellenistischen Welt, ebd. 67–96, bes. 71ff; DERS., Die Galater. Geschichte und Eigenart der keltischen Staatenbildung auf dem Boden des hellenistischen Kleinasien I (Untersuchungen zur Geschichte und historischen Geographie des hellenistischen und römischen Kleinasien 1), Berlin 1996, 236–264; DERS., Galatica I. Beiträge zur historischen Geographie und Geschichte Ostgalatiens, Orbis Terrarum 3 (1997), 131–153. Vgl. W.M. RAMSAY, The Galatia of St. Paul and the Galatic Territory of the Book of Acts (Analecta Gorgiana 10), Piscataway 2006 (= [SBEc 4], Oxford 1896, 15–57), 2–6 [16–20], und jetzt M. MEISER, Galater (Novum Testamentum Patristicum 9), Göttingen 2007, 41f.
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Während in der angelsächsischen Forschung fast einhellig die Provinzhypothese vertreten wird, favorisiert die Mehrheit der kontinentalen und vor allem deutschsprachigen Exegeten den alternativen Lösungsvorschlag. Zwei klassische Argumente, die zu seinen Gunsten immer wieder vorgebracht werden, verlieren bei näherer Prüfung an Beweiskraft. Das gilt zunächst für die Auskunft, die adscriptio tai/j evkklhsi,aij th/j Galati,aj (1,2) sei mit der südgalatischen Hypothese unvereinbar, weil „[i]m zeitgenössischen Sprachgebrauch ... h` Galati,a zuallererst die historisch und ethnisch definierte Landschaft Galatien“40 bezeichne. Der Quellenbefund ergibt ein anderes Bild. Antike Autoren wie Strabon41, Plinius d. Ältere42, Tacitus43, Ptolemaios44 und Pausanias45, aber auch das erste Makkabäerbuch (8,2) bieten dafür zahlreiche Beispiele. Hinzu kommen inschriftliche und numismatische Belege46. Das zweite Argument, die vorwurfsvolle Anrede in 3,1: +W avno,htoi Gala,tai habe nur dann ihre Wirkung nicht verfehlen können, „wenn die Adressaten sich vollkommen als Galater“47 fühlten, erscheint ebenfalls korrekturbedürftig. Abgesehen davon, dass die von Paulus so Getadelten sich in erster Linie durch das Adjektiv, nicht durch das Nomen brüskiert fühlen konnten, muss ja gefragt werden, wie Paulus eine in Südgalatien lebende Gemeinschaft aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hätte anders anreden können als mit dem „political term that could be applied to them all ... Galatians“48. Zudem bleibt ein wesentlicher Aspekt außer Betracht. Auch die Einwohner in den städtischen Zentren Nordgalatiens waren in der uns interessierenden Zeit 40 41 42 43 44 45 46
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U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 62007, 115. Geogr. IV 1,1 [176]; 1,14 [189]. Hist.Nat. V 41 [145]; 42 [146]. Ann. XIII 35,2f (Galatien und Kappadokien [jeweils Provinzbezeichnung]); XV 6,3 (pontische, galatische und kappadokische Hilfstruppen); Hist. II 9,1 (Galatien und Pamphylien [jeweils Provinzbezeichnung]). Geogr. V 4,1–12. Desc.Graec. I 4,4; 13,2f (Kelten/Galater in Makedonien); X 3,4 (hier werden die Galater/Kelten zu den Griechen gezählt); 7,1; 8,3; 18,7; 19,5–12 (Zug der Galater/Kelten gegen Griechenland); 20,1.6; 21,2–4; 23,5.14 u.ö. CIG III 3991 = IGR III 263 (Ikonium); SEG II 170 (Pednelissos); ILS 9499. Weitere inschriftliche Belege bei S. MITCHELL, Anatolia II: The Rise of the Church, Oxford 1999 (= 1993), 4. Auf der Rückseite mit der Aufschrift KOINON GALATWN und KOINON GALATIAS – gemeint ist jeweils der für die ganze römische Provinz Galatien handelnde Provinziallandtag – versehene Münzen geben zu erkennen, dass der Ausdruck Provincia Galatia mehr als die Landschaft umfasst und Ost-Phrygien, Pisidien sowie Lykaonien mit einschließt, A. BURNETT u.a., Roman Provincial Coinage, Vol. I: From the death of Caesar to the death of Vitellius (44 BC–AD 69). Part 1: Introduction and Catalogue, London/Paris 32006, 547 (Nr. 3563, 3564 [beide Münzen stammen aus der Zeit Neros], 3567 [aus der Zeit Galbas]). SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 40), 115. BRUCE, Galatians (s. Anm. 36), 16. Darauf weist schon RAMSAY, The Galatia of St. Paul (s. Anm. 39), 26–32 (12–18), hin.
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keineswegs mehr „Galater im nationalen Sinne“49. Wir haben vielmehr von einer multiethnischen Bevölkerung auszugehen, ähnlich wie im provinzgalatischen Süden50. Die übrigen Argumente für eine Lokalisierung der Empfängergemeinden etwa im Dreieck Ancyra – Pessinus – Tavium sind teils ambivalent, teils lassen sie sich entkräften oder gar umkehren. Hinzu kommt, dass auch die geographischen Angaben in Apg 16,(1–5)6 und 18,23 keine eindeutige Entscheidung erlauben, weder in die eine noch in die andere Richtung51. Allerdings scheint die Provinzhypothese gegenüber der Landschaftshypothese einen gravierenden Nachteil zu haben. Nach verbreiteter Auffassung besteht er darin, „dass sie sich allein auf die Angaben der Apostelgeschichte stützen kann und Paulus in seinen Briefen nirgends auf die sog. erste Missionsreise (Apg 13f.) zu sprechen kommt“52, in deren Verlauf er und Barnabas südgalatischen Boden betraten. Diese Einschätzung ist m.E. nur bedingt richtig. Im Blick auf den paulinischen Befund lässt sich mehr sagen. Der 1. Korintherbrief enthält nämlich zwei Hinweise, denen bisher noch nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Aufschlussreich ist zunächst 1Kor 16,1. Dort weist Paulus die Korinther an, bei der Kollektensammlung so zu verfahren w[sper die,taxa tai/j evkklhsi,aij th/j Galati,aj. Auf die Kollekte referiert auch Gal 2,10. Der Vers gibt zu erkennen, dass die Sammlung in Galatien bereits durchgeführt worden ist53 und ihr Abschluss andernorts zumindest unmittelbar bevorsteht. Denn der Satz: „eben dies zu tun habe ich mich auch bemüht“ (V.10b) lässt sich am ungezwungensten dahingehend verstehen, dass Paulus die Verpflichtung, 49 50
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J. WEISS, Das Urchristentum, Göttingen 1917, 244. Für die Region um Ancyra hat K.H. SCHMIDT, „Galatische Sprachreste“, in: Forschungen in Galatien (s. Anm. 38), 15–28, anhand der epigraphischen Onomastik gezeigt, dass der Anteil galatischer Familien vom ersten Drittel des 1. Jh. bis zum Beginn des 2. Jh. n.Chr. stark gesunken war, während im gleichen Zeitraum der Anteil von Familien mit römischem Bürgerrecht erheblich zugenommen hatte. Der hier wie dort anzunehmende hohe Grad an Hellenisierung bzw. Romanisierung macht dann „in beiden Fällen auch ein Selbstverständnis (und vor allem eine Fremdsicht) der Adressaten als Galater“ wahrscheinlich, B. JÜRGENS, Zweierlei Anfang (BBB 120), Berlin/Bodenheim 1999, 97 (Kursivierung im Orig.). Das heißt dann zugleich: Sowohl die im Norden der römischen Provinz Galatien lebenden Menschen als auch ihre im südlichen Teil ansässigen Nachbarn konnten in toto als Gala,tai bezeichnet werden, selbst wenn sie der Herkunft nach keine waren. Vgl. MITCHELL, Population (s. Anm. 38), 1057–1060; TH. WITULSKI, Die Adressaten des Galaterbriefes. Untersuchungen zur Gemeinde von Antiochia ad Pisidiam (FRLANT 193), Göttingen 2000, 17–23; SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 311–314. Näheres hierzu in meinem Anm. 37 genannten Beitrag. P. POKORNÝ / U. HECKEL, Einleitung (s. Anm. 35), 229. Anders freilich BETZ, Galaterbrief (s. Anm. 36), 195: „Es ist kaum zu bezweifeln, dass die Sammlung zur Zeit der Abfassung des Galaterbriefes noch nicht abgeschlossen war“. Begründet wird das nicht.
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die er auf dem Jerusalemer Konvent eingegangen ist, aus seiner Sicht erfüllt hat54. Vor allem der konstatierende Aorist evspou,dasa („ich habe mich bemüht“) berechtigt zu dem Schluss, Paulus behandle die Kollekte „wie eine erledigte Sache“55. Den Ausdruck im Sinne eines Plusquamperfekts aufzufassen und auf die Zeit vor dem Konvent zu beziehen56, ist wegen des vorangestellten kai, m.E. nicht möglich, da die Konjunktion „das evspou,dasa als etwas der Vereinbarung Entsprechendes, also auf sie Folgendes bezeichnet“57. Zwar spricht grammatisch nichts gegen einen ingressiven Aorist. Dann handelte es sich um eine Absichtserklärung. Paulus möchte jetzt in die Tat umsetzen, was er seinerzeit Petrus, Jakobus und Johannes versprochen hat. Aber dieses Verständnis scheitert an dem situativen Kontext. Hätte Paulus in 2,10b lediglich seine Bereitschaft bekundet, die (schon begonnene?) Sammlung durchzuführen, hätte er damit die Galater ja an sein erfolgloses Bemühen unter ihnen in dieser Angelegenheit erinnert, da er zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum auf die benötigte Unterstützung hoffen konnte, und damit seine Niederlage eingestanden58. Das wäre in der 54
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Die von D. GEORGI (und in seiner Nachfolge auch von J.L. MARTYN) vertretene These einer doppelten Kollektensammlung, aus der weitreichende Folgen für die Chronologie der paulinischen Briefe abgeleitet werden, teile ich nicht, Der Armen zu gedenken. Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, Neukirchen-Vluyn 21994. J. BECKER, Der Völkerapostel Paulus im Spiegel seiner neuesten Interpreten, ThLZ 122 (1997), 977–990: 987. So auch SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 20–26. Dass Paulus in 2,10 nicht allein die galatische Sammlung, sondern die ganze Kollektenaktion im Blick hat, lässt sich durch den nicht lange nach dem Galaterbrief geschriebenen Römerbrief erhärten. Die Notiz in 15,25 erweckt den Anschein, als stünden die hier genannten Provinzen aus Paulus’ Sicht stellvertretend für „sein gesamtes Missionsgebiet“, E. KÄSEMANN, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 21974, 381 (vgl. unten Anm. 58). B. WITHERINGTON III., Grace in Galatia. A Commentary on St. Paul’s Letter to the Galatians, Edinburgh 1998, 16.146 (vgl. aber ebd. Anm. 183). Er ergänzt daher ein im Text nicht vorhandenes „schon“. Für R.Y.K. FUNG, The Epistle to the Galatians (NIC), Grand Rapids 1988, 103f, signalisiert das von ihm in diesem Sinne verstandene evspou,dasa, Paulus habe die Kollekte zum Konvent schon mitgebracht. SIEFFERT, Galater (s. Anm. 31), 123. Ein anderer Sachverhalt ergibt sich, wenn man mit L.W. HURTADO, The Jerusalem Collection and the Book of Galatians, JSNT 5 (1979), 46–62, bes. 53–57, Gal 6,6–10 als Appell an die Adressaten versteht, sie mögen sich an der Kollekte beteiligen. Abgesehen von der Schwierigkeit, das evspou,dasa in diesem Fall anders als konstatierend auffassen zu müssen, steht diese Deutung a) in Spannung zu dem Vordersatz, auf den 2,10b sich doch bezieht, kollidiert b) mit 1Kor 16,1 und erscheint zudem c) angesichts des aktuellen Konflikts mit ungewissem Ausgang überaus unwahrscheinlich. Dass die galatischen Gemeinden in Röm 15,25–27 nicht erwähnt werden, ist nur bei der Präferenz für die nordgalatische Hypothese ein Problem, vgl. Apg 20,4. J.D.G. DUNN meint, der Apostel begnüge sich damit, die Rom geographisch am nächsten liegenden Regionen zu erwähnen, Romans 9–16 (WBC 38B), Dallas 1988, 875, ähnlich SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 24. Zu erwägen ist aber auch, ob nicht die galatischen Gelder schon nach Jerusalem gebracht wurden. Dann wäre dort so verfahren worden, wie Paulus es auch für die korinthische Kollekte ge-
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angespannten Situation, in der er sich gezwungen sah, seine Autorität als Apostel und von Gott berufener Verkündiger des Evangeliums (1,1.15f) zu verteidigen, schlicht kontraproduktiv gewesen und hätte seine Argumentationslinie durchkreuzt. Sie zielt ja darauf ab, die Galater von ihrem Irrweg abzuhalten und sie für die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14) zurückzugewinnen59. Will man Paulus nicht unterstellen, er habe in 2,10b ein fulminantes Eigentor geschossen, kann die Beteuerung evspou,dasa auvto. tou/to poih/sai nur aus der Rückschau formuliert sein. Sie setzt dann aber zugleich voraus, dass Titus und seine Begleiter mit ihrem Versuch erfolgreich waren, die in Korinth und Achaia ins Stocken geratene Kollekte (2Kor 8,10; 9,2) zu beschleunigen, Zweifel an ihrer Verwendung auszuräumen und das gestörte Vertrauen zu Paulus wieder herzustellen (2Kor 8,16–9,5, vgl. 12,17f). M.a.W., der Galaterbrief datiert später als die korinthische Korrespondenz60. Sollte der jetzige 2. Korintherbrief aus mehreren ursprünglich selbständigen
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plant hatte. Sie sollte von Korinth auf dem direkten Weg ihren Bestimmungsort erreichen (1Kor 16,3). In diesem Fall hätten die Galater das bei ihnen gesammelte Geld in der Tat nicht in die Gesamtkollekte einfließen lassen, von der Paulus in Röm 15,25f spricht. Vgl. H. VON LIPS, Timotheus und Titus. Unterwegs für Paulus (Biblische Gestalten 19), Leipzig 2008, 115f. Vgl. D. SÄNGER, „Vergeblich bemüht“ (Gal 4,11)? Zur paulinischen Argumentationsstrategie im Galaterbrief, in: DERS., Von der Bestimmtheit des Anfangs. Studien zu Jesus, Paulus und zum frühchristlichen Schriftverständnis, Neukirchen-Vluyn 2007, 107–129; S. SCHEWE, Die Galater zurückgewinnen. Paulinische Strategien in Galater 5 und 6 (FRLANT 208), Göttingen 2005. Für eine Abfassung des Galaterbriefs noch vor dem 1. Korintherbrief plädieren u.a. MARTYN, Galatians (s. Anm. 36), 222–228; E. LOHSE, Paulus. Eine Biographie, München 1996, 178f, und jetzt POKORNÝ / HECKEL, Einleitung (s. Anm. 35), 228. Das Schweigen des Apostels in 1Kor 16,1 über den galatischen Konflikt ist zwar kein durchschlagendes Argument für die Spätdatierung des Galaterbriefs, bleibt aber gegen GEORGI, Kollekte (s. Anm. 54), 37 (mit Anm. 119), und J. FREY, Galaterbrief, in: O. WISCHMEYER (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen/Basel 2006, 192–216: 206, dennoch zu beachten. Nach G. THEIßEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 22001, 306f, könnte 1Kor 16,1 ein Indiz sein, dass die gravierenden Differenzen mit den Galatern schon lange ausgeräumt waren. Zudem verweist er auf die von der ganzen korinthischen Gemeinde ausgerichteten Grüße (Röm 16,23), die nichts mehr von dem tiefgreifenden Konflikt zwischen ihr und Paulus ahnen ließen. Doch ist die galatische Situation mit der in Korinth glücklich überwundenen nicht vergleichbar, wie allein die im Unterschied zu den übrigen Homologumena auffällige Formulargestaltung des Galaterbriefs (die eingangs erwähnten Mitarbeiter bleiben anonym; die adscriptio enthält keinerlei zusätzlichen Epitheta; die salutatio wird mit einer aus der Tradition stammenden Dahingabeformel verknüpft, an die sich eine Doxologie anschließt; statt dessen enthält das verfremdete Proömium einen scharfen Tadel und warnt vor der Hinwendung zu einem „anderen Evangelium“; im Postskript finden sich weder Grüße noch Grußaufträge, vgl. demgegenüber 1Kor 1,1f.4–9; 16,15–18.19–21; 2Kor 1,1.3–7; 13,12) und seine polemische Grundierung erkennen lassen.
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Schreiben bestehen, sind jedenfalls die Kapitel 8 und 9 früher als der Galaterbrief abgefasst worden61. Freilich ist damit zunächst nur ein chronologischer Rahmen abgesteckt und das sachlogische Verhältnis der beiden Notizen in 1Kor 16,1 und Gal 2,10 bestimmt. Man kann jedoch noch einen Schritt weitergehen. Außerhalb des Galaterbriefs, in dem Barnabas dreimal namentlich erwähnt wird (2,1.9.13) und darüber hinaus noch sechsmal in das inklusive „wir“ eingeschlossen ist (2,4f.9f), begegnet er in den unstrittig echten Paulusbriefen ausdrücklich nur noch 1Kor 9,6 (vgl. Kol 4,10). Dass er hier ohne nähere Erklärung als ein weiteres Beispiel für den Verzicht auf finanzielle Zuwendungen seitens der Gemeinden genannt wird, setzt bei den Korinthern ein vorgängiges Wissen über ihn und seine frühere Missionspartnerschaft mit Paulus voraus62. Nichts deutet darauf hin, sie hätten ihn persönlich gekannt. Deshalb ist die Annahme plausibel, Paulus selbst habe sie über Barnabas und die gemeinsame Tätigkeit informiert. Der eineinhalbjährige Aufenthalt in der Stadt (vgl. Apg 18,11) bot dazu reichlich Gelegenheit, was zusätzliche Informationsquellen nicht ausschließt. Zur dieser Zeit aber hatte sich Paulus von seinem wichtigsten Gefährten auf dem Weg vom syrischen Antiochien über Zypern nach Kleinasien (Apg 13,4–14,26) bereits getrennt. Ihre Partnerschaft gehörte der Vergangenheit an (Apg 15,36–40). Nun wird Barnabas auch im Galaterbrief unvermittelt und fast wie selbstverständlich eingeführt. Ihn näher vorzustellen erscheint anders, als es bei Titus der Fall ist (2,2f), überflüssig. Den Galatern wird Barnabas also bekannt gewesen sein. Die einfachste Antwort auf die Frage, woher denn, lautet: aus der gemeinsamen Arbeit mit Paulus während der Gründungsphase der galatischen Gemeinden63. An der Kollekte 61 62
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Vgl. U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken (s. Anm. 17), 293; SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 28f (beide halten aber an der literarischen Einheit des 2. Korintherbriefs fest). M. ÖHLER, Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte (WUNT 156), Tübingen 2003, 15. Auch B. KOLLMANN, Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte (SBS 175), Stuttgart 1998, 57, geht davon aus, Barnabas sei für die Korinther „eine namhafte Gestalt der Kirche gewesen“. Doch bezieht er die Notiz nicht auf die gemeinsame Missionsarbeit der beiden antiochenischen Gemeindedelegierten, sondern entnimmt ihr, Barnabas sei „weiterhin missionarisch tätig“ gewesen. Das wird zutreffen. Nur wissen wir von solchen Aktivitäten nichts, sieht man von der summarischen Notiz Apg 15,39 (vgl. aber Phlm 24; Kol 4,10) einmal ab. Erst die spätere Barnabas-Legende füllt diese Lücke. Mir ist fraglich, ob die Korinther über Barnabas’ Aktivitäten nach seiner Trennung von Paulus so gut unterrichtet waren, dass sie auch ohne ihn über Details wie z.B. den Unterhaltsverzicht Kenntnisse besaßen, an die sie erinnert werden konnten. So u.a. R.J. BAUCKHAM, Barnabas in Galatians, JSNT 2 (1979), 61–70; F. WATSON, Paul, Judaism and the Gentiles. A Sociological Approach (MSSNTS 56), Cambridge 1986, 56f; FREY, Galaterbrief (s. Anm. 60) , 203; ÖHLER, a.a.O., 27. Zusätzlich verweist Öhler
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war Barnabas jedoch nicht mehr beteiligt (vgl. Gal 2,10a: „wir sollten gedenken“ mit 2,10b: „ich habe mich bemüht“). Schon bald nach dem Jerusalemer Konvent gingen beide eigene Wege, vermutlich als Folge des antiochenischen Konflikts (Gal 2,11–14). Fazit: 1Kor 9,6 enthält eine Reminszenz an ein missionarisches Unternehmen, das maßgeblich von Paulus und Barnabas getragen wurde. Von einem solchen Unternehmen berichtet einzig Lukas. Nach Lage der Dinge kann es sich nur um die in Apg 13f geschilderte sog. 1. Missionsreise handeln. Dort erfahren wir auch, wann sie stattfand – vor dem Apostelkonvent64 – und wo ihr regionaler Schwerpunkt lag – im provinzgalatischen Süden. Die mehrfache Erwähnung des Barnabas im Galaterbrief ist ein starkes Indiz für die These, er sei den Empfängern kein Unbekannter gewesen. Da überdies jeder exegetisch oder historisch bzw. historiographisch belastbare Hinweis auf einen missionarisch ambitionierten Vorstoß in den Norden Galatiens fehlt65 und sonst immer eine „Kongruenz zwischen dem Gründungsbericht in der Apg
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auf die pluralische Formulierung w`j proeirh,kamen in Gal 1,9 (vgl. V.8: euvhggelisa,meqa), die er auf die gemeinsame Tätigkeit von Paulus und Barnabas bezieht. Anders die chronologische Rekonstruktion der Ereignisse bei SCHÄFER, Paulus auf dem Apostelkonzil (s. Anm. 31), 160–222.348–375.447–472.492f. Wie z.B. C.J. HEMER, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (WUNT 49), hg. v. C.H. GEMPF, Tübingen 1989, 247f, identifiziert sie Apg 11,27–30 mit dem Apostelkonvent Gal 2,1– 10 und datiert ihn um 40 n.Chr. Der antiochenische Zwischenfall unter Beteiligung von Petrus setze dessen erzwungenen Weggang aus Jerusalem voraus (Apg 12,17) und habe frühestens 41 n.Chr. stattgefunden. Seine Bedeutung dürfe aber nicht allzu hoch veranschlagt werden. Er habe zu keiner Entzweiung zwischen Paulus und Petrus oder Paulus und Barnabas geführt. Die beiden zuletzt Genannten hätten anschließend gemeinsam die sog. 1. Missionsreise unternommen (Apg 13f). Erst später, nach dem Apostelkonzil (15,1–35), dessen Ergebnis (15,23b–29) den antiochenischen Konflikt gegenstandlos gemacht habe, trennten sich die Wege von Paulus und Barnabas (15,36–41). Wieder anders ÖHLER, Barnabas (s. Anm. 62), 58–86. Er datiert den Apostelkonvent auf 46/47 n.Chr., an den sich die in Apg 13f beschriebene Mission – gemeinsam mit Barnabas – in Zypern und Südgalatien anschloss, die etwa ein Jahr dauerte. Danach erfolgte die Trennung, so dass Paulus anschließend ohne seinen früheren Gefährten von Antiochien aufbrach. Auf dieser 2. Missionsreise (ab 48/49) besuchte er erneut die galatischen Gemeinden (Gal 4,13, vgl. Apg 16,1–6), um dann über Makedonien nach Korinth zu gelangen, bis er schließlich wieder nach Antiochien zurückkehrte. Dort kam es 52 n.Chr. zum Konflikt (Gal 2,11–14), der zur Trennung von der Gemeinde führte. Im gleichen Jahr begann Paulus seine 3. Reise, wobei er wiederum in Galatien Station machte (Apg 18,23), um danach 2–3 Jahre in Ephesus zu verbringen. MITCHELL, Anatolia II (s. Anm. 46), 3f; D.-A. KOCH, Barnabas, Paulus und die Adressaten des Galaterbriefes, in: DERS., Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis – Ekklesiologie – Geschichte (NTOA 65), hg. v. F.W. HORN, Göttingen 2008, 299–317: 313f.316. Zu Recht fragt M. THEOBALD, Der Galaterbrief, in: M. EBNER / S. SCHREIBER (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 347–364: 355: „Warum z.B. reiste Paulus überhaupt in jenes ferne und nur mühsam zu erreichende Land im Inneren Kleinasiens (das Straßennetz dort bauten die Römer erst in flavischer Zeit aus ...)“.
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und den Empfängern“66 der paulinischen Briefe besteht, ist eine Entscheidung zugunsten der Landschaftshypothese mit einer doppelten Hypothek belastet. Man muss nämlich erstens unterstellen, die dort zu lokalisierenden Gemeinden seien auf einer Reise gegründet worden, von der die Apostelgeschichte nichts berichtet, und darüber hinaus zweitens mit der Schwierigkeit fertig werden, dass Paulus in diesem Fall die Christen im provinzgalatischen Süden später ignoriert hat, sofern man nicht von vornherein unterstellt, der lukanische Bericht in Apg 13,13–14,24 sei historisch unzuverlässig. Deshalb erscheint eine Lokalisierung der galatischen Gemeinden im südlichen Teil der Provinz am wahrscheinlichsten67. Bezieht man schließlich 1Kor 16,1 in die Überlegung mit ein und kombiniert diesen Vers mit Gal 2,10b, zeigt sich, dass es kein Junktim zwischen dem Gründungsaufenthalt und der Abfassungszeit des Galaterbriefs im Sinne einer Frühdatierung gibt. Sie ist auch durch Gal 1,6 nicht gefordert. Denn in dem Satz „Ich wundere mich, dass ihr euch so schnell abwenden wollt“, muss das ou[twj tace,wj sich nicht notwendig auf den Zeitpunkt des Weggangs von Paulus aus Galatien beziehen. Ebenso gut kann sie auf den Beginn der Aktivitäten referieren, die die Fremdmissionare in Galatien entfaltet haben. Dann wäre gemeint, dass die Galater „so schnell“ – nämlich schon bald nach dem Auftreten dieser Gruppe in den Gemeinden – im Begriff stehen, sich vom paulinischen Evangelium abzuwenden68. Bei diesem Ver66 67
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H. BOTERMANN, Paulus und das Urchristentum in der antiken Welt, ThR 56 (1991), 296–305: 303. Wo genau, muss freilich offen bleiben. Neben den in Apg 13f erwähnten Ortschaften kommen z.B. noch Apollonia, Neapolis, Laodicea Catacecaumene, Isaura Palaia (Leontopolis) und Isaura Nea (Isauropolis) in Frage. Dass es sich bei ihnen nicht um größere Städte handelt, auf die Paulus sich später konzentriert, könnte mehrere Gründe haben: 1) Zu dieser Zeit war er noch Delegat der antiochenischen Gemeinde und kein Missionar eigenen Rechts. Ein Ausgreifen auf Gebiete, die außerhalb von Kleinasien lagen, oder auf den westlichen Teil der römischen Provinz Asia (einschließlich Ephesus) war nicht geplant. 2) Möglicherweise spielt die Begegnung mit (Lucius ?) Sergius Paulus (vgl. CIL 6,31545), dem amtierenden Prokonsul von Zypern (Apg 13,7) eine Rolle. Dieser war mit dem pisidischen Antiochia eng verbunden. Seine Familie verfügte in Zentralanatolien über ausgedehnte Besitzungen, vgl. LEVICK, Roman Colonies (s. Anm. 38), 112; MITCHELL, Anatolia II (s. Anm. 46), 6–8. Er könnte die Gruppe um Paulus und Barnabas veranlasst haben, sich dorthin zu wenden (Apg 13,13f). 3) Gal 4,13f deutet an, dass Paulus krankheitshalber in Galatien festgehalten wurde. Anders freilich SCHÄFER, Paulus auf dem Apostelkonzil (s. Anm. 31), 63–65, die meint, mit dem Ausdruck avsqe,neia th/j sarko,j spiele der Apostel auf die „menschliche Armseligkeit und Dürftigkeit“ an und damit auf „sein grundsätzliches Ungenügen“, „eine wirklich der Botschaft adäquate Verkündigung des Evangeliums zu leisten“, ebd. 64. Dagegen spricht aber nicht zuletzt Gal 1,8f. Die Wendung ou[twj tace,wj metati,qesqe auf den Zeitpunkt der Annahme des Evangeliums zu beziehen, bereitet ebenfalls Schwierigkeiten. Denn das avpo. tou/ kale,santoj u`ma/j enthält kein zeitliches Moment, sondern macht darauf aufmerksam, in welche Gefahr die Galater sich begeben, wenn sie dem Ansinnen der Fremdmissionare Folge leisten: Sie fallen aus der Gnade dessen heraus, der sie berufen hat (vgl. 5,4).
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ständnis scheidet der Vers als textinterner Hinweis auf die Datierung des Galaterbriefs aus. Auf zwei gegen die Provinzhypothese erhobene Einwände69 gehe ich nur kurz ein. Der erste bezieht sich auf Phil 4,15. Dort verbinde Paulus den Beginn seiner eigenen Evangeliumsverkündigung mit der Gemeinde in Philippi, die er ausdrücklich als avrch. tou/ euvaggeli,ou bezeichne, und nicht mit den Gemeinden Galatiens, wie im Fall ihrer Lokalisierung im provinzgalatischen Süden zu erwarten sei70. Dieser Einwand setzt voraus, Paulus rede an der betreffenden Stelle vom Anfang seiner Evangeliumsverkündigung überhaupt. Das ist der Notiz aber nicht zu entnehmen – von der avrch, meiner Evangeliumsverkündigung spricht Paulus gerade nicht – und kann nach dem, was er in Gal 1,15f.23; 2,1f sagt, auch nicht gemeint sein. Deshalb ist hier speziell an den Anfang der Mission in Europa gedacht, die bei den Philippern begann71. Gewichtiger ist der zweite Einwand. Wenn die Galater ihr Christsein Paulus und Barnabas verdanken, müsste erklärt werden, warum Paulus sich im Galaterbrief als ihr alleiniger Gründungsapostel präsentiert und diesen Status für sich alleine beansprucht (4,12–20). Dazu nur so viel: Nach der negativen Erfahrung mit Barnabas (vgl. Gal 2,11–14) konnte sich ihre Identität als allein dia. pi,stewj VIhsou/ Cristou/ und nicht evx e;rgwn no,mou gerechtfertigte Völkerchristen (2,16, vgl. 3,2.5) aus Sicht des Apostels nur an ihm und seiner von dieser Überzeugung getragenen Verkündigung festmachen. Denn an diesem für alle Betroffenen so unerfreulichen Ereignis kann er demonstrieren, dass selbst Barnabas – und zwar in betontem Unterschied zu ihm – sich nicht an das Jerusalemer Abkommen gehalten hat, das aus paulinischer Sicht 69
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Pointiert vorgetragen von KOCH, Adressaten (s. Anm. 65), 308–310.314f. Er selbst legt den Gründungsaufenthalt in die zwei- bis dreijährige ephesinische Zeit, während der Paulus sich genötigt sehen konnte (vgl. Apg 19,23–40; 1Kor 15,32), die Stadt wie überhaupt die Provinz Asia zu verlassen und sich in eine Nachbarprovinz zu begeben. In diesem Fall sei es aber naheliegend, an Nordgalatien und nicht an Südgalatien zu denken, „wo ja ‚Christus schon längst verkündigt worden war‘ (vgl. Röm 15,20)“, a.a.O., 316. Abgesehen davon, dass man angesichts von Röm 1,15 („Was mich betrifft, so bin ich bereit, auch euch in Rom das Evangelium zu verkündigen“) aus 15,20 keinen prinzipiellen Verzicht auf die Evangeliumsverkündigung in einem Gebiet herauslesen darf, in dem bereits einzelne Christen oder christliche Gemeinden existierten, ist die „Nichteinmischungsklausel“ nur bei der Präferenz für die nordgalatische Hypothese ein Problem. Datiert man jedoch die galatische Mission in die Zeit der 1. Missionsreise, ist der Verweis auf Röm 15,20 von vornherein gegenstandslos. Vgl. J. GNILKA, Der Philipperbrief (HThK X/3), Freiburg u.a. 41987, 177. Ähnlich schon E. LOHMEYER, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (KEK IX), Göttingen 131964, 184f (er konzediert jedoch, die Wendung evn avrch/| tou/ euvaggeli,ou könne auch eine „etwas lockere Redeweise“ darstellen, ebd. 185). Vgl. U.B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/1), Leipzig 22002, 207.
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auf dem Konvent gleichsam gesamtkirchlich ratifiziert wurde und ein ivoudai
Das neutestamentliche Hapaxlegomenon begegnet außerjüdisch und -christlich nur bei Plutarch, Cic. 7,6 (864C), in der hellenistisch-jüdischen Literatur ist es ebenfalls selten: Est 8,17LXX; Josephus, Bell. 2,454.463. Für sich genommen muss ivoudai
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auf der von beiden gemeinsam durchgeführten sog. 1. Missionsreise gegründet worden sein, folglich auch nicht im provinzgalatischen Süden liegen. Zudem verliert die Landschaftshypothese durch den Wegfall zweier ihrer wichtigsten Stützpfeiler – der adscriptio in 1,2 und der direkten Anrede in 3,1 – an Überzeugungskraft. Ohne so weit zu gehen wie Martin Hengel und Anna Maria Schwemer, denen zufolge die alte Streitfrage zugunsten der Provinzhypothese mittlerweile entschieden ist73, hat dieser Lösungsvorschlag die größte Wahrscheinlichkeit für sich. Dann wären die galatischen Gemeinden im Verlauf der in Apg 13f geschilderten 1. Missionsreise, also noch vor dem Jerusalemer Apostelkonvent, gegründet worden, und zwar von Paulus und Barnabas74. Einen genauen Zeitraum anzugeben fällt schwer. Jedenfalls wird die Reise nicht allzu lang vor dem Apostelkonvent stattgefunden haben. In Bezug auf die galatischen Gemeinden bedeutet das: Ihre Gründung wird am ehesten in den Jahren 47/48 erfolgt sein75. Für dieses Datum spricht auch Apg 13,7, wenn man die Amtszeit des dort erwähnten Prokonsuls Sergius Paulus – sie wird wie zumeist üblich ein Jahr gedauert haben – zwischen 46 und 48 n.Chr. ansetzen darf76. Ob es später noch zu einem zweiten Besuch in den Gemeinden kam (Gal 4,13), ist möglich, aber nicht sicher. Paulus verweist im Galaterbrief mehrfach auf seine Erstverkündigung. Nimmt man diesen Sachverhalt ernst und registriert ihn nicht nur, wie es häufig geschieht, folgt daraus: Was der Apostel den galati73 74
75 76
HENGEL / SCHWEMER, Paulus (s. Anm. 27), 395. Es lassen sich noch weitere Beobachtungen anführen, die in diese Richtung weisen. Ich beschränke mich auf die beiden wichtigsten: 1) Im Verbund bestätigen Gal 2,1f.3.9, dass Paulus zusammen mit Barnabas bereits vor dem Apostelkonvent missionarisch tätig war. Die Wendung eivj ta. e;qnh in V.9 legt Nichtjuden als primäre Zielgruppe nahe. Nach dem Konvent treffen wir beide wieder im syrischen Antiochien an (2,13f). Und wiederum sind es Heidenchristen, mit denen sie Gemeinschaft haben. 2) 2Tim 3,11 nennt drei südgalatische Orte, in denen Paulus verfolgt wurde und Leiden durchgestanden hat. Der Reihenfolge nach sind es Antiochien, Ikonium, Lystra. Sowohl die hier vorausgesetzte Chronologie der Ereignisse als auch die Erwähnung von diwgmoi, und paqh,mata stimmen exakt mit den Angaben der Apostelgeschichte (13,50 [Antiochien]; 14,2.5f [Ikonium]; 14,19 [Lystra]) überein, vgl. 2Kor 11,25. Diese Konvergenzen stützen die Annahme, Lukas und der Verfasser des 2. Timotheusbriefs seien „unabhängig voneinander einer Überlieferung gefolgt, in der diese Grunddaten enthalten waren“, A. WEISER, Der zweite Brief an Timotheus (EKK XVI/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 2003, 270f. Im Übrigen ist gerade im Blick auf den Galaterbrief aufschlussreich, dass in 2Tim 3,11 nur von Paulus die Rede ist, obwohl Barnabas nach der lukanischen Darstellung mitbetroffen war. Lediglich in Apg 14,19 ist Paulus allein Opfer (Lystra). Vgl. HENGEL / SCHWEMER, Paulus (s. Anm. 27), 314.395f, und SCHÄFER, Paulus auf dem Apostelkonzil (s. Anm. 31), 492f. T.B. MITFORD, Roman Cyprus, ANRW 7/2 (1980), 1285–1384: 1301; R. METZNER, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar (NTOA/ StUNT 66), Göttingen 2008, 411.
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schen Gemeinden jetzt schriftlich mitteilt, ist eine auf die konkrete Situation bezogene anamnetische Vergegenwärtigung seines Evangeliums, das er anfänglich unter ihnen verkündigt hat. Die aktuelle Lage nötigt ihn jedoch dazu, gedanklich wie begrifflich neu zu akzentuieren, den Kontrast zur Position der in Galatien aktiven Fremdmissionare scharf herauszuarbeiten und die Basis seiner Argumentation zu erweitern. Das bedeutet dann zugleich: Der zentrale Inhalt und das spezifische Gepräge dessen, was er im Brief als die „Wahrheit des Evangeliums“ (2,5.14) bezeichnet und programmatisch entfaltet, unterscheidet sich prinzipiell nicht von dem, was er in seiner gemeindegründenden Predigt theologisch zur Sprache gebracht hat. Den ersten Anhaltspunkt liefert der Abschnitt 1,6–9. Eingangs betont Paulus: Neben dem Christusevangelium gibt es kein „anderes Evangelium“ (1,6f)77. Und eben dieses im brieflichen Hauptteil dezidiert rechtfertigungstheologisch explizierte Christusevangelium haben die Galater von ihm bereits empfangen, als er unter ihnen weilte (1,8f). Gleich zu Beginn des ersten Argumentationsgangs (3,1–4,7)78 und im unmittelbaren Anschluss an den diatribisch gehaltenen Themasatz von der Rechtfertigung (2,15–21) wird dann gesagt, wer Kriterium und alleiniger Inhalt des so bestimmten Evangeliums ist: Jesus Christus, der Gekreuzigte (3,1: VIhsou/j Cristo.j evstaurwme,noj, vgl. 6,12.14; 1Kor 1,18.23; 2,2)79. Indem Paulus ergänzend hinzufügt, er habe ihnen den Gekreuzigten damals „deutlich vor Augen gestellt“ (oi-j katV ovfqalmou.j ...
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J. SCHRÖTER, Die Einheit des Evangeliums: Erwägungen zur christologischen Kontroverse des Galaterbriefes und ihrem theologiegeschichtlichen Hintergrund, in: J. MRÁZEK / J. ROSKOVEC (Hg.), Testimony and Interpretation. Early Christology in Its Judeo-Hellenistic Milieu. Studies in Honor of P. Pokorný (JSNT.S 272), London/New York 2005, 49−67, interpretiert das e[teron euvagge,lion wegen des folgenden Relativsatzes o] ouvk e;stin a;llo (er übersetzt: „welches in Wahrheit gar kein anderes [ist]“, ebd. 60) in bonam partem. Ähnlich schon S.K. WILLIAMS, Galatians (Abingdon New Testament Commentaries), Nashville 1997, 39; A. STANDHARTINGER, „Zur Freiheit ... befreit“? Hagar im Galaterbrief, EvTh 62 (2002), 288−303: 289 (mit Anm. 9), und jetzt LÉMONON, L’ épître aux Galates (s. Anm. 31), 59. Abgesehen von weiteren Einwänden steht diesem Verständnis entgegen, dass in Gal 1,6f (wie übrigens auch in 3,4 und 4,9) die rhetorische Figur der metabolh, (Demetrius, Eloc. 148f) bzw. correctio (Rhet. ad Her. 4,36: correctio est, quae tollit id, quod dictum est; vgl. Cicero, Orat. 3,203) vorliegt. Zutreffend D.F. TOLMIE, Persuading the Galatians. A Text-Centered Rhetorical Analysis of a Pauline Letter (WUNT II 190), Tübingen 2005, 41: „The notion Paul wants to convey is that the opponents’ message is a different gospel which is not similiar to the real gospel. Thus: it is not to be considered as gospel at all! “. Zur Struktur und Gedankengang vgl. D. SÄNGER, „Das Gesetz ist unser paidagwgo,j geworden bis zu Christus“ (Gal 3,24). Zum Verständnis des Gesetzes im Galaterbrief, in: DERS., Von der Bestimmtheit des Anfangs (s. Anm. 59), 158−184, bes. 163ff. Vgl. O. HOFIUS, „Die Wahrheit des Evangeliums“. Exegetische und theologische Erwägungen zum Wahrheitsanspruch der paulinischen Verkündigung, in: DERS., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 17–37: 24 (mit Anm. 32).
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proegra,fh), erinnert er die Galater erneut an schon Bekanntes und ruft es in ihr Gedächtnis zurück. Vermutlich ist das auch in 5,3 der Fall: „Ich bezeuge aber nochmals (pa,lin) einem jeden Menschen, der sich beschneiden lässt, dass er verpflichtet ist, das ganze Gesetz zu halten“. Worauf sich das betont vorangestellte „nochmals“ bezieht, ist umstritten. Da im engeren Kontext eine entsprechende Referenz fehlt, kann Paulus nicht gemeint haben, er wiederhole hier, was er bereits vorher im Brief geschrieben hat80. Zwar ist sprachlich durchaus möglich, dass pa,lin hier fortführend gebraucht ist und einfach „weiterhin“ heißt81. Dann bezöge es sich auf die mit dem emphatischen evgw. Pau/loj le,gw (vgl. 2Kor 10,1) eingeleitete Aussage von V.2 zurück. Aber trotz der Stichwortverbindung perite,mnhsqe (V.2) peritemnome,nw| (V.3), wvfelh,sei (V.2) ovfeile,thj (V.3), die die sachliche Konvergenz beider Verse unterstreicht, unterscheiden sie sich inhaltlich wie funktional: V.3 weist sub voce poiei/n auf evn no,mw| dikaiou/sqe in V.4 voraus und stellt damit eine implizite Begründung der Apodosis in V.2b dar. Einige Ausleger nehmen deshalb an, Paulus denke an vergangene Ereignisse, die ihn veranlassten, das Beschneidungsproblem zu thematisieren. Genannt werden Antiochien (Apg 15,1) und Jerusalem (Gal 2,3–5, vgl. Apg 15,5)82. Adressat sind aber die Galater. Es ist also gut möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass Paulus genau sie im Blick hat und sie noch einmal wie bereits während seines Gründungsaufenthalts mit dieser Frage konfrontiert83. Dagegen lässt sich nicht einwenden, „bei den aus dem Heidentum kommenden Galatern (habe) keine Veranlassung“ bestanden, sie „über Wert oder Unwert der Beschneidung“84 aufzuklären. Im provinzgalatischen Süden sind jüdische Gemeinden vielfach belegt, literarisch und inschriftlich85. Paulus hatte demnach allen Grund, das Verhältnis des Evangeliums vom ge80
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Für D. KREMENDAHL, Die Botschaft der Form. Zum Verhältnis von antiker Epistolographie und Rhetorik im Galaterbrief (NTOA 46), Fribourg/Göttingen 2000, 54, und TOLMIE, Persuading the Galatians (s. Anm. 77), 180, indiziert das pa,lin, Paulus formuliere hier im Blick auf 3,10. Dort ist aber weder speziell von der Beschneidung die Rede noch wie in 5,3 davon, dass die Verpflichtung auf ein Gebot der Tora Bindewirkung für alle übrigen hat. So etwa Röm 15,10−12; 1Kor 3,20, vgl. auch Joh 12,39; 19,37; Hebr 1,5; 2,13; 10,30. Vgl. MUßNER, Galaterbrief (s. Anm. 36), 347. Erwogen auch von BETZ, Galaterbrief (s. Anm. 36), 443 (mit Anm. 54). Mit DE WITT BURTON, Galatians (s. Anm. 36), 274f (er verweist zusätzlich auf 1,9; 4,16); SIEFFERT, Galater (s. Anm. 31), 303; U. BORSE, Der Brief an die Galater (RNT), Regensburg 1984, 180; BECKER, Galater (s. Anm. 36), 76. So MUßNER, Galaterbrief (s. Anm. 36), 347. P.R. TREBILCO, Jewish Communities in Asia Minor (MSSNTS 69), Cambridge 1991, 21−24.201f; D. SÄNGER, Heiden – Juden – Christen. Erwägungen zu einem Aspekt frühchristlicher Missionsgeschichte, in: DERS., Von der Bestimmtheit des Anfangs (s. Anm. 59), 185−212: 193.
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kreuzigten Jesus Christus zum Gesetz zu klären, gerade auch in Bezug auf die Beschneidung. Nach dem Exil und dann vor allem seit der makkabäischen Krise galt sie als das Kennzeichen jüdischer Identität86. M.a.W., die aus der Beschneidung resultierenden Konsequenzen für die Gesetzesproblematik und mit ihnen die rechtfertigungstheologisch fundierte paulinische Antwort, wie sie im Galaterbrief ausführlich entfaltet und begründet wird, gehören bereits zum Wissensbestand der Galater, noch bevor der Brief in ihren Gemeinden verlesen wurde. Gestützt wird diese Annahme durch 2,16: „Wir wissen aber: Der Mensch wird nicht aus Werken des Gesetzes gerechtfertigt, sondern (nur)87 durch den Glauben an Jesus Christus; auch wir sind zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir aus Glauben an Christus gerechtfertigt werden und nicht aufgrund von Werken des Gesetzes; denn aus Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtfertigt werden“. Dieser Vers ist Bestandteil der an Petrus gerichteten Rede. Sie umfasst 2,14d–21 und bildet formal eine Einheit. Mit ihr reagiert Paulus auf das Verhalten von Petrus/Kephas, Barnabas und „den übrigen Judenchristen“ (oi` loipoi. VIoudai/oi), die nach dem Eintreffen der Jakobusleute in Antiochien die Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen aufgekündigt hatten (2,11–14). Ob und inwieweit Paulus den ursprünglichen Wortlaut der Rede wiedergibt und wo seine auf die galatische Situation bezogene Reflexion des Vorfalls beginnt, muss letztlich offen bleiben88. Wichtiger ist etwas anderes. V.16 ist nicht ad hoc formuliert. Die Einleitung: „Wir wissen aber“ ist ein kommunikatives Signal und hat, textpragmatisch gesehen, zugleich rezeptionssteuernde Funktion. Sie zeigt an, dass es sich bei dem nun folgenden Satz um eine „Kon-
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A. BLASCHKE, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte (TANZ 28), Tübingen/Basel 1998, 64ff.108ff. Die Partikel eva.n mh, ist hier wie das eiv mh, in 1,7 (vgl. bei Paulus noch Röm 14,14; 1Kor 7,17) streng adversativ zu verstehen – sachlich entspricht sie dem Ausdruck cwri.j ([e;rgwn] no,mou) in Röm 3,21.28 – vgl. SIEFFERT, Galater (s. Anm. 31), 144; BRUCE, Galatians (s. Anm. 36), 138; SCHLIER, Galater (s. Anm. 36) 92 (mit Anm. 6); H. RÄISÄNEN, Galatians 2.16 and Paul’s Break with Judaism, in: DERS., The Tora and Christ (s. Anm. 33), 168−184: 177f; D. HUNN, vEa.n mh, in Galatians 2:16: A Look at Greek Literature, NT 49 (2007), 281−290, und nicht exzeptiv, so u.a. LONGENECKER, Galatians (s. Anm. 36), 83f; J.D.G. DUNN, The New Perspective on Paul, in: DERS., The New Perspective on Paul (s. Anm. 10), 89−110: 96.102f; F. VOUGA, An die Galater (HNT 10), Tübingen 1998, 58f; A.A. DAS, Another Look at eva.n mh, in Galatians 2:16, JBL 119 (2000), 529−539. Dass eva.n mh, eliptisch gebraucht sei und den übergeordneten Satz inkludiere, so V. JEGHER-BUCHER, Der Galaterbrief auf dem Hintergrund antiker Epistolographie und Rhetorik (AThANT 78), Zürich 1991, 175 (mit Anm. 111), ist eine sprachliche Petitio. Die Art, wie Paulus knapp und ohne weitere Erklärung in 2,11 von Jerusalem nach Antiochien wechselt, lässt m.E. auf die Kenntnis des Konfliktes und der mit ihm verbundenen Personen in den galatischen Gemeinden schließen.
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sensaussage“89 handelt. Paulus beruft sich auf anerkanntes Wissen90, das er mit Petrus und den Judenchristen Antiochiens teilt. Auf der Textebene inkludiert das betonte „wir“ von 2,15−17 zwar nur Paulus und die unmittelbar Angesprochenen. Doch zielt die Pragmatik der Rede auf die mehrheitlich heidenchristlichen Galater. Was für die fu,sei VIoudai/oi gilt, gilt für sie ebenfalls. Das h`mei/j ... eivdo,tej schließt daher, wie spätestens 3,1b (vgl. 2,19f) erkennen lässt, die Briefempfänger mit ein. Seine prinzipielle Gültigkeit wird durch das im zeitlosen Präsens gehaltene Passivum divinum dikaiou/tai, das nicht determinierte generische a;nqrwpoj (vgl. Röm 3,28; 1Kor 4,1; 11,28) und das universalisierende pa/sa sa,rx (V.16fin.) noch eigens unterstrichen. Wie Barnabas und „die übrigen Judenchristen“ hat auch Petrus dieses Wissen bereits praktisch werden lassen. Er isst mit Nichtjuden und verstößt damit gegen ein elementares Gebot der Reinheitshalacha91. Er lebt also, woran Paulus ihn erinnert, wie ein Heide92. Wohl nicht erst in Antiochien. Soll man sich vorstellen, Titus sei hinausgeschickt und vor die Tür gesetzt worden, als die in Jerusalem versammelten Konventsteilnehmer – darunter Paulus und die stu/loi Jakobus, Kephas/Petrus, Johannes (Gal 2,9) – zusammen aßen93? Das von Paulus in V.16 eingespielte Wissen wird durch zwei basale Annahmen charakterisiert, die in Opposition zueinander stehen, strukturell aber eine Einheit bilden: „allein aus Glauben an Jesus Christus“, „ohne menschliches Verdienst“. Dieser „Basissatz“94 hat eine Vorgeschichte. Er datiert aus der Zeit vor dem Apostelkonvent und weist in 89
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BECKER, Paulus (s. Anm. 34), 101.303f. Vgl. A. DAUER, Paulus und die christliche Gemeinde im syrischen Antiochien (BBB 106), Bonn 1996, 111ff; M. THEOBALD, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche?, in: DERS., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 164−225, bes. 183−185. Dass Paulus in V.16a wie im vorhergehenden Nominalsatz h`mei/j fu,sei VIoudai/oi kai. ouvk evx evqnw/n a`martwloi, auf jüdisches Wissen referiere, so SCHÄFER, Paulus bis zum Apostelkonzil (s. Anm. 31), 254, ist wegen des Fortgangs eva.n mh. dia. pi,stewj VIhsou/ Cristou/, der ebenfalls zu dem in Erinnerung gerufenen Wissensbestand gehört, m.E. ausgeschlossen. Vgl. Dan 1,8; Jub 22,16; Tob 1,10f; Jdt 12,1−4; 3Makk 3,4; 7,11; JosAs 8,5; Josephus, Ant. 4,137; 13,243; bSan 104a; Joh 4,9 u.ö. Das präsentisch formulierte evqnikw/j zh/|j impliziert, „that Peter (and perhaps Barnabas and the other Jews in Antioch) sat rather loose to the requirements of Torah more generally as well“, S.J. GATHERCOLE, The Petrine and Pauline Sola Fide in Galatians 2, in: M. BACHMANN (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005, 309−327: 321. Auch das Imperfekt sunh,sqien weist darauf hin, dass Petrus regelmäßig Tischgemeinschaft meta. tw/n evqnw/n hat (V.12a). Vgl. SCHLIER, Galater (s. Anm. 36), 83; BETZ, Galaterbrief (s. Anm. 36), 210. Vgl. PH.F. ESLER, Galatians (New Testament Readings), London/New York 1998, 130; GATHERCOLE, a.a.O., 315. THEOBALD, Kanon (s. Anm. 89), 164.
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die Jahre zurück, in denen die antiochenische Gemeinde zur offenen Heidenmission übergegangen ist95. Jetzt konnten auch Nichtjuden ohne sich vorher beschneiden lassen zu müssen Mitglieder werden (Apg 11,20f). In dieser formativen Phase der praktischen Vergleichgültigung des Gesetzes96 – gemeint ist: für Christen aus den e;qnh sind „Werke des Gesetzes“ kein Bedingungsfaktor, der über ihr Christwerden und -sein entscheidet97 – kam Paulus nach Antiochien und gehörte bald zu den führenden theologischen Repräsentanten der dortigen „Christianer“ (Apg 11,26). Dass er selbst in und im Umkreis seiner jetzigen Heimatgemeinde missionierte und dabei auf die Beschneidung verzichtete, ergibt sich aus Gal 2,1−3.9. Zusammen mit Barnabas gründete er als antiochenischer Delegat auf der sog. 1. Missionsreise die galatischen Gemeinden. Hier setzten beide konsequent fort, was sie in Antiochien begonnen hatten. Die christusgläubigen Galater mussten sich weder beschneiden lassen noch wurden sie auf das Einhalten der jüdischen Speise- und Reinheitsgebote verpflichtet (vgl. Gal 2,2f.6.11−14). Das heißt aber zugleich: Der in Gal 2,16 zum Ausdruck gebrachte Kerngedanke der Rechtfertigungslehre: „allein aus Glauben an Jesus Christus“, dem die kontrastive Wendung „ohne menschliches Zutun“, konkret: „ohne Werke des Gesetzes“ exakt entspricht, hatte sich Paulus schon lange vor der Zeit seiner literarischen Wirksamkeit erschlossen und steckte den Rahmen ab, innerhalb dessen sein theologisches Denken sich bewegte. Damit ist nicht mehr, aber auch nicht weniger gesagt, als dass die konnektive Struktur von Rechtfertigungs- und Gesetzesthematik zu den zentralen theologischen Einsichten des „antiochenischen“ Paulus gehört. Mit dem Galaterbrief liegt uns zwar das früheste Zeugnis der paulinischen Rechtfertigungslehre im eigentlichen Sinne des Wortes vor. Er bietet aber keine Handhabe für die These, sie verdanke sich einzig der nomistischen Frontstellung, auf die der Apostel 95
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In diesem Fall lässt er sich am ehesten als missionstheologischer „Grundentscheid“ verstehen, BECKER, Paulus (s. Anm. 34), 101.294ff. CH. BURCHARD führt dieses „christliche Urgestein“ sogar auf den Kreis der „Hellenisten“ um Stephanus in Jerusalem zurück und vermutet „die Erinnerung an bestimmte Züge des Wirkens Jesu ... (als) Erfahrungshintergrund“, Nicht aus Werken des Gesetzes gerecht (s. Anm. 72), 234.237. Matrix dieses Lehrsatzes wäre dann nicht mehr die Heidenmission, sondern der innerjüdische Konflikt zwischen zwei Reformbewegungen: den pharisäisch gesinnten Rigoristen, die wie der vorkonversionelle Paulus die Rechtfertigung von einem strikten Toragehorsam abhängig machten, und den christusgläubigen Juden, die im Glauben an Jesus den Grund für die Rechtfertigung ganz Israels sahen. Mit Paulus’ Christophanie vor Damaskus verbinden den Satz HENGEL / SCHWEMER, Paulus (s. Anm. 27), 162ff. Dass der Verzicht auf die Beschneidung erst relativ spät und fast beiläufig erfolgt sei, wie E. RAU, Von Jesus zu Paulus. Entwicklung und Rezeption der antiochenischen Theologie im Urchristentum, Stuttgart 1994, 81−83, meint, sehe ich nicht. Vgl. THEOBALD, Kanon (s. Anm. 89), 185.
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reagiert, und reflektiere sachlich wie biographisch ein spätes Stadium seiner Theologie. Das Gegenteil ist richtig. Bei seinem Gründungsaufenthalt in Galatien hat Paulus die Koordinaten der Rechtfertigungslehre bereits ausgezogen, ohne dass sie damals durch eine judenchristliche Opposition in den Gemeinden veranlasst worden wäre. Gewiss hat die galatische Krise als Katalysator gewirkt. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, die christologisch-soteriologischen Implikationen der in 2,16 formulierten doppelten Grundannahme inhaltlich zu profilieren, im Blick auf die Gesetzesproblematik konzeptionell weiterzuentwickeln und von der Schrift her abzusichern. Das Ergebnis dieser Denkanstrengungen sind der Galaterbrief und dann vor allem der Römerbrief. Beide geben überdies zu erkennen, dass die Rechtfertigungslehre keineswegs und schon gar nicht notwendig in ein ethisches Vakuum führt (vgl. Gal 5,13–6,10; Röm 12,1–15,13). Denn für Paulus ist der vom Evangelium gewirkte Glaube als solcher pi,stij diV avga,phj evnergoume,nh (Gal 5,6). Die Verweisbezüge auf seine rechtfertigungstheologisch grundierte Erstverkündigung in den galatischen Gemeinden stützen die These, das so bestimmte Evangelium habe für den Apostel konstitutive Bedeutung und gehöre zur Tiefenstruktur des paulinischen Denkens. Dieser Sachverhalt bestätigt sich, wenn man den Bogen weiter spannt und die übrigen Briefe mit einbezieht. Ich beschränke mich auf einige wenige Hinweise. In 1Thess 1,10 ist vom kommenden Zorngericht (ovrgh,) die Rede, vor dem „uns“ Jesus, den Gott von den Toten auferweckt hat, errettet. Im ersten Hauptteil des Römerbriefs (1,18–3,20) zeigt Paulus auf, dass und warum alle Menschen dem eschatologischen Gericht (ovrgh,)98 verfallen sind, um anschließend (3,21–4,25; 5,1–8,39) darzulegen, dass die in Jesus Christus offenbarte Gerechtigkeit Gottes den an Christus Glaubenden schon jetzt zugeeignet ist (5,1) und ihren Freispruch im Endgericht verbürgt (4,24). Hier wie dort verbindet sich mit der Gerichtsthematik eine am Christusgeschehen orientierte soteriologische Perspektive. Ihre im ältesten und jüngsten Paulusbrief festgehaltene konnektive Struktur spricht dafür, dass der Apostel „bereits im 1Thess eine Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes voraussetzt“99. Innerhalb der Dreierreihe e;rgon th/j pi,stewj, ko,poj th/j avga,phj, u`pomonh. th/j evlpi,doj (1Thess 1,3, vgl. 5,8) ist die erste Wendung insofern 98 99
Vgl. 1,18; 2,5; 3,5; 5,9; 12,19. Das avpokalu,ptetai in 1,18 hat futurische Bedeutung. CH. LANDMESSER, Umstrittener Paulus. Die gegenwärtige Diskussion um die paulinische Theologie, ZThK 105 (2008), 387−410: 401. Vgl. TH. SÖDING, Der Erste Thessalonicherbrief und die frühe paulinische Evangeliumsverkündigung. Zur Frage einer Entwicklung der paulinischen Theologie, in: DERS., Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie (WUNT 93), Tübingen 1997, 31−55, bes. 50ff.
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auffällig, als Paulus nur an dieser Stelle beide Nomina miteinander verknüpft. Hingegen findet sich bei ihm das Syntagma e;rga no,mou gleich mehrfach100 (vgl. Röm 2,15: e;rgon tou/ no,mou). Bedenkt man nun, dass der argumentative Duktus von Gal 3,1–4,7 sich an den Oppositionsbegriffen pi,stij und no,moj des Basissatzes von 2,16a orientiert101 und beide in Röm 3,27f und 9,32 ein Antonymenpaar bilden, liegt die Vermutung nahe, „dass Paulus in 1Thess 1,3 pi,stij bewusst an die Stelle von no,moj gesetzt hat, um anzuzeigen, daß der Glaube das Gesetz abgelöst hat“102. In 1Kor 15,55f verbindet der Apostel wie selbstverständlich Sünde, Gesetz und Tod miteinander, ohne ihr Zuordnungsverhältnis näher zu erläutern. Das erscheint ihm auch nicht nötig. Offensichtlich geht er davon aus, den Korinthern erschließe sich das Gemeinte aus dem brieflichen Kontext und nicht zuletzt aus dem, was er ihnen an theologischer Einsicht während seines Gründungsaufenthalts vermittelt hat. Das in V.54b und V.55 eingespielte Mischzitat, eine Kombination aus Jes 25,8/Hos 13,14, wird dann in V.56f interpretiert: Der personifiziert vorgestellte Tod benutzt die Sünde als Herrschaftsinstrument, die wiederum mit Hilfe des Gesetzes ihre Macht ausübt (V.56). Durch Jesus Christus werden „wir“ (V.57) aus der Gewalt von Sünde und Gesetz befreit103. Nun wird Christus in 2,2 analog zu Gal 3,1 ausdrücklich als der Gekreuzigte prädiziert (vgl. 1,18ff; 2,8), in dem Gott die Weltweisheit zur Torheit gemacht hat (1,27ff), damit niemand sich ihrer rühmen kann (V.29), und der uns von Gott her zur Gerechtigkeit geworden ist (V.30). Der Begriff ist hier soteriologisch zu verstehen. Gemeint ist das „uns“ rechtfertigende Handeln Gottes „in Christus“ (V.30), konkret: in der Taufe (vgl. 6,11). Auf der makrotextuellen Ebene werden also Christus und Rechtfertigung auf der einen Seite sowie die Errettung aus der unheilvollen Allianz von Sünde, Gesetz und Tod durch Christus auf der anderen Seite zusammen gedacht. Ist das so weit von dem entfernt, was Paulus in Röm 6 ausführt? Gewiss ist die paulinische Theologie kein erratischer Block, sondern Theologie im Vollzug. Sie hat sich entwickelt. Ob man aber von grund100 evx e;rgwn no,mou: Gal 2,16 (3mal); 3,2.5.10; Röm 3,20; cwri.j e;rgwn no,mou: Röm 3,28. Sachlich entsprechen beiden Ausdrücken ihre jeweilige Kurzform evx e;rgwn: Röm 4,2; 9,12.32; 11,6) und cwri.j e;rgwn: Röm 4,6. Vgl. auch Röm 3,27. 101 Vgl. SÄNGER, Gesetz (s. Anm. 78), 167−176. 102 A. LINDEMANN, Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: DERS., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche (s. Anm. 4), 90–114: 94. 103 Das wohl futurisch zu verstehende Präsenspartizip dido,nti (vgl. V.56: genh,setai) ist semantisch aber offen für einen Bezug auf die Gegenwart. Vgl. G. SELLIN, Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine exegetische und religionsgeschichtliche Untersuchung von 1 Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, 228: „Die Wirkung des Kerygmas, das Leben, ist jetzt schon Wirklichkeit“.
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legenden „Wandlungen“ sprechen kann, die zu „jeweils essentiell neuen Aussagen“104 geführt haben, erscheint – jedenfalls im Blick auf die Rechtfertigungslehre – durchaus zweifelhaft. Ferdinand Hahn hat m.E. das Richtige gesehen. Er resümiert: „Es trifft keinesfalls zu, dass die Rechtfertigungslehre erst in einer späteren Lebensphase im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit judaisierenden Gegnern ausgebildet worden ist. Sie begegnet auch nicht nur im Galater- und im Römerbrief, sondern ebenso in wichtigen Aussagen der Korintherbriefe und des Philipperbriefs. Dabei zeigen die meist kurzen Aussagen außerhalb des Galater- und Römerbriefs, dass Paulus eine Kenntnis der Rechtfertigungsbotschaft in seinen Gemeinden voraussetzt. Das schließt nicht aus, dass es bei der von Anfang an für Paulus zentralen Rechtfertigungslehre zu weiteren Explikationen gekommen ist, aber hier von einer ‚Wandlung‘ oder ‚Entwicklung‘ der paulinischen Theologie zu sprechen, ist unzutreffend“105. Es lohnte sich, unter dem Aspekt von „Kontinuität und Wandel“ bzw. „Kontinuität vs. Wandel“ auch die übrigen strittigen Themen (z.B. die paulinischen IsraelAussagen) erneut in den Blick zu nehmen und das Entwicklungsparadigma auf seine Tragfähigkeit – historisch, traditionsgeschichtlich, sachlogisch – hin zu überprüfen. Welche Perspektiven sich daraus für eine Gesamtrekonstruktion der paulinischen Theologie ergeben, ist freilich eine noch offene Frage.
104 SCHNELLE, Wandlungen (s. Anm. 27), 76. 105 F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments, Bd. I: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2002, 245f.
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Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth: Versuch einer Einheitsdeutung* Gerd Theißen Auf seiner letzten Missionsreise, die ihn bis nach Korinth führte, folgten Paulus in Galatien, Philippi und Korinth Gegenmissionare. Sie stürzten seine Gemeinden in eine Krise, aber ihnen verdanken wir einige der wichtigsten paulinischen Briefe. Für diese Gegner des Paulus wurden in der Geschichte der Exegese teils Einheitsdeutungen als Judaisten oder Gnostiker vorgeschlagen, teils aber differenzierende Deutungen, die in jeder Gemeinde Gegner verschiedenen Typs wirksam sehen. F. Chr. Baur1 deutete die Gegner durchgehend als Judaisten, d.h. als Vertreter der Petruspartei, die in Konflikt mit der heidenchristlichen Pauluspartei stand. Diese Deutung ist für Gal und Phil plausibel. Denn hier insistieren die Gegner auf jüdischen Identitätsmerkmalen wie Beschneidung und Speisegebote. Sie ist für die Korintherbriefe schwieriger. Einerseits scheint es in 1Kor vier Parteien zu geben, andererseits fordern die Gegner im 2Kor nicht die Übernahme von Beschneidung und Speisegeboten. F. Chr. Baur meinte jedoch, die vier Parteien in 1Kor 1–4 auf zwei reduzieren zu können: Zwischen den Anhängern des Apollos und Paulus gäbe es keine Unterschiede. Beide gehörten zur heidenchristlichen Pauluspartei. Ihr stünde die Petruspartei gegenüber, die sich direkt auf Christus beruft, zu dem Petrus im Unterschied zu Paulus ein unmittelbares Verhältnis habe. Petrus- und Christuspartei bildeten daher nur eine Partei. Durch diese Reduktion von vier auf zwei Parteien war es leichter, auch die Gegner in Korinth in die antipaulinische Einheitsfront einzureihen – unter der Voraussetzung, dass hinter allen Parteien ein Konflikt zwischen einer Petrus- und Pauluspartei steht. Richtig gesehen ist die Nähe der Paulus- und Apollospar* 1
Mit diesem Aufsatz grüße ich U.B. MÜLLER. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war die Pluralität und Geschichte theologischer Entwicklungen im Urchristentum. F.CHR. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom [1831], in: F.CHR. BAUR, Historisch-kritische Untersuchungen zum Neuen Testament. Ausgew. Werke hg. v. K. SCHOLDER, Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, 1–146.
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tei. Paulus und Apollos arbeiten zusammen, nur ihre Anhänger spielen sie gegeneinander aus. Richtig gesehen ist auch, dass die Petruspartei zu ihnen in Spannung steht. Eine alternative Einheitsdeutung wurde von W. Schmithals vertreten.2 Er sah hinter allen Gegnern gnostische Missionare und gnostische Theologie. Das ist für die Korintherbriefe aber nur unter einer bestimmten Voraussetzung plausibel, wenn man die religionsgeschichtliche Annahme einer frühen Gnosis schon im 1. Jh. n.Chr. teilt. Dann kann man hinter der korinthischen „Weisheitstheologie“ einen gnostischen Mythos sehen und im korinthischen Enthusiasmus ein gnostisches Vollmachtsbewusstsein, das sich seiner Einheit mit der himmlischen Welt gewiss ist. Schwerer aber ist es, diese Sicht für Gal und Phil durchzuführen. Man muss die Berufung des Apostels unmittelbar von Gott für eine typisch gnostische Vorstellung halten, muss die Beschneidung als Symbol für die Befreiung vom Fleisch umdeuten und einen gnostischen Kult der Weltelemente postulieren, – vor allem aber muss man annehmen, Paulus habe seine Gegner missverstanden und sie irrtümlicherweise als Judaisten bekämpft, obwohl sie in Wirklichkeit Gnostiker waren.3 Abgesehen davon wird die gnostische Deutung auch für die Korintherbriefe kaum vertreten, da sich die Gnosis später entwickelt hat. Relativ einheitlich ist eine Interpretation, die älter als die gnostische Einheitsdeutung ist, aber wie eine Synthese zwischen ihr und der Deutung auf Judaisten wirkt: die Zwei-Frontentheorie von W. Lütgert. 4 So wie Luther gegen die „Papisten“ auf der einen Seite, gegen die „Schwarmgeister“ auf der anderen Seite kämpfte, sah Lütgert als Gegner des Paulus Judaisten auf der einen, Enthusiasten auf der anderen Seite. Die Judaisten sind Gegner des Paulus, die von außen in die Gemeinde eindringen, die Enthusiasten sind Schüler des Paulus in den Gemeinden, die seine Botschaft besser zu verstehen glaubten als er selbst. In der Tat sind extern und intern verursachte Probleme zu unterscheiden. Es liegt nahe, für diese beiden Konflikttypen die von W. Lütgert vorgeschlagene „Zwei-Fronten-Deutung“ der Gegner des Paulus 2
3 4
W. SCHMITHALS, Die Gnosis in Korinth (FRLANT 48), Göttingen 31969; DERS., Die Häretiker in Galatien, ZNW 47 (1956), 25–67 (= DERS., Paulus und die Gnostiker. Untersuchungen zu den kleinen Paulusbriefen [ThF 35], Hamburg-Bergstedt 1965, 9–46; DERS., Die Irrlehrer des Philipperbriefes, in: DERS., Paulus und die Gnostiker, 47–87. PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 121, spottet zu Recht: „Paulus ist schlecht informiert, Schmithals aber ist bestens informiert, und zwar durch den Gal des schlecht informierten Apostels“. W. LÜTGERT, Freiheitspredigt und Schwarmgeister in Korinth (BFChTh 12,3), Gütersloh 1908; DERS., Gesetz und Geist. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Galaterbriefes (BFChTh 22,6), Gütersloh 1919; DERS., Die Vollkommenen in Philippi und die Enthusiasten in Thessalonich (BFChTh 13,6), Gütersloh 1909.
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abzuwandeln: Die von außen eindringenden Gegenmissionare sind eher Judenchristen und betonen ihre jüdische Herkunft, verlangen oft, wenn auch nicht immer, die Einhaltung von Speisegeboten und Beschneidungspflicht. Die in den Ortsgemeinden sich formierende Gruppen sind dagegen eher „enthusiastische“ Heidenchristen, Anhänger der Botschaft des Paulus, die den Geist als Befreiung aus der Enge ihres Lebens erfahren haben. Wegen möglicher Wechselwirkungen zwischen von außen importierten Problemen und inneren Spannungen stellt sich dabei immer wieder die Frage: Wie viel „Enthusiasmus“ brachten die Gegenmissionare mit, so dass sie in den Gemeinden positiv aufgenommen wurden? Und umgekehrt: Wie viel jüdische Traditionen waren noch in den Gemeinden lebendig, so dass von außen kommende Judaisten in ihnen Resonanz finden konnten? Die meisten Exegeten vertreten keine Einheitsdeutung, sondern bevorzugen differenzierende Deutungen. Die folgende Tabelle zeigt, wie verwirrend die Lage ist – selbst wenn man sich auf die von außen kommenden Gegenmissionare in Gal, Phil 3 und 2Kor 10–13 beschränkt und nur eine Auswahl an Thesen berücksichtigt.
Galatien
5 6 7 8 9
W. G. Kümmel5
Ph. Vielhauer6
J. Becker7
U. Schnelle8
J. Sumney9
Die Gegner sind „auf alle Fälle gesetzestreue Judenchristen, und dass man ihnen daneben noch synkretistische Züge zuschreiben muss, ist nicht sicher.“ (262f)
Die Gegner sind „Judaisten“ in Analogie zu den Gegnern auf dem Apostelkonzil und in Antiochien, ohne dass ihr geschichtliches Verhältnis klar ist. (123f)
Die Gegner sind „Judaisten“ mit dem „Missionsziel, alle Christen ins Judentum zu integrieren“ (282). Sie sind auf dem Apostelkonvent unterlegen. (280)
Die Gegner sind „judenchristliche Missionare (strenger Provenienz)“ (121) und stammen aus Palästina. (123)
Die judais– tischen Gegner verlangen Beschneidung, wahrscheinlich keine Speisegebote. Erst Paulus macht sie durch sei– nen Brief zu Gegnern. (134159)
W.G. KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 201980. PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975. J. BECKER, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002. J.L. SUMNEY, ‘Servants of Satan’. ‘False Brothers’ and Other Opponents of Paul (JSNT.S 188), Sheffield 1999.
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Philippi
Es ist nicht möglich, „ein klares Bild der Irrlehrer zu gewinnen“ – nur dass sie die zum En– thusiasmus neigende Gemeinde gefährden. (288)
Die Gegner sind „judai– sierende Gnostiker jüdischer Herkunft“. (165)
In Philippi tritt dieselbe antiheidenchristliche Gegenmission auf wie in Galatien.
Sie sind hel– lenistischjudenchristliche Missionare ..., die judaistische und enthusiastische Elemente miteinander verbinden“. (164)
Sie könnten die Gegner in Galatien sein, die sich in ihrer Opposition inzwischen aufgrund des Galaterbriefs verhärtet haben. (160– 187)
Korinth
Die Gegner betreiben „eine gnostischpalästinischjudenchristliche antipaulinische Opposition“ (248). Sie sind neu gegenüber 1Kor.
Die Gegner sind „Gnostiker bzw. gnostisierende Pneu– matiker ähnlich denen des 1Kor“. (150) Sie sind aber gegenüber den Gegnern im 1Kor neu eingedrungen.
Die Gegner sind „Enthusiasten, die die Korinther gegen Paulus und seine Kreuzestheologie unterstützen“ (236). Sie würden mit Paulus Beschneidung und Gesetzesobservanz ablehnen – wären also Gegner der Judaisten.
Die Gegner sind „urchristliche Wandermissionare jüdischhellenistischer Herkunft, die sich durch Wundertaten und Reden als wahre Apostel und Geistträger auszuzeichnen versuchen.“ (108)
Die Gegner machen die für einen Apostel angemessene Lebensweise zum Streitpunkt (Manifestationen des Geistes und Unterhaltsrecht) – im 1Kor als Streit ihrer Anhänger, im 2Kor als Streit mit den Gegenmissionaren selbst. (33– 133)
Die Mannigfaltigkeit der Deutungen konnte bisher nicht durch methodologische Überlegungen reduziert werden:10 Konsens ist, dass immer von direkten Aussagen über die Gegner auszugehen ist. Erst dann können Anspielungen und Gegenthesen ausgewertet werden. Dabei wurde oft eine „spiegelbildliche Lektüre“ von Behauptungen des Paulus abgelehnt: Wenn Paulus etwa behauptet, er sei noch nicht vollkommen (ouvc o[ti ... h;dh tetelei,wmai Phil 3,12), könne man daraus nicht ein Vollkommenheitsbewusstsein der Gegner erschließen. Aber wenn diese für die Beschneidung plädieren, haben sie mit ihr einen „Fort10
Grundlegend: K. BERGER, Die impliziten Gegner: zur Methode des Erschließens von „Gegnern“ in neutestamentlichen Texten, in: D. LÜHRMANN / G. STRECKER (Hg.), Kirche, FS G. Bornkamm, Tübingen 1980, 373–400. Zusammenfassend: J.L. SUMNEY, Identifying Paul’s Opponents. The Question of Method in 2 Corinthians (JSNT.S 40), Sheffield 1990.
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schritt“ verbunden. Polemisiert Paulus dazu gegen ihr klägliches „Ende“ (te,loj Phil 3,19) und kontrastiert damit die wunderbare Verwandlung des „Leibes“ der Christen durch Christus (Phil 3,21), dann dürfte der Streit in Philippi darum gegangen sein, wie man das Christentum vollendet: durch Beschneidung des Leibes oder Gemeinschaft mit Christus (Phil 3,10). Auch ist es notwendig, allgemeines Wissen aus der Zeit heranzuziehen: Wenn die Beschneidung damals in Adiabene als zweiter Schritt bei der Konversion zum Judentum begegnet (Josephus, Ant. 20,38–48), stützt diese Analogie unsere Annahme, die Gegner hätten mit Einführung der Beschneidung eine Vollendung des Christentums verheißen. Trotz größerer methodischer Vorsicht sind wir von einem Konsens weit entfernt. Der jetzige Forschungsstand ist, dass die These judaistischer Gegner für Galatien am ehesten konsensfähig ist, manchmal mit kleinen Modifikationen, wonach die Gegner Juden-(Christen) aus den Synagogengemeinden11 oder ehemalige Heidenchristen sind, die für ihr neues Judentum werben.12 Ebenso scheint für die Gegner in Phil 3 die Judaistenthese relativ akzeptabel zu sein, auch wenn die Gegner hier eher mit einigen enthusiastischen Zügen ausgestattet werden. Für 2 Kor streuen die Deutungen am meisten: Nach ihrer Herkunft werden sie als Delegierte der Jerusalemer Urgemeinde (E. Käsemann)13, Wandermissionare des Stephanuskreises (G. Friedrich)14 oder aus dem syrischen Diasporagebiet (F. Lang)15 gedeutet, nach der von ihnen vertretenen Theologie als Gnostiker (Ph. Vielhauer), Vertreter einer qei/oj-avnh,rChristologie (D. Georgi)16 oder als Enthusiasten (J. Becker)17 und Spiritualisten (J.L. Sumney),18 nach dem von ihnen vertretenen sozialen Rolle als konkurrierende Missionare mit Anspruch auf Unterhalt durch die
11 12 13 14 15 16 17 18
C. BREYTENBACH, Paulus und Barnabas in der Provinz Galatien (AGJU 38), Leiden 1996, 143; K.-W. NIEBUHR, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 92–103. E. HIRSCH, Zwei Fragen zu Gal 6, ZNW 29 (1930), 192–197. E. KÄSEMANN, Die Legitimität des Apostels. Eine Untersuchung zu II Korinther 10– 13, ZNW 41 (1942), 33–71. G. FRIEDRICH, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: DERS., Auf das Wort kommt es an, Ges. Aufs. hg. von J. FRIEDRICH, Göttingen 1978, 189–223. F. LANG, Paulus und seine Gegner in Korinth und in Galatien, in: H. CANCIK / H. LICHTENBERGER / P. SCHÄFER (Hg.), Geschichte – Tradition – Reflexion, FS M. Hengel, Bd. 3, hg. v. H. LICHTENBERGER, Tübingen 1996, 417–434. D. GEORGI, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike (WMANT 11), Neukirchen-Vluyn 1964. J. BECKER, Paulus, 236. J.L. SUMNEY, Identifying Paul’s Opponents, 183.
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Gemeinde im Unterschied zu den Missionaren, die wie Paulus und Barnabas demonstrativ darauf verzichtet haben.19 Historisch sind so stark differenzierende Deutungen unbefriedigend, weil sie es nicht erlauben, die Konflikte der paulinischen Mission in eine übergreifende Geschichte einzuordnen. Daher gibt es immer wieder Versuche einer Einheitsdeutung. Wenn überhaupt, hat dabei eine judaistisch-judenchristliche Deutung eine Chance, wie sie G. Lüdemann vorgeschlagen hat: Unverkennbar ist ja, dass die Gegenmissionare in Galatien und Philippi jüdische Gesetzesforderungen durchsetzen wollen, dass sie in Korinth diese Forderungen zwar nicht erheben, wohl aber ein judenchristliches Bewusstsein demonstrieren, von Abraham abzustammen, Israeliten zu sein und die Herrlichkeit des Mose zu kennen. Nun werden auf dem Apostelkonzil, wo sich zum ersten Mal ein Konflikt zwischen den beiden großen Strömungen des Urchristentums zeigt, bei den Judaisten zwei Flügel sichtbar: der gemäßigte wird durch Petrus und Jakobus und den von ihnen ausgehandelten Kompromiss vertreten, von ihnen deutlich unterschiedene „Falschbrüder“ aber lassen sich in den ausgehandelten Kompromiss nicht einbinden. Die judaistische Partei trat also von Anfang an in einer radikalen und gemäßigten Variante auf. Daher schlug G. Lüdemann die bestechende Deutung vor, in Galatien und Philippi seien Vertreter der radikaleren Judenchristen am Werk, in Korinth dagegen Vertreter des gemäßigten Flügels. Beide seien Ausläufer einer einzigen judaistischen Partei mit zwei Flügeln.20 An diesen Versuch einer Einheitsdeutung kann man anknüpfen. Eine neue Einheitsdeutung sollte sich ferner auf die von außen kommenden Missionare beschränken und interne Gemeindegruppie19
20
G. THEIßEN, Legitimation und Lebensunterhalt. Ein Beitrag zur Soziologie urchristlicher Missionare, NTS 21 (1975), 192–221 (= DERS., Studien zur Soziologie des Urchristentums [WUNT 19], Tübingen 1979, 31989, 201–230). Auf diese Weise kann ich zwischen den konkurrierenden Missionaren um 1Kor und den neuen Gegenmissionaren im 2Kor eine Gemeinsamkeit feststellen – trotz theologischer Unterschiede. Eine grundsätzliche Kritik daran, in der Frage des Lebensunterhalts das entscheidende Motiv zu sehen, bringt L. AEJMELAEUS, The Question of Salary in the Conflict between Paul and the „Super Apostles“ in Corinth, in: I. DUNDERBERG / CHR. TUCKETT / K. SYREENI (Hg.), Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity. Essays in Honour of Heikki Räisänen, Leiden 2002, 343–376: Paulus setze dieses Motiv nur ironisch ein. G. LÜDEMANN, Paulus der Heidenapostel, Bd II: Antipaulinismus im frühen Christentum (FRLANT 130), Göttingen 1983, 228–257. Eine Einheitsdeutung vertreten auch H.M. SCHENKE / K.M. FISCHER, Einleitung in die Schriften des Neuen Testaments I. Die Briefe des Paulus und Schriften des Paulinismus, Berlin 1978, 83: In Galatien handelt es sich um „strenge Judenchristen mit Rückhalt in Jerusalem“; in Philippi wirkt eine „Offensive der offiziellen Kirche gegen die Mission des Paulus“ (128); im 2. Korintherbrief handelt es sich um „Polemik gegen die fremden Apostel der Petrusrichtung.“ (114).
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rungen unabhängig davon betrachten. Sie muss vor allem zwei Probleme lösen: (1) Im Galater- und Philipperbrief dominieren Aussagen, die sich auf „Judaisten“ deuten lassen. Daneben aber begegnen pneumatische und libertinistische Züge in den indirekten Aussagen über die Gegner – also jene Motive, auf denen die Zwei-Frontenhypothese beruht. Diese müssen so gedeutet werden, dass sie mit den judaistischen Merkmalen der Gegner kohärent sind. Andernfalls müsste man wieder zwei Gegnergruppen in derselben Gemeinde oder zwei verschiedene Gegnertypen jeweils im Galater- und Philipperbrief annehmen. (2) Im 2Kor dominieren umgekehrt enthusiastische Züge, die judaistischen scheinen untergeordnet zu sein. Hier muss man verständlich machen: Warum verzichten die Gegner auf die Forderung von Beschneidung und Speisegeboten? Dass die Judaisten in Korinth gleichzeitig enthusiastische Motive betonen, wäre kein so großes Problem, wenn man enthusiastische Züge schon in ihr Bild im Gal und Phil unterbringen könnte – abgesehen davon, dass der korinthische Kontext zu beachten ist: Die Korinther legten Wert auf Geistesgaben. Schließlich soll nicht vorausgesetzt werden, dass die Gegenmissionare überall dieselben Personen sind oder in jeder Hinsicht dieselbe Theologie vertreten. Die hier vorgeschlagene Einheitsdeutung begnügt sich mit der Annahme einer einheitlichen Intention der Gegenmission: Ihr Ziel ist die Reintegration der neu entstandenen heidenchristlichen Gemeinden ins Judentum, um für das Christentum bessere Entfaltungsmöglichkeiten zu schaffen. Ein solches pragmatisches Motiv ist ihr gemeinsamer Nenner. Alles andere ist dem untergeordnet und kann variabel sein: die Personen, die Theologie und die konkreten Forderungen. Im Folgenden wird die umstrittene Frage der Reihenfolge der Briefe, soweit das möglich ist, ausgeklammert. Die mir wahrscheinlichste Lösung ist die Reihenfolge: 1Thess – Gal – 1Kor – Phil – Phm – 2Kor – Röm.21 Aber die Frage der Gegner kann weithin unabhängig davon 21
Diese Reihenfolge, insbesondere die heute oft bestrittene Datierung des Galaterbriefs zwischen 1Thess und 1Kor, habe ich in G. THEIßEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SHAW.PH 40), Heidelberg 2007, 103– 136, zu begründen versucht: Erst seit dem polemischen Galaterbrief betont Paulus seine Apostelrolle im Präskript, was im Gal durch die Situation motiviert ist, danach aber zur Konvention wird. Erst seit dem Gal benutzt er die Eigenhändigkeitsversicherung – was verständlich ist, wenn man Paulus falsche Meinungen in Galatien unterstellt hat. Beides kehrt im 1Kor wieder, ist aber hier weniger gut durch die Situation motiviert. Daher datiere ich den Gal vor den 1Kor. Inhaltliche Gründe unterstützen das: In Gal argumentiert Paulus selbst enthusiastisch mit dem Geist, was er nach seinen Erfahrungen mit den korinthischen Enthusiasten wohl nicht getan hätte. Zur Lokalisierung und Datierung des Philipperbriefes hat U.B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/I), Leipzig 1993, 15–21, die Argu-
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untersucht werden. Vorausgesetzt wird nur, dass der Galaterbrief sowohl dem Philipperbrief als auch dem 2. Korintherbrief vorherging – unabhängig davon, wie man Phil und 2Kor einander zeitlich zuordnet. Wir beginnen mit dem Konflikt in Galatien, weil er die profiliertesten Spuren hinterlassen hat, behandeln danach den Konflikt in Philippi und in Korinth.
1. Die Gegenmissionare in Galatien Die Anerkennung der Heidenmission auf dem Apostelkonzil (ca. 46/48) hat jener Form der Heidenmission einen starken Auftrieb gegeben, die von Heiden nicht mehr die jüdischen Identitätsmerkmale Speisegebote und Beschneidung verlangte. Der Verzicht auf diese Forderungen wurde von jetzt ab von einem Konsens zwischen den beiden wichtigsten Zentren des Urchristentums, Jerusalem und Antiochien, getragen. Wenn kurz nach dem Apostelkonzil die römische Gemeinde von Unruhen erfasst wird, weil die Christusbotschaft dort offensiv vertreten wurde, so könnte das eine Fernwirkung des Apostelkonzils sein. Wenn (Juden-)Christen für Heiden einen Zutritt zur Gemeinde ohne Beschneidung und Übernahme von Speisegeboten in Rom anboten, trugen sie Unruhe in die jüdischen Gemeinden. Diese Unruhe führte im Claudiusedikt (49 n.Chr.) zur Ausweisung der Judenchristen. Die Ausgewiesenen verbreiteten in den jüdischen Gemeinden des Mittelmeerraums sehr schnell die Nachricht von dieser Intervention des Staates, u.a. durch Aquila und Priskilla in Korinth, die dort den Apostel Paulus trafen und zu ihm ein freundschaftliches Verhältnis aufnahmen: Sie werden in Fragen der Heidenmission ähnlich wie Paulus gedacht haben. Das Claudiusedikt entspricht der Religionspolitik des Claudius. Er übernahm die Regierung im Jahr 41 in einer angespannten Situation, weil sein Vorgänger Gaius die Juden durch einen Versuch, den Jerusalemer Tempel zu entweihen, tief irritiert hatte, während gleichzeitig Juden und Griechen in Alexandrien in einen schweren Konflikt geraten waren, der zum ersten Pogrom der Weltgeschichte führte. Claudius verpflichtete zur Wiederherstellung des religiösen Friedens alle Gruppen darauf, unbedingt bei ihren Traditionen zu bleiben. So wie der römische Staat darauf verzichtete, den jüdischen Kult zu verändern, sollten sich Juden überall mit ihren herkömmlichen Traditionen und mente überzeugend zusammengestellt. Er ist wahrscheinlich zwischen den Korintherbriefen während einer Gefangenschaft in Ephesus geschrieben.
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Privilegien begnügen. In den 40er Jahren verstieß aber ausgerechnet die christliche Heidenmission paulinischer Prägung gegen diese konservative Religionspolitik des Staates: Sie stellte traditionelle Riten und Abgrenzungen in Frage und rief deswegen Unruhe hervor. Der Zutritt zu einer neuen Variante des Judentums, dem sich entwickelnden Christentum, war nicht mehr an Beschneidung und die Einhaltung der Speisegebote gebunden. Wir können zwei verschiedene Reaktionen in den jüdischen Gemeinden und im Judenchristentum auf diese Unruhen erschließen:22 Die jüdischen Gemeinden wirkten seit dem Claudiusedikt verstärkt darauf hin, die neue christliche Bewegung nicht Fuß fassen zu lassen. Wenn sie es nicht verhindern konnten, legten sie Wert darauf, nicht mit den Christen identifiziert zu werden, damit die Repressionen gegen Christen nicht auch sie trafen. Sie wollten deutlich machen: Diese Unruhestifter gehörten nicht zu ihnen. Solch eine Distanzierung von den Christen, die in der ganzen Welt Unruhe stiften und der Religionspolitik des Claudius widersprechen, ist für Thessaloniki bezeugt – vielleicht schon als Folge des Claudiusedikts (Apg 17,6–7). Wenn man aus Rom von Unruhen gehört hatte, konnte man mit Recht sagen: Diese Christen schaffen in der ganzen Welt Unruhe. Judenchristen reagierten in anderer Weise auf die neue Situation: Wenn jüdische Synagogen in Schwierigkeiten kamen, sobald Christen unbeschnittene Heiden in ihre Gemeinschaft aufnahmen, mussten sie daran arbeiten, die Spannungen mit dem Judentum zu reduzieren. Sie suchten anders als die jüdischen Gemeinden nicht die Distanzierung von Juden und Christen, sondern die Nähe der jüdischen Gemeinden. Nur so konnte man repressive Eingriffe des Staats wie das Claudiusedikt vermeiden. Konfliktvermeidung mit Juden bedeutete Konfliktvermeidung mit den Behörden. Daraus ergab sich die Strategie: Heidenchristen zur freiwilligen Übernahme von Beschneidung und Speisegeboten zu überreden, denn wenn sie diese minimalen Kriterien des Judentums erfüllten, konnten sie von der Synagoge voll akzeptiert werden. Die Werbung für die Übernahme der minimalen jüdischen Identitätsmerkmale war anders, als es oft dargestellt wird, kein Verstoß gegen das Apostelkonzil. Denn dort hatte man nur vereinbart, dass die Beschneidung für Heidenchristen keine Pflicht war. Das implizierte keine Verpflichtung, sich nicht beschneiden zu lassen. Erst Paulus hat eine solche extensive Auslegung vertreten: Aus der Freiheit, dass sich 22
Vgl. D. ALVAREZ, Die Religionspolitik des Kaisers Claudius und die paulinische Mission (HBS 19), Freiburg/Wien 1999. Die Ergebnisse dieses Buches über die Religionspolitik des Claudius werden hier nicht noch einmal durch Quellen begründet.
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Heiden nicht beschneiden lassen mussten, machte er ein Verbot, dass sie es auf keinen Fall durften! Das war eine extensive Auslegung der Vereinbarung des Apostelkonzils durch Paulus. Was sprach dagegen, dass Heiden aus Einsicht und freiwillig die Identitätsmerkmale des Judentums übernahmen? Diese Werbung für eine freiwillige Übernahme der jüdischen Identitätsmerkmale begegnet uns zuerst beim Auftreten judenchristlicher Gegenmissionare in den galatischen Gemeinden,23 später in Philippi. Bei der galatischen Gegenmission lassen sich folgende Merkmale erkennen:24 a) Die Gegenmissionare knüpfen positiv an Paulus an.25 Sie wollen auf der Grundlage aufbauen, die Paulus gelegt hat. Ohne solch eine positive Anknüpfung hätten sie in einer paulinischen Gemeinde keinen Fuß auf den Boden bekommen. Mit einer direkten Polemik gegen Paulus hätten sie deren Vertrauen nicht gewinnen können. Die Gegner greifen also Paulus nicht frontal an, sondern vereinnahmen ihn. Sie betonen, dass Paulus mit den Uraposteln in Jerusalem in Konsens handle, vielleicht sogar von ihnen abhängig sei, aber wollen damit vor allem ihre eigene Position aufwerten: Sie suggerieren, auch sie handelten im Konsens mit Paulus. Es ist daher Paulus, der die Kluft zwischen seinen Standpunkten und denen der Gegenspieler aufreißt. Paulus kündigt den Konsens auf, nicht seine Gegner. b) Die Gegenmissionare erheben den Anspruch, das Christentum zu vollenden. Deshalb fragt Paulus in Gal 3,3: „Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?“ Paulus habe gewissermaßen Gottesfürchtige geworben, die sich nicht beschneiden lassen. Jetzt komme die Beschneidung als Vollendung der 23
24 25
C. BREYTENBACH, Paulus und Barnabas, 143, bestreitet die Existenz judenchristlicher Wandermissionare in Galatien, sondern rechnet mit einem Versuch der örtlichen Synagogengemeinschaft (einschließlich der ansässigen Judenchristen, die sich noch zur Synagogengemeinschaft zählen), die Christen in Galatien zur Übernahme von Gesetz und Beschneidung zu bewegen. Aber Paulus parallelisiert in 2,11–14 die Situation in Antiochien mit der in Galatien. Das spricht dafür, dass auch in Galatien die Vertreter des Gesetzes von auswärts in die Gemeinde „kamen“ (Gal 2,12). Ferner vergleicht er die Gegner mit einem „Engel“ (=Boten) vom Himmel (Gal 1,8) und spricht analog dazu von seinem vergangenen Aufenthalt bei den Galatern mit den Worten: „Wie einen Engel Gottes (=Boten) nahmt ihr mich auf“ (Gal 4,14). Vgl. die fünf Punkte bei G. THEIßEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 302f. J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 159: “And while these opponents did not understand themselves as opponents of Paul before Galatians, the harsh rejection of them may well have turned them into such.” Das ist die Pointe bei SUMNEY. Er überschreibt den Abschnitt über die Gegner des Galaterbriefs S. 134–159 mit: „Paul Makes Some Enemies – Galatians“.
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Zuwendung zum einen und einzigen Gott hinzu.26 Eine vergleichbare zweistufige Hinwendung zum Judentum ist uns für diese Zeit für Adiabene bezeugt: Der König Izates von Adiabene wird zunächst ohne Beschneidung für das Judentum gewonnen, dann aber überzeugt ihn ein aus Galiläa kommender jüdischer Lehrer Eleazar, dass auch er sich beschneiden lassen müsse (Josephus, Ant. 20,38–48). c) Die Forderungen der Gegenmissionare konzentrieren sich auf die entscheidenden jüdischen Identitätsmerkmale: Beschneidung und Speisegebote.27 Sie sind der Meinung, man brauche nicht das ganze jüdische Gesetz zu halten, wenn man nur diese Merkmale hat, durch die man sich als Jude zu erkennen gibt. Deswegen ruft Paulus in Gal 5,3: „Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ Das primäre Anliegen der Gegenmissionare ist es, die Zugehörigkeit der neu entstandenen Gemeinden zu Israel zu sichern. Das geht indirekt aus dem Vorwurf des Paulus hervor, wenn er schreibt: „Es ist nicht recht, wie sie um euch werben: sie wollen euch ausschließen, damit ihr um sie werben sollt“ (Gal 4,17). Die Gegner suggerierten, die Galater gehörten noch nicht wirklich zu Israel und zu Abrahams Kindern, sondern müssten sich um eine volle Zugehörigkeit noch bemühen. d) Als Motiv der Gegenmissionare unterstellt Paulus Konfliktvermeidung. Paulus stellt nämlich zweimal einen Zusammenhang zwischen Beschneidungsforderung und Konfliktvermeidung her. „Die Ansehen 26
27
P. BORGEN, Observation in the Theme “Paul and Philo”. Paul’s preaching of circumcision in Galatia (Gal 5:11) and debates on circumcision in Philo, in: S. PEDERSEN (Hg.), Die Paulinische Literatur und Theologie, Århus/Göttingen 1980, 85–102, zeigt, dass Philo eine ethische und physische Beschneidung unterscheidet (Migr. 86–93; QuaestEx II,2), und entwickelt die These, dass die Gegner die paulinische Verkündigung als „ethische“ Beschneidung akzeptiert hätten, die sie durch die „physische“ Beschneidung vollenden müssten. J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 147f, weist dagegen die Annahme eines Vollendungsbewusstsein als unzulässige „Spiegellektüre“ zurück. Paulus bietet aber in Gal 5,14 eine bessere Möglichkeit an, das Gesetz zu „erfüllen“ – nämlich durch das Liebesgebot. Eine Vollendungsthematik wird mehrfach im Brief angesprochen und könnte durch die Situation bedingt gewesen sein. J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 155f, bestreitet, dass die Gegner das Einhalten von Speisegeboten verlangt hätten. Paulus komme darauf nur im Rückblick auf den antiochenischen Konflikt in 2,11–14 zu sprechen. Aber der sicher vorhandenen Beschneidungsforderung entspricht der Rückblick auf das Apostelkonzil (Gal 2,1–10), wo die Beschneidungsfrage bei Titus auf eine aktuelles Problem weist. Warum fügt Paulus noch einen zweiten Rückblick auf den antiochenischen Konflikt mit seinen Speisefragen (Gal 2,11–14) hinzu, wenn diese keine aktuelle Bedeutung haben? Der erste Rückblick hätte ausgereicht. Außerdem gehört sachlich beides zusammen: Juvenal spottet über Heiden, deren Vater kein Schweinefleisch aß, während der Sohn sich beschneiden lässt (Juvenal, Sat. 14,96–106). Wenn die Beschneidung verlangt wird, dann erst recht Speisegebote.
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haben wollen nach dem Fleisch, die zwingen euch zur Beschneidung, nur damit sie nicht um des Kreuzes Christi willen verfolgt werden“ (Gal 6,12). Er weist in diesem Zusammenhang auf sich selbst als Beispiel: „Ich aber, liebe Brüder, wenn ich die Beschneidung noch predige, warum leide ich dann Verfolgung? Dann wäre das Ärgernis des Kreuzes aufgehoben“ (5,11). Man muss nicht annehmen, dass die Gegner in Galatien ihr judaistisches Programm mit Konfliktvermeidung begründet haben – Paulus könnte ihre Intentionen dennoch sachlich richtig eingeschätzt haben, auf jeden Fall trifft er die objektive Funktion ihres Vorgehens sehr gut. e) Die Gegenmissionare geben politischen Druck weiter, wenn sie die Gemeinden dazu nötigen, sich ins Judentum zu reintegrieren. In Gal 4,21ff betont Paulus, dass das gegenwärtige Jerusalem (d.h. das Judentum) unfrei ist: „Es lebt mit seinen Kindern in der Sklaverei“ (Gal 4,25). Wie Ismael, der unfrei Geborene, den freien Isaak verfolgte, so geschehe es auch jetzt: Die politisch unfreien Juden verfolgen die Christen, die frei sind. Man kann dieser Aussage entnehmen: Juden, die keine politische Freiheit mehr haben, werden aufgrund ihrer Unfreiheit zu Verfolgern. Auch das ist eine Aussage des Paulus. Aber ich nehme an, dass er damit die Situation zutreffend einschätzt. Woher die judaistische Gegenmission kam, ist weniger deutlich erkennbar wie ihr allgemeiner judenchristlicher und judaistischer Charakter.28 Dass Paulus in seinem Brief sein Verhältnis zur Urgemeinde in Jerusalem so ausführlich thematisiert, würde sich freilich zwanglos erklären, wenn seine Gegner mit der Jerusalemer Gemeinde in Verbindung stünden. Aber wir können nicht sicher sein, ob Paulus seine Gegner in der Urgemeinde nur als Analogie zu den gegenwärtigen Gegnern in Galatien einführt oder ob er darüber hinaus sagen will, dass sie 28
Der Versuch, in ihnen Heidenchristen zu sehen, stützt sich auf drei Beobachtungen: (1) Die sarkastische Abwertung der Beschneidung als Kastration in Gal 5,12 ziele eher auf Heiden als auf Juden. Aber die angeredeten Galater sind ja Heiden, die vor judenchristlichen Predigern gewarnt werden. Beide Gruppen sind im Blick. (2) Die Gegner scheinen nicht das ganze Gesetz zu halten (Gal 5,3; 6,13). Aber mit Beschneidung, Speisegeboten und Festkalender verlangen sie die entscheidenden rituellen Identitätsmerkmale des Judentums. (3) Als oi`` peritemno,menoi (im Präsens! Gal 6,13) sind sie nicht beschnitten, sondern lassen sich beschneiden. Papyrus 46 und andere Handschriften haben das Präsens durch das Perfekt ersetzt: oi`` peritetmhme,noi. Haben sich also die Gegner erst kürzlich beschneiden lassen und zeigen ihren Konvertiteneifer dadurch, dass sie andere dazu überreden wollen Vgl. E. HIRSCH, Zwei Fragen zu Gal 6, ZNW 29 (1930), 192–197. Aber auf eine generelle Sitte könnte auch mit dem Präsens verwiesen werden. Diejenigen, die sich für Tote taufen lassen, werden mit dem Partizip Präsens oiv baptizo,menoi u``pe.r auvtw/n bezeichnet (1Kor 15,29), obwohl sie sich schon haben taufen lassen.
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geschichtlich in Beziehung zur Jerusalemer Gemeinde stehen. Ich halte Letzteres für wahrscheinlich. Nun findet man im Galaterbrief auch Motive, die manche an Pneumatiker haben denken lassen: ein Vollendungsbewusstsein und eine Warnung vor Libertinismus. Diese Motive weisen nicht auf eine zweite Front, sondern lassen sich in das Bild der Judaisten einzeichnen: Das Vollendungsbewusstsein bezieht sich auf die Beschneidung. Die Galater wollen im „Fleisch“ vollenden, was sie im „Geist“ begonnen haben (Gal 3,2). Aber nicht die Gegner, sondern Paulus betont den Geist. Paulus spielt Geist und Gesetz gegeneinander aus. Darauf greift er in der Paränese zurück: Vom Geist bewegt, tun Christen spontan, was das Gesetz verlangt, ohne unter dem Gesetz zu sein (Gal 5,18.23). Der Geist aber hat sie nicht zu Beschneidung und Speisegeboten gedrängt, er will vor allem Liebe, die erste Frucht des Geistes (Gal 5,22). Nur sie ist des Gesetzes Erfüllung (Gal 5,14). Wenn man diesen Zusammenhang zwischen der situationsbedingten Berufung auf den Geist in Gal 3,2 und in der allgemeinen Paränese (Gal 5,13ff) erkennt, wird man nicht mehr sagen können, dass die Paränese des Galaterbriefs nur usuell ist und mit der Situation in Galatien gar nicht zusammenhängt. Aber nicht die Gegner argumentieren pneumatisch oder enthusiastisch, sondern Paulus. Dagegen kann man annehmen, dass Paulus bei seinen Gegnern Libertinismus wittert – nicht als Auswirkung des Geistes, sondern des Fleisches. Er greift seine Gegner zynisch an, wenn er ihnen zuruft: „Sollen sie sich doch ... kastrieren lassen!“, um unmittelbar danach die Gemeinde davor zu warnen, die neue Freiheit nicht zum Vorwand für das „Fleisch“ zu nehmen (Gal 5,13). Paulus arbeitet hier mit menschlich, allzu menschlichen Assoziationen. Das Fleisch ist bei ihm Ursprung sexuellen und aggressiven Fehlverhaltens (Gal 5,19), Sitz der „Leidenschaften und Begierden“ (Gal 5,24). Nun ist auch die Beschneidung ein Vorgang im Fleisch (Gal 3,2), eine Veränderung am Geschlechtsorgan. Paulus unterstellt durch solche Assoziationen denen, die Manipulationen am Geschlechtsorgan anderer vornehmen wollen, „fleischliche“ Motive sexueller und aggressiver Art. Daher kann er den sarkastischen Wunsch nach ihrer Kastration und ihr Verlangen nach Beschneidung in Zusammenhang bringen: Kastrieren sollen sie sich lassen, anstatt andere Menschen zu beschneiden. So abwegig sind diese polemischen Assoziationen nicht. Die Beschneidung kleiner Kinder vollzog sich in einem sexuell neutralen Raum und geschah von Fall zu Fall. Sie war durch Tradition und Sitte geschützt. Die Forderung der Judaisten in Galatien aber lief auf die kollektive Beschneidung einer ganzen Gruppe von Männern und Knaben hinaus, ohne dass dieser Akt durch Brauch
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und Tradition abgesichert war. Das alles hätte nach außen wie nach innen wie ein neuer Sexualritus einer obskuren Gemeinschaft gewirkt. Die Beschneidung wurde fast in der ganzen Antike negativ bewertet.29 Ihr kollektiver Vollzug wäre eine problematische „Vollendung“ des Christentums in Galatien gewesen. Daher die Polemik des Paulus gegen Libertinisten, aus der nicht folgt, dass die Gegner libertinistisch waren. Paulus bietet eine bessere Alternative, um den berechtigten Wunsch nach Vollendung zu erfüllen: Das Gesetz wird allein durch Liebe vollendet (Gal 5,14). Wichtig ist: Paulus selbst spielt den Geist gegen das Gesetz aus, die enthusiastische Erfahrung einer „neuen Kreatur“ gegen die Beschneidung und die durch sie überbetonte Unterscheidung der Geschlechter. Er selbst argumentiert „enthusiastisch“, nicht die Gegenmission.
2. Die Gegenmissionare in Philippi Nach Apg 19,1 ist Paulus durch Galatien und Phrygien direkt nach Ephesus gereist und lebte dort zwei Jahre lang (19,10). In Ephesus kam es zu einer großen Doppelkrise: einerseits einer Todesgefahr durch Gefährdung von außen – Paulus hatte mit seinem Todesurteil gerechnet (2 Kor 1,9) –, andererseits zu einem Zerwürfnis im Inneren der neuen christlichen Gemeinschaft: mit der Gemeinde in Korinth. Dazu sind judaistische Gegenmissionare von Galatien weiter nach Europa gezogen und in Philippi auftreten. Paulus bekämpft sie im 3. Kapitel des Philipperbriefes, den er wahrscheinlich aus einer Gefangenschaft in Ephesus schreibt (Phil 3,2–7): „Nehmt euch in acht vor den Hunden, nehmt euch in acht vor den böswilligen Arbeitern, nehmt euch in acht vor der Zerschneidung! Denn wir sind die Beschneidung, die wir im Geist Gottes dienen und uns Christi Jesu rühmen und uns nicht verlassen auf Fleisch, obwohl ich mich auch des Fleisches rühmen könnte. Wenn ein anderer meint, er könne sich auf Fleisch verlassen, so könnte ich es viel mehr, der ich am achten Tag beschnitten bin, aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde, nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen. Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet.“
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Vgl. A. BLASCHKE, Beschneidung. Zeugnisse der Bibel und verwandter Texte (TANZ 28), Tübingen/Basel 1998.
