Nikolaus Jackob (Hrsg.) Wahlkämpfe in Deutschland
Nikolaus Jackob (Hrsg.)
Wahlkämpfe in Deutschland Fallstudien zur ...
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Nikolaus Jackob (Hrsg.) Wahlkämpfe in Deutschland
Nikolaus Jackob (Hrsg.)
Wahlkämpfe in Deutschland Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912 – 2005
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15161-8
Danksagung
Dieses Such verdankt seine Entstehung einer Lehrveranstaltung mit dem Titel "Wahl-
kampfkommunikation, Fallstudien - national und international, historisch und aktuell" im Sommersemester 2005 am Institut fur Publizistik in Mainz, in deren Rahmen meine Studierenden eine groBe Zahl interessanter Vortrage hielten und mit ihren Diskussionsbeitragen und Hausarbeiten wichtige Denkanstolie gaben. Ihnen mochte ich fur ihr Engagement danken. Danken mochte ich auch allen Autoren, die durch ihren Einsatz maBgeblich zur Realisation des Suches beigetragen haben. Die Zusammenarbeit tiber die lange Zeit von rund eineinhalb Jahren war iiberaus angenehm und fruchtbar. Weiterhin mochte ich dem Archiv fur Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung fur seine Unterstutzung danken: Die Stiftung verzichtete auf die sonst iiblichen Honorarforderungen beim Abdruck yon Bildern und ermoglichte damit, dass dem Buch Illustrationen hinzugefugt werden konnten, ohne dass dabei Kosten entstanden. Ein besonderer Dank gilt schlieBlieh dem Vorstand der Ludwig-Erhard-Stiftung: Dureh die grolszugige Forderung der Stiftung, welche die Druckkosten vollstandig iibemahm , war es· moglich, dieses Buch ohne grofsere KUrzungen und Abstriche zu publizieren. 1m Namen aller Autoren, aber sieher auch im Namen der Leser, mochte ich der Ludwig-Erhard-Stiftung fur ihre vorbildliche und generose Forsehungs- und Publikationsforderung danken.
Mainz, im Dezember 2006
Dr. Nikolaus Jaekob
Inhaltsverzeichnis
Grundlagen
Nikolaus Jackob Wahlkamptkommunikation als VertrauenswerbungEinfuhrung anstelle eines Vorwortes
11
Harald Schoen Ein Wahlkampfist ein Wahlkampfist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung
34
Thomas Roessing Wahlkampf und Wirklichkeit - Veranderungen der gesellschaftlichen Realitat als Herausforderung fur die empirische Wahlforschung
46
Wahlkampfstudien
Thomas Berg Wahlen im Kaiserreich anna 1912 - Wahlkampfim Obrigkeitsstaat
59
Tanja Engelmann Auge urn Auge, Zahn urn Zahn - die Presse im (Wahl)kampf 1932
72
Anette Koch-Wegener Der Bundestagswahlkampf 1949 von COU und SPD im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft
97
Mathias Friedel Die Bundestagswahl 1953
112
Hans-Jiirgen Schroder Wahlkamptbilder: Die Visualisierung von Adenauers Amerikareisen 1953 und 1957 in Propagandafilmen der CDU
137
Isabel Nocker Der Wahlkampffiir Ludwig Erhard 1965
151
Hans Mathias Kepplinger Kommunikationsbarrieren Die Wege zu den Zeitungslesem bei Bundestagswahlen
164
Ilka Ennen Der lange Weg zum Triumph der "Willy-Wahlen"-Wahl: Willy Brandt als Wahlkampfer - 1961-1972
176
Thomas Petersen Helmut Kohls Wahlkampfe
194
Nicole Podschuweit & Stefan Dahlem Das Paradoxon der Wahlwerbung - Wahmehmung und Wirkungen der Parteikampagnen im Bundestagswahlkampf2002
215
Birgit Laube Der Faktor Amerika im Wahlkampf2002
235
Alexander Geisler & Martin Gerster Zentral geplant, lokal gekampft, Der Wahlkampf der SPD zur Bundestagswahl 2005 - Der Wahlkreis 293 Biberach als Fallbeispiel
254
Thomas Bippes 1st der Ehrliche der Dumme? Bundestagswahl 2005 Wahlkampfunter verkehrten Vorzeichen
279
Exkurse
Nikolaus Jackob & Stefan Geift Wahlkampfe in Rom - Ein Beitrag zu einer historischen Wahlkampfkommunikationsforschung
293
Marcus Maurer & Carsten Reinemann TV-Duelie als Instrument der Wahlkamptkommunikation: Mythen und Fakten
317
Tilo Hartmann Blogs im Wahlkampf - Moglichkeiten und Perspektiven
332
Teil 1: Grundlagen
Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung Einfuhrung anstelle eines Vorwortes Von Nikolaus Jackob
I.
