Wittich – der Schrecken
vom Hotzenwald
von Joachim Honnef scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Sebast...
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Wittich – der Schrecken
vom Hotzenwald
von Joachim Honnef scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Sebastian Müller fluchte. Ein Baumstamm blockierte den Waldweg hinter der Biegung. Sebastian war ein erfahrener Fuhrmann. Er handelte schnell und besonnen. Während er das Gespann zügelte, warnte er den Fahrer des nächsten Wagens mit einem Alarmschrei, damit der nicht auffuhr. Es gelang Sebastian, den Wagen gerade noch vor der hohen Barriere anzuhalten. Die Begleitreiter des Transports hatten sofort bei
Sebastians Alarmschrei »Überfall!« schrie einer.
die
Schwerter
gezückt.
Die Blicke der Männer tasteten angespannt über die Hänge des Hohlwegs. Kein Räuber war zu sehen. Eines der Gespannpferde wieherte. Dann herrschte plötzlich gespenstische Stille. Staub senkte sich. »Zurück!« rief Klaus Petereit, der Führer der vierköpfigen Eskorte. »Und wie?« brüllte Sebastian, und er fügte ganz leise hinzu: »Du Hornochse!« Sein Ärger war berechtigt. Es gab keine Möglichkeit zum Wenden. Sie steckten in der Falle. * Immer noch ließ sich niemand blicken. Nichts geschah. Die Stille hatte etwas Unheimliches. »Vielleicht ist das nur ein Zufall«, sagte Klaus Petereit mit rauher Stimme. »Ein vom Blitz gefällter Baum ...« Dummbeutel! dachte Sebastian. »Habt Ihr schon mal erlebt, daß der Blitz einen Baum sauber absägt?« rief er. Sein Blick tastete nervös und angespannt über die Hänge. Nichts rührte sich zwischen den Büschen und Bäumen. Plötzlich ertönte ein Lachen. Ein seltsam schrilles Lachen. Die Männer des Transports starrten nach rechts empor. Von dort oben zwischen den Buchen war das Lachen erklungen. Doch niemand war zu sehen. - Klaus Petereit fluchte lästerlich. »Aber, aber«, erklang dann eine Stimme zwischen den Buchen. »Wer wird denn so etwas Böses von sich geben!« Wieder war das schrille Lachen zu hören. Klaus Petereit verlor die Nerven. Oder er wollte allen seine Tapferkeit beweisen. »Attacke!« schrie er seinen Männern zu, trieb sein Roß wild an und jagte mit hocherhobenem Schwert zwischen die Büsche am Wegesrand. Tollkühn wollte er den Hang hinauf, geradenwegs zu
den Buchen, wo er den Wegelagerer wußte. Er kam nicht weit. Sein Pferd brach, von einem Pfeil getroffen, zusammen. Wiehernd stürzte es den Hang hinunter. Wild zuckten die Hufe. Klaus Petereit flog in hohem Bogen aus dem Sattel, überschlug sich im Sturz und prallte gegen das Vorderrad von Sebastians Wagen. Er schrie auf, als er sich den Kopf stieß. Dann verstummte der Schrei wie abgeschnitten. Ein Pfeil ragte plötzlich aus seiner Brust. Klaus Petereit, der längst das Schwert verloren hatte, umklammerte unbewußt den Pfeilschaft mit beiden Händen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er bäumte sich noch einmal auf, dann sank er mit einem röchelnden Laut in den Staub. Sebastian starrte entsetzt. Ebenso die anderen Fahrer und die Männer der Eskorte, die sofort ihre Rösser pariert hatten. Klaus Petereit hatte sich während der langen Fahrt als großer Meister und Besserwisser aufgespielt, der mit seinem ständigen Herumkommandieren allen Kutschern und Begleitreitern auf die Nerven gegangen war. Doch ein solches Ende hatte er gewiß nicht verdient. »Werft eure Schwerter und Messer weg, oder ihr seid alle des Todes!« ertönte die Stimme von den Buchen her. Als wollte der Mann seinen Worten Nachdruck verleihen, flogen jetzt weitere Pfeile heran. Von allen Seiten, wie es schien. Jenseits des Baumstamms tauchte eine Gestalt auf, zu beiden Seiten des Hohlwegs und sogar hinter dem letzten Wagen war ein Bogenschütze zu sehen. Pfeile schwirrten heran. Sebastian zuckte zusammen und erschrak bis ins Mark, als ihm ein Pfeil den Schlapphut löcherte. Zögernd ließen die Männer der Eskorte ihre Waffen fallen. Sebastian dachte an Frau, Geliebte und Kinder und hob unaufgefordert die Hände. Andere Fahrer folgten seinem Beispiel. Der Räuber oben bei den Buchen lachte. »So ist's brav, Leute. So dürft ihr noch ein bißchen am Leben
bleiben. Nicht lange, aber ein bißchen ist besser als gar nichts.« Abermals erklang das seltsam schrille Lachen. Den Männern des Transports lief ein kalter Schauer über den Rücken. Trotz der schwülen Sommerhitze, die ihnen an diesem Tag so sehr zu schaffen gemacht hatte ... * Sie hieß Helga Altenmayer, und sie war das bezauberndste Geschöpf, das Ritter Roland auf dem langen Ritt in den Schwarzwald kennengelernt hatte. Nun, er war nicht unterwegs, um sich die Schönen dieser Gegend anzusehen. Die Zeit drängte. Die Knappen Louis und Pierre erwarteten ihn in Peterzell. Sie hatten eine heiße Spur im Fall der vielen verschollenen Menschen und ebenso spurlos verschwundenen Frachtwagen. Doch daran dachte Roland im Augenblick nicht. Helga nahm ihn mit ihrem Liebreiz gefangen. Sie war von anmutiger Gestalt, klein und grazil, und wenn sie lächelte, funkelten ihre graublauen Augen, und um die Winkel ihrer sinnlich geschwungenen Lippen bildeten sich lustige Grübchen. So wie jetzt. Roland hatte sie am Ufer des Wildbaches weinend angetroffen, einsam und verloren wie ein verirrtes Täubchen. Natürlich gebot es Roland die Ritterpflicht, die arme Maid zu trösten. Sie war voller Scheu, ja Furcht gewesen, verständlich nach dem, was ihr widerfahren war. Irgendein Haderlump hatte ihr Roß gestohlen, während sie Pilze gesammelt hatte. Nun, ihre Tränen waren schnell versiegt, als Roland ihr galant angeboten hatte, sie auf seinem Roß bis nach Peterzell mitzunehmen. Und ebenso schnell hatte sie ihre Scheu verloren. Nie hätte Ritter Roland die betrübliche Lage dieser Maid ausgenutzt. Nie hätte er Hand an diesen zarten Mädchenkörper gelegt - wenn er nicht das Gefühl gehabt hätte, daß sie ihn dazu ermunterte. »Ein Ritter seid Ihr?« Sie musterte ihn prüfend, als er sich
vorgestellt hatte. Ihm waren die Zweifel in ihrem Blick und Tonfall nicht entgangen. »So ist es, schöne Frau.« Erst jetzt fiel ihm ein, daß er sich in Peterzell eigentlich als Händler hatte ausgeben wollen, und er ärgerte sich. Helga hatte ihn verwirrt. Er nahm sich vor, sie unterwegs um Stillschweigen zu bitten. Ihre Wangen röteten sich leicht ob seines Kompliments. Ein kurzes Auf und Ab der langen Wimpern, und dann senkte sie den Blick. Ritter Roland hatte Gelegenheit, einen weiteren Blick auf ihre Gestalt zu werfen, auf die kleinen, lockenden Hügel unter ihrer dünnen Leinenbluse, auf den Schwung ihrer Hüften, um die sich der lange braune Rock spannte. Als sie aufblickte, kam er sich wie ein ertappter Sünder vor, denn sie hatte noch seinen Blick aufgefangen. »Mich dünkt, Ihr seid ein Mannsbild wie jedes andere«, sagte sie, und es klang leicht tadelnd. »Ritter reiten in blitzender Rüstung, mit Schild und Schwert und Knappen im Gefolge ...« »Nicht immer«, erwiderte Roland lächelnd. »Ich werde Euch unterwegs erzählen, weshalb ich wie ein Krämer gekleidet bin.« Dann wollte er ihr galant auf sein Roß helfen, und dabei geschah es dann. Als er sie hochhob, sank sie ihm gegen die Brust. Fast hatte Ritter Roland das Gefühl, sie werde in seinen Armen ohnmächtig. Sie zitterte wie ein frierendes Vögelchen, obwohl es heiß und schwül an diesem Sommertag war. Er nahm den Duft ihres Haares wahr, spürte ihren geschmeidigen Körper, und ein prickelndes Gefühl stieg in ihm auf. Er wußte nicht, was über ihn kam. Vielleicht wollte er ihr die Angst nehmen, das Zittern. Jedenfalls küßte er diese weichen, schwellenden Lippen. Zunächst wurde sie stocksteif. Doch das Zittern hörte auf. Dann erwiderte sie den Kuß. Heftig atmend bog sie dann den Kopf zurück. »Ein Mannsbild wie jedes andere«, seufzte sie.
Ihr Blick verwirrte ihn. Es lag etwas Wissendes in diesen Augen, etwas Erfahrenes, obwohl sie doch noch recht jung war. »Verzeiht, ich bitte Euch ...« »Oh, Ihr bittet?« In ihren Augen schienen plötzlich Funken zu tanzen. Er vermochte sich keinen Reim auf ihre Worte und ihre Miene zu machen. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß er sie immer noch auf den Armen hielt. Sie war leicht wie eine Feder - wie die Poeten zu übertreiben pflegten. »Ja ... ich wollte nicht...« Ritter Roland ärgerte sich über seine Verlegenheit. Dieser Blick! Er schien bis in die Tiefen seiner Seele zu dringen und seine geheimen Gedanken zu erraten. Ihr Gesäß, das er mit einer Hand untergefaßt hatte, bewegte sich. Dann streckte sie die Beine aus und stellte sich auf den Boden. Sie spielte mit dem obersten Knopf ihrer Bluse. Leise sagte sie: »Ihr seid verschwitzt und staubig vom Ritt. Ihr solltet Euch im Bache baden, bevor wir ... reiten.« Sie errötete von neuem und senkte den Blick. »Ich werde derweil meinen Korb mit Pilzen holen, den ich im Walde zurückließ«, fügte sie hinzu. Und flugs eilte sie mit anmutigem Gang davon. Ritter Roland blickte ihr ein wenig benommen nach. Mit heftig pochendem Herzen fragte er sich, wie sie ihre Worte gemeint hatte. Er glaubte noch, ihre weichen warmen Lippen auf seinem Mund zu spüren. Ihr Blick, ihr Lächeln waren fast einladend gewesen. Oder hatte sie ihn zum Bade aufgefordert, weil er nach Schweiß und Pferd roch und ihr das nicht gefiel, wenn sie mit ihm auf einem Roß saß? Er blickte an sich hinab. Er war in der Tat staubig und verschwitzt. Ein langer Ritt lag hinter ihm. Er hatte ebenso wie die Knappen eine Spur verfolgt - allerdings ohne Erfolg. Nur kurz dachte er daran, daß Louis und Pierre ihn erwarteten. Aber er mußte seinem Roß ohnehin noch eine Pause gönnen. Warum nicht hier? Und ein Bad konnte gewiß nicht schaden.
Gedacht, getan. Er genoß das erfrischende klare Wasser des Baches, als Helga zurückkehrte. Sie trug einen Korb aus geflochtener Weide. Lächelnd blickte sie zu ihm herüber. Roland tauchte schnell etwas tiefer ins Wasser. Noch war er sich nicht ganz im klaren, wie sie ihre Worte gemeint hatte. Noch geziemte es sich nicht, den nackten Ritter zu zeigen. Doch im nächsten Augenblick verloren sich seine Zweifel. »Ich komme gleich zu dir«, rief sie, während sie mit leicht schwingenden Hüften zu Rolands Roß schritt. Ritter Roland frohlockte. Seine Haut kabbelte im kühlen Naß, und sein Puls beschleunigte sich. Der Zufall hat es gut gemeint, dachte er voller Vorfreude. Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne. In der Ferne war ein dumpfes Grollen zu vernehmen. Ein Gewitter zog herauf. Es würde Abkühlung nach der drückenden Schwüle bringen. Ritter Roland lächelte. Dann erstarb sein Lächeln von einem Augenblick zum anderen. Er sah, wie Helga behende auf sein Roß stieg, das tänzelnde Tier mit hartem Zügeldruck parierte und dann zum Galopp trieb. »He, was ...«, begann er. »Bade wohl, du Schmutzfink!« rief Helga. Und lachend galoppierte sie davon. Zurück blieb nur der Korb mit ein paar Pilzen. Und Ritter Roland, der sich in diesem Augenblick reichlich dumm vorkam. Die ersten Regentropfen fielen. * »Das gibt ein Gewitter«, murmelte der Knappe Pierre mit einem Blick zum wolkenverhangenen Himmel. »Wurde auch Zeit nach diesen Hundstagen«, brummte Louis und wischte sich über die schweißnasse Stirn. »Diese Affenhitze ist ja
nicht auszuhalten.« »Die Affen müßten sich darin doch wohlfühlen«, bemerkte Pierre mit einem anzüglichen Grinsen. Louis kratzte sich am schwarzen Bart. »Freut mich, daß es dir gutgeht«, brummte er. »Ich schwitze jedenfalls.« Der Himmel weinte die ersten Regentropfen. »Möchte wissen, wo Roland bleibt«, sagte Pierre. »Ob er unsere Botschaft nicht erhalten hat?« Louis zuckte mit den breiten Schultern. »Vielleicht hat er selbst eine heiße Spur gefunden. Wir können nur warten.« In der Ferne, im Norden, grollte Donner. »Der Regen wird alle Spuren auslöschen«, murmelte Pierre. »Wir wissen immerhin, wo der letzte Transport verschwand«, sagte Louis. »Wenn Roland eintrifft, suchen wir von dort aus weiter.« Pierre erhob sich vom Rand des Brunnens auf dem Marktplatz. »Ich schlage vor, wir nehmen in der Schenke einen zur Brust«, sagte er. »Gute Idee«, brummte Louis. Dann fiel ihm ein, daß er sich mit der drallen blonden Krämerstochter Almuth verabredet hatte. Um drei Uhr bei der Brücke am Bach. Außerhalb des Ortes. Diskret. Auf einen Spaziergang in allen Ehren - so hatte Louis gesagt, doch Almuths Blick und ihr Lächeln hatten ihn mehr erhoffen lassen. Hoffentlich fällt das Stelldichein nicht ins Wasser, dachte Louis mit einem besorgten Blick zum Himmel. »Geh nur schon zur Schenke, Pierre«, sagte Louis. »Ich komme nach.« Und als er Pierres fragenden Blick auffing, fügte er hinzu: »Ich will mich noch ein wenig beim Krämer umhören. Ich vergaß ihn zu fragen, wer von dem Transport wußte, der auf dem Weg hierhin spurlos verschwand.« Der Vorwand klang reichlich dünn, doch Pierre schien es nicht zu bemerken. »Soll ich mitkommen?« fragte Pierre. »Nein, nein«, sagte Louis hastig. »Ich schaff das schon alleine.
Geh nur und nimm dir einen Schoppen Wein zur Brust.« Ich nehme mir derweil etwas anderes zur Brust, dachte er vergnügt. »Du bist sehr pflichtbewußt«, sagte Pierre mit anerkennendem Blick. »Nun ja, man tut, was man kann, lieber Pierre.« Louis grinste. »Und mach dir keine Sorgen, wenn es etwas länger dauert.« »Nimm dir nur Zeit«, sagte Pierre lächelnd. Er schlenderte zur Schenke hinüber. »Und grüß mir Almuth«, rief er über die Schulter, bevor er die Schenke betrat. »Ihr solltet einen Schirm mitnehmen.« Louis blickte verdutzt. »Woher weiß er ...?« murmelte er und kratzte sich am Bart. Er konnte nicht wissen, daß Pierre durch Zufall den Flirt der beiden in der Kammer hinter dem Krämerladen belauscht hatte, als sie bei dem Krämer Erkundigungen über den verschwundenen Warentransport eingeholt hatten. Der Krämer war in seine Wohnung gegangen, um die Liste der bestellten Waren zu holen. Pierre hatte sich müßig im Laden umgesehen und dabei gehört, wie Louis und die Krämerstochter die ersten zarten Bande geknüpft hatten ... Louis zuckte mit den Schultern und ging über die Straße. Er ahnte nicht, daß er Pierre so bald nicht wiedersehen sollte. * Vier Männer hielten sich in »Wöhrles Gasthof« auf. Sie waren schäbig gekleidet und wirkten wie wilde Gesellen. Vermutlich Holzfäller, dachte Pierre. Ihr Gespräch verstummte bei Pierres Eintreten, und sie musterten ihn mit finsteren Blicken. Pierre sah zum Schanktisch. Von Wöhrle, dem Wirt mit dem rosigen Mondgesicht, war nichts zu sehen. Pierre setzte sich an einen der blankgescheuderten Eichentische unter die Galerie der Hirschgeweihe, die die Wand zierten. Zwei Hirschköpfe blickten irgendwie vorwurfsvoll auf Pierre hinab. Den
Eindruck hatte Pierre schon gehabt, als er zusammen mit Louis zum ersten Mal diese kleine gemütliche Schenke besucht hatte. »Na klar blicken die ärgerlich«, hatte Louis lachend gesagt, als Pierre ihm von seinem Eindruck erzählt hatte. »So würdest du auch glotzen, wenn, sie deinen Schädel an die Wand nageln.« Pierre schreckte aus seinen Gedanken und blickte auf. Ein Mann war an seinen Tisch getreten. Nicht der Wirt, sondern einer der Holzfäller. Ein graubärtiger Riese mit rotgeäderter Knollennase und kleinen grünen Augen. »Wo ist der andere?« fragte der Hüne mit rauher Stimme. »Welcher andere ...?« begann Pierre. Dann blieb ihm das Wort im Halse stecken. Der Graubart hielt plötzlich wie durch Zauberei einen Dolch in der Faust. »Quatsch nicht«, zischte er. »Wo ist der Schwarzbart, mit dem du hier herumschnüffelst?« Pierre starrte auf den Dolch, den ihm der Kerl drohend vor die Brust hielt und schluckte. Schlagartig wurde ihm klar, daß der Mann kein Holzfäller war und daß er auf sie gewartet hatte. Schließlich hatten er und Louis in diesem Gasthof eine Kammer genommen, und früher oder später hätten sie sich dort ohnehin blicken lassen müssen. Angst stieg in Pierre auf. Sie hatten vorsichtig Ermittlungen angestellt, doch irgend jemand mußte geplaudert haben. Oder sie hatten gar in Unkenntnis einem Mitglied der Räuberbande Fragen nach den verschwundenen Menschen und Transporten gestellt. Oder die Bande hatte Spitzel im Ort. Oder ... Pierres Gedanken jagten sich. »Ich weiß nicht ...«, begann er. Dann wurde er stocksteif. Der Graubart hielt ihm jetzt den Dolch an die Kehle! Aus den Augenwinkeln heraus sah Pierre, wie sich die anderen drei Kerle grinsend erhoben, und schlagartig erkannte er, daß von ihnen
keine Hilfe zu erwarten war: Es mußten Kumpane des graubärtigen Hünen sein. Grüne, kalte Augen starrten Pierre drohend an. Pierre verspürte ein flaues Gefühl im Magen. Als krabbelten Ameisen darin herum. »Ich frage nicht noch einmal«, zischte der Mann, und die Dolchspitze ritzte Pierres Haut. »Alfons, beeil dich«, sagte einer der anderen. »Der Wirt könnte aufwachen.« »Dann verpaß ihm noch eine!« sagte Alfons gereizt. »Es könnten auch Gäste kommen«, sagte einer der Männer, der sich bei der Tür postiert hatte und hinausspähte. »Am besten nehmen wir ihn mit und kitzeln ihn, bis er ...« Alfons wandte sich ärgerlich dem Mann zu, der ihn zur Eile gemahnt hatte. Unbewußt hatte er dabei die Hand mit dem Dolch herumgeschwenkt, fort von Pierres Kehle. Und in diesem Moment handelte Pierre mit dem Mute der Verzweiflung. Er konnte sich vorstellen, was der Kerl mit »Kitzeln« meinte. Und er war kitzlig. Deshalb setzte er alles auf eine Karte. Er ließ sich mitsamt dem Stuhl hintenüber fallen und riß dabei die Stiefelspitze hoch. Er traf Alfons am Handgelenk. Brüllend ließ der Kerl den Dolch fallen. Pierre prallte zu Boden, rollte sich herum und sprang auf. Der Knappe wollte weg, nichts wie weg. Doch da schnellte Alfons schon auf ihn zu. Im Hechtsprung wollte er sich auf Pierre werfen. Der Knappe wich gedankenschnell aus. Alfons konnte seinen Schwung nicht mehr abfangen. Er konnte nur noch schützend die Arme vor den Kopf reißen, dann krachte er auch schon auf die Dielen der Schenke. Er schrammte ein Stück über den Boden und schlug gegen ein Tischbein. Benommen blieb er liegen und überlegte wohl, wie er dort hingekommen war. Pierre blieb keine Zeit zum Aufatmen. Er konnte weder flüchten,
noch sein Messer ziehen. Denn indessen waren die anderen drei Kerle heran. Einer hatte einen Stuhl hochgerissen und schwang ihn jetzt wie eine Keule. Instinktiv riß Pierre noch seinen Kopf zur Seite. Doch ganz schaffte er es nicht mehr. Ein Stuhlbein streifte ihn an der Wange und brach ab. Pierre schwankte und war sekundenlang vor Schmerzen wie betäubt. Ein Fußtritt schleuderte ihn zu Boden. Pierre riß in seiner Verzweiflung das Messer aus der Lederscheide am Gürtel. Ein Stiefel traf ihn am Arm. Das Messer entglitt ihm. Einer der Angreifer riß es an sich. Wie durch einen blutigen Schleier nahm Pierre das verzerrte Gesicht des Kerls über sich wahr. Er sah, wie der Mann mit dem Messer ausholte. »Nein!« Er wußte nicht, daß er es in Todesangst schrie. Die Messerklinge stieß auf ihn zu. Aus! durchfuhr es den Knappen. Dann schienen Blitz und Donner seinen Schädel zu sprengen, und Messer und Mann verschwammen vor seinen Augen und gingen in tiefe Finsternis über. * »Haaar, ihr vierbeinigen Schnecken! Schneller, ihr lahmen Mistviecher! Schneller, sonst geraten wir mitten in das Gewitter!« Paul Ockenfels trieb das Gespann mit der Peitsche an. Paul ließ seinen Blick durch das grüne Tal gleiten. Der Fahrweg führte am Ufer des plätschernden Baches entlang und wand sich durch einen Kiefernwald. Es war ein idyllischer Anblick, doch Paul hatte keinen Blick für die Schönheiten der Natur. Besorgt schaute er zurück. Dunkle Wolken zogen heran. In der Ferne grollte Donner. Wind war aufgekommen. Paul bezweifelte, es bis Peterzell zu schaffen, bevor das Unwetter losbrach.
Die Gespannpferde streckten sich. Die Kutsche schlingerte über den ausgefahrenen Weg. Ein Reh brach voraus aus seiner Waldschneise, äugte zu dem herandonnernden Etwas hin und sprang flugs in die Sicherheit des Waldes zurück. Paul ließ von neuem die Peitsche knallen. Die Passagiere werden ganz schön durchgerüttelt, dachte er, und sein faltiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Dann sah er die Passagiere vor seinem geistigen Auge, und sein Grinsen wurde noch breiter. In der Kutsche saßen drei Damen. Und was für welche. Nun, der Begriff »Dame« paßte nicht so ganz genau. Sagen wir eher Weiber! dachte Paul schmunzelnd. Eine Hellblonde, eine Schwarze und eine Rothaarige - wenn man nur mal nach der Haarfarbe ging. Eine war groß und schlank, eine klein und mollig und eine war besonders vollbusig - das war die Blonde. Sie alle trugen Nonnenkleidung, doch Paul wußte, daß sie keine Nonnen waren. Schließlich hatte er sie abgeholt, und das Haus, in dem sie lebten, war gewiß kein Kloster. Und auch ihre Herrin, die sie als »Mutter« bezeichneten, war alles andere als eine Schwester Oberin. Sie hatten die Verkleidung aus Sicherheitsgründen gewählt. In letzter Zeit war es gefährlich, im Schwarzwald zu reisen. Kutschen verschwanden spurlos mitsamt den Passagieren. Wagen verschwanden mit Fahrern und Fracht als hätte sie der Erdboden verschlungen. Manch abergläubische Seele dachte an bösen Zauber und Übernatürliches. Andere Leute vermuteten, daß eine Räuberbande ihr Unwesen trieb. Doch auch sie konnten sich nicht erklären, weshalb die Menschen spurlos verschwanden. Niemals hatte es irgendeine Lösegeldforderung gegeben. Arm und Reich, Jung und Alt waren verschwunden, überwiegend Männer, doch in letzter Zeit auch einige Frauen. Die Angst ging um im Schwarzwald. Deshalb hatten sich die drei Damen als Nonnen verkleidet. Selbst
die hartgesottensten Räuber würden eine Dienerin des Herrgotts verschonen - oder? Die Blonde gefiel Paul am besten. Vielleicht lag das auch daran, daß sie ihm bei der Abfahrt einen Zusatzlohn versprochen hatte. Und das war ein gar nicht nonnenhafter Vorschlag: Er durfte eine Nacht lang ihr Gast sein ... Paul dachte an die üppige Blondine in der Nonnentracht Roswitha hieß sie - und freute sich auf das Ende der Fahrt. Dann traf ihn der Pfeil, und er freute sich nicht mehr. Der Pfeil ratschte ihm nur über die Schulter, riß eine blutige Furche und knallte hinter ihm in den Sitz. Doch Pauls Schreck war groß, und als er die finsteren Gestalten zwischen den Bäumen am Wegesrand hervorspringen sah, erkannte er jäh, daß aus der Nacht mit Roswitha wohl nichts mehr werden würde. Er sah, wie einer der Kerle, die vielleicht fünfzig Klafter voraus aufgetaucht waren, von neuem einen Pfeil auf die Sehne legte und den Bogen spannte. Außerdem funkelten Schwerter im Schein der grellen, stechenden Sonne, die für einen Augenblick zwischen düsteren Gewitterwolken hervorbrach, als wollte sie einen schnellen Blick auf das erhaschen, was sich dort auf Erden tat. Paul beeilte sich, das erschreckte Gespann zu zügeln. »Gnade!« rief er. Und noch flehender: »Gnade!« Mit einem Ruck hielt die Kutsche. Paul drehte die Bremse fest und reckte die Arme in die Höhe. »Gnade!« flehte er von neuem. »Ich bin nur ein armer Fuhrmann mit Weib und Kindern und fahre drei Nonnen zum Kloster.« Im Nu war die Kutsche von wilden Gesellen umringt. Einer von ihnen, ein hagerer Bursche mit einem wuchernden braunen Vollbart und einer auffällig spitzen, leicht gekrümmten Nase, lachte schrill und rief: »Nonnen, äh?« Paul nickte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß die Kerle auf die Verkleidung hereinfielen und sie verschonten. »Na, dann steigt mal aus, ihr scharfen Nönnchen, auf daß wir euch
begutachten können!« Wieder lachte der Mann schrill. Trotz der Schwüle vor dem nahenden Gewitter überlief es Paul kalt. Das hatte ja gerade geklungen, als wüßte der Haderlump bereits Bescheid! Paul wandte den Kopf und schaute bangen Herzens zu, wie die drei vermeintlichen Nonnen aus der Kutsche stiegen, nachdem der Räuber den Schlag geöffnet und sie zum Aussteigen aufgefordert hatte. Roswitha kletterte als erste aus der Kutsche. Die schwarze Nonnentracht verbarg zwar ihre Formen, doch es war nicht zu übersehen, daß sie von üppiger Gestalt war. Ihr Busen hob und senkte sich unter aufgeregten Atemzügen. Auf ihren Wangen waren hektische rote Flecke. Zornig blickte sie die Räuber an. Sie ignorierte die Blicke der Männer, die sie grinsend anstarrten. »Der Herr sei mit euch«, sagte sie. »Auch wenn ihr verirrte Kinder Gottes seid, so werden wir für euch beten.« Die Kerle lachten. Roswitha schluckte. »Wir sind arme Schwestern des Herrn ...« Der Bandit mit dem braunen Bart lachte wieder, so gräßlich und schrill, daß Roswitha und ihre beiden Gefährtinnen zusammenzuckten. »He, Schwester, so ärmlich siehst du mir nicht aus. Eher mächtig reich, wenn ich mir das so ansehe.« Und dann tat er etwas, das bis auf ihn alle auf dem Waldweg überraschte. Seine Hand schoß vor, krallte sich in den schwarzen Stoff, und bevor Roswitha zu einer Regung fähig war, riß der Räuber den Stoff vom Kragen bis zum Bauchnabel herunter. Grinsend starrte er auf Roswithas entblößten Oberkörper. Einer der Räuber, ein noch recht junger Bursche mit hungrigem Blick, rief: »He, Paul, sollen wir gleich mal eine kleine Kostprobe...« »Halt's Maul, du Nonnenschänder. Alles zu seiner Zeit.« Er stieß wieder sein seltsam schrilles Lachen aus.
