Ronald M. Hahn �
Am Tor zur Hölle � Maddrax HC 13 � Version 1.0
Das Buch � A.D. 2521: Um den verschollenen Baron Tor...
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Ronald M. Hahn �
Am Tor zur Hölle � Maddrax HC 13 � Version 1.0
Das Buch � A.D. 2521: Um den verschollenen Baron Torsvan zu retten, bricht eine Luftschiffer-Expedition des Herrschers von Nova Scotia zur Insel Faunland auf, die den Legenden zufolge von abscheulichen Monstrositäten bewohnt wird. Mit von der Partie: ExRunning Man und Musiklehrer Marcel d'Artagnan, die libidinöse Königstochter Marie und der ebenso gnadenlose wie schießwütige Rev'rend Fury vom Orden Gottesfürchtiger Herren, der seit Jahren die Spur leibhaftiger Dämonen verfolgt und Hinweise darauf hat, dass sich auf Faunland ein Tor befindet, das geradewegs in die Hölle führt…
1 � Der organisierte Wahnsinn ist die größte Macht der Welt. Gerhart Hauptmann Nova Scotia, Frühjahr 2521 Am Nachthimmel teilte sich eine Wolke. Silbernes Mondlicht fiel auf eine große Lichtung und erhellte etwa zwanzig Sekunden lang einen flachen rechteckigen Bau, der sie zu einem guten Drittel einnahm. Zwanzig Sekunden waren nicht viel, doch für Rev'rend Fury, der grimmig zwischen den Bäumen am Rand der Lichtung hockte, reichten sie aus. Er war den Dämonen seit fünf Tagen auf der Spur – seit sie in dem abgelegenen Dörfchen Trois Pistoles gewütet hatten. Achtzehn Untertanen des Königs waren dabei ums Leben gekommen. Die Dämonen hatten sie ausgesaugt und vier Kinder entführt. Außerdem hatten sie das schlimmste Verbrechen überhaupt begangen: Sie hatten Furys unersetzliche Harley Davidson in Brand gesteckt und hinter dem Dorf in einen vierzig Meter tiefen Abgrund geworfen. Schon deswegen waren sie des Todes. Fury steckte das Binocular, durch das er die Lichtung seit geraumer Zeit beobachtete, in die Innentasche seines Mantels, betastete die an seinem breiten und mit Patronen gespickten Leibriemen hängenden Schießeisen und bleckte die Zähne. Seine Zähne waren gesund. Er
war von Kopf bis Fuß ein stattlicher Mann und strotzte vor Kraft. Ja, GOTT der HERR hatte es gut mit ihm gemeint. Doch Fury sah nicht nur gut aus. Er war auch stark, mutig, klug und ausdauernd. Vor allem war er, wie seine Waffen dokumentierten, kein warm duschender Pazifist. Fury schnaubte verächtlich. Auge um Auge. Von ihm aus konnte Satans blutsaufender und menschenfressender Mob sogar über den Atlantik fliehen: Solange der HERR ihm die Kraft schenkte, gab er nicht auf. Oh, nein! Er war nicht bereit, die Truppen des Gehörnten in die nach Schwefel stinkende Unterwelt entkommen zu lassen! Diesmal, dachte er, geht ihr mir nicht durch die Lappen! Er würde die kalten Tage und Nächte nie vergessen, die er mit ihrer Verfolgung verbracht hatte. Mag GOTT in seiner unendlichen Güte auch der gemeinsten Kanalratze vergeben, dachte Fury, indem er auf seine mit geweihten Kugeln gefüllten Waffen klopfte. Wir drei kennen keine Gnade … Er lachte leise vor sich hin. Er war nun fünfzig Jahre alt, sah aber viel jünger aus. Seit dreißig Jahren tötete er Dämonen, die Satan auf die Erde schickte, damit sie die Menschen versuchten und ins Unglück stürzten. Bei der Vorstellung, dass damit zumindest für die Bande dort in dem Haus bald Schluss sein würde, wurde ihm ganz warm ums Herz. Ja, ihr Ende stand bevor. Er kannte inzwischen drei der vier Koordinaten, mit denen er das Tor zur Hölle finden konnte. Bald kannte er auch die vierte. Und dann … Zieh dich warm an, Satan. Fury richtete sich langsam auf. Sein stahlgrauer Blick
wanderte über die mit Schlagläden verrammelten Fenster des Dämonenunterschlupfes. Fensterscheiben hätten sein Abbild bestimmt reflektiert: Sie hätten einen großen Mann mit einem gestutzten, leicht ergrauten Bart gezeigt. Furys Haupthaar war nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Ein breitkrempiger Schlapphut beschattete seine unter dichten Brauen wach blickenden Augen. Seine Schultern waren breit. Seine Kleidung und seine Stiefel bestanden aus dunklem Echsenleder. Sein Tornister wog zwanzig Pfund. Wenn er sich unbedacht bewegte, erzeugte der Inhalt ein leises metallisches Scheppern. Doch ein Mann wie Rev'rend Fury bewegte sich nie unbedacht. »Also los …« Wie ein Schatten umrundete er das Lehmziegelhaus. Er war seit Stunden hier, hatte sich das Haus in der Tageshelligkeit ausführlich von allen Seiten angeschaut. Neben dem Eingang war eine zweite Tür. Sie führte in den Stall. Für jemanden, der ungesehen eintreten wollte, war das Türchen auf der Rückseite allerdings interessanter … Fury drückte sich an die Ziegelwand. Er glitt wie eine Schlange dahin, erreichte die Tür auf der Rückseite des Hauses. Er zog einen Detrikk aus einer der Taschen seiner Jacke und knackte das primitive Schloss in fünf Sekunden. Klick. Die Tür glitt auf. Die Scharniere waren geölt; sie quietschten nicht. Und doch … Knister. Knack. Knirsch. Fury verharrte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Seine Hände zuckten an den Gürtel und rissen die langläufigen Colts heraus. Er drehte sich
auf der Stelle – so schnell, als seien Rollen unter seinen Stiefeln. Er sah zwar nichts, doch während der Drehung verstummte das Knistern und Knirschen nicht. Furys Blick gewöhnte sich an die Finsternis. In der Umgebung seiner Stiefel spritzte eine Armee fingerlanger Kakerlaken in alle Richtungen auseinander. Unter anderen Umständen hätte er sie mit einer Fackel aus dem Tornister bekannt gemacht. Fury hasste alles, das kroch oder mehr als vier Beine hatte: Dieses dreckige Ungeziefer hatte nicht GOTT gemacht, sondern der Herr der Unterwelt. Fury schüttelte sich. In ihm loderte wilder Hass. Nachdem das widerliche Gekröse wieder in seinen Löchern verschwunden war, machte er die Tür hinter sich zu und lauschte. Dass er auf dem richtigen Weg war, verriet ihm das gedämpfte Schnauben der knochigen Vierbeiner, auf denen die Dämonen zu ihren Raubzügen ausritten. In einem alten Folianten aus der Ära vor der Eiszeit hatte Fury Abbildungen von Hyänen und Pferden gesehen. Das, worauf die Blutsäufer ritten, sah aus wie eine Mischung aus beidem. Er war nun mitten im Stall. Der Raum stank nach Pest und ätzendem Tierkot. Die Fenster waren verrammelt. Es gab nur ein paar Luftlöcher. Den höllischen Tieren mochten sie vielleicht genügen, doch keinem Menschen, der an das Wahre, Schöne, Gute und an den HERRN glaubte. Fury untersagte seinen Stimmbändern, sich zu räuspern. Sein Blick schweifte über die Boxen hinweg, in denen die Vierbeiner standen und ihn stupide anglotzten.
… sechs, sieben, acht. Ein Viech lag auf dem Boden und röchelte. Es schien krank zu sein. Es scherte Fury nicht. Ihm war nur eins wichtig: Er wusste nun, mit wie vielen Gegnern er es zu tun hatte … Seitlich ging plötzlich die in den Wohnbereich des Hauses führende Tür auf. Eine Gestalt, deren Visage so leprös aussah, dass ein unvorbereiteter Mensch unweigerlich aufgeschrien hätte, stand mit einer Laterne in der Hand auf der Schwelle. Der Dämon und der Rev'rend sahen sich im gleichen Augenblick. Sei verflucht, dachte Fury. Sein Gegenüber öffnete den Mund. Fury sah sehr spitze Zähne. Bevor der Dämon den Schrei ausstoßen konnte, den seine Stimmbänder vorbereiteten, flog ein unterarmlanger Dolch auf ihn zu und zwang ihn, sich zu ducken. Fury fegte hinter der Klinge her. Es schepperte. Die Laterne rollte über den Boden. Furys linker Fuß schoss wie der Blitz nach vorn. Seine Stiefelspitze fuhr unter die Laterne und schleuderte sie in eine deckellose Holzkiste. Das Haus dufte nicht brennen, bevor die Bewohner exekutiert waren: Fury wollte nicht nur Satans Schergen ausrotten, sondern auch die entführten Kinder befreien. Pffffftschsch … Das an seine Ohren dringende Geräusch erinnerte an einen Dolch, den ein starker Arm bis ans Heft in eine reife Melone bohrte. Der Dämon, dessen Kehle er durchdrang, spuckte Blut, riss die Augen auf und wedelte mit den Armen. In seinen Händen blitzten mörderisch spitze, beidseitig geschliffene Messer auf: Dieser Blutsäufer war, wie seine Genossen, ein Meister
im Umgang mit spitzem Eisen – aber zum Glück kein Gegner für einen Soldaten GOTTES. Fury lauschte dem Röcheln der zu Boden sinkenden Gestalt. Es erstaunte ihn immer wieder, wie die Ausgeburten der Hölle sich an ihr erbärmliches Leben klammerten: Sie gaben sich in jeder Phase des Sterbens wie ein Mensch, dem man ein schreckliches Unrecht zufügte. Fury ging in die Knie und hauchte: »Stirb, Auswurf des Bösen …« »Nein …« Die Bestie spuckte eine Fontäne Blut. Fury wich dem Strahl aus, damit er seine Jacke nicht verschmutzte. Wie jämmerlich dieses Gezücht doch reagierte, wenn es ans Sterben ging. Feiges Pack. Fury musste sich zusammenreißen, um es nicht anzuspucken, als es sich in seinen Unterarm krallte und verschied. »Hättest dich nicht mit dem Satan einlassen sollen.« Fury löste die Krallen von seinem Arm und stand auf. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was den Dämon um diese Stunde in den Stall gerufen hatte. Dass es das kranke Reittier gewesen war, passte nicht in seine Vorstellungswelt. Wahrscheinlich hatte das Ding Wache geschoben und ihn gehört. Fury schaute auf den Leichnam hinab. Es war nicht ohne Weiteres zu erkennen, welchem Geschlecht es angehörte: Die Blutsäufer-Dämonen waren klapperdürr und knochig. Es passierte nicht oft, dass man einen Unmaskierten traf. Meist verbargen sie ihre abscheuliche Fratze hinter durchlöcherten Ledermasken, um sich vor GOTTES strahlender Sonne zu schützen. Die Leiche sah so eklig aus, wie es einem Bewohner der
Hölle zukam: Ihr Kopf, falls man ihn so nennen konnte, war nur ein mit trockenem Fleisch bespannter Totenschädel. Fury schaute sich noch einmal die schnaubenden Tiere an. Sie hatten den Kampf gleichgültig verfolgt und musterten ihn nun aus einfältigen Augen. »Selig sind die geistig Armen, denn ihrer ist das Himmelreich …« Fury setzte seinen Weg fort. Er nahm die Schwelle, über die der Dämon mit der Laterne gekommen war und schaute sich um. Der Raum, in dem er sich befand, maß vierzig Quadratmeter. Gegenüber stand ein Kamin. Das Feuer war erloschen. Die Glut war noch hell genug, um die Umgebung zu zeigen. Rechts zwei verrammelte Fenster. Links ebenso. Geradeaus Möbel. Ein Tisch, Stühle, Hocker. Und Mobiliar an den Wänden: Sofas, Schränke, Regale. In den Regalen irdene Krüge und metallenes Geschirr. Töpfe. Abgesehen von der Tür, durch die er gekommen war, erblickte Fury drei weitere. Dass die linke ins Freie führte, sagte ihm sein Orientierungssinn. Hinter denen, die den Kamin säumten, mussten sich also Schlafkammern und Vorratsräume befinden. Fury glitt geduckt durch das Dunkel auf die Tür links neben dem Kamin zu. Auf halber Strecke – er war auf einer Höhe mit dem Tisch – begriff er, dass es ein Fehler gewesen war, in den Raum hineinzugehen, ohne hinter die aufgeklappte Tür zu schauen. Er war davon ausgegangen, dass der Dämon allein gewesen war. Irrtum. Eine lange Klinge zischte bösartig an Furys Ohr vorbei und bohrte sich mit einem trockenen Tonggg in die
Tür neben dem Kamin. Zugleich ertönte ein hasserfüllter Schrei. Der Rev'rend ging gerade noch rechtzeitig in die Knie. Schon fegte die nächste Klinge heran. Fury fuhr geduckt herum, streckte beide Arme aus und feuerte. Seine Kanonen erzeugten einen Höllenlärm. Lange Feuerzungen schossen aus den Läufen und bohrten sich in die Schultern des Dämons. Er hatte gerade zwei weitere Klingen in Furys Richtung schleudern wollen. Die Beulen auf der Brust der scheußlichen Kreatur sagten Fury, dass er es mit einem Weibchen zu tun hatte. Es scherte ihn nicht: Weibliche Dämonen waren in der Regel schlimmer als männliche, denn um Anerkennung zu finden, mussten sie ihnen an Skrupellosigkeit und Brutalität überlegen sein. Die geweihten Kugeln aus Furys Waffen durchschlugen die Knochen und Muskeln der kreischenden Bestie. Die Messer entfielen ihren erschlafften Händen und fielen zu Boden. Die Dämonin musterte den Eindringling fassungslos, der sich nun ganz aufrichtete und einen dritten Schuss auf ihren Kopf abgab. Sie flog zurück. Die Wucht der Kugel warf sie rückwärts in den Stall, wo sie hinter der Schwelle über den Leichnam ihres Gefährten fiel. Da waren es nur noch sechs, dachte Fury. Im gleichen Moment wurde hinter ihm eine Tür aufgerissen. Er fuhr mit erhobenen Händen herum und feuerte, obwohl er im Rahmen der linken Tür nur einen Schatten sah. Dass die Schüsse dennoch saßen, verrieten ihm das Klatschen eines auf den Holzboden fallenden
Körpers und ein Fluch – der jedoch aus einer anderen Kehle kam. Die Tür wurde zugeschlagen. Fury hechtete auf sie zu, baute sich vor ihr auf, hob beide Waffen und feuerte aus jeder drei Schüsse auf die Tür ab. Ein Schmerzensschrei, dann das Quietschen eines schlecht geölten Fensters. Fury begriff, dass die noch lebenden – vier? – Dämonen sich aus dem Staub machen wollten. Er füllte die Trommeln seiner Waffen mit neuen Patronen und trat mit aller Kraft gegen die Schlafkammertür. Sie flog auf. Er hatte richtig vermutet. Da war ein offenes Fenster. Der Mond leuchtete hinein. Vor ihm lag eine Gestalt auf dem Bauch. Eine weitere, die eine Blutspur hinter sich herzog, wollte sich gerade über die Fensterbank ins Freie ziehen. Fury zielte. Ein Schuss genügte. Der blutende Dämon klatschte mit einem Seufzer auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Diesmal ging Fury gründlicher vor: Erst als er genau wusste, dass er der einzige Lebende in der Schlafkammer war, eilte er ans Fenster. Draußen, im Gras, lag ein weiterer Toter. Drei. Na, immerhin … Er pustete in die Läufe seiner Colts. Wenn kleine Jungs ihm bei dieser Tätigkeit zuschauten, glaubten sie immer, er täte es, damit die Waffen sich abkühlten. Das war natürlich Quatsch. Er hatte die Pose in einem alten Bilderbuch gesehen, in dem der schmale Held – ein gewisser Lucky – sie nur einnahm, weil sie so lässig wirkte. Natürlich konnte man in der heidnischen Welt der Gegenwart auch als Mann GOTTES nicht auf solche
Effekte verzichten. Ein Götzen anbetender Mob war mit Worten nicht zu missionieren; Barbaren kamen ohne geheimnisvolles Getue nicht aus. Ihre Priester waren »Zauberer«, ihre Götzen hatten ein Gesicht. Wenn man sie bekehren wollte, waren Worte nicht genug … Ja, lasst Taten sprechen. Rev'rend Fury schloss das Fenster und wandte sich den Toten zu. Erst als er sich von ihrem Ableben überzeugt und den Rest des Raums untersucht hatte, ging er nach nebenan und nahm sich die zweite Tür vor: die Vorratskammer. Er war eine Menge gewöhnt. Er wusste, was der Auswurf der Hölle mit Menschen machte, die ihm in die Hände fielen. In Trois Pistoles hatte er viele zerfetzte Kehlen und bleiche Leichname gesehen. Dort hatten die Blutsauger ihren Hunger gestillt. Er hatte eigentlich kaum Hoffnung, dass die Entführten alle noch lebten. Als er die Tür untersuchte, stellte er fest, dass sie weder mit einem Schloss, noch mit einem Riegel ausgestattet war. »Hallo!«, rief Fury. »Seid ihr da drin? Hier ist Rev'rend Fury! Habt keine Angst! Ich bin hier, um euch zu retten!« Keine Antwort. Fury stellte sich ausgesaugte Leichen vor. Sein Blut fing an zu kochen. Er holte mit dem rechten Bein aus; sein schwerer Stiefel krachte gegen die Tür. Sie flog auf und knallte gegen die Wand. Furys Blick huschte wie ein Pfeil hin und her. Der Raum hinter der Tür war leer. Er enthielt nur Gegenstände, keine Menschen. Was hatte das zu bedeuten? Hatten die verfluchten Dämonen die Kinder etwa schon …?
Ein Luftzug berührte sein linkes Ohr. Fury fuhr auf dem Absatz herum, was sein Glück war: Die durchs Fenster gesprungenen Dämonen schienen ihm ihren Unterschlupf nicht kampflos überlassen zu wollen. Jemand stand mit einer Armbrust in der offenen Stalltür. Fury schoss. Sein Gegner ließ den Bolzen eine Sekunde früher los. Fury spürte einen stechenden Schmerz im rechten Oberarm. Seine Muskeln zuckten. Der Colt entfiel ihm und knallte auf die Dielen. Der Schuss aus der Waffe in seiner Linken traf den Armbrustschützen jedoch in die Stirn und warf ihn nach hinten. Im gleichen Moment ging die Haustür auf. Der zweite Dämon stand auf der Schwelle und legte an. Über die Leiche des Armbrustschützen hechtete ein schlanker Schatten in den Raum hinein. In seinen Händen blitzten lange Klingen. Fury musste sich entscheiden. Trotz der brennenden Schulterwunde gelang es ihm schnell: Der Angreifer in der Haustür hatte die größere Reichweite. Furys Colt knallte dreimal. Auf der einen Seite sah er den Bolzen, auf der anderen den Angreifer aus dem Stall auf sich zufliegen. Sein vierter Schuss traf den Dämon mit der Armbrust, der im hohen Bogen Blut spuckte. Der Bolzen verfehlte den Rev'rend, doch als er sich herumdrehte und den Abzug seiner Waffe zum fünften Mal drückte, klickte es, und er begriff, dass er sich verzählt hatte. Der Angreifer mit den Klingen war nun über ihm. Als Fury sich duckte, um den wirbelnden Messern zu entgehen, sah er das Schießeisen, das ihm entfallen war. Er ließ die leere Kanone los, ging in die Knie und
streckte den Arm nach dem am Boden liegenden Colt aus. Er bekam ihn zu fassen. Gleich neben seiner Hand bohrte sich ein langes Messer in den Boden. Der Angreifer knurrte. Fury, der wusste, dass sein letztes Stündlein geschlagen hatte, wenn er nicht unverzagt vorging, riss seinen Arm hoch und zog dem letzten Dämon den Lauf durch die Visage. »Wahhhh!« Der Schrei klang grässlich. Das Nasenbein seines Gegners brach. Die Bestie ließ die zweite Klinge fallen und fiel auf den Hintern. Eine Blutfontäne spritzte. Fury richtete sich auf und schoss in die rechte Kniescheibe des Dämons – er wollte ihn kampfunfähig machen, bevor er ihn einem Verhör unterzog. Der Dämon schrie wie am Spieß und umfasste sitzend sein zerschmettertes Knie mit beiden Händen. Dünnes, krank aussehendes Blut lief an seinem Unterschenkel hinab. Fury nahm seine zweite Waffe, schob sie ins Holster und baute sich vor der stöhnenden Kreatur auf. »GOTT hat euch alle gewarnt!« Er spuckte auf den Boden. »Du hättest auf ihn hören sollen, als du noch ein Mensch warst.« Er musterte das von Schmerzen und Angst verzerrte Gesicht seines Gegenübers. »Dann müsstest du jetzt nicht leiden!« Fury spickte die Trommeln seiner Colts mit Patronen. Er schob eine Waffe ins Holster zurück und richtete die andere auf die noch heile Kniescheibe seines Gegners. »Bevor du dich unserem Schöpfer stellen darfst, habe ich noch eine Frage an dich …« Der Dämon heulte und wehklagte. »Ich brauche einen Heiler … Diese Schmerzen … Ich halte es nicht aus …« »Bald bist du von den Schmerzen erlöst«, sagte
Rev'rend Fury salbungsvoll. Er ging in die Knie, schaute in die schwarz umrandeten Augen des Dämons und setzte seine hypnotischen Kräfte ein: Sein Geist durchdrang die Leere, die ihn von der Kreatur Satans trennte. Fury kniff die Augen leicht zusammen. Normalerweise hätte der Satansknecht auf den Rücken fallen und die Augen verdrehen müssen. Dass er dies nicht tat, konnte nur bedeuten, dass auch er über besondere Kräfte verfügte. Vermutlich war er kein gewöhnlicher Untertan des Teufels, sondern einer seiner Offiziere. Fury frohlockte. Darauf hatte er kaum zu hoffen gewagt. Auch wenn der Dämon ihm die Ohren voll heulte – er gehörte vermutlich zu den Großen Biestern, deren Wissen einen Mann GOTTES sehr weit bringen konnte. Er beugte sich vor. »Sag mir die Position des Eingangs«, knirschte er und drückte den Lauf seines Colts in den Bauch der Kreatur. Ohne sein zerschossenes Knie loszulassen, heulte der Dämon auf und verdrehte die Augen. Er klang so jämmerlich wie ein Waschweib, was den Rev'rend noch mehr gegen ihn aufbrachte: Ein Statthalter Luzifers musste doch mehr Schneid zeigen! »Ich wiederhole es nur einmal«, fauchte Fury. »Wo ist das Tor zur Hölle?« Der Satansknecht schaute ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Das machte Fury noch wütender. Außerdem fiel ihm ein, was diese Spießgesellen mit seiner unersetzlichen Harley gemacht hatten. Fury drückte die Mündung seiner Waffe auf das noch heile Knie des Dämons und drückte ab. Der Schrei seines
Gegenübers war fast so laut wie der Schuss, der seine Kniescheibe pulverisierte. »Die Koordinaten«, keuchte Fury dem schreienden Offizier des Satans ins Ohr. »Oder es ergeht dir schlecht.« »Ko-ko-ko …«, stöhnte der Verwundete, der nun so kraftlos nach hinten sank, dass sein Kopf mit einem hohlen Klatschen auf die Dielen fiel. »Ko-ko-ordi-nanaten …« »Ja?« Fury beugte sich über ihn. Er hatte zwanzig Jahre gebraucht, um die ungefähre Position des Höllentors zu erfahren. Er hatte viele Daten zusammengetragen. Ihm fehlte nur noch eine letzte Bestätigung, dass seine auf komplizierten Berechnungen basierende Erkenntnis wirklich stimmte. Diese Bestätigung konnte er nur von jemandem erhalten, der persönlich aus der Hölle kam. »Raus damit«, fauchte Fury. »Sonst …« Der Dämon krallte sich in Furys linken Unterarm. »Gra-gra-gra… Gra… La-la-la…« »Grand Lac, hm? Hab ich schon vermutet. Danke, das reicht mir.« Fury hob die Waffe, presste sie an die Stirn der Kreatur und drückte ab. Über den Wipfeln dräute schon das Grau des Morgens, als er den Stall verließ. Gerade eben hatte er das röchelnde Reittier mit einer Kugel von seinen Qualen erlöst und die anderen aus den Boxen gelassen. Als er nun – eins der Tiere gesattelt und gezäumt neben sich – ins Freie kam, standen die anderen vor dem Haus und glotzten, als wüssten sie mit der Freiheit nichts anzufangen. Fury zog einen Colt und machte »Ksch-ksch!«, doch die
Vierbeiner waren zu blöd, um vor einem Menschen Angst zu haben. Ihr Verhalten änderte sich, als er sich in den Sattel schwang und einen Schuss abgab: Sofort preschten sie wie der Blitz über den Waldweg nach Süden. Fury hörte ein leises Brummen. Er schaute sich um, sah jedoch nichts. Es kam vom Himmel herab. GOTT? Nein, eher nicht. Die Nachtwolken lösten sich auf. Ein Schatten schob sich langsam über die Baumwipfel und wanderte über die Lichtung. Was war das? Narrte ihn ein Spuk? Eine Riesenzygar schwebte unter den Wolken dahin. Fury atmete auf. Ein euphorisches Gefühl machte sich in ihm breit. Das Brummen wurde zu einem Dröhnen. Technik! Im Reich der Könige von Nova Scotia war die Zivilisation schon seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch. Woran lag es wohl, dass man sich gerade hier dem Fortschritt nicht versagte? Waren die wunderbaren technischen Errungenschaften des hiesigen menschlichen Geistes eine Folge des Glaubens an den HERRN, der alles Leben auf der Erde erschaffen hatte? Wohl eher nicht, denn die meisten Nova Scotianer waren Heiden, und die anderen interessierten sich einen feuchten Kehricht für Religion. Fury kniff die Augen zusammen. Unter der fliegenden Zygar sah er eine Menge sich drehender Gegenstände, die ihn an Windmühlenflügel erinnerten. Keine Frage, das Ding da oben war eins der legendären Luftschiffe, mit denen man im Nu große Entfernungen überwinden konnte. Das Tor zur Hölle war weit von hier entfernt. Um dorthin zu gelangen, war ein solches Luftschiff
sicher von Vorteil … �
2 � Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, dass die Dummen todsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind. Bertrand Russell »Hinaus! Hinaus!«, schrie seine Majestät im Thronsaal. »Halten Sie mir diese tückische Natter vom Leib, Eisenbarth!« »Aber sie ist doch Ihre Gattin, Majestät«, rief der Leibarzt des Monarchen so schrill wie besorgt. Es polterte und krachte, als die Lakaien sich bemühten, die Königin von Nova Scotia auf diplomatische Weise aus dem Raum zu entfernen, ohne ihren Zorn zu entfachen. Inzwischen, dachte Marcel, musste sie eigentlich wissen, dass Seine Majestät es nicht böse meint. Schließlich sind sie doch seit sechzehn Jahren verheiratet… Der König konnte nichts für sein bizarres Verhalten. Er litt an einem Syndrom, für das sich sein Leibarzt erst noch einen Fachterminus ausdenken musste. Seine Krankheit äußerte sich dergestalt, dass Majestät hin und wieder jemanden nicht erkannte und in ihm einen Spion oder gar Attentäter sah. Klärte sich der Geist des Königs, war ihm sein Verhalten immer so peinlich, dass man fast alles von ihm haben konnte. Von seinem Königreich mal abgesehen. Heute fiel sein Wahn ziemlich milde aus, denn gleich nachdem Königin Froona gegangen war, hörte man ihn
schon wieder rufen: »Was für ein herrlicher Tag! Lassen Sie uns in den Park gehen, Eisenbarth, und die liebe Sonne begrüßen!« Einige Türen schlugen, dann brüllte der König: »Hauen Sie ab, Eisenbarth! Wo ist mein Töchterchen? He, du da! Du da, du Lakai! Hol sofort mein Töchterchen her! Ich will ihr die Magnotulpen in meinem Garten zeigen!« Prinzessin Alanie hatte während des Anfalls ihres Vaters auf Marcels Schoß gesessen und hektisch versucht, eine Hand in seinen Hosenstall zu schieben. Nun, da Majestät nach ihr verlangte, stand sie eilig auf, trat vor den Spiegel und zupfte ihr zerzaustes Haar zurecht. »Wie sehe ich aus, Marcel? Kann ich ihm so unter die Augen treten?« »Gewiss doch.« Marcel richtete sich auf, schwang die Beine über den Bettrand und ließ sie baumeln. So schön Alanie auch war, sie war verdammt jung. Es war ihm gar nicht recht, welche Frechheiten sie sich bei ihm herausnahm, wenn sie zu ihm kam, um sich Musikunterricht geben zu lassen. Er war nämlich ihrer Mutter verpflichtet. Wenn die Königin erfuhr, dass er sich von Alanie begrabschen ließ, konnte er seine schöne Stellung als Hofmusikant vergessen … »Außerdem kannst du davon ausgehen, dass sein Zustand mindestens noch eine Stunde dauert. Wenn er sich an seinen Magnotulpen ergötzen will, befindet er sich zudem in der Blindheitsphase.« Alanie wirbelte kichernd herum. »In diesem Zustand würde er mich dir zur Frau geben, glaubst du nicht auch?« Marcel wiegte nachdenklich die Schultern. »Kann
schon sein.« Alanie kicherte noch einmal. »Sosehr es mir auch gefiele …« Sie hüstelte geziert und tänzelte in Richtung Tür. »… sosehr muss ich es doch bedauern, da du leider nicht zum Hochadel gehörst.« Sie spitzte die Lippen. »Offen gesagt, ich glaube, du bist ein Hochstapler und hast dir deinen wohlklingenden Familiennamen nur ausgedacht.« Marcel errötete, denn sie hatte recht. Aber zum Glück sah Alanie seinen roten Kopf nicht, denn sie hatte die Tür seines Gemachs schon geöffnet und huschte in den Korridor hinaus, um die Zofe zum Schweigen zu bringen, die pausenlos ihren Namen rief. Marcel stand mit einem Seufzer auf und trat ans Fenster. Die Prinzessin war sechzehn Jahre alt. Ihre Mutter, Froona, war auch sehr hübsch. Marcel war ungefähr fünfundzwanzig; er wusste es nicht genau, weil man dort, wo er herkam, keine Bücher führte. Wenn Froona nicht log, hatte sie sechsunddreißig Sommer gesehen. Sie war rundlich gebaut, hatte dicke blonde Zöpfe, blaue Augen, volle Lippen und einen prallen Busen. Ihre Familie war mit dem Fürstenhaus verwandt, an dessen Deinstallation Marcel als jugendlicher Revolutionär erfolglos beteiligt gewesen war. Seit er von ihrer Herkunft wusste, zitterte er vor dem Tag, an dem ihre Verwandten zu Besuch kamen. Der König war in Ordnung. Er liebte die schönen Künste und überließ das Regieren und das Militärische seinem Kanzler. Alanie war sein einziges Kind. Irgendwann würde sie Königin von Nova Scotia sein, den Prinzen eines anderen Reiches ehelichen und ein Rudel Kinder gebären, die sich, wenn sie erwachsen
waren, um den Thron raufen und gegenseitig umbringen würden. Marcel schaute in den Garten hinaus. Digby war ein relativ netter, vor den atlantischen Winden geschützter Ort. Der Palast war über fünfhundert Jahre alt: Die ehemalige Feste der kanadischen NATO-Streitkräfte hatte die Eiszeit problemlos überstanden, weil sie, wie viele andere in dieser Region, für ein arktisches Klima konstruiert worden war. Vor der Eiszeit hatten hier tausend Menschen gelebt. Heute waren es nicht mehr. In Gegenden, in denen ungenehmigte Schwangerschaften mit Abtreibungen endeten, überlegte man sich, wo man sein Ding reinhängte. Marcel seufzte. Er konnte Alanie sehr gut leiden. So gern er aber auch mit ihr rumschmuste – er durfte nicht zulassen, dass sie ständig so an ihm rummachte. Eines Tages würde er noch schwach werden. Und wenn das passierte, war er seinen Kopf los. Außerdem würde Froona ihm den Garaus machen. Marcel schüttelte den Kopf. Sein blauschwarzer Zopf flog hin und her. Er war vor zwei Jahren in einem frostigen Winter hier angekommen, arm wie eine Kirchenmaus, mit löcherigen Socken und geflickten Stiefeln. Das Knurren seines Magens hatte das Mitleid der Mamsell erregt, die die Küchenhilfen kommandierte. Sie hatte ihn bekocht und ihm erlaubt, sich in der Küche zu wärmen. Er hatte einen Schlafplatz am Ofen bekommen. Er hatte Feuerholz gehackt, die Eisdecke des Brunnens zerschlagen, Wasser geholt, Asche im Hof verstreut und
sich nützlich gemacht. In einem Raum voller alter Musikinstrumente, die entstaubt werden sollten, war ihm dann die Königin begegnet … Er hatte gerade neue Saiten auf eine alte Gitarre gespannt und verhalten ein E-Moll-Septim angeschlagen, da hatte hinter ihm die Tür gequietscht. Er erinnerte sich an das Sinken seiner Kinnlade beim Anblick der schlanken Frau mit den hellblonden Locken und dem roten Schmollmund. Dann erst sah er das dünne Gewand, unter dem man ihre Formen eher sehen als erahnen konnte. »Wer sind Sie denn, junger Mann? Sind Sie neu hier?« Und ihre Stimme: Sie war so rauchig und verdorben! Das Klappmesser sprang in seiner Hosentasche auf. »Marcel… d'Artagnan.« In der Erinnerung war seine Antwort ein Hauchen gewesen; in Wahrheit hatte er vermutlich gekrächzt. »Und Sie, edle Dame?« Dass sie von Adel war, sah man sofort. Ihre Gesichtszüge waren so fein, ihr Blick so rein, ihre Zähne so weiß wie die in der Fundy Bay treibenden Eisberge. Fürwahr, seit der Rückkehr aus Waashton, wo er drei oder vier Lebensjahre verbracht hatte, war Marcel keinem edleren Antlitz begegnet. Auch ihr Gang war etwas Besonderes, als sie die Tür hinter sich schloss und sich neugierigen Blickes umschaute. »Ich bin Königin Froona.« Seine Freunde in der Unterwelt von Waashton hätten jetzt vermutlich Wau gesagt. Marcel war jedoch kein kulturloser Banause. Dank seiner Bekanntschaft mit Mr. Black hatte er Bildung und Erziehung genossen und wusste, wie man sich in Gegenwart einer Dame verhielt. Deswegen stand er auf, stellte die Gitarre an die Wand
und deutete eine ebenso artige wie weltmännische Verbeugung an. Königin Froona war über seine gute Erziehung entzückt. »Sie sind ja ein besonders eleganter Bursch«, sagte sie mit ihrer erotischen Stimme und musterte Marcel wohlwollend von oben bis unten. »Wer sind Sie? Woher kommen Sie? Stehen Sie in den Diensten meines Gatten?« Bevor Marcel etwas sagen konnte, deutete sie auf die Gitarre. »Sind Sie etwa Musikant? Können Sie auf dem Ding da ein Lied spielen? Und vielleicht gar dazu singen?« »Oh … Ich … ähm … ja.« Marcel nickte eifrig, denn ihm war natürlich daran gelegen, einen guten Eindruck auf diese schöne, gut duftende und mutmaßlich mächtige Frau zu machen. Also nahm er die Gitarre, prüfte ihren Klang, griff in die Saiten und sang It's Good to be King von Tom Petty and the Heartbreakers, eine Nummer, die Mr. Hacker in den einsamen Nächten im unterirdischen Versteck der Running Men so oft auf seinem Rechner abgefahren hatte, dass Marcel sie auswendig konnte. Die Königin war noch entzückter. »Das war das Schönste, was ich je gehört habe«, sagte sie. »Sie könnten das Lied auf meinem … ähm … neunundzwanzigsten Geburtstag spielen.« »Nur zu gern, Majestät.« Marcel verbeugte sich und fragte sich, was sie wohl erst sagen würde, wenn er A Face in the Crowd spielte. Ach ja … Marcel hob den Blick. Er schaute aus dem Fenster. Das war der Anfang gewesen. Eine Woche später hatte Froona ihn – »frisch gebadet« – zu einem Konzert in ihre
Gemächer gebeten. Seitdem hatte sie ihn in der Hand. »Ja, ja …« Marcel trat vor den Spiegel, vor dem gerade eben Alanie gestanden hatte, und überprüfte den Sitz seiner Kleidung. Seit er Froona zu Willen war, ging es ihm gut. Sie kleidete und nährte ihn. Dafür machte er an einem Abend in der Woche Musik und brachte Alanie bei, wie man mit vier Fingern sechs Saiten bespielte. Die Hofschranzen begegneten ihm mit Respekt. Die Hofdamen liebten Marcels »Kompositionen«, die natürlich ohne Ausnahme aus einem großen Notenfund in den Katakomben Waashtons stammten. Dass die Offiziere des Königs hinter der Hand über ihn witzelten – man sah es an ihren Blicken –, juckte ihn nicht, denn niemand wagte es, ihn verächtlich zu machen. Froona war mächtig; wer sie verärgerte, lief Gefahr, nach Fort Halifax versetzt zu werden, wo es außer Ruinen und Skunkhörnchen nichts gab, womit man sich vergnügen konnte. Marcel schüttelte sich bei der Vorstellung, dort Dienst zu tun. Er war einmal in der Bucht von Halifax gewesen; dort lagen viele Steine herum, aber es gab keine Tavernen und losen Frauen. In Waashton war es anders gewesen. Da hatte man sich über Langeweile nicht beklagen können. O nein … Er richtete seine Krawatte. Im Nebenraum schlug die Standuhr. Marcel hörte das Knurren seines Magens. Als er die Hand auf die Türklinke legte, ging sie von allein auf und wäre ihm beinahe gegen die Nase geknallt. »Autsch …« Marcel wich zurück. Ein süß duftender, blonder Traum mit zahllosen Löckchen stürzte zu ihm hinein und hob schnuppernd
das Naschen. »Du hattest Besuch? Ich rieche es! Eine Frau? Wer ist die Schlampe! Sag es mir! Sofort.« Froona stürzte sich auf ihn und fing an, ihn zu würgen. »Heraus damit! Wie heißt sie? Lebt sie hier am Hof? Gehört sie etwa zum Personal?« »Froona, ich …« Marcel löste die Hände der erregten Königin von seinem Hals. Natürlich waren ihre Patschhändchen zu klein, um ihm den Lebensnerv abzuschnüren, aber er durfte es nicht riskieren, dass sie Spuren an seinem Hals hinterließ. Der König würde sich danach erkundigen – und Marcel wurde rot, wenn man ihn zum Lügen zwang. Außerdem war Froonas Gedächtnis keinen Schuss Pulver wert: In drei Tagen würde sie vergessen haben, von wem die Kratzspuren stammten, und ihn beschuldigen, es mit der Salatmamsell zu treiben. »Froo-oo-ona!« Die Königin ließ ihn los. »Ah, es ist das Parfüm meiner Tochter! Warum hast du es nicht gleich gesagt?« Ihr Blick fiel auf die Gitarren, die am Himmelbett lehnten. »Hast du sie unterrichtet?« »Ja-a-a …« Marcel griff hustend an seinen Hals, damit sie sein Erröten auf ihr Würgen zurückführte. »Ich kam ja leider nicht zu Wort, Majestät.« Die Königin schaute aus dem Fenster. Sie war sprunghaft und hatte den Vorfall schon vergessen. »Lernt sie auch anständig?« »Nun ja, sie könnte sich etwas mehr Mühe geben, besonders mit den Septimen …« Froona wäre nie auf die Idee gekommen, Alanie könne sich aus sexuellen Gründen in Marcels Gemächern aufhalten. Immerhin war sie doch erst sechzehn. »Aber sie hat sicher andere
Qualitäten.« »Das glaube ich auch. Sie ist sehr bewandert in Botanik.« Froona drehte sich um. »Kriege ich keinen Begrüßungskuss?« »Du weißt doch, wie das immer endet, Froona …« Marcel seufzte. Heute war anscheinend sein Seufzertag. Froona lachte nasal, schwang sich auf die Fensterbank und spreizte die Beine. »Die Gelegenheit ist günstig, Musikant. Wie du siehst, ist mein Gatte abgelenkt.« Ein von überall und nirgends kommendes Dröhnen ließ Marcel aufhorchen. Froona, die – wie immer – nur das eine wollte, packte seine Jackettaufschläge. Marcel fühlte sich nach vorn gezogen. Seine Brust war an ihrem Busen. Beinahe wären ihm die Sinne geschwunden, doch genau in diesem Moment quietschte Alanie draußen im Hofgarten erfreut auf. »Was …?« Froona drehte den Kopf zur Seite. Marcel schaute über ihre Schulter hinweg. Seine Majestät und Alanie standen vor dem knallroten Magnotulpenbeet und winkten verzückt zum Himmel hinauf. Unter den Wolken schwebte ein Ding, das in den Augen niedriger Stände wie ein riesiger Phallus aussah. Da Marcel eine gewisse Bildung hatte, wusste er natürlich, dass man solche Körper Luftschiff oder Zeppelin nannte. »Was für ein riesiger Phallus!«, rief Königin Froona mit einem sehnsuchtsvollen Seufzer aus. »Wem gehört er?« Marcel schmunzelte. Ja, so war Froona nun mal: Keinem Vergnügen abgeneigt und absolut ignorant gegenüber den Entwicklungen im Reich ihres Gatten. Andererseits wusste auch Marcel, dass eigentlich nur
sogenannten Technos über Maschinen verfügten: Die Nachfahren jener hohen Militärs, die den 2012 ausgebrochenen nuklearen Winter in unterirdischen Bunkern überlebt hatten. Im Gegensatz zu den Menschen, die die Eiszeit an der Oberfläche überstanden hatten, hatten die Technos die Geschichte der Menschheit nie vergessen. Im Süden, in den alten USA, gab es noch heute solche Bunker. Ihre Bewohner waren meist uniformiert. Ihre Anführer hielten sich für die Repräsentanten eines nicht mehr existierenden Landes, und ihr Häuptling tat alles, um dem Rest der Welt zu zeigen, dass er und die Seinen die Herren der Erde waren. »Er gehört der Luftwaffe Seiner Majestät«, erwiderte Marcel. Er musterte das Luftschiff interessiert. Er hätte eine Menge dafür gegeben, in einem solchen Fahrzeug Dienst tun und dem von General Crow angeführten Ärschen im Süden Probleme zu bereiten. Seiner Meinung nach machten sie sich allmählich etwas zu breit. Irgendwann würden sie bestimmt auch nach Kanda vorstoßen. Vielleicht war es angeraten, Seiner Majestät zu verdeutlichen, dass seine Tage als Herrscher von Nova Scotia dann gezählt waren. Marcel löste Froonas Hände vorsichtig von seinem Leib. Wahrscheinlich würde Majestät ihn nicht mal empfangen. Aber als Ausrede, um sich die Königin für einen Tag vom Hals zu halten, war die Idee wohl geeignet. »Du, Froona, ich glaube, ich muss deinem Gatten eine dringende Mitteilung machen …«
3 � Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um. Wolf Biermann. Hätte die Sichtung des Luftschiffes Froona nicht abgelenkt, wäre ihre Reaktion gewiss anders ausgefallen. So jedoch wehrte sie sich nicht, als Marcel sie von der Fensterbank hob und ihren Blick auf das Objekt am Himmel richtete. »Über den Wolken«, murmelte die Königin, »muss die Freiheit wohl grenzenlos sein …« »Sowieso.« Marcel nickte. »Behalt das Ding im Auge.« Er verließ sein Gemach und eilte durch Korridore, die mit Holz getäfelt waren. Als er über die Treppe in den Hofgarten kam, waren dort Dutzende von Lakaien, Hofschranzen und Wachoffizieren versammelt. Alle reckten den Hals und schauten dem weit hinter der Palastmauer zu Boden sinkenden Luftschiff zu. Angehörige des zweiten Zugs der Wachkompanie liefen der fliegenden Zygar gewiss längst entgegen und ergriffen die aus den Bodenluken fallenden Taue. Marcel hatte schon mehr als eine »Landung« gesehen, deswegen nutzte er die Gelegenheit und begutachtete die Menschen, die sich nun um Seine Majestät versammelten. Es waren Grafen und Barone. Die meisten waren zum Schleimen an den Hof gekommen. Andere hatten sich hier eingenistet, um Alanie schöne Augen zu machen. Sie spitzten darauf, eines Tages Prinzgemahl zu werden.