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Paulus stellt sich selbst als Vorbild hin: Er hat sich von seiner jüdischen Vorzeit abgewandt. Ihn, Paulus, sollen sich die Philipper zum Vorbild nehmen. Daher schreibt er ihnen: „Folgt mir, liebe Brüder, und seht auf die, die so leben, wie ihr uns zum Vorbild habt. Denn viele leben so, dass ich euch oft von ihnen gesagt habe, nun aber sage ich's auch unter Tränen: sie sind die Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende ist die Verdammnis, ihr Gott ist der Bauch, und ihre Ehre ist in ihrer Schande; sie sind irdisch gesinnt. Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel; woher wir auch erwarten den Heiland, den Herrn Jesus Christus, der unsern nichtigen Leib verwandeln wird, dass er gleich werde seinem verherrlichten Leibe nach der Kraft, mit der er sich alle Dinge untertan machen kann.“ (Phil 3,17–21)
Lassen sich Unterschiede zu der Situation in Galatien erkennen?30 Paulus sagt nirgendwo direkt, dass die Gegenmissionare die Beschneidung der Philipper verlangt haben. Er spricht nur von ihrem Stolz auf die Beschneidung. Das bestätigt unsere Vermutung: Die Gegner machen Beschneidung (und Speisegebote) nicht zur Pflicht. Aber sie stellen ihre Vorzüge heraus. Sie preisen sie an. Denn es gab keine Verpflichtung, Beschneidung und Speisegebote abzulehnen. Warum sollte man sie nicht freiwillig übernehmen. Wie reagiert Paulus nun darauf? Paulus wirft den Gegenmissionaren vor, sie würden Speisegebote und Beschneidung einen völlig überzogenen Wert beilegen: „Ihr Gott ist der Bauch, und ihre Ehre ist in ihrer Schande“ (Phil 3,19).31 Dass ihr Gott der Bauch ist, bezieht sich auf Speisegebote. Paulus assoziiert sie mit der größtmöglichen Sünde, einem Verstoß gegen das erste Gebot. Dabei benutzt Paulus einen polemischen Topos gegen die Epikuräer!32 Wenn sich der „Bauch“ auf Speisegebote bezieht – worüber in der Exegese ein wachsender Konsens besteht – , liegt es nahe, die zweite Aussage auf die Beschneidung zu beziehen: „Ihre Ehre ist ihre Schande“. „Schande“ oder „Scham“ würden dann das „Schamteil“ oder den Zu30
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Im Philipperbrief wird nicht direkt gesagt, dass die Gegner in Philippi schon da sind. Warnt also Paulus prophylaktisch vor ihnen? Das ist unwahrscheinlich. Die dreimalige Mahnung: „Nehmt euch in acht ...! (ble,pete)“, wörtlich genommen ein dreimaliges „Seht!“ (Phil 3,2), spricht ebenso wie die Mahnung: „Schaut (skopei/te) auf die, die so leben“ (Phil 3,17) eher für die Anwesenheit derer, die man „sehen“ soll. Die Polemik gegen diese Gegner setzt voraus, dass die Angeredeten mehr von ihnen wussten als die heutigen Leser. J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 170–173, meint dagegen, diese Verse seien rein polemisch und sagten daher nichts über die Gegner aus. Aber die schroffe Polemik im Galaterbrief und Philipperbrief, die Beschneidung und Kastration gleichsetzt, sagt über die Bedeutung der Beschneidung bei den Gegnern sehr viel aus. Man kann aus dieser Polemik durchaus schließen: Die Beschneidung, die Paulus so schroff abwertet, wurde von ihnen sehr hoch bewertet. Das wäre keine illegitime „Spiegellektüre“. K.O. SANDNES, Belly and Body in the Pauline Epistles (MSSNTS 120), Cambridge 2002.
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stand des Beschnittenseins meinen. In der Antike sprach man vom Geschlechtsteil als der „Scham“, dem aivdoi/on bzw. den aivdoi/a im Plural. Paulus wählt an anderer Stelle vergleichbare Euphemismen, um die Geschlechtsteile zu bezeichnen. In 1Kor 12,23 nennt er sie ta. avsch,mona: die unehrenhaften Teile, ein Begriff, der aivscu,nh (Scham und Schande) verwandt ist. 33 Paulus arbeitet hier mit Vorurteilen gegen die jüdische Beschneidung. Er hatte schon am Anfang des Kapitels die „Beschneidung“ als „Kastration“ abgewertet. Seine Polemik übertrifft die des Galaterbriefs: Dort hatte er den Judaisten gewünscht, sie sollten sich über ihre Beschneidung hinaus kastrieren lassen; hier setzt er ihre Beschneidung mit der schon vollzogenen Kastration gleich. In der Tat wurde die Beschneidung in der Antike meist abgelehnt; die Gegner aber sahen in diesem „Makel“ ihre „Herrlichkeit“. Eine alternative Auslegung wäre, „Schande“ als Parallele zu „Verderben“ aufzufassen. Die Gegner seien dem Untergang geweiht – so wie alles, was in den Magen geht.34 Aber dann entfiele die Parallelität von „Bauch“ und „Scham“ als zwei Körperteilen, die einmal direkt, dann euphemistisch angesprochen werden. Die hier vorgeschlagene Deutung hat den Vorzug, dass es keinen Grund gibt, in Phil 3,18 andere Gegner angesprochen zu sehen als im ganzen Kapitel vorher. Es handelt sich nicht um Libertinisten, sondern um dieselben Judaisten wie vorher, die Paulus wegen ihrer Überschätzung des Bauches (= der Speisegebote) und falscher Bewertung ihrer „Scham“ bzw. „Schande“ (= Beschneidung ihres Geschlechtsteils) angreift. Die Gegner haben wahrscheinlich mit der Übernahme der beiden jüdischen Identitätsmerkmale wie in Galatien eine Vollendung des Christentums in Aussicht gestellt.35 Gegen sie wären dann ironisch folgende Sätze gerichtet: „Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich's ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten 33 34 35
Vgl. H.G. LIDELL / R. SCOTT, A Greek-English Lexicon, Oxford 1968, 43: th.n tou/ sw,matoj aivscu,nh (Alkidamas in: Aristoteles, Rhetorica 1406a 29). So U.B. MÜLLER, Philipper, 178. Wenn an eine Polemik gegen die Gegner gedacht ist, wird meist an einen gnostischen Vollkommenheitsanspruch gedacht. Vgl. W. SCHMITHALS, Die Irrlehrer des Philipperbriefes, 47–87, dort 69–71; H. KOESTER, The Purpose of the Polemic of a Pauline Fragment (Philippians III), NTS 8 (1961/2), 317–332.322f. Aber die Analogie zum Galaterbrief legt eher eine rituelle Vollendung des Christentums nahe. Paulus scheint vorauszusetzen, dass seine Gegner ihm nachsagen, er hielte sich für vollkommen – während sie das in Wahrheit von sich behaupten. So U.B. MÜLLER, Philipper, 167. Auch hier blockiert die Ablehnung jeder „Spiegellektüre“ bei J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 180–184, eine plausible Deutung: Man kann für eine freiwillig übernommene Beschneidung nur werben, wenn man mit ihr einen Fortschritt verbindet.
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Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus. Wie viele nun von uns vollkommen sind, die lasst uns so gesinnt sein. Und solltet ihr in einem Stück anders denken, so wird euch Gott auch das offenbaren. Nur, was wir schon erreicht haben, darin lasst uns auch leben.“ (Phil 3,13-15)
Paulus argumentiert so: Wir sind schon vollkommen und brauchen keine rituelle Vollendung unseres Christseins. Beschneidung und Speisegebote gehören zu dem, was er, Paulus, hinter sich gelassen hat. Deshalb bildet er sich nicht ein, schon am Ziel zu sein, obwohl er schon in der Gegenwart die Gemeinschaft des Todes und der Auferstehung mit Christus erfährt. Das Ziel liegt in der ewigen Gemeinschaft mit Jesus, die noch nicht erreicht ist. Paulus fordert die Philipper auf, festzuhalten, was sie schon erreicht haben. Übernahme von Beschneidung und Speisegebote wären ein Rückschritt. Ein wichtiges Argument könnte in Philippi die Bürgerrechtsfrage gewesen sein.36 Durch Übernahme von Speisegeboten und Beschneidung hätten sich die Christen zum Judentum bekannt. Sie würden dann zum politeuma der Juden gehören. Paulus betont dagegen das Bürgerrecht (politeuma) der Christen im Himmel. Philippi war eine römische Kolonie. Die einheimischen Bürger hatten das römische (italische) Bürgerrecht. Die christliche Gemeinde wird zum größten Teil aus Peregrinen ohne Bürgerrecht bestanden haben (wie die Purpurhändlerin Lydia aus Thyatira). In Philippi war umstritten, ob das römische Bürgerrecht mit dem christlichen Glauben vereinbar sei: Man wirft Paulus und Silas vor, sie verkündigten „Ordnungen, die wir weder annehmen noch einhalten dürfen, weil wir Römer sind“ (Apg 16,21). Zur Abfassungszeit des Briefes sind nach Phil 1,29 einige Gemeindeglieder inhaftiert. Paulus schreibt nämlich, die Philipper seien gewürdigt, für Christus zu leiden – in genau derselben Weise wie Paulus, der z.Zt. in Haft sitzt. Als Mitglieder der jüdischen Gemeinde hätten die Christen den Status einer halbautonomen Bürgerschaft gehabt, eines sogenannten politeumas und könnten solchen Verfolgungen entgehen. Sie hätten zu den collegia licita gehört. Die judenchristlichen Gegenmissionare haben wahrscheinlich mit dieser Aussicht geworben. Deswegen kann Paulus sie als „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) angreifen. Sie sind nicht Feinde Christi schlechthin, sondern nur Feinde seines Kreuzes, d.h. sie lehnen die mit dem Kreuz symbolisierte Spannung zur Welt ab: die Bereitschaft, eine illegitime Existenz in dieser Welt zu führen und sich zu einem Messias zu bekennen, der als Verbrecher
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P. PILHOFER, Philippi, die erste christliche Gemeinde Europas I (WUNT 87), Tübingen 1995, 127–139.
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hingerichtet wurde. Paulus macht ihnen klar: Christen müssen auf Erden eine verachtete Existenz führen. Paulus tröstet ferner die Philipper damit, dass der Kyrios Christus als Soter vom Himmel erscheinen wird, um die auf Erden verachteten Christen zur Herrlichkeit zu führen: Hier haben sie einen „Leib der Niedrigkeit“, dann werden sie verwandelt in einen „Leib der Herrlichkeit“. In Philippi waren auf dem Forum Tempel, die dem Kaiserkult gewidmet waren. Kyrios und Soter sind im Herrscherkult verbreitet. Der berühmte Philipperhymnus entwirft wahrscheinlich ein Gegenbild zum Herrscherkult.37 Die Herrscher maßten sich als Menschen an, gottgleich zu sein. Christus aber war schon in der Präexistenz göttlichen Wesens, doch hatte er darauf verzichtet, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst erniedrigt und die Gestalt eines Sklaven angenommen. Der gefangene Paulus stimmt hier einen sehr trotzigen Gesang an: Die Vertreter des Kaisers werden ihn vielleicht zum Tode verurteilen. Aber sein Kyrios herrscht über allen Mächten und wird über alle Menschen herrschen: über die Toten in der Unterwelt und die Lebenden auf Erden. Einmal werden auch seine Richter und Henker vor diesem Kyrios ihre Knie beugen. Paulus polemisiert im Philipperbrief viel direkter gegen seine Gegner als in Galatien. Er ist sich seiner Sache sicher. Er scheint die Philipper auf die Gefahr schon vorbereitet zu haben: „Denn viele leben so, dass ich euch oft von ihnen gesagt habe, nun aber sage ich's auch unter Tränen: sie sind die Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18)38. Dann aber muss ihm die Gefahr aus seiner Konfrontation mit den Galatern schon bekannt sein. Auch bei einer Datierung des Philipperbriefs in die Zeit der Gefangenschaft in Ephesus könnte der Galaterbrief schon vor dieser Haft entstanden sein, d.h. mindestens vor dem 2. Korintherbrief, wahrscheinlich aber schon vor dem 1. Korintherbrief. Im Blick auf Galater- und Philipperbrief kann man sagen: In beiden Briefen bekämpft Paulus eine judaistische Gegenmission, die um der Konfliktvermeidung mit der Umwelt willen die neu entstandenen christlichen Gruppen ins Judentum reintegrieren will. Dadurch soll mittelbar auch der Konflikt mit dem heidnischen Umfeld und den staatlichen Behörden reduziert werden. Diese konnten jederzeit bei Störungen des „Friedens“ intervenieren. Man sollte den „Gegnern“ des Paulus daher integre Motive zuschreiben. Frieden zwischen religiösen 37 38
S. VOLLENWEIDER, Der 'Raub' der Gottgleichheit: Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2.6(–11), NTS 45 (1999), 413-433. Oder bezieht sich Paulus auf vergangene Situationen in anderen Gemeinden zurück? Nach U.B. MÜLLER, Philipper, 175, blickt er hier über die Situation in Philippi hinaus: Er könnte den Philippern von seinen Konfrontationen mit Gegnern in der Vergangenheit erzählt haben: auf dem Apostelkonzil, in Antiochien und Galatien.
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Gruppen ist ein hohes Gut. Der von den Gegenmissionaren angestrebte Frieden würde Christen und Juden zugute kommen.
3. Der Konflikt in Korinth In Korinth tauchen zu Paulus in Spannung stehende Missionare in zwei Wellen auf: erstens die Parteihäupter im 1. Korintherbrief (Apollos und die Leute des Petrus), zu denen Paulus in Konkurrenz steht, und zweitens die Gegenmissionare im zweiten Korintherbrief, mit denen es zu einem Konflikt kommt. Nur die letzteren sind eindeutig antipaulinisch eingestellt, vertreten aber nicht das judaistische Programm einer Übernahme von Beschneidung und Speisegeboten! Sie sind vielmehr stolz darauf, Kinder Abrahams zu sein und rühmen sich des mosaischen Gesetzes. Darüber hinaus haben sie pneumatische Züge, was freilich vor allem spiegelbildlich aus dem hervorgeht, was Paulus an sich betont. Die Gegner legen Wert auf die „Zeichen des Apostels“: auf die Fähigkeit zu Wundern (2Kor 12,12). Sie rühmen sich dessen, dass Christus durch sie spricht (2Kor 13,3). Sie kennen Offenbarungen und andere auffällige religiöse Erlebnisse (2Kor 12,1ff). Auch sie gehören zur Gegenmission zu Paulus. Drei in den Briefen direkt erkennbare Motive sind nämlich allen Gegenmissionaren in Galatien, Philippi und Korinth gemeinsam: 1) Gemeinsam ist eine abweichende Verkündigung. Paulus spricht ebenso in Korinth (2Kor 10,4) wie im Galaterbrief (Gal 1,6–9) von einem „anderen Evangelium“. Er sieht in den Gegenmissionaren Pseudapostel, die sich in Apostel verwandelten – wie sich der Satan in einen Engel verwandelt (2Kor 11,13f). Das erinnert an die Polemik gegen die Gegner in Galatien: Selbst wenn ein „Engel“ vom Himmel ihnen deren Botschaft verkündigte, sollen sie ihm nicht glauben (Gal 1,8). 2) Die Gegner haben eine bestimmte soziale Rolle gemeinsam: Paulus polemisiert gegen sie als „betrügerische Arbeiter“ (2Kor 11,13), was an die „schlechten Arbeiter“ in Phil 3,2 erinnert. Sie erheben im 2 Kor einen demonstrativen Anspruch, die wahren „Apostel“ zu sein. Paulus karikiert sie als „Überapostel“ (2Kor 11,5). Auch im Galaterbrief muss Paulus sein Apostolat verteidigen. 3) Gemeinsam ist ein jüdisches Herkunftsbewusstsein. „Sie sind Hebräer – ich auch! Sie sind Israeliten – ich auch! Sie sind Abrahams Kinder – ich auch!“ (2Kor 11,22). Das passt ausgezeichnet zum Ringen um die wahre Abrahamskindschaft im Galaterbrief (Gal 3,1–4,31) und
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um die Abwertung der jüdischen Herkunft in Phil 3,2ff, der eine Überbewertung dieser Herkunft bei den Gegnern entspricht. Im 2Kor aber lassen die Texte zwei Unterschiede zu den Gegenmissionaren im Gal und Phil erkennen: Der Konflikt im 1. und im 2. Korintherbrief entzündet sich nicht an den Ritualforderungen des Gesetzes. Das ist eine qualitative Besonderheit des korinthischen Konflikts. Umgekehrt treten die pneumatischen Ansprüche der Gegner deutlicher hervor als in den bisherigen Briefen. Das ist ein gradmäßiger Unterschied zu den bisherigen Konflikten. Soll man wegen dieser beiden Unterschiede im 2. Korintherbrief an ganz andere Gegner als in Galatien oder Philippi denken? Oder kann man die konkurrierenden Gegenmissionare in Korinth derselben Opposition gegen Paulus zurechnen? Oder soll man mit G. Lüdemann zwei Flügel der judaistischen Gegenmission annehmen, die sich schon beim Apostelkonzil erkennen lassen? Meine These ist: Es handelt sich um Vertreter derselben Gruppe wie in Galatien und Philippi. Die beiden Besonderheiten des Konflikts im 2Kor erklären sich nämlich aus lokalen Gegebenheiten. •
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Der Verzicht auf das judaistische Programm einer Einführung ritueller Identitätszeichen des Judentums erklärt sich aus der rechtlichen Situation der Christengemeinde in Korinth: In Korinth waren die Christen aufgrund des Prozesses vor dem Statthalter Gallio durch einen hohen römischen Beamten indirekt als Teil des Judentums anerkannt, daher war dem judaistischen Programm einer rituellen Re-Integration der christlichen Gemeinde in das Judentum die Grundlage entzogen. Der Verzicht auf das judaistische „Programm“ war aber auch aufgrund der innergemeindlichen Entwicklung notwendig: In Korinth hatten Vertreter der Petruspartei gewirkt ohne ein judaistisches Programm. Deshalb war es unmöglich hier unter Berufung auf die Apostel in Jerusalem Beschneidung und Speisegebote einzuführen. Die Gegenmissionare betonten in Korinth um so mehr die spirituelle Zugehörigkeit des Christentums zum Judentum, weil sie darin durch innergemeindliche Gruppen in Korinth verstärkt wurden: In Korinth konnte nur ankommen, wer an spirituellen Gaben etwas zu bieten hatte.
Beginnen wir mit den Ereignissen, sofern man sie erzählen kann: Nach Apg 18,12–17 kam es beim Gründungsaufenthalt der Gemeinde Anfang
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der 50er Jahre zur Anklage der Juden gegen Paulus.39 Sie klagten gegen ihn wegen Verletzung der wahren Gottesverehrung „gegen das Gesetz“. Der Statthalter Gallio ließ die Klage nicht zu. Er begründet das nach der Apostelgeschichte mit folgenden Worten: „Wenn es um einen Frevel oder ein Vergehen ginge, ihr Juden, so würde ich euch anhören, wie es recht ist; weil es aber Fragen sind über Lehre und Namen und das Gesetz bei euch, so seht ihr selber zu; ich gedenke, darüber nicht Richter zu sein.“ (Apg 18,14–15). Gallio betrachtet alle Streitfragen als Ausdruck innerjüdischer Konflikte. Das aber heißt: Es gab seitdem in Korinth ein rechtskräftiges „Urteil“ eines römischen Beamten, durch das die Christen als Teil des Judentums anerkannt waren. Der Ausgang des Gallioprozesses ist ein Zeichen dafür, dass das Christentum in Korinth als Teil des Judentums toleriert wurde – und das schon in der Gründungsphase. Was wissen wir über die Person des Gallio?40 Iunius Annaeus Gallio war der Sohn des älteren Seneca, Bruder des berühmten Philosophen Seneca und eines weiteren Bruders Mela, der Vater des Dichters Lukan. Die Familie stammte aus Spanien. Gallio absolvierte eine erfolgreiche Ämterlaufbahn, war wahrscheinlich 51/52 unter Claudius Prokonsul in Achaia, danach noch einmal 55 n.Chr. unter Nero Konsul in Rom. Er hatte zu Claudius wie Nero gute Beziehungen. Claudius nennt ihn in seinem Edikt in der Inschrift in Delphi „Iunius Gallio, mein Freund und Prokonsul (von Achaia)“, wobei „Freund“ ein offizieller Titel war und nichts über persönliche Nähe aussagt (Ditt. Syll. II 801D). Nero wird von ihm bei einem Gesangsauftritt im Theater als Herold assistiert (DioCass 62,20,1). Trotz seiner Nähe zu Claudius darf man mit einer Distanz zu ihm rechnen: Claudius hatte seinen Bruder, den Philosophen Seneca, verbannt. Sieben Jahre musste der im Exil leben. Erst 49 n.Chr. konnte er auf Betreiben der Agrippina aus der Verbannung zurückkehren und wurde Lehrer des jungen Nero. Die beiden Brüder haben Claudius gewiss nicht geliebt. Nach seinem Tod schrieb der Philosoph über dessen vermeintliche Apotheose eine Satire Apocolocyntosis. Gallio soll in dieselbe Kerbe gehauen haben, wenn er sagte, Claudius sei „mit einem großen Haken zum Himmel emporgehoben worden“ (DioCass 61,35,2ff). Mit einem Haken wurden die im Gefängnis Hingerichteten aufs Forum gezogen und von dort in den Tiber geschafft! Die drei Brüder fanden alle einen gewaltsamen Tod durch von Nero befohlenen Suizid. 39
40
Dass der Prozess vor Gallio eine lukanische Konstruktion sei, nimmt G. LÜDEMANN, Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte, Göttingen 1987, 207, an: Lukas habe zwei Überlieferungen, eine über Gallio und eine zweite über Paulus, vorgefunden und beide zu einem „Nicht-Prozess“ kombiniert. In der Regel hält man die Überlieferung vom Gallio-Prozess jedoch für historisch. R. METZNER, Die Prominenten im Neuen Testament. Ein prosopographischer Kommentar (NTOA 66), Göttingen 298, 443–450; W. ELLIGER, Paulus in Griechenland (SBS 92/93), Stuttgart 1978, 231–237; DERS., Art. Gallio, NBL 1 (1991), 72f.
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3.1. Die rechtliche Situation der Gemeinde in Korinth Die Besonderheit der Situation in Korinth lässt sich durch Vergleich mit den Konflikten in der Kolonie Philippi und der Provinzhauptstadt Thessaloniki näher bestimmen. Dort waren nach der Apostelgeschichte allgemeine Anschuldigungen gegen die Christen vorgebracht worden: Einführung von Sitten, die für Römer verboten waren (Apg 16,21) bzw. die Verkündigung eines anderen Königs (Apg 17,7). Juden sind weder in Philippi noch in Thessaloniki die Ankläger, auch wenn sie in Thessaloniki die Anklagen indirekt veranlasst haben könnten. In der Stadt Korinth, die zugleich römische Kolonie und Provinzhauptstadt war, trat dagegen die jüdische Gemeinde als Ankläger auf. Sie konnte sich auf die Religionspolitik des Claudius berufen, der Juden darauf verpflichtet hatte, strikt bei ihren Traditionen zu bleiben. Die jüdischen Kläger handelten in Übereinstimmung mit der offiziellen Religionspolitik des Kaisers! Deshalb erheben sie den Vorwurf, Christen wollen „gegen das (jüdische oder römische?) Gesetz Gott verehren.“ (Apg 18,13). Der Begriff „Gesetz“ ist wahrscheinlich bewusst zweideutig!41 Gallio lehnt trotzdem die Prozesseröffnung ab. Er will nicht über jüdische Religionsfragen richten. Das Christentum ist für ihn eine innerjüdische Angelegenheit. Unterlief Gallio damit die Religionspolitik des Claudius? Wohl kaum! Zu Lebzeiten des Claudius im Jahre 51/52 werden sich beide Brüder, Gallio und Seneca, um die Gunst des Claudius bemüht haben. Seneca, soeben aus dem Exil zurückgekehrt, war wieder zu Ehren gekommen, Gallio hatte hohe Ämter erhalten: Als Prokonsul muss er vorher in Rom Konsul gewesen sein (etwa 50/51 n.Chr.) – also im Jahr nach der Vertreibung von Juden wegen „christlich“ bedingter Unruhen! Hätte er nicht wie Claudius in Rom darauf insistieren müssen, dass Juden ihre Traditionen beibehielten? Dann hätte er gegen Paulus entscheiden müssen, der von solchen Traditionen abwich. Doch spricht seine Entscheidung keineswegs für eine Opposition gegen die Religionspolitik des Claudius! Im Gegenteil! Gallio verfolgte nur mit anderen Mitteln dieselbe Politik wie Claudius: Er wollte Ruhe und Ordnung herstellen. Daher eskalierte er nicht den Konflikt. Paulus wurde weder ausgewiesen noch musste er fliehen noch wurde er verurteilt.
41
W. STEGEMANN, Zwischen Synagoge und Obrigkeit. Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FLANT 152), Göttingen 1991, 237–248, nimmt eine bewusste Zweideutigkeit an. Lukas habe die Situation seiner Zeit unter Domitian zurückprojiziert: Das Christentum sei wegen „Gottlosigkeit“ angeklagt. Das passt zu Prozessen gegen „Gottlosigkeit“ unter Domitian.
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Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Konflikt in Philippi und Thessaloniki einerseits und dem Konflikt in Korinth andererseits ist, dass die Frage des Christentums nicht vor städtischen Behörden verhandelt wurde, sondern vor einem Prokonsul.42 Nicht Kommunalpolitiker, sondern ein dem ganzen Reich verpflichteter Politiker entscheidet in Korinth. Der Unmut über die Christen war meist lokal begründet! Sie erregten Unwillen, weil sie angeblich finanzielle Interessen schädigten wie die der Wahrsagerei in Philippi, der Silberschmiede in Ephesus oder der Fleischverkäufer in Bithynien und weil ihre Absage an die Götter als Kritik der einheimischen Religion verstanden wurde. Die imperiale Elite wurde erst aufgrund des Unwillens der einheimischen Bevölkerung über die Christen eingeschaltet – und hat oft nur zögernd eingegriffen. Oberste Maxime der römischen Politik in kommunalen Fragen war: Ruhe und Ordnung. Bei Konflikten hatte sie zwei Möglichkeiten: Repression oder Abwiegeln! Gallio wählte die Strategie des Abwiegelns. Durch harte Repression konnte man in Rom unangenehm auffallen. Die unterlegenen Juden hätten sich in Rom beklagen können. Das aber war inopportun. Jeder nicht vor Ort gelöste Konflikt hinterließ den Eindruck, der Prokonsul sei seiner Aufgabe nicht gewachsen! Die Wahrscheinlichkeit einer Klage in Rom war freilich minimal: Wenn sich Juden in der Provinz kurz nach ihrer Vertreibung aus Rom mit ihrem Streit direkt an den Kaiser gewandt hätten, mussten sie befürchten, Claudius erst recht zu erzürnen! Gallio wird die Lage richtig eingeschätzt haben. Gerade das Vertreibungsedikt des Claudius aus dem Jahre 49 machte keinen Unterschied zwischen Juden und Christen. Darin stimmen alle Zeugnisse überein. Sueton schreibt: „iudaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit“ (Sueton, Claudius 25). Das muss man wahrscheinlich so übersetzen: „Diejenigen Juden, die auf Anstiften eines Chrestus beständig Unruhe machten, vertrieb er aus Rom.“ Wahrscheinlich hatte die Botschaft vom auferstandenen und lebenden Christus für Unruhe gesorgt hat. Von diesem Chrestus ist wie von einem lebendigen Unruhestifter die Rede. Das Zeugnis Suetons wird durch Apg 18,2 bestätigt: Paulus trifft in Korinth das Ehepaar Aquila und Priscilla, das gerade aus Italien gekommen ist, „weil Kaiser Klaudius allen Juden geboten hatte, Rom zu verlassen“. Auch hier wird kein Unterschied zwischen Juden und Christen gemacht.43 Gallio hat 42 43
Auch in Thessaloniki als Provinzhauptstadt von Makedonien gab es einen Prokonsul, der aber nicht in den Konflikt mit den Christen einbezogen wurde! Orosius, ein christlicher Schriftsteller des 5. Jh., datiert (VII,6,15) die Vertreibung der Juden aus Rom unter Berufung auf Josephus in das 9. Jahr des Claudius (= 49 n.Chr.). Trotz Berufung auf Josephus findet sich bei den erhaltenen Textfassungen des Josephus jedoch kein Hinweis auf eine Judenvertreibung.
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vielleicht registriert, dass sich ein angesehener jüdischer Gemeindeleiter den Christen angeschlossen hatte, der Archisynagoge Krispus und sein Haus (Apg 18,8; vgl. 1Kor 1,14). Umgekehrt hatte der Archisynagoge Sosthenes als Sprecher der jüdischen Gemeinde die Klage vertreten. Wenn unter Klägern und Beklagten Mitgliedern mit vergleichbaren Ämtern waren, konnte man den Streit leicht als Ausdruck einer inneren Spaltung deuten. Möglich ist, dass Gallio wie sein Bruder Seneca Vorurteile gegen Juden gehabt hat: Seneca soll Juden ein „verbrecherisches Geschlecht“ genannt haben (gens sceleratissima)44. Gallio lässt zu, dass „alle“ den Synagogenvorsteher Sosthenes in seiner Gegenwart verprügeln. Was Lk vielleicht als Akzeptanz des Christentums durch einen hohen römischen Beamten deutete, könnte auch Ausdruck einer antisemitischen Haltung gewesen sein. Eine wichtige Konsequenz des Gallioprozesses war: Christen wurden aufgrund einer lokalen Rechtsentscheidung als Teil des Judentums toleriert, auch wenn diese Rechtsgrundlage nur in der Weigerung eines Prokonsuls bestand, einen Prozess gegen sie zu eröffnen. In Korinth konnte man keinen Druck auf sie ausüben, sie müssten die minimalen Identitätsmerkmale von Juden übernehmen, um als collegia licita toleriert zu werden! Sie waren als Teil des Judentums anerkannt. Nun könnte man sagen: Damit wäre festgeschrieben, dass sich die Christen jetzt einem internen Disziplinarverfahren in den Synagogen zu unterwerfen hätten. Aber die Gemeinde war mehrheitlich heidenchristlich. Keine Synagogengemeinde hatte ein Interesse daran, über Heiden zu urteilen. Außerdem hatte die jüdische Gemeinde durch den formalen Akt der Anklageerhebung vor dem Statthalter anerkannt, dass die angeklagte christliche Gemeinde nicht zu ihr gehörte. Sonst hätte sie versuchen müssen, sie vor ein Synagogengericht zu stellen. Wahrscheinlich war die räumliche und soziale Trennung von der Synagoge schon so weit fortgeschritten, dass man getrennt nebeneinander existierte. Aber es gab weiterhin ein Interesse daran, die Beziehung zum Judentum konfliktfrei zu gestalten. Nicht umsonst mahnt Paulus in 1Kor 10,32: „Erregt keinen Anstoß, weder bei den Juden noch bei den Griechen noch bei der Gemeinde Gottes.“ Weil es gelungen war, die Konflikte mit der Umwelt zu begrenzen, konnte sich das Christentum in Korinth ungestörter als anderswo entfalten. Während Paulus aus Philippi nach Misshandlungen ziehen und aus Thessaloniki überstürzt fliehen musste, konnte er längere Zeit in Korinth wirken und dort eine große Gemeinde aufbauen. 44
Seneca, de superstitione (zitiert bei Augustinus, Civitas Dei 6,11) Vgl. W. ELLIGER, Paulus, 237; R. METZNER, Prominente, 449 Anm. 523.
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3.2. Die religiöse Situation der Gemeinde in Korinth Vieles spricht dafür, dass Paulus in Korinth von vornherein auf ein entspanntes Verhältnis zur Umwelt Wert gelegt hat und dass eine gewisse Spiritualisierung seiner Botschaft dafür den Boden geschaffen hat. Er könnte in dieser Hinsicht aus seinen Konflikten in Philippi und Thessaloniki gelernt haben. In Thessaloniki hatte er den Eindruck hinterlassen, er verkündige die Parusie des Herrn als Kommen eines irdischen Herrschers. Einige Todesfälle in Thessaloniki waren ihm eine willkommene Gelegenheit gewesen, in seinem Brief an die Thessalonicher klar zu stellen: Das Kommen des Herrn geschieht jenseits der Todesgrenze. Es ist ein kosmisches Geschehen, nicht die Ankunft eines irdischen Herrschers. Die Anklage in Thessaloniki hatte ihm unterstellt, er würde einen anderen als „König“ proklamieren. In Korinth hat er deshalb wohl von vornherein den spirituellen Charakter seiner Eschatologie betont. Das wiederum konnte in eine andere Richtung missverstanden werden: Die Auferstehung geschehe im Herzen der Gläubigen – als Gewissheit eines ewigen Lebens der Seele, das schon in der Gegenwart beginne. Deshalb konnten einige Christen in Korinth einen realistischen Auferstehungsglauben leugnen. Paulus muss ihnen in 1Kor 15 beibringen, dass Gott die Christen in einen geistlichen Leib verwandeln werde! Während er in Thessaloniki durch ein politisches Missverständnis seiner Verkündigung einen Konflikt mit der Umwelt hervorgerufen hatte, kam es in Korinth eher zu spiritualistischen Missverständnissen seiner Botschaft innerhalb der Gemeinde. Dabei bildeten sich interne Gruppen. Die erste Welle der von außen kommenden Missionare im 1. Korintherbrief hat sich mit dieser internen Gruppendynamik verbunden und zu Parteibildungen in der Gemeinde geführt. Wie war es zu diesen internen Gruppierungen gekommen?45 Dabei spielt der Unterschied zwischen verschiedenen sozialen Typen von Missionaren eine Rolle:46 Paulus und Barnabas repräsentieren den Typ des Gemeindeorganisators, der sich von der Gemeinde unabhängig macht, indem er mit eigenen Händen arbeitet und sich selbst ernährt. Auf der anderen Seite stehen die von der Aussendungsrede geprägten Missionare mit einem Anspruch auf Unterhalt. Diese Missionare müssen ihre Unterstützer eng an sich binden. Die Häuser, in denen sie beherbergt wurden, waren 45
46
W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther (EKK VII/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 1991, 142–148; H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther (ÖTK 7/1), Gütersloh/Würzburg 1992, 134–152; A. LINDEMANN, Der Erste Kortintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 39–41. An dieser These möchte ich festhalten. Vgl. G. THEIßEN, Legitimation und Lebensunterhalt, 192–221 (= DERS., Studien zur Soziologie des Urchristentums, 201–230).
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wahrscheinlich die Zentren der jeweiligen „Partei“. Alle hielten natürlich den Missionar für den besten, den sie selbst unterstützten. Nach 1Kor 1,12 gab es vier Parteien: Paulus, Apollos, Kephas, Christus. Umstritten ist die Existenz einer Christuspartei, da in 1,13 zwar eine Parole „Ich gehöre zu Christus“ zitiert wird, eine Christuspartei aber in 3,22 nicht genannt wird und die Argumentation gegen sie ins Leere laufen würde: Der Vorwurf, die Gemeinde zu spalten, würde sie am allerwenigsten treffen. Denn die Beziehung auf Christus vereint alle. Es könnte sich daher entweder um eine ironische Parodie der anderen Parolen durch Paulus handeln, ohne dass dahinter eine eigene Christuspartei steckt. Oder es könnte sich um die Petruspartei handeln, die beansprucht haben mag, die eigentliche Christuspartei zu sein, da sie über Petrus eine direkte Verbindung zum irdischen Jesus hatte (F. Chr. Baur). Oder sie gilt wegen ihres Anspruchs auf eine unmittelbare Beziehung zu Christus als Partei der Pneumatiker und Gnostiker (W. Schmithals). Oder es handelt sich gar nicht um eine bestimmte Gruppe in Korinth, sondern um den Anspruch der von außen kommenden Missionare: Sie beanspruchten „Christi zu sein“ (2Kor 10,7; vgl. Mk 9,41). Letzteres ist die wahrscheinlichste Lösung. Die Korinther dachten in Genealogien: „Christus – Petrus – Petruspartei“, „Christus – Apollos – Apollospartei“ und „Christus – Paulus – Pauluspartei.“ Alle bezogen sich letztlich auf Christus, jeweils vermittelt durch ihren Missionar. Daher gab es wahrscheinlich keine Christuspartei analog zu den anderen Gruppen, wohl aber eine Christusparole, die den von außen kommenden Missionaren Christi zugeschrieben wird. Ferner kann man vermuten, dass die drei Parteien in Korinth jeweils das Thema besetzten, bei dem ihr „Meister“ am stärksten schien: Apollos vertrat die Weisheit. „Er war ein beredter Mann, ... gelehrt in der Schrift“ (Apg 18,24). Hierin überbot er die anderen, auch Paulus, der in seiner mündlichen Rede die Korinther nicht überzeugt hat (2Kor 10,10). Dagegen sagt Paulus: Das Kreuz ist eine Torheit, es ist nicht Weisheit von dieser Welt. Die Polemik gegen den Weisheitsstolz würde dann vor allem die Apollosanhänger treffen. Dabei ist unverkennbar, dass Paulus und Apollos zusammen arbeiten. Sie sind keine Gegner, auch wenn ihre Anhänger sie gegeneinander ausspielen. Beide stammten aus der Diaspora, beide vertraten eine vergleichbare Linie in der Heidenmission. Petrus vertrat dagegen als „Fels, auf dem die Kirche gebaut ist“ die Autorität. Die Petrusanhänger waren stolz, mit dem verbunden zu sein, der das Fundament der ganzen Kirche war. Dagegen könnte Paulus in 1Kor 3,11 indirekt polemisieren: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Christus ist der einzige Grundstein. Die Petrusanhänger beriefen sich vielleicht auf das Wort an Petrus als Grundstein der Kirche (Mt 16,18).47 Wahrscheinlich war Petrus selbst in 47
PH. VIELHAUER, Paulus und die Kephaspartei in Korinth, DERS., Oikodome. Aufsätze zum Neuen Testament Bd 2,
NTS 21 (1975), 341–352 (= hg. v. G. KLEIN [ThB 65], München 1979, 169–182). Schon in seiner Dissertation: Ph. VIELHAUER, Oikodome.
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Korinth gewesen, auf jeden Fall aber mit ihm verbundene Missionare. Petrus aber hatte auf dem Apostelkonzil den Kompromiss mit ausgehandelt, dass die Beschneidung von Heidenchristen keine Notwendigkeit sei. Seine Vertreter in Korinth hatten keine Forderungen in diese Richtung erhoben. In Speisefragen hatte sich Petrus beim antiochenischen Konflikt eher pragmatisch verhalten: Speisegebote waren für ihn eine Frage der Anpassung an die Umstände. Auch hier herrschte in Korinth eine moderate Linie. Die im 2. Korintherbrief neu eingetroffenen Gegenmissionare konnten in Korinth – ganz gewiss nicht mit Berufung auf die anderen Apostel – Beschneidung und Speisegebote verlangen. Dagegen konnte sofort die Autorität des Petrus und seiner Gruppe angeführt werden. Für die Anhänger des Paulus blieb im korinthischen Parteinstreit immer noch ein Proprium, das ihnen niemand nehmen konnte: Paulus hatte die Gemeinde gegründet und dabei einige getauft. Aber diese Bindung kann Paulus ironisieren. Er fragt ironisch: „... seid ihr auf den Namen des Paulus getauft?“ (1Kor 1,13). Außerdem hat er nur ganz wenige wie Stephanas und sein Haus persönlich getauft. Er wird in anderen Fällen die Taufe seinen Begleitern wie Timotheus, Titus oder Silvanus überlassen haben.
Der Parteienstreit im 1. Korintherbrief ist weniger durch die konkurrierenden Missionare hervorgerufen als durch ihre Anhänger in Korinth.48 Im 2. Korintherbrief werden die Probleme dagegen durch neu eingetroffene Missionare hervorgerufen. Dennoch geht es hier wie dort um eine Konkurrenz von Charismatikern, die hier wie dort nach vergleichbaren Kriterien gemessen werden bzw. sich selber an diesen Kriterien messen.49 Wenn sich der Konflikt trotz wechselnder Missionare um ähnliche Probleme dreht, dürfte die Gemeinde vielleicht diese Gleichförmigkeit erklären: Die Gemeinde hatte Erwartungen an vorbeikommende Missionare – und diese aktivierten in ihrem „Angebot“ eben jene Verhaltensweisen, mit denen sie in der Gemeinde gut ankamen. Eine Rolle spielte dabei das Unterhaltsrecht, das Charisma zu Wunder-
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Das Bild vom Bau in der chrsitlichen Literatur vom Neuen Testament bei Clemens Alexandrinus, Karlsruhe/Durlach 1939 (= DERS., Oikodome, 1–168, dort S. 80 Anm. 6), hatte PH. VIELHAUER in 1Kor 3,10–15 eine Polemik gegen Petrus als Möglichkeit genannt. So auch J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 76: „Our search for opponents has yielded no evidence that the problems in Corinth are the result of intruders who are attempting to take Paul’s place. Rather, the questions raised about Paul come from the Corinthians themselves. There are clearly challenges to his authority as he is compared to other leaders, specifically at least Cephas and Apollos.” J.L. SUMNEY, Servants of Satan, 130–133, kommt bei einem Vergleich zwischen beiden Konflikten zu dem Ergebnis: Es handle sich hier wie dort um einen Konflikt um die Lebensform eines Apostels. Es müsse sich daher um dieselbe Art von Gegnern handeln. Wenn zwei Wellen verschiedener Missionare in derselben Gemeinde zu vergleichbaren Konflikten kommen – müsste dann nicht die in beiden Konflikten gleich bleibende Gemeinde einen sehr viel höheren Anteil an der Gleichförmigkeit dieser Konflikte haben?
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taten, das Charisma der inspirierten Rede, der visionären Erlebnisse. Es ist daher kein Wunder, wenn die pneumatischen Züge der Gegenmissionare im 2. Korintherbrief deutlicher hervortreten als in Galatien und Philippi. Die religiöse Situation der korinthischen Gemeinde ließ solche pneumatischen Gaben hervortreten. Die von außen kommenden Gegner im 2. Korintherbrief traten in Interaktion mit innergemeindlichen Gruppen, In diesen Gruppen wurden pneumatische Gaben hoch geschätzt. Um in Korinth „anzukommen“ mussten die eintreffenden Gegenmissionare gerade diese Aspekte ihres Auftretens hervorstreichen. Was nun die Beziehungen zur jüdischen Synagogengemeinde anging, so hat Paulus wohl von vornherein darauf geachtet, Konflikte mit der Synagoge zu reduzieren. Er geht dabei auf zwei Ebenen vor: beim praktischen Verhalten und beim grundsätzlichen Selbstverständnis der Christen. Bei praktischen Fragen verhält er sich in Korinth sehr viel vermittelnder als etwa im Antiochenischen Konflikt. In Antiochien hatte Paulus auf der Freiheit von Speisegeboten insistiert, in Korinth ist er zu Kompromissen bereit (1Kor 8–10): Viele Korinther waren bereit, um des Friedens mit Juden und Judenchristen willen auf Speisen zu verzichten, die für sie anstößig waren: zumindest auf das Götzenopferfleisch. Damit erfüllten sie zwar nicht die Kaschruth, die Thoragebote für koscheres Essen. Aber sie beseitigten ein Ärgernis für Juden. Das Lösungsmodell für das Essen von Götzenopferfleisch konnte leicht auf andere Speise übertragen werden. Auch der alltägliche Umgang mit Juden konnte dadurch leichter werden: Um der Liebe und Rücksichtsnahme willen kann man selbstverständlich auch koscher essen. Genauso wichtig ist das Selbstverständnis der Gemeinde. Die Christen in Korinth betrachteten sich als Fortsetzung des alten Israel. In 1Kor 10,1–15 entwickelt Paulus eine Israel-Typologie: So wie einst Israel aus seiner Gefangenschaft in Ägypten aufgebrochen war, um durch den Zug durchs rote Meer und die Bewahrung in der Wüste durch Manna gerettet zu werden, so ist auch die Christengemeinde in Korinth aus der Gesellschaft aufgebrochen: Der Zug durchs rote Meer entspricht der Taufe, das Manna dem Abendmahl. Dabei handelt es sich nicht nur um „Bilder“, sondern um Realitäten: Christus war als mitwandernder Fels in der Wüste bei den Israeliten, so wie er heute bei seiner Gemeinde realpräsent anwesend ist. Paulus hat so dazu beigetragen, dass sich die heidenchristlichen Korinther als Teil und Fortsetzung Israels verstanden, ohne schroffe Unterscheidung von den Juden. Die Israel-Typologie sieht beide in enger Verbundenheit: Israel und die Gemeinde sind in gleicher Weise durch ihr Fehlverhalten gefährdet.
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Die Gegenmissionare fanden in Korinth also eine Situation vor, in der die Christen nicht nur als Teil des Judentums von außen toleriert wurden, sondern sich auch selbst in einem spirituellen Sinne als Teil Israels verstanden. Dass jüdische Gruppen sich an verschiedenen Orten versammelten und getrennte Versammlungsstätten hatten, war man gewohnt. Wollten die Gegenmissionare in Korinth ihr Ziel einer Integration des Christentums ins Judentum verfolgen, so mussten sie ideell das schon vorhandene Bewusstsein stärken, dass die Christen im Grunde Juden waren. Die Gegenmissionare mussten Paulus darin überbieten, das Christentum im Judentum zu verwurzeln. Daher ihr demonstratives Israelbewusstsein – wahrscheinlich verbunden mit einer Verherrlichung des Dienstes des Mose, der alle Herrlichkeit der Christen schon umfasst. Die Korinther sollten anerkennen, dass seine Thora etwas Großartiges ist und eine gewaltige Doxa von ihr ausging. Dagegen argumentiert Paulus: Die Doxa des Auferstandenen ist noch weit größer als die Doxa des Mose. Letztere verblasst angesichts der überwältigenden Herrlichkeit des Evangeliums (2Kor 3,4–18). Wieder lässt er Christus schon in der Geschichte des Alten Bundes anwesend sein. Wenn sich Mose zu Gott hinkehrt, dann „bekehrt“ er sich zu Christus. In der Begegnung mit Gott nimmt er die Hülle über seinem Haupt ab. Die Herrlichkeit aber, die er sieht, ist die Herrlichkeit Christi. Man kann also sagen: Es sind situative Faktoren, welche die Gegner des Paulus in Korinth dazu veranlasst haben, „moderater“ aufzutreten: Sie mussten nicht mehr Beschneidung und Speisegebote einfordern, weil das Christentum hier als ein Teil des Judentums von den Behörden anerkannt war. Es war hier eine religio licita, setzte sich weitgehend aus unbeschnittenen Heidenchristen zusammen, die getrennt von der Synagoge lebten, aber bei denen Paulus ein Minimum von Distanz gegenüber dem Götzenkult durchsetzte, auch um Juden keinen Anstoß zu geben. Die Gegner begnügten sich damit, die spirituelle Verbundenheit mit Israel zu stärken, indem sie ihre eigene Verbundenheit mit Israel hervorhoben. Sie aktivierten ihre pneumatischen Gaben, weil sie mit ihnen in einer paulinischen Gemeinde am meisten Resonanz fanden. Wenn unsere Analysen und Überlegungen zutreffen, könnte man – begrenzt auf die Gegenmission in Galatien, Philippi und Korinth – eine Einheitsdeutung wagen: Die Gegenmission zu Paulus versucht eine Reintegration seiner Gemeinden ins Judentum, um Konflikte mit der jüdischen Umwelt und Eingriffe der heidnischen Behörden zu vermeiden. Sie entsprach damit der Religionspolitik des Claudius, der keine grundsätzlichen Änderungen in den religiösen Traditionen wollte, um den religiösen Frieden aufrecht zu erhalten. Sie begann in Galatien und
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knüpfte zunächst positiv an Paulus an, in der Absicht, sein Werk zu vollenden. Wahrscheinlich machte sie erst die schroffe Reaktion des Paulus im Galaterbrief zu einer Gegenmission und zu Gegnern des Paulus. In Philippi traten sie mit demselben Programm auf. Da diese Gemeinde den Konflikt mit der Umwelt an sich selbst erfahren hatte, hatten sie hier eine Chance. Paulus warnte noch emphatischer vor ihnen – aber im Bewusstsein, dass er sich gegen seine Gegner wird durchsetzen können. In Galatien wie Philippi unterstellte er „libertinistische“ Motive, wenn die Gegner auf eine kollektive Beschneidung der christlichen Männer zielten. Das ist eine nicht ganz vorurteilsfreie polemische Unterstellung, weist aber nicht auf realen Libertinismus hin. In Korinth kann und muss die Gegenmission die rituellen Forderungen ihres judaistischen Programms fallen lassen, da die Christen als Teil des Judentums anerkannt sind und schon die Anhänger des Petrus die moderate Linie des Apostelkonzils vertreten hatten. Die Gegenmission hätte in Korinth gegen die Autorität des Petrus ihr Programm durchführen müssen. Sie begnügte sich daher hier damit, die spirituelle Zugehörigkeit der Christen zu Israel zu stärken. Aber sie griff jetzt Paulus direkt und persönlich an, stellte seine charismatische Autorität in Frage, an der sie bisher immer gescheitert war. Die Gegenmission hat in den vorhergegangenen Konflikten gemerkt, dass sie nicht gegen die Autorität des Paulus ankam. Der sehr viel erbitterte Ton des Konflikts im 2. Korintherbriefs weist aber nicht auf eine erhöhte Gefahr durch die Gegenmission, eher auf das Gegenteil: Wenn ein sachlicher Konflikt am Ende nur nach als Streit um Lebensführung und persönliches Charisma geführt werden kann, so ist das ein Zeichen der Schwäche. Die Gegenmissionare in Galatien. Philippi und Korinth müssen nicht personal identisch gewesen sein. Sie gehörten aber zur selben Strömung im Urchristentum. Sie stehen dem judenchristlichen Flügel nahe, der beim Apostelkonzil hervorgetreten war, aber schon dort keine monolithische Einheit war. In der skizzierten Form lässt sich eine Einheitsdeutung in der Nachfolge F. Chr. Baurs auch heute vertreten.
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Lob am Jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief Samuel Vollenweider Im Proömium seines Briefs an die Philipper (Phil 1,3–11) gibt der Apostel Paulus einer eigentümlichen Zeitverschränkung Raum. Dankend blickt er in V.5 auf den guten Fortgang des Evangeliums bis in die Gegenwart zurück, um dann seiner Zukunftshoffnung Ausdruck zu geben, die im Τag Jesu Christi kulminiert (V.6). Im zweiten Teil, der die Gestalt einer Fürbitte annimmt, ist es wiederum ein Ausblick auf die Zukunft (V.10), der den Gebetsbericht abschließt, gefolgt von einer doxologischen Formulierung in V.11b. Der zweimalige Hinweis auf die Endzeit spiegelt die Struktur der gesamten Danksagung, wie sie der Jubilar, Ulrich B. Müller, in seinem wertvollen Kommentar beobachtet hat:1 „Entsprechend der Zweiteilung des ganzen Proömiums finden sich zwei inhaltliche Schwerpunkte im Text: der Dank an Gott angesichts des überaus positiven Einsatzes der Gemeinde für das Evangelium (V.3–6) – die Fürbitte an ihn, dass die Gemeinde weiterhin wachse in ihrem Glaubensstand bis zur Vollendung (V.7–11).“
Da ein Proömium gern Leitmotive und Intentionen des Briefcorpus zu antizipieren pflegt, kann es nicht überraschen, dass endzeitliche Perspektiven auch im weiteren Fortgang des Briefes – jedenfalls soweit man mit seiner Einheitlichkeit rechnen will – signalisiert werden. Sie ziehen sich von den Schlusszeilen im großen Christuslob (2,10f) über den erneuten Hinweis auf den Tag Christi in 2,15f und die Wiederkehr Christi samt der Unterwerfung des Alls in 3,20f hin bis zur Versicherung des Nahekommens Jesu (4,5b) und zur abermaligen Nennung der „Frucht“ als endzeitlichem Gewinn auf dem Konto der Gemeinde (4,17). Der Jubilar rückt mit guten Gründen auch das bekannteste Leitmotiv des Briefes, die Freude, in eben diesen Kontext:2
1 2
U.B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/1), Leipzig 22002, 48. A.a.O., 30.
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„In diesem eschatologischen Zusammenhang ist das Motiv zu sehen, das schon immer als Charakteristikum des Philipperbriefes aufgefallen ist: das der Freude. […] Es ist die Freude über die siegreich bestandene Bewährung des Glaubens, die jetzt schon die innere Haltung der Gemeinde bestimmt und einen Vorgriff auf den eschatologischen Jubel darstellt. […] Der eschatologische Bezug der Freude ist aber besonders deutlich in 4,1, wenn die Gemeinde, die im Herrn feststeht, vorgreifend als ‚Freude’ und ‚Kranz’ des Apostels erscheint; sie wird am Tage Christi der Gegenstand seines eigenen Rühmens sein (2,16). Sie selbst aber soll sich schon in der Gegenwart, ihres Heilsstandes und ihrer Bewährung gewiss, freuen; denn ‚der Herr ist nahe’ (4,4f.).“
Wir unternehmen es im Folgenden, auf das Motiv der Ehrung am Jüngsten Tag in der paulinischen Korrespondenz ein Schlaglicht zu werfen.3
1. 1.1. Das Proömium des Philipperbriefs endet in V.9–11 wie im 1. Korintherbrief (1,7f) mit dem endzeitlichen Ausblick auf den Tag Christi.4 Paulus setzt auf die Liebe und die Erkenntnis, die Reinheit und die Gerechtigkeit seiner philippischen Gemeinde, die an jenem Tag offenbar wird. Vom „Tag Christi“ ist exklusiv in Phil die Rede, während die Korintherkorrespondenz vom „Tag des Herrn Jesu (Christi)“ spricht (1Kor 1,8; 2Kor 1,14), analog dazu steht der Verweis auf die „Ankunft“ Jesu (1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,28; 1Kor 15,23). Daneben kann der Apostel auch traditionell auf den „Tag des Herrn“ Bezug nehmen (1Thess 5,2; 1Kor 3,13 [?]; 5,5; Röm 2,16; vgl. 2Thess 2,2; 2Petr 3,10.18; Apg 2,20 [Jo 3,4]).5 Auffällig ist die Inversion, die mit der christologischen Beanspruchung des „Herrentags“ einhergeht: der „Tag Christi“ wird im Unterschied zur alttestamentlichen Semantik6 positiv konnotiert; für die Glaubenden und zumal für den Apostel handelt es sich um einen Tag der Freude. Der Philipperbrief fokussiert dabei freilich auf einen besonderen Aspekt, dem wir in den folgenden Zeilen nachspüren
3 4 5 6
Zur „Freude“ s. unten bei Anm. 25. Im 1Kor weist diese eschatologische Perspektive voraus auf die Abhandlung über die Totenauferstehung in Kap. 15. Ebenso bereitet 1Thess 1,10 die eschatologische Belehrung 4,13–5,11 vor. Zu Bezugnahmen auf den „Tag des Herrn“ in den Pseudepigraphen vgl. PsSal 15,12; TestLev 3,2; Weiteres bei M. KONRADT, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin/New York 2003, 152f. Vgl. dazu E. JENNI, Art. Tag, THAT I (1971), 707–726: 723–726; umfassend N. WENDEBOURG, Der Tag des Herrn (WMANT 96), Neukirchen-Vluyn 2003.
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werden, nämlich dem Ruhm vor Gott bzw. dem Lob durch Gott.7 In Phil 1,11 wird diese Thematik vorerst nur gerade durch die doxologische Formel „zur Ehre und zum Lob Gottes“ angedeutet.8 Es ist aufschlussreich, dass ein Nebenstrom in der handschriftlichen Überlieferung u.a. dazu tendiert, Paulus selber zum Empfänger des Lobs zu machen.9 Diesen Schritt vollzieht der Apostel aber erst in 2,16. 1.2. Im locker arrangierten Abschnitt Phil 2,12–18, der die mit 1,27 anhebende Ausführung über den Anspruch des Evangeliums beendet, beziehen sich V.14–16 wiederum auf die endzeitliche Erwartung des Tags Christi. Paulus gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihm die philippische Gemeinde an diesem Tag zum Ruhm gereichen werde.10 Ihre Bewährung inmitten einer feindlichen Welt, vergleichbar mit Gestirnen inmitten von Dunkelheit, schützt seine apostolische Arbeit vor dem „Leerlauf“ (vgl. 1Thess 3,5; Gal 2,2; Jes 49,4).11 Im 1. Korintherbrief wird der endzeitliche Ruhm eigens mit dem Unterhaltsverzicht verbunden, den der Apostel in Korinth vorexerziert hat (9,15f; vgl. 2Kor 11,10). Sein Ruhm wird durch den „Kranz“ augenfällig verbildlicht, den er an jenem Tag zu erhalten hofft (1Kor 9,25) und mit dem er wiederum die Gemeinde identifiziert (Phil 4,1).12 Paulus sehnt sich in seinen apostolischen Mühen einer endzeitlichen Auszeichnung durch den Parusie7 8
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Explizit begegnet diese Akzentuierung auch in 2Kor 1,14: Gegenstand der der Gemeinde aufgetragenen Erkenntnis ist es, dass „wir euer Stolz sind, gleich wie auch ihr unser Stolz seid am Tag unseres Herrn Jesus“. Die meisten Kommentatoren, darunter U.B. MÜLLER, deuten den Genetiv eivj do,xan kai. e;painon qeou/ zu Recht als Gen. obj., d.h. Gott fungiert als Empfänger von Ehre und Lob; vgl. nur Ps 35,28 und 1Chron 16,27. Demgegenüber plädiert W. SCHENK, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984, 123–127 für einen Gen. subj., unter Berufung auf Röm 2,7.10.29; ebenso J. REUMANN, Philippians (AnchB 33B), New Haven 2008, 135-137f; 159f. Besondere Aufmerksamkeit erheischt die Lesart von p46 (g) mit Dativus commodi: eivj do,xan kai. e;painon qeou/ evmoi,, die von einigen Kommentatoren für ursprünglich erachtet wird. M. BOCKMUEHL, The Epistle to the Philippians (BNTC), London 1997, 70f verteidigt den Mehrheitstext zu Recht („Rhetorically, it would certainly be anticlimactic and counterproductive to end the passage in praise of Paul rather than of God”, 71). Vom kau,chma, dem Gegenstand des Rühmens, hat Paulus bereits in 1,26 gesprochen: Die Philipper können sich ihres Seins in Christus rühmen, Paulus ist der Gehilfe zu diesem Ruhm. Der „Leerlauf“ von Phil 2,16 wird bei M. BRÄNDL, Der Agon bei Paulus (WUNT II 222), Tübingen 2006, 248–262; 415f vornehmlich vom jesajanischen Gottesknecht von Jes 49,1–6 her interpretiert. Zur Metaphorik des Kranzes vgl. W. GRUNDMANN, Art. ste,fanoj ktl., ThWNT VII (1964), 615–635, besonders 628 zur Verwendung bei Paulus. Zwei neuere Arbeiten untersuchen die agonistischen Kontexte: U. POPLUTZ, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg 2004, 313–318; BRÄNDL, Agon (s. Anm. 11) 89–328; 417f; zur Gemeinde als Ruhmeskranz 320–322.
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christus entgegen. Umgekehrt gereicht er sein Gemeinden zum Ruhm, schon in der Gegenwart wie wohl auch künftig vor dem himmlischen Forum (Phil 1,26; 2Kor 1,14; vgl. 5,12). Die imaginierte endzeitliche Szene gewinnt durch 1Thess 2,19f deutlicheres Profil: Die Gemeinde wird sich am Tag der Parusie Christi als Hoffnung und Freude, als Ruhmeskranz und Ehre (do,xa) für den Apostel erweisen.13 Mit dem Lexem parousi,a verbindet sich eine semantische Assoziation, die uns als Wegweiser in der folgenden Spurensuche dienen wird und gerade auch für 1Thess 2 beachtet sein will: Die Parusia des Christus assoziiert nicht nur den alttestamentlich-jüdischen Tag des Herrn, sondern ist auch als hellenistischer quasitechnischer Begriff für den Besuch eines Herrschers oder hohen Beamten in einer Stadt anzusprechen (vgl. 3Makk 3,17).14 Die nach Maßgabe politisch-festlicher Konventionen modellierte Szenerie, die Paulus vor Augen hat, lässt sich also in Umrissen rekonstruieren: Der wiederkehrende Christus verleiht dem Apostel im Blick auf dessen Wohltaten zugunsten der himmlischen Stadt einen Ehrenpreis.
2. 2.1. Die profane Inszenierung der Ehrung verdienter Bürger, die ihrerseits stark von religiösen Momenten bestimmt ist, dürfen wir zum allgemeinen Erfahrungsschatz städtischer Bewohner des römischen Reichs zählen. Phil 4,8 reiht den e;painoj – näherhin all das, was Lob verdient – unter den konsensfähigen Gütern ein. Es ist gewiss kein Zufall, dass Paulus gerade in einem politischen Zusammenhang auf die 13
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Auf eine „sachliche Spannung“ macht T. HOLTZ, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), Neukirchen u.a. 21990, 121 aufmerksam: „Hoffnung“, „Freude“ und „Ruhmeskranz“ können als eschatologische Heilsbezeichnungen im strengen Sinn „nur auf Christus, nicht auf die Gemeinde gegründet sein“, i.U. zu „Lohn“ und „Lob“. Vgl. hierzu das Material in den einschlägigen Lexika: J.H. MOULTON / G. MILLIGAN, The Vocabulary of the Greek Testament. London 1930, 497; A. OEPKE, Art. parousi,a ktl., ThWNT V (1954), 856–869: 857f; W. RADL, Art. parousi,a, EWNT III (1983), 102– 105; C. SPICQ, Léxique théologique du Nouveau Testament, Fribourg 1991, 1185– 1187. A. DEIßMANN, Licht vom Osten, Tübingen, 1923, 314–320, der programmatisch auf die hellenistische Terminologie aufmerksam gemacht hat, gewinnt den Papyri „einen eigenartig schönen Kontrasthintergrund zu den Bildworten des Apostels Paulus“ ab, wenn die Städte mühevoll die Ehrengaben wie den teuren Kranz zu bereiten haben, während Christus den Kranz verleiht (315). Die Kontrastierung ist forciert; ich formuliere eine Gegenhypothese: Zum Parusieprogramm zählen gerade auch Preisverleihungen durch den Magistrat oder Herrscher. – Auch 2Tim 4,8 weist mit dem Zusammenhang von Kranzverleihung und evpifa,neia deutlich auf den Kontext eines ehrenvollen Akts am Ankunftstag eines göttlichen Herrschers.
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Prämierung von gutem Tun durch die Magistrate zu sprechen kommt. In Röm 13,3f verweist er auf die staatliche Macht, die dem, der Gutes tut, ihr Lob (e;painoj) zuspricht. Umgekehrt wird dem Übeltäter der Strafvollzug durch die Behörden angedroht. A. Strobel hat auf die kaiserlichen Schreiben an Städte hingewiesen, die das Verhalten der Untertanen loben, über die provinziale Elite hinaus auch die Bürgerschaft schlechthin.15 Besonders interessant sind die von W.C. van Unnik beigebrachten antiken Stimmen, in denen Belobigung und Bestrafung durch Herrscher oder Magistraten wie bei Paulus und in 1Petr 2,14 parallelisiert werden.16 Die Belege lassen sich leicht vermehren.17 Die Ehrung, die den um die Stadt verdienten Wohltätern gilt,18 erfolgt von oben nach unten. Noch zahlreicher sind umgekehrt diejenigen inschriftlichen Zeugnisse, in denen eine Stadt selber ihre Wohltäter preist; wenn der Rat samt dem Dēmos die besonderen Prestigeträger für ihr gutes Tun lobt, ergeht die Ehrung von unten nach oben. Während Röm 13 und 1Petr 2,14 eher an unspezifische Ehrungen von Kollektiven denkt, handelt es sich beim Lob von Einzelnen mit Sicherheit um herausragende Wohltäter. Offenbar steht bei der endzeitlichen Auszeichnung des Apostels durch den Kyrios die Ehrung von Wohltätern durch eine höher gestellte Persönlichkeit Pate.
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A. STROBEL, Zum Verständnis von Rm 13, ZNW 47 (1956), 67–93: 79–85. Vgl. ferner DERS., Furcht, wem Furcht gebührt. Zum profangriechischen Hintergrund von Rm 13,7, ZNW 55 (1964), 58–62. – Zur jüngeren politischen Diskussion um Röm 13 vgl. ST. SCHREIBER, Imperium Romanum und römische Gemeinden, in: U. BUSSE (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg 2005, 131– 170. W.C. VAN UNNIK, Lob und Strafe durch die Obrigkeit. Hellenistisches zu Röm 13,3–4, in: Jesus und Paulus, FS W.G. Kümmel, Göttingen 1975, 334–343. Das Schema des Erteilens von Lob und Strafe wird nicht nur auf Behörden, Kaiser und Feldherren, sondern auch auf die Gesetze angewandt; sie loben die Guten und strafen die Bösen. Vgl. die Belege bei S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989, 357-358. Leider bieten „alter“ und „neuer Wettstein“ keine in Frage kommenden Parallelen zu dem uns interessierenden Sachverhalt. Vgl. dazu besonders B.W. WINTER, The Public Honouring of Christian Benefactors. Romans 13.3–4 and 1 Peter 2.14–15, JSNT 34 (1988), 87–103 („This epigraphic evidence c1early demonstrates along with literary evidence that not only did rulers praise and honour those who undertook good works which benefited the city, but at the same time they promised likewise to publicly honour others who would undertake similar benefactions in the future“). Die These von WINTER, dass Röm 13,3f christliche Individuen spezifisch dazu ermuntert, der Stadt Wohltaten zukommen zu lassen, ist m.E. unwahrscheinlich; Paulus verweist lediglich auf die unübersehbare allgemeine Tatsache, dass das Tun von Gutem vielfaches öffentliches Lob findet. Das duale Muster – Guttun und Lob versus Übeltun und Strafe –, ein deutlicher Indikator für Verallgemeinerung, wird bei WINTER nicht berücksichtigt. – Zum antiken Wohltätersystem vgl. zusammenfassend H.-J. GEHRKE, Art. Euergetismus, DNP 4 (1998), 228–230, wo speziell auch auf die kompetitiven Elemente hingewiesen wird.
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2.2. Mit dem Interesse an einer Fallstudie kehren wir nach Philippi zurück und werfen einen knappen Blick auf die zahlreichen städtischen Ehreninschriften für Privatpersonen und für öffentliche Amtsträger sowie für religiöse Beamte (insbesondere des Sarapis), überwiegend in lateinischer Sprache abgefasst.19 Mit einer bemerkenswerten Ausnahme20 ehren niedrigstehende Personen bzw. Gruppen jeweils die höher rangierten. Nur zwei offizielle Ehrungen werden ausführlicher dokumentiert. Ein Bürger und Beamter hellenistischer Zeit wird als Wohltäter gefeiert, da er in einer Notlage für Getreidelieferungen zu festen Preisen gesorgt hat.21 Εinem Wohltäter gilt ein Dekret der Volksversammlung aus dem 2. Jh. v. Chr.:22 Die ekklesia, die sonst nicht in den philippischen Inschriften genannt wird, „hat es für gut befunden, ihn zu belobigen (evpaine,sai)“ für seine Wohltaten, zumal in Notzeiten. Leider werden wir also für die uns speziell interessierenden Zusammenhänge – Lob und Ehre durch höher gestellte Amtsträger – in Philippi nicht fündig. Es ist Aufgabe der künftigen Forschung, die einschlägigen Realien für dieses sehr bestimmte Setting herauszuarbeiten.23
3. Im Folgenden beschäftigen wir uns anhand von drei Leittexten mit der Übertragung des Lobs und seines Gegenteils auf die spirituelle und die eschatologische Ebene. 3.1. Philon legt im Rahmen seiner expositio legis das duale Schema von Lob und Strafe seiner Schrift De praemiis et poenis zugrunde.24 Einige aufschlussreiche Beobachtungen lassen sich machen. So wird deutlich, dass das Schema von Haus aus in einen agonistischen Kontext gehört: Zum Wettkampf gehört die Ehrung des Siegers und die Blamage des 19 20 21 22 23 24
Das Material legt P. PILHOFER vor: Philippi, Bd. II: Katalog der Inschriften von Philippi (WUNT 119), Tübingen 2000 (vgl. dazu meine Rezension BZ 46 [2002], 149f). – Ich danke meiner Assistentin EVA EBEL für kundige Beratung. PILHOFER, Nr. 432 bietet die Inschrift eines Gutverwalters, vielleicht selber ein Sklave, für einen Sklaven. PILHOFER, Nr. 543. PILHOFER, Nr. 348. Die Ehrung durch den Herrscher persönlich erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf schriftlichem Weg. Das Programm wird in praem. 3 formuliert: Die für die Guten ausgesetzten Belohnungen kontrastieren mit den für die Schlechten angedrohten Strafen (toi/j avgaqoi/j a=qla kai. toi/j ponhroi/j evpiti,mia), entfaltet in 4–78. Nach einer Lücke werden auch Segen und Fluch abgehandelt (79–172). Die Kohärenz besteht u.a. darin, dass Flüche auch als Strafen erscheinen (162).
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Verlierers; Lob und Tadel stehen sich gegenüber, Ehre und Schande.25 Wird die Terminologie nun spiritualisiert, so verschieben sich Tadel bzw. Schande zur Strafe. Lob und Ehrenpreise beziehen sich auf die seelischen Tugenden und ihre Güter, die von den Patriarchen verbildlicht werden. Wir hören von „Ehrenpreisen“ (a=qlon( brabei/on( ge,raj), vom Siegerkranz und der Ehrverkündigung (kh,rugma)26 – und auch von der Freude als einem herausgehobenen Ehrenpreis!27 Die Exegese Philons zeigt nicht nur die Ausdruckskraft der agonistischen Metaphorik, sondern auch ihre breite Rezeption im Raum des griechischsprachigen Judentums, wie sie daneben besonders vom 4. Makkabäerbuch dokumentiert wird (9,8; 17,11–16). 3.2. Mit Röm 2,26–28 steuern wir einen endzeitlichen Kontext an, wie die zahlreichen Verweise auf das Gottesgericht und den „Tag des Herrn“ in Kap. 2 nahelegen.28 V.29 spricht vom „Juden im Verborgenen“, der Lob nicht von Menschen, sondern von Gott empfängt.29 Der von uns beobachtete Dual ist auch hier im Horizont, verweist doch V.27 umgekehrt auf das scharfe Gericht am vorfindlichen Juden. Zugleich wird explizit auf den Vorgang des Rühmens Bezug genommen (2,17.23). Das Kennen dessen, „worauf es ankommt”, erweist sich wie in Phil 1,10 als Grund für die Ehrung durch Gott. Wir brauchen an dieser Stelle auf die schwierige Frage, ob der „verborgene Jude“ als hypothetische Figur oder aber als Platzhalter für die Heidenchristen zu charakterisieren ist, nicht einzugehen. Wichtig ist vielmehr die Beobachtung, dass Paulus mit einer bisher nicht relevanten Antithese arbeitet, nämlich derjenigen zwischen Manifest-Sein und VerborgenSein, die dem Kontrast zwischen dem Forum der Menschen und demjenigen Gottes entspricht. Beide Male ist eine öffentliche Szene im Blick, 25
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Philon spricht vom „heiligen Wettkampf“ (4; vgl. 13.15); auf die einen warten „Kampfpreise und öffentliche Belobigungen und die übrigen Auszeichnungen, wie sie Siegern zuteil werden“ (6), auf die anderen „Schimpf und Spott“ (5), eine „schimpfliche Niederlage“ (6). Zur agonistischen Metaphorik vgl. POPLUTZ, Athlet (s. Anm. 12), 184–186. Vgl. 13.16.22.27.31.47.52.57 usw., dazu den Güterkatalog in 118. Zur Siegerehrung vgl. besonders auch agr 111–123. 27; 31 (cara. to. a-qlon), natürlich unter Berufung auf Isaak (Gen 17,17–19; 18,12; 21,6): „das Lachen ist aber ein vom Körper gegebenes offenbares Zeichen der unsichtbaren Freude des Herzens“. Dazu kommt die Parallele von 1Kor 4,5 und die Verwandtschaft mit Mt 6,1–18 (zu beidem s. unten); vgl. ferner O. HOFIUS, Art. e;painoj, EWNT II (1981), 41–43. – R. JEWETT, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 237 bestreitet die eschatologische Referenz von V.29, scheint aber bei V.27 doch das jüngste Gericht vorauszusetzen (234). Sein Argument, das Lob von Menschen sei dann unerklärbar, greift nicht: Der verborgene Jude orientiert sich eben am die Wahrheit herausstellenden künftigen Gotteslob, nicht am aktuellen Menschenlob. Dem „Lob“ entsprechen in V.7 und 10 do,xa( timh,( eivrh,nh und avfqarsi,a.
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wie sowohl das Lob – das kaum nur ganz intim und privat dem Empfänger übermittelt wird – wie die Bestrafung (V.27) nahelegen. Der irdischen Szene, die im Raum des Vorfindlichen und Äußeren spielt, steht eine himmlische Szene entgegen, in der Ruhm und Ehre anderen Regeln gehorchen. Es ist offenkundig, dass Paulus hier ein weit verbreitetes Schema endzeitlich variiert. Dieses Schema kontrastiert äußeren Schein mit innerem Sein; Hypokrisie um äußerlicher Anerkennung willen steht der Wahrhaftigkeit und Authentizität entgegen.30 3.3. Es ist mehrfach aufgefallen, dass sich in der Bergpredigt eine eigentümliche Parallele zu Röm 2,28f finden lässt, nämlich die Belehrung Mt 6,1–18 (mit Ausnahme von V.7–15).31 Im Vollzug der religiösen Praktiken von Almosen, Gebet und Fasten hängt alles daran, nicht auf die öffentlich und manifest ergehende Anerkennung durch Menschen zu setzen, sondern auf die Vergeltung durch den ins Verborgene sehenden Gott. Stoff und Komposition sind, abgesehen von V.1, wahrscheinlich vormatthäisch.32 Die Warnung vor Heuchelei und Scheinfrömmigkeit in der Öffentlichkeit konvergiert mit der paulinischen Polemik gegen den vorfindlichen, äußerlichen Juden. Im Fall der Almosen wird speziell die auf öffentliche Anerkennung zielende Wohltätigkeit, der wir mehrfach begegnet sind, verurteilt. Anders als in Röm 2 wird die Anerkennung
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Der „Neue Wettstein“ verweist zu Röm 2,17ff auf die Kritik an oberflächlichen Philosophenschülern bei Epiktet, diss. 2,19:19–28 (II/1, Berlin 1996, 85f) und zu V.29 auf die Diskussion von ethnischer bzw. kultureller Identität ebd. 2,9:19–21 (97). Speziell auf die stoische Ablehnung der „Anerkennung der Eigenschaften und des Wertes eines Menschen von Seiten der Umwelt“ erinnert A. FRIDRICHSEN, Der wahre Jude und sein Lob. Röm 2,28f (1922), in: DERS., Exegetical Writings (WUNT 76), Tübingen 1994, 186–194 (Zitat: 194). J.M.G. BARCLAY, Paul and Philo on Circumcision. Romans 2.25–9 in social and cultural Context, NTS 44 (1998), 536–556, fokussiert unter Berufung auf Mt 6,1–18 (dazu unten) und Joh 12,43 (und 5,44) auf konkrete christlichjüdische Konflikte („an apparently general remark about human motivation is intimately linked to social reality, since it is the ability, or inability, to forego the approval of the Jewish community [or ‚Pharisees’] which is at stake”, 548f). Das Problem dieser Hypothese besteht in der betont allgemeinen und, im Fall von Paulus, sogar universalen Diktion in Mt 6 und Röm 2. Vgl. dazu besonders E. SCHWEIZER, „Der Jude im Verborgenen …, dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott kommt“. Zu Röm 2,28f und Mt 6,1–18, in: DERS., Matthäus und seine Gemeinde (SBS 71), Stuttgart 1974, 86–97; W.D. DAVIES / D.C. ALLISON, A critical and exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew (ICC), I, London 1988, 576f: „Yet the similarities do show us that the convictions expounded in Mt 6:1–6, 16–18 belonged to common Christian tradition and were expressed in a similar fashion in different communities. No doubt this was the case because those same convictions were held by pious Jews; that is, we are dealing with a point at which Jewish tradition entered the Christian church”. Vgl. DAVIES / ALLISON, Mt (s. Anm. 31), 574f; U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 52002, 419f.
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durch Gott mit der Metaphorik des Lohns expliziert,33 was sich gut zum ausgeprägten jüdischen Hintergrund fügt.34
4. Wir versuchen, eine Bilanz zu ziehen. 4.1. Unser Interesse galt dem Stellenwert, den die Anerkennung Gottes, sein Lob und seine Ehrung in der endzeitlichen Erwartung des Paulus innehaben. Das den vereinzelten Anspielungen zugrunde liegende Szenario besteht darin, dass die Christen oder aber spezifisch der Apostel vor Gottes Thron, d.h. vor dem Forum der himmlischen Heerscharen und der Vollendeten, öffentliche Anerkennung finden. Das Modell bildet die öffentliche Ehrung von städtischen Wohltätern durch eine hochgestellte Amtsperson oder sogar den Herrscher selber. Im Hintergrund steht das antike System des Euergetismus. 4.2. Während die geläufigere Metaphorik des Verdiensts aus der Arbeitswelt stammt und lohnabhängige Arbeitnehmer im Blick hat, rückt beim Lob ein agonistisches Setting – Wettkampf und competition – in den Vordergrund, das von Haus aus eher aristokratische Kontexte reflektiert. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, dass die metaphorischen Felder nicht nur anschlussfähig sind, sondern ineinander übergehen und sich ein gutes Stück weit gegenseitig interpretieren.35 So kann Paulus seine Rede vom „Lohn“ in 1Kor 3,8 durch das „Lob“ von Seiten Gottes in 4,5 reformulieren.36 Die Ehrung der Sieger durch einen Preis bzw. einen Kranz hat meist nicht nur eine symbolische, sondern auch eine materielle Dimension,37 die mit dem „Lohn“ korreliert. In der Jenseitsimagination ist besonders an Ehrenplätze zu denken (vgl. Mk 10,37 33 34 35
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37
Dabei wird in V.2.5.16 sogar die von Haus aus juristische Regel bzgl. der Bestrafung auf die Belohnung ausgeweitet: bis de eadem re ne sit actio. Vgl. H.D. BETZ, The Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 346. Allerdings lassen sich zur Passage als ganzer kaum treffende religionsgeschichtliche Parallelen identifizieren, vgl. die Sichtung im diesbezüglich sehr reichen Kommentar von BETZ, Sermon (s. Anm. 33), 338–347. Vergleichbar ist die Jenseitsschilderung bei Platon, Phaid. 113d/e, wo es von den Mittleren in der Übersetzung von R. RUFENER (BAW.GR, Zürich 1958) heißt: „für ihre guten Werke werden sie belohnt; ein jeder nach seinem Verdienst (tw/n te euvergesiw/n tima.j fe,rontai kata. th.n avxi,an e[kastoj)“. Timh, deckt ein semantisches Feld ab, das von Ehre und Preis bis zu Belohnung und Entgelt reicht. Der Rückgriff auf eine andere Semantik hat im Kontext eine klare Funktion: Paulus setzt sich in 4,1–5 gegen die Beurteilung durch andere, speziell die Korinther, zur Wehr, und spricht allein dem Herrn kraft seiner endzeitlichen Kardiognosie das Recht zur Beurteilung zu. Es geht nicht mehr um Werke wie in 3,5–15. Vgl. dazu POPLUTZ, Athlet (s. Anm. 12), 60–63.
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par). Die agonistisch geprägte Metaphorik des Kranzes hat in der frühjüdischen Eschatologie, die sich sonst primär an der Lohnkategorie orientiert, vielfach Niederschlag gefunden.38 Trotzdem sollten die metaphorischen Konfigurationen sorgfältig unterschieden werden. 4.3. Die Belobigung durch Gott gilt zum einen allen Glaubenden, wie besonders die Zuschreibung „einem jeden“ in 1Kor 4,5 unterstreicht. Auch die vereinzelten übrigen Referenzen auf das göttliche Loben scheinen allen zu gelten. Anders steht es mit der gelegentlich von Paulus geäußerten Hoffnung, sich als Apostel und Knecht vor dem Gottesthron seiner Gemeinde(n) rühmen zu können und Gottes bzw. Christi Anerkennung zu finden (1Thess 2,19f; 2Kor 1,14; Phil 2,16). 4.4. Das beschriebene endzeitliche Szenario lässt sich nicht vollständig gegen die Gerichtserwartung isolieren.39 Der „Tag Christi“ setzt die Traditionsgeschichte des „Tags des Herrn“ voraus, gerade auch dort, wo er sich mit einer positiven Semantik verbindet. Die Bekundung öffentlichen Lobs für Wohltäter geht häufig mit der Androhung von Strafe für Übeltäter einher. Dies gilt auch bei der Übertragung von öffentlicher Ehrung oder Bestrafung auf ein spirituelles oder eschatologisches Niveau. Es ist zwar richtig, dass sich die verstreuten paulinischen Aussagen zum Gericht nicht zu einem kohärenten oder gar geschlossenen Gesamtbild synthetisieren lassen.40 Man hat gleichwohl mit einer virtuellen Konfiguration basaler eschatologischer Erwartungen zu rechnen, deren Elemente Paulus je nach Situation und argumentativer Strategie verschieden zu aktualisieren versteht. Die gleichsam klassische Beurteilung des individuellen Lebensertrags vor dem Richterthron Gottes (vgl. Röm 2,16; 1Kor 4,5; 2Kor 5,10) und die Ehrung des erfolgreichen Missionars vor dem himmlischen Forum (Phil 2,16; 2Kor 1,14; 1Thess 2,19) bilden derartige Elemente, die in den vorfindlichen Texten nicht nur eine argumentative Hilfsfunktion, sondern auch hermeneutische Selbständigkeit beanspruchen dürfen. Zusammengehalten werden sie aber durch eine Basisüberzeugung: das Offenbarwerden vor dem göttlichen Thron im endzeitlichen Geschehen.
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Vgl. die Belege bei BRÄNDL, Agon (s. Anm. 11) 315–317; KONRADT, Gericht (s. Anm. 5), 185 A. 855. Dazu neigt KONRADT, Gericht (s. Anm. 5), 186 (vgl. 230f): „Aber dass diese Anerkennung den Charakter einer gerichtlichen Beurteilung trägt, ist mit keinem Wort gesagt und nicht ohne weiteres einzulesen. Festzuhalten ist also: Mit einem Gerichtsszenarium haben 1Thess 2,19f und 3,13 nichts zu tun.“ Dies hat die eindringliche Analyse der Forschungsgeschichte durch KONRADT, Gericht (s. Anm. 5), 1–19 klar herausgestellt.
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4.5. Weit stärker als die Semantik von Lohn und Verdienst ist diejenige von Lob und Ruhm in den für die griechisch-hellenistische und römische Kultur charakteristischen Codex von Ehre und Schande verankert. Auch ohne der trendigen kulturanthropologischen Universalisierung dieses Duals aufzusitzen, ist die enorme Gravitation von Ehre, Prestige, Status, öffentlicher Anerkennung und competition in der reichsrömischen Gesellschaft und Kultur kaum zu überschätzen. Wenn Paulus vom „Rühmen“ spricht, sei es Gottes oder Christi – oder eben seiner Gemeinde(n) vor Gott –, muss sein Reden vor diesem Hintergrund interpretiert werden.41 Anders als die eher statisch angelegte eschatologische Metaphorik von Lohn und Verdienst bieten „Lob“ und „Ehre“ dem Empfänger die Möglichkeit, das Zugesprochene dem Geber zurückzuspielen, Gott also seinerseits wieder die alleinige Ehre zu geben (vgl. 1Kor 4,7). Paulus’ so riskanter wie souveräner Umgang mit dem ge,noj evpideiktiko,n lebt geradezu davon, jener Bewegung, die von sich selbst weg auf Gott hin führt, Raum zu geben. Mit dem Hinweis auf die doxologische Tiefenströmung in der paulinischen Theologie kehren wir zum Jubilar zurück, ist es doch umso mehr würdig und recht, ihn mit dem Nachdenken über Ruhm, Lob und Anerkennung seinerseits zu ehren!
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Vgl. meinen Hinweis in: S. VOLLENWEIDER, Art. Paulus, I.-III., RGG VI (2003), 1035– 1065: 1050.
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Samuel Vollenweider
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4. Deuteropaulinen und nachpaulinische Tradition
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Philipperbrief und Paulustradition
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Die Bedeutung des Philipperbriefs für die Paulustradition Lukas Bormann
1. Paulinismus, Paulusschule und Paulustradition Seit Ferdinand Christian Baur (1792-1860) fragt die historisch kritische Forschung des Neuen Testaments nach dem sprachlichen, historischen und theologischen Zusammenhang zwischen dem Wirken und Denken des Apostels Paulus und deren Rezeption in der frühen Kirche. Baur selbst wählte für diesen Sachverhalt im Horizont seines hegelschen Geschichtsverständnisses den Begriff Paulinismus, der bei Bultmann, W. Bauer, Vielhauer, Köster und in der Bildung „Antipaulinismus“ bei Lüdemann aufgenommen wurde.1 Baur hat bekanntlich als erster konkurrierende Gruppen innerhalb des Urchristentums identifiziert und wissenschaftlich erschlossen.2 In Anlehnung an Hegels Geschichtsphilosophie beschrieb er die Entwicklung des Christentums, die für ihn die Entwicklung des christlichen Lehrbegriffs war, als Abfolge von These, Antithese und Synthese.3 Im Lehrbegriff Jesu sei der Gegensatz zwischen Judentum und Griechentum aufgehoben. Zu dieser Synthese stellte sich nach Baur das Judenchristentum in einen Gegensatz, indem es erneut die nationaljüdischen Grenzen wieder aufzurichten und den Partikularismus wiederzubeleben suchte. Hiergegen trete dann der pneumatisch bewegte Paulus auf und propagiere die Religion als „geistiges Erlebnis“, das universal zugänglich sei: „Das Princip des Paulinismus kann nicht reiner ausgesprochen werden, ... 2. Kor 3,17: der Herr ist der Geist, der Geist aber 1
2 3
F.CHR. BAUR, Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz des petrinischen und paulinischen Christentums in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom [1831], in: DERS., Ausgewählte Werke 1, Stuttgart-Bad Cannstadt 1963, hg. v. K. SCHOLDER, 1-146; R. BULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1953, 487; W. BAUER, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 21964, 236; PH. VIELHAUER, Zum ‚Paulinismus‘ der Apostelgeschichte, EvTh 10 (1950/51), 1-15; H. KÖSTER / J.M. ROBINSON, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1971, 10; G. LÜDEMANN, Zum Antipaulinismus im frühen Christentum, EvTh 40 (1980), 437-455; DERS., Paulus, der Heidenapostel II. Antipaulinismus im frühen Christentum (FRLANT 130), Göttingen 21990. BAUR, Christuspartei (s. Anm. 1), 1-146; K. SCHOLDER, Art. Baur, F.Chr., TRE 5 (1980), 352-359, bes. 355. F.CHR. BAUR, Das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte [1853], in: DERS., Ausgewählte Werke 3, Stuttgart-Bad Cannstadt 1966, 42-109.
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ist Freiheit. D. h. das Princip und Wesen des Paulinismus ist die Befreiung des Bewusstseins von jeder äußeren nur durch Menschen vermittelten Auctorität, die Aufhebung aller hemmenden Schranken, die Erhebung auf einen Standpunkt, auf welchem alles in lichter Wahrheit vor dem Auge des Geistes enthüllt und aufgeschlossen ist, die Autonomie und Unmittelbarkeit des Selbstbewusstseins.“4 In diesem Sinne definierte Baur ein normatives Verständnis von Paulinismus. Für Baur bestand der Paulinismus in einem geistigen Religionsbegriff, verbunden mit einer universalistischen Ethik. Seine Hochzeit hatte dieses Verständnis des Paulinismus in den Jahren zwischen 1870 und 1910. Er prägte aber auch noch die Arbeiten von W. Bauer und Bultmann, die allerdings den normativen Anteil durch historische und begriffliche Forschungen in den Hintergrund drängten und insbesondere die Rückbindung an die hegelsche Geschichtsphilosophie explizit ablehnten.5 W. Bauer vermeidet den Begriff des Paulinismus. Er ist vielmehr der Meinung, dass es gerade die synkretistischen Elemente im paulinischen Denken sind, die den Erfolg des Paulus ausmachen. An Paulus habe letztlich jeder Heidenchrist irgendwie anknüpfen können.6 Ja, die Inanspruchnahme des Paulus habe sowohl seine Persönlichkeit wie seine „geschichtliche Eigenart“ zum Verschwinden gebracht.7 Bultmann hingegen knüpft positiv an Baur an, indem auch er die religiöse bzw. theologische Eigenart des Paulus in den Mittelpunkt stellt. Paulinismus ist für Bultmann ein Existenzverständnis, das im paulinischen Kerygma seine sprachliche Form gefunden hat. Die damit aufgeworfenen Probleme wurden bis in die frühen 70er Jahre intensiv verhandelt.8 Während sich Lüdemann am „Antipaulinismus“ abarbeitete,9 ohne sich von den belastenden Voraussetzungen des Begriffes zu verabschieden, wandte sich etwa Lindemann einem versachlichten Verständnis von Paulinismus zu.10 Parallel zu dieser Enttheologisierung der Debatte um den Paulinismus setzten sich zunehmend alternative Begrifflichkeiten durch. W. Bauer spricht zwar nicht direkt von Paulustradition, bereitet aber durch sein Interesse an den geschichtlichen Entwicklungen ein solches Verständnis vor. Bultmann gebraucht 4 5 6 7 8 9 10
BAUR, Christenthum (s. Anm. 3), 61f. BULTMANN, Theologie (s. Anm. 1), 487. BAUER, Rechtgläubigkeit (s. Anm. 1), 236. Ebd., 229. VIELHAUER, Paulinismus (s. Anm. 1). LÜDEMANN, Antipaulinismus (s. Anm. 1), 437-455. A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979.
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bereits den Begriff Paulusschule.11 Die von W. Bauer wie Bultmann gleichermaßen inspirierte Programmschrift von Köster und Robinson spricht schließlich von Entwicklungslinien des paulinischen Christentums.12 Köster orientiert sich dabei hinsichtlich des Paulinismus an einem bestimmten Verständnis des paulinischen Kerygmas und an den vielfältigen Bezugnahmen auf den Apostel durch konkurrierende Gruppen.13 Das Konzept des Paulinismus geht von den profilierten theologischen Vorstellungen des Paulus aus, namentlich von seiner gesetzesfreien Evangeliumsverkündigung auf der Basis der Glaubensgerechtigkeit. Bindet man sich für die Erforschung eines historischen Phänomens an einen Zusammenhang von Überzeugungen, dann rückt notwendig die Frage nach Häresie oder Orthodoxie, nach Paulinismus und Antipaulinismus in den Mittelpunkt. Spannungen oder Gegensätze in den theologischen Konzeptionen gelten dann als Beleg für konkurrierende Gruppen. So identifiziert etwa Köster in Ephesus vier konkurrierende christliche Gruppen innerhalb der Gemeinde.14 Eine Grenze dieser Denkweise ist erreicht, wo man zu dem Ergebnis kommt, dass manche Vertreter des frühen Christentums sich auf Paulus in einer Weise berufen, die seiner Theologie stracks widerspricht. Es entsteht etwa bei Vielhauer der Eindruck, es habe so etwas wie einen antipaulinischen Paulinismus gegeben.15 Die Problematik, die mit einem Verständnis des Paulinismus als gedankliches System gegeben ist, kann man mit einem Konzept vermeiden, das eher institutionelle Bindungen hervorhebt. Das trifft auf die Vorstellung einer Paulusschule zu. Der damit bezeichnete Zusammenhang knüpft zwar auch an den theologischen Übereinstimmungen an, überwindet aber die Engführung auf ein kohärentes Gedankensystem und bezieht institutionelle Zusammenhänge, wie das LehrerSchüler-Verhältnis (Schmeller)16 oder Teambildungen (Ollrog)17 mit ein. Die Orientierung am institutionellen Zusammenhang ermöglicht es, 11 12 13 14 15 16
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R. BULTMANN, Theologie (s. Anm. 1), 487. KÖSTER / ROBINSON, Entwicklungslinien (s. Anm. 1), 10. H. KÖSTER, GNOMAI DIAPHOROI. Ursprung und Wesen der Mannigfaltigkeit in der Geschichte des frühen Christentums, in: ders., Entwicklungslinien (s. Anm. 1), 107-146, bes. 139-144. KÖSTER, GNOMAI DIAPHOROI (s. Anm.13), 143. P. VIELHAUER, Paulinismus (s. Anm. 1), 1-15. T. SCHMELLER, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit, Freiburg 2001, 91f, nennt acht Merkmale einer Schule. Bei der Untersuchung von Kol/Eph kann er nur drei Merkmale (Lehrer, Schüler, Schulaktivitäten) heranziehen und kommt zu dem Ergebnis (221): Kol scheine Schulbetrieb widerzuspiegeln, Eph nicht. W.-H. OLLROG, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission (WMANT 50), Neukirchen-Vluyn 1979.
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auch geistige Ausprägungen der paulinischen Wirkungsgeschichte, die zueinander in einen Gegensatz zu treten scheinen, zu erfassen. Eine Schwäche dieser Konzeption besteht nun allerdings darin, dass der Nachweis des institutionellen Rahmens umso schwerer fällt, je konsequenter man das Paradigma „Schule“ operationalisiert – das zeigt etwa die Arbeit von Schmeller, in der das institutionelle Moment hervorgehoben ist.18 So plausibel der Begriff auch gerade vor akademischen Erfahrungen mit Schulbildungen erscheinen mag, so schwierig ist es, eine besondere Organisationsform einer Paulusschule zu benennen. Es ist kaum möglich, die institutionellen Strukturen einer solchen Paulusschule von den normalen Gemeindestrukturen abzuheben. Wenn aber die Abgrenzung zwischen Schule und Gemeinde unscharf wird, besteht die Gefahr, von einzelnen Mitgliedern einer Gemeinde, die der Paulusschule zugerechnet werden, auf die ganze Gemeinde zu schließen und diese insgesamt als paulinische Gemeinde zu identifizieren. Damit entstehen weitere Abgrenzungsschwierigkeiten, wie etwa die neueren Arbeiten zu Ephesus zeigen. Während Köster, wie bereits erwähnt, in Ephesus unter dem Paradigma des Paulinismus vier konkurrierende Gruppen identifiziert,19 findet der eher kulturwissenschaftlich vorgehende Trebilco zwei distinkte Gemeinden, eine paulinische und eine johanneische, die friedlich koexistierten.20 Letztlich lässt sich das Verhältnis des gedanklichen Systems Paulinismus zu seiner institutionellen Verortung in einer Schule nicht zuverlässig bestimmen. Der dritte Begriff, der hier ins Spiel gebracht wird und den ich verwenden möchte, ist der der Paulustradition.21 Er stellt in Rechnung, dass es Formen der Zuordnung zu dem mit Paulus bezeichneten Wirkzusammenhängen gibt, die sich weder theologisch noch institutionell hinreichend beschreiben lassen, sondern in aktiven eigenständigen Inanspruchnahmen des Traditions- und Autoritätszusammenhangs ‚Paulus‘ durch historische Akteure bestehen, d.h. in der Rezeption. Die Vermittlung dieser Tradition, also der Rezeptionsprozess, kann über literarische Beziehungen (Rezeption der Briefe) oder über personale Beziehungen (Gemeinde) erfolgen.22 An diesem Verständnis von Rezep-
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SCHMELLER, Schulen (s. Anm. 16). KÖSTER, GNOMAI DIAPHOROI (s. Anm. 13), 143. P. TREBILCO, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius (WUNT 166), Tübingen 2004, 712-715. P. TRUMMER, Die Paulustradition der Pastoralbriefe (BET 8), Frankfurt/M. u.a. 1978, 13; M. WOLTER, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988, 11. TRUMMER, Paulustradition (s. Anm. 21), 13: „Dadurch läßt sich der Paulinismus der Pastoralbriefe als eine hauptsächlich literarische Beziehung zu den anderen Paulusbriefen begreifen, dahinter wird jedoch auch eine personale und lebendige Kompo-
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tion knüpft auch Marguerat an.23 Er unterscheidet drei Weisen der Paulusrezeption, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr Pole eines Kontinuums darstellen.24 Zunächst gebe es da die dokumentarische Rezeption in Gestalt der Sammlung und Weitergabe der Paulusbriefe, dann die biographische Rezeption, die sich für die Person des Paulus interessiere, und schließlich die gelehrte („doctoral“) Paulusrezeption, die die paulinische Lehre weiterentwickelte.25 Es erscheint mir sinnvoll, hier anzuknüpfen und die Bedeutung des Philipperbriefs für die Paulustradition als Rezeptionsprozess zu analysieren. Ich verzichte aber auf die Unterscheidung der drei von Marguerat genannten Pole, weil sie im Falle der Beziehung des Phil zum Kol und Eph kaum analytische Kraft entfalten. Der Kol etwa interessiert sich ‚dokumentarisch’ für die Weitergabe der Paulusbriefe (Kol 4,16), entfaltet ‚biographisch’ die Gestalt des leidenden Apostels (Kol 1,24; 4,3.18) und entwickelt die paulinische Lehre weiter, indem er neue Akzente in der Christologie und in der Ekklesiologie (Kol 1,18) setzt. Um die Analyse des Rezeptionsprozesses auf eine möglichst objektive Basis zu stellen, untersuche ich den Rezeptionsprozess im Rahmen des Intertextualitätsparadigmas, d.h. auf der Basis von Textbeziehungen. Dieser Zugang ist insofern objektiver, als er zunächst einmal eine textbezogene Datenbasis schafft, die nicht auf komplexe historische Vorannahmen über Autor/inn/en und Abfassungsverhältnisse angewiesen ist. Diese textbezogene Objektivität lässt sich aber nur dann sichern, wenn man darauf verzichtet, die Textbeziehungen autorenorientiert als ‚Benutzung’ oder dokumentenorientiert als ‚Vorlage’ zu verstehen. Es geht also nicht um Zitate und Anspielungen im philologischen Sinne. Vielmehr definiere ich eine Textbeziehung als eine Korrelation zweier Texte über ein prägnantes Syntagma. In einem zweiten Schritt analysiere ich die Textbeziehungen in einem linguistischen Kontext. Sie werden einem Sprach- und Sachzusammenhang zugeordnet, den die Linguistik mit dem Lehnwort Frame bezeichnet. Beide methodischen Vorannahmen werden im folgenden Abschnitt am Philipperbrief durchgeführt und erläutert.
23 24 25
nente in der pseudepigraphen Paulustradition sichtbar.“ WOLTER, Pastoralbriefe (s. Anm. 21), 11, versteht unter Paulustradition vor allem eine „literarische Kategorie“. D. MARGUERAT, Paul après Paul. Une histoire de réception, NTS 54 (2008), 317-337. MARGUERAT, Paul (s. Anm. 23), 321f. MARGUERAT, Paul (s. Anm. 23), 322.
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2. Philipperbrief Ich möchte im Folgenden die Rezeption des Philipperbriefs und damit dessen Stellung in der Paulustradition herausarbeiten, indem ich Textbeziehungen rekonstruiere, die zwischen dem Phil und den Texten der Paulustradition bestehen. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf Kol und Eph.26 Das Gewicht dieser Textbeziehungen wird aber erst deutlich, wenn ihr Verhältnis zu den zentralen Sachverhalten, die sich im Philipperbrief finden, miteinbezogen wird. Deswegen definiere ich zusätzlich um diese zentralen Sachverhalte im Philipperbrief fünf Wortfelder, die ich als Frame im Sinne der Linguistik verstehe. In der Linguistik meint Frame einen distinkten Erfahrungskontext, der bestimmte Sachverhalte einander zuordnet. Der reale Erfahrungszusammenhang (Sachzusammenhang) und dessen sprachliche Konstruktion (Sprachzusammenhang) wirken wechselseitig aufeinander ein und bilden einen solchen Frame.27 Da aber ein Frame durch die „Verknüpfung von in ihrem Wert variablen Attributen“ [kursiv L.B.] gebildet wird, ermöglicht er sowohl sprachliche wie sachliche Assoziationen (Metonymien und Kontiguitäten).28 So kann im Rezeptionsprozess ein Frame aufgegriffen und abgewandelt, rezipiert und variiert werden. Im Phil definiere ich nun die fünf zentralen Sachverhalte in Frames, indem ich sie der Sache nach und nach ihren sprachlichen Ausdrucksformen näher charakterisiere: Situation des Paulus, Beziehung zur Philippergemeinde, Bedeutung des Christusgeschehens, Gegnerpolemik und Schriftbezug. 2.1. Die Situation des Paulus ist gekennzeichnet durch seine Haft (Phil 1,7.13.14.17: desmoi,) und eine Art Prozess (Phil 1,7: evn th|/ avpologi,a|; vgl. 1,16), die Paulus als Kampf (1,30: avgw,n), Bedrängnis (1,17; 4,14: qli/yij) und Gefährdung seines Lebens versteht (1,20: aivscunqh/somai, qa,natoj; 1,21: avpoqanei/n; 1,23: avnalu/sai). Damit verbunden sind Mangel (4,12: peina/n, u`sterei/sqai; 2,25; 4,16.19: crei,a) und Angewiesensein auf Hilfe (2,25: leitourgo.j th/j crei,aj mou; 4,15: eivj lo,gon do,sewj kai. lh,myewj; 4,16: a[pax kai. di.j eivj th.n crei,an moi evpe,myate). Paulus weiß zudem um Rivalitäten zwischen Evangeliumsverkündigern (1,14-18) und um Gemeindekonflikte (4,2f). 26 27
28
Die Untersuchung der Paulustradition vom 2Thess bis zu den Ignatianen habe ich unter den gleichen methodischen Vorannahmen (Textbeziehungen und Frame) durchgeführt. Die Ergebnisse werde ich zu gegebener Zeit veröffentlichen. U. DETGES, Wie entsteht Grammatik? Kognitive und pragmatische Determinanten der Grammatikalisierung von Tempusmarkern, in: J. LANG / I. NEUMANN-HOLZSCHUH (Hg.), Reanalyse und Grammatikalisierung in den romanischen Sprachen (Linguistische Arbeiten 410), Tübingen 1999, 31-52. R. WALEREIT, Metonymie und Grammatik, Tübingen 1998, 16..
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2.2. Die Beziehung zur Philippergemeinde ist intensiv und wird durch das Wortfeld koinwni,a im Sinne von partnerschaftlicher Teilhabe (Phil 1,5; 2,1; 3,10: koiwni,a; 1,7: sugkoinwno,j; 4,14: sugkoinwnei/n; 4,15: koinwnei/n) und zahlreiche Komposita mit sun- zum Ausdruck gebracht (1,27; 4,3: sunaqlei/n; 2,17f: sugcai,rein; 2,25: sustratiw,thj; 3,17: summimhtai,). Es gibt einen Austausch von Gesandten, Epaphroditus von Seiten der Philipper (2,25-29; 4,18), Timotheus von Seiten des Paulus (2,19-24). Die Gemeinde unterstützt Paulus seit Anbeginn der Evangeliumsverkündigung durch materielle Hilfeleistungen (2,25: leitourgo.j th/j crei,aj mou; 4,16: eivj th.n crei,an moi evpe,myate ) und steht im gleichen Kampf wie Paulus (Phil 1,30: to.n auvto.n avgw/na e;contej). Paulus kennt zudem weitere Gemeindeglieder namentlich: Euvodi,a, Suntu,ch, Klh,mej und wohl auch den namenlos bleibenden su,zugoj (4,3). 2.3. Die Bedeutung des Christusgeschehens wird unterstrichen durch die zeitliche Ausrichtung auf den Tag Christi (Phil 1,6.10; 2,16: h`me,ra Cristou/; 4,5: o`` ku,rioj evggu,j). An diesem Tag wird die Herrschaft Christi über alle relevanten Räume, den Himmel, die Erde und den Bereich der katachthonen Wesen, offenbar (Phil 2,10: pa/n go,nu ka,myh| evpourani,wn kai. katacqoni,wn; 3,21: kai. u`pota,xai auvtw/| ta. pa,nta). Christus wird als Kyrios aus den Himmeln erwartet (3,20: evn ouranoi/j …, evx ou- kai. swth/ra avpekdeco,meqa ku,rion VIhsou/n Cristo,n). Die Gerechtigkeit aus Glauben (3,9: th/n dia. pi,stewj Cristou/, th.n evk qeou/ dikaiosu,nhn evpi. th/| pi,stei) ist die Voraussetzung für die Gleichgestaltung der Glaubenden mit Christus, die mit dem Antritt der Herrschaft Christi verbunden ist (3,10: summorfi,zesqai; 3,21: su,mmorfoj, metaschmati,zein). 2.4. Die Gegnerpolemik in Phil 3 ist scharf. Der dreifache paulinische Aufmerksamkeitsruf ble,pete in 3,2 fordert die Gemeinde dazu auf, in den Gegnern Hunde (ku,nej), böse Arbeiter (kakoi. evrga,tai) und schließlich Feinde des Kreuzes Christi (3,18: evcqroi. tou/ staurou/ tou/ Cristou/) zu erkennen. 2.5. Der Schriftbezug im Philipperbrief ist auf einige Anspielungen beschränkt.29 Prägnante Textsignale finden sich in Phil 1,19 zu Hi 13,16,30 in Phil 2,10f zu Jes 45,2331 und in Phil 2,15 zu Dtn 32,5; Dan 12,3 LXX. Der Phil gehört neben 1Thess und Phlm zu der kleinen
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J. SCHOON-JANßEN, Umstrittene ‚Apologien’ in den Paulusbriefen. Studien zur rhetorischen Situation des 1. Thessalonicherbriefes, des Galaterbriefes und des Philipperbriefes (GTA 45), Göttingen 1991, 145; E. LOHMEYER, Der Brief an die Philipper (KEK IX/1), Göttingen 1961. R.B. HAYS, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven/London 1989, 2124. F. WILK, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998, 322-325.
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Gruppe der Paulusbriefe, die keine expliziten Schriftzitate enthalten.32 Im Phil verweist Paulus auch an keiner Stelle auf die Schrift (grafh,) als solche oder auf einzelne biblische Bücher. Es gibt nur einen metatextuellen Verweis auf ein bi,bloj zwh/j (Phil 4,3), in das die Namen der Mitarbeiter des Paulus eingetragen sind.33 Unter diesen fünf charakteristischen Frames vermisst man möglicherweise das, was in der Philipperforschung bisweilen als Freudenmotiv bezeichnet wird (cara, [5x]: 1,4.25; 2,2.29; 4,1; (sug)-cai,rein [11x]: 1,18; 2,17.18.28; 3,1; 4,1.10). Diese semantische Schicht bildet allerdings keinen eigenständigen Frame, d.h. einen Sprach- und Sachzusammenhang, sondern stellt eher eine Stilfigur dar, mit deren Hilfe die Stimmung des Briefes beeinflusst wird. Man sollte deswegen eher von Freudenterminologie sprechen. Diese fünf charakteristischen Sprach- und Sachzusammenhänge werde ich auf der Basis der Textbeziehungen zwischen dem Philipperbrief und dem Kol und Eph weiter verfolgen. Ich werde jeweils zunächst benennen, wie die Beziehung zwischen den Briefen im Horizont der historisch-philologischen Benutzungshypothese definiert wird.34 Die Textbeziehungen werde ich allerdings auf der Basis des Allusionsparadigmas von Hebel35 bestimmen und in der Begrifflichkeit der Intertextualitätstheorien diskutieren.36 Dazu sind nun noch einige Erläuterungen notwendig. In der Intertextualitätsdebatte werden drei Interpretationsweisen von Textbeziehungen unterschieden: a) Die Autorenintention bzw. die produktionsorientierte Interpretation, b) die Leserrezeption bzw. die rezeptionsorientierte Interpretation und c) die Textintention bzw. die ästhetische Interpretation. Grundlage der jeweiligen Rekonstruktionen sind die Textbeziehungen. Wie werden nun Textbeziehungen näher definiert? Ich orientiere mich an dem interpretativen Dreischritt des Allusionsparadigmas nach Hebel: Identifikation, Deskription und 32 33 34 35 36
D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986, 21-23. Metatextualität meint die Thematisierung anderer Texte durch deren (metasprachliche) Benennung; so P. STOCKER, Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien (Explicatio), Paderborn 1998, 55-60. D.-A. KOCH, Art. Schriftauslegung II: Neues Testament, TRE 30 (1999), 457-471; DERS., Schrift (s. Anm. 32), 21-23. U.J. HEBEL, Romaninterpretation als Textarchäologie. Untersuchungen zur Intertextualität am Beispiel von F. SCOTT FITZGERALDs This Side of Paradise, Frankfurt u.a. 1989. Zum Verhältnis von historischer Kritik und Intertextualitätstheorien s. S. MOYISE, Intertextualität und historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament, in: S. ALKIER / R.B. HAYS (Hg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 10), Tübingen 2005, 23-34.
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Interpretation.37 Der markierte Text, d.i. der Text, für den eine Textbeziehung angenommen wird, muss identifiziert werden. Hier gibt es eine Vielzahl von Kriterien wie ausdrückliches Zitat, Anspielung, wörtliche und/oder sachliche Übereinstimmung usw. Dann ist die Erscheinungsweise im zu interpretierenden Text zu beschreiben (Deskription) und schließlich seine Funktion für die Sinnkonstitution zu interpretieren (Interpretation). Auf dieser Basis (Textbeziehungen, Frames) lautet die leitende Fragestellung im Folgenden: Welche Rezeption, bestimmt auf der Basis rekonstruierbarer Textbeziehungen, erfährt der Philipperbrief, näher definiert durch seine fünf charakteristischen Frames, in der Paulustradition, hier zunächst im Kolosser- und im Epheserbrief?