Da habe ich aber einen verdammten Namensvetter, dachte Paul Ockenfels, der Kutscher. Roswitha raffte die zerfetzte Nonnentracht zusammen, um ihren Busen zu bedecken. Sie blickte hilfesuchend und voller Angst zu Paul Ockenfels. Paul zuckte mit den Schultern. Er konnte nichts tun. In ohnmächtiger Wut ballte er die Hände. »Ihr lustigen Nönnchen könnt wieder einsteigen«, sagte der Räuber Paul, nachdem er alle drei der Reihe nach gemustert hatte. Wie ein Viehhändler Kühe auf einem Markt ansieht, dachte Paul Ockenfels angewidert. Sein übler Namensvetter drängte Roswitha und ihre Freundinnen in die Kutsche zurück. Roswitha schrie auf, als er sie hart am Arm packte. Der Räuber lachte nur. »So zimperlich warst du doch nicht in dem Kloster, in dem du bis jetzt gearbeitet hast«, sagte er spöttisch. »Falls du mich nicht mehr wiedererkennst, ich hab' mal vor Monaten bei dir gebetet. Hat mich meine ganze Barschaft gekostet. Und als ich von deiner Reise erfuhr, dachte ich mir, daß mir für damals noch eine Entschädigung zusteht.« Er stieg hinter Roswitha in die Kutsche. Sie wissen also Bescheid! dachte Paul Ockenfels. Ein anderer Räuber kletterte zu ihm auf den Kutschbock. Er drückte Paul sein Schwert in die Seite. Paul schrie schmerzerfüllt auf. »Nun wein mal nicht, du Nonnenfahrer«, sagte der Kerl grinsend. »Fahr zu!« »Aber - wohin?« fragte Paul benommen. »In die Hölle, mein Freundchen. In die Hölle! Aber erst mal geradeaus. Ich sag dir dann schon, wo's langgeht.« In diesem Augenblick schrie Roswitha gellend in der Kutsche. Das schrille Lachen des Räubers folgte. Und Paul Ockenfels lief ein Schauer über die Wirbelsäule. Voller Angst löste er die Bremse und trieb das Gespann mit den
Zügelenden an. Die ersten Regentropfen fielen. * Louis hielt derweil Almuth in den Armen. Sie war ein heißblütiges Frauenzimmerchen, voller Lebenslust und origineller Einfälle. Es war ihr Vorschlag gewesen, auf den Hochsitz am Rande der Waldlichtung zu steigen, um Schutz vor dem Gewitter zu haben. Nur zu gerne war Louis auf die Anregung eingegangen. Es hatte ihn von Anfang an nicht sonderlich interessiert, mit Almuth nur spazierenzugehen, und schon gar nicht im strömenden Regen. Auf dem Hochsitz war es recht eng, doch sie brauchten nicht viel Platz. Der Wind peitschte Regentropfen hinein, und Almuth drängte sich dicht an den großen Knappen, um nicht vom Regen naß zu werden. Sie war eine dralle Zwanzigjährige, hellblond und blauäugig und langbeinig. Letzteres sah Louis, als er ihr aus dem Rock half höflich, wie es sich für einen galanten Kavalier geziemt. »Damit er nicht zerknittert und schmutzig auf dem Hochsitz wird«, wie Almuth nach Louis' ersten Küssen gesagt hatte. Nun, Almuth war eine recht offene Maid, und sie zierte sich nicht lange. »Du hast mir gleich gefallen, als du in den Laden kamst«, seufzte sie in Louis Armen, und ihr Blick wurde ob Louis' Zärtlichkeiten ein wenig verschleiert. »Du hast so etwas Wildes ... Abenteuerliches ... Fast wie ein Räuber«, sagte Almuth. Darauf erwiderte Louis nichts. Sie brauchte nicht zu wissen, daß er in der Tat sogar ein Räuberhauptmann gewesen war, bevor er Ritter Rolands Knappe geworden war. Louis lenkte sie mit gekonntem Liebesspiel von diesem Thema ab, und die Wonnen, die er Almuth bereitete, brachten ihr heißes Blut so in Wallung, daß sie sich und alles andere vergaß.
Diese Almuth war voller Feuer. Doch bevor Louis es löschen konnte, brach der Hochsitz zusammen. Almuths Ekstase war wohl zuviel für ihn gewesen. Ein Bersten und Krachen als hätte der Blitz eingeschlagen - und pardautz knallte das wackelige Ding zu Boden. Das trübte ein wenig die lustvolle Stimmung. Zwischen den Trümmern des Hochsitzes fanden sich Louis und Almuth immer noch in tiefer Umarmung im nassen Grase wieder. Es war alles so schnell gegangen und sie waren so heftig miteinander beschäftigt gewesen, daß sie wie von einer rosaroten Wolke zur Erde gestürzt waren. Nun, es gab keine rosarote, sondern nur dunkel dräuende Wolken am finsteren Himmel, und der Regen prasselte auf ihre nackte Haut. »Oh Gott«, seufzte Almuth auf Louis' Schoß und barg die Wange an seinem Bart. »Hab' ich mich erschrocken!« Ein Blitz zuckte über den Himmel. »Hast du dir wehgetan?« fragte Louis besorgt. Almuth lachte leise. »Nein, ich bin ja weich gefallen, aber es war halt doch ein mächtiger Stoß, als wir zu Boden plumpsten.« Louis grinste leicht säuerlich und rieb sich über den Hintern, mit dem er im nassen Gras gelandet war. »Und du?« fragte Almuth und musterte ihn voller Zärtlichkeit. »Es geht«, sagte er und küßte sie. »Dieser verdammte Hochsitz! Komm, laß uns in den Wald gehen. Hier im Regen holen wir uns noch einen Hexenschuß.« Er packte sie an den Po-Backen und hob sie von seinem Schoß. Sie klaubten ihre Kleidungsstücke zwischen den Trümmern des Hochsitzes hervor. Almuths Rock war nun doch schmutzig geworden, und ihre Bluse war sogar eingerissen. Auch Louis Hose sah nicht zum Besten aus. Als sie dann unter einer mächtigen Fichte im Moos lagen, waren sie klatschnaß vom Regen. Doch bald verdampften die Regentropfen auf ihren Körpern unter der Glut ihrer Leidenschaft. Ein Eber, der sich nur ein paar Dutzend Klafter entfernt unter eine
andere Fichte gestellt hatte, um Schutz vor dem Regen zu haben, spähte neugierig zu den Zweibeinern hinüber. Sein Herz begann zu hämmern, und er grunzte erregt bei diesem Anblick. Vortreffliche Position! dachte er. Und flugs lief er durch den Wald davon - heim zu seiner Sau. Louis und Almuth hörten es nicht einmal. Sie hörten weder den Gewitterdonner, noch das Rauschen des Regens. Irgendwann hörte Louis dann doch etwas. Zunächst einmal Almuths von Wonne erfüllte Stimme: »Oh ... mein Louis ... oh ...« Und dann war da noch etwas anderes zu vernehmen. Ein Trommeln, das nichts mit dem Gewitterdonner zu tun hatte. Louis verharrte. »Louis«, seufzte Almuth und umklammerte ihn fester. »Bitte ...« Dann erkannte Louis das Geräusch. Hufschlag von Norden. Er spähte über die Lichtung. Da sah er den Reiter. Nein, es war eine Reiterin, wie er an den fliegenden langen Haaren erkannte. Tief über den Pferdehals gebeugt jagte die Reiterin in gestrecktem Galopp über die Lichtung, vom Regen gepeitscht. Das Pferd flog förmlich über einen niedrigen Busch hinweg. Die Reiterin hatte ihm kein Kommando gegeben. Der Sprung überraschte sie offensichtlich. Sie ruckte hoch, schwankte leicht im Sattel und fing sich wieder. Louis sah, daß ihre völlig durchnäßte dünne Bluse wie durchsichtig auf ihrem Busen klebte. Doch nicht dieser Anblick ließ ihm den Atem stocken. Das Pferd! Es gab keinen Zweifel: Es war Ritter Rolands prächtiges Roß! Die Reiterin preschte nur ein Dutzend Klafter entfernt an ihnen vorbei und hielt auf den Waldweg zu, der zum nahen Ort führte. »Louis, was ist...?« Verlangend preßte sich Almuth gegen ihn. Er löste sich mit sanfter Gewalt von ihr und sprang auf. »Halt!»brüllte Louis und hetzte auf die Lichtung. Erschrocken
setzte sich Almuth auf. Sie hatte den Hufschlag zuvor gar nicht wahrgenommen. Jetzt sah sie die Reiterin und blickte verwundert zu Louis, der ihr nachschrie und heftig gestikulierte. Die Reiterin warf einen Blick zurück, zuckte zusammen, warf den Kopf wieder herum und trieb Ritter Rolands Roß heftig an. Im Grunde war ihre Reaktion verständlich. Welche anständige Reiterin würde schon anhalten, wenn ein bärtiger nackter und nasser Mann in einsamem Wald sie brüllend und wie der Leibhaftige gestikulierend dazu auffordert? Allerdings kann sie nicht ganz so anständig sein, wenn sie ein Pferd reitet, das ihr nicht gehört, dachte Louis und knurrte seinen wildesten Fluch. Zum Glück hörte Almuth es nicht, weil es just donnerte und irgendwo der Blitz einschlug. Der Hufschlag verklang im Rauschen des Regens. Louis kehrte zu Almuth zurück. »Hast du mit mir nicht genug?« sagte sie schmollend. Er blickte auf sie hinab. Sein Zorn verrauchte schnell. »Doch«, versicherte er ihr. »Dann komm«, sagte sie mit einem verliebten, lockenden Lächeln und breitete die Arme aus, um ihn zu empfangen. Louis kämpfte mit sich. Ritter Roland hätte längst eintreffen müssen. Doch jemand anders ritt sein Roß. Was war da passiert? Sein Gefühl sagte ihm, daß irgend etwas geschehen sein mußte. Die Reiterin war völlig durchnäßt. Vielleicht rastete sie im Ort. Wenn er sich beeilte, konnte er sie vielleicht noch erwischen und ihr ein paar harte Fragen stellen ... »Es - es geht jetzt nicht«, sagte Louis mit belegter Stimme. Almuths Lächeln erlosch. Ihr Blick glitt prüfend an seinem Körper hinunter. »Wieso nicht?« fragte sie erstaunt. In ihren Augen blitzte es auf, oder vielleicht war das auch nur der Widerschein eines wahren Blitzes, der am Himmel aufzuckte. »Wer war diese Reiterin?« fragte sie mißtrauisch. »Was hast du mit ihr?« Sie schluchzte auf. Louis nahm Almuth in die Arme. »Ich habe ein Hühnchen mit ihr zu rupfen«, sagte er. Und dann erklärte er ihr kurz, weshalb er sich
beeilen mußte. Das besänftigte sie. Sie war zwar ein bißchen enttäuscht, weil er sie verlassen wollte, doch er versprach ihr, sie in der Nacht, wenn alle sonst im Haus des Krämers schliefen, in ihrer Kammer zu besuchen. Da leuchteten ihre schönen Augen wieder, und sie lächelte voller Vorfreude. Sie ahnte nicht, daß sie eine schlaflose einsame Nacht verbringen würde, weil Louis sein Versprechen nicht halten konnte... * Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein! dachte Thomas Himperich verzweifelt. Seit vier Tagen suchte er seine Tochter Edeltraut. Sie war mit drei Begleitern auf dem Weg nach Peterzell gewesen, wo er sie bei Verwandten erwartet hatte. Der Kommandant der Stadtgarde zu Freiburg hatte seine dienstfreien Tage wie fast jedes Jahr in Peterzell verbringen wollen. Dort war er geboren, dort lebten seine Verwandten. Voller Freude hatte er auf seine einzige Tochter gewartet. Sie war nicht gekommen. Nach zwei Tagen des Wartens hatte Thomas Himperich es nicht mehr in Peterzell gehalten. Voller Sorge war er nach Freudenstadt geritten, wo seine Tochter im Hause eines Arztehepaares arbeitete. Dort hatte er erfahren, daß Edeltraut wie abgesprochen von den drei jungen Freunden abgeholt worden war, und daß sie pünktlich von dort losgeritten waren. Thomas Himperich ahnte Schlimmes. Voller Sorge ritt er über den Weg nach Peterzell zurück. Einer der Begleiter war Himperichs Neffe, und auch die beiden anderen kannte er gut genug, um ihnen zu vertrauen. Dennoch machte sich der Kommandant der Stadtgarde jetzt Vorwürfe, daß er seine Tochter nicht selbst abgeholt hatte. In diesen Zeiten war es
gefährlich, im Schwarzwald zu reisen. Aber er hatte erst verspätet in die Sommerfrische fahren können. Zweimal hatte er den Termin verschieben müssen. Der stellvertretende Kommandant, Briegel, war erkrankt Lungenentzündung - und dann auch noch der Stellvertreter des Stellvertreters - er war beim Apfelpflücken vom Baum gefallen und hatte sich ein Bein gebrochen, diese Pfeife! So war Thomas Himperich im Amt geblieben. Er war ein pflichtbewußter Mann ... Bei einem Köhler, etwa zwanzig Meilen nördlich von Peterzell, erfuhr Thomas Himperich, daß seine Tochter und ihre Begleiter dort die Pferde getränkt und gerastet hatten. Irgendwo auf den letzten zwanzig Meilen bis Peterzell mußten sie verschwunden sein. Voller Sorge ritt Thomas zurück gen Peterzell. Etwa acht Meilen von dem Ort entfernt fand er dann die Brosche seiner Tochter. Es war Zufall, daß er sie entdeckte. Sie lag am Rande des Weges, halb vom Sand verdeckt, und er hätte sie gewiß übersehen wie alle anderen Leute bisher, die des Weges gekommen waren, wenn er nicht ausgerechnet ein paar Schritte entfernt zu einer Rast angehalten hätte, um ein Schmalzbrot zu essen und kalten Pfefferminztee aus der Flasche zu trinken. Sofort vergaß er sein Schmalzbrot. Kein Zweifel, das war die Brosche seiner Tochter. Eine feine Arbeit. Ein güldenes Herz mit einer Rose darüber. Die kunstvolle Arbeit eines Goldschmiedes. Er hatte sie ihr zum 20. Geburtstag geschenkt. Edeltraut war nach dem Tode ihrer Mutter für Thomas Himperich ein und alles. Er schaute sich genauer um. Dann entdeckte er die Spuren, die vom Weg fort in ein Waldstück hineinführten. Sieben oder acht Reiter waren dort vom Weg abgebogen, genau war das nicht zu erkennen. Ihre Rösser hatten tiefe Hufabdrücke im weichen Boden hinterlassen. Thomas wurde immer unruhiger. Er wußte, daß in den letzten Wochen einige Reisende spurlos verschwunden und Warentransporte nie an ihrem Ziel eingetroffen waren. Edeltrauts Brosche und die Fährte der Reiter!
Es wurde Thomas heiß und kalt zugleich. Er spürte, daß er einem Geheimnis auf der Spur war. Er folgte der Fährte. Sie führte über einen Waldweg, dann aus dem Waldstück hinaus und durch eine tiefe Schlucht, in der ein Wildbach rauschte. Bei einer Weggabelung fand er dann einen Schuh von Edeltraut. Allmächtiger! dachte er. Was ist mit meinem Kind passiert? Einen Augenblick lang zögerte er. Er mußte sich zwingen, den Ritt fortzusetzen. Er befürchtete, am Ende der Fährte etwas Grauenvolles zu finden. Edeltraut war ein schönes Mädchen. Wenn sie Räubern in die Hände gefallen war ... Er wagte kaum, den Gedanken fortzusetzen. Nach einer halben Stunde verloren sich die Spuren. Er war so mit seinen quälenden Gedanken beschäftig gewesen, daß er gar nicht bemerkt hatte, wann die Fährte aufgehört hatte. Er überlegte, ob er zurückreiten sollte. Möglicherweise waren die Reiter irgendwo abgebogen. Dann sah er auf einem Busch etwas Rosafarbenes. Er ritt hin. Es war Edeltrauts Seidentüchlein. Ihre Initialen waren aufgestickt. Es gab keinen Zweifel mehr für Thomas: Edeltraut war in der Gewalt dieser Reiter, und sie hatte Brosche, Schuh und Seidentuch nicht verloren. Sie hatte damit den Weg markieren wollen, den ihre Entführer eingeschlagen hatten. Ungeduld und Sorge trieben Thomas weiter. Schon lange war er bis auf die Haut vom Gewitterregen durchnäßt. Es kümmerte ihn nicht. Er gönnte sich keine Pause. Der Regen würde die Spuren auslöschen, und dann war alles aus. Dann konnte er Edeltraut niemals wiederfinden - oder ihre Leiche... Er erschauerte bei diesem Gedanken. Er fand wieder Spuren, doch bald waren sie zu Ende. Sie hörten in einem Gestrüpp zwischen mächtigen Felsen auf. Thomas zügelte das erschöpfte Roß und saß ab. Er untersuchte den Boden. Er umrundete das Gestrüpp, sein Blick tastete über den
Felsen und suchte nach einer Fortsetzung der Fährte. Doch er konnte keine finden. Es war, als wären die Reiter davongeflogen. Unfug! dachte Thomas. Er war ein, in langen Jahren Dienstzeit als Kommandant der Stadtgarde, erfahrener Mann. Er glaubte nicht an Hexerei. Des Rätsels Lösung mußte irgendwo zwischen diesen Felsen liegen, irgendeine versteckte Spalte, der verborgene Zugang zu einer Schlucht oder einem Tal. Dann entdeckte er einen abgeknickten Zweig im wuchernden Gestrüpp. Der Zweig war noch nicht lange geknickt. Der Knick war noch grün. Sein Blick tastete den Boden ab. Dann entdeckte er einen Fußabdruck. Regenwasser sammelte sich darin, doch der Abdruck war deutlich zu erkennen. Er wischte sich unbewußt eine triefendnasse Haarsträhne aus der Stirn. Erregung erfaßte ihn. Zugleich warnte ihn eine innere Stimme. Er lauschte und blickte angespannt in die Runde. Er glaubte im Rauschen des Regens einen Kuckucksschrei vernommen zu haben, doch er war sich nicht ganz sicher. Sein Roß schnaubte und schüttelte den Kopf, als wollte es sich darüber beschweren, daß er es im Regen, stehenließ. Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte alles in grelles, gespenstisches Licht. Donner hallte zwischen den Bergen wider. Thomas zögerte. Unbewußt griff er in die Hosentasche, und seine Hand schloß sich um das Taschenmesser. Für einen Augenblick bedauerte er, daß er sein Schwert bei den Verwandten in Peterzell gelassen hatte. Aus Sorge um seine Tochter war er übereilt aufgebrochen. Er hatte nicht mal bedacht, daß der Ritt durch die Einsamkeit der Wälder auch für ihn, einen einzelnen Reiter, gefährlich sein konnte. Dann schalt er sich einen Narren. Wenn seine Tochter von einer Räuberbande entführt worden war, dann hatte er allein auch mit noch so vielen Schwertern keine Chance
gegen die Übermacht. Er mußte Hilfe holen. Das Versteck der Bande finden, die Kerle beobachten und dann Verstärkung holen. Vielleicht gab es im Schutz der Dunkelheit sogar eine Möglichkeit, Edeltraut heimlich zu befreien. Wenn sie noch lebte ... Von neuem schluckte er hart. Dann gab er sich einen Ruck und bahnte sich entschlossen einen Weg durch das nasse Gestrüpp. Er kam genau fünf Schritte weit. Er nahm noch ein schemenhafte Bewegung zu seiner Rechten wahr und zuckte herum, dann traf ihn das Schwert in die Brust. Thomas Himperich taumelte zurück und war schon tot, bevor er zu Boden stürzte. Die Wasserlache unter ihm färbte sich mit seinem Blut... Der Mörder schritt heran. Ein großer, breitschultriger Mann in einem ledernen Umhang und einem schwarzen Schlapphut, von dem der Regen tropfte. »Der ist hin, Franz«, rief er. Eine zweite Gestalt tauchte hinter ihm auf. Der Mörder zog das Schwert aus der Brust des Toten und wischte die blutige Klinge an der nassen Hose der Leiche ab. »W-wwer ist dddas, Heinrich?« stammelte Franz. Er stotterte, wenn er aufgeregt war. Er sah auf die gebrochenen Augen des Mannes, die weit aufgerissen waren und blicklos in den Regen starrten. »W-wweiß iich doch nicht«, äffte Heinrich ihm nach. Franz machte sich nichts daraus. Er war es gewohnt, von den Kumpanen verspottet zu werden. Von diesen üblen Kerlen war kein Verständnis und Mitgefühl zu erwarten. »Sieh dich mal in der Nähe um«, sagte Franz im Kommandoton und untersuchte die Taschen des Toten. »Du meinst, es kö-könnten noch mehr in der Näh-Näh- ... Gegend sein?« fragte Franz verdattert. »Papperlapapp. Wir haben doch nur einen Reiter gesehen. Hol sein Roß.«
Franz nickte eifrig und eilte davon. Nach fünf Minuten kehrte er zurück. »Kein Gaul zu finden«, meldete er und wischte sich Regen aus dem Gesicht. »Muß weggelaufen sein.« Heinrich zuckte nur mit den Schultern. Das Roß des Toten interessierte ihn herzlich wenig. Sie hatten genügend Pferde in letzter Zeit erbeutet. Er hatte Franz nur weggeschickt, um in Ruhe die Leiche fleddern zu können. Er teilte nicht gern mit Kumpanen ... * Louis betrat den Stall neben der Schmiede. Wenn die Reiterin in Peterzell eine Rast einlegte, ließ sie das Pferd vielleicht im Stall versorgen. Eine Lampe verbreitete schwaches Licht. Die Kerze in dem verrußten Glas war fast heruntergebrannt und flackerte. Ein Pferd wieherte, als ein Blitz den Stall für einen Sekundenbruchteil in Licht tauchte. Louis hielt vergebens nach dem Stallburschen Ausschau, der sonst hier seinen Dienst versah. Er nahm die Lampe vom Haken am Pfosten und leuchtete damit in die Boxen. Er sah Pierres Roß und dann sein eigenes. Sie hatten die Pferde bei ihrer Ankunft der Obhut des Stallburschen übergeben. Drei andere Tiere standen in den Boxen, doch Louis hielt vergebens nach Ritter Rolands prächtigem und unverkennbaren Roß Ausschau. Er wandte sich ab. Am besten fragte er Pierre, ob er die Reiterin gesehen hatte. In diesem Moment ging das Stalltor auf. Vier Männer betraten den Stall. Louis sah an der Spitze der vier den fuchsgesichtigen Stallburschen. »Da ist er ja«, sagte der Stallbursche und bliebt abrupt stehen. Er wirkte erschrocken. Einer der anderen schob ihn zur Seite. Louis blickte verwundert.
»Sucht ihr mich?« Er musterte die Männer kurz. Finstere Gestalten. Einer von ihnen, ein Graubart, trat näher. »Grüß Gott«, sagte er höflich. »Wir sollen Euch Grüße von Eurem Freund bestellen.« Louis entspannte sich. »Pierre ...?« Dann verstummte er. Denn der Graubart zog blitzschnell einen Dolch hervor. Sein Bartgestrüpp klaffte auf, und er zeigte grinsend eine Zahnlücke und einen braunen Zahnstummel. Doch Louis sah es nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er in Gefahr war, und in seiner Zeit als Räuberhauptmann hatte er so einiges gelernt, was ihm auch später als Knappe zugute gekommen war. Er war fast so schnell wie der Blitz, der gerade am Himmel aufzuckte. Fast ansatzlos warf er dem Graubart die Lampe ins grinsende Gesicht. Die Lampe traf den Kerl an der Nase. Glas klirrte, ein Schrei ertönte, und zugleich hallte Donner durch das Prasseln des Regens auf dem Stalldach. Der Graubart, der sich wieder einmal überschätzt hatte, taumelte zurück, Blut schoß aus seiner Nase. Die Reste der Lampe waren zu Boden gefallen, die Kerze drohte zu erlöschen, doch dann fand die Flamme Nahrung im Streu und züngelte auf. Louis war mit einem Satz bei dem Graubart, packte das Handgelenk des immer noch überraschten Mannes und verdrehte es. Zum zweiten Mal jaulte der Kerl auf und ließ den Dolch fallen. Und bevor er wußte, wie ihm geschah, packte Louis ihn am Kragen und schleuderte ihn gegen seine Kumpane, die angreifen wollten. Der Graubart prallte gegen einen Mann und riß ihn mit sich zu Boden. Der andere wich geschickt aus. Louis sah noch, wie der Kerl ein Messer aus der Lederscheide am Gürtel riß. Dann hatte der Stallbursche das Feuer ausgetreten, und es war völlig dunkel im Stall. Louis schnellte sich zur Seite.
Gerade noch in letzter Sekunde. Er hörte etwas zischen und vernahm dann einen dumpfen Einschlag. Der Kerl hatte sein Messer geworfen. Ein Blitz erhellte den Stall, und Louis sah huschende Gestalten. Das Dumme war, daß sie ihn ebenfalls sahen. Louis wich einem heranstürmenden Schatten aus und packte zu. Er erwischte den Kerl, riß ihn hoch und schleuderte ihn aus der Drehung heraus von sich. Etwas klirrte, und Louis erkannte, daß er den Mann aus dem Fenster geworfen hatte. Pferde wieherten erschreckt und stampften mit den Hufen. Mit einem Schrei sprang Louis auf die nächste Gestalt zu, die er nur schemenhaft im Dunkel ausmachen konnte. Wilder Zorn erfüllte den Knappen. Wer immer diese Haderlumpen auch sein mochten und was auch immer sie vorgehabt hatten, sie sollten sich verrechnet haben! Der Mann vor ihm bewegte sich, und dann traf etwas Hartes des Knappen Schulter. Ein Besen, über den der Kerl gestolpert war und den er flugs hochgerissen hatte. Doch das sah Louis erst, als wieder das Licht eines Blitzes den Stall kurz erhellte. Louis strauchelte. Seine Stiefel waren naß und schlammig nach seinem Ausflug mit Almuth. Er rutschte aus. Sofort war einer der Kerle über ihm. Hände krallten sich um des Knappen Hals. Er packte die Handgelenke und befreite sich mit einem heftigen Ruck aus der Umklammerung. Der andere schlug mit dem Besen auf ihn ein. Kurz dachte Louis mit Groll daran, daß er ebenso wie Pierre das Schwertgehenk im Gasthof gelassen hatte. Mit seinem Schwert hätte er den Kampf schnell beendet. Doch sie hatten sich als die Burschen eines Händlers ausgegeben, um ohne Aufsehen ermitteln zu können. Fremde mit Schwertern fielen in einem kleinen Ort auf. Auch Roland würde nicht in Kettenhemd, mit Schild und Schwert kommen, sondern sich als Händler ausgeben, auf den sie warteten. Es galt das Verschwinden der Menschen und Transporte aufzuklären und die Nachforschungen unauffällig zu betreiben, auf daß der oder die
Missetäter nicht gewarnt wurden. Doch man hatte offenbar den Braten gerochen. Louis warf den Mann von sich, der ihn von neuem umklammern wollte. Wieder streifte ihn ein Besenhieb. Louis sprang auf. Er dachte keine Sekunde lang an Flucht. Zornig wollte er sich den Kerl schnappen und ihm den Besen um die Ohren schlagen. Doch dazu kam es nicht mehr. Etwas Spitzes bohrte sich schmerzhaft zwischen seine Schulterblätter, und ein scharfe Stimme zischte ihm in den Nacken: »Wenn du auch nur laut atmest, hast du das Messer im Kreuz, du Hundsfott!« * Zum Teufel mit Helga! Das hatte Ritter Roland oft genug auf seinem langen Fußmarsch gedacht. Das Gewitter hatte ihn überrascht. Bevor er sich irgendwo hätte unterstellen können, war er bis auf die Haut durchnäßt gewesen. Da hatte er darauf verzichtet, irgendwo das Ende des Gewitters abzuwarten. Seit zwei Stunden marschierte er klatschnaß gen Peterzell, und er war von wildem Grimm erfüllt. Oh, wie sie ihn hereingelegt hatte! Ihn, den berühmten Ritter mit dem Löwenherzen. Eine kleine Pilzsammlerin. Es nagte an seinem Stolz, daß er auf ihren simplen Trick hereingefallen war. »Wenn ich dieses Luder wiederfinde...« knurrte er. Dann blieb er stehen und blinzelte durch den Regenschleier. Ein Roß stand dort am Wegesrand und drehte schnaubend den Kopf, als es ihn witterte. Ein schönes Tier, dunkelbraun mit einer schneeweißen Stirnblesse und vier, fast gleichmäßigen weißen Strümpfen. Wo war der Reiter? Roland näherte sich dem Tier. Das Roß lief ein Stück zwischen das Farnkraut und die Büsche. Roland redete mit sanften, dunklen Worten beruhigend auf den Braunen ein und hatte Erfolg. Das Roß blieb stehen, und Roland konnte die Zügel ergreifen. Er tätschelte
das nasse Fell am Hals und band das Tier an den Stamm einer Birke. Dann hielt er Ausschau nach dem Besitzer. Er fand niemand in der näheren Umgebung. Er rief und lauschte, doch nur Donnergrollen und das Rauschen des Regens antworteten ihm. Er hockte sich unter eine Blutbuche, wo er vor Wind und Regen geschützt war und wartete unschlüssig. Wo mochte der Reiter sein? Wenn er im Gewitter abgeworfen worden war und jetzt irgendwo verletzt und hilflos im Regen lag ... Der Gedanke ließ Ritter Roland keine Ruhe. Von neuem begab er sich auf die Suche. Fast eine Stunde lang durchstreifte er die Umgebung, doch er fand nichts. Vielleicht war der Braune entlaufen? Roland kramte in den Satteltaschen. Er fand ein angebissenes Schmalzbrot, eine Flasche mit Tee, Verbandszeug, eine Kerze und Schwefelhölzer. Nichts, was auf den Besitzer Aufschluß gegeben hätte. Im Grunde war es Ritter Roland ganz recht, daß kein Pferdebesitzer da war. So brauchte er nicht lange zu bitten, daß man ihn bis Peterzell mitnahm, ein Ansinnen, das leicht ausgeschlagen werden konnte. Doch andererseits widerstrebte es Roland, sich das Roß einfach zu nehmen. Er war ein Ritter und kein Pferdedieb. Er wartete noch eine Weile, doch dann war sein Entschluß gefällt. Er hinterließ einen Zettel an der Birke am Wegesrand, genau an der Stelle, an der er das Roß gefunden hatte. Sollte der Besitzer das Tier suchen, würde er erfahren, daß er es im Stall von Peterzell gut versorgt wiederfinden würde. So saß Ritter Roland auf und ritt zu dem Ort. Als er dort eintraf, war es Abend. Das Gewitter war vorüber gezogen, und der Schein der Lampen erhellte die Fenster der Häuser. Es war ein Anblick, der Behaglichkeit versprach. Roland war hungrig. Bis auf das halbe Schmalzbrot hatte er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Er freute sich auf trockene Kleidung, eine warme Mahlzeit und ein Bier im Dorfkrug. Und er war gespannt darauf zu erfahren, was die Knappen zu berichten wußten.