Alanie hatte aber keinen Blick für die blaublutigen Bleichlinge übrig. Auch Marcel hatte Vorbehalte gegen das höfische Gesindel – nicht zuletzt, weil es ihn als Konkurrenten sah und dementsprechend behandelte. Mochte der junge Adel auch dämlich sein, er erkannte sofort, wo jemand in seinen Pfründen wilderte. Deswegen maßen die jungen Herren Marcel immer mit scheelen Blicken, wenn er, wie jetzt, in der Nähe der Prinzessin weilte und ihr zuzwinkerte. Kurz darauf sprengten unter der Führung von Sergeant Wilmington fünf berittene Luftschiff-Offiziere in den Hof – unter ihnen auch Captain Caxton, der Kommandant. Während die Gentlemen ihre Geweihe tragenden Relche zügelten, trabte Sergeant Wilmington zum König. Wie immer, wenn man Seiner Majestät zu nahe kam, bildeten die Wachoffiziere einen Kordon und zückten ihre Colts. Wilmington hielt zehn Meter vor dem König an und rief: »Bitte um Erlaubnis, mich Majestät nähern zu dürfen!« »Erlaubnis erteilt«, antwortete der König. Die Menschen in seiner Umgebung atmeten auf. Nun wussten sie, dass sein Anfall abgeklungen war. Wilmington saß ab und stiefelte auf den König zu. Zwei Meter vor ihm salutierte er. Was er dem König zu melden hatte, hörte niemand, denn er beugte sich vor und sprach sehr leise. Die Hofschranzen schauten sich an. Die zwischen einigen Hofdamen stehende Alanie kehrte mit ihrem Gesinde ins Haupthaus zurück. Der König und Wilmington gingen, in ein leises, aber
offenbar wichtiges Gespräch vertieft, über die große Treppe in die Halle und verschwanden kurz darauf im Thronsaal. Einige Wachoffiziere gesellten sich zu den berittenen Luftschiffoffizieren und sprachen mit ihnen. Marcel nahm an, dass sie sie nach dem Grund ihrer plötzlichen Rückkehr befragten, denn normalerweise hätte die Patrouille des Luftschiffes erst in einer Woche geendet. Auch die altgedienten Lakaien fanden es befremdend, dass Sergeant Wilmington mit dem Luftschiff nach Digby gekommen war: Er war ein berühmter Pfadfinder und stand seit seiner Jugend im Dienst des Königshauses. Normalerweise sah man ihn auf dem Rücken eines rassigen Relchs durch die Landschaft sprengen und geheime Aufträge für Seine Majestät erledigen. Dass Captain Caxton ihn an Bord genommen hatte, musste etwas zu bedeuten haben. Irgendwas musste passiert sein. Doch was? Marcel kehrte in seine Gemächer zurück. Zu seinem Erstaunen fand er dort Prinzessin Alanie vor. »Oha …«, sagte er erschreckt, denn sie hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt. Marcel hastete mit pochendem Herzen an die Tür zurück und horchte. Was sollte er tun, wenn auch Froona die Gunst der Stunde nutzen wollte? Wenn sie ihre Tochter außerhalb der Unterrichtsstunden hier antraf, machte sie bestimmt eine böse Szene. Alanie kicherte albern. »Komm her, wackerer Lehrer! Zeig mir einen neuen Griff! Ich möchte endlich den B7sus4 lernen!« Sie zupfte an ihrem Röckchen, das
ohnehin so kurz war, dass Marcel beinahe erblindete. Sie sprang vom Bett und zog ihn zu einem zwei Meter hohen Wandgemälde: das Abbild eines Menschen, der den Eindruck machte, als sei unter seinen Ahnen auch ein Kabeljau gewesen. »König Mick, unser Urahn.« Alanie packte den dicken, mit Goldbronze bemalten Holzrahmen an der Seite und klappte das Gemälde wie eine Tür auf. Dahinter befand sich tatsächlich eine Tür. Sie war aus dunklem Holz und ließ sich leicht öffnen. Marcel stand mit offenem Mund da und schaute in den finsteren Gang hinein, der sich vor ihm auftat. »Du sieht aus, als hättest du noch nie einen Geheimgang gesehen«, sagte Alanie. »Hab ich auch noch nie.« »Davon gibt's hier jede Menge.« Alanie kicherte. »Sei leise und komm mit!« Sie trat in den Gang ein, entnahm einem Eisenring an der Wand eine Fackel und zündete sie mit einem mechanischen Gaser an. Marcel folgte ihr argwöhnisch. Der Gang war endlos lang und führte an unzählbaren Türen vorbei. Wie Alanie flüsternd erklärte, waren alle Türen auf der anderen Seite mit Gemälden getarnt. Vor einer blieb sie stehen und öffnete sie. Sie standen vor der Rückseite eines Gemäldes. Marcel hörte Stimmen. Alanie zupfte an seinem rechten Ohrläppchen, bis er sich zu ihr hinabbeugte. »Hinter dem Gemälde dort liegt der Thronsaal«, zischte sie. Sie belauschte den König, ihren Vater! Marcel war entsetzt. Wie verdorben doch die heutige Jugend war! Nicht mal Prinzessinnen bewiesen noch Noblesse. Am liebsten hätte er sich verdünnisiert, doch leider
hatte sich Alanies Händchen unter den Gurt seines Beinkleides geschoben und löste etwas aus, das Behagen versprach. Fast automatisch drückte Marcel sein Ohr an die Rückwand des Ölgemäldes und lauschte. »Sie glauben, er war ein Kurier, Wilmington?« Die Stimme Seiner Majestät war deutlich zu hören. Sie klang ein wenig zittrig, als hätte der Sergeant ihm eine nicht sehr erfreuliche Mitteilung überbracht. »Aber Sie konnten ihn nicht verstehen?« »Leider nein, Sire. Ich konnte nur anhand des völlig durchnässten Papiers, das der Mann bei sich hatte, erkennen, dass er zu Ihnen …« Er hüstelte verlegen. »… beziehungsweise zur Königin unterwegs war.« »Eins befehle ich Ihnen, Wilmington«, erwiderte der König streng. »Meine Gattin erfährt von dieser Sache nichts!« »Gewiss, Sire.« Marcel hörte Wilmington hüsteln. Er war ein Klotz von einem Mann; ein Bursche, dem man sein Leben anvertrauen konnte. Nun wirkte er sehr klein – und zwar mit Hut. Um was ging es da? »Was geht da vor, Marcel?«, zischte Alanie und schaute ihn mit großen Augen an. »Was darf meine Mutter nicht wissen?« Marcel zuckte die Achseln. Wenn von Froona und irgendwelchen Männern die Rede war, konnte es eigentlich nur um eins gehen, aber das konnte er der Tochter der Königin nicht auf die Nase binden. Welche Prinzessin hörte es schon gern, dass ihre Mutter eine Nymphomanin war – speziell dann, wenn sie sich nicht wesentlich von ihr unterschied? »Das sind sicher irgendwelche politischen Ränke«,
zischte Marcel zurück. »Komm, lass uns von hier verschwinden, sonst erwischt man uns noch.« »Vielleicht könnten wir die Begegnung, die sie mit dem Kurier hatten, einfach verschweigen«, sagte der König. »Die Mannschaft weiß doch nicht, zu wem er wollte, oder?« »Dazu ist es leider zu spät, Sire«, fuhr der Sergeant fort. »Auf dem Rückflug haben Captain Caxton und ich nämlich alles getan, um die Botschaft zu entschlüsseln, die der Mann bei sich hatte. Leider ohne großen Erfolg. Natürlich weiß auch er, an wen sie gerichtet ist. Und ich nehme an, dass er seine Offiziere ebenfalls darüber informiert hat.« Wilmington seufzte erneut. »Wenn die es erst mal ihren Damen erzählen …« »Sack und Eier!«, fluchte der König. Marcel und Alanie schauten sich an. »Schade, dass unsere Entzifferungsversuche nichts Konkretes erbracht haben«, hörte Marcel Wilmington sagen. »Aber als ich den Mann aus dem Wasser gezogen hatte, war das Papier aufgeweicht und die Tinte völlig verschmiert. Ich konnte nur einige Worte entziffern, die leider keinen Sinn ergaben.« »Hm …« Der Monarch räusperte sich, dann hörte Marcel ihn übers Parkett marschieren. »Haben Sie eine Abschrift der entzifferbaren Worte gemacht, Wilmington? Und wenn ja, wie lauten sie?« »Jawohl, Sire. Haben wir gemacht.« Der Sergeant raschelte mit Papier. »Hier.« »Lesen Sie vor, Wilmington!« »Jawohl, Sire.« Wilmington hüstelte. »Aber die Worte sind, wie gesagt, völlig unergiebig …« »Lesen Sie trotzdem vor!«
»Jawohl.« Das Rascheln wollte kein Ende nehmen, dann sagte der Sergeant: »Ich … ein … ganz … und … war … Jahre … See … und … wir … kein … noch … zudem … und … kaum … deswegen …« Er verstummte. Schließlich hörte Marcel ihn sagen: »Dann kommt noch etwas, Sire, das ich für einen Namen halte: Enryk.« Schweigen. Dann: »Enryk?« »Sagt Ihnen der Name etwas, Sire?« »Und ob«, erwiderte der König. »Erinnern Sie mich bloß nicht daran! Ich könnte noch heute aus der Haut fahren, wenn ich an diesen Enryk denke!« »Ich dachte es mir schon«, sagte Sergeant Wilmington. Und erneut räusperte er sich. »Wenn Sie gestatten, Majestät, schlage ich vor, dass wir gleich morgen eine Expedition in Marsch setzen, die das Ziel hat, Enryk Torsvan ausfindig zu machen.« Der König blieb stehen. »Enryk Torsvan ist tot«, fauchte er. »Falls er nicht tot ist, verdient er es, tot zu sein!« »Vielleicht ist er wirklich tot. Vielleicht wollte jemand, der seinen Leichnam gefunden hat, uns davon in Kenntnis setzen. Vielleicht ist er aber auch nicht tot! Vielleicht lebt er! Wäre es nicht ein Zeichen ungeheurer Generosität, wenn unser König alles in seiner Macht stehende täte, um ihn von einem unerträglichen Eiland zu retten?« »Meinen Sie wirklich, Wilmington?« Dem König schien die Vorstellung zu gefallen, von aller Welt geliebt zu werden. Aber in seiner Stimme klangen auch Zweifel mit. »Das ist meine Meinung, Sire!«
Sosehr Marcel und Alanie sich auch anstrengten: Danach hörten sie nur noch das Knirschen von Lederstiefeln auf dem Boden des Thronsaals. Offenbar hatte der König einen kleinen Rundgang gestartet, um ausführlich nachzudenken. Den Lauschern hinter dem Gemälde wurde es langweilig. »Das hier, Majestät«, sagte Wilmington, als Marcel und Alanie sich gerade zurückziehen wollten, »ist die Skizze, die ich von dem Toten angefertigt habe.« »Gütiger Kukumotz!«, rief der Monarch aus. »Er sieht ja aus wie ein Abgesandter der Hölle!«
4 � Nie hat man seinen Geist nötiger, als wenn man mit einem Dummkopf zu tun hat. Chinesische Weisheit Hinter ihnen, vermutlich in seinem Gemach, rief eine glockenhelle Frauenstimme Marcels Namen. Froona! Herrjeh … Marcel und Alanie schraken zusammen. Die Prinzessin war jedoch nicht dumm. Deswegen zeigte sie weniger Entsetzen als Überraschung: Sie hatte schon mal angedeutet, dass sie von der »Krankheit« wusste, an der ihre Mutter litt. »Ich muss weg!« Alanie küsste Marcel auf die Wange. Sie eilte durch den Gang, durch den sie gekommen waren, und verschwand hinter einer anderen Tür, die wahrscheinlich in ein leeres Gemach führte. Von dort aus konnte sie ihre eigene Zimmerflucht sicher problemlos erreichen. Marcel schloss die Tür, hinter der sie gelauscht hatten, und eilte zurück. Froona saß auf seinem Bett. Sie ließ die Beine baumeln und sah zum Anbeißen aus. Wenn sie sich in jenem Zustand, in dem der Schöpfer sie gemacht hatte, auf den Laken wälzte, verfehlte es nie seine Wirkung. Bloß hätte Marcel jetzt, als er aus dem Geheimgang zurückkehrte, alles dafür gegeben, allein zu sein. »Wo warst du?«, fragte sie prompt. »Spionierst du etwa unsere Kammerkätzchen aus?« Marcel räusperte sich. Die Königin war wirklich eine
liebe, unpolitische Seele. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dass er den König ausspionierte. Der Geheimgang schien ihr bekannt, denn sie wunderte sich nicht. Ein Mann, der sich zwischen den Räumlichkeiten ihres Zuhauses bewegte, konnte nur eins im Sinn haben: Er wollte den Zofen des Königs beim Baden zusehen! Marcel errötete pflichtschuldig. Damit war das Thema erledigt. Froona streckte sich auf seinem Bett aus. Marcel, froh, sich nicht verdächtig gemacht zu haben, ging gehorsam auf allen vieren über ihr in Stellung und beschnäbelte sie, bis ihr Blut in Wallung geriet. Fünfzehn Minuten später – Froona zerkratzte gerade seinen Rücken und keuchte »Pass bloß auf … Pass bloooß auf …« – klopfte jemand fest an die Tür. Ein Offizier, der ihn nicht leiden konnte, brüllte: »Junker d'Artagnan! Majestät wünscht Sie zu sprechen! Kommen Sie sofort raus!« »Wahhh …« Froona verdrehte die Augen. Ihr hübsches Gesicht schaute so entzückt drein, dass Marcel die Kontrolle verlor. Obwohl er alles tat, um sich zurückzuziehen, gelang es ihm nicht rechtzeitig. Froona, aus der Ekstase erwacht, gab ihm eine Ohrfeige. »Bist du von Sinnen?« »Entschuldige …« Marcel richtete sich auf. Er bebte am ganzen Körper. Wieder brüllte der Offizier seinen Namen. »Ich muss weg …« Er sprang vom Bett. In seinem Kopf lief vieles durcheinander. Was würde passieren, wenn er die Königin jetzt geschwängert hatte? Alanie würde ihn vermutlich bei ihrem Vater in die Pfanne hauen. Marcel griff nach seinem Beinkleid, versuchte es
anzuziehen. »Junker d'Artagnan!«, kam es von draußen. »Wo bleiben Sie denn, verdammt noch mal?« »Marcel, du Klotzkopf …« Froona richtete sich auf und schnappte nach Luft. »Ist dir eigentlich klar, was du getan hast?« »Ich?« Marcel schloss seinen Gürtel, schlüpfte in sein Jackett, baute sich vor dem Spiegel auf und strich sein Haar glatt. »Das haben wir doch wohl zusammen getan.« Die Faust des Offiziers krachte gegen die Tür. Sein Gebrüll wurde peinlich. »Ja! Ja!«, schrie Marcel. »Ich komme ja schon!« Wollte der Blödian ihn am ganzen Hof unmöglich machen? Er warf Froona ein Kusshändchen zu und eilte hinaus. »Warum haben Sie so lange gebraucht?« Das schmierige Grinsen des Lieutenants sagte Marcel, dass er über ihn und die Königin Bescheid wusste. Vermutlich war er nur neidisch. »Das wollen Sie doch nicht wirklich wissen, oder?«, erwiderte er schnippisch. Er setzte sich sofort in Bewegung. Der Lieutenant folgte ihm. Als sie die Eingangshalle durchquerten, an die sich der zum Thronsaal führende Korridor anschloss, ging das Hauptportal auf, und ein großer bärtiger Mann mit Schlapphut und dunkler Lederkleidung trat in Begleitung eines Domestiken ein. Marcel schätzte ihn auf Mitte vierzig. Der Mann wirkte verwegen und strahlte etwas nicht Alltägliches aus. An seinem Leibriemen hingen zwei Futterale, in denen schwarze Handfeuerwaffen steckten. »Wer ist das?«, fragte er den Lieutenant, als sie sich dem Thronsaal näherten.
»Er nennt sich Rev'rend Fury.« Der Lieutenant zog die Nase hoch. »Ein Prediger, der einer Gottheit anhängt, die vor zweieinhalbtausend Jahren ihren Sohn zur Erde geschickt haben soll, damit er für die Sünden der Menschen stirbt.« Er verzog amüsiert die Lippen. »Und was will er hier? Die königliche Familie für seinen Gott missionieren?« »Er schmarotzt nur hier rum.« Der Lieutenant seufzte. »Er ist um sieben Ecken mit der Königin verwandt. Sie füttert ihn durch und zwingt Seine Majestät hin und wieder, seine Kreuzzüge zu finanzieren.« Sie blieben vor der Tür stehen. »Wie geht es Seiner Majestät?«, fragte Marcel. Der Lieutenant schmunzelte. »Es ging ihm schon übler, Herr Musikus.« Marcel betrat den Thronsaal. Er hatte keine Ahnung, wozu der Thronsaal diente, zumal er nichts enthielt, das einem Thron auch nur entfernt ähnlich sah. Der Raum maß achtzig Quadratmeter. Der Boden bestand aus glattem, hellem Holz. Die Wände waren kahl – bis auf die Porträts der Ahnen Seiner Majestät. Marcel hatte in seinem ganzen Leben noch keine hässlichere Ansammlung schmerbäuchiger und schielender Kretins gesehen. Als die Tür hinter ihm zufiel, fragte er sich, ob der König wirklich Alanies Vater war. Da er ihre Mutter kannte, war nicht ausschließen, dass sie … »Junker Marcel d'Artagnan«, verkündete ein grauhaariger Lakai mit hallender Stimme. Marcel baute sich vor dem vier Meter breiten
Schreibtisch Seiner Majestät auf. An der fensterlosen Wand hinter dem Monarchen standen sechs Stabsoffiziere mit gezückten Colts. Sie ließen den Besucher nicht aus den Augen. Neben dem König stand Sergeant Wilmington. Er sah sehr beeindruckend aus. Marcel schätzte ihn auf vierzig Jahre. Er trug einen Wildlederanzug mit langen Fransen. Keiner wusste genau, was er eigentlich machte, aber er war dem König direkt unterstellt und erledigte für ihn heikle und vertrauliche Aufgaben. »Sie sind der Musiklehrer meiner Tochter?« Der König schaute Marcel an. Sein Blick war gutmütig und irgendwie müde, aber das konnte sich schnell ändern, wenn er seinen Anfall bekam. »Jawohl, Sire.« Marcel verbeugte sich. Es stand so in der Hausordnung. »Woher stammen Sie, junger Mann?« Marcel log ihm die Legende vor, die Mr. Hacker vor Jahren für ihn komponiert hatte – für den Fall, dass er WCA-Agenten in die Hände fiel. Die Geschichte besagte, dass er der Sohn eines kleinen Landadeligen aus Loosiana war und aus dem Dorf Nuu'Orlyong stammte. Nuu'Orlyong war vor zwei Jahrzehnten in einer Flutwelle abgesoffen, sodass ihm das Gegenteil niemand beweisen konnte. »Wieso gerade Nuu'Orlyong?«, hatte Marcel Hacker gefragt. »Weil die Leute dort so sprechen wie du, mein Süßer«, hatte Mr. Hacker geantwortet. Den Rest seiner Vergangenheit hatte Marcel sich nach der Ankunft in Nova Scotia selbst ausgedacht: Er war der siebente Sohn eines Freiherrn, ein Zwerg im Adel seiner
Heimat. Genau genommen war er so unbedeutend, dass er nicht mal in den Adelslisten stand, da man in Loosiana nur die ersten fünf Söhne eines Freiherrn registrierte. »Hm, hm, so, so …« Der König räusperte sich. »Wie meine Gewährsmänner mir zugetragen haben, sprechen Sie das Kauderwelsch der Froschfresser?« Marcel nickte vorsichtig. »Ja, Sire. In Loosiana ist dieses Kauderwelsch neben der richtigen Sprache in … ähm … Musikantenkreisen verbreitet …« Er hüstelte vornehm. Seine Majestät schaute Sergeant Wilmington an. Der stiernackige Haudegen nickte. »Nun gut.« Der König richtete den Blick wieder auf Marcel. »Ich befehle, Sergeant Wilmington Ihr Ohr zu leihen, während ich zur Tafel schreite.« Er stand auf, zog seine Uniformjacke gerade und ging zur Tür. Die Stabsoffiziere steckten ihre Colts ein und folgten ihm. Marcel und Wilmington schauten sich an. »Was ich Ihnen zu sage habe, unterliegt absoluter Geheimhaltung.« Wilmington musterte Marcel von Kopf bis Fuß. »Auch wenn Sie von Adel sind …« Er räusperte sich. »Ich muss Ihnen diese Frage stellen: Haben Sie gedient?« »Natürlich.« Marcel knallte die Hacken zusammen. Er war für zwei Rebellenheere tätig gewesen und hatte nie gekniffen, wenn es galt, Tyrannen auf die Nase zu schlagen. Von Hause aus war er Pazifist. Eigentlich tat er nichts lieber, als in der Sonne zu sitzen, den Blumen beim Wachsen zuzusehen und Gitarre zu spielen. Aber für eine zünftige Rauferei mit einem Feind, der Prügel verdient hatte, ließ er auch schon mal alles stehen und liegen.
»Famos«, sagte Wilmington. »Dienstgrad?« Marcel fragte sich kurz, ob er schwindeln sollte. Aber wenn er vorgab, Offizier zu sein, um ein bequemeres Leben zu führen, gab der König ihm vielleicht ein entsprechendes Patent und halste ihm Arbeit auf, die ihn überforderte. »Gefreiter«, sagte er. Wilmington runzelte die Stirn. »Ein bemerkenswert niedriger Dienstgrad für einen Adeligen.« »Ich weiß.« Marcel nickte. »Aber mein Vater hat keine Privilegien verschenkt.« Er hüstelte. »Ich war eher musisch und sprachlich als militärisch begabt, Sergeant.« Wilmington nickte. »Danke, dass Sie es mir gesagt haben.« Er deutete auf die Sitzgruppe, die Marcel bisher nur aus den Augenwinkeln betrachtet hatte. »Setzen wir uns.« Er ging voran, und sie nahmen Platz: Der Sergeant auf dem roten Plüschsofa, Marcel auf einem Sessel. Wilmington schob ihm ein Blatt Papier entgegen, das auf dem Tisch lag. Es war eine einfache Zeichnung eines bizarr aussehenden Menschen: Er war kahl wie eine Billardkugel, doch auf seiner Stirn waren zwei kleine Höcker, die wie Hörner aussahen, aber vermutlich Fettgeschwulste waren. Nun verstand Marcel, warum der König »Abgesandter der Hölle« gerufen hatte. Auch er war während seiner Reisen in den Ländern Meerakas Mutationen begegnet. Dieser Mensch hier war allerdings der erste, der so aussah, wie sich gewisse Kreise den Teufel vorstellten. »Was halten Sie davon?« Wilmington musterte Marcel aufmerksam. Er schien seine Reaktion prüfen zu wollen. Marcel runzelte die Stirn. »Ein Mutant, nicht wahr?« Wilmington atmete auf. »Ich bin froh, dass Sie es auch
so sehen, Junker. Captain Caxton und seine Offiziere …« Er runzelte die Stirn. »Ach, lassen wir das.« Dann erzählte er Marcel, was dieser schon wusste, und beantwortete auch alle anderen Fragen, die mit dem Fall zu tun hatten: Bei einem ebenso wichtigen wie geheimen Auftrag, den Wilmington für Seine Majestät hatte erledigen müssen, war er an der steinigen nördlichen Meeresküste auf einen sterbenden gehörnten Fremdling gestoßen, der aus dem Norden – von der Insel Faunland – gekommen war. Nachdem er allerlei verzweifelte Gesten gemacht hatte, war der Mann gestorben, doch zuvor hatte er Wilmington noch eine papierene Botschaft in die Hand gedrückt. Wilmington hatte sich ohne Erfolg bemüht, sie zu lesen, ihr aber nur entnommen, dass sie an Königin Froona gerichtet war. Er hatte den Fremdling begraben und am Tag darauf Captain Caxtons Luftschiff gesichtet. Er hatte ein Signalfeuer gemacht, und der Captain hatte ihn an Bord genommen. Marcel hielt es für angebracht, große Augen zu machen und gelegentlich »Ah!«, »Oh!« und »Wirklich?« zu sagen, um seine Ahnungslosigkeit zu untermauern. Indizien deuteten an, dass der Kurier im Auftrag eines gewissen Baron Torsvan gehandelt hatte. Torsvan hatte im Dienst des Vaters Seiner Majestät gestanden und war vor siebzehn Jahren bei einer Forschungsreise nach Faunland verschollen. »Offenbar lebt der Baron noch. Wieso er einen Kurier schickt, statt selbst zu kommen, vermag ich nicht zu sagen.« Wilmington zuckte die Achseln. »Aber es kann
tausend Gründe geben: Er kann sich die Beine gebrochen haben, in einem Verlies sitzen oder sonst wie gebunden sein.« Er schaute Marcel an. »Jedenfalls ist es für unsere Majestät eine Sache der Ehre, nach Faunland zu fahren und den Baron zu suchen. Da unsere Aufzeichnungen Grund zu der Annahme liefern, dass auf diesem Eiland auch Fraace gesprochen wird, brauchen wir für den Fall des Falles natürlich einen Dolmetscher.« »Ah!« Marcel nickte. »Jetzt verstehe ich!« War das nicht die Gelegenheit, sich für eine Weile aus dem Staub zu machen? Er brauchte Bewegung anderer Art. Das Leben und die Annehmlichkeiten am Hof machten einen jungen Mann fett und träge. »Ich bin gern bereit, Ihnen mein Können zur Verfügung zu stellen.« Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als sein Magen anfing zu knurren. »Oh! Ich schlage vor, wir besprechen die Einzelheiten nach dem Essen.« »Ganz meine Meinung.« Wilmington nickte. »Was gibt's denn heute?« Er packte die Skizze ein und stand auf. »Was es im Kasino gibt, weiß ich nicht, aber das Personal kriegt heute Ratze à la Avignon.« »Klingt wirklich lecker.« Wilmington grinste. Marcel grinste zurück. Er hatte das Gefühl, dass er sich gut mit dem Sergeant verstehen würde.
5 � Eine Konferenz ist eine Veranstaltung, bei der viele Menschen über das reden, was sie lieber tun sollten. Bürokratische Weisheit Marcel nahm seine Mahlzeit mit dem dienstfreien Personal in einem Nebenraum der Küche ein. Eine Stunde später hockte er wieder in seinem Gemach und fragte sich, wie er Froona und Alanie beibringen sollte, dass er sie für einige Zeit verlassen musste. Die beiden waren sehr egoistisch und der Meinung, das Universum habe sich um sie zu drehen … Um die Zeit totzuschlagen, nahm er seine Gitarre und studierte ein Lied ein. Wie immer, wenn er sich entspannen wollte, klopfte es, und ein junger Domestik bat ihn in den Grünen Salon. Welche Überraschung! In der Regel lud man ihn nur in den Grünen Salon ein, wenn ein Tanzvergnügen anstand. Seine Majestät, sein sauertöpfisch blickender Sekretär und Sergeant Wilmington saßen auf Ledersesseln an einem Tisch. Sie rauchten Zygars und tranken sauren Weißwein. Zwei Stabsoffiziere standen mit gezückten Colts neben einem Servierlakaien, als befürchteten sie ein Attentat. »Ah, Junker d'Artagnan!« Der König bat Marcel an den Tisch, forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und schob ihm eine Zygar zwischen die Zähne. Der Servierlakai war sofort da und steckte sie an. Marcel sog den Rauch ein
und musste husten. Majestät und der Sergeant lachten. Der Sekretär, ein glatzköpfiger Schrat im Rang eines Barons, verzog keine Miene. »Ja, das Rauchen erfordert halt einen richtigen Kerl«, sagte Seine Majestät. Marcel hatte den Hustenanfall gerade überwunden, als die Tür erneut aufging. Die Offiziere knallten die Hacken zusammen, und der König schaute unwillig auf. Der verwegen aussehende Mann mit dem Schlapphut, den Marcel schon in der Halle gesehen hatte, stand im Türrahmen. Königin Froona und Prinzessin Alanie hatten sich rechts und links bei ihm eingehakt und schleiften ihn mit wichtigtuerischer Miene in den Salon hinein, als hätte hier jemand Geburtstag. Der Monarch grunzte. Der Sekretär zog die Nase hoch. Sergeant Wilmington spitzte die Lippen, als wollte er sagen: Das hat uns gerade noch gefehlt! Dass der König den Geistlichen gefressen hatte, sah Marcel an den Blicken, die er ihm zuwarf. »Sergeant Wilmington? Junker d'Artagnan?« Froona und ihre Tochter blieben mit ihrem Gast vor dem Tisch stehen. »Darf ich vorstellen? Dies ist Rev'rend Fury, mein werter Cousin.« »Guten Abend allerseits.« Fury nickte und lüpfte kurz seinen Hut. Wilmington sprang auf, knallte die Hacken zusammen, salutierte und setzte sich wieder hin. Marcel stand ebenfalls auf und verbeugte sich. »Ich hatte das Glück, in dem Kloster erzogen zu werden, in dem die Mutter des Rev'rends Oberin war …« Froona errötete, als ihr bewusst wurde, was sie gerade gesagt hatte. »Sie … ähm …«, fügte sie entschuldigend
hinzu, »fand erst spät zum wahren Glauben.« »Fürwahr!« Rev'rend Fury nickte und nahm die Anwesenden in Augenschein. »Sie war, wie wir alle, eine Sünderin, bevor der HERR ihr den rechten Weg wies!« Er nahm erneut seinen Hut ab. Seine Mähne war beeindruckend voll. »Nachdem sie den Weg gefunden hatte, wurde sie zu einer Kämpferin GOTTES wider die Kräfte des Gehörnten, dessen Truppen alle Tage aktiv sind, um die Menschen ins Unglück zu treiben.« Der König brummte etwas, das Zustimmung, aber auch Ablehnung bedeuten konnte. Dann lud er den Rev'rend und die Damen ein, am Tisch Platz zu nehmen. Marcel sah ihm an, dass ihm der Besuch nicht gelegen kam. Ob es mit Furys Geschwafel zu tun hatte, konnte er nicht erkennen. Irgendwie hatte er aber den Eindruck, dass die Königin in dem attraktiven Geistlichen mehr sah als nur einen Vetter: Wenn ihr Blick auf seinem Antlitz ruhte, glitzerten ihre Augen wie die einer rolligen Katze. Natürlich war es unter den gegebenen Umständen nicht mehr möglich, geheime Dinge wie eine Expedition nach Faunland zu besprechen. Wilmington warf dem Monarchen und Marcel einen bedauernden Blick zu und begann dann mit einer Schilderung seiner tolldreisten Abenteuer in der Wildnis des kandanischen Festlandes. Froona und Alanie waren entzückt. Der Rev'rend setzte seinen Hut wieder auf und lauschte den Worten des von Wind und Wetter gegerbten Haudegens ebenfalls. Seine verwegene Aura gefiel Marcel, der aber nicht genau wusste, was er von dem Mann halten sollte. Einerseits wirkte Fury standhaft und zuverlässig. Andererseits misstraute Marcel Menschen, die behaupteten, im Dienst höherer Mächte
zu stehen. Nach seinen Erfahrungen war immer Vorsicht geboten, wenn jemand behauptete, Stimmen zu hören. Nach einer spannenden halben Stunde fanden die Schilderungen des Pfadfinders ihr Ende, und der Servierlakai fuhr ein Wägelchen voller exquisiter Häppchen heran. Nun löste sich die Sitzordnung auf. Alle erhoben sich, aßen Lachsschnittchen, tratschten, leerten ihre Gläser und ließen sich nachschenken. Irgendwann stand Marcel neben Alanie und musste ihr erklären, wieso er sich dem Befehl nicht widersetzt hatte, zeitweise in der Königlichen Luftwaffe zu dienen. »Du bist doch gar kein Soldat!« »Ich war aber mal Soldat.« »Quatsch! Du warst Fahrer! Du hast einen Panzer gefahren!« »Sind Panzerfahrer etwa keine Soldaten?« »Nein. Die sitzen hinter dicken Eisenwänden und drücken auf Knöpfe. Richtige Soldaten haben Säbel und schlagen sich gegenseitig den Kopf ab!« »Na, vielen Dank«, sagte Marcel. »Lass das bloß nicht Wilmington hören. Der hat auch kein Schwert.« »Papperlapapp! Du willst nur weg von hier! Weg von mir! Du liebst mich nicht mehr!« Marcel verdrehte die Augen und stöhnte leise. »Ich muss es tun! Dein Vater lässt mich sonst hängen.« »Mach dich nicht lächerlich«, schnaubte die Prinzessin. »Um was geht es überhaupt bei dieser Expedition?« »Keine Ahnung.« Marcel zuckte die Achseln. Er konnte ihr nichts sagen. Schließlich war die Sache geheim. »Willst du mich verarschen?« Alanie funkelte ihn an. »Glaubst du, ich bin auch eine von diesen dekadenten
Puten, die sofort die Klappe halten, wenn man ›Weiß ich nicht‹ sagt?« »Aber nein!« Marcel versuchte empört dreinzuschauen. »Also sag es mir!« »Na schön.« Marcel seufzte. »Aber von mir hast du es nicht.« Dann sagte er es ihr. »Ein Mensch mit Hörnern?«, staunte Alanie, als er fertig war. »So etwas hat die Welt ja noch nicht gehört!« Sie deutete unauffällig auf Rev'rend Fury. »Weiß er schon davon?« »Bist du von Sinnen?« Marcel hätte sie am liebsten gepackt und in eine Ecke geschoben, doch das wäre aufgefallen. Bevor er Alanie noch mal ins Gebet nehmen konnte, damit sie die Klappe hielt, zog Froona ihn beiseite, führte ihn auf die andere Seite des Salons und fragte ihn aufgebracht, wie er dazu käme, sich der Expedition anzuschließen, über die ihr Gatte und Wilmington gerade am Tisch tuschelten. Marcel war schockiert darüber, dass sie von der Sache wusste, aber noch schockierter war er, als er sah, dass Seine Majestät Rev'rend Fury gerade mit einem hinterhältigen Grinsen die Skizze unter die Nase hielt, die den Gehörnten zeigte. »Ich musste es tun«, erwiderte Marcel. »Wilmington braucht mich als Dolmetscher.« Froona schnaubte. »Das ist Fahnenflucht.« Dann grinste sie schelmisch. »Glaub bloß nicht, dass du mich mit anderen Frauen betrügen kannst. Ich bringe einen Aufpasser ins Luftschiff, dem ich hundertprozentig vertrauen kann!« Am Tisch entstand Unruhe. Und so, wie Marcel es sah,
war die Skizze daran nicht unschuldig. »Bei allen Erzengeln!«, rief Rev'rend Fury. »Siehst du denn nicht, was da in dein Reich vorgedrungen ist, Louie?« Er wedelte mit der Zeichnung vor der Nase des Königs herum. »Ja, sieht denn niemand, dass der arme Schiffbrüchige in Wirklichkeit ein Abgesandter Satans ist?!« Totenstille breitete sich aus. Marcel trat unweigerlich einen Schritt zurück. »Was?«, sagte der König. Marcel hatte Wilmingtons Skizze ebenfalls gesehen. Für jemanden, der in einer Welt aufgewachsen war, in der Mutationen an der Tagesordnung waren, hatte er den logischsten aller Schlüsse gezogen. Aber war es auch der richtige Schluss gewesen? Fury legte die Skizze auf den Tisch. »Wenn diese Kreatur so aussieht, wie der Sergeant sie zu Papier gebracht hat, gibt es überhaupt keine Frage: Sie gehört zu Satan! Sie ist aus den Tiefen der Erde zu uns emporgekrochen, um jene zu versuchen, die GOTT fürchten!« Er schaute in die Runde. Sein durchdringender Blick maß die ihn erschreckt musternden Menschen. »Ich weiß, mit wem wir es hier zu tun haben!«, fuhr er fort. »Ich habe die Beweise in unserem Ordenshaus in Manitoba gesehen! Ich war in den tiefsten Archivgrüften der Eingeweihten …« Der Rev'rend holte weit aus. Ihm zufolge hatte der Orden der Rev'rends schon lange vor der Menschwerdung Kristians Erkenntnisse über Satan und seine Helfershelfer gesammelt. Nicht alles Wissen war im Eis verloren gegangen.
Erhalten geblieben war die wissenschaftlich fundierte Erkenntnis, dass sich das Tor zur Hölle auf einer eisigen Insel östlich des alten Kanda befand. Auch in der kalten Phase hatte der Orden ständig danach geforscht: Generationen von Rev'rends hatten in dieser Zeit Tausende von Besessenen exorziert, Tausende von Satansjüngern gepfählt und zahllose Dämonen aufgespürt, die als Menschen getarnt GOTTES Geschöpfe mit der ihnen eigenen Tücke aufeinander gehetzt hatten, damit sie in Sünde lebten und den Geboten des HERRN entsagten, bis ihre Seele Satan anheimfiel. Der König sagte nichts. Das Glitzern in seinen Augen sagte Marcel allerdings, dass er Fury für einen Phantasten hielt. Marcel musterte den Rest der Anwesenden. Der den Worten des Geistlichen lauschende Sekretär schaute ängstlich drein, aber er war von niederem Adel und ungebildet und deswegen sicher leicht zu beeindrucken. Die Offiziere verzogen keine Miene; Marcel hatte sie als Typen kennengelernt, die nur an Dinge glaubten, die man sehen und anfassen konnte. Der Servierlakai glotzte einfältig vor sich hin, denn Wörter mit mehr als zwei Silben überanstrengten seinen Geist. Und Fury kannte viele drei- und viersilbige Wörter. Froonas Miene besagte, dass sie jedes Wort Furys glaubte. Alanie wirkte eher skeptisch. Wilmingtons Blick sagte ganz klar: Wo, um alles in der Welt, bin ich hier nur reingeraten? »Wir suchen das Tor seit Menschengedenken«, sagte Fury unheilschwanger. Er trank einen Schluck und schaute in die Runde. »Und jetzt sieht es so aus, als wäre es mir gelungen, seine Position exakt zu bestimmen!«
Sein Blick fiel auf den König. »Nur deswegen bin ich hier!« »Eine neue Expedition?« Die Miene des Monarchen zeigte plötzlich Entzücken. Marcel vermutete, dass er sich darauf freute, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Da er schon beschlossen hatte, eine Expedition nach Faunland zu schicken, würde ihn Furys Reise diesmal nichts kosten. Der Rev'rend stellte sein Weinglas ab. »Ich brauche Eure Hilfe, Louie!« Er ergriff die Schultern Seiner Majestät. »Ich muss nach Faunland! Ich brauche dein Luftschiff!« »Na, so ein Zufall …«, sagte Seine Majestät. »Was?«, sagte Sergeant Wilmington erschreckt. »Außerdem brauche ich zwei hartgesottene Burschen«, fuhr Fury fort, »die mir bei meinem Unternehmen helfen.« Er schaute Froona an, die immerhin seine Base war. »Ich weiß, Ihr werdet mich nicht im Stich lassen!« Froona fragte aufgeregt: »Was hast du vor, Vetter? Willst du etwa …?« Sie malte sich schon die Schrecken aus, denen der Rev'rend bald ausgesetzt sein würde, denn wie in Nova Scotia jeder wusste, war Faunland wüst und leer und wurde von Monstrositäten und den Nachfahren verbannter Halsabschneider bewohnt. »Ja, teure Base, dorthin muss ich gehen! Genau dort liegt mein Ziel!« Der Rev'rend nickte heftig. »Moment mal …« Wilmington schaute den König an. »Haben wir dazu Zeit, Sire?« »Aber sicher«, sagte der König und beugte sich über den Tisch, um dem Vetter seiner Gattin auf die Schulter zu klopfen. »Wo ein Wille ist, ist bekanntlich auch ein Weg! Und ich bin fest entschlossen, den Rev'rend bei der
Verwirklichung seiner Pläne zu unterstützen.« »Der Gehörnte, dem Sie begegnet sind, Sergeant, kam eindeutig aus Faunland.« Der Rev'rend bleckte die Zähne. »Dort wimmelt es von diesen Dämonen. Ich brauche nur noch einen zu verhören, dann …«, er schnalzte mit der Zunge, »… geht es Satan an den Kragen!« »Sie wollen Dämonen verhören, Sir?«, mischte sich Wilmington ein. Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. »Lassen die sich denn so einfach ausfragen? Und wenn ja: Wie wollen Sie verhindern, dass sie lügen?« Der Rev'rend deutete mit dem Zeigefinger auf seinen Schädel, als wollte er auf die darin enthaltene Intelligenz hinweisen. »Das ist mir natürlich klar, Sergeant.« Er lachte einnehmend. »Sie dürfen mir aber den Grips zugestehen, den man braucht, um eine Kreatur Satans zum Singen zu bringen.« Seine Augen blitzten. »Ich werde dieses Biest hypnotisieren!« Marcel schluckte. Alanies Kinnlade sank herab. Wilmington runzelte die Stirn. »Sie verfügen über hypnotische Kräfte, Rev'rend?« Fury nickte. »Der Dämon, der mir etwas verschweigt, muss erst noch geboren werden …« Er lächelte finster vor sich hin. »Aber Dämonen werden ja nicht geboren.« Sondern? Marcel hütete sich, die Frage auszusprechen. Der Geistliche wurde ihm unheimlich. Es war wohl besser, sich nicht mit ihm anzulegen. Außerdem stand Fury als Froonas Vetter bestimmt im Rang eines Fürsten. Vielleicht forderte er den siebenten Sohn eines popeligen Freiherrn gleich zum Duell, wenn er ihm in Gegenwart hoher Herrschaften dumm kam. Der König sah zufrieden aus. Er freute sich wohl, Fury
bald vom Hals zu haben. »Ich kann doch auf Eure Hilfe zählen, Louie?« »Natürlich, Vetter.« Der König klopfte ihm erneut auf die Schulter. »Zufällig haben Wilmington und ich gerade heute eine Expedition nach Faunland konzipiert … Morgen geht es los.« Er winkte dem Servierlakaien, der darauf spitzte, sich seinen Lohn zu verdienen. Majestät schaute die Damen an. »Eine Geheimsache, über die ich nicht sprechen kann.« Er lächelte. »Aber natürlich bist du dabei, lieber Vetter. Und natürlich kann ich dir auch zwei Haudegen zur Verfügung stellen.« Sein Blick fiel auf Marcel. Der Servierlakai füllte das Glas des Königs. Als er sich zurückziehen wollte, fauchte Majestät ihn an: »Was glotzt du mich an, du Ungeheuer? Zuckt schon der Mörderdolch in deiner Hand?« Königin Froona schrie nach Dr. Eisenbarth. Alanie eilte hinaus, um ihn zu suchen. Rev'rend Fury und Sergeant Wilmington stürzten sich auf den König, um ihn zu bändigen. Die Stabsoffiziere drängten Marcel aus dem Thronsaal. Draußen kam ihm mit wehenden Frackschößen der Medikus des Hofes entgegen. Er hatte eine kleine schwarze Tasche bei sich und verschwand mit der Prinzessin im Thronsaal.