3. Die Deuteropaulinen Die ältere Exegese zählte den Philipperbrief gemeinsam mit Phlm, Kol und Eph zu den so genannten Gefangenschaftsbriefen.38 Die historische Kritik stellt aber inzwischen sowohl die einheitliche Verfasserschaft dieser Briefe als auch die Haftsituation in Frage. Der Zusammenhang der mit ‚Gefangenschaftsbriefe’ bezeichneten Gruppe von Briefen ist zerbrochen.39 Dennoch bleibt die Intuition, dass diese Briefe etwas Gemeinsames haben. Besonders Pokorný hat immer wieder auf dieses Gemeinsame verwiesen. In seinem Kommentar zum Kol urteilt er zum Verhältnis von Kol und Phil: „Der Philipperbrief repräsentiert jedoch die Linie, an die innerhalb des Paulinismus der Kolosserbrief anknüpfen konnte.“40 In seiner Einleitung in das Neue Testament nennt er den Philipperbrief „die Brücke zu den Deuteropaulinen“.41 Pokorný summiert unter dem Begriff „Deuteropaulinen“ sowohl Kol und Eph auf der einen Seite als auch die Pastoralbriefe auf der anderen Seite. Beide Schriftengruppen haben nach Pokorný unabhängig voneinander auf Paulus und hier besonders auf den Phil zurückgegriffen, wobei vier Motive zu identifizieren seien: a) Paulus als Vorbild, b) das Bild des verhafteten Apostels, c) der christologische Titel Heiland (swth/r) aus Phil 3,20 und schließlich d) die Aufseher und Diakone (evpi,skopoi kai. 37 38 39 40 41
HEBEL, Romaninterpretation (s. Anm. 35), 109. G.B. CAIRD, Paul’s Letters from Prison (Ephesians, Philippians, Colossians, Philemon), Oxford 1976. W. ECKEY, Die Briefe des Paulus an die Philipper und an Philemon. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 2006. P. POKORNÝ, Der Brief des Paulus an die Kolosser (ThHK 10/1), Berlin 21990, 5. P. POKORNÝ / U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 286f.
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dia,konoi) aus Phil 1,1. Allerdings sind nur die ersten beiden Motive im Kol und Eph zu finden, so dass dieser Versuch, die Pastoralbriefe einerseits und Kol und Eph anderseits unter einem Gesichtspunkt zusammenzufassen, nicht ganz überzeugen kann. Deswegen ist es sinnvoll, die von Pokorný zu Recht herausgestellte Beziehung der genannten Schriften zueinander methodisch neu zu erfassen.
3.1. Kolosserbrief Zunächst zu den Urteilen über die Benutzung der Paulusbriefe durch den Kol. Luz sieht nur einzelne Berührungen zu den Paulusbriefen, aber keine Benutzung.42 Standhartinger hält nur die Benutzung des Philemonbriefes für sicher.43 Wolter rechnet mit der Vertrautheit des Verfassers mit Röm und Phlm, die Beziehungen zu den anderen Schreiben seien hingegen eher „subliterarisch vermittelte Sprachtraditionen“.44 Kiley sieht eine intensive Benutzung des Phil und des Phlm, ja meint sogar, der Kol sei nach diesen Vorlagen („primary models of construction“)45 von Epaphras als ein (Selbst-) Empfehlungsschreiben abgefasst worden.46 Leppä kommt zu dem Ergebnis, dass der Kol in literarischer Abhängigkeit zu allen authentischen Paulusbriefen stehe.47 Die Bandbreite der Einschätzungen ist erheblich. Hat der Vf. des Kol nun keinen Paulusbrief oder alle benutzt, so die historischphilologische Frage, oder, so die Frage im Rahmen des Intertextuali42 43 44 45 46
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U. LUZ, Der Brief an die Kolosser (NTD 8/1), Göttingen 1998, 187f. A. STANDHARTINGER, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefs (NT.S 94), Leiden u.a. 1999, 151f. M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh 1993, 32f. M. KILEY, Colossians as Pseudepigraphy, Sheffield 1986, 75. KILEY, Colossians (s. Anm. 45), 96f u. 103. Dieser Epaphras müsse allerdings nicht mit dem Epaphras aus Phlm 23 oder mit Epaphroditus aus Phil 2,25 identisch sein. Andere, z.B. POKORNÝ, Einleitung (s. Anm. 41), 642, halten Jesus Justus aus Kol 4,11 für den Autor, da es der einzige Name im Kol ist, der nicht in den übrigen Paulusbriefen, bes. Phlm, begegnet. O. LEPPÄ, The Making of Colossians. A Study on the Formation and Purpose of a Deutero-Pauline Letter (SESJ 86), Göttingen 2003, 218. LEPPÄ kommt zu dem Ergebnis, dass die literarischen Beziehungen zwischen Phlm und Kol zwar am deutlichsten seien, dass aber die zahlreichen weiteren Ähnlichkeiten mit den Formulierungen der authentischen Paulusbriefe das Urteil erlauben, der Kol stehe in literarischer Abhängigkeit zu allen authentischen Paulusbriefen. Der häufige Hinweis auf eine allgemeine Paulustradition erkläre diese Textbeziehungen nicht, da gleichzeitig erhebliche Differenzen zu den anderen Produkten der paulinischen Pseudepigraphie bestünden. Trotz der deutlichen sprachlichen Berührungen zwischen Phlm, Phil und Kol könne weder Phlm alleine das Modell für den Kol gewesen sein (224), noch sei es plausibel, sich wie KILEY auf Phil und Phlm zu beschränken (248).
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tätsparadigmas, gibt es im Text des Kol Textbeziehungen zu einigen oder zu allen Paulusbriefen, die zeigen, dass sie zur Textwelt des Kol gehören und seine Textkonstruktion beeinflusst haben?48 Tatsächlich thematisiert der Kolosserbrief selbst einen Vorgang, der die intertextuelle Lektüre mindestens zweier Paulusbriefe belegt. In Kol 4,16 fordert der Autor des Kol die Empfänger zur Lektüre eines Laodizenerbriefes auf, wie eben auch die Laodizener den Kol lesen sollen. Wie sehen nun die Textbeziehungen zwischen Phil und Kol nach dem Intertextualitätsparadigma aus? In dem durch Konventionen bestimmten Briefeingang ist keine besondere Nähe des Kol zum Phil zu erkennen. Im Briefeingang Kol 1,1 wird Paulus als Apostel bezeichnet. Kol 1,1 folgt damit eher dem Formular von Röm 1,1; 1/2Kor 1,1; Gal 1,1 und nicht Phil 1,1; 1/2Thess 1,1 und Phlm. Timotheus wird gemeinsam mit Paulus neben Phil 1,1 auch noch in 2Kor 1,1; 1/2Thess 1,1 und Phlm als Mitverfasser genannt. Zu den anderen Paulusbriefen finden sich im Briefeingang gleichwertige oder sogar noch engere Parallelen. Eine Textbeziehung, die eine Wortfolge von drei Wörtern umfasst oder ein Syntagma aus zwei Wörtern, das auch motivisch oder kontextuell gestützt ist, begegnet außerhalb der genannten formelhaften Wendungen nur in Kol 3,2 (ta. a;nw fronei/te, mh. ta. evpi. th/j gh/j) in Beziehung zu Phil 3,19 (oi` ta. evpi,geia fronou/ntej). Die übrigen Textbeziehungen beschränken sich auf ein oder zwei prägnante Wörter, die in ähnlichen Kontexten verwendet werden. Die für den Phil charakteristische Freudenterminologie findet sich in Kol 1,11 (meta. cara/j; Phil 1,4) und in Kol 1,24 (cai,rw; Phil 1,18; 2,17) wieder. In Kol 4,18 (mnhmoneu,ete, mou tw/n desmw/n; vgl. 4,3.10) wird der Hinweis auf die Gefangenschaft aus Phil 1,7 (e;n te toi/j desmoi/j mou; vgl. 1,13.14.17) aufgenommen. Kol 2,1 thematisiert die Kampfsituation des Paulus mit Worten (eivde,nai h`li,kon avgw/na e;cw u`pe.r u`mw/n), die an die Formulierung in Phil 1,30 anklingen (to.n auvto.n avgw/na e;contej oi-on ei;dete evn evmoi,). Einige christologische Aussagen im Kol scheinen zu Formulierungen im Phil in Beziehung zu stehen. Nach Kol 3,1 ist Christus „oben“ (ta. a;nw zhtei/te, ou- o` Cristo,j evstin), nach Phil 3,20 „im Himmel“ (evn ouvranoi/j ... , evx ou- ... avpekdeco,meqa ... Cristo,n). Kol 3,4 nennt Christus „unser Leben“ (o` Cristo,j ... , h` zwh. u`mw/n) und auch in Phil 1,21 wird im Rahmen seiner Abwägung von Sterben und Leben notiert: „das Leben ist Christus“ (to. zh/n Cristo,j). Die Bezeichnung des Apostels und seiner Mitarbeiter als „Knechte Christi“ (dou/loi Cristou/ VIhsou/) in Phil 1,1 wird zwar nicht im Eingangsgruß des Kol aufgenommen, aber doch 48
L. BORMANN, Triple Intertextuality in Philippians, in: T.L. BRODIE / D.R. MACDONALD / S.E. PORTER (Hg.), The Intertextuality of the Epistles. Explorations of Theory and Practice (New Testament Monographs 16), Sheffield 2006, 90-97, bes. S. 94-96.
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mehrfach im Brief selbst verwendet, etwa in Kol 4,7 für Tychikos (Tuciko.j su,ndouloj evn kuri,w)| und in Kol 4,12 für Epaphras (VEpafra/j ... dou/loj Cristou/). Wie fokussieren sich die genannten Textbeziehungen, wenn wir über das textliche Beziehungsgeflecht die fünf für den Philipperbrief als zentral definierten Frames legen? Die Situation des Paulus wird in Kol 4,3 und 18 charakterisiert. Der fiktive Autor Paulus bezeichnet seine Gefangenschaft wie im Phil mit dem Signalwort desmoi, „Fesseln“ (Phil 1,7.13.14.17; Phlm 10.13; Kol 4,18; 2 Tim 2,9). Er weitet zudem das Wortfeld mit dem Verb dei/n „fesseln“ (Kol 4,3; 2Tim 2,9), das die technische Bedeutung „ins Gefängnis werfen“ oder „in Haft sein“ hat, weiter aus.49 Die Aufforderung „erinnert euch an meine Haft“ (mnhmoneu,ete, mou tw/n desmw/n, Kol 4,18) verweist explizit auf die Gefangenschaft des Paulus, wie sie in Phil und Phlm vorausgesetzt wird. Weitere gemeinsame prägnante Syntagmata zur Kennzeichnung der Situation des Paulus sind: „Bedrängnis“ (qli/yij, Phil 1,17; 4,14/Kol 1,24), „wissen, dass ich einen Kampf führe“ (eivde,nai avgw/na e;xw Phil 1,30/Kol 2,1; vgl. Kol 1,29: avgwni,zesqai und Kol 4,12). In Kol 3,4 begegnet die Reihung aus Phil 1,21 von „Leben ist Christus, Sterben ist Gewinn“ in gewandelter Form: „Christus unser Leben, Offenbarwerden in Herrlichkeit“ (Kol 3,4/Phil 1,21). Der Gedanke an das Sterben wird aufgenommen, aber variiert. Der Mangel des Paulus und sein Angewiesensein auf Hilfe begegnen nicht, vielmehr wird die Begrifflichkeit auf Christus bezogen, dessen Leiden nach Kol 1,24 einen noch von Paulus zu behebenden Mangel hinterlassen habe. Es fehlt der Verweis auf einen Prozess. Im Ergebnis: Die Gefangenschaftssituation wird leicht variiert, aber deutlich wie im Phil als bedrängte Kampfsituation gezeichnet. Die Konkretionen der paulinischen Situation Prozess, Lebensgefahr und Hilfsbedürftigkeit treten etwas zurück. Paulus wird nun in einer eher abstrahierend-sinnbildenden Formulierung als „Gefangener in Christus“ bezeichnet, der die Leser/innen an die mit der Gefangenschaftssituation gegebene Spannung erinnert. Diese Spannung fügt Kol 1,24 in eine neue Sinngestalt, nach der die Leiden des Paulus den Mangel der Bedrängnisse Christi ausfüllen. Hinsichtlich des Frame die Beziehung zur Gemeinde fällt auf, dass im Kol das Wortfeld κοινωνία fehlt, das für Phil charakteristisch ist. Es begegnen hingegen zahlreiche Komposita mit sun-, die wie im Phil die enge Beziehung zwischen Gemeinde und Autor zum Ausdruck brin-
49
S. ARBANDT u. W. MACHEINER, Art. Gefangenschaft, RAC 9 (1976), 318-345, bes. 319.
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gen.50 Als Gesandte des Paulus werden Tychikus und Onesimus (4,7-9) genannt, auch Markus wird angekündigt (4,10). Epaphras kennt die Gemeinde und setzt sich für sie ein (1,7f; 4,12). Archippus, der wohl ein Gemeindeamt innehat, wird ermahnt (4,17; vgl. Phil 4,2f). Timotheus wird nur als Mitabsender erwähnt. Während in Phil 1,30 festgehalten wird, dass die Gemeinde den gleichen Kampf wie Paulus kämpfe (Phil 1,30), spricht Kol 2,1 nur noch vom Kampf des Paulus für die Gemeinden in Kolossae und Laodikea. Es werden zudem weder Abgesandte der Gemeinde oder Hilfeleistungen der Kolossergemeinde erwähnt. Die Beziehung zur Gemeinde und zu den Mitarbeitern wird aufgenommen, aber in einer charakteristischen Hinsicht variiert. Im Kol scheint die Beziehung einseitig von Paulus bestimmt zu sein, die Gemeinde wird nicht als Akteur erwähnt. Die Bedeutung des Christusgeschehens wird im Kol ohne die für den Phil charakteristische Aussage vom Tag Christi, die die zeitliche Dimension des Christusgeschehens hervorhebt, zur Sprache gebracht. Kol knüpft vielmehr an räumliche Vorstellungen aus dem Phil an, nämlich an den erhöhten Christus, der die Proskynese und Homologese auch der Himmlischen empfängt (Phil 2,9f) und den die Glaubenden aus den Himmeln erwarten (Phil 3,20). Im Kol wird Christus allerdings nicht „aus den Himmeln“ erwartet (Phil 3,20), sondern er bleibt vielmehr da „oben“ (Kol 3,1: ta. a;nw zhtei/te, ou- o` Cristo,j evstin). Er wird auch nicht erhöht (Phil 2,9), sondern „sitzt“ zur Rechten (Kol 3,1: evn dexia/| tou/ qeou/ kaqh,menoj). Die Raumaussagen im Kol sind deutlich statischer als im Phil. Zu diesen Raumaussagen gehört auch die Orientierung nach „oben“. Sie begegnet in Phil 3,14, im Kol wird sie aufgenommen und in ihrer Bedeutung gesteigert. Die Orientierung nach „oben“ prägt die gesamte christliche Existenz (Kol 1,5.16.23; 3,1f; 4,1). Selbst die Aussage „Christus ist das Leben“ (Phil 1,21) wird auf die himmlische Welt bezogen, in der die Glaubenden offenbar werden (Kol 3,4). Der Kol findet im Phil Anknüpfungspunkte für den Wechsel von einer eschatologischen Christologie hin zu einer raumorientierten Christologie der sphärischen Ordnung. Dadurch wird auch eine weitere Besonderheit der Christologie des Kol ermöglicht. Die Vorstellung der Schöpfungsmittlerschaft (Kol 1,16) setzt die Präsenz Christi in der himmlischen Welt voraus. In der Gegnerpolemik nimmt Kol den paulinischen Aufmerksamkeitsruf ble,pete auf (Kol 2,8; Phil 3,2), der auch hier Überlegungen zur wahren Beschneidung einleitet (Kol 2,11; Phil 3,3). Die scharfe Opposi50
sumbiba,zein (Kol 2,2), su,ndesmoj (2,19; 3,14), sunegei/rein (2,12), sunqa,ptesqai (2,12), suzwopoiei/n (2,13), su,ndouloj (1,7; 4,7), sunergo,j (Kol 4,11; Phil 2,25; 4,3), sunaicma,lwtoj (Kol 4,10).
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tion katatomh,/peritomh, oder auch das Vertrauen auf die sa,rx (Phil 3,3: evn sarki. pepoiqo,tej) fehlen im Kol. Der Gegensatz gilt im Kol als überwunden, da die Glaubenden nach Kol 2,11 den sarkischen Leib in Christus bereits ausgezogen haben. Der Kol hat bekanntlich andere Probleme mit gegnerischen Positionen, die er allerdings deutlich zurückhaltender thematisiert als Phil 3. In Hinsicht auf den Schriftbezug gilt, dass der Kol die Zurückhaltung des Phil gegenüber der Schrift teilt. Auch Kol zitiert die Schrift nicht und ist zudem mit Anspielungen auf die Schrift noch zurückhaltender als Phil.51 Schließlich wird auch die Freudenterminologie, die für die Stimmung des Phil bedeutsam ist, im Kol aufgenommen (Phil 1,4/Kol 1,11: meta. cara/j; Phil 1,18; 2,17/Kol 1,24; 2,5: cai,rein). Lässt sich auf dieser Basis ein Gesamtbild der Bedeutung des Phil für den Kol zeichnen? Die Aufnahme einiger prägnanter Formulierungen belegt zwar keine ‚Benutzung’ des Phil, sie verweist vielmehr darauf, dass eine konzentrierte Lektüre des Phil erfolgt ist. Bei dieser Lektüre werden die Konkretionen des Phil hinsichtlich der Gefangenschaftssituation, der Beziehung zur Gemeinde und in der Gegnerpolemik zurückgedrängt bzw. einseitig auf den Apostel Paulus konzentriert. Die wechselseitige Interaktion und Kommunikation zwischen Paulus und den Philippern wird im Kol auf eine apostolische Beziehung reduziert, die nur von Paulus aktiv gestaltetet wird. Die Gemeinde von Kolossae ist kein Akteur konkreter Interaktionen. Die Gefangenschaftssituation des Paulus wird betont und sinnbildend neu gedeutet. Nach dieser Deutung wirken die Leiden des Paulus in der Evangeliumsverkündigung synergistisch am soteriologischen Prozess der universalen Offenbarmachung des göttlichen Mysteriums und dessen Aneignung durch die Glaubenden mit (Kol 1,24). Die Gefangenschaft des Paulus, die im Phil unter dem zeitlichen Horizont des nahen Tages Christi steht, wird im Kol Teil des göttlichen Heilshandelns für „alle Menschen“ (1,28: [3x] pa/j a;nqrwpoj). Und damit sind wir bei der Christologie, dem Herzstück beider Briefe. Der Philipperhymnus ist bestimmt durch eine Erniedrigungsund Erhöhungsbewegung. Der Kolosserhymnus denkt hier weniger in Bewegungen, also dynamisch-aktiv, als vielmehr in Räumen, also statisch-relational. Der präexistente Schöpfungsmittler wirkt im Himmel einerseits und auf Erden andererseits (Kol 1,16). Er schafft Frieden für alles, was sowohl auf der Erde als auch im Himmel ist (Kol 1,20). Bei dieser christologischen Neupositionierung, die der Kol durchführt, knüpft er an Wendungen aus Phil 2,9-11 und 3,19f an, die sein räumli51
POKORNÝ, Kolosser (s. Anm. 40), 17; Anm. 41.
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ches Verständnis und sein Interesse an einer universalen Wirksamkeit des Evangeliums unterstützen.52 Diese räumliche Konzeption wird durch ein gegenüber Phil verändertes Zeitverständnis ergänzt. Der Tag Christi spielt wie gesagt keine Rolle mehr. Auch die futurischen Aussagen zur Wandlung (Phil 3,21) und zur Gleichgestaltung der Glaubenden mit Christus (Phil 3,10.21) werden nicht aufgenommen. Im Kol haben die Glaubenden diesen Christus, auf den hin alles im Himmel und auf Erden geschaffen ist, gleichzeitig in sich. Sie sind – und hier begegnen die betonten Formulierungen mit sun- – nach Kol 2,12f mitbegraben, mitauferstanden und mit ihm lebendig gemacht worden. Auf Schlagworte verkürzt, wird aus „Der Herr ist nahe!“ (Phil 4,5: o` ku,rioj evggu,j) der „Christus in uns“ (Kol 1,27: Cristo.j evn u`mi/n).
3.2. Epheserbrief Die Textbeziehungen des Epheserbriefs zu den Paulusbriefen werden ebenfalls sehr unterschiedlich beurteilt. Mußner entdeckt im Eph nur „Traditionswissen“.53 Luz formuliert etwas vage: „In Erinnerung hat er [der Vf. des Eph, L.B.] vielmehr auch den Römerbrief, den 1. und 2. Korintherbrief und den Galaterbrief, vielleicht auch den 1. Thessalonicherbrief (...).“54 Pokorný sieht vor allem Textbeziehungen zu den beiden Korintherbriefen.55 Sellin geht am weitesten, wenn er notiert, dass der Verfasser des Eph „die Gemeindebriefe des Paulus (einschließlich Phlm) sowie den Kolosserbrief kennt und für sein eigenes Schreiben voraussetzt und benutzt“56. Die Textbeziehungen zwischen Kol und Eph sind insgesamt so zahlreich und so dicht, dass von einer Benutzung des Kol durch den Eph auszugehen ist.57 Aufgrund der Nähe des Eph zum Kol kann man erwarten, dass die Parallelen des Eph zum Phil über den Kol vermittelt sind. Tatsächlich gibt es aber Textbeziehungen zwischen Eph und Phil, die keine Entsprechung in den Textbeziehungen des Kol zum Phil fin52 53 54 55 56 57
L. BORMANN, Weltbild und gruppenspezifische Raumkonfiguration des Kolosserbriefs, in: P. MÜLLER (Hg.), Kolosser-Studien (= BThSt 103), Neukirchen-Vluyn 2009, S. 83-102, bes. 101f. F. MUßNER, Der Brief an die Epheser (ÖTK 10), Gütersloh 1982, 17f. U. LUZ, Der Brief an die Epheser (NTD 8/1), Göttingen 1998, 111. P. POKORNÝ, Der Brief des Paulus an die Epheser (ThHK 10/2), Leipzig 1992, 18-20. G. SELLIN, Der Brief an die Epheser (KEK VIII), Göttingen 2008, 58. SELLIN (s. Anm. 56), 56: Kol sei „Vorlage“ des Eph. LUZ, Epheser (s. Anm. 42), 111f, meint, der Vf. interessiere sich vor allem für die Paränese aus Kol 3,5-4,6, weil diese relativ situationsunabhängig sei. POKORNÝ, Epheser (s. Anm. 55), 21, schätzt den theologischen Einfluss des Kol höher ein.
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den.58 Es gibt zudem auch Textbeziehungen zwischen Kol und Phil, die im Eph nicht aufgenommen sind. So verzichtet Eph völlig auf die Freudenterminologie (cara,, cai,rein). Beide Sachverhalte verweisen darauf, dass das Verhältnis des Eph zum Phil nicht allein über den Kol vermittelt ist. Ich verzichte jetzt darauf, die Textbeziehungen zwischen Eph und Phil gesondert aufzulisten, und behandele die Textbeziehungen direkt in Relation zu den fünf Frames. Die Situation des Paulus ist auch im Eph als Gefangenschaft gekennzeichnet. Paulus ist Gefangener Jesu Christi (Eph 3,1: o` de,smioj tou/ Cristou/) und „Gefangener im Herrn“ (4,1: o` de,smioj evn kuri,w)| . Das Wortfeld wird also gegenüber Phil und Kol um das Substantiv de,smioj „Gefesselter“ (Phlm 1.9; Eph 3,1; 4,1; 2Tim 1,8) erweitert. Eph 6,20 spricht zudem in einer etwas emphatisch wirkenden Formulierung von einem Paulus, der das Evangelium „in Ketten“ verkündet (presbeu,w evn a`lu,sei). Die Gefangenschaftssituation bleibt allerdings ohne sachliche Konkretionen. Sie wird nach dem Vorbild von Phlm 1 (Pau/loj de,smioj Cristou/ VIhsou/ ) sinnbildend begrifflich zu einer christologisch bedeutsamen Gefangenschaft verdichtet. Eph 3,2 scheint eine konkrete Beziehung zur Gemeinde vorzustellen, wenn gesagt wird, Paulus habe von der Gnade der Gemeinde gehört. Da aber insgesamt jede weitere konkretisierbare Information über die Gemeindeverhältnisse fehlt, handelt es sich um eine eher rhetorisch zu verstehende Aussage. Immerhin wird in Eph 6,21 eine Interaktion erwähnt. Dort heißt es, Paulus wolle den Tychikus (vgl. Kol 4,7) zur Adressatengemeinde senden, damit dieser berichten könne, wie es um Paulus stehe (Phil 1,21/Eph 6,21: ta. kat´ evme,). Der Eph sieht zwar noch die Bedeutung der Gemeindebeziehung für die Textpragmatik eines Paulusbriefes, er greift durchaus auch ein Syntagma wie ta. kat´ evme aus Phil 1,21 auf, reduziert aber letztlich den Frame Beziehung zur Gemeinde aber auf sehr knappe Bemerkungen, in denen zudem ausschließlich Paulus aktiv ist. Die Bedeutung des Christusgeschehens wird in Eph 1,20-22 in einer Formulierung zum Ausdruck gebracht, die in Beziehung zu Phil 2,9f und 3,21 steht. Die Formulierung nimmt die Vorstellung des Kyrios im Himmel (Phil 3,19), die Herrschaftsunterordnung aus Phil 3,21 (kai. u`pota.xai auvtw/|/ Eph 1,22: kai. pa,nta u`pe,taxen u`po tou.j po,daj auvtou/) und die Erhöhung über jeden Namen aus Phil 2,9 (to. u`pe.r pa/n o;noma / Eph 1,21: u`pera,nw ... panto.j ovvno,matoj ovnomazome,nou) auf. Die Formulierungen werden in den Kontext einer Kombination aus Bestandteilen der bedeutendsten christologischen Schriftzitate, nämlich Ps 110,1 (ka,qou evk 58
Z.B. folgt der Eingangsgruß Eph 1,1 zwar weitgehend Kol 1,1, nimmt aber im Gegensatz zu Kol 1,1 den christologischen Teil des Gnadengrußes aus Phil 1,2 mit auf.
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dexiw/n mou) und Ps 8,7 (pa,nta u`pe,taxaj u`poka,tw tw/n podw/n auvtou/), gestellt. Das in der Septuaginta seltene evpoura,nioj (Ps 67,15 LXX; 2Makk 3,39; 3Makk 6,28; 7,6; vgl. Dan 4,23; 4Makk 4,11; 11,3), hat Eph 1,20 (vgl. Eph 1,3; 2,6; 3,10; 6,12) gemeinsam mit Phil 2,10. Es fehlt im Kol. Im Phil ist evpoura,nioj wohl eher personal verstanden und bezeichnet die „Himmlischen“.59 Im Eph hingegen wird damit in der Tradition der Septuaginta die lokale Bedeutung „im Himmel“ oder gar „im höchsten Himmel“ zum Ausdruck gebracht.60 Eph gebraucht den Begriff, um die verschiedenen Raum- und Machtsphären gegeneinander abzugrenzen, die für sein Weltbild charakteristisch sind.61 Hier wird deutlich, wie in den Sprachzusammenhang, der mit Ps 8,7; 110,1; Phil 2,9f und 3,21 gegeben ist, der Sachzusammenhang, nämlich die Vorstellungen über die Raumkonstellationen in der himmlischen Welt, hineinwirken. Die Aussage über die Himmlischen in Phil ist personal und interessiert sich nicht für die Raumkonfiguration der himmlischen Welt. Der Eph hingegen hat eine relativ feste Vorstellung vom sphärischen Aufbau dieser himmlischen Welt und zeichnet in sie hinein die Bewegung des Christus als Kosmosgang (Eph 4,8-10: avnabai,nein, katabai,nein).62 Es entsteht so eine dynamische Raumkonstellation. Eph 3,14f hat mit der Aussage, dass Paulus seine Knie beuge vor dem Vater aller im Himmel und auf Erden, eine gewisse textliche Nähe zu Phil 2,10. Über den Kol ist diese Nähe nicht vermittelt, vielmehr wirken hier Phil 2,10 und Jes 45,23 (o[ti evmoi. ka,myei pa/n go,nu) gemeinsam auf Eph 3,14f ein. Einige Motive, die im Phil mit Paulus selbst verbunden sind, werden im Eph aufgenommen, aber auf Gott bzw. Christus bezogen. So fordert Phil 3,17 auf, Paulus als Vorbild zu verstehen (summimhtai, mou gi,nesqe), während Eph 5,1 von der Nachahmung Gottes spricht (gi,nesqe ou=n mimhtai. tou/ qeou/). In Phil 2,17 u. 4,18 wird Paulus in Aufnahme alttestamentlicher Opfermetaphorik als Opfer verstanden,63 während Eph 5,2 diesen Vorstellungszusammenhang mit Christus in Verbindung bringt (vgl. noch Eph 4,3 und Phil 1,27). Der Eph enthält keine erkennbare Gegnerpolemik. Die Warnung vor falschen Lehren (didaskali,a) in 4,14 ist ohne Beziehung zu Phil. Die Beschneidung wird in Eph 2,11 (peritomh. ceiropoi,htoj) wie in Kol 2,11 (peritomh. avceiropoi,htoj) heilsgeschichtlich diskutiert, nicht aber im 59 60 61 62 63
U.B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, Leipzig 22002 (ThHK 11/1), 108f. SELLIN, Epheser (s. Anm. 56), 73.85-90; vgl. 139: „translunarer Bereich“. R. SCHWINDT, Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie (WUNT 148), Tübingen 2002, 393. SCHWINDT, Weltbild (s. Anm. 61), 355-362. Ex 29,18; Ez 20,41; Lev 17,4; 23,18; Num 15,3.6.7.10.13.14.24; 18,17; 28,6.8.13.24.27; 29,2.6.8.11.13.36; Jes 56,7.
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Rahmen einer Abgrenzung von einer gegnerischen Position wie in Phil 3,2f thematisiert. Hinsichtlich des Schriftbezugs unterscheidet sich der Eph von Kol und Phil. Eph bietet zahlreiche Textbeziehungen zum Alten Testament.64 Es finden sich ausdrückliche Zitate (Eph 4,25f/Sach 8,16; Ps 4,5; Eph 5,31/Gen 2,24; Εph 6,2/Ex 20,12), die teilweise durch Zitationsformel eingeleitet werden (Eph 4,8: dio. le,gei/ Ps 68,19), aber auch zahlreiche Anspielungen.65 Der Eph enthält deutliche Intertextualitätssignale, die auf die Schrift verweisen (4,8: dio. le,gei). Mit ihrer Hilfe vertritt er vor allem in Eph 2,11-22 einen „universalistisch-judenchristlichen Standpunkt“66 und stellt sich damit in einen gewissen Gegensatz zum Kol, der kaum explizite Bezüge zum Judentum herstellt. Fassen wir die Textbeziehungen zusammen, die Eph unabhängig vom Kol mit Phil verbindet: vollständiger Gnadengruß (Phil 1,2), die Himmlischen (Phil 2,10), Beugen der Knie (Phil 2,10), Mimesis (Phil 3,17), Herrschaftsunterordnung (Phil 3,21), Namenmetaphorik (Phil 2,9) und Opferterminologie (Phil 4,18). Es bestätigt sich in der Untersuchung des Textverhältnisses zwischen Kol und Phil auf der einen Seite und Eph zu Phil auf der anderen Seite das Urteil, dass der Eph den echten Paulusbriefen bisweilen nähersteht als der Kol.67 Die Textbeziehungen zwischen Eph und Phil konzentrieren sich auf die Thematisierung der himmlischen Machtverhältnisse. Christus hat als wohlgefälliges Opfer den Platz zur Rechten Gottes im Kreis der Himmlischen erhalten, ihm sind alle Mächte und Bedeutungen (Namen) untergeordnet. Die Textbeziehungen zu Phil 2,9f und 3,21 stützen die Sicht, die der Eph von den himmlischen Verhältnissen entwickelt. Eph möchte die himmlische Welt in einer Weise auf Christus bezogen wissen, die deutlicher als im Kol an biblische Vorstellungen anknüpft. Dabei wird die Rolle des Paulus im Gegensatz zum Kol (man denke nur an Kol 1,24) deutlich zurückgedrängt. Im Mittelpunkt stehen die für die Raumkonzeption des Eph auswertbaren Formulierungen aus Phil 2,9f und 3,20f vor allem deshalb, weil sie sich mit Aussagen aus Ps 8,7 und Ps 110,1 gut verbinden lassen. Aus den fünf genannten Wortfeldern des Phil fallen im Eph in drei Bereichen Unterschiede auf: Die konkrete Beziehung zur Gemeinde interessiert ihn nicht, an einer Gegnerpolemik hat er kein Interesse und 64
65 66 67
SELLIN, Epheser (s. Anm. 56), 56: „Explizite Zitate sind: 1,20 (ψ 109[110],1); 1,22 (ψ 8,7b); 2,17 (Jes 57,19); 4,8 (ψ 67 [68],19a.b); 4,25 (Sach 8,16); 4,26a (ψ 4,5); 4,26b (Dtn 24,15); 5,14b (?); 5,18 (Prov 23,31); 5,31 (Gen 2,24); 6,2f (Ex 20,12; Dtn 5,16); 6,14-17 (Jes 11,5; 52,7; 59,17).“ POKORNÝ, Epheser (s. Anm. 55), 13-15; SELLIN, Epheser (s. Anm. 56), S. 230. SELLIN, Epheser (s. Anm. 56), 56.
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auch die Abstinenz des Phil hinsichtlich des Schriftbezugs teilt er nicht. Eph greift hingegen das Frame Gefangenschaft auf, wandelt es aber zu einem literarischen Motiv und nutzt die damit gegebenen rhetorischen und literarischen Möglichkeiten. Die Wendungen o` de,smioj tou/ Cristou/ (3,1) und de,smioj evn kuri,w| (4,1) setzen die Gefangenschaft des Paulus in Beziehung zur himmlischen Herrschaft Christi, die Eph im Horizont der Vorstellungen aus Phil 2,9f; 3,19-21 einerseits und Ps 8,7; 110,1 andererseits versteht.
4. Ergebnis Ich fasse das Ergebnis der Untersuchung der Textbeziehungen konzentriert auf die fünf genannten Frames in vier Punkten zusammen und benenne zum Abschluss zwei Vorstellungen, die in der Theologiegeschichte des Urchristentums wirksam geworden sind. 1. Lektüre: Die Textbeziehungen zwischen Kol und Phil weisen auf eine konzentrierte Lektüre des Phil durch den Verfasser des Kol. Auch im Falle des Eph wird man von einer Lektüre des Phil sprechen können. Sie erfolgt aber längst nicht so eng am Phil wie im Falle des Kol, sondern bezieht die Lektüre des Phil in den Kontext der Lektüre weiterer Paulusbriefe und der Septuaginta mit ein. Die Textbeziehungen des Eph zum Phil sind nicht über den Kol vermittelt, sondern sind zum Teil unabhängig vom Kol (z.B. Herrschaftsunterordnung) und stehen zum Teil gegen die Rezeption durch den Kol (z.B. Freudenterminologie). 2. Vom Frame zum literarischen Motiv: Kol und Eph weiten das Wortfeld von desmoi,, „Fesseln“ (Phil 1,7.13.14.17; Phlm 10.13; Kol 4,18; 2Tim 2,9), über dei/n (Pass.), „gefesselt sein“ (Kol 4,3; 2Tim 2,9 [?]), de,smioj, „Gefangener“ (Phlm 1.9; Eph 3,1; 4,1; 2Tim 1,8) und schließlich evn a`lu,sei, „in Ketten“ (Eph 6,20; vgl. 2Tim 1,16) aus. Mit dieser sprachlichen Ausweitung tritt allerdings der konkrete Gehalt, der Sachzusammenhang, des Frame Gefangenschaft zurück. Kol und Eph transformieren so den Frame Gefangenschaft zum literarischen Gefangenschaftsmotiv. In der Literaturwissenschaft ist das Motiv eine sprachliche „strukturelle Einheit als typisch bedeutungsvolle Situation, welche generelle thematische Vorstellungen umfasst“.68 Es bezeichnet eine „sich wiederholende, typische menschlich bedeutungsvolle Situation, die in ihrer über sich hinausweisenden Spannung nach Lösung verlangt“.69 Im Motiv werde der Drang nach Lösung umso stärker, je 68 69
D. MATHY, Art. Motiv, Historisches Wörterbuch der Rhetorik 5 (2001), 1485-1495, bes. 1489. MATHY, Art. Motiv (s. Anm. 68), 1490.
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mehr das stofflich Einmalige zurücktrete.70 Wenn die behandelten Briefe als Abfassungssituation die Haft benennen, dann nutzen sie das Gefangenschaftsmotiv, um eine Situation zu thematisieren, von der eine besondere Spannung ausgeht, und zwar die Spannung zwischen der Christusverkündigung und dem Schicksal des Apostels. Gerade die Entkonkretisierung, d.h. die Zurückdrängung des stofflich Einmaligen der Situation, verstärkt den Drang nach einer theologischen Lösung. Diese bedeutungsvolle Spannung nehmen Kol, Eph, späterhin auch 2Tim und die Ignatiusbriefe auf. Das Motiv von Paulus als Gefangenem wird tragend für die gesamte Paulusrezeption. 3. Raumkonfigurationen: Die Aussagen in Phil 2,9f und 3,19-21 sind im Phil in eine drängende eschatologische Spannung gestellt. Der Tag Christi kommt, der Kyrios ist nahe, die Gemeinde erwartet den Kyrios als Heiland (swth/r) aus dem Himmel und blickt auf die universale Homologese und Proskynese der Himmlischen, Irdischen und der Katachthonen. Diese Aussagen werden vom Kol wie vom Eph vor allem mit ihren räumlichen Komponenten rezipiert. Die universale Bedeutung Christi für „Himmel und Erde“ ist ein Geheimnis, das dem Kosmos durch die Evangeliumsverkündigung zu offenbaren ist, so der Kol. Der Eph interessiert sich nun für die sphärische Ordnung selbst, die er durch die Vorstellung des Kosmosgangs Christi nach und nach für die Kirche erschlossen sieht. 4. Die Schrift als tragender Grund: Die Transformation der eschatologischen Aussagen des Phil in Raumkonfigurationen wird unterstützt durch die raumorientierten Vorstellungen, die sich im antiken Judentum um den Thronraum Gottes bilden. Der erhöhte Christus muss vor diesem Hintergrund einen definierten Platz in der räumlich vorgestellten Machtsphäre Gottes bekommen, aus dem einerseits seine Bedeutung für die Schöpfung und andererseits seine Relation zum Schöpfer selbst deutlich werden. Eph und Kol rezipieren vor allem deswegen Phil 2,9f und Phil 3,19-21, weil in diesen Texten der Sprach- und Sachzusammenhang vom Thronraum Gottes vor dem Hintergrund von Jes 45,23, Ps 8,7 und 110,1 angesprochen wird. Paulus selbst interessiert sich aufgrund seines spannungsvollen (eschatologischen) Zeitverständnisses nur wenig für durchdachte Raumkonfigurationen. Kol und Eph wissen aber, dass die Christologie in Raumkonstellationen zu übersetzen ist, weil sie nur so Anschluss an die tragende Kraft des biblischen Weltbildes gewinnen kann.
70
Ebd.
Philipperbrief und Paulustradition
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Letztlich wird man die Bedeutung des Philipperbriefs für die Paulustradition und für die Theologiegeschichte des Urchristentums auf zwei Zusammenhänge konzentrieren können: 1. Der Phil thematisiert mit der realen Gefangenschaftssituation des Paulus die gemeinschaftliche Praxis angesichts des individuellen Lebensendes. Die Paulustradition nimmt die konkrete Situation der Gefangenschaft auf und wandelt sie zu einem literarischen Motiv um. Damit wird das Motiv von Paulus als Gefangenem zum zentralen biographischen Interpretament der Paulustradition überhaupt. 2. Das Christusgeschehen wird bereits in Phil 2,9f und 3,19-21 in räumlichen Kategorien expliziert, die aber dem zeitlichen Motiv von der Nähe des Tages Christi untergeordnet bleiben. Die Paulustradition, wie sie in Kol und Eph repräsentiert ist, entscheidet sich anders. Sie hebt die räumlichen Anteile des Christusgeschehens hervor und greift dabei wieder stärker auf die biblische Raumkonstellation zurück, wie sie in der Vorstellung vom Thron Gottes repräsentiert ist. Sie legt damit letztlich die Grundlage für die Verbindung von Christentum und Neuplatonismus, wie sie Ps.-Dionysios Aeropagita (um 500 n.Chr.) in seinen Schriften über die irdisch-kirchliche Hierarchie, die in die himmlisch-göttliche übergeht, zur Vollendung bringen wird.
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Die Thessalonicherbriefe im Kontext urchristlicher Überlieferungsprozesse. Methodische Reflexionen Hanna Roose
1. Einleitung Die Anpassung von Traditionen an veränderte Situationen kennzeichnet wesentlich den Entstehungsprozess der neutestamentlichen Schriften. Das Phänomen begegnet uns zum einen in der – v.a. synoptischen – Evangelienüberlieferung. Dieser Überlieferungsprozess zeichnet sich dadurch aus, dass die neu entstandenen Texte (also – nach der klassischen Zweiquellentheorie – das Matthäus- und das Lukasevangelium) die benutzten Quellen (also das Markusevangelium und die Logienquelle) ablösen wollen.1 Die Redaktionskritik erhebt folglich in diachronem Zugriff die Veränderungen gegenüber den Quellen und schließt daraus auf die je neue Aussageabsicht der Verfasser. Anders verhält es sich beim Corpus Paulinum. Die deuteropaulinischen Briefe beziehen sich zwar auf paulinische Tradition – eben die ihnen bekannten Paulusbriefe –, sie wollen diese Briefe aber nicht ersetzen. Die Verfasser der deuteropaulinischen Briefe nehmen – wie die Evangelisten – Tradition auf und passen sie ihrer theologischen Aussageabsicht und der veränderten Situation an. Anders als bei den Evangelisten wollen die deuteropaulinischen Briefe ihre paulinischen „Vorlagen“ aber nicht ersetzen, sondern ergänzen oder genauer: abschließen. Die Pastoralbriefe verstehen sich „als Schlusspunkt oder ‚Ausrufezeichen‘ am Ende eines in einer langen Entwicklung stehenden und durch sie abzuschließenden Corpus Paulinum“2. 1
2
TH.K. H ECKEL , Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999, 103f.: „Die einzelnen Synoptiker streben an, als eigenständige Werke aufgenommen zu werden. ... Mt und Lk [zeigen], dass sie nicht neben ihrer Vorlage, dem Mk-Ev, gelesen werden wollten.“ Zur Diskussion vgl. 32-104. P. TRUMMER , Corpus Paulinum – Corpus Pastorale. Zur Ortung der Paulustradition in den Pastoralbriefen, in: K. K ERTELGE (Hg.), Paulus in den neutestamentlichen Spätschriften: Zur Paulusrezeption im Neuen Testament (QD 89), Freiburg u.a. 1981, 133 (122-145); vgl. schon E.A. BARNETT, Paul Becomes a Literary Influence, Chicago 1941, 277; J. WANKE , Der verkündigte Paulus der Pastoralbriefe, in: W. E RNST u.a.
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Diesem entscheidenden Unterschied im Überlieferungsprozess zwischen den Evangelien und dem Corpus Paulinum wird bisher methodisch in der Exegese kaum Rechnung getragen. Bei der Auslegung der Pastoralbriefe orientiert sich Trummer explizit am Vorbild der Synoptikerexegese und beruft sich auf die redaktionsgeschichtliche Methode: „Die Paulustradition der Pastoralbriefe ist eine schriftliche, durch das Corpus Paulinum vermittelte Tradition. ... Die Erkenntnis der literarischen Zusammenhänge zwischen P[aulus] und den Past hat für die Auslegung der Past eine große Bedeutung. Die Past geben ihre theologische Intention hinsichtlich der P-Tradition oft erst frei, wenn die redaktionsgeschichtliche Methode auf sie angewandt wird.“3
A. Merz hat in einer detaillierten Untersuchung zu den Pastoralbriefen zu Recht darauf hingewiesen, dass dieses methodische Vorgehen dem Selbstverständnis der Briefe als Abschluss einer Sammlung von Paulusbriefen nicht gerecht wird: „Die redaktionelle Absicht kann, wenn die Pastoralbriefe die Paulinen nicht ersetzen, sondern abschließend ergänzen wollen, nicht dadurch erhoben werden, dass man sich auf die Veränderungen an der Tradition allein konzentriert. Die LeserInnen sollen ja die Traditionen in ihrem literarischen Ursprungskontext weiterhin im selben Kontext finden wie die auf veränderte Situationen hin bearbeiteten Traditionen. Die redaktionelle Absicht ergibt sich daher erst bei einer verknüpfenden Betrachtung der diachronen Perspektive (Anpassung von Traditionen aufgrund veränderter Situationen) und der literarischen Synchronizität, die sich ergibt durch die unentrinnbare, nach Trummer sogar gewollte Eingliederung der Pseudepigraphen in die Gruppe der als authentisch geltenden Paulusbriefe.“4
Die avisierte literarische Synchronizität führt im Rahmen der pseudepigraphen Fiktion dazu, dass der pseudonyme Verfasser sich fiktiv auf sich selbst zurück beziehen kann.5
3 4 5
(Hg.), Dienst der Vermittlung, Leipzig 1977, 165-189: 186; in neuerer Zeit U. S CHNELLE , Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, 397. P. T RUMMER , Die Paulustradition der Pastoralbriefe (BET 8), Frankfurt u.a. 1978, 107. A. M ERZ, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus: Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe (NTOA 52), Göttingen 2004, 212. Eine andere Sachlage ergibt sich bei Annahme von offener Pseudepigraphie, die nicht mit einer Täuschungsabsicht rechnet. Aber „das Grundproblem dieser Annahme einer offenen Pseudepigraphie im Urchristentum ist, dass weder in den Texten selbst irgendwelche Signale an die impliziten Leser zu finden sind, die ein Bewusstsein für diese postulierte Form der Rede erkennen lassen, noch in den sonstigen Quellen Hinweise für eine solche Einstellung auf Seiten der RezipientInnen begegnen.“ M ERZ, Selbstauslegung (s. Anm. 4), 198. Einen Überblick zum Thema „Pseudepigraphie und literarische Fälschung“ gibt A.D. B AUM, Pseudepigraphie und literarische Fälschung, in: H.-W. N EUDORFER / E.J. S CHNABEL (Hg.), Das Studium des Neuen Testaments, Bd. 2: Spezialprobleme, Wuppertal 2000, 179-206.
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„Die fiktive Eigentextreferenz eröffnet dem Verfasser eines Pseudepigraphons literarisch alle Möglichkeiten, die ein Autor selbst hat, der sich auf frühere eigene Äußerungen bezieht, also etwa Bekräftigung, Präzisierung, Modifikation, Korrektur bis hin zur Retractatio. Es sind daher vor allem die fingierten Selbstreferenzen, die genauer untersucht werden müssen, um die Rolle der einzelnen paulinischen Pseudepigrapha im Streit um das legitime Erbe des Paulus zu bestimmen.“6
Das heißt: Indem der pseudonyme Verfasser die Pastoralbriefe als Abschluss des Corpus Paulinum konzipiert, versucht er, die Rezeption der Paulusbriefe in seinem Sinne zu steuern. Die fingierten Selbstreferenzen dienen geradezu als „literarische Waffe im Streit um die legitime Auslegung der Paulusbriefe und die Aktualisierung der Paulustradition“7. Dieser fundamentale Unterschied im Überlieferungsprozess urchristlicher Traditionskomplexe ist aus texttheoretischer Sicht interessant: Die (subjektive) Autorität der Texte und ihr Grad an (subjektiver) Offenheit standen in einem gegenläufigen Verhältnis zueinander: Matthäus und Lukas hatten offenbar keine Schwierigkeiten damit, das ihnen bekannte (Markus-)Evangelium und die Logienquelle durch eine eigene Schrift zu ersetzen. Das heißt auch: Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung dieser Quellentexte und der eigenen theologischen Aussageabsicht wurde als so groß empfunden, dass die Formulierung eines neuen, eigenen Textes notwendig erschien. Die Beziehung zwischen Text und Bedeutung war also relativ starr. Ganz anders im deuteropaulinischen Überlieferungsprozess: Die Autorität der als paulinisch anerkannten Briefe war so hoch, dass die Texte nicht einfach ersetzt werden konnten (und sollten). Wohl aber sahen deuteropaulinische Verfasser die Möglichkeit, „im Streit um das legitime Erbe des Paulus“8 den Bedeutungsspielraum der bekannten Briefe durch „fiktive Selbstreferenzen“ in ihrem Sinne zu verschieben. Mit anderen Worten: Während der Grad an Autorität, der diesen Texten zugebilligt wurde, deutlich höher war als im Bereich der synoptischen Evangelien, war die Beziehung zwischen Text und Bedeutung in den Augen der pseudonymen Verfasser flexibler. Diese Auffassung entspricht durchaus der moderneren Texttheorie, für die gilt, dass zwischen Text und Bedeutung keine starre Beziehung mehr postuliert wird.9 Aus historischer Sicht ist nun interessant, dass uns genau diese Auffassung indirekt bei den deuteropaulini6 7 8 9
M ERZ, Selbstauslegung (s. Anm. 4), 231. A.a.O., 232. A.a.O., 231. Vgl. dazu ausführlicher H. R OOSE / G. B ÜTTNER, Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion, ZNT 13 (2004), 59-69: 59.
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schen Autoren begegnet. Will man der Intention der deuteropaulinischen Briefe gerecht werden, dann muss also die Auslegung dieser pseudonymen Texte auch eine Auslegung ihrer jeweiligen paulinischen Bezugsgrößen beinhalten. Dabei gilt es, die paulinischen Biefe als polyvalente Texte wahrzunehmen, die durch neue intertextuelle Bezüge – eben die deuteropaulinischen Schriften – ihren Bedeutungsspielraum verändern.10 Intertextualität meint in diesem Zusammenhang mehr als Quellenund Redaktionskritik. Denn es geht entscheidend um den Aufweis, wie sich die Textur ein und desselben Textes durch seine Einbettung in einen neuen intertextuellen Kontext verändert. Dieser Ansatz stellt andere Anforderungen an die Exegese: Es geht nicht (mehr) darum, dem Text die eine richtige Bedeutung zu entnehmen, sondern seine Textur im Hinblick auf Geschlossenheit und Offenheit in historischer Perspektive zu beschreiben. Zentral ist die Frage, welche Strategien der pseudonyme Verfasser verwendet, um Bedeutungsspielräume in seinem Sinne zu verschieben.11 Dieser methodische Ansatz verleiht der texttheoretischen Frage von Geschlossenheit und Offenheit einen Platz in der „klassischen“ Exegese. Denn die Geschlossenheit von Texten wird nicht von einem dezidiert poststrukturalistischen Ansatz her grundsätzlich aufgebrochen.12 Vielmehr geht es um die historisch ausgerichtete Frage: Für wie offen hielten deuteropaulinische Verfasser ihre paulinischen Bezugstexte? Damit steht die Exegese vor der Aufgabe, den durch die deuteropaulinischen Briefe ausgelösten Prozess der Bedeutungsveränderung in ihren paulinischen Bezugstexten nachzuzeichnen. Der vorliegende Aufsatz möchte zu dieser grundsätzlichen Problemstellung einen exemplarischen Beitrag leisten, und zwar anhand der Thessalonicherbriefe. In einem ersten Schritt (2.) wird es darum 10 11
12
S. dazu ausführlich H. R OOSE , Polyvalenz durch Intertextualität im Spiegel der aktuellen Forschung zu den Thessalonicherbriefen, NTS 51 (2005), 250-269. H. R OOSE , 2 Thessalonians as pseudepigraphic reading instruction for 1Thessalonians: Methodological Implications and Exemplary Illustration of an Intertextual Concept, in: D.R. M AC D ONALD / S.E. PORTER / T. BRODIE (Hg.), The Triple Intertextuality of the Epistles: Soundings, Sheffield 2006, 133-151. Vgl. dazu die Mehrzahl der Beiträge in Semeia 69/70 (1995), Themenheft „Intertextuality and Bible“. T.R. H ATINA beantwortet die Frage „Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies: Is There a Relationship?“ folgendermaßen: „Both sides seem to be separated by an unbridgable chasm. And at the present time ‚intertextuality‘ clearly belongs to the poststructuralistic side.“ Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies: Is There a Relationship? BibInt 7 (1999), 28-43: 42. A. M ERZ hat dieser Auffassung überzeugend widersprochen: „Die Ergebnisse dieses ausgedehnten Forschungsfeldes [der Intertextualitätsforschung] könnten für alle Bereiche exegetischer Arbeit fruchtbar gemacht werden und sollten nicht, wie es bisher überwiegend der Fall gewesen ist, nur von TheoretikerInnen genutzt werden, die rezeptionsorientierten oder dezidiert poststrukturalistischen Ansätzen verpflichtet sind.“ Selbstauslegung (s. Anm. 4), 2.
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gehen zu zeigen, inwiefern die Thessalonicherbriefe für diesen Problemkomplex von hoher exemplarischer Relevanz sind. In einem zweiten Schritt (3.) soll – v.a. anhand der eschatologischen Passagen beider Briefe – aufgezeigt werden, wie sich die Textur des 1. Thessalonicher durch die Hinzufügung des 2. verändert.
2. Die exemplarische Relevanz der Thessalonicherbriefe Anhand der Thessalonicherbriefe lässt sich der in der Einleitung umrissene Problemkomplex exemplarisch erörtern. Die beiden Briefe bieten sich zunächst deshalb an, weil sie von ihrem textlichen Umfang her gut überschaubar sind. Während sich die Pastoralbriefe auf eine nur ungenau zu bestimmende Sammlung damals bekannter Paulusbriefe beziehen, lehnt sich der 2. Thessalonicherbrief klar erkennbar und eng an den 1. Thessalonicherbrief an und selektiert diesen durch seine fiktive Verfasserangabe und v.a. durch seine fiktive Adressatenangabe explizit als primären Bezugstext.13 Die nach wie vor offene Diskussion um die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes14 kann grundsätzlich als ein Indiz für die Polyvalenz der beiden Briefe gewertet werden. Denn offenbar können die Schreiben sowohl (von den Vertretern der Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes) in enger inhaltlicher Kontinuität als auch (von den Vertretern der Unechtheit des 2. Thessalonicherbriefes) in großer inhaltlicher Diskontinuität zueinander ausgelegt werden. Die v.a. in der deutschsprachigen Forschung geführte Diskussion zur Intention des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes thematisiert in zugespitzter Form den oben referierten Unterschied im Überlieferungsprozess zwi13 Vgl. R OOSE , Polyvalenz (s. Anm. 10), 252-253. 14 Die Diskussion um die Echtheit wird hier nicht eigens geführt. Hinter die Ergebnisse insbesondere von W. WREDE , Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefes untersucht (TU 24.2), Leipzig 1903, kann die Forschung m.E. nicht zurück. Vgl. zur Diskussion des weiteren W. T RILLING, Untersuchungen zum 2. Thessalonicherbrief (ETS 27), Leipzig 1972, sowie DERS., Der zweite Brief an die Thessalonicher (EKK XIV) Neukirchen-Vluyn u.a. 1980, und - als Vertreter der Echtheit - R. JEWETT , The Thessalonian Correspondence: Pauline Rhetoric and Millenarian Piety (Foundations and Facets), Philadelphia (PA) 1986, 3-18. Während die Frage der Authentizität des 2. Thessalonicherbriefes in der englisch-sprachigen Forschung nach wie vor als „a truly open question“ gilt [G.S. H OLLAND , A Letter Supposedly From Us: A Contribution to the Discussion about the Authorship of 2 Thessalonians, in: R.F. COLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990, 394-402: 402] urteilt F. LAUB: „Die Erkenntnis, dass 2 Thes kein authentischer Paulusbrief ist, hat sich nach einer annähernd 200 Jahre währenden exegetischen Diskussion inzwischen weithin durchgesetzt.“ Paulinische Autorität in nachpaulinischer Zeit (2 Thes), in: R.F. C OLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990, 403-417: 403.
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schen der synoptischen und der paulinischen Tradition.15 Umstritten ist, ob der 2. Thessalonicher den 1. ersetzen oder ergänzen will. Deshalb lässt sich anhand der beiden Briefe auch die Frage der jeweils angemessenen Auslegungsmethode diskutieren. Dazu einige nähere Erläuterungen: A. Lindemann vertritt im Anschluss an Hilgenfeld16 und Holtzmann17 die These, dass der 2. Thessalonicher den 1. zur Fälschung erklären und damit ersetzen wolle: „Es ist somit wahrscheinlich, dass der Vf des 2 Thess sich in 2,2 kritisch auf 1 Thess bezieht, während er in 2,15 positiv auf ‚seine‘ Predigt in Thessalonich und auf seinen vorliegenden Brief verweist. 2 Thess ist also ... kein ‚Kommentar‘ zum 1 Thess, sondern er ist geradezu als dessen ‚Rücknahme‘ konzipiert worden.“18 Nach Lindemann zielt die pseudepigraphe Fiktion des 2. Thessalonicherbriefes also darauf, dass „Paulus“ bestreitet, den 1. Thessalonicherbrief geschrieben zu haben. Das heißt: Das ‚Ersatzmodell‘ siedelt den 2. Thessalonicherbrief außerhalb der möglichen Bedeutungsspielräume an, die der 1. Thessalonicherbrief eröffnet. Der pseudepigraphe Verfasser sieht demnach keine Möglichkeit, den Text des 1. Thessalonicherbriefes zu „retten“, d.h. seine eigene (eschatologische) Lehre als legitime Deutung des 1. Thessalonicherbriefes auszugeben.19 Stattdessen benutzt er den 1. Thessalonicherbrief als Quelle, um einen eigenen, neuen Text zu verfassen, der den älteren ersetzen soll. Dieses Vorgehen hätte – wie bereits gesehen – seine Parallele im synoptischen Überlieferungsbereich, mit dem Unterschied, dass Matthäus und Lukas ihre Quellentexte nicht als Fälschung desavouieren. Die Thessalonicherbriefe würden demnach den „Extremfall“ eines Überlieferungsprozesses darstellen, der sich dadurch auszeichnet, dass die neu entstehenden Texte ihrem Selbstverständnis nach die älteren überflüssig machen. Im Rahmen dieser Konzeption erscheint ein rein diachroner Zugriff nach dem Vorbild der redaktionsgeschichtlichen Methode angemessen. Andere Exegeten nehmen an, dass der 2. Thessalonicherbrief eine Leseanweisung für den 1. Thessalonicherbrief sein soll. J. Roloff fasst diese Position prägnant zusammen: „Der 2. Thessalonicherbrief will 15 16 17 18
19
S CHNELLE , Einleitung (s. Anm. 2), 373: „In das Zentrum der Forschung rückte die Frage nach der eigentlichen Intention des 2Thess.“ A. H ILGENFELD , Die beiden Briefe an die Thessalonicher, ZWTh 5 (1982), 255-264. H.J. H OLTZMANN , Zum zweiten Thessalonicherbrief, ZNW 2 (1901), 97-108. A. LINDEMANN , Zum Abfassungszweck des zweiten Thessalonicherbriefs, ZNW 68 (1977), 35-47: 38. Dieser Auffassung folgen in neuerer Zeit W. M ARXSEN , Der zweite Brief an die Thessalonicher (ZBK.NT 11/2), Zürich 1982, 33-35 und F. LAUB , Erster und zweiter Thessalonicherbrief (NEB), Würzburg 21988, 49-50. Vgl. R OOSE , Polyvalenz (s. Anm. 10), 258.
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offensichtlich als Kommentar zum 1. Thessalonicherbrief verstanden werden, der diesen vor möglichen Missverständnissen schützt. Er will eine Leseanweisung in eine bestimmte Richtung geben.“20 Das heißt: Der pseudepigraphe Verfasser ergänzt bzw. präzisiert die eschatologische Lehre von 1Thess. Er bestreitet, dass sich die hinter 2Thess 2,2f. stehende Gruppe mit ihren eschatologischen Lehren zu Recht auf 1Thess berufen kann und grenzt damit die legitimen Bedeutungsspielräume von 1Thess so ein, dass die Auslegung dieser Gruppe heraus fällt. So fungiert 2Thess als Leseanweisung in eine bestimmte Richtung. Seine eigene Lehre siedelt der Verfasser dagegen innerhalb der „legitimen“ Bedeutungsspielräume von 1Thess an.21 Das heißt: Der pseudepigraphe Verfasser hielte den Text von 1Thess für so flexibel, dass er mit seiner eigenen Überzeugung kompatibel wäre. Es mag sein, dass diese Annahme von Flexibilität aus der Not geboren wurde: Vielleicht sah der pseudepigraphe Verfasser keine realistische Chance, den von seinen realen Adressaten hoch geschätzten 1Thess zu verdrängen.22 Folgen wir der Auffassung von Roloff, dann war es nach Ansicht des pseudepigraphen Autors einfacher (und damit überhaupt möglich), den Bedeutungsspielraum von 1Thess in seinem Sinne zu verschieben, als den Brief insgesamt zu verdrängen. Das Modell der Leseanweisung wendet damit die Position von Trummer und Merz zu den Pastoralbriefen auf die Thessalonicherbriefe an. Die methodischen Fragen, die damit aufgeworfen sind, lassen sich insofern einfacher anhand der Thessalonicherbriefe diskutieren, als hier ein klar begrenztes, überschaubares Textcorpus zur Debatte steht. Durch klare intertextuelle Bezüge – angefangen bei der Autor- und Adressatenfiktion, gibt der 2. Thessalonicherbrief sich als Leseanweisung speziell für den 1. Thessalonicherbrief zu erkennen. Dieser intertextuelle Bezug ist auch für diejenigen Passagen von 2Thess in Anschlag zu bringen, in denen der pseudepigraphe Verfasser Traditionen verarbeitet, die nicht aus 1Thess stammen. Bekanntlich ist das v.a. in den eschatologischen Passagen 2Thess 1,3-12 und 2,1-12 der Fall. Während eine traditionsgeschichtlich ausgerichtete Untersuchung 20
21 22
J. R OLOFF , Einführung in das Neue Testament, Stuttgart 1995, 213f.; ähnlich G. T HEIßEN , Das Neue Testament, München 2002, 87, und E. R EINMUTH , Die Briefe an die Thessalonicher, in: N. WALTER / DERS. / P. LAMPE , Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/2), Göttingen 1998, 161. S. dazu ausführlich R OOSE , Polyvalenz (s. Anm. 10), 261f. S CHNELLE fragt zweifelnd: „Sollte es möglich gewesen sein, den 1Thess ca. 40 Jahre nach seiner Abfassung als Fälschung zu bezeichnen? Die starke Anlehnung an den 1Thess lässt darauf schließen, dass der Verfasser des 2Thess von der Echtheit des ihm vorliegenden ersten Briefes überzeugt war. Er hätte dann wider besseren Wissens den 1Thess als Fälschung ausgegeben. Ein Vorgehen, das einem ntl. Autor nicht unterstellt werden sollte!“ Einleitung (s. Anm. 2), 373.
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hier v.a. im apokalyptischen Milieu suchen wird23, muss eine im weiteren Sinne intertextuell ausgerichtete Untersuchung auf der Basis des Modells der Leseanweisung danach fragen, wie die eschatologischen Passagen des 2. Thessalonicherbriefes die Lektüre der eschatologischen Passagen des 1. Thessalonicherbriefes verändern sollen. Das gilt insbesondere für 1Thess 4,13-17 und 5,1-11. Durch die Aufnahme von „Signalwörtern“ aus 1Thess wird der Leser von 2Thess auf diese eschatologischen Passagen als Bezugstexte verwiesen. In 2Thess 2,1 benennt der Verfasser das Thema des kommenden Abschnitts unter Aufnahme von Formulierungen, die deutlich an 1Thess 4,13-17 erinnern: „u`pe.r th/j parousi,aj tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/ (vgl. 1Thess 4,15) kai. h`mw/n evpisunagwgh/j evpV auvto,n (vgl. 1Thess 4,17).“ In 2Thess 2,2 klingt dann mit dem „Tag des Herrn“ 1Thess 5,1-11 an. Das Modell der Leseanweisung impliziert insofern, was Vertreter/innen der Intertextualitätsforschung seit langem propagieren – dass nämlich Intertextualität mehr meint als Quellen- und Traditionskritik. Die Diskussion um die Intention des 2. Thessalonicherbriefes spiegelt damit in zugespitzter Form den oben referierten Unterschied im Überlieferungsprozess zwischen der synoptischen und der (deutero-) paulinischen Tradition. Die Thessalonicherbriefe ermöglichen eine Diskussion und Erprobung der jeweiligen methodischen Konsequenzen anhand eines klar begrenzten Textcorpus. Ein Blick in die Forschung zeigt nun aber, dass diese methodische Diskussion bisher nicht geführt wird. Der rein diachrone Zugriff, der die Veränderung von Tradition aufgrund veränderter Situation nachzeichnet, überwiegt auch bei den Auslegungen, die den 2. Thessalonicherbrief als Leseanweisung charakterisieren. Der 1. Thessalonicherbrief kommt nicht als polyvalenter Text in den Blick. Die Frage, wie denn der 1. Thessalonicherbrief gemäß der Anweisung durch den 2. gelesen werden soll, wird entweder gar nicht thematisiert24 oder dahingehend beantwortet, dass der 1. und der 2. Thessalonicherbrief einander nicht widersprechen, sondern ergänzen. Hier wird richtig gesehen, dass das Modell der „Leseanweisung“ ein bestimmtes Maß an Kontinuität zwischen dem 1. und dem 2. Thessalonicherbrief impliziert. Dieser Umstand wird bezeichnenderweise v.a. von Exegeten bemerkt, die den 2. Thessalonicherbrief als echten Paulusbrief ansehen. So merkt Nicholl zutreffend an: 23
Vgl. jüngst P. M ETZGER , Katechon: II Thess 2,1-12 im Horizont apokalyptischen Denkens (BZNW 135), Berlin/New York 2005, 133-269. 24 Sie fehlt z.B. im Kommentar von R EINMUTH (s. Anm. 20), obwohl er beide Briefe kommentiert und den 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphe Leseanweisung charakterisiert.
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„It is remarkable that the majority of proponents of pseudonymity adopt the complementary hypothesis, which contends that 2 Thessalonians was intended to complement 1 Thessalonians, correcting the enthusiastic opponents’ false eschatological notion (2Thess 2:2), which was rooted in a misunderstanding of 1 Thessalonians’ eschatological instruction, perhaps 1Thess 5:1-11. That would mean that the author of 2 Thessalonians himself did not perceive the eschatology of the second letter to be irreconcilable with that of 1 Thessalonians.”25
Nicholl wertet das Modell der Leseanweisung daher indirekt als Argument für die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes. Er würde sich wahrscheinlich durch den TRE-Artikel von Holtz bestätigt sehen. Holtz charakterisiert den 2. Thessalonicherbrief zunächst als pseudepigraphe Leseanweisung zum 1. Thessalonicherbrief. Anschließend geht er auf die Frage ein, wie diese Leseanweisung aussieht. Dabei betont er die inhaltliche Nähe zwischen der Eschatologie des 1. und derjenigen des 2. Thessalonicherbriefes. „II Thess 2,3-12 widerspricht nicht I Thess 4,16-5,5, sondern bringt die andere Seite des ‚Unberechenbar‘, ‚Unvermutet‘ und ‚Plötzlich‘, mit dem der ‚Herrentag‘ (I Thess 5,2f.) hereinbricht, das ‚Jetzt-Noch-Nicht‘, zum Zuge.“26 Dadurch gerät nun aber bei ihm die Annahme der Pseudepigraphie ins Wanken: „Vielleicht darf man II Thess 3,17 einen Wahrheitskern abgewinnen: Paulus selbst bestätigt den Brief, der in seinem Sinne geschrieben worden ist. ... Der Brief [2Thess] ist mithin in strengem Sinne nicht paulinisch; ebensowenig freilich ist er un-, pseudo- oder deuteropaulinisch. Auch ist er nicht mit einer Sekretärshypothese zu erfassen. Er ist von (einem) Mitarbeiter(n) des Paulus verfasst, vielleicht von ihm inauguriert, sicher nicht ohne sein Wissen, möglicherweise von ihm ausdrücklich bestätigt.“27 Hier ist der Schritt zur Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes tatsächlich nicht mehr weit. Die These der pseudepigraphen „Leseanweisung“ scheint also in der konkreten Umsetzung in ein Dilemma zu führen: Kontinuität zwischen beiden Thessalonicherbriefen – wie sie das Programm der Leseanweisung verlangt – und Diskontinuität zwischen beiden Briefen – wie sie die Annahme der Pseudepigraphie für den 2. Thessalonicherbrief verlangt – geraten in einen scheinbar unauflösbaren Konflikt.
25 26 27
C. N ICHOLL , From Hope to Despair in Thessalonica. Situating 1 and 2 Thessalonians (MSSNTS 126), Cambridge 2004, 8f. T. H OLTZ , Art. Thessalonicherbriefe (TRE 33), Berlin/New York 2002, 412-420: 419. Ebd.
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Hier führt nun m.E. folgende Erkenntnis weiter: Die geforderte Kontinuität zwischen beiden Briefen gerät dann nicht in Konflikt mit der Annahme der Pseudonymität des 2. Thessalonicherbriefes, wenn sie ihren Bezugspunkt nicht in einer paulinischen Lesart des 1. Thessalonicherbriefes sucht, sondern fragt, wie der pseudonyme Autor des 2. Thessalonicherbriefes den 1. Thessalonicherbrief verstanden haben mag – und das kann erheblich davon abweichen, wie Paulus ihn ursprünglich „gemeint“ hat. Die These, nach der der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief eine Leseanweisung für den 1. darstellt, zielt also – überspitzt formuliert – auf eine „deuteropaulinische“ Lesart des 1. Thessalonicherbriefes. Der 1. Thessalonicherbrief erscheint damit als ein polyvalenter Text. Gefordert ist ein methodischer Zweischritt: • Zunächst ist die Diskontinuität zwischen dem 1. und dem 2. Thessalonicherbrief herauszuarbeiten, um den pseudepigraphen Charakter des 2. Thessalonicherbriefes zu begründen (3.1.). • Anschließend ist die „deuteropaulinische“ Kontinuität zwischen beiden Briefen herauszuarbeiten (3.2.). Also: Wie liest sich der 1. Thessalonicherbrief durch die „Brille“ des pseudepigraphen 2. Tessalonicherbriefes? Inhaltlicher Prüfstein dieses methodischen Vorgehens muss die Eschatologie sein.
3. Exemplarische Durchführung 3.1. Die Diskontinuität zwischen 1. und 2. Thessalonicherbrief am Beispiel der Eschatologie Die Annahme, dass es sich bei 2Thess um ein pseudepigraphes Schreiben handelt, geht meist Hand in Hand mit der These, dass der Brief in deutlichem zeitlichen und räumlichen Abstand zu 1Thess verfasst wurde.28 Das heißt: Den realen Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes 28
So z.B. T RILLING , Brief (s. Anm. 14), 28, der annimmt, dass „der Brief nicht in Thessalonich, in seinem Umkreis oder überhaupt in Makedonien/Achaia entstanden ist, sondern in weiterer Entfernung“; ähnlich T. S CHMELLER, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg u.a. 2001, 248; und R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 20), 164: „... außer diesen vagen terminlichen Angaben, die am ehesten an die Zeit zwischen ausgehendem ersten und frühem zweiten Jahrhundert denken lassen, lässt sich kaum Genaueres sagen - auch nicht über den Abfassungsort, der wohl am wenigsten Makedonien
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war nicht mehr bekannt, in welche Situation hinein Paulus den 1. Thessalonicherbrief geschrieben hatte. Andeutungen, die Paulus im 1. Thessalonicherbrief macht, konnten sie deshalb auch nicht mehr aufgrund ihres Wissens um die historische Situation entschlüsseln. Diese Abkoppelung des Schreibens von seiner ursprünglichen historischen Entstehungssituation eröffnet Bedeutungsspielräume29, die der pseudonyme Verfasser ausnutzen kann. Die Diskontinuität zwischen den Eschatologien in beiden Briefen lässt sich anhand des je spezifischen Konnexes dreier Begriffe erheben: qli/yij, parousi,a und h` h`me,ra tou/ kuri,ou. 3.1.1. 1. Thessalonicherbrief Der Begriff qli/yij, der für sich genommen ein weites Bedeutungsspektrum umfasst30, taucht im 1. Thessalonicherbrief dreimal auf: in 1,6 (vgl. auch 1,7); 3,3 und 3,7. In 1Thess 1,6 stellt Paulus fest: „Und ihr seid unsere und des Herrn Nachahmer geworden“. Diese Nachahmung bestand darin, „dass sie das Wort unter großer äußerer Bedrängnis mit der Freude, die der Geist Gottes selber gab, aufnahmen“31. Damit bezieht sich Paulus offenbar auf konkrete Erfahrungen seiner Adressaten im Zuge der Gemeindegründung. Die Angesprochenen werden natürlich sofort gewusst haben, von welchen Erfahrungen Paulus spricht.32 Für die realen Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes galt das nicht mehr. Sprachlich knüpft der Gebrauch von qli/yij im Neuen Testament an die Septuaginta an. Mehrfach klingt bei der frühjüdischen und neu-
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gewesen sein wird.“ M ETZGER , Katechon (s. Anm. 23), 89, vermutet Kleinasien als Entstehungsort. Das zeigt nicht zuletzt die intensive exegetische Diskussion darüber, welches Problem Paulus in 1Thess 4,13-17 anspricht. Vgl. dazu E. RICHARD, First and Second Thessalonians (SP 11), Collegeville (MN) 1995, 232; A.J. MALHERBE, The Letters to the Thessalonians (AncB 32B), New York 2000, 264; C.A. WANAMAKER, The Epistles to the Thessalonians (NIGTC), Grand Rapids 1990, 164-166; R. RIESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus (WUNT 71), Tübingen 1994, 341f.; W. MARXSEN, Der erste Brief an die Thessalonicher (ZBK.NT 11/1), Zürich 1979, 63ff.; T. HOLTZ, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK XIII), Neukirchen 1986, 119; REINMUTH, Briefe (s. Anm. 20), 142. „Für vielerlei Arten von Nöten, Gefahren, Anfeindungen, ja Verfolgungen steht dieses Wort.“ TRILLING, Brief (s. Anm. 14), 48. R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 20), 120. Die Forschung vermutet hier einerseits einen Bezug auf die in 2,14-15 angesprochenen Verfolgungen; S. L ÉGASSE , Les Épîtres de Paul aux Thessaloniciens (LeDiv 7), Paris 1999, 91, und verweist andererseits auf die sozialen Konsequenzen, die der Übertritt zum Christentum in der antiken Gesellschaft generell mit sich brachte: „Dabei ist der hohe Grad an Verwobenheit religiöser Vollzüge mit dem Alltagsleben sowie ihre grundlegende Bedeutung für das Zusammenleben in antiken Gemeinwesen zu berücksichtigen. ... Jede Aufkündigung solcher religiös geprägten Bindungen musste tiefgehende Folgen haben und konnte aggressive Reaktionen auf vielen Ebenen zeitigen.“ R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 20), 120.
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testamentlichen Verwendung die Bedeutung endzeitlicher Bedrängnis an (Dan 12,1; Hab 3,16; Zeph 1,15; Mk 13,19.24par; Offb 7,14; Röm 5,3; 8,35f.; 12,12). An unserer Stelle – und das ist bemerkenswert – wird der Begriff theologisch jedoch anders konnotiert: Paulus verknüpft im 1. Thessalonicherbrief die Bedrängnisse mit der Freude des Geistes Gottes.33 Der Genitiv pneu,matoj ist hier „ein genitivus auctoris“34. Das heißt: „Die Freude ist eigentlich gar nicht das eigene Werk der Christen, sie ist das Werk des Geistes. Indem sie ihm Raum geben, bilden sie den Weg des Apostels und Christi nach.“35 In 1Thess 3 führt Paulus aus, warum er Timotheus zu der Gemeinde in Thessalonich gesandt hat: „damit nicht jemand wankend würde in diesen Bedrängnissen“ (3,3). Die Näherbestimmung durch tau,taij weist darauf hin, dass Paulus und seine Adressaten ganz bestimmte, ihnen selbstverständlich bekannte, Ereignisse im Blick haben.36 Wiederum gilt, dass den realen Adressaten des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes nicht bekannt gewesen sein dürfte, um welche Ereignisse es sich handelte. Unklar (für die realen Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes und für uns) bleibt auch, ob es sich um Bedrängnisse der Gemeinde oder um solche des Apostels handelt.37 Von 1,6 her wird jedoch die theologische Bedeutung dieser Frage relativiert. Denn danach sind die qli,yeij die Bestimmung nicht nur des Apostels, sondern auch der ihn nachahmenden Gemeinde.
33 Vgl. H. K OESTER , From Paul’s Eschatology to the Apocalyptic Schemata of 2 Thessalonians, in: R.F. COLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87), Leuven 1990, 441-458: 456 Anm. 71. 34 H OLTZ , Brief (s. Anm. 29), 49. 35 A.a.O., 49f. Umstritten ist, wie sich diese Vorstellung traditionsgeschichtlich verorten lässt. K.P. D ONFRIED verweist auf die Märtyrerliteratur, etwa 4Makk 10,20-21 (The Theology of 1 Thessalonians as a Reflection of Its Purpose, in: To Touch the Text: Biblical and Related Studies in Honor of Joseph A. Fitzmyer, New York 1989, 243-260: 248 Anm. 29. LÉGASSE wendet kritisch ein: „La documentation ne suffit pas à établir l’existence, dans l’ancient judaisme, d’un thème récurrent qui associerait la joie et le martyre.“ Épîtres (s. Anm. 32), 92 Anm. 5. Er hält die Verknüpfung für genuin paulinisch. T. BAUMEISTER beschreibt bereits 1980 differenziert die Unterschiede zwischen der martyrologischen Tradition und dem paulinischen Gebrauch der Verknüpfung von Bedrängnissen und Freude. „Die jüdische Apokalyptik fordert zur Treue im Leiden auf, weil nach dem großen, von Gott erwarteten Umschwung die Situation der Bedrängung durch die gottgeschenkte Herrlichkeit abgelöst wird. ... Paulus spricht hier [in 1Thess 1,6] jedoch von der Freude des heiligen Geistes, ohne auf einen zukünftigen Lohn zu verweisen. Er denkt an die in der Verfolgung erfahrbare Gegenwart christlichen Heils.“ Die Anfänge der Theologie des Martyriums (MThB 45), Münster 1980, 159. 36 H OLTZ , Brief (s. Anm. 29), 49, weist darauf hin, dass es sich wohl um andere Ereignisse handelt als in 1,6, da die „Bedrängnisse“ in 3,3f. „erst in eine spätere Zeit gehören“. 37 Zur Diskussion vgl. a.a.O., 127f.
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Ab 3,6 berichtet Paulus von dem Stimmungsumschwung, den die guten Nachrichten des Timotheus bei ihm und seinen Mitarbeitern ausgelöst haben: „Dadurch sind wir, liebe Brüder, euretwegen getröstet worden, in aller unserer Not und Bedrängnis durch euren Glauben.“ Die Formulierung evpi. pa,sh| th/| avna,gkh| kai. qli,yei h`mw/n (3,7) ist – im Gegensatz zu den qli,yesin tau,taij aus V.3 – sehr allgemein gehalten. Das pa//j bedeutet hier eine Intensivierung38 Bei der Verbindung von avna,gkh und qli/yij „dürfte es sich ... um eine Redeweise handeln, die unspezifisch eine Situation notvoller Bedrängnis beschreibt“39. Die qli,yeij werden im 1. Thessalonicherbrief also als Signatur sowohl des Apostels als auch seiner „Nachahmer“ charakterisiert. Annahme und Verkündigung des Evangeliums bringen „automatisch“ Bedrängnisse mit sich, und sowohl die Gemeinde in Thessalonich als auch Paulus haben bereits konkrete Erfahrungen mit solchen Bedrängnissen gemacht. Wichtig ist Paulus, dass die Bedrängnisse verknüpft sind mit einer Freude, die vom heiligen Geist kommt und der die Gläubigen Raum geben sollen (1,6). Sofern sie das tun, sind sie Nachahmer Christi und des Apostels. Für unseren Zusammenhang ist v.a. beachtlich, welche Bezüge hier fehlen: Paulus spricht von der Freude des heiligen Geistes, ohne auf einen zukünftigen Lohn zu verweisen. Die „Bedrängnisse“ sind keine Vorboten des Endgerichts und sie haben auch nichts mit der Parusie zu tun. Parusie und Endgericht („Tag des Herrn“) sind im 1. Thessalonicherbrief ihrerseits nicht deckungsgleich. In 1Thess 1,10 wird Jesus Christus als derjenige charakterisiert, der „uns von dem zukünftigen Zorn errettet“. „Der Gottessohn [nicht: Menschensohn!] ist in 1Thess 1,10 nicht Richter, sondern Bewahrer vor dem Gericht Gottes, dem das Vernichtungsgericht allein gehört.“40 Auffällig ist, dass in 1Thess 4,1317, wo bekanntlich die Wiederkunft Christi breit geschildert wird, jegliche Andeutung eines Gerichtes fehlt.41 Umstritten ist angesichts dieses Befundes, ob der Begriff der Parusie im 1. Thessalonicherbrief zu Zeiten des Paulus bereits durchgehend eine Gerichtsvorstellung konnotierte.42 38 39 40 41 42
LÉGASSE , Épîtres (s. Anm. 32), 187 Anm. 8; W. BAUER, Art. pa//j, Griechisch-deutsches Wörterbuch, hg. v. K. und B. ALAND , Berlin/New York 61988, Sp. 1274-1278: 1275. HOLTZ, Brief (s. Anm. 29), 134. U.B. M ÜLLER , Parusie und Menschensohn, ZNW 92 (2001), 1-19: 8. „Nulle trace d’un jugement.“ (LÉGASSE, Épîtres (s. Anm. 32), 267, mit Diskussion). A. S CRIBA betrachtet 1Thess 4,16f. als Theophanietext: Die Geschichte des Motivkomplexes Theophanie (FRLANT 167), Göttingen 1995, 111f.185-187. Die Frage entscheidet sich wesentlich daran, wie das Verhältnis von Parusieerwartung und sog. Menschensohnchristologie bestimmt wird. Sofern die Menschensohnchristologie zur Voraussetzung der urchristlichen Parusieerwartung erhoben wird, schwingt in dem Begriff fast zwangsläufig eine Gerichtsvorstellung mit; H OLTZ ,
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Anscheinend verhält es sich so, dass „Paul et ses compagnons ne cherchent pas à préciser le rapport entre le jugement et la parousie“43. Auffällig ist aber, dass das Ereignis der Parusie in 2,19; 3,13; 4,13-17 und 5,23 als „purement positif“ charakterisiert wird, „comme un fait de salut pour la communauté“44. Das Schicksal derer, die der christlichen Gemeinschaft nicht angehören, wird in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert. Der „Tag des Herrn“ hingegen, um den es in 1Thess 5,1-11 ausführlich geht, nimmt das Schicksal sowohl der Gerechten als auch der Ungerechten beim göttlichen Endgericht in den Blick.45 Insofern sind die Begriffe der „Parusie“ und derjenige vom „Tag des Herrn“ im 1. Thessalonicherbrief nicht deckungsgleich. Auf welche Fragen und Probleme der Gemeinde der Apostel eingeht, ist sowohl im Blick auf 4,13-1746 als auch im Blick auf 5,1-1147 umstritten.
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Brief (s. Anm. 29), 119f. Sofern jedoch andersherum die Parusiehoffnung zur Voraussetzung für die Menschensohnerwartung erklärt wird – so M ÜLLER, Parusie (s. Anm. 40), 3, ist zu fragen, wie die früheste Parusieerwartung inhaltlich aussah. KOESTER rechnet damit, dass erst Paulus das Wort „Parusie“ aufgreift, und zwar nicht aus der urchristlichen Tradition, sondern als einen „political term which is closely related to the status of the community“. Der Apostel hebe auf die „preparedness of the community“ ab; K OESTER, Eschatology (s. Anm. 33), 446. Umstritten ist in diesem Zusammenhang auch, ob das e;mprosqen tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ in 1Thess 2,19 bzw. das e;mprosqen tou/ qeou/ in 1Thess 3,13 an sich bereits die Vorstellung des Endgerichts implizieren; bejahend LÉGASSE, Épîtres (s. Anm. 32), 172f.; ablehnend H OLTZ , Brief (s. Anm. 29), 118f. LÉGASSE , Épîtres (s. Anm. 32), 197. Ebd. Dies ist nach M ÜLLER kennzeichnend für die früheste Parusieerwartung überhaupt: „Das Interesse am eschatologischen Heil, das Jesus als Herr bzw. Gottessohn garantiert, beherrscht die früheste Parusieerwartung.“ (Parusie [s. Anm. 41], 15. Dies entspricht der Verwendung des Begriffs in der alttestamentlichen Prophetie. Hier meint der „Tag des Herrn“ einerseits „the great and terrible Day when Yahweh will intervene to punish his enemies and the disobedient“ N ICHOLL , Hope (s. Anm. 25), 51; vgl. Jes 13,6-16; Ez 30,1-4; Joel 1,13-15; 2,1-11; Ob 15-20; Zeph 1,14ff.; Sach 14,1-21; Mal 4,5, andererseits den Tag, an dem Gott die Gerechten rettet (z.B. Jes 27,213; Jer 30,8-9; Joel 2,31-2; 3,18; Ob 21). Zur Diskussion vgl. R ICHARD , Thessalonians (s. Anm. 29), 232; MALHERBE, Letters (s. Anm. 29) 264; WANAMAKER, Thessalonians (s. Anm. 29), 164-166; RIESNER, Frühzeit (s. Anm. 29), 341f.; M ARXSEN , Der erste Brief (s. Anm. 29), 63ff.; HOLTZ, Brief (s. Anm. 29), 119; R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 20), 142. Zur Diskussion vgl. ausführlich L. AEJMELAEUS , Wachen vor dem Ende. Die traditionsgeschichtlichen Wurzeln von 1. Thess 5:1-11 und Luk 21:34-36, (Schriften der Finnischen Exegetischen Gesellschaft 44), Helsinki 1985, 28-98.111-130; M. LAUTENSCHLAGER , ei;te grhgorw/men ei;te kaqeu,dwmen: Zum Verhältnis von Heiligung und Heil in 1Thess 5,10, ZNW 81 (1990), 39-59; J.P. HEIL, Those Now ‚Asleep‘ (not dead) Must be ‚Awakened‘ for the Day of the Lord in 1 Thess 5.9-10, NTS 46 (2000), 464-471 und neuerlich NICHOLL, Hope (s. Anm. 25), 49-79.
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3.1.2. 2. Thessalonicherbrief Im 2. Thessalonicherbrief werden die „Bedrängnisse“ theologisch deutlich anders qualifiziert, und zwar eschatologisch. Der pseudonyme Verfasser verbindet sie nicht mehr mit der Freude durch den heiligen Geist, sondern mit dem gerechten Gericht Gottes. Anders als im 1. Thessalonicherbrief klingen keine ganz bestimmten (tau,taij, 1Thess 3,3) Bedrängnisse an.48 Stattdessen finden wir eine generalisierende Formulierung evn pa/sin toi/j diwgmoi/j u`mw/n kai. tai/j qli,yesin (1,4).49 Im 2. Thessalonicherbrief begegnet der Begriff qli/yij nur in der eschatologischen Passage, mit der der anonyme Verfasser das Schreiben eröffnet (1,4.6. vgl. 1,7). Zentral ist die Einbettung der „Bedrängnisse“ in den Kontext des göttlichen Endgerichts. „... the author [of 2 Thessalonians] goes to great pains to demonstrate that these tribulations will be answered by God’s just retribution at the coming judgment.“50 Nach 2Thess 1,6f entspricht es der Gerechtigkeit Gottes, „denen mit Bedrängnis zu vergelten, die euch bedrängen, euch aber, die ihr Bedrängnis leidet, Ruhe zu geben mit uns ...“. Dahinter steht der jüdische Rechtsgrundsatz der ius talionis.51 „Die Vorstellung des Ausgleichs und der Umkehrung der jetzigen Situation trägt das Argument im Ganzen.“52 Die genauere theologische Qualifizierung der „Bedrängnisse“ ist in der Forschung umstritten. Ich schließe mich der These von Koester an, die er im Anschluss an die Auslegung von Lindemann entwickelt: „Nowhere is there any indication that tribulations should be understood as the eschatological qli,yeij which must be expected to occur just before the very end. The reason for this reticence becomes evident in the course of the letter: the opponents apparently connected the experience of tribulations with their message of the nearness of the day of the Lord. ... The author of the letter, in contrast to his opponents, connects the experience of tribulation ... to the coming judgment which will bring equitable retribution.
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Das mag auch mit der pseudepigraphen Fiktion zusammenhängen, die einen allzu konkreten Bezug auf die gegenwärtige Situation der realen Adressaten ausschließt. T RILLING , Brief (s. Anm. 14), 48f, zieht aus dieser Formulierung einen vorsichtigen Rückschluss auf die allgemeine Entstehungssituation des Briefes: „Darf man daraus vermuten, dass die ‚Verfolgung‘ schon eine Art Dauersituation geworden ist, und dass dann auch aus diesem Grunde an eine weitaus spätere Abfassungszeit als bei 1Thess zu denken wäre?“ Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Missionsgeschichte „auch den durch ‚Verfolgung und Bedrängnis‘ verursachten Abfall seit ihren Anfängen [kennt] (Mk 4,17; vgl. Mt 13,21: die gleichen Ausdrücke).“ K OESTER, Eschatology (s. Anm. 33), 456. R EINMUTH , Brief (s. Anm. 20), 171. T RILLING , Brief (s. Anm. 14), 51.
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Therefore, those who are in tribulation can wait with patience for the revelation of the Lord Jesus from heaven (2 Thes 1,7).“53
Demnach liefert die konträre theologische Charakterisierung der qli,yewn geradezu den Grund für die Abfassung des 2. Thessalonicherbriefes. Während die „Gegner“ meinen, die Bedrängnisse seien – als eschatologische Wehen – ein Zeichen für das baldige Ende, verknüpft der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes die Bedrängnisse mit dem gerechten Gericht Gottes. Sowohl die „Gegner“ als auch der pseudonyme Verfasser ordnen sich – anders als Paulus im 1. Thessalonicherbrief – in einen apokalyptischen Zeitplan ein, sie verorten sich aber an unterschiedlichen Stellen. Die „Gegner“ nehmen an, dass das Ende unmittelbar bevorsteht, der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes hingegen wendet sich gegen diese Nächsterwartung. Die Verknüpfung der Wehen mit dem eschatologischen Ende ist traditionsgeschichtlich breit bezeugt. Umstritten ist in der Forschung, ob dieser traditionsgeschichtliche Bezug für die „Gegner“ (so Koester) oder für den Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes selbst anzunehmen ist. Eine Entscheidung in dieser Frage hängt wesentlich davon ab, wie man den Anschluss von 1,5 an 1,4 bestimmt. Die Mehrheit der Exegeten bezieht das e;ndeigma auf die in V.4 erwähnte Geduld und den Glauben der Gemeinde.54 Interpretiert wird dann etwa wie folgt: „Die unerschrockene Glaubenshaltung der Angeredeten angesichts der Widersacher des Evangeliums ist ‚Erweis‘ für deren Untergang und zugleich der Rettung der Adressaten.“55 Zur Stützung dieser Deutung wird auf Phil 1,28 verwiesen. Hier ist davon die Rede, dass die Adressaten für den Glauben an das Evangelium kämpfen und sich von den Widersachern nicht einschüchtern lassen. „Das wird für sie ein Zeichen (e;ndeixij) sein, dass sie verloren sind und ihr gerettet werdet ...“ (Phil 1,28). Der Bezug auf das Durchhaltevermögen der Gemeinde in den Bedrängnissen stützt eine Deutung der qli,yewn auf die eschatologischen Wehen – eine Auslegung, die sich auch auf die Traditionsgeschichte stützen kann. Denn der Durchhalte-Appell an die Gerechten, die ihrerseits fragen: „Wie lange noch?“, ist ein Topos dieser apokalyptischen Tradition (vgl. Offb 3,11; 6,10f sowie die sog. „Überwindersprüche“ der Offb). Es ist allerdings fraglich, ob Phil 1,28 zur Interpretation von 2Thess 1,4f herangezogen werden sollte. Denn während das 53 54
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K OESTER, Eschatology (s. Anm. 33), 456; er folgt in wesentlichen Punkten LINDEMANN , Abfassungszweck (s. Anm. 18). Z.B. L. H ARTMAN , The Eschatology of 2 Thessalonians as Included in a Communication, in: R.F. C OLLINS (Hg.), The Thessalonian Correspondence (BEThL 87) Leuven 1990, 470-485: 474; R ICHARD , Thessalonians (s. Anm. 29), 304-305; R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 30), 170. R EINMUTH , Briefe (s. Anm. 20), 170.
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Zeichen in Phil 1,28 den Ungläubigen gilt, richtet es sich in 2Thess 1,5 an die Gläubigen.56 Die Thematik des Durchhaltens, der Geduld, die ja den Bezugspunkt darstellen soll, spielt zudem in 2Thess 1,6-7 gar keine Rolle mehr. Vielmehr geht es um die Funktion der Bedrängnisse selbst. Nicholl zieht daher folgenden Schluss: „... the simplest and most natural reading of e;ndeigma is that it refers to evn pa/sin toi/j diwgmoi/j u`mw/n kai. tai/j qli,yesin, not least because the immediately preceding ai-j avne,cesqe refers to this.“57 Damit stellt sich die Frage, wie die Bedrängnisse, die die Thessalonicher erfahren, nach Meinung des pseudonymen Verfassers ein Zeichen des gerechten Gerichtes Gottes sein können. G.S. Holland verweist in diesem Zusammenhang auf die alttestamentlich-frühjüdisch bezeugte Vorstellung, nach der Jahwe sein Volk bestraft, um es wieder auf den rechten Weg zu bringen.58 Die Strafe stellt also eine disziplinarische Maßnahme Gottes dar. Holland führt als Belege u.a. Jes 40,1-2; Hiob 33,19-30 und Prov 3,11-12 an. Im Vergleich mit 2Thess 1,3ff fällt aber auf, dass den von Holland genannten, überwiegend weisheitlich geprägten Belegen der Bezug auf das Endgericht, der im 2. Thessalonicherbrief den Text dominiert, fehlt. Dieser Bezug ist nun jedoch m.E. nicht in dem Sinne auszuwerten, dass die Bedrängnisse vom Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes als die endzeitlichen eschatologischen Wehen gedeutet werden. 2Thess 2 macht im Gegenteil deutlich, dass auf die zeitliche Nähe des Endes gerade nicht abgehoben ist.59 Es geht ja gerade darum, die gegnerische Auffassung evne,sthken h` h`me,ra tou/ kuri,ou\(2Thess 2,2) zu widerlegen. Entscheidend ist vielmehr der Bezug zum endgültigen, gerechten Gericht Gottes. Vielleicht lässt sich – in Weiterführung der These von Koester – auch dieser Bezug traditionsgeschichtlich verankern, und zwar im Rahmen einer Tradition, die im Kontext des göttlichen Endgerichts nicht dessen zeitliche Nähe, sondern die unfehlbare Gerechtigkeit Gottes hervorhebt. Dies ist bei der so genannten „Leidenstheologie“ der Fall. Das Konzept der Leidenstheologie60 stellt in gewisser Weise eine Verschärfung des Prinzips der ius talionis dar – eines Prinzips also, das wir zweifellos in 2Thess 1 finden. Denn die guten und schlechten Taten 56 57 58 59 60
N ICHOLL , Hope (s. Anm. 25), 149. Ebd. G.S. H OLLAND , The Tradition That You Have Received From Us: 2 Thessalonians in the Pauline Tradition (HUT 24), Tübingen 1988, 38. Ihm schließt sich N ICHOLL , Hope (s. Anm. 25), 150 Anm. 19, an. R.F. COLLINS , Studies on the First Letter to the Thessalonians (BEThL 66), Leuven 1984, 191-193; 291-293. Ausführlich dargestellt von W. W ICHMANN , Die Leidenstheologie: Eine Form der Leidensdeutung im Spätjudentum, Stuttgart 1930.
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werden beim Endgericht nicht mehr einfach gegeneinander aufgewogen, wobei die „schwerere“ Seite über das individuelle Schicksal entscheidet, während die „leichtere“ Seite letztlich bedeutungslos ist. Vielmehr muss nun auch das, was in der „leichteren“ Waagschale liegt, abgegolten werden: „Now a stricter sense of justice demands that, although the ‚heavier‘ side determines one’s ultimate fate, one must also get adequate recompense for the ‚light‘ side.“61 Insofern ist es durchaus positiv, bereits vor dem Endgericht von Gott für kleinere Verfehlungen bestraft zu werden. Denn sie fallen dann später nicht mehr ins Gewicht. Im Rahmen dieser Vorstellung können Bedrängnisse also – etwas paradox – als Zeichen der Annahme durch Gott gelten „insofar as he offers through it an opportunity for his elect to receive in this age the punishment for their few sins, thus preserving the full measure of their reward in the age to come. At the same time suffering is also a sign of the absolute justice of God insofar as he insists on punishment even of his elect.“62 Wichmann findet frühe Belege für diese “leidenstheologische” Vorstellung in 2Makk 6,12-16; syrBar 13,3-10; 48,48-50; 52,5-7; 78,5. Voll ausgeprägt sei das Konzept allerdings erst in der rabbinischen Literatur belegt, also recht spät. Trotzdem erscheint es reizvoll, diese Vorstellung für den 2. Thessalonicherbrief in Anschlag zu bringen. Die Bedrängnisse, die die Gerechten erleiden, dienen danach im 2. Thessalonicherbrief der Vorbereitung für das Endgericht, da sie läuternde Funktion haben. „Die Verse [2Thess 1,4f] sind folgendermaßen zu verstehen: die Verfolgungen und Leiden, die ihr erduldet, sind ein Beweis dafür, dass Gott gerecht richtet ... Sie erfolgen nämlich zu dem Zweck, dass ihr des Reiches Gottes für wert erachtet werden könnt ...“63 Die Adressaten – so die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – können in dem Wissen um Gottes Gerechtigkeit mit Geduld auf das Endgericht warten – ja, es kann sogar von Vorteil für sie sein, wenn das Gericht noch auf sich warten lässt, weil ihnen das die Möglichkeit gibt, sich noch besser darauf vorzubereiten.64 Im 2. Thessalonicherbrief werden die Bedrängnisse also in eine enge Verbindung mit dem göttlichen Endgericht gebracht, zu dem auch Jesus Christus bei der Parusie als Richter über die, die Gott nicht kennen, erscheinen wird (2Thess 1,7-8). Dieses endzeitliche Kommen Jesu Christi wird eng mit dem „Tag des Herrn“ verknüpft (2Thess 2,1f). Der 61 62 63 64
J. BASSLER, The Enigmatic Sign: 2 Thessalonians 1:5, CBQ 46 (1984), 496-510: 502. Ebd. W ICHMANN , Leidenstheologie (s. Anm. 60), 27. „One of the constellation of ideas associated with Leidenstheologie is that the final judgment is delayed in order to provide for the sinners ample time to receive their few but requisite blessings, and for the elect ample time to atone for their few but punishable sins. “ BASSLER , Sign (s. Anm. 61), 507.
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pseudonyme Verfasser bereitet mit dem selbständig gestalteten eschatologischen Abschnitt 1,3-12 die Auseinandersetzung mit den „Gegnern“ in 2,1ff vor, indem er die Bedrängnisse nicht als eschatologische Wehen deutet, sondern als Möglichkeit für die Gerechten, sich besser auf das gerechte Gericht Gottes vorzubereiten.65 Insofern kann er anschließend darauf hinweisen, dass der Tag des Herrn trotz der gegenwärtigen Bedrängnisse nicht unmittelbar bevorsteht.
3.2. Zusammenfassung Während die Bedrängnisse im 1. Thessalonicherbrief keine eschatologische Bedeutung haben und zwischen der Parusie, zu der Jesus Christus als Retter kommt, und dem „Tag des Herrn“ als dem (Straf-) Gericht an Gerechten und Ungerechten, unterschieden wird, bringt der 2. Thessalonicherbrief diese drei Größen in einen engen Zusammenhang. Jesus Christus erscheint als Richter, der die Ungerechten bestraft, die Bedrängnisse geben den Gerechten angesichts dieses Gerichtes die Möglichkeit, kleine Vergehen bereits jetzt abzugelten. Diese Unterschiede zwischen beiden Briefen weisen darauf hin, dass der 2. Thessalonicherbrief ein pseudepigraphes Schreiben ist.
3.3. Die (deuteropaulinische) Kontinuität zwischen 1. und 2. Thessalonicherbrief am Beispiel der Eschatologie Wenn wir der soeben dargelegten Auslegung des 2Thess folgen, lässt sich die generelle „Leseanweisung“ dieses Briefes für den 1Thess folgendermaßen umreißen: • Der „Tag des Herrn“ ist noch nicht da, er steht auch nicht unmittelbar bevor (vgl. 2Thess 2,2).66 • Die qli,yeij zeigen nicht die zeitliche Nähe des Gerichts an, sondern haben für die Gerechten läuternde Funktion. Sie können daher geduldig auf den „Tag des Herrn“ warten. Wie liest sich der 1Thess, wenn wir diese Leseanweisung auf ihn anwenden?
65 66
Vgl. T RILLING, Brief (s. Anm. 14), 39-68; DERS., Untersuchungen (s. Anm. 14), 69-75; KOESTER, Eschatology (s. Anm. 33), 456. Die Position der Gegner ist wohl überspitzt formuliert. Sie werden nicht behauptet haben, dass der Tag des Herrn schon da sei, sondern dass er unmittelbar bevorstehe.
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Die im 1. Thessalonicherbrief ursprünglich fehlende Funktionalisierung der „Bedrängnisse“ im Blick auf das Endgericht wird nun vom 2. her eingetragen. Das heißt: Die Bedrängnisse sollen deshalb willig und mit Freuden ertragen werden (1Thess 1,6), weil sie ein „Anzeichen“ dafür sind, „dass Gott gerecht richten wird“ (2Thess 1,5), und weil feststeht, dass Gott denjenigen, die Bedrängnis leiden, Ruhe geben wird (2Thess 1,7), während diejenigen, die die Christen bedrängen, selber in Bedrängnis geraten werden (2Thess 1,6). Die Bedrängnisse werden nun also auch im 1. Thessalonicherbrief im theologischen Kontext von Endgericht und ius talionis gedeutet. Wenn Paulus zum Abschluss des 3. Kapitels darum bittet, dass der Herr die Thessalonicher „wachsen“ lasse (1Thess 3,12), „damit eure Herzen gefestigt werden und ihr untadelig seid in Heiligkeit vor Gott, unserm Vater, wenn Jesus, unser Herr, kommt mit allen seinen Heiligen“ (1Thess 3,13), dann liest sich das vom 2. Thessalonicherbrief her als Bitte darum, dass die Thessalonicher beim Endgericht gut vorbereitet – und das heißt: ohne in den Bedrängnissen gewankt zu haben (vgl. 1Thess 3,3) – vor Gott und Jesus treten. Weitaus gewichtiger sind die Konsequenzen, die diese Leseanweisung für die eschatologischen Passagen des 1. Thessalonicherbriefes hat. Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass 2Thess 1,3-12 nicht nur 2Thess 2,1ff. vorbereitet, sondern auch 1Thess 4,13-17; 5,1-11. Denn die „Thema-Angabe“ in 2Thess 2,1 (u`pe.r th/j parousi,aj tou/ kuri,ou h`mw/n VIhsou/ Cristou/ kai. h`mw/n evpisunagwgh/j evpV auvto,n) lässt eindeutig 1Thess 4,13-17 anklingen.67 Der „Tag des Herrn“ in 2Thess 2,2 verweist dann auf 1Thess 5,1-11. Das heißt: Die eschatologischen Passagen des 1. Thessalonicherbriefes werden durch 2Thess 1,3-12 eingeleitet. Dadurch entsteht ein in sich geschlossenes Gerichtstableau mit unterschiedlichen, gegeneinander ausbalancierten Facetten: 2Thess 1,3-12 definiert – entgegen der Auffassung der Gegner – die Funktion der qli,yewn angesichts des Endgerichts und betont die Vernichtung der gottlosen Menschen. 1Thess 4,13-17 konzentriert sich anschließend auf das Schicksal der verstorbenen Gerechten. 1Thess 5,1-11 behandelt die Frage, wie sich die lebenden Christen angesichts des Endgerichts verhalten sollen. 2Thess 2,1-12 thematisiert abschließend die Vernichtung der gottlosen Kräfte zu angemessener Zeit.68 67
68
Diese Verweisfunktion wird in der Forschung allgemein anerkannt. Sie wird aber nicht als intertextuelle Leseanweisung ernst genommen. Was fehlt, sind Überlegungen, wie 1Thess 4,13-17 nach Meinung des Verfassers des 2. Thessalonicherbriefes gelesen werden sollte, wie sich also der Bedeutungsspielraum des paulinischen Textes durch seinen neuen intertextuellen Kontext verschiebt. Vgl. die Schilderung des Endgerichts in zwei Abschnitten, beginnend mit dem Schicksal der Gottlosen, in Offb 20,11-15; 21,1ff. Vgl. U.B. M ÜLLER , Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh 21995, 344-347.
Thessalonicherbriefe
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So erklärt sich, warum 2Thess 1,3-12 und 2,1-12 so einseitig auf die Vernichtung der gottlosen Kräfte und Mächte abhebt – zu ergänzen ist eben 1Thess 4,13-17; 5,1-11, wo es um das Schicksal der Gerechten geht. Die Bedeutung von 1Thess 4,13-17; 5,1-11 verschiebt sich dadurch: 1Thess 4,13-17 beschreibt nun das Schicksal der Treuen zum Zeitpunkt der Parusie, also des Endgerichtes (vgl. 2Thess 1,7f!). Die Passage wird zu einem festen Bestandteil des Endgerichts. Von 2Thess 1,3-12 her erscheint 1Thess 4-5 in einem neuen Licht: Wenn die Adressaten des 1. Thessalonicherbriefes besorgt sind um das Schicksal ihrer verstorbenen Freunde beim Endgericht (4,13-17), dann aus Sicht des 2. Thessalonicherbriefes deshalb, weil die Verstorbenen keine Möglichkeit mehr haben, ihre kleineren Verfehlungen durch das Ertragen von Bedrängnissen vor dem Endgericht zu sühnen. Die Adressaten brauchen sich aber dennoch nicht um die bereits verstorbenen Christen zu sorgen. Wenn 1Thess 5,6-8 dazu aufruft, wach und nüchtern zu sein, „angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil“, dann geht es darum, das Leben auszurichten auf das Endgericht. Die Adressaten sollen sich also nicht um die verstorbenen Gerechten, wohl aber um sich selbst sorgen: Es gilt, wach und nüchtern zu sein (1Thess 5,6), um die „guten Chancen“ im Endgericht nicht aufs Spiel zu setzen.69 Eine wesentliche rhetorische Strategie des pseudonymen Verfassers in der Auseinandersetzung mit seinen „Gegnern“ besteht also darin, Fragen der eschatologischen Zeit zu entkräften und zu überlagern durch Fragen der Gerechtigkeit. Dadurch verschieben sich auch die Bedeutungsspielräume der eschatologischen Passagen des 1. Thessalonicherbriefes.
69
Wir können nur darüber spekulieren, wie wir uns die praktische Umsetzung dieses Programms der „Leseanweisung“ vorzustellen haben. Sicher ist, dass Briefe in den Gemeinden verlesen wurden (vgl. 1Thess 5,27). Wenn wir dieses „setting“ auf den 2. Thessalonicher anwenden, dann scheint es plausibel, dass der „plötzlich aufgetauchte“ (?) pseudepigraphe Brief nicht nur für sich verlesen wurde, sondern der seit langem bekannte 1. Thessalonicher aufgrund seiner strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeit zur Erläuterung hinzugezogen wurde, und zwar hauptsächlich diejenigen Passagen, auf die der 2. Thessalonicher durch bestimmte Schlüsselformulierungen klar verweist. Damit kamen diese Passagen des 1. Thessalonicherbriefes in einem neuen Kontext zu stehen. Dieses Vorgehen ist unabhängig davon denkbar, ob der 2. Thessalonicher zunächst als Einzelschreiben in Umlauf gebracht wurde, oder im Rahmen der Zusammenstellung paulinischer Briefe in den sich bildenden Kanon aufgenommen wurde; vgl. J.L. W HITE , Light from Ancient Letters (Foundations and Facets), Philadelphia, 1986, 216.
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4. Schluss Die hier angerissene Deutung der eschatologischen Passagen aus dem 1. Thessalonicherbrief vom 2. her geht nicht vollständig auf – wenn sie es täte, müssten wir den 2. Thessalonicherbrief wohl als paulinisch einstufen. Grundsätzlich ist klar, dass das „Einlesen“ deuteropaulinischer Konzepte in paulinische Briefe zu Deutungen führt, die weniger kohärent sind als die genuin paulinischen. Zu fragen ist, welches Maß an Kohärenz hier zu fordern ist.70 Daran entscheidet sich letztlich, ob wir die Intention des 2. Thessalonicherbriefes als „Ersatz“ oder als „Leseanweisung“ bestimmen müssen. Diese Frage nach der zu erwartenden Kohärenz ist nicht neu. Sie begegnet uns z.B. in der Diskussion zur Auslegung des Johannesevangeliums, genauer gesagt in der Frage, wie sich die „kirchliche Redaktion“ zum „ursprünglichen Evangelium“ verhält.71 Das Programm der „Leseanweisung“ fordert jedenfalls eine synchrone Lektüre beider Thessalonicherbriefe. Tritt die Annahme hinzu, dass der 1. Thessalonicherbrief paulinisch, der 2. jedoch pseudepigraph ist, steht diese synchrone Lektüre für uns heute unter „deuteropaulinischen“ Vorzeichen. Wir müssten dem 1. Thessalonicherbrief mithin mindestens zwei unterschiedliche, d.h. für uns unterscheidbare, Lesarten zugestehen: eine „paulinische“ und eine „deuteropaulinische“.72 Neben die Frage nach der einen richtigen – in diesem Fall: paulinischen – Auslegung muss also die Frage nach den Bedeutungsspielräumen treten, die Texte eröffnen. Dieses Vorgehen führt uns historisch gesehen in eine spannende (Übergangs-)Phase, in der paulinische Briefe nicht mehr umgeschrieben oder ersetzt, wohl aber noch (vor Fixierung des Kanons) pseudonym ergänzt werden konnten.