Ein Mann trat aus einem der Häuser und starrte ihn an wie einen Geist. Ritter Roland blickte an sich hinab und lächelte. Er sah in seiner durchnäßten und vom Ritt verschmutzten Kleidung und den schlammbedeckten Stiefeln gewiß nicht sehr vertrauenerweckend aus. Roland grüßte den Mann höflich und fragte ihn nach dem Stall. Immer noch starrte ihn der Mann offenen Mundes an. Stumm wies er dann mit zitternder Hand die Straße entlang. Bevor sich Roland bedanken konnte, warf sich der Mann herum und verschwand im Haus. Die Tür knallte zu. Seltsamer Kauz, dachte Roland und ritt weiter. Er passierte die Schenke, die einladend erhellt war. Er wäre gern gleich dort eingekehrt, doch erst wollte er das Pferd abliefern. Flüchtig dachte er an sein prächtiges Roß und Helga. Natürlich würde er nichts unversucht lassen, um seinen Hengst wiederzufinden. Gleich wollte er dem Stallmann Roß und Reiterin beschreiben und fragen, ob man sie in Peterzell gesehen hatte. Roland ritt in den dunklen Stall und rief nach dem Pferdepfleger. Nur durch das scheibenlose Fenster fiel ein Streifen schwachen Lichts von einer Laterne herein. In den Winkeln des Stalls nistete die Dunkelheit. Rolands Ruf war noch nicht verklungen, als aus dem Dunkel rechts von ihm eine aufgeregte Stimme sagte: »Keine Bewegung, oder du bist des Todes!« Roland zuckte zusammen. Er blieb stocksteif im Sattel sitzen, doch dann drehte er den Kopf, langsam, ganz langsam, denn er wollte nicht des Todes sein. Er sah einen großen, stämmigen Mann, der ein Schwert in der vorgereckten Hand hielt. »Nimm die Hände hoch, du Lump!« sagte der Mann. Seine Stimme klang angespannt. Ein nervöser Mann mit einem Schwert in der Hand war eine Gefahr, die nicht unterschätzt werden durfte. Roland gehorchte. Gewiß handelte es sich um ein Mißverständnis, und der Bursche
würde sich bald entschuldigen müssen. Während Roland langsam die Hände hob, zog er die Füße aus den Steigbügeln. »Begrüßt du immer so deine Kunden?« fragte Roland. »Solche Kunden wie dich sollte man auf der Stelle aufhängen«, sagte die Stimme aus dem Dunkel. Langsam stieg Unmut in Ritter Roland auf. »Mäßige deine Worte«, sagte er ruhig. »Was immer dieses Spielchen zu bedeuten hat - es gefällt mir nicht. Nun nimm das Schwert weg und erkläre mir, was dein garstiges Betragen zu bedeuten hat.« »Der Mann trat einen Schritt näher. »Runter mit dir!« Der unfreundliche Gesell beging einen Fehler, indem er das Roß umrunden wollte, um den Reiter beim Absitzen im Auge behalten zu können. Roland handelte schnell und entschlossen. Er stieß dem Roß die Hacken in die Flanken. Das Tier machte einen Satz und rammte den völlig überraschten Mann. Mit einem Aufschrei stürzte er zu Boden. Und jetzt saß Roland ab. Doch anders, als der Mann es sich gedacht hatte. Roland schnellte sich aus dem Sattel, flog auf den benommenen Mann zu und fegte ihm mit einem Hieb aufs Handgelenk das Schwert aus der Hand. Bevor der Mann wußte, wie ihm geschah, hielt Roland das Schwert in der Hand und tippte ihm die Klinge auf die Brust. Der Mann schrie, als hätte Roland bereits zugestoßen. Doch das wäre dem Ritter nie in den Sinn gekommen. Es verstieß gegen die Ritterehre, einem wehrlosen Gegner den Todesstoß zu versetzen. »Hör mit dem Gebrüll auf und erkläre mir ...« Roland wirbelte herum, denn er vernahm ein Geräusch bei der Tür. Ein Schatten sprang in den Stall, holte mit einem Arm aus. Roland duckte sich geistesgegenwärtig. Die Keule streifte ihn dennoch an der Schläfe. Roland taumelte zurück. Der Mann am Boden vergaß seine Angst und sprang Roland von hinten an. Roland stürzte zu
Boden. Aus der Drehung heraus schlug er mit dem Schwert zu. Der Gegner gab einen röchelnden Laut von sich und erschlaffte auf Roland. Roland stieß ihn mit dem Ellenbogen von sich und sprang auf. Der andere Angreifer stürmte heran. Vermutlich sah er im Dunkel das Schwert in Rolands Faust nicht. Denn sonst hätte er lebensmüde sein müssen. Fast wäre er in die Klinge hineingerannt. Er verdankte es dem Großmut des Ritters, daß sein Bauch nicht aufgeschlitzt wurde. Blitzschnell drehte Roland die Klinge zur Seite, und der Kerl prallte nicht gegen das Schwert sondern gegen Roland. Roland hatte keine Lust, lange mit dem Angreifer herumzutändeln. Er schlug den Mann mit der Breitseite der Klinge nieder. Dann atmete er auf. Die Gefahr war gebannt. Ein unerfreulicher Empfang, der ihm da zuteil geworden war. Der Mann, der Roland mit dem Schwert so unfreundlich begrüßt hatte, regte sich. Roland piekte ihm die Schwertspitze in die rechte Gesäßbacke. »Steh auf!« Schwankend richtete sich der Mann auf. »Gibt es in diesem Stall eine Lampe?« fragte Roland. Der Mann wies wortlos zur Seite. »Na los, worauf wartest du? Zünde sie an!« Der Mann gehorchte. Schließlich fiel der Schein der Lampe auf sein Gesicht. Es war ein rundes Gesicht mit Pausbacken, einem Doppelkinn, einer breiten Nase und wulstigen Lippen. Angst flackerte in den Augen des Mannes, die auf das Schwert in Rolands Hand gerichtet waren. Dann irrte sein Blick an Roland vorbei zu der reglosen Gestalt des zweiten Mannes. »Erbarmen!« sagte er voller Furcht und wich von Roland fort. »Darüber können wir reden«, sagte Roland. »Aber erst wirst du mir einige Fragen beantworten. Wer bist du?« »Ich bin der Besitzer dieses Stalles.«
»Hast du auch einen Namen?« »Waldemar Esch.« »Gut, Waldemar. Und wer ist der andere unfreundliche Patron?« Roland wies mit dem Schwert zu dem Bewußtlosen. »Das ist Hohkeppel - der Polizist.« Roland blickte verblüfft. »Und was wollte er? Weshalb ging er wie ein Räuber auf mich los? Weshalb empfingst du mich mit dem Schwert?« »Das fragst du noch?« »So ist es. Und jetzt will ich endlich eine Erklärung.« In diesem Augenblick regte sich der Polizist. Stöhnend setzte er sich auf und betastete seinen Kopf. Dann setzte wohl seine Erinnerung ein. Krächzend fragte er: »Waldemar, hast du dem Hundsfott einen über den Latz geknallt: »Nein«, bekannte Waldemar bekümmert. »Er ließ mich nicht.« Der Polizist wandte den Kopf, und erst jetzt sah er anscheinend wieder ganz klar. Er fluchte. Dann besann er sich offenbar auf sein Amt, setzte eine grimmige Miene auf und erklärte mit einem wütenden Blick von unten herauf: »Du bist verhaftet!« Roland mußte lächeln. »Und warum?« Der Polizist blinzelte mit seinen kleinen schwarzen Äuglein. »Warum? Das fragst du noch? Was hast du mit Thomas Himperich gemacht?« »Wer ist Thomas Himperich?« fragte Roland. »Der Besitzer des Pferdes, das du gestohlen hast.« Jetzt fiel es Roland wie Schuppen von den Augen. Bald klärte sich alles auf. Das auffällige Pferd war in Peterzell ebenso bekannt wie der Kommandant der Stadtgarde zu Freiburg. Sofort bei Rolands Eintreffen hatte man den Polizisten und den Stallbesitzer alarmiert. Noch bevor er nach dem Stall gefragt hatte. Man wußte, daß Himperich voller Sorge um seine Tochter losgeritten war, und jetzt kam ein Fremder auf seinem Pferd in den Ort! Der Fremde mußte ein Pferdedieb sein, wenn nicht gar schlimmeres.
Roland erklärte, daß er das Pferd reiterlos gefunden hatte. Er erzählte, daß man ihm das eigene Roß gestohlen hatte und beschrieb Pferd und Reiterin. Nein, beide waren nicht in Peterzell gesehen worden. Das Mißtrauen der beiden Männer verschwand offensichtlich. Sie glaubten Roland, Jedenfalls hatte es den Anschein. Sie überlegten mit bangen Mienen, was mit Himperich geschehen sein könnte. Roland beteuerte, daß er nach dem Besitzer des Pferdes gesucht hatte. Er beschrieb die Stelle, an der er das Pferd gefunden hatte und bot sich an, den Polizisten dorthin zu führen. Nachdem alles geklärt war, fragte Roland nach Louis und Pierre. Er gab sich als Händler aus, der seine zwei Burschen vorausgeschickt hatte. Ja, die beiden waren in Peterzell bekannt. »Sie haben Peterzell mit einem Wagen verlassen«, sagte Waldemar. »Mit einem Wagen?« fragte Roland verwundert. »Ja, so hörte ich in der Wirtschaft.« Roland nagte an der Unterlippe. Es war fest abgemacht, daß die Knappen auf ihn warteten und nichts auf eigene Faust unternahmen, wenn sie eine Spur finden sollten. Sie mußten schon einen triftigen Grund gehabt haben, mit einem Wagen wegzufahren. Gewiß hatten sie beim Wirt des Gasthofes eine Nachricht für ihn hinterlassen. Er wollte sogleich dorthin gehen. Hohkeppel, der übrigens wie ein Landmann gekleidet war, streckte die Hand aus. »Jetzt, da alles aufgeklärt ist, braucht Ihr das Schwert nicht mehr«, sagte er höflich und mit einem freundlichen Lächeln. Roland nickte und reichte ihm das Schwert ohne Argwohn. Das hätte er besser nicht getan. Denn schlagartig veränderte sich die freundliche Miene des Mannes. Er drückte Roland die Schwertspitze gegen die Brust, in Höhe des Herzens, und sagte mit boshaftem Grinsen: »Ha, hab ich dich reingelegt, du Lump! Du Dieb und Mörder! Am
Galgen sollst du hängen und in der Hölle für deine Untaten büßen!« * Hohkeppel war kein Polizist. Es gab gar keinen in dem kleinen Ort. Doch das erfuhr Ritter Roland erst viel später. Auf einen Pfiff Hohkeppels hin tauchten ein halbes Dutzend Männer auf. Sie schlugen Roland nieder, fesselten ihn an Händen und Füßen und schleppten ihn aus dem Stall. Sie sperrten ihn in irgendeinen Keller. Als er zu sich kam, umgaben ihn tiefe Finsternis und modriger Geruch. Etwas huschte über sein Bein. Eine Maus? Eine Ratte? Er bäumte sich in den Fesseln auf. Vergebens. Sie hatten ihn so fest verschnürt, daß ihm die Stricke in die Haut schnitten. Lange lag er dort auf dem Steinboden und hing seinen Gedanken nach. Mit Helga hatte alles angefangen. Vermutlich war sie jetzt mit seinem Roß über alle Berge. Vermutlich würde er das Roß auch nicht mehr brauchen ... Sie wollten ihn aufhängen! Man hielt ihn für einen Pferdedieb und Mörder. Er konnte nur hoffen, daß der Besitzer des auffälligen Pferdes bald auftauchte und sich alles aufklärte. Natürlich konnte man ihm keinen Mord beweisen. Im Grunde nicht mal einen Pferdediebstahl. Er hatte das reiterlose Roß, das durch die Wälder irrte, mitgenommen, um es im nächsten Ort abzuliefern. Dennoch hatte Roland ein äußerst unbehagliches Gefühl. Die Männer waren aufgeregt und voller Feindschaft gewesen, eine wütende Horde, die offenbar nur einen Schuldigen suchte ... Und wo waren die Knappen? Wie anders wäre alles verlaufen, wenn sie zur Stelle gewesen wären! Schließlich fielen Roland doch die Augen zu. Alpträume quälten ihn in unruhigem Schlaf. Irgendwann weckten ihn Geräusche.
Etwas knirschte und quietschte, dann fiel eine Tür zu. Blinzelnd öffnete er die Augen und drehte den Kopf. Lampenschein näherte sich und geisterte über kahle Wände. Schritte hallten dumpf über den Gang bis zum Keller. Es war Hohkeppel mit vier anderen Männern. Hohkeppel blieb drei Schritte von Rolands Stiefelspitzen entfernt stehen und hob die Hand mit der Lampe. »Willst du ein Geständnis ablegen?« fragte er. »Wo hast du die Leiche verscharrt?« Roland bemühte sich um einen ruhigen Tonfall. Er schilderte noch einmal, was er im großen und ganzen schon gesagt hatte. Stumm hörten Hohkeppel und die anderen zu. Roland sah Hohkeppel an den Augen an, daß ihm der Mann kein Wort glaubte. Und einer der anderen sprach aus, was gewiß auch Hohkeppel dachte: »Er lügt das Blaue vom Himmel herunter. Thomas ist ebenso verschwunden wie seine Tochter. Er war auf der Suche nach ihr und ist gewiß in eine Falle geraten. Der Kerl da ist einer der Räuber. Er hat Thomas umgebracht und sich sein Roß genommen. Wir sollten ihn auf der Stelle aufknüpfen!« »Dann erfahren wir nichts«, wandte Hohkeppel besonnen ein, schien aber grundsätzlich nichts gegen das Aufknüpfen zu haben. »Ich könnte schon dafür sorgen, daß er wie eine Nachtigall singt«, sagte einer der Männer, tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit den anderen und putzte sich mit einem Messer die Fingernägel. Dann sah er Hohkeppel erwartungsvoll an. Hohkeppel starrte nachdenklich auf Roland nieder. »Du hast es gehört. Also mach das Maul auf, oder Philipp bearbeitet dich mit dem Messer.« »Das würdest du zulassen?« fragte Roland. Und bitter fügte er voller Verachtung hinzu: »Feiner Polizist!« »Ich bin kein Polizist«, sagte Hohkeppel, hakte die Daumen hinter die Hosenträger und wippte auf den Zehenspitzen. »Das hat Waldemar nur gesagt, um dich zu täuschen. Er dachte sich, du würdest geschwind das Weite suchen, wenn du etwas von Polizei
hörst. Ich bin ein Schwager von Himperich, den du ermordet hast, um dir sein schönes Pferd zu nehmen oder weil er hinter dir her war. Denn er ist Polizist. Wo sind übrigens die ändern?« »Welche anderen?« »Deine Räuberkumpane. Du willst uns doch wohl nicht weismachen, du treibst dich allein hier in den Wäldern herum?« Hohkeppels kleine Augen blickten lauernd. »Vielleicht lassen wir dich am Leben, wenn du uns euer Versteck verrätst.« »Ich bin kein Räuber, ich bin ...« Roland verstummte. Es hatte keinen Sinn. Er spürte, daß er diese Männer nicht überzeugen konnte. Hohkeppel gab Philipp einen Wink. Philipp näherte sich. Die Messerklinge funkelte im Schein der Lampe. »Wer nicht reden will, muß fühlen«, sagte Philipp. Rolands Gedanken jagten sich, Verzweiflung erfaßte ihn. Kurz spielte er mit dem Gedanken, seine Rolle als Händler aufzugeben und preiszugeben, daß er Ritter Roland war. Doch hätte ihm das etwas genützt? Das konnte schließlich jeder behaupten. Erst vor zwei Monaten hatte man einen Zechpreller und seine beiden Kumpane entlarvt, die durch die Lande gezogen waren und sich als Ritter Roland und seine Knappen ausgegeben hatten. Obwohl sie gar nicht mal so ähnlich ausgesehen hatten, waren sie in abgelegenen Ortschaften reich bewirtet worden, bevor sie sich aus dem Staub gemacht hatten ... »Fangen wir mit dem kleinen Finger an«, sagte Philipp in Rolands Gedanken hinein, und Roland spürte, wie der Kerl die Messerklinge ansetzte. »Ich sage euch alles, was ich weiß«, erklärte Roland hastig. Hohkeppel atmete hörbar auf. Auch Philipp wirkte erleichtert. Roland spürte, daß die Männer ihn nur einschüchtern und ihre Drohung vielleicht gar nicht wahrmachen wollten. Es waren Bürger des Ortes und keine Verbrecher. Ihr ungesetzliches Vorgehen war nicht zu entschuldigen, doch Roland spürte, daß sie ni Sorge um einen der ihren handelten. Und wenn er
gerecht war, mußte er zugeben, daß es schon sonderbar war, daß ein Fremder auf einem Pferd in den Ort ritt, dessen Besitzer auf der Suche nach seiner verschollenen Tochter ebenfalls verschwunden war. Dazu das spurlose Verschwinden von vielen Menschen und Transporten, das die Leute im Schwarzwald in Angst und Schrecken versetzte ... Roland tat, was er versprochen hatte. Er sagte alles, was er wußte. Das war natürlich so gut wie nichts, aber dabei versuchte er noch einmal, die Männer zu überzeugen. »Wenn ich ein Pferdedieb wäre, dann hätte ich mich doch über alle Berge gemacht. Dann wäre ich doch nicht hergeritten. Ich hätte doch damit rechnen müssen, daß jemand das auffällige Pferd und dessen Besitzer kennt.« »Da ist was dran«, murmelte Hohkeppel. »Ach was. Ich sage euch, der Kerl will uns einen Bären aufbinden!« Philipp schnitt seine finsterste Miene und fuchtelte mit dem Messer herum. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Schritte polterten über die Kellertreppe heran. »Hohkeppel?« rief eine aufgeregte Stimme. »Ja?« Ein kleiner, schmächtiger Mann eilte so hastig die Treppe herunter, daß er fast gestolpert wäre. »Wir haben ihn gefunden«, sagte er atemlos. »Wen?« fragte Hohkeppel. »Euren Schwager.« Roland atmete auf. Der Besitzer des Pferdes war gefunden worden. Jetzt würde sich alles aufklären. Doch da sagte der kleine Mann in die erwartungsvolle Stille: »Er lag tot in der Nähe der Stelle, wo der Kerl angeblich das Pferd reiterlos gefunden hat.« *
Wittich spießte eine Scheibe des saftigen Wildschweinbratens mit der Gabel auf und schob sie in den Mund. Eine Weile kaute er schmatzend und trank dazu Wein aus einem silbernen Becher. Der Schein des Lagerfeuers zuckte über sein Gesicht. Es war einst ein gutaussehendes Gesicht gewesen. Jetzt war es von Brandnarben entstellt. Doch von den Narben war so gut wie nichts zu sehen, denn ein dichter schwarzer Bart bedeckte Wangen und Kinn, und dazu trug er die schwarzen Haare lang wie eine Frau. Bis auf die Schultern fielen die Haare und umrahmten sein scharfgeschnittenes Gesicht, das von grünen Augen beherrscht wurde. Es waren schöne, weiche, glänzende Haare. Frauenhaare. Wittich trug eine Perücke auf dem kahlen Schädel, der mit roten, wulstigen Narben bedeckt war. Der Bart war ebenfalls nicht sein eigener. Er war unter der Perücke befestigt und verdeckte die Brandnarben an den Wangen, auf denen keine Haare mehr wuchsen. Auch am Körper hatte Wittich Narben davongetragen. Fast wäre er damals bei lebendigem Leibe verbrannt. Damals, in jener schrecklichen Nacht, in der das Feuer all seine Träume und sein Glück zerstört hatte ... »Was ist, Liebling, schmeckt es dir nicht?« fragte er und sah kurz zu dem Mädchen, das bei ihm auf einer Decke beim Feuer saß. Das Mädchen hatte keinen Bissen gegessen. »Gefällt es dir nicht in meiner Gesellschaft? Möchtest du lieber für meine Männer tanzen wie Roswitha?« Sein Blick glitt durch das Lager zu den anderen Feuern, an denen finstere Gestalten hockten und die Frau anstarrten, die zum Klang einer Laute tanzte. Die Frau war in zerfetzter Nonnentracht in das Versteck der Räuberbande gebracht worden. Jetzt mußte sie nackt tanzen. Das Mädchen, das abseits von den anderen mit Wittich allein am Lagerfeuer saß, folgte Wittichs Blick und schluckte. »Es gefällt mir in Eurer Gesellschaft«, versicherte sie hastig. »Ich möchte nicht tanzen.«
Wittich lächelte. »Dachte ich mir. Du bist keine Hure wie die da. Du bist zu schade für diese ungehobelten Kerle. Du bist genau die Richtige für mich.« Wohlgefällig tastete sein Blick über Edeltrauts Körper, und ihr Anblick erregte ihn mehr als die nackte Roswitha. Denn sie ähnelte Beatrix. Beatrix, die einzige Frau, die er jemals von Herzen geliebt hatte. Beatrix, die damals bei dem Feuer ums Leben gekommen war. Edeltraut hatte das gleiche madonnenhafte Gesicht mit großen haselnußbraunen Augen, die so seelenvoll blickten, die gleichen feingeschwungenen Lippen, das gleiche blonde Haar und den schlanken, doch wohlgerundeten Körper. Bald würde sie ihm gehören. Bald ... Er hätte sie mit Gewalt nehmen können, doch das widerstrebte ihm. Er hätte das Gefühl gehabt, Beatrix etwas Böses zu tun, der sanften Beatrix, um derentwillen er damals ein anständiges Leben begonnen hatte. Ja, er war glücklich mit ihr gewesen, hatte geglaubt, nach der dunklen Vergangenheit eine selige Zukunft vor sich zu haben. Bis die Feuersbrunst alles vernichtet hatte. Es war ihm, als lebte Beatrix in Edeltraut weiter ... Edeltraut hatte ihm ihr Wort gegeben, ihn zu ehelichen, wenn dies hier alles vorüber sein würde. Vielleicht hatte sie es aus Angst getan, er könnte ihr Gewalt antun oder sie seinen wilden Mordgesellen überlassen wie die drei falschen Nonnen und die vier anderen Mädchen, die seine Männer nebenbei entführt hatten, um eine Abwechslung in der Einsamkeit dieses Verstecks zu haben. Sein Blick glitt zu den Feuern, in dessen Schein Roswitha unter Zwang tanzte. Die Männer johlten und hatten ihren Spaß. Sollten sie. Geld, Weiber und Saufen - mehr kannten sie nicht. Was wußten diese verkommenen Kerle schon von wahrer Liebe! Die konnten keine echte Perle von einer falschen unterscheiden. Hätte er Edeltraut ihnen überlassen, so wäre das Perlen vor die Säue geworfen ... Diese Männer Waren für Wittich Pöbel, dessen er sich bediente, solange er es noch brauchte.
Wenn erst der Schatz gehoben war ... Er schaute über die Feuer hinaus zu dem dunkel gähnenden Schlund in der Felswand. Dort, oberhalb des Lagers gab es eine große Höhle. Wie ein Kerker der Natur. Darin waren die Gefangenen. Vierunddreißig Männer, die tagsüber den Staudamm bauten. Es konnte allenfalls noch zwei Wochen dauern, bis der Damm fertig war, bis der sagenhafte Schatz im dann trockengelegten See aus dem Schlick ausgegraben werden konnte... In seinen Augen leuchtete es auf. Dann kehrte sein Blick zu Edeltraut zurück. Ja, sie würde ihm gehören. Er würde ihre Bedingung erfüllen und alle Gefangenen freilassen, bevor er sich mit ihr für immer davonmachen und irgend wo weit fort ein neues Leben beginnen würde, reich wie ein König ... »Du wirst meine Königin sein«, sagte er mit belegter Stimme. Edeltraut hielt seinem Blick stand. »Ja, ich werde Eure Königin.« »Wir werden reich und glücklich sein«, fügte er hinzu wie so oft, in einem beschwörenden Tonfall, als müßte er nicht nur sie, sondern auch sich selbst überzeugen. Er blickte sie durchdringend an, als sie schwieg. »Ja, wir werden reich sein ...« sagte sie hastig. »Und glücklich. Du wirst mich lieben wie ...« Wie Beatrix hatte er sagen wollen, doch er unterbrach sich schnell. Davon durfte sie nichts wissen. Das war sein Geheimnis für alle Zeiten. Um Edeltrauts Mundwinkel zuckte es kaum merklich. Furcht war in ihren Augen aufgeflackert, als er von »lieben« gesprochen hatte. »Ich bitte Euch«, sagte sie beschwörend, »laßt mir noch Zeit, auf daß sich meine Gefühle entwickeln können. Noch kenne ich Euch erst eine Woche.« Er ergriff ihre feingliedrige Hand und drückte sie leicht. Die Berührung weckte ein prickelndes Gefühl in ihm. Seit Beatrix hatte es keine andere Frau mehr für ihn gegeben. »Nenn mich Wittich und sprich nicht so förmlich«, sagte er und
drückte ihre Hand fester. »Ja, Wittich.« Sie senkte scheinbar demütig den Kopf. Er streichelte über ihr blondes Haar, das rötlich im Schein des Feuers schimmerte. Unmerklich zog sie den Kopf zurück. Scheu wie damals Beatrix, als ich sie kennenlernte, dachte er. Sie war jung, und er mußte ihr Zeit lassen, sie weiterhin umwerben. Sie hatte ja recht. Liebe auf den ersten Blick konnte er nicht verlangen. Er mußte sie nach und nach für sich gewinnen. Und wenn sie erst den Schatz sah ... Nichts erobert das Herz einer Frau leichter als Reichtum, dachte er. »Du sollst nicht mehr bei diesen verkommenen Weibern in der Hütte schlafen«, sagte er mit belegter Stimme und zog seine Hand von ihrem Haar. »Du wirst fortan mit mir die Hütte teilen, wie es sich für eine zukünftige Herrin geziemt.« Sie blickte auf, überrascht, aber auch ein bißchen erschrocken, wie er fand. Er lächelte sie beruhigend an. »Ich werde dich nicht drängen. Mein Wort gilt.« Ein Lächeln huschte über ihre schönen Züge. Ein zärtliches Lächeln, dachte er, doch es war ein Lächeln der Erleichterung. »Sag mir noch einmal, daß auch dein Wort gilt«, forderte er, und seine Stimme klang voll angespannter Erwartung. »Mein Wort gilt, wenn Ihr ... du ... deines hältst«, beteuerte sie schnell. »Du wirst mir gehören, sobald ich den Schatz habe.« »Ja«, sagte sie. »Sobald du den Schatz hast.« Sie lächelte dabei, doch es kostete sie unsagbare Beherrschung, nicht in Tränen auszubrechen. Sie betete des Nachts, daß es noch lange dauern würde, bis der Staudamm fertig sein würde. Sie betete, daß ihr Vater auf der Suche nach ihr die Zeichen finden würde, die sie hinterlassen hatte. Daß er mit einem ganzen Reiterheer kommen und sie und ihre ebenfalls
entführten Begleiter und all die anderen Gefangenen befreien würde. Sie konnte nicht wissen, daß ihr Vater tot war, ermordet von einem der Wachtposten am unteren Zugang zur Schlucht. Sie war nicht dabei gewesen, als der Räuber Wittich von dem Eindringling berichtet und gefragt hatte, was mit dem Toten geschehen solle ... Wittich hatte befohlen, die Leiche in die Schlucht zu bringen und damit allen Gefangenen zu zeigen, daß niemand lebend in das Versteck hinein oder heraus kam. Doch dann hatte Heinrich die Habe des Toten gezeigt - abzüglich der unterschlagenen Dinge. Es war so üblich, daß die Beute abgeliefert wurde und daß Wittich dann einen Teil an seine Räuber abgab. Sie ordneten sich ihm widerspruchslos unter. Es waren Kerle, von denen die meisten weder lesen noch schreiben konnten, und sie kuschten, solange er sie gut entlohnte. Sie waren wie Wölfe, die sich dem Leitwolf unterordneten. Und in früheren Zeiten hatte er bewiesen, daß er kampfstark und gerissen war und zu führen wußte. Wittich hatte den Wachen großzügig die paar Dinge von Wert überlassen, die Heinrich nicht unterschlagen hatte. Nur flüchtig hatte er den Brief angeschaut, den Heinrich bei der Leiche gefunden hatte. Dann war sein Blick auf den Namen Edeltraut gefallen. Er kannte ihre Schrift. Sie hatte für ihn ein Gedicht aufgeschrieben, das er ihr diktiert hatte. Es gab keinen Zweifel: Der Tote war ihr Vater. Sie durfte nicht erfahren, daß seine Räuber ihn umgebracht hatten. Sie würde ihn hassen, wenn sie die Wahrheit erfuhr ... Wittich hatte Heinrich den Auftrag gegeben, die Leiche irgendwo außerhalb der Schlucht zu begraben. Für Wittich war Edeltrauts Vater für immer verschwunden ... Von alledem konnte Edeltraut nichts ahnen. Sie hatte diesem Verbrecher, der ihr mit seinem sonderbaren Getue und Gerede wie ein Wahnsinniger vorkam, nur ihr Wort gegeben, um ihn hinzuhalten. Sie hatte in ihm die Hoffnung genährt, sich mit einem Schatz kaufen zu lassen. Eher wollte sie sterben, als diesem widerwärtigen Kerl zu Willen
zu sein. Sein Gerede von wahrer Liebe! Er verachtete die üblen Burschen, die seine Befehle ausführten, und hielt sich für etwas Besseres. Dabei war er der Schlimmste von allen. Sie erschauerte unter seinen Berührungen, und der Gedanke, mit ihm die Hütte teilen zu müssen, erfüllte sie mit Übelkeit. Aber sie mußte alles tun, um diesen Verbrecher in seiner fixen Idee zu bestärken. Nur so gab es vielleicht die Rettung für sie und die anderen Gefangenen ... Er hob den Becher mit dem Wein, prostete ihr zu und sagte mit theatralischer Gebärde: Glücklich preise sich der Mann, der, ohne daß er's lang besann ein liebend Weib für sich gewann. Beifallheischend blickte er sie an. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ihr seid ... du bist ein wahrer Dichter«, sagte sie in gespielter Anerkennung. Sie wußte, daß er Anerkennung wollte, wenn er irgendwelche Verse zum Besten gab. Wittich nickte geschmeichelt. Und er nahm sich vor, den alten Sigismund nach weiteren galanten Versen zu fragen. Sigismund war einer der Gefangenen. Ein echter Poet. Von ihm stammten die Verse, die Wittich bei Edeltraut als seine eigenen ausgab. Der gute alte Sigi, dachte Wittich, der Mann aus dem Südschwarzwald, den man auch Hotzenwald nannte. Ihm verdankte er praktisch alles. Ohne ihn hätte er nie von dem gewaltigen Schatz aus dem Morgenland erfahren, der auf dem Grunde des Sees nur darauf wartete, geborgen zu werden ... Der Kuckucksruf riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte zum südlichen Zugang zur Schlucht. Hufschlag klang auf. Der Schatten eines Reiters schälte sich aus dem Dunkel. Dann folgten weitere berittene Männer. Sie brachten zwei Gefangene. Die Gefangenen hockten mit verbundenen Augen gefesselt auf abgetriebenen Pferden. Wittich erhob sich und blickte ihnen entgegen.