6 � Gott ist nicht tot; � er arbeitet inzwischen nur � an einem weniger ehrgeizigen Projekt. � Sprühdosen-Weisheit Trotz des Albtraums überstand Marcel die Nacht gut. Kurz nach Sonnenaufgang schreckte er in Schweiß gebadet von seinem Bett hoch. Er freute sich, dass die spitzen Dreizacke der schweflig stinkenden Gehörnten, die ihn gejagt hatten, in der dunklen Welt zurückgeblieben waren. Dann fiel ihm ein, was Seine Majestät, Wilmington und Fury besprochen hatten, nachdem die Damen gegangen waren. Als ihm einfiel, wie einer der beiden hartgesottenen Haudegen hieß, die den Rev'rend nach Faunland begleiten sollten, stöhnte er leise auf. Was war bloß in Seine Majestät gefahren? Wollte er um jeden Preis verhindern, dass Fury je nach Nova Scotia zurückkehrte? Wusste er vielleicht etwas über das Verhältnis seiner Gattin zu dem jungen Hofmusikanten? War Wilmingtons Expedition eine günstige Gelegenheit, sich gleich zwei unerwünschte Konkurrenten vom Hals zu schaffen? Marcel beschloss, später darüber nachzudenken. Eine halbe Stunde später ging er gestiefelt, gespornt und mit einem breitkrempigen Hut in den Frühstücksraum, in dem die Luftschiffer saßen, um sich
für die bevorstehende Reise zu stärken. Captain Caxton und seine Offiziere hatten schon gefrühstückt; sie verließen gerade den Raum. Marcels Aufzug ließ sie überheblich grinsen. Natürlich wussten sie nicht, dass er noch vor zwei Jahren täglich Kopf und Kragen riskiert hatte, um einer technisch hochgerüsteten und überlegenen Macht die Stirn zu bieten. Als Fahrer der Running Men hatte er an gefährlichen Aktionen gegen den Weltrat teilgenommen. Er und seine Genossen hatten sich täglich mit gut ausgerüsteten Soldaten angelegt und dem Tod ins Auge geschaut. Verglichen damit waren die Leistungen der königlichen Operettensoldaten ein Dreck. Was bildeten sich diese Fatzken ein? »Guten Morgen, Marcel.« Marcel schreckte auf. Alanie nahm ihm gegenüber Platz. Sie trug Stulpenstiefel aus Wildleder, einen Schlapphut mit Feder und sah auch sonst verdächtig männlich aus. An ihrer Seite baumelte ein Säbel. »Was …?« »Wenn jemand bei uns ist, musst du mich Hoheit nennen, Marcel.« Sie deutete auf den kleinen Silberstern am rechten Ärmel ihres Jacketts. »Außerdem bin ich Offizier.« Sie war Lieutenant! »Du bist Lieutenant?« Marcel stellte mit großen Augen seine Tasse ab. »Ja, bei der Kavallerie.« »Wieso erfahre ich das erst jetzt?« »Ich musste es vor dir geheim halten, weil du als Gemeiner keine sexuelle Beziehung zu einem Offizier haben darfst.«
»Wir haben doch gar keine sexuelle Beziehung, La… Hoheit.« Marcel hüstelte. »Wir werden irgendwann eine haben.« Alanie lächelte. »Wenn du sie mir verweigerst, verpfeife ich dich.« Marcel machte große Augen. »Was soll ich getan haben?« »Ich weiß alles über dich und Mama.« Alanies rosa geschminkte Lippen verzogen sich verächtlich. »Diese alte, nymphomane Kuh! Wie kann man nur mit so einer ins Bett gehen?« Marcel schaute sich nervös um. Abgesehen von einem Dienstmädchen, das am anderen Ende des Raumes Gedecke abräumte, waren sie allein. Sein Herz pochte. Alanie war mindestens so nymphoman wie Froona. Sie war auch ebenso attraktiv – und beträchtlich intelligenter. Aber es ging ihm gegen den Strich, dass sie glaubte, sie könnte ihn erpressen. Aber auch dies war kein Thema, über das man in einer Umgebung sprach, in der Ohren keine Raritäten waren. »Was soll dein Aufzug?«, fragte er, um sie abzulenken. Alanie grinste frech. »Ich komme natürlich mit nach Faunland.« »Was?« Marcel fuhr zurück. »Wieso? Zu welchem Zweck?« »Na, zu einem dienstlichen Zweck.« Alanie setzte einen Schmollmund auf. »In drei Wochen hätte ich sowieso wieder eine Wehrübung ableisten müssen. Mein Vater verschenkt nämlich auch keine Offizierspatente.« Marcel hüstelte. »Aber es geht in eine Region, in der seit fünf Jahrhunderten niemand mehr gewesen ist! Unsere Reise könnte ein Selbstmordunternehmen sein! Vielleicht werden wir alle von irgendwelchen
Monstrositäten gefressen.« »Die sollen nur kommen! Wir haben Schusswaffen!« Der arroganten Göre war nicht beizukommen. Marcel biss sich auf die Unterlippe. »Und dein Vater ist wirklich damit einverstanden?« »Mein Vater weiß nichts davon. Er ringt wieder mit den Dämonen, die in seiner Brust toben.« »Was? Schon wieder?« Marcel war bestürzt. »Ja, so schnell hintereinander hatte er noch nie zwei Anfälle.« Alanies Lächeln wurde breiter, ihre Stimme leiser. »Manchmal frage ich mich, ob dieser Klotzkopf wirklich mein Vater ist.« Marcel schaute sich argwöhnisch um. Sie waren allein. »Wen hättest du gern als Vater?« Alanie zwinkerte. »Oh, ich weiß nicht… Oder doch? Sergeant Wilmington?« Marcel nickte. »Ein netter Mann. Nicht so unheimlich wie Fury.« Eine Zofe kam, um Alanie zu bedienen. »Du hältst ihn für unheimlich?« Alanie schaute ihn an. »Na, sagen wir lieber undurchschaubar. Du kennst ihn näher?« »Ja, früher ist er fast jedes Jahr vorbeigekommen – nach dem Abschluss einer Forschungsexpedition. Dann hat er sich wochenlang ausgeschlafen, vollgefressen, vollgesoffen und ist den Zofen nachgestiegen.« Die Zofe, die sie bediente, zog sich errötend zurück. Alanie fiel über das Frühstück her. »Was ist das für ein Orden, dem Fury angehört?«, fragte Marcel. »Wie heißt die Gottheit, der er dient?« Alanies Augen blitzen. »Er dient natürlich nur einem Gott. Es gibt doch nur einen!«
»Ach, wirklich?« Marcel kannte auch andere Geschichten. Außerdem hatte er in den langen Nächten im Hauptquartier der Running Men die Zeit nicht nur mit Spielen totgeschlagen. Mr. Hackers Datenbanken hatten ihn über viele Gottheiten informiert, die sich die Barbaren nach dem Versagen der alten ausgedacht hatten. Aber es war wohl besser, dies nicht zur Sprache zu bringen. Eins hatte Marcel gelernt: Als kleiner Mann heulte man in ideologischen Fragen an Königshöfen lieber mit den Wölfen. »Bist du anderer Meinung?« Auf Alanies hübscher Stirn bildete sich eine Falte. »Natürlich nicht.« Marcel schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur erwähnen, dass es Menschen gibt, die an mehrere Götter glauben.« »Glaubst du diesen Quatsch etwa auch?« Alanie musterte ihn kritisch. »Aber nein …« Marcel stand auf. Ihm war nicht wohl zumute, denn nun wurde ihm bewusst, dass er mit ihr noch nie über solche Dinge gesprochen hatte. Er kannte ihre Einstellung nicht. Wenn er falsche Ansichten äußerte, verlor er vielleicht seine Stellung. »Ich muss mich noch um mein Gepäck kümmern.« Alanie nickte. »Ja, tu das.« Sie grinste plötzlich. »Ach, was ich noch sagen wollte …« Sie beugte sich vor. »Meine Mutter hat mir erlaubt mitzukommen. Weißt du, aus welchem Grund?« Sie wurde sehr leise. »Sie sagt, ich soll dich im Auge behalten, weil wir doch eigentlich gar nicht wissen, wer du wirklich bist. Du könntest doch auch ein feindlicher Spion sein.« »Sehr ulkig.« Marcel quälte sich ein Lächeln ab. »Deine Mutter hat wirklich einen goldigen Humor.«
Digby war vor Stunden unter ihnen im Dunst verschwunden. Marcel saß in der Messe der langen Luftschiffgondel und schaute mit großen Augen aus dem Fenster. Die Aussicht war faszinierend: Unter ihm wogten die Wälder und Steppen Nova Scotias. Er sah Gutshöfe und Reiter auf Relchen, die ihre Viehherden vor streunenden Taratzen beschützten. Außer Marcel hielten sich sechs junge Fähnriche und Lieutenants in der Messe auf. Als Angehörige der Luftwaffe trugen sie über ihrer blauen Uniform silberne Brust- und Rückenpanzer. Ihre Nadler, die Furys langläufigen Colts ähnelten, verschossen nur lähmende Munition. Dem normalen Betrachter nötigten sie Respekt ab, aber Marcel hatte natürlich in Waashton mit größeren Kalibern gearbeitet. Alle in Nova Scotia verwendeten Schusswaffen waren Nachbauten von Exemplaren, die man in einem verschütteten Museum in Halifax gefunden hatte. Der Vater des heutigen Königs hatte sie als Muster für eine florierende Industrie verwendet: Wer Schusswaffen hatte, brauchte sich in einer Welt der Armbrüste, Lanzen und Schwerter nicht vor der Zukunft zu fürchten. Solange der Feind nicht auch Schusswaffen hatte … Marcel fürchtete sich nicht vor der Zukunft. Er hatte höchstens Angst vor dem Unbekannten. Als Halbwüchsiger hatte es ihm leider an der Fantasie gefehlt, sich auszumalen, zu was sich eine Revolte gegen ein Herrscherhaus entwickeln konnte. Erst in Waashton hatte er begriffen, dass er nicht unsterblich war. Wenn einem Granaten um die Ohren flogen und man von Soldaten mit Drillern und Funkgeräten gehetzt wurde;
wenn man ständig in der Gefahr schwebte, von Panzern niedergewalzt oder von Sprengstoff zerrissen zu werden, sehnte man sich bald nach einer spießigen Existenz. Seither war sein Traum eine Hütte im Grünen, ein dralles Weib, gesunde Kinder und ein frisch aus dem Bach gezogener Lachs, der in der Pfanne brutzelte. Dieser Traum hatte Marcel nach Norden geführt. Er hatte die Schnauze vom Kämpfen voll gehabt. Doch nun hatte er das schöne Leben am Königshof, drei Mahlzeiten am Tag und die gut duftenden Hofdamen gegen die Gesellschaft großmäuliger Soldaten getauscht, die Männer ohne Schwielen verachteten. Würde er Digby und Froona je wiedersehen? Die Tür ging auf und Alanie schob den Kopf herein. »Einen Tholar für Ihre Gedanken, Junker.« Sie trat ein, nahm an seinem Tisch Platz, schaute sich den stahlblauen Himmel vor dem Fenster an und nickte anerkennend. Die Wahrheit konnte Marcel ihr natürlich nicht sagen, aber als Tochter ihrer Eltern wusste sie vielleicht etwas mehr über den Verschollenen, den zu suchen sie so übereilt aufgebrochen waren. »Ich überlege gerade, in welche Kreise es Baron Torsvan wohl verschlagen und wie er all die Jahre überlebt hat…« Er zupfte an seinem Ohrläppchen. Außer den Gruselgeschichten der Küchenmädchen in Digby wusste er fast nichts über Faunland. »Sie zweifeln an Rev'rend Furys Worten, Junker?« Alanie gab dem in ihrer Nähe stehenden Fahnenjunker ein Zeichen. Der Steward, ein ansehnlicher Knabe, knallte die Hacken zusammen, öffnete ein Fach und entnahm ihm eins der FPs, die man der Besatzung am Morgen in der königlichen Küche gepackt hatte.
Als Alanie die Zähne in ein Wurstbrot schlug, ging die Tür wieder auf. Ein sonnengebräunter Captain trat ein und nahm einen Tisch weiter Platz. Die Jungoffiziere tuschelten, blieben noch eine Minute sitzen und trollten sich dann. Alanie gaffte den Captain schamlos an. Er war schlank, muskulös, kahlköpfig und strotzte vor Gesundheit. Zwischen seinen makellosen Zähnen klemmte eine Zygar. Der Steward brachte ihm ebenfalls ein FP, doch der Captain begutachtete es nur, ohne es anzurühren, und qualmte weiter. Alanie vergaß, ihr Brot zu kauen. Erst als Marcel sich räusperte, kam sie zu sich. Was Marcel anging, so gab er sich Mühe, den Captain zu ignorieren. Einerseits konnte er Männer nicht ausstehen, die sich freiwillig das Haupt scherten; andererseits hatte er noch nie im Leben eine tückischere Fresse gesehen. Er brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass es besser war, dem Kerl aus dem Weg zu gehen. Nun ja, an Bord eines Luftschiffes war das vielleicht nicht immer möglich … Dann wollte er ihn eben im Auge behalten. Angeblich konnte Alanie rauchende Männer nicht ausstehen, aber das galt wohl nur für Musiker, denn der lässig vor sich hin paffende Offizier gefiel ihr wohl. Marcel musste sich zusammenreißen, um seine Empörung nicht zu zeigen. »Wer ist der Fatzke?«, fragte er leise und beugte sich über den Tisch. »Belästigt er dich? Soll ich ihn in die Schranken verweisen?« »Ich … ähm … was?« Alanie schaute auf. »Aber nein!« Erneut ging die Tür auf. Sergeant Wilmington trat ein.
In seinem Kielwasser schwamm Rev'rend Fury. Der winkte dem Glatzkopf freundschaftlich zu. Sie kannten sich! Für Marcel war der Prediger auf der Stelle erledigt. Wilmington und Fury nahmen an dem Tisch Platz, an dem Marcel und Alanie saßen. Fury bedeutete dem Glatzkopf, sich zu ihnen zu setzen. Als der Mann aufstand, fingen Alanies Augen an zu glitzern, und Marcel schmiedete den ersten Mordplan. »Darf ich vorstellen?« Der Geistliche deutete auf Marcel. »Junker d'Artagnan.« Schon wies seine Hand auf den zackig salutierenden Offizier: »Captain Alec Smart. Er ist der zweite Haudegen, von dem seine Majestät meint, er könne zur Verwirklichung meiner Pläne beitragen.« Marcel hatte Mühe, sich bei der Nennung des Namens ein Lachen zu verbeißen. Er stand aber kurz auf und schüttelte dem Captain die Hand. »Datangjang?« Smart nahm Platz und beäugte Marcel skeptisch. »Wo kommen Sie denn her?« Seine Stimme klang noch schleimiger, als Marcel sich ausgemalt hatte. »Loosiana«, nuschelte Marcel. Fortan sollte all sein Sinnen und Trachten darauf ausgerichtet sein, Captain Smart zu übersehen. Er wandte sich Fury und Wilmington zu, die wohl auf dem Weg hierher ein Gespräch geführt hatten, das sie nun fortsetzten. Es fiel Marcel nicht schwer, Interesse zu heucheln, doch natürlich waren seine Gedanken ganz woanders. »Viele Kreaturen, die wir für menschliche Mutationen halten, sind nicht das, was wir in ihnen sehen«, knüpfte Fury an irgendeinen Faden an. »Sie tarnen sich nur als Menschen, doch in Wahrheit sind sie Schergen Satans …« Die Blicke Alanies und Smarts verhakten sich. Marcel
wusste nicht, ob er sich freuen oder traurig sein sollte: Einerseits war er gerade wegen Alanies Nachstellungen vom Hofe geflohen; andererseits hatte er das Empfinden, dass er sie vor den Pratzen dieses Angebers bewahren musste. Er lauschte dem leisen Schnurren der Öltriebwerke und beugte sich zum Fenster hin. Was für eine tolle Landschaft! Gerade schwebten sie über eine von dichten Kiefernwäldern umgebene Aue hinweg. Während der Eiszeit hatten die Bewohner Nova Scotias bösen Raubbau am Wald getrieben. Inzwischen hatte die Natur das Land zurückerobert. König Louis herrschte über ein Dutzend Gemeinden, achttausend Untertanen und zahlreiche Koben, in denen es quiekte und quakte. In den Steppen waren nicht nur die ungezähmten Verwandten der Relche zu Hause, sondern auch wohlschmeckende Ratzen, Skunkhörnchen und Ameisenbären. Die Flüsse und Bäche wimmelten von schmackhaften Fischen und Schalentieren. Nur wenige hatten Ähnlichkeit mit ihren Ahnen. Die Katastrophe, die vor Jahrhunderten über die Erde hereingebrochen war, hatte so viel verändert, dass man sich freuen konnte, dass die Menschen von heute nicht auch noch bellten … Captain Smart schäkerte unverhohlen mit Alanie, während Rev'rend Fury über Satans tückische Heerscharen redete. Je länger Marcel den dämonisch attraktiven Glatzkopf anschaute, umso besser verstand er die Theorien des Geistlichen: Wenn Satan die Menschen ins Verderben führen wollte, gab es dann eine bessere Methode als die, stramme Kerle auf geistig arme Prinzessinnen anzusetzen?
Sie brauchten sie nur zu verführen und zu ehelichen, dann fielen ihnen ganze Reiche in den Schoß, und als Prinzgemahl konnten sie ganz schnell einen Krieg mit dem Nachbarland vom Zaun brechen. Schon metzelten sich die Menschen nieder, und in der Hölle hatte man seine Freude … »Was hältst du von ihm?«, fragte Marcel, als Wilmington, Fury und Smart zur Brücke gegangen waren, um den Verlauf der Fahrt mit Captain Caxton abzusprechen. »Er sieht toll aus, findest du nicht auch? Für wie alt hältst du ihn?« »Alanie!« Marcel räusperte sich. »Er könnte dein Vater sein!« »Wie? Was?« Alanie schaute sich um und errötete. Nun erst begriff Marcel, dass sie nicht Fury, sondern Captain Smart gemeint hatte. Alanie kicherte, als sie das Missverständnis begriff. »Und du?«, erkundigte sie sich. Marcel zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau …« Er wollte sich nicht um Kopf und Kragen reden. Der König hatte zwar nicht den Eindruck gemacht, als sei er ein Anhänger Furys, aber wenn der Mann mit Froona verwandt war, hatte Alanie vielleicht als Kind auf seinem Schoß gesessen und ihn bewundert. »Ich finde ihn reichlich eigenartig.« Alanie beugte sich über den Tisch. »Meine Mutter sagt, er hat hypnotische Kräfte, mit denen er alle Frauen rumkriegt…« Ihre Augen blitzten spöttisch. »Vermutlich kann er mit diesen Kräften auch Könige dazu bewegen, ihm Forschungsreisen zu finanzieren …« »Sei nicht albern.« Marcel schaute sich um. »Lass uns
woanders hingehen. Ich weiß nicht, ob man uns hier vielleicht abhören kann.« »Warum sollte man das tun?«, fragte Alanie verdutzt. Sie gingen hinaus, schlossen die Tür und spazierten durch den langen Mittelgang nach achtern. Rechts und links von ihnen schnurrten die Motoren. Sie wurden mit dem Öl angetrieben, das die Leibeigenen des Königs der Erde in Nova Scotias Osten entrissen. Hin und wieder kamen sie an Nischen vorbei. Dort konnte man durch Bullaugen ins Freie blicken. Die Aussicht war phantastisch. Der Himmel war blau und ebenso die Meerenge, die linker Hand spiegelglatt zu sehen war. Schwarzweiße Fische gigantischen Ausmaßes sprangen aus den Fluten und schnappten nach Vögeln, die träge über dem Wasser kreisten. Hin und wieder erwischten sie einen und tauchen mit ihm unter. »Was erforschen diese Rev'rends eigentlich?«, fragte Marcel, als sie am Heck angekommen waren. Am Ende des Ganges befand sich die Suite des Kommandanten. Rechts und links davor waren Fury und Sergeant Wilmington untergebracht. Hier gab es auch einen kleinen Salon mit einem Tischchen und Hockern. Eine Leiter aus Leichtmetall führte zu einer nun geschlossenen Klappe, über der sich der Flugkörper des Luftschiffes befand. »Das Böse in all seinen Erscheinungsformen.« Alanie nahm Platz und schaute fröhlich aus dem Fenster. »Meine Mutter sagt, es ist Furys Lebensziel, den Herrn der Unterwelt persönlich auszuschalten.« Marcel hatte schon von dem mysteriösen Anti-Kristian gehört: Im Gegensatz zu Furys Gott, der den Menschen jedes Vergnügen verbat, ermunterte Satan sie, alles zu
genießen, was das Leben einem bot. Es war ihm schleierhaft, wie es Furys Gott gelungen war, Anhänger zu finden. Er selbst glaubte nicht an Götter. Hätte man ihn gezwungen, an einen Gott zu glauben – etwa mit der Drohung, ihn zu kastrieren oder zu köpfen –, hätte er sich einen ausgesucht, der etwas Positives im Vergnügen sah. Das Leben war hart genug. Die Menschen auf das Heil im Jenseits zu vertrösten, war eine ausgemachte Sauerei. »Glaubt du auch an Furys Gott?«, fragte Marcel. »Hältst du mich für bescheuert?« Alanie schaute ihn fast bestürzt an. »Glaubst du, ich hänge mich an eine Gottheit, die so lustfeindlich ist?« Sie breitete die Arme aus. »Er verbietet seinen Anhängern jeden Spaß und will alle naselang von ihnen hören, dass sie an ihn glauben! Er will ständig angebetet und gepriesen werden, weil er so gütig ist!« Sie schüttelte den Kopf. »Nein danke, da steh ich lieber zu Kukumotz, wie mein Vater.« Marcel atmete auf. Es freute ihn, dass die junge Frau nicht auf jeden Schmu hereinfiel. Vielleicht kapierte sie auch noch, dass Captain Smart sie gar nicht liebte, sondern nur darauf aus war, ihr die Unschuld zu rauben. »Und wie gefällt dir Captain Smart?«, fragte Alanie, bevor Marcel die gleiche Frage stellen konnte. Mist! Was sollte er sagen? Er konnte seine Meinung doch nicht äußern, bevor er wusste, was sie von ihm hielt. »Na ja, er sieht ganz gut aus.« Marcel warf einen Blick aus dem Fenster, um zu dokumentieren, dass Captain Smart ihn einen feuchten Wakuda-Dung interessierte. »Aber hat er auch was auf dem Kasten?« »Also, ich finde, dass er nicht ganz gut aussieht, sondern sehr gut. Die Uniform sitzt ihm doch wie
angegossen.« »Wieso hab ich ihn bei Hofe noch nie gesehen?«, fragte Marcel, »obwohl er, wie er behauptet, seit siebzehn Jahren im Dienst Seiner Majestät steht?« »Das hab ich ihn auch gefragt«, erwiderte Alanie. »Und zwar, als du aus dem Fenster geschaut hast! Er hat bisher in Fort Halifax Dienst getan – auf der anderen Seite der Insel. Er ist einen Tag vor Wilmington eingetroffen.« »Zu welchem Zweck?«, fragte Marcel argwöhnisch. »Um sich als Haudegen für eine Expedition zu empfehlen, von der er noch gar nichts wissen konnte?« Alanie machte große Augen. »Was soll das denn heißen?« Sie kniff die Augen zusammen. »Das klingt ja so, als würdest du einem Offizier der Königlichen Kavallerie misstrauen!« Sie grinste schräg. »Es klingt, als wolltest du ihn mir madig machen!« Sie lachte hell. »Ha, ha! Gib's zu! Du bist eifersüchtig auf ihn!« »Unsinn, Alanie!« Ein Stück hinter ihnen wurde eine Kabinentür geöffnet, und jemand trat in den Gang hinaus. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, Hoheit«, sülzte Marcel, bis die Schritte verklungen waren. Dann sagte er spitz: »Es wundert mich nur, dass dein Vater ihn Fury zur Seite gestellt hat, obwohl er erst einen Tag vorher angekommen war.« »Er ist erst einen Tag vorher aus Halifax gekommen, weil mein Vater ihn zum Captain befördert hat«, erwiderte Alanie. »Das macht er immer! Dass er dich, einen Musiker, Fury zur Seite gestellt hat, findest du wohl überhaupt nicht eigenartig?« Marcel machte große Augen. »Kein bisschen! Warum sollte ich?« »Na hör mal, wenn du das nicht selbst weißt!« Die
Prinzessin sprang auf. »Du bist doch alles andere als ein Haudegen!« Marcel errötete. »Ich war bei den Running Men …« »Der Name sagt doch alles.« Marcel sah ein, dass es keinen Zweck hatte, mit ihr über Captain Smart zu diskutieren. Sie hatte sich nun mal in den Angeber verguckt. Aber Alanie war nicht blöd. In einigen Tagen würde sie ihn durchschauen … »Ach, streiten wir uns nicht um solche Kinkerlitzchen.« Marcels Seufzer deutete zwei Tonnen seelische Belastung an. »Wir werden hoffentlich noch miteinander befreundet sein, wenn Smart in der Uniform eines Colonels eine Expedition nach Euree leitet.« Und dabei in der Mitte des Atlantiks von einer Seeschlange gefressen wird. »Rev'rend Fury macht mir wirklich mehr Sorgen …« »Mir auch.« Alanie nickte. Nun wirkte ihr Blick wirklich besorgt. »Wenn er das Höllentor gefunden hat, will er in die Tiefe hinabsteigen und Satan mit seinen geweihten Kugeln töten.« Sie musterte Marcel. »Sein Tod wird auch alle anderen Dämonen ausschalten – ob sie auf oder unter der Erde leben …«
7 � Das Gewissen ist die leise innere Stimme, die dir zuflüstert, was die anderen tun sollten. Gilbert Castello »Oh, ja … oh, jaaa … oh, jaaaaa …« Marcel zuckte hoch, als im Schlaf etwas seinen Arm berührte. Der schöne Traum war zu Ende: Alanie verblasste. Er schlug die Augen auf. Er lag auf seiner Koje. Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Sein Nackenhaar war verklebt, sein Gaumen strohtrocken. Vor ihm ragte eine Gestalt in die Höhe. Eine Hand legte sich auf seine Lippen. »Pssst«, raunte Captain Smart. »Halt bloß die Schnauze!« Das klang nicht gerade vielversprechend. Normalerweise hätte Marcel sich dergleichen von diesem Laffen nicht bieten lassen. Doch dann sah er, dass Rev'rend Fury sich ebenfalls in der Schlafkabine aufhielt, die sie sich teilten. Er drückte sein Ohr an die Tür und schien zu horchen. Smart hielt einen Nadler in den Händen, ein Kaliber, das Marcel noch nie gesehen hatte: ein langläufiges Modell mit einer dünnen Schulterstütze. Fury streckte plötzlich eine Hand aus, als wolle er bedeuten, sie sollten leise sein. »W-was …?«, flüsterte Marcel verdutzt. Smart zischte: »Keine Fragen … Los, aufstehen. Anziehen. Aber dalli. Und leise.«
Marcel stand lautlos auf und stieg in seine Kleider. Leichter Schwindel erfasste ihn. Er wusste nicht, was hier vor sich ging. Aber eins war ihm klar: Es braute sich was zusammen. Der Grund seines Unbehagens war, dass sie sich Hunderte von Metern über dem Boden befanden. Aus den Spielen in Mr. Hackers Rechnern wusste er, dass bewaffnete Konflikte an Bord fliegender Objekte meist mit dem Absturz und der Explosion derselben endeten. Was war los? Bevor er die Frage stellen konnte, drückte Smart ihm eine Waffe in die Hand. Marcels Hände betasteten das glatte Metall. Fahles Mondlicht fiel in die Schlafkabine. Fury stand noch immer an der Tür. Er verhielt sich so, als belauschte er jemanden draußen auf dem Gang. »Was, um alles in der Welt …«, begann Marcel. »Er ist weg.« Fury schaute Smart an. »Was meinen Sie? Sollen wir?« Der Captain nickte. »Also los.« Fury öffnete die Tür. Smart schob den verwirrten Marcel hinter ihm her und in den Gang hinaus. Nur die rote Notbeleuchtung spendete ein wenig Licht. Marcel tastete sich voran. In seinen Ohren dröhnten die Motoren. »Wir müssen den Dämon, der Wilmingtons Rolle spielt, überraschen«, sagte Fury leise. »Wir können davon ausgehen, dass er eine wichtige Position innehat. Falls etwas schiefgeht, brauchen wir ihn als Geisel.« Marcel traute seinen Ohren nicht. Der Dämon, der Wilmingtons Rolle spielt? Hatte Fury den Verstand verloren? Smart hob seinen Nadler. »Ich bin bereit.« Sie schlichen, Marcel zwischen sich, zum Heck.
Marcel kämpfte gegen das Gefühl an, dass sein Traum noch nicht zu Ende war. Klar. Er hatte sein Erwachen nur geträumt. Wie sonst sollte er sich erklären, dass er mitten in der Nacht mit Typen unterwegs war, die im Begriff standen, eine Meuterei anzuzetteln – weil Rev'rend Fury behauptete, ein dämonischer Wechselbalg hätte von Wilmington Besitz ergriffen? Was für ein Irrsinn! Wieso nahm Captain Smart die Wahnvorstellungen dieses Geistlichen für bare Münze? Was hatte Fury mit dem Mann angestellt? Oder waren die beiden vielleicht Brüder im Geiste? Sie passierten die Kreuzung, die rechts zum Kasino und links zum Vorratsraum führte. Genau vor ihnen lag die Tür zur Hecksuite, in deren rechter Kabine Sergeant Wilmington residierte. Die Tür schwang plötzlich auf und ein Ingenieursoffizier trat in den Korridor hinein. Als er Smart und Fury mit gezogenen Waffen sah, öffnete er den Mund und machte auf dem Absatz kehrt. »Aufhalten«, sagte Fury leise. »Nicht schießen!« Smart machte einen Satz. Auch Marcel warf sich nach vorn; er wollte vermeiden, dass Smart dem Mann etwas tat, das er später bereute. Bevor der Ingenieur schreien konnte, traf Smarts flache Hand dessen Hals. Der Mann sackte zusammen. Marcel fing ihn auf und legte ihn auf den Boden. Er war noch immer fassungslos. Fury beugte sich über den Besinnungslosen und tastete nach seiner Schlagader. Er machte zufrieden »Hm, hm« und drückte die Spitze seines rechten Zeigefingers auf die Stirn des Bewusstlosen. »Sag mir deine Nummer«, raunte er leise. »Zwanzig – zwölf – achtundvierzig«, murmelte der
Bewusstlose, ohne die Augen zu öffnen. Marcel erstarrte vor Schreck. »Er ist keiner von denen«, sagte Fury leise. »Sonst hätte seine Antwort dreimal sechs lauten müssen. Tut mir leid wegen der Beule, aber wir mussten verhindern, dass er Krach schlägt.« »Was geht hier vor?«, fragte Marcel. »Ich will es sofort wissen!« »Maul halten«, zischte Smart. Er richtete den Lauf seiner Waffe auf Marcel. Rev'rend Fury schnaubte. »Sind Sie verrückt geworden, Smart? Sie können doch einen Kameraden nicht mit der Waffe bedrohen!« »Verzeihung.« Captain Smart ließ die Waffe sinken. Seine Miene wirkte schuldbewusst. »Es ist mindestens einer an Bord«, sagte der Rev'rend zu Marcel und stand auf. »Es können aber auch mehr sein. Ich habe nur einen durchschaut. Der PseudoWilmington weiß, was wir in Faunland wollen …« Wir suchen Baron Torsvan, dachte Marcel. Oder? Er war sich seiner Sache nicht mehr ganz sicher. »Ich glaube, die Sache mit dem sterbenden Kurier war eine Lüge. Sie haben sich den echten Wilmington geschnappt, als er mit seinem Relch unterwegs war … Ein Wechselbalg hat ihn nachgeahmt. Dann haben sie das Luftschiff gesichtet, und da ist ihnen eine noch viel bessere Idee gekommen, wie sie sich ins Vertrauen Seiner Majestät einschleichen können …« Fury deutete auf die Tür zu Wilmingtons Kabine. Marcel erhob sich. Seine Knie zitterten. Er schaute von Fury zu Smart und von Smart zu Fury und fragte sich, wie krank er war. Lag er, von Fieber geschüttelt, in seiner
Koje? Wenn nicht: An welchen Wahnvorstellungen litt dieser verschrobene Prediger? Was passierte, wenn er Krach schlug? Würde Smart ihn töten? Konnte er Fury und Smart ausschalten, bevor sie ihre wahnwitzige Mission durchführten? Der Rev'rend drückte ein Ohr an die Tür. Natürlich war sie verschlossen. Er trat einen Schritt zurück und schob einen Detrikk ins Schloss. Klack. Die Tür ging auf. »Jetzt!«, zischte Fury. Er und Smart stürzten hinein und ließen sich fallen. Gleichzeitig ertönte ein Summen. Marcel deutete es als Alarmsignal. Wurde es anderswo gehört und richtig gedeutet? Wilmingtons verdutzte Miene schaute sie vom anderen Ende der Kabine an. Dann machte er einen Salto rückwärts und verschwand hinter seiner Koje. Zwei kräftige Hände packten sie und warfen sie um. Tock! Tock! Tock! Wilmington hatte sich offenbar nicht unbewaffnet zum Schlafen gelegt. Nadeln zischten den Eindringlingen entgegen und schlugen in die Wände ein. Marcel hatte nicht erwartet, dass der Sergeant so schnell schaltete. Fury und Smart erwiderten das Feuer. Nach zehn Sekunden klickte Wilmingtons Nadler nur noch. Ladehemmung? Leeres Magazin? Die Waffe polterte zu Boden. »Feuer einstellen!«, rief er. »Aufstehen«, sagte Fury leise. Er und Smart hielten die Barrikade, hinter der Wilmington langsam aufstand, im Blickfeld. Marcel schaute indessen in den Korridor hinaus. Irgendwo da draußen bewegten sich hektische Gestalten. Er hörte das Klirren von Waffen und das Tuscheln aufgeregter Stimmen. War der Ingenieur zu sich
gekommen? Hatte er die in der Messe sitzende Freiwache alarmiert? »Nach achtern, zum Backbordgang«, zischte Fury. »Los!« Er trieb den blassen Wilmington vor sich her. Smart warf die Eingangstür mit einem Fußtritt ins Schloss, schaute Marcel an und fauchte: »Los, Mann, Bewegung!« Schon krachten Schläge gegen die Tür. Aufgeregte Stimmen riefen Wilmingtons Namen. Die ganze Mannschaft schien auf den Beinen zu sein. Hinter Wilmingtons Koje stieß Fury eine Tür auf, die in einen schmalen Gang zwischen Fracht- und Ballastbehältern bis zum Bug führte und dann auf die Brücke, die sie nun erreichen konnten, ohne aufgehalten zu werden. »Sie wissen, was auf Meuterei steht«, sagte Sergeant Wilmington. »Und Sie wissen auch, dass der Gerichtshof Seiner Majestät keinen Unterschied zwischen meuternden Militärs und meuternder Geistlichkeit macht!« »Maul halten, Satansbraten!«, fauchte Fury. »Ich befehle es dir im Namen des HERRN!« Er versetzte Wilmington, der in seinem Schlafanzug nicht im Geringsten dämonisch wirkte, einen Stoß, der ihn vor der Brückentür zu Boden warf. Wilmington ließ sich nicht einschüchtern. »Sie werden die Folgen Ihres Handelns zu tragen haben, auch wenn Sie der Vetter der Königin sind.« Er rappelte sich auf. Sein Blick fiel auf Marcel, der blass neben Smart stand und sich fragte, wie er nur in diese Scheiße hineingeraten war. »Das gilt auch für Sie, Junker d'Artagnan.« »Sir, ich …«, stotterte Marcel.
»Wir werden sehen«, fiel Fury ihm lachend ins Wort und trat die Tür zur Brücke ein. »Auf geht's!« Er stieß Wilmington über die Schwelle. Captain Smart machte das Gleiche mit Marcel. Sie stürmten in den vom Sternenlicht erhellten Raum. Die Piloten fuhren herum und griffen zu ihren Waffen, doch da feuerten Fury und Smart bereits die ersten Giftnadeln ab. Der Pilot erschlaffte in seinem Schalensitz. Der Oberkörper des Kopiloten fiel über die Kontrollen. Der dritte Mann an den Steueranlagen war schneller: Wilmington stöhnte neben Marcel auf und sackte zu Boden. Smart zielte, drückte ab und traf. Der Mann torkelte. Unter dem Einfluss des Nadelgiftes stürzte er aus dem Sitz und fiel besinnungslos zu Boden. Fury hielt zwei unbewaffnete Fähnriche in Schach. Ihre Gesichter waren kalkweiß. Sie verstanden die Welt nicht mehr. »Wer von euch kann die Kiste steuern?«, fragte Fury. »Raus mit der Sprache!« Die Fähnriche waren völlig verstört. Im Hintergrund löste sich ein Schatten von der Wand. »Ich.« Ein Lieutenant. Sein Blick kündete von Zorn. Er verstand den Überfall ebenso wenig wie Marcel. Smart drückte dem Mann den Lauf seiner Waffe in die Seite. »Tut mir leid, Kollege, aber wir haben ein gefahrliches Chamäleon an Bord. Da wir davon ausgehen müssen, dass uns niemand glaubt, müssen wir leider das Kommando übernehmen, bis es sein wahres Gesicht zeigt. Ich hoffe, es wird nicht lange dauern.« »Was?« Der Lieutenant stierte Smart an. Dann führte er den Befehl aus: Er und die Fähnriche schoben die
ohnmächtigen Piloten in eine Nische und nahmen deren Positionen ein. Captain Smart sicherte den Eingang. Rev'rend Fury baute sich mit gezücktem Nadler hinter den drei blassen Männern auf und sprach leise auf sie sein. Marcel kniete neben dem besinnungslosen Wilmington und untersuchte ihn. Er fand die Nadel, die ihn gefällt hatte, und zog sie aus seinem Oberarm. Es würde noch eine Weile dauern, bis Wilmington zu sich kam. Marcel war gespannt auf seine Reaktion. Auch versuchte er zu verstehen, woran er sich beteiligt hatte. Fury glaubte, dass Dämonen sie unterwandert hatten – und dass Wilmington einer von ihnen war. Natürlich würden die Luftschiffer diesen Quatsch nicht glauben. Was sollte man sich unter einem Chamäleon vorstellen? Einen Menschen mit den Fähigkeiten eines Reptils? Chamäleons konnten mit ihrer Umgebung verschmelzen und so fast unsichtbar werden … Bei der Vorstellung, ein Mensch könnte diese Fähigkeit haben, musste Marcel sich schütteln. Mal angenommen, es gab solche Wesen. Was waren sie dann? Mutanten? Abgesandte einer Macht, die Fury in seiner religiösen Verblendung für das Reich des Bösen hielt? Er ist irre, dachte Marcel. Wenn Smart nicht von allein durchgedreht ist, hat Fury ihn hypnotisiert. Bestimmt sind sie aus dem gleichen Irrenhaus entwichen. Er nahm sich vor, keine Fragen zu stellen, die seine Sicherheit beeinträchtigen konnten. Es war besser, wenn er vorerst mit den Wölfen heulte und Wilmington, wenn er zu sich
kam, bei der Überwältigung der Meuterer half. Draußen graute der Morgen. Unter ihnen endete die noch halbwegs finstere Cabotstraße. Vor ihnen ragte die klotzige Südspitze Faunlands aus dem Wasser. Das Luftschiff blieb auf Kurs, das Schnurren der Motoren veränderte sich nicht. Sergeant Wilmington atmete tief und regelmäßig. Marcel stand auf und schaute Smart an. »Wie geht's nun weiter?« »Wir suchen einen Platz, an dem wir festmachen können«, antwortete Fury an Smarts Stelle. »Unter den gegenwärtigen Umständen lässt sich nicht gut debattieren …« Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, als es neben dem Ersatzpiloten dumpf blökte. »Ah«, sagte Fury. »Man hat inzwischen Schlüsse gezogen.« Ein Fähnrich zog ein Stück Gummischlauch aus einem Loch in den Armaturen. Das Schlauchende war mit einem Korken verstopft. Rev'rend Fury nahm dem jungen Mann den Schlauch aus der Hand, entkorkte ihn, bellte seinen Namen und hielt sich das Schlauchende ans Ohr. »Ah, Hoheit!« Marcel sah ihn abwechselnd sprechen und in den Schlauch hineinhorchen. Soweit er mithören konnte, klärte Fury die Prinzessin und Captain Caxton über seine abstrusen Erkenntnisse auf. Marcel malte sich aus, wie Alanie ihrerseits den Captain und seine Offiziere ins Bild setzte und wie fassungslos die Herren sie anschauten. Ungefähr so, wie der Lieutenant und die beiden Fähnriche, die mit jeder Sekunde mehr erbleichten.