Einfiihrung
Wahlkampfe sind ein in periodischen Abstanden wiederkehrendes Ritual der Amter- und Machtverteilung, das einen zentralen Stellenwert in der Demokratie einnimmt.' Wahlkampfe verkorpern den friedlichen politischen Wettbewerb der Parteien und ihrer Kandidaten urn das Vertrauen der Wahler - sie ,,(... ) sind die Hochamter in der politischen Liturgie, darauf angelegt, dass sich die Politik dem Vertrauenstest der Burgerinnen und BUrger stellt." Ziel von Wahlkampfen ist, die Aufmerksamkeit der Wahlberechtigten zu gewinnen, urn Zustimmung fur Partei, Programm und Personen zu werben und ein Maximum an UnterstUtzung zu mobilisieren, urn schlieBlich politische Macht auf Zeit aus den Handen des Souverans zu erhalten.' Ihre klassische Funktion ist zunachst die Mobilisierung der eigenen Anhangerschaft, was vor allem in Zeiten fester Parteibindungen im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts eine uberragende Bedeutung hatte. Heutzutage kommt jedoch angesichts zunehmender Volatilitat im Elektorat" auch der Gewinnung von unentschlossenen Wahlern oder Anhangern anderer politischer Lager eine immer grobere Bedeutung zu.s Doch nicht nur die eigene Anhangerschaft und die Wahlerschaft insgesamt, sondem auch die Medien, Verbande, Organisationen und Institutionen sind als Multiplikatoren und Akteure Zielgruppen von Wahlkamptkommunikation. AuBerdem haben Wahlkampfe den Zweck, die Wahlberechtigten dazu zu motivieren, uberhaupt an Wahlen teilzunehmen nicht zuletzt deshalb kommt dem Wahlkampf auch eine symbolische Funktion zu: Er dient der Legitimation des demokratischen Systems." Hohe Zustimmungsraten fur einzelne politische Akteure verschaffen diesen ebenso eine legitime Basis fur politisches Handeln, wie eine hohe Wahlbeteiligung der Demokratie selbst Legitimation verschafft. Wahlkampfkommunikation, verstanden als Gesamtheit aller zur Wahlwerbung eingesetzten kommunikativen Mittel, hat in Wahlkampfen eine entscheidende Bedeutung: Botschaften, Begriffe, Symbole und Bilder, verbreitet auf dem Wege interpersonaler oder (massen-)medialer Kommunikation, sollen einen Eindruck von Personen und Programmen vermitteln, Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen und VertrauenswUrdigkeit erzeugen. Sowohl Personen als auch Parteien werden im Rahmen kommunikativer MaBnahmen mit positiven Eigenschaften wie Glaubwurdigkeit, Kompetenz, Aufrichtigkeit oder Verlasslichkeit etikettiert, die geeignet sind, zu einem positiven, vertrauenswurdigen Image beizutraVgl. Domer & Vogt 2002a: 7. Sarcinelli 200Sa. Vgl. Domer 2002: 20 f.; DOmer & Vogt 2002b: ]5 f. Man spricht von .Dealignment"; der Begriff beschreibt einen Prozess der Aufweichung traditioneller politischer Bindungen, der zurn Anwachsen der Wechselwahlerschaft fuhrt (Vgl. Holtz-Bacha] 996: 13). Vg1. Schulz 1997: ]95. Vg1. Domer & Vogt 2002b: 16 f~ lung & Roth 1998: 4.
