Geisterfänger Band 6
Der Schrecken von Tynwood von William Perry Eine Ausgeburt der Hölle geht um.
Die Einwohner de...
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Geisterfänger Band 6
Der Schrecken von Tynwood von William Perry Eine Ausgeburt der Hölle geht um.
Die Einwohner des südenglischen Dorfes Tynwood und Umgebung werden seit kurzem von einer Reihe seltsamer Ereignisse erschreckt, die Ähnlichkeit mit denen besitzen, die aus der Tagespresse bereits als ›Der Schrecken von Tynwood‹ bekannt geworden sind, schrieb die Weekly-News. In den letzten Tagen geschah es häufig, dass Kinder von zu Hause fortliefen oder abends nicht mehr von der Heide, auf der sie gespielt hatten, zu ihren besorgten Eltern zurückkehrten. Fast in allen Fällen handelt es sich um jüngere Kinder, die über ihre Erlebnisse nicht zu sammenhängend berichten können. Ohne Ausnahme behaupten sie jedoch, mit einem ›Gespenst‹ unterwegs gewesen zu sein. Dieses unheimliche Wesen scheint den Bewohnern arg mitzuspie len. Es spukt ganz gewaltig. An die zwanzig Menschen schworen, ei nen Geist gesehen zu haben. Beim Anblick der weißen Gestalt hätten ihnen die Haare zu Berge gestanden und der Schreck sei ihnen in die Glieder gefahren. Niemand wagt sich nachts mehr auf die Straße. Eine Bauernfamilie habe den Hof aus Angst verlassen und sei zu Bekannten gezogen. Es heißt, der Dorfpfarrer habe die ganze Ortschaft ausgesegnet, aber ohne Erfolge. * Fünf Menschen standen längs des Weges, als die Kelmans im Dorf ankamen. Drei Frauen und zwei Männer, alle mittleren Alters. Ihre Kleidung war ordentlich, doch die Farben waren alle längst zu dunklen Braun- und Grautönen verschossen. Die beiden Männer trugen selbst gefertigte Spazierstöcke, die Frauen Holzeimer mit Messingbeschlägen. Die fünf musterten die bei den Stadtmenschen mit der stumpfen Überraschung von Leuten, die seit Jahren keine Fremden mehr gesehen hatten. »Sie sind die ersten Urlauber in unserem Dorf, nicht wahr?«, sagte der ältere der beiden Männer. »Ja«, erwiderte Charles. »Wir sind schon ein paar Tage da, a ber...« 4
»Schön hier bei uns, nicht wahr?«, schnitt der Alte ihm das Wort ab. »Wir haben alles, was ihr Stadtmenschen so dringend braucht. Frische Luft, Wiesen, Felder, Sonne und Ruhe. Ist es nicht so?« »Apropos Ruhe«, sagte Charles Kelman. »Wir hatten in der Nacht ein seltsames Erlebnis. Meine Frau glaubt einen Geist gesehen zu ha ben. Später war so ein merkwürdiges Summen zu hören. Passiert das öfters hier?« Den beiden entging nicht, dass die Frauen merklich zusammen zuckten, als von dem Gespenst die Rede war. Sekundenlang blickten sich die Dorfbewohner an, dann betrachteten sie den Wald und lausch ten. Anscheinend wussten sie, dass sie bei Tage sicher vor dem waren, was sie nachts in Furcht und Schrecken versetzte. Ihre Gesichter ver fielen wieder in traurige Melancholie. »Das haben Sie sich alles bloß eingebildet«, erwiderte der Alte mürrisch. »Hier gibt es keine Geister, Mister. Wir sind nicht in Schott land.« Die beiden waren mit den Worten des Mannes nicht ganz einver standen - auch der Alte schien dies zu merken und sagte plötzlich: »Wenn Sie Angst haben, verriegeln Sie nachts einfach Fenster und Türen, dann sind Sie vor Überraschungen geschützt. Man weiß nie, wozu es gut ist.« Der Mann tippte kurz an seine Mütze und wollte weitergehen, aber Alba hielt ihn zurück. »Warum gibt es hier keine Katzen und Hunde?«, fragte sie. Einen Augenblick schien der alte Mann zu zögern, aber dann sagte er rasch: »Wissen Sie, es gibt eine Menge Wild ringsum. Sie würden die Tiere nur stören.« Es war eine Ausrede, eine Lüge. Charles und Alba wussten es, a ber im Moment konnten sie es nicht beweisen. »Wir werden schon noch dahinter kommen, was hier gespielt wird«, sagte Charles, als die Dörfler gegangen waren. »Wartet nur mal ab, bis wir die Sherlock Holmes-Stiefel anhaben«, rief er den Leuten nach, aber sie waren bereits verschwunden. 5
Weiter unten im Dorf trafen sie einen gesprächigeren Mann. Er war etwa siebzig und hieß Mat Milchen, aber die Leute nannten ihn nur Old Matty. Der Alte begann zu plaudern. Er erzählte dem Ehepaar Legende um Legende, lauter alte Geschichten um das Dorf. Eine beeindruckte Alba besonders. Die Bewohner des Dorfes behaupten, dass man oft nachts auf der Heide und im Wald menschliche Stimmen hört und bald leise, bald laut, das Rauschen von Blättern. Die einen meinen, es sei nur das Ge schrei von Nachtvögeln, das manchmal dem Summen von Bienen und manchmal klagende menschliche Stimmen gleiche. Leute, die oft spät heimkehren, schwören jedoch, sie seien einem Hirten begegnet, der durch die Gegend streife. Er verhülle sein Gesicht unter einem riesigen Mantel. Niemand habe es bisher gesehen. Er trei be zwei Schafe vor sich her, eins mit einem Katzengesicht und eins mit einem Hundegesicht. Die beiden Tiere wären sehr klein. Die Katze würde unablässig fauchen und der Hund heule in einer unbekannten Sprache. Mein Gott, dachte Alba. Ist das etwa die Gestalt, die ich gesehen habe? Die kleinen leuchtenden Augen konnten die beiden Tiere gewe sen sein. Aber es war kein Hirte. Zu deutlich noch sah sie das grässli che Gesicht vor sich. »Glauben Sie an das, was Sie da erzählen?«, wollte Charles von Old Matty wissen. Der alte Mann fuhr sich übers Stoppelkinn. »Ich weiß nicht«, erwiderte er nachdenklich. »Möglich ist es schon.« »Wenn es wirklich so seltsame Dinge auf Erden gäbe, warum ken nen wir sie dann nicht schon längst?«, sagte Charles wieder. »Wir alle hätten bestimmt schon öfters solche Dinge gesehen. Ist es nicht so, Mister Matty?« »Glauben Sie wirklich, wir hätten alles gesehen, was es gibt?«, fragte der Alte. »Denken Sie zum Beispiel an den Wind, die Kälte, die Hitze - alles Naturkräfte. Aber der Wind scheint mir der stärkste und interessanteste zu sein. Er wirft Menschen um, zerstört Häuser, ent 6
wurzelt Bäume, wühlt das Meer zu gigantischen Wellen auf und schleudert die größten Schiffe auf die Klippen. Er brüllt, pfeift, stöhnt, heult und mordet seit Jahrtausenden. Ha ben Sie ihn schon gesehen, Mister? Kein Mensch wird ihn jemals se hen. Und trotzdem ist er da. Er begleitet uns auf Schritt und Tritt und wenn es ihm passt, schlägt er uns ins Gesicht. So ist es auch mit den Gespenstern.« Charles Kelman wusste auf diese Worte keine Antwort. Old Matty war entweder ein Weiser oder ein Narr. Alles Gespenstische ist rätsel haft und geheimnisvoll! Vergeblich bemühen wir uns mit unseren dürf tigen Sinnen, es zu ergründen, dachte er. Der Alte hat recht, es gibt
vieles, was unsere Augen nicht wahrnehmen, weil es zu klein, zu groß, zu nah oder zu fern ist.
»Was denkst du?«, fragte Alba ihren Mann. »Ich dachte darüber nach, wie recht der Alte doch hat«, erwiderte Charles. »Die Bewohner eines fernen Sterns sind für uns ebenso un sichtbar wie die Mikroben in einem Wassertropfen. Auch unsere Ohren täuschen uns, denn sie verwandeln bloße Luftschwingungen in Töne. Unser Geruchsinn ist schwächer als der eines Hundes. Und unser Ge schmacksinn reicht kaum aus, das Alter eines Weines zu bestimmen.« »Das mag ja alles stimmen«, meinte Alba. »Doch er hat auch nicht die Wahrheit gesagt, was hier vorgeht.« »Möglich. Aber wir werden das Rätsel allein lösen. Machst du mit?« Alba war einverstanden und Charles hoffte insgeheim, dass die Sache vielleicht ein wenig beitragen mochte, die Kluft zwischen ihnen zu kitten. Zwei Stunden später war plötzlich bei beiden das Hochgefühl ver schwunden. Keiner wusste eine Erklärung dafür. In düsterer Stimmung lenkten sie ihre Schritte heimwärts, als erwarte sie eine Unglücksbot schaft. Alba spürte es besonders stark. Was ist jetzt plötzlich los mit mir, dachte sie. Welcher Schatten hatte ihre Seele berührt? War es die un sichtbare Hand des Gespenstes? War es die Form der Wolken? Viel 7
leicht war es die seltsame Tönung des Lichts, die ständig wechselnden Farben der Dinge, die an ihren Augen vorüber zogen. »Ich weiß auch nicht, was uns plötzlich so auf die Nerven geht«, gestand Charles. »Vielleicht ist es die Umgebung. Sie drückt auf unser Gemüt.« Die beiden saßen lange vor dem Haus. Aber mit Einbruch der Dämmerung kamen plötzlich die kleinen Blutsauger angeschwirrt. Die Mücken ließen sich so leise auf der Haut nieder, dass die Kelmans es anfangs gar nicht merkten. Erst der scharfe Stich zeigte ihnen an, dass sie gebissen worden waren. Sie bissen nicht nur in die Hände und ins Gesicht, sondern zogen ihre Nahrung hauptsächlich aus Hals und Na cken. Sobald das Gift sich ausgebreitet hatte, bildete sich eine starke Schwellung der Haut. Die Mücken schienen richtige Vampire zu sein. Den Kelmans war es unmöglich, weiter draußen zu bleiben. Sie gingen ins Haus und setzten ihr Gespräch fort. Später, als sie schlafen gingen, glaubten sie Stimmen zu hören, aber sie kümmerten sich nicht darum und löschten das Licht. Alba schlief sofort ein und sank in einen entsetzlichen Traum, der zweifelsohne von dem Geschehen des Tages ausgelöst wurde. Sie träumte, dass sie erwachte und sah, dass beide Fenster des Schlaf zimmers mit Klebestreifen verklebt waren. Alba glaubte in ihrem Traum zu ersticken, sprang aus dem Bett und riss die Verschalung her unter. Als sie die Flügel aufmachte, sah sie mit jenem unbeschreiblichen Entsetzen, das einen Alptraum kennzeichnet, draußen im Dunkeln nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, den grässlichen Kopf schweben. Es war alles so wie auf dem Waldpfad. Nur war diesmal das Ge spenst viel kleiner. Es war verzerrt und merkwürdig verzogen und ver suchte ins Haus zu dringen. Alba warf das Fenster zu und eilte zum zweiten. Auch da war das fürchterliche Gesicht. Alba Kelman packte das Grauen. Sie glaubte in dem luftlosen Zimmer zu ersticken, aber was sie auch öffnete, das dämlich grinsende Gesicht war überall. Es schwebte herein und biss sie in den Körper, wie die Mücken es getan hatten. 8
Entsetzt schrie Alba auf. Stöhnend erwachte sie. Die Fenster wa ren normal geschlossen. Am Himmel stand der Mond und warf ein Rechteck fahlen Lichts auf den Boden. Charles blickte nur kurz auf und schlief dann sofort wieder ein. Auch nach dem Erwachen war das Entsetzen nicht gewichen. Alba saß im Bett und hing Gedanken nach. Aber dann schlief sie doch wie der ein und verfiel in einen erneuten Alptraum. Doch er war nicht so schrecklich wie der erste. Am nächsten Tag machten die beiden weite Spaziergänge und auf dem Rückweg, es war inzwischen Nachmittag geworden, kamen sie an der Kirche vorbei. Sie stiegen die kleine Anhöhe hinauf und betraten das wunderbarste gotische Gotteshaus, das je auf Erden errichtet wurde. Es war nicht groß und trotzdem beeindruckte es sie sehr. Die Kir che bestand aus drei mittleren Räumen. Die gewölbte Decke und die Galerien ruhten auf schlanken Säulen. Es war ein phantastisches, aus Stein gebautes Kleinod, zart und leicht wie Zuckerwerk. Eine schwarze uralte Treppe führte zum Turm. An der Außenmau er waren bizarre Figuren angebracht. Teufelsköpfe, phantastische Un geheuer, seltsame Blumen und Tiergestalten. Der Friedhof war so alt wie das Gotteshaus selbst. Die Sterne standen wie lauernde Ungeheuer unter dem grauen Himmel. Die meis ten Inschriften waren verwaschen und nicht mehr lesbar. Einige Grab steine stammten noch aus dem 16. Jahrhundert. »Gefällt Ihnen der Friedhof?«, fragte plötzlich ein Mann, der sich den Kelmans mit unhörbaren Schritten genähert hatte. Es war Jones Chaston, der Reverend des Dorfes Tynwood. »Ja, schön ist es hier«, antwortete Alba. »Beinahe unwirklich!« »Der Garten des langen Schlafes«, erwiderte der Reverend ein wenig verträumt. »Hier offenbart sich, welch Schatten der Mensch ist.« »Ohne Leben kein Tod und ohne Tod kein Leben«, sagte Charles. »Ich wollte mich nicht beschweren«, erwiderte der Reverend. 9
»Ich habe es auch nicht als solches aufgefasst«, hakte Charles wieder ein, »ich wollte nur damit sagen, dass das eine ohne das ande re nicht möglich wäre.« »Glauben Sie an Geister, Reverend?«, fragte Alba geradeheraus. »Ich glaube, zu allen Zeiten haben sich die Menschen Gedanken darüber gemacht«, erwiderte Chaston, »was wohl nach dem Tode sei, ob und wie es weitergehe. Immer haben Menschen behauptet, dass sie Kontakte zum Jenseits herstellen können. Heute weiß man, dass es nicht nur Schwindler und Scharlatane waren.« »Dann gibt es also Geister?« »Aller Wahrscheinlichkeit nach, ja.« »Haben Sie schon welche gesehen? Ich meine hier in der Kirche, auf dem Friedhof, oder im Dorf?«, wollte Alba wissen. Reverend Jones Chaston überging die Frage und sagte statt des sen: »Ich habe vor kurzem ein interessantes Buch über parapsycholo gische Phänomene gelesen. Wussten Sie, dass man im Osten LiveÜbertragungen durch den ›Sechsten Sinn‹ veranstaltet? Dass Hirnsig nale Satelliten und U-Boote steuern und dass man Verbrecherwesen mit Hellsehen bekämpft? Es wird nicht nur experimental erforscht, sondern auch angewen det. Die Koppelung von Geist und Seele ist bereits eine Waffe, viel leicht die gefährlichste seit der Entdeckung des Atoms.« »Das mag richtig sein, Reverend«, sagte Alba, »aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Spukt es hier im Dorf?« Er klopfte seine Pfeife auf einem Grabstein aus, steckte sie sodann in seine Tasche, faltete die Arme und sah die beiden unter seinen struppigen Brauen hervor mit festem Blick an. »Nun, ein gutes Dutzend Leute«, sagte er, »behaupten ein gräss liches weißes Gespenst gesehen zu haben. Auch der Mord, der auf diesem Friedhof vor 14 Tagen geschah, wird mit der Erscheinung in Verbindung gebracht.« »Sagten Sie Mord, Reverend?« Charles und Alba waren schockiert. Sie hatten von der Sache kei ne Ahnung. Jones Chaston erzählte nicht mehr oder weniger als das, was schon in der Zeitung gestanden hatte. 10
»Es gibt viele Vermutungen und ein paar Legenden«, sagte der Reverend geringschätzig. »Das ist alles, was ich darüber weiß.« »Dann stimmt die Sache mit dem Gespenst also«, sagte Alba. »Wir haben schon die Leute gefragt, aber die wollten mit der Sprache nicht heraus.« Sie erzählte ihm ihren Traum, verschwieg aber, dass sie das weiße Gespenst schon nachts zuvor gesehen hatte. »Es versuchte zum Fenster hereinzukommen«, fuhr Alba fort. »Es scheint ein dämonisches, mörderisches Wesen zu sein. Vielleicht eine Art Vampir, oder so etwas Ähnliches.« »Vampire gibt es nur in Kinos«, erwiderte Reverend Chaston. »Sie haben geträumt, das kommt schon mal vor. Daraus können Sie doch keine Schlüsse ziehen!« »Ich dachte immer, es gäbe zweierlei Träume«, antwortete Alba. »Solche, die mit dem Zustand des Schlafens verbunden sind und sol che, die Visionen, Warnungen und Erlebnisse hervorrufen. Sie haben mit einem normalen Traum doch nichts zu tun. Sie sollte man ernst nehmen, oder?« »Ich bin kein Parapsychologe«, wich der Reverend Albas Frage aus. »Ich habe mit Träumen keine Erfahrung.« Er blickte auf seine Armbanduhr und hatte es plötzlich eilig. »Der weiß mehr als er sagt«, stellte Alba sachlich fest. »Dieses mysteriöse Gespenst gibt es also tatsächlich...« »Ja, aber niemand will darüber sprechen«, fiel ihr Charles ins Wort. »Jeder scheint Angst zu haben. Auch der Reverend.« Abends hatte Alba Furcht ins Bett zu gehen. Sie wartete mit dem selben Grauen auf den Schlaf wie ein Mörder auf seinen Henker. Mit Entsetzen harrte sie auf sein Kommen. Ihr Herz pochte, ihre Glieder zitterten unter der Decke, bis sie plötzlich in Schlaf versank. Sie stürzte so schnell in Orpheus Arme, als habe sie jemand hi neingestoßen. Deutlich hatte sie das Gefühl etwas belauere und beo bachte sie, aber Alba konnte kein Gesicht ausmachen. Stunden später überfiel sie wieder der Alptraum. Alba wusste ge nau, dass sie im Bett lag und schlief. Und dann spürte sie, wie jemand 11
auf sie zu schlich, sie ansah, sie mit Händen betastete, auf das Bett sprang und ihre Kehle zudrückte, als wollten die Hände sie erwürgen. Verzweifelt bäumte sich Alba auf. Ihre Hände und Beine waren wie gelähmt. Sie versuchte zu schreien, aber kein Ton drang über ihre Lippen. Mit aller Kraft versuchte sich Alba umzudrehen und dieses Ge spenst, das sie würgte und drosselte, abzuwerfen - doch es gelang nicht. Plötzlich erwachte sie aus dem Traum. Verwirrt blickte Alba um sich. Sie zündete die Nachttischlampe an. Doch außer Charles, der ruhig in seinem Bett schlief, war niemand da. * Der fahrende Händler, der am nächsten Morgen zu den Kelmans kam, sah nicht sehr vertrauenserweckend aus. »Danke«, sagte Alba, »wir brauchen nichts.« Doch der seltsame Alte ließ sich nicht so schnell abwimmeln. Zu erst ließ er einmal einen Schwall völlig unverständlichen, atemlosen Gestammels los. Er brauchte volle drei Minuten, bis er sich soweit be ruhigt hatte, dass er sich einigermaßen verständlich ausdrücken konn te. »Ich habe schöne Sachen«, krächzte er schließlich mit heiserer Stimme. »Bunte Tücher, Wetterhäuschen, Sanduhren, Marionetten schöne Marionetten!« Er hieß Torgoson und niemand wusste, wie alt er war. Er fuhr die ganze Gegend ab und gehörte sozusagen zum Inventar der Land schaft. Torgoson war ein runzliges graues Männlein mit einem Gesicht wie eine getrocknete Pflaume und einem Gebiss, das beim Sprechen klap perte. Seine Stimme war ständig heiser und klang wie aus einem Ge wölbe. Wenn es stimmt, dass jedes Dorf seinen Trottel hat, dann stimmt es erst recht, dass jede Landschaft ihr Unikum hat. Er gehörte dazu wie die Heide, oder der Wald. Viele Leute behaupten, dass sich Torgo son in unzähligen Jahren nicht einen Hauch verändert hätte, dass er 12
immer noch gleich schrullig, ja fast unheimlich und keinen Tag älter geworden sei. Sein Gebiss würde immer noch klappern und seine Be wegungen waren so fahrig wie eh und je. Er fuhr ein uraltes Fahrrad, auf dem er all seine Waren angehängt hatte. Der Alte ergriff eine etwa fünfzig Zentimeter hohe Marionette und reichte sie Alba. Noch nie im Leben hatte sie eine so schöne Puppe gesehen. Die naturgetreue Darstellung beeindruckte auch Charles. Die Ma rionette war ein gutes Beispiel englischen Kunsthandwerks. Sie war aus Keramik vorgefertigt, aber von Hand vollendet. Die eingesetzten Glieder waren anatomisch perfekt und ungeheuer lebensecht. Sie war im Stile des 18. Jahrhunderts gekleidet, trug eine pfirsich farbene Bluse, einen Hut mit kleinen Frühlingsblumen, einen Sonnen schirm und einen knöchellangen himmelblauen Rock. Die Marionette hatte kastanienbraunes Haar und ungewöhnlich grüne Augen. Die Füße steckten in schwarzen Schuhen. Bei näherer Betrachtung stellte Alba fest, dass die eingesetzten Augen aus bemaltem Glas gefertigt waren. Im Kontrast zu der Blässe, die ihr eine unglaubliche Ähnlichkeit mit der Marionette verlieh, waren die zum Teil lackierten Wangen der Puppe von einer zarten Röte über zogen. »Großer Gott, Charles, ist das eine schöne Puppe.« Sie versuchte mit ihren Worten dem Händler zu schmeicheln, aber er starrte sie nur an. »Wir sind alle Marionetten«, krächzte der Alte. »Jeder spielt sein Spiel, ohne es zu wollen. Sie heißt Jullen.« Charles kaufte die Puppe und irgendwie war Alba froh, als der seltsame Alte wieder ging. »Unheimlich, der Kerl, nicht?« Charles warf ihm einen Blick nach, aber der Alte war schon ver schwunden. »Das ist untertrieben«, erwiderte er auf Albas Frage. »Teuflisch scheint mir hier eher angebracht. Aber dafür ist die Marionette um so hübscher.« 13
»Irgendwie erinnert er mich stark an das Gespenst«, fügte Alba noch hinzu. »Das ist doch purer Blödsinn!« Noch lange dachte Alba über den seltsamen Alten nach und immer mehr wurde es ihr zur Gewissheit, dass er das weiße Gespenst war. Alba betrachtete es von allen Seiten. Sie grübelte über die Ähnlichkeit nach, musste sich aber eingestehen, dass alles doch nur ihrer Phanta sie entspringen konnte. Nachmittags, als sie im Liegestuhl lag, kamen ihr wieder die Ge danken. Obwohl Alba las, drängte sich das Gesicht von Jullen, der Ma rionette, dazwischen. Unbeweglich, aber eigenartig lebendig. Es dauerte immer nur Sekunden. Das Gesicht drängte sich wie ein gestaltloser Nebel zwischen sie und das Buch, bis es sich wieder auf löste und verschwand. Etwas zwang sie ins Haus zu gehen, ins Zimmer, wo die Marionet te hing. Alba kam es vor, als existiere eine unsichtbare Verbindung zwi schen der Puppe Jullen und ihr. Aber sie wusste nicht, was es war. Lange betrachtete sie die Marionette, die fast lebendig zu sein schien. Vielleicht waren es die Farben, die diese Wirkung verursachten. Sie veränderten sich mit jeder Lichteinwirkung. Die sanften Kurven unter den Backenknochen waren so echt, dass Alba Kelman mit dem Zeigefinger die feinen Linien verfolgen konnte. Der Teint hatte die warme Tönung lebendigen Fleisches. An der sich leicht schwingenden Oberlippe wurde er noch zarter. Alba fragte sich, ob das alles dem Können des Puppenmachers zu verdanken war. Oder hatte ein glückliches Zusammenspiel von Licht und Farbe der Marionette den eigenartigen Zauber verliehen? Noch wusste sie nicht, wie ähnlich sie selbst der Puppe war. Hier in der Einsamkeit der Landschaft, wurde sie mit einem unerklärlichen, verwirrenden Rätsel konfrontiert, das erst seinen Anfang nahm und zu einem überraschenden Ende führen sollte. Den ganzen Nachmittag über beschäftigte sich Alba mit der Puppe. Charles hantierte im Gar ten. Er arbeitete an einem alten Fahrrad, wobei er sich besonders um 14
die Kette bemühte. Er fuhr ein paar Runden, aber es war noch immer nicht in Ordnung. Eine nervöse Spannung lag über dem alten Haus. Der Sonnen schein schien ausgelöscht durch eine eigenartige Melancholie und Traurigkeit. Langsam zog die Nacht einen schwarzblauen Schleier über Tyn wood. Am Horizont zeichnete sich die Kirche ab. Alba konnte nicht einschlafen. Stundenlang lag sie wach, während Charles schon längst schlief. Als sie endlich die Augen schloss, kamen wieder die Träume. In den ersten Phasen trat nur das weiße scheußliche Gespenst in Erscheinung und Alba wusste, dass es die Gestalt war, die sie am Waldpfad gesehen hatte. Der große Buckel, der tief sitzende Kopf, die Laterne in der Hand, das riesige Auge in dem hämisch grinsenden Ge sicht. Alles war so, wie sie es in Erinnerung hatte. Das weiße Gespenst erschien immer aus der Ecke heraus, dort, wo das Fenster war. Es schien sich an einem Punkt zu verdichten, wel cher der Decke näher war als dem Boden. Nach einiger Zeit kam die Erscheinung näher und war auch deutli cher zu sehen. Die gelben Zähne glänzten scheußlich in den unirdischen, phos phoreszierenden bläulichen Licht. Ein abscheuliches Gelächter bohrte sich tief in Albas Hirn. Um das weiße Gespenst bewegten sich unheimliche Wesen. Ver mutlich waren es zwielichtige Höllengestalten. Alba konnte sie nicht richtig ausmachen. Sie schossen ständig hin und her wie ein verrückt gewordener Bienenschwarm. Zwei von den Objekten, die sich langsamer bewegten, entpuppten sich als Kugeln, die in einer unerklärlichen Färbung pulsierten. Lange ging es so weiter. Doch plötzlich verschwand alles und Alba erwachte: Sie war so erschöpft und geschwächt, dass sie sich lange nicht rühren konnte. Nur langsam kam sie wieder zu Kräften. Draußen brach bereits die Dämmerung herein. Am Horizont wurde es langsam hell. Ein neuer Tag kündigte sich an. 15
Alba dachte an den Traum. Was sie da erlebte, machte sie schwindlig. Vielleicht waren es gar keine Träume, dachte sie. Vielleicht
geschah das alles wirklich. Es gibt doch so etwas wie eine Seelenwan derung, überlegte sie weiter.