Wilmington stöhnte leise. Dann kam er zu sich, setzte sich hin und fasste sich an den Kopf. Smart öffnete einen Wandschrank und entnahm ihm ein halbes Dutzend Atemmasken, die er Fury, Marcel und den drei Männern an der Steuerung zuwarf. »Für den Fall des Falles«, sagte er. »Zufällig war ich an der Konstruktion der Sicherheitssysteme dieses Luftschiffes beteiligt …« Wumm! Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ Marcel zusammenzucken und pumpte Adrenalin durch seinen Körper. Er hatte die Atemmaske gerade an seinen Ohren befestigt und vor seinen Mund geschoben, als die Eingangstür aus dem Rahmen flog. Eine bläuliche Gaswolke strömte herein. Mit einem Fluch bückte sich Marcel, um den noch immer benommenen Wilmington in die Gerätenische zu ziehen. Fury und Smart schossen kaltblütig in Richtung Tür. Ein Stöhnen ihm allgemeinen Wirrwarr sagte Marcel, dass Wilmington erneut getroffen worden war. Er ließ ihn los. Jetzt galt es, das eigene Leben zu schützen und den Luftschiffern klarzumachen, dass er kein Meuterer, sondern versehentlich hier hineingeraten war. Dazu kam es jedoch nicht: Die von Atemmasken geschützten Offiziere, die nun im Eingang auftauchten, hoben ihre Waffen. Der Lieutenant und die Fähnriche wollten nicht in die Schusslinie geraten: Sie verließen ihre Posten und trugen zur Verwirrung der Lage bei. Ein Fähnrich, der Furys Unterarm packte, handelte sich einen Tritt ein, der ihn vor die Füße seiner Kameraden warf. Jemand packte ihn und zerrte ihn auf den Gang hinaus. Der zweite Fähnrich, der geduckt zum Ausgang lief,
wurde von einem Dutzend Nadeln getroffen und ging zu Boden. Die Angreifer wichen zurück. Marcel wusste, dass sich fünf Meter hinter der kaputten Tür Nischen befanden, in denen sie Deckung fanden. Er selbst hockte zusammengekauert zwischen den Geräten an der Steuerbordwand. Der Lieutenant am Steuer schaute verhalten nach oben. Marcel folgte seinem Blick. Auch Fury reckte den Hals und gab Smart ein Zeichen. Beide schauten auf. Über den Pilotensitzen öffnete sich eine Klappe. Der Lauf eines Nadlers. Smart schoss. Über ihnen rummste es. Die Arme des unsichtbaren Schützen baumelten aus der Deckenöffnung in die Tiefe; seine zu Boden fallende Waffe landete vor Smarts Füßen. »Sieht nicht so aus, als hielte die Luftwaffe Seiner Majestät Ihre Unterwanderungstheorie für glaubhaft, Rev'rend«, murmelte Marcel leise. Das wilde Geballere in der Steuerzentrale blieb nicht ohne Folgen. Es krachte in einem der Instrumente; blaue Flämmchen blitzten auf. Schon fing das Luftschiff an zu zittern und legte sich auf die Seite. Marcel flog gegen die Wand. Die besinnungslosen Gefangenen rollten über den Boden. Über ihnen und im Gang klang Geschrei auf. Von Smarts Gesicht tropfte Blut, als er an Marcel vorbeirutschte. Nur Fury hatte Halt gefunden. Er klammerte sich an den Navigatorsitz und zielte auf die Tür. Doch von dort wurde nicht mehr geschossen; überhaupt hatte das Feuer schlagartig aufgehört. Der Lieutenant klammerte sich an die Kontrollen und murmelte bleich: »Wir stürzen ab …«
Marcel warf einen Blick durch die breite Frontscheibe. Sie verloren schnell an Höhe. Unter ihnen glitten bemooste Erde, Birken, Kiefern und schroffe Felsen dahin. Eine Handsirene jaulte auf, verstummte aber Sekunden später. Auf dem Mittelgang der Gondel wurden Befehle gerufen. Marcel hörte genagelte Stiefel über Holz schrammen. Offenbar suchten die Luftschiffer, die gerade noch versucht hatten, die Brücke zu stürmen, ihr Heil nun in der Flucht. Doch wo konnten sie hin? Ihm wurde bewusst, dass er noch keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie man sich aus einem abstürzenden Luftschiff retten konnte. Fury und Smart schien der Gedanke ebenfalls zu kommen: Sie schauten sich erschreckt an. Wenn sie an Bord blieben, würde bald ihr letztes Stündlein schlagen. »Die Fallschirme!« Smart packte den Lieutenant, der noch immer an den Kontrollen saß, am Arm. »Wo sind sie?« Fury nickte Marcel zu. Bevor der Lieutenant antworten konnte, rissen sie die Wandschränke auf. Fury fand das Gesuchte. Als er die Gurte überstreifte, begriff Marcel, wie es weitergehen würde. Ihm wurde übel. Schnell hatten Fury und Smart ihre Fallschirme angelegt. Sie warfen Marcel und dem Lieutenant welche zu, doch der Luftschiffer spuckte aus, kniete sich neben den besinnungslosen Wilmington und fauchte: »Lieber gehe ich mit meinen Leuten unter, als mich mit Hilfe von euch Lumpen zu retten!« »Wir sind keine Lumpen«, gab Fury wütend zurück, während Captain Smart dem hilflosen Marcel mit
geübter Hand den Fallschirm anlegte. »Wenn Sie nicht mit uns abspringen wollen, müssen Sie die Konsequenzen tragen.« Er schaute Smart an. »Nun?« »Dort entlang!« Smart deutete auf die Tür, durch die sie auf die Brücke gekommen waren. Marcel wäre gern bei Wilmington und dem Lieutenant geblieben, doch Fury winkte mit einem Colt, und so musste er Smart folgen. Im ganzen Luftschiff hörten sie Rufe und die trampelnden Schritte, begegneten aber niemandem. »Wohin?«, fragte Fury. »Zum Heck!« Smart übernahm die Führung. Er kannte sich aus. Sie schwebten nun steuerlos über einer unbekannten Landschaft. Selbst wenn sie lebend von Bord kamen – am Boden konnten sie nicht mit der Gnade der Mannschaft rechnen. Im Moment kümmerte sich jedoch niemand um sie – der Captain und die Seinen hatten andere Probleme. Heftige Stöße ließen das Luftschiff beben. Smart führte sie durch den Seitengang an der Kapitaanssuite vorbei und zu einer Tür. Dahinter war ein Lagerraum, in dem viele Kartons Regale füllten. Durch kleine Fenster konnte man nach unten sehen. Fury begab sich an eine Hecktür und drehte ein Rad. Eine mannshohe Luke öffnete sich. Frische Luft strömte in den Raum. Vor seinen Augen glitzerten kalt die letzten Sterne. Obwohl das Luftschiff mindestens zwei Drittel seiner Flughöhe verloren hatte, war der Abstand zum Boden noch immer schrecklich. Marcels Magen tat einen Sprung. »Angst?«, fragte Furys sonore Stimme. Er lachte. Marcel spürte kalten Schweiß auf seiner Stirn. Alanie
hatte recht gehabt. Er war wirklich kein Held. Aber nur phantasielose Blödmänner hatten keine Angst vor dem Tod. Marcels Stirn war so nass, dass dicke Schweißtropfen auf seine Hände fielen. Fury, wachsam an seiner Seite, schaute sich argwöhnisch um. Er hatte wohl Sorge, es könnte in letzter Sekunde noch etwas schiefgehen. Smart zeigte Marcel, wo er ziehen musste, um den Schirm zu öffnen. Dann warf er ihn ohne Umschweife aus der Luke. Marcel wartete nur wenige Sekunden, bevor er an der Leine riss und der Schirm sich über ihm entfaltete. Was er sah, war so fantastisch, dass er seine Angst vergaß. Je mehr er sich vom Luftschiff entfernte, umso besser konnte er es sehen. Der Bug war nach unten geneigt. Es würde sich nicht mehr lange halten. Das Triebwerkssummen wurde zu einem hohen Singen. Nun sprangen auch Fury und Smart aus der Luke. Meter um Meter entfernten sie sich von der Hülle des Luftschiffs. Als der Boden schon ziemlich nahe war, fiel Marcel auf, dass er niemanden von der Mannschaft über sich in der Luft sah. Was hatte das zu bedeuten? Gab es etwa nur Fallschirme für die Brückenoffiziere? Plötzlich hatte er den Eindruck, dass der Bug sich wieder aufrichtete. Wie war das möglich? Hatte jemand an Bord die Fehlfunktion beseitigt …? Oder gehört es zur Sicherheitstaktik, Luftpiraten einzureden, dass sie abspringen müssen, wenn sie ihren Hals retten wollen? Sitzen sie jetzt in der Messe und lachen sich über unsere Dummheit kaputt? Marcel errötete vor Scham. Faunland nahm nun unter
ihm das gesamte Blickfeld ein. Aus der Nähe sahen die Farben viel bunter aus. Zwar dominierte graubraun, aber er entdeckte auch viele grüne Zonen. Sanft sank er dem Boden entgegen.
8 � Fremde sind Freunde, die man nur noch nicht kennengelernt hat. Unbekannt Als Marcel die Augen aufschlug, wurde ihm bewusst, dass der Aufschlag härter gewesen war als erwartet. Unsägliche Pein kam über ihn: Sie stach und dröhnte, wummerte und wogte. Am liebsten hätte er sich in eins der seidenen Kissen seiner Schlafstatt verbissen, doch das heimelige Haus Seiner Majestät war weit. Wie war seine Lage? Er hatte sich an einer hirnlosen Meuterei gegen einen Captain der Königlichen Luftwaffe Nova Scotias beteiligt und gegen das Königshaus gestellt. Sein Handeln hatte nicht nur das prächtige Luftschiff des Königs in Gefahr gebracht, sondern auch Leib und Leben seiner Offiziere und Gemeinen sowie seiner Tochter! Und all das nur, weil er zu feige gewesen war, sich einem geisteskranken Geistlichen und dessen militärisch geschultem Helfershelfer zu widersetzen. Ihnen allen drohte fraglos der Tod – wenn nicht noch Schlimmeres! An Bord des Luftschiffes befanden sich genügend Zeugen für ihr Vergehen. Fury und Smart hatten auf der Brücke ein halbes Dutzend Offiziere und Fähnriche außer Gefecht gesetzt und drei weitere bedroht. Außerdem hatte der Rev'rend Prinzessin Alanie und Captain Caxton über das Schlauchtelefon von seinen Hirngespinsten in Kenntnis gesetzt. Wilmington musste inzwischen wieder bei sich sein. Wenn er fit war, würde
er das Luftschiff wenden und … Moment mal… In einer kurzen Pause, in der das Pulsieren seines Kopfes so weit nachließ, dass Marcel es wagen konnte, ein Auge zu öffnen, kam ihm ein schrecklicher Gedanke. War Seine Majestät am Abend vor ihrer Abreise nicht ein bisschen sehr schnell bereit gewesen, die Expedition zu finanzieren und den Prediger auf die Reise zu schicken? Wieso hatte der König ihn dem Rev'rend überhaupt als »bewährten Haudegen« an die Seite gestellt? Ihn, einen Musikanten? Hat Alanie das nicht auch schon für merkwürdig gehalten? Marcel öffnete auch das zweite Auge. Majestät wollte uns beide loswerden. Vielleicht hatten Wilmington und seine Leute dem Rev'rend im Auftrag des Königs ein Theaterstück vorgespielt … mit dem Plan, ihn auf Faunland auszusetzen. Weil der König nämlich längst wusste, dass Fury nicht nur der Vetter seiner Frau war, sondern auch einer ihrer Liebhaber … und dass er selbiges dem kleinen Musikanten anlastete, der es noch dazu in Bälde mit seiner Tochter treiben würde … Junge, Junge, dachte Marcel, da tun sich ja Abgründe auf. Wenn das stimmt, ist der Ofen für mich aus … Er beschloss, davon auszugehen, dass die Gefahr hinter ihm lag. Er hob den Kopf, ignorierte das Dröhnen und schaute sich um. Er war auf einer Anhöhe gelandet. Der Fallschirm hatte sich in den Ästen eines Nadelbaums verheddert. Marcel befreite sich von den Gurten und setzte sich hin. Um ihn herum breitete sich eine Waldlandschaft aus. In der Tiefe sah er die dunkelblauen Wogen des Meeres. Schaumkronen knallten gegen schartige Klippen. Die
Luft war klar, der Himmel graublau. Wo waren Fury und Smart? Er sah sie nirgends. Marcel atmete auf. Trotz seiner beschissenen Lage war er irgendwie erleichtert. Die Gegend, in der er gelandet war, wirkte nicht gerade zivilisiert. Außerdem hatte er Hunger. »Los, alter Knabe«, murmelte er und stand auf. Ach, wie schön wäre jetzt ein heißes Schaumbad … Er kam sich wie gerädert vor. Was erwartete ihn? Bestand die Chance, dass das Luftschiff hierher zurückkehrte? Vielleicht bewies Alanie Mitleid. Vielleicht überzeugte sie den Captain, dass Junker d'Artagnan kein Meuterer sein konnte. Vielleicht suchte man schon nach ihm … Wahrscheinlicher war, dass er in den Bau irgendeines Tieres trat, sich ein Bein brach und in der Wildnis verhungerte. Er war in einem unbekannten Land. Es galt, in unbekannter Umgebung zu überleben. Aus der Luft hatte er im Norden einen Bach gesehen. Als er sich den Bäumen näherte, teilte sich am Waldrand ein Gebüsch, und ein großes Tier mit dunklem Fell reckte sein spitzes Maul in die Luft. Marcel blieb erschreckt stehen. Das Tier stand auf den Hinterläufen. Eine Taratze. Marcel zog seinen Nadler. Vielleicht ließ das Biest sich einschüchtern. Die Taratze fauchte. Dann zog sie den Kopf ein und tauchte unter. Marcel hoffte, dass sie wegen seiner Waffe das Weite suchte und ihm nicht mehr in die Quere kam. Taratzen waren nicht viel dümmer als dumme Menschen; sie wussten durchaus, was Schießeisen anrichten konnten.
Marcel tauchte mit der Waffe in der Hand in den Wald ein. Die Bäume standen so dicht, dass das Licht der Sonne den Boden nicht traf. Tannennadeln bedeckten die Erde. Marcel schritt kräftig aus und achtete sorgfältig darauf, keinen Lärm zu verursachen. Nach einer halben Stunde endete der Kiefernwald und machte Laubbäumen Platz. Marcel schlug sich durch Farne und hohes Gras. Eine weitere halbe Stunde später stand er am Ufer des Baches. Er war zehn Meter breit und seicht und strömte klar dem Meer entgegen. Am Ufer wuchsen lecker duftende, kürbisähnliche Früchte. Sein Magen knurrte. Als er in den Bach trat, um ihn zu durchqueren, tauchte ein riesiger roter Krebs aus dem Wasser auf und kam mit langen, klackenden Scheren auf ihn zu. Auf seinem gepanzerten Schädel ragten vier Fühler auf. Marcel legte an und schoss. Die Nadel blieb in einem Auge der Bestie stecken, und sie erschlaffte. Bevor die Strömung sie wegtragen konnte, flog ein Lasso über Marcels Kopf hinweg und legte sich um den Hals des toten Krebses. Marcel fuhr herum. Rev'rend Fury hatte das Lasso geworfen. Nun zog er die Beute aus dem Wasser. »Wie schön, Sie zu sehen, Junker d'Artagnan.« Ein fröhliches Grinsen war auf seinen Lippen. Marcel grinste verlegen. »Wo ist Captain Smart?« Er drehte sich suchend um. »Ganz in der Nähe. Er macht ein Feuer.« Fury zog seine Beute ans Ufer und hievte sie an Land. Das Krustentier hatte acht Beine und sah aus, als wöge es einen halben Zentner. »Ein guter Schuss, Junker.« Er nickte
anerkennend. Marcel war zwar nicht gerade begeistert, dem Prediger und seinem Vasallen erneut zu begegnen, aber er ließ sich nichts anmerken. Er half Fury, den Krebs an Land zu hieven. Dann schleppten sie ihn gemeinsam auf eine Lichtung, auf der ein Feuer brannte. Captain Smart schien in ein Sumpfloch gefallen zu sein, denn er war über und über mit Schlamm bedeckt. Dennoch blitzten seine Augen, und er zwinkerte Marcel wie einem Mitverschwörer zu. »Ich dachte schon, Sie hätten sich beim Absprung den Hals gebrochen.« »Ich hatte das Gleiche von Ihnen erhofft … ähm, befürchtet.« Marcel schaute sich um. Erst dann fiel ihm auf, dass Smart ihn mit einem eigenartigen Blick musterte – als hätte er ihn beleidigt. Fury war einige Schritte vom Feuer entfernt damit beschäftigt, den Panzer des Krebses mit dem Griff seines Colts zu knacken. »Sie haben uns gehörig in die Scheiße geritten, Captain«, sagte Marcel, weil er es satt hatte, ständig im Dunkeln zu tappen. »Ich muss schon sagen, Ihr taktisches Vorgehen war nicht eines Captains würdig.« »Ach.« Smarts Augen blitzten wütend auf. »Inwiefern?« »Sie und der Rev'rend hätten mich zumindest über Ihre Pläne informieren können.« Marcels Hals schwoll heftig an. »Dann hätte ich nicht ins kalte Wasser springen müssen, sondern vielleicht eine Chance gehabt, Ihr hirnrissiges Vorhaben abzulehnen.« Captain Smart schaute Marcel an, als hätte dieser den Verstand verloren. »Ich hätte sie informieren sollen?«, fauchte er. »Wie nennen Sie denn den Vortrag, den ich
Ihnen gehalten habe, als Sie in der Koje lagen, und den sie alle paar Sekunden mit ›Oh, ja‹ und ›Oh, jaaaaa‹ quittiert haben?« Marcel errötete. Du lieber Himmel, lass es nicht wahr sein! Er erinnerte sich noch gut an den Traum, in dem Alanie ihn dazu gebracht hatte zu vergessen, wie alt sie war. »Ich war noch nicht ganz wach«, sagte er und wandte sich, um seine Verlegenheit zu tarnen, dem Rev'rend zu. »Brauchen Sie Hilfe, Sir?« Fury hatte den Panzer schon geknackt. Mit einem Dolch schnitt er Klumpen rosafarbenen Fleisches aus der Beute heraus. Smart hatte aus Stöcken Spieße geschnitten. Die Männer setzten sich um das Feuer, hielten die Spieße in die Flammen und verzehrten das Fleisch, als es gar war, mit großem Genuss. Der Krebs schmeckte ausgezeichnet und würde sie bestimmt mehrere Tage lang ernähren. Mit gefülltem Magen, fand Marcel, sah sie Welt anders aus. Als er auf dem Rücken im Gras lag und den Flug der dicken Fleggen verfolgte, die über ihnen ihre Kreise zogen, überlegte er, wie er seinen Begleitern verdeutlichen konnte, dass er nicht darauf aus war, Phantome zu jagen. Fury und sein Vasall waren daran schuld, dass man ihn in Nova Scotia nun für einen Kriminellen hielt. Er hatte seine Stellung und sein luxuriöses Quartier verloren, weil der König ihn mit zwei geistig Unterbelichteten zusammengetan hatte. Nach dem, was er dank Fury und Smart auf dem Kerbholz hatte, konnten sich Froona und Alanie nicht mehr für ihn einsetzen. »Wird Zeit, dass wir uns auf die Socken machen.« Rev'rend Fury steckte sich eine Zygar an. Schon paffte er
dicke graue Wolken. »Ich wette, dass Satans Agenten längst von unserer Ankunft wissen.« Marcel setzte sich hin. »Gesetzt den Fall, Sie haben Recht, Rev'rend, und Ihre Mission wird ein Erfolg.« Er blickte Fury an, der wiederum ihn anschaute. »Haben Sie sich schon Gedanken darüber gemacht, auf welchen Kontinent wir drei auswandern, wenn Seine Majestät erfährt, was wir an Bord des Luftschiffes angerichtet haben?« »Angerichtet?« Fury schaute verständnislos drein. Captain Smart runzelte die Stirn. »Ist Ihnen nicht bewusst, was uns als Meuterern droht?«, fauchte Marcel, dem nun der Kragen platzte. Er sprang auf. »Dass wir des Todes sind, wenn man uns schnappt?« »Ach, das.« Fury winkte ab. »Haben Sie sich doch nicht so, junger Mann.« Er deutete auf die Reste des Krebses. »Nichts wird so heiß gegessen, wie es gebraten wird.« Er schnalzte mit der Zunge. »Sobald Louie weiß, dass Wilmington ein Wechselbalg ist, wird er uns Absolution erteilen!« »Wird er uns auch dafür Absolution erteilen«, erwiderte Marcel mit vor Hohn triefender Stimme, »dass wir Prinzessin Alanie in der Gewalt dieses Wechselbalgs zurückgelassen haben?« Fury und Captain Smart schauten sich an. »Verdammt, Eddie«, sagte Smart. »Er hat recht. Daran haben wir nicht gedacht. Das wird uns den Arsch kosten!« Der Rev'rend räusperte sich. »Dann dürfen wir keine Zeit mehr vertrödeln«, erwiderte er scheinbar unbeeindruckt. »Denn natürlich könnte Satan überhaupt
nichts Besseres passieren, als dass ihm die Tochter eines Königs in die Hände fällt! Vermutlich hat der falsche Wilmington ein solches Ziel von Anfang an verfolgt: Er wollte einen Angehörigen der königlichen Familie in die Hände kriegen.« Fury legte die Stirn kurz in nachdenkliche Falten, dann stand er auf. »Wir müssen Prinzessin Alanie befreien, bevor sie in der Hölle landet!« Captain Smart nickte. »Von mir aus können wir sofort losziehen.« Er stand auf und überprüfte seinen Colt und den Nadler. Marcel verdrehte die Augen im Kopf. »Und wo, bitteschön, sollen wir sie …?« »Dort entlang«, fiel Fury ihm ins Wort. Er wies nach Norden. »Immer am Bach entlang. Sie haben wohl vergessen, dass ich weiß, wo sich das Tor zur Hölle befindet, junger Mann!« Er marschierte los. Captain Smart schaute Marcel an und bedeutete ihm dann mit einer Kopfbewegung, dass er sich dem Rev'rend anschließen sollte. Marcel seufzte leise. Na schön, was blieb ihm anderes übrig? Im Gegensatz zu seinen Begleitern war er nur ein kleiner Musikant, der bald den Taratzen zum Fräße dienen würde, wenn er versuchte, sich allein durch die Wildnis zu schlagen.
9 � Eine Frau ist das einzige Geschenk, das sich selbst verpackt. Jean-Paul Belmondo Gegen Abend wurde aus dem seichten Bach ein Fluss, in dem ein Mann, wenn er wollte, bis zum Bauch im Wasser stehen konnte. Marcel wollte zwar nicht, doch die Lage zwang ihn dazu: Bevor die Sonne unterging, stießen sie am Ufer auf ein primitives, von durchweichten Stricken zusammengehaltenes Floß, das ihnen angesichts ihrer wunden Füße wie ein Geschenk des Himmels vorkam. Der erste Versuch, es zu bemannen und mit Hilfe von Staken in Betrieb zu nehmen, ging schief: Marcel verlor das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Rev'rend Fury erwischte ihn am Kragen und zog ihn an Land, wo Captain Smart schon wieder ein Feuer entzündete, damit Marcel seine Kleider trocknen konnte. Zum Glück war es nicht kalt, sodass er keinen Schaden nahm, als er in der Nacht am Feuer saß und die erste Wache schob, während seine Gefährten entspannt schnarchten. Am nächsten Morgen ging die Sache leichter vonstatten: Fury erlegte mit dem Messer ein paar Fische, die Smart über dem Feuer briet. Als sie gefrühstückt hatten, schoben sie das Floß erneut ins Wasser. Diesmal kamen sie ohne Probleme in die Flussmitte, und die Strömung nahm sie auf. Sie ließen
sich einige Stunden flussabwärts treiben, bis der Fluss in einen See mündete. An Land machten Fury und Smart sich auf, etwas Essbares aufzutreiben. Der völlig übermüdete Marcel legte sich ins Ufergras und schlief ein. Im Traum stand er vor Prinzessin Alanie, die im reichlich verzierten Sattel einer Androne saß und ihn von oben herab musterte. Neben ihr stand in gebügelter Uniform Captain Smart. Seine rechte Hand lag auf Alanies linkem Knie, und er grinste Marcel frech an und sagte: »Darf ich vorstellen: meine Braut! Majestät hat uns gerade den Segen gegeben.« Das war zu viel! Ein Blitz der Eifersucht durchzuckte Marcels Hirn. Er riss Smarts Hand von Alanies Knie. Der Captain verlor das Gleichgewicht. Marcel verpasste ihm einen Haken. Triumph pulsierte in seinen Adern. Alanie hingegen schrie auf und bedachte ihn mit einem Schwall unflätiger Worte. Der Captain zückte seinen Nadler und richtete ihn auf Marcels Unterleib! Hinter Smart tauchte Fury auf. Er wirkte fassungslos und rief etwas, das Marcel nicht verstand, denn er hatte Mühe, Smart die Schusswaffe zu entringen. Die Prinzessin ritt davon. Hinter Smart teilte sich trocken knackend das Uferschilf. Der Captain löste sich in Dunst auf. Es war gar kein Traum. Marcel war wach. Sechs, sieben exotische, in Fetzen gekleidete Gestalten kamen geduckt aus dem Schilf. Sie waren stoppelbärtig und hatten schiefe Zähne. Ihre mit bunten Stofffetzen umwickelten Helme wiesen reichlich Beulen auf, und ihre schartigen Säbel brauchten dringend Pflege. Die
Burschen sahen nicht gerade aus wie ein Kommando, das Fremde in diesem Gebiet willkommen hieß. Im Gegenteil. Fury war nicht nur in Marcels Traum aufgetaucht; er war auch in Wirklichkeit da. Nun verstand Marcel, was er schrie: »He, Junker! Aufwachen! Aufwachen, verdammt noch mal!« Der Colt in Furys Hand spuckte Blitze. Einem Angreifer flog der Helm vom Kopf. Marcel sprang auf. Da er in der Sonne geschlafen hatte, war sein Kreislauf so durcheinander, dass er nicht wusste, ob er sich übergeben oder schießen sollte. Smart kam von der Seite her ins Bild. Zwei Fremde stürzten sich auf ihn. Fury sprang die Anhöhe hinab, erledigte einen Angreifer im Laufen und drosch einen weiteren, der sich ihm in den Weg stellte, mit dem Griff einer Waffe nieder. Smart rang mit den zwei zerlumpten Kerlen, verhedderte sich in Wurzelwerk, verlor den Boden unter den Füßen und stürzte. Sofort waren die Angreifer über ihm. Der erste Gegner, der Marcel an die Kehle wollte, wurde von einem Tritt zwischen die Beine gefällt. Auf den nächsten legte Marcel seinen Nadler an. Klick. Und noch mal: Klick. Das Magazin war leer! Als er dem Angreifer die Waffe über den Schädel ziehen wollte, stürzten sich zwei Mann auf seine Beine und rissen ihn um. Etwas Hartes setzte ihn außer Gefecht. Marcel kam zwischen Flickenjurten und flatternden Wimpeln zu sich – in einem aus Ästen konstruierten Käfig, der wie ein umgestülpter Helm in der Landschaft
stand. Übel riechende Gestalten scharten sich um das Behältnis; sie nuschelten in einer Sprache, die ihm vage bekannt vorkam. Schmutzige Kinder spuckten ihn an und machten sich einen Spaß daraus, ihn mit Stöckchen zu pieksen. Die Erwachsenen fanden die kreative Tücke ihrer Brut offenbar lustig, denn sie lachten roh. Gütiger Kukumotz dachte Marcel. Wo bin ich jetzt gelandet? Er, Fury und Smart waren nicht die Einzigen in dem Holzkäfig: Da hockten noch weitere Lebewesen herum. Ein Mitgefangener – war es ein Tier? – trug einen Panzer aus Horn. Seine Hautfarbe war dunkelgrün und schuppig, sein Gesicht uralt. Kreisrunde Augen musterten Marcel und die anderen. Das Wesen bewegte seine spitzen Ohren. Sein Mund zeigte spitze kleine Zähne und eine blaue Zunge. Vier weitere Gefangene waren Taratzen. Ihre Schwänze peitschten ziellos hin und her. Die beiden nächsten Gestalten waren klein und verständigten sich mit quakenden Lauten, hatten birnenförmige Schädel, und ihre Haut wirkte rissig. Sie hatten nur wenige Zähne. Ihr Haarwuchs bestand im Wesentlichen aus Wangenquasten. Die größte Überraschung erlebte Marcel, als er den letzten Gefangenen in Augenschein nahm. Eine Menschenfrau! Sie war so schmutzig, dass ihre Haare wie Korkenzieher in alle Richtungen abstanden. Trotzdem zwinkerte er ihr zu – und war verblüfft, als die Frau zu reden begann. »Ich bin Lieutenant Marie Dumarest aus Nuffie«, stellte
sie sich vor. »Nuffie?«, echote Marcel wenig geistreich. »Das liegt nicht weit vom Grand Lac und wird von Großfürst Gustave beherrscht. Ich war zu den Ruinen von Sanyonn im Süden unterwegs, als diese Barbaren mein Relch unter mir wegschossen und mich gefangen nahmen.« »Die Ruinen von Sanyonn?«, fragte Captain Smart. Lieutenant Dumarest winkte ab. »Sie sind fünf Jahrhunderte alt und werden auch noch ein paar Jahre auf mich warten können.« Marcel musterte sie genauer. Das Antlitz der Frau war so dreckverkrustet, dass man nicht abschätzen konnte, wie alt sie war. Ihre Mähne war ein schwarzgrauer Filz. Sie trug nur Fetzen und roch wie die Taratzen. Ihr Akzent erinnerte ihn an seine Heimat. »… zu weit in ihren Machtbereich vorgewagt«, sagte Lieutenant Dumarest gerade zu Captain Smart. »Ich wusste zwar, dass es sich nicht auszahlt, aber das Wetter war mörderisch und die Abkürzung einfach zu verlockend.« Rev'rend Fury und Captain Smart rutschten langsam in die Mitte des etwa zehn Meter durchmessenden Holzkäfigs. Dumarest gesellte sich zu ihnen. Während sie leise miteinander parlierten, blieb Marcel dort hocken, wo er zu sich gekommen war, und musterte das Lager ihrer Häscher. Es war müßig, sich zu fragen, wie er in diese elende Lage gekommen war. Wichtig war jetzt nur, dass er einen Plan schmiedete, der ihn hier herausbrachte. Menschen, die anderen Menschen die Freiheit nahmen, neigten in der Regel dazu, ihre Beute zu fressen oder zu
verkaufen. Beides erschien Marcel nicht erstrebenswert. Ebenso wenig war er darauf aus, den Rest seines Lebens in Gesellschaft zweier Männer zu verbringen, bei denen man nie wusste, wie weit ihr Wahn fortgeschritten war. »Was haben die mit uns vor?«, fragte Marcel an die Taratzen gewandt. Vielleicht verstanden sie ja seine Sprache. »Oyntopp«, erwiderte die größte Taratze, ein hässliches Biest mit drei Zentimeter langen Eckzähnen. »Oyntopp! Oyntopp!« Sie und ihre Kollegen verfielen in einen kollektiven Keuchhusten. Marcel begriff, dass sie lachten. Das Wort, das sie so lustig fanden, hatte Ähnlichkeit mit »Eintopf«. »Rutscht mir doch den Buckel runter …« Er hockte sich auf alle viere und kroch zu Dumarest und seinen Gefährten hinüber. Fury stellte ihn vor. Wie seine Gefährten erfahren hatten, war die Gefahr, dass sie in einem Kochtopf landeten, eher gering. Wahrscheinlich würde man sie an einen örtlichen Feudalherrn verkaufen – vorausgesetzt, es gab in dieser Gegend einen, der kapitalkräftig war und gerade Sklaven brauchte. Das nächste zivilisierte Gebiet war der Umkreis eines großen, »Grand Lac« genannten Binnensees. Am rechten Ufer lag auch Dumarests Heimat. Der Abend kam. Es wurde kalt. Marcel döste vor sich hin. Er hatte Hunger. Auch in den Eingeweiden seiner Gefährten rumorte es. Die Taratzen sahen in diesen Geräuschen offenbar eine Bedrohung, denn sie rotteten sich zusammen, fletschten die Zähne und zogen die übliche Macho-Nummer ab: Indem sie so taten, als seien sie kampfbereit, wollten sie
den Feinden Angst einjagen. Captain Smart zeigte ihnen einen gewissen Finger. Irgendwann wachte Marcel in der Kälte auf. Erst da merkte er, dass er eingeschlafen war. Im Lager regte sich erstes Leben. Hier und da klirrten Waffen. Relche scharrten den Boden auf. Wachtposten, die gerade noch um den Käfig im Kreis gegangen waren, setzten sich ans Feuer. Auch die Gefangenen wurden versorgt. Ein kleiner Schmutzfink warf ihnen brotähnliche Stangen zu. Dann teilte er Wasser in Blechtassen aus. Marcel aß stumm. Ihm taten alle Knochen weh, und seine Gefährten waren ziemlich grau im Gesicht. Kurz vor dem ersten Sonnenstrahl brachen sie auf. Schwer bepackte Lasttiere stampften am Fluss entlang nach Norden. Die Sklavenhändler ritten langmäulige Relche mit spitzen Geweihen. Hinter den Lasttieren kamen die Gefangenen, an ein dickes Seil gebunden: Zuerst die Taratzen, dann die anderen Wichte; zum Schluss die Menschen: Fury, Captain Smart, Marcel und Lieutenant Dumarest. Der Weg führte durch einen dichten Wald und über saftige Weiden. Gegen Mittag änderte sich die Landschaft: Nun näherte man sich steilen und schartigen Felsformationen, über denen Raubvögel kreisten. Während der ersten Rast warf der Schmutzfink den Gefangenen etwas Trockenfleisch hin und füllte ihre Becher. Am Abend rastete die Karawane wieder am Fluss. Schmutzfink, offenbar ein Unterhäuptling, hatte nichts
dagegen, dass die Gefangenen sich in einer seichten Flussbucht wuschen. Marcel, der nicht wusste, wann sich ihm das nächste Mal eine solche Gelegenheit bot, zog seine Stiefel aus, riss sich das verdreckte Zeug vom Leib und tunkte es ins Wasser. Dann taucht er selbst unter. Während er herumplanschte, überlegte er, wie weit er wohl käme, wenn er unter Wasser flussabwärts floh. Wohl nicht weit, denn die Sklavenhändler waren garantiert auf diesen Fall vorbereitet. Als er frustriert wieder aus dem kalten Wasser auftauchte, stieß er mit einer wunderschönen Frau zusammen. Sie sah wie eine blonde Walküre aus, war ebenfalls nackt und hatte ansehnliche Brüste und hellblaue Augen. Ihre Muskeln konnten einem Mann Angst machen. Na so was! Wer hätte vermutet, dass das Schmutzpäckchen aus dem Sklavenkäfig so beeindruckend gut aussah? »Oh, Verzeihung, Lieutenant …«, stotterte Marcel. »Ich wolle Ihnen nicht zu nahe treten.« »Keine Ursache, Schetzschön.« Marcel konnte den Blick nicht von ihrem prachtvollen Körper nehmen – zumindest von dem Teil, den er über Wasser sah. »Äh … wollen wir an Land gehen?« »Meine Kleider sind klatschnass«, erwiderte Dumarest. »Meine auch.« Vielleicht können wir uns gegenseitig wärmen. Sie rafften ihre Sachen zusammen, wrangen sie aus und setzten sich an das Feuer, das Captain Smart entfacht hatte.
10 � Stets findet Überraschung statt, da, wo man's nicht erwartet hat. Wilhelm Busch Am dritten Abend, die Karawane hatte gerade Halt gemacht, kehrten zwei Reiter in wildem Galopp von einem Spähtrupp zurück. Sie schwangen aufgeregt ihre Armbrüste, sprengten zu ihrem Häuptling und redeten schrill auf ihn ein. Marcel wusste inzwischen, dass sie eine Abart des Fraace sprachen. Er selbst verstand kein Wort davon, doch für Dumarest war ihr Kauderwelsch kein Problem. Wie sie ausführte, hatte der Spähtrupp etwas gesehen, dem man nicht gern begegnete. Der Häuptling schrie nach seinen Unterhäuptlingen, die wiederum andere Männer zu sich riefen, die sogleich ausrückten, um die Gefangenen mit viel Geschrei in eine Senke zu treiben. Man gab ihnen zu verstehen, dass sie es nicht wagen sollten, ihr Haupt über den Rand der Senke zu erheben, wenn sie es nicht verlieren wollten. Anschließend sammelten sich die Unterhäuptlinge vor der Senke um den Häuptling und berieten sich mit ihm. Die Töne, die sie anschlugen, klangen nicht beruhigend. Auch das kollektive Husten der Taratzen trug nicht dazu bei, Marcels Laune zu heben: Ihr Gelächter war triumphierend gemeint; sie rechneten offenbar damit, bald befreit zu werden. Fury, Smart und Dumarest steckten die Köpfe
zusammen. Kurz hörte Marcel, dass sie, falls eine Schlacht drohte, die Gelegenheit beim Schopf ergreifen und fliehen wollten. »Wenn es wirklich Taratzen sind«, sagte Dumarest, »geht es hier gleich hoch her. Wir müssen versuchen, ein paar Relche zu klauen.« O Merde, dachte Marcel. Reiten! Auch das noch! »Nehmen Sie allen Mut zusammen, Junker«, sagte Fury, als er Marcels bleiches Gesicht sah. »Wenn wir unsere Chance jetzt nicht nutzen, enden wir als Taratzenfutter.« In der Ferne wirbelte nun eine Staubwolke auf. Der Häuptling feuerte die Unterhäuptlinge an, die ihre Kampfgruppen in Marsch setzten. Drei Dutzend Banditen stoben mit schrillem Geschrei der Wolke entgegen, doch bevor sie die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, sprangen um sie herum rattenhafte Gestalten aus Bodenlöchern hervor und feuerten Salven aus Blasrohren ab. Die Sklavenhändler gerieten in Panik. Schon sanken die ersten getroffen zu Boden. Ihre nun herrenlosen Relche traten um sich, liefen zurück oder spritzten in alle Himmelsrichtungen auseinander. Als sich die nächste Sklavenhändlerwelle auf die Taratzen stürzte, schrie Fury »Jetzt!« und hechtete aus der Senke hervor. Dumarest folgte ihm, dann Captain Smart. Auch die gefangenen Taratzen brachen nun mit schrillen Schreien aus. Sie kamen nicht weit, denn eine Gruppe von Sklavenhändlern, die der zweiten Welle gerade folgen wollte, machte kehrt, stürzte sich auf sie und machte sie nieder.