Der kleine Trupp hielt beim Feuer. »Weitere Arbeiter, Alfons?« fragte Wittich den graubärtigen Anführer des Trupps. Der Graubart blickte grinsend zu den anderen Feuern. Roswitha beendete dort ihren Tanz, weil die Laute verstummt war. Einige Getalten erhoben sich und schlenderten herbei. »He, wo habt ihr denn diese Vögel her?« fragte einer und lachte schrill. Es war Paul, neben Alfons der zweite Unterführer der Bande, die insgesamt außer Wittich siebzehn Räuber zählte. »Spann mich nicht auf die Folter«, sagte Wittich grollend. »Wer sind die beiden?« Alfons kratzte sich am Bart. »Sie schnüffelten in Peterzell herum. Der Blonde da heißt Pierre, der mit dem schwarzen Bart schimpft sich Louis. Sie gaben sich als Mitarbeiter eines Händlers aus, der Sorge um seine Fracht hat. Doch wir belauschten einige Fragen, die sie im Ort stellten. Für mich gibt es keinen Zweifel - sie wollten herausfinden, wer die Leute und die Warentransporte gekapert hat.« »Verdammte Brut!« rief Paul. Er trat an einen der Gefangenen heran, packte ihn und riß ihn vom Roß. Es war Pierre, der unsanft auf dem Boden aufschlug. Obwohl Pierres Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, rollte er sich geschickt von den Hufen des scheuenden Pferdes fort. Wieder ertönte Pauls schrilles Lachen, das manchem der Gefangenen einen Schauer über den Rücken gejagt hatte, als sie überfallen worden waren. Zwei andere Männer warfen Louis vom Pferd. Dann schauten alle abwartend zu Wittich - bis auf einen, der nur Augen für Edeltraut hatte, die wie erstarrt am Feuer saß und auf die beiden neuen Gefangenen starrte. »Erzähle genauer«, forderte Wittich den Graubart auf. Alfons zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben die Schnüffler flachgelegt, unauffällig in einen Wagen verfrachtet, und einer von uns hat im Wirthaus erzählt, die beiden Fremden seien abgereist. Wir sind dann zu unserem Freund
Rainald gefahren. Er war es übrigens, der uns informierte, daß sich zwei Fremde in Peterzell herumtreiben und Fragen stellen. Auf Rainalds Hof haben wir den Wagen zurückgelassen, sind auf Pferde umgestiegen, und hier sind wir.« »Habt ihr alle Spuren beseitigt?« fragte Wittich. »Wie immer, Herr«, versicherte Alfons unterwürfig. Wittich nagte an seiner Unterlippe. »Habt ihr sie schon - befragt?« erkundigte er sich lauernd. Alfons grinste. »Sie behaupten stur und steif, sie arbeiteten nur für einen Händler. Ich hielt es für das Beste, Sie verschwinden zu lassen.« »Ja, das war in der Tat das Beste«, sagte Wittich nachdenklich und blickte finster zu den beiden Männern, die am Boden lagen. »Sie werden uns schon erzählen, wer sie geschickt hat.« Paul lachte schrill. »Ich schlage vor, wir unterhalten uns ein bißchen mit ihnen.« Er zog sein Messer aus der Scheide am Gurt. Wittichs Blick glitt zu Edeltraut, die eine Hand auf den Mund preßte. »Geh in meine Hütte«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Sie erhob sich zögernd. Mit einem besorgten Blick zu den beiden Gefangenen raffte sie ihr Kleid und schritt davon. Wittich blickte ihr immer noch nach, und diesmal war sein Lächeln echter. Dann gewahrte er, daß auch die anderen dem Mädchen mit funkelnden, begehrlich glitzernden Augen nachschauten, und seine Miene verfinsterte sich. »Steht nicht herum und haltet Maulaffen feil!« fuhr er sie an. »Werft die beiden ins Feuer, bis sie uns sagen, wer sie geschickt hat und was sich da gegen uns zusammenbraut!« * Derweil lag Ritter Roland in einem Kastenwagen, der gen Freiburg rollte. Er war gefesselt und lag im Dunkel allein mit seinen
quälenden Gedanken. Eigentlich konnte er von Glück sagen, daß man ihn nicht auf der Stelle in Peterzell am nächstbesten Baum aufgehängt hatte. Er glaubte noch das Toben der aufgebrachten Bürger zu hören: »Mörder! Mörder!« »Hängt ihn auf!« Wie ein Lauffeuer hatte sich in dem Ort und in der Umgebung die Kunde verbreitet, daß der Fremde den angesehenen Sohn des Ortes ermordet hatte: Thomas von Himperich, den Kommandanten der Stadtgarde zu Freiburg, der in Peterzell wie fast jedes Jahr zur Sommerfrische geweilt hatte, bevor er sich auf die Suche nach seiner Tochter begeben hatte. Für die empörten Verwandten und die meisten Einwohner des Ortes gab es keinen Zweifel: Der Fremde war ein Mörder und Pferdedieb. Vermutlich sogar ein Mitglied der Bande, die für die Überfälle und das spurlose Verschwinden von Menschen in der letzten Zeit verantwortlich war. Die Volksseele hatte gekocht, und man hatte kurzen Prozeß mit Roland machen wollen. Und Ritter Roland wäre wohl des Todes gewesen, wenn sich nicht zwei Menschen für ihn eingesetzt hätten: Almuth und der Pater. Almuth, voller Enttäuschung darüber, daß Louis sein Versprechen nicht eingehalten hatte, hatte für den Gefangenen gesprochen. Sie hatte zwar nichts von dem Hochsitz-Abenteuer mit Louis erzählt die Tochter des Krämers galt in Peterzell als wohlbehütete keusche Jungfer - doch sie hatte sich an das erinnert, was Louis ihr außer Liebesworten geflüstert hatte. Außerdem hatte sie berichtet, daß sie beim Spaziergang im Walde eine Reiterin wilder Jagd gesehen hatte, auf dem Pferd, das dem Gefangenen gehörte. Louis hatte ihr ja die Zusammenhänge in groben Zügen erklärt. Ihre Worte lösten zumindest bei einigen besonneneren Bürgern leichte Zweifel an der Schuld des Fremden aus. Doch die Scharfmacher hätten sich gewiß durchgesetzt, wenn nicht der Pater mit der Heiligen Schrift in der Hand und Worten daraus im Munde zur Vernunft gemahnt hätte. Die meisten der Einwohner von
Peterzell waren sehr fromm, und plötzlich hatte sich keiner mehr gefunden, der gegen das Gebot verstoßen wollte: Du sollst nicht töten. »Dann lassen wir das eben andere erledigen«, hatte Wöhrle, der Wirt, in der allgemeinen Ratlosigkeit, pfiffig gesagt. »So geschieht Gerechtigkeit, und wir waschen unsere Hände in Unschuld.« Damit war auch der Pater einverstanden gewesen, und so hatte man flugs beschlossen, den fremden Hundsfott nach Freiburg zu bringen und dem Gesetz zu übergeben. Bevor Roland in den Wagen geworfen worden war, hatte er noch einen Reiter in den Ort traben sehen. Ein großer Mann auf Rolands prächtigem Hengst. Doch Roland war es versagt geblieben, sein Roß auch nur länger als drei Sekunden zu sehen. Bevor er etwas hatte sagen können, hatte man die Tür des Wagens zugeknallt, der Wagen war losgefahren, und keiner hatte sich um Rolands Rufe gekümmert. Roland dachte an die Knappen. Wo mochten sie jetzt sein? Der. Weg nach Freiburg war lang, und wenn Louis und Pierre nach Peterzell zurückkehrten und erfuhren, was inzwischen geschehen war, würden die wackeren Knappen gewiß alles Menschenmögliehe tun, um ihn zu befreien oder seine Unschuld zu beweisen. In Freiburg würde man ihn nicht gleich aufhängen. Das Gesetz würde ihm die Rechte gewähren, die man jedem armen Teufel zubilligte. Man würde ihn zumindest anhören und nicht so voller Vorurteile sein wie die wütenden Leute von Peterzell... Bei diesen Gedanken wurde Ritter Roland von neuer Zuversicht erfüllt. Wie konnte er auch ahnen, daß sich des Satans Mächte gegen ihn verschworen hatten! * Pierres Hosenboden war angesengt. Flammen züngelten über das
Hosenbein. Es roch verbrannt. Verzweifelt wollte sich Pierre aus der
Glut des Lagerfeuers fortwälzen, doch zwei Räuber hielten ihn fest. Louis erging es nicht besser. Ihn mußten allerdings drei Kerle bändigen, obwohl seine Hände gefesselt waren. Der ehemalige Räuberhauptmann war in seinem Zorn kaum zu halten. Die Knappen mußten die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien. Die Räuber weideten sich mit kaltem Grinsen an ihrer Qual. Es waren völlig verrohte Burschen, die kein Mitleid kannten. »Wer hat euch geschickt?« wiederholte Wittich mit drohender Stimme und starrte finster auf Louis hinab. »Fahr zur Hölle!« brüllte Louis und bäumte sich auf. Wittich zuckte zusammen, als Louis ihm ins Gesicht spuckte. »Feuer nachlegen!« brüllte Wittich. »Nein!« Der helle Schrei hallte durch die Schlucht. Wittich und die Räuber wandten die Köpfe. Edeltraut lief aus der Hütte des Räuberhauptmanns. Sie hatte vom Fenster aus alles gesehen und konnte den schrecklichen Anblick der gepeinigten Gefangenen nicht länger ertragen. Ihr blondes Haar flog, als sie zum Feuer lief. »Habt Gnade mit diesen Männern!« flehte sie. »Ihr könnt sie doch nicht bei lebendigem Leibe ...»Sie verstummte schluchzend. Wittich nagte an der Unterlippe. Er stellte sich vor sie und verdeckte die Sicht auf die Gefangenen. »Geh wieder in die Hütte. Das ist kein Anblick für dich«, sagte er mit rauher Stimme. »Zieh den Vorhang vors Fenster!« »Es ist grausam, das darfst du nicht tun!« Voller Empörung funkelte sie ihn an. »Du bist ein ...« Fast hätte sie in der Erregung hinausgeschrien, was sie von ihm hielt. Vielleicht warnte sie das Aufblitzen in seinen Augen. Oder ihr weibliches Gespür. »... König«, fuhr sie jedenfalls nach kurzem Zögern fort. »Und das ist eines großmütigen Königs nicht würdig.« Der ärgerliche Ausdruck verschwand sofort aus seinen Augen. »Diese Männer wollen nicht zugeben, daß sie im Auftrag von
jemanden herumschnüffeln«, sagte er. »Und dieser Jemand könnte möglicherweise zu einer Gefahr für mich werden - und für dich. Deshalb gilt es, Vorkehrungen zu treffen ...« »Ich bitte, ich flehe ...»Und Edeltraut fiel auf die Knie, ohne daran zu denken, daß das Gras abseits des Feuers noch feucht vom Gewitterregen war. Sie war voller Menschlichkeit und wollte einfach helfen. Wittich schaute auf sie hinab, und es gefiel ihm, wie sie demütig vor ihm verharrte wie eine Dienerin. Seine Dienerin. »Ein paar kleine Brandwunden sind nicht so schlimm«, sagte er mit plötzlich weicherer Stimme, und er dachte an seine Narben. Bald würde Edeltraut sie sehen und vielleicht erschrecken. Es war gut, wenn er sie schon ein wenig darauf vorbereitete. Die Situation forderte geradezu dazu heraus. »Auch ich habe einige Brandmale davongetragen, als ich eine arme Frau aus tobender Feuersbrunst errettete. Du wirst sie sehen, diese Male der Tapferkeit und Barmherzigkeit!« Es war eine Lüge, doch das wußte nur er. Er war im Vollrausch gewesen, als das Feuer vom Wind gepeitscht im Wald getobt hatte, als die Hütte lichterloh in Flammen gestanden hatte. Er hatte nicht daran gedacht, Beatrix zu retten. Er war zu betrunken gewesen, um überhaupt einen klaren Gedanken fassen zu können. Da waren nur das tobende Feuer gewesen, die Hitze, der Rauch. Er wußte nicht mehr, wie er sich auf die Lichtung geschleppt hatte. Irgendwann war er halbtot von einem Kräutersammler gefunden worden. Ihm hatte er sein Leben zu verdanken. Doch Beatrix war nicht mehr zu retten gewesen. Bei ihrem Anblick war etwas in ihm zerbrochen. Früher war er ein kaltberechnender Räuber gewesen, der um der Beute willen zu jeder Schandtat bereit gewesen war, sofern sie nicht mit zu großem Risiko behaftet war. Doch seit Beatrix' Tod hatte er sich verändert. Er schreckte zwar nicht vor Schandtaten zurück, doch das Risiko war ihm im Grunde genommen gleichgültig. Sein ganzes Denken galt allein Beatrix, seinem Traum. Und jetzt war Beatrix für ihn in Edeltraut wieder auferstanden. Für ihn war es kein Zufall, daß seine Männer sie gefangengenommen hatten. Nein, sie war nicht
gefangengenommen worden. Sie war aus dem Jenseits zurückgekommen ... All das ging ihm in sekundenschnelle durch den Kopf. Es war ein verwirrter Kopf, doch ihm selbst war das gar nicht klar. Ebensowenig den abgestumpften Räubern. Sie wunderten sich gelegentlich über das sonderbare Verhalten ihres Anführers, doch sie wußten nichts von Beatrix. Sie dachten, Wittich hätte einfach die seiner Meinung nach schönste der Weiber für sich ausgesucht, wie es einem Anführer zustand ... Einer der Gefangenen schrie. Es war Pierre, aus dessen Hose Flammen schlugen. »Ich habe damals nicht geheult wie diese Jammerlappen«, sagte Wittich verächtlich, und das war eine weitere Lüge. »Ich habe ...« Er wollte sich noch ein wenig brüsten, doch da sprang Edeltraut auf und warf sich ihm an die Brust. Sie umklammerte ihn, und er spürte ihren Körper und glaubte Beatrix in den Armen zu halten. »Gebiete Einhalt!« Edeltraut schrie es fast. Da gab Wittich seinen Männern einen schroffen Wink. Sie zogen die Gefangenen aus dem Feuer. Wittich drückte Edeltraut fest an sich und küßte sie. Sie spürte seinen seltsam weichen Bart, roch seinen Atem, und ihr wurde fast übel, als er seine Lippen auf ihren Mund preßte. Doch es ging vorüber. Die Männer hatten die Gefangenen vom Feuer weggezerrt. Auf einen Befehl Wittichs hin klopften sie die Flammen an der Kleidung aus. Sie machten sich einen Spaß daraus, recht heftig zu klopfen, und die Knappen trugen außer Brandwunden auch noch blaue Flecke davon. Doch das Feuer war gelöscht. »Schafft sie mir aus den Augen«, sagte Wittich mit einer herrischen Geste. »Arnold soll ihnen Salbe auf den Hintern schmieren, und morgen früh werden sie mit den anderen am Staudamm arbeiten.« *
Gunzelin von der Traube war an diesem Morgen mürrischer Laune. Er war der Stellvertreter des Stellvertreters von Kommandant Himperich, und er mußte mit geschientem Bein Dienst versehen, weil der gerade von der Lungenentzündung genesene Briegel von neuem erkrankt war. Der Bader konnte noch nichts Genaues sagen, außer daß Briegel hohes Fieber hatte und das Bett hüten mußte. Deshalb mußte Gunzelin ihn jetzt vertreten, zwar nur bei unerledigter Schreibarbeit, doch gerade das war Gunzelin verhaßt. Die Pest wünschte er Briegel an den Hals! Ärgerlich saß Gunzelin hinter dem Sekretär aus Eiche und quälte sich mit Amtsgeschreibe. Jeden Mann der Garde, der sich blicken ließ, hatte er schon angeschnauzt. Das Resultat war, daß sich keiner mehr in die Amtsstube wagte ... Gunzelins Laune besserte sich dann etwas, als gegen Mittag die Kunde eintraf, daß Kommandant Himperich Opfer eines Raubmordes geworden sei. Der Wagen mit dem Mörder sei auf dem Wege nach Freiburg; ein Bote war ihm vorausgaloppiert. Gunzelin trauerte nicht lange um Himperichs Tod. Der Vorgesetzte war ihm nie sympathisch gewesen. Gunzelin dachte vielmehr daran, daß der Posten jetzt frei war und daß Briegel nach Lungenentzündung und neuer Krankheit gewiß noch einige Zeit dienstuntauglich sein würde. Zeit, in der es galt, genügend Ansehen zu sammeln, um sich als Himperichs Nachfolger zu empfehlen. Briegel war schon älter und in den letzten zwei Jahre kränklich. Außerdem waren ihm einige Fehler passiert. Vielleicht raffte ihn gar das Fieber dahin ... Gunzelin sah sich mit einem Schlag ganz oben auf der Leiter des Erfolges ... Dann dachte er an die verdammte Leiter, deren oberste Sprosse unter seinen Füßen zusammengebrochen war, als er auf dem Apfelbaum gewesen war, und seine Miene wurde säuerlich als hätte er zum Frühstück statt des Hagebuttentees Essig getrunken. Flugs wandte er sich erfreulicheren Gedanken zu. Im Grunde konnte er sich jetzt schon als stellvertretender
Kommandant fühlen - derzeit sogar als Kommandant! Eigentlich konnte er dem Schicksal – sprich Himperichs Mörder recht dankbar sein. Aber es würde keinen Pardon für diesen nichtswürdigen Kerl geben! Gut, daß man ihn gleich erwischt hatte. Jetzt brauchte er, Gunzelin, nur noch dafür zu sorgen, daß genügend Ruhm für ihn abfiel, wenn er den Mordfall so schnell zu einem Abschluß bringen konnte. Ganz Freiburg würde bei der Hinrichtung zugegen sein, und er konnte sich gut dem Volke und den Oberen bekannt machen, bevor Briegel die Chance zu nutzen vermochte. Bei diesem Gedanken lächelte Gunzelin von der Traube vergnügt vor sich hin und zwirbelte seinen dünnen Schnauzbart. Er sah sich schon als neuer Kommandant ... * Der Reiter kam am frühen Nachmittag in die Schlucht. Es war einer der Räuber, die sich ständig in der weiteren Umgebung des Verstecks und in den umliegenden Ortschaften herumtrieben und unauffällig Erkundigungen einholten. Diesmal brachte der Mann Wittich keine erfreuliche Kunde von einem Warentransport, der leicht überfallen werden konnte. Dabei mußten die Vorräte für all die vielen Esser ergänzt werden. Beim letzten Überfall hatten die Räuber zwar zwei Wagen mit Salz erbeutet - eine äußerst kostbare Beute - doch von Salz allein ließ sich nicht leben. Die Gefangenen arbeiteten hart und brauchten kräftige Nahrung. Es wurde Zeit, daß wieder für Proviant gesorgt wurde. Doch in dieser Hinsicht brachte der Mann keine Neuigkeiten. Er berichtete, daß man Thomas Himperichs Leiche unweit des Verstecks der Bande gefunden hatte. Voller Zorn ließ Wittich den Räuber Heinrich zu sich kommen, der den Auftrag gehabt hatte, den Toten zu begraben. »Du solltest die Leiche für immer verschwinden lassen«, grollte Wittich.
»Jaja«, stammelte Heinrich, dem Schlimmes schwante. »Und wie erklärst du dir, daß man die Leiche doch gefunden hat?« »Das war so. Ich ...« Fast ansatzlos schlug Wittich mit dem Handrücken zu. Mit einem Aufschrei taumelte Heinrich zurück. Wittich schlug die weite Tuchjacke zurück. Langsam, fast bedächtig zog er die Peitsche hervor, die um seine Hüfte gewickelt war. Er rollte die Peitsche aus. Die lange, geflochtene Lederschnur ringelte über den Boden wie eine Schlange. Heinrich starrte voller Furcht darauf. »Du solltest dir schnell eine Entschuldigung einfallen lassen!« zischte Wittich. »Das war so. Ich ...« Die Peitsche knallte dicht vor Heinrichs Nasenspitze, und erschrocken sprang er zurück. »Eine knappe, vernünftige Antwort, die mich vielleicht versöhnlich stimmen könnte!« sagte Wittich und holte drohend mit der Peitsche aus. Und Heinrich sprudelte die Worte förmlich hervor: »Ich wollte tun, was mir befohlen, Herr. Doch da tauchten Reiter auf. Aus Peterzell. Ich habe den Schmied erkannt. Sie suchten nach der Leiche. Da versteckte ich mich schnell. Mir blieb keine Zeit mehr, um auch die Leiche zu verstecken. Sie hätten mich erwischt und dann ...« Er griff sich an den Hals, als schnürte ihm ein unsichtbarer Galgenstrick die Luft ab. »Wie konnten sie in der Nähe unseres Verstecks nach der Leiche suchen?« fragte Wittich zweifelnd. Heinrich wußte keine Erklärung darauf. Doch sein Kumpan Wenzel kam ihm zu Hilfe. Er berichtete, was er in Peterzell erfahren hatte. »Der Mann, der den Gaul mitnahm, hat ihnen die Stelle beschrieben, wo er ihn fand.« Und er erzählte, daß man den Fremden des Pferdediebstahls und Mordes verdächtigte und nach Freiburg brachte, auf daß er dort am Galgen hänge.
Wittichs Augen hatten einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. »Sagten nicht die beiden Schnüffler, sie hätten in Peterzell auf einen dritten Mann gewartet, angeblich auf einen Händler?« Sowohl Wenzel als auch Heinrich nickten. »Und der dritte Mann fragte in Peterzell nach seinen beiden Burschen, wie ich hörte«, sagte Wenzel. In Wittichs Augen leuchtete es auf. »Dann ist dieser dritte höchstwahrscheinlich ebenfalls ein Schnüffler. Jedenfalls gehört er zu den beiden. Und man will ihn hängen?« Wenzel nickte. »In Freiburg, wenn die Beweise reichen, sagte der Pater in Peterzell.« Wittich überlegte kurz, dann klaffte sein falscher Bart auf, und er zeigte grinsend ein kräftiges Gebiß, dessen Schneidezähne ein wenig schiefgewachsen, doch sehr weiß waren. »Wir werden dafür sorgen, daß die Beweise reichen«, murmelte er. »Der Schnüffler wird als Mörder baumeln. So vermeiden wir, daß hier noch jemand nach Spuren oder sonstwas herumsucht. Es ist immer gut, wenn man einen Sündenbock präsentieren kann.« Er dachte an Edeltraut, seine neue Beatrix. Irgendwann konnte sie erfahren, daß ihr Vater in der Nähe der Schlucht ermordet worden war. Da war es gut, wenn man damit aufwarten konnte, daß der Täter ein fremder Pferdedieb gewesen war, der am Galgen gestorben war. So würde sie nie den Mord mit ihm oder seinen Männern in Zusammenhang bringen ... »Ja, wir werden dafür sorgen, daß der Mann aufgehängt wird«, murmelte Wittich. »Aber wie?« fragte Wenzel neugierig. »Das laß mal meine Sorge sein«, erklärte Wittich. »Ich habe schon einen Plan.« Dann heftete er seinen Blick auf Heinrich, und seine Miene verfinsterte sich wieder. »Auf jeden Fall hast du Fehler begangen. Du hättest das Roß des Eindringlings suchen müssen.«
Heinrich wäre am liebsten im Erdboden verschwunden. Er vergaß in seiner Aufregung, seinem Kumpan Franz in diesem Punkt die Schuld zu geben. »Und du hast die Leiche nicht verschwinden lassen«, fuhr Wittich mit dumpfer Stimme fort. Er wandte sich um und gab einigen Räubern, die müßig um ein Feuer saßen und herüberblickten, einen Wink. Sofort eilten sie herbei. Wittich faßte einen Hünen mit blondem Bart ins Auge. »Josef, beklagtest du dich nicht, daß Heinrich dich neulich beim Würfeln um sieben Dukaten betrog? Wolltest du ihm nicht den Schädel einschlagen, was ich verbot, weil ich bei den vielen Gefangenen auf keinen Mann verzichten kann?« Der Hüne warf einen wütenden Blick zu Heinrich und nickte ein paarmal. »Nun, du kannst dich mit Heinrich beschäftigen«, sagte Wittich. »Er hat Patzer begangen, die uns in Schwierigkeiten hätten bringen können. Und du weißt, was ich von Versagern halte.« Josef grinste erfreut, ballte die massigen Hände zu Kürbisfäusten und rieb sich über die Knöchel. Er blickte zu Heinrich, als wolle er schon Maß nehmen. Wittich hielt ihm die Peitsche hin. »Du darfst ihm dreißig Hiebe verpassen.« Josef nahm die Peitsche. Er wußte nichts Rechtes damit anzufangen, und der kurze Stiel verschwand fast in seiner Kürbisfaust. Unschlüssig blickte er auf die Lederschnur. Man sah ihm an, daß er sein Mütchen an Heinrich lieber mit den Fäusten gekühlt hätte. »Schafft Heini weg«, sagte Wittich zu den anderen. »Hinten zum Staudamm, damit Josef ungestört seines Amtes walten kann.« Er wollte vermeiden, daß Edeltraut zusah. Sie lag ihm ständig in den Ohren und bettelte, er möge auf Gewalt verzichten. Die sanfte liebe Edeltraut. Sie hatte ein gutes Herz wie Beatrix . ., Zwei Männer packten Heinrich. Er ließ sich widerstandslos von seinen eigenen
Kumpanen wegführen, denn der Hüne Josef drohte, ihn sonst zusammenzuschlagen. »Josef?« rief Wittich ihm nach. »Ja, Herr?« Wittich grinste kalt. »Heinis Schädel sollst du dranlassen, doch sonst brauchst du dich nicht in Zurückhaltung zu üben.« Josef nickte und folgte mit der Peitsche in der Hand den anderen. Er ließ die Peitsche ein paarmal knallen, um ein bißchen zu üben. Wittich wandte sich derweil an Wenzel. »Hör zu, ich will dir erklären, was wir tun werden ... « Louis und Pierre sahen bei der Arbeit am Staudamm auf. Sie hörten einen gräßlichen Schrei und ein Klatschen. Dann sahen sie, wie einer der Räuber einen anderen auspeitschte, hörten die grauenvollen Schreie und beobachteten dann, wie der gepeinigte Mann zusammensank und verstummte. »Mein Gott, der schlägt ihn tot«, flüsterte Pierre und starrte entsetzt hin. Louis zuckte mit den Schultern. »Es ist einer der Räuber. So leid er einem auch tun kann, es wäre das Beste für uns, wenn sich die Dreckskerle gegenseitig totschlagen. Besonders diesen Wittich, der uns hier wie Sklaven schuften läßt.« Er hatte so leise gesprochen, daß nur Pierre und einer der anderen Gefangenen ihn hatte hören können. »Ganz meine Meinung«, raunte der andere Gefangene neben Louis. Es war Paul, der Kutscher, der mit den drei als Nonnen verkleideten Mädchen den Räubern in die Hände gefallen war. Auch er hatte leise gesprochen, doch einer der Aufseher, die mit vorgereckten Lanzen dastanden, die Gefangenen bewachten und ständig zur Arbeit antrieben, wurde aufmerksam. »Was ist, wollt ihr auch die Peitsche spüren?« rief er. »Weiterarbeiten und Schnauze halten, oder ihr seid reif!« Die Knappen und Paul arbeiteten weiter. Sie hatten erlebt, was mit Gefangenen geschah, die aufmuckten. Das wollten sie sich ersparen. Pierre tastete einmal über sein schmerzendes Hinterteil. Die Salbe hatte die Schmerzen gelindert, doch es brauchte noch einige Zeit bis
zur Heilung. Während der Arbeit dachte er mit Wehmut an seine Zeit als Page auf Schloß Camelot. Wie so oft bedauerte er, die seidenen Sessel bei Hofe gegen das harte Handwerk des Knappen eingetauscht zu haben, das ihn schon in viele Gefahren geführt hatte. Und er dachte schweren Herzens an Ritter Roland. Wie sollte Roland sie hier finden? Gewiß war er längst in Peterzell eingetroffen und wartete auf sie. Daß es anders war, erfuhr Pierre später. Louis hatte einen Aufseher gefragt, weshalb einer der Räuber ausgepeitscht worden war. Grinsend erzählte der Mann, was er inzwischen erfahren hatte. Und er hatte hinzugefügt: »Euren Freund, den Händler könnt ihr übrigens vergessen. Der liegt in Freiburg im Kerker und wartet auf seine Hinrichtung. In spätestens drei Tagen wird er baumeln, euer Freund!« * Rolands Hoffnung, daß sich alles aufklären würde, hatte sich in Nichts aufgelöst wie Morgennebel in der Sonne. Gunzelin von der Traube hatte all seine Aussagen pedantisch genau zu Papier gebracht, obwohl er von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht hatte, daß er von Rolands Schuld überzeugt war. Aus seinen Äußerungen hatte Roland erkannt, daß der ehrgeizige Mann nur zu gerne die Lorbeeren anderer eingeheimst hätte, die eigentlich gar keine waren. Ein aufsehenerregender Mordfall, eine prompte Aufklärung und eine prächtige Hinrichtung für das Volk, das gerne ein Schauspiel genoß - all das konnte ihm von Nutzen in seinem Amt sein. »Ein Ritter wollt Ihr sein«, hatte er spöttisch gefragt und die höflichere Anrede gewählt, obwohl er zuvor Roland wie einen Strolch herablassend geduzt hatte. »Nun, ich bin bereit, das zu überprüfen. Derweil biete ich Euch meine Gastfreundschaft. Leider
kann ich nicht mit einem Schlosse dienen. Ihr müßt schon mit dem Kerker vorlieb nehmen.« Das tat Roland nun seit zwei Tagen. Dann brachte ihm Gunzelin die niederschmetternde Kunde: »Zwei völlig untadelige Herren haben gegen dich ausgesagt, Ritter.« Das hatte er genüßlich und spöttisch betont. »Sie haben dich beobachtet, wie du Thomas Himperich heimtückisch auflauertest und ihn ermordetest. Sie haben die Schwurhand gehoben und den heiligen Eid auf ihre Aussage geschworen. Du wirst hängen, Ritter.« Und im Selbstgespräch hatte er hinzugefügt: »Vielleicht wäre es ganz gut, wenn er wirklich ein Ritter wäre. So erhielte das dumme Volk einen Beweis, daß vor dem Gesetz alle gleich sind ...« Dann war Roland allein mit der Dunkelheit, bei Wasser und Brot in einem kahlen Verlies der Kommandantur. Er dachte an die Knappen. Wo blieben sie nur? Aber was konnten sie überhaupt tun, wenn sie in Peterzell von den Ereignissen erfahren hatten? Sie konnten nichts gegen den Schwur zweier untadeliger Herren tun, wie Gunzelin sie bezeichnet hatte. Weshalb hatten die Kerle einen Meineid geleistet? Vermutlich hatten sie das im Auftrag der Bande getan, die Menschen und Frachttransporte verschwinden ließ. Sie mußten herausgefunden haben, daß man Nachforschungen anstellt, was ja nur zu erwarten war, aber vor allem, wer versuchte, ihnen auf die Schliche zu kommen. Und sie hatten schnell gehandelt, bevor die Nachforschungen überhaupt zu einem Resultat geführt hatten ... Die Knappen! Sie hatten eine Spur gefunden, wie sie ihm mitgeteilt hatten. Dann waren sie mit einem Wagen aus Peterzell fortgefahren. Ob sie in eine Falle getappt waren? Roland überlegte, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl seines Hengstes und den anderen Ereignissen geben konnte. Helga hatte ihn raffiniert hereingelegt. Im Auftrag der Bande? Damit sie ihm ein anders Pferd förmlich aufdrängen konnten, das auffällige Roß eines hohen Polizisten, der ermordet worden war? Damit sie ihm zum Mörder stempeln konnten?