Aber es war nicht der Traum, der Alba an ihrem Verstand zweifeln ließ. Etwas viel schlimmeres war geschehen. Während sie träumte, musste jemand im Schlafzimmer gewesen sein. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. Sie wusste genau, gestern bevor sie zu Bett gegangen war, hatte sie die Kristallkaraffe mit Wasser gefüllt. Bis hin zum Stöpsel war sie voll gewesen und jetzt war nicht ein einziger Tropfen in der Flasche. Sie war leer - völlig leer! Im ersten Moment war Alba verblüfft; dann befiel sie eine derart furchtbare Erregung, dass sie aus dem Bett schoss, als wäre sie dem Teufel begegnet. Alba sah sich im Zimmer um. Charles schlief noch immer wie ein Toter. Schwindlig vor Staunen und Angst setzte sie sich vor die Kris tallkaraffe und starrte sie an, entschlossen, das Rätsel zu lösen. Ihre Hände zitterten. Jemand musste das Wasser getrunken ha ben. Doch wer? Charles? Nein, er hatte noch nie in der Nacht Wasser getrunken und schon gar nicht in solchen Mengen. Völlig ausgeschlos sen. Alba dachte nach, ob sie es selbst gewesen war. Vielleicht war sie eine Schlafwandlerin und führte unbewusst ein geheimnisvolles Dop pelleben, von dem sie keine Ahnung hatte. Doch sie verwarf diesen Gedanken wieder, weil er ihr zu unsinnig erschien. Sie starrte weiter auf die Glaskaraffe, fand jedoch keine Erklärung dafür, wie das Wasser daraus entschwinden konnte. Eine Weile starrte Alba vor sich hin, doch plötzlich war etwas da, was sie aus ihrer Starrheit riss. Eine unerklärliche Anziehungskraft zwang sie, in eine bestimmte Richtung zu starren. Aber dort war nichts als die Wand. So sehr sie sich auch bemühte, ihre Augen blickten immer wieder zu der vor ihr liegenden Wand. Der Drang zu gehen verwandelte sich plötzlich zum Laufen. Sie schien förmlich aus dem Schlafzimmer zu 16
schweben und jetzt erkannte sie, woher diese mysteriöse Verlockung kam: vom Wohnzimmer. Jullen saß auf der Couch und schien nach Alba zu rufen. Die Pup pe war in einem bejammernswerten Zustand. Das Haar war zerzaust, die Kleidung zerknittert und feucht. Zu den Füßen der Marionette zog sich eine Wasserspur von der Couch über den Fußboden bis zur Tür hin. Das darf doch nicht wahr sein, dachte Alba. Die Puppe kann doch
unmöglich die Wasserkaraffe leer getrunken haben? Das ist ja Hexerei!
Aber es gab keinen Zweifel. Diese Marionette, die gestern noch so natürlich ausgesehen hatte, war über Nacht völlig anders geworden. Eine geheimnisvolle Kraft hatte sich ihrer bemächtigt. Im ersten Moment war Alba unfähig etwas zu sagen. Sie starrte sie an wie ein seltsames Wesen aus einer fremden Welt. Dann ergriff sie ihre Hand und ließ sie mit Schaudern wieder los. Sie war eiskalt. Alba sah ihr aufmerksam ins Gesicht. Die Marionette lächelte nicht so, wie sie es gestern getan hatte. Ihre Wangen, ihr Mund und sogar ihre Augen wirkten boshaft. »Jullen«, rief Alba und wollte nach der Puppe greifen, doch etwas hielt sie zurück. Jetzt sah sie auch das eigenartige Grinsen, das auf dem Gesicht der Marionette lag: Es war ein Lächeln voller Schaden freude und Bosheit. Alba ging rückwärts hinaus und bekam eine Gänsehaut. Das war ja unheimlich. Sie musste es sofort Charles erzählen. Dieser glaubte, seine Frau hätte geträumt, aber als er sich von der Sache überzeugt hatte, lief es ihm ebenfalls kalt über den Rücken. »Das ist ja ein Teufelsbraten«, sagte Charles, während er die Puppe anblickte. »Wir sollten sie aus dem Haus werfen, meinst du nicht auch? Wer weiß, welche Scherereien uns die Puppe noch macht.« Plötzlich hatte die Marionette wieder dieses höhnische Grinsen im Gesicht. Es schien, als würde sie jedes einzelne Wort verstehen. »Fass sie nicht an«, warnte Alba ihren Mann. »Wir machen die Sache nur noch schlimmer. Lassen wir sie lieber, wo sie ist.« 17
»Ich habe dich vor dem Alten gewarnt«, warf Charles ein. »Der Kerl war mir gleich unsympathisch - jetzt haben wir die Bescherung. Was sollen wir machen?« »Warten wir erst einmal ab«, sagte Alba. »Vielleicht sind es unse re Nerven. Vielleicht bilden wir uns alles nur ein und es ist gar nichts passiert... Ich werde Jullen nicht mehr aus den Augen lassen.« »Ich weiß überhaupt nicht, was hier vorgeht«, sagte Charles nach einer Weile. »Alles kommt mir so merkwürdig und seltsam vor. Manchmal glaube ich, wir sind in einem Gefängnis, oder in einem Ir renhaus. Vielleicht sind wir alle beide verrückt. Sind wir am Ende gar nicht im Urlaub, sondern in einer Klapsmüh le? Oder sind die anderen irrsinnig? Hat uns das Schicksal in eine Art Reservat für Geistesgestörte verschlagen? Wenn dem so ist: wann und wie können wir entkommen?« »Hör doch mit dem Quatsch auf«, verlangte Alba von ihrem Mann. »Wir sind weder übergeschnappt, noch unter Geistesgestörten. Hier sind unsere Rückfahrttickets.« Sie hielt ihm das Papier unter die Nase. »Und das hier ist Tynwood. Hier geschahen ein paar Dinge, die wir nicht begreifen. Das ist alles. Aber wir werden noch dahinter kommen. Schließlich leben wir nicht mehr im Aberglauben des Mittelalters.« Während des ganzen Tages beobachtete Alba die Marionette, aber sie konnte nichts Außergewöhnliches an ihr entdecken. Gegen Abend herrschte ein seltsam warmes, stilles, nebliges Wet ter. Alba saß in der äußersten Ecke des Wohnzimmers. Als sie ihren Blick hob, sah sie plötzlich Jullen vor sich. Alba wüsste nicht, ob es an ihrer überreizten Phantasie, an der nebligen Luft, am trüben Dämmerlicht, das im Zimmer herrschte, oder an der geblümten Couch lag, dass sie alles so verschwommen und undeutlich sah. Sie sagte kein Wort - sie hätte auch gar keine Silbe hervorgebracht. Ein eisiger Schauer durchzuckte ihren Körper und eine unerträgli che Angst schnürte ihr die Kehle zusammen. Eine Weile verharrte Alba atemlos in ihrem Sessel. Starr blickte sie auf die Marionette. 18
Die Puppe war plötzlich viel schlanker. Richtig abgemagert sah sie aus. Keine Spur von ihrer früheren Schönheit war zu erkennen. Auch das Gesicht schien seltsam entstellt. Die Stirn war hoch, blass und fleckig. Das kastanienbraune Haar hing strähnig herab und schien auf groteske Weise mit der Traurigkeit ihrer Züge zu kontrastieren. Die Augen waren leblos, trübe und scheinbar ohne Pupillen. Albas Blick schweifte von dem glasigen Starren der Marionette ab und näherte sich den dünnen, zusammen geschrumpften Lippen. Eine Sekunde lang glaubte Alba, Jullen habe den Mund geöffnet, aber dann war es auch schon wieder vorbei. Das Knarren der Tür riss sie aus ihrem furchtbaren Alptraum. Charles trat ins Zimmer. Alba blickte rasch zur Puppe hin - nichts hatte sich an ihr verän dert. Benommen vom Schlaf stand Alba von ihrem Sessel auf und war erleichtert, dass alles nur ein blödsinniger Traum gewesen war. Doch in den grauen Zellen ihres Gehirns war noch alles Wirklichkeit. Das Alpgespenst ließ sich nicht vertreiben: das schrecklich blasse Gesicht, die verkrausten Haare, das Öffnen des Mundes. Jede Einzelheit hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Trotzdem erwähnte sie ihrem Mann gegenüber kein Wort davon. Bevor die beiden zu Bett gingen, füllte Alba die Karaffe mit Wasser und stellte sie mitten auf den Tisch. Rundum bauten sie eine Barriere auf und verbanden sie mit einer Tischglocke. Wenn jemand nach der Karaffe griff, klingelte das Glöckchen. »Bin gespannt, was sich tut«, meinte Charles. »Aber wahrschein lich wartet der Kerl, bis wir schlafen.« Nachts wurde Alba von dem weißen Gespenst gequält. Wieder spürte sie das Würgen an ihrem Hals. Entsetzt wachte sie plötzlich auf, sprang aus dem Bett und lief zu einem Spiegel. An ihrem Hals befanden sich tatsächlich Würgemale. Rote Streifen und Flecke wie Fingerabdrücke. 19
Aber es war nicht allein das, was Alba so entsetzte - die Wasser karaffe auf dem Tisch war leer. Ausgetrunken! Kein Tropfen war ver schüttet. Oh, mein Gott..., dachte Alba. Ich muss sofort Charles wecken. Sie blickte auf die Uhr. Es war eine Stunde nach Mittemacht. * Die beiden Nachtärzte Doktor Brian Hall und sein Kollege Ray Aldiss saßen im Dienstzimmer und unterhielten sich. Die Klinik lag sechzehn Meilen von Tynwood entfernt und beher bergte hauptsächlich psychisch gestörte Kranke. Hall verstand sich auf die Patienten, er kam am besten mit ihnen aus. Selbst Doktor Aldiss musste zugeben, dass man den Leuten unter seiner Pflege nicht auf dem ersten Blick ansehen konnte, was sie wirk lich waren - Insassen einer Nervenheilanstalt. Alle waren sie verrückt. Aber es war schwer, diese Definition zu gebrauchen. Hall konnte den Vorfall vor zwei Tagen, noch immer nicht verdauen. Bis dahin hatte er immer geglaubt, es gäbe nur einen Irr sinn, plötzlich aber war er sich nicht mehr so sicher. Wahnsinn und dergleichen Wörter hasste Dr. Brian Hall. Und das war für einen Psychiater schon etwas merkwürdig. Aber seit dem Kommen des Neuen war alles verrückt. Die beiden Ärzte diskutierten auch in dieser Nacht über Robert Pel Owen, aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Die glitzernde Helligkeit der Neonröhren tauchte die Korridore in eine Flut von Licht. Ab und zu ging ein Wärter durch die Gänge und sah nach dem Rechten. Eine Glasscheibe trennte das Bereitschafts zimmer vom Flur. Eigentlich hatte Dr. Aldiss vorgehabt ein Buch zu lesen, aber an statt sich in seine Lektüre zu vertiefen, musterte er Hall. Im Scheine der elektrischen Glühbirne sah sein Gesicht kantig und faltig aus. Die weißen Haare verliehen ihm das Aussehen eines alternden HollywoodSchauspielers. 20
Auf dem Gebiet der psychiatrischen Untersuchungen konnte sich so leicht keiner mit Brian Hall messen. Nachdem er auch noch einige Bucher über dieses Thema geschrieben hatte, war er nun mit fünfzig Jahren Chefarzt seines eigenen kleinen Sanatoriums. Hall war mit sich und der Welt zufrieden. Aber seitdem sich dieser Robert Pel Owen hier befand, war etwas vorhanden, das er nicht akzeptieren konnte. »Ich bewundere Sie immer wieder«, sagte Aldiss, »wie Sie hier für Ordnung sorgen. Sie kommen mir vor wie ein Dirigent, der ein großes Orchester in harmonischen Einklang bringt.« »Alles, was unsere Patienten brauchen, ist Fürsorge, Geduld und ein wenig Liebe«, entgegnete Hall. »Das ist das ganze Geheimnis. Wenn Sie diesen Rat befolgen, kommen Sie mit den Kranken leicht zurecht...« Doktor Aldiss starrte nachdenklich auf sein Buch. »Ich dachte, Sie hätten eine Zauberformel. Irrsinn ist doch etwas Endgültiges - Hoffnungsloses.« »Lieber Kollege«, erwiderte Dr. Hall trotzig. »Wir sollten da nicht so sicher sein. Schließlich können wir nicht jemanden für verrückt er klären, nur weil sein Geist etwas anders funktioniert. Die Grenze zwi schen normal und verrückt, zwischen Tatsache und Phantasie ist so schmal gezogen, dass man mit Beurteilungen sehr vorsichtig sein soll te. Vielleicht haben wir im Falle Robert Pel Owen kein Recht, ihn als wahnsinnig zu bezeichnen. Vielleicht ist er nur verängstigt, verwirrt, sieht Schatten um sich. Aber tun wir das manchmal nicht alle...?« Ray Aldiss klappte das Buch zu, dann machte er eine vage Hand bewegung. »Mit dieser These bin ich nicht recht einverstanden«, sagte er kopfschüttelnd. »Wenn das nämlich stimmen sollte, was Sie da sagen, dann sinkt der Begriff Irrsinn zur Fragwürdigkeit herab. Wie sollte man entscheiden, wer wahnsinnig ist und wer nicht...?« Brian Hall starrte seinen Kollegen an. »Völlig richtig. Aber was wissen wir schon mit Sicherheit?« Für ei ne Weile wechselte er das Thema, aber dann kam er wieder auf den Neuen zurück. 21
»Was halten Sie von diesem Robert Pel Owen?« Dr. Ray Aldiss nickte nachdenklich. »Ich habe ihn heute das erste Mal gesehen. Robert Pel Owen - ein seltsamer Name. Scheint ein et was ungewöhnlicher Fall zu sein. Wahrscheinlich ziemlich hoffnungs los. Ich bezweifle, dass er je Fortschritte zum Normalen hin macht. Er leidet unter Verfolgungswahn und wird völlig von seinen Wahnvorstel lungen beherrscht.« »Sie wissen ja schon eine ganze Menge von dem Barschen«, warf Dr. Hall dazwischen. »Eine Person, besser gesagt ein Gespenst mit dem Namen George scheint ihm auf den Fersen zu sein.« Beide Ärzte wussten nicht, welches Entsetzen dieser Owen noch verbreiten würde. »Wer ist dieser Junge? Und wie sieht seine Vorgeschichte aus?« Hall zündete eine seiner holländischen Tonpfeifen an und blies das Streichholz aus. »Wie ich schon vorhin sagte, ist es ein recht ungewöhnlicher Fall. Robert Pel Owen ist sechzehn Jahre alt. Ich weiß auch nicht viel über seine Vergangenheit. Die Mutter starb bei seiner Geburt. Der Vater soll unter unheilbaren Depressionen gelitten haben und starb zwei Jahre nach seiner Frau.« »Und Owen?«, fragte Aldiss. »Er ist bei einer schrulligen alten Tante aufgewachsen«, erklärte Hall. »Er war immer allein, hatte keine Freunde und ging nur selten zur Schule. Sein Spielplatz war eine alte Mühle...« Doktor Brian Hall starrte in die Glut seines Pfeifenkopfes. »Vielleicht hat die Einsamkeit etwas mit dem jetzigen Verhalten zu tun. Furcht und Einsamkeit ist etwas Grauenhaftes. Die Angst vor dem Unheimlichen kann durchaus vererbt sein.« »Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Aldiss. »Einsamkeit, Angst und das ganze Getue klingt eher wie ein Melodrama. Ich glaube, es handelt sich vielmehr um eine Persönlichkeitsspaltung, die mit Verfolgungs wahn gekoppelt ist.« »Nicht unbedingt«, widersprach Dr. Hall. »Niemand kann mit Wor ten sagen, was im Kopf eines verstörten Jungen vor sich geht. Wir 22
wissen nichts über seine Ängste. Vielleicht entspringen sie gar nicht seiner Wahnwelt...« Dr. Ray Aldiss lachte dem Chefarzt ins Gesicht. »Sagen Sie, Herr Kollege, sind Sie Arzt oder Okkultist?« Hall überhörte die Bemerkung. Ein leichter Regenschauer prasselte gegen die Fensterscheibe. Aus irgendeinem Zimmer drang Gelächter. Langsam kroch es den Korridor entlang und kam ins Dienstzimmer herein. »Um auf diesen Owen zurückzukommen«, fuhr Dr. Hall fort. »Da wäre noch folgendes zu sagen. Er ging in Tynwood zur Schule. Es dauerte nicht lange, da kursierten die seltsamsten Geschichten im Ort. Die Zwischenfälle waren nicht bedeutend, aber höchst unerfreulich. Owens Nachbarn berichteten immer wieder von unheimlichen Ge schichten und Erscheinungen, die nachts passieren sollten. Schließlich übergab man mir den Jungen und er berichtete von einem seltsamen weißen Gespenst, das ihn verfolgt und sich George nennt.« »Ein klarer Fall von Schizophrenie«, sagte Aldiss rundheraus. »Persönlichkeitsspaltung. Das Schlechte in ihm - das er George nennt verfolgt ihn. Das Gute in ihm versucht sich zu rechtfertigen - so ent steht dieses Phantomgespenst.« Der Chefarzt klopfte seine Pfeife aus. Er war mit den Worten sei nes Kollegen nicht einverstanden. »So hoffnungslos wie Sie meinen, ist der Fall nun auch wieder nicht«, entgegnete Hall schließlich. »Wenn wir vorsichtig an die Sache herangehen, können wir vielleicht den Ursprung seiner Angst erkennen und herausfinden, welche schreckliche Bedeutung dieses Gespenst für ihn hat. Es muss uns gelingen, ihn von seinen höllischen Wahnvorstel lungen zu befreien.« »Befreien!«, echote Aldiss verwundert. »Wen wollen Sie befreien? Sie reden wie ein Priester, der die bösen Geister der Hölle beschwören will. Aber wir sind Gott sei Dank keine Zauberer und Alchimisten, son dern Ärzte.« »Ich glaube schon, dass wir manchmal Zauberer und Alchimisten sind«, sagte Dr. Hall mit leiser Stimme. »Erinnert Sie die Klinik nicht auch manchmal an eine Hexenküche?« 23
Aldiss erwiderte nichts. Es regnete noch immer. Die Tropfen auf der Fensterscheibe führ ten einen wilden Tanz auf. Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille. Hall saß wie erstarrt da. Aldiss, der gerade wieder sein Buch zur Hand genommen hatte, hielt in der Bewegung inne. »War das dieser Owen?«, fragte Aldiss mit trockenen Lippen. Noch während der Chefarzt nickte, erklang wieder ein Aufschrei, der aus einem bodenlosen Abgrund zu kommen schien. Dr. Hall sprang auf. Ehe er noch bei der Tür war, stürzte ein Wär ter herein. »Es ist Robert Pel Owen - der Neue, Doktor. Ich weiß nicht, was er hat...« Als erneut ein Schrei durch den Korridor hallte, rannten die beiden Ärzte los. Der Wärter folgte ihnen in einiger Entfernung. »Er ist wieder da«, sagte der Junge völlig verstört. Owen saß auf recht im Bett und hatte gegen etwas eine Abwehrstellung eingenom men. Seine Worten gingen in ein Schreien über: »Verjagen Sie dieses grässliche Gespenst - Doktor. Schnell, bevor es mich erwischt. Machen Sie schon... Verscheuchen Sie George...« Doktor Brian Hall packte Owen an den schmächtigen Schultern, um die wild fuchtelnden Hände in seine Gewalt zu bekommen. Es ge lang ihm nicht. Erst als Dr. Aldiss und der Wärter eingriffen, gelang es ihnen, Owen festzuhalten. »Wir müssen ihm eine Beruhigungsspritze geben«, sagte Hall. Nachdem der Junge die Injektion bekommen hatte, wurde er ru higer. Kurze Zeit später schlief er ein. Schweigend kehrten die beiden Ärzte in das Dienstzimmer zurück. Der Raum schien plötzlich kalt und unfreundlich zu sein. Nachdem Hall heißen Tee in eine Tasse geschenkt hatte, griff Aldiss wortlos nach einer Zigarette. Als er das Feuerzeug anknipste, bemerkte Hall, dass seine Hand leicht zitterte. Trotzdem versuchte Ray Aldiss, seinen übli chen Tonfall zu wahren. 24
»Also, soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich eindeutig um Schizophrenie«, sagte er. »Er glaubt an die Existenz dieses Gespenstes - daran wird nichts zu ändern sein.« Dr. Hall nahm seine Teetasse und trank ein paar Schlücke. Ihm war kalt geworden. Es dauert eine Weile, bis er sagte: »Ich glaube nicht, dass es Schizophrenie ist.« Er hatte etwas gesehen, was Dr. Aldiss nicht bemerkte. Hall erinnerte sich deutlich an das phosphoreszierende Etwas, das, als er in Robert Pel Owens Zimmer kam, in der Ecke gestanden hatte und dann langsam verschwand. »Vielleicht hat seine Furcht ihren Ursprung in etwas, das für uns weder sicht- noch fassbar ist...« Dr. Ray Aldiss schüttelte energisch den Kopf. »Ich habe Ihnen heute schon einmal gesagt«, polterte er mit lauter Stimme los, »dass wir keine Hexenbeschwörer sind!« »Völlig richtig, mein lieber Kollege«, sagte Hall zustimmend. »Aber ich glaube, dass es gewisse Dinge gibt, die die Wissenschaft noch nicht gelöst hat.« Dr. Hall sprach jetzt mehr zu sich selbst, als zu Aldiss. »Ich denke, vielleicht gibt es Dinge aus vergangenen Jahrhunder ten, die nur darauf warten, zurückzukehren, um Menschen um den Verstand zu bringen. Vielleicht gibt es mehr als wir glauben.« »Völlig ausgeschlossen«, erwiderte Aldiss, doch Hall fuhr fort, als ob er nichts gehört hätte. »Denken Sie zum Beispiel an Tynwood. Dieses Dorf liegt ziemlich in der Nähe. Laut Zeitungsberichten geschehen dort die merkwürdigs ten Dinge. Man sollte der Sache mal auf den Grund gehen. Vielleicht sehen auch andere Leute diesen George. Der Junge ist doch von dem Dorf, vergessen Sie das nicht, lieber Kollege.« »Dass ich nicht lache!«, sagte Aldiss. »Man könnte meinen, Sie haben zu viele Gespenstergeschichten gelesen!« Dr. Hall erwiderte kein Wort. Auch Dr. Aldiss schwieg. Er glaubte zu ahnen, dass Hall es ihm beweisen wollte, wie unrecht er hatte. Und einige Tage später war es dann soweit. 25
*
Am nächsten Tag redete Alba immer wieder von dem Traum und dem weißen Gespenst. »Jemand hat mich gewürgt«, sagte sie, während sie sich im Spie gel betrachtete. »Ich spüre direkt die Finger.« »Aber jetzt ist nichts mehr zu sehen, Liebling«, meinte Charles Kelman. »Vielleicht war bloß alles ein Alptraum?« »Du hast ja selbst die Spuren gesehen«, erinnerte ihn seine Frau. »Wieso willst du jetzt kneifen?« »Weil es einfach zu unwahrscheinlich ist«, erwiderte Charles. »Ich habe noch nie von einem Gespenst gehört, das nachts Leute würgt! Vielleicht hast du dich selbst gewürgt?« »So einen Blödsinn glaubst du wohl selbst nicht.« Charles zuckte die Schultern, dann sagte er: »Die Sonne - ich möchte wissen, ob es sie wirklich gibt...« Alba fuhr herum. Ihr Mann stand am Fenster und sah verträumt in die Landschaft hinaus. Sie trat auf Charles zu und folgte seinem Blick nach draußen. Da war die Sonne. Ein heller, glitzernder Ball, der hoch am Himmel stand. »Was hat die Sonne mit dem Gespenst zu tun?«, fragte Alba. »Eigentlich nichts«, erwiderte Charles etwas verlegen. »Aber mir ist gerade eine sonderbare Theorie eingefallen, von der ich einmal gelesen habe.« »Über die Sonne?« »Nicht direkt, aber eine bestimmte Idee lässt mich nicht los«, sag te er. »Ich denke dabei an die Behauptung, dass Gedanken Wirklich keit werden können. Vielleicht können sich unter bestimmten Voraus setzungen menschliche Gedanken körperlich manifestieren?« Alba ließ sich eine Weile die Idee durch den Kopf gehen, dann sagte sie: »Eines Tages unterhielten sich zwei Philosophen, da sagte der eine, dass er beschlossen habe, die materielle Welt als Realität anzuerkennen, worauf der andere erwiderte: Zum Teufel, das möchte ich Ihnen auch geraten haben.« 26
»Das ist nicht das, was ich meine«, sagte Charles. »Wenn du die se materielle Welt akzeptierst, dann hast du nur das, was Gott erschaf fen hat. Aber wieso glauben wir, dass der Schöpfungsakt ein für alle mal beendet ist? Vielleicht können auch wir Menschen...« »Das klingt zu phantastisch. Du solltest einmal eine ScienceFiction-Geschichte darüber schreiben, wenn du so viel darüber weißt.« »Wenn du dich lustig darüber machst - hat es keinen Sinn, weiter zureden«, sagte Charles gereizt. »Vielleicht sind Halluzinationen auch nichts anderes als gedachte Gedanken. Phantasiebilder, die in unserem Kopf entstehen und für kurze Zeit Wirklichkeit werden.« Charles schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Nehmen wir mal an, eine Gruppe Menschen denkt sich eine imaginäre Gestalt aus, die dann tatsächlich Form annimmt. Vielleicht ist das schon tau sendmal geschehen. Vielleicht waren das Manifestationen von Kultund Göttergemeinschaften, die wir heute den Legenden und Sagen zurechnen.« Charles setzte seine Theorie noch eine Weile fort. Als er endlich am Ende war, stand die Sonne, die die Idee ausgelöst hatte, nahe dem Zenit und sandte ihre warmen goldenen Strahlen auf eine Welt der harten physikalischen Realität nieder. »Wie dem auch sei«, sagte Alba. »Vielleicht ist etwas Wahres an deiner Theorie, aber da ist ein Haken, den du übersehen hast.« »Was habe ich übersehen?«, fragte Charles barsch. »Du sprichst von Gedanken, die Gestalt annehmen«, fuhr Alba fort. »Wir beide haben weder daran gedacht, noch gewusst, dass hier ein Gespenst herumgeistert. Das gleiche gilt auch für diese Marionette. Ist dir das klar?« Charles gab klein bei. Sie hatte recht. Wie kann etwas Gestalt an nehmen, wenn niemand daran denkt. »Ich habe überhaupt das Ge fühl, dass die Leute vom Dorf nur deshalb Urlauber herlocken, damit Ihnen jemand das Problem abnimmt. Das sieht mir ganz danach aus. Aber wir werden diesem Phantom noch auf die Finger treten.« Charles hatte schon immer ein Interesse für das Wunderliche, Phantastische. Hier konnte er sich endlich als Geisterjäger betätigen. 27
Aber noch wussten sie nicht, dass sie es mit zwei Manifestationen zu tun hatten. Mit der Marionette Jullen und dem weißen Gespenst. Am Nachmittag unternahm Alba einen Spaziergang durch den Wald. Charles blieb zu Hause und las ein Buch über Geister. Die reine, würzige Waldluft war eine Wohltat. Alba ging einen Weg entlang und bog dann auf einen Pfad in Richtung Tynwood ab, der zwischen großen Bäumen hindurchführte. Ihre Zweige bildeten ein grünes, dichtes, dunkles Dach, das den Himmel völlig verdeckte. Plötzlich überfiel Alba ein Schauer der Angst. Der Gedanke, ganz allein im Wald zu sein, ließ ihren Herzschlag rasen. Auf einmal hatte sie das Gefühl, als ginge jemand hinter ihr. Jemand schien ihr dicht auf den Fersen zu sein. Jeden Moment glaubte Alba, berührt zu werden. Sie blieb stehen und drehte sich um. Niemand war da. Der Weg unter den großen Bäumen war leer. So weit sie auch blickte - keine Menschenseele. Merkwürdig, dachte Alba Kelman. Ich hätte schwören können,
dass hier jemand war. Ein Wesen, das man nicht sehen, aber fühlen konnte.