Rev'rend Fury erbeutete den ersten Relch. Dann war Smart an der Reihe. Das Tier, in dessen Sattel er sich schwang, war jedoch vor Angst hysterisch. Smart gab sich alle Mühe, im Sattel der bockenden Geweihmähre zu bleiben, doch sie warf ihn ab und er rollte den Hang hinunter, bis er gegen einen gefallenen Sklavenhändler prallte, diesem den Säbel aus der Hand riss und sich sogleich auf eine rauflustige Taratze stürzte. Dumarest und Marcel packten zwei umherirrende Relche bei den Zügeln und versuchten sie zu bändigen. Dumarest hatte Glück. Außerdem konnte sie reiten: Sie lenkte das Tier mit den Schenkeln auf einen Sklavenhändler zu, drosch ihm die Faust in den Nacken und entriss ihm den Säbel. Marcel wollte sich gerade in den Sattel schwingen, als sich eine übel riechende Taratze auf ihn warf. Er trat aus; das Rattenwesen verdrehte die Augen und sank in den Staub. Marcel war mit einem Sprung auf dem Rücken des Relchs, drückte die Fersen in die Seiten des Vierbeiners, brüllte »Hüah!« und riss an den Zügeln, bis das Vieh kapierte, wohin er wollte. Doch wohin wollte er? Während um sie herum der Kampf tobte, hielt Marcel nach seinen Gefährten Ausschau. Captain Smart bemühte sich, im Sattel eines hektisch um die eigene Achse rotierenden Relchs zu bleiben. In seiner Nähe kämpfte Rev'rend Fury gegen zwei Taratzen. Marcel preschte auf ihn zu. Bevor er Fury erreichte, war Dumarest mit wirbelndem Säbel da. Furys erster Gegner sank kopflos zu Boden. Den zweiten spießte Fury selbst auf und rief Dumarest »Danke!« zu. Smart hatte sein Tier inzwischen so weit gebändigt,
dass es ihm gehorchte. Er sprengte winkend heran. »Ho!« Marcel riss an den Zügeln, und sein Relch ging hoch. Als er wieder herunterkam, flog eine Taratze zur Seite. Irgendwie war Marcel danach viel heldenhafter zumute. »Mir nach!«, rief Fury. Marcel, Dumarest und Captain Smart jagten hinter ihm her. Es ging nach Westen. Hinter ihnen wurde der Kampflärm leiser, und der Staub legte sich. Als Marcel sich bei erster Gelegenheit umschaute, sah er aufatmend, dass ihnen niemand folgte. Er wusste nicht, ob die Taratzen über die Nomaden gesiegt hatten. Es war ihm auch egal. Sie ritten bis Mitternacht. Als der Himmel sich bedeckte und Wolken den Mond verhüllten, schlugen sie in einer vom Wind geschützten Mulde unter hohen Kiefern ein Lager auf und zündeten ein Feuer an. Da die Satteltaschen ihrer erbeuteten Reittiere Proviant und Feldflaschen enthielten, konnten sie die Frage ihrer Ernährung erst einmal verschieben. Im Westen lag der Grand Lac, Furys Ziel: Dort sollte sich, »streng wissenschaftlichen Studien und Berechnungen« zufolge, das Tor zur Hölle befinden – ungefähr dort, wo das Kastell des Großfürsten stand. Marcel übernahm freiwillig die erste Wache. Er musste allein sein, denn er brauchte dringend Zeit zum Nachdenken. Während seine Gefährten in erbeuteten Schlafsäcken den Schlaf der Gerechten schliefen, saß er am Feuer und
haderte mit seinem Schicksal. Seiner Ansicht nach interessierten sich Fury und der Captain viel zu wenig für das, was ihnen blühte, wenn das Luftschiff nach Digby zurückkehrte und der König von Wilmington und seiner Tochter erfuhr, was auf dem Flug nach Faunland passiert war. Der Grund für ihr Tun interessierte niemanden. Auf Meuterei stand der Tod. Das wussten auch Fury und Smart. Offenbar bauten sie auf die von keinem Fakt gestützte Annahme, der König werde ihnen für Satans Ableben Pardon gewähren und den Verlust seiner Tochter an den »Wechselbalg« Wilmington als Kollateralschaden verbuchen. Die beiden sind irrsinnig. Marcel umrundete das fast heruntergebrannte, leise knisternde Feuer und musterte seine Gefährten. Eigentlich müsste ich Dumarest stecken, mit wem sie sich da eingelassen hat. Als sein Blick auf ihr Gesicht fiel, wurde ihm erneut bewusst, wie schön sie war. Er trat einen Schritt näher an sie heran. Sie hatte lange schwarze Wimpern, und es war kaum zu glauben, dass ihre Hände einen Säbel schwingen konnten. »Was guckst du so?« Dumarest setzte sich plötzlich auf. Marcel schreckte zurück. »Ich hab gedacht, du schläfst.« »Soll das etwa eine Antwort sein?« Intelligent war sie auch. Dumarest schälte sich aus dem Schlafsack und stand auf. »Hm?« Marcel schüttelte den Kopf. Dass sie ihn so forsch aufs Korn nahm, war ihm unangenehm. Was sollte er denn sagen? Ich hab dich angeguckt, weil du so schön bist? Dumarest kicherte leise, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Sie kniete sich neben ihre Satteltaschen, entnahm
ihr zwei Zygars und hielt Marcel eine hin. »Qualmen wir eine?« »Ähmmmm …« »Na prima.« Dumarest stand auf und klemmte ihm das Ding zwischen die Zähne. Dann hakte sie sich bei ihm ein und führte ihn an den Rand der Lichtung, wo sie unter den ausladenden Ästen exotischer Laubbäume stehen blieben. Sie konnte auch flink mit Feuersteinen umgehen. Im Nu hatte sie die Zygars angezündet. »Weißt du eigentlich, wo wir sind?«, fragte Marcel. Der Tobak war so stark, dass er nur paffen konnte. »Ich hab keine Ahnung, ob unser Weg rauf oder runter geht …« »Was ist euer Ziel?« »Der Grand Lac.« »Aus 'nem besonderen Grund?« Nun war guter Rat teuer. Verriet er ein Geheimnis, wenn er erzählte, wer ihre Expedition finanzierte? Wenn der König von Nova Scotia seine Leute ins Reich eines anderen Herrschers schickte – konnte man es als Affront, als Spionage, als Invasionsvorhut auslegen? Ließ er Seine Majestät außen vor und tat so, als sei Furys Ziel auch das seine, stand er in Dumarests Augen vielleicht als Dummkopf da. Daran konnte einem intelligenten Menschen nicht gelegen sein. »Ich hab keinen besonderen Grund. Ich begleite nur Rev'rend Fury und Captain Smart.« »Und was ist ihr Ziel?« Dumarest schaute Marcel sehr aufmerksam an. »Ich glaube, die … sind nicht ganz richtig im Kopf«, erwiderte Marcel, um sich vor einer konkreten Aussage zu drücken. Er hatte aus irgendwelchen dummen Gründen vergessen, seine Gefährten zu fragen, wer
dieser Baron Torsvan gewesen war und was er eigentlich auf Faunland gesucht hatte. Vielleicht war er ja ein Spion gewesen; vielleicht hatten die Sicherheitsorgane des hiesigen Großfürsten ihn seinerzeit geschnappt, sodass er die vergangenen siebzehn Jahre in einem feuchten Kellerverlies verbracht hatte. Vielleicht war es ihm irgendwie gelungen, den gehörnten Kurier zu bestechen, dem Sergeant Wilmington begegnet war. Vielleicht war Baron Torsvan überall auf Faunland als ausländischer Spion bekannt, sodass es gefährlich war, wenn man selbst Ausländer war und seinen Namen kannte. Nein, dachte Marcel, ich sag mal lieber nichts … »Inwiefern sind die nicht ganz richtig im Kopf?« »Sie sind hinter Satan her.« »Wer soll das sein? Müsste ich ihn kennen?« Marcel deutete nach unten. »Der Herr der Unterwelt.« »Ach – Großfürst Gustave?« Dumarest machte große Augen. »Hab ich nicht erwähnt, dass er tot ist?« Marcel musste lachen. »Ich glaube, die meinen einen anderen Herrn.« »Was ist denn hier so lustig?«, ertönte plötzlich Rev'rend Furys Stimme. Marcel zuckte zusammen, als die breitschultrige Gestalt des Geistlichen sich vor ihnen im Dunkel manifestierte. »Erzählen Sie's mir auch. Ich lache sehr gern.« Marcel errötete. »Ich glaube, Junker d'Artagnans Motivation, zum Grand Lac zu reiten, hat stark nachgelassen«, sagte Dumarest. »Führen Sie hier geheime Verhandlungen?« Fury
schaute sich um. Er wirkte plötzlich bedrohlich. »Wenn ich's recht bedenke, ist dies ein geradezu idealer Ort für geheime Verhandlungen. Gegen wen könnten sie sich richten?« Dumarest setzte eine nachdenkliche Miene auf. Als sie die Zygar aus dem Mund nahm, fiel Marcels Blick wieder auf ihre Hände. Froona und Alanie hatten solche Hände. Es waren Damen-, keine Söldnerhände. Spielte sie ihm etwas vor? Wer war sie wirklich? Sein Blick huschte zu Fury. War es ein Fehler gewesen, sie ins Vertrauen zu ziehen? »Was geht eigentlich hier vor, Fury?«, fragte Dumarest. »Sie spielen doch auf irgendwas an …« Fury zuckte die Achseln. »Könnte schon sein.« »Können Sie es nicht erklären?«, fragte Dumarest. »Tut mir leid«, sagte Fury, »aber dazu kennen wir uns noch nicht gut genug.« Er nickte Marcel warnend zu, dann trollte er sich. Marcel wusste nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Er hatte jedoch irgendwie das Gefühl, dass es besser war, sich an Furys unausgesprochene Warnung zu halten. Bei Licht besehen kannte er diese Frau doch überhaupt nicht. Es war durchaus möglich, dass sie ihn nur ausnutzte. Ein schönes Gesicht und ein draller Leib hatten schon manchen Mann Kopf und Kragen gekostet. Sie pafften noch eine Weile vor sich hin, dann schlug Dumarest vor, die nächste Wache zu übernehmen. Marcel kroch in seinen nicht sehr verlockend riechenden Schlafsack und schlief sofort ein. Irgendwann in der Nacht wurde er wach.
Fury saß vor dem fast erloschenen Feuer und schaute den dösenden Relchen zu. Marcels Gedanken drehten sich im Kreis. Irgendwann zuckte er hoch und bemerkte, dass er wieder eingenickt war. Dann sah er etwas Unheimliches: Dumarest, die neben ihm lag, drehte sich auf den Rücken, und ihre Gesichtszüge lösten sich auf. Sie hatte plötzlich überhaupt kein Gesicht mehr. Marcel sah nur eine glatte Fläche. Sie hatte keine Augen, keine Nase, keinen Mund. Seine Nackenhaare richteten sich vor Entsetzen auf. Er blinzelte und rieb sich die Augen. Als er erneut zu Dumarest hinschaute, sah sie wieder normal aus. Ich hab Halluzinationen. Irgendwie war er erleichtert. Ich bin wahrscheinlich seelisch fix und fertig … Kurz darauf stand Captain Smart auf und gesellte sich zu Fury ans Feuer. Sie tuschelten miteinander, und Marcel sah, dass Smart Dumarest und ihn mit schrägen Blicken musterte. Er wusste noch immer nicht genau, ob er sich etwas eingebildet hatte. Dann stand auch Dumarest auf, und Marcel sah keinen Grund, so zu tun, als schliefe er noch. Als sie am Feuer hockten und frühstückten, wirkten die anderen wie immer. Marcel stärkte sich an einem nahrhaften Napfkuchen. Je satter er wurde, desto mehr vergaß er seine nächtlichen Gedanken. Nun, da sie ihrem Ziel nahe waren, galt es besonders vorsichtig zu sein: Er konnte nicht ausschließen, dass das Luftschiff Seiner Majestät irgendwo hier gelandet war und die Besatzung nach dem verschollenen Baron suchte. Wenn er es sichtete, hatte er vielleicht eine Chance, mit
Alanie Kontakt aufzunehmen. Er musste ihr sagen, dass er nur aufgrund eines dummen Missverständnisses Bestandteil der Meuterei gewesen war. Alanie hatte ihn schon immer gemocht; vielleicht konnte sie Wilmington und Captain Caxton von seiner Lauterkeit überzeugen. Eine halbe Stunde später schwangen sie sich auf ihre Relche und ritten nach Westen weiter. Am Nachmittag stieg das Land an und wurde steiniger. Nachmittags kamen sie an einen Hang. Als sie seine Kuppe bezwungen hatten, sahen sie eine Art Oase. Traurig aussehende Bäume umgaben eine Wasserstelle und spendeten Schatten. Sie ruhten sich aus, ergänzten ihren Wasservorrat und ritten auf der anderen Seite bergab. Gegen Abend wurde das Land grüner und waldiger. Dumarest hob die Nase in die Luft. »Der Grand Lac ist nicht mehr weit.« Sie deutete nach vorn. Marcel atmete auf. Endlich! Sie ritten im Mondschein weiter. Bald vernahm er ein Plätschern. Sie kampierten an einem grasigen Ufer. Während Dumarest und Marcel Holz sammelten und ein Feuer machten, fing Fury Fische mit einer Reuse aus seiner Satteltasche. Captain Smart suchte die nähere Umgebung des Lagerplatzes nach Taratzen ab, fand aber zum Glück keine. Die Nacht verlief ungestört. Am nächsten Morgen, der Bodennebel hatte sich noch nicht ganz gehoben, sah Marcel die Ausmaße des Sees. Er war nicht sehr breit, aber unheimlich lang. Beim Frühstück bemerkte er das dreieckige Segel eines Bootes, das in der Ferne von Ost nach West kreuzte. Dumarest legte eine Hand an die Stirn und spähte
übers Wasser. »Ein Frachter. Er ist nach Hellmouth unterwegs, nehme ich an.« Marcel zuckte zusammen. »Hellmouth?« Captain Smarts Kopf ruckte hoch. »Sie kennen sich hier aus, was?«, sagte Fury. Dumarest zuckte die Achseln. »Sie vergessen wohl, dass ich hier zu Hause bin, Fury.« »Ja, scheint so.« Fury runzelte argwöhnisch die Stirn. Marcel fragte sich, wie er wohl auf seine Halluzination reagiert hätte. Hätte er die Kanonen gezogen und Dumarest als Satans Abgesandte über den Haufen geschossen? »Muss wohl daran liegen, dass ich immer sofort sehr argwöhnisch werde, wenn gewisse Worte fallen.« Er schnalzte mit der Zunge. »Es ist wohl an der Zeit, dass ich es Ihnen richtig verdeutliche, meine Dame: Captain Smart, Junker d'Artagnan und ich sind im Auftrag des HERRN unterwegs – als seine Streitmacht sozusagen, die das Böse dieser Welt mit geweihtem Blei vernichten wird.« Sein Blick transportierte pure Arroganz. Marcel empfand plötzlich einen unerklärlichen Zorn auf Fury. Doch bevor ihm der Kragen platzte, schaute Dumarest ihn an, und ihre Augen sagten: Tu's nicht. »Ich kenne Männer Ihrer Art«, sagte sie lässig zu Fury. »Die meisten, denen ich begegnet bin, sind inzwischen … tot.« Da begriff Marcel. Er hatte nicht halluziniert. Dumarest war eins jener Chamäleons, von denen Rev'rend Fury gesprochen hatte. Sie war kein Mensch. Sie war etwas anderes. Und Fury ahnte es, spürte es. Wusste er es?
11 � Alle reden vom Wetter, aber keiner unternimmt was dagegen. Karl Valentin Am frühen Abend, es dämmerte schon, erreichten sie am Fuß der westlichen Erhebung eine Ansammlung windschiefer Steinhäuser, die Marcel an ein mittelalterliches Städtchen erinnerten. Natürlich hatte er noch nie ein leibhaftiges mittelalterliches Städtchen gesehen; er kannte derlei jedoch von Bildern aus Mr. Hackers Datenbanken. Der Ort hieß Froggham. In einem kleinen Hafen dümpelten Fischerboote. Als Rev'rend Furys kleiner Trupp über den mit hellgrauen Steinplatten ausgelegten Marktplatz ritt, zog er allerhand Beachtung auf sich. Die Frogghamer hatten zwar zwei Arme und Beine und wiesen auch sonst allerlei Äußerlichkeiten auf, die sie als Menschen durchgehen ließen, doch nur ein Blinder hätte übersehen, dass mit ihren Genen etwas passiert war: Ein großer Teil der Gaffer wirkte, als stamme er von Lurchen ab: Die glatzköpfigen Männer hatten rote Kämme, die Frauen grüne. Mit einer Größe von einem Meter sechzig waren sie kleiner als Durchschnittsmenschen. Wie Dumarest berichtete, hatten sie dies den Chemikalien aus einem Chemiewerk zu verdanken, das vor fünfhundert Jahren in die Luft geflogen war. Als sie nach einer Möglichkeit Ausschau hielten, ihre
müden Häupter zur Ruhe zu betten, stiefelte ein blau uniformierter Halblurch mit Pickelhaube auf sie zu. Dumarest unterhielt sich in dem nuschelnden Fraace mit ihm. Marcel verstand zwar nur jedes dritte Wort, glaubte aber zu hören, dass Dumarest ihn und die anderen als entlaufene Sklaven bezeichnete. Offenbar gelang es ihr, dem Ordnungshüter zu verdeutlichen, dass die Fremden keine bösen Absichten hegten, denn der Mann nickte, blubberte etwas und ging seiner Wege. »Was hat er gesagt?«, fragte Marcel neugierig. »Wir können bleiben. Wenn wir uns danebenbenehmen, steckt er uns in den Kerker, und wenn wir jemanden belästigen, werden wir geköpft!« »Das ist gut zu wissen.« Marcel nickte. Unter solch rabiaten Umständen gab es in Froggham vermutlich nur wenig Kriminalität. Mit den Relchen am Zügel tauchten sie in eine Gasse ein und suchten sich ein Quartier. Fury hatte in einer Satteltasche mehrere Lederbeutel mit Münzen gefunden. Offenbar hatte er den Relch des Zahlmeisters erwischt. Der Wirt, bei dem sie einkehrten, war von ihrem Reichtum beeindruckt. Er zeigte ihnen blitzsaubere Zimmer und kredenzte ihnen in der Gaststube Fisch, Gemüse und wohlschmeckendes Bier. Nach dem Essen setzte er sich an ihren Tisch und stellte sich in breitem Meerakanisch als Andoz vor. »Sie sprechen kontinental?«, fragte Fury verdutzt. »Yeah«, erwiderte Andoz lässig. »Ich war nicht immer Gastwirt. Ich bin es erst, seit mein Onkel mir sein Unternehmen hinterlassen hat.« Er schaute Beifall
heischend in die Runde. »Früher war ich als Kartograf auch auf dem Festland tätig.« Er warf sich in die Brust. »Ich bin ein Mann von Kultur. Früher hatte ich die Ehre, der Gattin des Großfürsten in Hellmouth als Vorleser zu dienen.« »Hellmouth liegt dort drüben.« Dumarest deutete durchs Fenster auf das andere Seeufer. Dort schraubten sich graue Felsklippen in die Höhe. »Von hier aus kann man nichts erkennen, da die Klippen die Stadt verbergen.« »Ist der Großfürst nicht gestorben?« Fury runzelte die Stirn. Andoz nickte. »Er hat einen Nachfolger ernannt, Sir. Ein herrenloses Relch würde doch in kurzer Zeit von der Anarchie überrollt werden und sich in seine Bestandteile auflösen.« »Wer ist sein Nachfolger?«, fragte Marcel neugierig. »Lassen Sie mich raten«, warf Captain Smart irgendwie höhnisch ein. »Ist es sein Sohn?« Andoz schüttelte den Kopf. »Nein. Der Großfürst hatte leider keinen Sohn. Er hat einen treuen Gefolgsmann zu seinem Nachfolger ernannt. Ein Mann mit großen Fähigkeiten, denn er ist Konstrukteur, Waffenschmied, Arzt und Apotheker in einer Person.« »Ach, wirklich?« Fury und Smart schauten sich an. Sie schienen mehr oder weniger mit dieser Antwort gerechnet zu haben. »Ist dieser Mann zufällig ein Fremder in Ihrem schönen Land?«, fragte Fury. »Ja, in der Tat.« Andoz nickte. »Er kam vor siebzehn Jahren zu uns. Woher wissen Sie das?« Nun tauschten auch Marcel und Dumarest einen Blick.
»Kennen Sie zufällig seinen Namen?«, sagte Fury. Andoz nickte. »Natürlich. Jeder , kennt seinen Namen. Er heißt Gustave der Zweite.« Fury schnaubte verächtlich. Marcel sah ihm an, dass er Andoz nur deshalb nicht übers Maul fuhr, weil er nicht wusste, ob der ihnen noch weiterhelfen konnte. Andoz war zumindest im Haus des Herrschers bekannt und konnte ihnen vielleicht Türen öffnen. »Ich würde es mich etwas kosten lassen, eine Audienz bei Hofe zu erhalten«, sagte Fury, ohne sich in Einzelheiten zu verlieren. »Nichts leichter als das«, erwiderte Andoz. Dann korrigierte er sich. »Natürlich müsste man eine Reihe von Höflingen be…einflussen.« »Kennen Sie jemanden, der dies bewerkstelligen kann?« Furys Augen blitzten. Er schien die Antwort zu kennen – was keine telepathische Gabe erforderte; auch Marcel kannte sie. »Ich selbst könnte dies problemlos tun«, sagte Andoz. »Schon als kleiner Junge haben meine Lehrer mir einen niedrigen Charakter bescheinigt.« Fury, Smart, Marcel und Dumarest schauten sich an. Dann lachten sie. »Sie gefallen mir«, sagte der Rev'rend. Er beugte sich über den Tisch. »Wie würden Sie vorgehen, Mr. Andoz?« »Zunächst würde ich mit einem Boot nach Hellmouth übersetzen.« »Vortrefflich.« Fury nickte. »Dann brauchen Sie einen Führer.« »Können Sie uns jemanden empfehlen?«, fragte Smart. »Gewiss. Mich.« Andoz setzte einen listigen Blick auf.
»Natürlich nur unter der Voraussetzung, dass Sie sich einen Mann wie mich leisten können.« Der Bursche sah nicht nur wie ein Schlitzohr aus, er war auch eins. »Sie sind engagiert.« Fury klopfte Andoz auf die Schulter. »Jetzt trinken wir noch eine Runde.« Andoz stand auf. »Bedienen Sie sich bitte selbst. Ich besorge uns ein Boot, das uns morgen übersetzt.« »Warum so eilig?«, fragte Marcel. Andoz zuckte die Achseln. »Es könnte durchaus sein, dass Gustave der Zweite in Bälde zu einer Reise aufbricht.« »Eine Reise?« Dumarest reckte den Hals. »Warum sollte er denn eine Reise machen?« Andoz zuckte die Achseln. »Gestern kreiste eine riesig große, fliegende Zygar über der Stadt. An ihr hing eine Kutsche, die so groß war wie ein Haus und so lang wie die Gasse, in der ich wohne! Durch ihre Fenster konnte man die Gesichter von Menschen sehen.« Rev'rend Fury schaute Captain Smart an. »Na, was halten wir denn davon, Captain?« Smart zog die Nase hoch. Sein Gesicht war blass. »Wenig.« »Er hat das Luftschiff gesehen, Rev'rend!«, sagte Marcel so aufgeregt wie unnötigerweise. »Ihnen ist doch klar, was das zu bedeuten hat, nicht wahr? – Wilmington ist uns bei diesem Baron zuvorgekommen! Nun weiß auch er von unserem fehlgeschlagenen … Unternehmen. Als treuer Untertan der Krone …« »Papperlapapp«, sagte Fury ärgerlich, jedoch ohne eine Miene zu verziehen. »Es bedeutet vor allem, dass wir nicht die Nerven verlieren und an Orten, an denen die
Wände Ohren haben, mit Dingen herumprotzen, die niemanden interessieren!« Er funkelte Marcel an. Dann wandte er sich mit einem Lächeln zu Andoz um. »Wir stehen tief in Ihrer Schuld, Mr. Andoz. Wie können wir Ihnen unsere Dankbarkeit erweisen?« »Da wüsste ich schon was.« Andoz zeigte fröhlich seine Zähne. »Mit einem großen Haufen Mammon!« »Nun«, sagte Fury salbungsvoll, »dann wollen wir unser Geschäft am morgigen Tag unter Dach und Fach bringen.« Andoz verbeugte ich. »Habe die Ehre.« Er stiefelte hinaus. Unten am Firns, sang die schrille Stimme in Marcels Kopf. Unten am Fluss, da hab ich sie totgeschossen. Die Kaschemme, in der er mutterseelenallein saß und dem eigenartigen Mann mit der Gitarre lauschte, löste sich im Nebel auf. Er zuckte aus dem Traum hoch, als kräftige Schläge an seine Kammertür krachten. »Frühstück!« Andoz. Marcel fiel alles wieder ein. Die Sonne war gerade aufgegangen und eklig hell. Er schwang die Beine über den Bettrand und gähnte. Das Bier in einem der acht Humpen gestern Abend war bestimmt verdorben gewesen. Schon wieder rief Andoz' nasale Lurchenstimme, sich zu sputen; »sein Kapitaan« wollte gleich auslaufen. Die anderen saßen ekelhaft gut gelaunt – Dumarest war sogar ausgeschlafen – am Frühstückstisch. Marcel aß ein paar Bissen, dann führte Andoz sie an den Kai, an dem ein langes Boot vertäut lag.
Marcel schüttelte sich, als die kaltäugigen Lurche ihn beim Überqueren der Gangway musterten. Für Fury waren sie vermutlich Abgesandte des Teufels. Am vergangenen Abend hatte Andoz die Relche an einen örtlichen Händler verkauft: Der Kapitaan hätte sich geweigert, sie an Bord zu nehmen, da sie Bootsgeschaukel nicht vertrugen und nur Schwierigkeiten gemacht hätten. Ein Teil des Erlöses ging nun an ihn, und er ließ ihn in den Falten seines Gewandes verschwinden. Als alle Passagiere an Bord waren, legte das Boot ab und fuhr auf den See hinaus. Fury und Smart suchten den »Salon« auf. Marcel und Dumarest standen am Bug des zwanzig Meter langen Bootes. Wie Fischer sahen der Kapitaan und seine Leute nicht aus, aber Marcel verbiss sich die Frage, womit sie ihren Lebensunterhalt bestritten. Ihm ging noch immer die Frage im Kopf herum, wie er sich von Fury und Smart trennen konnte, ohne dass sie ihm als vermeintlichen Überläufer, der den Satan vor ihrer Ankunft warnen wollte, in den Rücken schossen. Er musste klug vorgehen. Vielleicht konnte er einen Unfall vortäuschen. Um nach Höllenschlund zu gelangen, mussten sie bestimmt gefährliche Höhenzüge überqueren. Einem Stutzer wie Marcel d'Artagnan musste es doch leichtfallen, abzustürzen und in einer Spalte zu verschwinden? Kommt Zeit, kommt Rat. Die Mannschaft ging in den Wanten und unter Deck ihrer Profession nach. Der Grand Lac war spiegelglatt, doch je näher sie dem anderen Ufer kamen, desto düsterer wurde es. Schließlich zog sich der Himmel zu.
Schwarze Wolken ballten sich über den Klippen auf der anderen Seite und hüllten sie ein. Es fing an zu nieseln. Eine Viertelstunde später goss es wie aus Eimern. Marcel und Dumarest waren Fury und Smart in den Salon gefolgt. Andoz spendierte Zygars. Alle qualmten und schauten griesgrämig hinaus. Bald ragten graubraune Felswände vor ihnen auf. Es sah aus, als würden sie gleich an dem zackigen Gestein zerschellen. Doch der Steuermann verstand sein Geschäft: Als Marcel schon überlegte, ob es angebracht war, den gütigen Kukumotz anzurufen, wich das bedrohlich aussehende Gestein zurück und gab den Blick auf eine Einfahrt frei. Sie war schmal, aber der Steuermann wendete, als sei dies eine seiner leichtesten Übungen. Das Boot durchfuhr eine Art Felsentor. Eine Gasse tat sich auf. Hinter ihnen schien der schwarze Nebel sich wieder zu schließen. Das Boot glitt im Regen auf dunklem Wasser dahin. Die Wände kamen so dicht heran, dass Marcel glaubte, gleich würden sie sie streifen. Hin und wieder wurde die Rinne aber auch breiter und bildete kesselförmige Buchten. Das Felsgestein war silbergrau. Überall krallte sich dunkelgrünes Buschwerk fest. Es schien von krabbelndem Leben erfüllt zu sein. Felsnasen ragten aus den Wänden hervor. Über ihnen türmte sich eine zerklüftete Landschaft. Pechschwarze Wolken verfinsterten den Himmel.
Plötzlich kamen sie auf eine große freie Fläche. Vor ihnen breitete sich ein von steilen Wänden umsäumter Nebensee aus. Seine Ufer erinnerten an einen Krater. Die Mannschaft warf den Anker aus. »Hellmouth liegt dort drüben.« Andoz deutete mit einer Hand – Marcel sah Schwimmhäute zwischen seinen Fingern – die Hänge hinauf, ohne sich genau festzulegen. Marcel hätte die Gelegenheit gern genutzt, an Land zu rudern. Doch das Wetter wurde noch schlechter: Ein Wolkenbruch rauschte auf das Boot nieder. Die Matrosen refften die Segel und verschwanden murmelnd unter Deck. Kapitaan und Steuermann kamen in den Salon, raunten geheimnisvolle Worte über Meergeister, die bei Unwetter jeden ins Wasser rissen, der sich über die Reling beugte, und öffneten eine große grüne Flasche. Der Schnaps ließ Andoz genüsslich seufzen, Dumarest vor Schreck röcheln und Marcel dezent nach Luft schnappen. Fury und Smart prosteten den Seeleuten zu und soffen mit ihnen um die Wette. Während sie sich unterhielten, schaute Marcel durch ein Bullauge und malte sich aus, wie er und Dumarest an Land ruderten, den Hang hinaufstiegen und sich auf sandigen Boden legten, um zu knutschen und … »Einen Tholar für deine Gedanken«, sagte Dumarest. Marcel zuckte zusammen. »Ähm … lieber nicht…« Kurz darauf klingelte ein lurchhafter Steward zum Abendessen. Sie nahmen an einem Tisch Platz und griffen zu. Als sie fertig waren, war der ganze Himmel bedrohlich schwarz. Kalter Wind peitschte die Wolken. Schwere Wellen rollten gurgelnd durch die Einfahrt und ließen das Boot wanken. An Deck liefen aufgeregte Matrosen
hin und her, banden Dinge fest und riefen unverständliches Zeug. Marcels Magen benahm sich immer merkwürdiger. Als sein Blick auf den Spiegel hinter der Salontheke fiel, sah er, dass er fast so grün wie der im Sturm wogende Uferbewuchs war. Noch ein, zwei Minuten, dann würde er sein Abendessen wieder ausspucken. Er musste an Deck, an die Reling. Marcel hatte gerade die Tür geöffnet und war ins Freie getreten, da krängte das Boot heftig. Eine Woge fegte über Bord. Marcel streckte instinktiv die Arme aus. Die Backbordreling kam auf ihn zu. Die Flutwelle umspülte ihn. Das Wasser riss ihm die Beine unter dem Hintern weg. Er krachte gegen die Reling. Jemand warf ihm etwas zu, das er für ein Seil hielt, doch er erwischte es nicht. Dann krängte das Boot erneut, und Marcel verlor den Halt. Er wollte schreien, aber Wasser schoss in seinen Mund. Das Wasser zerrte ihn fort. Er rutschte über die Planken, fegte nach Steuerbord, glitt wie ein Brett durch eine Öffnung im Schanzkleid und klatschte in die Bucht. Das, dachte er, als der Film seines Lebens vor ihm ablief, ist das Ende.
12 � Junge Damen erkennt man heute daran, � dass sie Wörter gebrauchen, � die man früher � in ihrer Gesellschaft vermieden hätte. � Johannes Heesters Zwei Stunden nachdem die monströse Woge das Boot gegen die Klippen geschmettert und in tausend Stücke zerschlagen hatte, ließ der Sturm endlich nach. Marcel empfand allmählich Optimismus. Der Wind wehte zwar noch immer heftig über das Loch hinweg, in das er sich verkrochen hatte, doch war er längst nicht mehr so stark wie nach der unfreiwilligen Wasserung. Hin und wieder versuchte er, im Licht der Sterne zu erkennen, ob er den unerwarteten Ansturm der Naturgewalten als Einziger überlebt hatte. Aber man konnte nichts sehen. Das Wasser war aufgewühlt und schäumte. Hier und da krachten Dinge gegen den Hang, auf den er sich nach dem Kampf gegen die Flut gezogen hatte. Als ihm bewusst wurde, wie knapp er dem Tod entgangen war, wunderte sein Alleinsein ihn nicht mehr. Er hatte seine gesamte Kraft darauf konzentriert, sich selbst zu retten. Er hatte keine Zeit gehabt, an die anderen zu denken. Nun, als er die Sterne leuchten sah, überfiel ihn ein Schauer der Einsamkeit. Er war patschnass. Er hatte den Nadler verloren. Er fror. Seine Zähne klapperten so laut, dass es ihm fast peinlich war. Er dachte an die Reise mit dem Luftschiff,
an die warme Koje, aus der Captain Smart ihn gerissen hatte. Er dachte an sein trockenes Gemach in Digby, und an Froona. Ihre Lüsternheit hatte ihn fast freudig auf diese Reise gehen lassen. Wie dumm war er nur gewesen? Er dachte auch an Alanie. Dann dachte er an Honeybutt Hardy und fragte sich, wo sie wohl jetzt war; ob sie noch lebte, und wenn ja, in welchem Land? Es war Jahre her, seit sie mit Mr. Black und einigen anderen Running Men ins ferne Sibirien aufgebrochen war, um zu verhindern, dass den Schweinebacken, die sich frech »Regierung der Vereinigten Staaten« nannten, gewisse Dinge in die Hände fielen. Bei diesen Gedanken verging die Nacht. Der Wind legte sich, als sei er mit dem zufrieden, was er angerichtet hatte. Der Sturm wurde zu einem mäßigen Säuseln, bis auch dies allmählich starb. Die Sterne wurden blasser. Die Dämmerung brach an. Der Himmel erhellte sich schnell. Ein lauer Wind hüllte Marcel ein, als er seine Höhle verließ. Auf dem Wasser trieben Bretter. Er sichtete ein Fass und einen Hocker. Er war nicht wild darauf, Wasserleichen zu sehen, deswegen drehte er sich der Kesselwand zu. Sie war bewachsen. Sein Blick wanderte über Bäumchen und Büsche. Er suchte nach Anzeichen von Gefahr. Er wusste nicht, was ihn erwartete, aber es war nicht auszuschließen, dass er vom Regen in die Traufe gekommen war. Als er den Aufstieg in Angriff nahm, fiel ihm das Denken immer schwerer. Er war nass, völlig übermüdet und hungrig. Obwohl er sich alle Mühe gab, wach zu bleiben, fielen ihm die Augen beim Klettern mehrmals
zu. Unheimliche Bilder jagten durch seinen Geist. Als er über Bord gegangen war, hatte er Dumarest schreien hören. Hatte sie ihm das Seil zugeworfen? War sie ihm zu Hilfe gekommen – und hatte dabei den Halt verloren? Hatte sie die Katastrophe überlebt? Wenn ja, wo steckte sie? Was war mit Fury und Smart geschehen? Konnten sie überhaupt schwimmen? Marcel erreichte die Kuppe des Hanges, sank zu Boden und schlief ein. Als er zu sich kam, war es fast Abend. Obwohl die Sonne schien, schlotterte er. Seine Kleidung war noch klamm. Er biss die Zähne zusammen. Sein Magen knurrte, seine Wadenmuskeln schmerzten. Er schaute in ein Tal hinab – und in eine Stadt mit Holz- und Steinhäusern. Hellmouth? Die Straßen waren gepflastert. Menschen, Reit- und Lasttiere bevölkerten sie. In der Stadtmitte stand ein Kastell mit vier Türmen. Von Marcels Standort aus konnte man in den Hof blicken. Zwischen den Gebäuden schwebte ein Luftschiff einen halben Meter über dem Boden. Man hatte es mit Seilen an Bäume gebunden. Vier Luftschiffer aus Nova Scotia bewachten es. »Gütiger Kukumotz!«, murmelte Marcel. »Lass es keine Halluzination sein!« Er schöpfte neuen Mut und machte sich an den Abstieg. Bald darauf fand er eine Serpentine, und alles wurde leichter. Je näher er Hellmouth kam, umso dunkler wurde es. Niemand belästigte ihn, als er durch die Gassen wanderte.
Auch hier ähnelten viele Menschen Lurchen. Die Männer trugen Mokassins, Hosen und Jacken aus Deerleder. Viele waren bärtig und langhaarig und sahen verwegen aus. Die Frauen waren schlank und stolz, ihre Röcke kurz. Als Marcel die langschäftigen Messer an ihren Gürteln sah, begriff er, dass man die Röcke nicht missdeuten durfte. Auf einem von Gasthäusern umgebenen Platz nahm er sich die Zeit, das Treiben zu studieren. Auch die Gassen von Hellmouth waren gepflastert. Eisenbalkone ragten über die Gehsteige. Straßenhändler priesen Waren an: Fisch, Fleisch, Gemüse, Obst, Heilkräuter. Marcel roch Gewürze, Parfüm und frisches Brot. Aus den Tavernen drang lautes Stimmengewirr an seine Ohren. Jünglinge in schwarzseidenen Jacken animierten die Flaneure, bestimmte Tavernen zum Essen, Trinken oder Spielen aufzusuchen. Andere wandten sich an die Männer, um ihnen zu sagen, in welchen Etablissements die schönsten Frauen zu haben waren. Marcel sah aufreizend gekleidete Damen, deren Blicke ihm himmlische Zerstreuung versprachen. Aber um das zu bekommen, hatte er Digby nicht verlassen. Marcel schlenderte langsam weiter, bis er an ein schmiedeeisernes Tor kam. Das große Steinhaus, zu dem es gehörte, musste von reichen Leuten bewohnt sein. Eine verschleierte Frau in einem mit Perlen bestickten Kleid kam in Begleitung zweier breitschultriger Lurche aus dem Haus. Als sie Marcel sah, steuerte sie auf ihn zu und sagte: »Du bist sehr hübsch, Bursche. Wie heißt du?« »Ähm … Danke.« Marcel musterte die feine Dame mit einem verdutzten Blick und nannte seinen Namen. Erst
dann fiel ihm ein, wie hungrig er war. »Hast du schon gegessen?«, fragte sie. »N-nein.« Er schüttelte den Kopf. »Ist er nicht süß?« Die Dame schaute ihre Begleiter an, die wie Leibwächter aussahen und sich hüteten, auf ihre rhetorische Frage zu antworten. »Nehmen Sie ihn mit, Dell. Luana soll ihn abschrubben und schick einkleiden. Ich hole ihn dann ab.« Sie nickte Marcel zu und ging mit dem zweiten Mann weiter. Dell nahm naserümpfend Marcels Arm und brachte ihn ins Haus. »Wehe, du führst dich nicht ordentlich auf«, sagte er und brachte ihn durch einen Korridor in einen gefliesten Raum mit einer Badewanne. »Lady Shayla ist zwar nur die Witwe des Großfürsten, aber in dieser Stadt noch immer die ungekrönte Königin. Ich kenne keinen Mann, der nicht seinen rechten Arm dafür geben würde, von ihr erwählt zu werden. Sei lieb zu ihr, und du wirst es nicht bereuen.« Marcel nickte brav. Er konnte sein Glück kaum fassen. Dell ließ ihn allein. Minuten später trat eine andere Dame ein und schrubbte Marcel ab. Es war ihm unangenehm, dass sie ihn überall anfasste, doch sie ignorierte seine Verlegenheit und seinen Ständer. Als sie meinte, er sei sauber genug, hüllte sie ihn in eine Decke ein und brachte ihn in einen Raum, in dem sie ihn mit Baumwollunterwäsche, wildledernen Kleidern und Mokassins ausstaffierte. »Und jetzt?« »Hast du Hunger?« »Und wie!« »Dann komm mit.«
Die Dame brachte ihn in einen Salon. Zwei Mädchen in Zofenkleidung servierten das Abendessen. Dann knarrte die Tür. Seine Wohltäterin kehrte zurück. Marcel stand auf und küsste ihre Hand. Mr. Black hatte ihm erzählt, dass vornehme Herren Damen früher auf diese Weise begrüßt hatten. »Oh, ein Gentleman alter Schule!« Lady Shayla setzte sich ihm gegenüber. Sie nahm den Schleier ab, und Marcel schaute in das schönste Frauengesicht, das er je gesehen hatte. Neben dem von Dumarest natürlich. Und dem Alanies. Und dem der Königin von Nova Scotia. »Gefalle ich dir?«, fragte Lady Shayla lächelnd. »Oh, ja …« Marcel nickte. »Und wie!« »Danke.« Sie deutete auf das Essen. »Hat's geschmeckt?« »Und wie«, sagte Marcel erneut. »Ich stehe auf ewig in Ihrer Schuld, Lady.« Lady Shayla lächelte. »Trinken wir einen?« »Aber gern.« Lady Shayla klatschte in die Hände. Die Zofen kamen mit blauem Wein, der vorzüglich mundete. Während sie tranken, stellte Shayla Marcel Fragen nach seinem bisherigen Leben, denen er so gut wie möglich auswich, wenn er nicht das Blaue vom Himmel herunter lügen wollte. »Ich war Panzerfahrer, Musiklehrer einer Prinzessin, Leibgardist eines geistlichen Würdenträgers aus Euree und Tallyman auf einem Frachtschiff. Unser Schiff ist in der vergangenen Nacht im Sturm gesunken. Ich fürchte, ich bin der einzige Überlebende.« »Was willst du jetzt machen?«, fragte Lady Shayla. »Ich würde gern in die Dienste des Großfürsten treten«,
sagte Marcel, da ihm nichts Besseres einfiel, um in Prinzessin Alanies Nähe zu kommen. »Da kann ich dir helfen.« Lady Shayla schob ihr Glas beiseite und stand auf. »Zufällig kenne ich ihn sehr gut.« Ihre Augen glitzerten. »Lass uns später darüber reden – nachdem wir es miteinander getrieben haben.« Marcel errötete. »Hier?« »Aber nein …« Lady Shayla nahm seine Hand und führte ihn durch einen von Wandkerzen erhellten Korridor zu einer Tür. Sie stieß die Tür auf und schob ihn hinein. Marcel schaute sich um. Es war ein Schlafraum. In der Mitte stand ein Bett, auf dem Kissen lagen. Brennende Kerzen warfen lange Schatten. Ansonsten enthielt der Raum einen Tisch und zwei gepolsterte Stühle. Als Lady Shaylas Schoß sich an seinen Unterleib schmiegte und ihre spitze Zunge zwischen seine Lippen drang, ertönte neben ihm ein Schrei. Sein Kopf zuckte herum, und er schaute aus dem Fenster. Unter ihnen, auf dem Gehsteig, klirrte Stahl auf Stahl, und Funken sprühten. »Was …?« Marcel machte sich los und fegte die Gardine beiseite. Vor dem Fenster fochten zwei Gestalten gegen ein halbes Dutzend andere. Heisere Flüche waren zu hören, und eine der Stimmen gehörte eindeutig Rev'rend Fury. »Marcel!«, fauchte Lady Shayla. »Was hast du vor? Du willst dich doch nicht in anderer Leute Angelegenheiten mischen?« »O doch.« Fury und Captain Smart, in der Dunkelheit kaum zu erkennen, waren zwar nicht seine Freunde, aber er hatte nicht vergessen, dass sie vor nicht allzu langer
Zeit zu einer gemeinsamen Reise aufgebrochen waren. Außerdem kämpften da draußen vier gegen zwei. Marcel öffnete das Fenster. Shayla zerrte an seinem Hemd, aber er schüttelte sie ab und rief leise Furys und Smarts Namen. Fury fuhr kurz herum. Er erkannte ihn, ließ sich aber nicht ablenken. Die Spitze seines Stiefels knallte in den Schritt eines Angreifers, der ächzend zurückwankte. Marcel riss einen dreiarmigen Leuchter an sich und zog ihn einem anderen Banditen über den Schädel. Das Quartett wich zurück. Als Smart einen weiteren Angreifer am Arm verletzte, nahmen alle Reißaus und trollten sich fluchend. »Bist du verrückt geworden?!« Shayla trommelte mit den Fäusten auf Marcels Rücken ein. »Was mischst du dich ein?« »Die beiden sind meine Freunde«, log Marcel. »Soll ich etwa zuschauen, wie sie von Räubern niedergemetzelt werden?« Captain Smart schob seinen Kopf durch das Fenster. »Guten Abend, Junker d'Artagnan …« »Du bist von Adel?« Lady Shayla klang erfreut. »Warum hast du mir das nicht gesagt?« »Er ist eben kein Angeber.« Fury tauchte neben Smart auf. »Habe die Ehre, Lady … Gestatten: Rev'rend Fury vom Manitoba-Orden.« Er lüpfte seinen Hut. »Dies ist Captain Smart, ein wackerer Fechter vor dem HERRN. Wie ich sehe, haben Sie sich unseres Nesthäkchens angenommen …« Lady Shayla kicherte und fragte die Männer, ob sie Lust auf einen Kafi hätten. Fury und Smart nahmen dankend an, und während die
Lady nach der Dienstmagd klingelte, stiegen sie durchs Fenster, das Marcel hinter ihnen schloss. Sie setzten sich aufs Bett und schauten sich um. »Sie haben es in kürzester Zeit weit gebracht, junger Freund«, sagte Fury anerkennend. »Sind Sie unserer Sache etwa fahnenflüchtig geworden?« »Aber nein«, sagte Marcel. Er bemühte sich, empört zu klingen, obwohl er keine Ahnung hatte, was Fury mit unserer Sache meinte. »Ich bin sozusagen auf der Durchreise.« Er berichtete, was er erlebt hatte, nachdem er über Bord gegangen war; wie er sich gerettet und wie Lady Shayla ihm geholfen hatte. »Sie ist die Witwe des alten Großfürsten.« »Na, das finde ich aber interessant«, sagte Captain Smart. »Wir wurden abgetrieben«, sagte Fury. »Wir haben uns an eine Kiste geklammert, bis wir ein ganzes Stück weiter südlich an Land geworfen wurden.« Sie hatten ein Gewirr von Klippen umrunden müssen und Hellmouth von einem Hügel aus gesichtet. Die Münzen, die Andoz für den Verkauf der Relche kassiert hatte, waren ihnen zum Glück geblieben. Sie hatten in einer Taverne getafelt und waren beim Bezahlen von dem Quartett beobachtet worden, das sie überfallen hatte. »Was ist aus Andoz geworden?« »Keine Ahnung.« Fury zuckte die Achseln. »Vermutlich mit dem Rest der Mannschaft abgesoffen.« »Und Dumarest?« Leise Wehmut beschlich Marcels Herz. »Dito.« Fury schaute ihn an. »Ich wusste sowieso nie, was ich von ihr halten sollte. Die war doch ziemlich undurchsichtig, finden Sie nicht auch?«
»Ja … ähm … nein … Ich weiß nicht.« Marcel zuckte die Achseln. Dann fiel ihm seine unheimliche nächtliche Beobachtung wieder ein, das Verschwinden ihrer Gesichtszüge. Aber das hatte er sich doch nur eingebildet. Oder? »Was haben Sie jetzt vor? Haben Sie gesehen, dass das Luftschiff hier gelandet ist?« Fury und Smart nickten. »Wir müssen unbedingt in das Kastell«, sagte Fury. »Und je eher, desto besser.« »Warum?«, fragte Marcel. »Warum?« Fury schaute Smart an. Smart runzelte die Stirn. »Habe ich Ihnen das nicht schon verdeutlicht?« »Ach so.« Marcel zuckte die Achseln. »Sie meinen … wegen dieses angeblichen Tors zur Hölle?« »Es ist kein angebliches Tor«, erwiderte der Gotteskrieger, »sondern ein wirkliches!« Furys Brauen zogen sich zusammen. Der Zeigefinger seiner rechten Hand deutete auf den Fußboden. »Junker d'Artagnan, wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass die Heere der Hölle …« »Schon gut, schon gut!« Marcel winkte ab. »Ich glaube Ihnen ja!« … kein Wort. »Wie verlässlich ist Ihre … ähm … Freundin?«, fragte Smart plötzlich. Marcel zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich kenne sie doch erst seit einer Stunde.« »Kann sie uns weiterhelfen?« »Kommt drauf an, was Sie von ihr wollen. Wenn Sie durstig sind, Sir, kann Sie Ihnen ganz sicher helfen.« »Ihnen ist der Ernst der Lage wohl nicht bewusst, Junker d'Artagnan!«, fauchte Captain Smart. Fury maß den Captain mit einem strafenden Blick und räusperte sich.