Er glaubte Helga vor sich zu sehen, und seine Gefühle waren zwiespältig. Die Überlegungen führten zu nichts. Selbst wenn er eine Erklärung für alles fand, konnte er nichts tun. Er lag zwar nicht in Ketten gefesselt, doch es gab kein Entrinnen aus dem Kerker. Er konnte nur noch hoffen. * Nun, Wunder sind recht rar, und auch auf eine gute Fee kann man oft recht lange warten, selbst wenn man fest davon überzeugt ist, daß es sie gibt. In Ritter Rolands Fall gab es eine. Und sie war schon emsig damit beschäftigt, für das Wunder zu sorgen. Gunzelin betrachtete wohlgefällig die hübsche, grazile Maid. Rotblonde Locken lugten unter dem buntkarierten Kopftuch hervor. Gunzelins Blick streifte kurz die kleinen, neckisch spitzen Hügel, die sich unter der dünnen Bluse abzeichneten. Nicht allzuviel, dachte er, doch fest und knackig. Sie lächelte, und um ihre Mundwinkel bildeten sich lustige Grübchen. Das Lächeln gefiel Gunzelin. Er war Junggeselle, und wenn ihn eine Maid anlächelte, noch dazu eine solch hübsche, dann überlegte er manchmal, ob er immer einer bleiben mußte. Nicht, daß er auf alle Freuden des Lebens verzichtet hätte - im Gegenteil, er kaufte sich so einige leibliche Genüsse. Doch meist blieben dann nicht genug Dukaten übrig, um auch die Plagen des Lebens aus der Welt zu schaffen: Zum Beispiel Kochen, Putzen, Flicken, Aufräumen und all die anderen Unannehmlichkeiten, die einen sonst recht zufriedenen Junggesellen auf den Gedanken bringen konnten, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Ja, bisweilen spielte er mit dem Gedanken, in den Hafen der Ehe zu segeln, wie die Seefahrer zu sagen pflegten. Gunzelin war also ob des Lächelns der Maid recht angetan und
ihren Wünschen aufgeschlossen. »Was kann ich für Euch tun, schöne Dame?« fragte er galant und lächelte ebenfalls. »Ich habe einen Wunsch, Kommandant.« Die langen Wimpern flatterten scheu. Der »Kommandant« ging Gunzelin herunter wie Bienenhonig von süßesten Waldblumen. Er verzichtete darauf, zu erklären, daß es noch nicht ganz soweit war und sagte statt dessen mit einem tiefen Blick in ihre Augen: »Aber jeder Wunsch von Euch ist mir Befehl, schöne Dame!« »Dann laßt mich bitte zu dem Gefangenen.« Ihre Hand spielte nervös mit dem Zipfel des blauweißkarierten Tuchs, das den Korb aus Weidenrute abdeckte, den sie auf den Schreibtisch gestellt hatte. Gunzelin blinzelte ein wenig enttäuscht. Er zwirbelte seinen Schnauzbart. »Zu welchem Gefangenen? Wir haben derzeit drei Haderlumpen, die ...« »Zu dem Mann, der als Mörder und Pferdedieb aufgehängt werden soll. Roland heißt er.« Sie lächelte zaghaft, doch diesmal freute sich Gunzelin nicht so sehr darüber. Das war es also! Deshalb hatte sie ihn so flammend angeschaut. Aus purer Berechnung! Diese Weiber! Womöglich war sie gar ein Liebchen von diesem Kerl... Gunzelin bereute, so voreilig versichert zu haben, ihr Wunsch sei ihm Befehl. »Wie gerne würde ich Eure Bitte erfüllen«, sagte er mit einem säuerlichen Lächeln. »Jedoch, mir sind die Hände gebunden. Vorschriften, versteht Ihr? Niemand darf mit dem Gefangenen sprechen, es sei denn ...« »Es sei denn?« hakte sie hoffnungsvoll nach. Abermals bereute Gunzelin seine Voreiligkeit. »Es sei denn, Ihr wärt eine nahe Verwandte.« »Das bin ich ... eine sehr nahe Bekannte ...« Und als sie Gunzelins
bedauerndes Kopfschütteln sah, fügte sie hastig hinzu: »Ich bin seine Braut.« Gunzelin unterdrückte ein Seufzen. Die miesesten Kerle haben so oft die nettesten Weiber, dachte er mißmutig und ein wenig neidisch. »Ihr hättet gewiß einen Besseren verdient«, sagte er. »Ich rate Euch, schöne Dame, vergeßt diesen Mann. Es gibt genügend gute und anständige Männer in Freiburg.« Er reckte sich in Positur. »Wenn Ihr erlaubt, werde ich Euch helfen, diesen Unwürdigen zu vergessen ...« Sie errötete leicht. »Ja, ich werde sehr einsam sein nach seinem Tode. Ich werde in meiner Kammer in der Hubergasse sitzen und mir die Augen ausweinen. Und ich werde ewig mit dem Schicksal hadern, weil ich ihn nicht ein letztes Mal sehen konnte...« Sie verstummte schluchzend. »Gemach, gemach«, sagte Gunzelin hastig, und er notierte im Geiste »Hubergasse«. »Wenn Ihr seine Braut seid, kann ich vielleicht eine Ausnahme machen. Schließlich führe ich hier das Kommando.« »Oh, das würdet Ihr tun? Ihr würdet mich seine letzte Nacht mit ihm teilen lassen?« »Nun, keine ganze Nacht«, schwächte Gunzelin ab. Das gönnte er dem Kerl nicht. »Aber ich werde Euch genügend Zeit lassen, von ihm Abschied zu nehmen.« »Oh, ich danke Euch für Euer gutes Herz! Das werde ich Euch nie vergessen.« Hoffen wir es, dachte Gunzelin. »Führt Ihr mich jetzt zu ihm?« fragte sie. »Ich kann schlecht gehen mit meinem geschienten Bein«, sagte er. »Mein Adjutant wird Euch begleiten.« Er erhob sich schwerfällig und rief nach einem gewissen Mühlberger. Die junge Frau nahm den Korb vom Schreibtisch. Es entging Gunzelin nicht, daß sie wiederum nervös mit dem Zipfel des Tuches spielte, das den Inhalt des Korbes abdeckte. Da ist doch was faul! dachte Gunzelin.
Er humpelte zu ihr. Er ergriff ihre feingliedrige Hand und zog sie von dem Tuch fort. Dabei hielt er die Hand länger, als es nötig gewesen wäre und schaute ihr tief in die Augen. Sie lächelte, doch sie wirkte sichtlich angespannt. Die Hand zitterte leicht in seiner. Er nahm ihr den Korb ab und stellte ihn auf die Schreibtischplatte. »Was ist denn da drin?« fragte er wie beiläufig. Sie erschrak. »Oh, nur etwas zu essen und trinken«, sagte sie schnell. »Die Henkersmahlzeit, wenn Ihr so wollt.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist verboten, etwas zu den Arrestierten mitzunehmen.« Während er sich sorgfältig den Inhalt des Korbes ansah, fügte er im Tonfall eines Vaters, der einer dummen Tochter etwas erklären möchte, hinzu: »Man könnte ihm eine Waffe einschmuggeln oder...« »Eine Waffe?« Es klang bestürzt. Ein Mann betrat die Amtsstube. In diesem Augenblick zog Gunzelin einen Dolch aus dem Korb. Die Krümel von Sandkuchen klebten an der Klinge. Triumphierend hielt er den Dolch hoch. »Nun, was haben wir denn da?« fragte er mit einem breiten Grinsen. »Ein Dolch!« Die junge Frau schlug die Hand vor den Mund. Es sollte wohl überrascht klingen, doch Gunzelin sah ihr das schlechte Gewissen an. »Ein Dolch!« sagte fast gleichzeitig Mühlberger, der Adjutant. »Erraten.« Es war Gunzelin anzumerken, daß er die Situation und seine Überlegenheit genoß. »Diese Dame wollte ihn zu dem Gefangenen schmuggeln«, erklärte er seinem Adjutanten, der verwundert vom Dolch in Gunzelins Hand zu der jungen Frau blickte. »Nie hätte ich ...« begann die Maid, doch sie erkannte wohl selbst, daß das reichlich schwach klang und verstummte. Tadelnd schüttelte Gunzelin den Kopf. »Ihr werdet mich gewiß
nicht für dumm gehalten haben, schöne Dame.« »Aber gewiß nicht!« »Nun, dann will ich zu Euren Gunsten annehmen, daß jemand den Dolch ohne Euer Wissen in den Kuchen gesteckt hat. Ich will noch einmal gnädig sein. Ihr sollt Eurem Bräutigam Lebewohl sagen dürfen. Wie lautete noch Eure Wohnadresse, schöne Dame?« »Hubergasse, neben der Spenglerei, Kommandant... wieso?« »Nun, es könnte ja sein, daß ich mal zufällig hereinschaue bei Euch - um zu kondolieren. Vielleicht erinnert Ihr Euch dann meiner Großherzigkeit.« Sie nickte benommen. Sie ließ die Schultern hängen, senkte den Kopf und schien den Tränen nahe zu sein. Gunzelin trat zwei Schritte zur Seite und winkte seinen Adjutanten zu sich. Im Flüsterton sagte er: »Bring sie zu dem Gefangenen, der morgen hängen soll. Sie ist seine Braut. Beobachte die beiden durch den verborgenen Sehschlitz und erzähle mir, was sie so getrieben haben.« »Jawohl, beob ...« Mit ärgerlichem Wink und Blick schnitt Gunzelin seinem Adjutanten das Wort ab. »Ich gewähre der Dame zwei Stunden«, sagte er und warf einen Blick zu ihr. »Das müßte doch reichen oder?« Sie senkte erneut den Kopf. Sie wirkte immer noch wie eine ertappte Sünderin. Gunzelin blickte ihr dann lächelnd nach, als sie mit Mühlberger hinausging. Er pickte eine Rosine aus dem Kuchen und schob sie sich in den Mund. Du kleines Dummerchen, dachte er. Mit einem simplen Trick wolltest du mich hereinlegen!« Er schüttelte grinsend den Kopf. Er war sehr stolz auf sich. * Schritte näherten sich auf den Gang. Ein Schlüssel rasselte.
Roland öffnete blinzelnd die Augen und blickte zur dicken Eisentür des Kerkers, die er in der Dunkelheit nur an den Geräuschen erahnen konnte. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Kamen sie, um ihn abzuholen? Um ihn zum Galgen zu schleppen? Er hatte jedes Zeitgefühl in der Dunkelheit und Stille verloren. Mit leisem Quietschen schwang die Tür auf. Einer von Gunzelins Männern tauchte in der Tür auf. In einer Hand hielt er ein Schwert, in der anderen eine Lampe. Roland war aufgesprungen. Doch er wußte, daß er keine Chance hatte. Und selbst wenn es ihm gelang, den Mann zu überwältigen, gab es keine Entkommen für ihn. Es gab weitere Wachen. Mühlberger grinste ihn an. »Da will sich jemand verabschieden«, sagte er und gab jemand auf dem Gang einen Wink. Dann sah Roland die Maid, die den Kerker betrat. »Helga!« entfuhr es ihm überrascht. Und dann war er noch überraschter. Denn Helga lief auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. »Geliebter!« rief sie dabei. Sie küßte und herzte ihn. Bevor Ritter Roland einen klaren Gedanken fassen konnte, sagte Mühlberger mit anzüglichem Grinsen: »Dann viel Spaß.« Er stellte die Lampe ab und zog die Tür zu. Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Schritte entfernten sich, verstummten aber erstaunlich schnell. Sofort löste sich Helga von Roland. »Wir werden beobachtet, wisperte sie. »Ich erkläre Euch gleich alles. Küßt mich!« Nun, das tat Ritter Roland. Er war aber so verwirrt, daß er gar keinen rechten Genuß dabei fand, obwohl Helga sich voller Leidenschaft gebärdete. Schließlich bog Helga den Kopf zurück, hielt immer noch die Arme um seinen Nacken und blickte zu ihm auf.
»Es hat leider nicht geklappt, Liebling«, sagte sie laut, zwinkerte ihm dabei beschwörend zu und schickte ein trockenes Schluchzen hinterher. »Er - hat den Dolch gefunden, den ich dir bringen wollte. Jetzt kann ich dir nichts als meine Liebe geben.« Sie löste sich von ihm. Sie streifte das Kopftuch ab und schüttelte ihr Haar aus. Dann zog sie die Bluse aus! Roland blickte verdutzt. Und sie knöpfte den Rock auf! Sie zog ihn langsam an den Hüften hinunter! »Sagt kein Wort«, wisperte sie kaum hörbar. Es hatte ihm ohnehin die Sprache verschlagen. Er starrte sie gebannt an, nahm ihre Schönheit in sich auf - und dann sah er noch etwas anders: Der Knauf eines Messers ragte aus ihrem seidenen Unterhöschen! »Nimm mich in die Arme«, sagte sie laut und schmiegte sich an ihn. Das tat Roland nur zu gerne. Er hatte zwar keine Vorliebe für Damen mit Messern im Schlüpfer, doch in diesem Fall hatte er das Gefühl, Helga sei ihm samt Messer vom Himmel geschickt worden. Mit einer Waffe konnte er sich eine Chance erhoffen. Zum Beispiel, wenn sie ihm die Henkersmahlzeit brachten ... Er nahm Helga in die Arme. Ihr Körper war weich und warm und anschmiegsam, doch das Messer drückte gegen seinen Schoß. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Ritter Roland, daß Helga mit dem Rücken zur Tür stand und somit die Sicht auf ihn verdeckte. Wir werden beobachtet, hatte sie gesagt. Es galt also, vorsichtig zu sein. Aber allzuviel war im schwachen Schein der Lampe ohnehin nicht zu erkennen, erst recht nicht, wenn man sie in inniger Umarmung sah. Mit geschickten Fingern zog er das Messer aus ihrem Höschen, langsam und tastend, damit er ihr nicht mit der scharfen Klinge die seidene Haut verletzte, und schob es unauffällig in seinen
Stiefelschaft. »Danke«, flüsterte er. »Ihr kommt mir vor wie eine gute Fee.« »Ich hörte, was Euch widerfahren ist - gewissermaßen durch meine Schuld. Mein Bruder, den ich mit Eurem Roß zum nächsten Ort schickte, berichtete mir alles.« Sie blickte ihn verlegen an, doch offenbar genierte sie sich nicht wegen ihres entblößten Busens, denn sie traf keinerlei Anstalten, die Bluse zuzuknöpfen. »Ich dachte mir, wenn Euch etwas an dem Roß liegt, spaziert Ihr zum nächsten Ort. Aber ich getraute mich nicht selbst dorthin. So schickte ich meinen Bruder. Es tut mir alles so leid. Nicht auszudenken, wenn Ihr durch meine Schuld am Galgen geendet hättet! Deshalb ritt ich mit meinem Bruder sofort nach hier um das Schreckliche zu verhindern.« »Ihr glaubt mir also, daß ich kein Mörder bin«, stellte Roland fest, und ein warmes Gefühl durchflutete ihn. Es tat gut, Vertrauen zu spüren, nachdem er Feindseligkeit und Mißtrauen, ja gar Haß ausgesetzt gewesen war. »Ich danke Euch für Euer Vertrauen.« »Ich Weiß, daß Ihr unschuldig seid«, bekräftigte sie. »Aber woher?« Roland war verblüfft. Diese Helga wartete doch immer wieder mit Überraschungen auf. »Niemand war dabei, als ich das reiterlose Pferd fand. Ich habe es nicht getan, aber rein theoretisch hätte ich den Besitzer töten können, um mir sein Pferd anzueignen.« »Laßt uns nicht untätig herumstehen«, flüsterte sie. »Ich sagte schon, wir werden beobachtet. Deshalb mußte ich auch mein frivoles Spiel treiben.« Jetzt war sie wirklich verlegen, das spürte er. Sie blickte wieder auf. »Aber es geht um Euer Leben.« Er nahm sie in die Arme, und wie von selbst sanken sie zu Boden. Roland hielt sie in den Armen. »Ihr seid der ruhmreiche Ritter Roland«, flüsterte Helga. »Nie hätte ich gedacht, Euch jemals kennenzulernen. Aber es ist so. Und Ihr haltet mich in Euren starken Armen ...« Nun, so stark fühlte sich Ritter Roland im Kerker nicht, obwohl er im Augenblick das Gefühl hatte, die Mauern des Verlieses mit
bloßen Händen einreißen zu können. »Ihr seid hier, um das Verschwinden der Menschen und Frachten aufzuklären«, fuhr Helga fort. »Hat sich das herumgesprochen?« fragte Roland verdutzt. »Nein. Doch die beiden Männer, die in Peterzell waren und sich als die Burschen eines Händlers ausgaben, sind Eure Knappen. Mein Bruder hat mal mit Ihnen gezecht, damals, als er sich im Bayerischen Wald als Holzfäller verdingt hatte, während Ihr dem Schrecken vom Höllensteinsee das Handwerk legtet. Eure Knappen kamen zu uns auf den Hof und sprachen mit meinem Bruder. Er versprach ihnen, nichts zu verraten. Und dann sah er in Peterzell, wie man Euch mit einem Wagen wegbrachte. Er erkannte Euch wieder. Doch er konnte nichts für Euch tun. Zudem verlor er viel Zeit, weil er nach Euren Knappen suchte.« »Hat er sie informiert?« fragte Roland angespannt. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Haar streifte seine Wange. »Sie waren nirgends zu finden. Aber ich habe einen von ihnen gesehen. Ich erkannte ihn wieder, denn ich sah die beiden zuvor, als sie auf unserem Hof mit Albert sprachen - Albert ist mein Bruder. Erst später, als er mir alles berichtete, sagte er: >Die Knappen waren die beiden, die auf unserem Hof waren<. Da wurde mir klar, daß ich einen von ihnen im Wald gesehen hatte, als ich vor Euch flüchtete.« »Im Wald? Was taten die Knappen denn da? Sie sollten doch in Peterzell auf mich warten.« »Es war nur einer, der Große mit dem schwarzen Vollbart.« »Louis.« »Ich weiß nicht, wie sie heißen« erwiderte Helga. »Aber es war zweifellos einer der Männer, die mit Albert gesprochen hatten und die er hinterher als Eure Knappen bezeichnete ... Und was er tat? Nun, er war völlig nackt...« »Dann wird er keine Pilze gesammelt haben«, bemerkte Roland, und er verspürte einen leichten Groll auf Louis, der sich offenbar im Walde vergnügt hatte, anstatt auf ihn zu warten wie verabredet. »Vermutlich nicht«, sagte Helga mit einem leisen Lachen. »Er
wollte mich aufhalten. Sicherlich hat er Euer Pferd erkannt. Doch zu diesem Zeitpunkt wußte ich ja nicht, daß er Euer Knappe ist, nicht einmal, daß es einen Zusammenhang zwischen Euch und ihm gibt. Mir fuhr der Schreck in alle Glieder, als ich so ein großes, nacktes Mannsbild auftauchen sah.« »Ja, Louis ist ziemlich kräftig gebaut«, sagte Roland und lächelte das grazile Mädchen an. »Ihr sagtet, Ihr seid vor mir geflüchtet, warum eigentlich?« »Ich - hielt Euch für einen Räuber. Für genauso einen Kerl wie den, der mir das Pferd stahl. Er wollte mir Gewalt antun, doch ich überredete ihn zu einem Bade, bevor es zum Schlimmsten kommen Sonnte, und ich konnte ihm mit knapper Not entkommen. Dann tauchtet Ihr auf. Ihr habt zwar erst galant geredet, doch das Getue kennt man ja. Oh, ich habe gemerkt, wie ihr mich begehrlich ange starrt habt. Und als Ihr mich dann einfach auf die Arme genommen und geküßt habt, da dachte ich, ihr seid genauso wie der andere. Ich hielt Euch für einen, der nur auf andere Weise zum Ziel kommen will, der sich nur verstellte, um mich zu täuschen und dann über mich herfallen wollte, wenn ich nicht Willens sein sollte ...« Sie lächelte entschuldigend. »Ich konnte doch nicht wissen, daß Ihr wirklich ein Ritter seid und mich ohne Hintergedanken mitnehmen wolltet. So wandte ich zum zweiten Mal meine List an und machte Euch Hoffnung, um mich retten zu können.« »Ja, ein wenig Hoffnung hatte ich«, bekannte Roland. Immer noch hielt er sie in den Armen, und er hatte in den letzten Minuten der geflüsterten Unterhaltung ganz vergessen, daß er sich in einem Kerker befand und daß nach wie vor der Galgen auf ihn wartete. »Wie habt Ihr erreicht, daß man Euch zu mir ließ?« fragte er. »Das war ganz leicht.« Helga lachte leise. »Dieser MöchtegernKommandant ist ein eitler Affe, der mir versteckte Angebote machte. Ein schmieriger Kerl. Er will mich nach Eurem Tod trösten, deutete er an. Wie ein verliebter Gockel benahm er sich - aber wesentlich verschlagener. Aber er fiel prompt darauf herein, als ich ihm den
Dolch in dem Kuchen präsentierte. Er war so stolz auf seinen vermeintlichen Scharfsinn, daß er ganz vergaß, mich nach einem zweiten Messer abzutasten.« »Gute Idee«, sagte Roland. »Ich muß schon sagen, Ihr habt originelle Einfälle, Helga.« Sie lächelte, und um ihre Mundwinkel bildeten sich neckische Grübchen. »Es war eine Idee von Albert. Auch, daß ich mich als Eure Braut ausgeben sollte, damit man mich zu Euch ließ.« Täuschte er sich, oder schoß ihr jetzt das Blut in die Wangen? Genau war es im schwachen Schein der Lampe nicht zu erkennen, zumal sie mit dem Rücken zum Licht an ihn geschmiegt war. »Ein raffinierter Einfall«, sagte Roland. »Ich - mußte Euch küssen und alles ...« Sie bedachte ihn mit einem schnellen, verlegenen Blick. »Man darf keinen Verdacht schöpfen. Wir müssen so tun, als ob wir uns liebten.« »Das ist die beste aller Ideen«, sagte Roland, zog sie fester an sich und küßte sie auf die lockenden Lippen. »Fast zwei Stunden lang«, hauchte sie, und es klang wie ein Seufzen. Roland, war recht erregt, doch nie hätte er diese Situation schamlos ausgenutzt. Helga war als gute Fee gekommen, um ihm zu helfen. Und wenn auch die Umstände dieses pikante Spiel erforderlich machten, so mußte er sich zur Ordnung mahnen. Helga tat alles nur, um sein Leben zu retten ... »Ich danke Euch«, sagte er mit belegter Stimme. »Verzeiht mir, daß ich Euch in den Armen halte ...« »Es muß echt wirken«, seufzte sie und schmiegte sich an ihn. »Und daß ich euch küßte ...« »Man könnte sonst argwöhnisch werden.« Jetzt küßte sie ihn auf die Lippen und schloß dabei die Augen. Sein Herz pochte noch heftiger, und er spürte, wie ihr Kuß Verlangen in ihm weckte. Doch es konnte nicht sein. Es durfte nicht sein! Sanft schob er sie von sich, so schwer es ihm auch fiel. Auch sie
war erregt. Er erkannte es an ihren Augen, an ihrem heftigen Atem. Es war, als sei ein Funke zwischen ihnen übergesprungen und hätte erst ein zartes Flämmchen und dann ein Feuer entfacht. Es war süß und prickelnd - doch zugleich empfand er es als grausam. Denn es war nur ein Spiel, zu dem sie gezwungen waren. Ein Spiel, das Helga nur trieb, um ihn vor dem Galgen zu retten. Seine Ritterehre gebot ihm Zurückhaltung. Er dachte an das Messer im Stiefelschaft. Die Wachen waren äußerst aufmerksam gewesen. Doch mit dem Messer gab es vielleicht eine Möglichkeit, wenn man Helga hinausließ ... Helga berührte mit sanfter Hand seine Wange und riß ihn aus seinen Gedanken. Es war, als flatterte ein Schmetterling über seine Haut. Ihr Blick tauchte tief in seinen. »Und ich hielt dich für einen Räuber«, wisperte sie. »Und ich wünschte dich zum Teufel«, murmelte er leise, und es fiel keinem von beiden auf, daß sie zum vertrauten Du übergegangen waren. »Aber - ich hatte gar nicht mal so unrecht...« fuhr Helga versonnen fort. »Du scheinst mir wirklich ein Räuber zu sein. Ein Ritter, der mir das Herz raubt...« »Ich wollte nicht... ich würde niemals ...« begann Roland verwirrt und fühlte sich gemüßigt, ihr zu beteuern, daß er die Situation nicht auszunutzen gedachte. Zärtlich strich sie ihm mit einem Finger über die Lippen. »Sag nichts, Roland. Sag nichts und versprich nichts, was wir beide nicht mehr halten können. Es ist zu spät dazu. Mach lieber die Lampe aus. Oder willst du, daß man uns von jetzt an noch zuschaut?« * »Schläfst du?« flüsterte Pierre in der dunklen Höhle. »Wie könnte ich das«, brummte Louis leise. »Erstens tut mir verdammt der Hintern weh, und auf dem Bauch kann ich schlecht schlafen, es sei denn, ich habe eine weiche, warme Unterlage.« Er
lachte leise. »Und zweitens muß ich dauernd an Roland denken«, fügte er mit schwerer Stimme hinzu. »Ich auch«, seufzte Pierre. »Nie hätte ich gedacht, daß ich mal so an ihm hängen würde«, fuhr Louis leise fort. »Ich auch nicht.« Eine Weile herrschte Schweigen. Einige der anderen Gefangenen schnarchten. Einer schien im Traum die Arbeit des Tages fortzusetzen und dicke Buchenstämme durchzusägen. Die Knappen hingen ihren Gedanken nach. Sie wußten, daß auf Ritter Roland der Galgen wartete, und sie wußten, daß sie nichts zu seiner Rettung unternehmen konnten. Sie waren selbst Gefangene und vermutlich ebenso zum Tode verurteilt wie Roland. Es gab kein Entkommen aus der Schlucht. Im Gegensatz zu den Räubern waren sie waffenlos. Des Tags wurden sie streng bewacht, und selbst wenn einer flüchten würde, liefe er nur den Wachen an den Zugängen der Schlucht in die Arme. Nach der Schufterei am Staudamm bekamen sie Essen und mußten über die Strickleiter in die Höhle hinaufsteigen, die hoch in der Felswand als ihr Gefängnis diente. Zwei Räuber hielten unten am Fuß der steilen Wand Wache. Ein Abstieg war unmöglich, und jedes Geräusch würde zudem von den Wachen gehört werden. Einer hatte versucht, dennoch den Abstieg zu wagen. Er war abgestürzt und hatte sich das Genick gebrochen. Wittich, der Mann vom Hotzenwald hatte sich abgesichert. Und es war kaum damit zu rechnen, daß Hilfe von außen kam. Das Versteck der Bande lag fernab von allen Pfaden, und jeder Eindringling würde früh genug bemerkt werden. Die anderen Gefangenen hatten den Knappen erzählt, wie sorgfältig die Räuber ihre Spuren zum Versteck verwischt hatten. Sie hatten sogar die gekaperten Wagen weit genug entfernt verbrannt und die nichtbrennenden Teile in einer tiefen Felsspalte versteckt, bevor sie die Gefangenen und die Beute ins Versteck gebracht hatten. Die Zugänge zu der großen Schlucht, die nach Norden zu steil anstieg
und von einem tosenden Wasserfall begrenzt wurde, waren für Wagen unpassierbar. Es waren schmale, gewundene Felsspalten, gut getarnt von Gestrüpp, die gerade ein Pferd aufnehmen konnten. Aber der Bau des Staudammes muß doch bemerkt werden«, hatte Louis verständnislos eingewandt. »Das Hämmern, das Bäumefällen, das Sägen und die anderen Geräusche aus der Schlucht. Wir sind hier doch nicht auf dem Mond!« »Man könnte es aber meinen«, hatte einer der Gefangenen erklärt. »Keiner hat uns bisher hier entdeckt. Und wenn einer die Axtschläge des Tags von irgendeinem der weit entfernten Wege vernimmt oder ein Pilz- oder Beerensammler sie hört, wird er denken, Holzfäller seien an der Arbeit und sich nicht weiter darum kümmern. Zumal die Zugänge zur Schlucht so versteckt sind, daß nur ein Eingeweihter sie finden kann. Außerdem verschluckt das Rauschen des Wasserfalls die meisten Geräusche, und zudem behaupten die Einheimischen, hier hausten böse Geister, und kaum jemand wagt sich deswegen her.« Und der Mann hatte sich mit furchtsamem Blick bekreuzigt, obwohl er doch wußte, daß die bösen Geister aus Fleisch und Blut waren. Außer Wittich und seinen Spießgesellen hatte sich bisher jedenfalls niemand blicken lassen. Pierre bewegte sich auf dem harten Boden und stöhnte leise auf. Auch sein Hinterteil schmerzte noch, und er lag wie Louis auf dem Bauch. Zudem hatte er von der harten Arbeit Schwielen und Risse an den Händen, die mit Harz verklebt waren. »Woran denkst du, Louis?« fragte Pierre nach einer Weile. »An den Schatz«, murmelte Louis. »Almuth?« »Quatscht«, brummte Louis, obwohl Pierre ihn ertappt hatte, als könnte er Gedanken lesen. »An den Schatz aus Gold und Edelsteinen, den dieser Schweinehund Wittich heben will«, sagte er schnell. Auch Pierres Gedanken beschäftigten sich jetzt mit diesem Schatz aus dem Morgenland. Herzog von Wittgenstein sollte ihn mit seinen
Mannen auf einem Kreuzzug im Morgenland erbeutet haben. Dreißig Packpferde hatte man benötigt, um diesen unermeßlichen Reichtum zu befördern. Auf dem Heimweg war der Herzog mit seinen Mannen in ein Unwetter geraten. Der Wildbach war zu einem reißenden Strom angeschwollen und hatte die schwergerüsteten Männer erfaßt. Ein Erdrutsch hatte den Reitern den Rückweg abgeschnitten. Bei Donner und Blitz waren der Herzog und seine Reiter mit Mann und Maus - sprich Schatz - von den Fluten verschlungen worden. Auch oberhalb der Schlucht hatte die Erde gebebt. Niederstürzende Felsen und entwurzelte Bäume hatten eine Barrikade errichtet, und davor war ein See entstanden. Der See wurde von Wasserfall und Wildbach gespeist und hatte nur einen schmalen Abfluß, ein ruhiges Bächlein, das sich fast durch die gesamte Schlucht schlängelte, dann unterirdisch weiterfloß und irgendwo südlich des Berges wieder zu Tage trat. Diesen tiefen Bergsee wollte Wittich trockenlegen lassen, indem er mit einem Damm die Zufuhr, den Wildbach, staute und die vom Wasserfall schnell anschwellenden Wassermassen um die Schlucht herumleitete oder in einem weiteren höher gelegenen See sammelte. Dann brauchte er nur noch den Abfluß des tiefer gelegenen Sees zu vergrößern, damit das Wasser schneller abfloß, und da der See nicht mehr gespeist wurde, würde er bald zumindest so flach werden, daß gute Schwimmer tauchen und den Grund absuchen konnten. »Glaubst du, daß der Schatz tatsächlich in dem See liegt?« fragte Pierre aus seinen Gedanken heraus. »Sigismund, der Poet, der mit uns schuften muß, hat die Aufzeichnungen des Herzogs mit eigenen Augen gesehen. Daraus geht genau hervor, mit welcher Kriegsbeute und auf welchem Weg der Herzog und seine Mannen unterwegs waren. Bis zum letzten Tag ist alles beschrieben, bis zur letzten Etappe, die hier zu Ende ging. Der Herzog schrieb sogar von einem heraufziehenden Unwetter in seinem Tagebuch.« »Was glaubst du, wird Wittich mit uns machen, wenn er den Schatz hat?« fragte Pierre sorgenvoll. »Meinst du, er läßt uns
wirklich frei, wie er behauptet?« »Ich traue diesem Dreckskerl alles zu«, murmelte Louis. »Aber noch ist es nicht soweit. Es kann gut und gerne noch eine Woche dauern, bis der Damm fertig ist. Und bis dahin läuft noch viel Wasser in den See.« Wieder herrschte eine Weile Schweigen in der finsteren Höhle. Einer der Schnarcher schien die Säge gewechselt und einen anderen Baumstamm in Angriff genommen zu haben. Es klang jetzt, als rasselte er eine mitteldicke knorrige Eiche durch. »Vielleicht ist Roland jetzt schon tot«, murmelte Pierre schließlich dumpf. »Wenn wir doch wenigstens etwas tun könnten!« »Vielleicht können wir etwas tun«, sagte eine leise Stimme aus dem Dunkel. Louis und Pierre erschraken. Einer der Gefangenen mußte sie belauscht haben. »Wer bist du?« fragte Louis raunend. »Ich bin Sebastian Müller. Nur ein alter Kutscher, den diese Hundesöhne entführt haben. Ich habe mein Leben lang nur Wagen und Kutschen gefahren, doch ich bin dabei nicht verblödet.« »Hat ja auch keiner behauptet«, murmelte Louis. Ein leises Lachen ertönte. »Ich will damit nur sagen, daß ich noch zwei und zwei zusammenzählen und ein bißchen denken kann.« »Freut mich für dich«, erwiderte Louis schlechtgelaunt. »Sprich nicht so laut. Du könntest die Schläfer wecken. Ich komme zu euch.« Ein Scharren war zu hören. Dann fluchte Pierre unterdrückt. »Paß auf, wo du hinfaßt!« Eine tastende Hand hatte ihn am schmerzenden Hintern berührt. »Entschuldige.« Dann lag der Mann zwischen Louis und Pierre. »Hört zu, was ich mir so gedacht habe«, flüsterte Sebastian Müller. »Ich gehe schon geraume Zeit mit der Idee schwanger, doch ich wagte nicht, mich jemand anzuvertrauen. Man weiß nicht, ob es Verräter unter uns gibt oder Spitzel der Bande. Aber bei euch beiden
bin ich unbesorgt. Schließlich habe ich belauscht, daß ihr hier raus wollt, richtig?« »Richtig«, gab Louis zurück. »Wir drei könnten es schaffen«, sagte Sebastian Müller. »Und wie?« fragte Pierre zweifelnd. »Wir haben doch schon alles überlegt.« »Um diesen See trockenzulegen, bauen wir einen Staudamm, richtig?« »Richtig.« »Und dieser Staudamm schafft einen neuen, höhergelegenen See, der vom Wasserfall und Bach gespeist wird und schnell ansteigt, weil nicht so viel Wasser in den See abläuft wie zufließt, richtig?« »Komm zur Sache«, drängte Louis. »Was glaubt ihr, was passiert, wenn dieser Damm bricht und sich all die gewaltigen Wassermassen in den See ergießen?« »Dann wird der See anschwellen, über den Abfluß hinaus ...« »Richtig. Und wenn diese Bresche in der Barriere noch vergrößert wird?« »Dann wird es eine kleine Überschwemmung in der Schlucht geben«, antwortete Pierre. »Kleine Überschwemmung?« Sebastian Müller kicherte leise. »Die Fluten werden die ganze Schlucht überschwemmen und die Ratten ersäufen, die sich darin aufhalten, richtig?« »Und uns mit, richtig?« Louis äffte den Tonfall des Mannes nach, dessen Gedanken ihn interessierten, dessen dauerndes »richtig« ihm jedoch auf die Nerven ging. »Hier in der Höhle sind wir sicher, wenn die Fluten wie eine Lawine in die Schlucht hinabdonnern«, erklärte Sebastian Müller. »Nur ein alter Kutscher«, murmelte Louis nach verblüfftem Schweigen. »Mich dünkt, du bist ein richtiger Fuchs, Sebastian.« Und grinsend fügte er hinzu: »Richtig?« Sebastian kicherte leise. »Richtig. Natürlich gibt es noch viele Wenn und Aber und manche Unwägbarkeit bei der Sache. Doch hört mal zu, wie ich mir die
Höllenfahrt dieser verdammten Bande vorstelle ...« * Der Schüssel drehte sich im Schloß. Mit leichtem Quietschen schwang die schwere Tür auf. Das grinsende Gesicht von Mühlberber tauchte im Lichtstreifen auf, der hinter ihm vom Gang her in das Verlies fiel. Mühlberger hielt eine brennende Fackel in der Linken und sein Schwert in der Rechten. »Die Zeit ist um«, erklärte er und tat überrascht. »Oh, Verzeihung, schöne Maid. Wußte nicht, daß Ihr nackt...« Weiter kam er nicht mehr. Sekundenlang hatte er Helga angestarrt, die in der Tat in ihrem Naturkleid war, und als ihm dann auffiel, daß der Gefangene nicht zu sehen war, war es zu spät. Roland sprang hinter der Tür hervor und hielt ihm das Messer an die Kehle. »Keinen Laut!« zischte er, während er dem überraschten Mann das Schwert abnahm. Mühlberger erholte sich erstaunlich schnell von seinem Schreck. Vielleicht bemerkte er in der Aufregung das Messer nicht, vielleicht handelte er auch aus Panik, denn er wollte schreien. »Hil...« Roland schlug mit dem Schwert zu. Der Schrei verstummte im Ansatz, und Mühlberger brach zusammen. Roland fing die schlaffe Gestalt auf und ließ sie zu Boden gleiten. Er schob die brennende Fackel, die dem Mann aus der Hand geglitten war, mit der Stiefelspitze zur Seite, damit nicht die Kleidung des Bewußtlosen in Brand geriet. Helga kleidete sich bereits an. »Du hast ihn gut abgelenkt«, lobte Roland. »Schade, daß der Bursche nicht vernünftig war. Jetzt müssen wir warten, bis er zu sich kommt.« Helga lächelte Roland an. Ein glückliches Leuchten war in ihren Augen.