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gen.' Oabei kann man verschiedene Akteure (z.B. Kandidaten, Parteien), Medien (z.B. Flugblatter, Plakate, TV-Spots), Argumentationsstrategien (z.B. Verweise auf die eigene Leistungsbilanz oder Angriffe auf den politisehen Gegner) und Adressaten (z.B. eigene oder gegnerische Anhanger) yon Wahlkamptkommunikation unterscheiden." Je naeh Konstellation finden untersehiedliche Kommunikationsmittel und Botschaften Verwendung. Auch wenn es langst nieht klar ist, welche konkreten MaBnahmen wahlentscheidende Effekte zeitigen und auch wenn es von den sich stetig wandelnden Rahmenbedingungen von Wahlkampfen abhangt", welches Instrument yon Wahlkamptkommunikation am Besten geeignet ist, die Wahler zu uberzeugen - es ist unzweifelhaft, dass Wahlkamptkommunikation notwendig ist, will man einen Wahlkampf fur sich entscheiden. 10 Das vorliegende Buch hat die Wahlkamptkommunikation in Deutschland in den letzten rund 100 Jahren zum Gegenstand. Der Zeitraum erstreckt sich nicht exakt tiber 100 Jahre, weil der Wahlkampf 1912 als Ausgangspunkt gewahlt wurde - der dreizehnte und letzte Reichstagswahlkampf im Kaiserreich. Dieser Wahlkampf wurde deshalb ausgewahlt, weil er im Zeichen von Veranderungen, Umbruchen und Wandlungsprozessen stand, weil er der SPD, die spater in Weimar zu einer der pragenden Krafte wurde, einen Erdrutschsieg bescherte, und weil er mit seinem finalen Charakter auch dem zweiten in diesem Buch analysierten Wahlkampf ahnelt: Oem Wahlkampf von 1932, der ebenfalls einen Wendepunkt markierte. Auf diesen Auftakt folgen Studien zu interessanten Wahlkampfen in der Bundesrepublik Deutschland: der Wahlkampf 1949, der erste Bundestagswahlkampf uberhaupt, die Wahlkampfe 1953 und 1965, die wie der 194ger Wahlkampf sehr im Zeichen der Wirtschafts- und AuBenpolitik standen, Willy-Brandts Wahlkampfe, vor allern 1969 und 1972, Helmut Kohls Wahlkampfe yon 1976 bis 1998 und die Wahlkampfe 2002 und 2005, die beide mit jeweils extrem engen Wahlergebnissen endeten. Das Buch spannt einen historischen Bogen tiber ein Jahrhundert und drei verschiedene politisehe Systeme hinweg. 1m Mittelpunkt stehen (historische) Fallstudien, die jeweils einzelne Wahlkampfe, ihre Akteurs- und Themenkonstellationen und die Methoden der Wahlkamptkommunikation zum Gegenstand haben. Damit unterscheidet sich das Buch vom GroBteil der Wahlkampfliteratur: Wahrend die meisten Wahlkampfstudien beim Wahlergebnis ansetzen und nach den Ursachen fragen, mithin also "Output"-orientiert sind, setzen die Studien in diesem Band in ihrer Mehrzahl fruher an - bei der Konzeption der Wahlkampfe bzw. der Wahlkarnptkommunikation, also beim ,,Input". So standen z.B. Wirkungen von Wahlkamptkommunikation vielfach im Mittelpunkt der Forschung, die Forschung zur Wahlkampffiihrung ist jedoch wie Harald Schoen in seinem Beitrag argumentiert - bislang kaum den Kinderschuhen entwachsen. Typischen Forschungsfragen in diesem Kontext lauten: Welche Uberlegungen sind bei der Konzeption yon Wahlkampfen von Bedeutung? Welche Akteure spielen eine Rolle in der Wahlkampfkommunikation und welche Chancen haben sie im Wahlkampf gehort zu werden und Einfluss zu nehrnen? Dabei ist es auch Ziel dieses Buches, hinter die Kulissen der Politik zu schauen, urn Motive und Wahrnehmungen der politischen Akteure zu analysieren. Ein Sehwerpunkt liegt folglich auf (historischen) Studien mit akteurszentrierter Perspektive.
10
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
dazu Kapitel II dieses Beitrages. dazu den Beitrag von Harald Schoen in diesem Buch. dazu den Beitrag von Thomas Roessing in diesem Buch. Hetterich 2000: 404; Holbrook 1996: 17 f.