»Was haben Sie vor?« Marcel fragte sich, ob er zu ironisch gewesen war. Aber sollte er die Wahnvorstellungen der beiden etwa noch fördern? Er wusste nicht, wie man mit Gestörten umging. Wer wusste denn, ob diese Irren nicht etwas Furchtbares anstellten, wenn sie erst einmal im Haus des Großfürsten waren? Vielleicht wuchs auf dem Kopf des Herrschers zufällig eine Fettgeschwulst. Vielleicht hielt Fury ihn dann für einen Kundschafter der Hölle und schoss ihn über den Haufen. Dann musste Shayla es ausbaden. »Ich will es wissen!« Fury schaute Smart an. »Wir müssen ins Kastell«, sagte er. »Möglichst verkleidet, damit uns die Luftschiffer nicht erkennen. Kann Lady Shayla uns reinbringen?« »Soll das eine Antwort auf meine Frage sein?« Marcel, der bisher auf der Fensterbank gesessen hatte, stand auf und ging vor dem Bett auf und ab. Er war froh, dass Shayla jetzt nicht hier war. Vermutlich hätte sie aus ihrem Gerede auf eine Verschwörung gegen den Nachfolger ihres Gatten geschlossen. »Sie verschweigen mir doch etwas, Rev'rend!« »Wir müssen mit Prinzessin Alanie sprechen«, sagte Fury. »Sie muss wissen, mit wem sie sich einlässt.« Marcel machte große Augen. »Mit wem lässt sie sich ein?« »Mit jemandem, der im Sold Satans steht.« Furys Blick wanderte von Marcel zu Captain Smart und zurück. »Er gibt sich als Sergeant Wilmington aus.« Marcel wollte gerade aufstöhnen, als Fury sagte: »In der bewussten Nacht … bevor wir Sie geweckt haben … Ich hatte meine Kabine verlassen wollen … Die Tür war nur einen Spaltbreit offen … Da ging der angebliche
Wilmington an mir vorbei … und ich habe genau gesehen, wie seine Maske verrutschte …« »Seine was?« Marcel blieb wie erstarrt stehen. Fury zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Seine Gesichtszüge glätteten sich und lösten sich auf … Sein Kopf war nur noch eine glatte Kugel ohne Augen, Nase, Mund und Ohren. Es hat nur zwei oder drei Sekunden gedauert, aber ich habe es ganz deutlich gesehen.« Er räusperte sich. »Dieses … Ding ist nicht Wilmington! Die Prinzessin muss es erfahren.« Marcel schluckte. Furys Schilderung erinnerte ihn an die Nacht, in der er Dumarests Gesichtszüge hatte entgleisen sehen. Er hatte es unter »Halluzination« abgelegt. Wieso dachte Fury nicht so wie er? Warum hielt er seine Beobachtung nicht für eine Sinnestäuschung? Gehörte es zum Irresein, irreale Dinge nicht zu hinterfragen, sondern spontan so zu deuten, dass sie ins eigene wahnhafte Weltbild passten? »Wie sehen Sie die Sache, Captain?« Marcel schaute Smart an. »Können Sie mir erklären, wieso der Rev'rend diese Beobachtung nicht für eine Halluzination gehalten hat?« »Beim ersten Mal hätte er sicher an eine Halluzination geglaubt«, erwiderte Smart, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aber ich wette, beim dritten oder vierten Mal würde sich auch der größte Skeptiker gewisse Fragen stellen …« Verdammt, dachte Marcel. Es gibt keinen Satan! Es gibt keine Dämonen! Es gibt keinen Herrn der Unterwelt! Es gibt keinen Prinz der Finsternis! Trotzdem hängen diese Hohlköpfe diesem lächerlichen Mythos an!
Er wusste nicht mehr genau, was er von dem halten sollte, was er selbst gesehen hatte. Aber eins stand fest: Es spielte keine Rolle, ob sie es mit mutierten Menschen oder den teuflischen Bewohnern der Unterwelt zu tun hatten. Allem Anschein nach waren die beiden Fantasten auf ihrer Teufelsjagd versehentlich auf die Spur einer Verschwörung gekommen, die sich gegen das Königshaus von Nova Scotia richtete. Und diese Verschwörung galt es – schon im Interesse des eigenen Überlebens – aufzudecken! Mit anderen Worten: Fury hatte recht. Sie mussten ins Kastell des Großfürsten vordringen. Alanie war bei ihm zu Gast. Sie musste erfahren, in welcher Gefahr sie schwebte; sie musste erfahren, dass eine anonyme Macht im Begriff war, das heimische Königshaus zu unterwandern. Und Captain Caxton und seine Luftschiffer mussten wissen, wem sie auf den Leim gegangen waren. »Um was geht's hier überhaupt?«, fragte Marcel gespannt. »Was wollen diese Schweinebacken?« »Macht«, sagte Smart. »Über das Königshaus von Nova Scotia. Und später dann über die Welt.« Die Tür ging auf. Lady Shayla kam mit dem Kafi.
13 � Wenn Gäste sich wie zu Hause fühlen, benehmen sie sich leider auch so. Danny Kaye Als Marcel das Kastell aus der Nähe sah, kam ihm sein Plan, Alanie in den gut zwei Dutzend Gebäuden aufzustöbern, aus denen es bestand, wie eine Schnapsidee vor. Grimmige behelmte Schergen mit silbernen Brustpanzern bewachten das Tor. Sie trugen Lanzen und Säbel. Schusswaffen waren auf Faunland zwar nicht unbekannt, wurden aber aufgrund ihrer Seltenheit nur von hohen Offizieren getragen. Laut Shayla hatte dies in Hellmouth Tradition: Gewöhnliche Vasallen waren dumm und gewalttätig. Mit überlegenen Waffen ausgestattet, hätten sie sich an Zahltagen ihren Vorgesetzten und dem Adel gegenüber vielleicht Frechheiten erlaubt. Die Burschen, die wichtigtuerisch vor dem Tor auf und ab gingen, sahen allerdings auch nicht so aus, als könnte man sie beschwätzen oder bestechen. Als Shaylas Kutsche vor dem Tor anhielt, verbeugten sie sich. Ein Sergeant trat an den Wagen heran, salutierte und nickte Shayla zu. »Willkommen, Durchlaucht …« Sein Blick fiel auf Marcel, der im feinsten Zwirn seiner Laufbahn neben ihr saß. »Sie bringen einen Gast mit?« »Junker d'Artagnan«, erwiderte Shayla hochnäsig. »Ein Verwandter der jungen Prinzessin, die mit dem
Luftschiff aus dem Südwesten zu Besuch gekommen ist.« Natürlich hatte der Sergeant keine Ahnung, wer mit dem Luftschiff gekommen war, denn niedere Türsteher wurden nicht in derlei Dinge eingeweiht. Aber natürlich wäre er lieber tot umgefallen, als dies vor seinen Untergebenen einzugestehen. »Ah, die Prinzessin!« Er nickte. »Wohlan!« Er winkte die von vier stolzen Relchen gezogene Kutsche durch das Tor. Captain Smart, der im dunkelblauen Gewand und dem spitzen Hut eines typischen Kutscher-Domestiken auf dem Bock saß, ließ die Peitsche knallen. Die Räder knirschten übers Pflaster. Rev'rend Fury, der zu Shaylas und Marcels Füßen lag, nickte anerkennend. »Gut gemacht, Milady.« Es hatte Marcel überrascht, dass die Witwe sofort bereit gewesen war, sie ins Kastell zu schmuggeln. Shayla hatte ganz profane Gründe: Rache dafür, dass Gustave der Zweite sie in den Stadtpalais ausquartiert hatte. Außerdem war er gegen ihre körperlichen Reize immun und hatte ihr neun Zehntel ihrer Privilegien und ihrer Apanage gestrichen. Je eher er den Thron wieder frei machte, den ihr verstorbener Gatte ihm hinterlassen hatte, desto besser. Furys Andeutung, dass der neue Herr von Faunland nur ein kleiner Baron war, hatte Shayla zudem überzeugt, dass es besser war, wenn sie die Amtsgeschäfte ihres verstorbenen Gatten übernahm. So schwierig konnte es ja nun auch nicht sein, ein Land zu regieren … Die Kutsche hielt an. Captain Smart sprang vom Bock, klappte ein Treppchen herunter und öffnete die Tür. Marcel stieg aus, half Shayla aus der Kutsche und
schaute sich um. Der Hofbereich, in dem sie sich befanden, war sauber gefegt, doch zwischen zwei anderen Gebäuden sah er Bäume, Grün und Gärten, in denen farbenprächtige Blumen wuchsen. Gärtner stutzten Äste, Lakaien harkten Laub. Dort, wo die Kutsche stand, parkten zwei Dutzend weitere. Marcel hätte gern einen Blick auf das hinter den Gebäuden vertäute Luftschiff geworfen, um vielleicht einen Blick auf Alanie zu erhaschen, doch dieser Bereich sah wie militärisches Sperrgebiet aus. Aus einer Werkstatt drang das Klirren von Schmiedehämmern an seine Ohren. Ein verrußter Kerl passte einem gehörnten Reittier Hufeisen an. Ein anderer stand, eine Zygar zwischen den Zähnen, im offenen Eingang und begutachtete mit Expertenblick die Tiere, die Shaylas Gefährt zogen. Marcel kam sich in seinem golddurchwirkten Umhang wie ein Stutzer vor, als er der Lady über eine breite Treppe in ein Gebäude folgte, dessen Eingangstür so hoch war, dass sie nur für einen Herrscher gemacht worden sein konnte. Was für ein Glück, dass der Großfürst heute zu Ehren eines einheimischen Künstlers eine Soiree gab, zu der auch Lady Shayla eingeladen war. Heute waren der Adel der Stadt sowie alle wichtigen Kaufleute, hohen Beamten und Stabsoffiziere bei ihm zu Gast. Bestimmt waren auch die Besucher aus Nova Scotia da. Ihr Luftschiff hatte laut Shayla großes Aufsehen erregt. Dell hatte gehört, dass es im Kastellhof niedergegangen war. Der Großfürst hatte den Kommandanten willkommen geheißen und einer jungen Frau die Hand geschüttelt.
Fury und der Captain blieben bei der Kutsche zurück. Sie wollten sich erst an die Ausführung ihres Plans machen, wenn die Nacht hereingebrochen war. Im Dunkel konnte man sich besser in Gefilden herumtreiben, deren Betreten untersagt war. Marcel hatte sie nicht gefragt, was sie tun wollten. Er wollte es eigentlich auch nicht wissen, denn er war davon überzeugt, dass sie ohnehin nur Unfug anstellten. Am Ende eines endlos erscheinenden Ganges kamen ihnen zwei Männer in grünen Uniformen mit silbernen Paspeln entgegen. Sie trugen schwarze Zobelmützen. »Lady Shayla?« Der erste Mann, ein schlanker und extrem sonnengebräunter Bursche mit Schnauzbart verbeugte sich elegant. »Lieutenant?« »Der Großfürst möchte sich die Ehre geben, Sie vor dem Beginn der Soiree separat zu empfangen.« »Oh, aber gern.« Shayla zwinkerte dem jungen Offizier zu. Offenbar war die Ehre ganz auf ihrer Seite. »Was geschieht bis dahin mit meinem … ähm … Sekretär?« Sie deutete mit dem Kinn auf Marcel, der sich gerade fragte, ob man ihm erlauben würde, sich allein hier herumzutreiben. »Um ihn wird man sich kümmern.« Der Lieutenant nickte seinem Begleiter zu. Aus der Traum. Marcel seufzte. »Bis später, Junker d'Artagnan.« Shayla drückte seinen Arm. »Wir sehen uns gleich wieder.« Marcel nickte. Während Shayla im Gefolge des Lieutenants die Treppe bezwang, nickte der andere Offizier Marcel auf eine Weise zu, die dieser als Aufforderung sah, dorthin
zurückzugehen, wo er hergekommen war. Marcel drehte sich um, doch schon riss ihn etwas von den Beinen und schleuderte ihn zu Boden. Sein Kopf schien zu explodieren. Als er wieder zu sich kam, lag er in einem kahlen halbdunklen Raum. Der Boden war gefliest. Es gab nur eine Tür. Die Mauern bestanden aus großen Steinquadern. Marcel sah kein Fenster, aber eine Reihe von Wandteppichen. In der Decke war eine Glaskuppel, durch die Licht fiel. Die Atmosphäre war unwirklich. Er hörte das Ratschen eines Streichholzes, dann sah er eine vermummte Gestalt, die eine Fackel in einem Metallring an der Wand anzündete. Die Gestalt schaute ihn kurz an, dann verschwand sie hinter einem weinroten Vorhang. Marcels Kopf dröhnte und pulsierte, doch der Schmerz wich, je mehr seine innere Spannung zunahm. Natürlich fragte er sich, was ihm passiert war: Wenn jemand in den Diensten des Großfürsten ihn kannte – was hätte ihn hindern können, ihn in Lady Shaylas Anwesenheit festzunehmen? Der Vorhang wurde erneut zur Seite geschoben. Die vermummte Gestalt kehrte zurück. Sie winkte Marcel zu und nuschelte Worte in dem merkwürdigen Fraace, das man hier pflegte. Marcel mutmaßte, dass er es mit einer Frau zu tun hatte. Ihre Gesten besagten, dass er hinter den Vorhang kommen solle. Er stand langsam auf, atmete tief durch und setzte sich in Bewegung. Die Gestalt trat zur Seite, und kurz darauf fand er sich in einer Art Salon wieder. Vor ihm stand eine weitere verschleierte Gestalt – eine Frau, deren Augen ihn in einer Mischung aus Freude
und Schalk musterten, als sähe sie einen verschollenen Bruder wieder. »Bist du es, Alanie?«, fragte Marcel irritiert. »Nein«, erwiderte die Frau und zog den Schleier von ihrem Gesicht. »Dumarest!« »Nenn mich Marie«, erwiderte Dumarest lächelnd. »Was machst du denn hier?«, stieß Marcel hervor, als er sich gefangen hatte. »Wie hast du den Sturm überlebt?« »Ich nehme an, wie du«, erwiderte sie. »Ich hab mich an Land gerettet und bin den Hügel raufgeklettert.« »Du hast nicht nach mir gesucht?« »Du hast doch selbst gesehen, wie das Wetter war! Wie hätte man bei diesem Sturm jemanden finden können? Ich musste ständig den Kopf einziehen, weil mir Schiffsplanken um die Ohren flogen!« Marcel biss die Zähne aufeinander. Eigentlich hatte er ja ebenso gedacht. »Und dann?« »Dann bin ich nach Hellmouth gegangen.« »Ins Kastell, meinst du.« Marcel schaute sich um. »Wo sind wir hier überhaupt?« »Erzähl ich dir später.« »Was machst du hier?« »Ich … ähm … habe hier zu tun.« Durnarest schlug den Blick nieder. Marcel hatte das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg. »Und wie … ähm …?« Er deutete nach nebenan, da es ihn einfach interessierte, wieso er dort aufgewacht war und wer ihm warum aufs Haupt geschlagen hatte. »Ich habe dich und Lady Shayla aus der Kutsche steigen sehen und mich daran erinnert, was du mir über eure Reise mit dem Luftschiff erzählt hast. Von der
Meuterei und so. Da ich nicht wusste, ob du weißt, dass es inzwischen hier festgemacht hat, hielt ich es für besser, dich aus Lady Shaylas Umfeld zu entfernen – damit du nicht zufällig dem Kommandanten über den Weg läufst.« Sie errötete, was Marcel äußerst entzückend fand. »Die beiden Lieutenants waren mir … einen Gefallen schuldig, also hab ich ihre Dienste in Anspruch genommen.« Ich hab dir kein Wort über die Meuterei erzählt, dachte Marcel. Wenn du etwas davon weißt, hast du mich bei einem Gespräch mit Fury oder Smart belauscht. Ihm schwirrte der Kopf. Nun konnte er Dumarest überhaupt nicht mehr einschätzen. »Was wird Shayla sagen, wenn der Großfürst sie gar nicht empfängt?« »Du sprichst sie mit dem Vornamen an?« Dumarest wirkte ungläubig. »Bist du so vertraut mit ihr?« Marcel glaubte, so etwas wie Eifersucht in ihren Augen aufblitzen zu sehen. »Nun … eigentlich nicht. Ich hab's nur so gesagt.« Wieso schwindelte er Dumarest etwas vor? Sie waren doch nicht verheiratet. Er brauchte sich nicht zu rechtfertigen, wenn er jemanden mit dem Vornamen ansprach, oder? War sie etwa eifersüchtig? »Wo sind übrigens deine Kameraden?«, fragte Dumarest. »Kameraden?« Marcel schaute sich um, als hätte er das Wort zum ersten Mal gehört. »Fury und Smart.« »Ach, die.« Er zuckte die Achseln. Wenn Dumarest ihn in diesem Aufzug erkannt hatte – hatte sie vielleicht auch den Captain in seiner Kutscherkleidung durchschaut? Marcel wusste nicht genau, ob er das Risiko eingehen konnte, die beiden Männer zu verleugnen. Andererseits fielen ihm nun wieder Dumarests entgleisende
Gesichtszüge ein. Wer war sie, verdammt noch mal? Und was sollte er ihr über die Pläne Furys erzählen, wenn er zugab, dass sie hier waren? »Ich nehme an, die sind mit dem Boot abgesoffen.« Dumarest zuckte die Achseln. »Ich hab gesehen, dass sie sich an eine Kiste geklammert haben. Das Meer hat sie weit mit rausgezogen.« Sie schüttelte sich, dann schaute sie Marcel wieder an. »Was hast du vor?« »Wo?« »Hier im Kastell.« »Ich?« »Ja, du.« »Was soll ich denn vorhaben? Nichts.« »Wie, nichts?« Marcel rieb seine Nase. »Ich hab doch nur Shayla begleitet … Lady Shayla, meine ich.« Er hüstelte. Was für eine vertrackte Situation! Er hatte nicht die geringste Ahnung, auf welcher Seite Dumarest stand. Und sie hatte offenbar keine Lust, es ihm zu erzählen. Ich habe hier zu tun, hatte sie gesagt. Was sollte er aus dieser Auskunft schließen? War sie hier als Putze oder Haushofmeisterin tätig? War sie die Abwehrchefin, die Köchin oder die Geliebte des Großfürsten? Würde sie es begrüßen, dass zwei Irre ins Kastell gekommen waren, um das Tor in Satans Reich zu suchen – oder bewachte sie es vielleicht sogar? Marcel dachte wieder an die Nacht, in der ihr Gesicht sich auf schreckliche Weise verändert hatte. Dass Fury in Menschen, die ihr Äußeres verändern konnten, Ausgeburten einer bösen Macht sah, hatte mit seinem Geisteszustand zu tun. Doch dass nun ihm, Marcel, ein Schauer über den Rücken lief, verwunderte ihn.
Er glaubte nicht an Teufel und Dämonen. Genau genommen wusste er nicht genau, woran er eigentlich glaubte, denn er hatte früher zu vieles geglaubt und war deswegen zu oft auf die Nase gefallen. Hinter dem Vorhang, dort, wo er zu sich gekommen war, wurde es laut. Es klirrte metallisch. Fluchende Stimmen erweckten den Eindruck, als schlügen sich gleich nebenan Meuchelmörder mit Lieutenant Dumarests Mitverschworenen. Dumarest sprang erschreckt auf. »Sie sind uns auf die Schliche gekommen! Wir müssen verschwinden!« Sie sprang zu einer schmalen Tür, die Marcel übersehen hatte, und öffnete sie. »Hinein!« Sie deutete in den Gang. Die Tür war kaum hinter Marcel zugefallen, als heftige Schläge andeuteten, dass jemand im Begriff war, die Tür einzuschlagen. Dumarest nahm seine Hand und eilte mit ihm durch den diffus beleuchteten Gang. Er endete in einer Sackgasse. Dumarest bückte sich, zog an einem Eisenring und öffnete eine Klappe. Marcel schüttelte sich. Der Schacht, der da in die Tiefe führte, war finster und roch fischig. Dumarest griff hinter sich, förderte aus einer Wandnische eine Fackel zutage und steckte sie geschickt mit einem Feuerstein an. »Los, runter«, sagte sie hastig. »Wenn die uns kriegen, ziehen sie uns bei lebendigem Leib die Haut ab.« »Was?« Marcel traute seinen Ohren nicht. »Hier geht alles so verdammt schnell, dass man nicht zum Nachdenken kommt. Was wird hier eigentlich gespielt?« »Es ist kein Spiel«, erwiderte Dumarest. »Wenn sie uns
kriegen, werden wir des Lebens nicht mehr froh.« Sie fauchte ihn an. »Los, Blödmann! Wir haben keine Zeit für Diskussionen!« Marcel errötete gegen seinen Willen, doch dann stieg er wütend in den Schacht hinab. Dumarest folgte ihm mit der Fackel in der Hand. Sie kletterten an Steigeisen in die Tiefe. Unten blieb Dumarests Gewand an einem Vorsprung hängen und zerriss mit einem Ratsch. Sie fluchte, riss mit beiden Händen an dem feinen Stoff und stand Sekunden später in einem hautengen schwarzen Trikot da, das ihr vom Hals bis zu den Knien reichte. Sie eilten durch eine Röhre. Unter Marcels Füßen plätscherte ein dünnes Rinnsal dahin. Ein Abflussrohr! Unerwartet hörte er hinter sich das Rauschen von Wassermassen. Dumarest stieß einen Warnschrei aus. Zu spät. Man schien ihren Fluchtweg zu kennen und setzte nun tückische Mittel ein! Eine harte Wasserwoge krachte in Marcels Rücken und warf ihn nach vorn. Zuerst glaubte er, er hätte Dumarest verloren, doch dann tauchte sie wieder auf, griff mit einer Hand nach ihm und krallte sich an seinen Gürtel. Die Fackel war längst erloschen. Das kalte Wasser spülte sie durch das Rohr. Sie klammerten sich in Todesangst aneinander und schnappten nach Luft. Marcel wurde so oft gegen die Röhrenwand geworfen, dass er irgendwann nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Er glaubte, seine Lunge müsste platzen und sein Schädel zerspringen. Sein Puls hämmerte. Die Höllenfahrt schien kein Ende zu nehmen. Doch plötzlich spuckte die Röhre ihn aus.
14 � Das Beste, was einem passieren kann: � Wenn die Wirklichkeit � sich in einen Traum verwandelt. � Philippe de Rothschild Endloser Raum. Und doch von Mauern umgeben. Stygische Tiefen. Koordinaten: Null. Ein Stützpunkt unbekannter Art. Es kann die Hölle sein. Ob Nacht ist, kann Marcel nicht sagen. Sein Herz pocht schnell. Er ist froh, dass er am Leben ist. Der Boden unter ihm wankt. Vielleicht wankt auch er. Eine Handbreit über dem Boden verankert, deutlich oxydiert: metallene Scheiben, die an Riesenpilze erinnern. Darunter vermutlich in endlose Tiefen führende Schächte. Ein alter Bunker? Gut möglich. Lichter hier und da. Vermummte Gestalten führen Marcel zwischen sich zu einer Rampe, die sich glatt und fugenlos in die Tiefe schraubt. Vor ihm gehen Türen auf. Dumarest fällt ihm ein, doch sein Interesse an ihr hat abgenommen, weswegen sie auch schnell aus seinem Kopf verschwindet. Stattdessen: The Day I met Marie. Könnte von Hank Marvin sein. Gefällige Akkorde: A-Moll, G, F, E. Schon gilt Marcels Interesse anderen Dingen: Kahlen Gängen. Einem großen Raum. Sitzgelegenheiten. Da ist ein langer
Tisch. Drei Männer in scharlachroten Jacken. Royal Canadiern Mounted Police? Eher nicht. Man bittet ihn, sich zu setzen. »Sie heißen?« Was wollen diese Säcke von mir? Marcel vermutet sofort eine Verschwörung, die den Eindruck erwecken soll, er litte an Verfolgungswahn. In Wirklichkeit sind diese Kerle Psychiater im Dienst des Großfürsten. Dumarest hat ihnen vermutlich von dem Höllentor berichtet, das Fury und seine Begleiter suchen. Vorsicht, Alter. Diese schrägen Vögel wollen dir auf den Zahn fühlen. Es ist nicht gut, wenn der Feind zu viel über dich weiß. »Marcel … d'Artagnan.« »Geburtsort?« »Harper's Landing, YT.« »Wo soll das sein?« Marcel deutet hinter sich. JWD. »Soll das heißen, im alten Kanada?« Marcel bemüht sich, jede Spur von Intelligenz aus seinem Blick zu verbannen, und schaut einfältig nach rechts und links. »Kanada? Kenn ich nich …« »Sie stehen in den Diensten von …?« »König Louis von Nova Scotia.« Räuspern. »Nova Scotia. So, so.« Und so weiter. In welcher Funktion? Musiklehrer? Wollen Sie uns auf den Arm nehmen? Obwohl Marcel (fast) lückenlos Auskunft gibt, wird er den Eindruck nicht los, dass die Rotröcke ihm misstrauen, und zwar bezüglich seiner Antwort auf die Frage, wo Rev'rend Fury und Captain Smart geblieben sind.
Es erstaunt ihn, dass sie von der Existenz der beiden Männer wissen, da er sich nicht vorstellen kann, dass Sergeant Wilmington seinem Gastgeber Dinge berichtet, die für ihn nur peinlich sind. Andererseits könnten die Offiziere natürlich von der Existenz Furys und seiner Pläne wissen, wenn Fury recht hat; wenn der Mann, der wie Wilmington aussieht, tatsächlich ein Wechselbalg ist, ein Chamäleon, das den echten (toten?) Wilmington imitiert. Oder wenn das alles hier nur ein Traum ist und er in Wirklichkeit irgendwo halb ertrunken herumliegt. Die Offiziere erkundigen sich nach Marcels Verhältnis zu Fury und wollen wissen, ob er dessen Theorien kennt. »Theorien?« Marcel wird wachsam. Er überlegt. Laut seiner Ansicht hat ein Trottel die besten Überlebenschancen. »Er will den Teufel töten!« Er lacht. »So ein Quatsch!« Marcel beugt sich vor, zwinkert vertraulich. »Ich glaub, er ist nicht ganz dicht.« Grinsen. »Ich bin eigentlich nur wegen Prinzessin Alanie mit auf diese Reise gegangen.« »Prinzessin Alanie?« Die Offiziere schauen sich an. »Ja, das verstehen wir«, sagt der erste. »Sie können gehen, d'Artagnan«, sagt der zweite. Der dritte Offizier nickt den schweigsamen Männern zu, die Marcel hierher gebracht haben. Sie führen ihn raus und quer durch die unterirdische Garnison, oder was immer es ist, in dem er sich befindet. Marcel fühlt sich an seine Washingtoner Zeit erinnert, als er und seine revolutionären Freunde in halb verschütteten Gewölben, U-Bahn-Tunneln und vergessenen Privatbunkern leben mussten. Immer auf der Flucht, verfolgt vom Weltrat. Kein Zuckerlecken,
beileibe nicht. Damals hat er gelernt, jede Chance zur Flucht zu nutzen. Marcels Faust trifft das Kinn des ersten Lieutenants und schlägt ihn nieder. Der zweite Lieutenant fängt sich einen Tritt in den Bauch und knallt gegen die Wand. Der dritte fliegt förmlich auf Marcel zu. Der weicht nach links aus und lässt ihn ins Leere taumeln. Als er halb vorbei ist, knallt Marcels Handkante in seinen Nacken. »Mit mir nicht«, murmelt Marcel. Der erste Mann, noch am Boden, packt sein Bein, doch da er nicht damit gerechnet hat, dass es ihm entgegenkommt, schießt bald Blut aus seiner Nase. Er heult auf und lässt Marcel los. Marcel beobachtet die drei stöhnenden Männer. Unerklärlicherweise erschlaffen plötzlich seine Muskeln, und er versinkt in einem Traum. Oder wird ihm nur bewusst, dass er bereits träumt? Irgendwann kommt ihm die Idee, dass er gar nicht schläft; dass er wach ist und alles wirklich erlebt. Der Arzt mit der Injektionsnadel hat ihn darauf gebracht. Nun befindet sich Marcel in etwas, das wie ein halbdunkler Befehlsstand wirkt. Sein Blick wandert fiebrig über flache Bildschirme. Er steht im Zwielicht. Schattenhafte Gestalten mit undurchsichtigen Helmen überall. Außerdem machen sich Uniformierte an summenden Instrumenten zu schaffen. Lichtpünktchen – rot, blau, grün, gelb – spiegeln sich auf ihren Nicht-Gesichtern. Sie sehen grotesk aus. Man hört kein Wort, doch Marcel hat den Eindruck, dass überall um ihn herum kommuniziert wird. Ich träume nicht, denkt Marcel. O nein, ich erlebe es
wirklich … Vor ihm, auf einem Podest, sitzt ein Mann. Sein Helm ist mit Instrumenten verkabelt. Rechts und links von ihm sitzen andere Gestalten – Ingenieure? Techniker? – vor Geräten, deren Zweck Marcel nicht kennt. Auch ihre Helme sind mit Kabeln verbunden. Der Mann auf dem Podest dreht sich mitsamt dem Sessel und schaut Marcel an. Sergeant Wilmington? »Seit wann«, fragt Wilmington, »stehen Sie in Beziehung zur Faunland-Front?« zu wem?, denkt Marcel wie ein Automat. Was schwafelt er da? Das kann doch nur eine Verwechslung sein! Dumarest fällt ihm ein. Wo steckt die eigentlich? Sie sind doch zusammen abgehauen. Sie haben sich zu zweit durch die Röhre geschlagen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir.« »Ach, wirklich nicht?« »Nein, Sir.« Ihm kommt ein fürchterlicher Gedanke: Hat Dumarest etwas mit dieser Faunland-Front zu tun? »Denken Sie weiter«, sagt Sergeant Wilmington. Das Wort denken ist ausschlaggebend. Marcel hat den Eindruck, langsam aus einem Fieberrausch zu erwachen. Ich rede überhaupt nicht. Ich denke nur. Sie verstehen mich trotzdem. Sie haben mir was gegeben … »Ganz recht, junger Mann. Sie können nichts vor uns verbergen.« Wilmingtons Stimme klingt liebenswürdig. Marcel fragt sich, ob er bei Verstand ist. Natürlich weiß er von Drogen, unter deren Einfluss man plappert wie ein Kind. Aber er hat nicht geahnt, dass … »Es ist eine telepathische Droge«, sagt Sergeant Wilmington. »Ihre Wirkung hält leider nicht lange vor
und verläuft nach wiederholter Verabreichung tödlich.« »W-was w-wollen S-sie w-wissen?«, hört Marcel sich lallen. »Ich k-kann I-ihnen n-nichts s-sagen …« Mit seiner Zunge ist etwas nicht in Ordnung. »Es ist eine Nebenwirkung der Droge«, sagt Wilmington verständnisvoll. »Sprechen Sie nicht, denken Sie nur, dann kann ich Sie besser verstehen. – Wer von ihrer Einheit ist das Chamäleon?« »D-das Ch-ch-ch…« Der Sergeant schüttelt den Kopf. »Er weiß es nicht«, sagt er. »Er hat wirklich keine Ahnung.« In Marcels Geist blitzt das Abbild eines kleinen Reptils auf. Er hört ein Lachen. Nein, er hört es nicht; er vernimmt es. Es ist ein stimmloses Lachen, das von Heiterkeit kündet. »Schade um seine Hirnzellen«, sagt Wilmington. »Sie haben sie umsonst verbraucht.« Zwei Gestalten packen Marcels Arme und drehen ihn herum. Es fällt ihm schwer, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Gedanken in seinem Kopf: ein zielloses Wirbeln. Was ist das für ein Verhör? Was soll das Gerede? Wieso erheitert seine Lage diese Menschen? Als er sich bemüht, seine Gedanken zu artikulieren, kommen nur ins Endlose zerdehnte Vokale über seine Lippen. Alles, was er sagt, ist unverständlich, und doch hat er das Gefühl, sich wegen seiner Unkenntnis rechtfertigen zu müssen. Hilfe!, denkt er. Hilfe! Helft mir! »Denken Sie nicht mehr«, sagt Sergeant Wilmington. »Denken Sie nicht zielgerichtet. Es ist nicht gut, solange
Sie unter Einfluss stehen. Gleich können Sie schlafen.« Eine sich öffnende Tür. Dahinter ein endlos langer Schlauch von einem Gang, den kleine Lampen erhellen. Marcel hat den Eindruck, wie ein zernarbter Felsklotz durch das Vakuum zu schweben. Er weiß nicht, ob er den Boden berührt. Alles ist so leer in seinem Kopf. Sanfte Hände geleiten ihn, dann spürt er, dass die finstere Hand der Nacht nach ihm greift. Und er vergisst alles.
15 � Auf die Füße kommt unsere Welt erst wieder, � wenn sie sich beibringen lässt, � dass ihr Heil nicht in Maßnahmen, � sondern in neuen Gesinnungen besteht. � Albert Schweitzer »Ich glaub, er kommt zu sich.« Als Marcel versuchsweise ein Auge öffnen wollte, merkte er, dass seine Haarwurzeln schmerzten. Also erst mal den Atem anhalten. Überall in seinem Schädel waren Mikrozwerge im Begriff, mit Mikropresslufthämmern seine Zellen zu zerlegen. Die Stimme, die gerade an sein Gehör gedrungen war, gehörte Prinzessin Alanie. Erfreulich. Nach allem, was er seit Betreten des Luftschiffs an jenem schicksalsträchtigen Morgen in Digby erlebt hatte, konnte der Anblick einer hübschen Frau nur zu seinem Wohlbefinden beitragen. Doch mit wem hatte sie gesprochen? Marcel öffnete erneut ein Auge. Es war zwar Tag, aber nicht hell. Schwarze Wolken bedeckten den Himmel. Die Räumlichkeit, in der er auf einem breiten Bett lag, wirkte wegen der halb zugezogenen dunkelroten Vorhänge finster. Marcels Blick erspähte einen glänzenden Parkettboden, einen Kamin, einen Schminkspiegel und einen Hocker. Neben dem Bett, auf dem er zu sich gekommen war, saß Alanie auf einem gepolsterten Hocker. Eine Gestalt, die neben dem Kamin vor einem Gemälde Lady Shaylas
stand, drehte sich um. Marcel hatte erwartet, Sergeant Wilmington zu sehen, doch er sah sich getäuscht. »Dumarest?« »Kannst mich ruhig Marie nennen.« Dumarest kam ans Bett. Sie baute sich neben Alanie auf und legte eine Hand auf deren Schulter. »Ich hab dir doch gesagt, dass er einen harten Schädel hat.« »Wo sind wir hier?«, fragte Marcel. »Erzähl ich dir später«, sagte Dumarest. »Oh, nein.« Marcel setzte sich hin. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen armen Kopf. Ihm wurde übel, doch er riss sich zusammen. »Das hast du schon mal gesagt – und keine Minute später hatten wir den Salat.« Er schwang die Beine über den Bettrand und schaute sich um. »Wir sind im Kastell.« Die Kammer, in der sie sich aufhielten, sah wenigstens nicht wie ein Verlies aus. Konnte er also davon ausgehen, dass er kein Gefangener war? Dumarest war mit ihm vor Kräften geflohen, von denen er nicht wusste, welche Rolle sie spielten. Eigentlich wusste er nicht mal, welche Rolle Dumarest spielte. Waren die anderen die Bösen? Gehörte Dumarest zu den Guten? Wer war Sergeant Wilmington? Der treue Gefolgsmann Seiner Majestät oder ein Sendbote des Bösen? »Na los«, sagte Dumarest. »Ich seh dir an, dass dir eine Menge Fragen auf der Zunge brennen.« Marcel nickte – vorsichtig. Die Pein in seinem Schädel ließ nach. »Wer bist du?«
»Ich bin Marie Dumarest, Lieutenant der FaunlandFront.« »Wieso trägst du keine Uniform?« »Würdest du mir glauben, wenn ich sage, ich habe Feierabend?« Alanie kicherte. »Sei nicht albern.« Marcel stand vorsichtig auf und ging ans Fenster. Erst jetzt merkte er, dass man ihm die Stiefel ausgezogen hatte. Sie standen neben dem Bett. Er setzte sich wieder hin und zog sie an. Dann stand er wieder auf. »Wer waren die Leute, vor denen wir geflohen sind? Warum sind wir überhaupt vor ihnen geflohen?« »Die Faunland-Front ist eine illegale Organisation. Ich bin außer Dienst.« Dumarest seufzte. »Wie eine ganze Reihe anderer Offiziere Gustaves des Ersten. Sein Nachfolger hat uns nach seiner Krönung unsere Entlassungsurkunden überreicht und uns geraten, unser Glück anderswo zu suchen.« »Weil?« Marcel schaute ins Freie. Vor dem Gebäude, in dem sie sich aufhielten, schwebte das Luftschiff Seiner Majestät. Es wurde von Männern bewacht, die ihm unbekannt waren. »Offiziell, weil er abrüsten will.« Dumarest räusperte sich. »Was dem Volk natürlich gefällt, da es weniger Steuern für unseren Unterhalt aufbringen muss. – Inoffiziell hat er uns aber aus einem anderen Grund nach Hause geschickt: Wir sind alle nur Soldaten geworden, weil wir unser Reich verteidigen wollen, wenn es angegriffen wird. Und nicht, um andere Reiche zu überfallen und zu annektieren. Offiziere wie uns kann der neue Herrscher nicht brauchen.«
Marcel hörte, dass Dumarests Schritte sich ihm von hinten näherten. Als er sich umdrehte, stand auch Alanie von ihrem Hocker auf. Beide Frauen traten neben ihn ans Fenster. »Der Großfürst«, sagte Alanie, »will meinen Vater töten. Und uns dann unser schönes Reich wegnehmen.« »Woher weißt du das?«, fragte Marcel. »Er hat es uns erzählt.« »Uns?« »Captain Caxton, den Luftschiffern und mir. Auf dem Empfang, den er uns zu Ehren am Abend unserer Ankunft gegeben hat. Mir ist vor Schreck das Weinglas aus der Hand gefallen.« »Und warum will er deinen Vater töten?« »Das hat er nicht gesagt.« Alanie zog die Nase hoch. Sie sah aus, als wollte sie anfangen zu weinen. »Mit dem Luftschiff ginge es sicher am leichtesten«, sagte Dumarest. »Wenn es im Hofgarten landet, wird niemand Verdacht schöpfen, wenn der Kommandant so aussieht wie der echte – und auch der Mensch, der Alanie imitiert.« Marcel schaute Dumarest verdutzt an. »Dann stimmt es also, was Rev'rend Fury sagt?« »Was sagt er denn?«, fragten die Frauen wie aus einem Munde. »Dass Wilmington nicht Wilmington ist, sondern …« Marcel schüttelte den Kopf. Es war einfach zu albern. »… jemand, der … ähm … ein Dämon aus der … Hölle ist.« Dumarest und Alanie schauten sich an. »Gibt es ihn also wirklich?«, fragte Marcel entsetzt. »Wen?«, fragte Dumarest. »Satan!«
»Satan?« Dumarest runzelte die Stirn. »Wer kommt denn auf so was?« »Rev'rend Fury«, mischte Alanie sich zur Ehrenrettung Marcels ein, »ist Verfechter einer Theorie, die sein Orden ausgebrütet hat. Die Welt besteht aus drei Etagen. Oben, irgendwo im Vakuum, residiert Gott, dem Scharen von Engeln zur Seite stehen. Eine Stufe unter ihnen leben wir, die Menschen, die er angeblich nach seinem Ebenbild geformt hat. Unter uns residiert der gefallene Engel Satan. Er war einst ein Lakai Gottes, hat aber gegen ihn geputscht und …« Dumarest winkte ab. »Ich kenne diesen kindischen Mythos. Auch in Faunland gibt es Bücher aus der Ära vor der Katastrophe.« »Das Problem ist dies: Fury ist davon überzeugt, dass es kein Mythos ist, sondern die Wahrheit, und dass Satans Helfershelfer sich seit der Katastrophe als Wechselbälger auf der Erde tummeln, um uns zu verderben. Aufgrund antiker Zeichnungen halten Fury und seine Brüder mutierte Menschen für Satans Jünger. Satan selbst hat einen Pferdefuß und ein Geweih.« »Hörner«, verbesserte Marcel die Prinzessin. »Ja, stimmt. Hörner.« »Oh.« Dumarest nickte. »Jetzt verstehe ich.« Sie schaute aus dem Fenster. Ein Wachsoldat, der gerade abgelöst wurde, trat in den Schatten des Hauses gegenüber und nahm seine Mütze ab. Auch seine Glatze wurde von zwei Geschwulsten verziert, die man mit etwas bösem Willen für Hörner halten konnte. »Angesichts dessen, was er hier zu sehen kriegt – in einer Stadt, die dazu noch Hellmouth (Höllenschlund) heißt –, ist Fury natürlich eindeutig ins Reich des Bösen vorgedrungen …«
»Was geht hier eigentlich vor?«, fuhr Marcel dazwischen. »Wer waren die Knilche, die über deine Freunde hergefallen sind und uns aus deinem … Konferenzzimmer vertrieben haben? Wer waren die Leute, die mich unter Drogen verhört haben? Was wollten sie von mir?« Er fasste Dumarests Schultern. »Wieso läufst du überhaupt frei herum? Die waren doch auch hinter dir her? Woher kennst du Alanie, und wie bist du hierhergekommen?« »In meine Kammer kam sie hinter diesem Gemälde hervor.« Alanie trat neben den Kamin, fasste ein mannshohes Gemälde an und klappte es beiseite. Dahinter befand sich eine Tür. »Ich hab natürlich einen Riesenschreck gekriegt, als sie vor mir stand. Doch dann hat sie mir erzählt, wer sie ist und dass sie dich kennt und weiß, dass du an der Meuterei nicht beteiligt warst, und wer Wilmington ist.« »Ach so.« Marcel schaute Dumarest an. Musste er ihr nun dankbar sein? »Ich hab gehört, dass Fury und Smart in der Nacht darüber gesprochen haben«, sagte sie und errötete leicht. Ihm fiel ein, dass sie auch nicht das war, was zu sein sie behauptete. »Die Männer, an die du dich erinnerst, sind meine Kameraden. Wir wollten wissen, mit wem wir es zu tun haben. Es gibt in diesem Kastell und darunter Bezirke, die nicht jeder kennt. Ich bin nicht allein hier tätig. Alanie und die Luftschiffer werden von meinen Kameraden überwacht, seit sie angekommen sind.« »Dann war ich nach unserer Flucht durch die Röhre gar nicht gefangen?« Seine Erinnerungen waren so wirr wie die Gegenwart.