Alba wäre es jetzt lieber gewesen, wenn sie im Haus geblieben wäre. Sicher war es nicht der richtige Ort, sich allein im Wald herum zutreiben. Irgendwo von rechts kam ein Geräusch. Etwas knisterte. Allmäh lich bekam sie es mit der Angst zu tun. Sie begann zu laufen, aber es verfolgte sie niemand. Eine Wurzel fasste sie wie eine Hand am Bein. Alba stolperte und fiel hin. Rasch raffte sie sich hoch. Die Baumkronen über ihr wiegten sich im Wind. Sie schienen sie auszulachen. Erst als sie aus dem Wald heraus war, hörte sie auf zu laufen. Alba erzählte Charles nichts von der Sache, aber am Abend legte sie sich eine Patience. »Nanu«, sagte er erstaunt, »du willst wohl das Geheimnis aus den Karten erfahren. Hast du schon eine heiße Spur?« »Nein, ich möchte bloß meine Falten im Kopf glätten. Aber bisher ist es mir nicht gelungen. Stoß ja nicht an den Tisch an«, warnte Alba 28
ihren Mann, »sonst bringst du mir noch die ganzen Karten durchein ander.« Nach zwei Stunden war sie immer noch zu keinem Ergebnis ge kommen. Der ganze Tisch war ein Wirrwarr von unverständlich verteil ten Karten. Alba wanderte nachdenklich im Zimmer auf und ab. Hin und wieder warf sie einen Blick auf das farbige Kartenbild - aber es ergab keinen Sinn. »Was sagt das Orakel?«, fragte Charles spöttisch. »Die Geister streiten sich noch«, erwiderte Alba. »Ich habe an scheinend heute einen schlechten Tag. Es ergibt keinen Zusammen hang.« Sie schob die Karten zusammen, bildete ein Paket und legte es in den Schrank. Es schien, als würde heute jemand etwas gegen Karten legen haben. »Sieh dir mal die vielen Sterne an!«, rief Charles begeistert. »In der Stadt hat man kaum Gelegenheit, einen solchen Sternenhimmel zu sehen.« Für kurze Zeit traten sie ins Freie und sahen zum Himmel hinauf. Alba lehnte sich an die Hausmauer und als sie wieder im Zimmer war, spürte sie trockenen Staub an den Händen. Es war Kreide. »Wahrscheinlich hat ein Kind an der Hausmauer herumgekritzelt«, meinte Charles. Er war völlig überzeugt davon. Aber Alba wusste so fort, dass dies nicht stimmen konnte. Als sie nach Hause kam, war nichts an der Mauer - sie hätte es unbedingt bemerkt. Plötzlich bekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Hatte das etwa auch mit dem Gespenst zu tun? Mit einem Tuch wischte sie die Kreide spuren von ihren Händen ab. Charles ging mit einer Taschenlampe nach draußen, aber schon nach einer Minute kam er zurück. Sie bemerkte sofort seinen über raschten Ausdruck. »Was ist denn los? Du siehst ja aus, als wärst du einem Welt raumwesen begegnet.« Charles holte tief Atem, ehe er antwortete. »Komm schnell«, sagte er, »draußen an der Mauer steht etwas Merkwürdiges.« 29
Beide liefen hinaus. Charles leuchtete mit der Lampe auf die Schrift, die an der Mauer gekritzelt war. Er las laut vor: »Die Mutter trauert um ihren Verlust. Getan ist die schreckliche Tat. Das Gespenst hat sein Grab verlassen. Es nimmt Rache an den Wiedergeborenen. Die Schatten des Bösen sind günstig. George.« »Verstehst du das?«, fragte Alba. »Was hat das zu bedeuten?« »Keine Ahnung«, stotterte Charles. »Aber die Worte scheinen eine Art Nachricht zu sein. Schnell Papier und Bleistift... Wir müssen es auf schreiben... Schnell!« Alba lief ins Haus. Minuten vergingen. Nirgends konnte sie etwas finden. »Wo bleibst du so lange?«, fragte Charles, während er ins Zimmer gestürzt kam. Er riss einige Schubladen heraus und fand endlich Papier und einen Kugelschreiber. Beide liefen nach draußen. Charles leuchtete die Hausmauer ab, aber da war nichts mehr zu sehen. »Großer Gott, da ist ja nichts mehr«, stellte er fest. »Jemand hat die Schrift weggewischt...« »Das... das ist ja unmöglich«, sagte Alba, »das ist ja Zauberei...« Eine Weile starrten sie sich an. »Wir sind doch nicht besoffen«, meinte Charles schließlich. »Die Kreideschrift war da, das ist so sicher wie das Amen im Gebet und jetzt ist sie weg. Das ist ja Hexerei. Wie hieß doch gleich der Wort laut?« Alba zitierte aus dem Gedächtnis und Charles schrieb den Spruch auf einen Zettel. »Ich dachte, es gäbe nur Geheimtinte«, sagte er. »Aber anschei nend gibt es auch Geheimkreide. Hast du das gewusst?« »Nein«, erwiderte Alba energisch. »Ich glaube nicht, dass es eine Geheimkreide gibt. Jemand will uns damit Angst einjagen. Vielleicht hat es etwas mit dem Gespenst oder mit der Marionette zu tun...« Charles las die Worte laut vor: »Die Mutter trauert um ihren Ver lust. Vorbei ist die schreckliche Tat. Das Gespenst hat sein Grab ver lassen und nimmt Rache an den Neugeborenen. Die Schatten sind günstig. George.« 30
»Welches Gespenst könnte damit gemeint sein?« »Ich glaube, es heißt George und kommt aus einem Grab«, fügte Charles hinzu. »Aber was hat das mit uns zu tun?« »Wenn wir das wüssten«, sagte Alba, »dann brauchten wir nicht herumzurätseln.« »Vielleicht messen wir diesen Worten zuviel Bedeutung bei«, meinte Charles. »Aber andererseits...« »Wer ist diese Mutter und um wessen Verlust trauert sie?«, fragte Alba. »Welche Tat ist vollbracht und was soll diese Rache? Charles, das hat etwas zu bedeuten. Ich glaube, die Nachricht hat etwas mit dem Geheimnis hier zu tun. Sie ist vielleicht wichtiger als wir denken.« Eine fast greifbare Spannung legte sich auf die beiden. »Wenn du mitmachst, dann werden wir das Rätsel lösen«, sagte Charles. Über ihnen hing ein zauberhafter Sternenhimmel. Für die großen alten Bäume war die Schrift an der Mauer be stimmt kein Geheimnis. Als Alba hochsah, schien es ihr, als erzittere die Luft von einem lautlosen Gelächter. Sie schmiegte sich eng an Charles. Er küsste sie. Es war seit langem das erste mal, dass sie wie der glücklich waren. * »Verdammt und zugenäht«, schimpfte Inspektor John Denver leise vor sich hin, »wenn wir nicht bald etwas Handfestes in der Hand haben, bekommen wir Unannehmlichkeiten. Dieses Gespenst ist ja auch ein Blödsinn.« »Das ist bedauerlich, Inspektor«, sagte Edgar Ingelbell. »Die Zei tung hört nicht auf, unheimliche Dinge über rätselhafte Umstände zu schreiben. Vielleicht sollten wir doch noch einmal nach Tynwood fah ren und uns das Gespenst vorknöpfen?« »Vergessen wir die Sache für eine Stunde«, erwiderte Denver ka tegorisch. »Beim Lunch möchte ich meine Ruhe haben. Ich halte nichts von Magengeschwüren, Edgar. Ist das klar?« 31
»Wie Sie wünschen, Inspektor«, antwortete Ingelbell, als wäre er gerade den Seiten einer Edgar-Wallace-Erzählung entstiegen. Beide saßen im Speisehaus zur Old Lady und studierten die Spei sekarte. Der Inspektor bestellte Hammelsteak mit Preiselbeeren und Kartoffeln. Sein Assistent war sich noch unschlüssig. »... besonders zu empfehlen heute, Sir.« »Was?« »Die Hammelsteaks, Sir - heute eine Delikatesse.« »Fein«, erwiderte John Denver. »Dann bringen Sie mir das schönste, das Sie haben.« Der Kellner nickte und Edgar Ingelbell hatte endlich auch etwas Essbares gefunden, dann wandte er sich wieder der Zeitung zu. »Was trinken Sie, Sir?«, fragte der Kellner den Inspektor wieder. »Ein Glas Port«, sagte Denver aufs Geratewohl. »Englischen, Sir? Oder französischen Port?« »Englischen.« »Weiß oder rot, Sir?« »Weiß - rot - nein - ich meine rot.« »Englischen roten Port, Sir?« »Ja, ja, bitte...« »In einer Karaffe oder in einem Glas, Sir?« »Ja - nein - verdammt! Bringen Sie's worin Sie wollen, solange man daraus trinken kann.« Die Fragen über den Wein schienen kein Ende zu nehmen. Edgar Ingelbell hatte die ganze Zeit auf den Kellner gestarrt, jetzt sagte er: »Also, wenn Sie mich auch so ausquetschen, dann gebe ich Ihnen die Bestellung schriftlich.« »Ich dachte, es macht Ihnen nichts aus«, erwiderte der Kellner leicht empört. »Sie fragen den Leuten ja auch Löcher in den Bauch. Weshalb darf es nicht auch einmal ein Kellner? Trotzdem habe ich noch eine Frage, Sir.« »Um Himmels willen, was wollen Sie jetzt noch?« »Bratkartoffeln oder neue Kartoffeln, Sir?« »Neue Kartoffeln«, erwiderte der Inspektor eisig. Der Kellner nickte hoheitsvoll und schwirrte ab. 32
»Gott sei Dank«, sagte Ingelbell. »Der wollte uns wohl auf den Arm nehmen.« »Das scheint mit auch so«, antwortete Denver. Sein Assistent vertiefte sich weiter in die Zeitung und die Dame, die dem Inspektor gegenübersaß, lächelte so ungeniert, als habe sie die Szene köstlich unterhalten. Wie schadenfroh die Leute doch sind, dachte Denver und setzte sich so, dass er nicht mehr im Blickfeld der Lady war. Eine Viertelstunde später kam ein großer Servierwagen, beladen mit dampfenden Fleischplatten unter großen Silberhauben. Eine der Hauben wurde aufgehoben - der Geruch von Hammelsteak schlug ih nen entgegen. »Etwas Fett, Sir? Wollen Sie ein leicht gebratenes Stück? Oder soll es knuspriger sein?«
Meine Güte! Was für Riesenportionen man hier bekam! Vorzügli che Steaks, ging es Ingelbell durch den Kopf. Ich hätte auch Hammel bestellen sollen. Er sah zu, wie der Kellner die runden gelben Kartof
feln auf den Teller des Inspektors häufte. »Wollen Sie junge Erbsen oder geschmorten Karfiol dazu?« »Ein wenig von beidem«, antwortete der Inspektor und begann mit großem Appetit zu essen. Kurz darauf bekam auch Edgar sein Mahl. Hätten sie gewusst, was sich in Tynwood ereignete, wäre ihnen der Appetit gründlich verdorben worden. Intendent Wicford stocherte in seinem Mittagessen wie ein Kind in seinem Grießbrei. Er konnte nicht erwarten bis John Denver ins Büro zurückkam. Seine Füße zuckten förmlich vor Nervosität. Aber davon hatten der Inspektor und sein Assistent keine Ahnung. Sie ließen sich Zeit, als wären sie auf Holliday. Das Essen schien kein Ende zu nehmen. Schließlich waren sie doch beim Kaffee angekommen und dann blickte John Denver das erste mal auf die Uhr. Er erinnerte Ingelbell daran, dass es doch Zeit sei, wieder ins Büro zurückzugehen. »Gut gespeist, Denver?«, brummte Wicford den Inspektor an, als sich dieser in sein Bürozimmer begab. 33
»Ausgezeichnete Hammelsteaks heute, was, Edgar? Die jungen Erbsen bei der Old Lady kann ich Ihnen nur empfehlen, Sir.« »Wen interessieren denn jetzt Ihre Erbsen«, legte der Intendant los. »Sie essen in aller Gemütsruhe Steaks, während in Tynwood der Teufel los ist.« »Was für ein Teufel ist los, Sir?« »Das fragen Sie noch«, sagte Wicford fast böse. »Ein neuer Mord ist in Tynwood geschehen. Wenn das so weitergeht«, fügte er hinzu, wobei er Denver einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, »dann wird das Dorf nur noch in der Erinnerung bestehen. Und Sie sind schuld, weil Sie statt auf Mörderjagd, Steaks essen gehen.« »Das ist ja ungeheuerlich«, stellte Denver sachlich fest. »Warum sagen Sie mir das erst jetzt? Wie konnte das passieren?« Der Intendent brummte etwas vor sich hin und sagte dann, dass vor einer Stunde die Nachricht eingetroffen sei. »Eine reizende Bescherung!«, meinte Edgar Ingelbell und das war auch das einzige, was er sagte. »Nun hören Sie, Denver - ich wünsche Taten! Keine Gespenster geschichten. Gesamtes Gebiet abriegeln, jeden verfügbaren Mann in Dolton und Torrington dazu heranziehen! Einsatzwagen, Lautsprecher, Suchhunde - alles, was wir für solche Zwecke haben! Wir suchen einen verwachsenen Mann mit einer Laterne. Einen Albino, völlig weiß ge kleidet. Selbst Sie sollten imstande sein, ihn auf hundert Meter Entfer nung zu erspähen.« »Gewiss«, entgegnete der Inspektor und holte tief Luft, ehe er das fällige ›Sir‹ folgen ließ. Vielleicht gibt er mir auch noch den Namen und die Adresse dazu. Aber seine Gedanken wurden von Wicford un terbrochen. »Sehen Sie zu, dass Sie den Kerl finden und kommen Sie nicht eher zurück, bevor Sie ihn haben. Ist das klar, Denver?« Wicfords Forderung war nicht zu überhören. »Da sitzen wir ja schön in der Tinte«, meinte der Inspektor, als sie das Zimmer des Intendenten verlassen hatten. »Demnach ist Clark Cresaps unschuldig. Jetzt können wir ganz von vorn wieder anfangen. Allmählich glaube ich auch schon an Geister.« 34
Im Augenblick wusste er noch nicht, wie recht er damit hatte. »Wir müssen sofort nach Tynwood«, sagte John Denver zer knirscht. »Sie haben ja gehört - ohne Mörder können wir uns hier nicht mehr blicken lassen.« »Haben Sie schon einmal ein Gespenst verhaftet?«, wollte Ingel bell wissen. »Nein«, erwiderte der Inspektor, »aber wir können es ja versu chen.« Denver hatte den ganzen Kopf voller Fragen, aber er wusste, dass es im Moment wenig Sinn hatte, darüber nachzudenken, bevor er in Tynwood war. Was war geschehen? * Tags zuvor war ein Omnibus mit siebzehn Schülern im Dorf eingetrof fen. Es waren Jungs zwischen zwölf und sechzehn Jahren. Sie kamen aus London und machten eine Rundreise, deren Ziel es war, histori sche Örtlichkeiten zu besichtigen. Sie schliefen auf Campingplätzen, kuschelten sich abends in ihre Schlafsäcke und erzählten sich unheim liche Geschichten. Da diese Ausflüge zum festen Programm der Schule gehörten, gab es einige, die schon zum zweiten Male mit dabei waren. Jeremy war schon letzten Frühling hier gewesen. Er wusste von dem alten, einsa men Bauerngehöft, das allgemein als Spukhaus verschrien war. Von Tynwood war das verfallene Anwesen etwa fünfzehn Fußmi nuten entfernt. Vor dreißig Jahren, so erzählen sich die Leute, wäre plötzlich mitten in der Nacht ein Feuer ausgebrochen. Eine Explosion, die direkt aus der Erde kam, habe das Haus in Brand gesteckt. Es brannte nicht völlig aus, einzelne Einrichtungsgegenstände waren noch zu erkennen. Viele behaupteten, der Teufel sei damals aus der Hölle gekom men. Die Familie, die das Haus bewohnte, verließ es noch in der selben Nacht, als es brannte und sie nahm ihre Habseligkeiten und Schafe 35
mit. Seitdem steht das Haus leer. Nie versuchte jemand es wieder auf zubauen. Vor fünf Jahren interessierte sich ein Stadtmensch für die Ruine, verzichtete aber auf den Kauf. Niemand wusste weshalb. Danach wurden die Fenster mit Brettern verschlagen und die Tü ren verbarrikadiert. Inzwischen waren jedoch die Bretter teilweise he runtergefallen und die Haustür hing schief in den Angeln. Sie war kin derleicht zu öffnen. Das ganze Anwesen war von einer Steinmauer eingefasst, die gut hundert Jahre alt sein mochte. Obstbäume standen im Garten, aber aus unerklärlichen Gründen trugen sie schon lange keine Früchte mehr. Jedes mal, wenn Jeremys Klasse nach Tynwood kam, setzte er sich auf einen der toten Baumstämme und hing seinen Gedanken nach. Trotz alledem, was er darüber gehört hatte, fand er das verfal lene Haus nicht sehr unheimlich. Was die Leute darüber redeten, war für ihn nicht mehr als ein Märchen. Der Fünfzehnjährige konnte sich nicht vorstellen, wie es zu dem Namen ›Spukhaus‹ kam. Das Merkwürdigste an dem Haus war vielleicht die Kerze, die am Kamin stand. Sie gehörte sozusagen zum Haus. Schon vor einem Jahr, als Jeremy hier war, stand sie dort. Damals hatten die Schüler unter seiner Leitung eine Spuk-Party im Hause veranstaltet. Ein paar hatten sich als Hexen verkleidet, die an deren kamen als Geister. Es war ein großer Erfolg. Jemand aus der Klasse hatte ein gotisches Alphabet aufgestöbert und die Buchstaben auf den Fußboden geklebt. Reste davon befanden sich jetzt noch dort. Die Verkleidung von damals brachte den Jungen auf eine Idee. Diesmal würden sie auch wieder hier herumtoben und diesmal würde er den übrigen den Schreck ihres Lebens einjagen. Hoffentlich würde es ihm gelingen! Einen Teil seiner Geistermaskerade hatte sich Jeremy schon von zu Hause mitgebracht, das was fehlte, kaufte er sich im Dorf. Doch damit die Sache richtig lief, brauchte er unbedingt Bill. Es war ein Bur sche, der schon bei der ersten Spuk-Party dabei war. Diesmal musste 36
er für Jeremy einspringen, damit es nicht auffiel, wenn er sich ver kleidete. Am Abend schlich Jeremy als erster aus dem Campingplatz. Nach und nach ging die ganze Klasse. Alle hatten ihr Gesicht mit Ruß be malt. Kurze Zeit später trat Bill an Jeremys Stelle. Niemand von den sechzehn Schülern fiel es auf, dass sich ihr Klassenkamerad nicht mehr unter ihnen befand. Jeremy hatte sein Gesicht mit einer Mischung aus Tomatensaft und Mehl eingeschmiert. Er bot einen furcht erregenden Anblick. Die anderen waren inzwischen sicher beim Spukhaus angekommen. Jere my machte einen großen Umweg, die anderen durften auf keinen Fall etwas merken. Im Dunkeln schlich sich Jeremy an das Spukhaus heran. Bald würde der Mond aufgehen, dann würde er besser sehen. Plötzlich kam er sich ziemlich albern vor. Er hängte das Laken um und befestigte zwei alte Kuhhörner an seinem Kopf. Seine Mundwinkel strich er mit einem grellroten Lippenstift an. Jeremy zweifelte daran, ob er überhaupt jemanden erschrecken konnte. Fast hätte er aufgegeben und wäre wieder zum Campingplatz zurück - wenn er es getan hätte, wäre ihm einiges erspart geblieben, aber das konnte er noch nicht wissen. Der Mond ließ auf sich warten und Jeremy war ein wenig vom Weg abgekommen. Er stolperte über Stacheldraht und zerriss das La ken. Als er über die alte Steinmauer kletterte, schlug sein Herz schnel ler und er redete sich ein, dass es doch noch ein gelungener Spuk werden konnte. Wie ein Gangster in einem Krimifilm, schlich Jeremy an der Mauer entlang und arbeitete sich bis zum Fenster vor. Ein kurzer Blick durch ein loses Brett sagte ihm, dass alle anwesend waren. Sie saßen am Boden und kicherten. Im Kamin brannte ein Feuer. Jeremy nahm einen Zweig und kratzte damit über die Fensterver schalung, die nur mehr zur Hälfte bestand. Er wollte, dass die Jungs sich umdrehten. Noch eine Weile fuhr er mit dem Ast über die Bretter, 37
ließ sich aber nicht blicken. Er pfiff eine langsame Melodie, die sich unheimlich anhörte. Vorsichtig spähte er durch das Fenster, aber die Jungs drinnen schienen ihn nicht zu bemerken. Inzwischen war der Mond aufgegangen, aber schwarze Wolken machten ihn unsichtbar. Wind kam plötzlich auf. Einzelne Tropfen fie len. Es begann zu regnen. Gerade als Jeremy durch das Fenster blickte, erhellte ein greller Blitz die Landschaft. Alle im Zimmer drehten sich um. Jeremy neigte einige Male seinen Kopf und verschwand dann. Der Donner, der folgte, war so heftig, als wäre eine Fünfhundert-Kilo-Bombe explodiert. Der Regen wurde stärker. Jeremy war zufrieden. Frech marschier te er am Fenster vorbei und pfiff dabei die schreckliche Melodie. Jetzt konnte man ihn ruhig sehen. Wieder fuhr ein Blitz vom Himmel und beleuchtete für Sekunden die Umgebung. Jeremy stellte sich Vor das Fenster, nahm seine Ta schenlampe aus der Hose und leuchtete sich ins Gesicht. Er schnitt eine Grimasse und nickte mit dem Hörnerkopf. Die Show tat seine volle Wirkung. Alle standen dicht aneinander gedrängt und starrten zum Fenster. Jeremy hatte sein Ziel erreicht. Jetzt kam der Höhepunkt seiner Vorstellung. Mit einem markerschütternden Aufschrei stürmte er ins Haus. Ges tikulierte wild mit den Armen und präsentierte sein vom Tomatensaft und Lippenstift nass triefendes Gesicht. Schreie und Entsetzen breiteten sich im Raum aus. Total verängs tigt stürmten die siebzehn Schüler ins Freie. Von Panik getrieben sprang einer durch das Fenster, obwohl es teilweise mit Brettern ver nagelt war. Kopfschüttelnd sah Jeremy ihnen nach. Sie liefen, als wäre ihnen der Leibhaftige auf den Fersen. Jeremy hatte keine Lust, sie noch zu verfolgen. Er machte nur ein pfeifendes Geräusch, das bald höher und bald tiefer membrierte. Es hörte sich an wie: JE-DER-MA-NN, JEDER MANN! 38
Die Burschen waren längst in der Dunkelheit verschwunden. Je remy zündete sich eine Zigarette an und freute sich höllisch über den gelungenen Abend. Das Feuer im Kamin brannte noch immer. Ein paar halbgefüllte Cola-Dosen standen am Boden herum. Einige Sandwichs steckten noch im Papier. Jeremy aß ein Brötchen und sah zu, wie sich langsam der Mond von den Wolken befreite. Bald danach lag alles im silbrigen Schein. Jeremy warf noch etwas Holz in das Feuer, um seine nassen Sa chen zu trocknen. Ihn fröstelte. Im Scheine des Feuers sah er die Spinnweben und roch die feuch te Muffigkeit des Hauses. Er hatte Angst, sich zu erkälten. Die Stille, die hier herrschte, ging ihm plötzlich auf die Nerven. Der tote Planet, der am Himmel hing, schien den Eindruck noch zu verstärken. Plötzlich war ein kratzendes Geräusch zu hören. Jeremy sprang auf und blickte ängstlich umher. In der Ecke sah er eine Maus, die sich an ein Sandwichpapier heranmachte. Jeremy atmete auf. So ein Blödsinn, dachte er. Eine Maus, wer hat
denn schon vor einer Maus Angst?