Roland wollte Gunzelins Adjutant als Geisel mitnehmen. Es gab ja die anderen Wachen, und nur mit Mühlbergers Hilfe konnte es ihnen gelingen, sie zu täuschen. Helgas Bruder Albert wartete draußen mit einem Wagen. Dieser Albert mußte ein findiger Bursche sein. Er hatte alles sorgsam bedacht. Er war sogar so klug gewesen, die beiden »untadeligen Herrn« zu beobachten, die einen falschen Schwur geleistet hatten. Zwei Dukaten hatte es ihn gekostet, um von einem Gardisten alle Einzelheiten zu erfahren; die würde er doppelt und dreifach zurückbekommen. Roland hoffte, daß Albert ihm sagen konnte, wo die beiden Lumpenkerle zu finden waren. Von ihnen konnte er vielleicht etwas erfahren, was ihm weiterhelfen würde ... Doch zunächst galt es, erst einmal in Freiheit zu gelangen. Und dazu mußte Mühlberger mitspielen. Roland tätschelte die Wangen des Mannes. Wenn es zu lange dauerte, konnten die Wachen Verdacht schöpfen. Mühlberger kam zum Glück rasch zu sich. Und erspielte mit. Er hatte Weib und Kind, und als Roland ihm mit grimmiger Miene erklärte, daß er zu allem entschlossen sei, schlotterte Mühlberger vor Angst und tat, was Roland verlangte. Den beiden Wachtposten hinter der Tür am Ende des Ganges fiel nicht auf, daß Mühlbergers Stimme seltsam gepreßt klang, als er behauptete, alles sei in Ordnung, er bringe die Dame zurück zu Gunzelin, sie sollten öffnen. Roland überrumpelte die beiden Posten. Keiner sonst begegnete ihnen auf dem Weg zur Amtsstube. Gunzelin saß hinter dem Schreibtisch und tauchte gerade die Feder ins Tintenfaß, als die Tür aufging. Er wandte den Kopf und sah seinen Adjutanten in der Tür auftauchen, hinter der der Gang zum Gefängnis führte. Die »Braut« folgte. Im schwachen Licht der Lampe, die auf dem Schreibtisch brannte und deren Schein nicht ganz bis zur Tür reichte, sah Gunzelin nicht, daß sein Adjutant bleich und verstört war und sich wie eine
Marionette bewegte. Gunzelin schrieb den Satz zu Ende und blickte lächelnd auf. »Nun, schöne Dame ...« Er verstummte jäh. Roland fegte Mühlberger zur Seite, daß er gegen die Wand taumelte und daran herabsank. Mit vorgerecktem Schwert stürmte Roland auf Gunzelin zu. Gunzelin riß sein Schwert aus dem Gehenk. Er war erstaunlich schnell und geistesgegenwärtig, das mußte man ihm lassen. Doch er überschätzte sich, als er mit Roland die Klinge kreuzen wollte. Roland mochte nicht mit einem Mann kämpfen, der mit dem geschienten Bein behindert war. Außerdem durfte er keine Zeit verlieren. Er schlug Gunzelin mit einem wuchtigen Hieb das Schwert aus der Hand und förderte es mit einem schnellen Tritt weit fort. Gunzelin war unbeholfen mit seinem geschienten Bein. Bei Rolands Hieb verlor er das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Der Weg war frei. Sie brauchten nur noch durch die Tür oder falls sie verschlossen war, durchs Fenster der Amtsstube hinaus in die Gasse, in der der Wagen warten mußte, wenn alles, wie von Albert geplant, abgelaufen war. »Nichts wie weg«, rief Roland Helga zu. Doch Helga verharrte noch bei Gunzelin, der am Boden lag und sich abmühte, mit dem geschienten Bein aufzustehen. »Schmutzfink«, sagte sie verächtlich. Dann riß sie das Tintenfaß vom Tisch und kippte Gunzelin den Inhalt ins Gesicht. Von einem Augenblick zum anderen verfärbte sich Gunzelin blau, und weil er gerade den Mund zu einem Alarmschrei aufgerissen hatte, schluckte er ein wenig Tinte. Statt des Schreies kam nur ein würgender Laut hervor, der wie »Haaaaahr« oder so klang. Als Gunzelin den Mund zum zweiten Mal aufriß, wohl mehr um nach Luft zu schnappen, warf Helga das Tintenfäßchen hinterher. Und sie hatte gut gezielt. Das kleine Faß flog Gunzelin in den Mund. »Du Schmierlappen, der im Amt einer Dame zweideutige Angebote macht, wirst niemals Kommandant«, rief Helga. Dann
folgte sie Roland, der die Tür unverschlossen fand und sie aufriß. Helga sollte mit ihren Worten Recht behalten. Gunzelin, der in diesem Augenblick noch an dem Tintenfaß schluckte, sollte später an dem Verweis schlucken, den ihm Briegel, der neue Kommandant der Stadtgarde, ob seines jämmerlichen Versagens gab. Schnell sprach sich bei den Oberen herum, daß Gunzelin ein schlechter Stellvertreter des Stellvertreters gewesen war, und sein Karrieretraum war ausgeträumt. Und wiederum später machte man ihm gar den Vorwurf, völlig unfähig zu sein, weil er einen unschuldigen Ritter an den Galgen hatte bringen wollen. Daß dabei auch andere Beamtete mitgewirkt hatten, übersah man geflissentlich. Ein Sündenbock kam gerade richtig ... Indessen hetzte Roland mit Helga durch die dunkle Gasse. Der Wagen war da. »Albert?« rief Roland gedämpft, als er ihn erreicht hatte. »Ja«, erwiderte der Schatten auf dem Kutschbock mit Baßstimme. »Unter die Plane mit euch beiden. Schnell!« Eile war in der Tat geboten. Denn aus der Amtstube stürmte Mühlberger auf die Gasse hinaus und schrie auf Geheiß seines NochVorgesetzten Alarm. Roland kletterte auf die Ladefläche des flachen Wagens. Er half Helga hinauf. Sie hatten noch nicht die Plane über sich gezogen, als der Wagen schon losfuhr. Wild trieb Albert die beiden Gespannpferde an. Der Wagen rumpelte aus der Gasse hinaus und bog in eine breitere Straße ein. »Der Wagen! Sie flüchten mit dem Wagen!« Mühlberger schrie aus Leibeskräften, unterstützt von dem tintigen Gunzelin, der sich des Tintenfäßchens entledigt hatte, zur Tür gehumpelt war und blauen Kopfes seinen Zorn hinausschrie. »Mörder! Mörder!« brüllte er und wandte gleich die Mehrzahl an. »Faßt sie!« Und bald darauf war der Teufel los. »Der Wagen, da ist der Wagen!« schrie ein Bürger aufgeregt.
»Mörder, Mörder!« So machte es alsbald die Runde, und schnell war die Jagd in vollem Gang. Albert raste in halsbrecherischer Fahrt durch die Stadt und tat sein Bestes, um die Verfolger abzuschütteln. Doch Reiter hatten die Verfolgung aufgenommen. Es schien auf einmal in der Stadt von Gardisten nur so zu wimmeln. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann man den Wagen stellte. Albert donnerte durch eine Seitengasse. An deren Ende tauchten Schatten auf. »Halt! Halt!« brüllte einer der Männer und stieß seine Lanze vor. »Wir haben sie!« schrie ein anderer triumphierend. »Hierher, Männer!« Dann schrien alle vier oder fünf Männer am Ende der Gasse gleichzeitig auf, denn Albert dachte nicht daran, anzuhalten. Er donnerte mitten durch die kleine Schar, die geradezu akrobatisches Talent bewies, als sich die Männer im Hechtsprung aus der Bahn warfen. Albert lachte dröhnend auf dem Kutschbock. Doch Roland, der die Plane von sich gezogen hatte und umherspähte, wußte, daß es keinen Grund zur Freude gab. Er sah, wie sich die Schatten links und rechts der Gasseneinmündung aufrappelten, als der Wagen vorbeigerast war, und er hörte Schreie und Hufschlag. Die Verfolger schienen überall zu sein. Blieb nur eines: Aussteigen! Auch Albert hatte wohl die Gefahr erkannt. »Ihr müßt weg, Ritter!« rief er über die Schulter. »Ich versuche, die Kerle noch eine Weile zu beschäftigen. Hier in der dunklen Gasse solltet Ihr abspringen. Wir treffen uns beim Gasthaus zum Goldenen Pflug am Südrand der Stadt.« »Und was wird aus euch beiden?« »Das laßt mal meine Sorge sein. Los jetzt! Sie dürfen nicht sehen, wo Ihr den Wagen verlaßt.« Helga tastete im Dunkeln nach Roland. Im nächsten Augenblick
spürte er ihre Lippen auf seinem Mund. »Paß auf dich auf«, sagte sie. »Los jetzt!« drängte Albert. Und Ritter Roland löste sich von Helga. »Wenn wir uns wiedersehen ...« hörte er Helga noch sagen. Dann warf er das Schwert, das er Mühlberger abgenommen hatte, vom Wagen und sprang nach einem schnellen Blick und einem Abschätzen des Tempos vom Wagen ab. Fast hätte er sich verschätzt. Er landete zwar gut und konnte sich über die Schulter abrollen, doch sein Schwung war zu groß und die Gasse zu schmal, und so prallte er gegen die Wand. Obwohl der Himmel von einer dichten Wolkendecke überzogen war, sah Ritter Roland einen Augenblick lang Sternchen. Er überlegte einen Moment lang, wo er war und weshalb ihm Schulter, Knie und Schädel schmerzten. Dann hörte er Hufschlag und entfernte Rufe. Sofort setzte die Erinnerung ein. Er rappelte sich auf und schob sich in einen Spalt zwischen zwei Häusern. Da stank es, als hätte dort jemand seine Notdurft verrichtet, doch das kümmerte Roland im Augenblick nicht. Er lauschte mit angehaltenem Atem dem Klappern der Hufe, das sich rasch näherte. Reiter galoppierten heran und sprengten dicht an ihm vorbei. »Da vorn ist der Wagen abgebogen!« schrie einer von ihnen. »Gleich haben wir ihn!« Roland wartete, bis der letzte Reiter vorbei war und sich der Hufschlag entfernte. Dann spähte er vorsichtig in die Gasse. Niemand mehr zu sehen. Er huschte aus dem Spalt zwischen den Häusern und lief zu seinem Schwert. Es mußte vielleicht ein Dutzend Klafter tiefer in der Gasse liegen. Zum Glück hatte es in der Dunkelheit keiner der Reiter bemerkt. Er fand es erst ein gutes Stück weiter als angenommen und erkannte daran, in welch höllischem Tempo Albert gefahren war, während er - Roland - vom Wagen gesprungen war.
Roland bückte sich nach dem Schwert. Da gewahrte er eine Bewegung zu seiner Rechten. Er wirbelte herum. Ein Schatten sprang aus dem Dunkel einer halb offenstehenden Haustür. Ein Keulenhieb schleuderte Roland zur Seite. Er stürzte neben sein Schwert. Benommen streckte er die Hand danach aus. Doch bevor er es ergreifen konnte, stieß der Schatten das Schwert mit einem Stiefeltritt aus seiner Reichweite. »Hab ich dich, du Lump!« sagte die dunkle Gestalt triumphierend. »Ich hab genau beobachtet, wie du vom Wagen sprangst. Da brauchte ich nur noch zu warten, bis du dein Schwert holtest. Das habe ich eigens als Köder liegenlassen. Und prompt hast du angebissen. Ich wette, es gibt eine hübsche Belohnung, wenn ich dich abliefere, du Galgenvogel!« Er fühlte sich siegessicher und war offenbar ein Mann der vielen Worte. Während er bedächtig mit der Keule ausholte, erklärte er, was er vorhatte: »Ich werde dir jetzt ein bißchen den Schädel plätten und dich dann der Stadtgarde ...»Dann schrie er auf und wankte zurück. Ritter Roland hatte nicht vor, sich den Schädel plätten zu lassen. Er wollte auch nicht der Stadtgarde ausgeliefert werden. Dann würde der Galgen auf ihn warten. Ritter Roland kämpfte um sein Leben. Während der triumphierenden Worte des schwatzhaften Mannes hatte er in der Dunkelheit unauffällig das Messer gezogen, das noch nach Helgas Schlüpfer duftete. Fast ansatzlos hatte er das Messer geschleudert. Es traf den Mann irgendwo am Oberarm und die Keule fiel ihm aus der zum Schlag erhobenen Hand. Der Kerl brüllte aus Leibeskräften. »Hierher! Hier ist der Mörder! Hilfe!« Und schon näherten sich aufgeregte Rufe, Hufschlag, die Schritte von rennenden Männern. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, um einen vermeintlichen Mörder zu jagen. Roland nahm sich nicht mal mehr die Zeit, das Schwert aufzuheben. Es hätte ihm gegen diese Übermacht ohnehin nichts genutzt. Und es kam auf jede Sekunde an. Hinten in der Gasse tauchten die Silhouetten von Männern auf. Fackelschein war zu
sehen. Blieb nur der Fluchtweg in die andere Richtung. Roland hetzte los. Hinter ihm blieb der schreiende Mann zurück. Er hatte sich eine Belohnung verdienen wollen, und jetzt mußte er mit dem Messer im Arm vorlieb nehmen. Roland erreichte das Ende der Gasse und hetzte nach links um die Hausecke. Niemand war in der breiteren Gasse zu sehen. Licht fiel aus einigen Fenstern. Roland bemühte sich, im Schatten zu bleiben. Dann tauchte vor ihm aus einer Seitengasse eine Gestalt auf. Zugleich sah Roland am Ende der breiteren Gasse einen laufenden Mann, der offenbar an der Jagd teilnahm und von falschem Alarm in eine andere Richtung gelockt worden war oder sich noch an der Jagd nach dem Wagen beteiligte. »Da läuft er!« brüllte Roland und wies auf den Mann. »Schnell ihm nach!« Der Mann blickte in die angewiesene Richtung rannte sofort los. Er merkte gar nicht, daß Roland in die Seitengasse einbog, aus der er gerade gekommen war. Schon stürmten Rolands Verfolger heran, und alle folgten dem Mann, der aufgeregt Rolands Worte aufnahm: »Da läuft er! Da läuft er!« Roland lächelte schwach. Eine Zeitlang würde man einen anderen jagen, bis sich das Mißverständnis aufklärte. Er drückte sich an die Hauswand neben den Lichtschein eines Fensters und lauschte den Schritten, die sich eilig entfernten. Dann zuckte er zusammen. Das Fenster wurde aufgestoßen, und eine junge Frau tauchte im Lichtschein auf. Sie neigte sich mit einer brennenden Kerze in der Hand aus dem Fenster und blickte in die Gasse. Gähnend murmelte sie: »Möchte wissen, was der Lärm zu bedeuten hat.« Dann erfaßte ihr Blick Roland, und ihre Stimme verlor alle Schläfrigkeit. »Huch!« stieß sie hervor und ließ vor Schreck die Kerze fallen. »Ein Mann!«
Es klang zwar erschrocken, doch keineswegs entsetzt, und vor allem war es leise, fast geseufzt. Die Maid trug ein Nachthemd und eine weiße Schlafhaube. Offenbar hatte sie geschlafen und wußte noch nicht, was in der Stadt los war. »Was tut Ihr da?« fragte sie mißtrauisch. Noch schrie sie nicht Zeter und Mordio. Und Roland mußte versuchen, es zu verhindern. Denn er hörte bereits weitere Männer nahen. »Ihr müßt mir helfen - bitte!« sagte er schnell mit sanfter Stimme. Er hob die Kerze auf und reichte sie ihr mit einer Verbeugung. »Was ist denn los? Was hat der Lärm zu bedeuten? Ist ein Feuer ausgebrochen?« »Kein Feuer«, sagte Roland. »Räuber sind unterwegs.« »Oh Gott! Und ich bin ganz allein im Haus.« »Ich werde Euch beschützen«, sagte Roland. »Geht vom Fenster fort, damit man Euch nicht sieht.« Sie tat es, ohne nachzudenken, ohne sich klarzumachen, daß der fremde Mann eine Gefahr hätte bedeuten können. Sie war jetzt nicht mehr schläfrig, und sie mußte schon recht einfältig sein, einen fremden Mann ohne Protest und Hilfeschreie durch ihr Fenster einsteigen zu lassen. Sie schloß das Fenster sogar eifrig hinter ihm und zog den Vorhang zu. Dann schritt sie mit der Kerze zu einem kleinen Tisch und steckte sie in einen Halfter. Sie wandte sich um und musterte Roland von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Seine Statur und sein Lächeln schienen ihr zu gefallen. Sie lächelte ebenfalls. »Ich träumte gerade«, sagt sie und wies zu dem Bett in der Kammer. »Ein großer starker Prinz drang bei mir ein.« Vermutlich ein Wunschtraum, dachte Roland, und er sah, daß die Maid recht prall, doch nicht gerade die schönste war. »Nun, groß und stark seht Ihr aus, und eingestiegen seid Ihr auch, doch wie ein Prinz seht Ihr mir nicht gerade aus.« »Ich bin auch keiner«, sagte Roland und bedachte sie mit einem
charmanten Lächeln. »Ich bin ein Ritter, und eine wilde Bande ist hinter mir her. Sie suchen nach mir. Ich bitte Euch, mich nicht zu verraten.« Ihre Kulleraugen blickten interessiert. »Fast wie in meinem Traum«, sagte sie. Sie schritt zu dem Bett und setzte sich auf die Kante. Dann wies sie neben sich und forderte ihn auf: »Kommt zu mir und erzählt mir das ganze Abenteuer. Gewiß werde ich Euch nicht verraten.« Mit etwas gemischten Gefühlen nahm Roland neben ihr Platz. Sie legte eine Hand auf seinen Arm und rückte etwas näher an ihn heran. »Ihr müßt wissen, daß ich seit Wochen allein bin«, sagte sie mit einem Seufzer des Selbstmitleids. »Da ist man empfänglich für jedes Abenteuer.« Ihre Worte und ihr Lächeln sagten ihm alles. Vermutlich hätte diese Maid in ihrer Not sogar einen üblen Räuber in ihrer Kammer versteckt, um nicht so einsam zu sein. Roland horchte kurz in sich hinein und kam zu dem Schluß, daß sie ihm nicht gefiel. Aber er mußte noch eine Weile bei ihr bleiben und mit einem kleinen Abenteuer aufwarten, um sich dann in Freundschaft zu verabschieden, wenn die Jagd nach ihm beendet sein würde - wenn man zumindest nicht mehr in der Nähe nach ihm suchte. Er wollte gerade eine abenteuerliche Geschichte einleiten, die sie sicherlich befriedigt hätte, als die Tür zum Nebenraum aufflog. Ein großer rotgesichtiger Mann tauchte in ihrem Rahmen auf. Mit allen Anzeichen von Zorn. Roland sprang auf. Unbewußt tastete er zu der Lederscheide an seinem Gurt, doch sein Messer war ja weg. Doch er brauchte auch keine Waffe. Der Mann beachtete ihn gar nicht. »Hab ich dich erwischt, mein Weib!« röhrte er. »Du treulose Schlampe!« zornig sprang er auf die erschrockene abenteuerlustige Frau zu. »Ich wußte, daß du mich betrügst!« Und schon gab er ihr eine Ohrfeige.
»Kaum ist man auf Reisen, da holst du dir schon irgendeinen Kerl ins Bett!« Klatsch. »Aber - er ist bei mir eingestiegen!« schluchzte sie. »Lüg nicht!« Klatsch. »Ich habe dich nebenan belauscht!« Klatsch. »Du hast wohl nicht damit gerechnet, daß ich eher zurückkomme, was? Du hast dir den Kerl von der Straße geholt!« Er riß den Schürhaken aus dem Holzkorb neben dem Ofen und fuhr herum. »Und jetzt zu dir, du verdammter ...« Doch Ritter Roland hatte sich grußlos aus dem Fenster entfernt, nachdem er die Familien Verhältnisse erfahren hatte. Er gedachte nicht, sich in einen Kampf verwickeln zu lassen. Noch waren die beiden miteinander beschäftigt. Noch brüllten sie nicht die Stadt zusammen. Doch das geschah kurz darauf. Zu schnell. Der eifersüchtige Mann schrie röhrend in die Gasse hinein: »Haltet den Lump!« Und verschiedene Leute, die bereits die Lust an der ergebnislosen Suche aufgegeben hatten, wurden von neuem Jagdfieber erfaßt. »Ich hole meinen Hund«, rief einer. »Der wird ihn fassen!« Roland hetzte davon, fort von den Schreien, den Männern, die durch die Gassen rannten. Atemlos verharrte er in einem Durchgang zwischen zwei Häusern. Er spähte um die Ecke. Die Verfolger näherten sich. Fackelschein geisterte durch die Gasse. »Er muß hier irgendwo sein!« rief eine rauhe Stimme. »Riegelt die Straßen ringsum ab!« Roland zog sich tiefer in den Durchgang zurück. Am Ende der Passage sah er Lichtschein. Roland verharrte. Eine Tür klappte. »Wir fahren gleich los«, sagte eine näselnde Stimme. »Sonst wird es zu spät, um die Sachen zu liefern.« Roland schob sich weiter durch den Durchgang und riskierte einen Blick. Ein Hof. Ein Wagen mit eingeschirrtem Pferd. Etwas Viereckiges war auf der Ladefläche festgebunden. Keine Menschenseele war zu sehen.