Zwischen die inhaltlich umfassenderen Fallstudien zu einzelnen Wahlkampfen sind auch Studien eingestreut, die auf einzelne Ausschnitte fokussieren, Schwerpunkte in bestimmten Forschungsgebieten wie der Umfrage- oder der Wirkungsforschung haben, oder sich auf bestimmte Akteure wie z.B. die Presse oder einzelne Kandidaten konzentrieren. Den Wahlkampfstudien vorangestellt sind Beitrage, die allgemeiner auf die Rahmenbedingungen, Mittel und Methoden der Wahlkampfkommunikation sowie auf einzelne Problemstellungen der Wahlkampfforschung eingehen. Sie bieten Systematisierungen, Klarungen und Kontextualisierungen an, die in den einzelnen Beitragen aufgrund der Schwerpunktsetzung fehlen mussen, Am Ende des Buches stehen drei Exkurse - ein historischer Exkurs in eine andere weltgeschichtliche Epoche (die romische Republik), urn den Band urn eine geschichtliche Vergleichs- und Tiefenperspektive zu erwe item , ein gegenwartsbezogener und in Teilen forschungskritischer Exkurs, der am Beispiel einer bestimmten Form von Wahlkampfkommunikation (den TV-Duellen) wichtige Fragestellungen der Wahlkampfkommunikationsforschung diskutiert, und schlieBlich ein in die Zukunft gerichteter Exkurs, der sich mit den Potentialen neuer Kommunikationsformen (den Weblogs) fur die Wahlkampfkommunikation beschaftigt. Zweifellos gibt es mittlerweile einen regelrechten Berg von Literatur uber Wahlen, Wahlkampfe und Wahlkampfkommunikation. Und in der Tat verdi enen auch andere Phasen des politischen Geschehens - Normalphasen zwischen Wahlkampfen - Aufmerksamkeit, nicht nur Ausnahmephasen wie Wahlkampfe.!' Doch es entstehen an deutschen Universitaten unentwegt interessante Forschungsarbeiten zur Wahlkampfkommunikation, seien es z.B. Magisterarbeiten oder Promotionen, die bestimmte Ausschnitte beleuchten, die bisher nicht in vergleichbarer Weise Gegenstand von Analysen waren, Quellen neu erschlieBen oder in der Forschung eher vernachlassigten Epochen bzw. Wahlkampfen gewidmet sind. Und es kommen unentwegt Studien hinzu, die neue Wahlkampfe behandeln. Das vorliegende Buch enthalt solche Studien zu alteren und jtmgeren Wahlkampfen, die unter anderem am Mainzer Institut fur Publizistik entstanden sind und bisher nicht in vergleichbarer Weise der Offentlichkeit zuganglich gemacht wurden. Dazu zahlen auch preisgekronte Magisterarbeiten oder Archivfunde, die noch nach Jahren durch ihren Erkenntnisreichtum i.iberzeugen. Erganzt werden diese Arbeiten durch Beitrage von Forschern aus anderen Universitaten, Institutionen und Kontexten, von Experten fur verschiedene Fachgebiete, von Historikem, Demoskopen oder Politologen. Durch diese Mischung versteht sich das Buch einerseits als ein weiterer, kommunikations- und forschungshistorischer Beitrag zur Wahlkampfforschung, andererseits aber angesichts des weiten historischen und thematischen Bogens auch als ein Uberblickswerk. Der vorliegende Beitrag des Herausgebers ist als Einfuhrung konzipiert, welche die Themen des Buchs kurz vorstellt. Die Einfiihrung in das Buch ist nicht, wie zumeist ublich, eine i.iberblicksartige und zusammenfassende Beschreibung der einzelnen Beitrage. Vielmehr werden die verschiedenen Beitrage vor dem Hintergrund eines Schlusselbegriffs fUr die. Kommunikations- und Wahlkampfforschung prasentiert - dem Begriff des Vertrauens. Wie bereits erwahnt, sind Wahlkampfe auch Vertrauenstests, Wahlkampfkommunikation stel1t auch Vertrauenswerbung dar: Die Wahler sprechen einem Kandidaten oder einer Partei das Vertrauen aus und beauftragen auf diese Weise eine Regierung, an ihrer Stelle politische Entscheidungen uber einen vorher definierten Zeitraum treffen zu durfen, Sie II
Vgl. Sarcinelli 2005b: 23; 197.