70 71 72
Vgl. E.-M. BECKER, Was ist „Kohärenz“? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94 (2003), 97-121. Vgl. z.B. J. Z UMSTEIN , Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, NTS 42 (1996), 394-411. Hinzu kommt die „deuteropaulinische“ Lesart des 1. Thessalonicherbriefes durch die „Gegner“.
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Gegner im Kolosserbrief. Methodische Überlegungen zu einem schwierigen Kapitel Peter Müller Im zweiten Kapitel seines Schreibens kritisiert der Verfasser des Kolosserbriefs eine gegnerische Haltung und mahnt die Christen in Kolossä, sich von ihr nicht beeindrucken zu lassen. Diese Intention des Textes ist ganz klar. Wer allerdings die Gegner sind und wie ihre religiösen Überzeugungen und Praktiken aussehen, gehört zu den vielfach behandelten und nur schwer zu lösenden Problemen dieses Briefes. Dieser Sachverhalt hat verschiedene Gründe: • Teilweise ist der Text schwer zu übersetzen, beispielsweise die Satzkonstruktion in 2,23. Aber auch V.22 macht es den Übersetzern nicht leicht. • Andere Aussagen sind andeutend und unbestimmt. Was man nach V.21 nicht anfassen, essen oder berühren soll, wird nicht gesagt. Das lässt vielfache Deutungen zu. Und die Zahl der Deutungsversuche der Wendung ta. stoicei/a tou/ ko,smou V.8 oder von a] e`or, aken evmbateu,wn V.18 ist fast unübersehbar. • Die Gegner kommen in Kol 2 nicht mit eigenen Stellungnahmen zu Wort, sondern so, wie der Verfasser des Kol sie versteht, möglicherweise missversteht oder in seiner Kritik verzeichnet. Dies stellt die Auslegung vor das methodische Problem, wie aus der Kritik des Kol die Position der Gegner erschlossen werden kann. • Manche Aussagen scheinen auf eine Verortung der Gegner in einen jüdischen Kontext hinzudeuten (so vor allem V.11.16), andere lassen sich in einem jüdischen Rahmen weniger gut erklären (z.B. die Verehrung der Engel in 2,18). Viele konkurrierende Erklärungsversuche berufen sich auf jeweils bestimmte Aussagen in Kol 2 und blenden andere ab. • In der fraglichen Zeit gibt es in Kleinasien eine Vielzahl religiöser und weltanschaulicher Strömungen, die nicht immer eindeutig abgrenzbar sind. Das macht eine Zuordnung zu bekannten Gruppierungen schwierig.
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Keines dieser Probleme ist für sich genommen einfach zu lösen. In ihrer Kombination potenzieren sie sich und machen eine genauere Bestimmung der Gegner im Kolosserbrief zu einem schwierigen Unterfangen.1 Im Folgenden lege ich keine Detailanalyse von 2,6-23 vor. Vielmehr versuche ich, die Argumentation des Kapitels in der Perspektive des Verfassers nachzuzeichnen und sie nutzbar zu machen für das Verständnis der Gegner.2
1. Kol 2,6-23 im Rahmen des Kolosserbriefs Der Abschnitt, in dem eine gegnerische Position kritisiert wird, ist zunächst im Gesamtrahmen des Briefes zu verorten. 2,6-23 sind als in sich zusammenhängender Abschnitt zu verstehen.3 Voraus gehen die zusammen gehörenden Abschnitte 1,24-29 und 2,1-5, die das andauernde und intensive Bemühen des Apostels um die Gemeinde in Kolossä thematisieren. Sie wirken zunächst wie ein langer Einschub (2,6 geht auf 1,23 zurück) und fallen im Kontext durch die 1. Person Singular auf. Zwischen dem hymnischen Text 1,15-20 und der Kritik an Gegnern ab 2,8ff. haben sie die Funktion, den umfassenden Auftrag des Apostels für die Kirche hervorzuheben (1,24b) und damit konkret für die Gemeinde in Kolossä, die Paulus nicht persönlich kennt (2,1). In den u`pe,r-, 1
2
3
J.J. GUNTHER, St. Paul ´s Opponents and Their Background (NT.S 35), Leiden 1973, 34, führte 44 verschiedene Versuche an, die Gegner näher zu bestimmen. Seither ist die Zahl nicht kleiner geworden. Überblicke zu den Gegnern im Kolosserbrief finden sich u.a. auch bei C.E. ARNOLD, The Colossian Syncretism. The Interface between Christianity and Folk Belief at Colossae (WUNT II 77), Tübingen 1995, 1-3; A. STANDHARTINGER, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefs (NT.S 94), Leiden/Boston/Köln 1999, 16-27; I. MAISCH, Der Brief an die Gemeinde in Kolossä (ThKNT 12), Stuttgart 2003, 30-40. Die Vertreter der vom Verfasser kritisierten Position werden unterschiedlich bezeichnet (Irrlehrer, Häretiker, Vertreter der Philosophie etc.). H. SCHMID (Gegner im 1. Johannesbrief? Zu Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem [BWANT 159], Stuttgart 2002, 21) wägt diese Begriffe ab und präferiert die Rede von den Gegnern; dieser Begriff ist „am wenigsten von dogmatischen oder kanonistischen Konzepten geprägt und hat den Vorzug, dass im Begriff selbst ein Gegenüber anklingt. … Die Überlegenheit der einen oder anderen Seite ist mit ‚Gegner‘ nicht ausgesagt.“ Diese Abgrenzung ist umstritten. Dies liegt daran, dass bereits in 2,4 ein erster Hinweis auf die Gegner zu finden ist und dass 2,6f und 3,1-4 überleitende Funktion haben; manche lassen den Abschnitt deshalb schon mit 2,4 oder erst mit 2,8 beginnen, andere erst mit 3,4 enden. Zum anderen ziehen etliche Exegeten die nach 3,4 folgenden Mahnungen noch hinzu und sehen den Abschnitt erst in 3,15 oder 4,6 abgeschlossen (vgl. den Überblick bei M. DÜBBERS, Christologie und Existenz im Kolosserbrief. Exegetische und semantische Untersuchungen zur Intention des Kolosserbriefes [WUNT II 191], Tübingen 2005, 178). Unstrittig ist, dass sich Aussagen über Gegner vor allem in 2,8-23 finden.
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i[na- und eivj-Formulierungen (1,24b.25.28.29; 2,1.2.4) zeigt sich dies deutlich. Der apostolische Auftrag wird in 2,1-5 im Blick auf die Abwesenheit des Apostels akzentuiert. Zugleich ist der Abschnitt konzipiert mit Blick auf die folgende Auseinandersetzung: Das Stichwort avgw/n in 2,1 deutet sie bereits an und 2,4 weist ebenfalls auf die nachfolgende Argumentation voraus. Die 2. Person Plural und das folgernde ou=n (vgl. Kol 2,6.16; 3,1.5.12) markieren den neuen Gedankengang ab 2,6. Angesprochen sind ab V.6 die Adressaten in Kolossä. Sie haben Jesus Christus als Herrn angenommen, orientieren ihren Lebenswandel an ihm, sind in ihm verwurzelt und aufgebaut und halten den Glauben fest, so wie er ihnen vermittelt worden ist (2,6f).4 Diese einführende Aussage ist für die Struktur der folgenden Kritik an Gegnern von grundlegender Bedeutung. Sie bezieht sich zunächst auf 1,15-20 zurück. Dort wird Christus in hymnischer Sprache5 besungen: In ihm, durch ihn und auf ihn hin ist alles geschaffen, er steht als Schöpfungsmittler an der Seite Gottes und der Schöpfung als Herr gegenüber. Diese Stellung ist einzigartig: In Christus hat der ganze Kosmos Bestand, er hält die Welt zusammen und ist das Haupt des kosmischen Leibes. Christus weist allen anderen Mächten und Gewalten ihren Platz zu. Diese Herrscherstellung über alle Mächte und Gewalten wird in 1,15-20 besungen. Sie ist bereits gegenwärtige Realität und wird in der Kirche bezeugt. Wer zur Kirche als dem Leib Christi gehört, ist deshalb frei von der Herrschaft anderer Mächte. In 3,1-4 wird dieser ganze Zusammenhang zusammengefasst und im Blick auf die nachfolgenden Mahnungen akzentuiert. Diese christologische Grundierung von 2,6f wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Gegnern aktualisiert. Die Mahnung in 2,8, sich nicht von der Philosophie in Beschlag nehmen zu lassen, gipfelt in dem Hinweis, dass die Philosophie sich an menschlicher Überlieferung und den Weltelementen orientiert, nicht aber an Christus (kai. ouv kata. Cristo,n). Hieran schließt in V.9-15 erneut eine christologische Passage an. Sie wird von evn auvtw/| in V.9.15 eingerahmt. Diese Passage stellt das argumentative Zentrum für die Auseinandersetzung mit den Gegnern dar. Wenn nämlich in Christus „die Fülle der Gottheit wohnt“ (V.9, pa/n to. plh,rwma nimmt die All-Aussagen aus 1,15-20 auf) und wenn er das Haupt jeder Macht und Gewalt ist (V.10.15), dann kommt es darauf an, sich an Christus zu orientieren und an ihm als Haupt festzuhalten. 2,915 greifen also die hymnischen Aussagen aus 1,15-20 auf und beziehen sie auf die Adressaten: kai. evste. evn auvtw/| peplhrwme,noi ... (V.10); evn w-| kai. 4 5
1,23 spricht vom Festhalten am Glauben als von einer Bedingung. Die Frage, wie dieser Text gattungsgeschichtlich eingeordnet werden kann, lasse ich hier außer Acht.
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perietmh,qhte ... (V.11); suntafe,ntej auvtw/| evn tw/| baptismw/|( evn w-| kai. sunhge,rqhte ... (V.12); kai. u`ma/j nekrou.j o;ntaj sunezwopoi,hsen u`ma/j su.n auvtw/| ... (V.13); evxalei,yaj to. kaqV h`mw/n ceiro,grafon toi/j do,gmasin o] h=n u`penanti,on h`mi/n ... (V.14). Steht in 1,15-20 das Lob des Schöpfungsmittlers und Versöhners im Zentrum, so werden in 2,9-15 die an ihn Glaubenden zu seinem Handeln und Geschick in Beziehung gesetzt. Dies zeigen die evn auvtw/|- und evn w-|-Formulierungen ebenso wie der einführende Imperativ evn auvtw/| peripatei/te (V.6), der den Abschnitt insgesamt unter ein christologisch begründetes paränetisches Vorzeichen stellt. Da die Mächte und Gewalten ihrer Macht und ihres Einflusses entkleidet sind (2,15), können sie keine Ansprüche mehr auf diejenigen erheben, die mit Christus verbunden sind. 2,9-15 konzentrieren demnach die christologischen Aussagen auf die Adressaten und machen die Konsequenzen des Christusgeschehens deutlich. Im Zusammenhang mit V.6f haben die Verse sowohl begründende als auch ausführende Funktion. Sie legen den Inhalt der Lehre und das Verwurzelt- und Aufgebaut-Sein inhaltlich dar, beschreiben das w`j ou=n parela,bete to.n Cristo.n VIhsou/n und begründen damit die Mahnung in ihm zu wandeln. Genau hier setzt nun die Kritik an der gegnerischen Position an. ouv kata. Cristo,n in V.8 und ouv kratw/n th.n kefalh,n in V.19 machen die Gegenposition deutlich. Sie wird mit verschiedenen Andeutungen ausgeführt, hat aber nach der Auffassung des Verfassers ihr Zentrum darin, dass die Gegner nicht an Christus als dem Haupt aller Mächte und Gewalten festhalten. Nach den Regeln der antiken Rhetorik kann man in 2,6-23 eine argumentatio erkennen6, deren zentrale Teile nach Quintilian die probatio und die refutatio darstellen7. Beiden Teile erfüllen die grundlegende Aufgabe der Gerichtsrede, nämlich die Darlegung der eigenen Auffassung und die Widerlegung der Gegenpartei. Dabei muss man, wie Quintilian betont, besonders darauf achten, „um was für eine Art von Sache es sich handelt, worum es in ihr geht, was sich günstig und was sich ungünstig auswirkt, sodann was zu beweisen und zu widerlegen ist“.8 Schließlich empfiehlt Quintilian, genau darauf zu achten, wie man 6
7 8
H. LAUSBERG, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, § 348ff. M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh/Würzburg 1993, 115, lässt die argumentatio in V.9 beginnen und versteht 2,6-8 als partitio. Darüber kann man streiten. Der Übergang zur argumentatio kann nach LAUSBERG, Handbuch, § 344, im Sinne eines transitus auch allgemeiner gestaltet sein. Inst.Orat. 3,9,1. Inst.Orat. 3,9,6, Übersetzung nach Quintilian, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, herausgegeben und übersetzt von H. RAHN, I u. II, Darmstadt 21995.
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den Richter für sich gewinnen kann9, eine Mahnung, die im Fall des Kol modifiziert zur Anwendung kommen muss, da die Adressaten einerseits die vorgebrachten Argumente positiv bewerten sollen, zugleich aber von der autoritativen Verfasserposition aus dazu ermahnt werden. Hilfreich ist der Vergleich mit der argumentatio vor allem darin, dass 2,9-15 auch von dieser Seite aus als eigenständige intentio erkennbar wird und von der Widerlegung in 2,16-23 abgehoben werden kann. Die Aussagen von 2,9-15 können deshalb nur mit großer Vorsicht auf die Gegner bezogen werden. Im Rahmen der Auseinandersetzung V.16-23 finden sich punktuell weitere christologische Aussagen (V.17b.19.20), die sich auf 1,15-20 und 2,9-15 zurück beziehen, aber nicht mehr ausgeführt sind. Auf diese Weise entsteht in V.16-23 ein argumentativ stark verdichteter Text, der die Situation der Adressaten als an Christus Glaubende, die Voraussetzungen und Konsequenzen dieses Glaubens und Forderungen eines „Jemand“ miteinander verbindet. Nach der Auseinandersetzung mit den Gegnern folgt in 3,1 erneut eine christologisch grundierte Mahnung. eiv ou=n sunhge,rqhte tw/| Cristw/| bezieht sich auf 2,12 (und 2,20) zurück und zieht daraus die paränetische Konsequenz ta. a;nw zhtei/te. Mit diesem Abschluss (der zugleich den Übergang zum folgenden Abschnitt darstellt)10 wird der paränetische Charakter von 2,6-23 insgesamt noch einmal unterstrichen.
2. Das Problem des „mirror reading“ Mit wem wir es bei den Gegnern zu tun haben, wird in der Forschung höchst unterschiedlich beurteilt. Die Deutungen lassen sich folgendermaßen kategorisieren11: • Die Gegner stehen außerhalb der christlichen Gemeinde. Unter dieser Rubrik versammeln sich höchst unterschiedliche Deutungen: Judentum, jüdisch-häretischer Synkretismus, z.T. mit gnostischem Einfluss, Gnosis, Mysterienkulte, verschiedene philosophische Richtungen, esoterische Offenbarungsweisheiten. • Die Gegner bewegen sich zwar außerhalb der christlichen Gemeinde, haben aber selbst einen Christusbezug: judenchristliche Missio-
9 10 11
Inst.Orat. 3,9,7. Der Abschnitt 3,1-4 hat eine „Gelenkfunktion“. Er weist zweifellos auf das bisher Gesagte zurück, führt aber mit dem Gegensatz von „oben vs. auf der Erde“ ebenso deutlich die folgende Paränese ein. Vgl. MAISCH, Brief, 152f.
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• •
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nare, asketische Judenchristen, judenchristlicher Synkretismus, Judenchristen mit philosophischem Einfluss. Die angesprochenen Gegner kommen aus der Gemeinde selbst und wollen dort bestimmte Auffassungen durchsetzen. Es existieren keine Gegner im ausdrücklichen Sinn. Kol 2 warnt vielmehr allgemein vor dem paganen Umfeld, aus dem die christliche Gemeinde entstanden ist, vor dem Judentum oder vor Verunsicherungen bei den Adressaten selbst, die durch die Konversion hervorgerufen wurden.
Vielfach werden synkretistische „Zwischenlösungen“ angenommen. Die Vielzahl der Erklärungsansätze mahnt zur Vorsicht bei einer Näherbestimmung. Ein grundsätzliches Problem stellt das „mirror-reading“ dar. Es besteht darin, dass wir die Position der Gegner nicht aus unmittelbaren Äußerungen kennen, sondern nur durch den Verfasser des Kol vermittelt.12 Wir sehen also die Gegner gewissermaßen mit den Augen des Verfassers – und nicht einmal in direkter Spiegelung: Angesprochen sind nicht sie selbst, sondern die Adressaten, die sich von den Gegnern nicht täuschen lassen sollen. Der Verfasser will sie dahingehend beeinflussen, dass sie seine Sicht und sein Verständnis der gegnerischen Position übernehmen. Hinzu kommt, dass seine Aussagen über die Gegner teils unklar sind, teils mit Andeutungen arbeiten und sie mit Wertungen verbinden. Sie sind weder umfassend noch objektiv, sondern fragmentarisch und wertend. In der Diskussion um die Gefahren des mirror-reading sind mögliche methodische Schritte zu ihrer Vermeidung vorgeschlagen worden.13 Lähnemann14 hat die Unterscheidung von „referierten Termini“, von durch Entgegensetzungen kenntlich gemachten Kennzeichen der „Häresie“ und von „Karikaturen“ vorgeschlagen. „Referierte Termini“ setzen aber voraus, dass es sich bei einer bestimmten Wendung um einen für das Gesamtverständnis der Gegner wichtigen Begriff handle; selbst 12
13
14
K. BERGER, Die impliziten Gegner. Zur Erschließung von ‚Gegnern‘ in neutestamentlichen Texten, in: D. LÜHRMANN / G. STRECKER (Hg.), Kirche, FS G. Bornkamm, Tübingen 1980, 373-400: 378: „Die rhetorische Strategie des Verf. ist auf den Leser bezogen. Es ist von Fall zu Fall zu fragen, wieweit der Gegner selbst erreicht werden soll und wieweit der Verf. zu den Lesern nur über die Gegner spricht. In jedem Fall realisiert der Verf. das ‚audiatur et altera pars’ auf briefliche Weise, und aus seiner Taktik kann man auf die Eigenart des Gegners schließen.“ J.M.G. BARCLAY, Mirror-Reading a Polemical Letter: Galatians as a Test Case, JSNT 31 (1987), 73-93: 79-82, nennt folgende Gefahren: „undue selectivity”, „overinterpretation”, „mishandling problems”, „taking sides in the debate” und „latching onto particular words and phrases as direct echoes of the opponents’ vocabulary and then hanging a whole thesis on those flimsy pegs”. J. LÄHNEMANN, Der Kolosserbrief. Komposition, Situation und Argumentation (StNT 3), Gütersloh 1971, 77-79.
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wenn man die Verwendung eines Begriffes auf Seiten der Gegner wahrscheinlich machen kann, ist noch nichts über dessen Stellenwert in deren Denken gesagt; und angesichts der engagiert-bewertenden Sprache in Kol 2 empfiehlt es sich nicht, von „referierten“ Termini sprechen. Aus Entgegensetzungen des Verfassers auf Ansichten der Gegner zu schließen ist ein problematisches Kriterium, und im Begriff „Karikatur“ ist die Überzeichung bereits enthalten, die möglicherweise mehr über den Verfasser zu erkennen gibt als über die Gegner. Unabhängig davon war der Versuch Lähnemanns, im Blick auf gegnerische Aussagen ein System mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeiten aufzustellen, als solcher hilfreich. John Barclay15 schlägt angesichts der Gefahren des mirror-reading als methodische Schritte die Unterscheidung verschiedener Typen von Äußerungen vor (Behauptung, Widerlegung, Befehl, Verbot), weiter die Berücksichtigung von Ton und Häufigkeit bestimmter Äußerungen und von der Klarheit einer Aussage16 sowie die Frage, ob bestimmte Motive für den Verfasser auffällig sind; schließlich sei auf die Konsistenz und damit auch die historische Plausibilität der erarbeiteten Vorstellungen zu achten. Auf diese Weise kommt er zu einer Klassifikation einzelner Aussagen, die sich zwischen „certain or virtually certain“ und „incredible“ bewegt. Auch Jerry L. Sumney hat in seiner Arbeit „Identifying Paul’s Opponents“ eine Methode zur Beschreibung und Identifikation der Gegner des Paulus entwickelt.17 Er führt die Methodik insofern weiter, als er die Referenzebenen „explicit statement“, „allusion“ und „affirmation“ („certainty of reference“) mit der Frage nach den Kontexten (didaktischer, apologetischer, polemischer Kontext und Kontext der Briefkonvention) verbindet, in denen sie vorkommen. Erst diese Kontexte verleihen den expliziten Aussagen, den Anspielungen und Behauptungen einen jeweils unterschiedlichen Grad an Zuverlässigkeit („reliability“).18 Der didaktische Kontext ist nach Sumneys Vorstellung im Blick auf die Information über die Gegner am zuverlässigsten.19 Apologetische Kontexte seien weniger zuverlässig als didaktische, jedoch zuverlässiger als polemische. Dagegen böten Behauptungen sowohl im apologetischen als auch im polemischen Kontext eher zuverlässige Informationen an als ausdrückliche Stellungnahmen. Im Kontext der 15 16 17 18 19
BARCLAY, Mirror-Reading, 84-86. „We can only mirror-read with any confidence statements whose meaning is reasonably clear“ – eine nicht unwichtige Forderung gerade im Blick auf Kol! J.L. SUMNEY, Identifying Paul’s Opponents: The Question of Method in 2 Corinthians (JSNT.S 40), Sheffield 1990, 1. SUMNEY, Opponents, 96. SUMNEY, Opponents, 104.
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Peter Müller
Briefkonvention seien ausdrückliche Stellungnahmen und Anspielungen in Dank-Abschnitten verlässlich, im Rahmen von Paränese, Grüßen und Wünschen dagegen unzuverlässig.20 Mit der Beachtung der Kontexte bringt Sumney ein wichtiges Argument ins Spiel, dessen Grenze im Fall des Kol aber nicht zu übersehen ist: Handelt es sich in Kol 2,623 um einen didaktischen, apologetischen, polemischen oder um einen Text konventioneller (Brief-) Rhetorik? Die Grenzen zwischen diesen Textsorten sind fließend und der Sachverhalt, dass die kritisierten Gegner gar nicht direkt angesprochen werden, macht eine Differenzierung der Textsorte schwierig. Die Entscheidungen über die Textsorte und die Position der Gegner wirken oft aufeinander ein und können zu einem Zirkelschluss führen.21 In seiner Arbeit über die Gegner in 1Joh problematisiert Hansjörg Schmid das mirror-reading generell und schlägt stattdessen eine Änderung der Fragestellung vor.22 Die Leifrage soll nicht lauten: „Was bildet der Text ab? Wer waren die Gegner?“, sondern vielmehr: „Wie funktioniert der Text? Welche Grenzen zieht der Text, und in welchem Zusammenhang stehen diese Grenzen? … Nicht wer die Gegner waren, lautet dann die Frage, sondern zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang überhaupt von Gegnern gesprochen wird.“ Damit verschiebt sich der Schwerpunkt der Untersuchung auf die pragmatische Dimension der Texte und von der Gegnerfrage hin zur Frage nach der Gemeindeidentität. Schmid schlägt folgerichtig vor, auf das Bild des Spiegels und die Rekonstruktion der gegnerischen Ansichten ganz zu verzichten. Damit schießt er aber über das Ziel hinaus, denn die Frage nach dem möglichen Profil der Gegner ist für die Entwicklungslinien im frühen Christentum von nicht geringer Bedeutung. Und es ist keineswegs so, dass Kol 2,6-23 über die kritisierten Gegner gar nichts Wahrscheinliches erkennen lasse. Auch wenn textinterne Aussagen nicht ohne Weiteres auf die textexterne Ebene übertragen werden dürfen23, ist dies doch möglich, wenn mit der nötigen Behutsamkeit und Vorsicht vorgegangen wird. Unabhängig davon hat Schmid aber auf einen wichtigen Punkt hingewiesen: Aus einem Brief wie Kol erfahren wir zunächst und vor allem, dass der Verfasser Anlass zur Kritik an Gegnern sieht, wie er dabei vorgeht, wie er die Gegner beschreibt und warum er meint, seinen Adressaten dies schreiben zu müssen.
20 21 22 23
SUMNEY, Opponents, 104f und besonders 113. Darauf hat SCHMID, Gegner, 42, aufmerksam gemacht. SCHMID, Gegner, 20f. So J. KÜGLER, In Tat und Wahrheit. Zur Problemlage im Ersten Johannesbrief, in: BN 48 (1989), 61-88.
Gegner im Kolosserbrief
373
Grundsätzlich ist zu beachten, dass wir von den Gegnern, die der Verfasser in Kolossä agieren sieht, allein aus seinem Brief wissen. Es ist aber keineswegs so, dass das mirror-reading sich lediglich auf die Gegner beziehe. Es bezieht sich in gleicher Weise auf die Situation der Gemeinden im Lykostal, die der Verfasser beschreibt – nur mit dem Unterschied, dass wir hier eher geneigt sind, Unvoreingenommenheit zu unterstellen. Der ganze Brief ist aus einer bestimmten Perspektive des Verfassers geschrieben und zeigt in erster Linie seine Vorstellungen zu Christus, zum Apostel, zu den Gemeinden, zu einem christlichen Leben und auch zu den Gegnern. Die Frage ist also nicht, wie wir ein mirrorreading vermeiden können. Wir können es nicht vermeiden (jedenfalls nicht so lange wir die Frage nach einer Bestimmung der Gegner nicht generell aufgeben). Wichtig ist vielmehr, sich dieser Tatsache bewusst zu bleiben. So lange dies der Fall ist, hilft ein bewusstes mirror-reading dazu, die Perspektivität des Verfassers deutlich in den Blick zu nehmen. Methodisch führt dies zur Forderung einer klaren Beachtung der Perspektivität. So liegt z.B. in eivkh/| fusiou,menoj u`po. tou/ noo.j th/j sarko.j auvtou/ 2,18 eine klar abwertende Beurteilung der Gegner durch den Verfasser vor: Sie sind aufgeblasen in ihrem fleischlichen Sinn, und zwar ohne Grund. Dass die Gegner diesen Satz unterschreiben würden, kann man ausschließen. Sie würden weder „aufgeblasen“ akzeptieren noch „ohne Grund“ und den „fleischlichen Sinn“ auch nicht. Der Verfasser verbindet diese Wertung mit qe,lwn evn tapeinofrosu,nh| kai. qrhskei,a| tw/n avgge,lwn( a] e`o,raken evmbateu,wn. D.h. er sieht einen (wie auch immer gearteten) Zusammenhang zwischen der Aufgeblasenheit auf der einen, der Demut, der qrhskei,a| tw/n avgge,lwn und der Wendung a] e`o,raken evmbateu,wn auf der anderen Seite. Zwischen Aufgeblasenheit und Demut besteht allerdings eine kognitive Dissonanz. Die Demut kann sich nach der Darstellung des Verfassers deshalb nicht auf das zwischenmenschliche Verhalten der Gegner beziehen, sondern ist aller Wahrscheinlichkeit nach mit der „Verehrung der Engel“ und möglicherweise mit dem a] e`o,raken evmbateu,wn zu verbinden. Nimmt man ansatzweise eine mögliche Perspektive der Gegner ein, ergibt sich aus denselben Elementen ein anderes Bild: Demut, Verehrung der Engel und a] e`o,raken evmbateu,wn sind so gesehen der Ermöglichungsgrund für ihr Verhalten. Was der Verfasser grundlose Aufgeblasenheit nennt, kann sich aus ihrer gedachten Sicht als sehr wohl begründete Haltung darstellen, die deshalb auch nichts mit Überheblichkeit zu tun hat. Natürlich muss man berücksichtigen, dass der Verfasser Elemente, die den Gegnern wichtig sind, möglicherweise nicht oder nicht in der von ihnen verstandenen Wertigkeit berücksichtigt. Gleichwohl hat das bewusste mirror-reading den Effekt,
374
Peter Müller
die Perspektivität des Verfassers und (möglicherweise) der Gegner in den Blick zu bekommen. Die methodische Forderung lautet deshalb, jede Einzelaussage auf die Aussageabsicht des Verfassers und ein (denkbares) Verständnis der (denkbaren) Gegner hin zu befragen. Aus dieser perspektivischen Betrachtung ergibt sich eine zweite Fragestellung. Der Brief gibt vor allem zu erkennen, dass der Verfasser Anlass zur Kritik an Gegnern sieht, wie er die Gegner beschreibt, welcher Argumente er sich dabei bedient und warum er meint, seinen Adressaten dies schreiben zu müssen. Diese Verfasserperspektive gibt also Aufschluss über seine Sicht der Gemeinden, des christlichen Glaubens und der Gegner sowie über seine Argumentationsstrategie: Warum schreibt er den Brief so, wie er ihn schreibt? Welche Argumente sind ihm besonders wichtig für die Auseinandersetzung mit den Gegnern? Warum legt er gerade darauf Wert? Warum meint er die Adressaten vor den Aktivitäten von Gegnern warnen zu müssen und warum tut er es auf diese spezifische Weise? Möglicherweise lässt sich aus der spezifischen Argumentation des Verfassers dann aber ein Rückschluss ziehen auf die gegnerische Position. Die Frage nach den wichtigen Argumenten verweist auf diejenigen Aspekte der gegnerischen Position, die zumindest aus der Verfassersicht am deutlichsten korrigiert werden müssen. Daraus die Position der Gegner wie in einem Puzzle möglichst lückenlos zusammenzusetzen wird wahrscheinlich nicht gelingen. Die zentralen Argumente aus der Sicht des Verfassers lassen aber zumindest diejenigen Aspekte erkennen, deren Widerlegung ihm besonders wichtig erschien. Unter der Voraussetzung, dass er die Gegner nicht völlig missverstanden hat, lassen sich dann immerhin Wahrscheinlichkeitsaussagen über die Gegner treffen.
3. Perspektiven Im Folgenden geht es darum, die kritischen Aussagen, die der Verfasser über die Gegner macht, im oben genannten Sinn perspektivisch zu lesen. Ich unterscheide dabei zwischen dem Verfasser und den Gegnern und versuche, die Einzelaussagen aus der Sicht des Verfassers und der (denkbaren) Perspektive der Gegner zu würdigen. Auf 2,9-15 gehe ich in diesem Zusammenhang nicht ein. Diese Verse dienen dem Verfasser als christologische Argumentationsbasis für die Auseinandersetzung und beschreiben die Bedeutung Christi für die Adressaten. Aus ihnen Argumente für die Bestimmung der Gegner gewinnen zu wollen ist, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt möglich.
Gegner im Kolosserbrief
375
3.1. Einen ersten Hinweis auf Gegner liefert 2,4 Tou/to le,gw( i[na mhdei.j u`ma/j paralogi,zhtai evn piqanologi,a|. Tou/to le,gw greift auf den Einsatz des Apostels und auf Christus als Geheimnis Gottes zurück, in dem alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen sind, und schließt daran eine Folgerung an (i[na). Die Adressaten sollen sich von „niemand“ täuschen und betrügen lassen. Der i[na-Satz und das ausdrucksstarke Verb paralogi,zomai24 sprechen eher von einer konkreten als von einer theoretischen Gefährdung (im Sinne von Erkenntnis, die euch niemand nehmen kann). Die Täuschung, vor der gewarnt wird, geschieht mit Hilfe von Überredungskunst. Piqanologi,a ist Hapaxlegomenon im Neuen Testament.25 Das Wort ist deutlich abwertend gemeint. Rückschlüsse auf Gegner lässt der Vers nicht zu. Wer hinter mhdei,j steht, ist nicht erkennbar, und das Täuschen mit Hilfe von Überredungskunst ist eine eindeutige Wertung. Dass die Gegner sie für sich akzeptieren würden, kann man ausschließen.
3.2. In 2,8 mahnt der Verfasser die Adressaten, sich nicht von „jemand“ mit menschengemachten Vorstellungen vereinnahmen zu lassen. 2,8 ble,pete mh, tij u`ma/j e;stai o` sulagwgw/n dia. th/j filosofi,aj kai. kenh/j avpa,thj kata. th.n para,dosin tw/n avnqrw,pwn( kata. ta. stoicei/a tou/ ko,smou kai. ouv kata. Cristo,n\ Verfasser
Gegner
Die Adressaten werden ermahnt darauf
Dass sich die Gegner selbst als „(irgend)
zu achten bzw. sich zu hüten vor
jemand“ bezeichnen, ist nicht anzuneh-
(ble,pete).26 „Dass nicht jemand da sein
men. Wie sich zeigen wird, legen sie im
wird“ (mh, tij u`ma/j e;stai) ist ebenso un-
Gegenteil Wert darauf, dass sie Urteile
bestimmt wie „niemand“ in 2,4. Die
fällen können.
distanzierende Bezeichnung tij ist auffällig.27
24 25 26 27
Im NT nur noch in Jak 1,22. Mit dem Akkusativ der Person bedeutet es „täuschen, betrügen“ (W. BAUER, Wörterbuch zum Neuen Testament, neu bearbeitet von K. und B. ALAND), Berlin/New York 61988, 1253). Vgl. BAUER, Wörterbuch, 1323; der Sache nach kann man 1Kor 2,4 vergleichen. Vgl. hierzu Phil 3,2; 1Kor 8,9; 10,11.18; ble,pete avpo, Mk 12,38. Mit mh, verbunden findet sich die Mahnung ble,pete mh, tij u`ma/j planh,sh in Mt 24,4; Mk 13,5 (vgl. Lk 21,8). Vgl. zu dem unbestimmten tij 1Kor 3,17; 4,18; 11,16; 15,12.
376
Peter Müller
Der Verfasser stellt die – wie auch immer
Dass die Gegner sich selbst als solche
geartete – Tätigkeit der Gegner als ein
verstehen, die „rauben“ und „als Beute
„Wegtragen“ dessen dar, was ihnen nicht
wegführen“, kann man ausschließen.
gehört (o` sulagwgw/n).28 Das Verb ist eindeutig wertend. „Philosophie“ ist mit dem bestimmten
Filosofi,a hat ein breites Bedeutungs-
Artikel verbunden. Dies spricht dafür,
spektrum.29 Der bestimmte Artikel und
dass der Verfasser eine bestimmte Be-
die erst im Zusammenhang mit der fol-
zugsgröße im Blick hat, die auch den
genden Bestimmung mit der Philosophie
Adressaten bekannt ist.
verbundene Wertung machen es wahrscheinlich, dass ihn die Gegner (als Selbstbezeichnung?) verwendet haben.
Die wertende Zusammenstellung mit
Selbstverständlich haben die Gegner ihre
„leerer Täuschung“ (kai. kenh/j avpa,thj)
Auffassungen nicht als leere Täuschung
qualifiziert die Philosophie ab. Sie ist nur
verstanden. Gerade die Zusammenstel-
leeres Gerede und Täuschung. Die Ad-
lung unterstreicht aber, dass sie wahr-
ressaten sollen erkennen, dass die Ge-
scheinlich von Philosophie gesprochen
gner sie damit nur einfangen wollen.
haben.
Mit drei kata,-Wendungen wird die ge-
Sich auf Traditionen zu berufen ist in der
gnerische Auffassung näher bestimmt.
Antike eine geläufige Argumentationsfi-
Sie beruft sich Überlieferung von Men-
gur. Das Alte ist auch das Ehrwürdige
schen (para,dosij tw/n avnqrw,pwn). Der
und letztlich das Wahre.30 Deshalb ist es
Verfasser sieht hierin einen Gegensatz zu
denkbar, dass die Gegner sich auf Tradi-
kata. Cristo,n. Der Hinweis auf die Über-
tionen berufen haben. In diesem Fall
lieferung ist deshalb negativ konnotiert;
hätten sie die para,dosij als alte Tradition
es handelt sich um „bloß“ menschliche
von besonders anerkannten Bezugsgrößen
Überlieferung.
akzentuiert.
Der Verfasser stellt die Philosophie in
Die „Elemente des Kosmos“ lassen sich in
einen Zusammenhang mit den Elemen-
einem positiven Sinn mit den Stichworten
ten des Kosmos (stoicei/a tou/ ko,smou).
Philosophie und Überlieferung verbinden.
Auch sie werden in einen Gegensatz zu
Deshalb können sie für die Gegner eine
Christus gestellt. Menschliche Überliefe-
Rolle gespielt haben, deren genaue Bedeu-
28 29
30
Das Hapaxlegomenon sulagwge,w bedeutet „rauben, als Beute wegführen“ (BAUER, Wörterbuch, 1549). Das Partizip ist von tij getrennt, weil es die Verbindung zu dia. th/j filosofi,aj herstellt. Der Begriff hat im hellenistischen Sprachgebrauch gegenüber der klassischen Verwendung eine erhebliche Ausweitung erfahren und kann neben philosophischen Richtungen im eigentlichen Sinn auch religiöse Gemeinschaften, Mysterienkulte oder Zauberlehren (vgl. Dan 1,20 LXX) bezeichnen. Dabei geht es nicht lediglich über Theorien über Gott, die Welt und die Menschen. Vielmehr wird mit dem Begriff ein identitätsstiftender Zusammenhang von theoretischer Einsicht und praktischem Lebensvollzug beschrieben. Zum Altersbeweis als gängiger Argumentationsform insbesondere apologetischer Schriften vgl. P. PILHOFER, Presbyteron Kreitton (WUNT II 39), Tübingen 1990.
377
Gegner im Kolosserbrief
rung und Elemente der Welt gehören auf
tung allerdings nicht genannt wird. Der
dieselbe Ebene des Geschaffenen und in
betonte Gegensatz zu Christus könnte
einen Gegensatz zu Christus.31
darauf hindeuten, dass die Gegner diesen Gegensatz nicht sehen. ouv
kata.
Die menschengemachte und weltbezo-
Die
gene Philosophie ist nicht christusge-
Cristo,n zielende Argumentation lässt es
mäß. ouv kata. Cristo,n ist der Zielpunkt
denkbar erscheinen, dass Christus auch
der kleinen Argumentationskette: Und
bei den Gegnern eine Rolle spielte. Im
gerade nicht Christus gemäß und entspre-
Zusammenhang aller Aussagen von V.8
chend! Der Verfasser scheint davon
würden sie, wenn dies zutrifft, keinen
auszugehen, dass sich die Gegner auf
Gegensatz zwischen Christus, den Welt-
Christus berufen, dies aber zu Unrecht
elementen und menschlicher Tradition
tun.
sehen.
auf
die
Aussage
Bei der kritisierten Philosophie handelt es sich nach der Überzeugung des Verfassers um Vorstellungen, die in der Lage sind, die an Christus Glaubenden einzufangen und zu täuschen. Was sich als Philosophie ausgibt, ist aber inhaltsleer und damit nichtig und grundlos.32 Kai. kenh/j avpa,thj kommt ohne eigenen Artikel aus und zeigt, dass der Verfasser die Philosophie ganz im Zeichen der leeren Täuschung interpretiert. Von hier aus bekommt die piqanologi,a in 2,4 ihren Sinn. Trotz dieser klaren Wertung macht 2,8 einige Merkmale der gegnerischen Position wahrscheinlich: • Wahrscheinlich verwenden die Gegner den Begriff Philosophie, möglicherweise im Sinne einer Selbstbezeichnung. • Vermutlich spielen in dieser Philosophie die Weltelemente und die Berufung auf Tradition eine Rolle. • Möglicherweise verwahren sich die Gegner dagegen, als „irgendjemand“ zu gelten. In diesem Fall wäre die Verwendung von „jemand“ und „niemand“ durch den Verfasser karikierend. • Möglicherweise sieht die Philosophie, anders als der Verfasser, zwischen Christus, menschlicher Überlieferung und den Weltelementen keinen Gegensatz.
31 32
Vgl. DÜBBERS, Christologie, 205: „Nicht der Ausdruck ta. stoicei/a tou/ ko,smou ist der hermeneutsiche Schlüssel zum Kolosserbrief, sondern der Kolosserbrief zum Verständnis dieser Wendung.“ Vgl. M. LATTKE, Art. keno,j, EWNT II (1981), 648f.
378
Peter Müller
3.3. An 2,8 schließt sich ein längerer Einschub an, der in Aufnahme des hymnischen Textes 1,15-20 die Bedeutung Christi für die Glaubenden hervorhebt und damit die Argumentationsbasis für die Warnung vor den Gegnern bereitstellt. Erst ab V.16 geht der Verfasser wieder auf die gegnerische Position ein. In V.16-19 nennt er in zwei weitgehend parallelen Gedankengängen verschiedene Aspekte dieser Position und stellt ihnen Christusaussagen gegenüber, die sie entkräften sollen. Er setzt offenbar voraus, dass die gegnerische Position den Adressaten bekannt ist, und begnügt sich (zum Leidwesen der Exegeten) mit Anspielungen. V.18-19 formulieren gegenüber V.16-17 insgesamt etwas ausführlicher und polemischer. Der schärfere Ton in V.18f zeigt sich im Verb katabrabeu,ein, in der Wendung qe,lwn evn und dem Zusatz eivkh/| fusiou,menoj u`po. tou/ noo.j th/j sarko.j auvtou/. Aber auch die christologische Aussage vom Haupt des Leibes ist in V.19 etwas breiter ausgeführt als in V.17. 16 Mh. ou=n tij u`ma/j krine,tw evn brw,sei kai. evn po,sei h' evn me,rei e`orth/j h' neomhni,aj h' sabba,twn\ Der „tij“ aus V. 8 bleibt unbestimmt. Er
Wahrscheinlich stellen die Gegner den
ist als jemand dargestellt, der bean-
Adressaten bestimmte Verhaltensweisen
sprucht, die Adressaten
richten zu
vor Augen, an denen sie sich orientieren
können: Mh. ou=n tij u`ma/j krine,tw. Davon
sollen. Ob sie ausdrücklich den Anspruch
sollen sich die Adressaten nicht beein-
erheben, richten zu können, lässt sich nicht
drucken lassen. Möglicherweise wird
klar sagen.
diese kritisierte Haltung durch das unbestimmte „jemand“ karikiert. „Jemand“ versucht die Kolosser im
Zum Verhalten der Gegner gehören wahr-
Blick auf Essen und Trinken zu beurtei-
scheinlich bestimmte Speisevorschriften,
len (evn brw,sei kai. evn po,sei). Im Zusam-
auf deren Einhalten bzw. Nichteinhalten sie
menhang mit V.21 scheint es dabei um
Wert legen. Die allgemeine Aussage lässt
asketische Vorschriften zu gehen.
hier noch keine nähere Deutung zu.
Außerdem sollen sich die Adressaten
Neben den Speisevorschriften ist den Geg-
nicht richten lassen im Blick auf ihre
nern wahrscheinlich auch die Beachtung
Einstellung zu Festtagen, Neumonden
bestimmter Feste und Tage wichtig. Wäh-
und Sabbaten (h' evn me,rei e`orth/j h'
rend Festtage sehr allgemein und die Be-
neomhni,aj h' sabba,twn), die sie in irgend-
achtung des Neumondes weit verbreitet ist,
einer Weise nicht hinreichend berück-
könnte die Nennung des Sabbats auf einen
sichtigen.
jüdischen Zusammenhang hinweisen.
Gegner im Kolosserbrief
379
17 a[ evstin skia. tw/n mello,ntwn( to. de. sw/ma tou/ Cristou/Å Für den Verfasser handelt es sich bei
Mit Speisevorschriften und der Betonung
der Kritik der Gegner um einen „Schat-
von Feiertagen legen die Gegner Gewicht
ten des Kommenden“33 – dies aber nicht
auf bestimmte Handlungsvollzüge. Mögli-
im Sinne von etwas Vorläufigem, son-
cherweise sehen sie in ihrem Verhalten
dern als Gegensatz (vgl. die folgende
einen Ermöglichungsgrund zur Beurtei-
adversative Formulierung to. de. sw/ma
lung anderer. Unklar ist, ob sie dies in
Cristou/).
irgendeiner Weise mit etwas Zukünftigem verbinden.
Die Vorstellung vom Leib Christi (to. de.
Ist es denkbar, dass die Gegner ihrerseits
sw/ma tou/ Cristou/) wird als Gegenüber
vom Leib Christi sprechen? Wenn ja, in
zu dem „Schatten“ verwendet und
welchem Sinn? Würde dann der Gegensatz,
damit in kritischer Wendung den Ge-
der in V.17 aufgebaut ist, zum Tragen
gnern gegenüber.
kommen?
Wer mit Christus in der Taufe auferstanden ist (2,12), ist von jeglicher anderen Macht frei. Aus dieser Erkenntnis zieht der Verfasser von V.16 an Konsequenzen und beurteilt bestimmte Vorstellungen der Philosophie. Gewarnt wird vor dem richtenden Urteil, das sich nach V.16f auf Speisevorschriften und das Einhalten bestimmter Feiertage bezieht. Das Beachten bzw. Nichtbeachten dieser Vorschriften begründet aus der Sicht der Gegner das kritische Urteil. Dies ist für den Verfasser nicht so; er sieht darin lediglich einen „Schatten des Kommenden“. Weil aus seiner Sicht aber die Gegner darin einen Grund zur Kritik sehen, kann auch er diese Frage nicht als Adiaphoron betrachten, da mit ihr das Herr-Sein Christi in Frage gestellt wird. Worum es bei „Essen und Trinken“ und bei den „Feiertagen, Neumonden und Sabbaten“ genau geht, ist schwer zu sagen. „Essen und Trinken“ sind sehr allgemein, lassen sich aber von V.21 her als asketische Vorschriften verstehen. Solche Vorschriften spielen in den antiken Religonen generell eine wichtige Rolle.34 Eine Konkretisierung ist von V.17 her nicht möglich. Die Reihe „Feiertage, Neumonde und Sabbate“ stellt dagegen (zusammen mit dem Hinweis auf die Beschneidung 2,11) eines der Hauptargumente für die These dar, dass die gegnerische Position ihre Wurzeln im Judentum hat. Denn zum einen ist der Sabbat der herausragende jüdische Feiertag, zum anderen findet sich die Zusammenstellung von Fest, Neumond und Sabbat auch in einigen jüdischen
33 34
WOLTER, Brief, 144: Das Relativpronomen kann sich nur auf die vorangehend genannten Dinge beziehen, also Essen und Trinken und die Beachtung von Feiertagen. Vgl. dazu u.a. R. ARBESMANN, Das Fasten bei den Griechen und Römern, Gießen 1929, und WOLTER, Brief, 141f.
380
Peter Müller
Schriften.35 Das umgekehrte Argument, dass die Beobachtung heiliger Zeiten und die feierliche Ausrufung des Neumonds auch in paganen Religionen zu finden sind36, ist zutreffend, erklärt aber noch nicht die Nennung des Sabbats. Die Nähe des Gottes Sabazios zum „Gott des Sabbats“37 und die Unkenntnis, die beispielsweise Tacitus (Hist. 5,4) bezüglich des Sabbats an den Tag legt38, zeigen aber, dass der jüdische Festtag in der paganen Umwelt zwar allgemein geläufig, in seiner Bedeutung jedoch oft nur wenig bekannt war. Die Nennung von Feiertagen, Neumonden und Sabbaten könnte deshalb „alle möglichen Feiertage“ ansprechen. Unabhängig davon ist zunächst einmal wichtig, was die Verse mit Wahrscheinlichkeit über die gegnerische Position zu erkennen geben: • Vermutlich ist die in Anspruch genommene Fähigkeit zum Beurteilen und zum Treffen von Unterscheidungen ein Merkmal der gegnerischen Haltung. • Speisevorschriften und das Einhalten von Fest- und Feiertagen spielen eine Rolle. • Dabei handelt es sich aus der Perspektive der gegnerischen Position um Handlungsvollzüge, deren Nichtbeachtung zu verurteilen ist. V.18-19 nehmen die Aussagen in V.16-17 auf und spitzen sie zu. 18
mhdei.j u`ma/j katabrabeue,tw qe,lwn evn tapeinofrosu,nh| kai. qrhskei,a| tw/n avgge,lwn( a]
e`o,raken evmbateu,wn( eivkh/| fusiou,menoj u`po. tou/ noo.j th/j sarko.j auvtou/( „Niemand“ entspricht dem „Jemand“
Katabrabeu,ein, kri,nein und sulalagei/n sind
aus V. 16 – die Christen in Kolossä sollen
jeweils starke Aussagen und machen eine
sich von niemandem disqualifizieren39
richtende und verurteilende Haltung bei
lassen (mhdei.j u`ma/j katabrabeue,tw).
den Gegnern wahrscheinlich.
35 36 37 38
39
In derselben Reihenfolge Hes 45,17; ähnlich Hos 2,13; andere Reihenfolge in 1Chr 23,31; 2Chr 2,3; 31,12; Jdt 1,14; erweitert Jub 1,14; paarweise Anordnung Jes 1,13f.; Jub 1,10 MAISCH, Brief, 185f. Vgl. hierzu S.A. TAKACS, Art. Sabazios, DNP 10 (2001), 1180-1182. Die Einhaltung des Sabbats und die Vorstellung von einem allmächtigen jüdischen Gott waren Anhaltspunkte für die Verbindung des Sabzios mit dem Gott der Juden. „Am siebenten Tag, so sagt man, habe es ihnen gefallen, der Ruhe zu pflegen, da dieser Tag ihnen das Ende der Plagen gebracht habe; als ihnen dann die Untätigkeit behagte, hätten sie auch jedes siebte Jahr dem Müßiggang geweiht. Andere meinen, dies sei eine Ehrung für Saturn, sei es, weil die Idäer die Grundbegriffe ihrer Religion weitergegeben haben …, sei es, weil von den sieben Gestirnen, durch die das Menschenleben bestimmt wird, in der obersten Kreisbahn mit mächtigstem Einfluss der Stern des Saturn seinen Umlauf beschreibe und die meisten Himmelskörper ihren Weg und ihre Bahn nach der Siebenzahl vollenden“ (5,4,3f.; Übersetzung nach P. CORNELIUS, Tacitus, Historien. Lateinisch / Deutsch, übersetzt und herausgegeben von H. VRETSKA, Stuttgart 1984). Vgl. BAUER, Wörterbuch, 831.
381
Gegner im Kolosserbrief
Die Gegner gefallen sich in Demut (qe,lwn
„Richten“ und „Beurteilen“ bezeichnen
evn tapeinofrosu,nh). „Demut” hat hier für
Tätigkeiten, die von einer Position der
den Verfasser negativen Klang; sie ist für
Autorität aus erfolgen. „Demut“ passt in
den Verfasser ein Kennzeichen der Geg-
diesen Zusammenhang zunächst nicht.
ner.
Wenn „Demut“ auf die Gegner zutreffen sollte, so müsste zwischen Demut und der Vollmacht zum Richten ein Zusammenhang bestehen.
Die Verehrung der Engel (qrhskei,a tw/n
Vermutlich gehören Demut und Engel-
avggelwn)40 wird mit der Demut durch kai.
verehrung auch für die Gegner zusam-
verbunden. Sie ist in den Augen des
men; Demut allein wäre keine hinrei-
Verfassers
der
chende Begründung für das Beurteilen
Gegner und gehört mit der „Demut“ eng
anderer. Demut braucht, um richten zu
zusammen.
können, eine Begründung. Sie kann in
Die Wendung a] e`o,raken evmbateu,wn sprengt
Die Verben beziehen sich gemeinsam auf
den Satzzusammenhang und erweist sich
etwas, das man „sehen“, in das man
als Einschub.41 Das deutet darauf hin,
„eindringen“ und das man „genau erfor-
dass der Verfasser hier einen Zusammen-
schen“ kann. Unabhängig von einer
hang mit der Demut und der Engelvereh-
Näherbestimmung spielen sie auf eine
rung sieht.
wie auch immer geartete besondere Er-
ebenfalls
Kennzeichen
der Verehrung der Engel liegen.
kenntnis an. Der Zusammenhang mit Demut und Engelverehrung, den der Verfasser sieht, könnte von den Gegnern geteilt werden. eivkh/|
Demut und Engeldienst führen in der
Die
Sicht des Verfassers zu leerer und grund-
fusiou,menoj macht wahrscheinlich, dass
loser Arroganz (eivkh/| fusiou,menoj u`po. tou/
die
noo.j th/j sarko.j auvtou), die lediglich „das
„Demut“ für sich reklamiert, die vom
eigene Fleisch“ beweihräuchert. Es han-
Verfasser als Aufgeblasenheit karikiert
delt sich hier um eine klare Wertung.
wird.
40
41
absichtsvolle gegnerische
Wertung Position
in
tatsächlich
Die Streitfrage, ob es sich bei qrhskei,a tw/n avgge,lwn um einen Gen. obj. oder subj. handelt, ist m.E. im Sinne des Gen. obj. zu beantworten. Dafür spricht zum einen die parallele Stellung von tapeinofrosu,nh| kai. qrhskei,a| tw/n avgge,lwn, die beide unter qe,lwn evn vereint sind, zum anderen die Wiederaufnahme beider Begriffe in V.23 (evqeloqrhski,a| kai. tapeinofrosu,nh|), wo eindeutig ein menschliches Handeln beschrieben ist. Da in diesen Versen ein Verhalten in Kolossä kritisiert wird, kann keine passive oder schauende Teilnahme an einem Gottesdienst der Engel gemeint sein. Die Deutungsmöglichkeiten dieses Einschubs sind vielfältig und kontrovers und können hier nicht detailliert aufgearbeitet werden. Vgl. den knappen Überblick bei STANDHARTINGER, Studien, 22-23.
382
Peter Müller
19
kai. ouv kratw/n th.n kefalh,n( evx ou- pa/n to. sw/ma dia. tw/n a`fw/n kai. sunde,smwn
evpicorhgou,menon kai. sumbibazo,menon au;xei th.n au;xhsin tou/ qeou/Å Wer sich so verhält, hält nicht am
Die Argumentation des Verfassers lässt
„Haupt“ fest (kai. ouv kratw/n th.n kefalh,n).
im Rückschluss die Möglichkeit zu, dass
Die Aussage fasst die negative Bewertung
die gegnerische Position Christus durch-
der Gegner zusammen. Die Argumentati-
aus nicht ablehnt, zusätzlich aber ein
on zielt nicht auf die Aufgeblasenheit von
bestimmtes demütiges Verhalten und die
Demut und Engelverehrung als solche,
Verehrung von Engeln fordert.
sondern darauf, dass, wer sich so verhält, nicht am Haupt festhält. Die Argumentation ist mit V.17 und dem Ende von V.9 parallel. Die Bedeutung des „Hauptes“ wird mit
Die Ausführungen des Verfassers schei-
einem „medizinischen“ Bild im Blick auf
nen es nahe zu legen, dass die Gegner
den Leib ausgeführt. Das Bild hat, gerade
das Verhältnis von Haupt und Leib an-
weil es allgemeine Kenntnisse zurück-
ders definieren. Ob dies – in der Termino-
greift, bestätigende und erläutende Funk-
logie des Verfassers – aber das Haupt
tion.
oder den Leib oder das Verhältnis beider betrifft, ist nicht klar.
Der Leib ist nicht statisch, sondern im
Ob die gegnerische Position auch von
Wachstum begriffen. Dies ist ein Wach-
einem Wachstum gesprochen hat und
stum, das von Gott ausgeht und auf ihn
sich
hinführt (au;xei th.n au;xhsin tou/ qeou/). Für
eventuell einer Opposition dazu ver-
den Verfasser ist klar, dass dieses göttli-
dankt, ist denkbar, aber nicht zu verifizie-
che Wachstum nur möglich ist, wenn man
ren.
die
merkwürdige
Formulierung
am Haupt festhält.
Die beiden Verse werden in der Forschung sehr unterschiedlich beurteilt. Dies betrifft vor allem die Wendung a] e`o,raken evmbateu,wn, die Verehrung der Engel und die Klärung möglicher religionsgeschichtlicher Zusammenhänge. Eine ausdrückliche kultische Verehrung von Engeln ist im Judentum zwar randständig; die These von F.O. Francis, derzufolge in mystischen und apokalyptischen Kreisen des Judentums die Vorstellung einer Teilnahme am himmlischen Gottesdienst der Engel lebendig gewesen sei42, hat aber verschiedentlich Zustimmung gefunden.43 Diese Vorstellung auf Kol 2,18 anzuwenden geschieht aber um den Preis, dass qrhskei,a tw/n avgge,lwn als Gen. subj. verstanden wird, was sich von der Gedankenführung her nicht nahelegt. Dieses Problem 42 43
F.O. FRANCIS, Humility and Angel Worship in Colossae, in: DERS. / W. MEEKS, Conflict at Colossae, Missoula 1973, 163-195; dort auch die einschlägigen Belegstellen. So z.B. bei J.D.G. DUNN, The Epistles to the Colossians and to Philemon. A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Grand Rapids/Carlisle 1996, 29.180f.
Gegner im Kolosserbrief
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besteht nicht, wenn man einen paganen Hintergrund für die Verehrung von Engeln zugrunde legt. Engel haben hier eine einerseits vermittelnde und andererseits den göttlichen Bereich schützende Funktion; sie können die Reinen in die göttliche Sphäre geleiten, den Unreinen aber den Zugang verwehren.44 Das angeschlossene a] e`o,raken evmbateu,wn steht damit vermutlich in Zusammenhang, auch wenn die Redeweise mehr verbirgt als offen legt. Was lassen diese Aussagen über die gegnerische Position erkennen? • Zusammen mit den anderen Verben des Richtens und Beurteilens macht katabrabeu,ein wahrscheinlich, dass die Gegner sich in der Lage sehen, über andere zu urteilen. • Die Position, von der aus dies geschieht, wird mit „Demut“ und „Verehrung der Engel“ in Zusammenhang gebracht. Vermutlich geht die gegnerische Position davon aus, dass die demütige Verehrung von Engelmächten den Zugang zum göttlichen Bereich eröffnet. Demut und Verehrung der Engel stehen mit dem „Schauen“ und „Eintreten“ in Verbindung. Die Art dieser Erkenntnis und die Modalitäten des Eintretens sind der Wendung a] e`o,raken evmbateu,wn nicht schlüssig zu entnehmen. • Wahrscheinlich ist wiederum, dass nach der Selbsteinschätzung der Gegner Demut und Verehrung der Engel dazu berechtigen, über das Verhalten anderer im Blick auf Essen, Trinken und das Halten von Feiertagen zu urteilen. • Der ausdrückliche Hinweis, dass die Gegner gerade „nicht am Haupt festhalten“, und die daran angeschlossene Überlegung zur Verbindung von Haupt und Leib können auf eine dort vorhandene Christusbeziehung hinweisen.
3.4. In 2,20-23 greift der Verfasser die bisher geäußerten Argumente erneut auf und spitzt sie zu. Ausgangspunkt ist die Frage, wieso die Adressaten sich Vorschriften auferlegen lassen, obwohl sie doch mit Christus den Elementen der Welt „weggestorben“ sind. 20
Eiv avpeqa,nete su.n Cristw/| avpo. tw/n stoicei,wn tou/ ko,smou( ti, w`j zw/ntej evn ko,smw|
dogmati,zesqeÈ Mit eiv avpeqa,nete su.n Cristw/| greift der
Möglicherweise hat Christus auch für die
Verfasser auf V.12 zurück und fasst die
Gegner Bedeutung. Dann könnten sie die-
44
Näheres hierzu bei WOLTER, Brief, 146f.
384
Peter Müller
christologische Passage V.9-15 zusammen.
sen Satz akzeptieren. In diesem Fall würden sie vermutlich die Taufe als grundlegendes Heilsdatum anerkennen.
Mit Christus sind die Glaubenden von
Nach dem in V.16-19 Gesagten beurteilen
den stoicei,a tou/ ko,smou „weggestorben“.
die Gegner diesen Aspekt anders. Ob sie
Sie haben für die Glaubenden ihre Bedeu-
die voran gehende Christusaussage teilen,
tung verloren. Der Verfasser setzt voraus,
ist nicht sicher; auf keinen Fall lässt dies
das die Adressaten wissen, was mit die-
aber auf die Bedeutungslosigkeit der Welt-
sem Ausdruck gemeint ist.
elemente schließen.
Angesprochen sind wie in V. 8 die Adres-
Dass die Gegner die Aussage akzeptieren,
saten selbst. w`j zw/ntej evn ko,smw| fasst die
sie lebten (noch) in Abhängigkeit vom
voran gehenden Kritik zusammen; wer evn
Kosmos, lässt sich hieraus nicht notwendig
ko,smw| lebt, muss Speise- und Festvor-
schließen. Die folgenden asketisch orien-
schriften einhalten. Sich „Satzungen auf-
tierten „Satzungen“ könnten auch so inter-
erlegen lassen“45 gehört zum Bereich des
pretiert werden, dass sie sich selbst gerade
Kosmos. Die Vorschriften können deshalb
als davon frei fühlen.
keine Bedeutung im Blick auf den Weg zu Gott beanspruchen.
21 mh. a[yh| mhde. geu,sh| mhde. qi,gh|j Nun fügt der Verfasser Beispiele für weltli-
Es liegt nahe, die Aussagen als Forderun-
chen Satzungen an und spitzt sie zu: Man
gen der Gegner aufzufassen, zumal in
soll nicht anfassen, nicht schmecken und
Verbindung mit V.17f. Kürze und Pauscha-
nicht berühren. Wahrscheinlich wissen die
lierung machen direkte Zitate jedoch un-
Adressaten, was konkret gemeint ist; den-
wahrscheinlich. Die genaue Bedeutung
noch handelt es sich um eine Verallgemei-
bleibt offen. Der Zusammenhang (V.16)
nerung. Wenn nicht gesagt wird, was man
macht am ehesten Speiseverbote wahr-
nicht anfassen, nicht schmecken und be-
scheinlich. mh. a[yh| … mhde. qi,gh|j findet sich
rühren soll, bekommen die Gebote einen
wiederholt in der griechischen Literatur.
grundsätzlichen Charakter (am Ende darf
Auch deshalb ist Vorsicht geboten gege-
man gar nichts mehr machen).46
nüber einer genauen Bestimmung.
45 46
BAUER, Wörterbuch, 405. Do,gma hat neben der Bedeutung „Beschluss, Gebot, Erlass, Satzung“ auch die Konnotation von bloßer, unbewiesener Meinung, vgl. ApkPt 1,1 do,gmata poiki,la th/j avpwlei,aj dida,skein. Eindeutig ist die Reihe nur im Blick auf mhde. geu,sh|. Damit ist ein Verbot bestimmter Lebensmittel formuliert. Bei dem Berührungsverbot könnte man auch an Sexualtabus denken (vgl. im AT Gen 20,6; Spr 6,29; außerdem Euripides, Hipp. 1044; Plutarch, Mor. 442e; 760d). Aber davon ist im Kontext sonst nicht die Rede. Allerdings findet sich eine vergleichbare Verbindung (Verbot zu heiraten und die Enthaltung von Speisen) in 1Tim 4,2f. Vom Kontext her liegt es gleichwohl näher, alle drei Begriffe auf Speisevorschriften zu beziehen.
Gegner im Kolosserbrief
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22 a[ evstin pa,nta eivj fqora.n th/| avpocrh,sei( kata. ta. evnta,lmata kai. didaskali,aj tw/n avnqrw,pwn( Das Verbot, bestimmte Dinge zu essen
Es liegt auf der Hand, dass die Gegner
bzw. zu gebrauchen, widerspricht deren
diese Auffassung nicht teilen. Wie genau
Bestimmung, denn es handelt sich um
sie ihre Forderungen begründen, geht aus
Dinge, die zum Verbrauch bestimmt sind
der Aussage des Verfassers jedoch nicht
(eivj fqora.n th/| avpocrh,sei).47 Der Halbsatz ist
hervor. Es ist anzunehmen, dass sie hierfür
am besten als begründender Einschub in
eine innerhalb ihres Denksystems vernünf-
die Abwehr der gegnerischen Forderungen
tige Erklärung haben.
zu verstehen.48 Die bloß menschliche Überlieferung der
Die Wiederholung und Steigerung von V.8
Philosophie in V. 8 wird aufgegriffen und
unterstreicht den Gedanken der Tradition.
präzisiert
(kata.
ta.
evnta,lmata
kai.
didaskali,aj tw/n avnqrw,pwn)49: Bei diesen
Wahrscheinlich spielt sie für die gegnerische Position eine wichtige Rolle.
Forderungen handelt es sich um (bloß) menschliche Gebote und Lehren.
23 a[tina, evstin lo,gon me.n e;conta sofi,aj evn evqeloqrhski,a| kai. tapeinofrosu,nh| Îkai.Ð avfeidi,a| sw,matoj( ouvk evn timh/| tini pro.j plhsmonh.n th/j sarko,jÅ Lo,gon e;conta bedeutet “den Ruf haben”, “in
Es ist wahrscheinlich, dass die gegnerische
dem Ruf stehen”.50 Die Einschränkung ist
Position, die sich als Philosophie versteht,
schon zu hören: Diese Gebote und Satzun-
Weisheit für sich beansprucht; auch dies ist
gen stehen zwar in dem Ruf der Weisheit,
eine Begründung für die richtenden Urteile.
tatsächlich kommt ihnen aber keine Weis-
Das me,n (dem allerdings kein de folgt) kann als
heit zu.
Hinweis darauf gelesen werden, dass hier die gegnerische Position aufgenommen ist.
47 48 49
50
evstin eivj hat die Bedeutung „bestimmt sein für“ (vgl. Apg 8,20; 2Petr 2,12). avpo,crhsij ist Hapaxlegomenen im NT und bezeichnet den Verbrauch, fqora, bezeichnet den Untergang, die Vernichtung. Syntaktisch stellt V.22a einen Einschub dar („das ist alles für Verbrauch und Benutzung bestimmt“), der Sache nach aber liegt darin die Begründung für die Position des Verfassers: Weltliches soll man nicht religiös aufladen. Während Mk 7,7 die Wendung dida,skontej didaskali,aj evnta,lmata avqrw,pwn ausdrücklich als Jesajazitat einführt (Jes 29,13 LXX), fehlt hier ein solcher Hinweis. Ob der Verfasser an ein Zitat denkt, ist fraglich (anders DUNN, Epistles, 192-194). Im Hintergrund steht die gemeinsame Überzeugung heidenchristlicher Gemeinden, dass sich Speisegebote und Tabuvorschiften nicht mit dem Glauben an Christus vereinbaren lassen. Damit bezieht sich der Verfasser eher auf das paulinische Erbe (vgl. 1Kor 10,30f. Röm 14,6) als auf Jesaja und dessen Aufnahme in der Jesustradition. Dass die paulinische Argumentation bei seinen Schülern weiter gewirkt hat, zeigt auch 1Tim 4,2-4. J. ROLOFF, Der erste Brief an Timotheus (EKK XV), Neukirchen-Vluyn u.a. 1988, 224, weist darauf hin, dass hinter 1Tim 4,2ff. keine „Befolger jüdischer Reinheitsgebote“ angenommen werden können, da man gerade ihnen keine schöpfungsfeindliche Haltung hätte vorwerfen können. E. LOHSE, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon (KEK IX/2), Göttingen 1968, 184, unter Verweis auf Demosthenes, Orat. 31,11; Ps-Platon, Epinomis 987b.
386
Peter Müller
In evn
evqeloqrhski,a| klingen qe,lwn
und
Die Aufnahme von V.18 spricht dafür, dass
qrhskei,a tw/n avgge,lwn aus V. 18 an. Die
Engelverehrung, Demut und Askese für
Verehrung der Engel wird hier mit dem
die Gegner wichtig waren. Es könnte sein,
eigenen Wollen verknüpft und damit als
dass sie in besonderer Weise auf die Frei-
menschengemacht darstellt. Es handelt
willigkeit der Engelverehrung hinweisen.
sich um Lehren einer selbst gemachten Religion.51 Auch die tapeinofrosu,nh spielt erneut eine
tapeinofrosu,nh ist nach 2,18 ein wichtiges
Rolle. Wenn aber die Verehrung von Men-
Wort der gegnerischen Position, das durch
schen erdacht und gemacht ist, dann er-
die Wiedrholung unterstrichen wird.
weist sich die Demut als überflüssig und absurd. Eine Rolle spielt außerdem die Schonungs-
Die Schonungslosigkeit gegenüber dem
losigkeit gegenüber dem Leib (avfeidi,a|
Leib passt zu den Speisevorschriften und
sw,matoj)52 Sie ist jedoch ebenfalls von men-
dem Begriff der Demut. Es ist deshalb gut
schlicher Art und hat deshalb nur den Ruf
denkbar, dass hier eine eine Position der
von Weisheit.
Gegner anklingt.
Bei ouvk evn timh/| tini pro.j plhsmonh.n th/j
Dass die gegnerische Position diese Wer-
sarko,j handelt es sich um eine Wertung
tung nicht teilt, liegt auf der Hand. Dies
des Verfassers. Während ouvk evn timh/| tini
muss insbesondere für die zweite Aussage
„ohne jeden Wert“
eher eine allgemeine
gelten. Ihrer Auffassung nach dient ihr
Abwertung darstellt, ist „zur Befriedigung
Verhalten nicht zur Befriedigung des Flei-
des Fleisches“ eine zusammenfassende
sches, das sie ja gerade nicht schonen, um
Kritik an der de facto „fleischlichen“
einen höheren Zweck damit zu verfolgen.
Orientierung der Gegner.
V.20 fasst die Beziehung der Glaubenden mit Christus zusammen. V.22f sind schwer zu übersetzen, nicht weil die einzelnen Worte unverständlich wären, sondern weil ihre Zusammenstellung Rätsel aufgibt. Es ist jedoch von dem vorhandenen Text auszugehen.53 Er stellt die Philosophie der Gegner aus der Perspektive des Verfassers dar und bewertet sie zugleich. Kritisch wird zusammengefasst, was ab V.16 vorgetragen wurde. Deshalb liegt hier eine sehr „dichte“ Argumentation vor. Deutlich sind folgende Aussagen: Die do,gmata erheben zwar Anschein von und Anspruch auf Weisheit, dies trifft aber in Wirklichkeit nicht zu; die 51 52 53
BAUER, Wörterbuch, 439. Schonungslosigkeit, Härte, Strenge gegenüber dem Körper (BAUER, Wörterbuch, 250). Allen Änderungsversuchen ist die Bemerkung von LOHSE, Briefe, 183, Anm. 2, entgegenzuhalten: „Doch wenn ein glatt laufender Satz … wirklich der Urtext gewesen wäre, bliebe unverständlich, wie es zu der Fassung in der gesamten handschriftlichen Überlieferung gekommen sein sollte.“
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scheinbare Weisheit zeigt sich in selbstgewählter, freiwillig übernommener Verehrung, in Demut und Schonungslosigkeit gegenüber dem Leib; dies aber dient nur der Befriedigung des eigenen Fleisches. Demut ist angesichts selbstgewählter Vorschriften nicht nur unangebracht, sondern verderblich, weil sie nichtigen Mächten Macht zubilligt und sich anderen aufdrängt. Letztlich will der Verfasser die Widersprüchlichkeit der gegnerischen Position freilegen. Während sie ihre besonderen Leistungen hervorkehrt und anderen Vorschriften aufzuerlegen versuchen, verlässt sie sich gerade nicht auf Christus, von dem allein das Heil zu erwarten ist. Welche Erkenntnisse lassen sich mit einiger Wahrscheinlichkeit über die Gegner gewinnen? • Die Argumentation in V.16-19 zielt darauf, dass die Vertreter der gegnerischen Position nicht an Christus festhalten. V.20 fasst dies im Rückgriff auf V.12 zusammen: An Christus ist deshalb festzuhalten, weil die Adressaten mit Christus von den Elementen der Welt „weggestorben“ sind. Diese Argumentation gewinnt an Plausibilität, wenn die Gegner selbst in irgendeiner Weise einen Christusbezug vertreten. Wäre dies nicht der Fall und würde Christus für die Gegner keine Rolle spielen, würde sie die Argumentation in Kapitel 2 letztlich gar nicht treffen. • Wie genau dieser Christusbezug aussieht, ist schwer zu sagen, aus der Perspektive des Verfassers aber jedenfalls defizitär. Aus V.20 lässt sich möglicherweise die Anerkennung der Taufe als ein Mitgestorbensein mit Christus schließen. Die Taufe hätte dann die Funktion, einen Heilsweg zu initiieren, auf dem aber noch weitere Vorschriften zu berücksichtigen wären. • Diese Vorschriften beinhalten bestimmte Verhaltensregeln, auf jeden Fall Speise- und Festtagsgebote, die aber sehr allgemein sind, außerdem bestimmte kultische oder liturgische Verhaltensweisen (qrhskei,a). • Die erneuten Hinweise auf die (bloß menschliche) Weisheit, die Verehrung (von Engeln), die Demut, auf asketische Vorschriften (avfeidi,a| sw,matoj) und auf Menschensatzungen zeigen den zusammenfassenden Charakter des Schlussverses an. Die Wiederholung vorangehender Äußerungen macht wahrscheinlich, dass der Verfasser hierin die zentralen Punkte der gegnerischen Position erkennt.
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Peter Müller
4. Zusammenfassende Überlegungen Warum schreibt der Verfasser den Brief so, wie er ihn schreibt? Welche Argumente sind ihm besonders wichtig für die Auseinandersetzung mit den Gegnern? Warum meint er die Adressaten vor den Aktivitäten von Gegnern warnen zu müssen und warum tut er es auf diese spezifische Weise? Die perspektivische Lektüre von 2,6-23 macht in erster Linie die Aussageabsicht des Verfassers und sein Verständnis der Gegner deutlich. Gleichwohl lassen sich aus seiner Argumentation mit der nötigen Vorsicht einige Rückschlüsse auf die Gegner ziehen.
4.1. Die Position der Gegner lässt sich aus den Angaben des Briefes nicht vollständig erheben. Dazu sind die Angaben zu fragmentarisch und zu wertend. Die Einzelbemerkungen und die Argumentation insgesamt lassen aber Teilaspekte der gegnerischen Auffassung erkennen. Aus der Perspektive der Gegner sind wahrscheinlich folgende Aussagen zustimmungsfähig: • Sie sprechen von Philosophie und nehmen Weisheit für sich in Anspruch. • Sie berufen sich auf Traditionen. • Die Elemente der Welt spielen für sie eine wichtige Rolle. • Sie vertreten eine (wie auch immer geartete) Verehrung von Engeln. • Außerdem hat das „Eintreten und genaue Erforschen“ eine Bedeutung (wenn auch keineswegs klar ist, welche). • „Demut“ ist wichtig; sie bezieht sich auf übergeordnete Größen. • Die Demut diesen Größen gegenüber ermöglicht Kritik und Beurteilung anderer. • Das Halten von Feiertagen und die Beachtung von (nicht näher bestimmbaren) Speise- oder (Tabu-) Vorschriften sind keine Adiaphora, sondern notwendig. • Vermutlich stehen diese Vorschriften in einem Zusammenhang mit den Weltelementen und den Engeln. In ihrer Gesamtheit verweisen diese Aussagen auf theoretische Inhalte, kultische oder liturgische Vorgänge und Verhaltensvorschriften. Diese Aspekte hängen zusammen: Die Speisevorschriften (V.21.23b), die freiwillige Verehrung (evqeloqrhskei,a) und die Demut (V.23b) werden mit Vorschriften und Lehren der Menschen begründet (V.22b) und als Weisheit (V.23a) verstanden. Gleiches lässt sich in V.16-19 erkennen:
Gegner im Kolosserbrief
389
Vorschriften im Blick auf Essen, Trinken und Festtage (V.16) und bestimmte kultisch-liturgische Vorgänge (qrhskei,a tw/n avgge,lwn V.18) führen zu einer Position des Richtens und Verurteilens (V.16a.18a). In V.8 ist vor allem der theoretische Hintergrund der gegnerischen Auffassung angesprochen (Philosophie, Überlieferung, Weltelemente). Für den Verfasser wird die gegnerische Haltung aber am deutlichsten greifbar in den Verhaltensvorschriften einer religiös-rituellen Praxis, die sie den Adressaten als unaufgebbar darstellen. Dafür spricht besonders dogmati,zein V.20, das – anders als mh, tij u`ma/j e;stai o` sulagwgw/n V.8, mh. ou=n tij u`ma/j krine,tw V.16, mhdei.j u`ma/j katabrabeue,tw V.18 – nicht den gegnerischen „Jemand“ anspricht, sondern die Adressaten direkt: Sie sollen sich keine Vorschriften im Denken und Verhalten auferlegen lassen.
4.2. 2,9-15 liefern für eine Rekonstruktion der gegnerischen Position keinen wirklichen Anhaltspunkt. Die Verse greifen auf 1,15-20 zurück und konzentrieren sich auf die Beziehung zwischen Christus und den Adressaten. Die Bilder von der nicht mit Händen gemachten Beschneidung (V.11) und vom Mitgestorbensein mit Christus (V.12) beschreiben positiv den Glaubensstand der Adressaten und dienen als Begründung für die folgende Kritik, stellen selbst aber keine Kritik dar, zumindest keine klar erkennbare. V.11 ist nicht notwendigerweise als Gegensatz zu einer tatsächlich geforderten Beschneidung zu verstehen. Ein von V.16 her denkbarer jüdischer Hintergrund der gegnerischen Position lässt sich deshalb von V.11 her nicht mit Bestimmtheit stützen. Die These eines jüdischen Hintergrunds kann sich auf die Sabbate V.16 beziehen, bleibt aber trotz einiger Belegstellen aus dem AT und jüdischer Literatur eher blass; die Zusammenstellung mit Festtagen und Neumonden ist auch in einem Zusammenhang denkbar, in dem der jüdischen Feiertag in einem allgemeinen Sinn bekannt ist. Im Rahmen der Argumentation des Verfassers ist die These jedenfalls keineswegs so gesichert, wie die Anhäufung von Zitaten in manchen Kommentaren es vermuten lässt.
4.3. Häufig wird in der Literatur darauf verwiesen, dass Kol 2,6-23 zurückhaltend formuliert sei, vor allem im Vergleich mit polemischen Passa-
390
Peter Müller
gen aus den Paulusbriefen.54 Dieses Argument trifft jedoch nicht zu, wenn Kol (wie hier vorausgesetzt ist) nicht von Paulus verfasst wurde. Seit dem Beginn der Echtheitsdebatte verweist man immer wieder mit Recht auf die gegenüber Paulus veränderte Sprache und Satzfügung des Briefes. Dies ist auch bei der in Kapitel 2 geäußerten Kritik zu berücksichtigen, die den „kolossischen Stil“ durchaus erkennen lässt. Im Übrigen ist der Abschnitt so ganz freundlich und zurückhaltend nicht, vor allem nicht gegen Ende. Vielmehr lässt sich in Kapitel 2 eine Steigerung in der Auseinandersetzung erkennen: • 2,4: eine allgemeine Warnung vor der piqanologi,a • 2,8: eine grundsätzliche Warnung vor Philosophie und leerer Täuschung, die sich an menschlichen Überlieferung und den Elementen orientiert, aber nicht an Christus • 2,16-19: Konkretisierung im Blick auf bestimmte Erscheinungsformen der gegnerischen Position, verbunden mit polemischer Kritik und grundsätzlicher christologischer Begründung • 2,20-23: Erneute Konkretisierung und wiederholte Abwertung bestimmter Forderungen, am Ende verbunden mit polemischer Kritik.
54
So z.B. M. HOOKER, Were there false techers in Colossae? in: B. LINDARS (Hg.), Christ and Spirit in the New Tesament, FS C.F.D. Moule, Cambridge 1973, 315-331: 316.
Gegner im Kolosserbrief
391
In V.20-23 werden praktisch alle Punkte, die der Verfasser an der gegnerischen Position auszusetzen hat, erneut aufgegriffen, verdichtet und ironisch zugespitzt. 8 ble,pete mh, tij u`ma/j e;stai o` sulagwgw/n dia. th/j filosofi,aj kai. kenh/j avpa,thj kata. th.n para,dosin tw/n avnqrw,pwn( kata. ta. stoicei/a tou/ ko,smou kai. ouv kata. Cristo,n\ 9 o[ti evn auvtw/| katoikei/ … 15 evn auvtw/|Å 16 Mh. ou=n tij u`ma/j krine,tw evn brw,sei kai. evn po,sei h' evn me,rei e`orth/j h' neomhni,aj h' sabba,twn\ 17 a[ evstin skia. tw/n mello,ntwn( to. de. sw/ma tou/ Cristou/Å 18 mhdei.j u`ma/j katabrabeue,tw qe,lwn evn tapeinofrosu,nh| kai. qrhskei,a| tw/n avgge,lwn( a] e`o,raken evmbateu,wn( eivkh/| fusiou,menoj u`po. tou/ noo.j th/j sarko.j auvtou/( 19 kai. ouv kratw/n th.n kefalh,n( evx ou- pa/n to. sw/ma dia. tw/n a`fw/n kai. sunde,smwn evpicorhgou,menon kai. sumbibazo,menon au;xei th.n au;xhsin tou/ qeou/Å 20 Eiv avpeqa,nete su.n Cristw/| avpo. tw/n stoicei,wn tou/ ko,smou( ti, w`j zw/ntej evn ko,smw| dogmati,zesqeÈ 21 Mh. a[yh| mhde. geu,sh| mhde. qi,gh|j( 22 a[ evstin pa,nta eivj fqora.n th/| avpocrh,sei( kata. ta. evnta,lmata kai. didaskali,aj tw/n avnqrw,pwn( 23 a[tina, evstin lo,gon me.n e;conta sofi,aj evn evqeloqrhski,a| kai. tapeinofrosu,nh| Îkai.Ð avfeidi,a| sw,matoj( ouvk evn timh/| tini pro.j plhsmonh.n th/j sarko,jÅ Die beiden einzigen Wendungen, die in V.20-23 neu hinzukommen, sind der Einschub V. 22a a[ evstin pa,nta eivj fqora.n th/| avpocrh,sei und die polemische Schlusswendung am Ende von V.23 ouvk evn timh/| tini pro.j plhsmonh.n th/j sarko,j. Der Vorwurf der Befriedigung des Fleisches an die Adresse derer, die sich der Schonungslosigkeit gegenüber dem Leib rühmen, schließt die ganze Auseinandersetzung mit einer polemischen Spitze ab.
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4.4. Insgesamt wendet sich der Abschnitt mahnend und warnend an die Adressaten, nicht direkt an die Gegner (auch wenn „Jemand“ an einigen Stellen als grammatisches Subjekt fungiert). Offenbar sieht der Verfasser die Adressaten in der Gefahr, sich zusätzlich zu ihrem Glauben an Christus menschengemachte Satzungen und Vorschriften auferlegen zu lassen. Die Adressaten werden auf ihre Kommunikation mit nicht ausdrücklich bezeichneten Gegnern angesprochen. Die Auseinandersetzung mit den Gegnern ist deshalb zweifach gebrochen: Die erste Brechung liegt darin, dass die gegnerische Position in der Wahrnehmung und Beurteilung des Verfassers zu Tage tritt, die zweite darin, dass der Brief die Adressaten auf ihre Kommunikation dem gegnerischen „Jemand“ anspricht und sie seinerseits zu beeinflussen versucht. Sein Interesse liegt bei den Adressaten, die er in der Gefahr sieht, dass sie ihren Glauben an Christus von vereinnahmenden Vorschriften beeinträchtigen lassen. Aus diesem Grund sind die Gegner und ihre Vorstellungen als indirekte Adressaten im Brief gegenwärtig. Der Verfasser kann nur erwarten, dass sich die direkten Adressaten von seiner Warnung überzeugen lassen, wenn seine Kritik aus ihrer Sicht die Position der indirekten Adressaten auch tatsächlich trifft.
4.5. Die Deutlichkeit der Kritik, die der Verfasser an dieser vereinnahmenden Position übt, macht konkrete Versuche aus ihrer Richtung wahrscheinlich. An die Frage von Morna Hooker „Were there false teachers in Colossae?“ haben sich verschiedene Versuche angeschlossen, die Kritik des Kol aus der allgemeinen Situation der kolossischen Christen in einem paganen Umfeld zu erklären. Besonders interessant ist das Bild, das I. Maisch55 mit Hilfe von bekehrungstheoretischen Überlegungen von der Situation in Kolossä zeichnet. Die Adressaten haben sich ihrer Auffassung nach zu Gott und Christus bekehrt, manche von ihnen aber den Bruch mit ihrer religiösen Vergangenheit noch nicht wirklich vollzogen. Sie hängen noch an bestimmten religiös-paganen Praktiken aus ihrem Leben vor der Konversion, und zwar um so mehr, als damit existenziell wichtige Fagen verbunden sind (Unterwerfung unter das Schicksal oder die Sehnsucht nach der Nähe Gottes). Dem entspreche der insgesamt freundlich-belehrende Ton in Kol 2, der die 55
MAISCH, Brief, 32-40.
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Adressaten auf die Seite des Verfassers ziehen wolle. Diese Überlegungen sind hilfreich im Blick auf die ersten Adressaten des Briefes; sie können erklären, warum diese in der Gefahr der Vereinnahmung durch Satzungen und Vorschriften stehen. Die z.T. polemische Kritik ab 2,16 erklären sie jedoch noch nicht. Darüber hinaus versteht der Verfasser die gegnerische Position nicht lediglich im Sinne religiös-paganer Praktiken, sondern verbindet sie mit einem theoretischen Hintergrund (Weltelemente, Philosophie). Schließlich ist zu fragen, warum das EinstJetzt-Schema, das in 1,21f. auf die Adressaten angewandt wird und in 2,13 anklingt, in der der Konkretisierung ab 2,16 nicht deutlicher aufgegriffen wird, obwohl es dann gerade hier als Argument gut geeignet wäre.
4.6. Der Verfasser stellt den Adressaten die Bedeutung Christi mit verschiedenen Akzenten vor Augen: In 1,15-20 auf Christus selbst, in 2,9-15 auf die Beziehung zwischen Christus und den Glaubenden und in 2,16-23 in kritischer Wendung auf die Gegner bezogen. Die Konsequenz aus allen drei Abschnitten lautet: In Christus ist alles für das Heil Notwendige geschehen; wer das Heil durch weitere Maßnahmen zu sichern versucht, stellt damit faktisch das Heil in Christus in Frage. Diese Argumentationsreihe ist nur dann plausibel, wenn die Gegner selbst einen Christusbezug haben. Sie zielt nicht auf eine prinzipielle Bestreitung der Bedeutung Christi. Nirgends wird erkennbar, dass Speisevorschriften und Festtagsgebote, dass Traditionen sowie die Forderung nach Demut und Engelverehrung Christus ersetzen sollen. Vielmehr legt die Argumentation des Verfassers nahe, dass die Gegner ihre Satzungen und Vorschriften dem Christusglauben hinzufügen wollen. Nach der Auffassung des Kol haben die Gegner durchaus einen Christusbezug, den sie aber durch verschiedene Maßnahmen und Vorschriften ergänzen und damit vermutlich abzusichern versuchen. Damit lassen sich zumindest all diejenigen Identifikationsversuche ausschließen, die von nichtchristlichen Gegnern außerhalb der Gemeinde ausgehen. Eine Detailanalyse ist mit diesen Überlegungen – wie gesagt – nicht intendiert. Sie muss sich ebenso anschließen wie der Versuch, die fragmentarischen Äußerungen des Briefes mit bekannten zeitgenössischen Strömungen (wiederum mit der nötigen Vorsicht) in Beziehung zu setzen. Dass beispielsweise die Frage nach der Bedeutung von Engeln zeitgenössisch eine Rolle spielte, zeigt die Kritik an den „Gottlosen und Unverständigen“ in Jud 6ff. Sie fühlten sich über die himmlischen
394
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Mächte erhaben und zweifelten damit – aus der Perspektive des Jud – die Ordnung Gottes an. Die jeweils kritisierten Auffassungen in Kol und Jud zeigen, wie unterschiedlich die Vorstellungen im Blick auf die Engelverehrung sein konnten. Es liegt jedoch auf der Hand, dass eine Verortung des Kol in den Entwicklungslinien des frühen Christentums nur gelingen kann, wenn zunächst die Perspektive des Verfassers herausgearbeitet wird und mit ihrer Hilfe größere Klarheit über die im Brief kritisierte Position gewonnen werden kann.
395
Imitatio Dei: Eph 5,1–2 Gerhard Sellin Der Epheserbrief hat einen besonderen Aufbau. Er besteht neben dem Präskript und dem Briefschluss aus zwei Blöcken, die jeweils sieben unterschiedlich lange Kapitel enthalten. Der erste Block bildet den „epideiktischen Teil“, der zweite den „paränetischen Teil“. Darauf folgt dann noch eine Peroratio. 1,1–2 Präskript 1,3–14 Eulogie 1,15–23 Gebetsbericht 2,1–10 2,11–22 3,1–13 3,14–19 Gebetsbericht 3,20–21 Doxologie
epideiktischer Teil
4,1–16 4,17–24 4,25–32 5,1–2 5,3–14 5,15–20 5,21–6,9
paränetischer Teil
6,10–20
Peroratio
6,21–24 Briefschluss Die beiden Teile (1,3–3,21: epideiktischer Teil; 4,1–6,9: paränetischer Teil) bestehen jeweils aus sieben Perikopen, wobei in beiden Blöcken in
396
Gerhard Sellin
der Mitte eine zentrale Perikope dominiert. Das ist im epideiktischen Teil der Abschnitt 2,11–22 (mit 24 Zeilen). Das extreme Gegenteil ist die mittlere Perikope aus dem paränetischen Teil (5,1–2), die eine zentrale Bedeutung für den ganzen paränetischen Teil hat, wenn auch nicht im quantitativen Sinne. Man könnte nun allerdings sagen, dass 5,1–2 willkürlich abgetrennt wurde, nur um die 7-Zahl der Abschnitte zu erfüllen. Die meisten Kommentatoren ordnen 5,1–2 noch zu 4,25–31.1 Heinrich Schlier jedoch hebt zu Recht 5,1–2 als einen Solitär und besonderen Höhepunkt des ganzen Briefes hervor: „Gerade dieser Gedanke [nämlich: ,ein Auswirkenlassen der Erfahrung der vergebenden und so in das Leben in und mit Christus ziehenden Gnade‘] treibt den Apostel aber noch weiter in eine umfassende und alle anderen Einzelmahnungen erst erhellende und unterstreichende Aufforderung und in eine ihren letzten und eigentlichen Grund aufweisende Motivation.“2 Der Aufruf, „Gottes ,Nachahmer zu sein‘, ergeht an die Christen als solche, die te,kna avgaphta, sind. Die ,Nachahmung‘ Gottes ist seinen ‚geliebten Kindern‘ möglich und wird von ihnen erwartet“. So kommt Schlier bezüglich 5,1–2 zu einer Aussage, die im ganzen paränetischen Teil (4,1–6,9) – ja im ganzen Brief – zentrale Bedeutung hat. „Aus der allgemeinen Geschichte des Wortes mimhth,j( mi,mhsij( mimei/sqai und der Vorstellung von der ‚Nachahmung Gottes‘, die bei Platon, in der Stoa, bei Philon u.a. natürlich recht verschiedenen Sinn hat, ist jedenfalls zu entnehmen, dass sie dem Apostel einen sehr geeigneten Begriff an die Hand gab, um das Verhältnis des Christen zu Gott zu verdeutlichen. Dieses Verhältnis ist … nicht als ‚Nachahmen’ = ‚Imitieren’, sondern als ‚Nachahmen’ = ‚Entsprechen’ zu sehen.“ „Die Imitatio Dei im paulinischen Sinn ist Nachvollzug des uns auf sich verweisenden Opfers Christi.“3
1. Der Epheserbrief ist maßgeblich abhängig vom Kolosserbrief, der als ältestes Dokument der Paulus-‚Schule’ zu gelten hat. Dieser ist wohl noch vor 70 n.Chr. verfasst worden. Allerdings ist er – im krassen Unterschied zum Epheserbrief – derart konkret und situationsbezogen, 1
2 3
E. HAUPT, KEK VIII, Göttingen 1902: 4,31–5,2; H. CONZELMANN, NTD 8, Göttingen 1965, 114f: 5,1–21; H. HÜBNER, HNT 12, Tübingen 1997: 4,17–5,2; P. POKORNÝ, ThHK 10/II, Berlin 1992: 4,25–5,2; F. MUßNER, ÖTK 10, Gütersloh/Würzburg 1982: 5,1–20; U. LUZ, NTD 8/1 (1998): 4,32–5,6; A.T. LINCOLN, WBC 42, Waco (TX) 1990: 4,25–5,2; J. GNILKA, HThK X/2, Freiburg u.a. 31980: 5,1–7. H. SCHLIER , Der Brief an die Epheser. Ein Kommentar, Düsseldorf (1957) 71971, 230. SCHLIER, Epheser, 232.
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dass man ihn immer wieder als genuines Paulusschreiben bzw. als Produkt eines ‚Sekretärs’ zu Lebzeiten des Paulus angesehen hat. Sein pseudoepigraphischer Charakter ist jedoch durch wenigstens fünf Merkmale erweisbar: (1) Das paulinische Motiv vom ‚Leib Christi’ ist erweitert durch das Motiv von Christus als ‚Haupt’ des Leibes. Diese Metaphorik, die ihren Ursprung in der alexandrinischen Logostheologie hat,4 verwendet Paulus nicht. (2) Das räumliche plh,rwma-Konzept, das vorneutestamentlich allerdings nur in der verbalen Form (mit plhrou/n) zum Ausdruck kommt,5 ebenfalls aus philonischem Kontext herleitbar,6 erscheint bei Paulus nur in zeitlicher Konzeption (Gal 4,4: plh,rwma tou/ cro,nou). (3) Der Stil des Kol weicht von dem der paulinischen Homologumena stark ab,7 wenngleich der Eph hierin aber den Kol noch einmal übertrifft.8 (4) Kol 1,24 setzt den Tod des Paulus voraus. Die Aussage, dass die „Bedrängnisse“ (der Gefangenschaft) „für euch“ erfolgen, ist freilich noch nicht ausreichend beweiskräftig, obwohl hier christologische Terminologie gebraucht wird, die Paulus in den Homologumena in dieser Eindeutigkeit nicht auf sich anwendet. Aber die viel umrätselte Formulierung, „aufzufüllen, was an den Bedrängnissen Christi noch fehlt“ (avntanaplhrou/n ta. u`sterh,mata tw/n qli,yewn tou/ Cristou/) kann nur bedeuten, dass dem (in der Fiktion inhaftierten) Apostel im Vergleich zum Leidensweg Christi nur noch das Sterben fehlt.9 (5) Es gibt dann noch Einzelheiten, die diese vier Hauptargumente verstärken: das Fehlen der Anrede avdelfoi,, sowie das Erscheinen neuer Gattungen wie der Haustafel (3,18–4,1) und des Revelationsschemas (1,24–29). – Alles das lässt nur den Schluss zu, dass hier ein Paulusschüler am Werk war. 4 5
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Philon, Som. 1,128; QEx. 2,117. In 1Kor 11,2 setzt er sie allerdings indirekt voraus. Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund des paulinischen Leib – Christi - Modells einerseits und des deuteropaulinischen Haupt – Leib - Modells s. G. SELLIN , Die religionsgeschichtlichen Hintergründe der paulinischen „Christusmystik“, ThQ 176 (1996), 7–27, hier: 19–24. Dazu J. ERNST, Pleroma und Pleroma Christi (BU 5), Regensburg 1970, 11. SELLIN, Christusmystik (s. Anm.5), 21f mit Anm. 92 und 100. W. BUJARD, Stilanalytische Untersuchungen zum Kolosserbrief als Beitrag zur Methodik von Sprachvergleichen (StUNT 11), Göttingen 1973; M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh/Würzburg 1993, 29f. Dass diese klare und einfache Interpretation lange übersehen wurde, liegt an einer Missinterpretation des Bikompositums avntanaplhrou/n (z.B. bei W. BAUER, Griechischdeutsches Wörterbuch zum Neuen Testament, neu bearbeitet von K. und B. ALAND, Berlin/New York 61988, s.v.: „stellvertretend ausfüllen“). Die Bedeutungsdifferenz zum einfachen Kompositum avnaplhrou/n („auffüllen“) ist gering. Die Vorsilbe avntfügt nur die Bedeutungskomponente des Vergleichs bzw. Ausgleichs hinzu (Epikur, Epist. ad Herodot. 48,4: avntanaplh,rwsij „Ausgleich“; weitere Belege: Demosthenes, Or. 14,17 [„ausgleichen“]; Clemens Alex., Strom. 7,12,77,4; Apollonius Dysc. Gramm., De constructione 2,2,1 u.ö; Cassius Dio, Hist.Rom. 44,48,3; mathematisch: Claudius Ptolemaeus Math., Harmonica 1,11,50).
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2. Der Verfasser des Epheserbriefes, der den Kolosserbrief bereits als Quelle verwendet und nicht vor dem Jahre 70 schreibt,10 vermeidet auffällig jede konkrete Situationsangabe. Während der Kolosserbrief zwölf Namen nennt (von denen der Verfasser allein sieben dem Philemonbrief entnimmt), lässt der Verfasser des Epheserbriefes nur die Tychikusnotiz stehen, weitgehend wörtlich, doch unter Auslassung der Erwähnung des Onesimus. Dazu passt, dass im Eph der Apostel als alleiniger Absender erscheint, was bei Paulus sonst nur im Römerbrief der Fall ist. Der in der Vorlage, dem Präskript des Kol, als Mitabsender genannte Timotheus ist gestrichen. Merkwürdig allgemein und unpersönlich formuliert ist aber auch der Gnadenwunsch am Schluss (6,24). Insgesamt enthält der Epheserbrief keine Polemik, ja keine aggressive Argumentation. Und: Er enthält keine Ortsangabe in der Adresse.11 In den zuverlässigen Handschriften (p46, Sinaiticus und Vaticanus – letztere beide in der unkorrigierten Urfassung) fehlt die Ortsangabe evn vEfe,sw|. Markion bezeugt (laut Tertullian und Epiphanius) etwa um 150 n.Chr. ebenfalls das Fehlen einer Ortsangabe, denn er nennt als Titulus (nach der lateinischen Wiedergabe bei Tertullian) „ad Laodicenses“. Auch Origenes hat die Ortsangabe nicht gelesen. Das schwierige syntaktische Problem, das die Adresse toi/j a`gi,oij toi/j ou=sin kai. pistoi/j evn Cristw/| vIhsou/ dann aufwirft, löst sich meiner Meinung nach nur, wenn man sie erstens mit der Adresse des Kolosserbriefes vergleicht, zweitens pisto.j ei=nai evn Cristw|/ vIhsou/ („gläubig sein an Jesus Christus“) als Syntagma vorliegen sieht und drittens das kai, als ein explikatives kai, versteht. Der Sinn ist dann: „an die Heiligen, das sind die an Christus Jesus Glaubenden“. Das bedeutet eine universale Ausweitung des Prädikats a[gioj, was der universalistischen Tendenz des Epheserbriefes gut entsprechen würde. Die Konsequenz dieser Interpretation ist dann: Der Epheserbrief ist ein „katholischer“ (das heißt: an alle Christen gerichteter) Brief, der von einem unbekannten Verfasser stammt, der sein Schreiben als einen Brief des Apostels Paulus ausgibt. Dass diesem Brief später der Titel PROS EFESIOUS gegeben wurde, zeigt aber wohl, dass er im Wesentlichen in der Asia rezipiert wurde.
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H. HÜBNER, An Philemon; An die Kolosser; An die Epheser (HNT 12), Tübingen 1997, 272, bezeichnet den Verfasser entsprechend als „Tritopaulus“. Zum folgenden vgl. G. SELLIN, Adresse und Intention des Epheserbriefes, in: M. TROWITZSCH (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 171– 186.
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3. Unter den sieben Perikopen im paränetischen Teil des Epheserbriefes (s.o. S.1) befindet sich genau in der Mittelachse ein kleiner Abschnitt, der innerhalb der Texteinheiten kaum unterzubringen ist. Es handelt sich um 5,1–2. Die meisten Kommentatoren ordnen den kleinen Abschnitt noch zur Einheit 4,25–31, oder sie verbinden die beiden Verse mit 5,3–14. Beide Verbindungen passen aber nicht recht, weder zum vorherigen noch zum folgenden Text. Der Text der Perikope 5,1–2: (1) Werdet also Nachahmer Gottes als geliebte Kinder. (2) Und wandelt in Liebe, wie auch Christus euch geliebt und sich für uns hingegeben hat als Gabe und Opfer für Gott zum angenehmen Wohlgeruch.
„5,1–2 werden die ehemaligen Heiden und jetzigen Heiligen und Gläubigen daraufhin angesprochen, Gott nachzuahmen, und zwar so, dass sie ihr Leben in der Liebe vollziehen“.12 Als „geliebte Kinder“ sollen sie Gott nachahmen – so, wie es kleine Kinder oder Säuglinge tun, die im Spiel die Gesten der Eltern nachahmen und auf diese Weise lernen (5,1). Gott „nachahmen“ – das ist eine wundervolle Metapher. Diese kurze Perikope stellt eine Art Scharnier dar, insofern sie einerseits die vorhergehenden ethischen Mahnungen von 4,25–32 impliziert, sowie andererseits auf die ethischen Mahnungen des weiteren Kontextes 5,3–14 hinweist. Bemerkenswert ist im ganzen paränetischen Teil das ou=n paräneticum (4,1.17; 5,1.7.15; 6,14) als Gliederungsmerkmal. Ebenso ist die Tatsache auffällig, dass der Begriff mimhth,j nur hier im Epheserbrief im Singular und auf Gott bezogen verwendet wird. Alle übrigen neutestamentlichen mimhth,j- bzw. mimei/sqai-Stellen beziehen sich auf Paulus oder den ku,rioj oder weitere Personen. Der Begriff mimhth,j („Nachahmer“) setzt ein Muster oder Vorbild voraus: den tu,poj (wörtlich: den Prägestock, der einen Abdruck erzeugt – Phil 3,17; 1Thess 1,7; 2Thess 3,9). Dabei zeigen die beiden indikativischen Stellen in 1Thess 1,6f; 2,14, dass mimhth,j nicht einfach als Imitator verstanden werden kann. Das Schema ist ursprünglich kein ethisches, sondern ein ontologisches. Der Mimetes ist ein vom Typos (Urbild, Vorbild) Geprägter, der nicht erst sein Vorbild zu kopieren anstrebt, sondern eine
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„Die Nachahmung Gottes geschieht in der Nachahmung Christi“ (SCHLIER, Epheser, 231f).
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Wesensidentität darstellt, weil er von seinem Urbild „geprägt“ ist.13 Bei Philon von Alexandria findet sich die sachlich auf Platons Ideenlehre zurückgehende Vorstellung von „Urbild“ und „Abbild“, von „Muster“ (Stempel) und „Abdruck“. In der antiken klassischen griechischen Kultur bedeutet Mimesis aber keineswegs nur Nachahmung, sondern überhaupt Darstellung (entsprechend übersetzte Schleiermacher mi,mhsij konsequent mit „Darstellung“). Der narratologische Mimesis-Begriff entstammt dem dramatischen (Platon, rep. 394b–c), und dieser wiederum dem kultischen: die körperliche Präsentation einer Gottheit durch einen Menschen (z.B. mittels einer Maske oder im rituellen Tanz).14 J.H. Petersen15 unterscheidet Aristoteles von Platon darin, dass er den Mimesis-Begriff wirkungsästhetisch als Fiktionalität begreift. Damit kommt Aristoteles auf seine Weise auch dem Mythosbegriff nahe, insofern der Mythos nicht Realität abbildet, sondern sie erst in Kategorien der Möglichkeit begründet. Auch die philonische Konzeption der mi,mhsij qeou/ schließt ja das Imitieren Gottes eigentlich aus, denn „Gott“ ist im Sinne negativer Theologie kein vorfindlicher Gegenstand oder eine äußerlich beschreibbare konkrete Person, die imitiert werden kann. Hier kommt die Metaphorik, die tropische Rede, über die wiederum Aristoteles als einer der Ersten nachgedacht hat, ins Spiel. Dabei geht es um die Wahrheit der Fiktionalität der „Darstellung“. Wenden wir uns nun von der Literaturwissenschaft noch einmal zurück zur Philosophie: Wenn der Verfasser des Epheserbriefes – erstmals und einmalig im Neuen Testament – die Mimesis auf Gott bezieht, dann ist er den platonisch-philonischen Wurzeln des Schemas wieder näher, als Paulus es war. Bei Platon findet sich die ethische Maxime der Imitatio Dei terminologisch durch mimei/sqai qeo,n (Phaidr. 252d; 253b; rep. 388c; Tim. 47c; leg. 796c; 806b), o`moi,wsij qew/|, o`moiou/sqai qew/|, e[pesqai qew/| oder avkolouqei/n qew|/ zum Ausdruck gebracht. Der Grund für die Vorbildfunktion der Götter bzw. des Gottes wird in Tim. 29d–e mythisch formuliert: „Sagen wir also, aus welchem Grund der Schöpfer (o` sunista/j) das Werden und dieses Weltall schuf (sune,sthsen): Er war gut (avgaqo.j h=n). Einem Guten aber entsteht niemals Neid. Davon gänzlich frei, wollte er, dass alles ihm möglichst ähnlich werde.“16 Auf diese in 13 14 15 16
Die Prägung führt dazu, dass die „Nachahmung Gottes“ in der „Nachahmung Christi“ geschieht, und zwar in dem Wandel der Liebe. M. ELIADE, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, 1984, 78, versteht die religiösen Akte, wie z.B. die Instandsetzung der Boote, als eine imitatio Dei, eine Nachahmung des Tuns der Götter. J.H. PETERSEN, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik (UTB 8191), München 2000. Auch hier herrscht letztlich das Prinzip der Imitatio Dei.
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ihrer theologischen Wirkungsgeschichte kaum zu überschätzende Stelle greift Philon häufig zurück und begründet so Gottes Wesen als Güte (avgaqo,thj) und Gnade (ca,rij). Da der Mensch mit der ganzen Schöpfung Produkt und Empfänger dieser schöpferischen Güte ist, soll er selber für sein Handeln Gott zum Vorbild nehmen. Aus diesem platonischen Motivkomplex leitet sich ein wesentlicher Aspekt der hellenistischen und hellenistisch-jüdischen Wohltätigkeits-Ethik (euvergesi,a) her. Nun ist allerdings in Eph 5,1–2 nicht von der avgaqo,thj, der Güte Gottes, die Rede, sondern von der Liebe (avga,ph). Die Nachahmung Gottes besteht im „Wandel in Liebe“. Das hat alttestamentliche Wurzeln: Mit avgapa/n/avga,ph/avga,phsij werden in der LXX ca. 180mal bha / hbha wiedergegeben. bha aber wird für Zuneigung, familiäre und auch sexuelle Liebe gebraucht. Gottes Liebe zu Israel (und Israels Liebe zu Gott) wird in dieser Sprache ausgedrückt. Die Transformation der Rede von Gottes „Güte“ (avgaqo,thj) zur Rede von seiner „Liebe“ ist der Übergang in eine andere Dimension. Der Schritt in die anthropomorphe Rede von Gott – scheinbar ein Rückschritt hinter die theologische Aufklärung – bedeutet eine Erweiterung und Differenzierung der Sprache von Gott, zumal hier die menschliche Existenz konkret involviert wird. Was auf den ersten Blick als Projektion erscheint (ein Bildnis Gottes nach unserem Bilde), erweist sich als Sprachgewinn und Dimensionserweiterung, freilich unter der Bedingung, dass diejenigen, die heute diese Sprache wahrnehmen, sich des metaphorischen Modus ihres Sprechens bewusst sind. Sonst wird die menschliche Rede von Gott zur Idolisierung, zum Götzenkult. Denn die Rede von der Mimesis Gottes bzw. Christi ist ja auch mythischen Ursprungs. Ihr Ursprung liegt im Kult, der die mythischen avrcai, mimetisch wiederholt und so bestimmte auf Götter zurückgeführte Urhandlungen repräsentiert (in mimetischer Darstellung und in der Erzählung, dem Mythos).17 Im Epheserbrief geht es nun aber um das den allgemein-religionsgeschichtlichen Ursprüngen nach näherstehende Schema der Imitatio Dei, das über Platon und Philon in den Epheserbrief gelangt ist. Der platonische mythisch postulierte Gott gilt als vollkommen und ist deshalb Quelle der kreativen Potenz. Wenn diese Potenz jedoch als Liebe bezeichnet wird, ergeben sich neue Konnotationen für das Gottesbild: Liebe ist eine Stärke, die so stark ist, dass sie sich selbst aufs Spiel setzen kann. Die Imitatio Gottes bedeutet deshalb ein mutiges Wagnis. So begründet die Liebe Gottes zunächst (als ethische Konsequenz) die
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Die Mythen sind in der Regel sehr konstant überliefert und werden oft wörtlich vorgetragen.