»Ich seh mal nach, ob er hier zwischen den Häusern durch ist«, rief jemand von der Gasse her. Eine Hand mit einer Fackel reckte sich in den Durchgang. Roland zögerte keine Sekunde. Er schob sich um die Hausecke in den Hof und huschte auf Zehenspitzen zum Wagen. Hinter ihm im Durchgang erklangen Schritte. Und jeden Augenblick konnte der Besitzer des Wagens auftauchen und losfahren, wie er gesagt hatte. Aber vielleicht war das die Chance, den Häschern zu entkommen... Roland schlich hinter den Wagen und kletterte schnell hinauf. Die Laterne im Hof spendete nur wenig Licht, doch jetzt erkannte Roland, daß die längliche schwarze Kiste auf dem Wagen ein schmaler Schrank oder so etwas war. Er tastete darüber. Ein Schlüssel steckte in der Tür. Wieder klappte irgendwo eine Tür. Ein Mann in Tischlerkleidung tauchte im hellen Viereck der Tür auf. »Hilf mir, die Kommode zum Wagen zu tragen«, rief er und schritt auf einen Anbau des Hauses zu. Roland überlegte schnell. Sie mußten ihn unweigerlich entdecken, wenn sie eine Kommode auf den Wagen luden. Er mußte sich verstecken, warten, bis sie losfuhren und dann auf den Wagen springen ... Stimmen näherten sich dem Hof. Irgendwo kläffte ein Hund. »Frag mal Friedhelm, ob er den Kerl gesehen hat«, rief jemand von der Gasse her. Rolands Blick fiel auf den Schrank. Er war mit einem Strick befestigt, damit er während der Fahrt nicht auf der Ladefläche hin und herrutschte. Mit fliegenden Fingern löste Roland den Strick. Er drehte den Schlüssel und zog die Tür auf. Schritte ertönten vom Anbau her. Flugs stieg Roland in den Schrank und zog die Tür über sich zu. Gerade noch rechtzeitig, denn er hörte jetzt die seltsam gedämpfte Stimme eines Mannes dicht neben dem Wagen. »Verdammt schwer, die Kommode.«
»Dafür wird Meininger auch schwer bezahlen«, erwiderte die näselnde Stimme, und ein Kichern war zu hören. Roland lauschte mit angehaltenem Atem. Sie luden die Kommode auf den Wagen. »Du hast den Schrank nicht richtig festgebunden«, sagte die näselnde Stimme vorwurfsvoll. Roland stockte der Atem. Hoffentlich banden sie den Schrank und damit ihn nicht zu fest! Schritte entfernten sich nach vorne zum Wagen. »Der wird doch durch die Kommode an Ort und Stelle gehalten«, sagte eine Stimme neben dem Wagen. Roland hätte jubeln mögen. Jetzt brauchte er nur noch unterwegs auszusteigen und ... In diesem Augenblick hörte er ein knirschendes Geräusch. Der Schlüssel drehte sich im Schloß der Schranktür! Es war ein Geräusch, das Roland das Blut in den Adern erstarren ließ. Er war in dem Schrank gefangen! * Der Fluchtversuch mißlang. Sieben Gefangene hatten ihre Bewacher angefallen, bevor man sie nach der Tagesarbeit in die Höhle hinaufsteigen ließ, und waren durch die Schlucht geflüchtet. Es waren Männer, die von Sebastian Müller und den Knappen ins Vertrauen gezogen worden waren. Sie spielten eine wichtige Rolle in dem Plan. Fast eine halbe Stunde hielten die vermeintlichen Ausbrecher die Räuber in Atem. Sie lockten sie zum Südende der Schlucht, und einige flüchteten im allgemeinen Durcheinander auch in Richtung Staudamm. Sie wußten, daß sie nicht entkommen konnten, doch das war auch nicht der Sinn dieser Aktion. Schließlich waren sie allesamt wieder gefaßt. »Ihr könnt von Glück sagen, daß ich euch noch für die Arbeit
brauche«, sagte Wittich - wie erwartet - als seine Räuber die sieben Männer zur »Bestrafung« brachten. Jeder bekam Peitschenhiebe. Doch sie nahmen sie erstaunlich gelassen hin, obwohl sie dabei zum Steinerweichen brüllten. Louis und Sebastian Müller hatten ihnen mit einem Zwinkern zu verstehen gegeben, daß das Ablenkungsmanöver gelungen war. Während alle Räuber in der Schlucht mit der Jagd auf die vermeintlichen Ausbrecher beschäftigt gewesen waren, hatten Louis und Sebastian unbemerkt ihre Vorbereitungen treffen können. Sebastian hatte sich wohlüberlegt am Staudamm zu schaffen gemacht. Pierre hatte ein langes Stück Seil des behelfsmäßigen Pferchs erbeutet, in dem die Räuber die Pferde hielten. Ein überflüssiges Stück Seil, das die Räuber einfach um einen Pfosten geschlungen hatten, weil es zu lang gewesen war. Sebastian Müller hatte ein gutes Beobachtungsvermögen. Jetzt galt es, nur noch auf einen günstigen Zeitpunkt zu warten. Dann sollten Wittich und seine Räuber von den Fluten verschlungen werden ... * Derweil war Alberts Wagen von Reitern umringt. Sie hatten ihn südlich der Stadt gestellt. Der Anführer des Reitertrupps gab stimmgewaltig Befehle. Die Reiter reckten ihre Lanzen vor. »Runter vom Wagen, du Hundsfott!« befahl der Stadtgardist. Er war äußerst schlecht gelaunt. Denn der Fahrer des Wagens hatte ihn und seine Männer fast eine halbe Stunde lang genarrt. Immer wieder war er durch Sperren gebrochen und hatte den Verfolgern ein Schnippchen geschlagen. Drei Männer waren bei der wilden Jagd verletzt worden. Der Führer des Trupps gab zweien seiner Männer einen Wink. Sie saßen ab, kletterten auf den Wagen und suchten. Sie fanden nur eine Plane auf der Ladefläche. Sie sprangen vom Wagen und schritten zu
dem Fahrer, der in einem weiten schwarzen Umhang neben dem Wagen stand. Einer der Männer schlug die Gestalt. »Wo ist der Mörder, dem du zur Flucht verhalfst?« Ein heller Aufschrei und ein Schluchzen waren die Antwort. »Eine Frau?« entfuhr es dem Mann, der geschlagen hatte. Die beiden Gardisten tauschten einen Blick und sahen dann ratsuchend zu ihrem Vorgesetzten. »Ihr seid eine Frau?« rief der Mann und parierte sein nervös tänzelndes Pferd. »Zieht mal den Mantel aus, damit ich Euch besser sehen kann.« Helga nahm den schwarzen Umhang ab. Und jetzt sahen es alle im silberfarbenen Schein des Mondes, der eine Wolke zur Seite boxte und vergnügt auf Helga niederspähte: Sie hatten eine Frau gestellt. Gevatter Mond hatte das meiste der wilden Jagd gesehen und sich darüber amüsiert, wie Helga und ihr Bruder die Meute zum Besten gehalten hatte. Er wußte ja, daß es einem guten Zweck diente ... »Ob wir den falschen Wagen ...?« überlegte einer der Reiter und kratzte sich am Kinn. »Papperlapapp!« unterbrach ihn der Vorgesetzte gereizt. »Es ist der richtige Wagen, so wahr ich Gotthilf Burger heiße.« Burger heftete seinen Blick auf Helga. »Wie kommt Ihr auf den Wagen?« »Ich bin hinaufgestiegen«, sagte Helga ehrlich. Einer der Gardisten kicherte, doch ein wütender Blick von Burger ließ ihn schnell verstummen. »Ihr habt einem Mörder zur Flucht verholfen«, sagte Burger barsch. »Ihr solltet den Ernst der Lage erkennen und keine Scherze mit mir treiben! Also, wo ist der Kerl?« Da begann Helga herzzerreißend zu schluchzen. Sie weinte so gekonnt, daß einige der Reiter ihren Vorgesetzten bereits mit tadelnden Blicken betrachteten und fast alle voller Mitleid mit der Maid waren. »So beruhigt Euch doch«, bat Burger.
Der Mann, der Helga zuvor einen Schlag versetzt hatte, weil er sie für einen »Hundsfott« gehalten hatte, hob jetzt den Umhang auf, den Helga wie unabsichtlich fallen gelassen hatte. Er wollte ihn ihr um die schmalen Schultern legen, doch sie wich in gespielter Furcht vor ihm zurück. »Nein - nicht schlagen! Nicht schlagen!« stammelte sie. Der Mann blieb mit dem Umhang in der Hand bekümmert stehen. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wußte ja nicht ... « »Genug des Palavers!« rief Burger gereizt. »Ich verlange eine Erklärung!« Die gab Helga ihm, von Schluchzern untermalt. Demnach war sie nichtsahnend mit dem Wagen auf dem Nachhauseweg gewesen, als sie Lärm in der Kommandantur gehört hatte. Sie hatte angehalten, und dann waren ein Mann und eine Frau auf den Wagen gesprungen. Der Mann hatte sie mit einem Schwert bedroht und gezwungen, loszufahren. Unterwegs sei das Paar vom Wagen gesprungen. »Wo?« fragte Burger angespannt. »Im Norden der Stadt. Ich mußte kreuz und quer fahren, wie man verlangte ...« »Schon gut. Wo im Norden der Stadt?« »Da war eine Herberge mit einer grünen Lampe ...« »Die Grüne Laterne«, murmelte einer der Reiter. »Haben die beiden etwas gesagt?« fragte Burger. »Ich meine irgend etwas, was Aufschluß über ihre Fluchtpläne geben könnte?« »Nein, das heißt...« Helga tat, als überlegte sie angestrengt. »Ja, doch. Die Frau und der Mann stritten sich. Die Frau wollte sich in der Herberge verstecken und dort nächtigen, doch der Mann meinte, sie sollten dort nur bleiben, bis die Stadt schläft und noch in der Nacht nach Westen weiter flüchten, über den Rhein.« »Da schnappen wir sie!« frohlockte Burger. »Aber Eile ist geboten!« Er gab seinen Männern einen Wink. »Vorwärts!« Um Helga kümmerte sich keiner mehr. Sie sah dann dem Reitertrupp nach, der von neuem Jagdfieber
erfaßt davonsprengte. Sie würden zur Grünen Laterne und von dort aus vermutlich zum Rhein reiten. Ein langer, vergeblicher Ritt. So konnten sich Roland und Albert, der schon bald nach Roland vorn Wagen gesprungen war, nachdem er seiner Schwester den Umhang und die Zügel übergeben hatte, ungestört beim Goldenen Pflug treffen ... * Doch Roland lag noch in dem Schrank. Er kam sich vor wie in einem Sarg. Die Luft wurde ihm knapp. All seine Versuche, die Tür hochzustemmen, waren fehlgeschlagen. Es war eine solide Hand werksarbeit mit einem schweren Schloß, das sich nicht sprengen ließ. Es war bedrückend eng in dem schmalen Schrank, der nach frischer Farbe roch. Bald war Roland schweißgebadet. Panik erfaßte ihn in der völligen Dunkelheit und Enge. Er glaubte, ersticken zu müssen. Und genau das würde geschehen, wenn die Fahrt lange währte. Er schrie, so laut er konnte. Nichts geschah. Auch sein verzweifeltes Pochen gegen die Schrankwand, sein Treten gegen den Fuß des Schrankes wurden nicht gehört. Die Geräusche gingen im Rasseln der Räder und im Hufschlag und Fahrtwind unter. Bald war Ritter Roland heiser vom Schreien. Sein Herz hämmerte, und in seinem Kopf war eine seltsame Leere. Er preßte die Zähne aufeinander. Er durfte nicht ohnmächtig werden. Vielleicht hielt der Schreiner bald, vielleicht wurden seine Rufe und sein Pochen doch noch gehört! Schleier schienen vor seinen Augen zu wogen, obwohl es völlig dunkel war. Panische Angst erfaßte ihn, die Angst zu ersticken. Nie hatte er sich so hilflos und verzweifelt gefühlt. Ritter Roland erlitt Höllenqualen. Da hielt der Wagen. Obwohl Roland es herbeigesehnt hatte, brauchte er einen Augenblick, um zu erkennen, daß die Fahrgeräusche verstummt waren. Mit einem Ruck blieb der Wagen
stehen. Ein Pferd wieherte. Dann herrschte einen Moment lang Totenstille. Roland lauschte angespannt. »Macht auf!« flehte er, und seine Stimme kam ihm selbst fremd vor. Dann vernahm er Schritte und gedämpfte Stimmen wie aus weiter Ferne. Eine Tür klappte. »Schönen Abend, Herr Meininger«, sagte die näselnde Stimme. »Wir bringen den Schrank und die Kornmode.« »Reichlich spät kommt ihr«, antwortete eine tiefe Stimme. »Friedhelm, Luitpold, helft beim Abladen!« Jemand kletterte auf den Wagen. Roland setzte zu einem Schrei an. Jetzt mußten sie ihn hören! Selbst wenn sie ihm Schwerter an die Kehle setzten, wenn er ausstieg - er wollte lieber gefangengenommen werden als elendiglich ersticken. »Mensch, ist das Ding schwer«, sagte eine Stimme. »Solide Eiche«, antwortete die näselnde Stimme des Schreiners. »Und das zu Vorzugspreisen. Und das beste Schloß ohne Aufpreis.« Jemand drehte den Schlüssel, und Roland verzichtete noch auf den Schrei, denn jemand sagte: »Erst die Kommode, dann kommen wir besser an den Schrank ran!« Roland schöpfte neue Hoffnung. Zumindest zwei der Männer würden mit der Kommode beschäftigt sein. Vielleicht konnte er sogar das Unerhoffte schaffen und unbemerkt aus dem Schrank klettern, wenn die anderen mit der Kommode im Haus waren. Er hörte, wie die Kommode über die Ladefläche geschoben und abgeladen wurde. »Wartet, ich zeige euch, wo sie aufgestellt werden soll«, ertönte eine Frauenstimme. Schritte entfernten sich. Es kostete Roland Überwindung, noch einen Augenblick zu warten. Dann drückte er die Schranktür hoch, langsam, vorsichtig. Nichts tat sich. Aber der Schreiner hatte doch wieder aufgeschlossen, oder? Roland bemühte sich heftiger. Ohne Erfolg. Entweder war noch abgeschlossen, oder die Tür
klemmte! Eine letzte verzweifelte Anstrengung. Mit all seiner Kraft stemmte sich Roland gegen die Schranktür hoch. Ein Ruck, und aus dem langsamen, vorsichtigen wurde nichts mehr. Die Tür flog förmlich empor und knallte zur Seite gegen das Wagenbrett. Mit dem wilden Hochstemmen war Roland in den Schrank zurückgefallen, doch als er jetzt den schrillen Schrei des Entsetzens hörte, sprang er auf. Wie der Teufel aus der Kiste. Sein Gesicht war krebsrot, seine Haare hingen in wirren Strähnen in die schweißnasse Stirn, er hatte eine blutige Schramme an der Wange und seine Kleidung war nach allem, was er durchgemacht hatte, schmutzig und verschwitzt. Alles in allem mußte er in diesem Augenblick tatsächlich wie der Leibhaftige ausgesehen haben. Während er gierig nach Luft schnappte, erfaßte er die Situation mit einem Blick. Der Mann in der Tischlerkleidung stand neben dem Wagen. Er starrte ihn mit geöffneten Mund an wie einen Geist. Verständlich, denn er hatte keinen Mann in seinen schönen, soliden Schrank eingebaut. Eine Frau schrie auf und bekreuzigte sich. Die Männer, die keuchend die Kommode trugen, waren bei dem Schrei stehengeblieben. Ihre Köpfe ruckten herum. Sie sahen einen Mann aus dem Schrank springen und ließen vor Schreck die Kommode fallen. Dann brüllte auch einer von ihnen los, doch nicht vor Schreck, sondern vor Schmerz - die Kante der Kommode war auf seinen dicken Zeh gefallen. Ein älterer Mann tauchte in der offenstehenden Tür der Kate auf. Offenen Mundes starrte er Roland an, und er befürchtete schon, den Alten würde der Schlag treffen. Doch wie von Furien gehetzt, warf sich der Mann herum und verschwand im Haus. Es tat Roland leid, diese Leute zu erschrecken, doch es ging schließlich um sein Leben. Vermutlich hätte er es keine Sekunde länger in dem Schrank ausgehalten, ohne ohnmächtig zu werden. Er wollte gerade eine Erklärung abgeben und die Gemüter besänftigen, doch da kreischte der Schreiner beim Wagen:
»Der Mörder! Der entsprungene Mörder!« Und aus der Kate stürmte der Alte, der sich trotz seiner Jahre als äußerst kampffreudig erwies. Vermutlich hatte er in seinem Leben manche Schlacht geschlagen. Er schwang ein großes Schlachtermesser, das er wohl flugs aus der Küche geholt hatte. »Ein Mörder?« rief er, und sein Blick zuckte zu Roland. »Sie suchen ihn in der Stadt«, schrie der Gehilfe des Schreiners. Sofort setzte sich der Alte mit dem Schlachtermesser in Bewegung. Und die beiden anderen rannten ins Haus, entweder um sich in Sicherheit zu bringen oder um sich mit irgend etwas zu bewaffnen. Da verzichtete Roland auf eine Erklärung. Mit drei langen Sätzen sprang er über die Ladefläche, warf sich auf den Wagenbock, ergriff die Zügel und trieb das Pferd mit einem wilden Schrei und Zügelschlägen an. Das Roß war offenbar ebenso erschrocken wie alle anderen. Sofort jagte es los. Der Schreiner sprang zur Seite wie zwei Hühner, die bisher gackernd auf dem Hof gepickt hatten und sich von der Aufregung der Menschen nicht hatten stören lassen. Der Alte mit dem Schlachtermesser war zwar finster entschlossen, doch nicht mehr schnell genug. Zudem wirbelten ihm die Räder Staub ins Gesicht. Er blieb stehen und rieb sich mit der freien Hand über die Augen. Roland warf einen schnellen Blick zurück. Er sah durch den Staubschleier die Gestalten, die wie erstarrt verharrten und ihm offenen Mundes nachstarrten. Dann reckte der Schreiner drohend die geballte Faust in die Luft und begann zu fluchen. Roland fuhr nicht weit mit dem Wagen. Die Stadt war auch nicht so fern, wie er während der scheinbaren Ewigkeit der Gefangenschaft im Schrank angenommen hatte. Er konnte schon die Lichter sehen. Am Stadtrand ließ er den Wagen zurück und setzte den Weg zu Fuß fort. Er hielt sich im Schatten und wählte Schleichwege. Nach einiger Suche fand er dann den Goldenen Pflug.
Helga wartete bei der Tür. Sie entdeckte ihn, bevor er sie sah. Sie umarmte und küßte ihn. Sie hatte schon bangen Herzens gewartet und befürchtet, er sei doch noch geschnappt worden. Helga führte ihn dann zu ihrem Bruder Albert, der sich ein Zimmer in dem Gasthof genommen hatte. Im Schein der Lampe sah Roland dann Helgas Bruder zum ersten Mal richtig. In der Dunkelheit hatte er ihn ja nur schemenhaft auf dem Wagenbock gesehen. Albert ähnelte Helga nicht sehr, und das war gewiß gut so für Helga. Albert sah zum Fürchten aus, was man von Helga weiß Gott nicht behaupten konnte. Seine Nase war enorm breit und vermutlich mal gebrochen gewesen. Dichte schwarze Koteletten bedeckten seine Wangen. Der schwarze Schnurrbart hing über die Mundwinkel hinab. Am wuchtigen, bartlosen Kinn hatte Albert eine rote Narbe von einem Schwert oder Messerhieb zurückbehalten. Albert drückte Roland die Hand, und Roland ging fast in die Knie. Er mochte einen festen Händedruck, doch bei dem bulligen Albert mit den Holzfällerhänden mußte man hinterher nachschauen, ob noch alle Finger an der Hand oder ob der eine oder andere zermalmt worden war. Albert zeigte grinsend sein Gebiß, das gewisse Ähnlichkeit mit dem eines Pferdes hatte, als er sah, wie Roland seine Hand rieb. »Grüß Euch Gott, Ritter«, sagte er mit seiner Baßstimme. Und dann wartete er mit einer Überraschung auf. Albert hatte sich die beiden falschen Zeugen geschnappt, die Männer, die in Wittichs Auftrag mit ihrem Meineid Ritter Roland an den Galgen bringen sollten. Albert hatte sich ein wenig mit ihnen »unterhalten« - wie er es nannte, und die beiden waren äußerst gesprächig geworden. Vermutlich waren sie von seinem Händedruck so beeindruckt gewesen ... *
»Wenzel und Otto kommen zurück«, sagte einer der Wachtposten am nördlichen Zugang der Schlucht, nachdem er die beiden Reiter an der Kleidung und den Rössern erkannt hatte. Dann würfelte er weiter mit seinem Kumpan. Die beiden blickten nur noch einmal kurz auf, als einer der beiden Reiter einen dreifachen Kuckucksschrei ausstieß. Es war die Parole. Sie würfelten weiter, und einer freute sich über sein Wurfglück, während der andere ärgerlich furzte. Für die beiden war klar, daß die beiden Reiter ihre Kumpane waren. Alles stimmte: Kleidung, Rösser und das vereinbarte Signal. Doch die beiden Reiter waren keine Räuber. Es waren Roland und Albert. Sie hätten glatt an den Wachtposten vorbeireiten können, ohne daß man Verdacht geschöpft hätte. Doch sie ritten nicht vorbei. Sie warfen sich von den geliehenen Pferden auf die würfelnden Räuber und schlugen die völlig überraschten Männer nieder, bevor sie einen Laut von sich geben konnten. Albert nahm dann den Würfelbecher und würfelte. Zwei Sechser und eine Eins. Er drehte die Eins herum und sagte grinsend: »Drei Sechser. Na, hab ich's nicht gesagt: Frechheit siegt!« Ritter Roland war keineswegs pessimistischer Natur, doch er hatte große Zweifel gehabt, daß ihr Plan gelingen konnte. Es war schon ein dreistes Stück, einfach in die Höhle des Löwen zu reiten. Sicher, sie trugen die Kleidung der beiden Räuber - übrigens recht vornehme Sachen, da die Kerle als »Zeugen« einen guten Eindruck hatten machen wollen - und sie ritten ihre Rösser, einen Muskatschimmel und einen Rappen mit weißer Stirnblesse. Zudem hatten sie die Hüte tief in die Stirn gezogen, und ihre Gesichter waren in der Abenddämmerung gewiß nur aus nächster Nähe zu erkennen. Doch wenn die Posten aufmerksamer gewesen wären, hätte der Streich kaum so glatt gelingen können. Doch es war gutgegangen. Jetzt galt es, den nächsten Teil des Plans zu erledigen. Sie entkleideten die bewußtlosen Räuber bis auf
das Unterzeug und fesselten und knebelten sie. Dann versteckten sie die Männer in einer Felsspalte. Anschließend zogen Roland und Albert sich um. Die Kluft der Räuber paßte nicht ganz, doch in der Dunkelheit würde das nicht so auffallen. Albert führte die Pferde aus der Schlucht und band sie im Wald am Fuße der Felswand an. Er kehrte mit sieben Männern zurück. Es waren Freunde von Albert, die sich bereit erklärt hatten, bei dem gewagten Spiel mitzumachen. Roland hatte überlegt, ob er Gardisten um Hilfe bitten sollte, sich dann jedoch dagegen entschieden. Die beiden Räuber brauchten ihr Geständnis nur zu widerrufen, und schon wäre Roland wieder ein Gefangener gewesen ... Roland erklärte noch einmal seinen Plan. Es sollte alles lautlos ablaufen. Schließlich hatten Wittich und seine Räuber jede Menge Geiseln. Es galt zuallererst die Gefangenen zu befreien. Erst wenn sie in Sicherheit waren, sollten die anderen Männer in die Schlucht eindringen und die Räuber im Schlaf überraschen. »Viel Glück«, murmelte einer der Männer, als Roland und Albert sich in der Dunkelheit auf den Weg begaben. »Können wir brauchen«, murmelte Albert. »Hoffentlich stimmen die Angaben der beiden Haderlumpen.« Die Angaben stimmten. In ihrer Todesfurcht hatten die beiden jede Einzelheit ausgeplaudert. Sie hatten sogar eine Skizze angefertigt, auf der alle Örtlichkeiten angegeben waren. Roland und Albert wußten, in welcher Hütte Wittich schlief, wo die männlichen und weiblichen Gefangenen waren, wie viele Wachen es gab und wann sie abgelöst wurden und eine Fülle weiterer Einzelheiten. Nur eines konnten sie nicht wissen: Daß bereits andere einen anderen Plan in die Tat umsetzten. Ein Plan, der vorsah, daß die Schlucht zu einem nassen Grab für Wittich und die meisten seiner Räuber werden sollten. Und diese Männer konnten wiederum nicht wissen, daß zwei andere Männer zu ihrer Rettung in die Schlucht eingedrungen waren. So nahm das Verhängnis seinen Lauf...
*
»Vorsicht«, flüsterte Louis und duckte sich hinter einen Felsbrocken oberhalb des Staudammes, zu dem nur ein schmaler Pfad an der Felswand entlang aus dem Grund der Schlucht hinaufführte. »Die Wachen kommen runter.« »Die Ablösung müßte doch erst später sein«, wisperte Sebastian Müller. »Na, ihr Pech. Dann ersaufen sie mit.« »Geht schneller, ihr Haderlumpen«, flehte Louis leise. Die Zeit drängte. Jeden Augenblick konnte Wittich Edeltrauts Verschwinden bemerken, nach ihr Ausschau halten und feststellen, daß es keine Wachen mehr unten an der Felswand unter der Höhle gab. Das war einer der schwächsten Punkte des Plans. Doch sie konnten Edeltraut nicht in den Fluten umkommen lassen. Sie war jetzt wie die anderen weiblichen Gefangenen bei den Männern in der Höhle hoch oben in der Felswand. Bisher hatte alles gut geklappt. Wie jeden Abend nach getaner Arbeit hatten die Gefangenen über die Strickleiter hinauf zur Höhle klettern müssen. Die Strickleiter war fest verankert am Zugang der Höhle. Irgendeiner der Räuber mußte sich von hoch oben einmal abgeseilt haben und die Leiter befestigt haben, damit die Höhle als Versteck und später als natürlicher Kerker genutzt werden konnte. Wie jedes Mal hatten es sich dann die beiden Wachtposten unten neben der Strickleiter bequem gemacht. Es war unmöglich, daß einer der Gefangenen nach unten oder oben floh. Selbst wenn Hilfe von oben gekommen wäre, wenn sich jemand abgeseilt hätte, wären die Geräusche bemerkt worden. Die beiden Wachtposten hatten später auch etwas gehört, doch alles war zu schnell gegangen. Ein Felsbrocken war an einem Seil herabgesaust, und beide Männer waren zu Boden gesunken, ohne zu wissen, was sie da getroffen hatte. Es war ein Felsbrocken, der oben in der Höhle aus dem Gestein gebrochen war und den die
Gefangenen an dem Seil befestigt hatten, das Louis zuvor besorgt hatte. Louis war dann in die Schlucht hinabgeklettert. Er hatte ein Messer und ein Schwert der bewußtlosen Wachtposten genommen. Zwei weitere Männer waren über die Strickleiter hinabgeklettert um die bewußtlosen Räuber nach oben zu befördern. Sebastian Müller hatte gemeint, sie sollten ruhig mit ertrinken, doch Louis hielt es für besser, sie als Gefangene in der Höhle zu halten - falls der Plan nicht gelingen sollte. Louis war dann an der dunklen Felswand entlang in die Schlucht hinab zu den drei Hütten geschlichen. Der Posten vor der Hütte, in der die weiblichen Gefangenen waren, hatte vor sich hingedöst. Diese Wache hielten die Räuber für überflüssig. Die Hütte war des Nachts verriegelt, und selbst wenn die Mädchen hinausgelangten, konnten sie nicht aus der Schlucht entkommen. Louis hatte dem dösenden Kerl auf den Schlapphut geklopft und die Mädchen aus der Hütte geholt. Edeltraut war planmäßig zur Stelle gewesen und mit den anderen Mädchen bis zur Strickleiter unter der Höhle geschlichen und hinaufgeklettert. Edeltraut war im Laufe des Tages bei der Essensausgabe von Pierre in den Plan eingeweiht worden. Sie hatte dafür gesorgt, daß Wittich an diesem Abend besonders viel Wein getrunken hatte, und sie hatte sich zum verabredeten Zeitpunkt aus der Hütte geschlichen. Sie wartete jetzt wie die anderen Mädchen und das Gros der männlichen Gefangenen oben in der Höhle und hoffte, daß Wittich tatsächlich eingeschlafen war und ihr Verschwinden nicht bemerkt hatte. Louis und Sebastian Müller schauten den beiden Schatten nach, die sie für Räuber hielten. Es waren Roland und Albert, die jetzt mit der Dunkelheit am Fuße der Felswand verschmolzen. »Schnell jetzt«, raunte Sebastian. Louis legte einen Pfeil auf die Sehne des Bogens, den er einem der Wachtposten abgenommen hatte. Er bedauerte, was er tun mußte, doch es blieb ihm keine Wahl. Das Leben vieler Menschen stand auf dem Spiel.