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geben einen Vertrauensvorschuss, moglicherweise auch deshalb, wei! die zuvor im Wahlkampf getatigten KommunikationsmaBnahmen sie von der Vertrauenswtirdigkeit der jeweiligen Personen oder Parteien uberzeugt haben. Doch nicht nur im Wahlkampf, im gesamten politischen Prozess der Demokratie spielt Vertrauen eine zentrale Rolle - mehr noch: Vertrauen ist ein Schlusselphanomen fur die menschliche Gesellschaft. Daher stehen in den folgenden Passagen zunachst einige Erlauterungen zur Rolle des Vertrauens in Gesellschaft, Politik und Wahlkampf im Mittelpunkt. AnschlieBend werden die Beitrage des Buches unter dem angestimmten Leitmotiv - Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung - kurz vorgestellt und einige wichtige Aspekte des Phanomens Vertrauen im Kontext von Wahlkampfen am Beispiel der im Buch enthaltenen Aufsatze diskutiert.
II. Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung - Hinfiihrung Vertrauen ist die Basis sozialer Beziehungen' - ohne Vertrauen ware jede menschliche Gesellschaft, auch und gerade die moderne mit ihrem hohen Grad an Arbeitsteiligkeit, Kornplexitat, Professionalisierung und Spezialisierung unrnoglich, Dies gilt ebenso fur das Expertensystem der Politik, in der sowohl ein gewisses MaB an politischem Sachwissen als auch an Politikmanagements- und Politikvermittlungskenntnissen und -fahigkeiten notwendig ist: Der einzelne BUrger verfugt in der Regel nicht Uber das Wissen und die Kenntnisse, die notig sind, komplexe politische Prozesse in ihrer Gesamtheit zu durchschauen und zu verstehen, geschweige denn, diese selbst verantwortlich zu gestalten. Indem der BUrger die Politik als .Vertrauenssache?" begreift, delegiert er und reduziert fur sich die Komplexitat der Politik auf ein vertretbares MaB - Niklas Luhmann definiert Vertrauen entsprechend als einen "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexitat"." Vertrauen vereinfacht Entscheidungssituationen und ermoglicht Handlungsfreiheit. Und mit der Komplexitat einer Gesellschaft bzw. eines Systems wachst die Notwendigkeit des Vertrauens." Vertrauen kann als eine Ressource begriffen werden 16 - durch Vertrauen werden andere Ressourcen wie Wissen oder Konnen, aber auch Zeit und Geld substituiert. Indem der BUrgerdie Politik den Politikern anvertraut, hat er mehr (andere) Ressourcen fur die fur ibn wesentlichen Dinge des Lebens zur Verfugung. Infolge einer Vertrauenshandlung tritt der Vertrauende Kompetenz ab, entbindet sich von der Notwendigkeit der eingehenderen Beschaftigung mit einem Thema und ersetzt eigenes Wissen und Konnen durch das Wissen und Konnen anderer. Vertrauen ist ein Wissenssurrogat: Wer sich beispielsweise einem Arzt anvertraut, der ja in der Regel einen Wissensvorsprung vor seinem Patienten hat (competence gap "), der erhofft sich Heilung, auch wenn er nicht die medizinischen Kenntnisse hat, die es ihm ermoglichten, die Richtigkeit von Diagnose und Therapie zu beurteilen. IS Wollte er dies, musste er sich diese Kenntnisse selbst aneignen. Andernfalls muss er weiter leiden oder sich auf den Arzt verlassen, auch wenn Zweifel existieren. So ist es auch in der Politik: Der Wahler wird kaum alle Konsequenzen seiner Vertrauenshandlung 12
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Vgl. Dembach & Meyer 2005: 15; vgl. auch Offe 2001. Vgl. Bentele 1998: 310. Vgl. Luhmann 1989. Es gibt jedoch noch eine Fulle anderer Ansatze zur Definition von Vertrauen, die sich nach ihrer wissenschaftlichen Herkunft unterscheiden (z.B. Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Philosophie ... ) (Vgl. Petermann 1996: 9; Laucken 2005: 95). Vgl. Lubbe 1993. Vgl. Offe 2001: 242ff. Lewis & Weigert 1985: 981. Vgl. Shapiro 1987: 629; vgl. auch Apel 2005: 282.