»Wir sind in einer unterirdischen Zisterne gelandet. Du warst ohnmächtig. Ich hab dich aus dem Becken gezogen.« »Woher weißt du eigentlich, wer der falsche Wilmington ist?«, fragte er. Dumarest schaute ihn mit großen Augen an. »Ich kenne ihn. Er ist ein treuer Offizier des Großfürsten.« »Wie heißt er?« »Allerdyce.« »Wo ist der richtige Sergeant Wilmington?« »Ich nehme an, dass er die Begegnung mit Allerdyce nicht überlebt hat.« »Wieso sieht Allerdyce wie Wilmington aus?« »Er imitiert ihn. Allerdyce hat gewisse … Kräfte. Er beherrscht seine Muskeln so perfekt, dass er das Äußerliche für eine gewisse Zeit kopieren kann.« »Er ist ein Mutant?«, fragte Alanie. Dumarest zuckte die Achseln. Marcel hatte die Faxen nun dicke. Er schaute Dumarest an. »Wenn du weißt, was hier gespielt wird, weißt du sicher auch, wie wir hier rauskommen, nicht wahr? Und wenn du es weißt, sagst du es mir, bevor jemand die Tür eintritt und wir alle zur Hölle fahren?« »Ich …« Das Gemälde neben dem Kanin wurde zur Seite geschoben. Ein Mann, der wie Rev'rend Fury aussah, schob den Kopf in den Raum. Als er Marcel und die Frauen sah, trat er ein. »Kommen Sie, Captain«, sagte er zu jemandem, der sich hinter ihm zu befinden schien. »Ich glaube, hier sind wir richtig.« Captain Smart, noch in der dunklen Kleidung des Kutschers, kam herein und schaute sich um. »Es ist doch
immer wieder interessant, wenn man sieht, wie die wirklich Reichen leben.« Er zog seine Mütze und verbeugte sich vor den Damen. »Wie ich sehe, haben Sie sich schon bekannt gemacht.« Das Glitzern in Alanies Augen gefiel Marcel überhaupt nicht. Nun fiel ihm wieder ein, was für ein Schleimbeutel dieser Militarist doch war. In spätestens fünf Sekunden würde Alanie ihn anschmachten wie damals auf dem Luftschiff, und ihr Intelligenzquotient würde sich dabei halbieren. »Als Erstes wäre wohl zu klären, auf wessen Seite Sie stehen, junge Frau«, sagte Fury zu Dumarest. »Wie wir Ihnen schon vor dem Schiffbruch verdeutlicht haben, sind der Captain und ich im Namen des allmächtigen HERRN unterwegs – als seine Faust und sein Schwert sozusagen, um die Dämonen zu zerschmettern, die GOTTES Acker ruinieren wollen.« Er räusperte sich. »Ich sollte vielleicht hinzufügen, dass mit GOTTES Acker kein Acker im üblichen Sinne gemeint ist, sondern die von GOTT erschaffene Menschheit.« »Ich stehe auf der Seite der Guten«, erwiderte Dumarest. »In meinem Falle ist dies die Faunland-Front, eine Bewegung, die das Ziel hat, unseren Herrscher zu stürzen, da er einen Angriffskrieg auf das Reich des Vaters dieser jungen Dame plant.« Captain Smart rümpfte die Nase. »Sie sind ein Politnik, Dumarest?« Er schaute sie verächtlich an. »Wie kann ein Soldat nur gegen den Krieg sein? Wissen Sie denn nicht, dass es unsere Bestimmung ist, ehrenvoll fürs Vaterland zu sterben?« Dumarest winkte ab. »Es geht nicht darum, für sein Land zu sterben, sondern darum, dass der Feind für das
seine stirbt. Unpolitischen Knallchargen wie Ihnen verdanken wir, dass unser Vaterland in die Hände eines Mannes gefallen ist, der Menschen in den Tod treiben wird, wenn wir ihn nicht daran hindern.« »Wie viele Offiziere gehören Ihrer Bewegung an?«, fragte Fury. »Zweihundert. Aber wir haben noch mehr Unterstützer in Nicht-Offizierskreisen.« »Ich wiederhole«, sagte Smart. »Sie haben eine völlig falsche Auffassung von der Bestimmung eines Soldaten.« »Wissen Sie, was Sie mich können?«, erwiderte Dumarest. »Wir sollten uns nicht verzetteln«, sagte der Rev'rend. »Wir sollten vielmehr eine Koalition gegen das Böse schmieden, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Er räusperte sich. »Sie haben gesagt, Sie und Ihre Freunde würden dieses Land gegen Eindringlinge verteidigen. Sehen Sie es mal so, Lieutenant: Die Eindringlinge haben Ihr Land längst besetzt. Sie und ihre Kameraden haben es bloß nicht bemerkt, weil der Feind aus einer Richtung kam, aus der sie ihn nicht erwartet haben.« Er deutete nach unten. Im gleichen Moment flogen Marcel die Splitter der Fensterscheiben um die Ohren. Dann erst hörte er den Knall.
16 � Konfrontation ist nicht so schlecht wie ihr Ruf; sie dient der Verdeutlichung von Standpunkten, wenn Regeln zu ihrer Austragung bestehen. Richard v. Weizsäcker Marcels Ohren klingelten noch von der Explosion, als er neben Alanie und hinter Dumarest durch den Geheimgang eilte. Unten auf dem Hof schlug sich die Faunland-Front mit den Vasallen des Herrschers: Dumarests Kameraden hatten ein Seitentor des Kastells gesprengt und strömten nun mit Säbel, Axt und Lanze in den Innenhof. Dass sie mit Waffen umgehen konnten, bewies das Geschrei der Verteidiger. Offenbar waren die geschassten Offiziere entschlossen, ihnen zu zeigen, dass die Tage des Großfürsten gezählt waren. Was hielten die Luftschiffer aus Nova Scotia davon? Mussten sie nicht in Panik geraten und darauf drängen, ihr Fahrzeug aus der Gefahrenzone zu bringen? Selbst wenn der Pseudo-Wilmington ihnen etwas Passendes erzählte – er konnte der Mannschaft nicht die Furcht nehmen, dass ihr kostbares Gefährt versehentlich beschädigt wurde. Vermutlich hatten die Kräfte, die hier das Sagen hatten, die Luftschiffer schon kaltgestellt – damit sie und ihr Fahrzeug nicht den Putschisten in die Hände fielen. Der Gang endete an einer Tür. Dumarest stieß sie auf. Marcel trat als Letzter in das Gemach, das, wie er an der
Einrichtung sah, einem höhergestellten Herrn gehörte. Im Vorbeilaufen stahl er einen Säbel, und als er den anderen durch den offiziellen Ausgang folgte, fand er sich in einem sauberen Korridor wieder. Sie folgten ihm bis an dessen Ende. Dort trat Dumarest eine Tür auf und sprang ins Freie. Die draußen kämpfenden Putschisten und Verteidiger spritzten auseinander. Als Marcel auf der Schwelle stand, duckte er sich. Was er sah, übertraf alles, was er erwartet hatte: Unter dem dunklen Himmel über den Zinnen des Kastells schwebten und trudelten brennende Flugandronen dahin. Die Luft war erfüllt vom Gebrüll der an ihren Steigbügeln hängenden Reiter. Für ihren Zustand verantwortlich waren Armbrustschützen, die auf einer Mauer standen und sie mit Bolzen unter Beschuss nahmen. Vor Marcel fing sich ein Offizier, dessen Androne gerade unverletzt gelandet war, einen Säbelhieb ein: Der Mann fiel blutüberströmt aus dem Sattel. Sein Reittier hüpfte zur Seite, knallte mit dem Schädel gegen eine Mauer und fiel um. Es klirrte überall. Rev'rend Fury legte mit verächtlicher Miene jeden um, der ihm den Weg verbaute. »Rübe runter!«, brüllte Captain Smart. Im nächsten Moment traf ein Hieb Marcels Kreuz und fällte ihn. Irgendwo in ihrer Nähe schlug eine Granate ein und überschüttete sie mit einer Woge aus Dreck und Steinen. Marcel spuckte aus. Geduckt ging es weiter an den Gebäuden vorbei, in den Hofgarten, durch Gestrüpp und über einen von Bäumen umsäumten Pfad. Schließlich fanden sie eine niedrige Mauer und hockten sich hin.
Fury griff in seine Lederjacke und klemmte sich eine Zygar zwischen die Zähne. »Wir sitzen in der Scheiße«, knurrte er. »Wenn wir hier nicht wegkommen, machen die uns alle …« Ach, dachte Marcel unglücklich, warum bin ich nicht in Digby geblieben? Smart richtete seinen Colt auf die Kämpfenden, die vermummt waren. »Wer sind diese Typen?« »Meine Kameraden von der Faunland-Front«, erwiderte Dumarest. »Nette Kameraden haben Sie.« Smart spuckte aus. »Einer von denen hätte mir fast den Bauch aufgeschlitzt!« »Er konnte doch nicht wissen, wer Sie sind.« Smart brummte etwas. Er klang verlegen. Dutzende von Andronen schwebten am Himmel. Ein Armbrustschütze nach dem anderen ließ seine Waffe fallen und ging in die Knie. Wieder wurde eine Androne getroffen. Sie quiekte schrill, trudelte und stürzte dem Erdboden entgegen. »Zum Loch in der Mauer«, sagte Fury. »Es muss hinter dem Gebäude da sein.« Sie sprangen auf und nutzten jede Deckung. Eine feindliche Gruppe verbaute ihnen den Weg, also warfen sie sich auf den Bauch und ließen so lange ihre Schusswaffen sprechen, bis der Feind Fersengeld gab. Fury griff unter seine Jacke, entnahm ihr ein kleines Metallei und warf es hinter den Flüchtenden her. Es krachte. Dreck, Holz und Steinsplitter flogen Marcel um die Ohren. Im Laufschritt ging es weiter. Die Mauer kam ins Blickfeld. Marcel atmete auf.
Abenteuerlich aussehende Burschen auf schlappohrigen Vierbeinern sprengten plötzlich durch das Mauerloch. Als das Sternenlicht auf ihre Gesichter fiel, sah Marcel, dass es sich überwiegend um lurchhafte Mutanten handelte – die Verbündeten der FaunlandFront. Fury schien vergessen zu haben, dass Menschen, die nicht seinem Schönheitsideal entsprachen, automatisch Kreaturen der Finsternis zu sein hatten: Er und Smart sorgten mit ihren Waffen dafür, dass die Ankömmlinge das Mauerloch ungestört passieren konnten. »Hinlegen!«, schrie Captain Smart plötzlich. Zuerst war der ätzende Geruch da, dann das schrille Pfeifen. O nein, nicht schon wieder, dachte Marcel. Als er diesmal zu sich kam, schmerzte sein Kopf erstaunlicherweise nicht. Dafür empfand er eine leichte Übelkeit. Marcel öffnete die Augen. Das Luftschiff schwebte in tiefer Nacht nicht weit von ihm entfernt über dem Boden. Lauer Wind wehte in sein Gesicht. Menschen eilten hin und her. Viele waren uniformiert, aber nicht alle. Manche waren schmutzig, andere bluteten. Das Stimmengewirr machte Marcel vollends wach. Er saß – weit entfernt von dem Ort, an dem er zuletzt gewesen war – auf dem Boden, mit dem Rücken an einer Mauer. Er schien unverletzt zu sein. Man hatte ihm die Hände auf dem Rücken gefesselt. Rev'rend Fury hockte neben ihm. Seine Kleidung war völlig verdreckt. Umhang und Hut waren weg. Sein Gesicht war verschmutzt, das Weiße in seinen Augen deutlich sichtbar.
Marcel schaute zum Luftschiff hinüber. Das Innere der Gondel war erhellt. Hinter den Bullaugen konnte er Gestalten erkennen. Wollte man es startklar machen? Als er die Männer sah, die das Gefährt mit Säcken und Kisten beluden, fiel ihm etwas auf: Sie trugen die blaue Uniform der Luftwaffe Nova Scotias, doch ihre Gesichter waren ihm fremd. Ihre Bewegungen sagten ihm, dass sie disziplinierte Soldaten waren. Fünf oder sechs Männer, deren Epauletten sie als höhere Offiziere auswiesen, beobachteten die Verladearbeiten. Einer, der wie Sergeant Wilmington aussah, drehte sich um und lächelte. »Sind das die höllischen Heerscharen, Fury?«, fragte Marcel. Der Rev'rend drehte den Kopf. Er wirkte anders als sonst. Er schien irgendwie nicht mehr ganz von seiner Sache überzeugt zu sein. »Hat's Ihnen die Sprache verschlagen?« »Es gibt da eine alte Redensart: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.« Fury verzog das Gesicht. »Ich habe Sie immer für ziemlich ironisch gehalten, aber jetzt…« Er zwinkerte. »Ist es nicht eine Ironie des Schicksals, wenn man feststellt, dass das ganze Leben eine einzige Ironie ist?« »Meinen Sie?« »Und ob, mein Süßer.« Marcel runzelte die Stirn. Bisher hatte ihn noch kein Mann so genannt. Schon gar nicht ein Streiter Gottes. »Wo sind die anderen?«, fragte er. »Was haben diese« – er deutete mit dem Kinn auf die Uniformierten – »höllischen Dämonen mit ihnen gemacht?« »Keine Ahnung«, erwiderte Fury. »Ich hoffe, sie sind
entkommen. Zusammen mit der Truppe, der wir den Weg geebnet haben.« »Meinen Sie die gehörnten Dämonen?« Fury räusperte sich. »Dämonen?« »Wer Hörner hat, ist doch laut Ihrer Definition eine Kreatur der Unterwelt, Rev'rend.« »Nun … Man sollte es vielleicht… nicht verallgemeinern.« »Eine bemerkenswerte Erkenntnis für einen Mann Ihres Schlages.« Marcel empfand fast so etwas wie Heiterkeit. Oder war es Galgenhumor? Was würde man mit ihnen machen? Dass sie noch nicht tot waren, ließ ihn hoffen. Vielleicht hatte sich jemand für ihn eingesetzt. Aber wer? »Reden wir von erfreulicheren Dingen«, sagte Fury. »Wenn wir schon reden müssen.« »Was könnte in unserer Lage wohl erfreulich sein?«, erkundigte Marcel sich ironisch. »Fragen Sie mich doch mal, wieso wir nicht bei denen sind, die Gustaves Schergen – hoffentlich – entkommen sind?« »Wieso sind wir nicht bei denen, die Gustaves Schergen – hoffentlich – entkommen sind?« Fury grinste. »Sie sind nicht dabei, weil die Gasgranate Sie sofort umgeworfen hat – und ich bin nicht dabei, weil ich Sie auf meine Schulter gewuchtet hatte und sie mein Fortkommen behindert haben.« Marcel errötete. Dass er diesem komischen Geistlichen dankbar sein musste, weil er seinen Hals für ihn riskiert hatte, gefiel ihm wenig. Er hüstelte. »Trotzdem danke.« »Trotzdem?« � Marcel errötete. »Dass Sie es wenigstens versucht �
haben, Rev'rend.« »Ja, Mildtätigkeit ist eine Tugend, der wir schon immer verpflichtet waren.« Marcel wollte das nicht ausdiskutieren. »Glauben Sie, die bringen uns um?«, fragte er stattdessen. »Vielleicht verschleppen sie uns in die Hölle.« Fury kicherte eigenartig. Marcel musste sich unweigerlich schütteln. Was war mit diesem merkwürdigen Kerl los? War er wirklich irre – oder nur so stur, die Realitäten nicht anzuerkennen? Marcel dachte an die Nacht, in der Dumarests Gesicht sich verwandelt hatte. »Sie haben doch wohl gehört, was Dumarest über diesen Allerdyce gesagt hat, der Sergeant Wilmington spielt?« Fury nickte. »Und – glauben Sie ihr?« »Oh, aber gewiss.« Marcel war zwar verblüfft, aber er musste es trotzdem loswerden: »Sie haben gesagt, Sie hätten gesehen, dass sich die Gesichtszüge Wilmingtons … die Gesichtszüge des angeblichen Wilmington … aufgelöst haben.« »Hab ich es so ausgedrückt?« Fury spitzte nachdenklich die Lippen. »Nun ja, wenn Sie es sagen …« Er schaute Marcel an. »Und?« »Ich habe das Gleiche beobachtet. Bei Dumarest.« »Was?!« Fury erbleichte.
17 � Notfallanweisungen: 1. Schnappen Sie sich Ihren Mantel. 2. Nehmen Sie Ihren Hut. 3. Lassen Sie alle Sorgen an der Türschwelle zurück. 4. Machen Sie sich auf die Suche nach den angenehmen Seiten des Lebens. Unbekannt Bevor Marcel mehr sagen konnte, lösten sich vier Mann aus der Gruppe der Beobachter und kamen zu ihnen. Zwei packten Marcel, zwei Fury. Sie zogen sie hoch und schleiften sie in ein Gebäude. Über eine Treppe ging es in den Keller. Hier unten roch es so stark nach Schwefel, dass Marcel husten musste. Die Männer mit Fury bogen nach rechts ab. Marcel wurde nach links geschoben. »Wohin bringt ihr mich?«, fauchte er mutig und in dem Wissen, dass niemand ihn verstand. »Schaddapp, Djanki!«, lautete die Antwort. Man brachte ihn in einen fensterlosen Raum, der mit einer angeschraubten Holzbank möbliert war. Auf der Bank saß mit mürrischer Miene, zerzaustem Haar und zerfetzter Uniform Prinzessin Alanie. Ihre rechte Hand steckte in einer Handschelle. Sie war an einem Ring an der Wand befestigt. Marcel wurde neben Alanie platziert. Man nahm ihm die Fesseln ab und befestigte seinen linken Arm mit einer Handschelle an einem anderen Ring. Die Männer
begutachteten kurz ihr Werk, dann gingen sie hinaus. »Hallo, Hoheit«, sagte Marcel sarkastisch. »Wie ich sehe, ist dir die Flucht nicht geglückt.« »Nein.« »Was ist aus Dumarest geworden?« »Keine Ahnung. Ich wollte durch das Loch in der Mauer abhauen. Da hat mich etwas umgehauen. Ich weiß nicht, was. Es roch scheußlich.« Alanie musterte Marcel eingehend. »Wo sind Fury und der Captain? Werden sie uns retten?« »Ich glaube kaum.« Marcel berichtete, in welchem Zustand er den Rev'rend zuletzt gesehen und dass man die Luftschiffer durch Vasallen des Großfürsten ersetzt hatte. »Ich glaube, da steht eine Invasion an. Dein Vater schöpft bestimmt keinen Verdacht, wenn Captain Caxton einen Maschinenschaden vortäuscht und in seinem Magnotulpenbeet landet.« Die Vorstellung schien Alanie zu alarmieren, denn sie zerrte an ihrer Handschelle. Die Tür ging auf. Ein etwa vierzig Jahre alter Mann trat ein. Er hatte ein eckiges Kinn, eine gesunde Hautfarbe, angegrautes Haar und blaue Augen. Er sah aus wie jemand, dem vor zwanzig Jahren die Frauen zu Füßen gelegen hatten. Gekleidet war er in weinroten Samt und wildlederne Stulpenstiefel. Seine Oberlippe zierte ein dünnes Bärtchen, auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen Hut. Der Mann, von dem Marcel annahm, dass er der verschollene Baron Torsvan war, wusste sich zu benehmen, denn er verbeugte sich vor Alanie und sagte mit sonorer Stimme: »Ich bin Großfürst Gustave der
Zweite. Sie haben sicher schon viel Schlechtes von mir gehört, Mademoiselle.« Alanie sagte nichts, denn sie war vor Entzücken völlig sprachlos. »Und ob«, sagte Marcel und nickte. Er war ziemlich verdutzt darüber, dass der Großfürst ihm sympathisch war. Sympathischer zumindest als Captain Smart, der die Zelle nun in der Uniform Faunlands betrat und neben der Tür stehen blieb. Auch er trug einen Schlapphut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. An seinem Gurt baumelte ein Säbel. Alanie gaffte ihn an. Marcel stupste ihr Knie mit dem seinen an. Da der Großfürst Smart keine Beachtung schenkte, wusste Marcel nicht, was er von der Anwesenheit des Mannes halten sollte. Was, zum Kuckuck wurde hier gespielt? War Smart etwa ein Verräter? Stand er im Sold des Großfürsten? Wieso grinste er so frech? Gustave der Zweite begutachtete Alanie. »Was für eine hübsche junge Frau«, sagte er. »Sie erinnern mich an jemanden.« Er tat so, als überlege er, doch Marcel sah ihm an, dass alles nur gespielt war. »Sie erinnern mich an eine junge Dame namens Froona, die ich früher gekannt habe …« »Was?« Alanie machte große Augen. »Froona? So heißt meine Mutter!« »Ja, ist es denn die Möglichkeit?« Der Großfürst trat näher heran, kniff die Augen ein wenig zusammen und nahm sie in Augenschein. Marcel hatte den Eindruck, dass er sich über die Prinzessin lustig machte. »Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf, Mademoiselle?« »Sechzehn.« Alanie errötete.
Marcel empfand einen leichten Anflug von Eifersucht. »Wohin geht denn die Reise, Durchlaucht?«, fragte er den Großfürsten. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie König Louis von Nova Scotia einen Kopf kürzer machen und sich zum Herrscher über sein Reich aufschwingen wollen – nachdem er so dämlich war, auf ihre gefälschte Flaschenpost hereinzufallen und die Expedition zu finanzieren, die Sie retten soll?« Der Großfürst schaute ihn leicht erstaunt an, als nähme er ihn erstmals wahr. »Flaschenpost?« »Eine Metapher, Durchlaucht.« Der Großfürst runzelte die Stirn. Auch dieses Wort schien ihm nichts zu sagen. »Haben Sie bitte Verständnis, dass ich Ihnen keine Informationen geben kann, die Sie in die Lage versetzen könnten, Rückschlüsse zu ziehen.« Er lächelte undurchsichtig. »Es besteht noch immer die Möglichkeit, dass der Meuchelmörder, den Louis vor siebzehn Jahren auf mich angesetzt hat, noch einen Versuch unternimmt.« Marcel schaute Captain Smart an, der unbegreiflicherweise grinste. »Er hat es einmal versucht und wird es wieder versuchen. Damals hat er einen Fähnrich gedungen, mich zu töten. Ich ahnte, dass er eifersüchtig auf mich war, denn ich stand in gutem Ansehen bei der Tochter einer Hofdame, auf die er selbst ein Auge geworfen hatte.« Der Blick des Großfürsten fiel erneut auf Alanie. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Der Versuch des Fähnrichs, mich zu ermorden, indem er mich in eine Felsspalte stürzte, ist missglückt.« Er lachte. »Ich bin in das Wasser gestürzt, das sich am Grund der Spalte staute.« »Wer war der Mörder?«, fragte Marcel. Erst jetzt
verstand er, dass der ehemalige Baron Torsvan König Louis hasste. Auch Alanie wirkte erschüttert. »Früher hieß ich Enryk Baron Torsvan.« Der Großfürst legte eine Hand auf seine Brust. »Ich war trotz meiner Jugend ein bekannter Forschungsreisender. König Louis' Vater beauftragte mich, Faunland zu erkunden. Ich war ein junger Mann, aber kein Dummkopf. Ich wusste, dass Prinz Louis ein Auge auf Lady Froona geworfen hatte, aber ich habe nicht geahnt, dass er so skrupellos sein würde, mich als seinen Nebenbuhler aus dem Weg räumen zu lassen.« »Er wollte Sie beseitigen lassen?« Alanie schaute entsetzt drein. Kein Wunder: Wer lässt sich schon gern sagen, dass sein Vater der Anstifter eines Mordkomplotts war. Marcel schaute Captain Smart an, der mit unbewegter Miene neben der Tür stand, und fragte sich, welche Pläne er hatte. Natürlich war der Anblick des Haudegens beruhigend, zumal er bewaffnet war. Smart musste gesehen haben, wie Fury und er weggeschleppt worden waren. Er hatte in der Dunkelheit einen der gefallenen Soldaten um seine Uniform erleichtert und sich auf die Suche nach seinen Gefährten gemacht. Wahrscheinlich war der Großfürst ihm über den Weg gelaufen und hatte ihn kurzerhand mitgenommen. Nun fragte Marcel sich, ob er es gutheißen sollte, dass der Großfürst über die Klinge sprang, wenn Smart beschloss, ihn und Alanie zu befreien: Er war und blieb ein Opfer König Louis', auch wenn er ihn wie einen Verbrecher hier in Handschellen sitzen ließ. Torsvan nickte. »Beinahe wäre es ihm gelungen.« Er deutete zu Boden. »Glücklicherweise konnte er nicht
ahnen, was sich am Grund der Felsspalte befand. Als ich mich klatschnass daraus gerettet hatte, fand ich mich auf einem Gut wieder, auf dem Gustave der Erste von Faunland mit einer Jagdgesellschaft zu Gast war. Seine Männer brachten mich zu ihm.« Er lächelte. »Dann hatte ich das Vergnügen, ihm den Blinddarm herausnehmen und sein Leben retten zu dürfen. Daraufhin machte Gustave mich zu seinem Leibarzt und Berater, und nach seinem Ableben zu seinem Nachfolger.« »Und … und … und …«, sagte Alanie. »Wie haben Sie die Feindschaft der Faunland-Front auf sich gezogen?« Torsvan winkte ab. »Ach, Politik! Pazifistische Soldaten! Mit so etwas sollte sich eine Dame edlen Geblüts doch nicht abgeben.« Seine Augen funkelten eigenartig – irgendwie mordlüstern. Marcel wusste nicht, ob er den Baron noch immer sympathisch fand. Nun, man durfte nicht vergessen, dass ihm Louis von Nova Scotia Schreckliches angetan hatte. Aber musste er deswegen gleich ganz Nova Scotia unter seine Knute zwingen? »Werden Sie meinen Vater töten?«, hauchte Alanie und rutschte an Marcel heran. Torsvan lachte leise. »Ihren Vater?« Er hüstelte leicht. »Sind Sie sich da sicher?« Sein Blick fiel auf Marcel. »Glauben Sie, ein Schafskopf wie Louis könnte eine so hübsche Tochter zeugen?« Marcel zog es vor zu schweigen, um es sich nicht mit Alanie zu verscherzen. Die saß wie vom Donner gerührt angesichts der ungeheuerlichen Andeutung. Torsvan kicherte. »Sie werden einsehen, dass ich Sie erst freilassen kann, wenn Louis von Nova Scotia an einem Fleischerhaken baumelt, denn ich muss
annehmen, dass ihr Herz so warm ist wie das Ihrer Mutter und Sie alles in Bewegung setzen, um meinen Plan zu vereiteln, da Sie diesem Mann noch immer die Gefühle einer Tochter entgegenbringen. Obwohl ich es nicht für ausgeschlossen halte, dass wir beide uns näherstehen als Sie glauben!« Alanies Unterkiefer bebte, aber sie entgegnete nichts. »Ich werde Sie freilassen …«, sagte Torsvan unvermittelt zu Marcel. »Oh, danke, Durchlaucht.« Marcel stand auf. »… sobald Louis ausgeblutet ist.« Marcel nahm wieder Platz. »Von Ihnen, junge Dame, kann keine Gefahr ausgehen, solange Sie unter Aufsicht stehen.« Torsvan griff in eine Tasche seines Beinkleids und reichte Smart einen kleinen Schlüssel. »Erlösen Sie die Prinzessin von ihrer Fessel und geleiten Sie sie in die fürstlichen Gemächer, wo man ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen soll.« Smart knallte salutierend die Hacken zusammen. Torsvan ergriff die Türklinke. »Für mich wird es eine lange Nacht werden. Mein Stab erwartet mich zu einer Sitzung. Das Loch in der Mauer muss geschlossen werden. Man muss sich um die Verwundeten und Toten kümmern – nicht zu vergessen die Terroristen, die uns in die Hände gefallen sind.« »Rebellen«, sagte Alanie. »Terroristen«, korrigierte Torsvan. »Rebellen könnte man sie nur nennen, wenn sie gegen einen ungerechten Herrscher kämpfen würden.« Er ging hinaus. Marcel wurde klar, dass Baron Torsvan vielleicht entzündete Blinddärme entfernen konnte; ein kritikfähiger Mensch war er aber kaum. Es wurde Zeit,
zu verduften. Sollten diese Tröpfe ihre politischen Querelen doch unter sich ausmachen. Captain Smart öffnete Alanies Handschelle. Die Prinzessin stand auf und reckte sich. »Jetzt ich.« Marcel klapperte mit seiner Handschelle. Smart musterte ihn. »Isch 'öre wohl nischt rescht.« Sein Akzent war so dick und erschreckte Marcel so sehr, dass er noch mit offenem Mund dasaß, als Alanie an der Hand des Chamäleons hinausging. Meine Güte. Wem kann man denn auf dieser Welt noch trauen? Vielleicht läuft hier auch schon ein zweiter Marcel rum … Marcel wusste nicht, was ihm mehr schmerzte: dass Smart gar nicht Smart war, sondern ein Wechselbalg, oder das Wissen, dass Alanie nun vielleicht in den Genuss eines duftenden Schaumbades kam. Bevor er sich weiter bemitleiden konnte, traten die beiden Offiziere ein, die ihn in den Keller gebracht hatten. Sie lösten die Handschelle von der Wand und führten Marcel durch den dämmrigen Gang in einen Raum, der wirklich wie eine Zelle aussah: Hier war alles aus Eisen, die zwölf Sitzgelegenheiten und der Bottich in der Ecke inklusive. Nur ein Hocker war besetzt. Der Mann, der ihn okkupierte, sah aus wie Captain Caxton, doch nach allem, was Marcel widerfahren war, nahm er sich vor, nur noch an seine eigene Echtheit zu glauben. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. »Sind Sie nicht der Musiklehrer, der mit diesem ätzenden Rev'rend Fury an Bord gekommen ist und uns nichts als Schwierigkeiten gemacht hat?«, sagte der
vermeintliche Captain. Marcel nickte vorsichtig. »Kann schon sein.« Er wollte sich nicht noch einmal reinlegen lassen. »Ich war aber an der Meuterei nicht beteiligt. Ich bin nur zufällig in sie hineingeraten.« »Das wird noch zu klären sein – falls wir je wieder hier rauskommen.« Captain Caxton räusperte sich. »Sagen Sie mal, waren Sie es nicht auch, der bei der letzten Geburtstagsfeier des Königs am Hof von Digby so schamlos mit der Königin getanzt hat?« »Ich habe nicht schamlos mit der Königin getanzt, sondern die Königin mit mir«, verteidigte sich Marcel. Der Mann musste echt sein. Von dem Abend, auf den er anspielte, konnte kein Imitator etwas wissen. Marcel atmete auf. »Was machen Sie hier im Verlies, Captain?« Er schaute sich um. »Ich dachte, Sie und Ihre Männer werden wie Staatsgäste behandelt.« »Davon kann leider keine Rede sein.« Der Captain seufzte. »Als wir angekommen sind, hat man uns liebenswürdig willkommen geheißen. Die Menschen in der Stadt haben uns applaudiert und waren vor Begeisterung schier aus dem Häuschen …« Er zupfte an seiner Nase. Sie waren um die Kastellzinnen gekreuzt, und der Großfürst hatte sie eingeladen, im Hof zu landen. Seine Vasallen hatten das Luftschiff vertäut. »Wir sind von Bord gegangen. Der Fürst hat uns aufs Köstlichste bewirten und uns schöne Zimmer zuweisen lassen. Als ich wieder wach wurde, war ich hier. Inzwischen weiß ich, dass der Herrscher von Hellmouth der Mann ist, den wir suchen.« »Das weiß ich inzwischen auch.« Marcel erzählte dem Captain, was ihm und seinen Gefährten in den Tagen seit
dem Absprung aus dem Luftschiff widerfahren war. Dies versetzte ihn endlich in die Lage zu erklären, wie es überhaupt zu der Meuterei gekommen war. Er berichtete von Wilmingtons Doppelgänger, von Furys und Smarts hanebüchenem Versuch, das Luftschiff zu übernehmen, um den Pseudo-Wilmington auszuschalten und dessen wahre Pläne aufzudecken; von Torsvans Vorhaben, König Louis von Nova Scotia mithilfe chamäleonhafter Mutanten zu töten, und er erwähnte auch Furys These, dass sich irgendwo hier im Kastell das Tor zur Hölle befinden müsste. »Was, hier?« Captain Caxton schaute sich argwöhnisch um. »Deswegen also grollt es nachts immer so! Außerdem stinkt es entsetzlich nach Schwefel!« Er hielt sich die Nase zu. Marcel stierte ihn an. Er war allem Anschein nach vom Wahnsinn umzingelt.
18 � Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Schnucki v. Bismarck Wo kommen nur all diese Gestörten her? Marcel lag neben dem schnarchenden Captain Caxton auf einer Pritsche. Er war so übermüdet, dass er zitterte, doch er konnte einfach nicht einschlafen. Der Schwefelgestank hier unten war daran nicht ganz unschuldig. Marcel lauschte dem Pochen seines Herzens und fragte sich, wie sie hier herauskamen, bevor Baron Torsvan sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Konnten seine Männer das Luftschiff eigentlich so ohne Weiteres steuern? Nun ja, vielleicht brauchten sie es gar nicht. Man hatte sicher Mittel und Wege, um sich einen in dieser Hinsicht kompetenten Luftschiffer gefügig zu machen. Wenn der Großfürst in Nova Scotia war, was wurde dann aus Marcel d'Artagnan? Spielte er in diesem Spiel etwa eine wichtige Rolle? Oh, nein. Er war nur ein Bauer, den man hierhin und dorthin schob. Er war nur ein Rädchen im Getriebe. Der Großfürst und Alanies Vater dagegen hatten gewichtige Ziele. Sie kämpften um die Macht. Das Ergebnis ihres Ringens würde Auswirkungen auf das Leben vieler tausend Menschen in dieser Region haben. Marcel stand auf, schlich zur Zellentür und drückte ein Ohr ans Holz. Als er die Hand auf die Klinke legte,
ertönte das Knirschen eines Detrikks. Er dachte sofort an Rev'rend Fury. Schon ging die Tür auf und ein breitschultriger Mann mit Schlapphut schob sich in den Raum hinein. »Junker d'Artagnan?« »Rev'rend Fury?« Ein freudiger Schreck durchfuhr Marcel. »Wie sind Sie denn aus ihrer Zelle rausgekommen?« »Aus was für 'ner Zelle?«, erwiderte Fury leise. »Ich war doch nicht gefangen.« Es ratschte, dann flammte ein Gaser auf. Der Feuerschein fiel auf Captain Caxton, der inzwischen erwacht war. Er saß auf seiner Pritsche und blinzelte verdutzt. »Alle Wetter! Sind Sie das, Rev'rend?« »Das will ich meinen«, sagte Fury. »Ich hab doch gesehen, dass man Sie in eine Zelle gebracht hat …« Marcel deutete in die Richtung, in die Fury und seine Bewacher gegangen waren. Der verständnislose Blick des Geistlichen sagte ihm plötzlich etwas, und sein Schreck fiel so heftig aus, dass er anfing zu zittern. »Wenn Sie es nicht waren … wer war es dann?« »Vermutlich einer dieser Wechselbälger«, erwiderte der Rev'rend leise. Er zog einen Nadler aus der Jacke und gab ihn Caxton. »Sie wissen doch, mit welchen Mitteln Satan gegen den HERRN arbeitet. Seine Dämonen ahmen uns nach. Auf dem Weg hierher habe ich zwei gesehen, die Captain Smart und Prinzessin Alanie wie aus dem Gesicht geschnitten waren.« »Die Prinzessin war echt«, erwiderte Marcel. »Woher wissen Sie, dass der Captain eine Fälschung war?« »Der echte Captain und ich waren seit dem Angriff mit der Gasgranate die ganze Zeit zusammen.« Fury öffnete
die Tür. »Sind Sie noch da, Captain?« »Jawoll«, drang Smarts Stimme an Marcels Ohr. »Ich halte die Stellung. Ich schlage allerdings vor, dass wir schnellstens abrücken. Wenn die Ablösung kommt und die Leichen hier findet …« Leichen?! Marcel zuckte zusammen. Nun ja, eine Gefangenenbefreiung war halt kein Blumenkorso. »Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte er. »Wir gehen zum Höllentor und erlegen Satan das Schicksal auf, das der HERR ihm zugedacht hat.« Fury klopfte mit der linken Hand auf seine Brust. »Dabei spielen Handgranaten eine gewichtige Rolle.« »Sie wissen, wo das Tor ist?«, fragte Marcel verdutzt. »Klar.« Fury nickte. »Wir sind schließlich lange genug in diesem Kellerlabyrinth herumgekraucht. Wir haben es gefunden. Wir brauchten nur dem Schwefelgeruch nachzugehen.« »Was haben Sie vor?« Captain Caxton schaute erschreckt auf. »Sie wollen es doch wohl nicht mit dem Teufel aufnehmen …« »O doch.« Fury nickte. »Es kann nicht schiefgehen, guter Mann, denn wir sind Soldaten GOTTES! Der HERR ist auf unserer Seite; er wacht über uns allezeit.« Du hast einen an der Waffel, dachte Marcel. Laut jedoch sagte er: »Dann rette ich die Prinzessin!« Er hätte sogar versprochen, gegen einen Lindwurm zu kämpfen, nur um von hier verschwinden zu können. Dabei war Alanies Leben vermutlich nicht einmal in Gefahr – wenn sie wirklich Torsvans Tochter war. Fury nickte erfreut. »Ein guter Plan!« Er beschrieb, wo er sie gesehen hatte. »Entwaffnen Sie einen der Lumpen, die draußen vor der Tür liegen … Der Captain wird
Ihnen helfen.« »Ja, großartig«, heuchelte Marcel. Er deutete auf die Tür, vor der Captain Smart noch wachte. »Jetzt aber nichts wie los!« Der erbeutete Säbel wäre gut für eine Opernbühne geeignet gewesen: Die Klinge war stumpf, und der Griff wackelte so, dass Marcel einen Schraubenzieher gebraucht hätte, um ihn festzudrehen. Der Tote, dem die Waffe gehört hatte, war Lieutenant gewesen. Vermutlich hatte er schon lange keine Wache mehr geschoben und das Ding seit Jahren nicht mehr aus der Scheide gezogen. Trotzdem funktionierte es noch ganz gut, als am Ende des Gangs, neben einer nach oben führenden Treppe die Tür aufging und ein Schnauzbart mit Brustpanzer vor ihnen stand: Marcel holte aus und schlug zu. Der Säbel durchschlug zwar das Metall, blieb aber darin stecken. Da der Gepanzerte sofort zurückwich, war Marcel im Nu waffenlos. Ein Fluch entrang sich seinen Lippen. Schon war Captain Caxton neben ihm, drückte ihn zur Seite und betätigte den Abzug des Nadlers. Marcel hörte ein Klicken. Er spürte einen Stich in der linken Schulter und wusste gleich, dass die Giftnadel am Panzer des Schnauzbarts abgeprallt und als Querschläger in seinem eigenen Fleisch gelandet war. Toll, wirklich… Der Soldat zog blank. Der Captain schoss noch einmal. Offenbar hatte er diesmal getroffen, denn der Schnauzbart schlingerte und verlor die Orientierung. Seine Klinge fiel klirrend zu Boden; er selbst knallte mit dem Kopf gegen die Wand.