Wittich hatte sich zu einer unbedachten Äußerung hinreißen lassen. Der Kerl dachte höchstwahrscheinlich nicht daran, die Gefangenen freizulassen, wenn er den Schatz gehoben hatte. Aus seinen Andeutungen war hervorgegangen, daß er die Gefangenen zwar nicht töten wollte, sie jedoch dort oben in der Höhle lassen wollte - ohne Strickleiter! Damit er einen genügend großen Vorsprung haben würde, um mit dem Schatz auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Und das konnte genausogut ihr Todesurteil sein. Wenn niemand sie fand, würden sie dort oben in der Höhle verhungern. Louis zielte sorgfältig auf die Kruppe des Pferdes. Es tat ihm um die Rösser leid, die eine Rolle in ihrem Plan spielen mußten, doch es waren Tiere. Er mußte an das Leben der vielen Menschen denken. Er schoß den Pfeil ab. Das Pferd machte einen erschrockenen Satz und wieherte. Es wollte durchgehen, doch es war mit einem soliden Strick an einen Stamm des Staudammes angebunden. Den Stamm hatte Louis angesägt, während der vermeintliche Ausbruch der sieben Gefangenen die Räuber abgelenkt hatte... Louis legte bereits den nächsten Pfeil auf die Sehne. Schnell spannte er den Bogen abermals, zielte auf das zweite Pferd und schoß den Pfeil ab. Auch dieses Roß traf er, gerade so, daß es in Schrecken versetzt wurde, wie er hoffte. Die Männer selbst konnten diesen Teil des Plans nicht erledigen. Natürlich fehlte ihnen die Kraft, aber es wäre auch zu riskant für sie gewesen. Sie hätten sich nicht so schnell in Sicherheit bringen können. Wenn die Tiere die angesägten Stämme einrissen, konnten sie den Strick losreißen und über den Pfad entkommen, der am See vorbei an der Felswand entlang in die Schlucht hinabführte. Unten in der Schlucht hatten die Rösser dann eine Überlebenschance, wenn ihr Instinkt sie zum südlichen Zugang der Schlucht trieb und wenn sie schnell genug waren. Beide Rösser zerrten an den angesägten Streben des Staudammes. »Es klappt nicht!« fluchte Louis leise. »Der Damm hält!« Sein Gefühl sagte ihm, daß Sebastians Plan irgendeinen
entscheidenden Fehler enthielt. Allen Beteiligten war klar, daß es viele Unwägbarkeiten gab und daß sie eine Menge Glück haben mußten. Wenn es Louis und Sebastian zum Beispiel nicht gelang, die Wachen am Nordende der Schlucht zu überwältigen, dann brauchten die Kerle nur zu warten, bis das Wasser abgeflossen war, und sie hatten nach wie vor die Gefangenen in der Höhle. Ebenso war der Plan gefährdet, wenn die ausgesuchten Männer nicht schnell genug zum südlichen Zugang der Schlucht schwimmen konnten, wo ebenfalls zwei Räuber Wache hielten. Sebastian hatte zwar behauptet, die beiden würden wie der Rest der Brut ertrinken oder aus der Schlucht geschwemmt werden, doch Louis fand das alles ein bißchen zu optimistisch. Immer wieder hatten sie überlegt, ob der Plan gelingen konnte. Und schließlich hatten sie sich entschlossen, es zu versuchen. Dies war eine dunkle Nacht, und der Staudamm war fast fertig. Wittich konnte auf die Idee kommen, alles zu beschleunigen, indem er den Abfluß des Sees einfach vergrößern ließ. Bei der gedrosselten Wasserzufuhr würde der See dann schnell flach genug sein, so daß gute Schwimmer nach dem Schatz tauchen konnten. In diesem Augenblick bezweifelte Louis, daß alles so ausgehen würde, wie Sebastian fest glaubte und wie er, Louis hoffte. Immer noch zerrten die Rösser an den Stricken. Plötzlich war ein knirschendes Geräusch zu vernehmen. Dann ein Bersten und Reißen, als neigte sich ein gefällter Baum. Eines der Pferde riß sich los und jagte über den Pfad zwischen See und Felswand schluchtabwärts. Das andere Roß bäumte sich auf. Dann knickte der Stamm ein, an der Schnittstelle, wo es angebunden war. Das Tier riß sich mit einem gewaltigen Ruck los und preschte hinter seinem Artgenossen her. Der Pfeilschaft wippte in der Kruppe auf und ab. Louis hoffte, daß der Pfeil nicht tief eingedrungen war. Gutes Pferd! dachte er. Du schaffst es wie das andere! Ihr werdet das beste Futter bekommen, das je ... Seine Augen weiteten sich. In seiner Panik rutschte das Roß vom Pfad ab und stürzte in den See. Wasser spritzte hoch auf, dann
schwamm das Roß. In diesem Augenblick hielt der Damm dem Druck des gestauten Wassers nicht mehr stand. Es war nur eine schmale Bresche, die von den Pferden gerissen worden war, doch das genügte. Ein gewaltiges Bersten und Gurgeln war zu hören. Stämme senkten sich wie umgeknickte Streichölzer, und die Bresche riß auseinander. Mit ohrenbetäubendem Rauschen schoß das gestaute Wasser durch den aufgerissenen Damm und toste in den tiefergelegenen See hinab. Ein Schrei hallte durch die Schlucht, doch er ging in dem Tosen und Branden fast unter. Stämme brachen und klatschten in den See hinab und wurden wie von einer gigantischen Faust durch das wirbelnde Wasser gefegt. Der See schwoll schnell an. Das Pferd, das im See schwamm, wurde von der Strömung rasch auf den Überlauf zugetrieben. Es prallte gegen den Abfluß in dem Staudamm der Natur, der damals bei dem Unwetter und dem Erdrutsch entstanden war, wodurch sich der See gebildet hatte. Hoffentlich stimmen Sebastians Schätzungen, und dieser natürliche Damm wird schnell genug überflutet! dachte Louis. Seine Hoffnung erfüllte sich. Das Roß half dabei mit, was Sebastian gar nicht bedacht hatte. Er war überzeugt davon, daß der Druck der herabstürzenden Wassermassen groß genug war, um den Abfluß des Sees aufzureißen oder zumindest zu vergrößern. Zusammen mit dem Wasser, das über den natürlichen Damm schießen würde, mußte sich der Bach dann in einen reißenden Strom verwandeln und wie eine Lawine in den unteren Teil der Schlucht donnern. Das Roß half mit. Es prallte in seiner Panik mehrmals gegen die Barriere beim Abfluß des Sees, auf den es die Strömung zugetrieben hatte. Dann wurde es von einem enormen Wasserstrudel erfaßt und von einer Sturzflut aus dem See geschleudert. Wiederum erfüllte ein Bersten und Krachen die Schlucht. Hoch gichtete das Wasser an dem einst schmalen Ablauf des Sees, der jetzt zu einer breiten Bresche geworden war. Schlamm und Geröll wurden von den Fluten erfaßt, die durch die Öffnung schössen. Ein halb
vermoderter Baumstamm wurde emporgewirbelt und brach in viele Stücke. Eine schäumende, quirlende Wassermasse ergoß sich tosend in den tiefergelegenen Teil der Schlucht. Louis legte einen Pfeil auf die Bogensehne und wartete angespannt. Jeden Augenblick konnten die Wachen vom Pfad oberhalb des eingebrochenen Staudammes auftauchen, um nachzusehen, was geschehen war. Dann mußten Sebastian und er sie ausschalten. Doch keiner ließ sich blicken. Besorgt sah Louis zu den beiden Felsschultern links und rechts des Staudammes empor. Dort waren tagsüber zwei Bogenschützen postiert, die mit Argusaugen darüber wachten, daß keiner der Gefangenen in den Stausee sprang und schwimmend das Weite suchte. Wenn die Wachen nicht wie erhofft in die Schlucht liefen, sondern statt dessen dort oben hinaufstiegen ... Louis wurde aus seinen Gedanken gerissen. Ein Schatten tauchte auf dem Pfad auf, der durch den schmalen Zugang nach Norden aus der Schlucht hinab, beziehungsweise hinaufführte. Louis konnte nicht ahnen, daß es keiner der Räuber, sondern einer der Männer war, die zu ihrer Rettung gekommen waren. Er traf den Mann, der mit seinen Gefährten vom Krachen und Bersten und Tosen alarmiert worden war. Brüllend taumelte der Mann mit einem Pfeil in der Schulter zurück. Die anderen zogen ihn schnell in die Felsspalte in Sicherheit. »Mein Gott«, murmelte einer entsetzt. »Der Damm ist gebrochen. Und Albert und Roland sind in der Schlucht!« * Roland und Albert waren überrascht, keine Wachtposten unterhalb der Höhle zu finden. »Vielleicht haben uns die beiden Vögel einen Bären aufgebunden«, raunte Albert. »Soll ich rauf klettern und mit den Gefangenen reden?« Roland blickte auf den Felsbrocken, an den ein Seil gebunden war.
Sein Gefühl warnte ihn. »Warte lieber. Ich sehe mich bei den drei Hütten um.« Er glitt lautlos in der Dunkelheit davon. Bei der Hütte, in der die weiblichen Gefangenen sein mußten, wenn die beiden Räuber die Wahrheit gesagt hatten, rechnete Roland mit einem Wachtposten. Er verharrte hinter der Hütte im Dunkel und lauschte. Irgendwo am Nordende der Schlucht wieherte ein Pferd, dann herrschte wieder Stille. Roland schlich an der Hüttenwand nach vorne. Kein Wachposten, nichts. Dann sah Roland, daß die Tür der Hütte nur angelehnt war. Er riskierte einen schnellen Blick hinein. Keine Atemzüge, kein Schemen im Dunkel - die Hütte mußte leer sein. Hatten die beiden Räuber, Wenzel und Otto, gelogen? In diesem Augenblick ging die Tür der zweiten Hütte auf. Ein Mann mit einer Laterne tauchte auf. Roland erkannte ihn im Schein der Laterne sofort nach der Beschreibung: Wittich! Der Räuberhauptmann verharrte und hielt die Laterne hoch. »Edeltraut?« rief er fragend. »Wo bist...« Er verstummte jäh. Er hatte die dunkle Gestalt aus der Hütte huschen sehen. »Was machst du bei den Weibern?« rief er grollend. Roland gab keine Antwort. Er zwang sich langsam weiterzugehen. »Antworte!« Noch sechs Schritte bis zu Wittich. Noch hielt der Kerl ihn für einen seiner Räuber. Roland nuschelte etwas Unverständliches. Geräusche drangen vom Nordende der Schlucht heran, ein Bersten und Hufschlag. Wittichs Blick zuckte an Roland vorbei. »Alaaarm!« schrie er dann mit sich überschlagender Stimme. Roland glaubte, der Räuberhauptmann hätte trotz der Verkleidung erkannt, daß er keiner der Räuber war. Das war nicht der Fall, doch es änderte nichts. Der Plan war gescheitert. Jetzt saßen zumindest er und Albert in
der Falle. Und Roland überlegte nicht lange. Tollkühn setzte er alles auf eine Karte. Er mußte Wittich schnappen, ihm das Schwert an die Kehle setzen, bevor die anderen Räuber zur Stelle waren, und freien Abzug verlangen. Er riß das Schwert hoch und hetzte auf Wittich zu. Der Räuberhauptmann wirkte für einen Augenblick wie erstarrt. Er reagierte erst, als Roland nur noch zwei Schritte von ihm entfernt war. Mit einem wilden Schrei schleuderte er die Lampe und sprang vor Rolands vorstoßendem Schwert zurück. Roland duckte sich mitten im Lauf, doch es war zu spät. Die massiv eingefaßte Laterne traf Roland an der Schläfe, und er hatte das Gefühl, von einem auskeilenden Pferdehuf getroffen worden zu sein. In seinen Ohren rauschte und krachte und toste es, seltsam gedämpft, und alles verschwamm vor seinen Augen. Er stürzte. Er fiel fast vor Wittichs Füße. Er hörte Schreie, immer noch das seltsam entfernte Brausen und dazwischen ein Hämmern wie Hufschlag und ein Tosen, als peitschten Fluten durch die Schlucht. »Ein Schwert!« Wittich rief es einem der Räuber zu, die aus ihrer Hütte stürmten. Einer der Männer warf es ihm zu. Wittich wollte es auffangen, um damit dem Eindringling, der benommen am Boden lag, den Todes stoß zu versetzen. Doch im letzten Augenblick zuckte sein Kopf herum, und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das Schwert fiel neben ihm zu Boden. Wittich sah Pferde auf sich zurasen und erkannte erst jetzt, daß eine Sturzflut in die Schlucht schoß. Zuvor hatte er im Dunkel nicht viel erkannt, und nur aus dem Hufschlag und den anderen Geräuschen geschlossen, daß jemand in die Schlucht eingedrungen sein mußte. Jetzt vergaß er die Gestalt am Boden und wirbelte herum. Gehetzt blickte er um sich. Seine Männer starrten ebenso voller Entsetzen zu der herandonnernden Lawine. Zuerst drohte die Gefahr von den Pferden. In ihrer Panik rasten die
Tiere geradenwegs auf die Räuber zu. Ein Pferd preschte keine Handbreit an der Gestalt vorbei, die noch benommen am Boden lag. Die Räuber sprangen vor den herandonnernden Pferden zur Seite, in Deckung ihrer Hütte. Einer schaffte es nicht mehr. Er geriet unter die wirbelnden Hufe. »Weg!« brüllte Wittich gegen das Tosen an, das die Schlucht erfüllte. Er hatte erkannt, daß nur die Flucht durch den südlichen Zugang der Schlucht die Rettung bringen konnte. Und er handelte wie ein in die Enge getriebenes Wild - instinktiv und schnell Das Pferd, das einen der Räuber gerammt hatte, scheute bei dem gellenden Schrei des Mannes, drehte ab und stieg auf die Hinterhand. Mit zwei langen Sätzen war Wittich bei dem Tier. Als das Roß wieder weiterrasen wollte, warf sich Wittich mit einem wahren Panthersatz auf den ungesattelten Rücken des Pferdes. Fast wäre er auf der anderen Seite wieder hinuntergefallen, doch er krallte sich in der Mähne fest, zog sich hoch und blieb auf dem Pferd. Das Tier preschte mit reiterlosen Rössern auf den Zugang der Schlucht zu. Wittich warf einen schnellen Blick zurück. Die Wasserlawine wälzte heran. Rasend schnell. Nur noch Sekunden, dann mußte sie den Mann erreichen, der sich gerade am Boden aufstemmte. Der verdammte Kerl, der mit dem Schwert auf ihn losgegangen war, sollte ersaufen wie eine Ratte! Es grenzte schon an ein Wunder, daß er nicht von den Pferden niedergetrampelt worden war. Wittichs Kopf ruckte wieder herum. Er schätzte die Entfernung ab. Das Pferd flog förmlich auf den Zugang der Schlucht zu. Das war die Rettung! Nur noch etwa zwanzig Klafter. Ein reiterloses Pferd war vor Wittich an der trichterförmigen Öffnung, die sich nach einer Weile zu einer schmalen Felsspalte verengte. Wittich prallte mit dem Roß aus voller Karriere gegen das reiterlose Pferd, dem ein anderes Tier in der Felsspalte den Weg blockierte. Wittich flog wie von einem Katapult geschleudert über
den Pferdehals. Beatrix! schrie eine Stimme in ihm. Dann krachte er gegen die Felswand und verlor das Bewußtsein. * Roland kämpfte sich auf die Beine. Die Benommenheit ließ nach. Das Rauschen hinter ihm schwoll an. Ein Roß galoppierte an ihm vorbei. Rolands Blick suchte Wittich. Von dem Räuberhauptmann war nichts mehr zu sehen. Pferde, im Dunkel nur schemenhaft zu erkennen, jagten auf den Ausgang der Schlucht zu. Schreie gellten durch das Rauschen, das Roland immer noch nicht zu deuten wußte. Dann sah er es. Doch bevor er etwas tun konnte, riß ihn schäumendes Wasser von den Beinen. Er hatte das Gefühl, der Boden würde ihm unter den Füßen weggespült. Er fiel, schluckte Wasser, überschlug sich und wurde im gurgelnden gischtenden Naß weitergewirbelt. Er versuchte zu schwimmen, doch es gelang ihm nicht. Eine Woge erfaßte ihn und schleuderte ihn hoch. Er landete hart und glaubte, von der Flutwelle zu Boden geschmettert zu sein. Doch das war nicht der Fall. Er sah unter sich das Dach einer Hütte, und die Hütte wurde gerade umgerissen. Die nördliche Wand senkte sich nach Süden unter dem Anprall eines gewaltigen Brechers, und die Hütte krachte zusammen wie ein Kartenhaus. Hoch spritzte das Wasser auf, silbrig im Schwarz der Schlucht. Roland wurde über das Dach gespült. Verzweifelt klammerte er sich am Rand fest und zog sich wieder hoch. Ein Schwall schmutzigen Wassers peitschte ihm ins Gesicht und warf ihn wieder an den Rand des Daches, das aus Planken bestand, die auf zwei Streben genagelt waren. Abermals schluckte Roland Wasser. Teile der Hütte trieben auf dem schäumenden Wasser. Eine Woge, die sich an einem stehengebliebenen Eckpfosten brach, spülte über Roland hinweg. Die Bretter unter ihm wurden hinabgedrückt und wieder emporgehoben. Etwas krachte durch das Gurgeln und Rauschen. Das Dach war gegen irgendein Hindernis
geknallt. Ein Teil brach ab. Eine Woge erfaßte Roland und schleuderte ihn mitsamt dem halben Dach weiter. Ein Schrei neben ihm ging im Tosen unter. Roland sah eine hochgereckte Hand, die in einem Wasserwirbel verschwand. Ein Schatten trieb vorbei. Ein schwimmendes Pferd rammte gegen das Stück des Daches, auf dem er sich festklammerte. Irgendein Pfahl oder Pfosten wirbelte hoch und schlug neben Roland ein. Er fühlte sich auf dem Stück Dach wie auf einem winzigen Floß inmitten einer sturmgepeitschten See. Und dann ging ein gewaltiger Stoß durch das Floß. Roland wurde emporgewirbelt. Er sah eine dunkle Wand förmlich auf sich zurasen und riß im Reflex noch die Arme vors Gesicht. Dann prallte er auf, und schlagartig wurde es noch dunkler um ihn. Totenstille umgab ihn. Er spürte nicht mehr, wie er auf das Stück Dach zurückfiel, das gegen die Felswand gekracht war und jetzt nur noch halb so groß war... * Ein Plätschern und Rauschen. Wasser. Roland überlegte, wo er sein mochte. Vermutlich auf See. Er dachte nach, wie er dahin gekommen sein mochte. Irgendwo lachte eine helle Stimme. Roland öffnete blinzelnd die Augen. Er glaubte eine Nixe zu sehen. Eine lächelnde Nixe mit Grübchen in den Mundwinkeln. Dann erschrak Roland. Ein furchterregendes Gesicht tauchte über ihm auf. Ein Seeungeheuer? Ein Klabautermann? »Na also«, sagte der Klabautermann zufrieden. »Er ist wieder auf der Erde.« Erde? Roland öffnete die Augen weit. Das Schwindelgefühl ließ nach. Jetzt verspürte er Schmerzen. Unbewußt tastete er zum Kopf. Eine große Beule an der Stirn. Auch Arme und Schultern schmerzten. Was war geschehen? Er blickte sich um. Der Klabautermann grinste. Die Nixe strahlte
ihn an. Und da waren noch zwei Seefahrer, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Einer trug einen weißen Turban, auf dem sich ein rötlicher Fleck abzeichnete - Blut. Doch der schwarzbärtige Kerl feixte auf Teufelkommraus. Und der andere, der mollige Blonde, sah ihn an wie ein Kind, das gerade ein besonders schönes Geburtstagsgeschenk bekommen hat - halb hingerissen zwischen Lachen und Freudentränen. Das Gesicht kannte er. Das war doch - »Pierre!« murmelte Roland und wunderte sich, daß seine Stimme so krächzend klang. »Ich bin auch da«, brummte der Schwarzbart Louis. Und der Klabautermann zauberte von irgendwoher eine Flasche und setzte sie Roland an die Lippen. Roland schluckte und mußte husten. Das war kein Wasser, sondern ein scharfer Obstschnaps. Rolands Augen füllten sich mit Tränen ob des starken Gebräus. »Ritter heulen nicht«, sagte der Klabautermann grinsend, und jetzt fiel Roland ein, daß es Albert war. Und die Nixe ... Helga kniete sich neben ihn und legte eine sanfte Hand auf seine Stirn. »Ich dachte - wir dachten - du seist - tot«, stammelte sie. Ihr Kopf sank auf seine Brust, und ihre Schultern zuckten. Jetzt fühlte sich Roland auf einmal recht lebendig. Seine Erinnerung setzte ein. »Nun erdrück ihn nicht noch«, sagte Albert, umfaßte seine zierliche Schwester und zog sie von Roland fort. »Laß ihn lieber noch einen hiervon zur Brust nehmen.« Er setzte Roland wieder die Flasche an die Lippen. Diesmal war Roland gewarnt. Er trank einen tiefen Schluck. Eine wohlige Wärme durchflutete ihn. Erst jetzt merkte er, daß seine Kleidung naß war und auch die anderen aussahen, als seien sie in voller Montur baden gegangen. Er stemmte sich auf, als Albert die Flasche zurückzog. »Wer hat mich aufgefischt?« fragte er. »Ich«, erklärte Albert grinsend. »Du hattest eine Menge Wasser geschluckt und warst ziemlich lädiert.«
»Danke«, sagte Roland. Er fühlte sich noch schwach auf den Beinen. »Und Wittich?« fragte er. »Tot«, sagte Albert. »Nicht genau zu sagen, ob er sich den Schädel einschlug oder ertrank. Vermutlich beides. Du kannst ihn dir ansehen, wenn du willst.« Er wies aus der Höhle. Erst jetzt bemerkte Roland, daß es draußen hell und längst Tag war. »Ich habe lange hier gelegen«, stellte er fest. »Ein paar Stunden schon«, sagte Albert. »Aber mein Schwesterherz war bei dir. Sie hat uns sofort gerufen, als du dich regtest. »Erzähle«, forderte Roland Albert auf. »Dieser Anblick spricht wohl für sich«, sagte Albert und wies aus der Höhle. »Es ist alles vorbei.« Er gab Louis und Pierre einen Wink. »Laßt euren Ritter mal gucken.« Roland war noch wacklig auf den Beinen. Louis und Pierre stützten ihn. Sie führten ihn bis zum Rand der Höhle. Der Anblick sprach in der Tat für sich. Ein glatter ruhiger See füllte die gesamte Schlucht aus. Er wurde von Wasserfall und Bach gespeist und floß durch den südlichen Zugang der Schlucht ab. Auf der Wasseroberfläche schwammen Baumstämme. Auf die Stämme waren Männer gefesselt. Die Räuber. Sie lagen mit dem Rücken auf den Stämmen und blickten gen Himmel. »Unsere besten Schwimmer haben sie aufgefischt«, erklärte Albert. »Es gab keinen Kampf mehr. Die Kerle waren von der Sturzflut zu sehr durcheinandergewirbelt. Wir wollten dich nicht in der Höhle stören, deshalb lagerten wir sie erst einmal hier. Sie werden gleich abgeholt. Meine Freunde werden sie bei der Polizei abliefern, auf daß sie für ihre Missetaten büßen.« Rolands Augen weiteten sich, als sein Blick auf einen der Männer fiel. Der kahle Schädel des Mannes war voller blutroter wulstiger Narben. Als sei der Mann im Feuer umgekommen. Eingetrocknetes Blut bedeckte sein Gesicht, das eine verformte Masse mit kaum noch
erkennbaren Zügen war. »Das ist - beziehungsweise war Wittich«, erklärte Albert, der Rolands Blick gefolgt war. »Sieht schlimm aus, nicht wahr? Als ich ihn aus dem Wasser zog, hielt ich plötzlich seine Perücke und einen falschen Bart in der Hand. Noch einen Schluck? Er hielt Roland die Flasche hin. Roland trank. Er fühlte sich unsagbar erleichtert. Das Grauen war vorüber. * In Peterzell, in Wöhrles Gasthof, gab es ein rauschendes Fest mit bestem Speis und Trank und Tanz. Ganz Peterzell nahm an der Feier teil, und man war froh, daß Ritter Roland nicht nachtragend war und allen verzieh, wie übel man ihm mitgespielt hatte. Zu vorgerückter Stunde, nach Spätzle vom Brett und gefüllten Kalbsröllchen mit Pfifferlingen, nach Zwiebelkuchen, badischem Wein und Bier und Met, nach viel Musik und Tanz und Frohsinn, ergriff plötzlich der Kutscher Paul das Wort. Er hatte den ganzen Abend über mit Roswitha geschäkert, die wie ihre Gefährtinnen diesmal keine Nonnentracht trug und sich auch nicht wie eine Betschwester benahm. In weinseliger Laune hielt Paul eine kleine Ansprache. Es war fast wie eine Ballade von Volker vom Hohentwiel, dem berührten Minnesänger. Doch Paul sang sie nicht zum Klang einer Fiedel oder Laute. Er konnte weder singen noch fiedeln, und seine Schilderungen waren recht derb in der Sprache. Doch die gebannt lauschenden Zuhörer sahen großzügig darüber hinweg. Zu spannend und unfreiwillig komisch war Pauls Schilderung. Er berichtete von falschen Nonnen und richtigen Räubern, von Wittich und seinen Missetaten und von allem, was ihnen in der Gefangenschaft widerfahren war. Dann dankte er den Rettern, was Hochrufe zur Folge hatte, fügte scherzend hinzu, daß die Retter durch ihr unerwartetes Auftauchen beinahe alles vermasselt hätten, was Buhrufe zur Folge hatte, und sagte anschließend mit vom Wein schwerer Zunge: »Und jetzt, Freunde, brauchen wir uns nur noch den
Schatz zu holen.« Es wurde so still, daß man einen der Zecher furzen hören konnte, der ganz leise und heimlich einen Wind hatte ablassen wollen. Empört blickte der Furzer seinen Nebenmann an, auf den sich darob die tadelnden Blicke konzentrierten. Dann starrten alle Paul an, und er grinste in die Runde wie ein Hahn, der sich gerade als der Neue auf einem Hühnerhof vorgestellt hat. Ein Heidenspektakel entstand. Alle redeten aufgeregt durcheinander. Die Aufregung drehte sich um den sagenhaften Schatz aus dem Morgenland. Mancher der Gefangenen hatte ob der Freude, frei zu sein, gar nicht mehr an den Schatz gedacht - ein Beweis dafür, daß das Leben wichtiger ist als alle Schätze der Welt. Und die Bewohner von Peterzell wußten noch gar nichts davon. Alle wurden wie von einem Fieber erfaßt. Man schmiedete Pläne, wie der Schatz zu heben sei. Man wollte einen neuen Staudamm bauen, und man teilte bereits den Reichtum auf, was manchen Streit vom Zaun brach. Schließlich verschaffte sich ein Mann Gehör. Er trat hervor und hob eine Hand, bis alle verstummten. »Hört, was euch Sigismund, der Poet, zu sagen hat!« rief er. Er war ein mittelgroßer, lustig aussehender Mann. Er hatte einen roten Vollbart, der von weißen Haaren durchzogen war. Im Gegensatz zu seiner Bartfülle war das dünne Haupthaar schon ein wenig gelichtet, und an einigen Stellen schimmerte die Kopfhaut rosig hervor. Die grünbraunen Augen funkelten listig. Er lächelte, schwieg noch einen Augenblick, wohl um die Spannung zu steigern, und sagte dann in die erwartungsvolle Stille: »Es gibt keinen Schatz.« Verblüffung, Betroffenheit, Ungläubigkeit. »Woher wollt Ihr das denn wissen?« fragte Roswitha. »Weil ich den Schatz nur erfunden habe«, sagte Sigismund. Stille. »Nun werdet ihr euch alle fragen, warum ich das getan habe«, fuhr
Sigismund heiter fort »Ich will es euch sagen. Zum einen habe ich den Schatz erfunden weil ich ein Dichter bin, und Dichter erfinden nun mal die tollsten Dinge.« Einige der Zuhörer lachten. »Und zum anderen...«, fuhr Sigismund fort, und seine Miene wurde ernst, »...weil ich nicht sterben wollte.« Er legte eine wohlberechnete Pause ein, bevor er weitersprach. »Ich war einer der ersten Gefangenen Wittichs. Genau gesagt der dritte. Wittichs Räuber schnappten mich beim Beerensammeln und schleppten mich zu ihrem Anführer. Er wollte gerade zwei Männer umbringen lassen, zwei Kutscher, deren Wagen mit der Fracht von seinen Haderlumpen erbeutet worden war. Und mich hätte er dazu getötet, weil ich sein Versteck kannte. Da erzählte ich ihm das Märchen, das ich zu Papier gebracht hatte - die Geschichte vom Schatz aus dem Morgenland. Ich tat zerknirscht und behauptete, ich sei auf der Suche nach diesem Schatz gewesen. Ich bot ihm die Aufzeichnungen gegen mein Leben. Wittich konnte lesen, und er las, was ich erfunden hatte. Er ließ mich und die beiden Kutscher am Leben und schickte seine Mannen fortan aus, um Gefangene zu machen, die den Staudamm errichten sollten. So hatte ich mir das in meiner Not natürlich nicht gedacht, doch es ließ sich nicht rückgängig machen. Ich konnte nur hoffen, daß uns irgendwann jemand befreite - bevor Wittich und seine Räuber zwangsläufig festgestellt hätten, daß ich sie hereingelegt hatte.« Er zog einige gefaltete Papiere aus seinem Wams und hielt sie hoch. »Dies ist die Geschichte, die ich zu Papier brachte. Für einen Dukaten schreibe ich sie jedem ab, der sich dafür interessiert.« Die allgemeine Spannung löste sich. Die beiden ersten Gefangenen Wittichs drückten dem Dichter bewegt die Hand. »Ich zahle fünf Dukaten für die Geschichte«, rief einer. Und bald wurde Sigismund mit Bestellungen nur so überhäuft. »Das erste Mal, daß jemand für meine Dichtung anständig bezahlt«, sagte Sigi grinsend. »Der wird noch ein berühmter Mann«, brummte Louis und
zwinkerte Almuth zu. Sie hatten sich für später im Walde verabredet. »Einfallsreich ist er«, murmelte Pierre und lächelte Edeltraut an. Er hatte sich angeboten, sie später nach Hause zu begleiten, und zum ersten Mal seit sie vom Tode ihres Vaters erfahren hatte, hatte sie wieder gelächelt. »Und auch geschäftstüchtig«, sagte Ritter Roland zu Helga. »Möchtest du, daß ich ein Exemplar bestelle und dir schenke?« »Danke, Roland. Lieber jedoch möchte ich, daß du mich gleich zum Hof begleitest und mir etwas anders schenkst.« Und ihr Lächeln ließ keinen Zweifel daran, an welches Exemplar sie dachte.
ENDE
Die Blutbestie
war ein übergroßer Aar, der im Frankenland sein Unwesen trieb. Er raubte Schafe und andere Tiere und wagte sich auch an Menschen heran. Mütter ließen in dem fränkischen Bergdorf Mainsfeld ihre Kinder nicht mehr nach draußen zum Spielen, die Gefahr war für die Halbwüchsigen zu groß. Als König Artus von der mörderischen Blutbestie erfuhr, schickte er sofort den berühmten Ritter Roland ins Frankenland. Er sollte der Bedrohung durch den übergroßen Aar ein Ende setzen. Gemeinsam mit seinen Knappen Pierre und Louis machte sich Ritter Roland auf die Jagd nach der Blutbestie. Liebe Abenteuer-Freunde, erleben Sie in 14 Tagen Ritter Roland, den Kämpfer mit dem Löwenherzen, in Aktion. Holen Sie sich den Band 22 bei Ihrem Zeitschriftenhändler. Lassen Sie sich die nächsten Bände reservieren. DM 1,60