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euvergesi,a18, die Wohltätigkeit (Großmut, Gnade usw.). Dabei bleibt der Verfasser des Epheserbriefes aber nicht stehen. Zur Präzisierung seiner Theologie beruft er sich auf das „Modell Christi“ (5,2). Und damit schlägt das Paradigma um: zur Stärke, die sich selbst „dahingibt“ und die Schwäche wagt. Durch den kaqw.j kai, Satz wird Christus als Modell für eine solche Imitatio Dei eingeführt. Der Abschnitt 5,1–2 enthält also ein doppeltes, verschachteltes Mimesis-Schema: Was Imitatio Dei (Mimesis Gottes) heißt, wird mit Hilfe des Weges Christi erklärt. Ja die Mimesis Gottes wird in der Mimesis Christi vollzogen. Es ist nicht die „Nachfolge“ Christi (wie in den synoptischen Evangelien), sondern die mystische Christusbeziehung („In-Christus-Sein“), die „Nachahmung Christi“, welche die Imitatio Dei ermöglicht.19 Wenn wir – wie oben erwähnt – den philonischen Begriff avgaqo,thj durch avga,ph ersetzen, dann sind wir wieder beim Epheserbrief. Eph 1,4 spricht von der vorkosmischen Erwählung „in Liebe“. Die Überordnung der Erwählung über die Weltschöpfung ist an sich ein frühjüdisches Motiv (AssMos 1,12: „Er hat … die Welt um seines Volkes willen geschaffen“). Eine Vorstufe zu Eph 1,4 könnte JosAs 8,9 sein: tw/| law/| sou o]n evxele,xw pri.n gene,sqai ta. pa,nta.20 Das Erwählungsmotiv aus dem Alten Testament bringt über LXX mit sich das Wort avgapa,w (die wichtigsten Stellen: Dtn 7,6–8; Hos 3,1; 11,1.4; Zeph 3,17). Die kosmische Dimension der avga,ph wird jedoch erst im Neuen Testament ausgesagt (neben Eph 1,4; 2,4; 3,17.19; 5,1f vor allem Joh 3,16) – vorbereitet durch die jüdisch-alexandrinische Onto-Theologie, wie wir sie bei Philon im Anschluss an Platon gefunden haben – wobei aber nun der platonischphilonische Begriff avgaqo,thj durch das in der Erwählungstradition (in der Sprachgestalt der LXX) beheimatete avga,ph ersetzt wurde. Das platonisch-philonische Philosophem „Gott ist Güte“ (im Sinne der Vollkommenheit) wird so gesteigert zu „Gott ist Liebe“. Diesen Schritt konnte Philon deshalb nicht vollziehen, weil der Begriff avga,ph aus seiner LXX-Vorgeschichte viel zu sehr mit menschlicher Leidenschaft, Körperlichkeit und Schwäche verbunden war (man vergleiche nur Stellen wie Hos 11,1–4 mit Platons Gottesbild). So gesehen ist der Schritt vom Gottesprädikat avgaqo,thj zum Prädikat avga,ph ein Schritt in eine andere Dimension. Kehren wir nun zu Eph 5,1–2 zurück: Die mi,mhsij qeou/ besteht in der „Liebe“ der Angesprochenen, die sich als „geliebte Kinder“ Gottes 18 19 20
Die euvergesi,a spielt als Wohltätigkeit eine große Rolle in Theologie und Herrscherkult. Hier ist es aber zugleich die Imitatio Christi. CHR. BURCHARD, Ein vorläufiger griechischer Text von Joseph und Aseneth, in: DERS., Gesammelte Studien zu Joseph und Aseneth (SVTP 13), Leiden 1996, 161-209: 171.
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ihrer Mitwelt gegenüber in der Position des schenkenden Austeilens, des Überquellens an Sein, wiederfinden. Der Imperativ erinnert sie daran. Anders als bei Platon und Philon – aber auch bei den Stoikern und den korinthischen Pneumatikern – ist diese Position der Seinsfülle und Vollkommenheit weder überlegen-erhaben noch heroisch. Da Gott nur in seinem „Bild“ erkennbar ist, dieses Bild aber konkrete menschliche Züge hat, ist die Mimesis Gottes nur möglich in der Mimesis Christi. Damit gewinnt in der syntaktischen Konstruktion der beiden Verse der kaqw,j-Satz das Schwergewicht. Wie in Phil 2,6–11 wird Christus zum Paradigma christlicher Existenz. Mit der Mimesis Christi wird das mythische Konzept, zu dem die Mimesis des Göttlichen gehört (indem sie einen Weg zur Vermittlung des Heiligen darstellt) realistisch, d.h. zum Exemplum (die „erhabene“ avgaqo,thj erscheint als versklavte avga,ph). Eph 5,1–2 ist jedoch der platonisch-philonischen Onto-Theologie äußerlich noch sehr verhaftet. Es gibt im Neuen Testament nur eine sachliche Parallele zu diesem Text, die aus der anderen Sprachschicht des Neuen Testaments, der palästinisch-jüdischen Erfahrungsweisheit, wie sie im Spruchgut der Synoptischen Evangelien enthalten ist, stammt: das in der Logienquelle überlieferte Wort von der Feindesliebe Mt 5,43–48 / Lk 6,32–36. Die Lukasfassung in V.36 hat den Wortlaut „Werdet barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“. Diese Fassung (mit dem griechischen Wort oivkti,rmwn = barmherzig) ist schöner als das matthäische „vollkommen“ (te,leioj). Die älteste Fassung könnte etwa gelautet haben: avgapa/te tou.j evcqrou.j u`mw/n o[pwj ge,nesqe ui`oi. tou/ patro.j u`mw/n o`,ti to.n h[lion auvtou/ avnate,llei evpi. ponhrou.j kai. avgaqou,j gi,nesqe oivkti,rmonej kaqw.j o` path.r u`mw/n oivkti,rmwn evsti,n.
Hier ist das Imitatio–Dei-Motiv zentral, obwohl die MimesisTerminologie fehlt. Entsprechungen zu Eph 5,1–2 sind das avga,ph-Motiv, gi,nesqe und kaqw,j. Anwesend ist vor allem auch das Motiv der Souveränität, das der euvergesi,a (im Prädikat oivkti,rmwn), sowie – in zentraler Bedeutung – das der Gotteskindschaft. Und schließlich findet sich indirekt auch das avgaqo,j- bzw. Schöpfungsmotiv (in Mt 5,45b). Die Begründung für den (hier allerdings beinahe ins Paradoxe gesteigerten) Großmut ist, dass Gott seine Güte auch den Schlechten (ponhroi,) neben den Guten (avgaqoi,) gewährt. Ein ähnlicher Gedanke ist thematisiert worden bei Philon, LA I 34f:
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„Gott, der gebefreudig (filo,dwroj) ist, gewährt das Gute allen, auch den nicht Vollkommenen, um sie zur Teilhabe an der und zum Streben nach der Tugend einzuladen und ihnen dabei seinen immensen Reichtum zu zeigen: dass dieser auch für solche ausreicht, die nicht sehr viel Nutzen davon haben. Dies zeigt Gott aber auch sonst eindrücklich. Denn wenn er über dem Meer regnen lässt, Quellen in Menschen/ leerer Gegend aufsprudeln lässt, … was anderes beweist er damit als das Übermaß seines Reichtums und seiner Güte?“
Das Wesen der Güte ist erstens ihr Überfluss, ihre Selbstausteilung und Ansteckung, ihre schöpferische Potenz – und zweitens kommt sie dadurch auch dem Unvollkommenen zugute. Trotz der genannten Entsprechungen zwischen Eph 5,1–2 auf der einen und Mt 5,44f.48 / Lk 6,35f auf der anderen Seite unterscheiden sich die beiden Texte aber deutlich: In der Jesustradition wird durch die Forderung des Extremfalls von Liebe, der Feindesliebe, ein Gottvertrauen propagiert, das die eschatologische Geborgenheit und Vollkommenheit vorwegnimmt. Das ist ein aus der alttestamentlichen Weisheit stammendes Weltverständnis, gekoppelt mit einem eschatologischen Gegenwartsbewusstsein. Eph 5,1–2 fußt dagegen auf einer Ontologie, die das Sein von einem transzendenten Heilswillen her versteht. Beide Texte vertreten so auf ihre Weise einen optimistischen Schöpfungsglauben. Trotz ihrer philosophischen Prägung hat die Mimesis-Motivik im Corpus Paulinum noch etwas von ihrem kultischen und mythischen Ursprung bewahrt. Dies gilt in erster Linie für die Imitatio-Christi-Texte bei Paulus. Der mimhth,j Christi steht in einer Abbildbeziehung zum Urbild Christi, so dass seine Existenz durch Christus geprägt wird. Auch wenn dieses Modell über Philon zu Platon zurückreicht, kommt der kultische und mythische Charakter des Mimesis-Modells noch zur Wirkung: Der archaische Mythos hat die Funktion, die heiligen Urgeschehen des Anfangs zu repräsentieren und gegenwärtig zu machen. Im Kult (später in Griechenland in der Tragödie) wurden die Anfänge mimetisch wiederholt, also repräsentiert. Hier liegt wohl der Ursprung des Wortstammes mim-.21 Ursprünglich ist die Darstellung des Mythos eine Repräsentation, in der sich Identifikationen ereigneten – nicht aber eine direkte Nachahmung, die sich der Distanz bewusst war. Der Mythos garantiert die Präsenz des Heiligen, und seine Aufführung wiederholt die Ereignung der heiligen Grundgeschehen. In diesem archaischen Denken, das nahezu universal in den verschiedensten Kulturen 21
Die Wortgruppe mime,omai / mimhth,j erscheint zunächst bei Paulus: 1Kor 4,16; 11,1; 1Thess 1,6; 2,14; Phil 3,17 (summimhtai,) – dann aber auch in 2Thess 3,7 (mimei/sqai). 9 (tu,poj / mimei/sqai) ; Hebr 6,12; 13,7; 3Joh 11 und unsere Stelle (Eph 5,1).
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nachweisbar ist, hat die Imitatio Dei ihren Ursprung. „Man wird wahrhaft Mensch nur, indem man sich der Lehre der Mythen angleicht, also indem man die Götter nachahmt“.22 Letztlich ist diese Nachahmung eine Identifizierung. Natürlich ist weder für Platon, noch für Philon, noch für den Paulus des Epheserbriefes solch eine Identifizierung mit (einem) Gott noch möglich. Imitatio Dei kann hier nur noch eine Beziehung der Analogie sein (z.B. in der euvergesi,a). Imitatio Christi jedoch ist noch etwas anderes: Christus wird zum Vorbild und Muster für die Existenz des mimhth,j. Diese Relation ist metonymisch (Teilhabe), nicht nur metaphorisch, und kommt deshalb dem mythischen Denken näher. Der Verfasser des Epheserbriefes gebraucht in 5,1 formal die Terminologie des Paulus (gi,nesqe ou=n mimhtai. tou/ qeou/ … kaqw.j kai, …). Er will aber nicht die Christuskonformität der Christen ausdrücken, sondern eine ontologische Aussage im Sinne Platons machen (die „Liebe“ [Platon und Philon: „Gutheit“] Gottes als Grund des Seins). Christus muss nun im zweiten Satzglied von Eph 5,1–2 (nämlich in V.2b) erscheinen: als Muster von Liebe (kaqw.j kai,). Christus ist danach das anschauliche Modell der göttlichen Liebe als Grund der Welt.
4. Der zweite Vers dieser kurzen Einheit (5,1–2) setzt ein mit einem ou=n paraeneticum.23 V.2 ist hier (wie in 4,1.17; 5,7f.15) mit dem in der paulinischen Tradition grundlegenden ethischen Begriff des peripatei/n („wandeln“, d.h. sein Leben führen) verbunden. In V.1 klang bereits der Heilsindikativ an: „... als geliebte Kinder“. Darauf folgt nun in V.2 der Imperativ peripatei/te. Das „Nachahmen Gottes“ setzt aber die Erfahrung der Liebe Gottes voraus und besteht seinerseits in einem Wandel „in Liebe“ (1,4; 3,17; 4,2.15–16; 5,2; Kol 2,2; 1Tim 4,12; Jud 21 – vgl. aber Röm 14,15: kata. avga,phn peripatei/j). „Wandeln in Liebe“ kommt sonst im NT nicht mehr vor. Das „Nachahmen Gottes“ setzt aber die Erfahrung der Liebe Gottes voraus und besteht seinerseits in einem Wandel „in Liebe“, wie auch Christus „euch“ [oder „uns“] geliebt hat. Der Aorist hvga,phsan ist narrativ und hat mythische Funktion. Er bezeichnet die Urhandlung für ein Ethos. Mit einem explikativen bzw. epexegetischen kai, wird die beispielhafte Liebe Christi in einer „Dahingabe“- bzw. „Selbsthingabeformel“ konkretisiert, die mehrmals im Corpus Pauli22 23
ELIADE, Das Heilige, 85–88. Vgl. 4,1.17; 5,1.7.15; 6,4.
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num (Röm 4,25; 8,32) und in den Evangelien (z.B. Mk 9,31; 10,45) begegnet. Die „Formeln“ lassen sich in zwei Typen unterscheiden: in die „Dahingabeformel“ (mit Gott als Subjekt) und die „Selbsthingabeformel“ (mit Christus als Subjekt). Die Selbsthingabeformel erscheint wiederum in zwei Varianten:
1. Christologischer Titel (+ avgapa/n + explikatives kai,) + 2.
(para)dido,nai + e`auto,n + u`pe,r Christologischer Titel + dido,nai + e`auto,n + lu,tron + u`pe,r oder avnti,.
Die „Selbsthingabeformel“ (in beiden Varianten) ist gegenüber der „Dahingabeformel“ mit Gott als Subjekt (Röm 4,25; 8,32; Mk 9,31) traditionsgeschichtlich sekundär. Röm 4,25; 8,32 und Mk 9,31 sind folglich die ältesten Formeln.24 In 5,2 erscheint klassische Opfermetaphorik: Christus hat „sich hingegeben … als Gabe und Opfer für Gott … zum angenehmen Wohlgeruch“. Das Syntagma ovsmh. euvwdi,aj begegnet in der Septuaginta 51mal – 22mal in der stereotypen Opferzweckbestimmung eivj ovsmh.n euvwdi,aj (tw|/) kuri,w|. Im NT erscheint ovsmh. euvwdi,aj nur noch in Phil 4,18, tw/| kuri,w| wird in Eph 5,2 durch tw/| qew/| ersetzt. „Wird der Verbrennungsduft als Huldigungsgabe für Gott verstanden, erfolgt die Selbsthingabe ausdrücklich ,für uns‘ (u`pe.r h`mw/n). So unterstreicht der Vers die doppelte Ausrichtung der Hingabe Christi: Sie erfolgt für uns und ist zugleich Gabe für Gott. Dieser doppelte Gabecharakter führt alttestamentliche Opferdenken fort, denn auch das alttestamentliche Opfer ist sowohl auf den Opferempfänger (= Gott) als auch auf den Opfernutznießer (= Mensch) ausgerichtet. So verwundert nicht, dass der Verfasser des Eph Jesu Lebenseinsatz mit einem Opfer vergleicht.“ – Dabei ist nicht das Sühnopfer gemeint, „denn von Sündenvergebung und Blutritus ist hier keine Red … Die christologische Pointe von Eph 5,2 liegt folglich in der Hervorhebung dieses doppelten Gabecharakters.“25
Die kurze Perikope Eph 5,1–2, die noch kürzer ist als die Doxologie 3,20–21, enthält ein seltenes Konzentrat von theologischer Substanz. Es ist hier die „Selbsthingabeformel“, die die Einheit der beiden Verse im Rückblick von V.2 erschließt. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die Selbsthingabe der „geliebten Kinder“, sondern um die Selbsthingabe Christi, die den „geliebten Kindern“ zugute kommt. Auf diesen beiden 24 25
W. POPKES, Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament (AThANT 49), Zürich 1967, 246–265. R. ZIMMERMANN, „Deuten heißt erzählen und übertragen“, in: J. FREY / J. SCHRÖTER (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005, 315-375: 366f.
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Versen baut dann die Mahnrede 5,3–14 auf. Die Perikope 5,3–14 endet in einer Lichtmetapher, einem Dreizeiler, der noch einmal den sich selbst Hingebenden erscheinen lässt:
„Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, und aufleuchten wird dir Christus“.26
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Die Herkunft des Dreizeilers ist unbekannt. Möglicherweise hat der Text etwas mit der Taufe zu tun.
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Der Beitrag des 1. Petrusbriefes zur frühchristlichen Tauftheologie Friedrich Wilhelm Horn Die Rekonstruktion der frühchristlichen Tauftheologie und Taufpraxis stellt für die neutestamentliche Wissenschaft spätestens seit der Religionsgeschichtlichen Schule eine höchst schwierige, im Blick auf das gesamte Material bis heute eigentlich nicht gelöste Aufgabe dar.1 Neutestamentliche Texte, auf die sich diese Rekonstruktion bezieht, kommen in der Regel eher beiläufig auf die Taufe zu sprechen, thematisieren zudem nur höchst selten den Ritus an sich und sein Verständnis.2 Man wird fragen müssen, in welchem Verhältnis die christliche Taufe zur Taufbewegung Johannes des Täufers steht, von der sie wohl Anleihen aufnimmt, sich aber gleichzeitig auch distanziert? Welche Gestalt hatte die Taufpraxis in den entstehenden Ortsgemeinden, welche Übereinstimmungen und welche Unterscheidungen bestanden zu anderen jüdischen und paganen, mit Wasser verbundenen Lustrations- oder Initiationshandlungen? Gab es eine präbaptismale und eine postbaptismale Katechese, wurden eigene Taufgottesdienste abgehalten, können Texteinheiten, frühe liturgische Formulare rekonstruiert werden? An welchen religionsgeschichtlich partiell rekonstruierbaren Leitbildern orientiert sich das Verständnis der Taufe auf den Namen Jesu? Würde man eine Forschungsgeschichte zur frühchristlichen Tauftheologie und Taufpraxis schreiben, so würde sie wahrscheinlich ein Spiegelbild der neutestamentlichen Forschung an sich sein. Gegenwärtig steht die Analyse einzelner Textkomplexe im Vordergrund, die auf ihren Beitrag zur frühchristlichen Tauftheologie befragt werden. Von einer Gesamtdarstellung allerdings ist die Forschung weit entfernt. Man kann nicht we-
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Einen lesenswerten Überblick über die Taufinterpretationen im Licht der religionsgeschichtlichen Forschung bietet immer noch G. WAGNER, Das religionsgeschichtliche Problem von Römer 6,1-11 (AThANT 39), Zürich/Stuttgart 1962; außerdem S. AGERSNAP, Baptism and the New Life. A Study of Romans 6.1-14, Aarhus 1999, 13198. Überblicke über die Diskussion vermitteln: U. SCHNELLE, Art. Taufe II. Neues Testament, TRE 32 (2001), 663-674; F. AVEMARIE, Art. Taufe II. Neues Testament, RGG4 VIII (2005), 50-59.
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sentlich mehr tun als Mosaiksteine zusammenzutragen, wird sich aber mit etlichen Leerstellen zufriedengeben müssen. Der Beitrag des 1Petr für dieses Mosaik ist, glaubt man der Mehrheit zumindest der zurückliegenden Forschung, gewichtig.3 Selbst die gegenwärtige Einleitungswissenschaft4 referiert immer noch den im Jahr 1911 von Richard Perdelwitz vorgetragenen Versuch, mittels einer literarkritischen Entscheidung zum 1Petr zwei völlig selbstständige Stücke in diesem Brief zu finden, nämlich eine Taufpredigt an Neophyten und sodann ein später verfasstes mahnendes Schreiben an diese Täuflinge. Auf diese Forschungsposition, die nachhaltig gewirkt und Zustimmung über Jahrzehnte hinweg bis in die Einleitung Philipp Vielhauers5 erfahren hat, die aber mittlerweile nicht mehr geteilt wird, ist zunächst einzugehen. Sodann benutzt 1Petr 1,3.23 und 2,2 die Metapher der Wiedergeburt, die seit Perdelwitz durchweg, allerdings, wie die neue Forschung gezeigt hat, wohl etwas zu voreilig in einen direkten Bezug zur Tauftheologie gestellt wird. Schließlich bietet 1Petr 3,20f eine ausgeführte Tauftypologie. Zunächst sollen diese drei angesprochenen Aspekte bzw. Texteinheiten vorgestellt werden, hernach aber in die Frage münden, ob der 1Petr ein klares Profil zu Tauftheologie und Taufpraxis erkennen lässt.6 Mit diesen drei Aspekten ist die Frage nach dem Beitrag zur Tauftheologie noch nicht einmal erschöpfend behandelt. Elliott stellt in seinem monumentalen Kommentar insgesamt zwölf Traditions and Forms Associated with Baptism and Baptismal Catechesis zusammen, die eventuell auf frühchristliche Tauftraditionen verweisen, auf die wir teilweise gleichfalls Bezug nehmen müssen.7 3
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Einen ersten Überblick vermittelt: E. DINKLER, Die Taufaussagen im 1. Petrusbrief, in: F. VIERING (Hg.), Zu Karl Barths Lehre von der Taufe, Gütersloh 1971, 118-121, sowie F. SCHRÖGER, Gemeinde im 1. Petrusbrief. Untersuchungen zum Selbstverständnis einer christlichen Gemeinde an der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert (SUPa.KT 1), Passau 1981, 31-42. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 62007, 445; P. POKORNÝ / U. HECKEL, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 693f; D.A. CARSON / D.J. MOO / L. MORRIS, An Introduction to the New Testament, Grand Rapids 1992, 426f; D. GUTHRIE, New Testament Introduction, Leicester 41990, 799f. Sehr ausführlich mit exkursartiger Einlage seinerzeit auch A. WIKENHAUSER, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg u.a. 51963, 361f. M. GIELEN, Der erste Petrusbrief, in: M. EBNER / S. SCHREIBER (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KST 6), Stuttgart u.a. 2008, 514. I. BROER, Einleitung in das Neue Testament (NEB.NT-Erg. 2/II), Würzburg 2001, 614, referiert Perdelwitz’ Position gleich einleitend ausführlich, verbindet sie aber nicht mit dessen Namen. PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin/New York 1975, 585. Mit einer gewissen Verwunderung konstatiere ich den Befund, dass es kaum monographische Abhandlungen zur sakramentalen Ausrichtung des 1Petr gibt. Ich verweise aber auf K.C.P. KOSALA, Taufverständnis und Theologie im Ersten Petrusbrief, Diss. theol., Kiel 1985. J.H. ELLIOTT, I Peter (AnchB 37 B), New York 2000, 32-34, mit ausdrücklichem Verweis auf E.G. SELWYN, The First Epistle of St. Peter, London 1955, 369-461. Elliott hält
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1. Der 1. Petrusbrief als Taufpredigt Richard Perdelwitz veröffentlichte im Jahr 1911 die Studie: Die Mysterienreligion und das Problem des I. Petrusbriefes. Der Untertitel lautete: Ein literarischer und religionsgeschichtlicher Versuch.8 Nach Oscar Rühle9 war Perdelwitz 1869 in Czarnikau (Provinz Posen) geboren, arbeitete ab 1898 als Pfarrer in Polajewo (Kreis Obornik) und war seit 1918 als Oberlehrer (Studienrat) am Gymnasium in Schneidemühl tätig. Seine im Jahr 1900 in Erlangen eingereichte theologische Dissertation behandelte kein neutestamentliches, sondern ein systematischtheologisches Thema: Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf Leibniz. Die Schrift zum 1Petr steht deutlich unter dem Eindruck der neueren religionsgeschichtlichen Forschungen von Dieterich, Wendland, Reitzenstein, Cumont u.a. (Vorwort 1). Genetischer, wenn auch schmaler Ausgangspunkt der Studie ist jedoch eine literarkritische Beobachtung: „Ich stelle deshalb die Hypothese auf, dass unser I. Petrusbrief ursprünglich aus zwei völlig selbständigen, und in sich abgeschlossenen Schriften bestanden hat: aus einem größeren Werk, das mit dem Lobpreis Gottes I 3 kraftvoll beginnt, und mit der Doxologie und dem ‚Amen’ IV 11 ebenso kraftvoll schließt, und einem kleineren Schreiben, das mit dem jetzigen Briefeingang I 1-2 begann, und unmittelbar daran den Abschnitt IV 12 – V 14 anschloss“ (16). Den Charakter des ersten Abschnitts bestimmt Perdelwitz folgendermaßen: „ … ich kann nunmehr die vorhin aufgestellte Hypothese vervollständigen und vermute in dem größten Teil unseres Briefes, also in dem Abschnitt I 3 – IV 11 eine, bei Gelegenheit einer Tauffeier gehaltene Ansprache an die Täuflinge, so daß wir also in dem Hauptabschnitt unseres Schreibens das älteste, uns erhaltene Beispiel einer altchristlichen Kasualrede zu sehen hätten“ (19). Perdelwitz vermutet weiterhin, beide Schriftstücke mögen „in dem Archiv der Gemeinde eine Zeitlang miteinander aufbewahrt worden sein“ (26) und seien „später, absichtlich oder unabsichtlich zusammen abgeschrieben worden“ (26). Den Hauptgegenstand der Untersuchung, auch hinsichtlich des Umfangs (29-105), stellt das religi-
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fest: „What is clear, nonetheless, regarding I Peter is that, although baptism is mentioned explicitly only once, the fact of the readers’ baptism constitutes a fundamental presupposition and reference point of its exhortation” (34). L. HARTMAN, Auf den Namen des Herrn Jesus. Die Taufe in den neutestamentlichen Schriften (SBS 148), Stuttgart 1992, 116, erkennt in der Taufe den „Resonanzboden vieler Aussagen des Briefes”. R. PERDELWITZ, Die Mysterienreligion und das Problem des I. Petrusbriefes. Ein literarischer und religionsgeschichtlicher Versuch (RVV XI/3), Gießen 1911. O. RÜHLE, Art. Perdelwitz, Richard, RGG2 IV (1930), 1065.
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onsgeschichtliche Problem dieser thetisch behaupteten Kasualrede dar. Perdelwitz trägt – angefangen von der Vorstellung der Wiedergeburt – sorgsam religionsgeschichtliche Parallelen zu einzelnen Metaphern und Wortverbindungen des 1Petr zusammen und kommt zu dem Ergebnis: „Wir haben dann aber eine ganze Reihe von Bildern und Ausdrücken gefunden, die durch die Art ihrer Verbindung und durch den ganzen Zusammenhang, in welchem sie vorkamen, immer wieder so überraschende Parallelen mit dem Sprachgebrauch und den religiösen Anschauungen der Mysterienkulte ergaben, daß eine Herübernahme in den Sprachgebrauch und in den Kult des jungen Christentums ganz unverkennbar erschien“ (93). Perdelwitz wagt sodann folgende Zuspitzung: „Der Verfasser und jedenfalls auch seine Hörer müssen einem Kreise von Menschen entstammen, die früher Anhänger irgendeines Mysterienkultes gewesen sind, und die größte Wahrscheinlichkeit scheint mir dafür zu sprechen, daß dieser Kult dem Dienst der Kybele geweiht war“ (95). Selbstverständlich kann der 1Petr daher nicht mehr als Schreiben des Apostels Petrus bewertet werden. Ohne die Abfassungszeit präzise eingrenzen zu können, deutet Perdelwitz doch in das zweite Jahrhundert, in eine Zeit also, in der die Mysterienkulte aufblühten (96.104f). Methodisch wurzelt Perdelwitz in der Literarkritik des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts, die er mit der zu seiner Zeit noch recht jungen religionsgeschichtlichen Forschung verknüpft. Einmal mehr fällt auf, in welch hohem Maße die Literarkritik dieser Zeit völlig subjektiv, ja geradezu willkürlich ausgerichtet war. Während sich die gegenwärtige Forschung überwiegend ausgesprochen zurückhaltend, ja ablehnend im Blick auf Teilungsvorschläge zum 1Petr verhält,10 urteilt Perdelwitz zur literarkritischen Abschichtung der Kasualrede emphatisch: „ … und haben gefunden, wie sich ein Glied an das andere in klarem und logischem Gedankenfortschritt fügt, und wie das Ganze, ohne irgendwelche künstliche Eintragungen durchaus den Eindruck einer in sich geschlossenen, auf den Grundton der Freude gestimmten und den Ernst der Christenpflicht klar erfassenden Predigt macht“ (22). Die Studie stellte über etliche Jahrzehnte hinweg einen selbstverständlichen Ausgangspunkt der Forschung zum 1Petr dar und ihr 10
R. FELDMEIER, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15/I), Leipzig 2005, 20: „Der 1Petr war in seiner wenig systematischen Art der Darstellung ein dankbares Objekt literarkritischer Operationen.“ Für die Einheitlichkeit des Schreibens votieren FELDMEIER, 1Petrus, 21; ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 83: „In conclusion, these features of the letter’s vocabulary, style, and disposition of thought reveal a compositional consistency and an author who had a facile command of Koine Greek and skill at persuasive argumentation and epistolary composition.” P.J. ACHTEMEIER, 1Peter (Hermeneia), Minneapolis 1996, 61.
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Grundansatz hinsichtlich der literarkritischen und religionsgeschichtlichen Bewertung des 1Petr wurde zunächst nicht in Frage gestellt, er wurde vielmehr weiter ausgebaut und verfeinert.11 Eine in literarkritischer Hinsicht parallele, auf Perdelwitz allerdings nicht Bezug nehmende Studie von Wilhelm Bornemann aus dem Jahr 1920 erkannte nur in 1Petr 1,1f und 5,12-14 redaktionelle Zusätze, die ein altes Schriftstück zu einem petrinischen Brief stempeln. Dieses sei „ursprünglich eine Taufrede ..., und zwar im Anschluss an Psalm 34 um das Jahr 90 von Silvanus in einer Stadt Kleinasiens gehalten“ gewesen.12 Bornemann beschreibt mit viel Empfindung die Taufansprache, mit viel Phantasie die Reaktionen der Gemeinden und deren Stimmung. Eine schriftliche Fixierung der Ansprache sei in den Gemeinden zirkuliert, ihr ursprünglicher Verfasser sowie ihr Charakter als Taufansprache allerdings bald in Vergessenheit geraten. Erwähnenswert ist dieser Forschungsbeitrag hier nur, weil er die These bekräftigte, der 1Petr stelle im Kern eine Taufpredigt dar, wenn auch in einer von Perdelwitz völlig abweichenden Argumentation. Bedeutsam für die Durchsetzung der von Perdelwitz vorgetragenen Thesen war ihre Aufnahme in den von Hans Windisch verfassten Kommentar zu den Katholischen Briefen.13 Die Erstauflage von Windischs Kommentar erschien 1911, das Vorwort war aber bereits 1910 verfasst worden. Insofern kann Windisch nicht mehr auf Perdelwitz Bezug genommen haben. In der Vorrede zur 2. Auflage betont Windisch jedoch: „Vom Ursprung des I. Petrusbriefs habe ich jetzt eine entschiedenere Meinung gewonnen: die richtige Bestimmung seines literarischen Charakters und der Aufweis gnostischer Berührungen hat mich hier zu sicherer Erkenntnis geführt.“14 Im laufenden Text schließt sich Windisch unter Verweis auf Perdelwitz an dessen Sicht an: „Besser ist es, einfach festzustellen, daß der Vf. an die eben abgeschlossene Taufrede ein zweites Schreiben anhängt, oder daß er die eben vorgetragene Taufansprache nun noch mit konkreten Mahnungen ergänzt.“15 Wichtig 11
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Ausführlich geht ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 7-12, auf die Forschungsgeschichte ‚nach Perdelwitz’ ein und referiert die wichtigsten Positionen; auch L. GOPPELT, Der erste Petrusbrief (KEK XII/1), Göttingen 1978, 37-40; H. FRANKEMÖLLE, 1. Petrusbrief 2. Petrusbrief Judasbrief (NEB 18/20), Würzburg 1987, 18f. W. BORNEMANN, Der erste Petrusbrief – eine Taufrede des Silvanus?, ZNW 19 (1920), 143-165: 146. H. WINDISCH, Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 21930. Die 1. Aufl. erschien 1911, die 2. Aufl., als stark umgearbeitete Aufl. 1930. Eine 3., von H. PREISKER abermals stark umgearbeitete Aufl. 1951. WINDISCH, Katholische Briefe 2. Aufl. (s. Anm. 13), Vorrede. WINDISCH, Katholische Briefe 2. Aufl. (s. Anm. 13), 76f. Allerdings spricht WINDISCH etwas unausgeglichen auch im Blick auf 1,13-2,10 von Taufparänese (55), die sodann erst wieder in 4,1-6 aufgenommen und fortgesetzt werde (73). Der Mittelteil wird als Paränese begriffen, ohne direkt einen Bezug zur Taufsituation herzustellen.
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ist auch, dass mit Windisch der Gedanke der Wiedergeburt selbstverständlich dem Taufvorgang zugewiesen wurde und von Analogien aus der hellenistisch-orientalischen Umwelt her erklärt wurde.16 In der Folgezeit wurde versucht, die Grundannahme, den 1Petr im Kontext eines Taufrituals zu interpretieren, durch etliche Unterthesen weiter zu präzisieren. Durch Selwyns Kommentar war das Material innerhalb des 1Petr, das in einen Zusammenhang mit Taufpraxis und -ritual gebracht wurde, bereits 1946 (in der first edition) gesammelt worden. Viele Untersuchungen drängen nun aber auf eine übergreifende Gesamtsicht. Herbert Preisker deutete in dem umfangreichen Nachtrag zu Windischs Kommentar den 1Petr als das „älteste Dokument eines urchristlichen Gottesdienstes“.17 Er unterschied den Gottesdienst einer Taufgemeinde (1,3-4,11) von einem sich anschließenden Schlussgottesdienst der Gesamtgemeinde (4,12-5,11). Der Taufakt, der aus arkandisziplinarischen Gründen nicht erwähnt wird, habe zwischen 1,21 und 1,22 stattgefunden (161). Dieser Taufgottesdienst sei in Rom schriftlich festgehalten und den kleinasiatischen Christen übermittelt worden (161). Gegenüber der religionsgeschichtlichen Einordnung in Mysterienkulte betonen etliche Arbeiten einen Zusammenhang mit der Exodusbzw. Passatradition. Ohne hier die Forschungsgeschichte auch nur annähernd vollständig wiedergeben zu wollen, verweise ich nur auf folgende Arbeiten. Jean Daniélou vermutete eine in der Osterwoche gehaltene Taufansprache.18 August Strobel erkannte ein Passa- und Taufritual,19 Frank L. Cross einen Liturgietext des Zelebranten in der Taufeucharistie der Ostervigil.20 Elliott schreibt im Blick auf die damalige Forschungssituation zutreffend: „Subsequently this baptismal
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WINDISCH, Katholische Briefe 2. Aufl. (s. Anm. 13), 59. H. WINDISCH / H. PREISKER, Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 31951, 156162. J. DANIELOU, Sacramentum Futuri: Études sur les origines de la typologie biblique (Études de théologie historique 19), Paris 1950, 141: „le texte s’adresse aux ‘néophytes’. Il semble que nous soyons ici en présence d’une homélie, adressée durant la semaine pascale aux nouveaux baptisés et leur décrivant la vie qu’ils doivent mener, en s’inspirant du texte de l’Exode.” Daniélou begründet diese These mit der Beobachtung, dass 1Petr alle wichtigen Themen der Exodusüberlieferung aufnimmt. A. STROBEL, Macht Leiden von Sünde frei? Zur Problematik vom 1Petr 4,1f, ThZ 19 (1963), 412-425. F.L. CROSS, I Peter: A Paschal Liturgy, London 1954. Das schmale Büchlein wurzelt in den Vorarbeiten von PERDELWITZ und BORNEMANN. „We suggest, then, that our ‘Epistle’ partakes of the nature of both a homily and a liturgy, viz. that it is the Celebrant’s part for the Paschal Vigil, for which, as the most solemn occasion in the Church’s year, the Baptismal-Eucharistic text must have been very carefully prepared.”
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homily theory, popular among German scholars (…), found favor with others as well.”21 Insgesamt ist also festzustellen, dass sich die Forschung von der Annahme einer im 1Petr inkorporierten Taufansprache hin zur Rekonstruktion einer durch den 1Petr bezeugten umfassenden Taufliturgie verschob.22 Diese ungebrochene Zuversicht in diese Rekonstruktion innerhalb der Forschung ist teilweise auf eine gewisse Eigendynamik des Forschungsansatzes zurückzuführen,23 sie bewegt sich aber auch im Kontext eines gleichzeitigen Interesses an allen Aspekten des frühchristlichen Gottesdienstes, welches etwa auch zu einer beachtlichen Zahl ausgezeichneter Arbeiten zu Hymnen, Liedern, Bekenntnissen und Credo-Formeln führte. Die gegenwärtige Forschung zum 1Petr hat jedoch von solchen weitreichenden Theorien Abstand genommen.24
2. Der Gedanke der Wiedergeburt In 1Petr 1,3.23 begegnet zweimal das Verb avnagenna/n, das nur hier im NT vorkommt und im Aktiv mit ‚neu zeugen’, im Passiv mit ‚wiedergeboren werden’ zu übersetzen ist. Daneben ist das hap. leg. avrtige,nnhtoj, 21
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23 24
ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 8; HARTMAN, Namen (s. Anm. 7), 112, sagt, dass die Hypothesenfreudigkeit, aus dem 1Petr einen Taufgottesdienst oder eine Taufliturgie zu entnehmen, erst jetzt wieder ein wenig gemäßigt worden sei. Ich erwähne gerne, dass E. LOHSE, Paränese und Kerygma im 1. Petrusbrief, ZNW 21 (1954), 68-89; wiederabgedruckt in: DERS., Die Einheit des Neuen Testaments. Exegetische Studien zur Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1973, 307-328, vor allem 307-311, eine klare Infragestellung der durch PERDELWITZ initiierten Sicht vorgetragen hat. WINDISCH / PREISKER, Katholische Briefe (s. Anm. 17), 161: „Sie zeigen, dass es sich um den Aufbau eines Gottesdienstes in seinen einzelnen kultischen Stücken handelt, nicht um einen Brief eines einzelnen Schreibers, auch nicht um eine zusammenhängende Taufpredigt“; auch A.R.C. LEANEY, IPeter and the Passover: An Interpretation, NTS 10 (1964), 238-251. ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 9: „On the whole, theories as these … must be judged more imaginative than cogent.” Vgl. die deutliche Kritik durch ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 61. Zutreffend urteilt J.R. MICHAELS, Art. Peter, First Letter of, DBI II (1999), 267-271, 270: „Since the early 1960s the unity and epistolary character of 1 Peter have been strongly reasserted …“; ebenfalls ausführlich DERS., 1Peter (WBC 49), Dallas 1988, XXXIX. „The unity and integrity of 1 Peter will be the working basis of this commentary, with only one small qualification … If we take the text of 1 Peter as it stands, 4:12-5:11 can be regarded as an elaboration of 4:7-11 with particular application to those congregations ruled by elders.“ Innerhalb der Einleitungswissenschaft ist ein Referat über Perdelwitz forschungsgeschichtlich angebracht. Bezeichnend für die gegenwärtige NichtBeachtung dieser Studie und der durch sie angeregten Forschung ist aber auch der Sachverhalt, dass sie in der neuesten Untersuchung zur Tauftheologie des 1Petr nicht einmal mehr im Literaturverzeichnis erscheint: so bei K.-H. OSTMEYER, Taufe und Typos. Elemente und Theologie der Tauftypologien in 1. Korinther 10 und 1. Petrus 3 (WUNT II 118), Tübingen 2000.
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‚eben geboren’, in 1Petr 2,2 zu bedenken. Sprachlich handelt es sich um ein im Rahmen der frühchristlichen Literatur spezifisches Vokabular des 1Petr. Gleichwohl besteht eine Nähe zur Vorstellung eines spirituellen oder metaphorischen Geboren- oder Gezeugtseins durch das Evangelium, den Geist oder Wasser (Joh 1,13; 3,3.5-7; 1Kor 4,15; 1Joh 2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18), zumal dieses in Joh 3,6 dem gegennhme,nwn evk th/j sarko,j entgegengestellt wird. Die deutlichere Parallele bietet Tit 3,5 zur Vorstellung eines Wiedergeborenseins (palingennesi,a), zumal hier der Vorgang der Wiedergeburt mit dem Ritus der Taufe als einem loutro.n th/j paligennhsi,aj verknüpft wird. Von Joh 3,5 und Tit 3,5 her wird mehrheitlich auch die Vorstellung der Wiedergeburt in 1Petr 1,3.23; 2,2 mit der Taufe verbunden. Dies ist jedoch problematischer, als zumeist bedacht wird. Die zuletzt von Reinhard Feldmeier vorgetragenen kritischen Anfragen an bzw. Einwände gegen diese Identifizierung sind sorgsam wahrzunehmen.25 In einem Exkurs seines Kommentars äußert sich Hans Windisch bezüglich des Gedankens der Wiedergeburt. Seiner Meinung nach sei im Hintergrund ein Taufvorgang anzunehmen. Zum Verständnis der Sache könnten „nur die Analogien aus der hellenistisch-orientalischen Umwelt zur Erklärung herangezogen“ werden.26 „Am nächsten berührt sich“ nach Windisch „mit I Petr die Beschreibung der Mysterienfeier bei Sallust, peri. qew/n 4 …“, wo auch das Verb avnagenna,w begegnet, und Corp. Herm. XIII mit der Vorstellung der palingennhsi,a. Windisch urteilt: „Die christliche Tauftradition hat sich diese Gedanken frühzeitig angeeignet und in origineller Weise zum Ausdruck ihrer eigenen Erfahrung und Lehre verwandt.“27 Die religionsgeschichtliche Aufarbeitung führt zunächst zu dem Ergebnis, dass die Metapher der Wiedergeburt in Texten jüdischer, christlicher und paganer Herkunft ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert begegnet,28 allerdings in einer eher „spärlichen Quellenlage.“29 Der von Windisch als nächste Parallele angeführ25
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FELDMEIER, 1Petrus (s. Anm. 10), 84-87 (Exkurs 7: Wiedergeburt); DERS., Wiedergeburt im 1.Petrusbrief in: DERS. (Hg.), Wiedergeburt (BThS 25), Göttingen 2005, 75-99; zuvor aber bereits auch MICHAELS, 1Peter (s. Anm. 24), 84. Bereits F. BÜCHSEL, Art. avnagenna,w in 1Pt., ThWNT I (1933), 673 Anm. 6, schrieb: „Windischs Satz: ‚nach dem ganzen Zusammenhang ist als Hintergrund schon hier der Taufvorgang anzunehmen’ (aaO) ist nicht nur ganz unbegründet, sondern geradezu falsch.“ WINDISCH, Katholische Briefe 2. Aufl. (s. Anm. 13), 59. Ebd. F. BACK, Wiedergeburt in der religiösen Welt der hellenistisch-römischen Zeit, in: FELDMEIER, Wiedergeburt (s. Anm. 25), 79-101; H.D. BETZ, Art. Wiedergeburt I. Religionsgeschichtlich, RGG4 VIII (2005), 1528f; K.H. SCHELKLE, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief (HThK XIII/2), Freiburg 1961, 28-31 (Exkurs). FELDMEIER, 1Petrus (s. Anm. 10), 84. Zu vernachlässigen ist wohl der von GOPPELT, 1.Petrusbrief (s. Anm. 11), 94, gemachte Ableitungsvorschlag: „Das Reden von einer Wiedergeburt in 1Petr 1,3 geht demnach auf einen Motivzusammenhang aus dem
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te Beleg bei dem Neuplatoniker Sallust, peri. qew/n kai. ko,smou 4 wird ins ausgehende 4. Jh. n.Chr. datiert.30 Es soll hier nicht das etwa bei Feldmeier zusammengetragene Material nochmals besprochen werden (Philo, QuaestEx. II 46; Ps-Philo, De Jona 25f.46; JosAs 8,9; Apuleius, met. XI). Wichtig ist zunächst sein Ergebnis: „Die mit der Metapher der Wiedergeburt bezeichneten Vorstellungen sind allerdings derart disparat, dass es nicht den Anschein hat, als könnten sie einem einheitlichen Typos zugeordnet werden. (…) Insofern ist den meisten heutigen Auslegungen zunächst einmal Recht zu geben, wenn sie die direkte Ableitung und Deutung der Rede von der Wiedergeburt im 1Petr aus diesen Parallelen ablehnen.“31 Der religionsgeschichtliche Befund deutet keinesfalls darauf hin, bei Wiedergeburt sofort an Taufterminologie oder an Taufhandlungen zu denken.32 Dieser Zusammenhang wird auch an den drei genannten Stellen im 1Petr nicht hergestellt. Nimmt man Wiedergeburt, wie Feldmeier überzeugend darlegt, als in der Zeit der Abfassung des 1Petr aufkommende, neue und eigenständige religiöse Metapher, die eben noch keine einheitliche Prägung hat, dann wird zu fragen sein, wie der 1Petr sie in seinem Schreiben kreativ einsetzt. 1Petr 1,3f: Innerhalb der Eulogie (1,3-12) prädiziert der Verfasser zunächst Gott als Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten wiedergeboren hat. Die Zielangabe der Hoffnung wird in V.4 nochmals ausführlich als in den Himmeln bewahrtes Erbe angezeigt. Der Vorgang der Wiedergeburt deutet mittels des Verbs avnagennh,saj (Part. Aor.) auf eine einmalige Handlung und beschreibt also keine zeitlose Wesensart Gottes. Diese Handlung bezieht sich auf die Auferstehung Jesu von den Toten (diV avnasta,sewj).33 Primäres Ziel dieser Wiedergeburt ist die Vermittlung von lebendiger Hoffnung. Die Wiedergeburt steht daher nicht primär im Dienst der Vermittlung eines neuen Lebens, sondern einer solchen Hoffnung, die das Attribut des Lebens umgreift (eivj evlpi,da zw/san). Die Hoffnung ist das Heilsgut und ihr Vorhandensein markiert eine wesentliche Differenz zur paganen Umwelt (Röm 15,13; 1 Thess 4,13; Eph 2,12 u.ö.). Wäre allerdings der
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Selbstverständnis der Qumrangemeinde zurück. Er wurde wohl schon in einer dem Brief vorhergehenden christlichen Tradition in die Sprache des hellenistischen Christentums übertragen.“ FELDMEIER, 1Petrus (s. Anm. 10), 85, bezieht sich auf die von A.D. NOCK hg. Ausgabe (with Prolegomena and Translation) Concerning the Gods and the Universe, Cambridge 1926 (Hildesheim 1988). FELDMEIER, 1Petrus (s. Anm. 10), 85; DERS., Wiedergeburt (s. Anm. 25), 77. So allerdings G. BARTH, Die Taufe in frühchristlicher Zeit (BThSt 4), NeukirchenVluyn 1989, 108f. Gegen BARTH, Taufe (s. Anm. 32), 109, der aufgrund des Aorists an die Taufe als einmalige Handlung denkt.
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Gedanke der Wiedergeburt zwingend an die Taufe gebunden, so würde man die Vermittlung des (neuen) Lebens als Heilsgut erwarten dürfen. 1Petr 1,22f: Mit V.22 setzt eine Einheit ein, die über die Geschwisterliebe in der christlichen Gemeinde mittels der in christlicher Ethik bereits geprägten Begrifflichkeit filadelfi,a und avllh,louj avgapa/n spricht. Gerahmt sind diese Imperative durch zwei Partizipien, die Voraussetzungen dieser Liebe ansprechen. Gereinigt im Gehorsam gegenüber der Wahrheit einerseits, als von neuem Geborene andererseits. Hier verwendet der Verfasser ein Partizip Perfekt Passiv (avnagegennhme,noi), das die Wiedergeburt als einen vollendeten Zustand beschreibt. Als Mittel der Wiedergeburt stellt der Verfasser gegenüber: nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, und dieser Same wird sogleich mit dem lebenden und bleibenden Wort Gottes gleichgesetzt. Auch in dieser Aussage wird eine zwingend tauftheologische Implikation vermisst.34 Daher ist auch die Reflexion von Gerhard Barth darüber, in welchem Verhältnis hier Sakrament und Wort stehen, überflüssig.35 „Bei der Wiedergeburt findet also keine magische Verwandlung statt; vielmehr wird das Leben dadurch neu, dass es durch den in seinem Wort berufenden Gott die Perspektive einer ‚lebendigen Hoffnung’ hat.“36 1Petr 2,1-3: Im Gegensatz zu der abgelehnten Lebensausrichtung, die der Lasterkatalog (V.1) beschreibt, soll die Gemeinde wie neugeborene Säuglinge die unverfälschte Milch des Wortes Gottes begehren (V.2). Der Vergleich mit den neugeborenen Säuglingen kann, so zeigt es die weitere Verwendung des Bildes in der jüdisch-christlichen Literatur, mit der Taufe, auch der Proselytentaufe verknüpft werden. Allerdings sind die Belege deutlich jünger als 1Petr 2,1-3.37 Es kann aber auch einfach auf die Abhängigkeit von Gott zielen oder auch den sündenfreien Status der Angesprochenen als Kinder im Blick haben. Hier allerdings wird das Bild ganz auf einen weiteren, einen dritten Aspekt, die Nahrungsfrage bezogen. Milch ist die Speise der Neugeborenen, die rein und allein zuträglich ist, to. logiko.n a;dolon ga,la die Speise der Gemeinde in (V.2). Bereits die Charakterisierung dieser Milch als a;doloj markiert einen Gegensatz zu einem der Hauptlaster in 1Petr (vgl. un34 35 36 37
OSTMEYER, Taufe (s. Anm. 24), 202f, sagt, der Geist sei Subjekt der Neuzeugung in der Taufe, und er verweist als Beleg auch auf 1Petr 1,3.23. Dies ist aus tauftheologischen Erwägungen an den Text herangetragen. BARTH, Taufe (s. Anm. 32), 110. FELDMEIER, Wiedergeburt (s. Anm. 25), 88. ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 145 Anm. 29. Zu unkritisch ist in seiner tauftheologischen Interpretation S. LÉGASSE, Art. bre,foj, EWNT I (1980), 545f. Außerdem: J. FRANCIS, ‚Like newborn Babes’ – The Image of the Child in 1Peter 2:2-3, in: E.A. LIVINGSTONE (Hg.), Studia Biblica 1978 (JSNT.S 3), Sheffield 1980, 111-117.
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mittelbar zuvor in 2,1; sodann 2,22; 3,10). Worauf aber zielt die Bezeichnung der Milch als logiko,n? In den neueren Kommentaren wird diese Metapher nicht mehr, wie noch bei Windisch, mit ‚geistige, unverfälschte Milch’ wiedergegeben, sondern mit ‚unverfälschte Milch des Wortes’ übersetzt.38 Hierbei wird vor allem darauf verwiesen, dass der direkte Kontext nicht nur bei a;dolon (vgl. 2,1), sondern auch bei logiko,n (vgl. 1,23; 2,8) die Interpretationshilfe gibt. Demnach geschieht die Wiedergeburt durch das Wort Gottes (1,23) und dieses Wort bleibt zugleich die Speise der Wiedergeborenen. Hinzu kommt die im hellenistischen Judentum bezeugte Anschauung, das Wort Gottes als die unvergängliche Speise zu betrachten (Philo, her. 79; JosAs 12,2). Die im Bild Säuglinge/Milch verbleibende Wachstumsmetapher (2,3), die jetzt aber auf das Heil bezogen ist, markiert abschließend doch eine deutliche Differenz zu einer sakramentalen Interpretation. 1Petr 2,1-3 blickt gerade nicht zurück auf ein einmaliges sakramentales Geschehen, auf eine hier übermittelte neue Natur, sondern richtet den Blick mittels der Wachstumsmetapher auf die Zukunft des Heils.39 Die tauftheologische Interpretation der drei Texte zur Wiedergeburt in 1Petr 1,3.23; 2,2 hat eine lange Tradition und reicht bis in die Gegenwart.40 Sie ist aber weitaus problematischer als zumeist bedacht wird, da das Wortfeld weder semantisch noch begriffs- oder traditionsgeschichtlich auf eine sakramentale Deutung festgelegt ist. Religionsgeschichtliche Parallelen zur Wiedergeburt führen nicht zu einem bestimmten Typos seiner religiösen Verwendung. Zumeist wird für diese Interpretation der nähere Kontext des Briefes, also das Vorkommen der Tauftypologie in 1Petr 3,20f angeführt. Die verwendete Begrifflichkeit wird erst durch den 1Petr in die christliche Sprache eingeführt. Vor allem aber können die drei Belege in keiner Weise eindeutig einem Taufkontext zugeordnet werden.
38 39 40
FELDMEIER, 1 Petrus (s. Anm. 10), 83; ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 394; ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 143. GOPPELT, 1. Petrusbrief (s. Anm. 11), 135: „Schon diese Struktur des Bildes legt es nicht nahe, die einleitende Wendung ‚wie eben geborene Kinder’ als Hinweis auf eine unmittelbar zuvor im Taufakt geschehene Wiedergeburt zu verstehen …“. Deutlich etwa U. SCHNELLE, Art. Taufe, TRE 32 (s. Anm. 2), 671, der auch im Blick auf den 1Petr vom ‚Bad der Wiedergeburt und Erneuerung’ spricht. Ausführlich und prononciert in diesem Sinn: DERS., Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 569f, vor allem 570: „Die Wieder-/Neugeburt bezeichnet den grundlegenden Wandel im Leben der Christen, der sich im Ritual der Taufe sichtbar und verpflichtend vollzog. Die Wiedergeburt hat ihren rituellen Ort in der Taufe!“ Ähnlich auch W. POPKES, Art. Wiedergeburt II, TRE 36 (2004) 9-14, vor allem 10 und 12. Unter den Kommentaren ebenfalls N. BROX, Der erste Petrusbrief (EKK XXI), NeukirchenVluyn 21986, 61; FRANKEMÖLLE, 1. Petrusbrief (s. Anm. 11), 40.
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3. Die Tauftypologie in 1Petr 3,20f Abschließend ist auf die Tauftypologie in 1Petr 3,20f einzugehen, in der das Stichwort ba,ptisma erstmals und einzig in diesem Brief begegnet.41 Sie bezieht sich auf das Ereignis der Rettung von insgesamt acht Menschen der Noahgeneration durch Wasser und erklärt: Das vergangene Geschehen (po,te) ist ein Vorbild für die Gegenwart, in der die Taufe jetzt (nu/n) euch rettet durch die Auferstehung Jesu Christi. Das Verb (dia)sw|,zw begegnet in beiden Hälften der Typologie, gleichfalls korrespondieren die zeitlichen Bestimmungen po,te und nu/n sowie die adverbialen Bestimmungen diV u[datoj und diV avnasta,sewj VIhsou/ Cristou/. Der Aussage, dass die Taufe rettet, korrespondiert in der Protasis der Typologie die Rettung diV u[datoj. Eine formal korrekte Entsprechung zu dieser adverbialen Bestimmung bietet jedoch erst der Abschluss der Tauftypologie, wenn nach der umfänglichen eingeschobenen Apposition der Grund der Rettung mit diV avnasta,sewj VIhsou/ Cristou/ angegeben wird. Nun ist augenfällig, dass diese Typologie klar von der christlichen Taufpraxis und einer Tauftheologie ausgeht. Denn die acht Menschen der Noahgeneration wurden ja nach alttestamentlichem Zeugnis nicht wirklich diV u[datoj gerettet, sondern wurden gerade vor dem Wasser bewahrt. Man müsste andernfalls ausdeuten, dass sie in der Arche, die vom Wasser getragen wurde, also insofern diV u[datoj gerettet wurden. Da aber dem Wasser eine rettende Funktion zugesprochen wird, ist auf jeden Fall die Brücke zur christlichen Taufe geschlagen.42 Auch stellen die wenigen Personen der Noahgeneration im Gegenüber zu der verworfenen Menschheit eine eindrückliche Parallele zum Selbstverständnis der christlichen Gemeinden dar, die der 1Petr ansprechen will. Denn auch sie stellen als auserwählte Fremdlinge in der Diaspora (1Petr 1,1) eine Minorität in fremder, teilweise sogar feindlicher Umgebung dar. Innerhalb der Typologie ist avnti,tupon wohl auf die Taufe zu beziehen.43 Die syntaktischen Probleme der V.20f sind viel41
42 43
Diesen Text haben zuletzt neben OSTMEYER, Taufe (s. Anm. 24), auch analysiert: C.L. WESTFALL, The Relationship between the Resurrection, the Proclamation to the Spirits in Prison and Baptismal Regeneration: 1 Peter 3.19-22, in: S.E. PORTER / M.A. HAYES / D. TOMBS (Hg.), Resurrection (JSNT.S 186), Sheffield 1999, 106-135; J.E. COLWELL, Baptism, Conscience and the Resurrection: A Reappraisal of 1Peter 3.21, in: S.E. PORTER / A.R. CROSS (Hg.), Baptism, the New Testament and the Church. Historical and Contemporary Studies in Honour of R.E.O. White (JSNT.S 171), Sheffield 1999, 210-227. OSTMEYER, Taufe (s. Anm. 24), 149, bestreitet jede positive Konnotation mit Wasser bzw. einer Rettung diV u[datoj. Ihre rettende Kraft beziehe die Taufe aus der Auferstehung Christi; siehe zur näheren Begründung die folgende Anmerkung. So die meisten Ausleger; ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 668f; ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 266f; FELDMEIER, 1Petrus (s. Anm. 10), 138. Abweichend von dieser Sicht
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schichtig und philologisch wohl auch nicht eindeutig zu klären. Nach dieser hier auch favorisierten Lesart wäre immerhin deutlich, dass der Taufe eine rettende Bedeutung zugesprochen wird, dass aber der eigentliche Grund der Rettung in der Auferstehung Jesu Christi liegt. Mittels einer eingeschobenen Apposition klärt der Verfasser das ihn prägende Verständnis der Taufe nach zwei einander korrespondierenden Seiten hin. Die Taufe ist nicht eine Abwaschung von Schmutz, sondern eine Bitte an Gott um ein gutes Gewissen. Relativ unproblematisch erscheint die negative Qualifikation, der zufolge die Taufe keine Körperreinigung ist. Solche Taufpraxis entspräche immer wiederkehrenden, eventuell sogar täglichen Lustrationen, die Verunreinigungen des Körpers durch eine Waschung aufheben wollen. Da allerdings diese negative Aussage geradezu banal erscheint, hat Ostmeyer ihr Vorkommen an dieser Stelle mit einer spezifischen Klärung des Taufverständnisses in Verbindung gebracht: „I Petr 3,21 lässt sich verstehen als Abwehr eines Missverständnisses, das Ablegen des Sündenfleisches könne dauerhaft gültig in einem einmaligen Akt geschehen, etwa bei der Taufe: Ablegung des Sündenfleisches geschieht nicht in der Taufe, sondern im Streben nach einem guten Gewissen.“44 Ostmeyer möchte daher vorschlagen, auch V.21b gar nicht mehr auf die Taufe zu beziehen. Ablegung des Schmutzes vollziehe sich eben nicht sakramental, sondern ethisch, im Streben nach einem guten Gewissen. Im Blick auf die Gesamtinterpretation Ostmeyers bleibt folglich hinsichtlich der Taufe eine dreifache Negation: Die Rettung geschieht nicht durch die Taufe, sondern durch die Auferstehung Christi. Die sakramentale Kraft der Taufe als Ablegung des Schmutzes wird bestritten. Die Ethik, also die Bitte um ein gutes Gewissen, wird dem Sakrament entgegengestellt. Diese Interpretation widerstrebt einer wirkmächtigen sakramentalen Auslegung, der wiederum Windisch für viele Jahre zum Durch-
44
hat OSTMEYER, Taufe (s. Anm.24), 148, einen Vorschlag von SELWYN, Peter (s. Anm. 7), 203f.298f aufnehmend, die Lesart unterbreitet: „VAnti,tupon lässt sich nicht, wider den üblichen Sprachgebrauch, auf die Taufe beziehen. Stattdessen bezeichnet, im Einklang mit dem gebräuchlichen Verständnis des Terminus, avnti,tupon in IPetr 3,21 die Täuflinge …, die sich in den acht Sintflutüberlebenden wiedererkennen können.“ Ostmeyer fasst avnti,tupon nicht als Nominativ, sondern als Akkusativ, als Apposition zu u`ma/j. Ostmeyer verweist vor allem auf Beobachtungen zum Sprachgebrauch von avnti,tupon in der griechischen Literatur, die es angeraten sein lassen, avnti,tupon nicht mit tu,pon gleichzusetzen. Allerdings räumt OSTMEYER, Taufe, 39, ein: „Erst sekundär wird avnti,tupoj auf tu,poj bezogen, als das dem tu,poj zwar nachgeordnete, ihm aber entsprechende Abbild. In diesem Sinne hat es Eingang in das christliche Schrifttum gefunden.“ Exakt in diesem Sinn der Entsprechung von Typos und Antitypos legen etwa WINDISCH / PREISKER, Katholische Briefe (s. Anm. 17), 72f, und FELDMEIER, 1 Petrus (s. Anm. 10), 137, V.20f aus. OSTMEYER, Taufe (s. Anm. 24), 156.
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bruch verholfen hatte.45 Windisch geht begriffsgeschichtlich von evperw,thma aus und verknüpft diesen Begriff mit einem sakramentalen Brauch: „Offenbar meint der Vf. einen bestimmten liturgischen Akt, der die Taufe begleitet, und setzt voraus, dass das Gebet um ein reines Gewissen, d. i. um Reinigung des Gewissens … eine petitio efficax … ist.“ Die Forschung hat in den vergangenen Jahren versucht, die Vollzugsform dieses angenommenen liturgischen Brauchs zu erhellen. Das Substantiv evperw,thma begegnet im NT nur hier, daneben nur einmal in der LXX. Das Verb evperwta,w hingegen wird im NT häufig verwendet, zumeist im Sinn von fragen, nie aber als beten. Von daher scheint die Übersetzung von evperw,thma durch Gebet / Bitte problematisch. Die Kommentare von Elliott und Achtemeier wie zuvor auch der in dieser Hinsicht grundlegende Artikel von Wolfgang Schenk46 haben jetzt eine Auslegung erneut aufgenommen und favorisiert, die bereits Windisch in seiner Zeit voraussetzen konnte47 und von der dieser und die neuere Forschung sich zwischenzeitlich weitgehend verabschiedet hatten.48 Auch diese Auslegung erkennt einen liturgischen Brauch. In etlichen Papyri (POxy 6.905; 10.1273; Preisigke s.v.) begegnen evperw,thma und das Verb evrwta,w „ as part of a stipulatory legal formula involving a formal question followed by an acknowledgment of consent.”49 Dieser Gebrauch entspricht in dieser Funktion dem lateinischen Begriff stipulatio bzw. adstipulatio. Dieser Begriff ist ein fester terminus technicus im römischen Obligationsrecht und er bezeichnet “eine durch amtliche Befragung festgestellte Verpflichtung”.50 Liddell / Scott haben evperw,thma 45 46 47
48
49 50
WINDISCH / PREISKER, Katholische Briefe (s. Anm. 17), 73 (Exkurs zu evperw,thma); auch SCHELKLE, Petrusbriefe (s. Anm. 28), 109, erkennt in V.21b die Erinnerung an den liturgischen Brauch. W. SCHENK, Art. evperw,thma, EWNT II (1981), 53f, mit klaren Argumenten gegen die aus dem Kontext gewonnene und an das Wort herangetragene Übersetzung ‚Bitte’ und für ‚Gelübde bzw. pledge’. Der Kommentar von J.E. HUTHER, Kritisch Exegetisches Handbuch über den 1. Brief des Petrus (KEK XII), Göttingen 31867, widmet dem Nachweis, dass hier die Taufe in Anlehnung bzw. Übernahme des Stipulationsrechts beschrieben wird, mehrere Seiten (183-185); ausführlich auch, wenn auch in der Argumentation vorsichtiger, W.M.L. DE WETTE, Kurze Erklärung der Briefe des Petrus, Judas und Jakobus, Leipzig 21853, 73-75. Auch ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), argumentiert sehr ausführlich in eine völlig entsprechende Richtung und bietet weiteres Material aus den Papyri. Auf die parallele Verwendung von stipulatio hatte bereits G.C. RICHARDS, IPet. iii 21 (JTS 32), Oxford 1931, 77, verwiesen, ebd. auch Belege. D. HILL, On Suffering and Baptism in IPeter, NT 18 (1976), 181-189, sieht die größere Nähe zu dem lateinischen Begriff adstipulatio, in dem der selbstverpflichtende Charakter (assent) deutlicher als bei stipulatio (promise, obligation) zum Ausdruck gebracht wird. MICHAELS, 1Peter (s. Anm. 24), 217, unterstreicht, dass evperw,thma eivj qeo,n verstanden werden muss als „an act directed from human beings to God …, not God’s act toward them“. ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 680. SCHENK, evperw,thma (s. Anm. 46), 54; ausführlich dazu jetzt DNP 11 (2001), 1001f.
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mit pledge übersetzt, sie haben auf stipulatio als direkte Parallele verwiesen und sie haben gleichfalls 1Petr 3,21 als Beleg für die Sache verzeichnet.51 Da im römischen Recht in der Antwort des Schuldners das Frageverbum aufgenommen und wiederholt werden muss, könnte man sogar mit Vorsicht die Tauffrage und -antwort rekonstruieren:52 Versprichst du ein gutes Gewissen im Blick auf Gott zu haben? Ich verspreche ein gutes Gewissen im Blick auf Gott. Elliott folgert: “On this analogy, evperw,thma eivj qeo,n denotes a pledge to God in which, at the occasion of baptism, assent is given to certain behavioural requirements such as moral commitment…”53 Die Kritik an dieser Position hat in der Vergangenheit stets vorgebracht, dass die Verwendung von evperw,thma in einer vertraglichen Verpflichtung erst im 2. Jh. bezeugt sei,54 allerdings ohne das zwischenzeitlich gesammelte und von Elliott und Achtemeier erarbeitete Material, vor allem aber auch ohne die weiter zurückreichenden Parallelen aus dem Obligationrecht (stipulatio) zu bedenken. Elliott führt u.a. auch als weitere Sachparallele den Brauch des militärischen Eides (sacramento militari) an (Plinius, Ep. X 29), in der sich die Soldaten dem Machthaber gegenüber zu Loyalität verpflichten. Zusätzlich verweist er auf den Bericht des Plinius, Ep. X 96, der von einem feierlichen Eid (sacramentum) der Christen berichtet, mit dem sie sich an bestimmte ethische Grundsätze gebunden hätten. Diese letzteren Belege entfernen sich allerdings bereits wieder von dem mit evperw,thma gesetzten Ausgangspunkt. Halten wir den Kontext fest. Demnach scheint V.21b in der Erklärung des Taufverständnisses zunächst grundsätzlich betonen zu wollen, dass die Taufe aufgrund der Auferstehung Jesu Christi rettet. Der 1Petr setzt hier eine theologische Deutung des Sakraments voraus, die möglicherweise in der Linie von Röm 6 liegt. Durch diesen christologischen Bezugspunkt ist die Taufe von einem wohl eher kultischen Verständnis als einmalige Abwaschung des Schmutzes unterschieden. In welchem Verhältnis steht nun aber die im Taufakt eingegangene Selbstverpflichtung im Blick auf Gott oder direkt an Gott (evperw,thma eivj qeo,n) zu dem guten Gewissen, das ja betont der Ablegung des körperlichen Schmutzes entgegengestellt wird? Die Zuordnung von evperw,thma zu suneidh,sewj avgaqh/j ist in der Forschung höchst umstritten. Dass suneidh,sewj avgaqh/j hier als Gegenbegriff zu sarko.j avpo,qesij r`u,pou fungiert, wird kaum in Frage gestellt. Aber wie ist der Genitiv suneidh,sewj 51 52 53 54
H.G. LIDDELL / R. SCOTT, A Greek-English Lexicon, Oxford 1966, 619. So auch HUTHER, 1. Petrus (s. Anm. 47), 184f. ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 680; ebenso ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 270. Die juridische Verwendung ist nach SCHELKLE, Petrusbriefe (s. Anm. 28), 109 Anm. 1, erst nachchristlich belegt; auch GOPPELT, 1.Petrusbrief (s. Anm. 11), 259; FELDMEIER, 1 Petrus (s. Anm. 10), 138.
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avgaqh/j im Verhältnis zu evperw,thma aufzulösen? Achtemeier hat die verschiedenen Möglichkeiten ausführlich ausdiskutiert und sich überzeugend gegen die Lesart eines Genitivus subiectivus und für einen Genitivus obiectivus ausgesprochen.55 Nur so bleibt ja auch die Parallelität zu dem korrespondierenden Genitiv sarko.j avpo,qesij r`u,pou gewahrt, der unbedingt als Genitivus obiectivus zu lesen ist. Nehmen wir evperw,thma eivj qeo,n im Sinne der Selbstverpflichtung an Gott, dann käme mit suneidh,sewj avgaqh/j als Gegenbegriff zu sarko.j avpo,qesij r`u,pou so etwas wie ein ethischer Gehalt der Selbstverpflichtung in Blick. Das gute Gewissen findet seinen Ausdruck in gewissen ethischen Standards. Achtemeier beschreibt den Vorgang wie folgt: „… if a pledge, then the baptised pledges to God that he or she will maintain a ‘good conscience’, … that is, a consciousness of God and a good and decent conduct both within and without the Christian community.”56 Bereits 1Petr 2,19; 3,16 deuteten in die Richtung, dass sunei,dhsij im 1Petr wie aber auch in anderen frühchristlichen Schriften, zumal in der Kombination mit avgaqh, (Apg 23,1; 1Tim 1,5.19; 1Clem 41,1), mit ‚Gewissen’ allein nur unzureichend wiedergegeben wird. Die Verwendung dieses Wortes zielt eher auf die persönliche Zustimmung oder Ausrichtung. Elliott übersetzt daher mit „mindfulness of God and compliance with God’s will“.57 Frankemölle erkennt „wie in 219 gemäß hellenistischer Anthropologie … die ‘gute Grundorientierung’ der Christen im Tun und im Selbstwertbewußtsein …”, er spricht auch von ‘moralischem Bewußtsein’.58 Hierbei ist der ethische Gehalt von suneidh,sewj avgaqh/j wohl zutreffend aufgenommen worden, allerdings wird der diesen Text bestimmende Taufkontext vernachlässigt. Denn zur prä- oder postbaptismalen Katechese müssen bestimmte klar definierte Forderungen gehört haben, die hier zwar nicht angesprochen, aber dann wohl doch mitgedacht waren. Man wird angesichts des das Taufgeschehen auf wenige knappe Begriffe reduzierenden Verfahrens nur behutsam fragen dürfen, welche Praxis prä- oder postsakramentaler Katechese der Verfasser vor Augen hat. Der nähere Kontext deutet auf eine Verpflichtung des Täuflings im ethischen Bereich. Denkbar wären etwa solche Themen, die an anderer 55 56
57 58
ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 271f; völlig entsprechend auch ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 681. ACHTEMEIER, 1Peter (s. Anm. 10), 271f, der mit Recht auf die Nähe des Aufnahmerituals in Qumran aufmerksam macht; auch COLWELL, Baptism (s. Anm. 41). Ausführlich in diesem Sinn auch MICHAELS, 1 Peter (s. Anm. 24), 217; HARTMAN, Namen (s. Anm. 7), 112f. ELLIOTT, I Peter (s. Anm. 7), 681; ausführlich zum Begriff und zu seiner Verwendung in 1Petr 2,19 auch 519. FRANKEMÖLLE, 1. Petrusbrief (s. Anm. 11), 60.
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Stelle im 1Petr benannt werden (etwa die ethischen Standards in 1Petr 2,11f.15; 4,3.8f.15 u.a.). Es wird jedoch das magische Verständnis, die Taufe stelle eine einmalige Abwaschung des Schmutzes dar, zurückgewiesen. Die rettende Kraft der Taufe besteht nicht in einer solchen Abwaschung, sondern in der Auferstehung Jesu Christi, auf die sie sich bezieht. Begleitet wird die Taufe allerdings von einer Verpflichtung des Täuflings, die wahrscheinlich in einer Frage des Täufers und einer auf sie sich beziehenden Antwort des Täuflings Ausdruck fand.
4. Ergebnis Die Interpretation des 1Petr als Dokument einer Taufpredigt bzw. als Agende eines Taufrituals hat die Forschung etwa 70 Jahre lang bestimmt. Diese Position wird, obwohl gegenwärtig mehrheitlich verworfen, in Einleitungswerken immer noch zitiert, jedoch ausschließlich aus forschungs- oder wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Die Frage nach dem Beitrag des 1Petr zur frühchristlichen Tauftheologie reduziert sich im Wesentlichen auf die Vorstellung der Wiedergeburt und auf die Tauftypologie in 1Petr 3,20f.59 Während eine Zuordnung der Texte, die im 1Petr von Wiedergeburt handeln, zu einer Tauftheologie weitaus problematischer ist als üblicherweise zugestanden, deutet die Tauftypologie immerhin so etwas wie ein Taufversprechen oder eine Taufverpflichtung im Taufritual an. Dies kann als kleiner Beitrag zu dem Komplex der ethischen Standards, die mit der Taufe einhergehen, gewertet werden, auch wenn über das Faktum einer Taufverpflichtung hinaus vom Text her nichts gesagt werden kann.
59
So bereits deutlich F. BÜCHSEL, avnagenna,w (s. Anm. 25), 673: „Die Taufe kommt im 1Pt nur als der Glaubensakt in Betracht, in dem der Mensch dadurch rein wird, dass er Gott um ein gutes Gewissen bittet und dies erhält er auf Grund der Auferstehung Jesu Christi 3,21.“
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Die Apokalypse und das Aposteldekret Martin Karrer
1. Der Kontext Dürften wir dem Bericht der Apg folgen, wären die Regelungen des sog. Aposteldekrets bei Abfassung der Offb schon mindestens eine Generation, bei der – weniger wahrscheinlichen – Spätdatierung der Offb in die Zeit Hadrians zwei bis drei Generationen alt.1 Einst in Jerusalem beschlossen, hätten sich die Regelungen von Antiochia, Syrien und Kilikien aus ins paulinische Missionsgebiet verbreitet (Apg 15,13-29). Lassen wir offen, ob die lukanische Skizze der Anfänge so bestehen kann – dem gilt eine umfangreiche Forschungsdiskussion2 –, für uns ist ausschlaggebend: In dem von der Apg repräsentierten Teil frühchristlicher Erinnerung des späten 1. Jh. hat sich das sog. Aposteldekret als eine nach lukanischer Ansicht um die Mitte des Jh. entstandene Regelung verankert. Es ist, wie immer es entstand, zu einem wirksamen Text geworden. Das bestätigt das jüngere Zeugnis der Pseudoclementinen (bes. Ps-Clem H VII 4,2; 8,1f.; vgl. H VIII 19,1; Rec IV 36,4). Dort sind die Normen fortgeschrieben und wahrt die Fortschreibung dennoch alte Wurzeln, so dass wir den Einflussbereich der Regelungen nicht zu eng ansetzen dürfen.3 1 2
3
Die Spätdatierung schlägt TH. WITULSKI, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007, Ergebnis 346-350 vor. Verzichten wir darauf, hier die klassische Diskussion um 1900 zu wiederholen und nennen lediglich einige Arbeiten jüngerer Zeit (weitere im Folgenden): M. KLINGHARDT, Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums (WUNT II 32), Tübingen 1988, bes. 156-160; S.G. WILSON, Luke and the Law (MSSNTS 50), Cambridge 1983, 71-102, bes. 101f (Summary); A.J.M. WEDDERBURN, „The Apostolic Decree”. Tradition and Redaction, NT 34 (1993), 362-389 (und DERS., A History of the First Christians, London u.a. 2004, 92-98, 110-114); J. WEHNERT, Die Reinheit des „christlichen Gottesvolkes“ aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets (FRLANT 173), Göttingen 1997. WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 145-186. Die Ergebnisse seiner Rekonstruktion (vgl. bes. 165f) führen zu folgendem langem Grundkatalog (nach H VII 8.1f; 8.19,1): @dei/# trape,zhj daimo,nwn [+ Verb, vielleicht avpe,cesqai] (le,gw de. eivdwloqu,twn) [kai.] nekrw/n @kai.# pniktw/n @kai.# qhrialw,twn @kai.# tmhtw/n @kai.# ai[matoj @kai.# avpo. koi,thj gunaiko.j lou,esqai lu,matoj @kai. gunai/kaj# kai. a;fedron fula,ssein. Davon ableiltbar sei der kurze Grundkatalog (nach H VII 4,2): @dei/# trape,zhj daimo,nwn avpe,cesqai @kai.# nekra/j sarko,j( @kai.# ai[matoj @kai.# evk $panto.j% avpolou,esqai.
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Die Überlieferungsstränge der Apg und der Pseudoclementinen sind sich dabei einig, dass nicht Paulus, sondern Jakobus (Apg 15,1321) bzw. Petrus (Ps-Clem H VII 4,2) die Regelungen mit Bezug auf das Judentum präsentieren (Apg 15,21 formuliert das unter Verweis auf synagogale Lesungen der Tora, Ps-Clem H VII 4,3 und verwandte Stellen allgemeiner). Umgekehrt zitiert kein einziger Paulusbrief die Regelungen des Dekrets (Gal 2,1-10 spricht eher für Distanz) und folgen alle Deuteropaulinen – 2Thess, Eph, Kol und wahrscheinlich am spätesten, schon zum 2. Jh. hin die Past – dem paulinischen Usus. Die Tradition des Aposteldekrets verbreitet sich demnach vom Judenchristentum aus, während sie von Paulus und den Autoren, die sich in die Person des Paulus versetzten, ignoriert wurde (die gelegentliche These, das Interesse von 1Kor 5-10 an Fragen der Sexualethik und Speisenfreiheit verrate ein paulinisches Wissen um die Klauseln des Dekrets gegen eivdwlo,quta und pornei,a,4 überzeugt nicht). Das sog. Dekret besaß also trotz des lukanischen Vorstoßes seinen primären Ort im Judenchristentum und drang nur zögernd in den paulinischen Gemeindekreis ein. Eine einfache Erklärung für diesen Sachverhalt ergäbe sich, wenn die Regelungen zunächst das Zusammenleben speziell im jüdischkultischen Kerngebiet um Judäa-Jerusalem hätten gestalten sollen (so die These von Wolfgang Kraus5) und ihre Ausbreitung in die Diaspora deswegen alles andere als selbstverständlich war. Tatsächlich fällt auf, dass die gern als Hintergrund des Aposteldekrets ausgemachten Weisungen von Lev 17-186 den Horizont des „Landes“ mit dem Heiligtum errichten, das nicht durch die Unreinheit von Fremden kultisch belastet werden soll (Lev 18,24-28; die früher gern herangezogenen noachidischen Regeln kristallisieren sich erst nachneutestamentlich voll aus)7. 4
5 6
7
Vgl. M. SIMON, The Apostolic Decree and its Setting in the Ancient Church (1969/70), in: DERS., Le Christianisme antique et son contexte religieux, Scripta Varia 2 (WUNT 23), Tübingen 1981, 414-437, bes. 429f; S. MEIßNER, Die Heimholung des Ketzers. Studien zur jüdischen Auseinandersetzung mit Paulus (WUNT II 87), Tübingen 1996, 275-278. W. KRAUS, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ,Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk (SBS 179), Stuttgart 1999, 144149. S. am umfangreichsten KLINGHARDT, Gesetz (s. Anm. 2), 181-206, und WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 209-238; dort auch Auseinandersetzung mit alternativen Thesen und Kritikern (bes. WILSON, Luke [s. Anm. 2], 87, 94-99 und WEDDERBURN, Decree [s. Anm. 2] 1993, 378-388). Vgl. aber Talmud Sanhedrin 56b u.ö.; K. MÜLLER, Tora für die Völker. Die noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrer Rezeption im Christentum (SKI 15), Berlin 21998, dort bes. 137-199 und M. BOCKMUEHL, The Noachide Commandments and New Testament Ethics: with special reference to Acts 15 and Pauline Halakhah, RB 102 (1995), 72-101 (wieder in DERS., Jewish Law in Gentile Churches, Grand Rapids 2003, 145-173).
Apokalypse und Aposteldekret
431
Doch auch dies brauchen wir nicht zu entscheiden (alternativ schlägt die Forschung z.B. eine Entstehung nach dem in Gal 2,11-14/21 geschilderten antiochenischen Zwischenfall vor8). Immerhin hilft die Wahrnehmung dieser möglichen Folie, die Änderungen zu verstehen, die sich bei der Verbreitung des sog. Dekrets unter den Völkern – von Lev 18,24-28 aus gesehen, jenseits des Landes – notwendigerweise ergeben müssen. Die Perspektive ändert sich nun und verlangt Rücksichtnahme auf Identitätsmerkmale des Judentums in der Diaspora.9 Tabelle 1: Die Regelungen des sog. Aposteldekrets nach den Hauptzeugen Apg 15,20 p74 A B
verlangt apecesqai twn alisghmatwn twn eidwlwn kai thj porneiaj kai tou pniktou kai tou aimatoj (so ; p74 A B ohne Artikel vor pniktou, p74 A zuzüglich apo nach apecesqai)
Apg 15,20 p45
verlangt apecesqai twn alisghmatwn @twn# eidwlwn kai tou pniktou kai tou aimatoj; die Regelung zur Sexualität (porneia) fehlt
Apg 15,20 D
verlangt apecesqai twn alisghmatwn twn eidwlwn kai thj porneiaj kai tou aimatoj kai osa mh qelousin eautoij geinesqai eteroij mh poieite (D; vgl. kai osa an mh qelwsin autoij ginesqai eteroij mh poiein 1739), enthält also statt des Verbots des Erstickten eine negative Form der Goldenen Regel
Apg 15,28 ( A B C D
(Beschluss:) mhden pleon epitiqesqai umin baroj plhn toutwn
und andere Haupt-
twn epanagkej (in den Handschriften kleine Varianten, z.B.
handschriften)
bietet A am Ende kurz plhn twn epanagkej)
Apg 15,29 p74 A B
apecesqai eidwloqutwn kai aimatoj kai pniktwn kai porneiaj (in Handschriften teils Singular pniktou)
8
9
S. W. PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139), Göttingen 1987, 73f,85-89; M. ÖHLER, Barnabas. Der Mann in der Mitte (BG 12), Leipzig 2005, 84-86.142f, nach DERS., Barnabas. Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte (WUNT 156), Tübingen 2003, 411ff. 430ff. 485f. Von vornherein unter der Perspektive der Diaspora betrachtet R. DEINES, Das Aposteldekret: Halacha für Heidenchristen oder christliche Rücksichtnahme auf jüdische Tabus?, in: J. FREY u.a. (Hg.), Jewish Identity in the Greco-Roman World (AJEC 71), Leiden 2007, 323-395, den Text der Apg (Unterschied zur Perspektive des >Landes< 354-360).
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Martin Karrer
apecesqai eidwloqutwn kai aimatoj (1739: + kai pniktou% kai
Apg 15,29 D
porneiaj kai osa mh qelete eautoij geinesqai (1739: ginesqai) eterw (1739: eteroij% mh poiein (D-Korrektor poieitai); das lässt wiederum das Erstickte aus und fügt eine negative Form der Goldenen Regel an Apg 21,25 p74
A B
verlangt fulassesqai autouj to te eidwloquton kai aima kai
1739
pnikton kai porneian (p74 ohne te; 1739 ohne autouj)
Apg 21,25 D
verlangt fulassesqai autouj to eidwloquton kai aima kai porneian (wiederum Auslassung des Erstickten, keine Einfügung der Goldenen Regel)
Ps-Clem H VII 8,1f.
erläutert die Ablehnung des Tisches der Dämonen und die
(Langfassung)
Reinigung aus der Kurzfassung, erstere durch Speiseregeln – Ablehnung der eivdwlo,quta, von Totem (nekrw/n), Ersticktem (pniktw/n), Gerissenem (qhrialw,twn), Blut (ai-ma) –, letztere durch eine Kombination von allgemeiner Aussage (Ablehnung unreinen Lebens; mh. avkaqa,rtwj biou/n) mit konkreten Reinigungen. Den Bereich der Sexualität berührt die Waschung nach dem Koitus (avpo. koi,thj gunaiko.j lou,esqai%* pornei,a erscheint weder in Kurz- noch Langfassung
Ps-Clem H VII 4,2
verlangt avpe,cesqai trape,zhj daimo,nwn (vgl. trape,zhj daimoni,wn
(Kurzfassung)
1Kor 10,21), Enthaltung von totem Fleisch (nekra. sa,rx) und Blut (ai-ma), Reinigung (avpolou,esqai ktl)); das Erstickte (pnikto,n) wird nicht erwähnt
Stellen wir die prägnantesten Zeugnisse, Apg und Pseudoclementinen, in einer Tabelle zusammen (Tabelle 1),10 fällt ein drittes auf: Der Wortlaut variiert früh, und der lukanische Haupttext signalisiert das als zur Sache gehörig. Denn die Begründungsrede des Jakobus verlangt ihm zufolge als erstes und damit wichtigstes, sich von jeder Verunreinigung durch die Götterbilder der Umwelt fernzuhalten (avpe,cesqai tw/n avlisghma,twn tw/n eivdw,lwn Apg 15,20). Die laut Apg 15,28f. bei den Völ10
Die Eintragungen in die Tabelle erfolgen nach den New Testament Transcripts (http://nttranscripts.unimuenster.de/AnaServer?NTtranscripts+0+start.anv), deshalb zum NT ohne Akzente; Itazismen sind teils normalisiert. Wichtige weitere Hinweise bei M. MEISER, Texttraditionen des Aposteldekrets – Textkritik und Rezeptionsgeschichte, in: T. NICKLAS / M. TILLY (Hg.), The Book of Acts as Church History: Text, Textual Traditions and Ancient Interpretations (BZNW 120), Berlin/New York 2003, 373-398.
Apokalypse und Aposteldekret
433
kern verbreitete und dem Paulus bei seinem späteren Jerusalembesuch in 21,25 nochmals vorgehaltene Ausführung dagegen erwähnt die Götterbilder nicht mehr, sondern rückt ein Beispiel der Verunreinigung, den Verzehr von aus Opfern stammendem Fleisch an ihre Stelle (avpe,cesqai eivdwloqu,twn). Dem Gefälle der Erzählung nach bleibt die Verunreinigung durch Götterbilder die Basis, wird aber erst das Konkretum – die Ablehnung der eivdwlo,quta – geschichtlich entscheidend wirksam. Diese Flexibilität hilft, die Vielschichtigkeit der Textüberlieferung zu verstehen. Namentlich das Verbot des „Erstickten“ (pnikto,n) tritt in beträchtlichen Teilen der Überlieferung zurück; D (der sog. westliche Text) ersetzt und der Kurztext der Ps-Clem (H VII 4,2) übergeht es. Aber auch pornei,a ist nicht einhellig überliefert (es fehlt in p45 zu Apg 15,20) und schwankt im Verständnis (das ist die Voraussetzung für die Ersetzung durch Reinheitsregeln in den Pseudoclementinen). Die Anordnung der Regeln variiert (pornei,a steht in A B und Papyri von 15,20 an zweiter, in 15,29; 21,25 an letzter Stelle). Selbst wenn wir die Einfügung der Goldenen Regel in den Handschriften D und 1739 (dem sog. westlichen Text) zurückstellen,11 weil D und 1739 die Offb nicht enthalten und keine bislang erschlossene Offb-Handschrift die Goldene Regel in die Überlieferung von 2,14.20 integriert, müssen wir festhalten: Die in der Forschung eingebürgerte Bezeichnung „Aposteldekret“ führt in die Irre, insofern sie den Eindruck eines festen, dekretierten Wortlauts vermittelt. Der geschichtlich wirksame „Dekret“-Text bildet keinen unveränderlichen Wortlaut, sondern ein flexibles, lebendiges Motivcluster, das durch verdichtete Sprache (bes. eivdwlo,quta( pornei,a( ai-ma; vgl. auch unten zu ba,roj) ein übergreifendes Anliegen erkennbar macht und identifizierbar bleibt. Ein Minimum von Regeln soll ihm zufolge das Zusammenleben von Menschen aus den Völkern mit Juden und Judenchristen ermöglichen. Dieses Minimum erschien den Vertreterinnen und Vertretern in der zweiten Hälfte des 1. Jh. als unabdingbare, von den Völkerchristen zu tragende Last (ba,roj Apg 15,28), Christen aus den Völkern eher als ein beschwerliches, wiewohl begreifbares Joch (zugo,j;12 dieses Bedenken wird in Apg 15,10 dem Petrus in den Mund gelegt).
11 12
Literatur zu D bei M.-É. BOISMARD, Le Texte Occidental des Actes des Apôtres (EBib NS 40), Paris 2000 ; DERS. / A. LAMOUILLE, Le texte occidental des Actes des Apôtres Reconstruction et Réhabilitation, 2 Bde, Paris 1984. Zur halachischen Konnotation von „Joch“ vgl. Abot 3, 5, mBer 2,2 u.ö.; WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 39f.
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2. Der Text In diesem Kontext nun gewinnt die Offb eine Schlüsselstellung. Denn sie bildet die einzige Quelle des Neuen Testaments, die neben der Apg einen Reflex des sog. Aposteldekrets verrät, und dies wiederum in Gesprächsaufnahme des Judenchristentums mit dem paulinischen Christentum. Judenchrist ist der Autor (angefangen bei seiner Selbstvorstellung mit dem hebräischen Namen Johannes 1,9), und paulinisch der Gemeindekreis von Ephesus bis Laodizea, an den er sich richtet.13 Wahrscheinlich schreibt er in den 90er Jahren (unter Domitian), einige Jahre nach der Entstehung der Apg.14 Die weniger wahrscheinliche Spätdatierung unter Hadrian würde den Abstand zur Apg vergrößern, doch das Grundgefüge der geschichtlichen Entwicklung – alte Traditionen, Apg, Offb – nicht grundsätzlich ändern. Der Bezug zum Aposteldekret erschließt sich freilich nur bei genauer Analyse, weshalb er wenig bekannt ist. Wir müssen den Bezug nachweisen und in der Geschichte der Formulierungen verorten:
2.1. Übersicht über die zentralen Aussagen Tabelle 2: Die Rezeption von Regeln des sog. Aposteldekrets in der Offb Offb 2,14 A C15
es sei falsch fagein eidwloquta kai porneusai
Offb 2,20 A C
es sei falsch porneusai kai fagein eidwloquta (Umstellung als rhetorische variatio)
Offb 2,24 A C16
13
14
15
16
(Christus spricht:) ou ballw ( Futur balw) ef umaj allo baroj
Interessanterweise tut er das von vornherein mit einem „paulinischen“ Zugeständnis, nämlich dem paulinischen Briefformular in 1,4; vgl. H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das NT. Ein Lehr- und Arbeitsbuch (WUNT 152), Tübingen 2003, 228-250. S. als Zusammenfassung dieser Mehrheitsmeinung S. SCHREIBER, Die Offenbarung des Johannes, in: M. EBNER / DERS., Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 559-585: 569f. S. WITETSCHEK, Ephesische Enthüllungen 1: Frühe Christen in einer antiken Großstadt. Zugleich ein Beitrag zur Frage nach den Kontexten der Johannesapokalypse (Biblical Tools and Studies 6), Leuven 2008, 262 u.ö. rückt die Entstehung von Apg und Offb einander bes. nahe. Der Codex Ephraemi ist in den Apparat von Nestle-Aland27 und die New Testament Transcripts (s. Anm. 10) noch nicht durchgängig eingetragen, aber über die Edition K. VON TISCHENDORF, Novum Testamentum Graece, Tauchnitz 1904 gut zugänglich. Der Itazismus fagin lässt sich als Variante vernachlässigen. Der Text unserer Ausschnitte von 2,14.20.24 ist in den Haupthandschriften der Offb (A, , C) gut und im Wesentlichen übereinstimmend erhalten; die Handschriften verzichten durchgängig sowohl auf Erweiterungen, wie sie unter Paralleleinfluss der
Apokalypse und Aposteldekret
435
Offb 2,14 verwehrt den Leserinnen und Lesern, vermittelt über die Adresse an Pergamon, Fleisch von Opfern der Völker zu essen und in sexuell falscher Weise zu leben (fagei/n eivdwlo,quta kai. porneu/sai). Das entspricht dem ersten und dem vierten Glied des sog. Aposteldekrets in der Fassung von Apg 15,29; 21,25, und bereits das Stichwort eivdwlo,quta macht schwer, nicht an dieses zu denken; denn eivdwlo,quta findet sich neutestamentlich nur im 1Kor und an unseren Stellen um das sog. Aposteldekret (worauf wir zurückkommen werden), eng neben dem Stamm porn& allein in letzterem Bereich.17 Unser Autor stellt genauerhin einen Bezug zu der laut Apg unter den Völkern zu verbreitenden Gestalt des sog. Dekrets her, während er das Leitmotiv aus der Begründung des Jakobus in Apg 15,20, die Befleckungen (avlisgh,mata) durch Götter und Götterbilder der Völker (ei;dwla), nicht aufgreift. Die Begründungsgeschichte des Aposteldekrets ist für ihn irrelevant.18 Umso größer bleibt sein Interesse an der ersten und vierten Regelung. Er wiederholt in Offb 2,20 die Mahnung von 2,14, nun an Thyatira gerichtet. Abgesehen von einer rhetorischen variatio – die sexuelle Richtlinie steht vor der Speiseregel – stimmt der Wortlaut überein (porneu/sai kai. fagei/n eivdwlo,quta). Für die Rezeption wichtig ist die Abfolge von 2,14 zu 2,20: Zuerst steht die Reihenfolge der Glieder, die der Überlieferung der Apg entspricht, dann die rhetorische Fortschreibung. Dieses Verfahren sorgt für einen hohen Erkennungsgrad der Anspielung auf das sog. Dekret. Unser Autor wünscht rhetorisch deren Wahrnehmbarkeit. Sollten trotzdem noch Bedenken am Zusammenhang bestehen, weil lediglich zwei der vier geläufigen Regeln zitiert werden,19 räumt 2,24 sie aus. Dort fährt unser Autor fort, Christus lege den sich nicht verfehlenden Gemeindegliedern keine andere Last (kein a;llo ba,roj) auf. Dieses Motiv überrascht im Text. Denn 2,14 und 20 stellen sich das im Sexuellen und bei den Mahlzeiten richtige Leben nicht als Last, sondern als Normalität vor, die durch Verführer („Bileam“, „Isebel“) gestört wird. Die Argumentation gegen die Verführer reicht daraufhin bis 2,24.
17 18 19
Apg möglich wären, als auch auf einen Abgleich der Wortstellung zwischen 2,14 und 2,20. Papyruszeugen fehlen, was die Rekonstruktion von p115 in den New Testament Transcripts zu 2,14 nicht überdecken darf. In B ist die Offb nicht enthalten. Der 1Kor thematisiert pornei,a (5,11-7,2) und eivdwlo,quta (8,1-10,19 bzw. 10,28 v.l.) voneinander getrennt. avli,sghma Apg 15,20 wird deshalb zum neutestamentlichen Hapax legomenon. So die Bedenken bei H. LÖHR, Speisenfrage und Tora im Judentum des Zweiten Tempels und im entstehenden Christentum, ZNW 94 (2003), 17-37: 30f, und A. SATAKE, Die Offenbarung des Johannes (KEK XVI), Göttingen 2008, 166.
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So können wir ba,roj in 2,24 schwer von 2,20(-23) trennen,20 brauchen aber eine Erklärung für diesen Hinweis. Dank der Apg werden wir fündig: ba,roj begegnet in der Septuaginta, der zwischentestamentlichen Literatur des griechischen Judentums und dem Neuen Testament selten und meist im allgemeinen Sinn von Last / Beschwer (Mt 20,12; 2Kor 4,17; Gal 6,2).21 Der spezifische Gebrauch als normative Last und Weisung22 ist ungewöhnlich und findet sich in den erhalten gebliebenen Quellen pointiert nur noch in der Diskussion um das Aposteldekret in Apg 15,28 (nach 15,10.19).23 Der Schluss wird damit zwingend: Der Aufbau von Offb 2,14.20.24, die Einzelmotive (Speise- und Sexualregel) und ihr Verständnis als normative Last verraten Vertrautheit mit der Diskussion um die Regelungen des sog. Aposteldekrets.24 Der Autor der Offb besitzt solche Vertrautheit und verlangt sie durch die Knappheit und Anlage seiner Anspielung in gewissem Umfang auch bei seinen Leserinnen und Lesern. Zu seiner Zeit bestehen im westlichen Kleinasien, seinem Adressatenkreis, mithin Grundkenntnisse der Diskussion um das sog. Dekret.25 20 21
22 23
24
25
Anders WITULSKI, Johannesoffenbarung (s. Anm. 1), 247 Anm. 45 unter Verweis auf J. ROLOFFS Deutung von ba,roj in 2,24 als „Belastung, Bedrohung“ der Gemeinde (Die Offenbarung des Johannes [ZBK.NT 18], Zürich 1984, 57). Was die LXX angeht, ordnen J. LUST u.a., Greek-English Lexicon of the Septuagint, Stuttgart 22003, 103 den insgesamt nur 5 Belegen die Bedeutungen „weight [...]; load, baggage [...]; mass [...]; oppressiveness“ zu. Allein Sir 13,2 lässt mit großer Mühe eine halachische Konnotation herstellen. Die beiden Vorkommen in den sog. Pseudepigraphen sprechen von der Last des Körpers (TestAbr längere Rezension 20,5) bzw. dem Gewicht von Tieren (Arist 93), entfallen also für unseren Zusammenhang. S. bes. WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 52 und 211; er schlägt für die Apg näherhin einen spezifischen Bezug auf Tora-Weisungen vor, während WILSON, Luke (s. Anm. 2), 83 einen solch engen Torabezug ablehnt. H.-J. STEIN, Frühchristliche Mahlfeiern. Ihre Gestalt und Bedeutung nach der neutestamentlichen Briefliteratur und der Johannesoffenbarung (WUNT II 255), Tübingen 2008, 248 sieht die Parallele noch weiter reichen: Apg 15,28 und Offb 2,24 auferlegen je kein ba,roj plh,n (keine halachische Auflage außer…). plh.n o] e;cete krath,sate a;crij ou- a'n h[xw in Offb 2,25 wäre damit parallel zu plh.n tou,twn tw/n evpa,nagkej in Apg 15,28 zu verstehen. Ich zögere, so weit zu gehen, weil das letztlich eine literarische Kenntnis der Apg durch die Offb erfordern würde. Hier korrigiere ich meine früher skeptischere Haltung (M. KARRER, Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986, 201f). Festzuhalten ist, dass das Stichwort ba,roj alleine den Nachweis für den Zusammenhang mit dem Aposteldekret nicht tragen könnte. Darin ist T.B. SLATER, Christ and Community. A Socio-historical Study of the Christology of Revelation (JSNT.S 178), Sheffield, 1999, 136 recht zu geben. Analoges gilt für die Verse 14 und 20, wenn wir sie je einzeln lesen. Das Cluster der Indizien insgesamt entkräftet allerdings die Bedenken (auch gegen WITULSKI, Johannesoffenbarung [s. Anm. 1], 246f u.a.). Zur weiteren Diskussion W. THIEßEN, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe (TANZ 12), Tübingen/Basel 1995, 174f.351f,
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437
2.2. Der Kern – Regeln und ihr Verständnis als „Last“ Verwechseln wir die Berührungen zwischen Offb und Apg nicht mit einem literarischen Zusammenhang. Nirgendwo in der Offb ist eine Benützung der Apg nachweisbar, und auch in unserer Passage der Sendschreiben wiegen die Differenzen schwer. Das fehlende Interesse an der laut Apg mit Jakobus zu verbindenden Ausgangsdiskussion des Aposteldekrets und an der dortigen viergliedrigen Form notierten wir. Am Motivcluster um ba,roj wiederholt sich die Beobachtung; nur die Apg, nicht die Offb erwähnt, jedes unnötige Joch sei abzuwehren und die Last dennoch unabdingbar (die Schlüsselbegriffe von Apg 15,10 zugo,j, 15,19 mh. parenoclei/n, 15,28 evpa,nagkej sind den Sendschreiben fremd).26 Wir müssen uns mit der sprachlichen Gemeinsamkeit bei Speise-, Sexualregel und Verständnis der Auflagen als ba,roj, normative „Last“ begnügen. Schon dies ist allerdings von nicht geringer Bedeutung. Denn der Regelkreis des sog. Aposteldekrets umfasste demnach im späten 1. Jh. (bei Spätdatierung der Offb außerdem im frühen 2. Jh.) neben den Regeln im eigentlichen Sinn deren Charakterisierung als „Last“. Die Offb schmilzt das in den Zusammenhang ihrer Sendschreiben ein, der Autor der Apg in den seiner Fiktion nach schriftlich verschickten Dekretstext. Beides sind nachträgliche Literarisierungen. Doch unter ihnen verbirgt sich ein Reflex älterer Tradition, der zufolge ein Zusammenleben von Juden und Völkern nur unter Ertragen einer normativen Last möglich war.
2.3. Die Änderung des Sprachgestus gegenüber der Apg Wie indes ist die Tradition zu aktualisieren? Apg und Offb differieren signifikant im Sprachgestus. So vielschichtig die Überlieferung der Apg ist, in einem sind sich ihre Handschriften einig: Die Regelungen des sogenannten Dekrets trennen die Gemeinde von Verhaltensweisen
26
und R. MÜLLER-FIEBERG, Paulusrezeption in der Johannesoffenbarung? Auf der Suche nach dem Erbe des Apostels im letzten Buch des biblischen Kanons, NTS 55 (2009), 83-103: 99f. Die Kritik an der literarischen Abhängigkeit von der Apg bildet somit den Kern, in dem den Kritikern einer Kenntnis des Aposteldekrets durch die Offb (KLINGHARDT, Gesetz [s. Anm. 2], 169 mit Anm. 34) zuzustimmen ist. M. Klinghardt korrigiert seine These jüngst dazu, die Darstellung der Apg gehe erst auf eine Redaktion des 2. Jh. zurück. Damit wäre das Verhältnis zur Offb neu zu bestimmen (Fachtagung zum Aposteldekret Wien Februar 2009; die Veröffentlichung ist vorgesehen).
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unter den Völkern. Apg 15,20 (Grundlegung) und 15,29 (Verbreitung des Dekrets) drücken das mit dem Verb avpe,cesqai („sich fern halten von etwas“) und den Abstrakta der abzulehnenden Verhaltensweisen aus. Jenseits der Gemeinde gibt es demnach das abzulehnende Opferfleisch (eivdwlo,quta), Blutgenuss und Blutvergießen (beides kann ai-ma meinen), „ersticktes“ Fleisch (pnikto,n) und sexuelles Fehlverhalten (pornei,a). Die Gemeinde sieht das in ihrer Umwelt, aber teilt es nicht; das ist ihre normativ-halachische „Last“. Der Autor der Offb dagegen sieht diese Trennung zusammenbrechen. Verführerinnen und Verführer („Bileam“ 2,14; „Isebel“ 2,20) sind laut ihm in den Gemeinden tätig und stellen vorhandene, eingespielte Regelungen in Frage. Opferfleisch (eivdwlo,quta) und sexuelles Fehlverhalten (pornei,a) sind nicht mehr abstrakte Charakteristika anderer – von denen „draußen“ (e;xw27), wie die Offb sagen würde. Sie wandeln sich zur beunruhigenden Handlung drinnen, in der Gemeinde. Das Verb des Essens (fagei/n) tritt deshalb als Handlungssignal zum Nomen eivdwlo,quta hinzu, und das Verb porneu/sai löst das Nomen pornei,a ab (Offb 2,14.20). Die „Last“ vertieft sich von der Last der Norm (Apg) zur Last des Widerstands gegen den drohenden Zusammenbruch der Norm (Offb).
2.4. Schlussfolgerungen Es reizt, aufgrund dieses Befundes eine Geschichtsskizze zu wagen: 1. Die Grundstruktur des sog. Aposteldekrets entsteht einige Zeit vor der Apg, um das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde zu regeln. Die Regelung gewinnt in der Überlieferung den Charakter einer normativen Last (ba,roj), erhält aber im paulinischen Gemeindekreis zunächst kein Gewicht. 2. In einem nächsten Stadium verankern sich Momente der Struktur in einigen Teilen des paulinischen Gemeindekreises, dem Reflex in der Apg nach ausgehend von Antiochia, Syrien und Kilikien (Apg 15,23), den Voraussetzungen der Offb nach außerdem im westlichen Kleinasien. 3. Zur Zeit der Offb zerbricht diese Verankerung im westlichen Kleinasien schon wieder, ein Indiz dafür, dass die Regeln sich trotz der Ausstrahlung des zweiten Stadiums nicht fest im paulinischen Gemeindekreis beheimaten können.
27
Vgl. die e;xw-Formel in Offb 22,15.
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439
Zwischen der Abfassung von Apg und Offb müssen bei diesem Bild keine langen Zeiträume angenommen werden; bekanntlich ist Apg 15 idealisierender Rückblick, nicht Abriss der lukanischen Gegenwart. Zugleich fügen sich andere Befunde nahtlos ein: Das Schweigen der Deuteropaulinen unterstreicht die Schwierigkeit, die Regelungen des sog. Dekrets im paulinischen Gemeindekreis zu beheimaten, und die Varianten der Überlieferung über den Wortlaut der Regelungen in der Apg erklären sich durch die Vielschichtigkeit der Entwicklung. Die Entwicklung gewänne noch an Plastizität, wenn am Anfang des sogenannten Dekrets eine Regelung für das Land um JerusalemJudäa gestanden hätte, wie notiert. Denn eine Reihe von Indizien (die Kenntnis Jerusalemer Traditionen in Kap. 11, Semitismen u.a.) sprechen dafür, dass der Autor der Offb aus Judäa-Galiläa nach Kleinasien kam.28 Brachte er also von dort ein besonderes Interesse an den Regelungen mit und engagiert sich nicht zuletzt deshalb für ihre Autorität,29 auch wenn die Perspektive des Landes nun dem Interesse eines Zusammenlebens zwischen Juden und Völkern in der Diaspora30 weichen muss? Diese Erwägung wirft nun allerdings noch eine Folgefrage auf: Wie ist das Schweigen der Offb über die beiden Klauseln der ApgÜberlieferung zum „Erstickten“ (d.h. dem mangelhaft Geschlachteten)31 und zum „Blut“ zu bewerten? Wie bei jeder Argumentation e silentio ist Vorsicht angesagt, freilich dito zu berücksichtigen, dass die Offb speziell die Regelungen erwähnt, die umstritten sind. Darum müssen die von ihr nicht erwähnten Verbote bis zu ihrer Abfassung nicht verloren gegangen sein. Ebenso denkbar ist, dass sie im Adressatenkreis der Offb in unterschiedlicher Weise wirksam waren, ohne einen Streit auszulösen. Mangelhaft Geschlachtetes spielte vielleicht im täglichen Leben eine so geringe Rolle, dass sich die Einschärfung einer Regel erübrigte (wie erwähnt, ist das Verbot des pnikto,n insgesamt relativ schwach überliefert). Blutgenuss umgekehrt war wohl so verpönt, dass es zur Einschärfung keiner Regel neben den Überlieferungen des Gesetzes (Lev 3,17; 7,26f.; 17,10.14 usw.) bedurfte (Offb 16,6 spiegelt
28 29 30 31
S. D.E. AUNE, Revelation 1-5, Bd. I (WBC 52a), Dallas 1997, L (Seite römisch 50). Vgl. STEIN, Mahlfeiern (s. Anm. 23), 247f und die dort in Anm. 39 angegebene Literatur. S. die Perspektive bei DEINES, Aposteldekret (s. Anm. 9) für die Apg, die auch für die Offb zu beachten ist. Zum Begriff und seinen Hintergründen s. KLINGHARDT, Gesetz (s. Anm. 2), 202-204 (Ungeschächtetes) und mit mehr Quellen WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 221-232 (allg. mangelhaft Geschlachtetes).
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tiefen Abscheu vor dem Blutgenuss,32 und die Distanz hält sich in altkirchlichen Quellen33). Beschränken wir uns in der zusammenfassenden Skizze der geschichtlichen Entwicklung (Tabelle 3) gleichwohl auf das mit Sicherheit Sagbare: Tabelle 3: Überblick über die geschichtliche Entwicklung bis zur Offb Unklarer Anfang des sog. Aposteldekrets in Jerusalem / Judäa
(Mitte 1. Jh.?)