Auf eine unerklärliche Weise schien das alte Haus jetzt wirklich gespenstisch. Zum Teufel mit den Geistern, sagte Jeremy laut. Jetzt würde er nach Hause gehen. Schluss mit dem ganzen Unfug. Als er sich umdrehte, stand plötzlich, wie aus dem Boden ge schossen, eine Gestalt vor ihm. Im ersten Moment dachte er, ein Klas senschüler wäre zurückgekommen. Aber dann stieß die Gestalt einen entsetzlichen Schrei aus und fiel wie ein gefällter Baum zu Boden. Jeremy eilte auf die Gestalt zu und sah, dass es eine etwa sech zig- bis siebzigjährige Frau war. Sie lag da wie tot. Komische Alte, dachte Jeremy und verließ das Spukhaus. Bevor er auf den Campingplatz zurückkehrte, wischte er sich das Gesicht ab, streifte das Laken ab, nahm die Hörner vom Kopf und steckte alles in eine Plastiktüte. Dann stieg er in seinen Schlafsack und schlief den Schlaf des Gerechten. Niemand von den Schülern hatte etwas be merkt. 39
Am nächsten Tag, als sie Tynwood wieder verließen, war eine Menge Polizei unterwegs. Jeremy wunderte sich, was sie hier zu tun hatten. Später warf er den Plastikbeutel mit den Utensilien aus dem Bus. Das Spukhaus war für ihn gestorben. Er wusste nicht, dass die alte Frau durch den Schreck gestorben war. Als sie beim nächsten Rasthaus hielten, erführ Jeremy, was sich vergangene Nacht in Tynwood ereignet hatte. Ein Mann im Neben zimmer erzählte die Geschichte. »Ihr habt offensichtlich noch nichts gehört«, sagte der Mann zu den Leuten. »Was sollen wir noch nicht gehört haben?« »Na, die Sache, die heute Nacht in Tynwood geschah«, erwiderte er und begann zu erzählen. »Eine Meile vom Dorf entfernt, im Spukhaus, wurde eine Leiche gefunden. Es handelt sich um eine alte Frau. Man sagt, sie sei ermor det worden, Zigeuner, oder sonstige Herumtreiber sollen es gewesen sein.« »Hat man schon eine Spur?« »Keine Ahnung«, sagte der Mann. »So leicht ist das nicht, dieses Burschen zu fassen.« Mein Gott!, dachte Jeremy. Ich habe die alte Frau getötet. Ihm drehte sich der Magen um. Jetzt wurde ihm erst klar, was er getan hatte. Er hatte sie mit seiner blödsinnigen Gespensterspielerei umge bracht. Jeremy schloss die Augen, bis er nur noch einen Feuerball sah. Er musste erst einmal das Schreckliche begreifen, musste es mehrfach vor seinem inneren Auge vorbeiziehen lassen: wie die Frau plötzlich auftauchte, schrie und umfiel. Ich hätte die Verkleidung nicht aus dem Bus werfen sollen, ging es ihm durch den Sinn. Wenn die Polizei die Dinge findet, dann werden sie unweigerlich auf die Klasse stellen. Aber jetzt war es zu spät, dar über nachzudenken. * 40
Als Inspektor John Denver und sein Assistent Edgar Ingelbell in Tyn wood ankamen, war die Schulklasse bereits fünfzig Meilen vom Dorf entfernt. Die Leute von der Spurensicherung waren gerade mitten in ihrer Arbeit. Blut wurde keines gefunden, aber jede Menge Cola-Dosen, Sand wichsreste, Spuren von Kreide, eine Kerze, Teile von Buchstaben am Fußboden, Tomaten-Ketchup, Lippenstift, Ruß, Fingerabdrücke an der Mauer, jede Menge Schuhabdrücke und Bonbonpapier. »Vielleicht wird es Sie interessieren«, sagte ein hagerer großer Mann zu Inspektor Denver. Es war der Polizeiarzt. »Die Frau ist an keiner Gewaltanwendung gestorben, sondern...« »Nanu, ich dachte, es war Mord«, unterbrach Denver den Doktor. »Sie wissen ja, der zweite innerhalb kürzester Zeit.« »Das weiß ich, Inspektor«, erwiderte der Arzt. »Die erste Leiche wies Würgespuren auf. Aber hier gibt es nichts, rein gar nichts. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass ein Schock die Frau getötet hat.« »Ein Schock?« Denver war überrascht. »Sie meinen, etwas habe sie so sehr erschreckt, dass sie dann gestorben ist?« »Richtig«, bestätigte der Arzt. »Solche Fälle sind gar nicht selten, wie man glaubt.« »Und was denken Sie, hat sie so sehr erschreckt, dass sie daran gestorben ist?« »Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten«, meinte der Dok tor. »Vielleicht hat sie ein Vogel erschreckt, oder ein Tier, ein Geist, oder sonst was. Vielleicht kann ich morgen mehr darüber sagen.« Der Inspektor überflog den muffigen Raum mit einem raschen, sachkundigen Blick. »Ein richtiges Gespensterhaus, wenn Sie mich fragen«, sagte In gelbell. »Unsinn! Sie mit Ihren Gespenstern. Haben Sie keine bessere I dee?« »Das wäre doch mal etwas Neues«, verteidigte sich der Assistent. »Ich hätte gerne das Gesicht vom Intendenten Wicford gesehen, wenn im Protokoll gestanden hätte, dass ein Gespenst die Frau...« 41
»Wir machen auch so dumme Gesichter«, knurrte der Inspektor. »Ich bin da ganz ehrlich. Der langen Rede, kurzer Sinn: Die Frau ist tot - und das Tatmotiv - von welcher Seite auch immer - es ist völlig ver wirrend.« »Vielleicht ist sie wirklich einem Geist begegnet?« »Na, hoffentlich begegnen wir ihm dann auch«, meinte Denver. »Vielleicht bringen uns die Laborberichte einen Hinweis.« »Die berühmte Ameisenarbeit ist uns sicher«, sagte Edgar Ingel bell. »Eine Menge Lücken müssen noch gefüllt werden und das kann man nur mit einer Portion Scharfsinn.« »Deshalb sind Sie ja hier«, erwiderte Denver schlagfertig. »Mit Ih rer Geistertheorie haben Sie sich derart stark gemacht, dass es eigent lich fast eine Ehrensache für Sie sein müsste, den Fall aufzuklären.« Der Inspektor zündete sich seine Pfeife an und blies wie eine Koh lenlokomotive Rauchwölkchen von sich. »Was soll das ganze Palaver«, sagte Ingelbell. »Ich bin keine Pri maballerina und Sie sind kein Direktor, der mit Starverträgen lockt.« »Okay«, meinte der Inspektor, »dann müssen wir nach zwei Tä tern Ausschau halten: einem menschlichen und einem gespenstischen. Wir werden uns hier im Ort einquartieren. Vielleicht kommen wir dann schneller vorwärts.« Der gesamte Fahndungsapparat, im Umkreis von 100 Meilen, wurde in Bewegung gesetzt. Alle Straßen von und nach Tynwood wur den durchgekämmt, aber man fand nichts, was mit dem Tod der Frau in Verbindung gebracht werden konnte. Es war der Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die völlig an ders verliefen, als sich Denver und sein Assistent vorstellen konnten. Letzten Endes war es Ingelbell, der mit seiner Geistertheorie recht hatte, aber bis dahin hatten die beiden noch einen weiten Weg vor sich. Am zweiten Tag sah der Inspektor sämtliche Fundgegenstände durch, die auf den verschiedenen Strecken gefunden wurden. Die Din ge, die nichts mit der Toten zu tun hatten, waren mit einem Kreuz versehen. 42
»Nur Kreuze«, sagte Inspektor Denver mürrisch. »Regenschirme, Spazierstöcke, Hundehalsbänder, Handschuhe, Pfeifenköpfe, ein Feu erzeug, alte Fotografien, Gummistiefel, Kartoffelsäcke, Hüte, jede Menge Unrat und Werbeprospekte.« Die Liste war endlos. Jeder Gegenstand war mit einer kurzen Be schreibung versehen. »Was so alles auf der Straße liegt...«, wunderte sich Ingelbell. »Eine Plastiknase, ein falscher Vollbart, eine Maske und eine künstliche Schlange.« »Stammt von einem fahrenden Zirkus«, winkte John Denver ab. Ingelbell horchte auf. War das vielleicht der erste Anhaltspunkt? »Du lieber Himmel!«, rief der Inspektor aus. »Wenn das so ein fach wäre, dann wären wir nicht mehr hier. Sie sind längst über alle Berge. Außerdem wurden sie bereits auf Herz und Nieren geprüft. Der Zirkus und seine Leute sind nicht in unserem Programm.« »Fein«, erwiderte Ingelbell. »Nun sagen Sie mir lieber mal, welche Anzeichen überhaupt davon sprechen, dass die Frau ermordet wurde.« »Aber... Sie haben wohl den ersten Mord vergessen, Edgar. Dar auf läuft schließlich alles hinaus. Das kann leicht zu einer Serie aus wachsen und das müssen wir unter allen Umständen vermeiden.« »Die Person selbst hat uns nicht weitergebracht«, sagte Ingelbell. »Sie hatte keine Feinde, war nicht reich. Für ihren Tod gibt es keine Anhaltspunkte. Wie sollen wir da weiterkommen?« »Möglich, dass wir es mit einem Psychopaten zu tun haben. Wir sollten die Leute im Dorf mal durch den Wolf drehen, vielleicht ergibt sich da etwas Brauchbares.« »Im Moment ackern wir nur wie blinde Maulwürfe«, erwiderte In gelbell. »Bin gespannt, wann die erste Spur auftaucht.« Die heiße Spur tauchte bereits am nächsten Tag auf. Jeremys Plastiktüte wurde gefunden. Nach und nach erfuhr der Inspektor, dass eine Schülerklasse unweit des Dorfes auf einem Cam pingplatz war. Es dauerte nicht lange, dann hatte er auch Bill ausfindig gemacht, der zugab, mit den anderen im Spukhaus gewesen zu sein. 43
Natürlich hatte Bill von der Toten nicht die geringste Ahnung. Er war genauso wie die anderen schon längst fort gewesen, als die Sache passierte. »Schöne Bescherung«, sagte Denver, »jetzt können wir alle sieb zehn Schüler befragen. Vielleicht hat einer von ihnen eine Beobach tung gemacht.« »Aber dieser Bill behauptet doch - sie hätten nichts gesehen«, sagte Edgar Ingelbell. »Warum wollen wir uns da die Arbeit machen?« »Weil Talent, Inspiration und Phantasie nach wie vor zu den wich tigsten Eigenschaften bei der Auflösung eines Verbrechens gehören. Kommen Sie, Edgar. Sie übernehmen die eine und ich die andere Hälf te und zum letzten Schüler gehen wir gemeinsam. Noch was einzu wenden?«, fragte Inspektor Denver. Ingelbell verzichtete diesmal darauf, seinen Chef zu ärgern. * Alba und Charles Kelman versuchten mehr Anteil am Leben des Dorfes zu nehmen. Sie glaubten, es läge an der Einsamkeit, dass sie überall nur Gespenster sahen. Sie streiften den ganzen Tag in der Heide um her und gingen dann meistens abends in ›The Horse‹ essen. Von außen sah es wie tausend andere Gasthöfe aus: ein knarrendes Schild, eine bescheidene Ausschankgenehmigung an der Fenster scheibe, schmucklose glatte Hauswände und ein Spitzdach. Aber innen sah man den Unterschied. Im Esszimmer gab es keine Vorhänge und keinen Feuerschirm vor dem Kamin. Auf den Tischen standen weder Aschenbecher noch Salz- und Pfefferstreuer. Nicht einmal Bierdeckel waren vorhanden. Die Wände waren weiß getüncht und abgesehen von ein paar Bratpfannen und drei Kupferstichen trugen sie keinen Schmuck. Die Theke bestand aus rauchgeschwärztem Eichenholz. Es schien echt elisabethanisch zu sein. Die rückwärtige Mauer beherbergte eine Batterie gläserner und porzellanener Bierkrüge. Die einmalige Attraktion, sozusagen das Juwel des Gasthofes, war die Wirtsstube. Alle vier Wände, einschließlich der Decke, waren mit 44
Pferdebildern bedeckt. Es waren Ölgemälde. Meister des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Aber auch Aquarelle der Neuzeit waren darunter. Es war eine gemalte Pferdehistorie von der Urzeit zur Gegenwart. Pferde aller Rassen und Gattungen waren zu sehen. Persische, arabi sche, asiatische, europäische. Pferde bei der Jagd, im Krieg, in der Wüste, im Schnee, bei der Arbeit, im Kohlenschacht, beim Sport. Eini ge Bilder zeigten edle Pferde, auf deren Rücken Kalifen, Fürsten, Prin zen, Könige und Kaiser saßen. Aber auch die vier schrecklichen Gestalten der Apokalypse ritten auf ihren nachtschwarzen Pferden: der Tod, der Krieg, der Hunger, das Blend. »Die Sammlung muss ein Vermögen wert sein«, sagte Charles. »Wer hätte hier so viel Kunst erwartet? Das ist wahrhaft eine Touris tenattraktion. Über mangelnde Gäste braucht er sich wohl nicht zu beklagen.« »Vollkommen Ihrer Meinung, Mister«, sagte der Wirt, der plötzlich hinter Kelmans Tisch stand. »Attraktionen haben wir hier zur Zeit eine Menge. Unser Tynwood wird berühmt, das können Sie mir ruhig glau ben, Mister. Ich habe eine Nase dafür. Ich rieche Ereignisse im voraus, Mister.« Der Wirt war ein komischer Vogel. Einst war er Beamter im Staatsdienst, manche behaupten, er war beim Geheimdienst und hätte sich im zweiten Weltkrieg goldene Lorbeeren verdient. Doch das waren nur Gerüchte. Der Wirt liebte in seinen Räumen das Private, im Gespräch wie im Benehmen. Während er die Bestellung aufnahm, musterte ihn Charles verstohlen. Er war ein Typ, der nicht richtig einzuordnen war. Einmal wirkte er wie ein Arzt, dann wie ein Wissenschaftler und kurze Zeit später wie ein Offizier oder ein Kapitän, der gewohnt ist, Befehle zu geben. »Hier tut sich ja allerhand«, nahm Charles das Gespräch wieder auf. »Mörder, Geister und Verrückte scheinen hier ganz etwas Alltägli ches zu sein. Für stressgeplagte Großstädter ist es ja gerade nicht zu empfehlen.« 45
»Wieso?« Der Wirt war überrascht. »Woanders müssen die Leute ins Theater oder Kino gehen - hier erleben sie alles life. Ist das viel leicht nichts?« »Zum Urlaub gleich das Gruseln«, sagte Alba. »Ganz neue Wer bemasche. Was sich die Leute nicht alles so einfallen lassen - erstaun lich.« »Das ist kein Trick der Reiseveranstalter«, erwiderte der Wirt. »Das ist echt. So echt wie die Heide draußen. Es wird noch eine Weile so weitergehen, das können Sie mir glauben.« »Und wer macht den ganzen Unfug?«, fragte Alba. »Ein Gespenst«, erwiderte der Wirt prompt. »Jedenfalls steht es so in den alten Chroniken des Dorfes. Es erscheint in periodischen Ab ständen und stiftet jedes mal Angst und Unruhe.« »An unserem Urlaubshaus stand auch so ein merkwürdiger Spruch«, sagte Charles. »Glauben Sie, dass Gespenster Hausmauern beschmieren?« »Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben«, antwortete der Wirt. »Ich habe mit Geistern keine Erfahrung.« »Und die Frau, die getötet wurde - ist sie auch das Opfer eines Geistes geworden?«, erkundigte sich Alba. »Keine Ahnung«, wich der Wirt aus. »Ich weiß nur das, was die Zeitungen darüber berichten.« Er wies auf einen Stapel Papier. »Ein jeder im Dorf kann es gewesen sein. Wie man weiß, waren eine ganze Menge Leute in der Nähe. Die Farmer von Rickwall Cliff beispielsweise und der Schafhirte Mr. Burgess, auch wenn er kaum zur schlechten Sorte gehören dürfte. Er ist eher ein Bursche großer Worte als großer Taten.« Der Wirt steckte eine Zigarre in Brand und fuhr dann fort: »Eine ganze Schulklasse soll dort gewesen sein. Aber welchen Grund sollen die Burschen gehabt haben, die alte Frau zu töten?« »Da gibt es ja eine ganze Menge Verdächtige«, meinte Charles. »Und wer kommt außer diesen Personen noch in Frage?« »Vielleicht Sie - oder ich«, scherzte der Wirt. »Was wäre die Kri minalistik, wenn die Täter so rasch zur Hand wären? Aber wenn man diesem Kerl von Burgess glauben darf, fand im alten Bauernhaus ein 46
Hokuspokus statt. Sofern der Kerl nicht gelogen und uns einen Bären aufgebunden hat. Er behauptet in der fraglichen Nacht ein fürchterli ches Gespenst gesehen zu haben. Wenn das zutrifft, dann...« »Sie glauben, es ist das gleiche Phantom, das das Dorf von Zeit zu Zeit unsicher macht?« Der Wirt ließ die Antwort in der Luft hängen und kümmerte sich um Alba und Charles' Bestellung. * Schon seit einiger Zeit hatte Robert Pel Owen in der Anstalt nichts mehr von George, dem Gespenst, gesagt. Er hatte auch nachts nicht mehr geschrieen und das war beachtlich. Es war ein voller Erfolg für Doktor Brian Hall. Natürlich wollte Dr. Ray Aldiss wissen, wie Hall dieses Wunder vollbracht hatte. Er fragte sich, was Hall wohl an den langen Nachmit tagen mit dem Jungen gemacht hatte und wie er es schaffte, ihn zum Reden zu bringen. Aber seine Frage blieb unbeantwortet. Doktor Hall hatte sich in den letzten Tagen seltsam verändert. Seine Augen waren eingesunken und eine eigenartige Müdigkeit mach te sich breit. Obwohl er mit niemandem über Owen sprach, wusste Aldiss, dass er sich in Gedanken ständig mit dem Jungen beschäftigte. Als Hall abends in die Klinik kam, wusste Aldiss sofort, dass Hall etwas auf dem Herzen hatte. »Ich mache ein paar Tage Urlaub«, sagte er. »Sie werden mich solange vertreten und auf Robert Pel Owen achten.« Dr. Aldiss glaubte nicht richtig gehört zu haben, ruckartig richtete er sich auf. »Sie gehen auf Urlaub?« »Nur zwei, drei Tage«, erwiderte Dr. Hall. »Ich überlasse Ihnen den Jungen. Ich bin sicher, dass es keine Komplikationen gibt.« »Ich werde mein Bestes tun«, versprach Dr. Ray Aldiss. »Kümmern Sie sich nur einfach um ihn, bis ich zurückkomme.« »Aber...« 47
Sein eiskalter Blick brachte Dr. Aldiss zum Verstummen. Hall sprach mit gedämpfter Stimme. »Hören Sie zu, mein lieber Kollege. Sie werden sicher nicht scharf darauf sein, meine Methode kennen zu lernen. Sie ist nicht orthodox. Wenn Sie erst einmal, wie ich, die Schwelle übertreten haben, lernen Sie Dinge, die einfach phantastisch sind, aber nicht in den Lehrbüchern stehen.« »Sie sollten es mir ruhig sagen«, erwiderte Dr. Aldiss. »Ihr Erfolg könnte vielleicht Schule machen.« »Also gut«, sagte Dr. Hall, »wenn Sie darauf bestehen, werde ich es Ihnen sagen. Ich glaube an das Gespenst und versuche, seine Angst mit ihm zu teilen. Ich bin sicher, dass es George gibt. Da ich an dieses Wesen glaube, gelingt es mir, es in den Griff zu bekommen.« Dr. Aldiss war sprachlos. Er glaubte sich ins Mittelalter zurückver setzt. Was Hall da behauptete, grenzte an Hexerei des vergangenen Jahrhunderts. Das war gestern gewesen. An diesem Abend war Dr. Aldiss das erste mal allein mit dem Jun gen. Auch jetzt begriff er Halls Gedanken nicht. Für ihn stand fest, dass Hall die Grenze zwischen Arzt und Patient überschritten hatte.
Vielleicht hat Hall sich schon selbst mit diesem Gespenst identifi ziert, ging es Dr. Ray Aldiss durch den Kopf. Bleibt er deswegen für ein paar Tage zu Hause? Aber wenn Hall recht hat, was dann? Vielleicht gibt es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen wir keine Ahnung haben? Böse Dämonen und Kobolde, die arme Kreaturen wie Robert Pel Owen quälen? Konnte man die Betroffenen dann als Irrsin nige bezeichnen? Aldiss beschloss, sich selbst ein Bild von der Sache zu machen. Es war zehn Uhr abends, als Dr. Aldiss das erste mal ins Zimmer von Owen blickte. Der Junge schlief so fest, wie ein Bursche in seinem Alter nur schlafen kann. Sein Atem war tief und regelmäßig, nicht die leiseste Spur von innerer Unrast und Nervosität. Der Arzt hatte das Gefühl, dass ihm Halls mahnende Stimme be gleitete. Doch Aldiss redete sich ein, dass sein Chef völlig unrecht hat 48
te. Das mit dem Gespenst war blanker Unsinn. So etwas gab es ein fach nicht. Er ging in das Dienstzimmer zurück. Eine Stunde später hörte Ray Aldiss ein merkwürdiges Geräusch, das den Korridor entlang zu schweben schien. Es kam aus Owens Richtung. Aldiss ging den hell erleuchteten Korridor entlang und blieb vor der Tür des Jungen stehen. Vorsichtig beugte er sich vor und hielt ein Ohr an die Tür. Er hatte sich nicht geirrt, aus dem Zimmer drangen Geräusche - quietschende Geräusche wie von verrosteten Angeln. Et was schien im Raum zu sein. Plötzlich hörte er die Stimme des Jungen, aber die Worte waren nicht zu verstehen. Dr. Aldiss blieb der Atem weg. Als er endlich die Tür zu Owens Zimmer öffnete, spürte er eine seltsame Gänsehaut über seinen Körper laufen. Seine Lippen waren auf unnatürliche Weise trocken. Eine seltsame Atmosphäre strömte aus dem Raum. So etwas hatte Aldiss noch nie erlebt. Robert Pel Owen saß in der Ecke des Krankenzimmers und hielt einen Gegenstand in der Hand. Als Aldiss das Licht anknipste, kniff Owen die Augen zusammen und schien aus einer Art Trance zu erwa chen. »Hallo, Robert«, sagte Dr. Aldiss ruhig. Der Junge hob seinen Kopf. »Was wollen Sie hier? Wer sind Sie?« »Du kennst mich doch. Ich bin dein Freund, Dr. Aldiss...« Der Junge schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht mein Freund. Sie glauben mir nicht. Nur Dr. Hall weiß es. Er weiß, dass ich nicht verrückt bin. Er hat George gesehen. Er weiß, dass ich nicht lüge. Er ist mein Freund.« Als Aldiss näher an Owen herantrat, sprang der Junge auf und flüchtete in die nächste Ecke des Zimmers. Der Arzt versuchte einen ruhigen Ton anzuschlagen. »Wir sind alle deine Freunde, mein Junge. Daran musst du immer denken. Ich will dir helfen. Dr. Hall ist für ein paar Tage nicht hier. Ich vertrete ihn solange.« Owen starrte Aldiss entsetzt an. 49
»Aber... aber, wie kann er mir das antun? Weshalb hat er das ge tan? Er weiß, dass George wiederkommt. Er muss mir helfen, ihn zu vernichten. George kommt wieder - heute noch. Ich weiß es.« »Hör gut zu, mein Junge - ich bin hier, um dir zu helfen. Mit wem hast du vorhin gesprochen? Du musst es mir sagen.« »George war hier«, sagte der Junge und sprang auf. »Ich weiß, er kommt wieder und dann ist es vorbei. Nur Dr. Hall weiß, wie man ihn fernhalten kann.« »Du musst mir vertrauen. Ich werde es nicht zulassen, dass George dich belästigt. Ich bin dein Freund, genauso wie Dr. Hall es ist.« Owen ließ sich nicht beruhigen. Er rollte mit den Augen und fuch telte mit den Händen. Schließlich gab Dr. Aldiss ihm eine Beruhigungs spritze. Als Owen schlief, kamen ihm wieder die Zweifel. Die ganze Ge schichte ist absurd, oder Hall weiß mehr, als er bisher erzählt hat, dachte er. Kurz nach Mitternacht brauchte Aldiss keine Antwort mehr auf die Frage. Er sah etwas, was er in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Irgendwann war Ray Aldiss eingedöst. Als er wieder erwachte, war es fünfzehn Minuten nach Mitternacht. Sein Nacken war steif. Er stand auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann verließ er den Dienstraum und ging den Korridor zu Owens Krankenzimmer entlang. Behutsam öffnete Aldiss die Tür. Als er eintreten wollte, stockte ihm der Atem. Auf dem Bett von Robert Pel Owen hockte ein grässli ches weißes Gespenst und schien den Jungen zu würgen. Die unheimliche Erscheinung hatte den Kopf erhoben und die Be wegungen der Arme und Beine verrieten Hass und Aggressivität. Dr. Aldiss versuchte die Erscheinung zu vertreiben, aber eine ge heime Macht hinderte ihn daran, weiterzugehen. Er stand da wie ge lähmt. Jetzt bemerkte er auch die Laterne in der Hand des Gespens tes, die einen quietschenden Ton von sich gab. Das war also das Ge räusch, das er heute schon einmal gehört hatte. Noch ehe Aldiss auch nur einen Zentimeter zurückweichen konnte, sprang ihn das Gespenst plötzlich an und riss ihn zu Boden. Als der 50
Arzt sich langsam wieder hoch krabbelte, sah er in der Ecke eine Be wegung - ein nebelhaftes Etwas, das langsam mit der Dunkelheit des Zimmers verschmolz. Aldiss wischte den kalten Schweiß von der Stirn. Sein Gesicht war kalkweiß geworden. Als er das Licht anknipste und sich über den Jun gen beugte, sah er mit Entsetzen die Würgemale auf seinem Hals. »Mein Gott!«, stieß er heiser hervor. »Das ist ja Schwarze Magie!«
Ich muss das sofort Dr. Hall mitteilen. Er muss dieses grässliche Wesen gesehen haben, sonst hätte er nicht so sicher sein können, ging es ihm durch den Kopf. Verdammt, wie konnte er jetzt Urlaub nehmen. Er will sich wohl drücken und mir allein die Sache aufhalsen. Aber diese Suppe werde ich ihm gründlich versalzen. Soll sich gefälligst selbst um dieses verfluchte Gespenst kümmern. Ray Aldiss' Selbstsicherheit war verschwunden. Er stürzte aus O wens Krankenzimmer und versuchte telefonisch Dr. Brian Hall zu errei chen. * Alba glaubte immer mehr, dass sie von einem unsichtbaren Wesen verfolgt wurde. Ihr Erlebnis am anderen Tag, überzeugte sie völlig von der Richtigkeit ihrer Annahme. Als sie um drei Uhr nachmittags bei hellem Sonnenschein in den kleinen Garten hinter dem Haus ging, sah sie deutlich, wie sich der Stiel einer Blume nieder bog, als habe eine unsichtbare Hand die Pflanze berührt. Plötzlich wurde die Blume geknickt, schwebte ein paar Sekunden durch die Luft und verschwand. Zuerst glaubte Alba, ihre Augen spielten ihr einen Streich, aber als sie sich umwandte, fand sie den Pflanzenstiel. Er war frisch gebrochen. Das Herz stockte ihr. Jetzt wusste Alba mit Sicherheit, dass ein un sichtbares Wesen sie verfolgte. Es trank Wasser, erschien nachts in der Zimmerecke und berührte Dinge. 51
Jedenfalls steht fest, dachte Alba, das Wesen ist bei Tage unsicht bar, aber es ist von materieller Natur. Es wohnt in diesem Haus. Ob Jullen, die Marionette, etwas damit zu tun hat? Alba fragte sich, ob sie verrückt geworden war. Sie zweifelte an ihrem Verstand. Sie hatte einmal ein Buch über Irre gelesen. Manche in der Beschreibung waren intelligent, vernünftig und erfassten die Dinge des Lebens ganz klar, bis auf einen Punkt. Sie konnten über alle möglichen Angelegenheiten vernünftig sprechen. Doch plötzlich stieß ihr Verstand an eine Klippe des Wahnsinns, zerschellte in hundert Stü cke und er versank in jenem fürchterlichen Meer voller schrecklicher Gestalten und Phantasie-Wesen - der Welt des Wahns. Nach diesem Buch zufolge müsste ich verrückt sein, ging es Alba durch den Kopf. Völlig verrückt. Aber sie glaubte nicht daran. Ihr Geis teszustand war vollkommen klar. Sie konnte die Dinge analysieren. Und dennoch war sie überzeugt davon, dass eine unbekannte Störung ihr Gehirn befallen hatte. Wahrscheinlich war es jene geheimnisvolle Krankheit, um deren Klassifizierung sich die Physiologen heute so sehr bemühen. Eine Veränderung war da, das war nicht wegzuleugnen. Es war wie im Traum. Alba kam es vor, als träume sie im Wachen. Etwas war mit ihrem Geist nicht in Ordnung. Sie fühlte es, konnte aber nicht da gegen an. Es war, als hätte sie das Gedächtnis verloren. Nicht etwa, dass sie sich keine Namen, Zahlen oder Daten ge merkt hätte. Sie verlor die Realität zur Umwelt und sah in ihr nur mehr Halluzinationen. Friedlich schien die Sonne vom Himmel. Alba sah den Meisen zu und betrachtete die Bäume, die sich leicht im Wind schaukelten. Alles rundum war friedlich. Trotzdem erfüllte sie eine unerklärliche Unruhe. Alba wurde den Gedanken nicht los, dass irgendeine geheimnis volle Macht sie lahmte, ihre Schritte hemmte und ihre Gedanken stän dig an dem weißen Gespenst hingen. Irgendwie war es noch schlim mer und bedrückender, als wenn sie einen Alptraum gehabt hätte. 52
In der Nacht hatte Alba keine Träume, aber sie fühlte, dass es da war, sie belauerte, durchdrang und beherrschte. Dieser Zustand war noch schrecklicher als die übernatürlichen Erscheinungen, die sich je des mal in der Ecke des Zimmers zeigten. »Wenn das so weitergeht«, sagte Charles am anderen Morgen, »dann musst du zu einem Arzt - oder wir brechen unseren Urlaub ab und fahren nach Hause.« »Ich glaube, jemand hat meine Seele in Besitz genommen«, erwi derte Alba. »Jemand beherrscht alle meine Handlungen, meine Bewe gungen, meine Gedanken. Ich fühle mich wie ein Zuschauer, der im Kino sitzt und einen Film ansieht.« »Ich weiß nicht, aber manchmal habe ich das Gefühl, als ob die Marionette schuld ist, die uns dieser Händler aufgeschwatzt hat«, sag te Charles nachdenklich. »Der Kerl ist mir noch heute unheimlich«, gestand Alba. »Wie hat er es nur fertig gebracht, uns dieses Ding anzudrehen?« »Das ist es ja gerade. Wir haben ihn seit damals nicht wieder ge sehen«, erwiderte Charles. »Die Leute im Dorf kennen ihn gar nicht. Das ist doch ziemlich verrückt - findest du nicht auch?« »Seltsame Sache«, bestätigte Alba, »aber das Gespenst haben wir schon vorher gesehen.« »Das vernünftigste wäre, wenn wir wegfahren!« »Das sieht so nach Flucht aus«, antwortete Alba. »Was machen wir, wenn uns dieses Etwas folgt?« »Daran habe ich noch nicht gedacht«, gestand Charles. »Aber vielleicht sollten wir einmal diese Marionette entfernen.« »Manchmal kommt sie mir tatsächlich nicht geheuer vor. Was willst du mit ihr machen?« »Ich werde sie in das kleine Gartenhäuschen bringen, vielleicht bessert sich dann dein Zustand.« Alba war einverstanden und Charles ging ins Wohnzimmer, um Jullen zu holen. Die Marionette stand aufrecht auf der Couch. Es schien, als hätte sie auf Charles gewartet. Die boshaften Augen in ihrem bleichen Ge 53
sicht strahlten ein obskures Frohlocken aus. Es schien Rache anzudeu ten. Charles griff nach der Puppe und brachte sie ins Gartenhaus. Am Nachmittag ging ein heftiges Gewitter nieder. Kurz darauf be kam Alba Fieber. Gegen Abend wurde die Temperatur höher. Alba hat te eine ernsthafte Erkältung und zugleich litt sie an einem nervösen Schock. Der Dorfarzt bestätigte diese Diagnose und Alba musste alle drei Stunden Tabletten schlucken. »Wurde Ihre Frau vom Regen überrascht, oder ist sie in einen Teich gefallen?« »Weder das eine, noch das andere«, erwiderte Charles wahrheits gemäß. »Merkwürdig«, die Stimme des Arztes klang resigniert. Er schüttel te den Kopf. »Eigenartig, solche Erkältungen holt man sich im allge meinen nur, wenn man völlig durchnässt wird.« Albas Zustand wurde auch nach dem Besuch des Arztes nicht viel besser. Charles konnte sich nicht erklären, wo sich seine Frau so plötz lich eine so starke Erkältung geholt hatte.