Seine Beine knickten ein. Er klatschte aufs Gestein und rührte sich nicht mehr. »Sapperlot!« Der Captain musterte überrascht seine Waffe. »Ich hab den Hundsfott wirklich getroffen!« »Blmlbml …« Marcel hatte eigentlich »Mich auch« sagen wollen, doch das Nadelgift wirkte schon: Sein linker Arm hing schlaff herab. Die Lähmung zog über seinen Hals in Wange und Unterkiefer. Er konnte nur noch lallen. Doch warum verlor er nicht die Besinnung? Offenbar hatte die Giftnadel beim Abprallen schon einen Teil ihrer Ladung verloren. Marcel nahm den blitzblanken Säbel des ohnmächtigen Schnauzbarts an sich. Dann sah er einen Schlüsselbund an dessen Gürtel. »Blbmlblmembl«, sagte er, was heißen sollte: »Ich glaube, wir haben den Zellenmeister erwischt.« Er nahm den Bund an sich und zeigte ihn Caxton. Der Captain verstand ihn auch ohne Worte: Er nahm ihm den Bund ab, eilte zum Anfang des Ganges zurück und schaute durch die Luken in alle Zellen, um zu sehen, wo sich seine Mannschaft befand. Er hatte Glück. Marcel, der schnaufend an einer Wand lehnte und sich fragte, wie er in diesem Zustand eine große Strecke zwischen sich und Hellmouth bringen sollte, hörte das Quietschen rostiger Scharniere. Das in seinem Blut kreisende Gift ließ seine Wahrnehmung zwar verschwimmen, doch eigentlich gab es in diesem Gang ja ohnehin nicht viel zu sehen. Unterdrückte Freudenschreie sagten ihm, dass die Mannschaft es zu schätzen wusste, dass der Captain sie befreite. Wenn sie eine Möglichkeit fanden, sich zu bewaffnen, und schnell vorgingen, konnten sie ihr Fahrzeug vielleicht zurückerobern und Torsvans
Racheplan vereiteln … Der Kellergang füllte sich mit etwa drei Dutzend Personen. Captain Caxton bahnte sich eine Gasse zu Marcel und sagte: »Hören Sie, junger Mann, ich würde Ihnen ja gern bei der Rettung der Prinzessin helfen, aber meine Ehre als Offizier erfordert, dass ich mich an die Spitze meiner Männer stelle und versuche, dem Feind mein Schiff zu entreißen …« »Blblblbembl«, sagte Marcel nickend. Wäre er Captain gewesen, hätte er sicher ebenso empfunden. »Deswegen müssen Sie sich einstweilen allein um die junge Dame kümmern«, fuhr Captain Caxton fort. »Ich schlage vor, Sie finden und retten sie und schlagen sich dann zu uns durch. Einverstanden?« Marcel nickte. Caxton schlug ihm auf die Schulter und eilte an der Spitze seiner Männer die Treppe hinauf. Marcel war mit dem besinnungslosen Schnauzbart allein. Jetzt erst bemerkte er, dass der Mann eine Frau war! Und dass der Schnauzbart unter ihrer Nase verschwunden war! Marcel packte eins ihrer Beine und zog sie in die nächste leere Zelle. Sie sah Marie Dumarest verdammt ähnlich. Als er neben ihr kniete, um sie genauer in Augenschein zu nehmen, öffnete sie die Augen und sagte: »Ich sehe alles ganz verschwommen. Bist du das, Marcel?« »Oui.« Marcel nickte. Das Sprechen fiel ihm noch immer schwer. Er hätte auch gern gebrüllt: »Wenn ich nicht sofort erfahre, wer du wirklich bist, passiert was!« Doch da seine Lippen nur ein »Lbl« produziert hätten, reichte er Dumarest seine noch brauchbare Hand und half ihr auf die Beine.
»Hast wohl 'n Querschläger abgekriegt, was?«, fragte sie, da ihr seine ungelenken Bewegungen auffielen. »Mööhh.« Marcel nickte. Er hätte Dumarest gern gefragt, wieso sie gerade eben noch ein schnauzbärtiger Mann gewesen war, doch seine Zunge wollte komplizierte Worte wie schnauzbärtig nicht aussprechen. Er brauchte eine Minute, bis er einen halbwegs verständlichen Satz hervorlispeln konnte: »Jetft aber rauf damit, Marie! Wer bift du wirklich? Waf ift der Unterfied fiffen Allerdyfe und dir?« Dumarest führte aus, dass Allerdyce »ein willfähriger Knecht des kriegstreiberischen Großfürsten sei, während sie zu den progressiven Kräften Faunlands gehöre«. »Dann warft du … der Fury, der draufen mit mir gefeffen und mich Füfer …« – er verdrehte verzweifelt die Augen – »… ich meine Süfer … Füßer … genannt hat?« »Ich … ähm …« Dumarest wirkte verlegen. Schließlich nickte sie. »Du bist mir bei dem Angriff mit der Gasgranate genau vor die Füße gefallen. Die anderen waren plötzlich weg. Ich wollte dir helfen, aber ich bekam die nächste Ladung ab. Wäre ich den Leuten des Großfürsten in die Hände gefallen, hätten sie mich als Angehörige unseres Oberkommandos sofort getötet. Also habe ich, bevor mir die Sinne schwanden, Fury imitiert. Nicht zuletzt auch deswegen, weil ich in seiner Identität eher an den Großfürsten herangekommen wäre …« Sie lehnte sich an die Wand und atmete schwer. »Ich wurde, wie du, in eine Zelle gesteckt. Später hat mich ein schnauzbärtiger Bursche zum Verhör geholt. Ich habe ihn ausgeschaltet, sein Aussehen angenommen und seine Kleider angezogen, um dich und die anderen zu befreien.
Stell dir meine Überraschung vor, als du und der andere Mann plötzlich vor mir standet … Ich wusste nicht, ob ihr echt wart oder Imitationen …« »Der Mann war echt. Er ist der Captain des Luftschiffs. – Oh!« Marcels Zungenlähmung ließ nach. Er kam sich zwar noch immer wie nach einer Betäubungsspritze vor, aber er konnte wieder Worte bilden, ohne wie ein zahnloser Säugling zu klingen. Bei dem Versuch, den Arm zu bewegen, merkte er, dass er noch etwas schlaff war. Imitationen … Marcel schaute Dumarest an. »Wie macht ihr das, Marie?« »Wie machen wir was?« Sie runzelte die Stirn. »Wie nehmt ihr das Aussehen anderer Menschen an?« Dumarest zuckte die Achseln. »Weiß ich auch nicht. Einfach so. Weißt du, was du machst, wenn du eine Fratze schneidest?« Marcel machte große Augen. »Eine Fratze? Es ist doch wohl ein bisschen mehr, oder?« »Ja, es ist in der Hinsicht mehr, dass es unglaublich viel Kraft und Konzentration kostet, sie stundenlang aufrechtzuerhalten!« Sie schüttelte sich. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie man sich danach sehnt, allein zu sein, damit man die Maske fallen lassen kann …« Sie seufzte schwer. »Es gibt unter uns welche, denen es leichter fällt … Allerdyce gehört sicherlich dazu. Aber für mich ist es eine Plage.« »Was meinst du mit unter uns?«, fragte Marcel. »Unter uns, die wir diese Gabe haben«, erwiderte Dumarest schlicht. »Wir sind nicht viele. Mir sind nur etwa fünfzig bekannt.«
Ja, dachte Marcel, und die meisten haben wohl jetzt Captain Caxtons Luftschiffer imitiert und warten darauf, dass Torsvan das Zeichen zum Abflug gibt. War er vom Schicksal dazu bestimmt, es zu verhindern? Bloß das nicht. »Steht ihr alle im Dienst des Großfürsten?« Dumarest nickte. »Unsere Gabe prädestiniert uns dazu, gewisse Tätigkeiten auszuführen.« »Eure Gabe prädestiniert euch zu vielem … Ist noch keiner von euch auf die Idee gekommen, jemanden zu imitieren, der über große Macht gebietet, um sich entsprechende Vorteile zu verschaffen?« »Früher gab es solche Dummköpfe, ja. Aber niemand kann ewig eine Maske tragen. Außerdem ist unsere Gabe inzwischen so bekannt, dass wir selbst Wert darauf legen müssen, uns ständig in Gesellschaft glaubwürdiger Zeugen aufzuhalten. Damit man uns nichts anhängen kann. Außerdem hindert man uns an Straftaten, indem man uns Privilegien gewährt, die kein anderer genießt.« »Wie siehst du eigentlich wirklich aus?«, fragte Marcel. Wenn ihre augenblickliche Gestalt echt gewesen wäre, hätte sie in jener Nacht nicht ihr Gesicht verloren. »Ich werde gesucht, Marcel. Seit Langem schon. Als wir uns begegnet sind, war ich auf der Flucht. Ich konnte mich niemandem zu erkennen geben.« »Und wie soll's nun weitergehen?« »Was hattest du denn vor?« Marcel schaute sich vorsichtig um. »Lass uns aus diesem Gewölbe verschwinden.« Er informierte Dumarest über das, was die Luftschiffer und Fury und Smart vorhatten. »Bevor die Sonne aufgeht, wird's hier knallen, da bin ich mir sicher.« Er schluckte. »Wir brauchen ordentliche Waffen, wenn wir die Prinzessin
befreien wollen. Wir sollten es wenigstens versuchen.« »Gut.« Dumarest nickte. Sie nahm den Schlüsselbund an sich und ging voran. »Los, die Treppe rauf.« Marcel folgte ihr in ein mit winzigen runden Fenstern versehenes Treppenhaus, das nach unten und nach oben führte. Es ging nach oben. »Liebst du die Prinzessin?«, fragte Dumarest plötzlich. »Was?« Marcel war rechtschaffen verdutzt. »Du hast mich schon verstanden.« »Alanie ist doch erst sechzehn … Sie hat noch jede Menge Babyspeck am Leib.« »Liebst du sie?« Marcel überlegte kurz. »Natürlich nicht.« »Natürlich liebst du sie«, fauchte Dumarest. »Man merkt es ganz deutlich an deinem bewusst abwiegelnden Ton.« »Hör mal, Dumarest, du tust gerade so, als …« »Noch einen Schritt«, sagte plötzlich eine heisere Stimme, »dann seid ihr tot!«
19 � »Können Sie Klavier spielen?« »Weiß nicht, mal versuchen.« Horst Adam »Lady Shayla!«, rief Marcel überrascht. »Was machst du denn hier?« »Marcel! Oh, Marcel!« Sie war es wirklich. Ihr Gesicht war schmutzig, ihr Haar zerzaust. Ihr Gewand bestand nur noch aus Fetzen, sodass Marcel sah, wie hübsch ihre Beine waren. Außerdem umklammerte sie mit beiden Händen eine alte, doch bestens gepflegte und geölte Schusswaffe: einen Colt Single Action Peacemaker. Sosehr Marcel sich freute, die Waffe zu sehen, sosehr freute er sich, Shayla zu begegnen. Sie war nicht nur eine nette Frau, sondern auch eine unbezahlbare Verbündete. Als sie die Arme um seinen Hals schlang, wurde ihm warm ums Herz. Zudem bot ihm dies die Gelegenheit, ihr den Colt aus der Hand zu nehmen und in seinen Gürtel zu schieben. »Wo warst du denn?«, heulte Shayla. »Was ist eigentlich hier los? Zuerst lässt der Großfürst mich eine geschlagene Stunde in seinem Vorzimmer warten, dann sagt der Lieutenant die Audienz ab! Als ich runtergehe, um mich zu den Gästen zu gesellen, knallt es plötzlich überall, und uns fliegen die Scheiben um die Ohren! Ich bin nur noch gerannt, um mich zu verstecken … Zum Glück kenne ich mich hier bestens aus … Huch! Wer sind
Sie denn?« Sie hatte Marie Dumarest erspäht. Sofort löste sie sich von ihm. Marcel stellte ihr Marie als »Verbündete« vor und sprach beruhigend auf Shayla ein. Sie berichtete, dass sie seit endlosen Stunden hier im Treppenhaus hockte, weil es oben immer lauter und schlimmer geworden wäre. Irgendwann war ein von Major Allerdyce angeführter Trupp hier vorbei gekommen. Da sie den Major gut kannte, hatte er ihr sein Schießeisen in die Hand gedrückt und versprochen, sie abzuholen, sobald er und sein Kommando die Leute getötet hatten, denen sie auf den Fersen waren. »Was sind das für Leute, Marcel? Hast du etwas mit ihnen zu schaffen?« »Ähm, ich weiß nicht.« Marcel deutete auf Marie. Marie nahm kein Blatt vor den Mund und nannte Shayla den Grund für die Antipathie, die sie und ihre Kameraden dem Großfürsten entgegenbrachten. Dass Gustave seine Position für einen privaten Rachefeldzug gegen den Monarchen eines Nachbarreiches missbrauchen wollte, erboste Shayla natürlich auch. »Das darf doch wohl nicht wahr sein! Weiß der Adel von Hellmouth davon? Bestimmt nicht! Er muss es sofort erfahren! Ich glaube nicht, dass wir bereit sind, für einen so schnöden Zweck unsere Söhne zu opfern!« »Es wäre wunderbar, wenn Ihnen das gelänge, Durchlaucht«, sagte Marie. »Wenn der Adel dem Großfürsten auf die Pelle rückt, kann das seine Pläne so lange verzögern, bis die Faunland-Front ihm das Handwerk gelegt hat!«
Lady Shayla deutete die Treppe hinauf. »Bringt mich nach oben! Ich bin auf eurer Seite – und ich wette, dass die anderen es auch bald sein werden!« Marie und Marcel führten sie hinauf. Shayla huschte durch eine Tür in einen Gang, aus dem aufgeregte Stimmen an ihre Ohren drangen: Die Gäste des Großfürsten hatten das Kastell wohl aus Sicherheitsgründen nicht verlassen dürfen. Nun lungerten sie, ohne die Gefahr zu kennen, in der sie schwebten, seit Stunden in einem Salon herum und debattierten über die möglichen Hintergründe der Attacke. Nicht alle Adeligen waren mutig; nicht alle waren erwachsen; nicht alle hatten einen militärischen Rang, und nur die Hälfte waren männlichen Geschlechts: Zwei Drittel von ihnen nörgelten und greinten herum, sodass Marcel seine Ungebundenheit einmal mehr zu schätzen wusste. »Was grinst du so?«, fragte Marie. Dass Shayla ihn zum Abschied geherzt und geküsst hatte, gefiel ihr wohl nicht, denn sie wirkte leicht ergrimmt. »Ach, nur so.« Marcel zuckte die Achseln. Als er sich umdrehte, richteten sich auf der Treppe hinter Marie drei Uniformierte auf und hoben ihre Säbel. Marcel hatte keine Zeit, sich zu fragen, wer sie waren. Er ging davon aus, dass man inzwischen die Leichen der Männer gefunden hatte, die auf Furys und Smarts Konto gingen. Irgendwann war ihre Ablösung gekommen, und inzwischen wusste wohl das ganze Kastell, dass alle Gefangenen entwichen waren. »Runter!«, rief Marcel. Seine Linke zuckte hoch und versetzte Marie einen Stoß, der sie beiseitewarf. Schon
hatte er Shaylas Colt aus dem Gurt gezogen und legte auf die Soldaten an. Zwei Schüsse krachten. Auf der Stirn eines Angreifers zeigte sich ein dunkler Fleck. Er fiel um und schlug auf die Stufen. Jemand schrie. Marie war schon wieder auf den Beinen und warf eine Klinge. Sie durchbohrte den Hals des zweiten Soldaten, der mit einem Gurgeln die Treppe hinunterfiel. Der dritte Mann floh. Lieutenant Dumarest flog hinter ihm her und warf sich auf ihn. Krachen und Poltern. Auch hinter Marcel wurde es laut. Jemand riss die Tür auf, durch die Shayla eben gegangen war. Marcel erblickte eine Uniform, einen behelmten Kopf und das glatte Gesicht eines jungen Soldaten, der ebenso erschreckt war wie er. Die Tür fiel wieder zu. Der Soldat rief nach Verstärkung. Gleich darauf ertönte Torsvans Stimme und verlangte nach Männern mit Feuerwaffen. Marie schrie »Marcel! Marcel!«, und als Marcel ihr zu Hilfe eilte, drosch sie den Kopf des letzten Soldaten gerade gegen die Treppenhauswand und rief: »Wir müssen wieder runter!« Sie ließ ihren Gegner los, der zu Boden sank. Marcel riss den Säbel des Mannes an sich. Das Treppenhaus endete in einer Kelleretage. Da war eine Tür, die mit einem C markiert war. Sie klemmte, und er musste sich gegen sie werfen. Im Gang dahinter stank es entsetzlich nach Schwefel. Marcel blieb würgend stehen. »Hier beginnt der alte Bunker.« Marie deutete hustend
geradeaus. »Ein Teil unserer Ahnen hat hier die Eiszeit überlebt. Die meisten Etagen sind zusammengekracht oder abgesoffen, aber hier und da gibt's auch trockene Gänge und Abschnitte, die meine Freunde nutzen, um von gewissen Häusern in Hellmouth aus ins Kastell zu gelangen.« Einem Kasten an der Wand entnahm sie eine Laterne, deren Docht sie mit einem Feuerstein anzündete. Das Flämmchen reichte, um ihnen den Weg zu zeigen. Marcel klemmte den Colt in den Gürtel und marschierte mit dem erbeuteten Säbel in der Hand hinter Marie her. Er hatte die Schnauze von Faunland voll. Er war verdreckt und übermüdet. Er wusste nicht mehr, wann er zum letzten Mal geschlafen hatte. Es musste Wochen her sein. Er sehnte sich nach einem Schaumbad und seinem Himmelbett. Er sehnte sich sogar nach Froona. Sie stiegen Treppen hinauf und hinab. Sie umgingen eingebrochene Böden und bis zur Decke reichende Schuttberge. Sie durchquerten von stinkenden Pilzen befallene Räume. Sie gingen über bleiche Schädelknochen und verscheuchten Scharen mutierter Kakerlaken. Dann nahmen sie das nächste Ganglabyrinth in Angriff. Irgendwann hatte Marcel den Eindruck, dass der Boden unter ihnen bebte, aber vermutlich zitterten nur seine Knie. »Halt!« Marie blieb stehen. »Hast du das auch gehört?« Marcel lauschte. »Was?« Er hörte viel; am lautesten war sein Herz. Irrte er sich oder kam von da hinten das Geräusch genagelter Stiefel? War das nicht die Stimme Torsvans? Er hielt die Luft an. Verdammt, ja!
»Sind uns diese dämlichen Krampen etwa gefolgt?« Er empfand rechtschaffenen Zorn, nicht zuletzt deswegen, weil er allmählich das Gefühl hatte, dass ihr Weg nicht in die Freiheit führte, sondern in Rev'rend Furys Hölle. »Wenn nur der Gestank nicht wäre …« »In der Gegend hier hat man früher Schwefel abgebaut«, sagte Marie leise. »Wir haben Unterlagen darüber gefunden.« »Wir?« »Der naturwissenschaftlich-technische Stab Gustaves des Ersten. Sein Nachfolger hat den Stab aufgebaut und geleitet. Deswegen kennt er sich auch so gut hier unten aus. Ich wette, er weiß auch, wo wir hin wollen.« »Wo wollen wir eigentlich hin?« Sie befanden sich im Eingang eines riesigen Raumes, der bis auf einen von der Decke gefallenen Schuttberg leer war. »Und wo sind wir?« Im Licht der Laterne sah Marcel ein Dutzend leere Türrahmen. Dann sah er einen toten Soldaten. Und noch einen. Und noch einen. Marie fluchte leise, eilte zu den Toten hin und schaute sie sich an. Marcel folgte ihr. Er fühlte sich sehr unbehaglich. »Wer sind die Leute?«, hauchte er. »Die haben erst vor Kurzem ins Gras gebissen.« Marie klang überrascht. »Sie sind noch warm.« Sie schaute auf. »Ob das die Soldaten sind, von denen Lady Shayla erzählt hat? Wenn ja, hinter welchen von meinen Kameraden waren sie her?« Sie stand auf. »Und vor allem … Wo ist Major Allerdyce?« Na, toll. Marcel zückte den Colt, den Shayla von Major Allerdyce erhalten hatte, und prüfte das Magazin. Noch
vier Schuss. Großartig! »Ja, wo ist dieser Arsch?« »Wenn Sie die Klappe halten, sag's ich Ihnen«, ertönte ganz in seiner Nähe Captain Smarts Stimme. »Kommen Sie hier rüber. Und seien Sie leise, damit Sie die Clowns, die hinter Ihnen her sind, nicht auf unsere Spur bringen.« Marie reagierte sofort. Die Laterne erlosch. Sie hatte auch einen guten Ortssinn, denn sie nahm Marcels Hand und führte ihn durch die Finsternis zu einem der Ausgänge. Was hatte diese Frau sonst noch für Fähigkeiten? War sie nachtsichtig? »Nett, Sie zu sehen, Captain«, raunte Marcel, als Smart einen Gaser aufblitzen ließ, um zu zeigen, wo er stand. Es war nicht mal gelogen. »Wo ist der Rev'rend?« »Folgen Sie mir.« Marcel spürte einen Luftzug, der ihm sagte, dass Smart sich in Bewegung setzte. Marie nahm ihn erneut an die Hand. Marcel fühlte sich etwa fünfzig Meter weit fortgezogen. Dann glaubte er, in einem kleineren Raum zu sein. Smarts Gaser flammte erneut auf. In seinem Schein sah Marcel Rev'rend Fury. Er hockte neben einem am Boden liegenden Mann, der ihm bekannt vorkam. »Sergeant Wilmington? Wie sind Sie auf den gestoßen?«, fragte Marcel verdutzt. »Ich hatte ihn schon für tot gehalten.« »Das ist nicht Wilmington«, sagte Smart, »sondern der höllische Wechselbalg, der sich als Wilmington ausgibt. Hat der Rev'rend das etwa noch nicht oft genug betont?« Marcel spürte, dass er errötete. Im Dunkeln war es ihm aber egal. »Hallo, Dumarest«, sagte Fury. »Tag, Junker.« Er deutete auf den Leblosen. »Dieser Dämon hat ungeheure Kräfte. Einen solchen mentalen Widerstand habe ich
noch nie erlebt. Ich habe zehn Minuten gebraucht, um ihn zu hypnotisieren, aber glauben Sie, er will mir auch nur seine Nummer sagen?« »Das ist kein Dämon«, sagte Marie. »Er ist ein Mensch. Ich kenne ihn. Er heißt Allerdyce.« »Was?« Fury schaute fassungslos drein. Dann sagte er: »Wenn er wirklich so heißt, dürfte es einfacher sein.« Er kniete sich hin und drückte den rechten Zeigefinger auf Allerdyces Stirn. »Wenn du Allerdyce bist, befehle ich dir, mir zu gehorchen!« »Zu Befehl, Sir.« Der Pseudo-Wilmington schlug die Augen auf. Sein Blick war völlig leer. Es war gespenstisch. »Was haben Sie mit Wilmington gemacht, Allerdyce?«, fragte Fury. »Ich habe ihn getötet«, sagte Allerdyce ohne jede Emotion. Marcel schluckte. »Wo sind Sie ihm begegnet?« »An der Küste von Nova Scotia.« »Erzählen Sie alles. Fassen Sie sich kurz.« »Wilmington kampierte am Strand«, sagte Allerdyce. »Er saß an einem Lagerfeuer und briet einen Fisch. Er lud mich zum Essen ein. Ich erfuhr, wer er war und für wen er arbeitete. Er war genau der Mann, der ich sein musste, um an König Louis heranzukommen. Also habe ich ihn imitiert. Er war so entsetzt … Er ist tot umgefallen. Ich habe ihn begraben und seine Sachen genommen. Am nächsten Tag hat das Luftschiff mich gesichtet. Captain Caxton ging so tief runter, dass wir uns unterhalten konnten. Ich erzählte ihm die Geschichte von dem toten Kurier und der Botschaft für Königin Froona. Er hielt die
Sache für wichtig genug, um mich an Bord zu hieven und den Rückflug einzuleiten.« »Was war ihr Ziel, Allerdyce?« »Ich sollte den König bewegen, eine Expedition nach Faunland zu schicken. Wir wollten das Luftschiff erobern. Der Großfürst wusste von seiner Existenz.« Marcel nickte. Alles war fast so, wie er vermutet hatte. »Wer ist der Großfürst?«, fragte er und drängte sich neben Fury. »Kennen Sie seine Vergangenheit, Allerdyce?« »Er kann Sie nicht verstehen«, sagte der Rev'rend, »weil Sie ihn nicht berühren.« Er wiederholte Marcels Frage, und Allerdyce erwiderte: »Er ist ein Edelmann. Früher war er Baron Torsvan. Die Frau, die König Louis von Nova Scotia zu seiner Königin machte, war seine Geliebte. Die Tochter der Königin ist vermutlich auch seine Tochter. König Louis hat gewusst, dass etwas zwischen den beiden war, deshalb hat er einen gewissen Fähnrich Smart gedungen, ihn zu beseitigen …« »Was?!« Marcel und Marie fuhren herum.
20 � Rev'rend Fury löste seinen Zeigefinger von Major Allerdyces Stirn und schaute seinen Gefährten an. Captain Smart grinste. Sein Grinsen wirkte nicht verlegen. Es wirkte auch nicht überheblich. Er grinste ohne das geringste Schuldbewusstsein. »König Louis hat nichts damit zu tun. Ich hatte ältere Rechte als er. Und ältere Rechte als Torsvan.« »Sie waren bei der Expedition vor siebzehn Jahren dabei?«, fragte Marcel. Erst jetzt begriff er, was Smart gerade gesagt hatte: Ich hatte ältere Rechte. Bedeutete das etwa, dass Froona mit ihm …? Bei der Vorstellung lief es ihm kalt den Rücken hinab. Er empfand aber auch so etwas wie Erleichterung: Alanies Vater mochte ein verschrobener Charakter sein, aber er hatte keinen Mord in Auftrag gegeben! Captain Smart – damals Fähnrich – hatte auf eigene Faust gearbeitet. Er hatte Torsvan aus Eifersucht aus dem Weg räumen wollen. Er hatte ihn in einer Felsspalte verschwinden lassen und für tot gehalten. Es hatte ihm aber nichts genützt, denn Froona hatte Louis erhört, und der vermeintliche Tote hatte auf Faunland sein Glück gemacht. Was hatte Smart empfunden, als Wilmington-Allerdyce am Hof von Nova Scotia gemeldet hatte, Torsvan lebe vermutlich noch. Kein Wunder, dass er sich sofort angedient hatte, Fury zu begleiten: Er hatte verhindern wollen, dass der Verschollene König Louis vom tückischen Verhalten seines Fähnrichs erzählte.
Doch er hatte nicht ahnen können, dass der Baron inzwischen zum Herrscher Faunlands aufgestiegen war. An ihn war nicht leicht heranzukommen. Außer vielleicht mit den Handgranaten, die Fury mitgebracht hatte, um den Höllenschlund zum Einsturz zu bringen. »Ja, ich war dabei.« Smart nickte. »Und haben versucht, ihn zu ermorden«, sagte Fury. Smart zog die Schultern hoch. »Ermorden, ermorden; was heißt das schon? Ich hätte ihn gern aus dem Weg geräumt, stimmt. Ich konnte den selbstgerechten kleinen Arsch noch nie leiden. Er war ein aufgeblasener Idiot. Er hatte nichts auf dem Kasten. Er sah nur gut aus und konnte tanzen. Am Hof in Digby waren alle Frauen hinter ihm her. Er hätte jede haben können. Aber nein! Es musste ausgerechnet die sein, die mir gefiel.« Er räusperte sich. »Ich war nur der siebente Sohn eines Kaufmanns, der mit Käse handelte; ein kleiner Fähnrich, der es mit etwas Glück irgendwann zum Captain bringen würde. Torsvan war Baron; er kam mit 'nem goldenen Löffel im Mund zur Welt, hat sich immer nur wichtig gemacht. Irgendwann ist mir halt der Kragen geplatzt.« Er lachte. »Ich hab ihm eine aufs Maul gehauen, und er ist in ein Loch gefallen. Ich hab ihn siebzehn Jahre für tot gehalten, und jetzt erfahre ich, dass er es hier zum Herrscher gebracht hat. Ich habe seine Karriere vermutlich gefördert. Und da er noch lebt, bin ich auch kein Mörder, falls Sie darauf hinauswollen!« »Wenn der Großfürst diese Geschichte hört, müsste ihm eigentlich klar sein, dass er überhaupt keinen Grund hat, sich an König Louis zu rächen«, sagte Marcel zu Marie. »Dann kann er die geplante Invasion abblasen.«
»Er wird sie aber nicht hören«, erwiderte sie, »weil Captain Smart kein Selbstmörder ist.« »Er hat sie schon gehört«, sagte eine Stimme aus dem Dunkel. »Und er ist deswegen äußerst ungehalten. Denn im Gegensatz zu dem Gott, an den Sie glauben, vergibt der Großfürst nicht! Er ist nämlich sehr rachsüchtig, und das, was Smart gerade gesagt hat, versetzt ihn in Wut!« Ein Schuss krachte, und der Großfürst schrie: »Feuer!« Marie versetzte Marcel einen Stoß, der ihn zu Boden warf und ihn den Säbel verlieren ließ. Er rutschte über schmierige Fliesen. Er war zu verdutzt, um etwas zu sagen, doch nicht verdutzt genug, um zu wissen, dass er eine Waffe hatte und es angeraten war, sie zu ziehen, wenn er nicht in dieser finsteren Kammer tief unter der Erde sterben wollte. Aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, blitzte Mündungsfeuer auf. Er hörte Fury fluchen. Schatten huschten durch die Leere. Das Scharren genagelter Stiefel besagte, dass sie es mit Profis zu tun hatten. Torsvan hatte sich mit mehreren Offizieren an ihre Fersen geheftet. Wie viele waren es? Marcel versuchte es am Mündungsfeuer zu erkennen. Drei? Vier? Fünf? Nein, vier Mann. Nein, fünf. Einer schlug der Länge nach hin, schrie auf, gurgelte, verstummte. Vier. Captain Smart lachte roh. »Die Welt ist zu klein für uns beide, Torsvan! Du wirst gleich deinem Schöpfer begegnen!« »Macht sie nieder!«, rief Torsvan. Wütendes Trommelfeuer setzte ein. Marcel zählte tatsächlich vier Schützen. Auch rechts und links von ihm knallte es. Ätzender Pulvergestank breitete sich aus. Hoffentlich
kam Fury nicht auf die Idee, hier mit Handgranaten tätig zu werden. Marcel hatte den Gedanken kaum gedacht, als er ein verdächtiges Klacken hörte: Etwas Metallenes rollte aus der Richtung der Angreifer auf sie zu, schlug gegen eine Wand und explodierte in einem Lichtblitz. Aus. Marcel riss die Arme vor seine Augen und rechnete mit dem Schlimmsten. Es war aber keine Granate, sondern eine Öllaterne, die sich beim Aufschlag entzündet hatte. Das Öl lief aus, geriet in Brand und erhellte seine Umgebung. Als Marcel die Augen öffnete, rollte sich rechts von ihm jemand über den Boden, um aus dem Lichtkreis zu verschwinden. Marie? Jemand schoss auf sie! Marcel richtete Lady Shaylas Colt voller Wut auf einen Mündungsblitz und drückte ab. Ein würgender Schrei erklang. Metall fiel auf Gestein. Dann der dumpfe Aufschlag eines Körpers. Ein Schatten flog im Feuerschein über Marcel hinweg und prallte gegen den sich aufrichtenden Captain Smart. Beide stürzten zu Boden. Smart hatte seine Waffe verloren. Er umklammerte mit beiden Händen den Arm, mit dem der andere sein Schießeisen hielt. Der Angreifer war Torsvan. Er trat um sich und schlug auf Smart ein, der sich wehrte und seinen Kopf gegen die Stirn seines Gegners knallen ließ. Stöhnen. Ächzen. Weitere Flüche. Die beiden noch lebenden Vasallen Torsvans huschten im Schein des Feuers geduckt durch die Halle. Sie nahmen Marcel unter Beschuss, der sich ein Beispiel an
Marie nahm und sich über den schmutzigen Steinboden rollte, bis er im Dunkeln an eine Wand schlug. Die Männer riefen sich Anweisungen zu, doch plötzlich drehte sich einer von ihnen im Kreise. Marcel sah einen dunkelroten Fleck auf seiner Stirn. Der Mann ging langsam in die Knie, ließ seine Waffe fallen und schlug mit der Stirn auf den Boden auf. Aus der Richtung, aus der sie gekommen waren, näherten sich plötzlich mehrere Laternen. Torsvans letzter Mann – ein Lieutenant – fuhr irritiert herum und hob eine Hand vor die Augen. Peng! Sein Hinterkopf zersprang. Irgendwo hinter Marcel atmete jemand zufrieden aus. Es klang nach Rev'rend Fury. »Feuer einstellen!«, rief jemand aus der Umgebung der Laternen. Eine Frau? Marcel stutzte. »Sofort aufhören!« Lady Shayla stürzte auf sie zu. Ihr folgten acht bis zehn Bewaffnete. Ihre Laternen leuchteten den großen Raum aus. Einige der Ankömmlinge waren uniformiert und schwenkten Schusswaffen. Shayla hatte also noch immer Einfluss auf den einheimischen Adel… Marcel sprang auf. Er war verwirrt. Das Licht blendete ihn. Er hielt Ausschau nach Marie und rief ihren Namen. Wo steckte sie? Fury hockte zwei Meter entfernt auf dem Boden und stöhnte. War er verwundet? Marcel sah, dass er aufstehen wollte, aber es gelang ihm nicht. Shayla und ein Mann aus ihrem Gefolge entdeckten ihn und nahmen sich seiner an. »Herrjeh, sind Sie getroffen?«, rief Shayla. »Nein«, ächzte Fury. »Bandscheibe … Ausgerechnet jetzt…« Er wehrte sich nicht, als die beiden ihn auf die Seite legten. Shaylas Begleiter schien Medikus zu sein; er hatte eine Tasche dabei, die er eilig öffnete.
Die anderen Männer liefen zu Smart und dem Großfürsten, die am Rand des Loches miteinander rangen und sich gegenseitig zu erschlagen versuchten. Bevor sie sie erreicht hatten, wurde ein trockenes Knacken laut. Ein weiterer Teil des Bodens brach ein und verschwand mit einem lauten Poltern in der Tiefe. Alle wichen erschreckt zurück. Die beiden Kämpfenden scherte es nicht: Sie waren so von ihrem Hass beseelt, dass sie nichts bemerkten. Smart lag auf dem Rücken. Sein Kopf ragte in das Loch hinein. Baron Torsvan, nun Großfürst von Hellmouth, lag auf dem Bauch seines alten Widersachers und würgte ihn. Plötzlich kam eine junge Frau aus dem Dunkel. Sie war höchstens drei Jahre älter als Alanie und sehr ansehnlich. Ihre Uniform sah aus wie die von Lieutenant Marie Dumarest; sie war auch an den gleichen Stellen zerrissen. Sie trug eine Seilrolle in der Linken. Das andere Ende des Seils lief über ihren linken Arm und hinter ihrem Hals her zum rechten und endete in einer Lassoschlinge, die sie in der rechten Hand hielt. Marcel wusste nicht, wo sie herkam, aber seine Nase sagte ihm, dass sie sich schon mal begegnet waren. »Allez!«, rief die Frau. Das Lasso flog durch die Luft, die Schlinge legte sich um den Hals des Großfürsten. Torsvan ließ Captain Smarts Hals los und wollte die ihn würgende Schlinge packen. Da es ihm nicht gelang, rollte er von seinem Gegner herunter, der nun endlich eine Chance hatte, Luft zu schnappen. Das von ihm genommene Gewicht ernüchterte Smart offenbar, denn als er den Kopf hob und sah, wo er lag, stieß er einen Schreckensschrei aus und rutschte von dem
Loch weg. Auch der Großfürst schien zu begreifen, dass er ersticken würde, wenn er dem Seil nicht entgegenkam: Er kroch vorsichtig rückwärts, bis er fünf Meter vom brüchigen Rand des Lochs entfernt war. Lady Shaylas Begleiter halfen ihm auf die Beine, doch als er begriff, welch tödlicher Gefahr er gerade noch entronnen war, knickten seine Knie ein, und er wurde ohnmächtig. Im Licht der Laternen wirkte der sonnengebräunte Captain Smart totenbleich, als er kleinlaut auf allen vieren zu den Leuten kroch, die in sicherer Entfernung auf ihn warteten.
21 � Eine Woche später »So fertig wie an diesem Tag war ich noch nie …« Marie seufzte. Sie saßen im Roten Salon von Lady Shaylas Palais, tranken Tee und schauten auf Hellmouth hinab. Feiner Dunst kroch durch die Straßen. Der Tag war vor zwei Stunden angebrochen. Unten am Tor tätschelte Rev'rend Fury seinem Relch freundschaftlich auf den Hintern. Marcel, der aus dem Fenster schaute, sah ihre Gastgeberin aus dem Haus stöckeln und auf ihn zustolzieren. Die beiden hätten ein hübsches Paar abgegeben. Leider fehlte Fury der Wille zur Sesshaftigkeit: Nach dem missglückten Versuch, das Tor zur Hölle in Hellmouth zu finden, wollte er nun an den Anfang seiner letzten Forschungsphase zurück: nach Trois Pistoles, wo »Dämonen« angeblich Kinder entführt hatten. Nach langem Überlegen hatte er den Schluss gezogen, dass die kürzlich von ihm ausgelöschte Bande das zu ihrem Untergang führende Verbrechen »wohl eher nicht« begangen hatte. Ein offenbar falsch interpretiertes Verhör eines Mitglieds dieser Bande hätte ihn auf eine falsche Spur gebracht. Nun gedachte er seinen Fehler zu korrigieren. Marcel wagte sich nicht vorzustellen, wann und wo Fury erneut zum Nachteil der Hölle zuschlagen würde. Hoffentlich traf es beim nächsten Mal keine gänzlich Unschuldigen …
Nun ja … Laut Fury waren die gehörnten Lumpen eindeutig gottlos und vermutlich auch kriminell gewesen. Da hatten sie den Tod doch verdient … oder? »Als die Schießerei anfing«, fuhr Marie fort, »waren meine Nerven so angespannt, dass ich meine Maske fallen lassen musste, sonst wäre mein Kopf geplatzt.« »Ich war sprachlos, als ich dich mit dem Lasso sah.« Marcel drehte sich kurz um. Verdammt noch mal, wie süß sie war! Und wie toll sie Tee kochen konnte! »Nicht dass du glaubst, solche Äußerlichkeiten wären mir wichtig, Marie, aber … so gefällst du mir auch gut.« Sie gefiel ihm vor allem deswegen, weil ihr echtes Gesicht um mindestens zehn Jahre jünger war als ihr falsches. »Du gefällst mir auch.« Marie errötete. »Wenn wir wollten, könnten wir bestimmt eine tolle Bande unglaublich gut aussehender und intelligenter Bälger zustande bringen …« »Ja, wenn wir wollten …« Am Himmel schwebte das Luftschiff. Es brachte nicht nur Alanie und Captain Caxton nach Nova Scotia: Auch Gustave der Zweite hielt sich an Bord auf. Nun, da er wusste, dass sein alter Nebenbuhler Louis an seinem »Schicksal« keine Schuld hatte, stand einem ersten Staatsbesuch nichts mehr im Wege. Sicher wollte er auch Froona wiedersehen – und ihr auf den Zahn fühlen, wessen Tochter Alanie tatsächlich war. Marcel ging davon aus, dass Captain Smart und er sich nun besser verstanden: Nach seinem Erwachen aus der Ohnmacht hatten die beiden ihre Narretei eingesehen und angesichts der Erkenntnis, dass ihr gemeinsamer
Schwarm die Gattin des lachenden Dritten war, beschlossen, ihren Hass endlich verjähren zu lassen. Caxton und seine Mannschaft hatten Smart und Fury die Meuterei verziehen – hatte sie doch einem guten Zweck gedient und im Nachhinein ergeben, dass der vermeintliche Wilmington tatsächlich im Sold einer fremden Macht stand. Auch Allerdyce hatte sich nicht als der Schurke erwiesen, den Fury in ihm gesehen hatte: Dass Wilmington beim Anblick seines falschen Zwillings von einem Herzschlag dahingerafft worden war, konnte man ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Es gibt keine echten Schurken mehr, dachte Marcel. Die leben sicher jetzt alle in Euree, wo Mr. Black und Mr. Hacker ihre Abenteuer erleben. Er wusste nicht, ob ihm der Sinn je wieder nach Eskapaden stehen würde. Bei Licht besehen, hatte er genug Abenteuer für die nächsten fünfzig Jahre erlebt. Jetzt war es an der Zeit, mal ein bisschen spießig zu leben. Vielleicht an der Seite eines hübschen Offiziers, der amnestiert war und seinen alten Posten zurückerhalten hatte? Lieutenant Marie Dumarest hatte durchaus das Zeug dazu, dieser Offizier zu sein. Alle Menschen wurden mit zunehmendem Alter spießig. Sogar die lebenshungrige Alanie hatte sich nach ihrer Befreiung aus der Enge der großfürstlichen Luxussuite verändert: Sie interessierte sich plötzlich für den ansehnlichen Fahnenjunker-Steward, dem die Luftschiffmesse unterstand. Marcel seufzte. Kein Wunder, der Bengel war höchstens erst achtzehn. Und von Adel. »Danke, Marie«, murmelte er. »Wofür?«, hörte er Marie verdutzt sagen.
»Dafür, dass es dich gibt.« Hinter den Hügeln ging die Sonne auf. Marcel spürte, dass Marie sich von hinten an ihn schmiegte und ihn aufs Ohr küsste. Es war wunderbar, geliebt zu werden. Erst recht von einer Frau mit vielen Gesichtern.