voraussehen konnen, dennoch lasst er sich politisch von anderen vertreten, indem er ihnen sein Vertrauen schenkt und seine Reprasentanten damit beauftragt, fUr ibn die Entscheidungen zu treffen. Damit ist eine Vertrauenshandlung eine optimistische, hoffnungsgeleitete Handlung, die meist vorangegangene Erfahrungen und Wissen als Urteilsheuristiken inkludiert und zukunftsgerichtet ist, d.h. mit einer Erwartungshaltung verbunden ist. 19 Georg Simmel schreibt: .Vertrauen, als die Hypothese kunftigen Verhaltens, die sicher genug ist, urn praktisches Handeln darauf zu grunden, ist als Hypothese ein rnittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen urn den Menschen. Der vollig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der vollig Nichtwissende kann vernunftigerweise nicht einmal vertrauen.v'" Vertrauenshandlungen sind - so erstaunlich sie bei genauerem Hinsehen erscheinen mogen - im menschlichen Leben alltaglich und vielfach routinisiert. Menschen machen sich tiber die einzelnen Situationen, in denen sie im Alltag anderen Menschen (z.B. dem Backer, dem Lokaljoumalisten), ihren Produkten und Dienstleistungen (z.B. dem Brot, der Tageszeitung) vertrauen, nicht unentwegt detailliert Gedanken: Oft sind Vertrauenshandlungen intuitiv, Auspragungen eines "affektiven Orientierungsmodus"." Nicht immer liegen ihnen rationale Prozesse und kognitive Abwagungen zugrunde, die ja die Vertrauensentscheidung komplizieren und damit - entgegen ihrem eigentlichen Sinn - aufwandiger, ressourcenintensiver werden lassen warden. Vielrnehr handelt es sich oft urn wenig reflektierte Entscheidungerr", Menschen verweisen auf ihr .Bauchgefuhl", Vertrauen wird geschenkt, ohne dass (im Sinne wissenschaftlich-rationaler Argumentation) erklart werden konnte, warum vertraut wird." Misstrauen und Skepsis hingegen sind als Grundhaltung zunachst nicht Normalzustand, sondern Produkt von Lern- bzw. Sozialisationsprozessen sowie Kennzeichen von bestimmten Systemen mit eigenen Regeln, wie es in der Wissenschaft der Fall ist. Der Normalzustand ist Vertrauen: "Wir bewohnen das Klima des Vertrauens, so wie wir in der Atmosphare leben; wir nehmen es wahr wie die Luft, namlich erst dann, wenn es knapp wird oder verschmutzt ist. ,,24 Dabei ist Vertrauen stets mit Risiko verbunden, es kann auch enttauscht werden. Ein Vertrauensgeber begibt sich mehr oder minder freiwillig in die Hande eines Vertrauensnehmers, er gibt die Kontrolle tiber einen bestimmten Bereich seines Lebens an andere Menschen ab und steigert so seine eigene Verwundbarkeit." Urn das Risiko verletzt oder enttauscht zu werden einigermaBen in den Griff zu bekommen, versuchen Vertrauensgeber normalerweise, sich tiber den Vertrauensnehmer zu informieren, gegebenenfalls auch mit der Folge hoherer Kosten (fur den Vertrauensgeber)." Ubertragen auf die Politik bzw. den Wahlkampf bedeutet dies, dass sich die BUrger bzw. die Wahler ein Bild von ihren Reprasentanten zu machen versuchen, Medienberichte rezipieren, die Selbstdarstellung der Kandidaten und Parteien, z.B. ihre Programme, Internetauftritte oder ihr Wahlkampfrnaterial heranziehen, urn sich ihre Entscheidung zu erleichtem. Der Vertrauensgeber versucht so, seine Urteilsbasis zu verbreitern, urn sein Vertrauen rechtfertigen zu konnen. Vertrauen wird auch auf Basis von Eindrucken vergeben, die man vom Vertrauensnehmer hat - sei es
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Vg1. Luhmann 1989: 9~ 17~ 22~ Offe 2001: 262ff. Simmel 1968: 263. Dederichs 1997: 69-75. Vgl. Rabinowitz 1992; Lewis & Weigert 1985: 976; Lewicki, McAllister & Bies 1998: 440~ 444. VgI. z.B. fur die Wahlentscheidung Kepplinger & Maurer 2005. Baier 2001: 42. Vgl. Petermann 1996: 75f. V gl. Lahno 2002: 111ff.