Hängt dies etwa auch mit diesen unerklärlichen Dingen zusam men, die hier dauernd geschehen, überlegte Charles. Plötzlich überkam ihn der Drang, nach der Puppe zu sehen. Dieses Verlangen war so groß, dass Charles alles liegen und stehen ließ und zum Gartenhaus lief. Entsetzt prallte er zurück, als der Widerschein der Taschenlampe auf die Marionette fiel. Die Puppe lag auf dem Boden und starrte ihn mit fiebrigen Augen an. Aber nicht die Augen waren es, die Charles in Angst und Schre cken versetzten, sondern Jullens Gesicht. Die Puppe sah aus wie Alba. Das war ungeheuerlich. Durch das Dach des Gartenhauses war Regen eingedrungen und die Marionette lag mitten in einer Pfütze. Plötzlich begriff Charles, was passiert war. Durch eine eigenartige, geheimnisvolle psycho-physiologische Einwirkung war die Nässe der 54
leblosen Puppe auf Alba übertragen worden. Wenn Alba gesund wer den sollte, musste er rasch handeln. Charles nahm die Marionette und brachte sie ins Haus. Dann blickte er ins Schlafzimmer. Albas Atem ging schwer und ungleichmäßig. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn und ihr Gesicht glühte fiebrig. Charles verließ das Zimmer und wandte sich der Puppe zu. Sie war ziemlich lädiert. Das Haar war strähnig und nass. Die Kleidung voll kommen feucht und schmutzig. Das Gesicht, das jetzt Albas glich, war verschmiert und fleckig. Die Farbe auf ihrem Antlitz war vollkommen verschwunden. Charles musste rasch handeln, wenn er sein Vorhaben verwirkli chen wollte. Er musste die Puppe wieder in ihren alten Zustand zu rückbringen, vielleicht war das Albas Rettung. Das Wohnzimmer besaß die beste Lichtquelle im ganzen Haus. Tageslicht wäre für seine Arbeit besser gewesen, aber so lange konnte er nicht warten. Er musste so schnell wie möglich mit der Arbeit be ginnen. Das erdrückende Gefühl, gegen die Zeit arbeiten zu müssen, brachte ihm den Schweiß auf die Stirn. Charles rückte die Stehlampe zurecht. Die Marionette lag nun so, dass die Hitze der Glühbirne ihren Körper nicht verbrennen, aber er wärmen konnte. Als Jullen einigermaßen trocken war, machte sich Charles Kaiman an die Arbeit. Für das Bemalen der Gliedmaßen und des Gesichtes brauchte er unbedingt Farben. Charles sucht im ganzen Haus. Schließlich fand er ein kleines Kästchen, das einst zum Bemalen von Möbeln Verwendung fand. Mit einem alten abgebrauchten Pinsel trug Charles die Farben auf. Die Rot- und Rosa-Töne wurden von der Marionette aufgesogen wie eine Nährcreme von einer strapazierten Haut. Kurze Zeit später arbei teten Charles Hände so sicher, als hätten sie nie etwas anderes getan, als Puppen bemalt. Manchmal hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Dreimal kam es ihm zu Bewusstsein, dass er andere Farben mischte, als er 55
ursprünglich wollte. Es war ein seltsamer Zwang, der ihn dazu veran lasste. Die Farben, die so entstanden, passten viel besser zu der Mario nette. Jullens Gesichtstönung gelang so echt, als wäre die Puppe wirk lich ein lebendiges Wesen. Jeder Tropfen Farbe schien ihr Leben und Vitalität einzuhauchen. Der Mund und die Augen waren das schwierigste. Charles ver suchte so gut er konnte, diese heiklen Partien zu restaurieren. Beson ders die Brauen und die Pupillen erforderten ein enormes Maß an Kön nen. Aber es gelang ihm auch, diese Partien vollkommen zu malen. Die Marionette schien wieder von Leben erfüllt zu sein. Nur das Haar war noch unordentlich. Charles nahm eine Bürste und frisierte Jullens Haar, bis es wieder weich und glänzend herabhing. Dann putz te er den Staub von der Kleidung und die Marionette sah wieder so aus, wie sie sie vom Händler gekauft hatten. Jetzt sah sie auch nicht mehr Alba ähnlich. Charles setzte sie wie der auf die Couch und ging ins Schlafzimmer. Er war stolz auf seine Arbeit. Es war vier Uhr morgens. Alba erwachte aus ihrem Schlaf und rieb sich die Augen. Sie hatte kein Fieber, keine Erkältung mehr. Alles war wie weggezaubert. Alba war wieder gesund. »Was ist denn geschehen?«, fragte sie verblüfft. Charles erzählte ihr die Sache mit Jullen. »Das ist ja ungeheuerlich«, sagte Alba. »Wir müssen diese Puppe loswerden, sonst gibt es noch ein Unglück.« »Einstweilen unternehmen wir gar nichts«, erwiderte Charles. »Wir müssen erst einmal die Zusammenhänge herausfinden. Jedes Leid, das der Puppe zugefügt wird, überträgt sich auf dich. Wir müs sen unheimlich vorsichtig sein. Jullen darf kein Leid geschehen, sonst musst du es ausbaden. Wir müssen sie wie ein lebendiges Wesen be handeln.« Alba nickte. Sie wusste, was das unter Umständen bedeuten konnte. 56
*
Inspektor John Denver und sein Assistent Edgar Ingelbell befragten den letzten Schüler. Auch er sagte nur das aus, was auch alle übrigen behaupteten, nämlich, dass ihnen ein grässliches Gespenst erschienen sei und sie alle davongelaufen wären. Niemand von den Schülern wusste etwas über das mit Tomaten und Lippenstift verschmierte Laken und die Kuhhörner, die in einem Plastikbeutel am Straßenrand gefunden wurden und wahrscheinlich einer Verkleidung dienten. Edgar Ingelbell las die Schülerliste laut vor. »Moment, da fehlt doch einer«, sagte der Schüler. »Sie haben Je remy West nicht auf Ihrer Liste. Er war auch dabei.« »Jeremy West...?«, fragte der Inspektor erstaunt. »Wer ist dieser Junge? Ich dachte, es wären nur siebzehn gewesen?« »Natürlich waren wir nur siebzehn«, erwiderte der Junge. »Jetzt haben wir aber achtzehn«, sagte Ingelbell, »wenn dieser Jeremy auch dabei gewesen sein soll.« »Herr Inspektor«, sagte der Schüler, »bitte, lesen Sie noch einmal die Namensliste vor, dann kann ich Ihnen vielleicht sagen, was nicht stimmt.« Inspektor Denver begann langsam aber laut die Namen vorzule sen: »John York, Richard McGivern, Fred Williams, Harry Wilson, Mau rice Gordon, Bill Crooker...« »Halt! Das genügt«, sagte der Junge. »Bill Crooker ist kein Schüler unserer Schule. Er ist ein Bauernjunge aus dem Dorf. Er war voriges Jahr dabei, als wir die Spuk-Party veranstalteten.« »Das ist ja interessant«, sagte Denver, »und wo können wir die sen Jeremy erreichen?« Der Junge nannte die Adresse und die beiden machten sich auf den Weg. An diesem Tag hatte Jeremy nachmittags Schule und wenn erst mal seine Eltern weg waren, stand er ziemlich spät auf. Diesmal lag er noch länger als gewöhnlich im Bett. Die Decke bis ans Kinn gezogen, starrte er ins Leere. 57
Irgendwann hörte er lautes Klopfen. Langsam stieg er aus dem Bett, zog sich seinen Morgenmantel über und schlurfte gemächlich zur Tür. Zwei bleiche Gesichter starrten ihn an und stellten sich als Polizis ten vor. »Sind Sie Jeremy West und waren Sie mit dem Schulausflug in Tynwood?«, fragte Ingelbell. »Können Sie uns etwas über die Party sagen, die im Spukhaus veranstaltet wurde?« »Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen«, erwiderte Jeremy. »Wir hatten einen irren Spaß und der Schock, den sie bekamen, war bühnenreif.« »Was für ein Schock?«, fragte Denver. »Na, von dem Gespenst...« »Ihr habt ein Gespenst gesehen?« Ingelbell sah den Jungen ver wundert an. »Ein richtiges Gespenst...?« »Natürlich kein echtes«, erwiderte Jeremy. »Was dachten Sie? Haben Sie schon mal ein wirkliches Gespenst gesehen? Ich war das Gespenst. Ich wollte den anderen mal einen ordentlichen Schrecken einjagen und das ist mir auch gelungen.« Dann berichtete Jeremy, wie er Bill ins Spiel gebracht hatte und wie die Sache mit der Frau geschah. Er beschrieb die Art seiner Ver kleidung und wo er sie aus dem Autobus geworfen hatte. Jeremys Aussage schien genau zu stimmen, aber sie hatte einen Haken. »Wenn sich alles so abgespielt hat, wie der Junge behauptet«, sagte der Inspektor, »dann muss es noch ein anderes Gespenst ge ben.« »Völlig Ihrer Meinung, Chef«, erwiderte Ingelbell. Er freute sich, dass sein Geist endlich Gestalt annahm. »Was hat Intendent Wicford gesagt? Wir suchen einen verwach senen Mann mit einer Laterne. Einen Albino. Völlig weiß gekleidet.« »Dann wollen wir uns mal schleunigst um ihn kümmern. Kommen Sie, Edgar, wir fahren nach Tynwood zurück.« Während der Rückfahrt hatten die beiden Kriminalisten reichlich Zeit, sich über die Gespenstergeschichte zu unterhalten. »Glauben Sie wirklich an dieses Gespenst?« 58
»Weshalb sind Sie so gegen das Übernatürliche?«, konterte Ingel bell. »Weil das nicht die richtige Gegend dafür ist«, erwiderte Denver. »Im schottischen Hochland, da wäre das etwas anderes. Da hat jedes Schloss sein Gespenst. Es spukt und poltert in Häusern, Ruinen und auf alten Friedhöfen. In Patrickhills soll es ein Tal geben, in dem ein Monster sein Un wesen treibt. Zu gewissen Jahreszeiten soll es aus den Hügeln heraus kommen, um Schafe und sogar junge Kälber zu reißen.« »Und Sie glauben daran?« »Ich glaube nicht daran«, verteidigte sich der Inspektor. »Ich plappere nur das nach, was die Leute erzählen.« »Da glaube ich schon eher an die Wildkatzen als an ein Monster«, erwiderte Ingelbell. »Aber meinetwegen können die Leute glauben, was sie wollen.« Während Edgar Ingelbell weiter seine Meinungen zum besten gab, brauste Inspektor John Denver durch die Gegend wie ein alter Renn fahrer. Er schien jede Kurve zu kennen. »Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen schon gesagt habe«, begann Denver, »aber manchmal kommt es mir vor, als ob alles, was in Tyn wood passiert, Show wäre. Aber auf diese Art kurbeln sie den Frem denverkehr auch nicht an, oder?« »Heutzutage ist nichts unmöglich«, erwiderte Ingelbell. »Vielleicht gibt es jemanden im Dorf, der so viel Humor hat, um dem Fremden alles anzubieten, was er sich wünscht. Touristen, die auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen sind, kommen hier auf ihre Kosten. Das ist immerhin etwas.« »Sie vergessen, dass wir es hier mit Mord zu tun haben«, erinner te der Inspektor seinen Assistenten. »Da bin ich mir gar nicht mehr so sicher«, erwiderte Ingelbell. »Vielleicht kam er, genauso wie die Frau, durch einen Schock zu Tode. Die Frage ist nur, handelt es sich wirklich um ein Gespenst, oder hat jemand die Hände im Spiel?« 59
»Sie mit Ihrem Gespenst! Euch beide sollte der Teufel holen«, sagte Denver verdrießlich. »Wird sich ja noch herausstellen, wer recht hat. Das wäre ja gelacht.« Als die Sonne unterging, fiel Ingelbell in Halbschlaf. Kurze Zeit später sackte sein Oberkörper nach rechts und er begann zu schnar chen. Eine halbe Stunde danach hielt Denver an einem Gasthof, vor dem mehrere Autos standen. Durch das plötzliche Fehlen des Motorengeräusches wurde Ingel bell geweckt. Verschlafen richtete er sich auf und massierte seinen steifen Nacken. »Sind wir schon in Tynwood? Habe einen Mordshunger.« »Nein, wir rasten hier bloß. Wir haben noch vierzehn Meilen vor uns.« Im Gasthaus roch es nach gegrilltem Fisch, Holzrauch aus dem Kamin, Tabak aus den Pfeifen der Leute und Bier. Die Männer gossen sich das dunkle Gesöff wie Wasser in die Kehle. Ingelbell nahm sich eine Kanne schwarzen Kaffee und zwei saftige Schinkensandwichs. Denver bestellte sich gerostete Leber mit CurryReis und Tee. Das Mädchen brachte nicht nur zwei Sandwichs, sondern gleich ein ganzes Tablett mit Köstlichkeiten. Edgar Ingelbell trank den heißen Kaffee und aß dann fast das ganze Tablett leer. Während sie aßen, hörten sie am Nebentisch ein interessantes Gespräch, aber es ging nicht um das Gespenst von Tyn wood. Nach etwa zwei Stunden fuhren sie wieder los. Die vierzehn Mei len waren bald abgefahren. Es war kurz nach elf, als sie das Dorf er reichten. Der Friedhof lag im bleichen Mondlicht da und der Inspektor blickte beeindruckt hinüber. »Tolle Atmosphäre!«, sagte er. »Wenn Sie ein Gespenst sehen sollten, vergessen Sie es nicht, mir zu zeigen.« »Entweder haben die Burschen heute keinen Ausgang«, stellte In gelbell fest, »oder sie fürchten sich vor Ihnen, Inspektor.« 60
»Schöne Gespenster, Ihre Gespenster«, erwiderte Denver, bog von der Hauptstraße ab - einen schmalen holprigen Landweg entlang, der zum Spukhaus führte. »Nanu«, rief Ingelbell aus. »Was soll denn das nun wieder?« »Vielleicht treffen wir dort eins von Ihren Gespenstern«, sagte Denver knapp. »Sehr lustig«, erwiderte Ingelbell, »aber heute können Sie mich nicht ärgern.« Ein paar Minuten später betrachtete Edgar Ingelbell, im Scheine des Mondes, die alte Ruine des Spukhauses. »Wie eine Kulisse in einem Gruselfilm. Beeindruckend! Nicht?«, fragte John Denver. Er öffnete den Wagenschlag und stieg aus. Ingelbell tat das glei che. Beide gingen auf das Haus zu. Doch plötzlich blieben sie stehen. Durch die Mauerritzen und Fenster drang Licht. Eine eigenartige Musik war zu hören. Die Melodie war nicht sehr melodisch und die Instrumente for mierten sich zu dem eigenwilligsten Klangkörper, den die beiden Män ner je gehört hatten. Der Inspektor und sein Assistent standen wie versteinert vor der Tür. Denver öffnete, aber da war niemand zu sehen. Weder die Musi kanten noch sonst eine Menschenseele. Die Musik und der Lärm kamen aus dem nächsten Raum. Ingelbell glaubte sogar, Stimmen und das Klappern von Geschirr zu hören. »Da scheinen ein paar Nachtvögel eine Party zu veranstalten«, sagte er und ging auf die geschlossene Tür zu. »Das scheint mir auch so«, erwiderte Denver. »Wohl die nächste Schulklasse an der Reihe, wie? Na, den Burschen werden wir es mal zeigen. Kommen Sie, Edgar.« Der Inspektor betrat als erster den Raum. Schlagartig verstummte die Musik, die Stimmen und das Geschirr klappern. Es herrschte Grabesstille und Dunkelheit. Denver und Ingelbell warfen sich einen verständnislosen Blick zu. Dann leuchtete der Inspektor mit einer Taschenlampe im Raum um 61
her. Es war nicht die geringste Spur zu sehen. Ein alter Tisch stand staubbedeckt in der Ecke. »Das ist ja unerhört«, schimpfte Denver. »Da macht sich wohl je mand einen Spaß mit uns.« »Wieso?«, fragte Ingelbell. Er wusste auch nicht, was da gesche hen war, aber trotzdem freute er sich, dass sich etwas ereignete, was Denver aus der Fassung brachte. »Weshalb sind Sie so erstaunt, schließlich sind wir doch in einem Spukhaus.« »Reden Sie keinen Quatsch, Mann«, sagte Denver. »Für alles gibt es eine Erklärung. Die Person dazu werden wir morgen im Dorf fin den.« Aber da irrte sich der Inspektor. Niemand von den beiden ahnte, dass sich der weiße Schrecken von Tynwood ganz in der Nähe befand und sie noch auf ihn stoßen würden. »Kommen Sie, wir fahren ins Dorf zurück. Jetzt in der Nacht kön nen wir hier sowieso nichts mehr machen.« Als Denver den Wagen startete, begann er plötzlich zu spucken und zu bocken wie ein Wildpferd beim Rodeo. »Verdammt, jetzt geht das mit dem Schlitten auch noch los!«, fluchte der Inspektor und betätigte den Starter. »Das ist mir völlig unerklärlich.« Beim achten Versuch sprang der Motor wieder an und der Wagen ließ sich in Richtung Dorf steuern, als habe er nie verrückt gespielt. Außerdem stellte Ingelbell fest, dass sich der Alte allmählich mit der Wahnsinns-Situation abfand und sogar eine Spur von Galgenhumor aufbrachte. »Habe nicht gewusst, dass Geister auch Autos zum Narren hal ten.« Schweigend starrten beide in die vom Mondlicht fahl erleuchtete Landschaft. Edgar hatte sein Fenster heruntergekurbelt und spürte den zarten Wind, der die Bäume und Sträucher in Bewegung setzte. Etwas bewegte sich plötzlich mitten auf dem Fahrweg und schwebte direkt auf das Auto zu. 62
»Ist das Nebel, oder ein Tier?«, fragte Denver und trat gleichzeitig auf die Bremse. »Habe so etwas noch nie gesehen«, antwortete Ingelbell. Seine Stimme klang leicht nervös. Es war ein merkwürdiges Gebilde, das sich da erhob. Eine weiße Gestalt mit einer Laterne in der Hand. Die beiden blinzelten und sahen wieder hin, doch die Erscheinung blieb. »Das ist doch der Kerl, den wir suchen«, rief der Inspektor über rascht aus. »Der Albino...!« Denver riss sich zusammen. Er hatte einen Augenblick gefürchtet, er sei dem Einfluss einer überreizten Phantasie erlegen, doch es gab nicht den geringsten Zweifel. Das Gespenst bewegte sich wieder und schwebte näher heran, verharrte einige Sekunden vor dem Wagen und schoss dann völlig lautlos auf Ingelbell zu. Der Spuk wirkte so echt, dass sich Edgars Nackenhaare sträubten. Plötzlich war das weiße Gespenst wieder drei Meter entfernt und stand in der Luft. »Du lieber Himmel!«, sagte Denver verkrampft. »Wie macht er das bloß?« Plötzlich fuhr ein Windstoß über die Heide und ließ die Laterne quietschen. Es war das erste Geräusch, das sie von dem Gespenst hörten. Kurz darauf kamen weitere Geräusche, die nicht einzuordnen wa ren. »Das ist ein Trick«, sagte er wieder. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte«, erwi derte Ingelbell. »Da müssen irgendwo Lautsprecher versteckt sein«, sagte Denver sich umblickend. »Vielleicht arbeitet man auch mit Schnüren und Dräh ten wie Puppenspieler.« Der Inspektor machte ein paar Schritte nach vom und wollte das Gespenst anfassen, aber er griff ins Leere. In den Augen der unheimli chen Erscheinung tanzten plötzlich rote Lichter. Kurz darauf zerrann sie und verschwand spurlos. 63
»Zum Teufel!«, fluchte Denver. »Jetzt habe ich aber genug! Diese Fopperei wird den Dörflern morgen teuer zu stehen kommen.« »Ich glaube, das war ein echtes Gespenst«, sagte Ingelbell. »Das muss es mir erst einmal beweisen«, sagte Denver wütend. »Was glauben diese Gespenster eigentlich, wer wir sind?« Während der Fahrt zum Gasthof füllten sich Denvers Gedanken mit so vielen ›wenn‹ und ›aber‹, dass er vor lauter ›Halluzinationen‹, ›Suggestionen‹ und ›Trugbildern‹ sich nicht mehr zu erwehren ver mochte. Er musste unbedingt Gewissheit haben, ob das, was er gese hen hatte - auch existieren konnte. Trotz der späten Stunde rief der Inspektor noch seinen alten Be kannten, Dr. Kellinston in London an, um sich mit ihm über Geister zu unterhalten. Als Denver seine Story erzählt hatte, erwiderte Kellinston: »Ich bezweifle nicht, dass das, was du erzählt hast, stimmt. Auch die Wis senschaft ist, seit sie sich mit diesen Dingen beschäftigt, weniger skep tisch als sie es zuvor war. Es ist heute völlig sicher, dass es ein na türliches Phänomen ist - ein physisches Problem. Auf keinen Fall ein spirituelles. Wir Ärzte«, fuhr Dr. Kellinston in seinem Bericht fort, »be fassen uns mit Fleisch, Blut und Knochen - der Materie, aus der sich der Mensch zusammensetzt und die sich, wenn er stirbt, in ihre ur sprünglichen Elemente auflöst. Die Frage ist nur: Setzt diese Auflösung sofort im Augenblick des Todes ein und endet damit alles Leben, oder gibt es Fälle, in denen das Aussetzen des Gehirns erst einige Zeit nach dem Tod, oder über haupt nicht erfolgt.« »Sind solche Fälle schon bekannt geworden?«, fragte Inspektor Denver. »Einige Berichte sprechen davon«, antwortete Dr. Kellinston. »Man nimmt heute an, dass die Existenz des Menschen nicht unmittel bar mit dem Tod endet. Natürlich erscheint er nicht in seiner organi schen...« »Sondern in einer verklärten, geistigen Form - wenn ich richtig verstanden habe«, unterbrach Denver. »Das sind also die Geister, die uns dann zum Narren halten.« 64
»So ist es«, erwiderte Dr. Kellinston. »Das alles scheint ziemlich einfach zu sein. Vielleicht wissen wir mehr darüber, wenn wir tot sind.« »Solange kann ich nicht warten«, sagte der Inspektor. »Hier geht es um die Frage, ob ein Geist einen Mord begehen kann.« »Es gibt einschlägige Literatur, die davon berichtet«, entgegnete Kellinston. »Und wie wird ein Toter zu einem Gespenst?« »Zur Zeit ist diese Frage noch nicht zu beantworten«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Einige sind der Ansicht, es sind Überbleib sel uralter geheimer Wissenschaften. Oder es liegt einfach in den Ge hirnen der Menschen verankert. Vielleicht spielt dabei auch die Wie dergeburt eine Rolle.« »Kann so eine Erscheinung Würgespuren auf einem menschlichen Körper hinterlassen?« Denver dachte dabei an Nick Cresaps, der tot im Friedhof gefunden wurde. »So etwas ist möglich«, antwortete Dr. Kellinston. »Man nennt es parapsychologische Erscheinungen. Auch diverse Geräusche werden hinzugerechnet, die sehr oft diese Phantome begleiten.« Das Gespräch mit Dr. Kellinston war für Denver so überwältigend, dass er es sofort Intendent Wicford mitteilte. »Was?«, brüllte Wicford in die Muschel. »Sie wollen mir ein Ge spenst andrehen? Sind Sie verrückt geworden, oder haben Sie Fie ber?« »Weder das eine noch das andere«, erwiderte der Inspektor. »Die Person, die wir suchen, ist ein Gespenst. Die weiße Gestalt - der Albino - Ingelbell hat ihn auch gesehen.« »Geister sind etwas für Spiritisten«, sagte Wicford wütend. »Wir sind Polizeibeamte, vergessen Sie das nicht.« Nach einer kurzen Pause fragte der Intendent: »Und wie wollen Sie diesem Gespenst das Handwerk legen?« »Keine Ahnung«, sagte Denver ehrlich. »Aber hier in der Nähe gibt es eine Klinik. Ein gewisser Doktor Hall befasst sich mit solchen Dingen, vielleicht kann er mir helfen.« 65
»Das will ich hoffen. Machen Sie dieses Wesen, oder was immer es auch sein mag, unschädlich. Mehr habe ich darüber nicht zu sa gen.« Wicford knallte den Hörer auf die Gabel, das Gespräch war be endet. »Schöne Aussichten«, sagte Denver. »Wenn ich das gewusst hät te, wäre ich vorher in Pension gegangen. Na, sagen Sie schon etwas Edgar, schließlich war es von Anfang an Ihre Idee, wenn ich mich recht, erinnere. Also raus mit der Sprache. Was sollen wir tun?« * Die Haustür schlug zu und Alba Kelman fuhr zusammen. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, fiel ihr aus der Hand. Draußen im Flur ertönte das Trappeln von Marionettenfüßen. »Jullen!« rief Alba mit zitternder Stimme. »Bist du es, Jullen?« »Ja, Mami.« Die Puppe kam ins Zimmer. Sie war dünn, graziös und groß wie ein Liliputaner. Die beiden Zöpfchen waren viel zu kurz und wirkten wie Rattenschwänze. Ihr Kleidchen war zerzaust wie ein Spinnennetz, durch das der Wind ge rast war. Das seltsame Glühen auf dem Gesicht der Puppe entging Alba nicht. Und erst recht nicht der unheimliche Blick in den schwarzen Au gen. »Musst du die Tür immer so zuknallen?« »Es geht noch viel lauter«, sagte die Puppe und grinste. »Aber ich war es gar nicht.« »Jullen!« »Es stimmt doch. George war's. Er ist mit mir hereingekommen und dann gleich wieder raus gelaufen.« Albas Lippen wurden schmal. Sie sah in das Gesicht der großen Puppe. »Jullen - ich möchte von diesem Namen nichts mehr hören. Du bildest dir alles bloß ein. Es gibt keinen George, das weißt du ganz 66