Allmähliche Verbreitung der Regelungen im Sinne einer notwendigen normativen Last (ba,roj) Rezeption einer Mehrzahl von Regeln in
Etwas später Rezeption in der Offb, nun in
der Apg mit dem Anliegen einer Aufnah-
der Defensive und zugespitzt auf das
me im paulinischen Gemeindekreis
Verbot von Opferfleisch und sexuellem Fehlverhalten
3. Das Aussageziel der Offenbarung Die Auswahl der eivdwlo,quta und pornei,a aus den Regelungen des sog. Aposteldekrets erlaubt der Apk die Bildung eines eigenen Deutungsakzentes. Wenden wir uns ihm näher zu und beginnen beim Verbot von fremdem Opferfleisch:
3.1. Die Stellungnahme zum Opferfleisch (eivdwlo,quta) Der Begriff eivdwlo,quton ist sehr jung. Er findet sich kein einziges Mal in der jüdisch-griechischen Übertragung der Tora, dem Gesetz der Septuaginta einschließlich Lev 17-18, und in der Rezeption des Gesetzes bis Philo, also bis gegen Mitte des 1. Jh.34 Wer den Begriff auf Lev 17-18 beziehen will, muss darum die Verwerfung der falschen Opferstätten und der Opfer für nichtige Gottheiten aus Lev 17,1-9 (bes. 17,7 LXX ta.j 32
33
34
Gott besiegelt dort im Bilde den Untergang von Mördern, indem er sie, die Blut vergossen, zwingt, Blut und damit ihre sich aus dem Gesetz ergebende Verwerfung zu „trinken“; vgl. O. BÖCHER, Art. ai-ma, EWNT I (1980), 88-93: 90 und WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 189 (bei ihm ein weiteres Argument für die Voraussetzung des Aposteldekrets durch die Offb). O. BÖCHER, Das sogenannte Aposteldekret, in: Vom Urchristentum zu Jesus, FS J. Gnilka, Freiburg 1989, 325-336, bes. 335f. Vgl. die Märtyrer von Lyon / Vienne nach Eusebius, h.e. V 1,3-3,3, bes. 1,26; Minucius Felix, Octavius 30,6; Tertullian, apol. 9,13 und die Rezeption des Aposteldekrets bei Irenaeus, haer. III 12,14. Auch danach fehlt er jüdisch noch bei Josephus.
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qusi,aj auvtw/n toi/j matai,oij )35 nachträglich auf ihn zuspitzen. Das löste manche Debatte darüber aus, ob die Relevanz der Fremdenregeln von Lev 17-18 für das sog. Aposteldekret nicht überschätzt würde36 (für einen Vergleich zu den jüngeren noachidischen Regeln gälte Analoges). Die Kritik mindert sich, falls unser Terminus noch nicht zur Ausgangsüberlieferung, sondern in eine frühe Explikation gehört. Die Begründung in Apg 15,20 spricht ja, wie vermerkt, in viel weiterem Sinn von der Befleckung durch Fremdgötter / Idole (avlisgh,mata tw/n eivdw,lwn), und von dort lässt sich der Bogen gut zu Lev 17,1-9 schlagen.37 Die wenigen bis zum ersten Drittel des 2. Jh. vorhandenen Belege des Begriffs beschränken sich auf Paulus (1Kor 8,1-10; 10,19), eine Stelle im wohl kurz nach Paulus entstandenen 4Makk (5,2), das Aposteldekret nach Apg 15,29; 21,25, unsere Passagen in der Offb (Offb 2,14.20) und Did 6,3. Der zusätzliche Beleg bei Pseudo-Phokylides 31 (ai-ma de. mh. fagei/n( avpe,cesqai eivdwloqu,twn) ist der Handschriftenlage nach sekundär; ginge er auf einen frühen Nebenstrang der PhokylidesÜberlieferung zurück, würde er das Opferverbot willkommenerweise mit dem gerade besprochenen Verbot des Blutgenusses kombinieren. Gewicht dürfen wir auf ihn angesichts der fraglichen Genese nicht legen; ein Sekundäreinfluss von Apg 15,29 (avpe,cesqai eivdwloqu,twn kai. ai[matoj) liegt sprachlich unmittelbar nahe.38 Dem Stand der Belege nach gehen wir am Besten von einer Bildung des Begriffs kurz vor Mitte des 1. Jh. aus, weil Paulus und das 4Makk ihn unabhängig voneinander verwenden. Die Wortbildung konterkariert die Sprache der Völker. Diese nannten das Fleisch ihrer Opfer „heilig geschlachtet“ (i``ero,quton; vgl. 1Kor 10,28) und die Götterbilder avga,lmata) Die Septuaginta ersetzte letzteres depravierend durch ei;dwla (Schatten / Trugbilder; bei den Völkern nie für Götterbilder verwendet), und unsere Ableitung kombiniert das mit (i`e` ro,&)quton) Aus dem geheiligten Opfer der Völker wird verächtlich Fleisch, das für Trugbilder geschlachtet wurde. Der abschätzige Begriff erleichtert Paulus seine Stellungnahme in der Diskussion um die Speisefragen von 1Kor 8-10. Eine falsche Achtsamkeit für die fremden Götter lehnt er ab; mit dem Tisch der „Dämonen“ gibt es keine Gemeinsamkeit (1Kor 10,21). Wo eine selbstbewusste, für Dritte unanstößige Freiheit von den Idolen im Alltagsleben vorliegt, hält er den Genuss von Opferfleisch dagegen für tolerierbar, 35 36 37 38
MT spricht konkret von Bocksdämonen. Bes. scharf WILSON, Luke (s. Anm. 2), 87. Vgl. WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 213-216. Zur Diskussion s. P.W. VAN DER HORST, The Sentences of Pseudo-Phocylides. With Introduction and Commentary (SVTP 4), Leiden 1978, 135f.
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da Trugbilder den Glauben nicht irritieren (eivdwlo,quton 8,1.4.7.10; 10,19).39 Solche Nachsicht kennt das 4. Makkabäerbuch nicht. Vorgegeben ist ihm die Erinnerung, in der Zeit Antiochos IV. seien Israeliten zum Verzehr der Eingeweide aus fremden Opfern gezwungen worden (splagcnismo,j 2Makk 6,7; vgl. 7,42). Der edle Eleasar habe sich dem jedoch nicht gebeugt. Er habe den Tod dem Eingeweidemahl und selbst dem vorgetäuschten Verzehr vom Fleisch des Opfers vorgezogen (2Makk 6,21 kre,a th/j qusi,aj). Der Autor des 4Makk bündelt diese Umschreibung. Er prononciert, der Fremdkönig habe den Genuss von Götzenopferfleisch (eivdwlo,quta 5,2) verlangt. Damit wird die Verweigerung des Opferfleisches zum jüdischen Identitätsmerkmal (nicht zur Forderung für ein Zusammenleben Fremder mit Israel).40 Ob die jüngeren christlichen Quellen das 4. Makkabäerbuch wahrnahmen, ist fraglich. Indessen fällt die Perspektive auf das Fleisch fremder Opfer auch dann kritischer als bei Paulus aus, wenn wir von Lev 17 aus auf die eivdwlo,quta schließen. Denn in Lev 17,7 steht ein kategorisches „Nein“ (LXX ouv) als „ewige Norm“ (LXX no,mimon aivw,nion). Folgerecht untersagt die von Apg 15,29 aufgenommene Tradition jeden Verzehr von Fleisch aus den Opfern fremder Götter, ohne die paulinische Differenzierung wahrzunehmen. Der Autor der Apg schließt sich dem an und hält diese kritische Auffassung sogar dem Paulus vor (Apg 21,25).41 Bis zur Abfassung der Offb spitzt sich die Lage zu. Der Jerusalemer Tempel fällt in die Hände der Völker (gespiegelt in 11,1f.), und bei diesen erfährt die Wertschätzung ihres Opferfleisches in der Nachbarschaft der Asia eine Renaissance; Plinius d.J. berichtet Trajan darüber bei der Erörterung seines rechtlichen Vorgehens gegen Christen in 39
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Zur näheren Erörterung s. die Kommentare (W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther [1Kor 6,12-11,16] [EKK VII/2], Neukirchen-Vluyn 1995, 430-460, bes. 444448 u.a.), und LÖHR, Speisenfrage (s. Anm. 19), 24-28; CHR. HEIL, Die Ablehnung der Speisegebote durch Paulus. Zur Frage der Stellung des Apostels zum Gesetz (BBB 96), Weinheim 1994, 228f; V. GÄCKLE, Die Starken und die Schwachen in Korinth und Rom. Zu Herkunft und Funktion der Antithese in 1Kor 8,1-11,1 und in Röm 14,115,13 (WUNT II 200), Tübingen 2005; STEIN, Mahlfeiern (s. Anm. 23), 101-105. Die zeitliche Ordnung der eivdwlo,quton-Belege verbietet die oben bei Anm. 4 genannte These von Simon und Meißner, schon der 1Kor beziehe sich auf das Aposteldekret. Vgl. H.-J. KLAUCK, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA.NF 15), Münster 1986, 241-249, bes. 242. Die Begegnung von Paulus und Jakobus in 21,25 erfolgt unter der Perspektive des Jerusalemer Tempels, wo Paulus sich kultisch weihen soll. Vielleicht spielt deshalb ein weiterer Gedanke eine Rolle: Die Reinheit für den Tempel Jerusalems wäre selbst durch nichtreligiösen Verzehr von fremdem Opferfleisch in der Ferne der Völker gefährdet.
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Bithynien („caro victimarum“ ep. 96,10; um 111 n.Chr.).42 In den Augen des Offb-Autors wiederholt sich die Krisensituation der Makkabäerzeit in endzeitlicher Steigerung. In Pergamon, der Gemeinde mit der Mahnung von 2,14, sieht er schon ein Martyrium erfolgt (2,13). Ein Verzehr von Fleisch aus den Opfern der Völker, der diese Krise nicht wahrnähme, wird für ihn undenkbar. Menschen, die die einstige paulinische Freiheit in der Gemeinde wiederbeleben wollten, geben in seinen Augen die christliche Identität auf und verursachen ein Skandalon im Angesicht der Kinder Israels (ska,ndalon evnw,pion tw/n ui``w/n VIsrah,l 2,14), die für ihre Identität zu leiden bereit waren (im Überwinderspruch 2,17 folgt kaum zufällig ein Anklang an 2Makk 2,4-8). Die harsche Auseinandersetzung mit der Gegenposition in 2,1416.20-23 verrät, dass die Härte des Offb-Autors nicht unumstritten ist, und sein Schattenriss verzerrt die Motive der Gegner. Falsch wäre deshalb, ihnen Nachgiebigkeit in einer Krisensituation zu unterstellen. Reizvoller ist der Gedanke an eine Renaissance alter proselytischer Freiheit, vielleicht unter gleichzeitiger Erinnerung an Paulus,43 und der Sog des täglichen Lebens, in dem bei Vereinen und Festen kleine kultische Handlungen überaus üblich waren und der Genuss des zum Mahl Aufgetragenen nicht leicht verweigert werden konnte.44 Wir brauchen dem indessen hier nicht nachzugehen.45 Für uns ausschlaggebend ist der Effekt: Die Speiseregel ergeht „im Angesicht Israels“ an Menschen 42 43
44 45
Vgl. WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 189f. Der Nikolaos, auf den sich die Gegner berufen, ist mit einiger Wahrscheinlichkeit der antiochenische Proselyt von Apg 6,5 (einen anderen Nikolaos kennt das frühe Christentum nicht): vgl. N. WALTER, Nikolaos, Proselyt aus Antiochien, und die Nikolaiten in Ephesus und Pergamon. Ein Beitrag auch zum Thema: Paulus in Ephesus, ZNW 93 (2002), 200–226. Vgl. PH. A. HARLAND, Honouring the Emperor or assailing the beast: participation in civic life among associations (Jewish, Christian and others) in Asia Minor and the Apocalypse of John, JSNT 77 (2000), 99-121, bes. 118-120. Uns fehlt der Raum, hier die Diskussion um die Nikolaiten nachzuzeichnen: s. bes. K.A. FOX, The Nicolaitans, Nicolaus and the Early Church, Studies in Religion / Sciences Religieuses 23 (1994), 485-496; R. HEILIGENTHAL, Wer waren die „Nikolaiten“? Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentums, ZNW 82 (1991), 133137 (skizziert Vertreter eines aufgeklärten Skeptizismus); H. RÄISÄNEN, The Nicolaitans: Apoc 2; Acta 6 (ANRW II 26, 2), Berlin/New York 1995, 1602-1644; H. LÖHR, Die „Lehre der Nikolaiten“. Exegetische und theologische Bemerkungen zu einer neutestamentlichen „Häresie“, in: FS H. Faulenbach, Rheinbach 1998, 34-55 (betont den „lebenspraktischen Ausgleich mit der paganen Umwelt“ [55]), E. GRYPEOU, „Das vollkommene Pascha“. Gnostische Bibelexegese und Ethik (OB C 15), Wiesbaden 2005, 12-115 (verfolgt gnostische Spuren) und MÜLLER-FIEBERG, Paulusrezeption (s. Anm. 25), 93 (zieht einen Vergleich zu den Starken in Korinth). Am weitesten geht der Vorschlag von WITULSKI, Johannesoffenbarung (s. Anm. 1), 244-248, demzufolge die pergamenisch-thyatirischen Gegner der Offb sogar positiv für eine kultischreligiöse Verehrung paganer Gottheiten (einschließlich des vergotteten Kaisers) in Ergänzung der christlichen Gottesverehrung eintreten.
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jüdischer und nichtjüdischer Herkunft, um die gesamte Gemeinde nach außen abzugrenzen. Der letzte Beleg der Frühzeit, Did 6,2f., schließt hier an. Er verlangt, um der Vollkommenheit willen das „Joch des Herrn“ zu tragen (zugo,j 6,2), und konkretisiert das für den Bereich der Speisen: Leserinnen und Leser sollen dort im Allgemeinen auf sich nehmen, was sie vermögen, sich freilich vom Opferfleisch strikt fernhalten, da das Kult für die toten Götter sei (avpo. de. tou/ eivdwloqu,tou li,an pro,sece( latrei,a ga,r evstin qew/n nekrw/n 6,3).46 Der innere Ausgleich zwischen den Juden und Nichtjuden in der Gemeinde tritt damit vollends in den Dienst der Unterscheidung der Gemeinde vom Kult der Völker. Die Speise- wird zur kultischen Differenzregel und theologisch-christologisch ohne Referenz zur Tora begründet. Lev 17-18 spielt in der Did keine Rolle mehr. Mit diesem Wandel verblasst der Bezug zum Ursprung des sog. Aposteldekrets. Wir können dessen Kenntnis in der Did durch das Stichwort vom zugo,j und die Anspielung auf einen größeren Kreis von Speiseregeln immerhin noch ahnen.47 Doch das Verbot der Opferspeisen verselbständigt sich; 6,3 erwähnt weder mehr die anderen Speiseregeln noch die Sexualregel. Das eröffnet die weitere Geschichte: Ein Christ / eine Christin wird in den Verfolgungen des 2. Jh. oft nicht erst an der Verweigerung des Kaiseropfers, sondern bereits am Verhalten in (Opfer-)Speisefragen erkennbar, wie Justin, dial. 34,4 berichtet. Nicht alle Teile der Kirche teilen diese Strenge (Eusebius, h.e. IV 7,7 referiert die Kritik des Agrippa Kastor). Allerdings eröffnet sie, wo sie auftritt, weiterhin den Horizont auf die jüdischen Speiseregeln; Justin verwirft im Anschluss an das Opferfleisch ebenso einen christlichen Genuss von Schweinefleisch (34,5).48 Überschauen wir die Entwicklung, steht die Offb am Übergang vom innerchristlichen Ausgleich zum Identitätsmerkmal nach außen. Die Wurzel der Tradition ist nicht vergessen – das Verbot ergeht um der Kinder Israels willen –, aber die Abgrenzung der Gemeinde nach außen in Zeiten der Bedrängnis gewinnt gleiches Gewicht und später – nach der Offb – den Vorrang an Bedeutung.
46 47 48
Vgl. den rabbinischen Vergleich des Götzenopferfleisches mit einem Totenopfer (Avoda Zara 2,3 u.ö.), der aus der Auffassung entsteht, dass die Fremdgötter tot sind. Zur Diskussion s. K. NIEDERWIMMER, Didache (KAV), Göttingen 1989, 152-157; WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 190-192; G. GARLEFF, Urchristliche Identität in Matthäusevangelium, Didache und Jakobusbrief (B B 9), Berlin u.a. 2004, 132-144. Vgl. die Erwähnung von Schweinefleisch neben dem Opferfleisch schon in 4Makk 5,2. – Weitere Hinweise zur Alten Kirche bei MEISER, Texttraditionen (Anm. 10), 381393.
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3.2. Die Stellungnahme zum Sexualverhalten (porneu,ein) Der zweite Streitpunkt der Offb, der Vorwurf sexueller Verfehlung, lässt sich sprachgeschichtlich nicht in gleicher Weise erhellen. Zu breit und vielschichtig sind porneu,ein und pornei,a in der antiken Literatur belegt. Nach Lev 18 müssten wir (ohne dass die Begriffe dort vorkommen) auf gesetzeswidrige Verwandtschaftsehen, homosexuelle Handlungen u.ä. schließen,49 nach dem allgemein-griechischen Sprachgebrauch auf Sexualität außerhalb der Ehe, Ehebruch, Prostitution und Geschlechtsverkehr mit Prostituierten o.ä.;50 religiös vertieft klingt der Abfall vom einen Gott zu fremden Göttern an.51 So kommt es darauf an, das konkret Gemeinte aus dem Text der Offb selbst zu erschließen. Dazu hilft der Blick auf Lev 17,7, die einzige Stelle mit dem Stamm porn& in Lev 17-18. Falsche Opfer in Israel „prostituieren“ das Volk, heißt es dort, so dass es „hinter“ Dämonen hergeht. Die LXX drückt das mit der Wendung evkporneu,ein ovpi,sw aus („sich hinter [nichtigen Gottheiten] in sexuelles Fehlverhalten stürzen“). Ein Bezug entsteht zu Ex 34,15f., wo das Gesetz die Opfermähler der Völker thematisiert, von denen Lev 17,7 schweigt, und von Israel verlangt (Übersetzung nach LXX; der hebräische Text ist bei sachlicher Parallelität etwas kürzer): „Niemals sollst du einen Vertrag (diaqh,kh) mit denen schließen, die in dem Land (oder in jüngerer Rezeption: auf der Erde; evpi. th/j gh/j) wohnen, damit sie nicht hinter ihren Göttern herhuren (evkporneu,ein ovpi,sw tw/n qew/n auvtw/n) und ihren Göttern opfern und sie dich einladen und du von ihren Opfern isst (fagei/n tw/n qusiw/n / Rahlfs quma,twn) 16 und du von ihren Töchtern (Frauen) für deine Söhne nimmst und ihren Söhnen von deinen Töchtern (Frauen) gibst und deine Töchter hinter ihren Göttern herhuren und sie deine Söhne dazu bringen, hinter ihren Göttern herzuhuren.“52 Der Vorhalt diskreditiert die fremden Völker – sie bieten sich ihren Göttern durch die Opfer wie Prostituierte an –, um Israel zu warnen: Wenn es sich zum Mahl des Opferfleisches einladen ließe, liefe es die gleiche Gefahr. Offenkundig würde das in sexuellen Verbindungen zu den Fremdvölkern, die das Gesetz grundsätzlich verbietet (Dtn 7,3f
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S. bes. WEHNERT, Reinheit (s. Anm. 2), 232-238 (Auseinandersetzung mit Bedenken 214f). Vgl. z.B. WEDDERBURN, Decree (s. Anm. 2), 364. Vgl. z.B. M. WOLTER, Christliches Ethos nach der Offenbarung des Johannes, in: F.W. HORN / M. WOLTER (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung, FS Otto Böcher, Neukirchen-Vluyn 2005, 201. Übersetzung nach E. WEBER in: W. KRAUS / M. KARRER (Hg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, 91.
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usw.53). Gerade sie würden Israel in die „Prostitution“ der Fremdvölker hineinziehen. Offb 2,14.20 schafft durch die Konzentration auf die Verbote des Opferfleisches und des illegitimen Sexualkontaktes einen unübersehbaren Anklang an diese Weisung des Gesetzes. Die Sprache aktualisiert unser Autor gemäß der Tradition um das Aposteldekret (fagei/n eivdwlo,quta statt fagei/n tw/n qusiw/n / quma,twn). In der Sache überträgt er das Gebot: Untersagt sind der Verzehr von Opferfleisch der Fremdgötter und sexuelle Gemeinschaften zwischen Kindern Israels und Fremdvölkern, weil beides die Gefahr eröffnet, sich fremden Göttern anzuschließen. Der Vorwurf des prorneu,ein gewinnt einen doppelten Sinn, den der Geißel gegen die sexuelle Aushöhlung des Gesetzes und den einer Mahnung gegen den drohenden Verrat des einen Gottes. Tabelle 4: Sexuelles Fehlverhalten und Opfermahl in Weisung und Erzählung der Tora 15 Niemals sollst du einen Vertrag 15 mh,pote qh/|j diaqh,khn toi/j mit denen schließen, die in dem evgkaqhme,noij evpi. th/j gh/j( kai. 34,15-16 Land wohnen, damit sie nicht evkporneu,swsin ovpi,sw tw/n qew/n hinter ihren Göttern herhuren und auvtw/n( kai. qu,swsi toi/j qeoi/j auvtw/n( ihren Göttern opfern und sie dich kai. kale,swsi,n se kai. fa,gh|j tw/n einladen und du von ihren Opfern qusiw/n (Rahlfs: quma,twn) auvtw/n isst 16 und du von ihren Töchtern 16 kai. la,bh|j tw/n qugate,rwn auvtw/n (Frauen) für deine Söhne nimmst toi/j ui``oi/j sou( kai. tw/n qugate,rwn und ihren Söhnen von deinen sou dw/|j toi/j ui``oi/j auvtw/n( kai. evkporTöchtern (Frauen) gibst und deine neu,swsin ai`` qugate,rej sou ovpi,sw Töchter hinter ihren Göttern hertw/n qew/n auvtw/n( kai. huren und sie deine Söhne dazu evkporneu,swsin touj. ui``ou,j sou ovpi,sw bringen, hinter ihren Göttern hertw/n qew/n auvtw/n) zuhuren.54 1 [...] das Volk wurde dazu ent1 [...] kai. ev b ebhlw, q h o` ` lao. j LXX Num weiht, zur Hurerei mit den Töchev k porneu/ s ai eiv j ta, j qugate, r aj Mwab) 25,1-2 tern Moabs zu gehen. 2 Und sie 2 kai. evka,lesan auvtou.j evpi. ta.j qusi,aj (die Töchter Moabs) luden sie (die (Rahlfs evpi. tai/j qusi,aij) tw/n Israeliten) zu den Opfern ihrer eivdw,lwn auvtw/n( kai. e;fagen o`` lao.j tw/n qusiw/n auvtw/n( kai. proseku,nhsan Götzen (wörtlich Trugbilder) ein. Und das Volk aß von ihren Opfern toi/j eivdw,loij auvtw/n) und sie warfen sich vor ihren Götzen nieder.55 LXX Ex
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Vgl. Tob 4,12f usw. Quellen bei F. KLEINSCHMIDT, Ehefragen im Neuen Testament. Ehe, Ehelosigkeit, Ehescheidung, Verheiratung Verwitweter und Geschiedener im Neuen Testament (ARGU 7), Frankfurt 1998, 41-48, 254. Griechischer Text nach der Göttinger Edition, Übersetzung nach E. WEBER; s.o. Anm. 52. Übersetzung nach M. RÖSEL / CHR. SCHLUND in: Septuaginta Deutsch (s. Anm. 52), 162f.
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Der Vergleich mit der Bileamserzählung, den Offb 2,14 verlangt, unterstreicht diese Pointe. „Bileam lehrte Balak, einen Fallstrick vor den Kindern Israels auszuwerfen“ (balei/n ska,ndalon evnw,pion tw/n ui``w/n VIsrah,l) eröffnet unser Autor den Abschnitt. Aus der weit gefächerten Bileam-Erinnerung des 1. Jh.56 interessiert ihn das Skandalon: Bileam, der Prophet, der Israel wider seinen Willen segnen musste, diente Balak, dem König Moabs (Num 22-24), und gab ihm erfolgreich den Rat, Israeliten durch fremde Frauen zur Verehrung Pegors zu verführen (Num 31,16). In der Lektüre des 1. Jh. schließt sich die ursprünglich selbständige Szene von der Schuld Israels in Schittim Num 25,1f. an die Bileamserzählung an (24,25 Bileam und Balak). Der Fallstrick Bileams entlarvt sich als Verführung von Israeliten durch Frauen der Völker. Die LXX unterstreicht den Bezug und Kontrast zu Ex 34,15f. Wie dort schreibt sie in Num 25,1f. von einer Einladung zu Opfern (kalei/n), vom Opfermahl (fagei/n) und als Höhepunkt vom evkporneu,ein, der sexuellen Vermischung von Israeliten und Nichtisraelitinnen (s. Tabelle 4). Über Ex 34,15f. hinaus depraviert sie die fremden Götter; Trugbilder (ei;dwla) seien das. Von den qusi,ai tw/n eivdw,lwn dieser Stelle ist der Schritt zu den eivdwlo,quta der Offb noch kleiner als von Ex 34,15f. aus. Falls der Offb-Autor die LXX benützt, wofür viel spricht (er schreibt griechisch an griechische Leserinnen und Leser), erklärt das, warum er in 2,14 die „Lehre“ Bileams gegenüber Ex 34,15f. noch in den Vordergrund rückt. Das Gegenüber Bileams in der Gegenwart ist Offb 2,20-23 zufolge eine Prophetin (profh/tij) in Thyatira. Wir erfahren nichts Näheres über ihre Person, so dass wir sie nur mit Vorsicht in die Reihe der kleinasiatischen Gotteskünderinnen57 und der prophetisch wirkenden Frauen 56
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S. bes. Dtn 23,4-6; Philo, Mos. I 292-300 u.ö.; LAB 18,13; Josephus, ant. 4,126-140; Jud 11; 2Petr 2,15; M. RÖSEL, Wie einer vom Propheten zum Verführer wurde. Tradition und Rezeption der Bileamgestalt, Bib. 80 (1999), 506-524; T. SELAND, Philo, Magic and Balaam: Neglected Aspects of Philo´s Exposition of the Balaam Story, in: J. FOTOPOULOS ed., The New Testament and Early Christian Literature in GrecoRoman Context, FS D.E. Aune, Leiden 2006, 333-346. Die Inschrift CIG 3509 (2. / 3. Jh.), die ein Sambatheion bei Thyatira erwähnt, führte durch Identifikation der Sambathe mit der anderswo erwähnten Sambethe oder Sabba, der (angeblichen) Sibylle der Hebräer (Pausan. Phoc. 10,12,9; Suidas s.v. Sibylla Chaldaia) zur Erwägung, unsere „Isebel“ könne Sambathe verballhornen. Die Evidenz reicht dafür nicht zu (E. SCHÜRER, Die Prophetin Isabel in Thyatira, in: A. VON HARNACK [Hg.], Theologische Abhandlungen, Carl v. Weizsäcker gewidmet, Freiburg 1892, 48ff; C.J. HEMER, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Settings, Grand Rapids 1986, 118-120). Ebenso unsicher wäre die Identifikation des Sambatheions mit einer Synagoge, wie sie z.B. in M. HENGEL, The Interpretation of Judaism and Hellenism in the pre-Maccabean-period, in: W.D. DAVIES u.a. (Hg.), The Cambridge History of Judaism: The Hellenistic Age, Cambridge 1990, 210 vorgeschlagen wird.
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des frühen Christentums einordnen können.58 Die Chiffre „Isebel“ (2,20) evoziert, sie wiederhole das Handeln der einstigen Königin Israels, die die Mischehe einer Fremdstämmigen mit dem König Israels führte und Israel zum Fremdgott Baal verleitete (1Kön 16,31; 18,13.19); LXX 4Kgt (2 Kön) 9,22 nennt das ihre pornei/ai. Zum dritten Mal stoßen wir auf das verpönte Phänomen der jüdisch-nichtjüdischen Mischehe (wobei der Seher nicht von Ehe sprechen würde) und den Verdacht, sie führe zu fremden Göttern (pornei,a in doppeltem, sexuellem und religiösem Sinn). Versagen wir uns, die Verästelungen der Forschung über „Isebel“ nachzuzeichnen.59 Heute wird die Deutung der pornei,a auf den Kaiserkult oder allgemein fremde Kulte hin favorisiert.60 Früher beliebter war die Deutung auf sexuelle Libertinage,61 die ein grammatisches Detail des Textes zu gering achtete: moiceu,ein, das Synonym zu porneu,ein in Offb 2,22 („ehebrechen“ im doppelten Sinn der Zuwendung zum fremden Ehepartner und fremden Glauben), wird griechisch mit Akkusativ konstruiert.62 Der Vorwurf der Offb, Isebel vertrete die pornei,a und veranlasse andere zum „Ehebruch“ metV auvth/j („zusammen mit ihr“), besagt darum im Zusammenhang, sie verleite Gemeindeglieder zum ver58
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Wegen des Einflusses auf die Gemeinde dürfte es sich um eine christliche Prophetin gehandelt haben. Sie stünde darin nicht singulär. Die christliche Erinnerung siedelt im Adressatenkreis der Offb bis zur Mitte des 2. Jh. die Töchter des Philippus (Apg 21,9; Eusebius VII, 25; IV, 26) und Ammia von Philadelphia an (Eusebius V 17); A. JENSEN, Gottes selbstbewusste Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum, Münster u.a. ²2003, 62-68. Lit. bes. bei G. GUTTENBERGER, Johannes von Thyatira, in: Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung (s. Anm. 51), 160-188: 173-179.184. Für die Bandbreite vgl. R. ZIMMERMANN, Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis: Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt (WUNT II 122), Tübingen 2001, 442f (bei gleichzeitiger Wahrnehmung der Mischehethematik) und – ohne Einbezug von Ex 34,15f – P. HIRSCHBERG, Das eschatologische Israel. Untersuchungen zum Gottesvolkverständnis der Johannesoffenbarung (WMANT 84), Neukirchen-Vluyn 1999, 307; WITULSKI, Johannesoffenbarung (s. Anm. 1), 279-289 (285 Verführung zu Zeus). Exponiert TH. ZAHN, Die Offenbarung des Johannes I (KNT 18), Leipzig u.a. 1924, 286-289. Er entscheidet sich (nach Lachmann) für die Variante thn gunaika sou thn Iezabel von A und versteht „Isebel“ als Frau des Bischofs, die eine „Emancipation des Fleisches“ (289) lebe. Für die Variante sou spricht einiges; A ist die beste Handschrift der Offb, und in , der zweiten Haupthandschrift (in Papyri ist die Stelle nicht erhalten) und dem Hauptzeugen gegen sou, sahen schon Korrektoren Unsicherheiten; die erste Hand schrieb Iazabel und profhteian einai (schlug also vor, Jazabel / Isebel habe sich „Prophetie“ genannt), Korrektor 1 berichtigte die Schreibung von Isebel, Korrektor 2 profhtin. Halten wir uns an A, bricht aber die ganze Diskussion um das Verständnis des Gemeindeengels auf (A liest in 2,18 tw aggelw tw en quatiroij grayon, „dem Engel / Boten in Thyatira schreibe“). Wir stellen sie hier zurück, da der für uns entscheidende Gesichtspunkt – die Offb wirft „Isebel“ nicht Libertinage, sondern eine falsche Lehre vor – nicht betroffen ist. S. z.B. Aristophanes Av. 558; Plato Rep. II 360 b; weitere Belege in LSJ 1450 s.v.
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botenen sexuellen Handeln gemäß ihrer „Lehre“, dem Analogon der Lehre Bileams (didach, 2,24 nach 2,14). Eine sexuelle Schrankenlosigkeit63 im engeren Sinn wirft ihr die Offb nicht vor.64 Gewiss traut der Seher einem einmal eingeschlagenen sexuellen Fehlverhalten weitere sexuelle Verfehlungen (vgl. die Lasterkataloge 9,21 usw.) ebenso wie den Besuch fremder Kulte zu (das größte Bild der pornei,a wird die „Hure Babylon“; Offb 1765). Doch die Mitte und der Ausgangspunkt seines Vorhalts in den Sendschreiben bleibt nach den vorgetragenen Beobachtungen ein sehr viel einfacherer und angesichts der Geschichte des frühen Christentums dringlicherer Sachverhalt: die nach dem Gesetz unverbrüchlich verbotene Mischehe von Juden und Nichtjuden. Der Text indiziert das bis zur Strafansage in 2,23a. Auf dem porneu,ein – dem „Sich-prostituieren“ in der verbotenen sexuellen Beziehung und der daraus tendenziell erwachsenden Hingabe an die Götter des Sexualpartners – liegt nach Num 25,5 die Todesstrafe (LXX avpoktei,nein). Entsprechend kündigt 2,23a den Anhängern Isebels den Tod an (kai. ta. te,kna auvth/j avpoktenw/ evn qana,tw|).66 Die Härte des Sehers zeigt, wie sehr er sich in der Defensive befindet. Er selbst muss konzedieren, dass das Problem schon länger besteht (laut V. 21 gab es Zeit (cro,noj) zur Verhaltensänderung).67 Andere Quellen bestätigen das; das berühmte frühchristliche Beispiel einer jüdischgriechischen Mischbeziehung bilden die Eltern des Paulusbegleiters 63
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Auch die begleitende Ansage „ich werfe sie aufs Bett“ (2,22) erweckt in ihrer Zeit weniger sexuelle Konnotationen als die von Schwäche und Krankheit (vgl. 1Makk 1,5; Judit 8,3; Ex 21,18). Zur Diskussion GUTTENBERGER, Johannes (s. Anm. 59), 177 mit Anm. 74. Es gibt ein weiteres Indiz, dass der Seher seine Kritik ihr gegenüber begrenzt: 2,23a beschränkt die Ansage des Todes auf ihre Anhänger, nimmt sie also implizit davon aus. Dazu U. SALS, Die Biographie der „Hure Babylon“: Studien zur Intertextualität der Babylon-Texte in der Bibel (FAT II 6), Tübingen 2004, 76-144 u.a. Lesen wir von Num 25,5 weiter zu Num 25,6-9, wo Pinhas die Todesstrafe an einem jüdisch-nichtjüdischen Paar vollzieht, versteht unser Autor sich als dessen später Nachfahre. Der Kontrast zu Isebel gipfelt denn auch darin, dass sie die Neuerung nicht nur selbst zu leben scheint (dem Decknamen Isebel zufolge dürfte sie aus den Völkern stammen, dem betonten gunh, nach verheiratet sein), sondern dass sie die Neuerung in prophetischer Vollmacht gegen das Gesetz legitimiert. Der Seher sieht hier das in der Prophetie Statthafte überschritten; „Isebel“ behaupte, Prophetin zu sein, schreibt er 2,20, während er ihr diese Bezeichnung abschlagen würde. Im Umkehrschluss dürfen wir hohes Ansehen der Frau in Thyatira annehmen (vgl. E. SCHÜSSLER FIORENZA, Grenzen überschreiten: Der theoretische Anspruch feministischer Theologie. Ausgewählte Aufsätze [TF E 15], Berlin u.a. 2004, 233). In der Geschichte der frühchristlichen Prophetie bereitet sich ein Konfliktverhalten vor, das wir in der späteren Auseinandersetzung mit den montanistischen Prophetinnen wieder und genauer verfolgen können (vgl. V.-E. HIRSCHMANN, Horrenda Secta. Untersuchungen zum frühchristlichen Montanismus und seinen Verbindungen zur paganen Religion Phrygiens [Historia-Einzelschriften 179], Stuttgart 2005, 112-119).
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Timotheus nach Apg 16,1. So stoßen wir wie in der Opferfleischfrage auf eine Differenz zu Freiheiten im erzählten paulinischen Gemeindekreis (auch wenn die Freiheit erst in der Apg, nicht bei Paulus selbst notiert wird). Der Seher verweigert sich dem Zeitgeist und jeder Bemühung um eine Öffnung für jüdisch-nichtjüdische Lebensgemeinschaften.68 Seine schroffe Gesetzesauslegung verweist ihn ins Umfeld strenger jüdischer Tradition69 und der entstehenden rabbinischen Ächtung jüdisch-nichtjüdischer Ehen.70 Die Konsequenz, die dies fürs Christentum mit sich gebracht hätte, können wir dank Offb 7 ahnen. Dort versiegelt Gott in der Vision zuerst die Kinder Israels; sie sind der engere Kreis seiner Knechte (dou/loi 7,3). Danach treten, deutlich von den Versiegelten getrennt, die unendlichen Scharen der Völker vor den Thron Gottes und vor Christus (7,9f.). Die Knechte Christi aus Israel und den Völkern vermischen sich nicht. Verhehlen wir nicht, auch für den Seher sind sie gemeinsam Knechte Christi (dou/loi 2,20), und gemeinsam erfahren sie die Verheißung, über die Völker zu herrschen (2,26f., das gewagte Pendant zur Strafansage von V. 23a). Allein, eine sexuelle Vermischung erlaubt diese Gemeinsamkeit nicht. Hätte der Seher sich durchgesetzt, bestünden also Juden- und Heidenchristentum bis heute in einer, modern gesagt, versöhnten Verschiedenheit nebeneinander, ohne sich sexuell in Ehen zu verbinden.71 Der Seher setzte sich nicht durch. Schon die altkirchlichen Quellen befassten sich im Allgemeinen nicht mehr mit dieser jüdischchristlichen Spezialfrage. Verdrängt wurde sie vom diffizileren Problem der Ehe aller (der Christen aus Juden und Völkern) mit Verehre-
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Solche Bemühungen gab es im Diasporajudentum seit einiger Zeit, wie sich aus Est und JosAs erschließen lässt; Weiteres bei M. HENGEL / A. M. SCHWEMER, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels. Mit einem Beitrag von E.A. KNAUF (WUNT 108), Tübingen 1998, 117-118. Allerdings gab es auch die Gegenbewegung; Quellen dazu bei A. LANGE, Your Daughters Do Not Give to Their Sons and Their Daughters Do Not Take for Your Sons (Ezra 9,12). Intermarriage in Ezra 9-10 and in the Pre-Maccabean Dead Sea Scrolls, BN 139 (2008), 79-98. Vgl. die Außenwahrnehmung bei Tacitus, hist. V 5,2 („alienarum concubitu abstinent“). Zu dieser s. BILL IV 378-383 und S. STERN, Jewish Identity in Early Rabbinic Writings, Leiden 1994, 159-170. Das Anliegen des Sehers lässt sich mit DEINES, Aposteldekret (Anm. 9), 364-367 als „Bewahrung des jüdischen Ethnos [...] in der Diaspora“ (Zitat 364) bezeichnen, und mit ihm (343 Anm. 68 u.ö.) sind Judenchristen und nichtchristliche Juden in der Diaspora bis zum Ende des 1. Jh. noch nicht scharf zu trennen. Allerdings deutet Deines die „porneia“ herkömmlicher auf Verhaltensweisen „>unnatürlicher< Sexualität“ (383386, Zitat 393). Die Erklärung als Abwehr von Mischehen ist historisch-sachlich einfacher.
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rinnen und Verehren fremder Götter.72 Aber das brauchen wir nicht mehr zu verfolgen. Denn unser Kreis schließt sich. Die Offb gewinnt gerade durch den Versuch, eine unweigerliche Entwicklung aufzuhalten, einen markanten Ort in der Geschichte des frühen Christentums: Wie bei der Speisenfrage verlässt der Seher Lev 17-18 (den wahrscheinlichen Bezugspunkt der Kernregeln). Doch die Grundverpflichtung des sog. Aposteldekrets erhält er aufrecht. Die Völker sollen im Angesicht Israels so leben, dass das vom Gesetz festgelegte Gottesverhältnis Israels ungetrübt bleibt. Den Christen aus den Völkern legt das seines Ermessens keine schwere Last auf. Das Verbot von jüdischnichtjüdischen Mischehen bleibt für ihn unabdingbar, um das Gesetz bis zum nahen Ende nicht zu verletzen. Im Nachhinein gesehen, überschätzte er die Möglichkeiten frühchristlicher Gemeinden, Ehen zu steuern (nebenbei ein Indiz dafür, von welch hoher sozialer Kontrolle er in der Gemeinde ausgeht), und unterschätzte die Dauer der Geschichte. In sich gelesen, entsteht ein stringentes judenchristliches Gemeindekonzept.
4. Fazit Bündeln wir die Ergebnisse in knappen Thesen: 1. Das sog. Aposteldekret wird am Ausgang der neutestamentlichen Zeit nicht als starrer Text überliefert, sondern als Cluster von Regeln. Das Ziel der Regeln, das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in der Gemeinde zukunftsfähig zu machen, kann so neuen Situationen angepasst werden. 2. Die Offb rezipiert ausdrücklich zwei dieser Regeln, das Verbot des Verzehrs von Fleisch, das aus Opfern für die Götter der Völker stammt, und das Verbot sexueller Begegnungen, die nach dem jüdischen Gesetz unerlaubt sind. Schon die Rezeption als solche ist von hoher Bedeutung, da sie die Verbreitung des sog. Aposteldekrets in spätneutestamentlicher Zeit bestätigt.
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Weil alle Ehen in der Antike in der Regel den Hauskult gemeinsam pflegten, drohte dort real und unmittelbar eine Verehrung der fremden Götter; vgl. CHR. MARKSCHIES, Das antike Christentum. Frömmigkeit. Lebensformen, Institutionen, München 2006, 146f, zu Tertullian, ad uxorem II 2-6 u.a. (Ausblick auch auf Verbot der Ehe mit Häretikern, Synode von Laodikeia can. 10).
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3. In der neuen Situation, dem Lebenszusammenhang von Christen unter den Völkern (jüdisch gesagt, der Diaspora), verschiebt sich der Begründungszusammenhang. Die Fremdenregeln von Lev 17-18, die für den Ausgangstext des sog. Dekrets Pate gestanden haben dürften, verlieren an Bedeutung. Die Überlieferung des sog. Dekrets verselbständigt sich, sobald sie den Ausdruck eivdwlo,quta („für Trugbilder geopfertes [Fleisch]“) verwendet, der in Lev 17-18 fehlt und von Lev 17,7 nicht unmittelbar herleitbar ist. 4. Das Verbot des Genusses von Fleisch, das aus Opfern für die Götter der Völker stammt, setzt sich im Christentum der spätneutestamentlichen Zeit nicht unangefochten, aber relativ breit durch, weil es sich zum sichtbaren Identitätsmerkmal der Gemeinde eignet. In einer Zeit der Bedrohung wird das Identitäts- sogar zum Differenzmerkmal. In Offb 2,14.20 wahrt das Differenzmerkmal die Forderung des jüdischen Gesetzes, Gottes Volk von allen fremden Kulten fern zu halten, nun übertragen auf das Christentum aus Juden und Nichtjuden. 5. Das Verbot unerlaubter sexueller Begegnungen gewinnt in der Überlieferung des sog. Aposteldekrets eine erhebliche Bandbreite; teils wird es in der Weitergabe von Apg 15,20.29 (und 21,25) nicht mehr zitiert (Apg 15,20 p45), teils ethisiert. Der Autor der Offb jedoch konzentriert sich auch in seiner geschichtlichen Situation noch auf das einstige Grundanliegen, die Reinheit Israels zu wahren. In seiner Interpretation verlangt das, sexuelle Beziehungen zwischen Gemeindegliedern jüdischer und nichtjüdischer Herkunft sowie allemal zwischen Gemeindegliedern jüdischer Herkunft und Partnerinnen / Partnern der Völker außerhalb der Gemeinde zu untersagen. Denn für den judenchristlichen Kern der Gemeinde muss gelten, was das Gesetz von Israel unter den Völkern forderte (vgl. bes. Ex 34,15f.), damit das für Gott versiegelte Israel unversehrt den Kern der eschatologischen Gemeinde zu bilden vermag (vgl. Offb 7). 6. Anders als das Differenzmerkmal der Speiseregel bewährte sich die Einschärfung der Trennung von Juden- und Völkerchristen durch die Offb nicht. Trotzdem behält die Offb auch hier hohe theologische Bedeutung. Sie wird zum eindrücklichen Dokument eines Judenchristentums, das eschatologisch radikal denkt und das Gesetz Gottes trotzdem unter neuen Bedingungen für die Gemeinde Jesu zu aktualisieren versucht.
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Die Offenbarung des Johannes und das Moselied (Dtn 32) Michael Tilly Die Johannesoffenbarung enthält mehr sprachliche Bezugnahmen, explizite Zitate und implizite Anspielungen auf biblische Texte, Themen und Motive als jede andere neutestamentliche Schrift.1 Immer wieder wird man bei der Lektüre des letzten Buches der christlichen Bibel auf die Sprache und auf die Bilderwelt der jüdischen Heiligen Schriften verwiesen. An neun Stellen verweisen die Loci citati vel allegati im Novum Testamentum Graece27 dabei auf das Moselied (Dtn 32,1-43).2 Im vorliegenden Beitrag werden diese angeführten Stellen zum einen danach befragt, ob die Annahme der Evidenz einer Bezugnahme des Verfassers der Johannesoffenbarung auf den – zum Abschluss des Pentateuchs gehörenden – Geschichtspsalm jeweils berechtigt ist. Zum anderen ist intendiert, die spezifischen Funktionen dieser innerbiblischen Intertextualität in der Johannesoffenbarung zu erkennen, zu verstehen und sie mit der generellen Verfasserabsicht des Sehers von Patmos in Beziehung zu setzen. Nur von punktuellem Interesse ist dabei die Frage nach der Textform des jeweiligen Prätextes. Das Bild, das sich hierbei ergibt, ist zwar von einer gewissen Einheitlichkeit, macht aber auch die Notwendigkeit einer erneuten kritischen Durchsicht der Loci deutlich.
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Vgl. R.G. BRATCHER, Old Testament Quotations in the New Testament, London 1967, 74-76; E. LOHSE, Die alttestamentliche Sprache des Sehers Johannes, ZNW 52 (1961), 122-126; F. JENKINS, The Old Testament in the Book of Revelation, Grand Rapids (MI) 1972; J. FREY, Erwägungen zum Verhältnis der Johannesapokalypse zu den übrigen Schriften im Corpus Johanneum, in: M. HENGEL, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993, 326-429 (insb. 337-339 u. 377f); G.K. BEALE, John´s Use of the Old Testament in Revelation (JSNT.S 166), Sheffield 1998; DERS. / S.M. McDONOUGH, Revelation, in: DERS. / D.A. CARSON (Hg.), Commentary on the New Testament Use of the Old Testament, Grand Rapids (MI) 2007, 1081-1161 (hier: 1081); J. PAULIEN, Dreading the Whirlwind: Intertextuality and the Use of the Old Testament in Revelation, AUSS 39 (2001), 5-22. Dtn 32,4 (Apk 15,3f; 16,5), Dtn 32,17 (Apk 9,20), Dtn 32,40 (Apk 1,18, 10,5f), Dtn 32,43 (Apk 6,10; 12,12; 19,2).
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1. Stilisiert als Teil der Vermächtnisrede Moses vor seinem Tod enthält das Moselied Dtn 32,1-43 theologische Unterweisung in poetischer Form sowohl in Gestalt kontrapräsentischer Erinnerung als auch in Gestalt hoffnungsstiftender Verheißung einer heilvollen Zukunft des Gottesvolkes.3 Einer ausführlichen Einleitung (Dtn 32,1-6) folgen ein beschreibender Lobpreis der Wohltaten Jahwes an seinem Volk (V.7-14), der Untreue Israels (V.15-18), die Ankündigung des Strafhandelns Jahwes mit Hilfe der Feinde Israels (V.19-25), eine breit ausgeführte Heilsankündigung (V.26-42) und ein abschließender Aufruf zum universalen Gotteslob (V.43). An mehreren Stellen der Johannesoffenbarung begegnen Zitate aus und Anspielungen auf das Moselied im Sinne einer heilsgeschichtlichtypologischen Verknüpfung des Exodusgeschehens – Gott rettet das Volk Israel vor seinen Feinden und bestraft diese – mit der Errettung der Gemeinde Christi als des Heilsvolkes der Endzeit aus der irdischen in eine himmlische Welt und dem Gericht über die widergöttlichen Mächte, die es bedrängen. Diese Stellen sind in den folgenden Abschnitten der Reihe nach zu untersuchen.
2. Apk 6,10; 19,2 Das Öffnen des fünften Siegels (Apk 6,9-11) thematisiert die Verwirklichung des Gerichts Gottes angesichts der Verfolgung und Ermordung der treuen Zeugen Jesu Christi. Ihre Hoffnung auf die baldige gerechte Vergeltung ihres bisherigen Blutopfers durch Gottes endgültiges Eingreifen in die Weltgeschichte und durch die Bestrafung ihrer gottlosen Verfolger kommt in dem kollektiven Klageruf am Fuß des himmlischen Altars (V.10) zum Ausdruck: 3
Vgl. E. BAUMANN, Das Lied Mose’s auf seine gedankliche Geschlossenheit untersucht, in: VT 6 (1956), 414-424; P. SANDERS, The Provenance of Deuteronomy 32 (OTS 37), Leiden 1996, 431f; C.J. LABUSCHAGNE, The Setting of the Song of Moses in Deuteronomy: M. VERVENNE, J. LUST (Hg.), Deuteronomy and Deuteronomic Literature, FS C.H.W. Brekelmans (BEThL 133), Leuven 1997, 111-129; J. TASCHNER, Das Moselied als Verbindung zwischen Tora und Propheten, in: E. BALLHORN / G. STEINS (Hg.), Der Bibelkanon in der Bibelauslegung, Stuttgart 2006, 189-197. Zu Moses als Gestalt der Endzeit vgl. Mal 3,22-24, LibAnt 19,12-16, Jub 48,1-19. Zur Rezeption des Moseliedes im frühen Christentum vgl. auch W. KRAUS, Die Septuaginta als Brückenschlag zwischen Altem und Neuem Testament? Dtn 32 als Fallbeispiel, in: H.-J. FABRY / D. BÖHLER, (Hg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Band III: Studien zur Theologie, Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie und Liturgie der Griechischen Bibel (BWANT 174), Stuttgart 2007, 266-290.
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Apk 6,10 kai. e;kraxan fwnh/| mega,lh| le,gontej\ e[wj po,te( o` despo,thj o` a[gioj kai. avlhqino,j( ouv kri,neij kai. evkdikei/j to. ai-ma h`mw/n evk tw/n katoikou,ntwn evpi. th/j gh/jÈ „Und sie schrien mit lauter Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?“
Gleichsam als tröstende Antwort auf den klagenden Ruf nach gerechter Vergeltung in Apk 6,10 wird der Wortlaut des Verses in dem abschließenden himmlischen Lobgesang Apk 19,1-10 aufgenommen. Gott hat die Hure Babylon zur Rechenschaft gezogen; das vergossene Blut der Zeugen ist nun gerächt:4 Apk 19,2 o[ti avlhqinai. kai. di,kaiai ai` kri,seij auvtou/\ o[ti e;krinen th.n po,rnhn th.n mega,lhn h[tij e;fqeiren th.n gh/n evn th/| pornei,a| auvth/j( kai. evxedi,khsen to. ai-ma tw/n dou,lwn auvtou/ evk ceiro.j auvth/jÅ „Denn wahrhaftig und gerecht sind seine Gerichte, dass er die große Hure verurteilt hat, die die Erde mit ihrer Hurerei verdorben hat, und hat das Blut seiner Knechte gerächt, das ihre Hand vergossen hat.“
Die sehnsüchtige Hoffnung der Frommen auf das kommende Vergeltungshandeln Gottes, das die Verfolgung und Ermordung seiner treuen Diener rächen wird, begegnet auch im Aufruf zum Jubelgesang in Dtn 32,43 LXX, der den Abschluss des Moseliedes bildet. Der Vers weist in der griechischen Texttradition und in einem hebräischen Deuteronomiumfragment von Qumran (4Q40) gegenüber dem masoretischen Bibeltext gravierende Abweichungen auf.5 Diese griechische Übersetzung des Verses beruht wahrscheinlich auf einer längeren, von der (proto-)masoretischen Texttradition abweichenden (und hier möglicherweise sogar absichtlich veränderten) Vorlage (cf. 4Q44). Sie enthält einen poetisch gestalteten Aufruf zur hoffnungsvollen Freude über das machtvolle Eingreifen Jahwes, der das Blut des verfolgten Gottesvolkes rächen und die Bosheit seiner Feinde in seinem strafenden Gericht vergelten wird:
4 5
Allein an diesen beiden Stellen begegnet das Verb ekv dikew , in der Apokalypse.. Vgl. G.K. BEALE, The Book of Revelation (NIGTC), Grand Rapids u.a. 1999, 928; A. SATAKE, Die Offenbarung des Johannes (KEK XVI), Göttingen 2008, 222. Vgl. P.W. SKEHAN, A Fragment of the »Song of Moses« (Deut. 32) from Qumran, BASOR 136 (1954), 12-15; A. VAN DER KOOIJ, The Ending of the Song of Moses. On the Pre-Masoretic Version of Dtn 32,43, in: F. GARCÍA MARTÍNEZ u.a. (Hg.), Studies in Deuteronomy, FS C.J. Labuschagne (VT.S 53), Leiden u.a. 1994, 93-100.
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Dtn 32,43 euvfra,nqhte ouvranoi, a[ma auvtw/| kai. proskunhsa,twsan auvtw/| pa,ntej ui`oi. qeou/ euvfra,nqhte e;qnh meta. tou/ laou/ auvtou/ kai. evniscusa,twsan auvtw/| pa,ntej a;ggeloi qeou/ o[ti to. ai-ma tw/n ui`w/n auvtou/ evkdika/tai kai. evkdikh,sei kai. avntapodw,sei di,khn toi/j evcqroi/j kai. toi/j misou/sin avntapodw,sei kai. evkkaqariei/ ku,rioj th.n gh/n tou/ laou/ auvtou/. „Freut euch, ihr Himmel, zusammen mit ihm; alle Kinder Gottes sollen sich anbetend für ihn niederwerfen. Freut euch, Nationen, zusammen mit seinem Volk, und alle Engel Gottes sollen für ihn stark werden, denn das Blut seiner Kinder wird gerächt. Er wird Recht schaffen und den Feinden mit Strafe vergelten. Denen, die hassen, wird er heimzahlen, und der Herr wird das Land seines Volkes reinigen.“
Apk 6,10 und 19,2 weisen in der Tat mehrere auffällige Bezüge zu Dtn 32,43 LXX als Prätext auf. Zunächst lassen sich einige deutliche Parallelen in der Wortwahl erkennen.6 Weiterhin entspricht der literarische Kontext insbesondere von Apk 19,2 – ein hymnisches Finale, bei dem die Aufforderung zum jubelnden Lobgesang von einer Himmelsstimme an alle Gläubigen auf Erden weitergegeben wird – dem Aufruf zur allgemeinen Freude am Ende des Moselieds. Schließlich entsprechen sich Johannesoffenbarung und Deuteronomium hinsichtlich der Funktion der prospektiv tröstenden Aussage vom rächenden Eingreifen Gottes.7 Das Gericht und der strafende Zorn Jahwes sind in Dtn 32,43 die Erweise seiner Macht und seines tätigen Eintretens für sein Volk Israel. Der Seher Johannes überträgt diese (auch in 2Kön 9,7; Ez 14,21; Sach 1,12; Ps 9,12f; 78[MT 79],10 sowie 1Makk 6,22 begegnende) theologische Vorstellung auf die Gemeinde Jesu Christi und ihre gegenwärtigen Bedrücker,8 um durch die Aktualisierung einer massiv hoffnungsstiftenden Überlieferung aus dem jüdischen – bzw. judenchristlichen – Traditionsbereich das rettende radikale Eingreifen Gottes in die Geschichte angesichts einer wohl von vielen Christen in Kleinasien als bedrohlich empfundenen Diskrepanz zwischen ihren Glaubensüberzeugungen und ihrer Wahrnehmung der Gegenwart zu verdeutlichen.
3. Apk 9,20 Am Ende der sechsten Posaunenvision (Apk 9,13-21) beschreibt V.20 zusammenfassend die Wirkung aller bisherigen Visionen dieser Reihe 6 7 8
Vgl. BEALE, Book of Revelation, 393. D.E. AUNE, Revelation 17-22 (WBC 52 C), Nashville 1998, 408. Vgl. Apk 16,6; 17,6; 18,24; 19,2.
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und qualifiziert die durch die Signale eingeleiteten Plagen insgesamt als Machterweise Gottes gegenüber dem eigenmächtigen Widerstand der Menschheit. Ein Drittel aller ungläubigen Menschen wird getötet werden (V.15.18); dennoch bleiben die Übriggebliebenen trotz der bisherigen furchtbaren Machterweise Gottes bei ihrem treulosen und unbußfertigen Unglauben. Der jüdischen Tradition folgend (vgl. Ps 113,12[MT 115,4]; 134[MT 135],15; Jer 1,16; Dan 5,4.23) konkretisiert sich dieser verstockte Unglaube in ihrem sinnlosen Götzendienst9 und insbesondere in ihrer Verehrung machtloser Artefakte: Apk 9,20 kai. oi` loipoi. tw/n avnqrw,pwn( oi] ouvk avpekta,nqhsan evn tai/j plhgai/j tau,taij( ouvde. meteno,hsan evk tw/n e;rgwn tw/n ceirw/n auvtw/n( i[na mh. proskunh,sousin ta. daimo,nia kai. ta. ei;dwla ta. crusa/ kai. ta. Vargura/ kai. ta. calka/ kai. ta. li,qina kai. ta. xu,lina( a] ou;te ble,pein du,nantai ou;te avkou,ein ou;te peripatei/n. „Und die übrigen Leute, die nicht getötet wurden von diesen Plagen, bekehrten sich doch nicht von den Werken ihrer Hände, dass sie nicht mehr anbeteten die bösen Geister und die goldenen, silbernen, ehernen, steinernen und hölzernen Götzen, die weder sehen noch hören noch gehen können.”
Trotz der geschehenen Plagen lassen die Menschen nicht von ihren Lastern ab. Auch hier lässt sich ein Anklang an das Moselied erkennen. Die paränetisch motivierte Bezugnahme auf die fortgesetzte Verehrung fremder Gottheiten bzw. ihrer Kultbilder bzw. –figuren (vgl. Apk 21,8; 22,15), verbunden mit der Akzentuierung ihrer tatsächlichen Machtlosigkeit erinnert an Dtn 32,17 LXX, wo der Vorwurf der Verehrung ohnmächtiger und unbekannter Gottheiten Israels treuloses Handeln beschreibt: Dtn 32,17 e;qusan daimoni,oij kai. ouv qew/| qeoi/j oi-j ouvk h;|deisan kainoi. pro,sfatoi h[kasin ou]j ouvk h;|deisan oi` pate,rej auvtw/n. „Sie opferten Schutzgeistern und nicht Gott – Göttern, die sie nicht kannten. Frisch und neu kamen sie daher, von denen ihre Väter keine Kenntnis hatten.“
Der Deuteronomiumvers ist Teil einer scharfen Anklage gegen Israel (Dtn 32,15-18). Die explizite Bezugnahme auf die Idololatrie entspricht dabei einer verbreiteten Tendenz im antiken Judentum, jegliche Polemik gegen fremde Kulte mit dem Bilderverbot des Dekalogs (Ex 20,4f; Dtn 5,8f) zu verknüpfen.10 Dem Abschnitt geht innerhalb des Moselieds 9 10
Vgl. Jub 1,11; 11,4-6; 22,17 sowie AUNE, Revelation 17-22, 543; BEALE, Book of Revelation, 519: „The catalogue of sins is prefaced by a summary of the idol´s spiritual essence: behind the idols are demonic forces.” Vgl. M. TILLY, Die Sünden Israels und der Heiden, JSJ 37 (2006), 192-211 (hier: 205f).
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die preisende Schilderung der Annahme und Bewahrung des Gottesvolkes während der Wüstenwanderung und bei seiner Landnahme voran (Dtn 32,10-14), wodurch der Kontrast zwischen der Fürsorge Gottes und der Treulosigkeit Israels eine deutliche Betonung erfährt. Vergleicht man die Anspielung auf Dtn 32,17 LXX in Apk 9,20 mit dem expliziten Zitat dieses Verses in 1Kor 10,19f, wird eine wichtige Differenz in der frühchristlichen Bewertung paganer Gottheiten bzw. deren zeitgenössischer Verehrung deutlich. Während Paulus die Dämonen in 1Kor 10 nämlich als existent, aber als Geschöpfe dem einigeinzigen Schöpfergott prinzipiell untergeordnet ansieht, sind sie für den Seher Johannes nur machtlose Produkte menschlicher Einbildung.11 Zwar geht es in Dtn 32,15-18 um den mahnenden Aufweis des fortwährenden Abfalls ganz Israels einschließlich der Adressaten des Textes, während Apk 9,13-21 dem Lesepublikum die tröstende Identifikation mit den verbliebenden Gerechten ermöglicht, aber für eine intendierte Bezugnahme auf die in Dtn 32,17 als Prätext zum Ausdruck kommende Abwertung der Macht fremder Götter spricht 1. die durchgehende Entsprechung der Schilderung des endzeitlichen Gerichtshandelns Gottes und des Exodusgeschehens,12 2. die Beobachtung, dass auch in der Johannesoffenbarung ihre sinnlose abergläubische Verehrung mit ihrer entlarvenden Darstellung als tote Bilder kontrastiert wird13 und 3. die Tatsache, dass dieser Kontrast hier wie dort den Abschluss eines paränetisch motivierten Abschnittes bildet.
4. Apk 10,5f Der Abschnitt enthält eine Proklamation über die Nähe des Endes. Im Rahmen seiner erneuerten Beauftragung im Anschluss an die Posaunenvision, die die Nähe der erhofften Endzeit betont (Apk 10,1-11), sieht der Visionär eine Engelgestalt mit einem geöffneten Buch, die den Ratschluss Gottes für das kommende eschatologische Geschehen mit einem feierlichen Schwur bekräftigt:
11 12 13
Vgl. A. SATAKE, Offenbarung, 251. Zum Motiv der Herzensverhärtung der Ägypter angesichts der Plagen vgl. Ex 7,13.22f; 8,15.28; 9,12.34f u.ö. Vgl. Dtn 4,28; Ps 113,12-15 [MT 115,5-7]; 134[MT 135],15-17; Jer 10,5; Dan 5,23; Sir 30,19; Sib 5,78f.
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Apk 10,5f Kai. o` a;ggeloj( o]n ei=don e`stw/ta evpi. th/j qala,sshj kai. evpi. th/j gh/j( h=ren th.n cei/ra auvtou/ th.n dexia.n14 eivj to.n ouvrano.nkai. w;mosen evn tw/| zw/nti eivj tou.j aivwn/ aj tw/n aivw,nwn( o]j e;ktisen to.n ouvrano.n kai. ta. evn auvtw/| kai. th.n gh/n kai. ta. evn auvth/| kai. th.n qa,lassan kai. ta. evn auvth/|( o[ti cro,noj ouvke,ti e;stai. „Und der Engel, den ich stehen sah auf dem Meer und auf der Erde, hob seine rechte Hand auf zum Himmel und schwor bei dem, der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was darin ist, und das Meer und was darin ist: »Es soll hinfort keine Zeit mehr sein«.“
Sowohl die Geste der Engelgestalt als auch ihr Schwur bei Gott „der da lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit“ scheint Dtn 32,40 LXX zu entsprechen, wo es heißt: Dtn 32,40 o[ti avrw/ eivj to.n ouvrano.n th.n cei/ra, mou kai. ovmou/mai th/| dexia/| mou kai. evrw/ zw/ evgw. eivj to.n aivw/na. „Denn ich werde meine Hand zum Himmel aufheben und bei meiner rechten Hand schwören und werde sagen: »Ich, ich lebe für ewig«.“
Im Kontext des Moselieds wird in Dtn 32,40 von Gott selbst die zukünftige Rache über die Feinde Israels zugesagt. Der Septuagintatext bietet über die hebräische Texttradition hinaus kai. ovmou/mai th/| dexia/| mou („und ich werde bei meiner rechten Hand schwören“), wodurch die Geste, die im hebräischen Bibeltext auch als Zeichen einer aktiven Intervention des strafenden Gottes gedeutet werden kann,15 in akzentuierter Weise im Sinne eines Anthropopathismus vor dem Hintergrund der Praxis gedeutet wird, beim Ablegen eines Eides die Hand (bzw. beide Hände) in bekräftigender Absicht zum Himmel zu erheben (vgl. Gen 14,22; Ex 6,8; Dtn 4,26; Dan 12,7).16 Für die Annahme einer Bezugnahme der Johannesoffenbarung auf Dtn 32,40 LXX als Prätext spricht, dass die bildhafte Beschreibung des Gerichtes Gottes im unmittelbaren literarischen Kontext sowohl von Dtn 32,40 als auch von Apk 10,5f eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist (Apk 9,19 [vgl. Dtn 32,32-35]; Apk 10,4 [vgl. Dtn 32,34f]; Apk 10,6 [vgl. Dtn 32,35]). Allerdings ist Apk 10,5-7 zumindest ebenso deutlich von Dan 12,7 beeinflusst, wo von einem Himmelswesen die 14 15
16
Im Codex Alexandrinus fehlt th.n dexia,n. Vgl. D.C. PARKER, New Testament Manuscripts and Their Texts, Cambridge 2008, 235. So J. LUST, For I Lift Up My Hand to Heaven and Swear: Dtn 32,40, in: F. GARCÍA MARTÍNEZ u.a. (Hg.), Studies, 155-164 (hier: 163) unter Verweis auf Ex 6,8; Ez 20,5f; 44,12; Ps 10,12 (LXX: 9,33). Vgl. DERS., The Raised Hand of the Lord in Deut 32:40 According to MT, 4QDeutq, and LXX: Textus 18 (1995), 33-45. Vgl. C. HOUTMAN, Der Himmel im Alten Testament (OTS 30), Leiden u.a. 1993, 352.
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Rede ist, das über den Wassern des Stromes steht, beide Hände zum Schwur erhebt17 und schwört to.n zw/nta eivj to.n aivw/na qeo,n („bei Gott, der ewiglich lebt“; vgl. Apk 1,18; Dan 4,34Th; Sir 18,1).18 Zwar ist allein in Dtn 32,40 LXX davon die Rede, dass die rechte Hand zum Schwur erhoben wird, doch weist nicht nur die durchweg hohe Bedeutung von Daniel 7-12 für die Ausgestaltung der Visionsberichte der Johannesoffenbarung, sondern auch das Motivrepertoire von Apk 10,5f und insbesondere der Hinweis, es werde nun keine Frist mehr verstreichen, bis der festgesetzte Zeitpunkt von Gericht und Erlösung nahegerückt ist (Apk 10,6; vgl. Philo, LA III 106), auf eine enge traditionsgeschichtliche Abhängigkeit, möglicherweise auch literarische Bezugnahme von Apk 10,5-7 auf Dan 12,7 hin.19 Die Verbindung zu Dtn 32,20 ist dagegen weitaus unsicherer.
5. Apk 15,3f; 16,15 Die Schalenvisionen Apk 15,1 – 16,22 dienen dem Erweis des strafenden Zornes Gottes über seine Widersacher, die die Gemeinde Christi bedrängen. Der Seher schaut zunächst die singende Schar der Überwinder im Himmel an einem gläsernen Meer, das sich rings um den Thron Gottes erstreckt (15,2f). Ihr Gesang wird in V.3a explizit gekennzeichnet als „das Lied des Mose, des Knechtes Gottes“ (th.n wv|dh.n Mwu?se,wj tou/ dou,lou tou/ qeou/). Im Kontext der himmlischen Vorbereitung der Ausgießung der sieben Schalen (Apk 15,1-8) loben die Erlösten auf dem gläsernen Meer den allmächtigen und einzig heiligen Gott in einem beschreibenden Hymnus: Apk 15,3f kai. a;|dousin th.n wv|dh.n Mwu?se,wj tou/ dou,lou tou/ qeou/ kai. th.n wv|dh.n tou/ avrni,ou le,gontej\ mega,la kai. qaumasta. ta. e;rga sou( ku,rie o` qeo.j o` pantokra,twr\ di,kaiai kai. avlhqinai. ai` o`doi, sou( o` basileu.j tw/n evqnw/n \ ti,j ouv mh. fobhqh/|( ku,rie( kai. doxa,sei to. o;noma, souÈ o[ti mo,noj o[sioj( o[ti pa,nta ta. e;qnh h[xousin kai. proskunh,sousin evnw,pio,n sou( o[ti ta. dikaiw,mata, sou evfanerw,qhsanÅ
17 18 19
Zum Gestus des beidhändigen Schwörens vgl. D.R. SEELY, The Raised Hand of God as an Oath Gesture, in: A.B. BECK u.a. (Hg.), Fortunate the Eyes that See, FS D.N. Freedman, Grand Rapids 1995, 411-421. Vgl. AUNE, Revelation 17-22, 564; BEALE, Book of Revelation, 537; SATAKE, Offenbarung, 256. Vgl. E.P. McGARRY, The Ambidextrous Angel (Daniel 12:7 and Deuteronomy 32:40): Inner-Biblical Exegesis and Textual Criticism in Counterpart, JBL 124 (2005), 211-228 (hier: 227f); BEALE, Book of Revelation, 537: „Dan 12:7 is a development of Deut 32:40, which also may be secondarily in mind here in Revelation.“
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„Und sie sangen das Lied des Mose, des Knechtes Gottes, und das Lied des Lammes: Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott! Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege, du König der Völker. Wer sollte dich, Herr, nicht fürchten und deinen Namen nicht preisen? Denn du allein bist heilig! Ja, alle Völker werden kommen und anbeten vor dir, denn deine gerechten Gerichte sind offenbar geworden.“
Der Hymnus ist durch die Bezeichnung wv|dh, Mwu?se,wj deutlich als partielle Bezugnahme auf ein „Lied des Mose“ markiert, wobei diese Wendung sowohl auf das Schilfmeerlied (Ex 15,1-21; vgl. insb. Ex 15,1) als auch auf Dtn 32,1-43 bezogen werden kann (vgl. Dtn 31,19,22,30; 32,44).20 Während der Hymnus hinsichtlich seines Wortlautes erkennbar vom Schilfmeerlied abweicht und tatsächlich Entlehnungen aus bzw. Anspielungen auf eine ganze Reihe unterschiedlicher Schriften enthält (Ps 110[MT 111],2; 138[MT 139],14; Am 4,13; Dtn 32,4; Ps 144[MT 145],17; Jer 10,7; Mal 1,11; Ps 85[MT 86],9f; Hos. 6,5), findet sich allein am Ende von Apk 15,3 eine deutliche Bezugnahme auf das Moselied in Deuteronomium 32: Dtn 32,4 qeo,j avlhqina. ta. e;rga auvtou/ kai. pa/sai ai` o`doi. auvtou/ kri,seij qeo.j pisto,j kai. ouvk e;stin avdiki,a di,kaioj kai. o[sioj ku,rioj „Was Gott anbelangt – seine Werke sind verlässlich, alle seine Wege richtige Entscheidung. Ein verlässlicher Gott ist er, und es gibt bei ihm keine Ungerechtigkeit; ein nach menschlichen und göttlichen Maßstäben gerechter Herr.“
Das preisende Lob der Wege Gottes und seiner Zuverlässigkeit in dem als Nominalsatz formulierten synonymen Parallelismus di,kaioj kai. o[sioj ku,rioj am Ende von Apk 15,3 entspricht in Form und Inhalt Dtn 32,4b. Der Vers ist Teil einer hymnischen Gerichtsdoxologie in der Einleitung des Moseliedes, in der Gottes Handeln von der Exodusgeneration als gerecht und seine Vergeltung als adäquat gepriesen werden.21 Die Kombination von di,kaioj und o[sioj begegnet in den griechischen Übersetzungen der hebräischen heiligen Schriften außer in Dtn 32,4 nur noch in Ps 144[MT 145],17 (vgl. noch PsSal 10,5; Odae 2,4). Der ebenfalls in dem Vers vorkommende Ehrentitel „Knecht Gottes“ (oivke,thj kuri,ou; hebr. hw"hy>-db,[,) begegnet auch in Dtn 34,5 LXX im Kontext des Berichtes vom Tod Moses. Eine direkte literarische Bezugnahme des Apokalyptikers auf diese Stelle ist indes nicht wahrscheinlich. Als Titel Moses kommt er in der biblischen Überlieferung ganz 20 21
Vgl. BEALE, Book of Revelation, 793. Vgl. J. MASSYNGBERDE FORD, Revelation (AncB 38), Garden City, NY 1975, 257; E.F. LUPIERI, A Commentary on the Apocalypse of John (Italian Texts and Studies on Religion and Society), Grand Rapids u.a. 2006, 238.
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unspezifisch und gehäuft vor (Ex 14,31; Num 12,7; Jos 1,1,7,13; 8,31; 9,24; 1Kön [LXX: 3Kgt] 8,53; 2Kön [LXX: 4Kgt] 18,12; 21,8; 2Chr 24,9; Neh 1,8; Ps. 105,26; Mal 3,22 [LXX: 4,4]; vgl. Bar 1,20; Josephus, Ant. 5, 39; 1Clem 4,17; 51,5,8). Vielmehr liegt in Apk 15,3 eine deutliche Bezugnahme auf Ex 14,31; 15,1 vor, wo die ehrende Bezugnahme auf Moses das Schilfmeerlied Ex 15,1-21 einleitet.22 Der Verfasser der Johannesapokalypse intendiert in Apk 15,2-4 offenbar vor allem eine typologische Entsprechung des endzeitlichen Erlösungshandelns Gottes zum Exodusgeschehen: So wie das Volk Israel beim Exodus unter der Führung Moses auf der Flucht vor den Ägyptern durch das Schilfmeer gerettet wurde, das für seine Feinde zum Ort des gerechten Strafgeschehens wurde, so wird das Gottesvolk der Endzeit vor den widergöttlichen irdischen Mächten gerettet werden, die es verfolgen und in seiner Existenz bedrohen. Die Rettung vor den widergöttlichen Mächten der gegenwärtigen Endzeit entspricht nach Auffassung des Apokalyptikers Johannes dem Rettungsgeschehen des Exodus. Gott war und ist gerecht. Solcherart qualifiziert erscheint auch das vom Seher geschilderte Ausgießen der sieben Schalen als Bestandteil des umfassenden göttlichen Zorngerichtes (Apk 16,1-21) als sinnhaft und als Grund für eine Gerichtsdoxologie (vgl. Ps 118[MT 119],75; Neh 9,8,33), mit dem der dritte Schalenengel sein verheerendes Tun kommentiert: Apk 16,5 Kai. h;kousa tou/ avgge,lou tw/n u`da,twn le,gontoj\ di,kaioj ei=( o` w'n kai. o` h=n( o` o[sioj( o[ti tau/ta e;krinaj) „Und ich hörte den Engel der Wasser sagen: Gerecht bist du, der du bist und der du warst, du Heiliger, dass du dieses Urteil gesprochen hast.“
Der Vers greift die Anspielung auf Dtn 32,4 auf, indem die in 15,3f von den Erlösten gepriesene Gerechtigkeit Gottes hier auf den Vollzug seines kosmischen Gerichtshandelns bezogen wird: Gott straft alle, die das Blut der Christen vergossen haben.23 Die Umschreibung des Gottesnamens durch die Formel „o` w'n kai. o` h=n“ (vgl. Apk 1,4.8; 4,8; 11,17) entspricht verbreiteter jüdischer Praxis.24 Wenn allerdings der Bezug von Dtn 32,4 auf die zukünftige Welt und auf das Endgericht in der späteren rabbinischen Traditionsliteratur (vgl. z.B. Sifre Dtn § 307; b Taan 11a) bereits zur Zeit des Sehers bekannt war, wofür die heilsgeschichtliche Deutung des Moseliedes bereits in LibAnt 19,4 spricht, aktualisiert der Seher Johannes auch hier vor allem eine hoffnungs22 23 24
Vgl. BEALE, Book of Revelation, 792. Vgl. BEALE, Book of Revelation, 817. Vgl. Ex 3,14 sowie TJon z.St; Weish 13,1; Josephus, Ant. 8,350; c.Ap. 2,190 u.ö.
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stiftende Tradition, indem er die im Moselied thematisierte Erwählung des Gottesvolkes durch Unheil in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hindurch auf die bedrängte Gemeinde Christi überträgt.
6. U.B. Müller schreibt in seinem Kommentar zur Offenbarung des Johannes: „Die Errettung Israels gilt für das Volk der Endzeit als Typos eschatologischen Gotteshandelns“25 Diese Aussage wird durch die in diesem Beitrag untersuchten Bezugnahmen auf das Moselied (unbeschadet ihrer unterschiedlichen Evidenz) rundum bestätigt. Auf der Basis von Dtn 32,1-43 schafft der Verfasser der Johannesoffenbarung eine typologische Korrespondenz des richtenden und rettenden Handelns Gottes während des Exodus aus Ägypten und seines eschatologischen Gerichts über die Feinde der bedrängten christlichen Gemeinde, d.h. seiner Selbstdurchsetzung gegen alle Widersacher und der rettenden Bewahrung der christlichen Kirche. Beide Zusagen sind Teil des Entwurfs einer (zugleich vorzeitlichen und endzeitlichen) idealen „Gegenwelt“ für das wahre Gottesvolk,26 der seine gegenwärtigen geschichtlichen Leidenserfahrungen gegenübergestellt sind. Dennoch zeigt die Durchsicht der Zitate und Anspielungen, dass sowohl die deutende Bezugnahme auf das Schilfmeerlied Ex 15,1-21 als auch auf das das Danielbuch mindestens ebenso deutlich wie das Moselied Dtn 32,1-43 die intendierte Textaussage prägen. Die Vergleichbarkeit bzw. Konvergenz einzelner Inhalte und Motive allein bedeutet also noch keine absichtliche intertextuelle Beziehung zwischen der Johannesoffenbarung und einem bestimmten Einzeltext bzw. Segment der jüdischen Heiligen Schriften. Vielmehr ist immer auch danach zu fragen, ob der jeweilige Kontext und die jeweilige narrative Funktion dieser Inhalte und Motive gemeinsame Merkmale aufweisen, die die Annahme einer tatsächliche Verbindung ermöglichen. Der Ertrag dieser kurzen Untersuchung zur Bezugnahme auf das Moselied (Dtn 32,1-43) in der Offenbarung des Johannes besteht zum einen darin, anhand der hier betrachteten Texte zeigen zu können, dass der Seher von Patmos zwar durchweg an verbreitete Formen der
25 26
U.B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh 1984, 274. Vgl. S. SCHREIBER, Die Offenbarung des Johannes, in: M. EBNER / DERS. (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie 6), Stuttgart 2008, 579.
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Schriftrezeption des antiken Judentums anknüpft,27 diese bei der „Einschmelzung“ in sein literarisches Werk allerdings eine strenge christologische Konzentration erfahren.28 Zum anderen ist es hierdurch möglich geworden, eine zentrale Aussage aus dem umfangreichen Werk des geehrten Jubilars zur Johannesoffenbarung erneut zu verifizieren, die in ihrer Sachgemäßheit und Prägnanz die hohe Bedeutung und Aktualität seiner Beiträge zum letzten Buch der christlichen Bibel gleichsam als pars pro toto unter Beweis stellt.
27
28
Vgl. S. SCHREIBER, Offenbarung, 564: „Die Interpretation der Tradition geschieht dabei in poetischer Kraft und schriftgelehrter Reflexion zugleich und bewegt sich damit strukturell im Bereich der prophetischen Verkündigung, bei der die Person des Propheten ebenfalls mit ihrer ganzen Reflexions- und Sprachkraft an der Interpretation des visionär Geschauten beteiligt ist.“ So M. KARRER, Von der Apokalypse zu Ezechiel. Der Ezechieltext der Apokalypse, in: D. SÄNGER (Hg.), Das Ezechielbuch in der Johannesoffenbarung (BThS 76), Neukirchen-Vluyn 2004, 84-120: 88. Vgl. G. THEIßEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem (SHAW.PH 40), Heidelberg 2007, 263f.
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„Die Tiefen des Satans erkennen ...“. Überlegungen zur theologiegeschichtlichen Einordnung der Gegner in der Offenbarung des Johannes Ulrich B. Müller Der Seher Johannes wirft seinen Gegnern in der Gemeinde zu Thyatira vor – gemeint sind die Prophetin Isebel und ihre Anhänger, – sie beanspruchten, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben, „wie sie sagen“ (Offb 2,24). Diese besondere Lehre ist im NT ohne direkte Parallele, und ihr Verständnis ist seit jeher höchst umstritten. Bereits W. Bousset1 charakterisierte die Diskussionslage in besonderer Weise: „Wir haben in dem Ausdruck ‚die Tiefen des Satans erkennen’ ... eine Selbstcharakteristik der Irrlehrer zu sehen. Diese Selbstcharakteristik erscheint freilich wunderbar, und deshalb nehmen viele Ausleger an, dass der Apokalyptiker den Irrlehrern ihre Selbstaussage in einer stark ironischen Weise im Mund verdreht habe ... Doch hat man diese Annahme einer Verdrehung der Worte der Gegner von Seiten des Sehers nicht unbedingt nötig.“ Gleichwohl geht der vorherrschende Trend der Forschung in diese Richtung2. Danach charakterisiert Johannes das negativ, was bei den Gegnern durchaus positiv und dementsprechend anders gemeint war. In Wirklichkeit behaupten sie betontermaßen, „die Tiefen Gottes“ zu erkennen (vgl. 1Kor 2,10). Ihre Erkenntnis ist ein Zeichen besonderer Vollkommenheit, die sie freimacht von gesetzlichen Bestimmungen, das Verbot etwa, „Unzucht zu treiben und Götzenopferfleisch zu essen“ (Offb 2,20). In der Sichtweise des Johannes verführten die Gegner die Gemeinde mit dieser Lehre dazu, sich götzendienerischen Lebensformen der heidnischen Gesellschaft bereitwillig anzupassen. Eine Leh1 2
W. BOUSSET, Die Offenbarung Johannis (KEK XVI), Göttingen 61906 (Nachdr. 1966), 220. z.B. H. KRAFT, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16a), Tübingen 1974, 70; U.B. MÜLLER, Zur frühchristlichen Theologiegeschichte, Gütersloh 1976, 22f; J. ROLOFF, Die Offenbarung des Johannes (ZBK.NT 18), Zürich 1984, 58; K. BERGER, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen/Basel 1994, 538. D.E. AUNE, Revelation 1-5 (WBC 52), Dallas 1997, 207f und R.H. CHARLES, A Critical and Exegetical Commentary on the Revelation of St. John, Vol. I (ICC), Edinburgh 1920, entscheiden sich nicht für eine der beiden Interpretationsmöglichkeiten.
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re, die solches rechtfertigt, musste als Satanserkenntnis verurteilt werden. Doch dürfte diese Interpretation kaum zutreffen: „Denn immer sonst in den Sendschreiben, wo Johannes auf eine Selbstcharakterisierung anderer verweist, zitiert er den tatsächlich vorgebrachten Anspruch, selbst wenn er ihn direkt oder indirekt bestreitet ...“3 Die in Offb 2,2 erwähnten Gegner nennen sich wirklich „Apostel“, was Johannes allerdings zurückweist; die in 2,9 und 3,9 genannten „Juden“ erheben den berechtigten Anspruch, Juden zu sein, was Johannes wiederum in Frage stellt, wenn er sie als „Synagoge des Satans“ denunziert. Isebel bezeichnet sich als Prophetin, was Johannes nicht leugnen kann (2,20). Immer erwähnt Johannes den tatsächlich erhobenen Anspruch, so dass man auch für die besondere Lehre der Gegner in 2,24 Entsprechendes annehmen muss: Wie sie selbst sagen, haben sie „die Tiefen des Satans“ erkannt. Doch was ist damit konkret gemeint? Der Vorteil der häufig vertretenen Meinung, die Gegner hätten in Wahrheit eine besondere Gotteserkenntnis vertreten, liegt darin, dass man bei ihrer Position eine Nachwirkung von 1Kor 2,10 sehen konnte, wobei besonders das 1Kor 8,4 entsprechende Wissen, dass es keinen Götzen in der Welt gibt und Gott nur einer ist, eine grundsätzliche Freiheit in der Frage des Essens von Götzenopferfleisch ermöglicht4. Haben die Gegner dagegen explizit behauptet, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben, scheint die Verortung der gegnerischen Position in der frühchristlichen Theologiegeschichte schwierig zu werden: „Es ist möglich, dass es im Zusammenhang mit der späteren Gnosis ... auch Satanskult gegeben hat. Die Kirchenväter behaupten das wenigstens ... Aber wenn die Nikolaiten ernst zu nehmen waren, ... kann hier nur von Gotteserkenntnis die Rede gewesen sein.“5 Letzteres wird sich zwar so nicht einfach halten lassen; die Gegner haben wirklich von Satanserkenntnis gesprochen. Andererseits lässt sich aber zeigen, dass eine Erkenntnis der „Tiefen des Satans“ unter Nachwirkung und in der Konsequenz von 1Kor 2,10 möglich war, ohne dass eine „aufklärerische“ Tendenz im Sinne von 1Kor 8,4-6 die entscheidende Rolle gespielt hat6. 3 4
5 6
J.-W. TAEGER, Begründetes Schweigen. Paulus und paulinische Tradition in der Johannesapokalypse, in: DERS., Johanneische Perspektiven (FRLANT 215), Göttingen 2006, 121-138: 130. Vgl. z.B. E. SCHÜSSLER FIORENZA, Apocalyptic and Gnosis in the Book of Revelation and in Paul, in: DIES., The Book of Revelation, Philadelphia 1985, 114-132; H.-J. KLAUCK, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, in: DERS., Alte Welt und neuer Glaube NTOA 29, Fribourg/Göttingen 1994, 115-143: 130; U.B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh/Würzburg 21995, 98f. KRAFT, Offenbarung (Anm. 2), 70. Es handelt sich eben nicht um bloße „Nichtigkeit bzw. Nichtexistenz“ irgendwelcher Gottheiten, und sei es Zeus Olympios, der angeblich hinter dem in Offb 2,13 und
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1. Es geht bei den Gegnern des Johannes, bei Isebel und ihren Anhängern, um eine dezidierte Lehre, die eine vom Seher Johannes verurteilte Praxis rechtfertigt. Schon in Offb 2,14f taucht diese Lehre auf, die inhaltlich wohl derjenigen in 2,18-29 entspricht. Der Gemeinde zu Pergamon wird vorgeworfen: „So (d.h. im Falle der Lehre Bileams 2,14) hast auch du (wie in Ephesus 2,6) solche, die an der Lehre der Nikolaiten gleicherweise festhalten.“ (2,15). Die Lehre Bileams verführt dazu, „Götzenopferfleisch zu essen und Unzucht zu treiben“. Dasselbe gilt für die Nikolaiten in 2,15 sowie für die Anhänger der Isebel, wie 2,20 verrät. Überhaupt ist gerade das Sendschreiben nach Thyatira aufschlussreich für die Auseinandersetzung, die Johannes mit seinen gemeindlichen Gegnern führt – ganz abgesehen von dem Vorwurf, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben (2,24). Zunächst kann Johannes diese Gemeinde noch loben für ihre „Werke“, nach denen sie dereinst gerichtet wird (2,19 bzw. 2,23), wozu ihre „Glaubenstreue“ und ihr „Dienst“ für die Armen in der Gemeinde gehört (2,19). Ja, ihr zuletzt gezeigtes Verhalten demonstriert, dass ihre letzten „Werke“ mehr darstellen als die ersten, was ein Hinweis ist, dass die Christen in Thyatira auf den ersten Blick es an nichts fehlen lassen. Doch gilt dieser Gemeinde insofern scharfe Kritik, als sie Tendenzen in der Gemeinde toleriert, deren Gefährlichkeit sie anscheinend gar nicht erkennt: „Aber ich habe gegen dich, dass du das Weib Isebel gewähren lässt ... “. Diese verführt mit dem Anspruch, Prophetin zu sein, mit ihrer schon erwähnten Lehre Gemeindeglieder dazu, sich auf das soziale, wirtschaftliche und praktische Leben der heidnischen Gesellschaft einzulassen, was die mehr oder weniger intensive Teilnahme an heidnischen Kulten impliziert. Dies scheint der Gemeinde zu Thyatira als religiöses Problem gleichwohl nicht klar gewesen zu sein; sonst hätte sie angesichts der vom Seher Johannes so gelobten „Werke“ diese Isebel mit ihrer Lehre nicht gewähren lassen. Johannes kritisiert eine permissive Haltung gegenüber den religiös-kultischen Voraussetzungen der römisch bestimmten Umwelt mit ihrer Forderung des Kaiserkultes, was auch im 2,24 genannten Satan steht, dem wegen der Geltung von 1Kor 8,4-6 Bedeutungslosigkeit zukommt, weswegen die Gegner tatsächlich der Meinung sein konnten, „die Tiefen des Satans“ zu erkennen (so aber TH. WITULSKI, Die Johannesoffenbarung und Kaiser Hadrian. Studien zur Datierung der neutestamentlichen Apokalypse (FRLANT 221), Göttingen 2007, 287f. 291). Es geht um mehr, um die Überzeugung von der endgültigen Unterwerfung des Satans (s.u.). Ohne nähere Begründung und damit letztlich unklar bleibt die These bei A. SATAKE, Die Offenbarung des Johannes (KEK XVI), Göttingen 2008, 173, Isebel und ihre Anhänger hätten sich „das Mysterium des Satans zueigen gemacht“ und könnten „jetzt darüber verfügen“.
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Schreiben an die Gemeinde zu Pergamon eine deutliche Rolle spielt (2,14f). „Dass dabei die christliche Identität der Gemeinden, die sie ansonsten durchaus zu wahren wissen (V. 13.19), auf dem Spiel steht, ist diesen nicht bewusst; was sie zulassen (V. 20a), haben sie in seiner Gefährlichkeit nicht durchschaut.“7 Dem Seher Johannes geht es bei diesem Streit um die für ihn entscheidende Substanz christlicher Existenz. Die Auseinandersetzung scheint schon eine gewisse Zeit anzudauern. Johannes hat Isebel Zeit gegeben, dass sie von ihrer Position abkehre; doch diese hat sich verweigert (2,21). So bleibt für Johannes nur die Gerichtsankündigung gegen sie und ihre Anhänger (2,22f). Dabei hat dieses Gericht eine die Kirche der Provinz Asia übergreifende Bedeutung; denn, „alle Gemeinden“ sollen darüber zur Einsicht kommen, dass der endzeitliche Richter Christus ihnen nach ihren Werken vergelten wird (2,23). Was aber ist der verführerische, zugleich aber das wahre Christsein in Frage stellende Kern der gegnerischen Lehre, die Isebel und ihre Anhänger vertreten? Sie beanspruchen, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben (2,24). Dabei wird man an keinen Satanskult zu denken haben, jedenfalls keine Lehre, die auf den ersten Blick christlicher Glaubenskenntnis widerspricht, sonst hätten die zunächst so gelobten Gemeinden (2,13 und 2,19) die sich durchaus wohl christlich gebende Lehre der Isebel nicht so lange gewähren lassen.
2. Die Möglichkeit ist ernsthaft zu bedenken, dass Johannes die gegnerische Lehre zwar insofern korrekt wiedergibt, wenn er sie als Erkenntnis des Satans zitiert, dabei allerdings eine aufs Äußerste verkürzte Wiedergabe vornimmt, die nur das für ihn Anstößige dieser Lehre benennt, das seiner Meinung nach die theologische Rechtfertigung der von den Gegnern geübten permissiven Praxis darstellt. Ihre Lehre scheint ein Überlegenheitsbewusstsein über das Irdische provoziert zu haben, das es ihnen gestattete, ohne religiöse Skrupel am gesellschaftlichen Leben der römisch geprägten Stadtgesellschaft teilzuhaben. Ansonsten ist durchaus davon auszugehen, dass die Position der Isebel und ihrer 7
J.-W. TAEGER, Eine fulminante Streitschrift. Bemerkungen zur Apokalypse des Johannes, in: DERS., Johanneische Perspektiven (FRLANT 215), Göttingen 2006, 105120: 112. Zum besonderen Charakter des Schreibens nach Thyatira, bei dem die Fiktion der Adressierung an den Gemeindeengel verlassen wird (V.22-23) und die direkte Anrede an die Gegner erfolgt, vgl. G. GUTTENBERGER, Johannes von Thyateira, in: F.W. HORN / M. WOLTER (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung, FS O. Böcher, Neukirchen-Vluyn 2005, 160-188.
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Anhänger im Rahmen auch sonst bekannter Lehrmöglichkeiten des frühen Christentums blieb, wobei die Satanserkenntnis eine Spitzenaussage ihrer Lehre darstellt. Die paulinische Aussage 1Kor 2,10 bleibt immer noch die nächste Parallele zur gegnerischen Position, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben. Paulus argumentiert dort: „ ... der Geist ergründet alles, auch (= sogar) die Tiefen Gottes.“ Gemeint ist: Weil der göttliche Geist Christen an seinem Ergründen teilhaben lässt, das – aus der Perspektive der Menschen – sogar die „Tiefen Gottes“ erfasst, kommt Offenbarung zustande8. Der Geist gibt Anteil an der Erfassung nicht des innersten Wesens Gottes wie in der Gnosis, wo Gott und „Tiefe“ identifiziert werden können (ActThom 143), sondern am verborgenen Heilsplan Gottes (Röm 11,33f). Bei der Position der Gegner ist allerdings eine enthusiastische Glaubenserkenntnis im Spiele, die eine Formulierung wie Satanserkenntnis überhaupt ermöglicht. Zu beachten ist ja, dass auch bei Paulus und den Deuteropaulinen enthusiastische Wertungen eine Rolle spielen, wenn Röm 8,38f in feierlichem Ton den Sieg über (gottfeindliche) Mächte wie Engel, Mächte (avrcai,) und Gewalten (duna,meij) preist, zu denen „Höhe“ und „Tiefe“ treten, die vielleicht als Gestirnmächte aufzufassen sind9. Zufolge Kol 2,15 hat Christus „Mächte“ und „Gewalten“ ihrer Macht beraubt, insofern diese als „Tabuwahrer der Heilssphäre Gottes“ dem Heil der Gläubigen entgegenstehen; denn Herrschaft Christi impliziert auch die Entmachtung der Mächte.10 Eph 1,21f betont, dass Gott Christus „hoch über jede Macht, Kraft, Gewalt und Herrschaft“ gesetzt hat, ja „alles legte er ihm zu Füßen“. Sieht man diese Anschauungen aus dem paulinischen Traditionsbereich, könnte man die Position der Gegner des Johannes dahingehend deuten, dass sie in pointierter Form der Überzeugung waren: Gott bzw. Christus hat den Satan total entmachtet, ja in die „Tiefe“ gestürzt, so dass Christen seine Schadenseinwirkung in ihrer Umwelt nicht mehr zu fürchten brauchten. Ihre Position wäre ein Heilsenthusiasmus, wie er ansatzweise im Kolosser- und Epheserbrief oder auch bei den Gegnern in 2Tim 2,18 auftritt. Doch stellt sich die Frage, wie bei der skizzierten Annahme die besondere Formulierung über „die Tiefen des Satans“ (ta. baqe,a tou/ satana/) erklärlich ist. Von den „Tiefen“ Gottes kann jüdische Tradition 8 9 10
H. MERKLEIN, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 1-4 (ÖTK 7/1), Gütersloh/Würzburg 1992, 235f. U. WILCKENS, Der Brief an die Römer (Röm 6-11) (EKK VI/2), Neukirchen-Vluyn u.a. 1980, 177. M. WOLTER, Der Brief an die Kolosser. Der Brief an Philemon (ÖTK 12), Gütersloh/Würzburg 1993, 137f.
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sprechen (TestHi 37,6): „Kann jemand erfassen die Tiefen des Herrn (ta. ba,qh tou/ kuri,ou) und seiner Weisheit, oder wagt jemand dem Herrn Unrecht zuzuschieben?“ Und in gnostischen Texten ist von den „Tiefen“ die Rede, die nur die Gnostiker erreichen können, weil sie allein „die Tiefen“ (ta. ba,qh) erkennen (HippRef V 6,4). In EvVer NHC I/3 (p. 22,25f) ist die Rede von der „Tiefe dessen, der jeden Raum umfasst, ohne dass es einen gibt, der ihn umfasst“11. Bei diesen Aussagen ist die „Tiefe“ eine entscheidend positive Kennzeichnung der Größe, die es für den Gnostiker zu erfassen oder zu ergründen gilt. Bei den von den Gegnern des Johannes erwähnten „Tiefen des Satans“ wird man dies in dieser Form schwerlich sagen können, will man nicht eine Extremposition postulieren, für die es im frühchristlichen Umkreis des Johannes keinen sicheren Hinweis gibt. Trotz dieser Schwierigkeit wird man aber bei der Deutung der Gegnerposition bleiben müssen, die in Offb 2,24 die tatsächliche Meinung derselben annimmt. Die oft vertretene Meinung, Johannes verdrehe deren Position, wenn er statt von der Erkenntnis der „Tiefen Gottes“ von den „Tiefen des Satans“ spricht, verstößt gegen die „natural sense of language, and would require some such indication of the turn given to the original words as appears in v. 9.“12 Eine Lösung der Problematik ergibt sich dann, wenn man die knappe Wiedergabe der gegnerischen Lehre berücksichtigt. Denn Johannes hat sicher kein Interesse, die Gegner ausführlich zu Wort kommen zu lassen. Andererseits wird man mit der Möglichkeit zu rechnen haben, dass die gegnerische Parole ihrerseits dasjenige zugespitzt artikuliert, was sie in besonderer Weise charakterisiert. Die, die „die Tiefen des Satans“ erkannt haben, „wie sie sagen“ (2,24), haben möglicherweise beansprucht: „Wir haben die Tiefen Gottes ergründet, ja sogar die tiefen Abgründe geschaut, in die der Satan bereits gestürzt ist.“ Man könnte an Dan 2,22 LXX denken, wo es von Gott heißt: Er „enthüllt das Tiefe (ta. baqe,a) und Dunkle und weiß, was in der Finsternis und im Licht ist.“ Angenommen, Ähnliches sei von den enthusiastischen Gegnern behauptet und „das Tiefe“ sei auf den Satan bezogen worden, der von Gott bzw. Christus in „die Tiefe“ bzw. den „Abgrund“ gestürzt sei und damit aller Macht verlustig13 – eine solche Position hätte ihren 11 12 13
Zu den genannten Belegen vgl. H. SCHLIER, Art. ba,qoj, ThWNT I (1933), 515f; A. LINDEMAN, Der Erste Korintherbrief (HNT 9/I), Tübingen 2000, 68f. J. T. BECKWITH, The Apocalypse of John, New York 1919 (Nachdr. Grand Rapids 1979), 468. Bei dieser Deutung von Offb 2,24 könnte man die Schwierigkeit sehen, dass ta. baqe,a einmal im übertragenen Sinne verstanden ist (analog 1Kor 2,10), gleichzeitig aber eine räumliche Bedeutungsnuance erhält (mit Bezug auf „den Abgrund“), wofür das substantivierte Adjektiv sprechen könnte. Die Richtigkeit der Annahme wird sich dann erweisen, wenn klar wird, mit welcher Argumentation Johannes darauf rea-
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Anhängern eine vermeintliche Freiheit im Umgang mit der heidnischen Umwelt ermöglicht, die von anderen Christen, besonders von Johannes, als dämonisch oder gar satanisch infiziert betrachtet wurde. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit für diese Rekonstruktion der gegnerischen Position ergibt sich schon dadurch, dass beim Seher Johannes ähnliche Vorstellungen eine Rolle spielen: Nach seiner Erwartung wird der Satan für tausend Jahre in den Abgrund (a;bussoj), die Unterwelt als Gefängnis ungehorsamer Geister, gestürzt werden (20,1-3), nur dass für Johannes eschatologische Zukunft ist, was für Isebel und ihre Anhänger bereits verwirklichtes Heil sein dürfte. Sie haben „die Tiefen Gottes“ erkannt, ja die Bedeutung des „tiefen Abgrunds“ erfasst, der für sie wohl die endgültige Ohnmacht des Satans besiegelt14. Vorsichtigerweise wird man allerdings damit rechnen müssen, dass diese Deutung der Gegnerposition am ehesten der Sichtweise entspricht, die Johannes von ihnen hat. Doch wird man nicht fehlgehen in der Annahme, Johannes habe seine Gegner sehr wohl verstanden, auch wenn man, wie geschehen, mit einer verkürzenden Wiedergabe ihrer Position zu rechnen hat. Johannes hat genug Gelegenheit gehabt, die theologische Haltung der Prophetin Isebel kennenzulernen. Das Sendschreiben nach Thyatira zeigt ja, dass die Auseinandersetzung schon eine geraume Zeit gedauert hat: „Ich habe ihr Zeit gegeben umzukehren, doch will sie nicht umkehren von ihrer Hurerei.“ (2,21). Diese Bemerkung bezieht sich explizit zwar nur auf die kritisierte Praxis der Isebel, gleichwohl zeigt der Kontext deutlich, dass diese Praxis Konsequenz einer bestimmten Lehre ist (2,20.24). Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie der theologische Gegenentwurf des Johannes aussieht. Jedenfalls lässt sich präzisieren, wie die für Johannes allein akzeptable „Tiefenschau“ des Satans ausfällt, die er der christlichen Gemeinde präsentiert, um sie von den gegnerischen Vertretern der Satanserkenntnis abzubringen. Dabei steht zu erwarten, dass auf diese Weise indirekt klarer wird, welche theologische Lehre diese verkündet haben und sich auf diesem Wege der oben (2.) geleistete Rekonstruktionsversuch bestätigt.
14
giert. Aus seinem Gegenentwurf wird ersichtlich werden, wie die Gegner ihre Meinung gemeint und begründet haben. Zur Vorstellung vom „tiefen Abgrund“ als Gefängnis bzw. Strafort für gefallene Engelwesen oder Geister vgl. äthHen 10,4; bes. 18,11f., aber auch 53,1; 54,1f.; im NT: Jud 6; 2Petr 2,4; Offb 9,1f; 9,11; 11,7; 17,8. Vgl. dazu J. JEREMIAS, Art. a;bussoj, ThWNT I (1933), 9.
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3. In seiner visionären ‚Enthüllungsstrategie’ Offb 4,1-22,5 versucht Johannes, seine Gegner, vor allem aber die Gemeinden darüber aufzuklären, was der wahre, ihnen anscheinend nicht bewusste Charakter des römischen Imperiums und der paganen Gesellschaft darstellt. Durch die Aufnahme der Drei-Zeiten-Formel aus 1,19 („Schreibe nun nieder, was du gesehen hast und was ist und was geschehen soll danach!“) in Offb 4,1 („ich will dir zeigen, was geschehen muss danach“) verweist der Seher Johannes auf seine durch Christus vermittelte Fähigkeit, die irdische Geschichte in ihrer Tiefendimension zu entschlüsseln.15 Gerade Offb 12f enthält dabei die für Johannes allein angemessene „Tiefenschau“ des Satans,16 der, auf die Erde herabgekommen, alle Erdenbewohner zum Götzendienst verführen will (12,9). Der im Himmel zwar entmachtete Satan treibt auf der Erde sein schreckliches Unwesen (12,12) und führt Krieg gegen alle, „die die Gebote Gottes bewahren und das Zeugnis Jesu festhalten“ (12,17). In Gestalt des Drachen gibt er dem „Tier“ „seine Macht und seinen Thron und große Gewalt.“ (13,2). Dieses „Tier“ erweist sich als das römische Imperium, das gleichzeitig mit einem seiner Herrscher identifiziert wird, wenn es wie zum Tode geschlachtet doch wunderbar geheilt erscheint (13,3).17 Dieses vom Drachen = Satan abhängige „Tier“ vermag seinen im Kaiserkult kulminierenden Anspruch weltweit durchzusetzen (13,4.8). In Gestalt des zweiten „Tieres“, das als Propagandist und Erfüllungsgehilfe des ersten „Tieres“ auftritt, gelingt es dem Imperium, die religiöse Verehrung des Kaisers durchzusetzen (13,12ff). Was Isebel und ihre Anhänger anscheinend nicht erkennen, ist eben dies: Hinter der Macht des römischen Imperiums steht Satan selbst, der „die Heiligen“, die wahren Christen, besiegen will (13,7). Die besondere Gefährdung der christlichen Gemeinden ist für Johannes dem Umstand geschuldet, dass die Prophetin Isebel in seiner Sicht in der christlichen Gemeinde letztlich dasselbe bewirkt, was das zweite „Tier“ als Erfüllungsgehilfe des römischen Imperiums betreibt. Sie verführt wie das zweite „Tier“ die Menschen zu einem anpassungs15 16 17
Vgl. M. KARRER, Die Johannesoffenbarung als Brief (FRLANT 140), Göttingen 1986, 156f. TAEGER, Begründetes Schweigen (Anm. 3), 133. WITULSKI, Johannesoffenbarung (Anm. 6), 149ff versteht das erste „Tier“ als die „individuelle Gestalt eines einzelnen römischen Kaisers“ (a.a.O., 155), der allerdings das Imperium Romanum als satanisches Ganzes vertritt. Seine zeitgeschichtliche Deutung des ersten „Tieres“ auf Kaiser Hadrian, des zweiten „Tieres“ auf den Sophisten Antonius Polemon bleibt fraglich, insofern dabei ein allzu gewagter Rückschluss von der Textebene auf die externe Sachebene vorliegt (a.a.O., 219-237).
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bereiten Verhalten, das in den Augen des Sehers letztlich Götzendienst bedeutet (2,20 parallel zu 13,14; 19,20). Isebel propagiert innerhalb der christlichen Gemeinde dasselbe, was im umfassenden Horizont des damaligen Imperiums das zweite „Tier“ tut, das im allmählichen Aufbau der apokalyptischen Visionsberichte schließlich als der „Pseudoprophet“ entlarvt wird (16,13; 19,20, 20,10). Beide verführen die Menschen zum Götzendienst des Kaiserkultes – einmal innerhalb der christlichen Gemeinde (2,20), sodann in der ganzen Welt (13,14; 19,20).
4. Nicht nur dass Johannes das römische Imperium als Agenten und Handlanger des Satans selbst offenlegt (Offb 12f), er bemüht sich auch darum, das anstehende eschatologische Drama so zu schildern, dass es den Vertretern der Satanserkenntnis die Basis ihrer Irrlehre entzieht. Sicher – die visionäre Schau des Sehers enthüllt es – ist der Satan aus seiner himmlischen Machtstellung gestürzt; doch gilt der Erde der Wehe-Ruf, dass der Zorn des Satans sich in seinen irdischen Agenten austobt (12,12; 13,1ff). Sein eigentliches Ende steht noch aus, was Isebel und ihr Anhang anscheinend nicht erkennen wollen. Dementsprechend sieht Johannes sich adressatenorientiert genötigt, das eschatologische Gerichtsdrama in seinen einzelnen Akten als noch ausstehende Abfolge endzeitlicher Ereignisse zu schildern (Offb 19,11-22,5). Dabei verrät dieser Gegenentwurf doch wohl via negationis, was die tatsächliche Position der Gegner bestimmt. Johannes pocht darauf, dass der Satan auf Erden noch nicht entmachtet ist, sondern erst im Himmel. Sein Unheil bringendes Wesen ist keinesfalls erledigt, sondern übt im Imperium Romanum seine gegenwärtige Macht aus. Christen sind zwar zum Königtum eingesetzt (1,5f), werden aber erst im Eschaton mit Christus herrschen (5,10; 20,6; 22,5). Die Satanserkenntnis der Gegner (2,24) hat demgegenüber das schon verwirklichte Heil betont. Es geht diesen dabei nicht bloß um die aufgeklärte Weltanschauung, dass es Satan nicht gibt, wie „kein Götze in der Welt existiert und kein Gott als der Eine“ (1Kor 8,4). Das Insistieren des Johannes, dass noch nicht realisiert ist, was die Gegner doch wohl behaupten, lässt eigentlich nur den Schluss zu, dass der Streit gerade diesen Konfliktpunkt zum Thema hat. Der vorliegende Versuch, aus dem Gesamtentwurf des Johannes via negationis die Position der Gegner zu bestimmen, kann hier gelingen, so riskant dieses Verfahren gelegentlich erscheinen mag. Denn Johannes konstruiert in 19,11-22,5 eine derartige Folge von endzeitlichen Ereignissen, die in dieser besonderen Komplexität nicht ein-
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fach nur traditionell vorgegeben ist, wobei sich in der besonderen Einfügung des Satans in die vorliegende Endzeitkonzeption zeigt, dass damit der eigentliche Nerv der Auseinandersetzung zwischen Johannes und den Gegnern, die ihrerseits Satanserkenntnis beanspruchen (2,24), getroffen ist. In Offb 19,11-22,5 fällt auf, dass Johannes endzeitliche Vorstellungen des Judentums aufgreift, sie aber so verändert, dass sie seinen Aussagetendenzen entsprechen. Johannes kombiniert die Abfolge endzeitlicher Ereignisse, wie sei bei 4Esr 7,26ff (bzw. 12,34) und syrBar 29f (bzw. 39,7-40,3) zu finden sind (begrenztes Messiasreich – Totenauferstehung – Endgericht – Neue Welt) mit der Abfolge, wie sie Ez 37-40 zeigt, wobei besonders der Kampf von Gog und Magog dazutritt (Ez 38-39), so dass sich für die Offb die Reihe ergibt: Tausendjähriges Reich des Christus (20,4-6), Gog und Magog (20,7-10), allgemeine Totenauferstehung zum Endgericht (20,11-15) und Neue Welt (21,1-22,5). Gegenüber den genannten Vorgaben erweitert ist die Darstellung in der Offb durch den Gedanken der „ersten Auferstehung“ (20,6), besonders aber der Fesselung des Satans im „Abgrund“ der Unterwelt (20,1-3), seiner erneuten Loslassung (20,7-9) sowie seiner endgültigen Vernichtung (20,10)18. In diesen gegenüber der Tradition neuen Aspekten drückt sich die redaktionelle Aussageabsicht des Johannes in eigentümlicher Weise aus. Dies gilt besonders für die Erwähnung des Satans im Rahmen dieses endzeitlichen Gerichtsdramas19. Erst nachdem der Satan durch den Engel Gottes gefesselt und im „Abgrund“ verschlossen ist (20,1-3) – so der Seher Johannes –, so dass er die Völker nicht mehr verführen kann, wird sich das tausendjährige Reich Christi auf Erden realisieren (20,4-6)20. Und nur wer zum Festhalten am Zeugnis Jesu konsequent bereit ist bis zum möglichen Martyrium, wird am tausendjährigen Reich teilhaben. In der Gegenwart aber ist der Satan als Feind der christlichen Gemeinden wirksam, die sich durch Glaubenstreue bewähren müssen, ehe sie denn als „Priester Gottes“ zu-
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T.J. BAUER, Das tausendjährige Messiasreich der Johannesoffenbarung. Eine literarkritische Studie zu Offb 19,11-21,8 (BZNW 148), Berlin/New York 2007, 251-253.274f. Nach J. FREY, Das apokalyptische Millenium. Zu Herkunft, Sinn und Wirkung der Milleniumsvorstellung, in: Millennium. Deutungen zum christlichen Mythos der Jahrtausendwende, Gütersloh 1999, 34f, ist die Abfolge der Endzeitereignisse direkt aus Ez 37-48 entnommen; ähnlich SATAKE, Offenbarung (Anm. 6), 384. Die mit Offb 20 parallele Abfolge endzeitlicher Akte in 4Esr 7,26ff und syrBar 29f kennt keine Aktion gegenüber dem Satan. Er ist diesem Schema eigentlich fremd. Wenn das Ende des Satans thematisiert wird, so ist es der eine entscheidende Akt, der die Heilszeit ermöglicht (AssMos 10; TestJud 25,3-5; TestDan 5,10-13), nicht lediglich ein Aspekt des endzeitlichen Dramas. BAUER, Messiasreich (Anm. 18), 287f.