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sichere Information oder der oberflachliche Eindruck. Erscheint ein Kandidat oder eine Partei beispielsweise in Medienberichten oder in Selbstdarstellungen kompetent, zuverlassig und integer, wird eher vertraut." Auch positive Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart konnen zum Entstehen von Vertrauen beitragen." Betrachtet man das politische System in toto bedeutet dies: Werden die AnsprUche der BUrger (Input in das politische System) von der Politik in Form von MaBnahmen, Gesetzen etc. (Output der Politik) erfullt, machen sie also die Erfahrung, dass die Politik gut fur sie ist, steigert dies die Bereitschaft, 29 die Politik zu unterstutzen, an Wahlen teilzunehmen und ihr Legitimitat zu verleihen. Wird Vertrauen hingegen enttauscht, entsteht eine Vertrauenskrise, moglicherweise ein Vertrauensverlust." Im Bereich der Politik kann es dazu kommen, dass Personen, Institutionen, Organisationen, Prozessen oder sogar dem gesamten System das Vertrauen entzogen wird. Entstehendes Misstrauen manifestiert sich in liberalen Staaten mit Reprasentativverfassungen z.B. in Andenmgen des Wahlverhaltens: Die Wahler geben den Politikem und Parteien keinen Vertrauenskredit mehr, sie ubertragen ihren Vertrauensvorschuss auf andere Personen oder Parteien und bestellen eine andere Regierung als .Treuhanderin des Volkes"." Die Wahlen haben dabei die Funktion, den Vertrauenskredit zu verlangern oder zu entziehen." Der Wahlkampf wiederum hat seinerseits die Funktion, das Vertrauen des Elektorats, d.h. einen moglichst groBen Vertrauensvorschuss fur die nachsten Jahre, einzuwerben. Die Teilnahme an einer Wahl setzt also auch voraus, dass man zumindest einige der zur Wahl stehenden Personen bzw. Parteien des Vertrauens fur wurdig befindet. Vertrauensverluste, die sich auf Wahlaltemativen beziehen und zur Anderung von Wahlhandlungen fuhren, sind in Demokratien normal, ein Regelzustand - sie sind ein Wesenszug des demokratischen Prozesses. Werden hingegen Politiker, Parteien oder die Politik generell (pauschal) fur nicht vertrauenswurdig gehalten, wird oft der Begriff der Politikverdrossenheit ins Spiel gebracht: Entstehendes Misstrauen manifestiert sich nicht nur in bestimmten Mustern der Wahlhandlung, sondern auch in politischer Entfremdung, in Politik- und Wahlabstinenz. Wahlverweigerung ist daher auch ein Indikator fur Vertrauensverluste und Politikverdrossenheit. 33 Dieser oft schlagwortartig gebrauchte .Jvlodebegriff" umschreibt eine Krise des Institutionen- und Systemvertrauens" infolge von Vertrauensverlusten, die ihrerseits viele Ursachen haben konnen - dazu spater mehr." Die GrUnde fur Vertrauensverluste sind vielschichtig, jedoch liegen - wie die verschiedenen Beitrage dieses Buches zeigen - auch Indizien dafur vor, dass die Kommunikationsaktivitaten von Politikem selbst Einfluss auf das Vertrauen der BUrger haben: Kommunikationsmanagement muss, nicht nur in Zeiten des Wahlkampfs, auf die Verrnittlung von Ein27 28 29
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Vgl. die Ausfuhrungenam Ende von Kapitel II dieses Beitrages; Laucken 2005: 108f. Vgl. Bentele 1998. Zum Input-Output-Modell vgl. Easton 1953. Ein Beispiel fur diesen Vertrauensbildungsprozess lasst sich in der fruhen BundesrepubJik nachzeiehnen: Das Vertrauen in die Regierung Adenauer, aber auch in die Politik generell, in die Wirtsehaft, in demokratische Institutionen, in die Demokratie selbst sowie in die Mitburger wuchs in dem MaBe, in dem sich spurbare Erfolge einstellten (Vgl. dazu Abschnitt III dieses Beitrages und die Beitrage dieses Buches zu den Wahlkampfen der 1940er, 1950erund 1960erJahre). Vgl. z.B. Bentele 1988: 407; Tenscher 1998:205. Sarcinelli 2005a. Vgl. Sarcinelli 2005a; Maurer 2003: 237. Vgl. Wolling 1999: 11. Der Begriff Politikverdrossenheit meint meistens einen Vertrauensverlust gegenuber Personen, Eliten, Parteien, Institutionen und Prozessen- nieht unbedingtgegenuberdem demokratisehen System als solehem (Vgl. Kepplinger 1998). Vgl. Sarcinelli 2005a. Vgl. z.B. Kepplinger 1998; Maier 2000; Arzheimer2002; Maurer 2003.