genau. Ich weiß, dass es nur ein Spiel ist, aber es ist ein dummes Spiel und ich will nichts mehr davon hören!« Jullen stampfte mit ihren eigenartigen Holzbeinen auf und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. »Es ist kein dummes Spiel«, fuhr sie Alba an. »George gibt es wirklich. Wir haben den ganzen Nachmittag im Wald Fangen gespielt. Ich habe mir George nicht ausgedacht. Das weiße Gespenst ist echt.« Alba bekam es mit der Angst zu tun. Sie sprang aus ihrem Sessel hoch, ging zu der Puppe, legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah auf das schelmisch grinsende Gesicht. Sie versuchte sich nichts von dem anmerken zu lassen, was in ihr vorging. »Bitte, Jullen, sei nicht so eigensinnig«, sagte Alba. »Ich wollte doch nicht mit dir schimpfen. Sind wir wieder gut, ja?« Sie strich ihr über das zerzauste Haar. »Sicher hast du mit dem Wind Fangen gespielt. Schau, du hast beide Haarschleifen verloren und dein Kleidchen zerrissen.« »Das ist alles nicht wahr«, beharrte die Puppe. »George, das Ge spenst, kann viel schneller laufen als ich. Wir haben es ausprobiert. Er ist in eine Brombeerhecke gesprungen und ich auch, da habe ich mir das Kleid kaputt gemacht.« Alba nahm die Puppe in die Arme. »Dieser grässliche George«, sagte sie mit erzwungener Heiterkeit, »läuft immer davon. Er scheint schneller als der Wind zu sein - ekel hafter Kerl.« »Er ist kein ekelhafter Kerl«, verteidigte Jullen das Gespenst. »Er läuft nur davon weil er Angst hat. Die Leute mögen ihn nicht - genau wie du.« »Und warum mögen die Leute ihn nicht? Weil er sie quält. So ist es doch?« »Nein, das ist nicht wahr.« Plötzlich war es totenstill. Alba starrte über den Kopf der Puppe hinweg aus dem Fenster. Der Garten war eine einzige Blütenpracht. Jede Blume hatte ein Gesicht und alle Augen waren auf Alba gerichtet. Hinter den Blumen beeten standen Bäume wie verwachsene Riesen. 67
Sie sahen ziemlich verwahrlost aus, knorrig, grotesk, fast furchter regend. Die langen Äste wirkten wie Krallen oder Fangarme, die sich nach allen Seiten hin bewegten. Wie Alba so aus dem Fenster sah, wob der Wind eine Furche durch ein Blumenbeet - unsichtbare Füße stampften hindurch. Ein Vo gel schrie und suchte flügelschlagend das Weite. Plötzlich wachte Alba auf. Sie war ganz zerschlagen, aber froh, dass es nur ein Traum gewesen war. Trotzdem gefielen ihr diese Art von Träumen nicht. Sie waren zu oft in letzter Zeit erschienen. Langsam fing sie an, das Haus, das Dorf und alles, was dazuge hörte, zu hassen. Selbst bei schönstem Sonnenschein sah Alba überall Gespenster. Sie fragte sich, ob sie hier langsam den gesunden Men schenverstand, verlor und Dinge hinnahm, die einfach unglaublich wa ren. Am Anfang war Alba begeistert. Das geräumige alte Haus neben dem Wald war genau das, wovon sie schon immer geträumt hatte. Das schräge Schindeldach verlieh ihm einen ganz besonderen Charme. An diesem Abend erwähnte weder Charles noch Alba das Ge spenst. Nach dem Abendbrot spielten sie zwei Stunden das Kugelspiel Solitaire und Charles ließ sie dreimal gewinnen. Danach ging Alba zum Bücherschrank und nahm ein Buch heraus. Alba zog die Vorhänge zu. Am Himmel stand noch kein Mond. »Mir ist plötzlich so kalt«, sagte sie zu Charles. Aber das war gelogen. Alba wagte nicht den wahren Grund zu nennen: Sie hatte das bestimmte und sehr unangenehme Gefühl, beo bachtet zu werden. Nicht allein zu sein. Sterne funkelten am schwarz werdenden Firmament. »Wer mögen wohl die Bewohner dieser Welten sein?«, sagte Charles mehr zu sich selbst als zu seiner Frau. »Was für Gestalten, was für Lebewesen? Gibt es dort Tiere und Pflanzen? Über welches Wissen verfügen sie? Können sie Dinge sehen, die wir nicht sehen können?« »Ich glaube, eines Tages wird eines dieser Wesen den Raum durchqueren, auf der Erde erscheinen und sie erobern, so wie einst die Wikinger das Meer überquerten, um schwächere Völker zu unterjo 68
chen«, sagte Alba. »Wir sind im Grunde genommen zu schwach, so hilflos, so unwissend, ein Nichts. Ein Wassertropfen im Ozean der Zei ten.« »Nanu, du bist ja richtig philosophisch heute«, erwiderte Charles. »Willst du eine Sekte gründen?« »Nein«, sagte sie nach einer Weile. »Ich denke bloß daran, was wir tun sollen.« »Mit der Puppe...?« »Ja, mit beiden«, entgegnete Alba. »Mit Jullen und dem Ge spenst.« »Ich glaube, wenn wir hier weggehen, ist alles wieder in Ord nung«, erwiderte Charles. »Lange dauert es ja nicht mehr. Meinst du nicht auch?« »Hoffentlich hast du recht«, sagte Alba, »daran habe ich auch schon gedacht. Aber ich bin zu keinem vernünftigen Entschluss ge kommen. Charles?« »Ja?« »Charles, glaubst du, dass mit uns beiden etwas nicht stimmt? Ich meine, dass wir Sachen sehen...« »Die vielleicht gar nicht vorhanden sind, das wolltest du doch sa gen, nicht wahr?« Alba nickte. »Das ist völlig unmöglich. Diese Dinge existieren nicht nur in unse rer Phantasie, es gibt sie wirklich. Darüber gibt es keine Diskussion. Die Frage ist nur, weshalb bevorzugt das Gespenst gerade uns und welche Rolle spielt dabei die Puppe? Wer war dieser geheimnisvolle Händler? Ist er mit dem Spuk identisch? Vielleicht sollten wir die Sache von der heiteren Seite betrachten, vielleicht löst sich dann das Problem von selbst.« Alba glaubte nicht an diese Möglichkeit. Charles versuchte sie zu beruhigen und sie wusste es. Die Angst verschwand nur für kurze Zeit. Schließlich hatte das Gespenst die Blume gepflückt und ihren Arm berührt. Dazu kam noch, dass es... aber das hatte sie Charles ver schwiegen. 69
Als sie vorgestern auf der Terrasse zeichnen wollte, spürte sie plötzlich, dass noch jemand da war. Obwohl Alba sich sofort umdrehte, sah sie nur noch eine Art Flimmern, das sich sofort in Nichts auflöste. Alba täuschte sich nicht. Sie hatte etwas gesehen. Eine flimmernde große Gestalt, die eigentlich nur aus weißen Farbflecken bestand. Verwaschenes Weiß, wie bei schmutzigem Schnee. Darüber zwei rote Kreise - die Augen. Und obendrauf das gelbe Licht der Laterne. Natürlich hatte sich Alba gefragt, ob sie sich nicht alles nur einge bildet hatte. Sonnenstrahlen beeinträchtigen unter bestimmten Vor aussetzungen die Sehkraft. Sie wusste es, aber hier war dies nicht der Fall. Alba schlief noch keine halbe Stunde, als sie plötzlich mit einem seltsamen, unheimlichen Gefühl erwachte. Ohne sich zu rühren, öffne te sie die Augen. Zuerst sah Alba Kelman nichts, doch dann schien es ihr, als blätte re sich eine Seite des Buches, das sie auf dem Tisch hatte liegenlas sen, von selbst um. Im Zimmer herrschte kein Luftzug. Nicht ein Hauch war zu spüren. Verblüfft starrte Alba auf die Tischplatte. Nach etwa drei Minuten sah sie, wie eine zweite Seite sich wende te und auf die erste legte, als hätte ein menschlicher Finger sie umge blättert. Der Sessel war leer, doch Alba spürte ganz genau, dass dort jemand saß und las. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und stürzte sich auf den Sessel. Doch bevor sie ihn erreichte, fiel er um als fliehe jemand vor ihr. Der Tisch schwankte, das Buch fiel zu Boden, die Tür öffnete sich und schlug ins Schloss. Es war, als sei ein ertappter Einbrecher ins Ungewisse gerannt und habe dabei mit beiden Händen nach der Türklinke gefasst. Diese Situation war völlig neu. Das weiße Gespenst hatte vor Alba plötzlich Angst. Vielleicht war es auch nur ein raffiniertes Spiel und es wollte sie in die Falle locken, aber Alba ging darauf nicht ein. »Dieser Kerl hat in meinem Buch geblättert«, sagte sie zu Charles, der jetzt ebenfalls aufgewacht war. »Ich habe es ganz genau gesehen. 70
Jetzt berührt er schon meine Sachen. Als ich auf ihn zuging, lief er aus dem Zimmer. Wahrscheinlich schleicht er jetzt draußen im Garten her um. Es ist das erste mal, dass ich bedauere, dass wir keinen Hund haben.« Mehrmals blickte Alba aus dem Fenster, aber da war nichts als Dunkelheit. Für sie stand endgültig fest: sie war nicht mehr in der Lage, den ungleichen Kampf fortzuführen. Von Tag zu Tag wurde der Schrecken von Tynwood lästiger. Es gab nur noch eine Möglichkeit - wegzufah ren. »Seit zwei Tagen will ich es dir schon erzählen«, sagte Charles zu Albas Erstaunen. »Seit ich diesen Kerl gesehen habe, ziehe ich im Dorf Erkundigungen ein. Die Leute sind zwar nicht sehr gesprächig, aber die Geschichte ist unglaublich. Vor hundertsiebzehn Jahren wurden im Dorf Zwillinge geboren. Einer hieß George und soll bereits als Baby seinen Bruder erwürgt ha ben...« »Vor hundertsiebzehn Jahren!«, wiederholte Alba mit trockenen Lippen. »Darüber erzählt man sich ganz grässliche Dinge«, fuhr Charles fort. »Die möchte ich dir jetzt lieber nicht sagen. Die Frage ist nur, weshalb werden ausgerechnet wir mit dieser Sache konfrontiert? Wir hätten längst nach London zurückfahren sollen. Aber jetzt habe ich endgültig genug. Morgen fahren wir ab.« »Einverstanden«, erwiderte Alba. »Wir drücken uns wie Diebe da von. Das ist ja...« Alba schlug eine Hand vor den Mund und unter drückte einen Schrei. »Er ist da, hinter dem Vorhang«, stöhnte sie und deutete auf das Fenster. »Er hat uns belauscht und jedes Wort mit angehört.« Charles fluchte, stürzte zum Fenster und riss die Vorhänge ausein ander. Im Scheine des Mondes sah er eine weiße Gestalt durch die Glasscheiben schweben und verschwinden. »Wenn wir nur schon jetzt weg könnten«, sagte Alba. »Hoffentlich ist es morgen nicht zu spät.« 71
Sie reisten nicht ab, denn Alba bekam noch in derselben Nacht Halsschmerzen. Am Morgen hatte sie 39,5 Fieber und es ging ihr ziem lich miserabel. Charles ließ einen Arzt kommen. Er sagte, sie dürfe unter keinen Umständen das Bett verlassen. Erst wenn das Fieber gesunken sei, könnten sie abfahren. Er hatte wieder einmal gewonnen, dachte Charles verzweifelt. Er will nicht, dass sie hier weggeht. Wenn sie wieder gesund war, würde er sie zu diesem Spezialisten Dr. Hall bringen. Vielleicht konnte er et was tun. * Hal Kuttner war auf dem Beifahrersitz eingenickt, als sein Kollege John Summer plötzlich auf die Bremse des schweren Lasters trat und Hall einen wüsten Ruck versetzte. Sekunden später platzte Hal beinahe der Kragen, als John ihm sagte, warum er auf dieser langen, öden, einsamen Landstraße inmit ten von Wiesen und Wäldern eine Vollbremsung gemacht hatte. »Wenn ich dir doch sage - ich habe es gesehen«, sagte John Summer beschwörend, als er den Motor wieder startete und weiter fuhr. »Ein richtiges Bilderbuch-Gespenst mit weißem Laken. Es kam da aus dem Wald heraus, raste auf die Fahrbahn und ich trat auf die Bremse. Aber da war es schon passiert. Es muss etwas abbekommen haben. Etwas wurde gegen die Kühlerhaube geschleudert. Ich glaube, es war eine Laterne. Der Anprall war deutlich zu hören. In demselben Augenblick bist du aufgewacht.« »Du bist selbst eingenickt«, sagte Hal nüchtern. »Ich habe nichts gehört und wenn etwas gegen den Wagen geschleudert wurde, dann war es sicher ein Stein, der von den Rädern hoch gewirbelt wurde. Das ist doch nichts außergewöhnliches.« »Du glaubst mir also nicht?« Hal Kuttner schüttelte den Kopf. »Du bist übernächtigt, da gaukeln einem die Augen alles mögliche vor. Du solltest dich hinlegen. Ich fah re weiter, sonst wachen wir noch im Leichenhaus auf.« 72
»Ich bin völlig fit«, verteidigte sich der Fahrer. »Ich habe ein Ge spenst gesehen, ob du es glaubst oder nicht. Aber plötzlich war es nicht mehr da, Hal. Ich sah es genau - ich kann es beschwören, es ist einfach verschwunden, löste sich in Luft auf - gerade wie es am Kühler vorbeiraste. Mehr konnte ich nicht sehen, es ist ja stockdunkel.« »Nun mach mal einen Punkt. Für einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts hast du schon sonderbare Ideen. Ich bin die Strecke schon fünfzig mal gefahren und hab' nie irgendwelche Dinge oder Geister gesehen.« Hal glaubte nicht an Gespenster. Er hatte auch noch nie etwas ge sehen. Nur die Narren, die an solches Zeug glaubten, bekamen sie zu Gesicht. Das war seine Meinung. »Nur weil du nicht daran glaubst, darf es auch keine Gespenster geben«, sagte John. »Das ist doch Quatsch. Diese Gegend ist beson ders anfällig für das Übersinnliche...« John Summer hielt inne und spähte aus zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe auf das sich rasch abspulende Band der Landstraße. Für ein paar Augenblicke erfassten die Lichtkegel der Scheinwerfer einen Wegweiser, auf dem die Worte standen: TYN WOOD - 2 MEILEN. »Jetzt ist mir ja einiges klar«, sagte John Summer. »Das ist doch die Gegend, von der die Zeitung so viel schreibt. Ein Gespenst treibt da sein Unwesen. Es gibt eine Menge Legenden darüber. Ich erinnere mich besonders an eine Geschichte, die sich die Leute hier erzählen.« »Alles Verrückte.« Summer lächelte. »Die ganze Welt ist ein Irrenhaus, warum sollten die Leute aus dem Dorf nicht auch dazu gehören? Aber wenn es nicht so ist, dann gehört schon viel Phantasie dazu, die Geschichten zu erfinden.« »Phantasie kann so ansteckend sein wie eine Krankheit«, erwider te Hal Kuttner. »Aus einem Wurm machen die Leute einen Drachen. Das ist doch nichts Neues. Himmel!«, stieß Hal hervor und sein A damsapfel hüpfte auf und nieder. »Ich glaube nicht an Gespenster.« »Da vorn kommt eine Kreuzung. Ich fahre wieder zurück.« »Wozu, John?« 73
»Ich will zu der Stelle, wo ich das Gespenst gesehen habe. Ich werde es dir beweisen, dass da etwas war.« John ließ seine Finger knöchel knacken. »Bin neugierig, ob etwas zu sehen ist.« An der Kreuzung wendete John Summer den schweren LKW und fuhr die Straße zurück. Beide schwiegen. Hal Kuttner spürte in seinem Kopf einen leichten Schwindel. Er kurbelte das Fenster eine Handbreit hinunter. Draußen schossen die Umrisse der Landschaft vorbei. Alles war Schwarz in Schwarz. Die Gegend schien dunstig und unwirklich wie durch einen Nebel schleier gesehen, doch es herrschte kein Nebel. Der Mond spielte ihm einen Streich, dachte Hal. Anders kann es gar nicht sein. Er ballte die Fäuste. John muss sich geirrt haben. Minuten später nahm er das Gas weg und brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Die Luftbremse zischte noch, als John aus dem Fenster sah. »Genau an dieser Stelle war es, Hal. Ich habe mir diesen Pfad gemerkt, der vom Wald direkt bis zur Straße führt.« »Jetzt bin ich aber gespannt«, meinte Hal, »ob da was zu sehen ist.« Sie stiegen aus dem Führerhaus und John wies auf die Stelle, wo das Gespenst den Pfad entlang gerast war, auf die Fahrbahn kam und vom Kühler gestreift wurde. »Von da kam auch das Geräusch her«, sagte John, knipste seine Taschenlampe an und leuchtete umher. »Da, Hal - siehst du?« Summer ließ den Lichtkegel über den Stra ßenrand tanzen. »Die Böschung ist nicht befestigt. Wenn jemand von der Betonpis te runter ging, hätte er ein paar ordentliche Abdrücke hinterlassen müssen. Hier ist nichts. Das siehst du ja selbst, oder?« »Was ist das, Hal?«, sagte John Summer. Er bückte sich und hob etwas vom Boden auf. Dann richtete er das Licht der Taschenlampe auf den Gegenstand in seiner Hand und sagte verblüfft: »Eine Later ne.« 74
Hal schluckte. Er starrte verärgert auf den Fund. »Na, wenn schon, eine Laterne, was sagt denn das?« Aber Augenblicke später lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Unter den Augen der beiden Männer zerfiel die Laterne zu einem rostigen Stück Metall, das völlig grünspänig, alt und rissig geworden war. Auch die kleinen Glasfensterchen zerbrachen und die Kerze im Inneren des Gehäuses verformte sich zu einem unförmigen steinharten Klumpen. Die Laterne sah jetzt so aus, als hätte sie mindestens hundert Jah re in der Erde gelegen. »Das ist einfach unglaublich«, sagte Hal. »Ein Trugbild. Wir sind alle beide einer Sinnestäuschung erlegen, anders ist es nicht möglich. So etwas gibt es doch nicht.« »Quatsch doch nicht so viel«, sagte John Summer. »Ich habe es ja mit eigenen Augen gesehen. Das Gespenst war so echt wie unser Brummer und die Laterne ist der Beweis. Wir halten bei der nächsten Polizeistation und geben die Sache zu Protokoll.« Die nächste Polizeistation war vierundzwanzig Meilen entfernt. Der diensthabende Sergeant hatte schon allerhand Seltsames erlebt, aber dass jemand behauptete, ein Gespenst gesehen zu haben - war völlig neu. So etwas war selbst dem Sergeanten noch nicht untergekommen. Summer konnte die Sache natürlich nicht für sich behalten. Er er zählte die Geschichte einem Reporter und am nächsten Tag stand in der Zeitung: GESPENST RAMMTE NACHTS LASTWAGEN! Der Schre cken von Tynwood wieder im Einsatz. * Dr. Brian Hall war mit seinem Patienten Robert Pel Owen recht zufrie den. Seit einigen Tagen war die grässliche Erscheinung ausgeblieben und der Junge machte gute Fortschritte. Aber der Schein trog. In O wens Kopf war der Teufel los. Plötzlich bildete er sich ein, Nick Cresaps ermordet zu haben. Den Mann, der im Friedhof tot aufgefunden wurde. 75
»Das ist nicht wahr«, sagte Dr. Hall. »Du hast nicht die Kraft dazu, einen Mann wie Cresaps zu erwürgen.« »Doch, ich habe es getan«, sagte der Junge beharrlich. »George hat es mir befohlen.« Der Gedanke, dass ein so schmächtiger Knabe Cresaps überwälti gen konnte, war einfach lächerlich. »Robert«, sagte Hall mit fester Stimme, »hör mir zu. Niemand weiß, wer den Mann getötet hat. Vielleicht wird man es eines Tages wissen. Du bist ein schwacher Junge und dieser Cresaps war stark wie ein Bär. Du kannst ihn nicht getötet haben...« »Sie kennen Georges Kräfte nicht. Wenn ich töten soll, leiht er mir seine Kraft...« »Versuch doch mich zu verstehen, Robert«, sagte Hall wieder. »Du warst doch schon hier, als diese Sache auf dem Friedhof ge schah...« »Das wollen Sie mir jetzt nur einreden«, sagte Owen, »aber das glaube ich nicht.« Lange starrte der Junge auf den Doktor, dann sagte er: »Vielleicht habe ich ihn wirklich nicht getötet, aber George hat mir gesagt, dass im Kirchenturm etwas versteckt sei. Sie sollten dort ein mal nachsehen, dann erfahren Sie mehr über ihn.« Dr. Ray Aldiss verzog spöttisch den Mund, als Hall ihm von dem Kirchturm berichtete. »Sie glauben also nicht an die Sache?« »Alles Phantasie«, sagte Aldiss. »Das steht doch eindeutig fest. Sie sehen es ja selbst, lieber Kollege, er glaubt ja auch, diesen Mann umgebracht zu haben. Sie müssen doch zugeben, dass dieser Bursche unter Wahnvorstellungen leidet.« »Und das Gespenst, das Sie gesehen haben, war das auch eine Wahnvorstellung?« »Das ist doch alles verrückt.« Aldiss' Stimme klang gepresst. »Wir sind Ärzte und keine Spiritisten. Es muss eine logische Erklärung ge ben...« »Sie brauchen für alles eine logische Erklärung, sonst können Sie nicht existieren«, sagte Hall lauter als beabsichtigt. 76
»Ich habe mir eingebildet etwas zu sehen.« Er schüttelte den Kopf und vermied es, Hall anzusehen. »Nein, ich glaube an nichts anderes. Ich will an nichts anderes glauben.« Hall antwortete nicht. Er wusste, dass Aldiss den Vorfall sein gan zes Leben lang als eine Art Alptraum bezeichnen würde. Aber bei nächster Gelegenheit musste er einmal den Kirchturm ansehen, viel leicht gab es dort eine Antwort auf all die unerklärlichen Dinge, die im Dorf passierten. * »Sehen Sie sich diesen Artikel mal an«, sagte Edgar Ingelbell zu sei nem Chef. »Zwei Fernfahrer behaupten, ein Gespenst gesehen zu ha ben. Ich glaube, es ist dasselbe, das wir auch sahen.« »Na, hoffentlich läuft der Kerl uns noch einmal über den Weg, dann garantier ich für nichts.« »Ich glaube, auf diese Gelegenheit warten wir umsonst«, erwider te Ingelbell. »Geister lassen sich nicht kommandieren.« »Da muss ich Ihnen zustimmen«, sagte Denver. »Aber jetzt wol len wir diesen Dr. Hall aufsuchen, vielleicht kommen wir da weiter.« Den ganzen Vormittag verbrachten die beiden damit, die Leute auszufragen, aber es kam dabei nichts heraus. »Diese Dörfler«, sagte Denver, »sind stur wie die Esel. Aber wenn sie nicht wollen, dann eben nicht. Lange mache ich dieses Theater so und so nicht mehr mit. Wenn ich in drei Tagen nichts Positives in der Hand habe, gebe ich den Fall ab. Ich jage keinem Phantom nach. Das ist doch lächerlich.« Als Denver mit seinem Assistenten am späten Nachmittag das Gasthaus durch die Hintertür verließ, war er noch immer schlechter Laune. »Die Leute hier kennen nur noch ein Thema«, sagte ein alter Mann, der sich den beiden Kriminalisten näherte. »Das Gespenst!« Es war Mat Mitchell, genannt Old Matty. »Glauben Sie auch daran«, wollte Inspektor Denver wissen. 77
»Wenn alle daran glauben, warum soll ich es nicht auch?«, erwi derte der Alte schelmisch und zwinkerte mit einem Auge. »Gottes We ge sind unergründlich.« »Sie waren heute nicht bei der allgemeinen Besprechung?«, fragte der Inspektor. »Nein«, antwortete Old Matty. »Zuviel Gerede taugt nichts. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch ein paar Dinge erzählen, die vielleicht...« »Von Sagen, Geschichten und Legenden habe ich den Kopf voll«, sagte Denver, »damit kann ich bereits zwei Bücher schreiben. Was Vernünftiges kommt dabei ja nicht heraus.« »Wie Sie wollen«, sagte Old Matty, »Sie sind der Boss, Sir.« Denver und Ingelbell traten auf die Straße. Es war die Hauptstra ße von Tynwood. Die Häuser zu beiden Seiten wirkten sauber und gepflegt. Der Inspektor trat auf den geparkten Wagen zu. »Nicht nötig«, sagte der alte Mann, »wenn Sie zu Dr. Halls Haus wollen...« »Hier scheint ja ein jeder ein Hellseher zu sein«, unterbrach Den ver überrascht den Alten. »Ein kleiner Fußmarsch tut uns ganz gut. Nicht wahr, Edgar! Zum anderen sparen wir Energie. Kommen Sie!« Tynwood war eine friedliche Welt, unter deren Oberfläche es je doch brodelte. John Denver bemerkte es an den Blicken der Men schen. Sie waren ängstlich, scheu, zurückhaltend. Es war, als hätte jemand eine Wunde aufgerissen, die nun anfing zu bluten und nicht zu stillen war. »Das Haus Dr. Halls liegt gar nicht weit von der Kirche entfernt«, sagte Old Matty. »Es sind höchstens fünfhundert Yards.« Denver nickte und verhielt den Schritt, da der alte Mann in eine Seitenstraße einbog. »Die Kirche wollte ich mir sowieso mal ansehen«, sagte er. Die drei Männer hatten jetzt eine schmale Straße betreten. Die Häuser standen weiter auseinander. Gärten waren zwischen ihnen angelegt. Einige arbeiteten vor den Häusern, aber Denver entgingen die misstrauischen Blicke nicht, die sie trafen. 78