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sammen mit Christus herrschen werden (20,6) und die in der Taufe bereits zugesprochene Heilsgabe (1,5f) sich realisieren wird. Der eschatologische Vorbehalt wird noch dadurch verstärkt, dass auch diese Herrschaft als vorläufige Periode des Heils erscheint, die durch die erneute Loslassung des Drachen = Satan ein Ende findet (20,7). Dieser versucht einen letzten Ansturm, indem er die Völkerheere Gog und Magog gegen „das Lager der Heiligen und die geliebte Stadt“ mobilisiert (20,8-9). Erst jetzt wird er endgültig scheitern und in den „Pfuhl von Feuer und Schwefel“ geworfen und ewige Pein erlangen (20,10). Bei dieser bewusst in mehrere Akte gedehnten Abfolge endzeitlicher Ereignisse ist das Bestreben des Sehers Johannes deutlich, gegen eine Überzeugung anzugehen, die eschatologisches Heil schon in der Gegenwart insofern realisiert sieht, als der Satan und widergöttliche Mächte im Grunde entmachtet sind, weswegen sich auf diese Welt und ihre hellenistisch-römische Stadtgesellschaft mit ihrem Götzendienst einzulassen, keine Gefährdung christlicher Glaubensexistenz nach sich zieht. Er entfaltet in seinem apokalyptischen Hauptteil 4,1-22,5 mit seiner Tiefenschau die visionäre Enthüllung der eigentlichen Wirklichkeit, die denen verschlossen ist, die ihrerseits behaupten, „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben, gleichwohl aber verkennen, was der göttliche Geschichtsplan in Wirklichkeit vorgesehen hat. Ein Gesichtspunkt sei noch gesondert berücksichtigt. Durch die redaktionelle Einfügung des Satans in das endzeitliche Gerichtsdrama, das für diesen die Fesselung und Gefangennahme vorsieht, damit die Herrschaft des Christus anbrechen kann (20,1-6), gerät die Darstellung des Millenniums in einen Kontext, der dem eschatologischen Vorbehalt des Johannes Rechnung trägt. Mit der Konzeption einer tausendjährigen Heilsperiode verfolgt Johannes jedoch vornehmlich ein positives Ziel. Neben der Adressatengruppe der angeblich „Vollendeten“, die in den Sendschreiben nach Thyatira (2,18-29) oder auch Sardes (3,1-6) bzw. Laodizea (3,14-22) – letztere in abgestufter Weise – die dominante Zielgruppe darstellen (s.u.), hat Johannes auch solche Kreise im Blick, „die sich in der Klage der Märtyrer (6,10) wiederfinden. Sie teilen die krisenhafte Wahrnehmung der Gegenwart, wie der Seher sie vertritt.“21 Diese Gruppe will Johannes trösten, wie er es im Sendschreiben nach Smyrna und Philadelphia auch tut. Zu der von ihm geforderten Standhaftigkeit gegenüber dem „Zeugnis Jesu“ (12,17) gehört auch die Zeugnisabgabe im Martyrium, die Johannes mit der Verheißung der Teilnahme an der Mitherrschaft mit Christus im Millennium stimulie21
H. ROOSE, Eschatologische Mitherrschaft. Entwicklungslinien einer urchristlichen Erwartung (NTOA 54), Göttingen/Fribourg 2004, 171f.
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ren will (20,4). Möglicherweise folgt er damit einer ‚apokalyptischen Märtyrerhoffnung’, wie sie ansonsten in 2Tim 2,11b-13a in hymnischer Sprache Gestalt annimmt, um die dortige Abgrenzung von Irrlehrern vorzubereiten, die die Parole vertreten: „Die Auferstehung ist schon geschehen“ (2Tim 2,18).22 Denen, die am „Zeugnis Jesu“ festhalten, gilt die Zusage Christi: „Siehe, ich komme bald.“ (22,7.12.20). Die grundsätzliche Naherwartung des Sehers Johannes steht für ihn nicht im Widerspruch zu dem Gerichtsdrama mit einer noch ausstehenden Abfolge endzeitlicher Akte, wie sie in Offb 19,11-22,5 zur Sicherung des eschatologischen Vorbehaltes geschildert ist. Es geht hier nicht um irdische Chronologie, sondern um das Geheimnis des göttlichen Geschichtsplans: Wenn das eschatologische Maß der Zahl der Märtyrer voll ist, geschieht die endgültige Heilswende (6,9-11).
5. Zum Schluss sei noch der Versuch gewagt, die gegnerische Position der Isebel und ihrer Anhänger theologiegeschichtlich zu verorten. Vieles spricht dafür, sie als Radikalisierung deuteropaulinischer Tradition zu verstehen.23 Dass der Satan wie alle widergöttlichen Mächte unterworfen ist, ließ sich bereits als Zuspitzung von Aussagen wie Kol 2,15 oder Eph 1,20-22 deuten. Wenn die erste Auferstehung im Millennium erst erfolgen kann, nachdem die Fesselung des Satans erfolgt ist, wenn zudem die Auferstehung zum Weltgericht (Offb 20,11-15) danach geschieht, so steht dies in klarem Kontrast zu einer Anschauung, die behauptet, „die Auferstehung ist schon geschehen“ (2Tim 2,18), wie immer diese präsentische Position gedacht wurde, sei sie sakramental in der Taufe bzw. pneumatisch vermittelt. Aber schon in Kol 2,9-15 ist der doppelte Gedanke bereits präformiert: einmal „die herrscherliche Suprematie des Erhöhten über alles, was in der Welt überindividuelle Macht ausübt“ (2,9f.15),24 zum anderen aber auch die Überzeugung, dass gerade der Getaufte „mitauferweckt“ wurde „durch den Glauben an die Kraft Gottes“ (2,12) und dass er in den „kosmischen Machtwechsel“ mit Christus einbezogen wurde mit der Folge, „dass der Getaufte der Herrschaft ‚jeder (anderen) Macht
22 23 24
A.a.O., 210-231. Vgl. MÜLLER, Theologiegeschichte (Anm. 2), 21-26; TAEGER, Begründetes Schweigen (Anm. 3), 129f; KARRER, Johannesoffenbarung (Anm. 14), 293-295. WOLTER, Brief an die Kolosser (Anm. 10), 127.
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und Gewalt’ entnommen ist.“25 Gleichwohl ist hier eine wesentliche Differenzierung vonnöten. Der präsentische Tenor des Kol, dass die Gemeinde in Christus die Fülle des Heils schon besitzt (2,9-15), hat argumentative Funktion gegenüber einer gegnerischen „Philosophie“ (2,8), die die Gemeinde drängt, sich andere Mechanismen der Heilssicherung zu verschaffen, sei es in Gestalt von Nahrungsaskese oder der Beobachtung bestimmter Festtage (2,16-23). Hier liegt kein Heilsenthusiasmus vor wie später wohl in 2Tim 2,18, zumal ein zeitlich und ethisch bestimmter Vorbehalt greift, der auf das endzeitliche Gericht verweist (Kol 3,24f). Ähnliches lässt sich auch beim Eph feststellen. Während für Christus gilt, das er bereits in der Gegenwart über das All herrscht (1,22) und die Kirche als Leib Christi daran partizipiert (1,23), sind Christen in der Gegenwart noch von „Mächten“ und „Gewalten“ bedroht (6,10ff). Ja, Christen müssen sich wappnen gegen „die Ränke des Teufels“ (6,11). Genau das Letztere scheint für Isebel und ihren Anhang als Problem erledigt zu sein. In Thyatira (Offb 2,18-29) und Pergamon (2,12-17) hat dieser Enthusiasmus praktische Konsequenzen gehabt, die Johannes dazu nötigten, die bisher treu gebliebenen Gemeindeglieder aufzufordern, „to abstain from the idolatrous practices of pagan society.“26 In anderen Gemeinden der Asia scheinen diese Gefahren nicht so offensichtlich zu sein. Immerhin kritisiert er die Christen in Sardes, die in dem Ruf stehen zu „leben“ und doch in Wahrheit „tot“ sind (3,1).27 Illusionäres Vollendungsbewusstsein bestimmt Christen in Laodizea, wenn sie behaupten, „reich“ zu sein, „reich“ geworden zu sein und nichts nötig zu haben (3,17), was auf ein ähnliches Selbstverständnis schließen lässt wie dasjenige, das schon Paulus in 1Kor 4,8 kritisiert. Johannes muss sich also in mehreren Gemeinden der Asia mit nachpaulinischen Strömungen auseinandersetzen, in besonders zugespitzter Form aber in Thyatira, weil dort jene Prophetin Isebel das ideologische Sagen hat, die mit scheinbar christlicher Lehre eine Anpassung an die pagane Umwelt rechtfertigt, damit in seiner Perspektive dem satanischen Pseudopropheten beisteht (13,11ff; 16,13; 19,20; 20,10) und die Gemeinde zum Götzendienst verführt (2,20).
25 26 27
A.a.O., 128. AUNE, Revelation (Anm. 2), 991. Dazu und zum Folgenden vgl. P. LAMPE, Die Apokalyptiker – ihre Situation und ihr Handeln, in: H. MERKLEIN / E. ZENGER (Hg.), Eschatologie und Friedenshandeln (SBS 102), Stuttgart 1981, 106f; H. ROOSE, „Das Zeugnis Jesu“. Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes (TANZ 32), Tübingen/Basel 2000, 128-137.
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Wie aber ist die theologische Herkunft des Sehers Johannes näher zu bestimmen, die ihn in so krasser Weise dazu drängt, Strömungen des nachpaulinischen Christentums zu bekämpfen? Man mag an die palästinische bzw. judenchristliche Verwurzelung denken, die ihn mit judenchristlichen Normen und der apokalyptischen Vorstellungswelt verbindet.28 In besonderer Weise scheint er zudem im gedanklichen Einflussbereich einer dualistisch geprägten Tauftheologie zu stehen, wie sie der (unpaulinische) Text 2Kor 6,14-7,1 (ähnlich Eph 5,3-14) entfaltet.29 Der dortige Aufruf zur Absonderung und zur Trennung von heidnischer Unreinheit 2Kor 6,17 ist in der Offb zum generellen Ruf, die römisch geprägte Welt und Gesellschaft, eben das dämonische „Babylon“ zu verlassen (Offb 18,4), gesteigert. Beide Texte, 2Kor 6,14-7,1 und die Offb, bestimmt eine dualistisch geprägte Weltsicht, wenn 2Kor 6,14ff nur die schroffe Alternative Christus oder Beliar kennt und Johannes die satanische Konstruktion der Wirklichkeit so weit zuspitzt, dass auf der einen Seite die „Sieger“ stehen, die getreu zu Christus halten (vgl. die Überwindersprüche in den Sendschreiben), auf der anderen Seite alle diejenigen, die der Wirklichkeit des satanisch beherrschten Imperiums angehören. Johannes ordnet die christlichen Gegner, die sogar „die Tiefen des Satans“ erkannt zu haben meinen, in das endzeitlich-apokalyptische Gerichtsdrama ein; damit aktualisiert er apokalyptische Vorstellungen für die Dämonisierung seiner Gegner. Die besondere Satanserkenntnis erlebten Isebel und ihre Anhänger gewiss als Befreiung von überholt geglaubten Normen, Johannes sah darin nur eine Versklavung an die dämonische Macht des Widerparts Christi, des Satans.
28 29
Vgl. MÜLLER, Theologiegeschichte (Anm. 2), 46-50; ROOSE, Zeugnis Jesu (Anm. 27), 166-174; BAUER, Messiasreich (Anm. 18), 315-321. Näheres dazu bei U.B. MÜLLER, Zwischen Johannes und Ignatius. Theologischer Widerstreit in den Gemeinden der Asia, ZNW 98 (2007), 49-67: 56-59.
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Rom, Luxus und die Johannesoffenbarung Hermann Lichtenberger
1. Einleitung Bei der Vorbereitung der Ausstellung „Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel“, 2007,1 fragte mich einer der Initiatoren, der über Luxuskritik für den Katalog schrieb2, ob es das Thema des Luxus im Neuen Testament gäbe. Sogleich kommt die königliche Hochzeitsfeier in den Sinn, die in Mt 22,4 beschrieben wird, wo ein König Sklaven mit der Botschaft aussendet: „Meine Stiere und das Mastvieh sind geschlachtet, und alles ist bereit“ (Mt 22,4); im weiteren Verlauf wird von einer hochzeitlichen Bekleidung gesprochen werden (Mt 22,12). Einzureihen ist hier vielleicht auch die Begrüßung des „Verlorenen Sohnes“: „Bringt schnell das beste Kleid her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und holt das gemästete Kalb und schlachtet es, und wir wollen essen und fröhlich sein“ (Lk 15,22f); das Fest wird dann mit Musik und Tanz (15, 25) gefeiert. In die Richtung der Luxuskritik geht Mt 11,8 über Johannes den Täufer: „Aber warum seid ihr ausgezogen? Um einen Menschen zu sehen in weichen Kleidern? Siehe: die weiche Kleider tragen sind in den Königspalästen.“ Der Reiche im Gleichnis Lk 16,19-31 kleidete sich in „Purpur und Byssos(leinwand)“ „und lebte alle Tage herrlich und in Freuden“ (Luther 1984). Schmuck- und Luxusvermeidung kennzeichnet eine fromme Frau (1Tim 2,9), der wahre Schmuck ist „innerlich“ (1Petr 3,2f). Den deutlichsten Bezug auf Luxus aber nimmt die JohApk, und hier kommt natürlich zuerst der „Warenkatalog“ der Luxuswaren der Kaufleute in den Sinn, die nun niemand mehr kauft (Offb 18,12-16): „Fracht von Gold und Silber und Edelstein und Perlen und feiner Leinwand und Purpurstoff und Seide und Scharlach, und das Thujaholz und all das Gerät aus Elfenbein und all das Gerät aus edelstem 1 2
R. ASSKAMP / M. BROUWER / J. CHRISTIANSEN / H. KENZLER / L. WAMSER (Hg.), Luxus und Dekadenz. Römisches Leben am Golf von Neapel, Mainz 2007. D. RICHTER, Sodom und Gomorra. Luxuskritik und die Katastrophe als Strafgericht, in: ASSKAMP u.a. (Hg.), Luxus (s. Anm. 1), 46-55.
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Holz und aus Erz und Eisen und Marmor, und Zimt und Amomum und Räucherwerk und Salböl und Weihrauch und Wein und Öl und Feinmehl und Weizen und Rinder und Schafe, und (Fracht von) Pferden und Wagen und Sklaven und Menschenseelen. Und das Obst, woran deine Seele Lust hatte, ist von dir gegangen, und alles Kostbare und Glänzende ist dir verloren, und niemals mehr wird man sie finden.“3 Und dann zur Stadt gewendet: „Wehe, wehe, du große Stadt, die bekleidet war in feine Leinwand und Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelstein und Perle; denn in einer Stunde ist solcher Reichtum verwüstet worden“ (18,12-17).4
2. Luxus und Luxuskritik 2.1. Luxus Was ist Luxus? Das lateinische luxus entstammt dem botanischen Bereich und bezeichnet ein wucherndes Wachstum von Saaten und Pflanzen, also für ein über das Normalmaß hinaus gehendes Wachstum. Wird dies auf die Lebensführung übertragen, so wird in der Üppigkeit eine Normabweichung gesehen und diese meist kritisch betrachtet. Luxuria kennzeichnet also eine Lebensweise, „die in unangemessener, übertriebener, verschwenderischer Weise Aufwand betreibt und damit moralisch gewissermaßen über die Stränge schlägt.“5 Kritiker sahen in luxuriosi Menschen, „die sich der ‚Schwelgerei’, der ‚Genusssucht’, der ‚Prunkliebe’ verschreiben und damit einem bedenklichen Sittenverfall, gar einer Dekadenz Vorschub zu leisten drohen.“6 Der luxuria steht dabei gegenüber die modestia bzw. die moderatio, also Mäßigung und Maßhalten, die zu den wichtigsten Tugenden der römischen Aristokratie gehören. Die Demonstration von Luxus bei den Eliten und vor allem den Parvenus ist ein bewusstes Ausbrechen aus dieser Norm. Zwei Orte solcher Demonstration von Luxus sind dabei bevorzugt und öffentlichkeitswirksam: Die Bekleidung mit dem angelegten Schmuck und die Speisetafel. Bei letzterer rufen nicht nur die Speisen in ihrer luxuriösen Vielfalt das Interesse hervor, sondern auch das Geschirr. Die Museen der Welt geben uns einen Staunen erweckenden Einblick. 3
Übersetzung nach U.B. MÜLLER, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh 1995, 301. MÜLLER, Offenbarung (s. Anm. 3), 301. K.-W. WEEBER, Luxuria, das „süße Gift“, in: ASSKAMP u.a., Luxus (s. Anm.1), 3-15: 3; siehe auch DERS., Die Schwelgerei, das süße Gift... Luxus im Alten Rom, Darmstadt 22007, 7. WEEBER, Luxuria (s. Anm. 5), 3. 2
4 5 6
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2.2. Luxuskritik Grundlegend für die Beschreibung von Luxus und für die Luxuskritik ist das Werk Ludwig Friedlaenders.7 Friedlaender breitet nicht nur das ganze Material mit bewundernswürdiger Gelehrsamkeit aus, er warnt zugleich vor zu rascher moralischer Entrüstung: Erstens sind die hauptsächlichen Gewährsleute, Varro, Seneca und Plinius, Männer strenger Einfachheit der Lebensführung8, zweitens ist im Vergleich zum Luxus anderer Zeiten – bis in die Gegenwart – der römische Luxus keineswegs alles Maß überschreitend.9 Den Verfasser der JohApk auf der Seite der römischen Rigoristen zu sehen, verwundert nicht, doch sein Urteil über den Luxus kommt nicht aus dem Ideal der Bescheidenheit der Früheren, sondern aus jüdisch-christlicher Perspektive des Vergehens dieser Welt und ihrer Lust (vgl. 1Joh 2,17). Grundlegend jedoch ist, dass der Luxus Roms zutiefst in seinem Götzendienst begründet liegt.
3. Die Bewunderung von Roms Luxus Wie sehr Rom – nun in einer positiv-bewundernden Weise – mit dem Warenimport in Verbindung gebracht wurde, zeigt die Rom-Rede des Aelius Aristides aus dem 2. Jh. n.Chr.: „Ringsherum erstrecken sich ‚gewaltig in gewaltiger Ausdehnung’ die Festländer, welche euch stets reichlich mit dem versorgen, was es in ihnen gibt. Herbeigeschafft wird aus jedem Land und jedem Meer, was immer die Jahreszeiten wachsen lassen und alle Länder, Flüsse und Seen sowie die Künste der Griechen und Barbaren hervorbringen. Wenn jemand das alles sehen will, so muß er entweder den gesamten Erdkreis bereisen, um es auf solche Weise anzuschauen, oder in diese Stadt kommen. Was nämlich bei den einzelnen Völkern wächst und hergestellt wird, ist notwendi7
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L. FRIEDLAENDER, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von Augustus bis zum Ausgang der Antonine. Neunte neu bearbeitete und vermehrte Auflage besorgt von G. WISSOWA, I, Leipzig 1919, II, Leipzig 1920, hier II 263-379 „XI. Der Luxus“; siehe ausführlich WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 157-165 („’Symptom einer kranken Gesellschaft’? Luxusschelte in luxuriösem Ambiente“). FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 277: „Er [scil. Seneca], Plinius und Varro verdammen mehr oder minder unbedingt jede Bequemlichkeit, jede Verfeinerung des Genusses, ja sogar jeden entbehrlichen Genuss, und sind selbst von Anwandlungen einer Sehnsucht nach dem ursprünglichen Naturzustande nicht frei.“ „Ohne Zweifel hat der Luxus wie die ganze Kultur der frühen Kaiserzeit große Schattenseiten. Aber er war weder so töricht und unsittlich, wie ihn der einseitige Rigorismus damaliger Schriftsteller dargestellt hat, noch so fabelhaft und ungeheuerlich, wie er in der ungesicherten Kompilation von Meursius erscheint“, FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 179.
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gerweise hier stets vorhanden, und zwar im Überfluss. So zahllos sind die Lastschiffe, die hier eintreffen und alle Waren aus allen Ländern von jedem Frühjahr bis zu jeder Wende im Spätherbst befördern, daß die Stadt wie ein gemeinsamer Handelsplatz der ganzen Welt erscheint. Schiffsladungen aus Indien, ja – wenn man will – sogar aus dem ‚glücklichen Arabien’, kann man in solchen Mengen sehen, dass man vermuten könnte, für die Menschen dort seien fortan nur kahle Bäume übriggeblieben, und sie müssten hierher kommen, um ihre eigenen Erzeugnisse zurückzufordern, wenn sie etwas davon bräuchten. Man kann wiederum beobachten, wie babylonische Gewänder und Schmuckstücke aus dem noch weiter entfernten Barbarenland in viel größerer Zahl und leichter hierher gelangen, als wenn es nötig wäre, von Naxos oder Kythnos nach Athen zu fahren und Waren dorthin zu bringen. Eure Getreideländer aber sind Ägypten, Sizilien und der kultivierte Teil von Afrika. Das Ein- und Auslaufen der Schiffe hört niemals auf, so dass man sich nicht nur über den Hafen, sondern sogar über das Meer wundern muss, dass es, wenn überhaupt, für die Lastschiffe noch ausreicht. Und was Hesiod von den Grenzen des Ozeans sagte, dass es einen Ort gebe, wo alle Wasser zu einem Anfang und zu einem Ende ineinanderströmen, geradeso kommt auch alles hier zusammen, Handel, Schifffahrt, Ackerbau, Metallveredelung, Künste, wie viele es auch gibt und je gegeben hat, und alles, was erzeugt wird und auf der Erde wächst. Was man hier nicht sieht, zählt nicht zu dem, was existiert hat oder existiert.“10
4. Die Rom- und Luxuskritik der JohApk 4.1. Die „Frau“ und Rom Bevor wir uns Einzelelementen des „Warenkatalogs“ in 18,12-14 zuwenden, werfen wir einen Blick auf die „Frau“ in 17,3+4. Wird schon aus dem engeren Kontext von Kap. 17 evident, dass mit der Frau „Rom“ gemeint ist, wird dies in der Wiederholung der Beschreibung nun im Blick auf die Stadt vollends klar: 17,4: „Und die Frau war bekleidet mit Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen.“ 18,16: „Wehe, wehe, du große Stadt, die bekleidet war in Byssos [das geht über 17,4 hinaus] und Purpur und Scharlach und geschmückt mit Gold und Edelsteinen und Perlen (sing!). „Die scharlachrote Farbe des Tieres (darauf sitzt die Frau) zeigt die Pracht des Reiches. Dieses konkretisiert sich in der Gestalt des vergöttlichten Kai10
11-13; Übersetzung nach R. KLEIN, Die Romrede des Aelius Aristides (TzF), Darmstadt 1983, 13-15.
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sers .... In der Bekleidung der Frau mit Purpur und Scharlach drückt sich der glanzvolle Prunk Roms aus, ebenso mit dem üppigen Schmuck den sie trägt.“11
Was Müller hier andeutet, lässt sich weiterführen. 1. Purpur (porfu,r): „Der Purpursaft, der als Farbstoff für Seide und Wolle diente, war die teuerste Flüssigkeit der Alten Welt.“12 Das Drüsensekret von 12.000 Schnecken war nötig, um 1,5 Gramm Farbstoff zu gewinnen. Neben der eigentlichen Purpurschnecke purpura, die den besten Farbstoff lieferte, verwendete man die Trompetenschnecke, bucinum bzw. murex. Unterschiedliche Farbtönungen ergaben sich aus den Mischungsverhältnissen. Der beste und berühmteste Purpur kam (auch) in der römischen Kaiserzeit aus Tyrus. Purpur ist Statussymbol derer, die ihn sich leisten können. Hinzu kommt aber ein anderer wichtiger Gesichtspunkt: Purpur war nicht nur Statussymbol der wohlhabenden Oberschicht, sondern wurde politisch instrumentalisiert. Augustus scheint beabsichtigt zu haben, den Purpur zum kaiserlichen Privileg zu machen, was angesichts des Symbolwerts des Purpurs für die reiche Oberschicht nicht gelingen konnte. Auch Neros Verbot, dass andere Purpur der höchsten Qualität trugen, ließ sich nicht durchsetzen. Die neuere Forschung vertritt zwar die Auffassung, dass die gängige Meinung, der Purpur sei ausschließlich kaiserliches Privileg gewesen, für die frühe Kaiserzeit nicht haltbar ist13, unbestritten davon bleibt, dass der Purpur den Princeps kleidet: „Der Triumphator trug während des Triumphzuges P(urpur)-Gewänder; in der Prinzipatszeit, in der nur der Princeps das Recht hatte, einen Triumph zu feiern, wurde das P(urpur)-Gewand zum Ornat des Imperators und Princeps.“14 Wenn also Simon bar Giora nach der Tempelzerstörung mit purpurnem Mantel an der Stelle, wo der Tempel gestanden hatte, auftaucht, dann benutzt er genau die kaiserliche Symbolik: es ist in jüdischer Sichtweise eine messianische Demonstration (Josephus, bell 7, 29). U.B. Müller hat also völlig richtig gesehen, dass im Purpurgewand der Frau nicht nur der Luxus Roms zum Ausdruck kommen soll, sondern eben der Herrschaftsanspruch des Kaisers. In der Gestalt der Frau 11 12 13 14
MÜLLER, Offenbarung (s. Anm. 3), 288. WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 91. WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 94: „erst seit dem 3. Jahrhundert wurden die besten Purpursorten immer mehr zum kaiserlichen Privileg.“ H. SCHNEIDER, Art. Purpur, DNP 10 (2001), 604f: 605.
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erscheint, im kaiserlichen (Luxus-)Gewand, der römische Kaiser als Inbegriff des Widergöttlichen. 2. Scharlach (ko,kkinoj) ist der rote Soldatenmantel Mit der Scharlachfarbe des Tiers, auf dem die Frau sitzt, wird die militärische Expansion Roms im Blick sein (dagegen der wiederkommende Christus und sein Heer reiten auf weißen Pferden und das Heer trägt rein weiße Byssosgewänder.15 Hier soll im Vorgriff zu 18,12 die Seide genannt werden: Sie gehört zu den 29 kostbarsten Produkten nach Plinius’ Liste.16 3. Der Schmuck der „Frau“ Perlen: (margari,tai) wurden aus Indien und dem persischen Golf eingeführt. Von den europäischen waren die britannischen am bekanntesten, aber von minderer Qualität.17 Perlen waren hoch gehandelte Importwaren, die Perlenhändler wurden wegen der Sucht der Frauen nach Perlen unermesslich reich. Plinius: „Perlen nehmen den ersten und höchsten Rang auf der Preisskala aller Gegenstände ein.“18 Seneca kritisiert, dass oft nicht nur eine Perle das Ohr zierte, sondern dass „zwei oder drei Vermögen an jedem Ohr hängen.“19 Perlen kennen wir auch als Colliers, auf Silber- oder Goldfäden aufgereiht, wir finden sie in Ringen, Armbändern, Stirnreifen und Haarnetzen. Mit Perlen waren andere Frauen zu beeindrucken und Männer anzulocken.20 4. Gold und Goldschmuck: Galt die Perle als höchstes Gut an Schmuck, so folgte ihr Gold direkt nach21: Wer über Geld verfügte, kaufte oder schenkte Schmuck, damit dieser gezeigt und gesehen würde. Plinius kritisiert, „’Überall’ trügen die Damen Goldschmuck (...), an den Armen und Fingern, am Hals und an den Ohren, im Haar, sogar die Hüften umgürteten sie mit Goldketten.“22 Die Richtigkeit dieser Beschreibung lässt sich in jedem 15 16 17 18
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Christus wohl auch, aber sein Gewand ist blutbefleckt (19,13). Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVIII, 204. WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 106. Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVIII, 204: „Was aber die Produkte selbst anlangt, haben unter den im Meer vorkommenden die Perlen den höchsten Preis“, Übersetzung R. KÖNIG, C. Plinius Secundus d.Ä. Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch XXXVII Steine: Edelsteine, Gemmen, Bernstein, Zürich 1994, 137. Nach WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 107. S. dazu ausführlich FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 323: „Der größte und deshalb am meisten gerügte Luxus wurde von Frauen mit Perlen getrieben; für diese wurden höhere Preise als für irgend welche Edelsteine bezahlt.“ S. aber die Reihenfolge der kostbarsten Güter bei Plinius, in der Gold erst an zehnter Stelle rangiert (Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVII, 204). WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 123.
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archäologischen Museum nachprüfen. Anhand des Schmucks von Statuen oder der Schmückung von Mumien aus Ägypten des 3. bis 1. Jahrhunderts lässt sich ein realistisches Bild über den Goldschmuck (und sonstigen Schmuck) von Frauen der Oberschicht gewinnen. Aus Herculaneum ist uns der Schmuck einer Frau erhalten, den sie bei ihrer Flucht bei sich hatte: zwei Goldringe mit Gemmen, ein Paar Ohrringe aus Golddraht und ein Paar Schlangenarmreife.23 Der Schmuck soll die „Frau“ also nicht in ihrer Schönheit, sondern als Rom charakterisieren. 5. Das Gegenbild der „Frau“ Das vom Himmel herabkommende Jerusalem ist das Gegenbild dieser Frau. Auch sie ist geschmückt, und zwar wie eine Braut zur Hochzeit (Offb 21,2). Ihre Pracht wird dann dem Seher gezeigt in ihrem überwältigenden Schmuck (21,10-22,5). Edelsteine (21,18-21)24 und Gold (21,18.21) sind die Baustoffe dieser Stadt. Nur hier sind sie legitim.
5. Der „Warenkatalog“ Kommen wir zum „Warenkatalog“ von 18,12-16: Der ganzen Szenerie von Kap. 18 mit der Klage der Könige der Erde (18,9-10), der Kaufleute (18,11-17a) und der Seeleute (18,17b-19) liegen Ez 26 und 27 zugrunde. Der „Warenkatalog“ bzw. das Handelsgut ist dort noch vielfältiger und wird geographisch-politisch mit Handelspartnern in Verbindung gebracht (Ez 27,12-22). Die einzelnen Handelsvölker werden in Offb 18 nicht mehr genannt, die Waren sind nicht ihrer Herkunft nach, sondern ihrer Zusammengehörigkeit geordnet. Der Handel ist globalisiert und in den Händen der Großhändler. Der Katalog in Offb 18,12-14 läßt sich wie folgt gliedern: Schmuck: Kleidungsstoffe: Geräte:
23 24
Gold und Silber, Edelsteine und Perlen Byssos, Purpur, Seide und Scharlach aus Citrusholz, aus Elfenbein, aus wertvollem Holz, aus Bronze, aus Eisen und aus Marmor
WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 125. S. O. BÖCHER, Das himmlische Jerusalem, in: W. ZWICKEL (Hg.), Edelsteine in der Bibel, Mainz 2002, 71-77; zu den einzelnen Steinen s. W. ZWICKEL, Die Edelsteine im Brustschild des Hohenpriesters und beim himmlischen Jerusalem, in: DERS. (Hg.), Edelsteine, 50-70.
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Parfumherstellung und Räucherwerk: Nahrungsmittel: Tiere: Sklaven: Abschluss:
Zimt, Amomum, Räucherwerk, Myrrhe und Weihrauch Wein und Öl, Feinmehl und Weizen Rinder und Schafe, Pferde und Wagen Leiber und Menschenseelen „Obst“ der Begierde, alles Fette und Glänzende
Er übernimmt dabei mindestens 14 Waren wörtlich, darunter die „Menschenseelen“ als Bezeichnung für Sklaven, weitere 3-5 der Sache nach (z.B. statt „Wolle“„Schaf“, statt „Kriegswagen“„Reisewagen“). Noch auffälliger aber ist, was er Neues bietet. Es sind Waren, die für Tyros – Ezechiel (noch) keine Rolle spielten, nun aber im Mittelpunkt des Interesses des römischen Luxus stehen: Perlen, Purpur, Seide und Scharlach, Zitrusholz(tische), Marmor. Die Reihe lässt sich fortsetzen. R. Bauckham25 hat nach Auffassung von J. Prigent26 die Abhängigkeit von Offb 18,12-14 von Ez 27,12-24 (Tyrus) zu gering eingeschätzt; der Verfasser der Apokalypse habe den Ezechieltext gewissermaßen „in the light of the registers of the Chamber of Commerce of the port of Rome“ gelesen. Dennoch ist die Liste in Offb 18,12-14 eindeutig auf Rom zugeschnitten. So kann auch Bauckham tatsächlich in Plinius’ Liste der 29 teuersten Produkte dreizehn in der JohApk finden.27 Diese Liste lautet: „Was aber die Produkte selbst anbelangt, haben unter den im Meer vorkommenden die Perlen den höchsten Preis; unter den auf der Erdoberfläche vorkommenden die Bergkristalle, unter denen im Erdinnern der Diamant, die Smaragde, die <übrigen> Edelsteine und die Flussspatkristalle; unter den aus der Erde wachsenden der Kermes und der Laser, unter den Laubarten die Narde, die seidenen Gewebe, unter den Bäumen der Citrus, unter den Sträuchern die Zimtstaude, die Zimtrinde, das Amomum, unter den Säften der Bäume oder Sträucher der Bernstein, der Balsam, die Myrrhe, der Weihrauch, unter den Wurzeln der Kostwurz; unter den Landtieren, die – wie man weiß – atmen, haben den höchsten Preis die Zähne der Elephanten, im Meere die Schalen der Schildkröten, unter dem Pelzwerk die Felle, welche die Serer färben, und das Haar der Ziegen Arabiens, das wir ladanum genannt haben; unter den auf dem Lande und im Meer lebenden Muscheln die Purpurschnecke. Was die Eigenschaft der Vögel anlangt, ist außer den kriegerischen Helmbüschen und dem Fett der 25 26 27
R. BAUCKHAM, The Economic Critique of Rome in Revelation 18, in: DERS., The Climax of Prophecy. Studies on the Book of Revelation, Edinburgh 1993, 338-383. J. PRIGENT, Commentary on the Apocalypse of St. John, Tübingen 2001, 55. BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 350-371
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kommagenischen Gänse nichts Bemerkenswertes zu nennen. Es darf nicht übergangen werden, dass das Gold, nach dem alle Sterblichen wie verrückt begehren, kaum die zehnte, das Silber aber, mit dem man Gold kauft, kaum die zwanzigste Stelle in der Wertskala behauptet.“28
Gold, Silber, Perlen, Purpur, Scharlach und Seide sind schon genannt, begehrte Luxusgüter waren exotische Hölzer für die Inneneinrichtung, dabei ragt das sog. Zitrusholz (xu,lon qu,i?non) heraus.29 Begehrt waren die Mensae citreae, Tische aus Citrusholz. Nicht verwandt damit ist der Zitronenbaum30, es handelt sich vielmehr um eine Zypressenart, die in Nordafrika zuhause ist, griechisch heißt sie thyinon xylon (Offb 18,12), botanisch Thuia articulata. Die Besonderheit dieses Holzes besteht in seiner Härte, in seiner ungewöhnlichen Maserung und dem zitronenähnlichen Duft des ätherischen Öls dieses „immergrünen ‚Lebensbaums’“.31 „Die starke Maserung erzielte man dadurch, dass man die Bäume im oder unmittelbar über dem Boden regelmäßig kappte und die immer wieder aufgehenden Äste abschnitt. So wurde der ‚unglückliche Baum’ (Seneca) gezwungen, ständig knotenartige Windungen in Form von Rosetten zu ‚produzieren’, die ihn mit jedem Jahr wertvoller machten. Die größten der in der Regel rund gearbeiteten Tischplatten (...), die auf einem Marmorfuß ruhten, hatten Durchmesser zwischen 120 und 135 cm bei einer Dicke von bis zu 28 cm. Nach modernen Berechnungen dauert es über 200 Jahre, bis der Citrusbaum einen solchen Durchmesser erreicht“32. Diese Tische sind für die Männer gewissermaßen das, was die Perlen für die Frauen sind.33 Über die Preise berichtet Plinius: „Noch heute gibt es einen Tisch, der von M. Cicero bei dem damaligen Geldmangel und, was noch merkwürdiger ist, zu jener Zeit um 500.000 Sesterzen gekauft wurde. Auch wird ein Tisch des Asinius Gallus erwähnt, der 1 Million Sesterzen kostete. Ferner wurden zwei Tische aus dem Nachlasse des Königs Juba verkauft, der eine um 1.200.000 Sesterzen, der andere um etwas weniger. Kürzlich verbrannte ein aus dem Besitz der Cetheger
28 29 30 31 32 33
Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVIII, 204. Übersetzung nach R. KÖNIG, Naturkunde XXXVII (s. Anm. 18), 203-205. S. die ausführliche Beschreibung bei Plinius, Nat.Hist. XII, XXIX, 91-102; Text und Übersetzung in: R. KÖNIG, C. Plinius Secundus d.Ä. Naturkunde. Lateinisch-deutsch Bücher XII/XIII Botanik: Bäume, Heimeran Verlag (ohne Ort), 1977,152-159. S. Plinius, Nat.Hist. XIII, XXXI, 103: „Es gibt noch einen anderen Baum mit dem gleichen Namen, der eine apfelähnliche Frucht hat...“, Übersetzung: KÖNIG, Naturkunde XII/XIII (s. Anm. 29), 159. WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 112. WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 112. Plinius, Nat.Hist. XIII, XXIX, 92.
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stammender Tisch, der um 1.300.000 Sesterzen gekauft worden war, der Schätzung nach einem großen Landgute gleich.“34
Tische aus Citrusholz waren wertvoller als Gold, sie waren Liebhaberstücke der Reichen, die über das nötige Kapital verfügten. Natürlich stand dahinter ein ganzes System, bis ein Tisch im Haus eines Reichen zu stehen kam: Die barbari in Nordafrika waren für die Ernte und Rohbehandlung zuständig35; der Überseehandel lag in Händen römischer Kaufleute (deren Reichtum und Stand geht aus einer Zusammenstellung von „Elfenbeinhändlern und Citrusholzhändlern“)36 hervor, die ihren Schatz zuverlässigen Reedern übergaben. In Italien bzw. Rom angekommen wurden die Hölzer von Citrusholzschreinern weiterverarbeitet. Von dort gelangten die Tische in die Edelboutiquen Roms. Als das Citrusholz Mangelware wurde, begnügte man sich mit Furnieren.37 Es folgt pa/n skeu/oj evlefa,ntion (18,12)38 „Elfenbein (...) wurde aus den Stoßzähnen afrikanischer und indischer Elefanten gewonnen und gehört wie Seide, Bernstein, Weihrauch und Pfeffer zu jenen kostbaren Gütern, die aus Gebieten außerhalb des Imperium Romanum importiert werden mussten; nach Plinius war Elfenbein das wertvollste Material, das Landtiere lieferten (Plinius, Nat.Hist. XXXVII 204). Der Preis für E(lfenbein) war im 1. Jh. n.Chr. außerordentlich hoch.“39 Die Geräte aus Elfenbein in Offb 18,12 können Väschen, Flakons für Parfum und andere Kleingeräte sein, aber auch Stühle, Betten, Täfelungen, sogar Götterstatuetten.40 „Geräte aus wertvollem Holz und Bronze und Eisen und Marmor“ (18,12).
Das Citrusholz steht lediglich an der Spitze in der Verwendung edler Hölzer: „Die Hölzer, die sich in Blätter schneiden lassen und die man zum Furnieren anderer Holzarten verwendet, sind vornehmlich die des Citrusbaumes, des Terpentinbaumes, der Ahornarten, des Buchsbau34 35 36 37 38 39
40
Plinius, Nat.Hist. XIII, XXIX, 92-93; Übers. nach R. KÖNIG, Naturgeschichte XII-XIII (s. Anm. 29), 153. Plinius, Nat.Hist. XIII, XXX, 99. CIL VI 33885 nach WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 113. Zum Ganzen siehe WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 111-113; siehe auch BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 356f. Zum Ganzen siehe BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 357f. H. SCHNEIDER, Art. Elfenbein, DNP 3 (1997), 987; Elfenbein in der Liste der kostbarsten Güter Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVII, 204: „unter den Landtieren, die – wie man weiß – atmen, haben den höchsten Preis die Zähne der Elefanten“, Plinius, Naturkunde XXXVII (s. Anm. 18), 139. Plinius, Nat.Hist. XII, II, 5: „Aus Holz wurden früher auch die Götterbilder gemacht, als man den Tierleichen noch keinen Wert beimaß, und, nachdem das Vorrecht auf Luxus von den Göttern selbst ausgegangen war, aus dem gleichen Elfenbein das Antlitz der Götter und die Füße unserer Tische mit Bewunderung betrachtet wurden“, Übersetzung nach R. KÖNIG, Naturkunde XII-XIII (s. Anm. 29), 15.
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mes, der Palme, der Stechpalme, der Steineiche, der Holunderwurzel und des Feldahorns (...). Dies ist der Beginn des Luxus mit den Bäumen, wenn man ein Holz mit anderem bedeckt und auf schlechteres Holz einen Überzug aus wertvollerem macht.“41 Zu Bronze- und Eisengeräten siehe Bauckham;42 zu Marmor43 Friedlaender und Weeber. „Gewürze“, u.a. zur Parfumherstellung44 Zimt45 Zimt kommt aus Süd- und Süd-Ost-Asien (Indien), seine Herkunft war in der Antike nicht bekannt, man glaubte, er käme von der südwestarabischen Halbinsel und dem gegenüberliegenden Ostafrika. Er wurde aus der Rinde des Zimtstrauchs gewonnen. Zimt wurde bei Brand- und Rauchopfern verwendet (Ovid) und als Zusatz zu Parfumen und Salben. Seine Hauptverwendung war medizinisch. Außer Wein wurde in der Antike kein Lebensmittel mit Zimt gewürzt.46 Amomom (Kardamon)47 Aromatische Kapseln und Samen, die durch den Alexanderzug nach Europa kamen. Ätherische und fette Öle machen sie zu einem Heilmittel und interessant für Parfümerien48 und Konditoreien. „Das echte A(momom) der Antike ist jedoch verschwunden.“49
41 42 43 44
45 46 47 48 49
Plinius, Nat.Hist. XVI, LXXXIV, 231f; Übersetzung R. KÖNIG, C. Plinius Secundus (d.Ä.) Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Buch XVI Botanik: Waldbäume, München/Zürich 1991, 145. BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 358f. FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 333f; K.-W. WEEBER, Luxus im Alten Rom. Die öffentliche Pracht, Darmstadt 2006, 139-156 („Marmora – Repräsentation in Stein“). „Unter allen Grundstoffen des Luxus sind die Salben wohl das, was am meisten überflüssig ist. Perlen nämlich und Edelsteine gehen doch auf den Erben über, Kleider halten eine gewisse Weile: Salben verdunsten rasch und verschwinden nach Ablauf ihrer Stunden. Ihre größte Empfehlung ist es, daß ihr Geruch, wenn eine Frau vorübergeht, sogar die anlockt, die anderweitig beschäftigt sind. Das Pfund kostet mehr als 40 Denare; so teuer erkauft man sich das Vergnügen für andere; denn wer den Duft an sich trägt, spürt selbst nichts davon“, Plinius, Nat.Hist. XIII,IV, 20; Übersetzung R. KÖNIG, Naturkunde XII-XIII (s. Anm. 29), 111. FRIEDLAENDER, Sittengeschichte, II (s. Anm. 7), 320. Anm. 5 verweist auf Mk 14,5 und Joh 12,3. S. Plinius, Nat.Hist. XII, XLII, 85-94. Siehe insgesamt BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 360. Plinius, Nat.Hist. XII, XXXVII, 48-50. Amomum ist Bestandteil des regale unguentum, Plinius, Nat.Hist. XIII, II,18. CH. HÜNEMÖRDER, Art. Amomon, DNP 1 (1996), 605.
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„Räucherwerk, Myrrhe und Weihrauch“50 Sie werden im Kult verwendet, aber auch zur Parfumherstellung und finden insbesondere Verwendung bei Begräbnissen. Die luxuria der Menschen kommt darin zum Ausdruck, dass die Menschen das, was „für die Götter geschaffen war, zum Verbrennen der Leichen verwendeten. Kenner versichern, dass der jährliche Ertrag nicht so hoch sei, wie Kaiser Nero beim Leichenbegängnis seiner Poppaea verbrannt habe.“51 „Wein“52 und Öl53 (vgl. Offb 6,6) Wein54 wurde hauptsächlich aus Sizilien und Spanien importiert; zur Zeit Domitians gab es ein Überangebot an Wein, der profitabler als Getreide war.55 Öl56 steht in Offb 18,13 als Nahrungsmittel57 Auch in Italien angebaut, wurde Öl aus Afrika und Spanien importiert, Olivenölhändler sind inschriftlich belegt. „Feinmehl und Weizen“: Der Getreidehandel Sizilien, Nordafrika und Sardinien bilden im 1. Jh. v.Chr. die tria frumentaria subsidia rei publicae. „Seit der Zeit des Augustus leistete auch Ägypten einen bedeutenden Beitrag zur G(etreide)-Versorgung der Stadt Rom und deckte deren Bedarf für vier Monate im Jahr.“58 „Da die Händler an möglichst hohen Gewinnen und steigenden Preisen interessiert waren, kam es zeitweise durch Hortung zu einer G(etreide)Knappheit in Rom (...). Claudius gewährte den Schiffseignern Privilegien, wenn sie Schiffe für den G(etreide)-Transport zur Verfügung stellten.“59
50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Sie gehören zu den kostbarsten Gütern bei Plinius, Nat.Hist. XXXVII, LXXVIII, 204: „unter den Säften der Bäume oder Sträucher der Bernstein, der Balsam, die Myrrhe, der Weihrauch“, Übersetzung R. KÖNIG, Naturkunde XXXVII (s. Anm. 18), 139. Plinius, Nat.Hist. XII, XLI, 83; Übersetzung R. KÖNIG, Naturkunde XII-XIII (s. Anm. 29), 65-67; Plinius fährt fort mit dem Missverhältnis zwischen dem, was man zu Ehren der Toten aufwendet und dem, was man den Göttern darbringt. S. FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 311f. S. FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 310f. Zur Anpflanzung von Wein siehe Plinius, Nat.Hist. XVII,XXXV-XXXVII, 152-228. BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 361f. Zur Pflege der Ölbäume siehe Plinius, Nat.Hist. XVII, XXIX-XXX, 125-130. H. SCHNEIDER, Art. Speiseöle, DNP 12,2 (2002), 1118-1122. R. SALLARES, Art. Getreidehandel, Getreideimport, DNP 4 (1998), 1038-1042: 1042. SALLARES, Getreidehandel (s. Anm. 58), 1042.
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„Rinder und Schafe“: Der Viehhandel60 Rinder wurden hauptsächlich als Arbeitstiere und Milcherzeuger gebraucht; sie wurden u.a. aus Sizilien importiert.61 Schafe wurden aus Sizilien und Spanien als Wolllieferanten importiert.62 „Pferde und Wagen“: Reisen und Rennen Pferde und Wagen wurden für private Zwecke der Repräsentation und des Reisens importiert,63 aber auch zu Rennen.64 „Und Leiber und Seelen von Menschen“: Der Sklavenhandel – Sklavinnen und Sklaven65 Sklaverei kann hier nicht als ein Gesamtphänomen betrachtet werden, sonder nur streng bezogen auf den Kontext: Roms Freveltaten. Die „Warenlieferungen“ nach Rom und die Sklavenmärkte sind nun zu Ende: Mit dem Untergang Roms gibt es keine Abnehmer mehr. „Leiber und Seelen von Menschen“: „Menschenseelen sind plötzlich im Akkusativ angereiht und deshalb von den vorhergehenden Genitiven abgehoben und dadurch besonders betont. Hier könnte sich der Abscheu vor dem Verkauf von Sklaven aussprechen.“66
6. Die Luxuskritik der JohApk Die Luxuskritik an Rom in der JohApk bewegt sich nicht in den Bahnen moralisierender Kritik; höchstens an der letztzitierten Stelle „und Leiber, und Seelen von Menschen“ meint man ein Aufseufzen über das Unrecht des Sklavenhandels zu hören. Die Romkritik der JohApk ist viel grundsätzlicher: Sie betrifft den Götzendienst, den göttlichen Machtanspruch des Kaisertums, die Welt60 61 62 63 64 65
66
S. dazu BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 363-365. STRABO, Geographica 6,2.7. S. STRABO, Geographica 3,2,6 (nach BAUCKHAM, Critique [s. Anm. 25], 364). S. BAUCKHAM, Critique (s. Anm. 25), 365. S. WEEBER, Luxus (s. Anm. 43), 17-31 mit zahlreichen Abbildungen. Grundsätzlich FRIEDLAENDER, Sittengeschichte II (s. Anm. 7), 366-369 („Der Sklavenluxus“); siehe auch WEEBER, Schwelgerei (s. Anm. 5), 127-136; PRIGENT, Commentary (s. Anm. 26), 508: „It is certainly not by accident that the list ends by mentioning men who are treated like merchandise.” MÜLLER, Offenbarung (s. Anm. 3), 307. Die Stellung von 18,14 hat die Ausleger irritiert. Wenn ovpw,ra konkret „Obst“ meint, dann steht der Vers tatsächlich nachhinkend und hätte einen besseren Platz in Vers 13 bei den Lebensmitteln gehabt, nach gängiger Meinung aber zwischen 23 und 24 oder 21 und 22. Zur metaphorischen Bedeutung siehe H. KRAFT, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16a), Tübingen 1974, 235: „Sommer des Lebens“.
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herrschaft mit der Ausbreitung römischer Kultur und Religion. Wir stehen heute staunend vor den Resten jener Kultur: von Schottland bis Nordafrika, von Spanien bis in den nahen Osten: die militärischen Anlagen, Tempel, Theater. Man konnte das auch anders sehen. Der Apokalyptiker hat das radikal anders gesehen. Der babylonische Talmud bShab 33b berichtet von einem Gespräch dreier Gelehrter der Mitte des 2. Jahrhunderts: „Einst saßen R. Jehuda, R. Jose und R. Shim´on beisammen, und der Proselytenabkömmling Jehuda war unter ihnen. Da begann R. Jehuda und sprach: Wie schön sind doch die Werke dieser Nation [gemeint: Rom]! Sie haben Straßen angelegt, Brücken gebaut und Bäder errichtet. R. Jose schwieg. Darauf nahm R. Shim´on b. Yochai das Wort und sprach: Alles, was sie errichtet haben, geschah nur in ihrem eigenen Interesse. Sie haben Straßen angelegt, um da Huren zu setzen, Bäder errichtet zu ihrem Behagen, Brücken gebaut, um Zoll zu erheben.“67 Die Grundsätzlichkeit dieser Kritik wird erst in der Fortsetzung der Erzählung, wie sie in der Anmerkung 67 genannt ist, deutlich.68 Die JohApk sah es auf ihre Weise viel grundsätzlicher: der Herrschaftsanspruch Roms und die religiöse Verehrung, die für ihn verlangt wird, stehen in unversöhnlichem Widerspruch zur Herrschaft Christi bzw. Gottes und des Lammes. Damit wird die JohApk zum romfeindlichsten Buch der Antike, das ich kenne. Darum geht es der JohApk nicht um Eindämmung des Luxus, um einen Ruf zur Bescheidenheit, sondern um die Zerstörung Roms; damit hat sich auch das Luxusproblem gelöst. Wenn es irgendwo – so ließe sich zugespitzt sagen – Luxus geben darf, dann im himmlischen Jerusalem. Nicht nur dass diese Stadt aus Edelsteinen und Gold gebaut ist, auch die Fruchtbarkeit der Bäume wird paradiesisch sein (22,2). Nun werden – in Aufnahme der Erwartung der Völkerwallfahrt – die Heiden ihre Schätze in diese Stadt bringen (21,26).
67
68
Übersetzung nach L. GOLDSCHMIDT, Der babylonische Talmud nach der ersten zensurfreien Ausgabe unter Berücksichtigung der neueren Ausgaben und handschriftlichen Materials neu übertragen, Bd. I, Königstein/Ts. 31980, 532f. Jehuda berichtet von diesem Gespräch, daraufhin soll Jehuda, der gelobt hatte, belohnt werden, Jose, der geschwiegen hatte, nach Sepphoris verbannt werden, und Shim´on, der geschmäht hatte, hingerichtet werden. Es folgt die Erzählung vom 12-jährigen Verbergen des Shim´on b. Yochai in der Höhle. Zur jüdischen Romkritik siehe auch H. LICHTENBERGER, Das Rombild in den Texten von Qumran, in: H.-J. FABRY / A. LANGE / H. LICHTENBERGER, Qumranstudien. Vorträge und Beiträge der Teilnehmer des Qumranseminars auf dem internationalen Treffen der Society of Biblical Literature, Münster, 25.-26. Juli 1993 (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 4), Göttingen 1996, 221-231.
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Was die 4. jüdische Sibylle ankündigt, wenn sie im Vesuvausbruch des Jahres 79 n.Chr. eine göttliche Strafe für die Zerstörung Jerusalems69 im Jahr 70 und zugleich eine Vorabbildung70 der Zerstörung Roms sieht, ist in der JohApk schon Wirklichkeit: Die Klagelieder werden bereits gesungen. Es ist auch kein moralischer Protest, wie ihn der Jude (oder Christ) an eine Hauswand in Pompeji geritzt hat: Sodoma Gomora (ob vor oder nach dem Vesuvausbruch ist unklar), der Schreiber also einen Untergang wie Sodom und Gomorrah voraussieht oder eine Bestätigung findet).71 Nach dem Untergang der Städte am Golf von Neapel im Vesuvausbruch 79 klagte Martial: „Ach, dass sie dies vermocht, dauert die Götter nun selbst!“72 Wäre der Verfasser der JohApk zu einem solchen Satz im Blick auf Rom in der Lage gewesen?
69
70 71 72
4. Sibylle 125-136:„Schießt im italischen Land aus einer Erdkluft eine Wolke aus Feuer hervorblitzend zum weiten Himmel empor und verbrennt gar viele Städte und tötet die Männer, und erfüllt den geräumigen Äther viel schwärzliche Asche, fallen ferner Tropfen, dem Mennig vergleichbar, vom Himmel, dann soll draus man erkennen des himmlischen Gottes Erzürnung, weil man der Guten und Frommen unschuldiges Volk will vernichten.“(129-136; Übersetzung nach J.-D. GAUGER, Sibyllinische Weissagungen. Griechisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Alfons Kurfeß, Düsseldorf/Zürich 1998, 121. 4. Sibylle 159-161: „...dann sieht man ein, dass Gott nicht weiterhin gnädig mehr sein wird, dass er, knirschend vor Zorn, das ganze Menschengeschlecht will gänzlich auf Erden vernichten durch einen gewaltigen Weltbrand“ (a.a.O., 121-123). Corpus Inscriptionum Latinarum IV, 4976; die Abbildung ist jetzt bequem zugänglich im Katalog ASSKAMP u.a. (Hg.), Luxus (s. Anm. 1), 286. Martial, Epigramme IV,44. Übersetzung R. HELM, Martial, Epigramme, eingeleitet und im antiken Versmaß übertragen, Zürich/Stuttgart 1957, 173; vgl. D. RICHTER, Der Vesuv. Geschichte eines Berges, Berlin 2007, 19.
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6. Religionspädagogische Perspektiven
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Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments. Eine Sichtung der Befunde in religionspädagogischem Interesse Bernd Schröder Folgt man einer gängigen Einschätzung, scheint das Thema abwegig zu sein: „Das Urchristentum schützte und bewahrte seine Erkenntnisse nicht durch Pädagogik; es bemühte sich nicht, die nachwachsende Generation (Kinder und Jugendliche) systematisch in den Glauben einzuführen: Dem Neuen Testament ist der pädagogische Gedanke fremd.“1 Gleichwohl erledigt sich durch dieses Verdikt nicht die Fragestellung. Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments kann und muss in dreierlei Hinsicht Gegenstand von Reflexion in religionspädagogischem Interesse werden. Erstens insofern es als Muster oder Orientierungsmarke für die Konzeption, Organisation und inhaltliche Ausrichtung christlicher Erziehung und Unterrichtung heute herangezogen wird. Das geschieht in unterschiedlicher Weise: Neben dem Rekurs auf – tatsächlich rekonstruierbare oder nur angenommene – Formen des Lehrens und Lernens in neutestamentlicher Zeit oder auf „Jesus, den Lehrer“ als Ideal, von dem heute gebotene Formen des Lehrens und Lernens unmittelbar abzuleiten sind,2 stehen umsichtige Bezugnahmen auf einzelne bereits in der Bibel erkennbare Leitideen – so etwa jüngst in der „Religionspädagogik“ Friedrich Schweitzers. Er identifiziert einige „grundlegende biblische Motive“ als bis heute bedeutsam, nämlich die „Wertschätzung nachfolgender Generationen“, insbesondere die „Wertschätzung des Kindes“, die Einsicht in die Notwendigkeit religiöser Erziehung und auch die Anfänge einer „am Verstehen orientierten Vermittlung“. Bemerkenswerterweise werden diese Motive – mit Ausnahme der Wertschätzung des Kindes, die am deutlichsten im Markus-Evangelium artikuliert wird – vorrangig an alttestamentlichen Texten erkennbar: an 1 2
W. REBELL, Urchristentum und Pädagogik, Stuttgart 1993, 9; vgl. 68f. Programmatisch geschieht dies bei A. MAUERHOFER, Pädagogik nach biblischen Grundsätzen, 2 Bde., Holzgerlingen 2001; weniger prinzipiell, aber nicht minder gradlinig vollzog sich ein solcher Rekurs beispielsweise bei D. STOODT, genauer: in seinem für das Konzept des „Sozialisationsbegleitenden RU“ grundlegenden Aufsatz „Die Praxis der Interaktion im Religionsunterricht“ (in: EvErz 23 [1971], 1-10). Die moderne Sozialisationsbegleitung erscheint dort als Realisierung Jesuanischen Erbes: „Jesus hat offenbar einzelne geschädigte oder beschädigte Menschen nicht übersehen, sondern angesprochen, geheilt, geliebt, restituiert, resozialisiert, rehabilitiert ... Entsprechendes Tun ... ist eine Kontinuität mit Jesus und zu Jesus über die rein verbale hinaus“ (5).
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Genesis 1 und 12 und im Deuteronomium, in deren Licht aber eben auch im Neuen Testament: in Eph 6 u.a.3 In dieser Hinsicht werden die biblischen Schriften somit für die systematische Normenreflexion der Religionspädagogik relevant. Zweitens kommt Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments als eine Etappe in der Geschichte antiker Vorstellungen und Praxen religiöser Erziehung und Unterrichtung in den Blick. In dieser Hinsicht sind entsprechende Befunde einzuzeichnen in parallele, in Wechselwirkung mit ihr stehende Erziehungspraxen und -leitbilder der antiken Welt, v.a. also in die (hellenistisch-)jüdische Erziehung jener Zeit. In dieser historischen Hinsicht überschneiden sich potentielle Interessen neutestamentlicher Wissenschaft bzw. Kirchengeschichtsschreibung und historischer Religionspädagogik – wobei man einräumen muss, dass weder die eine noch die andere Disziplin (geschweige denn die historische Erziehungswissenschaft oder die althistorische Bildungsforschung4) nachhaltig Interesse an dieser Fragestellung entwickelt hat.5 Neutestamentliche Forschung hat abgesehen von ihrer Frage nach Jesus als Lehrer vor allem in einem weiten Sinne auf diese Thematik Bezug genommen, indem sie nach theologischen ‚Schulen’, v.a. der paulinischen und johanneischen Schule, und damit nach Traditionen theologischer Lehre fragte.6 Historisch-religionspädagogisches Interesse setzte in der Regel erst mit dem Taufkatechumenat der Alten Kirche und den Anfängen katechetischer Reflexion bei Johannes Chrysostomos oder Augustinus ein.7 Drittens insofern es als Thema von Unterrichtseinheiten und Lernprozessen heute in den Blick kommt – was allerdings selten genug der Fall ist. Ob und wie in neutestamentlicher Zeit Glaube und Gemeindezugehörigkeit mit pädagogischen bzw. pädagogisch reflektierten Mitteln – 3 4
5 6 7
F. SCHWEITZER, Religionspädagogik, Gütersloh 2006, 20-23. Das „Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike“, hg. v. J. CHRISTES / R. KLEIN / CHR. LÜTH, Darmstadt 2006, überspringt in eigentümlicher Ordnung die neutestamentliche Ära und referiert lediglich einerseits griechisch-römische Antike und (christliche) Spätantike, andererseits „Erziehung und Bildung im antiken Israel und im frühen Judentum“. Hinweise zur Geschichte der Forschung unter „1. Zum Forschungsstand“. Vgl. dazu TH. SCHMELLER, Schulen im Neuen Testament?, Freiburg u.a. 2001, und allgemeiner z.B. U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen (1994) 6., neu bearb. A. 2007. Vgl. etwa E. PAUL, Geschichte der christlichen Erziehung, Bd. 1.: Antike und Mittelalter, Freiburg u.a. 1993 und zu einzelnen einschlägigen Werken S. DÖPP / W. GEERLINGS (Hg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg u.a. 1998; zu neueren Arbeiten B. SCHRÖDER, Historische Religionspädagogik (Teil I), ThR 74 (2009), 290-308: 301-305. Sehr schön deutlich wird die historische Unschärfe an den einschlägigen TRE-Artikeln „Bildung“ und „Erziehung“ – beide enthalten keine Abschnitte zur neutestamentlichen Zeit.
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also nicht allein mittels Verkündigung und Taufe – tradiert wurden, ist kein Standardthema schulischen Religionsunterrichts und dementsprechend kaum einmal Gegenstand von Unterrichtsmaterialien;8 selbst in Lehrveranstaltungen des Theologiestudiums wird diese Thematik nur in Ausnahmefällen thematisiert. Doch unabhängig vom tatsächlichen Vorkommen dieser Art von Bezugnahme auf Lehren und Lernen in neutestamentlicher Zeit ist festzuhalten: In dieser Hinsicht wird bzw. würde es religionsdidaktisch reflektiert. Mein Beitrag lenkt das Augenmerk erneut auf die historische Fragehinsicht – nicht zuletzt weil die geschichtliche Rekonstruktion von Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments Grundlage systematischer Schlüsse ist. Das Besondere der religionspädagogischen Perspektive besteht dabei eben darin, das historische Panorama um für die Gegenwart „anschlussfähige[r] Einblicke“ willen9 zu entfalten. Zumal bei einem solchen Interesse, tatsächlich aber in jedem Falle historischer Prüfung gegenwärtiger Verhältnisse kann und muss der eigene Fragehorizont resp. das erkenntnisleitende Interesse u.a. durch eine Bestimmung einschlägiger Begriffe geklärt werden. In unserem Falle ist diesbezüglich insbesondere die Unterscheidung der Ebenen von Belang: Wissenschaftliches Nachdenken über Lehren und Lernen, also katechetische bzw. religionspädagogische Theoriebildung, ist ein Phänomen der Neuzeit, näherhin des 17. bzw. 20. Jahrhunderts, und schon deshalb im Neuen Testament nicht anzutreffen. Unbeschadet dessen ist explizite oder implizite Reflexion von Lehren und Lernen in der neutestamentlichen Ära denkbar – und auch tatsächlich anzutreffen. Die Gegenstände dieser Reflexion sind grob wie folgt zu unterscheiden: „Lernen“ meint die Veränderung von Verhaltensdispositionen durch den Aufbau von Kenntnissen, Fähigkeiten und Einstellungen; „Lehren“ bezeichnet gezielte äußere Anstöße zum Lernen. Lernen erfolgt in Gestalt von Bildung (hier im Sinne von Selbst-Bildung), Unterricht (also Lehren und Lernen innerhalb eines institutionell gesetzten Rahmens mit Hilfe qualifizierter Lehrer), Erziehung (also zielgerichtetes Lehren innerhalb wie außerhalb von Unterricht) und Sozialisation (also nicht-zielgerichtetes Lehren).10
8
9 10
Selbst Materialien, die das Alltagsleben von Juden zur Zeit Jesu thematisieren, blenden diese Thematik bislang in der Regel aus – siehe etwa W. BÜHLMANN, Wie Jesus lebte. Palästina vor 2000 Jahren: wohnen, essen, arbeiten, reisen, 4., total überarb. A. Luzern 2001. Das Kapitel „Tora – Buch des Lernens“ im Schulbuch „Religion 5/6: Hoffnung lernen“ von I. BALDERMANN u.a. (Stuttgart u.a. 1995, 68-77) stellt Schülerinnen „jüdisches Lernen“ einladend vor Augen, entfaltet es aber nicht im Blick auf die Lebenswelt Jesu. SCHWEITZER, Religionspädagogik (s. Anm. 3), 20. Vgl. die knappen Begriffsbestimmungen bei CHR. GRETHLEIN, Religionspädagogik, Berlin/New York 1998, 215f.
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Schließlich muss eine Differenz im Gegenstand der Reflexion bewusst bleiben: Während moderne Pädagogik unbeschadet aller Differenzierung der Lernorte bis hin zur Erwachsenen- und Seniorenbildung v.a. an Kindern und Jugendlichen interessiert ist, nimmt das Neue Testament Kinder kaum einmal in den Blick – die Jugend als Lebens- bzw. Entwicklungsphase war seinerzeit ohnehin noch unbekannt.
Meine Überlegungen gliedern sich in drei Schritte: Im ersten Schritt sichte ich den Forschungstand, im zweiten stelle ich – in religionspädagogischem Interesse – einige materiale Einsichten zum Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments zusammen und im abschließenden dritten Schritt ziehe ich ein Resümee.
1. Zum Forschungsstand Die Frage nach „Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments“ hat in der Forschung, sieht man von der bereits erwähnten Thematisierung der sog. Schulbildungen ab, in eigentümlich geringem Maße Beachtung gefunden – wohingegen etwa ‚Jesus, der Lehrer’ in der Kunst oder auch in der Belletristik durchaus ein beliebtes Motiv war und ist.11 Keineswegs hat sich jene Frage im Kreis der Grundfragen neutestamentlicher Theologie etabliert – im Gegenteil: Theologien des Neuen Testaments sparen sie in der Regel aus, obwohl die Frage nach gemeindlicher Erziehung und Traditionsweitergabe eng mit der Anthropologie, der Eschatologie und auch der religiösen Herkunft der neutestamentlichen Autoren zusammenhängt, mehr noch: als handlungsrelevanter Ausdruck dieser theologischen Positionen interpretierbar ist.12 Aber auch die neutestamentliche Zeitgeschichte verhandelt das Thema Erziehung in der Regel nur im Modus der Beschreibung frühjüdischer oder griechisch-hellenistischer Erziehungspraxis und -vorstellungen;13 die Frage nach Lehren und Lernen im Neuen Testament
11
12
13
Ikonografisch dominieren diesbezüglich seit der Alten Kirche die Motive des „Zwölfjährigen Jesus im Tempel“ und die „Bergpredigt“ – als Beispiel diene Emil Nolde. Der zwölfjährige Christus (1911), in: W. SCHMIED (Hg.), Bilder zur Bibel, Stuttgart 2006, 38. Exemplarisch seien hier E. REINMUTH „Anthropologie im (sic!) Neuen Testament“ (Tübingen 2006) und U. WILCKENS „Theologie des Neuen Testaments“ (3 Bde., Neukirchen-Vluyn 2003-2008) genannt, die ohne Erörterung von Erziehungsvorstellungen auskommen. Vgl. etwa K. ERLEMANN u.a. (Hg.), Neues Testament und Antike Kultur, 4 Bde., Neukirchen-Vluyn 2003-2006, hier nur Bd. 2, 2005, 234-237 oder E. LOHSE, Umwelt des Neuen Testaments (GNT 1), Göttingen 10., durchges. A. 2000.
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rückt erst über sozialgeschichtliche und alltagsorientierte Fragestellungen in den Blick.14 Im Laufe der Geschichte fand und findet die Frage nach dem Erziehungsverständnis des Neuen Testaments und, wenn auch nachgeordnet, nach der Erziehungspraxis, die sich darin spiegelt, gleichwohl in verschiedenen Epochen in charakteristischer Weise Eingang in die (deutschsprachige) Forschung:15 An (zeitlich) erster Stelle zu nennen ist die Reflexion dieses Themenfeldes als Grundlage von Katechetik bzw. Religionspädagogik. Beginnend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nachdrücklich indes erst ab den 1920er Jahren fragen Katechetiker bzw. Praktische Theologen nach den biblischen Fundamenten der evangelischen Pädagogik ihrer Zeit (in den Entwürfen vom Ende der 60er Jahre an fehlt diese Reflexionslinie wieder): auf Christian Palmer, Gerhard Bohne, Friedrich Delekat und Leopold Cordier ist exemplarisch hinzuweisen.16 Kennzeichnend für diese Arbeiten ist der systematische Zugriff, der exegetische und kontextuelle Zusammenhänge nachrangig behandelt. Ebenfalls in den 1920er Jahren finden sich erste umfänglichere exegetische Untersuchungen, etwa von Ernst von Dobschütz, Charles H. Dodd und Albrecht Oepke;17 doch breiteres Interesse am Themenfeld der Erziehung entsteht erst im Zeichen christozentrischer Theologie und einer Exegese, die auf die Unterscheidung des Neuen Testaments von den Zeugnissen seiner paganen oder ‚spät’-jüdischen Umwelt bedacht ist. Sowohl die erste umfassende einschlägige Monografie von Werner Jentsch aus dem Jahr 1951 als auch der Eintrag ‚paideu,w ktl.’ im „Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament“ aus dem Jahr 1954 und der programmatische Aufsatz Rudolf Bultmanns zum Verhältnis von „Erziehung und christliche[m] Glaube[n]“18 atmen diesen Geist, 14 15
16
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So wird die Thematik z.B. bei M. TILLY sehr wohl aufgegriffen (So lebten Jesu Zeitgenossen, Mainz 1997, etwa 99-101). Zur Forschungsgeschichte vgl. vor allem R. RIESNER, Jesus als Lehrer (WUNT II 7), Tübingen (1981) 3., erw. A. 1988, 74-79 und 505-507, sowie W. JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken. Die Paideia Kyriu im Rahmen der hellenistisch-jüdischen Umwelt, Gütersloh 1951, 13-19. S. etwa CHR. PALMER, Pädagogik des N.T., in: K.A. SCHMID, Enzyklopädie des gesamten Erziehungs- und Unterrichtswesens 10 Bde, 2. verb. A., Gotha 1876-1887, hier V (1883), 695ff; G. BOHNE, Das Wort Gottes und der Unterricht, Berlin 1929, 109ff; F. DELEKAT, Von Sinn und Grenzen bewusster Erziehung, Leipzig 1927. L. CORDIER, Evangelische Pädagogik, Bd. II/1, Schwerin 1938, 68-108. E. VON DOBSCHÜTZ, Matthäus als Rabbi und Katechet, ZNW 27 (1928), 338-348, C.H. DODD, Jesus als Lehrer und Prophet, in: G.K.A. BELL / A. DEIßMANN, Mysterium Christi, Berlin 1931, 67-86, und A. OEPKE, Jesus und das Kind, AELK 65 (1932), 3336.55-59.74-78. JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken; G. BERTRAM, Art. paideu,w ktl., ThWNT V (1954), 596-624; R. BULTMANN, Erziehung und christlicher Glaube (1959), in: DERS., Glauben und Verstehen IV, Tübingen (1965) 41984, 52-55.
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der beispielhaft an folgendem Zitat erkennbar wird: „So setzt das N.T. gegen die anthropozentrische Paideia des Hellenismus und gegen das nomozentrische Erziehungsdenken der Rabbinen ein spezifisch-neutestamentliches, nämlich das kyrio- oder christozentrische Erziehungsdenken, das imstande ist, die im A.T. gestellte theozentrische Erziehungsaufgabe wahrhaft zu erfüllen.“19 Hermeneutisch sind somit das sog. Differenzkriterium und das Verheißung-Erfüllung-Schema die Kategorien, nach deren Maßgabe eben auch neutestamentliche Erziehungsvorstellungen eingeordnet werden – gerade sie, weil die wenigen expliziten neutestamentlichen Bezugnahmen auf ‚Erziehung’ diesen Kategorien Rechnung zu tragen scheinen. Während das Thema „Erziehung in neutestamentlicher Zeit“ in den 1960er und 70er Jahren in Religionspädagogik und Exegese kaum Nachhall fand,20 zieht es seit den 1980er Jahren wieder vermehrt Forschungsinteressen auf sich. Dabei treten verschiedene Stränge hervor: Ein zentral wichtiger Strang ist die Erschließung Jesu als Lehrer, die mit Beginn des „third quest“ der Jesusforschung erfolgt: die Art und Weise der Lehre Jesu und des Lernens seiner Jünger, die Bildungsbiografie des Juden Jesus (im Lichte archäologischer und judaistischer Befunde), die Frage nach dem christologischen Rang des Titels „Lehrer“ sind Facetten dieser Erschließung.21 Dominant zur Geltung kam dabei das sog. historische Plausibilitätskriterium. Sofern die neutestamentlichen Texte keine elaborierten Erziehungsvorstellungen präsentieren, ist demnach davon auszugehen, dass die Antagonisten des Neuen Testaments und die Mitglieder urchristlicher Gemeinden so erzogen wurden wie es im hellenistischen oder pharisäisch geprägten Judentum üblich war. Ein zweiter Strang ist die Rekonstruktion des Schulwesens im Palästina des ersten Jahrhunderts, namentlich des rabbinischen Schulwesens und seiner Genese.22 Ein dritter Strang sichtet mit einer (religions-) pädagogisch verwurzelten Fragestellung die neutestamentlichen Quellen: etwa mit der Frage nach dem Umgang mit Kindern, nach den Ursachen dafür, dass „dem Neuen Testament der pädagogische Gedanke fremd“ sei, nach dem Umgang mit der „Generationentatsache“ (Friedrich 19 20 21
22
JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 197. Zu den Ausnahmen gehört J. BLANK, Lernprozesse im Jüngerkreis Jesu, ThQ 158 (1978), 163-177. RIESNER, Jesus als Lehrer (s. Anm. 15). J.A. GRASSI, Teaching the way. Jesus, the early church and today, Washington 1982. J.T. DILLON, Jesus as a teacher. A multidisciplinary case study, Bethesda 1995. Vgl. zuvor schon DERS., The Effectiveness of Jesus as Teacher, LV 36 (1981), 135-162. Übersicht bei H.-J. KLAUCK, Art. Erziehung IV. Biblisch 2. NT, RGG4 II (1999), 1510f, und zuletzt bei J. SCHRÖTER, Jesus als Lehrer nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, ZPT 53 (2001), 107-115. Vgl. C. HESZER, Jewish Literacy in Roman Palestine (TSAJ 81), Tübingen 2001, und J. CHRISTES / R. KLEIN / CHR. LÜTH (Hg.), Handbuch (s. Anm. 4.).
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Schweitzer) u.ä.m.23 Und ein vierter, jüngster Strang zieht mit historischem Interesse an Unterricht und Bildung den Übergang vom Neuen Testament zur Alten Kirche in Betracht; dabei kommt die Frage nach dem Verhältnis zwischen urchristlichen und altkirchlichen „Lehrern“ prominent zur Geltung.24 Aufs Ganze gesehen hängt dieses wachsende Interesse an Lehr-Lern-Prozessen u.a. mit einem verstärkten sozial- und alltagsgeschichtlichen Interesse historisch arbeitender Disziplinen zusammen. Angesichts der Verdichtung sowohl der primär exegetischen und kirchenhistorischen als auch der primär religionspädagogischen Forschung zur Thematik kann hier – schon Werner Jentsch schwebte dies vor – deren Zusammenschau versucht werden.
2. Materiale Einsichten zum „Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments“ In der Forschung besteht seltene Einigkeit darüber, dass das Urchristentum Lernprozesse in seiner Mitte nicht als solche analysiert und beschrieben hat, dass es nicht einmal in Ansätzen eine neutestamentliche Theorie christlicher Erziehung gibt. Allerdings muss man relativierend hinzufügen: Es gibt sie so wenig wie sich das Neue Testament zu anderen Sachverhalten, etwa zur Frage der Ehe, der Schöpfungstheologie oder der Kirche, „in systematischer Weise“ geäußert hat.25 Mit den Worten Werner Jentschs: „Das N.T. hat keine ausgeführte evangelische Pädagogik. ... Weder hat Jesus grundsätzliche Ausführungen zur Erziehungsfrage und ihrem Verhältnis zur basileia tu theu gemacht noch haben die Urgemeinde oder Paulus neue pädagogische Einzelanweisun23
24
25
P. MÜLLER, In der Mitte der Gemeinde. Kinder im Neuen Testament, NeukirchenVluyn 1992. REBELL, Urchristentum und Pädagogik. A. DIMPFLMAIER, Neues Testament und Glaubensweitergabe: zum Problem der Begründung theologischer Inhalte in der Religionspädagogik, St. Ottilien 1994. P. MÜLLER, Das frühe Christentum und die Bildung, in: H. RUPP / CHR. TH. SCHEILKE / H. SCHMIDT (Hg.), Zukunftsfähige Bildung und Protestantismus, Stuttgart 2002, 17-28. Anhand von Fallstudien spannen diesen Bogen B. EGO / H. MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2005. Vgl. A.F. ZIMMERMANN, Die urchristlichen Lehrer (WUNT II 12), Tübingen 1984; CHR. MARKSCHIES, Lehrer, Schüler, Schule, in: U. EGELHAAF GAISER/ A. SCHÄFER (Hg.), Religiöse Vereine in der römischen Antike, Tübingen 2002, 97-120, und z.T. DERS., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen, Tübingen 2007, 43-109; P. GEMEINHARDT, Das lateinische Christentum und die pagane Bildung (STAC 41), Tübingen 2007. So REBELL, Urchristentum und Pädagogik, 76. Vgl. exemplarisch die Einschätzung J. ROLOFFs hinsichtlich einer neutestamentlichen Ekklesiologie in: DERS., Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 15-19.
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gen erlassen. Wir suchen vergebens nach einer theologischen Reflexion über den Begriff ‚Paideia’, und kein urgemeindliches Dekret zur Jugendfrage liegt vor.“26 Mit dem eingangs zitierten Votum pflichtet jüngst Walter Rebell bei. In Anbetracht dieser Einschätzungen scheint es angemessen zu sein, die verschiedenen Töne, die im Neuen Testament zu unserer Thematik durchklingen, zu Gehör zu bringen. Dies soll hier überblicksweise geschehen, indem der Forschungsstand zu verschiedenen inhaltlichen und formalen Aspekten von „Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments“ referiert wird. In ihrer Summe können diese Beobachtungen m.E. durchaus als Indiz dafür gelten, dass bereits im frühen Christentum erzieherische Praxis und deren Reflexion eine beachtliche Rolle spielte!
2.1. Das Wissen um die Generationentatsache und deren theologische Reflexion Die biblischen Schriften, das Alte, nicht minder aber auch das Neue Testament handeln an prominenter Stelle von der sog. Generationentatsache, von dem Umstand also, dass menschliches Leben im Durchgang des Individuums durch verschiedene Altersstufen, in Fortpflanzung und (zunächst innerfamiliärer) Sozialisation bzw. kultureller Traditionsweitergabe sich vollzieht. Die Erzväter-Erzählkreise des Buches Genesis sind paradigmatischer Ausdruck dessen; im Neuen Testament stimmt gleich zum Auftakt die matthäische Jesus-Genealogie (Mt 1) in dieses Denkmuster ein, das später verhaltensorientierend v.a. in den sog. Haustafeln (Eph 5,21-6,9; Kol 3,18-4,1; 1Petr 2,18-3,7) reflektiert wird. Nicht ohne Grund kann in diesen Haustafeln u.a. die Erziehungsthematik zur Sprache kommen: 27 noch nicht als Auftrag und Handlungsfeld christlicher Gemeinde, wohl aber – in Übereinstimmung mit antiken Verhältnissen – als grundlegender Bestandteil familiären Zusammenlebens. Dieses Zusammenleben wird als gestaltbar gedacht, allerdings als asymmetrisch gestaltbar: Kinder schulden ihren Eltern Gehorsam und Ehrerbietung, Eltern, namentlich Väter, schulden ihren Kindern Erziehung (Eph 6,1-4). Worin diese Erziehung besteht, wird 26
27
JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 194; vgl. 233: „Leider werden wir im N.T. für die Frage nach den Wegen der Erziehung und des Unterrichts junger Menschen ziemlich im Stich gelassen.“ Ähnlich urteilt BLANK, Lernprozesse im Jüngerkreis Jesu, 163f. Sie muss es nicht: Schon Kol 3 thematisiert nur das Eltern-Kind-Verhältnis, nicht aber Erziehung; 1Petr. 2 kann beide Topoi aussparen.
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nicht detailliert entfaltet: ihre Inhalte und Formen sind als bekannt vorausgesetzt, werden indes gewissermaßen christologisch ‚überdacht’ (s.u. 2.2).28 Unbeschadet solcher Unbestimmtheit sind sich die neutestamentlichen Autoren des Umstands bewusst, dass die jeweils junge Generation mit den Traditionen, insbesondere dem Glauben(swissen) der Älteren, vertraut gemacht muss und insofern zu erziehen ist.
2.2. Das Leben mit und die Übernahme von alttestamentlichen Lehr-Lern-Traditionen im Judenchristentum; die Einbettung der Heidenchristen in pagane Bildung Jesus und seine Jünger, das Gros derer, die „Cristianoi,“ (Apg 11,26) genannt wurden, waren unstrittig Juden, die mit der „Schrift“, also dem Tenach, und den von dieser Schrift geprägten Lebensformen vertraut waren. Somit sind sie auch als Teil „Israels als religiöser Lehr- und Lerngemeinschaft“29 vorzustellen: Sie haben die Schriften des Tenach, namentlich die Tora, die Psalmen, die Weisheitsliteratur als Lehr- und Lernbücher kennen gelernt; ihnen war aus Texten wie Psalm 1 oder dem Schema Jisrael bewusst, „dass die geschichtliche Zuwendung Gottes zu seinem Volk ... der ständigen Erinnerung und Wiederholung im Lernen bedarf“30 und sie werden das (laut) Lesen, Memorieren, Verstehen und Handeln gemäß der Tora nach ihren Möglichkeiten praktiziert haben.31 Kurz: Auch wenn Institutionen wie Schulen und Unterricht für das erste Jahrhundert unserer Zeit auf Grund der Quellenlage nur schwer archäologisch und historisch nachweisbar sind, ist doch davon auszugehen, dass das Christentum im Kontext einer hochstehenden Lernkultur entstanden ist, die sich ihrerseits in Verlängerung des Tenach32 ent28
29 30 31 32
Diese christologische Grundierung und der in alttestamentlicher Tradition stehende Inhalt dieser Erziehung entwickelte sich in altkirchlicher Zeit zu einer der Attraktionen des Christentums für die pagane Umwelt – dazu E. DASSMANN, Zeugnis des Glaubens. Familienleben in frühchristlicher Zeit, in: Lebendiges Zeugnis 49 (1994), 21-36, und DERS., Weitergabe des Glaubens in frühchristlicher Zeit, in: G. BITTER / A. GERHARDS (Hg.), Glauben lernen – Glauben feiern, Stuttgart u.a. 1998, 68-81. K. FINSTERBUSCH, Mose als Lehrer der Tora, in: EGO / MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen, 27-45: 42. B. EGO, Zwischen und Aufgabe und Gabe, in: EGO / MERKEL (HG.), Religiöses Lernen, 3-26: 3. Vgl. die oben genannten neutestamentlichen Zeitgeschichten, etwa TILLY, Zeitgenossen, 87-110. Zur Rekonstruktion der Lernkultur des Tenach s. J. CRENSHAW, Across the deadening silence. Education in Ancient Israel, New York u.a. 1998, sowie K. FINSTERBUSCH, Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deutero-
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wickelt hatte. Das gilt sowohl im Raum eines eher hellenistisch inspirierten als auch im Raum eines eher pharisäisch-rabbinischen Judentums. Christengemeinden (ent-)standen in dieser Tradition und da sie das Erbe des Tenach bejaht, Tora und Propheten liturgisch gelesen und um das rechte Verständnis ihrer Glaubenserfahrungen mit Jesus Christus im Licht dieser Schriften gerungen haben, werden sie auch die darin implizit und explizit enthaltene Wertschätzung von Lehren und Lernen geteilt haben.33 Gilt dies für das Judenchristentum, so ist auch im Heidenchristentum nicht von „prinzipielle[r] Bildungsabstinenz“ auszugehen, sondern vom Besuch der zeitgenössischen Schule und Rezeption ihres inhaltlichen Programms.34
2.3. Das sozialgeschichtlich rekonstruierbare Bildungsmilieu urchristlicher Gemeinden Das Neue Testament enthält in nicht wenigen Passagen eine Polemik gegen pagane und jüdisch-schriftgelehrte Bildung sowie gegen im herkömmlichen Sinne – sei es in jüdischer, sei es in paganer Tradition – Gebildete (man denke etwa an Röm 2,20; 1Kor 1,18-3,3 oder Mt 16,512).35 Dies war und ist im Verein mit anderen Indizien Anlass für die Annahme, die Gemeindeglieder des ersten (und zweiten) Jahrhunderts seien überwiegend arme und ungebildete Menschen gewesen. (Exegetisch-)Sozialgeschichtliche Einsichten vermögen demgegenüber plausibel zu machen, • dass Armut und Rechtlosigkeit resp. Sklavenstatus vieler früher Christen keineswegs zwingend mit deren Unbildung einhergehen müssen (so wenig wie Reichtum mit Bildung verbunden sein muss), vielmehr hinreichend viele unter ihnen waren, die das „Bewusstsein und [die] Fähigkeit besaßen, eine Überlieferung gepflegt
33
34 35
nomium und in seinem Umfeld (FAT 44), Tübingen 2005, und F. UEBERSCHAER, Weisheit aus der Begegnung. Bildung nach dem Buch Ben Sira (BZAW 379), Berlin/New York 2007. Genauso präsent wie der Auftrag und die Verpflichtung zu lernen wird den Christengemeinden, die sich dieses alttestamentlichen Wurzelgrundes bewusst waren, allerdings auch eine gewisse Skepsis gewesen sein, ob ganz Israel in hinreichend nachhaltiger Weise zu diesem Lernen in der Lage ist (vgl. Dtn 31; Dtn 4,25-31 und 30,1-10); s. B. EGO, Zwischen und Aufgabe und Gabe, in: EGO / MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen, 3-26: 3-5. GEMEINHARDT, Lateinisches Christentum, 9 u.ö. Zum „Wertwandel im Umgang mit der Weisheit“, der an den genannten Passagen erkennbar wird, siehe G. THEIßEN, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh (2000) 2., durchges. A. 2001, 148-156.
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weiterzugeben“36 – man erinnere sich etwa an Schlüsselfiguren christlicher Überlieferung wie Petrus37 und den Herrenbruder Jakobus38, die fraglos aus sozial bescheidenen Verhältnissen stammten, • dass innerhalb der frühen Gemeinden komplexe Fragen auf hohem theologischem Niveau diskutiert wurden und dabei Menschen sozial niedriger wie sozial hoher Herkunft beteiligt waren,39 • dass Schreibkunst und Argumentationsweise neutestamentlicher Autoren, z.B. im Gebrauch der hebräischen wie der griechischen Sprache, im Rückgriff auf pharisäisch-rabbinischen Midraschkultur, bei ihrer Auswahl ‚alttestamentlicher’ Stoffe, bei der Zurückweisung paganer Polemik, nicht zuletzt durch die Qualität ihrer schriftstellerischen Arbeit insgesamt, implizit deren respektable ‚Bildung’ verrät (auch wenn diese nicht mit einem angenommenen Bildungskanon der griechisch-römischen Welt oder des schriftgelehrten Judentums identisch ist) – beispielhaft wäre etwa die Areopagrede des Paulus gemäß der Apostelgeschichte anzuführen, die ihn als „Kenner griechischer philosophischer Tradition“ darstellt.40 • Schließlich setzt der Umstand, dass die Verfasser des Neuen Testaments zum größten Teil auf hohem sprachlichen, rhetorischen und theologischem Niveau schreiben, implizit auch seitens der Adressaten zumindest elementare Bildung voraus.41 Kurz: „Die These von der Bildungsferne der frühen Christen lässt sich ... in der vielfach geäußerten pauschalen Form nicht bestätigen.“42 Ihre Bildung müssen die frühen Christen erworben haben und sie waren sich dessen auch bewusst – nicht umsonst erinnert z.B. Paulus an seinen Lehrer Gamaliel (Apg 22,3) oder der Autor des Timotheusbriefes an den Lernweg seines Adressaten (1Tim 3,15). Zwar ist es neutestamentlich nicht zu belegen, dennoch aber soziologisch nicht minder plau-
36 37 38 39
40
41 42
RIESNER, Jesus als Lehrer, 68. M. HENGEL, Der unterschätzte Petrus, Tübingen (2006) 22007. W. PRATSCHER, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition (FRLANT 139), Göttingen 1987. G. THEIßEN, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen (1979) 3., erw. A. 1989, darin etwa „Die Starken und Schwachen in Korinth“ (1975), 272-289; des Weiteren z.B. P. LAMPE, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten (WUNT II 18), Tübingen 1987, v.a. 298ff. Vgl. A. LINDEMANN, Das Neue Testament und das Bildungsproblem, in: J. OCHEL (Hg.), Bildung in evangelischer Verantwortung auf dem Hintergrund des Bildungsverständnisses von F.D.E. Schleiermacher. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche der Union, Göttingen 2001, 101-121: 109f. So mit MÜLLER, Das frühe Christentum und die Bildung, 17-28: 25, und GEMEINHARDT, Lateinisches Christentum, 7. MÜLLER, Das frühe Christentum und die Bildung, 28.
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sibel, dass die frühen Christen ihrerseits der folgenden Generation solche Lernwege eröffnet haben.
2.4. Jesu Wirken und Identifikation als Lehrer Der wichtigste Anlass und sachliche Grund dafür, dass die urchristlichen Gemeinden Lehren und Lernen geschätzt und gepflegt haben, liegt in dem Umstand – und dies vermochte auch die immer stärker wachsende Zahl der Heidenchristen auf eine solche Lernkultur einzustimmen – dass Jesus als „Lehrer“ gewirkt hat; er wurde bereits von seinen Zeitgenossen und nicht minder deutlich von den Leser/innen neutestamentlicher Schriften als solcher wahrgenommen. „Dass Jesus als Lehrer aufgetreten ist, gehört zu den zentralen Aspekten seiner Wirksamkeit, wie sie in den Evangelien geschildert wird. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in diesem einhelligen Zeugnis Erinnerungen an sein tatsächliches Auftreten bewahrt wurden.“43 Jesus ist also lehrend durch Palästina, insbesondere Galiläa, gezogen und hat Zeichenhandlungen zur Untermauerung seiner Lehre eingesetzt – so exemplarisch in Mk 1,21-28.44 Er hat einen Jünger- bzw. Schülerkreis um sich gesammelt und – wie die anderen jüdischen Lehrer bzw. Schriftgelehrten seiner Zeit – die Tora ausgelegt; entsprechend berichten die Evangelien von Jesu Schriftauslegen, etwa in seiner Antrittspredigt (Lk 4,18-27), und von (Lehr-)Gesprächen bei Tisch (z.B. Lk 7,36-50).45 Er hat wohl über eine virtuose Gabe verfügt, sich sprachlich auf seine Zuhörer einzustellen, seine Lehre anschaulich und einprägsam zu gestalten: Etliche Texte der Jesusüberlieferung lassen höchstwahrscheinlich von ihm verwendete mnemotechnisch geformte Spruchdichtungen, bildhafte Reden bzw. Gleichnisse oder auch prägnante Pointierungen erkennen.46 Seine „Lehre [wurde] als autoritativ und neuartig wahrgenommen“.47 Dies demonstrieren etwa die Berichte 43 44 45
46 47
SCHRÖTER, Jesus als Lehrer, hier 107 (Heft 2, 105-204, dieses Jahrgangs ist ein Themenheft „Rabbi Jesus und die Anfänge einer christlichen Lernkultur“). Siehe R. KAMPLING, Jesus von Nazaret – Lehrer und Exorzist, BZ NF 30 (1986), 237248. Dazu besonders RIESNER, Jesus als Lehrer, bes. Kapitel IV: „Die öffentliche Lehre [Jesu]“, 353-407. Ihm zufolge vollzog sich Jesu Wanderpredigen i.W. im Stil der Schriftgelehrten, also als ‘Lehren’. Näherhin trat Jesus als „messianischer Lehrer der Weisheit“ auf (499 mit M. HENGEL). Das jesuanische Erbe setzt sich im Wirken des Jüngerkreises, in Tradierung des Evangelienstoffes und Schulbildungen (z.B. ‘johanneische Schule’) fort. Dazu G. THEIßEN / A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen (1996) 3., durchges. und um Literaturnachträge erg. A. 2001, §§ 8 und 11. SCHRÖTER, Jesus als Lehrer, 111; vgl. 115; ausführlich THEIßEN /MERZ, Jesus, § 12.
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von seinem öffentlichen Lehren in der Synagoge zu Nazareth (Mk 6,2f.) oder vom Auftreten des 12-jährigen Jesus im Tempel (Lk 2,51-52); die Neuartigkeit kristallisiert sich aus an der Rede vom Anbruch der Gottesherrschaft und an seinem Umgang mit der Tora, der diese mal radikalisiert, mal ermäßigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er schon zu Lebzeiten in Entsprechung zum aramäischen „Rabbi/Rabbuni“ als „Lehrer“ (dida,skale) angeredet (Mt 8,19 u.ö.; Joh 1,38 und 20,16 setzen explizit den hebräischen und den griechischen Ausdruck gleich) und hat sich selbst so verstanden (Mk 14,14parr).48 Allerdings: „Die ntl. Quellen lassen ... auch erkennen, dass das Wirken Jesu mit der Kategorie des Lehrers nicht vollständig zu erfassen ist [...] Der Grund dafür liegt in dem Anspruch Jesu, derjenige Repräsentant [Gottes] zu sein, mit dem Gott seine Herrschaft aufzurichten beginnt.“49
2.5. Die Hinwendung zu bildungsfernen Erwachsenen und die Wertschätzung von Kindern als Merkmal der Lehre Jesu An der Lehrtätigkeit Jesu sticht neben deren Inhalten (s.o.) ihr äußerer Rahmen hervor. Jesus wirkte – Mk 1,38 und v.a. die Summarien deuten es an – als Wanderprediger und wandte sich im Zuge dessen mit seiner Lehre dezidiert Menschen zu, die ansonsten wahrscheinlich keinen Zugang zu einem Schulwesen und beruflicher oder synagogaler Bildung hatten, nicht zuletzt auch Kindern. Das Wanderpredigertum verband Jesus mit einigen anderen Rabbinen der tannaitischen Zeit ebenso wie mit kynischen Wanderlehrern – ob man sein Wanderpredigen von dem einen oder anderen Vorbild ableiten kann und muss, ist strittig.50 Seine programmatische Hinwendung zu Menschen, die gemeinhin nicht an religiösen Lehr-Lern-Prozessen teilhatten, muss demgegenüber als Besonderheit Jesu gelten.51 Als Adressaten seiner Lehre rücken die Evangelien vor allem ‚das Volk’, o` o;cloj, also den #rah ~[ (exem48 49 50 51
SCHRÖTER, Jesus als Lehrer, 109f., sowie RIESNER, Jesus als Lehrer, 246-276 und jüngst G. THEIßEN, Vom historischen Jesus zum kerygmatischen Gottessohn, EvTh 68 (2008), 285-304: 292-294. SCHRÖTER, Jesus als Lehrer, 115. Zu rabbinischen Wanderpredigern s. RIESNER, Jesus als Lehrer, 355f; zu kynischen Wanderlehrern als Vorbild Jesu etwa J.D. CROSSAN, Der historische Jesus, München 1994. So mit RIESNER, Jesus als Lehrer, 356.357, und THEIßEN, Religion der ersten Christen, 150f, der summarisch von einem „Abwärtstransfer von Oberschichtbildung“ durch Jesus spricht, „die dabei ... ihren Charakter verändert“ (152).
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plarisch Mt 5,1), ,Unmündige, Mühselige und Beladene’ (exemplarisch die Jüngerberufungen und Mt 11,25-30), Frauen (exemplarisch Lk 10,38-42), Zöllner und Sünder (exemplarisch Mt 9,9-13) und schließlich auch Kinder (exemplarisch Mk 10,13-16) in den Blick. Insofern damit eine breit dokumentierte Kritik an Schriftgelehrten und ToraKundigen einhergeht, drückt sich in Jesu Zuwendung zu bildungsfernen Gruppen jedenfalls Kritik an einem elitären Verständnis religiösen Lehrens und Lernens aus, womöglich auch Kritik an einem Verständnis vom ‚Verstehen der Weisung Gottes’, das eher traditions- und bildungsbasiert ist als kairologisch. In der Tat legt der Jesus der Evangelien im Umgang mit seinen Hörerinnen und Hörer größten Wert auf aufmerksames Hören und intuitives Verstehen im Moment der Begegnung – wohingegen die gelehrige Vorbereitung auf die Begegnung mit ihm bzw. seinen Worten, allgemeiner noch: ein „Sich–Bilden–Wollen auf Gott hin“ (Norbert Mette) des öfteren als irreleitend oder irrelevant dargestellt wird. In diesem Sinne sind etwa die „Aufmerksamkeitsaufforderungen“ wie das wiederholte „Wer Ohren hat zu hören, der höre“52 oder auch Perikopen wie Mk 10,17-27, Lk 7,36-50, Lk 10,38-42, Lk 19,1-10 zu lesen, in denen Jesus den Kairos des Verstehens lobt. In diesem Sinne ist möglicherweise auch die Wertschätzung von Kindern zu interpretieren – sie zeichnen sich ja u.a. eben dadurch aus, im Augenblick ganz präsent sein, bitten und annehmen zu können.53
2.6. Das Evangelium Jesu Christi als zentraler Inhalt des Lernens So sehr die Wahrnehmung Jesu als eines begnadeten Lehrers zur Wertschätzung von Lehren und Lernen im Urchristentum beigetragen haben wird, so sehr ist dafür auch der Wunsch maßgeblich gewesen, das, was Jesus gelebt und gelehrt hat, zu bewahren und weiterzugeben. „Ob wir an Paulus, an den urchristlichen Lehrern, an der vorsynoptischen Überlieferung, an der Schule des Matthäus oder Johannes, oder an den Erzählungen der Evangelien interessiert sind, haben wir immer mit einer über alle anderen Interessen herrschenden Konzentration auf Jesus zu rechnen [...] Jesus ist das Zentrum der pädagogischen Aktivität
52 53
Dazu RIESNER, Jesus als Lehrer, 371-379. Vgl. MÜLLER, In der Mitte der Gemeinde (s.o.) sowie N. METTE, Kinder in der Bibel, und H. ULONSKA, Die Kinder und das Reich Gottes, in: Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Aufwachsen in schwieriger Zeit – Kinder in Gemeinde und Gesellschaft, Gütersloh 1995, 79-91 und 91-96, dazu auch F.F. SPENGLER, Kindsein als Menschsein. Beitrag zu einer integrativen theologischen Anthropologie, Marburg 2005, hier v.a. 101-182.
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im Urchristentum. Religiöses Lernen ist vor allem das Lernen der Jesusgeschichte“.54 In besonderem Maße greifbar wird dies an den Evangelien, die biografisch-narrativ Leben und Lehre Jesu erinnern wollen; doch auch bei Paulus „geht es [wie in der urchristlichen Bekenntnistradition] zunächst um die Person Jesu und ihre Geschichte. In den Aussagen über Jesu Person hat das Evangelium seinen Ausgangspunkt … Dabei ist für Paulus nicht das konkrete geschichtliche Geschehen im einzelnen ausschlaggebend …, es geht ihm in Weiterführung der kerygmatischen Tradition des Urchristentums um die entscheidenden Ereignisse der Menschwerdung, des Todes, der Auferstehung und der Erhöhung Jesu …“. „Das Evangelium hat einen konkreten Inhalt: es ist die heilstiftende Botschaft vom Handeln Gottes in der Geschichte Jesu Christi.“ „In der Wendung‚ Evangelium Jesu Christi’ ist insofern die Bedeutung als genitivus obiectivus und genitivus subiectivus eng miteinander verknüpft: der im Evangelium Verkündigte ist zugleich der durch das Evangelium Wirkende.“55
2.7. Das Interesse an Überlieferung von christologischen Glaubensaussagen, u.a. in Formeln und Liedern Die Weitergabe der Jesus-Geschichte und des Glaubens an den Christus Jesus ist ein Lehr-Lern-Prozess gewesen; die (ersten) Zeugen gaben ihr Glaubenswissen weiter. „Schon sehr früh goß man die grundlegenden Glaubensaussagen in einprägsame, lernbare Formeln“, so belegt es eindrücklich die älteste erhaltene kerygmatische Überlieferung (1Kor 15, 3-5). „Die Rolle dieser Formel ergibt sich aus ihrer Einführung: in V.3 ist vom >Überliefern< und vom >Empfangen< die Rede“56 – ein Vokabular, das die gebotene Traditionsweitergabe anspricht, modern formuliert: einen bewussten, zielgerichteten Lehr-Lernprozess zwischen Apostel und Gemeinde. Neben dieser und weiteren Formeln und Hymnen, darunter 1Thess 1,9f und 1Tim 3,16, sind nicht zuletzt auch Jesus-Worte, Gleichnisse und Wundergeschichten als Medien solcher Überlieferung anzuspre-
54 55 56
S. BYRSKOG, Das Lernen der Jesusgeschichte nach den synoptischen Evangelien, in: EGO / MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen, 191-209: 206. F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Tübingen 2002, hier Bd. 1, 202 und 203; vgl. 323-329. J. ERNST, Anfänge der Christologie, Stuttgart 1972, 58f, hier zit. nach REBELL, Urchristentum und Pädagogik, 55f.
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chen.57 Der Umstand, dass sie vielfach zum Urgestein neutestamentlicher Texte zählen, erlaubt den Schluss, dass den Christen von den Anfängen ihrer Selbstbewusstwerdung als Schüler Jesu und Bekenner des Christus Jesus an die Aufgabe der Tradierung des von ihm bzw. über ihn Gelernten vor Augen stand. Insofern gilt auch hier wieder: Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden mit diesen Medien zielgerichtete Lernprozesse angestrebt. Freilich sind sie nicht für einen institutionalisierten Vorgang der Tradierung entworfen (zumindest ist ein solcher Sitz im Leben nicht rekonstruierbar) und wohl auch noch nicht auf ihre Eigenschaften als Medien reflektiert worden. Doch unbeschadet eschatologischer Naherwartung hat man keineswegs allein auf die unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes vertraut, sondern das Überliefern i.S. eines Lehr-LernProzesses als Aufgabe wahrgenommen. Pointiert kommt dies in einem Diktum zum Ausdruck, das die matthäische Gleichnisrede abschließt: Mt 13,52. Demnach haben die Schriftkundigen unter den Jüngern sowohl aus dem Neuen, „Jesu Evangelium vom Gottesreich“, als auch aus dem Alten, den (alttestamentlich-)biblischen Schriften, zu schöpfen und insofern Überlieferung lehrend fruchtbar zu machen.58 Sitz im Leben dieser Formeln und Lieder ist vor allem die gottesdienstliche Versammlung; im Modus des gemeinsamen Vollzugs von Lesungen und Riten wurden sie memoriert und tradiert. Eine Art Katechismus für Proselyten ist demgegenüber weder in den neutestamentlichen Schriften noch bei den Apostolischen Vätern zu erkennen.59
2.8. Der katechetische Charakter neutestamentlicher Schriften Das soeben Gesagte gilt – rmwxw lq – für die Abfassung vieler neutestamentlicher Schriften als solcher. Mag man die paulinischen Briefe z.T. als bloße Gelegenheitsschriften einstufen, die nicht auf dauerhaften Erhalt und Tradierung hin geschrieben wurden, so gilt dies spätestens für die Evangelien nicht mehr: Ergebnis aufwendiger Sammel- und Redaktionsprozesse, Ausdruck unterschiedlicher Kontexte und theologi57 58 59
Eine gedrängte Zusammenstellung kerygmatischer Formeln und anderer, prinzipiell für katechetische Zwecke geeigneter, memorierbarer Gattungen bietet J. ROLOFF, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn (1977) 7., vollständig überarb. A. 1999, 53ff. U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Teilb. 2 (EKK I/2), Neukirchen-Vluyn u.a. 1990, 364. Gegen A. SEEBERG, Der Katechismus der Urchristenheit, Leipzig 1903 (Nachdruck München 1966); vgl. O. PASQUATO / H. BRAKMANN, Art. Katechese (Katechismus), RAC XX (2004), 422-496: 487f und 492f, und W. THÜSING, ‚Milch’ und ‚feste Speise’ (1Kor 3,1f u. Hebr 5,11-6,3). Elementarkatechese und theologische Vertiefung in neutestamentlicher Sicht, TThZ 76 (1967), 233-246 und 261-280.
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scher Konzeptionen, Schriften mit verschiedenen Verständnissen von ‚Zeit’ dokumentieren sie einen über eine etwaige Naherwartung hinausweisenden Überlieferungswillen. Mit anderen Worten: Sie sind verfasst worden, um Menschen in einen Lehr-Lern-Prozess zu verwickeln – auch wenn ihre Intention sich keineswegs in Informationsweitergabe oder Erinnerung erschöpft, sondern darüber hinaus Überzeugung und Vergewisserung der Leser/innen in ihrem Glauben an Jesus als den Christus anstrebt. Als einzige Schrift expliziert das Lukas-Evangelium diese ‚katechetische’ Absicht in seinem Proömium – es will aufgeschrieben worden sein, „damit du [Theophilus] die Zuverlässigkeit der Worte einsiehst, in denen Du unterrichtet [kathch,qhj] wurdest“ (Lk 1,4).60 Eine ähnliche, wenngleich anders akzentuierte (be-)lehrende Intention wird zudem dem Matthäus-Evangelium zugebilligt, das im sog. Missionsbefehl die Unterrichtung der Getauften (dida,skontej auvtou.j threi/n pa,nta o[sa Veneteila,mhn u`mi/n; Mt 28,20) zur dauerhaften Aufgabe der Jünger resp. Schüler (oi` maqhtai. !) Jesu erklärt – und eben dieses Unterrichten ist neben dem Taufen das, was das ‚zu-Jüngern-machen’ (maqhteu,ein; Mt 28,19) konstituiert!61 „Für Matthäus ist Kirche – gut jüdisch! – ‚Schule’ Jesu. Er versteht sie als Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger Jesu, die auch nach ihrer Taufe dauernd zu Jesus in die ‚Schule’ gehen ...“.62 ‚Katechetischer’ Charakter wird zudem bisweilen etwa dem 1. Petrusbrief63 und Teilen des Hebräerbriefes64 zugebilligt, vor allem aber frühen außerkanonischen Schriften wie der Didache, dem 2. Clemensbrief und dem Hirten des Hermas.65
60 61
62 63 64 65
Vgl. F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas, Teilb. 1 (EKK III/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 1989, 30 und 40f. Dazu U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Teilb. 4 (EKK I/4), Neukirchen-Vluyn u.a. 2002, 429. 443f und 454f, sowie dezidiert S. BYRSKOG, Jesus the Only Teacher. Didactic Authority and Transmission in Ancient Israel, Ancient Judaism and the Matthean Community, Stockholm 1994. LUZ, Matthäus 4, 454/5. N. BROX, Der 1. Petrusbrief (EKK XXI), Neukirchen-Vluyn u.a. 1979, 19.22. E. GRÄSSER, An die Hebräer, Teilb. 1 (EKK XX/1), Neukirchen-Vluyn u.a. 1990, 333.345. PASQUATO / BRAKMANN, Katechese, 426-428. Vgl. auch A. TURCK, Évangélisation et catéchèse aux deux premiers siècles, Paris 1962, Auszüge in: DERS., ‚Catéchein’ et ‚catéchésis’ chez les premiers Pères, RSPhTh 47 (1963), 361-372.