»Merkwürdig die Leute hier«, sagte er. »Wenn sie könnten, wür den sie uns fressen.« Old Matty machte eine wegwerfende Handbewegung. »In früheren Zeiten war das alles eine Grafschaft«, sagte er. »Die Kingsburys sind die älteste Familie hier in der Gegend. Sicher kennen sie die berühmten Statuen, die irgendwann im siebzehnten Jahrhun dert von Lord James Kingsbury in der Kirche aufgestellt wurden.« »Geschichte war nie meine Schwäche«, erwiderte der Inspektor. Ein kalter Lufthauch streifte die Männer, als sie das Gotteshaus betraten. Ingelbell glaubte den modrigen, jahrhundertealten Geruch der Wände zu riechen. »Die Statuen sind dort«, flüsterte Old Matty. Er schritt zu einer Ni sche, in der zwei lebensgroße Steinfiguren standen. »Hier ist Brian der Gute und Keith der Böse«, erklärte Old Matty ehrfürchtig. Es waren Zwillinge. Keith hatte einen verschlagenen, bösartigen Ausdruck im Gesicht. »Der Bursche ist mir sogar als Figur unheimlich«, sagte Ingelbell. »Ich weiß nicht woran es liegt, aber bei Dunkelheit möchte ich ihm nicht begegnen.« »Hier soll es auch spuken«, sagte der alte Mann, »aber Reverend Chaston will davon nichts hören. Vielleicht hat er selbst Angst.« »Wenn ich noch lange davor stehe, fürchte ich mich auch«, spöt telte Denver. »Kommen Sie«, drängte Old Matty, »gehen wir zum Tor.« An der Seitenwand der Kirche entdeckten die beiden die schwa chen Umrisse einer großen Tür. Das Gestein, das erst viel später hin eingemauert wurde, stach deutlich vom Original ab. »Sehen Sie, es ist bis heute noch nicht nachgefärbt«, sagte der Al te. »Was ist das überhaupt?«, fragte Ingelbell. »Haben Sie noch nie etwas von Sir Nils Kingsburys Legende ge hört? Er war ein Abtrünniger«, flüsterte Old Matty. »Er soll auch an der Ermordung eines englischen Königs mitgewirkt haben. Er führte ein lasterhaftes Leben und fand schließlich bei einer Rauferei in einer Spe lunke an der Themse den Tod. Es wäre undenkbar gewesen«, fuhr der 79
Alte fort, »seine sterblichen Überreste in der Kirchengruft beizusetzen, wo auch die anderen Familienmitglieder der Kingsburys zur letzten Ruhe gebettet waren. Jemand hatte einen Kompromiss gefunden und ihn in die Wand der Kirche eingemauert. Nach seinem Tod gingen die phantastischsten Geschichten über ihn um. Es hieß, dass dieser Lord Nils, der Böse, ein Kind des Teufels war, das nur deshalb geboren wurde, um Unglück über seine Familie zu bringen. Das war vor hundertsiebzig Jahren. Seither ging es mit den Kingsburys bergab - heute sind sie arme Bauern.« »Und der Kerl geistert also heute noch herum!«, sagte Denver. »Er kann keine Ruhe finden«, erwiderte der Alte. »Manche be haupten, er sei noch am Leben.« »Was?« Der Inspektor runzelte die Stirn. »Was soll denn das nun wieder?« »Er soll in anderen Menschen weiterleben«, antwortete Old Matty, »in einem Menschen aus seiner Familie. In unserer Zeit.« Seine Stim me war nur noch ein leises Geflüster. Der alte Mann blickte sich nach allen Seiten um, als erwarte er jeden Moment, dass dieser Lord Nils auftauchte. »Das sind doch Märchen«, sagte Denver. »Ich dachte, ein Mann wie Sie würde nicht mehr an solche Kindergeschichten glauben.« »Es soll wirklich wahr sein«, verteidigte sich Old Matty. »Unter gewissen Voraussetzungen können Menschen immer weiterleben. Sie brauchen deshalb keine Vampire sein.« »Wenn dieses Gespräch jemand vor hundert Jahren gehört hätte, hätte man uns als Gotteslästerer auf dem Scheiterhaufen verbrannt«, sagte Denver ein wenig ärgerlich. »Trotzdem, die Tatsache bleibt bestehen«, erwiderte trotzig der Alte. »Immer wieder sind Zwillinge in die Kingsbury Familie hineinge boren worden, die völlig grundverschieden waren. Ein Teil war gut, der andere schlecht. Das Gespenst, das heute herumläuft, soll auch ein Zwilling gewesen sein und noch immer Rache an der Familie nehmen. Kennen Sie Robert Pel Owen?« »Nie gehört«, sagte Denver. »Wer soll denn das sein?« 80
»Ein Nachkomme der Kingsburys. Er ist nicht richtig im Kopf. Viel leicht spukt dieser Nils in ihm herum. Der Doktor wird Ihnen mehr darüber erzählen.« Der alte Mann lehnte sich an die Wand zurück. Nachdenklich blick te er Edgar Ingelbell und dann den Inspektor an. »Das war es, was ich Ihnen erzählen wollte, Sir.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Denver. »Aber jetzt müssen wir gehen.« »Es stimmt schon, was Ihnen der alte Mister Gusan erzählt«, sag te plötzlich eine tiefe Stimme. Das Echo verstärkte den Ton noch. Inspektor Denver zuckte herum wie von einer Tarantel gebissen. Er starrte nur den Mann, der plötzlich wie aus dem Boden gewachsen hinter ihm stand. »Das ist Dr. Hall«, sagte Old Matty, so ruhig, als habe er ihn er wartet. »Nanu«, Denver war überrascht, »was tun Sie hier in der Kirche?« »Dasselbe könnte ich Sie auch fragen«, erwiderte der Doktor. »A ber ich sehe schon, Mat Gusan wollte seine Geschichten loswerden. Ich wollte zu Reverend Chaston, den Turm ansehen, aber er ist nicht da.« In groben Zügen berichtete Hall dem Inspektor von dem Ge spenst, dem Jungen in der Klinik und der Kiste, die hier versteckt sein und zur Auflösung beitragen sollte. »Ich glaube nicht, dass wir ohne Reverend Chaston auf den Turm steigen sollten«, sagte Old Matty. »Außerdem ist die Tür ja immer ver schlossen.« »Ja? Warum soll sie denn versperrt sein?«, wollte Ingelbell wis sen. Er wusste selbst, es war keine sehr intelligente Frage und Den vers wütender Blick sprach Bände, aber jetzt konnte er es auch nicht mehr rückgängig machen. »Weil die Leute einfach in dem Turm herumklettern würden«, sag te der alte Mann. »Da oben ist doch alles alt und verfallen.« Old Matty hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als Dr. Hall den Türknauf in die Hand nahm. Er drehte ihn und die Turmtür öffnete sich mit lautem Knarren. 81
»Sie ist nicht abgesperrt!«, sagte Hall fast triumphierend. »Aber sie ist sonst immer abgeschlossen, Doktor.« Old Matty schüttelte aufrichtig überrascht den Kopf. Doch ehe sich Denver und Ingelbell vom Fleck rühren konnten, war Hall bereits in der Tür ver schwunden. Die anderen liefen hinterher. Das einzige Licht, das hereindrang, fiel durch die Tür. Der Turm war innen rund. Die Stufen waren einzeln in die Mauer eingelassen. In der Mitte befand sich ein Schacht. Kein Geländer sicherte vor dem Ab grund. Der Inspektor sah nach oben. Es war stockfinster. Langsam stieg er die Stufen hinauf. Dabei hielt er sich an einem Seil fest, das mit Haken an der Wand befestigt war. Im Turm hing eine uralte Glocke. Dr. Halls Taschenlampe flammte auf. Inspektor Denver blickte sich um. Eine Menge Gegenstände waren gelagert. Heiligenbilder, Kerzenleuchter, Holzbänke, buntes Fenster glas, alte Bücher, Kokosläufer und verschiedene andere Sachen. Über allem lagen dicke Spinnweben. Seit Jahren hatte die Sachen kein Mensch mehr angerührt. »Kommen Sie, Inspektor«, rief Dr. Hall aufgeregt. »Ich glaube, hier ist eine Eisenschatulle.« Er leuchtete mit der Lampe zwischen den Holzbänken durch. »Da, sehen Sie...« Eine kunstvoll verzierte Schatulle glänzte im Licht. Edgar Ingelbell zog sie hervor. Sie hatte die Größe eines kleinen Reisekoffers. »Wieso wusste der Junge davon?«, fragte Hall. »Wer hat ihm die se Information gegeben?« Die Truhe war mit zwei uralten Vorhängeschlössern gesichert. Ein Wappen krönte den Deckel. »Auf den Inhalt bin ich aber gespannt«, sagte Denver. »Die Kronjuwelen können es nicht sein«, meinte Ingelbell, »die liegen noch im Tower.« »Sehr geistreich Ihre Bemerkung«, erwiderte Denver und beauf tragte ihn mit dem Abtransport der eisernen Truhe. Von unten drangen Geräusche herauf. Quietschende Angeln sag ten den Männern, dass jemand dabei war, die Haupttür zu schließen. 82
»Da möchte uns einer die Tür vor der Nase zuschlagen«, sagte Old Matty, »aber das macht nichts, der Schlüssel steckt ja innen. Hin aus kommen wir immer.« Sie wollten nicht, dass jemand von der Sa che erfuhr. Als sich nichts mehr rührte, stiegen sie vom Turm herun ter. Dr. Hall rannte durch die Kirche, um eine noch offene Tür zu fin den. Denver, sein Assistent und der alte Mann blieben nahe der Turm tür stehen. Es war stockdunkel und Ingelbell hatte das Gefühl, etwas beobachte ihn hohnlachend irgendwo in der düsteren Finsternis. Es muss doch eine Seitentür geben, dachte Hall, durch die man auf den Friedhof gelangen konnte. Er kannte die Kirche nicht so gut wie Matty, aber eine Minute später hatte er die Tür gefunden. Auch sie war verschlossen. Als Hall in Richtung Altar ging, hörte er ein Knarren. »Sind Sie das, Reverend Chaston?«, rief er. »Sie haben mich irr tümlich eingeschlossen.« Keine Antwort. Seine Stimme kam als geisterhaftes, hohles Echo von den hohen Gewölben zurück und war nicht mehr als die seine zu erkennen. Hall leuchtete die Gegend ab, aus der das Geräusch ge kommen war. Aber da war keine Menschenseele. Hall löschte die Taschenlampe, horchte in die Stille hinein und ver suchte das gespenstische Dunkel mit den Augen zu durchdringen. All mählich erkannte er einige Konturen, die Kanzel, die Betstühle und etwas Graues, das sich aber in der Dunkelheit verflüchtigte. Hall ging zu den anderen zurück. »Wir sind eingeschlossen«, sagte er. »Vielleicht will uns jemand des Diebstahls bezichtigen.« »Glauben Sie, dass die Truhe eine Rolle spielt?« »Ich bin überzeugt davon«, erwiderte Dr. Hall. »Wahrscheinlich beinhaltet sie Beweismaterial oder was Ähnliches.« Er wollte noch wei ter sprechen, doch plötzlich wurde sein Blick starr. »Da, Inspektor, sehen Sie. Das rote Licht... Es ist genau in der Mitte der Kirche... Wie aus der Hölle...« Jäh überfiel Denver die Erkenntnis, dass dies alles kein wüster Traum sei. Er sah das rote Licht, es war wie eine Glut - aus dem Inne ren der Erde. 83
»Das kommt aus der Gruft«, flüsterte Old Matty. »Das Familien grab der Kingsburys.« Geräuschlos tasteten sich die Männer nach vorn. Erst jetzt be merkten sie, dass die schweren Kirchenstühle weggerückt waren. Sie fragten sich, wie das möglich war. Sie hatten nicht den leisesten Ton gehört. Noch unheimlicher erschien es ihnen, dass der Eingang zur Gruft offen war und die schwere Steinplatte einen halben Meter daneben lag. Noch immer kam ein rotes Glühen aus der Tiefe. Dr. Hall richtete den Strahl seiner Taschenlampe in das gähnende rote Loch. Eine Treppe, die in die Tiefe führte, wurde sichtbar. Er stieg als erster hinunter. Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Ein modriger, kalter Hauch wehte den Männern aus der Gruft ent gegen. Je tiefer sie hinab stiegen, desto weniger wurde ihnen klar, woher das seltsame Leuchten kam. Als auch Old Matty die Gruft er reichte, erlosch das rote Licht. Denver wischte sich über das Gesicht. »Das - das gibt es doch gar nicht«, sagte er flüsternd. »Was hat das zu bedeuten?« Auch Edgar Ingelbells Blick drückte Unverständnis aus. »Was ist geschehen? Mir kommt das wie ein Traum vor.« »Schön wär's«, murmelte Old Matty. »Aber es ist leider kein Traum.« Er schien sich am besten mit der Situation abzufinden. Die Gruft war ein viereckiger Raum mit glatten kahlen Wänden. Neun Särge standen da und warteten auf den jüngsten Tag. Einige Särge wiesen dasselbe Wappen auf wie die Eisentruhe. Plötzlich erzitterte der Boden. Ein gewaltiges Grollen wie bei einem Erdbeben durchlief die Kirche. Dann war das Geräusch über ihnen. Erstaunt richtete Dr. Hall den Strahl der Taschenlampe nach oben und stieg einige Stufen hinauf. Und dann geschah das Unglaubliche. Mit einem ohrenbetäuben den Knall schloss sich die schwere Steinplatte über dem Eingang der Gruft. »Warten Sie!«, schrie der Doktor. »Sie können uns doch hier nicht einschließen... Hallo... Was machen Sie denn da...?« 84
Mit aller Macht presste Hall seine Schulter gegen die Steinplatte, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Kein Laut drang von oben nach unten. »Das ist unglaublich«, schimpfte Denver. »Wir sind wie Ratten in die Falle gelaufen. Wir hätten nicht alle hier heruntergehen dürfen. Was jetzt, Doktor?« Hall hob die Schultern. »Ich weiß es nicht, Inspektor, jedenfalls sitzen wir ganz schön in der Tinte.« Ingelbell schüttelte stur den Kopf. Er hatte seine Lippen zusam mengepresst und stierte seinen Chef an. »Wie sollen wir das jemals den anderen erklären?«, sagte er schließlich. »Sie machen mir Spaß, Sir«, krächzte Old Matty. »Jemand will uns hier verrecken lassen und Sie machen sich Gedanken, wem sie die Geschichte erzählen könnten. Wenn wir uns mit dem da oben nicht verständigen können, dann gibt es hier unten vier Tote mehr und nie wird jemand jemals dahinter kommen.« Es war die Wahrheit und sie wussten es alle. Immer wieder ver suchten sie die schwere Steinplatte zu heben, aber ohne Erfolg. Er schöpft stiegen die Männer die Treppe hinunter und setzten sich auf die letzte Stufe. »Man wird uns zwar vermissen«, sagte Denver, »aber niemand wird uns hier suchen. Jedenfalls nicht mehr heute Abend.« »Wir müssen uns so weit als möglich ruhig verhalten, damit wir Sauerstoff sparen«, sagte Dr. Hall. »Aber einer von uns sollte ständig mit einem Gegenstand an die Steinplatte klopfen - das ist unsere ein zige Chance.« Ein Stein war schnell gefunden. Ingelbell nahm ihn aus einer Stufe heraus und Old Matty begann in rhythmischen Abständen gegen die Steinplatte zu klopfen. Die drei anderen gingen los und untersuchten systematisch die Wände ihres Gefängnisses. Aber alle Hoffnung schlug fehl. Es gab kein Entkommen. »Die Neugierde hat schon vielen ein böses Ende beschert. Wir werden ihre Zahl vergrößern«, sagte der Inspektor zynisch. 85
Ingelbell blickte auf die Uhr. Es war Viertel vor acht. Eine unendli che Nacht lag vor ihnen. Eine Nacht, in der die Zeit sich wie eine Ewig keit dahin ziehen würde. Abgesehen von Old Mattys rhythmischem Klopfen, war die Stille so überwältigend, dass sie absolut erdrückend wirkte. Sie waren in einer Gruft begraben und nur wenige Meter über ihren Köpfen lag eine andere Welt, eine Welt des Lärms und der Luft. Stunden vergingen. »Wie spät ist es?« Die Stimme gehörte dem alten Mann. Ingelbell klopfte jetzt gegen die Steinplatte. Dr. Hall knipste die Taschenlampe an. Das kurze Aufblitzen blendete sie dermaßen, dass ihre Augen brannten, als wäre Pfeffer hineingestreut worden. »Fast elf«, sagte Hall leise. »Es ist teuflisch, wie langsam die Zeit vergeht.« Keiner von ihnen wusste, ob er morgen noch am Leben sein wür de. Alles war so unheimlich und zugleich phantastisch, so dass es un möglich war, darüber Schlüsse zu ziehen. »Eines steht fest«, sagte Dr. Hall. »Wer immer uns hier in die Fal le gelockt hat, war, ob Mensch oder Geist, ein gerissener Kopf. Aber wahrscheinlich werden wir nie dahinter kommen.« Der Inspektor hörte nicht zu. Er begann zu überlegen, ob er nicht doch die Existenz von Gespenstern etwas zu hartnäckig geleugnet ha be. * Nicht nur für Denver und seinen Assistenten war der vorangegangene Tag zum Verhängnis geworden. Auch für Alba Kelman gab es Ereignis se, die nur mit Hilfe des Übersinnlichen zu klären waren. Alba war wieder gesund, das Fieber war so plötzlich verschwun den wie es gekommen war. Charles hatte Dr. Hall nicht angetroffen. »Wusstest du eigentlich, dass dein Haar eine wunderschöne Farbe hat?« »Aber nicht doch!«, widersprach Alba, die beim ersten Kompli ment seit langer Zeit leicht rot geworden war. 86
»Es ist wahr«, sagte er nachdrücklich. »Deine Haare sind wunder schön, Alba. Ich muss bis jetzt blind gewesen sein.« Er sah ihr in die Augen und ohne den Blick abzuwenden, griff er nach ihren Händen und umschloss sie mit seinen eigenen. Er zog sie an sich und küsste sie. »Aha«, sagte Charles Kelman. »Alba, ich glaube, dieses Gespenst hat uns doch etwas Gutes gebracht. Es hat unsere Ehe wieder gekittet. Ich will, dass wir zusammen bleiben und die Vergangenheit vergessen! Bist du einverstanden?« Alba nickte, stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sah. Das Glück war in der Vergangenheit ziemlich knause rig gewesen, aber dieser Augenblick machte alles wieder wett. »Zwei Tage sind es noch«, sagte Charles, »dann fahren wir nach London zurück. Ich freue mich schon.« »Ich mich auch«, erwiderte Alba. »Trotzdem werden wir oft an Tynwood denken, so aufregende Ferien erlebt man nicht immer.« Das war völlig richtig, aber das Aufregendste stand noch vor ihnen. Später, als Alba die Puppe anblickte, hätte sie schwören mögen, dass ihr Gesichtsausdruck sich verändert hatte. Sie war noch immer so, wie Charles sie machte, aber die Züge um den Mund herum wirk ten spöttischer, herzloser. Vielleicht ist das alles nur Einbildung, ging es Alba durch den Kopf. Bald war der Urlaub zu Ende, dann würde alles anders werden. Jullen blieb hier, sie mochte sie nicht nach London mitnehmen. Plötzlich unterbrach etwas ihre Gedanken. Sie spürte einen mo mentanen Andrang von Unbehagen und Beklemmung. Intensiv drehte sie sich um und blickte auf Jullen. Für einen kurzen Moment war es ihr, als ob die Puppe mit einem Auge gezwinkert hätte. Bestimmt eine Einbildung, dachte Alba und verließ schnell das Zimmer. Am Nachmittag bekam Alba einen furchtbaren Schreck. Die Puppe war nicht im Zimmer! Doch im Hause ist niemand gewesen, niemand außer Charles und sie selbst. Es war ausgeschlossen, dass ein Dieb... Beide suchten die 87
Zimmer ab, blickten in die Schränke, in Ecken, unter das Bett - nichts. Jullen hatte sich verflüchtigt - in Luft aufgelöst. »Ich glaube, die Puppe ist weggelaufen«, sagte Charles. »Sie möchte nicht allein hier bleiben.« »Mach keine Witze«, erwiderte Alba, »sonst glaube ich es noch.« Es gab im Haus keinen Platz, der nicht durchsucht worden wäre. Jullen, die Puppe, blieb verschwunden. »Das ist doch unmöglich«, sag te Alba wieder und schüttelte verständnislos den Kopf. Jullen, sie war so lebendig da gewesen - und doch, wo war sie jetzt? Den Rest des Tages glaubte Alba überall die Puppe zu sehen. Tü ren öffneten sich von selbst, Dinge bewegten sich, Fensterscheiben klirrten und Geräusche waren zu hören, für die es keine natürliche Erklärung gab. Je mehr die Dämmerung fortschritt, um so mehr be wegten sich allerlei Figuren - phantastische Formen, die mehr und mehr mit der aufkommenden Dunkelheit verschmolzen. Abends, als Alba zu Bett ging, hatte sie kaum den Kopf auf das Kissen gelegt, als sie plötzlich ein unerklärliches Entsetzen befiel. Ihr Körper zitterte. Sie hatte das vage Gefühl, das weiße Gespenst hocke neben ihr, aber sie brachte nicht den Willen auf, das Bett zu verlassen. Endlich fiel sie in einen flachen, unruhigen Schlaf. Seltsame Träu me und unbestimmte Ängste ließen sie mehrmals hochschrecken. Schreckliche Bilder gaukelten ihr im Kopf herum. Es waren seltsam geformte Tiere, grün leuchtende Gnome tanzten einen Reigen, Geister, die mit weißen Gewändern gekleidet und mysteriöse Geräusche von sich gaben, liefen in langen Korridoren herum. Lilafarbene Feen spiel ten mit Blumen, die plötzlich zu Schmetterlingen wurden. Kobolde jag ten mit einem langen Messer hinter einer Frau her. Über allem lag ein mit schwarzen Wolken bedeckter Himmel. Ein Schwarm roter Krähen flog drüber hinweg und noch bevor sie in der Ferne verschwunden waren, fielen sie als dicke Wassertropfen zur Erde zurück. Plötzlich schlug Alba die Augen auf. Das weiße Gespenst stand nur wenige Meter vom Bett entfernt und starrte sie mit einem rot glühenden Auge an, dass es Alba durch Mark und Bein ging. 88
Das Gespenst sah genauso gruselig aus wie immer. Noch während Alba wie hypnotisiert auf die Erscheinung starrte, setzte sich das Gespenst in Bewegung und kam direkt auf sie zu. Vor Entsetzen stockte Alba der Atem. Immer näher kam die gräss liche Erscheinung. Alba sprang aus dem Bett und schrie laut auf. Ir gend etwas flog an ihrem Kopf vorbei, dann war die weiße Gestalt verschwunden. »Er war wieder da«, sagte Alba, als Charles wach wurde. »Hier stand er - ganz dicht vor dem Bett und dann kam er auf mich zu.« Sie machte eine Pause und dachte einige Zeit nach. »Etwas war anders«, fuhr sie fort. »Er hatte die Laterne nicht da bei. Ich merkte es sofort. Er muss seine Laterne verloren haben...« »Wir werden uns morgen mit Dr. Hall in Verbindung setzen«, sag te Charles. »Schließlich ist er Psychiater. Wir müssen das Gespenst loswerden, solange wir noch hier sind, sonst sind wir verloren. Versu che jetzt zu schlafen. Ich glaube nicht, dass der Kerl heute noch ein mal erscheint.« Gehorsam nickte Alba und schlüpfte wieder ins Bett. Bevor sie die Augen schloss, blickte sie auf die Uhr. Es war zwanzig Minuten nach eins. Sie ahnten nicht, dass Dr. Hall lebendig in einer Gruft begraben war. * Als Inspektor Denver auf die Uhr blickte, war es fünf. Die Nacht war, auch wenn sie wie eine Ewigkeit gedauert hatte, vorübergegangen. Dr. Halls Taschenlampe war ziemlich trübe geworden. Lange würde sie es nicht mehr mitmachen. Denver hatte noch sieben Streichhölzer. Ingel bell und Old Matty besaßen weder Hölzer noch Feuerzeuge. Plötzlich fiel Denver etwas auf. Die Luft war zwar dick und schwer, aber brauchbar. Von irgendwo musste Frischluft kommen. »Gütiger Himmel!«, rief er. »Wir bekommen Luft. Es gibt eine Luftzirkulation, sonst wären wir schon lange erstickt oder vergiftet worden. Sehen wir mal nach.« 89
Dieser kleine Hoffnungsschimmer löste eine ungeheuere Verände rung aus. Augenblicklich liefen alle in Denvers Richtung, um den Luft zug zu fühlen. Über eine Stunde bemühten sich die Männer und gaben schließlich enttäuscht auf. Denver zog sich eine Verletzung am Kopf zu und Hall rammte mit seiner Schulter einen Sarg. Ingelbell und Dr. Hall setzen sich auf die Stufen und Old Matty nahm das rhythmische Klopfen wieder auf. »Ich habe es«, rief Denver plötzlich mit eigenartig gepresster Stimme. »Ich spüre Luft. Da ist ein Loch.« Mit zitternden Fingern riss er ein Streichholz an. Hinter einem Sarg in der Höhe des Fußbodens fehlte ein Ziegel in der Mauer. Denver griff mit der Hand hindurch. Er stieß auf keinen Widerstand. »So geht es nicht«, sagte der Inspektor nach einer Weile. »Wir müssen den Sarkophag zur Seite schieben, so komme ich unmöglich ran.« Nach mehreren Versuchen gelang es ihnen, die Ecke frei zu be kommen. »Bringen Sie mir den Stein, Matty«, befahl Denver. Dr. Hall knips te die Taschenlampe an, die nur mehr ganz schwach brannte, aber der Schein reichte aus, damit der alte Mann sicher durch die Gruft gehen konnte. Wie ein Besessener begann Denver mit dem Stein gegen die Mau er zu schlagen. Bald darauf bröckelte Kalk ab. Der erste Stein löste sich und ließ sich herausnehmen. Die Öffnung war beträchtlich größer geworden. Hall und Ingelbell griffen in die Arbeit mit ein. Ein ganzer Schwall frische Luft kam herein und tat den Männern gut. Noch wusste niemand, wohin dieser Raum führte. Fieberhaft arbeiteten sie weiter. Nach einer Stunde war die Öffnung so groß, dass Denver sich hin durchzwängen konnte. Er zündete ein Streichholz an und leuchtete in die Finsternis hinein. Es war ein großer leerer Raum, an dessen Ende sich eine Tür befand. Plötzlich überkam den Inspektor Unruhe. Er hatte das Gefühl, je mand würde ihn beobachten, belauern, wie ein wildes Tier. Er machte zwei, drei Schritte und fragte aufs Geratewohl in die Dunkelheit hinein: »Ist hier jemand?« 90