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2.9. Die Vorstellung von der Taufe als Erneuerungsbzw. „Bildungs“-Vorgang Namentlich in den (pseudo-)paulinischen Briefen wird Jesus Christus mehrfach als „Bild Gottes“ vorgestellt (2Kor 4,4; Kol 1,15: eivkw.n tou/ qeou/); auf der Linie dieser Vorstellung gelten die Glaubenden als solche, die „in sein Bild verwandelt werden“ (2Kor 3,18: th.n auvth.n eivko,na metamorfou,meqa; vgl. Gal 4,19). Der Apostel sieht sich selbst als Erstling dieses Anverwandlungsprozesses (2Kor 4), die Taufe als dessen Initial (Röm 6,3f.).66 „So wächst der Apostel – und mit ihm jeder, der Christus nachfolgt – immer mehr in das Bild Christi hinein, wird seines Lebens und Sterbens teilhaftig und so ein in das Leben Christi ‚hineingebildeter’ Mensch (Phil 3,10-12).“67 Die zitierten Briefpassagen zeichnen diesen Vorgang der Verwandlung nicht als Lernprozess aus, doch in der Sache geht es, sofern dieser Vorgang überhaupt von menschlicher Aktivität bestimmt wird, genau darum: den ‚neuen’ Menschen anziehen und sich als solcher in der Lebensführung bewähren. Ohne dass hier Bildungs-Terminologie zur Geltung käme, wird der Sache nach ein Element dessen angesprochen, was in der späteren Begriffs- und Bedeutungsgeschichte von „Bildung“ zum Tragen kommt: Bildung als Prozess, im Laufe dessen der Mensch seiner Ebenbildlichkeit Gottes gerechter wird (Kol 3).
2.10. Die Verwendung „pädagogischen“ Vokabulars In neutestamentlichen Schriften wird Vokabular verwendet, das aus dem damaligen Profangriechischen und v.a. aus der späteren, altkirchlichen Begriffsgeschichte als pädagogisches geläufig ist. Zu nennen sind insbesondere die Termini „dida,skein“, „kathcei/n“ und „paide,uein“ (bzw. die zugehörigen Wortfelder). Mit Abstand am häufigsten ist von diesen drei Verben bzw. den einschlägigen Wortfeldern im Neuen Testament dida,skein / dida,skaloj / didach, / didaskali,a anzutreffen: Alle gut 210 Belege dieses Stammes sind ausnahmslos mit „(be-)lehren“ / „Lehrer“ oder „Lehre“ zu übersetzen. Im Gebrauch dieser Worte bilden sich fraglos tatsächliche Lehr-LernProzesse ab; allerdings sind es allesamt Prozesse informellen Lernens – mit Jesus selbst, seinen Jüngern oder den Aposteln als Lehrenden, den 66 67
Dazu G. BARTH, Die Taufe in frühchristlicher Zeit, Neukirchen-Vluyn (1981) 2., verb. A. 2002. G. KITTEL / W. SCHRAGE, Bildung als Verwandeltwerden in das Bild Christi, in: OCHEL (Hg.), Bildung, 123-127: 125.
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Jüngern oder Menschen, die an der Botschaft Jesu interessiert sind, als Lernenden.68 Wenn „dida,skein“ (ohne Objekt) zusammenfassend Jesu verkündigendes Wirken zum Ausdruck bringt (so etwa Mk 2,13),69 „o` dida,skaloj“ geradezu titular für ihn verwendet wird (so etwa Mt 14,14; 26,18; Lk 22,11),70 der Begriff „kainh. didach,“ die Qualität seiner Botschaft etikettiert (so Mk 1,27), dann ist deutlich, dass – eingedenk der Gleichnisse und Sprüche Jesu als Musterbeispiele zielgenauwirkmächtiger Kommunikation71 – in der Rede von „didac-“ zwar ein Moment gekonnter Bezugnahme auf die jeweiligen Adressaten mitschwingt, Lehren hier indes in der Regel enger mit Verkündigen als mit Unterrichten verwandt ist. Institutionalisierte Lernformen und didaktische Reflexion (die im modernen Sinne strictu sensu auf Unterricht bezogen ist) ist mit diesen Begriffen jedenfalls schwerlich zu assoziieren; am ehesten wird in einigen Passagen ein eigens für Unterricht entworfenes Gefüge von Inhalten erkennbar.72 Die wortgeschichtliche Untersuchung des Wortes „kathcei/n“ hat deutlich unterscheiden gelehrt zwischen dem altkirchlichen Sprachgebrauch – hier bezeichnet es, beginnend wohl noch nicht mit 2Clem 17,1, sondern erst ab Ende des 2. Jahrhunderts, je länger, desto deutlicher gemeindliches Unterrichten sog. Katechumenen und das asymmetrische Kommunizieren73 – und neutestamentlicher Verwendung: In 1Kor 14,19, Röm 2,18, Gal 6,6 u.a. meint „kathcei/n“ wohl nichts Spezifischeres als ein „werbendes Ansprechen“ bzw. (im Passiv) Angesprochen-werden und damit den in neutestamentlicher Zeit im Umgang mit Nicht-Christen erforderlichen Typ „aufrufend-werbende[r], herausfordernde[r] Information“ über den christlichen Glauben.74 „Die Bedeutung ‚Anfangsunterricht im Christenglauben’ scheint [jedenfalls im
68 69 70 71 72 73 74
K. WEGENAST, Art. Lehre – dida,skw, ThBLNT II (1997), 1256-1265. WEGENAST, a.a.O., 1257. F. HAHN, Christologische Hoheitstitel, Göttingen (1963) 51995, 78f. Dazu bündelnd G. THEIßEN / A. MERZ, Der historische Jesus, Göttingen 3., durchges. und erg. A. 2001, §§ 11f., sowie etwa G. THEIßEN, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004, 47. So sieht WEGENAST, ThBLNT II, 1264, mit didach, in den Pastoralbriefen und im Hebräer (2Tim 4,2; Tit 1,9; Hebr. 6,2) „schon ... festes und einzuprägendes Lehrgut“ bezeichnet. Die vielzitierte Bedeutung ‚von oben herab tönen’ leitet sich von einer Passage aus Lukian ab; dazu A. KNAUBER, Zur Grundbedeutung der Wortgruppe kathce,w / catechizo, Oberrheinisches Pastoralblatt 68 (1967), 291-304: 299. So mit KNAUBER, Grundbedeutung, 302f. Nachdrücklich verstärkt diese Deutung O. MERK, ‚Katechein’ als Begriff des Unterrichtens im Neuen Testament?, in: H.F. RUPP u.a. (Hg.), Denk - Würdige Stationen der Religionspädagogik, FS Rainer Lachmann, Jena 2005, 29-39: 39.
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Neuen Testament] an keiner Stelle vorzuliegen“;75 überhaupt schwingt kein Moment didaktischer Reflexion in dieser Vokabel mit. Anders verhält es sich beim Begriff „paideu,ein“. Er ist von seiner sprachlichen Vorgeschichte wie vom Wortgebrauch im NT her in den meisten Fällen pädagogisch spezifiziert. Von 24 neutestamentlichen Belegen der Wortgruppe trifft dies auf die acht Referenzen im Hebräerbrief, zudem auf die zwei in der Apostelgeschichte, in den Paulus(Gal 3,24f.; Gal 4,1-5; 1Kor 11,32; 2Kor 6,9) und Pastoralbriefen (1Tim 1,20; 2Tim 3,16; Tit 2,11-13) zu.76 Allerdings: Sieht man einmal von Apg 7,22 und 22,3 ab, die unzweideutig die Erziehung bzw. Ausbildung eines Menschen durch einen anderen Menschen bezeichnen, ist hier stets Gott das Subjekt des Erziehungsvorgangs – er erzieht entweder direkt oder mittelbar, sei es durch das Gesetz (Gal 3,24), sei es durch den Satan (1Tim 1,20) oder durch Menschen (Eph 6,4). An dieser letzten Stelle – für unser Thema von prominenter Bedeutung – dürfte in der Tat „Gott [als] hinter dem Erziehen des Menschen ste[hend]“ gedacht sein.77 Ebenso auffällig wie diese Pädagogik Gottes ist die Häufigkeit, mit der das Moment der Züchtigung mit dem Wortfeld „paid-“ verbunden ist (so in Hebr 12, 1Kor 11 und 2Kor 6); hier folgt der neutestamentliche Sprachgebrauch der Septuaginta.78 Kurz: Die recht häufige Verwendung eines Vokabulars, das im profanen Griechisch ‚pädagogische’ Sachverhalte bezeichnet und/oder in der Zeit der Alten Kirche eine katechetische Spezifikation erfuhr, zeigt an, dass in der Kommunikation mit Jesus und innerhalb der frühchristlichen Gemeinden durchaus Lehr-Lern-Prozesse stattgefunden haben, diese aber weder terminologisch noch institutionell bereits eine bestimmte Form fanden.
2.11. Ansätze programmatischen Nachdenkens über Lehren und Lernen Lässt der Gebrauch einzelner einschlägiger Wortfelder noch keine Konzeption von Lehren und Lernen erschließen, so sind in späteren Schriften des Neuen Testaments vereinzelt Ansätze zu einer programmatischen 75 76 77 78
KNAUBER, Grundbedeutung, 302. Nicht zutreffend ist es für Lk 23,16.22 (hier fehlt dem Term die Erziehungskomponente; er bezeichnet lediglich ‚schlagen’ / ‚geißeln’) und Off 3,19. So mit D. FÜRST / S. WIBBING, Art. Erziehung / Selbstbeherrschung - paideuw, ThBLNT I (1997), 409-412: 412. Dazu schon G. BERTRAM, Der Begriff der Erziehung in der griechischen Bibel, in: H. BORNKAMM (Hg.), Imago Dei. Beiträge zur theologischen Anthropologie, FS G. Krüger, Gießen 1932, 33-51.
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Reflexion auf das Erziehen bzw. Unterrichten in christlichen Gemeinden zu erkennen, namentlich in Hebr 12,4-13 und Eph 6,4. In beiden Fällen wird „Erziehung“ unter dem Leitwort der Zucht / Züchtigung verhandelt. So schreibt etwa Hans-Josef Klauck im Blick auf Hebräer 12, nach seinen Worten ein „kleine[r] Traktat über die ... paideía“: „Wie die atl. Vorlage [Spr 3,11f] versteht der Hebräerbrief Erziehung als ‘Züchtigung’ ..., die dazu dient, durch teils harte Eingriffe erwachsene [!] Gläubige auf dem Weg der geistlichen Vervollkommnung voranzubringen“.79 In Eph 6,4 wird dasselbe, in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur entfaltete Verständnis von Erziehung auf das Verhältnis von Eltern und Kindern angewendet: „Ihr Väter ... erzieht eure Kinder in der Zucht und Ermahnung des Herrn“(oi` pate,rej ... evktre,fete auvta. [sc. ta. te,kna u`mw/n] evn paidei,a| kai. nouqesi,a| kuri,ou).80 Diese durch ihren Zusatz „kuri,ou“ singuläre81 Passage (wahrscheinlich als Genitivus subjectivus mit „des Herrn“ zu übersetzen), wurde von Werner Jentsch als Ausdruck von „kyriozentrischem Erziehungsdenken“ gewertet, das – so sein Tenor – für das ganze Neue Testament charakteristisch sei. „Die Paideia Kyriu wäre dann die Erziehung, mit der der Kyrios den Menschen erzieht und die er deshalb gleichzeitig zwischen den Menschen geübt haben will.“82 Mit dieser Bindung von Erziehung an den Herrn möchte der Autor – des Epheserbriefes, aber eben auch Werner Jentsch (!) – „ ... realiter eine ... Erneuerung der Paideia proklamieren ... Die Ordnung der Paideia bleibt Ordnung, aber das Stehen und Handeln in ihr wird ‘neu’.“83 Doch verallgemeinern zu einer neutestamentlichen Konzeption christlicher Erziehung lassen sich diese Passagen schon deshalb nicht, weil sie die vielen anderen Passagen, die erziehendes oder unterrichtendes Handeln spiegeln, nicht deuten helfen. Die neutestamentlichen Schriften führen eben je für sich unterschiedliche Termini, Vorstellungen und Kontexte zusammen.
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82 83
KLAUCK, Erziehung, 1510f. Diese Traditionslinie markiert z.B. R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser (EKK X), Neukirchen-Vluyn u.a. 1982, 268f. Vgl. aber 1Clem 21,8: paidei,a evn Cristw/| „Die Beschreibung der Heilsbotschaft als paidei,a begegnet seitdem immer wieder, wird von den frühchristlichen Apologeten … vertreten und schließlich von den alexandrinischen Theologen in großem Stil ausgebaut.“ (G. RUHBACH, Bildung in der Alten Kirche, in: H. FROHNES / U.W. KNORR [Hg.], Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, 2 Bde., München 1974, hier Bd. 1, 293-310). JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 194. Zitate aus JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 193 und 200.
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2.12. Das Fehlen von Hinweisen auf institutionalisierten Unterricht Die neutestamentlichen Schriften lassen nicht erkennen, dass die frühchristlichen Gemeinden schon gemeindlichen Unterricht oder gar katechetische Schulen institutionalisiert hatten. Dieser Umstand muss nicht verwundern: Auf der einen Seite hat das Christentum bis ins 4. Jahrhundert hinein nicht versucht „die paganen Elementar-, Grammatiker- und Rhetorikschulen durch christliche zu ersetzen“,84 sondern den Katechumenat lediglich als Korrektiv bzw. Ergänzung neben die klassisch-heidnische Schule gestellt.85 Auf der anderen Seite ist es bisher nicht gelungen, diejenigen Aussagen in der rabbinischen Literatur, die die Existenz jüdisch-rabbinischer Schulen schon für die Zeitenwende, nämlich für die Zeit seit Schimon ben Schetach oder Jehoshua ben Gamla,86 behaupten, archäologisch zu belegen.87 Mit anderen Worten: In Palästina ist für das erste Jahrhundert zwar das Bestehen hellenistischer Schulen und wohl auch von „~yrdx“ oder „vrdm ytb“ anzunehmen, aber nicht verlässlich zu belegen. Wenn dies schon für das Judentum insgesamt gilt, um wie viel mehr dann für das noch kaum davon gelöste (Juden-) Christentum? Die Spärlichkeit der Quellen oder gar ein Schweigen muss indes nicht notwendig ein Nichtvorhandensein von etwas anzeigen.
2.13. Die wiederholte Erwähnung von Lehrern in den christlichen Gemeinden Um so bemerkenswerter ist der Umstand, dass im Neuen Testament häufig Lehrer innerhalb der christlichen Gemeinde erwähnt werden: Nach Apg 13,1 gab es Inhaber dieser Funktion neben Propheten in Antiochien; nach 1Kor 12,28 neben Aposteln, Propheten u.a. in Korinth (vgl. Eph 4,11 ohne Ortsbezug; Terminus jeweils: dida,skaloi), nach Gal 6,6 wohl auch in Galatien (kathcw/n). 1Tim 5,17 bezeichnet Presbyter als diejenigen, die sich mühen in der Lehre (vgl. auch Hirte des Hermas). Paulus selbst wird an zwei Stellen „Lehrer der Heiden(völker)“ genannt (1Tim 2,7 und 2Tim 1,11) und in Apg 19,9 als solcher umschrieben (wenn es heißt, er habe evn th/| scolh, Tura,nnou gelehrt). Der Jakobus84 85 86 87
LAMPE, Christen, 298 (Kursivierung von mir, B.S.); vgl. auch GEMEINHARDT, Lateinisches Christentum, 12. M. METZGER / W. DREWS / H. BRAKMANN, Art. Katechumenat, RAC XX (2004), 497-574. jKet VIII,11,32c. und bBaba Batra 21a. S. zuletzt HESZER, Jewish Literacy, 39-89 (-109). Zum traditionellen Bild von der Genese eines jüdischen Schulwesens etwa H. LICHTENBERGER, Lesen und Lernen im Judentum, in: A.TH. KHOURY (Hg.), Glauben durch Lesen?, Freiburg u.a. 1990, 23-38.
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brief unterstreicht, dass nicht jeder Lehrer werden sollte (Jak 3,1), weil diejenigen, die lehren, von Gott strenger zur Rechenschaft gezogen werden.88 Auch die Apostolischen Väter, etwa die Didache (11,1-2) und der Hirte des Hermas (mand. IV, 3,1), erwähnen Wanderlehrer ebenso wie theologische Lehrer einzelner Gemeinden. Liest man diese Passagen zusammen mit den vielen, die ein „Lehren“ Jesu, der Jünger oder eben der Gemeinde als Tun (nicht als Funktion oder Amt) erwähnen, lässt sich vermuten, dass die Verkündigung der Christen zwar von Anfang ein Lehren einschloss, dass aber die Wahrnehmung dieser Funktion, konkret also wohl die Erteilung von Katechumenenunterricht, lediglich sukzessive spezialisiert wurde. Ob bzw. ab wann von einem „Amt“ des Lehrers i.S. einer „institutionell mit Macht und Aufgaben ausgestatteten, rechtlich klar festgelegten Position“89 oder gar von einem „urchristliche[n] Lehrerstand“ i.S. einer sozialen Gruppe mit definierten Zugangsregeln90 zu sprechen ist, steht somit dahin. Dergleichen hat es sicher erst im 2., vielleicht auch schon im 1. Jahrhundert gegeben.91 In welchem Rahmen diese Lehrer wen unterrichteten, ist anhand neutestamentlicher Texte nicht zu spezifizieren; mit großer Wahrscheinlichkeit waren allerdings nicht Kinder ihre primäre Zielgruppe, sondern Erwachsene, die sich dem Christentum näherten oder nach ihrer Taufe ein tieferes Verstehen suchten.
2.14. Teilhabe am Gemeindeleben als sozialisatorischer Akt Überhaupt muss man sich klarmachen, dass die Lehr-Lernvorgänge, die bisher andeutungsweise erkennbar wurden, nicht Heranwachsende betreffen, sondern in der Regel Erwachsene (dabei allerdings im Rahmen der antiken Hausgemeinschaft deren Kinder einschließen). Von jungen Menschen wird – wenn sie überhaupt erwähnt werden – nur 88 89 90 91
Dazu H. FRANKEMÖLLE, Der Brief des Jakobus (ÖTK 17/1,2), Gütersloh/Würzburg 1994, hier Bd. 2, 487-490. FRANKEMÖLLE, .a.a.O., 487f. Gegen H.-F. WEIß, Art. dida,skw/ / dida,skaloj EWNT I (1981), 21992, 764-769: 768. ZIMMERMANN, Die urchristlichen Lehrer (s. Anm. 24), v.a. 92-207, kommt zu dem Schluss, dass es früh schon judenchristliche Lehrer gab, die allerdings durch ihre „Superioritätsansprüche“ alsbald sich selbst und ihre Aufgabe in Verruf brachten (218). U. NEYMEYR, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte, Leiden 1989, sieht die Lehrer des 2. Jh.s in Selbstverständnis und Stand als deutlich von den urchristlichen Lehrern verschieden an (154 u.ö.), dagegen etwa D. WYRWA, Religiöses Lernen im zweiten Jahrhundert und die Anfänge der alexandrinischen Katechetenschule, in: EGO / MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen, 271-305.
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erwähnt, dass sie am Leben der Gemeinde und der Familie teilhaben (vgl. Apg 20,7-12 und die sog. Oikos-Formeln 1Kor 1,16 u.ö.). Von daher legt sich die Vermutung nahe, dass sie am ehesten durch Sozialisation, vor allem also wohl durch die Hineinnahme in ein christlich ritualisiertes Familienleben92 und in das gottesdienstliche Leben93 erzogen werden. Es verhielt sich wohl so wie Werner Jentsch zusammenfassend notiert: „Die Geschlossenheit des christlichen oikos, die Teilnahme am christlichen Gottesdienst, das Zusehen und Zuhören bei christlichen Lehrvorträgen, das Mitsingen der Hymnen, das Mitbeten der proseuchai, alles das waren Gelegenheiten, die dem jungen Christen halfen, in das Evangelium der Väter hineinzuwachsen. ... Man traute eben der Paideia des Kyrios mehr zu als der eigenen Paideia im Namen des Kyrios.“94
2.15. Die Anschlussfähigkeit für katechetisches Bemühen der Alten Kirche Sei es auf Grund von Missverständnissen, sei es auf Grund richtigen Verstehens: Die Alte Kirche hat, als sie ihrerseits – nachweislich im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts – Unterricht für Katechumenen institutionalisierte,95 für dessen Legitimierung und Ausgestaltung auf Passagen des Neuen Testaments zurückgegriffen und zurückgreifen können. So kann Clemens von Alexandrien in Röm 10,7 den grundlegenden Anstoß zum Taufunterricht und in der Nachahmung Christi – also einem Lernprozess – den Weg zur Vollkommenheit erkennen,96 so kann Ignatius die Katechumenen als „Schüler Jesu Christi, unseres einzigen Lehrers“ (maqhtai. Ihsou/ Cristou/ tou/ mo,nou didaska,lou h`mw/n) bezeichnen und ihren Auftrag darin sehen, zu „lernen, dem Christentum entsprechend zu leben“ (ma,qwmen kata. Cristianismo.n zh/n),97 so kann Tertullian das Lernen dessen, was Christus lehrte, zur Voraussetzung der Taufe 92 93 94 95 96 97
Dazu etwa P. LAMPE, Zur gesellschaftlichen und kirchlichen Funktion der ‚Familie’ in neutestamentlicher Zeit, Reformatio 31 (1982), 533ff. Dazu HAHN, Theologie Bd. 2, 582-592 (mit 507-532 und 533-564), sowie jüngst A. FÜRST, Die Liturgie der alten Kirche, Münster 2008. JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 249/250. Vgl. die „Traditio Apostolica“ des Hippolyt und die Berichte Tertullians; dazu hier nur METZGER / DREWS / BRAKMANN, Katechumenat, 497-574. Clemens von Alexandrien, Protreptikos und ders., Paidagogos, hier zit. nach PASQUATO / BRAKMANN, Katechese, 432f. IgnMagn 10,1 und 9,1, hier zit. nach P. PILHOFER, Von Jakobus zu Justin, in: EGO / MERKEL (Hg.), Religiöses Lernen, 253-269: 266.
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erklären,98 so hat Hieronymus aus Mt 28,19f die Abfolge von anfänglicher Verkündigung – Taufe – vertiefendem Unterricht abgeleitet.99 Dass die Alte Kirche in dieser Weise Anschluss an ‚katechetische’ Passagen im Neuen Testament findet, bringt zwar primär ihr eigenes Schriftverständnis und die Notwendigkeiten ihrer Zeit zur Geltung, bezeugt sekundär jedoch auch den Umstand, dass trotz des Mangels an systematischer Reflexion pädagogischer Fragen im Neuen Testament zumindest zwischen den Zeilen eine Wertschätzung von Lehren und Lernen und somit ein Ansatzpunkt für den Aufbau eines Unterrichtswesens für Interessenten am Christentum bzw. Taufbewerber erkennbar wurde.
3. Resümee Das Neue Testament verdankt sich sowohl in seiner Sache als auch in seiner Form Lehr-Lern-Prozessen: In der Sache, insofern als die Zeugen von Wirken, Kreuzestod und Auferweckung Jesu durch dieses Geschehen die Welt und ihr eigenes Leben neu sehen gelernt haben. Zudem bilden die Lehre (d.h. deren Inhalte) und die Lehrtätigkeit Jesu die materiale Grundlage der neutestamentlichen Schriften. In der Form insofern, als die zunächst mündliche Tradierung dieser Lehre, dann ihre Überführung in sorgsam reflektierte Schriften die Basis des Neuen Testaments als eines Kanons der Überlieferung darstellt. In beiden Hinsichten, also sowohl beim Erinnern bzw. Lernen der Jesusgeschichte als auch bei der Formgebung der neutestamentlichen Schriften, ist die – wie auch immer im Einzelnen geartete – Bildung Jesu sowie die Bildung der Tradenten und Autoren des Neuen Testaments vorausgesetzt. Vorauszusetzen ist auch, dass sich diese Tradenten und Autoren der Tatsache ihrer Bildung und ihres Bildungsweges bewusst waren. Einzelne Passagen, die eine Erinnerung an eigene Lehrer spiegeln (wie etwa Apg 22,3), weisen darauf hin. Die Schriften des Neuen Testaments sind im Wissen um die Notwendigkeit von Lehren und Lernen für den Fortbestand des Glaubens an Jesus Christus verfasst worden. Ihre Autoren sind sich insbesondere der Notwendigkeit von Erziehung und Unterricht unter denen, die sich Christen nennen, bewusst. Eben deshalb stellen sie ihre eigene Bildung in den Dienst der Weitergabe des Evangeliums an Dritte! 98 99
Tertullian, Bapt. 18,5, hier zit. nach PASQUATO / BRAKMANN, Katechese, 437. Hieronymus, Commentariorum in Matthaeum libri IV, hier zit. nach LUZ, Matthäus I, 443.
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Auch wenn sie primär den Anspruch haben, Dritte verkündigend zu überzeugen – der Ausdruck euvaggeli,zein scheint ihr Anliegen am besten zum Ausdruck zu bringen – ist festzuhalten, dass sie ihre Leser/innen im Medium ihrer Schriften zunächst einmal immer auch informieren und (be-) lehren: über das Geschick Jesu, über ihre Deutung desselben und über das, was eine christliche Gemeinde für ihr geistliches Leben benötigt. Auch wenn die Weitergabe des Evangeliums nicht in einem solchen Informieren und Belehren aufgeht, ist sie doch zu einem guten Teil als Lehr-Lern-Prozess zu rekonstruieren. De facto praktizieren die Autoren des Neuen Testaments somit auf diese Weise theologische Erwachsenenbildung. Indem die historisch-kritische Exegese die unterschiedlichen theologischen Konzeptionen dieser Autoren, ihre unterschiedlichen Zielgruppen, Anliegen, Vorgehensweisen bzw. Argumentationsstrategien aufdeckt, weist sie implizit (d.h. ohne ihrerseits darauf Augenmerk zu legen) nach, dass die Evangelisten, Paulus und die anonymen Verfasser der übrigen Schriften sehr wohl die Lehr-Lern-Prozesse reflektiert und gestaltet haben, die sie anstoßen wollten. Insofern spiegelt das Neue Testament implizit katechetische Reflexion – auch wenn diese selbstredend nicht den Kriterien wissenschaftlichpädagogischer Theoriebildung, die in der Moderne herausgebildet und definiert wurden, genügt und auch wenn sich erst im 2. Jahrhundert, ansatzweise gespiegelt in Hippolyts Kirchenordnung, im Zusammenhang mit der Entstehung eines institutionalisierten Taufkatechumenats Anfänge einer expliziten katechetischen Reflexion herausbilden. Eine Vielzahl von Elementen in den neutestamentlichen Schriften regt diesen Übergang von der impliziten zur expliziten Reflexion an (oder erleichtert ihn zumindest), v.a. das Beispiel des begnadeten Lehrers Jesus, das Wissen darum, dass schon die neutestamentlichen Autoren auf unterschiedliche Weise versucht haben, ihre Leser/innen zu überzeugen, die alttestamentliche Wertschätzung von Lehren und Lernen, das in der biblischen Tradition tief verankerte Wissen um die Generationentatsache und die Notwendigkeit von Überlieferung des Glaubenswissens, die Verwendung eines Vokabulars, das sich für eine pädagogische Aufladung eignet, das Vorhandensein memorierfähiger Überlieferungsbestände wie etwa Formeln, Hymnen und Herrenworte und das vereinzelte Vorkommen ausdrücklicher Anweisungen zur Erziehung (Eph 6,4 und Mt 28,20!). Die Spärlichkeit expliziter Hinweise auf Erziehung und Unterricht im Neuen Testament stand jedenfalls der Entwicklung und Pflege institutionalisierter Lernformen in der Zeit der Alten Kirche augenscheinlich nicht im Weg. Im Gegenteil: Diese Hinweise werden von der Alten
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Kirche als Stimulans zur Entwicklung geeigneter Lehr-Lern-Formen, insbesondere des Katechumenats, wahrgenommen worden sein. Allerdings: Nur an ganz wenigen Stellen wird ein Sensorium für die Erziehung und Unterrichtung von Kindern und Jugendlichen erkennbar; diese gelten augenscheinlich – antikem Konsens entsprechend – als Aufgabe der Familie bzw. gemeindlicher Sozialisation. Auch lässt das Neue Testament noch keinen formalisierten Unterricht, kein Interesse an bestimmten Methoden, kein etabliertes „Amt“ der Weitergabe des Evangeliums erkennen. Unbeschadet dessen wurden de facto bereits in neutestamentlicher Zeit verschiedene Lernorte in den Dienst der Weitergabe des Evangeliums gestellt: etwa die gottesdienstliche Versammlung, in der man Texte aus Tora, Propheten und Briefen des Paulus las, Riten, Formeln und Hymnen memorierte, oder die familiale Erziehung, die vorausgesetzt und vereinzelt angemahnt wird. Nur institutionalisierter Unterricht ist als Lernort noch unbekannt; die existierenden Schulen – sei es das Beit Midrasch, sei es die Schule griechisch-römischer Tradition – sind für die Weitergabe christlicher Inhalte unzugänglich. Heutige Religionspädagogik hat sich angesichts dieses Befundes für „Lehren und Lernen im Spiegel des Neuen Testaments“ als erste, unverzichtbare, wenn auch rudimentäre Etappe in der Geschichte von „Erziehen, Lehren und Lernen im Christentum“ zu interessieren. Sie kann aus dem Blick auf die neutestamentlichen Verhältnisse allerdings – nicht nur wegen der Spärlichkeit der einschlägigen Angaben, sondern wegen der seitdem grundlegend veränderten Umstände, also aus hermeneutischen Gründen – kein religionspädagogisches Programm gewinnen: Das Neue Testament enthält weder eine explizite noch eine implizite Katechetik respektive Religionspädagogik. Wohl aber sind verschiedene Merkmale des Lehrens und Lernens, die das Neue Testament erkennen lässt, auch für eine moderne Religionspädagogik wegweisend: • das große Gewicht von Sozialisation als Mittel, die Zugehörigkeit von Menschen zur christliche Gemeinde zu stabilisieren und ihr Glaubenswissen zu stärken, • die Verknüpfung von Lehr-Lern-Prozessen mit Handlungen (Wunder, Tischgemeinschaft mit Zöllnern u.a., Zeichenhandlungen) und rituellen Vollzügen (Taufe, Herrenmahl), • die Aufgabe und das Zutrauen, auch (materiell) arme, nach den Maßstäben der Zeit als ungebildet oder nicht bildungswürdig geltende Menschen mit den Gehalten des Evangeliums erreichen zu können, • die Wertschätzung des Kindes (Mk 10),
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das Bewusstsein, auch im Medium der Erziehung Gott dienstbar sein zu können und zu sollen (Eph 6,4 und Mt 28,19f), • kritische bzw. selbstkritische Distanz gegenüber denen, die sich ihrer Bildung gewiss sind (1Kor), • das Streben danach, das Evangelium nicht abstrakt, sondern im Blick auf verschiedene Situationen und Adressaten zum Ausdruck zu bringen (paulinische Briefe), • die Konzentration auf das für wesentlich Erachtete, die sich in Formeln und programmatischen Wendungen wie etwa 1Kor 15, 3-5; Röm 1,16f; Lk 10,27 ausdrückt. Andere Elemente neutestamentlichen Denkens mit religionspädagogischer Relevanz gelten aus heutiger Sicht als anachronistisch, etwa das Moment der Züchtigung. Sie können angesichts unserer hermeneutischen Maßgaben keine Geltung beanspruchen, bedürfen aber – gerade weil sie im Neuen Testament eine gewisse Prominenz haben – stets wieder argumentativer Prüfung und Zurückweisung. Dafür, dass im Neuen Testament sowohl eine Beschreibung des lehrenden Handelns der frühchristlichen Gemeinde als auch ein systematisches katechetisches Nachdenken fehlt, gibt es mehrere Gründe. Ein wesentlicher Grund liegt wohl im „aenologische(n) Denken der ersten Christen“, also in ihrer Erwartung des nahen Endes der Welt und des Anbruchs eines neuen Äons.100 Wer zu Lebzeiten das Ende der Welt erwartet, schenkt der Erziehung zukünftiger Generationen keine besondere Aufmerksamkeit. Ein zweiter Grund dürfte im theonomen oder pneumatischen Vorbehalt liegen. Die Autoren des Neuen Testaments haben die Wirkung der Verkündigung des Evangeliums nicht auf menschliche Vermittlung oder Bemühung zurückgeführt, sondern sie als unverhoffte Gabe Gottes, als Geschenk des Heiligen Geistes begriffen – Lehren und Lernen sind somit eher die Folge von Glauben und Taufe als deren Voraussetzung.101 Und schließlich werden im Neuen Testament die Handlungen und Denkfiguren, die selbstverständlich sind, in der Regel nicht oder nur selten thematisiert. Das gilt etwa für die Figur der „Schöpfung“, für die Gottesdienst- und Taufpraxis – und eben womöglich auch für die Praxis christlicher Erziehung. Im Judentum dieser Zeit wurde religiöses Lehren und Lernen hoch geschätzt und wohl bereits systematisch praktiziert; dass Lehren und Lernen konstitutiv ist für christliches Leben, war den Christinnen und Christen von daher ebenso selbstverständlich wie vom Wirken Jesu als Lehrer her. 100 So mit JENTSCH, Urchristliches Erziehungsdenken, 194. 101 So angedeutet bei REBELL, Urchristentum und Pädagogik, 77.
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Anhang
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Bibliographie Ulrich B. Müller
Bibliographie Ulrich B. Müller
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Bibliographie Ulrich B. Müller (zusammengestellt von Jörg Rauber) U. Müller, W. Schmücker, H. Stegemann, Nachträge zur „Konkordanz zu den Qumrantexten“, hg. v. K.G. Kuhn, RdQ 4, 1963/64, 163-234. Messias und Menschensohn in jüdischen Apokalypsen und in der Offenbarung des Johannes (StNT 6), Gütersloh 1972. Die christologische Absicht des Markusevangeliums und die Verklärungsgeschichte, ZNW 64 (1973), 159-193. Die Parakletenvorstellung im Johannesevangelium, ZThK 71 (1974), 3177. Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu im Johannesevangelium, KuD 21 (1975), 49-71. Die Geschichte der Christologie in der johanneischen Gemeinde (SBS 77), Stuttgart 1975. Prophetie und Predigt im Neuen Testament. Formgeschichtliche Untersuchungen zur urchristlichen Prophetie (StNT 10), Gütersloh 1975. Zur frühchristlichen Theologiegeschichte. Judenchristentum und Paulinismus in Kleinasien an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert n. Chr., Gütersloh 1976. Die griechische Esra-Apokalypse (JSHRZ V/2), Gütersloh 1976, 85-102. Vision und Botschaft. Erwägungen zur prophetischen Struktur der Verkündigung Jesu, ZThK 74 (1977), 416-448. Krankheit und Heilung, in: K. Seybold / U.B. Müller, Krankheit und Heilung (ub Biblische Konfrontationen 1008), Stuttgart u.a. 1978, 80-169. 174-176.
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Register Sachregister Abendmahlsparadosis 146-148, 150, 174 Abgrund, Tier aus dem 472f Abrahamskindschaft 13, 26, 28, 49f, 86, 282, 287, 295 Agonistische Metaphorik 312f, 315f Akklamationen 238 Allegorie, Allegorese, allegorisch 80, 85, 201 Alte Kirche, Katechese 520f Am-ha-aretz ((#rah ~[) 509f Antipaulinismus, antipaulinisch 248, 277, 280, 295, 321-323 Anthropomorphismus 188, 197, 206, 401 Antijudaismus 107f, 124, 211f, 223, 225 Antikes Mahl 81f Antike Ökonomik 79, 82f Antiochien, Gemeinde, Theologie 62f, 93, 271f, 284 Antiochenischer Zwischenfall 263, 266, 270, 287, 303, 431 Apokalyptik, apokalyptisch 11-13, 429, 476, 478, 481 Apollos, Apollospartei 124, 277f, 295, 302 Apologetik, christliche 103, 105, 108, 117, 119, 190, 209-212, 216, 517 Apophthegma 78, 85 Aposiopese 22 Aposteldekret 123, 125, 429-452 Apostelkonvent, Apostelkonzil 63, 69, 88, 265, 267, 271, 279, 282, 284-287, 303, 306 Armut, bewusst gewollte, der Boten in der Logienquelle 44 Auferstehung Jesu 90f, 94f, 103, 109, 111, 293, 335, 379, 417, 420f, 423, 425 Auferstehungserwartung 301, 474, 476
Augustin 248 Ausrüstungsregel
44
Barnabas 72, 254, 262f, 265-267, 270f, 301 Bedrängnis 353-355, 357, 359, 361f Beliar 16, 18, 478 Beschneidung 119f, 199, 212, 269f, 277-281, 283-285, 287-293, 295f, 305, 333, 337. 379, 389 Bilderverbot 457 Bildungsmilieu urchristlicher Gemeinden 506-508 Bileam 447, 467 Binnensprache, kirchliche 88, 93, 105, 108, 110, 115, 117, 232, 241, 419 Blutritus 136f, 141, 144 Boteninstruktion 41, 42, 44, 45, 48, 55, 65 Brot, Herstellung in der Antike 79 Brot, Wertigkeit in der Antike 83f Bund 107, 130, 131, 145, 250 Bundes(erneuerungs)fest 130f Bundesbuch 139-141, 143-146 Bundesnomismus 250, 252 Bundesschluss 130, 136f, 141, 143, 145, 147 Bundestheologie im Alten Testament 129-132, 135f, 144f Bundesurkunde 136, 138, 145 Christentum, griechisch-römische Fremdwahrnehmung 183-185 Christentum, Identitätsmerkmale 444, 452 Christentum und Judentum 99f, 104, 106-109, 123, 126, 210-212 Christliche Mission 93 Christologie 15, 85, 109f, 114, 118f, 150, 165, 168, 172, 330, 332f, 336,
532 340, 355f, 367-369, 387, 393, 397, 406, 423, 464, 504f, 511f Christophanie 35 Christusgeschehen, Bedeutung 327, 333, 336, 341 Christusmystik 252 Christuspartei 277, 302 Chronologie, relative, Kriterien 101, 106 Citrusholz 485-488 Claudius, Claudiusedikt 202, 234, 284f, 298f Collegia licita, religio licita 293, 300, 305 Dämonen, Dämonenaustreibungen 16-18, 25, 29, 197, 458 Danielbuch 12 Dekalog 140f, 144-146 deuteronomistisch 132-134, 143f Deuteronomium, deuteronomisch 130, 132-134, 136, 144f Diasporagemeinde 90 Diasporajuden 90 Diasporasynagoge 90 Dionysos 233f, 238 Divination 186-188 Drei-Zeiten-Formel 472 Edelsteine 479f, 482, 485, 486, 492 Ehreninschriften 312 Ehrenpreise 313, 315 Ehrung am jüngsten Tag 308-310, 313, 315f Ehrung verdienter Bürger 310, 312 Ekstase 233, 235, 239, 242f Elohist 142f Endgericht 11-14, 19, 21-26, 28-32, 39, 45-50, 53-56, 64f, 67f, 273, 312f, 316, 355f, 359-363, 454, 458, 462, 468, 473-478 Engel 232, 236-238, 243, 295, 458f, 462, 468, 471 Engelverehrung 381-383, 386-388, 393f Enthusiasmus, Enthusiasten, enthusiastisch 237, 278-281, 283, 290, 469, 477 Entwicklung der paulinischen Theologie 252-255, 275 Epikur, epikureisch 187, 189, 197-199, 291 Erlösung 460 Erniedrigung und Erhöhung 163, 172 Eröffnungsrede 41
Register Ersatzleistung 157, 158 Erwählungstheologisch 84 Eschatologie, eschatologisch 11-13, 48, 307-310, 313f Eschatologie, Konzepte 351f, 355f, 358-361 eschatologischer Vorbehalt 474f Ethik 119, 126, 421 Euergetismus als metaphorisches Feld 310-312 315 Exorzismen Jesu 16-19, 46, 52, 61, 77, 169 Erwählung 84, 88 Festtage, Beachtung 212, 378-380, 383, 387-389, 393, 477 Feuergericht 13f, 29-31, 49, 54 Feuerrichter 30 Formeln, katechetische 511 Frame (linguistischer Terminus: Sprach- und Sachzusammenhang) 325f, 328f Fremdgötterverehrung 233-235, 457f Galaterbrief, Datierung 261, 264, 283f Galaterbrief, Lokalisierung 256-267 Galatien, Landschaft 258 Galiläische Krise 11, 25 Gallio, Gallioprozess 296, 297, 298, 300 Gegner(polemik) 327, 337, 338 Geistverständnis 241 Gemeinschaft, koinwni,a 332 Generation, diese 23, 33, 35, 39 Gerechtigkeit Gottes 94, 273f, 357, 359, 363, 462 Gerechtigkeit des Menschen vor Gott 94, 273f, 308, 327 Geschlecht, dieses 23, 33, 35, 39 Gesetz, Gesetzesverkündigung im AT 130, 132, 137 Gesetzeskritik im Urchristentum 73 Gewissen 421-424 Gleichnisse 19f, 85, 511f, 515 Glossolalie 231f, 235f, 238-246 Gnosis, Gnostiker, gnostisch 126, 248, 277f, 280f, 292, 369, 466, 469f Gog, Magog 474f Gold 479, 480, 482, 484f, 487f Goldene Regel 431-433 Götterbild 188, 204, 217f, 235, 432f, 435, 441, 488 Gottes Thron 237, 315f, 340f, 460 Gottesbild 88, 188, 401f
Sachregister Gottesfürchtige 90, 91, 93, 100, 113, 115, 121f, 286 Gottesherrschaft 16-22, 25f, 29-32, 34f, 71, 73 Gottesknecht 149, 150, 158, 162, 163165 Gottesverehrer außerhalb Israels im Alten Testament 86f Göttliches Erwählungshandeln 88 Götzendienst 457, 47f, 481, 491 Götzenopferfleisch 111, 304, 442, 444, 465f Griechisch-römische Religion, christliche Wahrnehmung 208-210, 218220, 224f, 432, 441, 481, 491f Halachische Fragen 119-121, 126 Hauptmann Cornelius 63 Hauptmann von Kapernaum 56-59, 63 Hausgemeinde 91 Haushaltsökonomische Maxime 86 Haushunde 81 Heidenchristen, heidenchristlich 107, 111f, 116f, 121-125, 266f, 270f, 277, 279-281, 283, 285, 288, 303-305, 322, 385, 505f, 508 Heidenmission 73, 91, 95, 245f, 272, 284f, 302 Heidenmission, beschneidungsfrei 107, 123f Heiland, Titel swth/r als Bindeglied zwischen Kolosser- und Epheserbrief und den echten Paulinen 329 Heilsenthusiasmus 278, 289, 469-471, 475-477 Heilsgeschichtlicher Vorrang Israels 93 Heilsteilhabe von Nichtjuden 47, 71, 248f Heimholung der Diaspora 47 Hellenisten 62, 68f Herrenmahlsüberlieferung 129, 146 Herrscherkult 294 Honour-and-Shame 317 Hunde 80, 82 Hunger 51 Hymnus 461 Identitätsmerkmale, jüdisch 277, 284, 286-288, 292, 296 Inkarnation 109f Inklusive Heilsvorstellung 47, 90f
533
Intertextualität 325, 328, 330f, 346, 349f, 453, 456, 459, 463 Isebel 466-468, 471, 476f Israel als Adressat der Verkündigung Jesu und der Christen 12, 24, 29, 32f, 35, 48, 52, 60, 71f, 89, 92, 107, 118f, 123f, 167 Israel, Land, Heiligkeit und Reinheit 430f, 439, 452 Israel-Logion 32, 34 Jakobus 430, 432, 435, 437, 442 Jehowist 133, 143, 144, 145 Jerusalem 25-29, 429f, 433, 439f, 442 Jesaja-LXX 154, 164f Jesu Wirken, Phasengliederung 12, 20f, 25f Jesus als Lehrer 502, 508-510 Jesus, Gerichtsverkündigung 19-23, 26-32, 54f, 67f Jesus, Initiation seiner Heilsverkündigung 11, 19 Jesus, Verhältnis zu Johannes dem Täufer 14, 50, 54f Jesus, Verständnis seines eigenen Todes 34 Johannes der Täufer 12-14, 16, 21-23, 25f, 30, 39, 49f, 53, 55, 64 Judaisten 277-280, 282f, 288, 289, 294 Judaistenthese 281 Judenchristen 72, 80, 87-93, 100, 114, 121-125, 241, 244, 251, 270f, 273, 279f, 282, 284-286, 288, 293, 304, 306, 338, 369f, 430, 433f, 450-452, 456, 478, 505, 519 Judentum, antikes 11f, 49, 55, 72, 84, 90, 113-115, 117, 121, 126, 184 Judentum, christliche Wahrnehmung 210-212, 223 Judentum, nichtchristliche Wahrnehmung 188, 190, 198f, 202f, 205207, 212, 220, 300 Ius talionis 357 Kaiser, röm. 482-484, 491f Kaiserkult 448, 467, 472f Kapernaum 41, 56 Katechese 424 Katechetische Reflexion, altkirchliche 522 Katechumenat, altchristlicher 498, 518, 521, 523 Kelchwort 146-148
534 Kinder als Adressaten antiker christlicher Erziehung 504, 517, 519 Kohärenz als Beschreibungskriterium 364 Kollekte für Jerusalem 89, 259-262 Korinthische Korrespondenz 261 Kybele 234f, 412 Landschaftshypothese 257, 259, 264, 267 Landverheißung 135 Lebenshingabe 149f, 158, 162 Lehren und Lernen 497 Lehrer, urchristliche 519 Leidender Gerechter siehe Passio iusti Leidenstheologie, frühjüdische 359f Lernen im Urchristentum 497 Lernorte im Urchristentum 523 „Leseanweisung“ als texttheoretisches Modell 350-352, 362, 364 Libertinismus 289, 290, 306 Liebe 401-404 Literarkritik 412 Lob durch Gott am Jüngsten Tag siehe Ehrung durch Gott am Jüngsten Tag Logienquelle siehe Q Lohnmetaphorik 315, 317 Lokalisierung, methodische Probleme 112f Lukanisches Doppelwerk, Datierung 101-111 Lukanisches Doppelwerk, Lokalisierung 111-113 Lukanisches Doppelwerk, Rezeptionsgeschichte 103f Lukas, religiöse Herkunft 113-121 Luxus, luxuria, luxuriosi 479, 481, 483, 486, 489, 492 Luxuskritik 479, 481, 491f Magie 184, 187-189, 191f, 214f, 219 Mahlgemeinschaft 45 Mahlpraxis 82f, 85 Mänaden 233f Maranatha 32 Märtyrer 476 Märtyrerhoffnung 475 Martyrium 474, 475 Mazzeben, Dtn Verbot der Errichtung von M. 139 Messiasgeheimnismotiv 75, 95 Messiasreich 474
Register Millennium 475f mirror-reading, Probleme 280, 287, 292, 369-374 Mischehe zwischen Juden(-christen) und Nichtjuden 445-451 Misseonstheologie, missionstheologisch 35 37 61-63 65 68-70 71-73 88 91 94-97 167f Moses 461 Mysterienkult 209, 238, 369f, 242 412 414 Mythos 400f, 404f Nachneutestamentliche Literatur, Datierungsthesen 104f Nasiräat 120f Neuer Bund 147f Neumonde als jüdische Feiertage 378380 New Perspective on Paul 249, 251f Nichtjüdischer Heilspartizipation 87 Nikolaiten 443, 466f Ökonomik 79-83 Oikos-Formel 520 Opfer 178 Opferfleisch 438, 440, 442, 444-446, 450 siehe auch Götzenopferfleisch Opfergedanke 162 Opferkult 147 pagane Umwelt, religiöse Vorstellungen 186-192, 196-198, 231235, 238f, 242, 417, 420, 443, 472, 477 Parusie 110, 301, 310, 355f, 361, 363 Passahlamm 170 Passio iusti 162, 165, 172 Paulinischer Traditionskreis 430, 434, 438f, 469, 477f Paulinismus 321-323 Paulus 430, 433, 441-443 – erste Missionsreise 254, 259, 263, 267, 272 – Gefangenschaft 326, 329, 332, 334, 336, 339, 340, 341 Paulusbriefe, Rezeptionsgeschichte 106, 321, 324-341 Pauluspartei 277, 303 Paulusschule 321, 323f Paulustradition 321, 324f, 344f Peripatetiker, peripatetisch 195f, 200 Perlen 479f, 484, 486f
Sachregister Permissive Haltung von Christen gegenüber ihrer griechischrömischen Umwelt 467f Petrus 58, 63, 69, 71, 123, 240, 263, 270f, 282, 303, 306, 430, 432 Petruspartei 240, 277f, 295f, 302, 306 Pharisäer, pharisäisch 20, 45, 47, 114f, 122, 124, 204, 247, 272, 502, 506f Philipperbrief 307-317 Philippi 311 Platon, platonisch, Platoniker 195f, 209, 218f, 236, 341, 396, 400-405, 147 Polyvalenz biblischer Texte, polyvalent 346-348 Prophetie, urchristliche 231f, 236, 447449, 465-467, 471f, 477 Proselyten 443, 492 Proselytentaufe 418 Provincia Galatia 257 Provinzhypothese 257, 259, 265, 267, 269 Pseudepigraphie 347f, 352, 361 Pseudonymie 344, 346 Pseudoprophet 473, 477 Purpur 479f, 482f, 485-487 Pythia 234, 239, 242f Q – Autor 38 – Forschung 37 – Gerichtsbotschaft 33, 38 45-48, 55, 64f – historischer Ort 37 – Literarkritik 38, 51 – Lokalisierung 41f, 63f, 68f – Missionskonzept 61, 63, 68 – Redaktion 37-39, 51, 65-68 – Trägergruppe und Jesusforschung 38, 68 Qumran, qumranisch 243, 416f, 424, 455 Rechtfertigungslehre 249-252, 256, 272f, 275 Redaktionskritische Erforschung des MkEv 75 Redekomposition 39 Reflexionszitat 168 Reich Gottes 43 Reinheits-Tora, mosaische 44f, 58, 77, 95, 114, 304 Religionsgeschichtliche Schule 409, 411f
535
Religionskritik, antike 188-191, 195200, 217-219, 224 Religionskritik, christliche 458 Rhetorik, antike 368 Rhetorik, antike, christlich angewandt 435 Rom 81, 482, 483, 485, 486, 488, 490, 491, 492, 493 Römisches Imperium 472, 473 Romkritik 491 Ruhm vor Gott 309 Sabbat 378-380, 389 Sapientia Salomonis 165 Satan 469, 472-476 Satanserkenntnis 466, 468f, 471, 473f Satanskult 466, 468 Satanssturz 11f, 14-20, 29, 32, 469-471, 473 Schmuck 479, 480, 484, 485 Schrift(bezug) 327, 334, 338, 339, 340 Schuldausgleich 157f Schuldtilgung 150, 157f Schulwesen im antiken Israel 502 Selbstverfluchung 135 Selbstverpflichtung Jahwes 135 Septuaginta 152, 153 Septuaginta Deutsch 153 Septuaginta/Masoretischer Text 152, 154, 166 Sexualregeln 436f, 444 Sinaiperikope 130, 133, 136, 144f Sozialgeschichte, sozialgeschichtlich 79, 506f Sozialisation, religiöse, im Urchristentum 518-520 Soziolekt, christlicher siehe Binnensprache, kirchliche Speise-Tora 119f, 277, 279, 279, 283, 284, 285, 287, 289, 291, 293, 295, 296, 304, 305, 378-380, 384-389, 393,432.,435, 444, 452 Sprache der Engel (Engelssprache) 232, 236f, 243 Sprache, apokalyptische 102 Sprache, biblizistische 114, 116f Stellvertretendes Leiden und Sterben 168f, 178f Stellvertretung 149, 151, 158, 159, 160, 162, 165, 171, 174, 177 Stellvertretungsaussage 157, 172 Stellvertretungsvorstellung 162f Stipulatio 422
536 Stoiker, stoisch 188, 195, 197, 200f, 206, 217f, 314, 403 Strukturen, kirchliche 103, 105, 110f Substanz 241 substanzhaft 240 Süd- und Nordgalatische Hypothese 256 Südgalatische Hypothese 258 Sühne 150 Synagoge des Satans 466 Syrophönizerin 61 Tag des Herrn 307f, 313, 316, 327, 355f Taufakt 414 Taufansprache 413, 415 Taufe 242, 474, 476, 514 Taufgottesdienst 414 Taufliturgie 415 Taufpraxis 409 Taufpredigt 410f, 411 Tauftheologie 409, 478 Tauftradition 410 Tauftypologie 410, 420 Tausendjähriges Reich 474 Taxo 13 Tempel in Jerusalem 26-29, 32, 105, 284, 442 Tempelkult, jüdischer 108, 163, Tempelkult, griechischer, Kritik 218, 220 Tempelprophetie 26 Tempelreinigung 26 Tempelzerstörung 28, 105, 483 Textpragmatik 372-374, 512f Theologie, philosophische 188-190, 197, 217-219, 224f Theologiegeschichte, methodische Probleme 99-101 Theophanie 21, 35 Thessalonicherbriefe 343, 347 Tiefen des Satans 465, 466, 469, 470, 475, 478 Tiefen Gottes 465, 469, 470, 471
Register Tier aus dem Abgrund 472 Tod Jesu, Deutungen 149f Todesprophetie Jesu 34 toragemäß / torawidrig 87 Tradition, Wertigkeit in der Antike 376, 385, 393 Typologie, typologisch 304, 420-425, 454, 462f Überlieferungsprozess 343f Umkehrung der jetzigen Situation nach apokalyptischer Vorstellung 357 Unterhaltsverzicht 309 Unterschicht als Adressaten urchristlicher Bemühungen 225, 510, 523 Väterbund 33 Vätereid(e) 132 Verfasserperspektive 373f Verzögerung, Verzögerungsproblematik 14, 19 Visio dei 137 Vollendung, Vollkommenheitsbewusstsein 280, 286, 289, 290, 292, 293, 477 vordeuteronomisch 133 135 Wehe-Rufe 12, 21, 23f, 41, 46-48, 56, 58, 61, 65, 473, 484 Weltelemente 278, 367, 376f, 384, 388 Werke des Gesetzes 272 Wettkampf als bildspendendes Motiv siehe agonistische Metaphorik Wiedergeburt 410, 412, 414-419, 425 Wohltäter 311f, 315 Zucht als Leitwort altkirchlichen Erziehungsverständnisses 517 Zwei-Fronten-Hypothese (Lütgert) 278, 279 Zwölftafelgesetz 192 Zweites Tier 472, 473
537
Stellenregister (Auswahl)
Stellenregister (Auswahl) Altes Testament Genesis 2,24 14,22 15 17
338 459 133-135, 143, 144 86
3Kgt 16,18f
Exodus 14,31 15,1 19,3-8 20,1-17 20,12 20,19.21 20,22 21,1 23,19 23,32f 24 32,32f 34,15f
462 462 145 140f 338 143f 141 140f 27 77 136f, 142-144 15 445-447
Leviticus 3,17 5,7 17–18 17,7
439 158 430f, 440f, 445, 451f 442, 445
Numeri 25,1f
446f
Deuteronomium 5 6,14f 7 7,6-8 18,15.18 32,4 32,17LXX 32,40LXX 32,43LXX
145f 77 131-133 402 118 461f 457f 459f 455f
Richter 1,7 18,31
83 27
1. Samuel 10,6 2. Samuel 12,20
1. Könige 1Kön 8,16-21.31ff 1Kön 8,41-43
232 27
27 86
75
2. Könige 5,1-19
86
Hiob 1,6-12
15
Psalmen 4,5 8,7 68,19 69,28f 103,3 110,1 113,12LXX [MT 115,4] 122,5 134,15LXX 150,5LXX Jesaja 4,3f 9,7 10,24LXX 12,6 14,13-15 28,11f 30,27f 42,1LXX 43,3f 45,23 49,4 49,1-6LXX 52,13-53,12LXX 52,13-15 52,15LXX 53 53,1-3 53,1LXX 53,4f 53,4MT 53,4LXX
338 339, 340 338 15 78 339, 340 457 33 457 235
15 25 164 16 24, 47 240 30 164 179 337, 340 309 164 155 160 151, 168 149-179 160 151, 167, 169 160 151, 168, 169 151, 162
538 53,5LXX 53,6 53,6LXX 53,7f LXX 53,7 53,8 53,9fLXX 53,10MT 53,11 53,11LXX 53,12 53,12LXX 55,10f 56,10 66,15f Jeremia 1,16 31 (LXX 38), 31-34 5,14; 6,11f Ezechiel 10f 21,36 26–27 26–28 37–40 Daniel 2,22LXX 5,4.23 8,13 8,14 12,1 12,6 12,7 12,11 12,12
Register 151, 162, 176 159, 162 151, 173 151 160 160 151, 156 162 161 151, 162 161 151, 176-178 25 81 30
457 147f 25
27 30 485f 76 474
Frühjüdische und rabbinische Literatur Apokalypse des Zephanja 8 237 11,3; 12,6 237 14,2f 237 Assumptio Mosis 7,1 9,7 10 10,1
13 13 13, 474 16-18
äthiopischer Henoch 14,2 47,3f 49 84,1-3 89,50f.56 90,28-30 92-105 94,1.6.7 96,1.6 97,10 98,16 104,1
237 15 237 237 27 27 12 13 13 13 13 15
4Esra 7,26ff 474 470 457 12 12 15 12 459f 12 12
Zwölfprophetenbuch Hos 2,1 84 Joel 2,28-32LXX 245 Joel 3,4 308 Jon 1,14-16 87 Nah 1,6 30 Zeph 3,14-17 16 Sach 2,14 16 Sach 3,1-4 15 Sach 8,16 338 Mal 3,19 30
1. Makkabäer 8,2
258
2. Makkabäer 2,4-8 6,7 6,12-16
443 442 360
3. Makkabäer 3,17
310
4. Makkabäerbuch 5,2
313 442
Joseph und Aseneth 12,2 419 8,9 402 Josephus Antiquitates 12,5-9 14,258 15,268-279
205f 203 203f
539
Stellenregister (Auswahl) 19,290 20,38-48
202f 281, 287
Bellum 1,108.112 2,174 2,230 6,299f 7,29
204 203 203 27 483
Ps.-Phokylides 31 156f 202
441 83 81
Psalmen Salomos 17,26.43
33
Qumrantexte 4Q40
455
Contra Apionem 1,179f 1,205-212
77 206f
Sibyllinische Orakel 4,125-136; 493 159-161
Vita 427
77
Syrischer Baruch 13,3-19 29f 48,48-50 52,5-7 78,5
Jubiläenbuch 19,9
15
Liber Antiquitatum Biblicarum 19,4 462 20,2 232 Philo De Abrahamo 252
77
De Cherubim 42
201
De praemiis et poenis Quis heres sit 79 Leges allegoricae 1,34f
312f
419
403f
De mutatione nominum 138 201 Quaestiones in Exodum 2,117 397 Quod Deus immutabilis sit 102f 200f De Sacrificiis Caini 15 201 De somniis 1,128
397
360 474 360 360 360
Testamente der Zwölf Patriarchen TestDan 5,10-13 474 TestDan 5,10f 16 TestJud 25,3-5 474 TestLevi 18,10-14 18 TestLevi 18,12 16 TestSim 6,6 18 Testament Hiobs 37,6 47-52 48-50
470 237 232
Tobit 1,6f
25
Weisheit Salomos 2,10-5,23 2,12-20 5,1-6 9,7; 18,13
165 165 165 84
Mischna mAv 3,14 84 mNaz 1,3; 2,5; 3,6 120 Babylonischer Talmud bShabb 33b 492 bTaan 11a 462 R.Aqiba
84
Sifre Dtn § 307
462
540
Register
Griechisch-römische Literatur Aristoteles Nikomachische Ethik B 6, 1106 b 36 197 Zeugung der Tiere 2,6=744b 82 Agatharchides von Knidos
198
Horaz Satiren 2,3,89f
187
Juvenal Satiren 3,62
190
Livius 1,31
187
Lukan 5,161-174 5,208-224
239 239
Chrysipp Fragmenta Moralia 394,16; 408,4
197
Cicero De natura deorum II 72 CIL IV 4976
Lukian Alexander von Abonuteichos 9 195
186f. 493
Philopseudes 37
195
Columella 1,8,6 7,12,3f 12,1.3
187f 81 187
Lukrez De rerum natura 1,62-83 5,1203
198 189
Dio Cassius 61,35,2ff
297
Martial Epigramme 4,44
493
Philostratos Vita Apollonii 1,19
83
Platon Leges 908d-910d 932e-933e
196 196
De re publica 394b-c
400
Phaidon 113d-e
315
Timaios 29d-e 71e-72b
400-402 239
Plautus Amphitrio 323
187
Diodorus Siculus 38/39, 7,1.12
196
Diogenes Laertios 6,24.37f.42.73
194
Epiktet Dissertationes 2,19,19-28 Euripides Bakchen 159 Gellius Noctes Actticae 4,9,1 Homer Odyssee 10,216f 17,809
314
238
187
80 80
541
Stellenregister (Auswahl) Captivi 550 Plinius d.Ä. Naturalis Historia 12, 41f/83-94 13,29-31/91-103 28,5/24 30,1-2/1.7 30,2,7 37,78/204 Plinius d. J. Epistulae 10,96
194
489f 487f 189 189 187 484, 486-488, 490
184f, 442f
Plutarch De superstitione 197, 213f Polybius 6,56,9-12
190f 184
Historien 5,4 5,13
380 184
Theophrast Charaktere 16
193f.
Varro
187
Vergil Aeneis 6,46-51.77-80 6,99-102 12,817
239 239 187f
Neues Testament 189f
Polystrat col. 20b
198
Quintillian Inst. Orat. 3,9,1.6
368f
Seneca De Clementia 2,5,1
185, 187
De superstitione 188f Ep. 108,22
13,32 15,44
191
Soranus von Ephesus Gynäkologie 1,4; 2,80-88 196 Strabo Geographica 16,2,37
198f
Sueton Nero 16
184
Tacitus Annalen 12,59
184, 190f
Matthäusevangelium 5,44f.48 403f 6,1-18 314f 8,17 151, 166, 168 9,9-13 509f 10,5f.23 71, 92 11,25-30 509f 13,52 512 15,24 80 92 15,26f 80 15,28f 80 15,28 74 18,12f 19 21,31 20 23,26 par 21 26,28 146-148 28,18-20 71, 92 28,19f 513, 520f, 523 Markusevangelium 1,21-28 1,9 2,17 3,14f 3,27 6,30-8,21 6,42f 6,45-51 7,24 7,24-30 7,24-30 7,24-37
508 14 16, 19 32 17f 94f 95 95 75, 94f 57, 61, 62, 69 71-96 75
542
Register
7,25-30 7,25f 7,25 7,26b.29b.30b 7,27f 7,27 7,28 7,29f 7,30 7,31-37 8,1-9 8,19 8,20 9,31 10,13-16 10,17-27 10,37 10,45 11,15-16 13,2 14,4 14,25 14,58 16,17
76-79, 87 75 76 76 78, 84, 85, 90 75, 78, 82 75, 79, 83 75, 79 75 95 95 95 95 405f 510f, 523 510 315 179, 405f 25f 26, 29 146-148 31, 34 26, 29 245
Logienquelle 3,7-7,10 3,7-9 3,16f 3,16 3,17 4,1-13 4,1-4 4,5-8 4,9-12 6,20-49 6,20f 6,22f 6,29-30 6,43-46 6,47-49 7,3-9 7,10 7,1-10 7,18-22,30 7,18-23 7,18-35 7,22f 7,22 7,23 7,31-34;11,31f 7,31-35 7,6b 9,57-10,16
65 13, 22, 41, 49, 54, 65 41 13, 30 13 50, 66 51f 52 52 41, 53 16, 52 65 54 54, 65 47, 54, 65 77 89 41, 56, 61, 62, 66, 69 39 49, 65 55 (Fn 64 ?), 65 45 16 16 33 40, 59 58 65
9,57-60 10,10-11 10,12 10,13-15 10,2-16 10,13-15 10,13f 10,15 10,16 10,23f 10,4-12 10,5-7 10,8-12 10,8-9 11,2-4 11,14-16 11,14-23 11,19f 11,31f. 11,39-48 11,39-41 11,42.39b.44 12-31 13,21 13,24-27 13,29.28 13,34f 14,16-24 22,28 22,28-30 Lukasevangelium 1–2 1,1-4 1,4 2,22-24 3,16 4,18-27 6,35f 7,1-10 7,36-50 8,15 10,17-20 10,18 10,20 10,38-42 11,2 11,20 12,8 12,8f 12,10 12,47f.
42, 59, 65 45 65 33 37, 43 41, 46-49, 56, 59, 65 23-26 23-26 48, 61 16 43, 44, 52 44 45 45 52 40, 42, 66 46 17 23 24 45 21 52 80 47 23, 34, 35 26-29, 68 47 60 32f, 64
114f 103 513 117f 244 508 403f 89 510 103 14f 11f, 14-16, 18f, 29, 32, 35 14-16, 18-20, 29, 32 509f 21, 31, 35 16,17, 25, 26, 29, 30, 31, 35 34 33 244 103
543
Stellenregister (Auswahl) 12,49 12,49f 12,50 13,1-5 13,6-9 13,31f 14,15 15 15,4f 15,8f 15,11-32 15,29 18,10-14 18,11f 18,14 19,1-10 19,41-44 21,20-24 22,19f 22,27 22,37 24,36-49
26, 30f 29, 31, 32 30, 31 21-23 22, 23 25 85 20 19 19 20 20 20 20 20f 510 102 102 147f 179 151, 170f 110
Johannesevangelium 1,29.32 170 3,6 416 3,22 14 4,46-54 56f 4,50 59 6,35.48.51 85 12,38 151, 169 Apostelgeschichte 2 2,16-21 2,18 2,20 4,36 7,22 7,47 8,23f 8,32f 10,1-11,18 10,34-36 10,35 10,44-46 11,19-21 11,20f 11,26 12,17 13,13-14,24 13,14ff 13,38f. 13,4-14,26
244 244 245 308 77 516 27 170-172 151 69, 71, 123, 125 63 124 244 62, 69 272 272 263 264 92 120 262
13,46 13,7 13f 14,15-17 14,19 14,23 15,1 15,1-21 15,1-35 15,5 15,10 15,20
15,36-41 16,1 16,1-6 16,3 16,11ff 17,6f 17,22-31 17,32-34 18,1ff 18,2 18,11 18,12-17 18,18 18,23 19,6 20,28 20,29 20,7 20,7-12 21,1-26,32 21,24 21,25 22,3 22,3 23,6; 26,5; 22,3 23,6-8 28,28
91, 92 267 259, 263 113f. 117 267 103 119, 269 125 263 122, 269 120 111, 125, 431f, 438, 452 430 431, 433 111, 125, 431-433, 438, 452 262f 450 263 115f 92 285 117, 217-220 220 92 77, 299 262 296 120 263 245 103 105f 111 519 221-223 120f 442 507 516 247 114 92
Römerbrief 1,1.5 1,16 1,18-3,20 2,9f 2,16 2,18 2,26-28 2,28f
72 91-94 273 93 316 515 313f 249, 314
15,21 15,28 15,29
544
Register
3,21-4,25 3,22f; 10,12 3,27f 4,25 5,1-8,39 5,15-19 7,22 8,32 8,38f 9,32 10,7 10,9 10,12 10,13 10,16 11,25-27 12,1-15,13 13 13,3f 14,6 15,16 15,21 15,25 15,25-27 16,23
273 248 274 176f, 405f 273 166 236 405f 469 274 520 85 85 245 151, 167, 168 148 273 311 311 385 72 151, 168 260 260 261
1. Korintherbrief 1-4 1,8 1,12 1,13 1,16 5 1,18.23 2,2 2,10 3,8 4,5 4,7 7,19; 10,25f 8,4-6 8-10 9,6 9,25 10,3f 10,19 10,30f 11,2 11,2ff 11,5 11,25 12,1 12,2f 12,3 12,13
277 308 302 242 19 268 268 465f, 469 314 314, 315, 316 317 249 466, 473 304 263 309 241 458 385 397 233 233 147 241 233 85, 231 241, 248
12,23 12-14 13,1 14,6 14,7 14,14-19 14,18 14,19 14,21ff 14,23 14,26 15,3 15,3-5 15,23 15,29 15,55f 16,1 16,3
292 231, 236 235f 231 235 236 239 515 239 236 231 161, 174f 32, 35, 511, 524 308 242 274 259, 261 260f
2. Korintherbrief 1,14 3,4-18 5,10 6,14-7,1 8,10; 9,2 8,16-9,5 11,10 11,22 11,25 12,12 13,3
308, 316 305 316 478 261 261 309 295 267 240 232
Galaterbrief 1,1 1,6 1,6-9 1,6-9; 3,1; 5,3 1,14 1,15f 1,16 1,18 1,23 2,1-10 2,1-3.9 2,1f 2,1 2,2 2,2f 2,3 2,3-5 2,5 2,6 2,7 2,8
261, 266 266 268 256 247 261, 265 72 254 265 287 272 265, 267 254 309 272 89, 267 269 247, 266, 268 272 89 89
545
Stellenregister (Auswahl) 2,9 2,10 2,11-14 2,12.14 2,13f 2,14-21 2,14 2,15-21 2,15-17 2,16 2,19 3,1-4,7 3,1 3,3 3,5 3,28 4,3.8f 4,12-20 4,13 4,13f 5,3 5,6 5,13-6,10 5,13ff 6,1 6,6 6,6-10 6,13 6,15 6,17
91, 267, 271 89, 259-261, 263 247, 249, 263, 265f, 270, 272, 287 268 267 270 247, 266, 268 268 271 270, 272, 274 266 268, 274 266, 268, 271 286 245 248 233 265 263, 267 264 269, 287 249, 273 272 289 241 515 260 288 249 247
Epheserbrief 1,1 1,20 1,20-22 1,4 2,11 2,11-22 2,14-18 3,1 3,2 3,14f 4,1 4,8 4,25f 5,1 5,3-14 5,31 6,1-4 6,2 6,4 6,10-17 6,11
398 337 336, 469, 476f 402, 405 337 338 71 336 336 337 336 338 338 337 406f 338 504f. 516f, 523 338 517, 522, 524 477 477
6,20 6,21
336 336
Philipperbrief 1,3-11 1,5; 3,10 1,11 1,15-18 1,19 1,21 1,28 1,7.13.14.17 1,6.10; 2,16, 4,5 2,1 2,9f 2,9 2,10f 2,10 2,12-18 2,15 2,16 3 3,2-7 3,5 3,10 3,10-12 3,12 3,13-15 3,17-21 3,18 3,19 3,19-21 3,21 4,1 4,15 4,8
307-317 307 327 309 247 327 332 358, 359 326 327 327 338-341 336 327 337 309 327 316 327 290 247 281, 327 514 280 293 291 292-294 281 339-341 281, 336, 338 309 265 310
Kolosserbrief 1,1 1,11 1,15-20 1,16 1,20 1,24 1,28 2,1-5 2,1 2,2 2,4 2,6-23 2,8 2,9-15 2,11 2,12f
331 331 367 334 334 331f, 334, 397 334 367 331, 333 405 375, 377, 390 366-369, 372, 388-390 333, 375-377, 390 389, 393, 476f 333, 334, 337, 379 334
546 2,15 2,16-19 2,18 2,20-23 3 3,1-4 3,1 3,2 3,4 3,11 4,3 4,7 4,12 4,18
Register 469, 476 378-383, 390 373 383-387, 390f 514 367 331, 333, 369 331 331, 332 248 332 332 332 331f
1. Thessalonicherbrief 1,3 274 1,4 357, 358 1,6 353 1,6f 399 1,10 273 2,14 399 2,19 316 2,19 308 2,19f 310 3 354 3,3 354, 357 3,5 309 3,13 308 4,13-17 350, 355, 362, 363 4,15 208 5,1-11 350, 356, 362, 363 5,19 241 5,28 308 2. Thessalonicherbrief 1,3-12 349, 362, 363 1,5 359 1,6f 357, 359 1,7-8 360 2,1-12 349, 362, 363 2,1f 360 2,2 348, 350, 359,362 2,2f 349 3,2 147 1. Timotheusbrief 3,15 4,2-4
507 385
2. Timotheusbrief 2,18 3,11
469, 476 267
Titusbrief 3,5
416
Hebräerbrief 2.4 9,28 12,4-13
245 177, 178 517
1. Petrusbrief 1,1 1,3 1,3-12 1,3f 1,22f 1,23 2,1-3 2,2 2,3 2,14 2,19 2,22 2,24 2,25 3,16 3,18 3,20f 3,21
420 410, 415 417 417 418 410, 415, 419 418, 419 410, 416 419f 311 424 151, 172f 151, 172f 173 424 172 410, 419 421, 423
Judasbrief 6ff
393f
Offenbarung 1,19 2,12-17 2,14f 2,14 2,17 2,18-29 2,20-23 2,20 2,21 2,22 2,24 4,1 6,9-11 6,10 7 9,20 10,5f 11,1f 12,7-10 12f
472 477 467f 111, 434-436, 438, 443, 446f, 452 443 467f, 477 443, 447-451 434-436, 438, 446f, 452, 465, 473 471 435f, 448 465, 470, 473 472 475f 454-456 450 456-458 458-460 442 15 472f
547
Stellenregister (Auswahl) 15,3f 16,5 17,4 18,12-14 19,2 19,11-22,5 19,20 20,1-3 21,1-22,5
460-463 462 482-485 485-491 455f 473-476 473 471 485 492
Altkirchliche Literatur Ambrosius Lc. 3,26
Evangelium Veritatis NHC I/3 p. 22,25f 470 Hippolyt ref. V 6,4
470
Ignatiusbriefe IgnMagn 8,2 IgnMagn 9,1 IgnMagn 9,3 IgnMagn 10,1
108 520 108 520
Justin Apologien 1. apol. 1. apol. 66 2. apol 3,5
103 109f 209
211
Barnabasbrief 5,6 5,7 5,10.11 13,1 16,2
109 108 109 108 108
2. Clemensbrief 9,1-5
109
Clemens von Alexandrien stromata 6,41,2f.6 108 Protrepticus 2,25,1
Thomasevangelium 52 108
209f
Didache 6,2f 8,1
444 108
Diognetbrief 1,1 3,2
211f 212
Epiphanius haer. 48,11,9
232
Petrusevangelium 2/4; 5/15
108
Dialog mit Trypho 34,3f 444 67,2 110 72,1-73,6 108 Minucius Felix 1,5; 9,2; 25,8 33,2 38,7
210 211 190
Origenes Cels. VII 41
211
Pseudoclementinische Homilien H VII 4,2f 429-433 H VIII 1f 429, 432 Tatian Or. 22
209
Tertullian adv. Marc. I 9,2 II 18,3
210 211
apol. 6,8, 24,2
210
548
Register
Autorenregister Achtemeier, P.J. 412, 415, 418, 419, 420, 422, 423,424 Aejmelaeus, L. 282, 356 Agersnap, S. 409 Aland, B. 74, 80, 158, 355 Aland, K. 80, 74, 158, 355 Aland, K. und A. 375, 397 Albertz, R. 139, 214 Alexander, Ph.S. 250 Alkier, S. 328 Allison, D.C. 38, 47, 314 Alvarez, D. 285 Anakarloo, B. 185, 192, 214 Andresen, C. 105 Andrews, A.C. 80 Arbandt, S. 332 Arbesmann, R. 379 Arnold, C.E. 366 Asskamp, R. 479, 480, 493 Attridge, H.W. 188, 189, 195, 197, 198, 201 Aubin, M. 215 Aune, D.E. 439, 456, 457, 460, 465, 477 Avemarie, F. 250, 409 Bachmann, M. 271 Back, F. 416 Baentsch, B. 130, 138, 140 Bailey, D.P. 154 Baldermann, I. 499 Ballhorn, E. 454 Baltzer, K. 130, 180 Balz, H. 214 Barbaglio,G. 235 236 Barclay, J.M.G. 211, 241, 249, 314, 370, 371 Barnbrock, C. 101 Barnett, E.A. 343 Barth, G. 417, 418, 514 Barth, K. 248 Bassler, J. 360 Bauckham, R. 262, 486, 488, 489, 490, 491 Bauer, T.J. 474, 478 Bauer, W. 80, 158, 161, 181, 182, 321, 322, 355, 375, 376, 380, 384, 386, 397 Baum, A.D. 344 Baumann, E. 454 Baumeister, T. 354 Baumgart, N.C. 92 Baur, F.C. 277, 321, 322
Beale, G.K. 453, 455, 456, 457, 460, 461, 462 Beard, M. 185, 188, 189, 191, 192, 207 Beck, A.B. 460 Becker, E.-M. 248, 364 Becker, J. 17, 18, 19, 67, 146, 241, 244, 256, 260, 269, 271, 272, 279, 281 Becker, M. 214, 215 Beckwith, J.T. 470 Behlke, K. 257 Behm, J. 238 Beintker, M. 252 Bell, G.K.A. 501 Bellinger Jr., W.H. 155 Benko, S. 183, 184 Benviste, É. 186 Berchmann, R.M. 209 Berger, K. 111, 280, 370, 465 Bertram, G. 220, 501, 516 Bethge, H.-G. 108 Betz, H.D. 195, 213, 214, 256, 259, 269, 271, 315, 416 Beyerlin, W. 130 Billerbeck, P. 80 Bird, M.F. 47 Bitter, G. 505 Blank, J. 502, 504 Blaschke, A. 270, 290 Blaß, F. 80 Bleek, F. 242 Blum, E. 138, 139 Blume, H.-D. 194 Bockmuehl, M. 309, 430 Böcher, O. 440, 485 Böhler, D. 153, 154, 454 Böttrich, C. 53, 211 Böttrich, J.M. 211 Bohne, G. 501 Boismard, M.-É. 433 Bolkenstein, H. 193 Borchhardt, J. 81 Borgen, P. 287 Bormann, L. 331, 335 Bornemann, W. 413, 414 Bornkamm, H. 516 Borse, U. 269 Botermann, H. 264 Botterweck, G.J. 80 Bousset, W. 465 Bovon, F. 513 Brändl, M. 204, 309, 316
Autorenregister Brakmann, H. 512, 513, 518, 521 Brandis 257 Brandy, D. 214 Bratcher, R.G. 453 Braumann, G. 113 Braun, H. 213 Brenk, F.E. 217, 218, 219 Breytenbach, C. 90, 107, 113, 172, 173, 281, 286 Brock, S. 153 Brodie, T.L. 331, 346 Broer, I. 100, 106, 410 Brouwer, M. 479 Brox, N. 173, 215, 419, 513 Bruce, F.F. 256, 258, 270 Brucker, R. 14, 25, 40 Büchsel, F. 416, 425 Bühlmann, W. 499 Bühner, J.A. 48 Bürchner, L. 257 Büttner, G. 345 Bujard, W. 397 Bull, K.-M. 86 Bultmann, R. 76, 78, 99, 321, 322, 323, 501 Burchard, Chr. 266, 272, 402 Burnett, A. 258 Busch, P. 215 Busse, U. 118 Bussmann, C. 113 Byrskog, S. 511 Caird, G.B. 329 Calderone, S. 190 Cancik, H. 119, 204 Carson, D.A. 250, 410, 453 Catchpole, D.R. 57, 58, 59, 60 Charles, R.H. 465 Charlesworth, J.H. 100 Chester, St.J. 236 Choi, S.B. 232 Christes, J. 498, 502 Christianssen, J. 479 Christophersen, A. 244 Clark, S. 185., 192, 214 Classen, C.J. 207 Cohen, S.J.D. 266 Collins, D. 192 Collins, R.F. 347, 358, 359 Colson, F.H. 201 Colwell, J.E. 420, 424 Connolly, A.L. 80 Contra, E. 250
549
Conzelmann, H. 105, 112, 113, 118, 233, 396 Cordier, L. 501 Cornelius, P. 380 Cranfield, C.E.B. 176 Crenshaw, J. 505 Cross, A.R. 420 Cross, F.L. 414 Crossan, J.D. 42, 509 Daniélou, J. 414 Das, A.A. 270 Dassmann, E. 73, 505 Dauer, A. 271 Dautzenberg, G. 236, 237 Davies, G. 81 Davies, W.D. 249, 314, 448 De Wette, W.M.L. 422 De Witt Burton, E. 256, 269 Debrunner, A. 80 Deines, R. 431, 439, 450 Deißmann, A. 310, 501 Delafosse, H. 104 Delekat, F. 501 Delkurt, H. 146 Delling, G. 30, 31, 214 Delobel, J. 38, 43, 233 Denova, R.I. 114 Detges, U. 326 Dibelius, M. 217, 218, 219 Diebner, B.J. 237 Dillmann, A. 146 Dillon, J.T. 502 Dimpflmaier, A. 503 Dinkler, E. 410 Dodd, C.H. 501 Döpp, S. 498 Doering, L. 150 Donfried, K.P. 354 Dozeman, Th.B. 139 Drecoll, V.H. 248 Drews, W. 518, 520 Du Toit, D.S. 107 Dübbers, M. 366, 377 Dunderberg, I. 282 Dunn, J.D.G. 176, 249, 251, 253, 260, 270, 382, 385 Easterling, P.E. 239 Ebel, Eva 312 Ebner, M. 11, 12, 17, 18, 45, 115, 195, 263, 410, 434, 463 Eckey, W. 329 Eerdmans, B.D. 133
550 Egelhaaf-Gaiser, U. 503 Ego, B. 503, 505, 506, 511, 519, 520 Eichrodt, W. 130, 131 Eisen, U. 211 Ekblad, E.R. 156 El Khoury, N. 213 Eliade, M. 400, 405 Elliger, W. 217, 297, 300 Elliott, J.H. 410, 412, 413, 415, 419, 420, 422, 423, 424 Engel, H. 154 Erlemann, K. 80, 90, 104, 196, 500 Ernst, J. 113, 397, 511 Ernst, W. 343 Esler, Ph.F. 244, 271 Essig, K.-G. 105 Euler, K.F. 156 Evans, C.A. 100 Fabry, H.-J. 153, 154, 454, 492 Fander, M. 76 Farmer, W.R. 155 Fascher, E. 163 Faßbeck, G. 196 Feldman, L.H. 211 Feldmeier, R. 73, 78, 86, 100, 172, 173, 412, 416, 417, 418, 419, 420, 421, 423 Fellmeth, U. 79, 80, 83 Finsterbusch, K. 505, 506 Fischer, G. 154 Fischer, H.G. 81 Fischer, K.M. 282 Fitzmyer, J.A. 100, 176 Fleddermann, H.T. 38, 40, 42, 58, 59, 64, 66 Förster, N. 215 Forbes, Ch. 237 Fotopoulos, J. 447 Fox, K.A. 443 Francis, F.O. 382 Francis, J. 418 Frankemölle, H. 413, 419, 424, 518, 519 Frateantonio, C. 186 Frenschowski, M. 41, 64, 214 Frey, J. 172, 174, 175, 177, 253, 261, 262, 406, 431, 453, 474 Fridrichsen, A. 314 Friedlaender, L. 481, 484, 489 490, 491 Friedrich, G. 281 Friedrich, J. 281 Friesen, St.J. 234 Frohnes, H. 517 Fürst, A. 520 Fürst, D. 516
Register Fuhrmann, S. 178 Fung, R.Y.K. 260 Gäckle, V. 442 Gamberoni, J. 139 Ganser-Kerperin, H. 123 García Martínez, F. 455, 459 Garleff, G. 444 Garrett, S. 215 Gärtner, B. 217 Gathercole, S.J. 271 Gauger, J.-D. 493 Gebauer, R. 171 Geerlings, W. 498 Gehrke, H.-J. 311 Gemeinhardt, P. 503, 506, 507, 518 Gempf, C.H. 263 Georgi, D. 260, 261, 281 Gerber, C. 204, 208 Gerhards, A. 505 Gertz, J.-C. 134 Gese, H. 134 Gielen, M. 410 Given, M.G. 217 Glover, R. 111 Gnilka, J. 76, 78 , 265, 396 Görgemanns, H. 180 Goldschmidt, L. 492 Goppelt, L. 173, 175, 176, 413, 416, 419, 423 Gordon, R. 192, 215 Gräßer, E. 119, 178, 252, 513 Graf Reventlow, H. 201 Graf, F. 196 Grassi, J.A. 502 Graupner, A. 133, 135, 138, 139, 142, 143, 145, 146 Gray, P. 188, 193, 196, 197,198, 201, 205, 207, 210, 214, 219 Greeven, H. 85, 217 Gregg, B.H. 54 Gregory, A. 102, 104 Grethlein, Chr. 499 Grodzynski, D. 186, 187, 188, 189, 190, 208 Grouzel, H. 213 Grundmann, W. 309 Grypeou, E. 443 Gunneweg, A.H.J. 138 Gunther, J.J. 366 Gutherie, D. 410 Guttenberger, G. 449, 448, 468 Gzella, H. 195
Autorenregister Haag, H. 150 Haacker, K. 253 Haarmann, V. 86 Haenchen, E. 217, 222 Härle, W. 96 Hagene, S. 114 Hagner, D.A. 249 Hahn, F. 72, 91, 93, 100, 253, 275, 511, 515, 520 Halbe, J. 130 Hanhart, R. 155, 180 Hansen, G.C. 206, 207 Harl, M. 152 Harland, Ph.A. 443 Harmening, D. 214 Harnisch, W. 86 Hartenstein, J. 147 Hartmann, L. 358, 411, 415, 424 Hatina, T.R. 346 Haupt, E. 396 Hayes, M.A. 420 Hays, R.B. 327, 328 Hebel, U.J. 328, 329 Heckel, Th.K. 101, 343 Heckel, U. 73, 106, 256, 259, 261, 329, 410 Heil, Chr. 66, 442 Heil, J.P. 356 Heiligenthal, R. 443 Heinrici, C.F.G. 242 Heitmüller, W. 72 Helm, R. 493 Hemer, C.J. 263, 448 Hengel, M. 72, 90, 99, 154, 155, 162, 163, 164, 165 ,181, 247, 253, 267, 272, 448, 450, 453, 507, 508 Henrichs, A. 234, 238 Hepding, H. 234 Herion, G.A. 130 Hermisson, H.-J. 149, 156, 157, 159 Herron, Th.J. 104 Herzer, J. 211 Heszer, C. 502, 518 Heusler, E. 121 Hilgenfeld, A. 348 Hill, D. 231, 422 Hiltbrunner, O. 44 Hirsch, E. 281, 288 Hirschberg, P. 448 Hirschmann, V.-E. 450 Hoffmann, P. 11, 27, 40, 41, 66, 99 Hofius, O. 161, 166, 173, 174, 175, 176, 178, 243, 268, 313 Holland, G.S. 359
551
Hollenbach, P.W. 18 Holtz, T. 170, 171, 310, 351, 353, 354, 355, 356 Holtzmann, H.J. 348 Holzberg, N. 198 Holzinger, H. 140, 143 Hooker, M. 390 Hoppe, R. 147 Horbury, W. 249 Horn, F.W. 112, 239, 240, 241, 242, 244, 245, 263, 266, 445, 468 Horsley, G.H.R. 80 House, W. 238 Houtman, C. 459 Hübner, H. 253, 396, 398, Hübner, R.M. 105 Hünemörder, Ch. 489 Hünermann, Chr. 80, 81 Hunn, D. 270 Hurtado, L.W. 260 Huther, J.E. 422, 423 Ihm, S. 81 Ilan, T. 204 Jacobson, A.D. 38, 42 Janowski, B. 149, 150, 154, 156, 157, 161, 174 Janowski, J.Ch. 174 Jegher-Bucher, V. 270 Jenkins, F. 453 Jenni, E. 308 Jentsch, W. 501, 502, 504, 517, 520, 524 Jeremias, J. 21, 22, 23, 139, 176, 471 Jervell, J. 113, 114, 116, 119, 161, 172, 216, 218, 219, 222 Jewett, R. 176, 313, 347 Jörns, K.-P. 150 Jones, A.H.M. 257 Joosten, J. 214 Jülicher, A. 23, 72, 78, 80, 81, 83, 85 Jüngel, E. 248 Jürgens, B. 259 Kabiersch, J. 180 Käsemann, E. 94, 176, 260, 281 Kaiser, U.U. 108 Kalms, J.U. 205, 207, 215 Kampling, R. 508 Karrer, M. 101, 153, 154, 158, 162, 169, 173, 178, 179, 436, 445, 464, 472, 476 Kato, Z. 76, 77 Keel, O. 81 Kenzler, H. 479
552 Kertelge, K. 75, 76, 77, 343 Khoury, A.Th. 518 Kiley, M. 330 Kim, S. 253 Kippenberg, H.G. 214 Kittel, G. 514 Klän, W. 101 Klauck, H.J. 76, 77, 78, 79, 81, 85, 185, 215, 217, 220, 434, 442, 466, 502, 517 Klauser, Th. 80 Klein, G. 301 Klein, H. 105, 111, 112, 113, 170 Klein, R. 482, 498, 502 Kleinknecht, H. 190, 243 Kleinschmidt, F. 446 Klinghardt, M. 99, 102, 114, 120, 429, 430, 437, 439, Kloppenborg, J.S. 38, 40, 42, 51, 64, 66 Klutz, T.E. 215 Knauber, A. 515, 516 Knauf, E.A. 450 Knorr, U.W. 517 Koch, C. 130, 132 Koch, D.-A. 51, 76, 77, 166, 167, 168, 169, 173, 176, 240, 263, 265, 328 Köhler, L. 131 König, R. 484, 487, 488, 489, 490 Köpf, U. 214 Koester, H. 292, 321, 323, 324, 354, 356, 357, 358, 361 Koets, P.J. 193, 194, 197, 201, 202, 208 Köves-Zulauf, T. 189 Kollmann, B. 17, 215, 262 Konkel, M. 133, 139, 140, 143, 144, 145, 146 Konradt, M. 244, 308, 316 Kosala, K.C.P. 410 Kraetzschmar, R. 130 Kraft, H. 465, 466, 491 Kratz, R.G. 141 Kraus, W. 26, 101, 117, 118, 150, 152, 153, 154, 158, 163170, 171, 176, 179, 430, 445, 454 Kremendahl 269 Kreuzer, S. 95,134, 153 Kroeger, C. 233 Kroeger, R. 233 Krüger, A. 174 Kügler, J. 372 Kümmel, E.G. 311 Kümmel, W.G. 100, 106, 112, 253, 279 Kunst, C. 188 Kuss, O. 176 Kutsch, E. 130, 132
Register Labahn, M. 105, 188, 214, 215 Labuschagne, C.J. 454 Lähnemann, J. 370 Lamouille, A. 433 Lampe, P. 147, 349, 477, 507, 518, 520 Landmesser, Chr. 273 Lang, F. 281 Lang, J. 326 Lange, A. 450, 492 Latte, K. 187 Lattke, M. 377 Laub F. 347 Lausberg, H. 368 Lausberg, M. 188, 210, Lautenschlager, M. 356 Leaney, A.R.C. 415 Leenhardt, F.J. 176 Légasse, S. 353, 354, 355, 356, 418 Lehmeier, K. 82 Lehnert, V.A. 107 Lemaire, A. 131 Lémonon, J.-P. 254, 256, 268 Leppä, O. 330 Lesch, J.P. 153 Levick, B. 257, 264 Levin, C. 132, 141 Lichtenberger, H. 119, 204, 492, 518 Lichtenberger, H.P. 174 Liddell, H.G. 80, 237, 292, 423 Lincoln, A.T. 396 Lindars, B. 390 Lindemann, A. 28, 33, 41, 51, 64, 90,105, 106, 112, 236, 238, 248, 274, 301, 322, 348, 358, 470, 507 Livingstone, E.A. 105, 418 Loader, W.R.G. 120 Löhr, H. 435, 443, 442 Lövestam, E. 39 Lohfink, G. 109 Lohmeyer, E. 265, 327 Lohse, E. 261, 385, 386, 453, 500 Lona, H.E. 210, 211, 212 Longenecker, R.N. 256 270 Loth, H.-J. 81 Luchesi, B. 214 Luck, G. 185, 186, 188 Lüdemann, G. 282, 297, 321, 322 Lührmann, D. 39 ,45, 51, 59, 60, 89, 183, 184, 185, 280, 370 Lütgert, W. 278 Lüth, Chr. 498, 502 Lumpe, A. 80 Lupieri, E.F. 461 Lust, J. 436, 454, 459
Autorenregister Luther, M. 74 Luz, U. 25, 28, 31, 40, 52, 58, 59, 85, 168, 169, 256, 314, 330, 335, 396, 512, 513, 521 MacDonald, D.R. 331, 346 Macheiner, W. 332 Magie, D. 257 Maisch, I. 366, 369, 380, 392 Malherbe, A.J. 353, 356 Manson, T.W. 42, 239 Marguerat, D. 325 Markschies, Chr. 451, 503 Martin, D.B. 183, 189, 193, 195, 197, 208, 215 Martyn, J.L. 256, 260, 261 Marxsen, W. 51, 112, 348, 353, 356 Massey, P.T. 233 Massyngberde Ford, J. 461 Matera, F.J. 256 Mathy, D. 337 Mauerhofer, A. 497 Mayer, C. 99 Mayordomo, M. 54 Mc Mullen, R. 185 McCarthy, D.J. 130, 138 McDonough, S.M. 453 McGarry, E.P. 460 McKnight, S. 266 Meeks, W. 382 Meinertz, M. 39 Meinhold, A. 135 Meiser, M. 105, 153, 171, 257, 432, 444 Meißner, S. 430 Mell, U. 79, 86, 190 Mendenhall, G.E. 130 Merk, O. 101, 515 Merkel, H. 503, 505, 506, 511, 519, 520 Merklein, H. 301, 469, 477 Merz, A. 14, 26, 147, 179, 344, 345, 346, 508, 515 Mette, N. 510 Metzger, B.M. 151 Metzger, M. 518, 520 Metzger, P. 350, 353 Metzner, R. 267, 297, 300 Meyer, B.F. 234 Michaels, J.R. 415, 416, 422, 424 Michel, O. 176 Migne, J.-P. 234 Milligan, G. 310 Mitchell, S. 257, 258, 259, 263, 264 Mitford, T.B. 267 Mittelstaedt, A. 101, 102, 111
553
Mittmann-Richert, U. 170, 171 Moo, D.J. 410 Moreau, A. 234 Morris, L. 410 Moulton, J.H. 310 Mount, C. 102, 103, 104 Moyise, S. 328 Mrázek, J. 268 Müller, K. 99, 430 Müller, M. 102, 104 Müller, P. 40, 335, 503 Müller, U.B. 11, 15, 16, 21, 35, 73, 78, 99, 112, 232, 245, 265, 277, 283, 292, 294, 307, 309, 337, 355, 356, 362, 463, 465, 466, 476, 478, 480, 483, 491, 507, 510 Müller-Fieberg, R. 437, 443 Muir, J.V. 239 Munnich, O. 153 Murphy-O’Connor, J. 254 Mußner, F. 11, 25, 256, 269, 335, 396 Muth, R. 187, 190, 191 Nauck, W. 217 Neirynck F. 38, 40, 50 Nesselrath, H.-G. 195, 196 Nestle, Eberhard 74 Nestle, Erwin 74 Neudorfer, H.-W. 344 Neumann, J. 196 Neumann-Holzschuh, I. 326 Neymeyr, U. 209, 519 Nicholl, C. 351, 356, 359 Nicholson, E.W. 138, 139, 140 Nichtweiß, B. 100 Nickelsburg, G.W.E. 13 Nicklas, T. 432 Niebuhr, K.-W. 100, 281 Niederwimmer, K. 444 Nock, A.D. 117, 417 Nötscher, F. 130 Nolland, J. 106 North, J. 185, 188, 189, 191, 192, 208 Noth, M. 131, 138, 140 O’Brian, P.T. 250 O’Connor, M. 140 O’Neill, J.C. 102 Ochel, J. 507, 514 Öhler, M. 262, 263, 431 Oeming, M. 135 Oepke, A. 310, 501 Offerhaus, U. 153, 154 Ollrog, W.-H. 323
554 Omerzu, H. 112 Ostmeyer, K.-H. 57, 415, 418, 420, 421 Oswald, W. 141 Otto, E. 131, 137, 139 Otto, W. F. 187 Paesler, K. 26, 27 Palmer, Chr. 501 Parker, D.C. 459 Pasquato, O. 512, 513, 520, 521 Patsch, H. 176 Paul, E. 498 Paulien, J. 453 Paulsen, H. 108, 210 Pearson, B.A. 41 Pedersen, S. 287 Peerbolte, B.J.L. 188, 214, 214 Perdelwitz, R. 411, 414, 415 Perlitt, L. 131, 132, 138, 139 Pervo, R.I. 101, 103 Pesch, R. 73, 75, 76, 77, 85, 94, 115 Petersen, J.H. 400 Petersen, S. 147 Peterson, E. 100 Pezzoli-Olgiatti, D. 214, 215 Philip, F. 241 Phillips, A. 139 Pietersma, A. 153 Pilhofer, P. 112, 248, 293, 312, 376, 520 Plümacher, E. 118 Pohlenz, M. 197 Pokorný, P. 106, 109, 111, 256, 259, 261, 329, 330, 334, 335, 338, 396, 410 Polag, A. 40, 42, 51 Popkes, W. 406, 419 Poplutz, U. 309, 313, 315 Porter, J. 201 Porter, S.E. 215, 331, 346, 420 Powers, D.G. 176 Pratscher, W. 431, 507 Preisker, H. 413, 414, 415, 421, 422 Preuß, H.D. 133 Price, S. 185, 188, 189, 191, 192, 193, 207, 239 Prigent, J. 486 Rabens, V. 241 Radl, W. 113, 114 Räisänen, H. 253, 255, 270, 443 Rahlfs, A. 180, 181 Rahn, H. 368 Ramsay, W.M. 257, 258 Randy, D. 215 Ratschow, C.H. 214
Register Rau, E. 11, 20, 21, 23, 38, 41, 45, 47, 53, 62, 66, 67, 68, 272 Rau, G. 95 Rebell, W. 497, 503, 511, 524 Rehkopf, F. 80 Reimer, A.M. 215 Reinhardt, R. 213 Reinmuth, E. 86, 113, 349, 350, 352, 353, 356, 357, 358, 500 Reiprich, T. 211 Reiser, M. 11, 24, 41, 43, 49, 67, 68 Renaud, B. 139 Rengstorf, K.H. 72, 251, 255 Restle, M. 257 Ribbat, R. 195 Richard, E. 353, 356, 358 Richards, G.C. 422 Richter, D. 479, 493 Riesner, R. 353, 356, 501, 502, 507, 508, 509, 510 Ringe, S.H. 78 Ringshausen, G. 92 Riniker, Chr. 21, 23, 24, 29, 41, 54, 68 Ripat, P. 197, 215 Rius-Camps, J. 114 Robinson, J.M. 321, 323 Rösel, M. 154, 446 Roloff, J. 74, 112, 161, 172, 179, 349, 385, 436, 465, 503, 512 Roose, H. 345, 346, 347, 348, 349, 475, 477, 478 Roskovec, J. 268 Ross, R. 187, 188 Rühle, O. 411 Rüterswörden, U. 130, 131, 146 Rufener, R. 315 Rupp, H. 503, 515 Ruppert, H.-J. 214 Ruppert, L. 162 Ruprecht, E. 139, 162 Rusam, D. 115, 117, 123 Russel, L.M. 78 Saebo, M. 154 Sänger, D. 190, 244, 261, 266, 268, 269, 274, 464 Safrai, S. 184 Saldarini, A.J. 247 Sallares, R. 490 Sals, U. 449 Sanders, E.P. 234, 249, 250, 251, 255 Sanders, P. 454 Sandnes, K.O. 291 Sapp, D.A. 155
Autorenregister Satake, A. 435, 455, 458, 460, 467 Sato, M. 24, 38 Schäfer, A. 503 Schäfer, G. 190, 205, 211 Schäfer, P. 119, 204 Schäfer, R. 254, 256, 259, 260, 263, 264, 267, 271 Schaller, B. 237 Scheilke, Chr.Th. 503 Schelkle, K.H. 416, 423 Schenk, W. 42, 309, 422 Schenke, H.-M. 108, 282 Schenke, L. 73, 75, 76, 77, 78, 91, 92 Schenker, A. 149 Scherberich, K. 195 Schewe, S. 261 Schiffner, K. 114 Schimanowski, G. 205, 206 Schlegel, J. 253 Schleiermacher, D.F.E. 239 Schlier, H. 176, 256, 270, 271, 396, 399, 470 Schlund, Ch. 170, 446 Schmal, S. 183, 190 Schmalenberg, G. 99 Schmeller, Th. 323, 324, 352, 498 Schmid, I. 366, 372 Schmid, K. 134 Schmid, K.A. 501 Schmidt, H. 366, 372, 503 Schmidt, K.H. 259 Schmidt, L. 138, 139, 140, 145 Schmidt, W.H. 131, 135, 139, 140, 143, 144, 146, 148 Schmied, W. 500 Schmithals, W. 147, 278, 292 Schnabel, E.J. 235, 236, 238, 245, 344 Schnackenburg, R. 169, 518 Schneider, H. 483, 488, 490 Schnelle, U. 100, 107, 112, 113, 235, 251, 253, 258, 262, 275, 279, 344, 348, 349, 409. 410, 419, 498 Schöllgen, G. 105 Scholder, K. 277, 321 Scholten, C. 209 Schoon-Janßen, J. 327 Schottroff, L. 51 Schowalter, D.N. 234 Schrage, W. 233, 235, 239, 301, 442, 514 Schreiber, S. 112, 115, 263, 410, 434, 463, 464 Schröder, B. 498 Schröger, F. 178, 410
555
Schröter, J. 14, 147, 172, 25, 40, 45, 51, 66, 90, 107, 108, 268, 406, 502, 508, 509 Schürer, E. 447 Schüssler Fiorenza, E. 466, 449 Schulz, S. 40, 51, 58 Schwartz, D.R. 119 Schweitzer A. 26, 251, 251 Schweitzer, F. 498, 499 Schweizer, E. 314 Schwemer, A.M. 253, 267, 272, 450 Schwertheim, E. 257 Schwienhorst-Schönberger, L. 140, 144 Schwindt, R. 337 Scott Fitzgerald, F. 328 Scott, R. 80, 237, 292, 423 Scriba, A. 355 Scurlock, J.A. 214 Seebass, H. 132, 134, 135, 136 Seeberg, A. 512 Seeligmann, I.L. 155 Seely, D.R. 460 Seidl, T. 140 Seland, T. 447 Sellin, G. 51, 201, 274, 335, 337, 338, 397, 398 Selwyn, E.G. 410, 421 Shellard, B. 101, 103, 112, 121 Sherk, R.K. 257 Sieffert, F. 254, 260, 269, 270 Sigismund, M. 80 Simon, E. 81 Simon, M. 430 Slater, T.B. 436 Smend, R. 140 Smith, M. 196, 213, 219 Söding, Th. 273 Spengler, F.F. 510 Spicq, C. 310 Spieckermann, H. 155 Stähelin, F. 257 Standhartinger, A. 147, 268, 330, 366, 381 Stanton, G.N. 241 Stegemann, W. 51, 107, 298 Steib, H. 214 Stein, H.-H. 436, 439, 442 Stein, M. 193 Steinmann, A. 256 Steins, G. 454 Stemmer, P. 201 Stendahl, K. 249 Stern, M. 184, 199, 205, 211 Stern, S. 450
556 Steymans, H.U. 131 Stipp, H.J. 154 Stocker, P. 328 Stoodt, D. 497 Strack, H. 80 Strecker, Chr. 249 Strecker, G. 235, 251, 253, 280, 370 Strelan, R. 115, 121 Strobel, A. 111, 311, 414 Strobel, K. 257 Stuhlmacher, P. 149, 150, 151, 154, 158, 161, 169, 170, 171, 172, 174, 176, 249 Sumney, J.L. 279, 280, 281, 286, 287, 291, 292, 303, 371, 372 Sweet, J.P.M. 239 Taeger, J.-W. 466, 468, 472, 476 Takacs, S.A. 380 Tannehill, R.C. 217, 218, 222 Taschner, J. 454 Theißen, G. 14, 24, 26, 33, 38, 56, 63, 69, 72, 75, 77, 78, 147, 179, 261, 282, 283, 286, 301, 349, 352, 464, 506, 507, 508, 509, 515 Theobald, M. 15, 17, 147, 213, 263, 271, 272 Thiel, W. 136 Thießen, W. 436 Thiselton, A.C. 238 Thüsing, W. 512 Tilly, M. 432, 457, 501, 505 Tönges, E. 147 Tolmie, D.F. 268, 269 Tombs, D. 420 Trebilco, P.R. 324, 269 Trilling, W. 347, 353, 357, 361 Trowitzsch, M. 398 Troxel, R.L. 155 Trummer, P. 324, 343, 344 Tuckett, Chr.M. 50, 51, 53, 64, 66, 282 Turcan, R. 234 Turck, A. 513 Tyson, J.B. 102 Ueberschaer, F. 506 Ulonska, H. 510 Ulrich, J. 211 Utzschneider, H. 154 Vahrenhorst, M. 158 Van den Bergh van Eysinga, G.A. 104 Van den Hoek, A. 209 Van der Horst, P.W. 441 Van der Kooij, A. 149, 155, 159, 163, 164, 165, 455
Register Van Ruiten J. 155 Van Segbroeck, F. 50, 57, 66 Van Unnik, W.C. 311 Vanhoye, A. 233 Veijola, T. 132 Verheyden, J. 64 Vervenne, M. 137, 155, 454 Vielhauer, Ph. 100, 112, 118, 278, 279, 302, 303, 321, 322, 323, 410 Viering, F. 410 Vögtle, A. 106 Vollenweider, S. 240, 294, 311, 317 Von Bendemann, R. 92, 96, 122, 190, 195, 196, 253 Von Dobschütz, E. 501 Von Gemünden, P. 43, 49, 54 Von Harnack, A. 116, 448 Von Hoorn, G. 81 Von Lips, H. 80, 261 Von Lübke, J. 253 Von Rad, G. 130 Von Tischendorf, K. 434 Vouga, F. 270 Vretska, H. 380 Wagner, G. 409 Walereit, R. 326 Wallraff, M. 214 Walter, N. 349, 443 Waltke, B.K. 140 Wamser, L. 479 Wanamaker, C.A. 353, 356 Wander, B. 90 Wanke, J. 343 Wasserberg, G. 107 Watson, F. 262 Waubke, H.-G. 150 Weber, E. 446 Webster, T.B.L. 193 Wedderburn, A.J.M. 234, 236, 241, 429, 430, 445 Weeber, K.-W. 480, 481, 483, 484, 485, 487, 488,489, 491 Wegenast, K. 515 Wegner, U. 40, 57, 58, 59, 60, 89 Wehnert, J. 429, 430, 433, 436, 439, 440, 441, 443, 444, 445 Weiser, A. 112, 113, 172, 267 Weiß, H.-F. 178, 519 Weiß, J. 233, 235, 242, 259 Wellhausen, J. 129 Westerholm, S. 248 Westermann, C. 134 Westfall, C.L. 420
Autorenregister Wevers, J.W. 138, 154 Weyel, B. 149 Whitaker, G.H. 201 White, J.L. 363 Wibbing, S. 516 Wichmann, W. 359, 360 Wiefel, W. 111 Wiggermann, F. 214 Wikenhauser, A. 410 Wilckens, U. 176, 253, 414, 500 Wildberger, H. 135 Wilk, F. 150, 167, 168, 169, 180, 327 Williams, Ch.K. 234 Williams, S.K. 268 Wilson, S.G. 429, 436, 441 Windisch, H. 62, 77, 413, 414, 415, 416, 421, 422 Winter, B.W. 311 Wischmeyer, O. 261 Wischmeyer, W. 248 Wissowa, G. 481 Witetschek, S. 434 Witherington III., B. 260 Witte, M. 134
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Witulski, Th. 105, 259, 429, 436, 443, 448, 467, 472 Wolff, Chr. 235, 240, 244 Wolff, H.W. 151, 167, 168 Wolter, M. 17, 23, 24, 25, 30, 31, 34, 40, 51, 58, 102, 103, 112, 113, 114, 139, 145, 148, 252, 324, 330, 368, 379, 383, 397, 445, 469, 476 Wooden, R.G. 152,153, 154 Wrede, W. 75, 251, 255, 347 Wright, B. 153 Wright, N.T. 249 Wyrwa, D. 519 Zahn, Th. 448 Zangenberg, J. 72, 105 Zeller, D. 28, 33, 40, 43, 66, 242 Zenger, E. 140, 143, 477 Ziegler, J. 155, 180, 181 Zillessen, A. 155 Zimmermann, A.F. 503, 519 Zimmermann, R. 40, 43, 54, 406, 448 Zumstein, J. 364 Zwickel, W. 485