Er wollte die Achseln zucken, da er immer noch nichts wahrnahm aber plötzlich stand etwas hinter ihm. Wenn Denver jemals in seinem Leben zu Tode erschrocken war, dann in diesem Moment. Als er sich umdrehte, sah er das weiße Gespenst wütend aufspringen und ver schwinden. Aber er fasste sich schnell. »Da ist eine Tür«, rief er laut. »Wir haben es geschafft. Kommen Sie...« Ingelbell sprengte die Tür auf. Eine Treppe führte nach oben. Denver ging als erster hinauf. Wieder versperrte eine Tür den Weg. »Was jetzt?«, fragte Ingelbell. Denver starrte seinen Assistenten einen Moment an. Seine sonst so ruhige Haltung war verschwunden, Ärger trat an ihre Stelle. Das Gespenst von vorhin war schuld an der Veränderung. Er hatte nie an solche Dinge geglaubt und jetzt wurde er eines Besseren belehrt und das kränkte ihn. »Stehen Sie nicht so herum!«, brüllte er los. »Treten Sie die Tür ein, oder haben Sie Lust, für alle Ewigkeit hier zu bleiben und auch ein Gespenst zu werden?« Beim dritten Anlauf gelang es ihm. Als das Holz endlich nachgab, stolperte er in einen Raum, der vom Tageslicht erhellt war - die Sakris tei. Sie hatten es geschafft. Der Inspektor und Dr. Hall sahen sich die Stelle an, wo sie hinun ter gestiegen waren. Die Gruftplatte war so fest in den Kirchenboden eingelassen, als wäre sie nie herausgehoben worden. Die Eisentruhe war spurlos verschwunden. Sie befand sich weder an der Stelle, an der sie sie abgestellt hatten, noch war sie im Turm oder sonst wo zu fin den. Auch der Schlüssel steckte jetzt innen an der Kirchentür. Unge hindert konnten sie hinaus. »Schade«, meinte Denver. »Ich hätte gern gewusst, welches Ge heimnis es wert ist, vier Menschenleben aufs Spiel zu setzen.« »Ich auch«, erwiderte Dr. Hall. »Aber leider werden wir es nie er fahren. Dieses Gespenst hat uns ganz schön hinters Licht geführt. A ber wir waren ja selbst schuld.« Denver wollte davon nichts hören. Außerhalb der Kirche entdeckte Dr. Hall ein Stück Papier, das an die Wand geheftet war. »Hier, sehen Sie mal, Inspektor?«, sagte der Doktor. 91
Es war kein Papier, sondern ein Stück gelbes altes Pergament, das flüchtig von irgendwo herausgerissen worden war und mit einer unge lenken Handschrift beschrieben war:
Das ist eine ernste Warnung! Hüten Sie sich, meine Pläne zu stören! Sie sind diesmal noch milde davongekommen. Das nächste Mal gibt es kein Entkommen! Frecher Kerl, dachte Denver. Aber diese unverblümte Drohung
regte ihn gar nicht auf. Er hatte schon lange so etwas erwartet. Das leichte Gruseln, das ihm den Rücken hinunterprickelte, kam nicht von dieser Nachricht, sondern entstand bei dem Gedanken, was wohl In tendent Wicford dazu sagen würde, wenn er mit einer Geisterge schichte kam. »Ich habe noch nie mit Gespenstern zu tun gehabt«, sagte Den ver. »Diese Sache ist völlig neu für mich, aber jetzt glaube ich auch an die Existenz solcher Wesen. Die Frage ist nur, wie können wir sie wie der dorthin zurückschicken, woher sie gekommen sind?« »So einfach ist das nicht, Inspektor«, erwiderte Dr. Hall. »Eine pa rapsychologische Erscheinung lässt sich nicht wie ein Rekrut herum kommandieren. Ihre Existenz ist Realität. Denken Sie zum Beispiel an das berühmte schottische Geisterschloss Glamis.« »Ja, es ist bekannt dafür, dass sich dort unheimliche Dinge ereig nen, aber ich habe nie daran geglaubt«, sagte Denver. »Da behaupten die Menschen immer, das Leben sei langweilig«, antwortete Dr. Hall, »dabei braucht man sich nur etwas außerhalb der gewohnten Regeln zu bewegen und schon stehen wir Dingen gegen über, die in keinem Lehrbuch stehen.« »Es scheint, als habe ich im Gegensatz zu meinem Assistenten nie die richtige Antenne gehabt. Aber wie wird man dieses Zeug wieder los?« »Ich will Ihnen nichts vormachen, Inspektor. Die Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Alte Aufzeichnungen würden uns vielleicht helfen aber so, wie es im Moment aussieht, ist alles reine Spekulation.« 92
Der Inspektor gab sich damit nicht zufrieden. Er bohrte weiter. Schließlich war er da, um den Fall zu lösen und nicht, um Diskussionen zu führen. »Old Matty«, begann er wieder, »glaubt, dass die ganze Schuld bei dieser Familie Kingsbury liegt. Es soll auch etwas mit Wiedergeburt zu tun haben. Wie ist das zu verstehen, Doktor?« »Die Frage ist. Gibt es eine Wiedergeburt nach dem Tode? Jeder Mensch hat sich mit dieser Frage schon einmal beschäftigt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Möglichkeit besteht. Immerhin ist es schon in hunderten Fällen gelungen, in Hypnose das Unterbewusst sein des Menschen zu befragen. Was geschah vor der Geburt eines jeden Menschen? Lebte er schon einmal in vergangenen Zeiten?« »Und was hat das alles mit dem Gespenst zu tun?«, fragte Den ver. »Das ist ziemlich einfach«, entgegnete Hall. »Dem Gespenst, das heute hier herumspukt, könnte einmal in ferner Vergangenheit eine Ungerechtigkeit widerfahren sein. Aber vielleicht war es auch selbst schlecht und böse. Wenn es eine Wiedergeburt gibt, kann es durchaus möglich sein, dass eine damalige Person heute wieder lebt und das Gespenst sich rächen will.« »Das ist zu phantastisch, um wahr zu sein«, meinte Denver. »Dann haben also doch diese Kingsburys mit der Sache zu tun?« »Ich glaube nicht, dass Lord James oder die beiden Zwillinge, die in der Kirche stehen, damit zu tun haben. Aber ein paar Generationen später kann sich etwas ereignet haben, das diesen Spuk auslöste und dazu fehlen uns die Unterlagen.« »Das kann man doch nachprüfen...« »Wie wollen Sie das ohne Unterlagen?«, unterbrach der Doktor. »Ich meine nicht die Unterlagen«, erwiderte der Inspektor schnell. »Ich denke an die Sache mit der Wiedergeburt. Sie sind doch auch Psychotherapeut, warum prüfen Sie das nicht nach?« Hall war einen Moment lang verblüfft. Die Idee war grandios. Wa rum war er nicht schon selbst darauf gekommen. Das war die Lösung. Vielleicht konnte ihm Robert Pel Owen helfen. Schließlich war ein Nachkomme der Kingsburys. 93
»Ihr Vorschlag ist phantastisch«, sagte Dr. Hall nach einer Weile. »Wir brauchen jetzt vor allem Personen, die von diesem Gespenst be droht wurden. Vielleicht ergibt sich dann ein Bild. Aber wie sollen wir an diese Personen herankommen?« »Das ist ganz einfach, Doktor«, erwiderte Denver. »Wir machen im Dorf eine Bekanntmachung: Jeder, der das Gespenst gesehen hat, oder durch ihn belästigt wurde, melde sich bei Dr. Hall...« * Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es Hall, Owen in tiefen Hypnoseschlaf zu versetzen. Doch was er dann berichtete, war so un glaublich, dass Hall kaum zu atmen wagte. Er hätte aber gern noch eine andere Person gefunden, die ebenfalls dieses Gespenst beschrei ben konnte. Doch unter den vielen Leuten, die sich meldeten, war niemand darunter, der auch nur annähernd in seinem früheren Leben Kontakt mit dem Gespenst gehabt hatte. Völlig unerwartet für Hall erschien Alba Kelman mit ihrem Mann und berichtete von dem geheimnisvollen Wesen, das sie seit ihrem Urlaub hier umgab. »Ich bin nahe daran, das Geheimnis zu lösen«, sagte Dr. Hall. »Das Gespenst, das Sie quält, kommt aus der Vergangenheit. Wahr scheinlich lebten Sie schon einmal vor langer Zeit und da muss sich etwas ereignet haben, was den Ausschlag gab.« »Sie glauben wirklich, dass ich schon einmal... Das ist ja noch un heimlicher als das Gespenst. Aber wieso gerade hier und jetzt? Wir wollten doch bloß Urlaub machen. Wir waren noch nie da.« »Das glaube ich Ihnen gern«, erwiderte Hall. »Darüber sollten Sie gar nicht nachdenken - Gottes Wege sind unergründlich.« Charles, der ebenso ungläubig dreinblickte wie Alba, lächelte skep tisch. »Wollen wir dem Geheimnis auf die Spur kommen?«, fragte Dr. Hall. »Dann will ich Sie in Hypnose versetzen und Ihr Unterbewusst sein befragen.« 94
Inspektor John Denver und Edgar Ingelbell warteten gespannt auf die Aussage von Mrs. Kelman. Schließlich hing eine Menge davon ab. Gespenster konnte man nicht verhaften und das war immerhin etwas, womit man Intendent Wicford bei der Stange halten konnte. Die Reise in die Vergangenheit konnte beginnen. Alba legte sich auf die Ledercouch. Eine merkwürdige Unruhe er füllte sie plötzlich. Ihr Herz schlug schneller und sie spürte ein Würgen im Hals. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, beruhigte Dr. Hall die junge hübsche Frau. »Es passiert überhaupt nichts. Versuchen Sie sich zu entspannen, schließen Sie die Augen...« Ganz behutsam versetzte er Alba in einen tiefen Schlaf und schal tete ihr Bewusstsein aus. Er hob ihre Hand und prüfte, ob sie auch wirklich hypnotisiert war. Der linke Arm fiel schlaff herunter. »Dem Experiment steht nichts mehr im Wege«, sagte Hall. Den ver, Ingelbell und Charles Kelman nickten. Jetzt würde es sich zeigen, weshalb das Gespenst Alba so hartnäckig verfolgte. »Sie versetzen sich jetzt zurück in die Jahre Ihrer Kindheit, Mrs. Kelman«, sagte Dr. Hall und drückte auf die Starttaste eines Tonband geräts. Alle Worte, die Alba in Hypnose über ihre Lippen bringen wür de, wurden auf Band festgehalten, um sie später besser auszuwerten. Es war wirklich erstaunlich, was Alba alles ans Tageslicht brachte. Ein paar schreckliche Erlebnisse lagen so weit zurück, als sie noch nicht ganz fünf Jahre alt war. Alle waren erstaunt, mit welcher Genauigkeit Alba jede wichtige Einzelheit ihrer frühesten Kindheit schilderte. Dinge, an die sich norma lerweise kein Mensch zurückerinnern kann. Dr. Hall ging nun zum nächsten Teil seines Experiments über. Er verließ Mrs. Kelmans heutiges Leben und versetzte sie zurück in die Zeit vor ihrer Geburt. »Bitte, Mrs. Kelman«, begann Hall wieder mit monotoner, langsa mer Stimme, »wir begeben uns jetzt auf eine lange Reise. Eine Reise durch die Jahrzehnte. Sagen Sie mir alles, was Ihnen auffällt oder be kannt vorkommt. Ich werde Sie begleiten.« 95
Atemlose Stille herrschte in dem geräumigen Behandlungszimmer. Der Raum war in gedämpftes Licht gehüllt und draußen begannen die ersten Regentropfen zu fallen. Langsam, aber deutlich nannte Hall jetzt Jahreszahlen und fügte geschichtliche Ereignisse hinzu. Dies war sozusagen der Leitfaden für Albas Reise. Eine Hilfe, damit sie sich besser zurechtfinden konnte. Plötzlich fiel das Stichwort ›1850‹. Bei dieser Jahreszahl begann Alba sich zu regen, murmelte undeutlich vor sich hin. »Sehen Sie etwas?«, fragte Dr. Hall. »Sagen Sie mir, was Sie se hen, wer Sie sind und wo Sie leben.« Albas Augenlider flackerten. Schweiß stand auf ihrer Stirn. Ihr Un terbewusstsein schien auf vollen Touren zu arbeiten. Dann plötzlich bewegten sich ihre Lippen. Deutlich nannte sie einen Namen. Leise sagte sie: »Elsie Mathers.« Dann war wieder Stille. »Was ist mit Elsie Mathers?«, fragte Dr. Hall verwundert. »Erzäh len Sie alles, was Sie wissen.« Zwei Minuten verrannen, ohne dass etwas geschah. Es schien, als sei der Name das einzige, woran sich Alba Kelman erinnern konnte. Selbst Hall glaubte für einen Augenblick, dass das Schicksal, das sich hinter diesem Namen verbarg, für immer in Dunkelheit gehüllt bleiben würde. Doch plötzlich, völlig unerwartet, begann Alba zu sprechen: »Ich heiße Elsie Mathers. Ich bin 16 Jahre alt. Ich lebe im Jahre 1850 in Brent, in der Grafschaft Dartmoor. Mein Vater hat ein kleines Fuhr unternehmen und fährt Torf nach Plymouth.« »Können Sie mir ein paar besondere Ereignisse dieser Zeit schil dern?«, unterbrach Dr. Hall. »Dinge, an die Sie sich besonders erin nern?« »Ja«, antwortete Alba Kelman. »Da geschah eine ganz schreckli che Sache...« »Was ist passiert?«, fragte Hall. »Sie müssen es mir unbedingt er zählen, bitte...« Eine Weile zögerte Alba, dann sprudelte sie los: »Na, die Sache mit diesem schwachsinnigen Idioten, dem George. Er hatte einen ver krüppelten Körper, einen Buckel und war böse wie der Teufel. Man tuschelte im Dorf, dass er schon einige Leute erwürgt haben soll. 96
Er schleppte immer eine Laterne mit sich herum, gleichgültig, ob es Tag oder Nacht war. Als Vater eines Tages nicht da war, kam er ins Haus. Er war be trunken, kam direkt auf mich zu, sah mich mit seinen glänzenden, bö sen Augen an und fing an zu lachen. Ein widerliches Lachen.« Die Erinnerung stand jetzt Alba so deutlich vor Augen, dass sie aus der Vergangenheitsform in die Gegenwart übersprang. »Er wankt immer näher«, fuhr Alba fort. »Komm, gib mir einen Kuss. Komm, Kleine, sagt er. Mir dreht sich alles vor den Augen. Dieses Ungeheuer darf mich nicht in die Hände kriegen. Voller Verzweiflung fange ich an zu weinen. Plötzlich habe ich ein Messer in der Hand und stoße zu, zwei-, dreimal. George schreit wie am Spieß und rennt aus dem Haus...« »Und wie ging es weiter?«, fragte Dr. Hall. »War George tot?« »Erst Tage später hat man ihn gefunden«, berichtete Alba. »Nie mand wusste, was geschehen war.« »Wie alt war dieser George?«, fragte Dr. Hall wieder. »Und wie hieß er mit vollem Namen?« Alba dachte nach, dann sagte sie: »Etwa zwanzig Jahre. Er soll ein Kingsbury gewesen sein, aber seine Mutter hieß Sulzer und war eine Magd. Es sollen Zwillinge gewesen sein, aber seinen Bruder hat man nie gesehen.« »Gab es noch jemanden, der sich mit diesem George befasste«, fragte Hall. »Ich meine, hatte er Freunde?« »Er hatte eine Freundin. Sie war genauso böse wie er. Sie hieß Jullen Hutchinson und war eine Zigeunerin«, antwortete Alba. »Und dann war da noch ein Junge, sein Name war Atkin Hewitt. Er war zehn oder zwölf Jahre alt und hänselte George, wo er nur konnte...« Hall hörte gar nicht mehr zu. Es war unglaublich, die Aussage von Alba stimmte haargenau mit der von Robert Pel Owen überein. Auch ihn hatte Hall unter Hypnose befragt, um sein Unterbewusstsein zu erforschen. »Tut es Ihnen leid, dass Sie George getötet haben?«, nahm Dr. Hall das Gespräch wieder auf. 97
»Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich hatte nur furchtbare Angst. Es tut mir schrecklich leid - wirklich. Sein Tod ist wie ein Fluch. Ich habe keine ruhige Minute mehr. Immer ist er in meiner Nähe, begleitet mich auf Schritt und Tritt.« »Was geschah weiter mit Ihnen?«, fragte Hall wieder. »Sehen Sie noch etwas?« Plötzlich bewegten sich ihre Lippen. Dann flüsterte sie: »Drei Jah re später brach eine Seuche aus, an der ich starb...« Abrupt stoppte sie an dieser Stelle ihrer Erzählung. Alba schien völlig erschöpft. Die erschütternden Ereignisse des Jahres 1850 waren durch die Hypnose ans Tageslicht gekommen und Wirklichkeit geworden. Inspektor John Denver war von dem Erlebnis so beeindruckt, dass ihm nicht einmal seine Pfeife schmeckte und das wollte was heißen. Als er auch noch die Aufzeichnungen von Robert Pel Owen vorgespielt bekam, schien er völlig den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Mein Gott«, sagte Alba und schlug die Hände zusammen, als sie ihre Stimme auf Band hörte. »... unglaublich. Das soll ich gemacht haben? Entsetzlich...« »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, erwiderte der Doktor. »Das hat mit Ihrem jetzigen Leben nichts zu tun. Es geschah in ferner Vergangenheit, vor mehr als 130 Jahren. Es existiert nicht mehr, davon abgesehen haben Sie in Notwehr gehandelt.« »Und Sie glauben, Doktor, dass mich jetzt das Gespenst in Ruhe lässt!« »Ja, wir alle wissen nun, was sich damals ereignete. Wir haben ihn bei seinen Lügen und Bösartigkeiten ertappt. Sie haben seiner ar men Seele verziehen. Auch Robert Pel Owen hat es getan. Rache steht ihm nicht mehr zu. Deshalb wird er auch nicht mehr in Erscheinung treten. Davon bin ich überzeugt.« »Und für mich bleibt wieder nichts«, sagte Inspektor Denver. »Wie steht es mit Nick Cresaps, dem Toten vom Friedhof? Hat er ihn auch auf dem Gewissen?« »Durchaus möglich«, erwiderte Dr. Brian Hall. »Dieses Geheimnis lag aller Wahrscheinlichkeit nach in der Eisentruhe und wo die hinge kommen ist, wissen nur die Götter.« 98
»Es passt alles haargenau zusammen«, sagte Charles. »Die Worte an der Mauer gaben den Hinweis, dass er Rache nehmen wollte. Albas Alpträume waren mit dem Gespenst verbunden, das leuchtet ein. Aber wer war der Händler, der uns die Puppe verkaufte?« »Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren«, entgegnete Hall. »Wenn die Truhe nicht etwas Außergewöhnliches beinhaltet hätte, wäre sie nicht verschwunden. Lasst uns nicht den Kopf darüber zer brechen. Vielleicht ist es sogar gut, dass wir den Inhalt nicht kennen. Aber wenn die Puppe verschwunden ist, dann ist es doch ein Anzei chen dafür, dass auch das Gespenst nicht mehr erscheinen wird.« »Aber die Puppe war doch in Wirklichkeit Georges Freundin«, er innerte Edgar Ingelbell, »diese Jullen Hutchinson. Sie hat mit dem Fall überhaupt nichts zu tun. Warum sollte sie verschwinden? Wenn es solche Dinge gibt, wie wir sie jetzt kennen, dann kann es durchaus möglich sein, dass Hutchinson unabhängig von George Rache nimmt.« »Das glaube ich nicht.« Da irrte sich Dr. Hall. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber da klingelte das Telefon. Reverend Jones Chaston war in der Leitung. »Hallo, Doktor«, sagte er. »Ich war in Plymouth und habe interes sante Aufzeichnungen von einem gewissen George Sulzer gefunden. Ich glaube, es ist das Gespenst, das...« »Mein lieber Mr. Chaston«, unterbrach Dr. Hall, »Sie kommen lei der etwas zu spät. Die Gespenstergeschichte ist bereits erledigt.« »Was... was sagen Sie da?« Der Reverend war wie vor den Kopf gestoßen. »Ich werde Sie über alles informieren«, sagte Hall. »Selbstver ständlich sind die Aufzeichnungen von größter Wichtigkeit, sie können unsere bisherigen Ergebnisse nur bestätigen.« »In Ordnung, Doktor«, sagte der Reverend. »Ich bin in einer hal ben Stunde bei Ihnen.« Die Aufzeichnungen, die Reverend Chaston aufgestöbert hatte, befanden sich im Archiv der St. James Church von Plymouth. Der Be richt stammte von einem gewissen Edwart Bowery, der nach seinen eigenen Angaben so etwas wie ein High Constabler war. Das Papier 99
stück trug das Datum vom 23. September 1850 und die Überschrift lautete: DER WÜRGER VON DARTMOOR. »Seit vier Jahren lebte in der Gegend von Brent, der Grafschaft Dartmoor, eine Frau, namens Mary Sulzer. Sie war so hässlich und absonderlich, dass niemand mit ihr etwas zu tun haben wollte. Etwa um das Jahr 1830/31 hatte sie in Exeter einen gewissen Wil liam Sulzer geheiratet. Doch der Mann hieß in Wahrheit ganz anders. Er war Allen Kingsbury, ein Sohn von Lord Nils Kingsbury, jenes be rüchtigten berühmten Scharlatans, der in allerlei dunklen Geschäften verstrickt gewesen war. Auch Allen war der Schwarzen Magie und dem Teufel verfallen. Mit uralten Zaubersprüchen und Formeln versuchte er Gold zu ma chen. Als ihm das nicht gelang, beschwor er einen Dämon herbei. Als Allan beim Kartenspiel einen Mann ermordete und später dafür ge hängt wurde, vollzog sich an seiner Frau eine seltsame Wandlung. Augenzeugen berichteten, dass sie von einer Minute auf die andere zu einem hässlichen absonderlichen Monster geworden war. Die meisten sind sich einig, dass es Allans Rache an seiner Frau war, weil er gehängt wurde und zum anderen sollte niemand mehr Mary begehren. Von dieser Minute an mieden alle gottesfürchtigen Leute im Ort Mary Sulzer, beziehungsweise Kingsbury. Als Mary ein Kind bekam, wagte sich nur eine alte Hebamme zu ihr ins Haus. Mary hatte ein Kind geboren, das später George genannt wurde, war munter und glich der Kopfform nach seinem Vater. Mary Sulzer ließ niemand an ihr Kind heran. Leute, die im Laufe der Zeit das Kind sahen, erzählten Geschichten über seine groteske Figur. Er hatte einen riesigen Kopf, einen Buckel, kräftige Hände und sein bevorzugtes Spielzeug war eine alte Laterne. Dann verschwand Mary Sulzer aus Exeter. Niemand konnte sagen, wo sie sich dreizehn Jahre lang aufhielt. 1846 tauchte sie plötzlich mit George in der Ortschaft Brent auf. Ein halbes Jahr später ereignete sich in der Grafschaft eine Mordserie, die bis zum Tod Georges anhielt und dann jäh abbrach. Mindestens zehn Menschen kamen durch Er würgen zu Tode. Aber man konnte nie etwas beweisen. 100
Zwei Jahre darauf, 1848, freundete sich der Siebzehnjährige mit Jullen Hutchinson an. Sie war eine Zigeunerin und versuchte George für ein fahrendes Theater zu interessieren. Jullen blieb bei ihm. Ein Bursche namens Atkin Hewitt, Sohn eines Schmiedes, hänselte ihn so sehr, dass es zu ernsten Auseinandersetzungen zwischen dem Schmied und Mary Sulzer kam. Nach Aussagen eines Landstreichers soll es am 23. September zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen George und Elsie Ma thers, der Tochter eines Fuhrunternehmers, gekommen sein. Vier Tage später fand man George mit Stichwunden im Wald tot auf. Seine Freundin soll ewige Rache geschworen haben. Sie ging nach Marokko zu einem arabischen Magier und soll als Puppe weiterleben. Viele behaupten, Mary Sulzer sei nach dem Tod ihres Sohnes nach Amerika ausgewandert, aber dafür gibt es keine Beweise. Das ist die seltsame Geschichte des WÜRGERS VON DARTMOOR.« Diesem Bericht war nichts mehr hinzuzufügen. Er bestätigte die Aussagen von Owen und Alba. Der Tote vom Friedhof blieb weiterhin ein Rätsel, aber damit musste Inspektor Denver fertig werden. Alba und Charles Kelman verließen Tynwood und fuhren nach London zu rück. Vorsichtig betrat Alba ihre Londoner Wohnung. In der Mitte des Wohnzimmers blieb sie stehen. Etwas schien hier verändert zu sein, aber sie wusste nicht, was es war. Alles tauchte in ungewohnter Fremdheit vor ihr auf. Es war so bedrückend. Die Atmosphäre erinner te sie an Tynwood. Für einen Augenblick erfasste sie Schwindel, aber in der nächsten Minute war es vorbei. Alba blickte durchs Fenster, da unten waren die Straßen, die Ge schäfte, die Menschen. Sie wusste, alles, was in Tynwood geschah, würde sie vergessen. Wie in einem Traum bewegte sie sich auf einen Sessel zu. Plötzlich verlor das Zimmer jegliche Gestalt, es wurde dun kel und immer dunkler. Alba konnte nichts dagegen tun. Sie war nicht fähig, Licht zu machen. Wenn es dieses Tynwood nie gegeben hatte, dachte sie, wäre vielleicht alles anders geworden. Dann hörte sie das Geräusch: ein Quietschen von Stahlfedern, so, als würde sich jemand niedersetzen. 101
Allmählich wurde dieses störende Geräusch durch das Knistern ei nes Stoffes ersetzt. Zuerst war es ganz leise, aber dann schwoll es zu einer solchen Mächtigkeit an, dass die Zimmerwände bebten und alles rundum in einer Woge versank. Alba Kelman erstarrte und öffnete die Augen zu einem verständ nislosen, dumpfen Geradeausstarren. Jullen saß ihr gegenüber und grinste sie an. »Charles...«, schrie Alba auf. »Schnell... Die Puppe ist hier...« Ende
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