drucken moralischer Integritat und Problemlosungskompetenz abzielen, die eigene Selbstdarstellung sowohl im Hinblick auf Personen als auch auf politische Leistungen und Erfolge bzw. Ziele und Programme im Blick haben, Responsivitat demonstrieren, die Bedurfnisse unterschiedlicher Zielgruppen beachten. AuBerdem gehoren vielfach auch Angriffe auf die Vertrauenswurdigkeit der politischen Gegner zum Portfolio der Wahlkamptkommunikation (Negative Campaigning). Zur Wahlkamptkommunikation gehort nicht nur der Aufbau eigener Vertrauenswurdigkeit, sondern auch die Unterminierung der gegnerischen. Die Moglichkeiten sind vielfaltig, meist handelt es sich urn Angriffe auf das Verhalten, den Charakter oder die Herkunft eines Gegners. Solche Angriffe sind so alt wie die Politik selbst", haben aber dureh die Existenz der modernen Massenmedien potentiell an Wirksamkeit und Reichweite zugenommen. Mehr Menschen als je zuvor konnen sich tiber das (vermeintliche) Fehlverhalten ihrer politischen Eliten via TV, Radio, Presse und Internet in Kenntnis setzen - und viele Medien sind auf skandaltrachtige, uberraschende Negativnaehrichten mit hohem Naehrichtenwert geradezu konditioniert. Zwar sind solche Versuehe, das offentliche Vertrauen in den politischen Gegner zu erschuttern, nieht in allen Situationen sinnvoll und erfolgversprechend, dennoch gehort der Angriff auf die Kompetenz, den Charakter, die Integritat oder die Hintergrunde von Gegnem zum klassischen Inventar der Wah lkamptkommunikation. 37 Neben der direkten Wahlkamptkommunikation kommt auch den Vermittlem der politisehen Kommunikation, den Medien, eine bedeutende Rolle zu - in allen Phasen des politischen Prozesses, auch und gerade im Wah lkamp f. Denn die Medien sind fur die allermeisten Menschen die einzigen Quellen der Politikbeobaehtung und tragen entscheidend zu dem Bild bei, das die Politik in den Augen der Wahler abgibt. Nur in wenigen Situationen erreicht die Selbstdarstellung der Politik die Menschen ungefiltert, ohne Umwege tiber Journalisten. Die Medien halten die wichtigsten Kommunikationskanale vor, sie allein konnen in grolserem Umfang Massenpublika erreichen, sieht man von wenigen anderen Mitteln wie der Plakatwerbung abo Dabei sind sie nieht einfaeh passive Vermittler, sondem oft auch Akteure der politischen Kommunikation. So kann der Vertrauensverlust gegenuber der Politik einerseits Folge von schIeehten Leistungsbilanzen, FehIem oder Affaren in der Politik sein, andererseits aber aueh der Berichterstattung der Medien uber die Politik. Burger entziehen Vertrauen, weil sie unzufrieden sind - und Grund fur die Unzufriedenheit konnen tatsachliche oder vermeintliche, von den Medien inszenierte oder ubertriebene Missstande sein." Generell berichten die Medien zunehmend negativer tiber Politik und Politiker und tragen damit aueh ihren Teil zu einem Klima der Unzufriedenheit, des Pessimismus und des Misstrauens bei." Der verstorbene Bundesprasident Johannes Rau merkte in diesem Kontext in seiner Berliner Rede im Jahr 2004 an: .Vieles in unserer Gesellschaft, vieles in Politik und Wirtschaft gibt wahrlich Anlass zu Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Fehlern und Mangeln kann das Vertrauen starken, Es gibt aber auch in den Medien eine fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Ubertreibung. Diese Lust fordert die Entfremdung der Burger von Politik und Staat.?"
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Vgl. z.B. Jackob 2002; 2005; vgl. auch den Beitrag von Jackob & GeiBin diesem Buch. VgJ. Plasser 1996: 97; Althaus 2002: 121-122. VgJ. Wolling 1999: 42f.; Kepplinger 1998. Vgl. Kepplinger 1998. VgI. Rau 2004.
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Gerade in modemen Massendemokratien wie der Bundesrepublik Deutschland, wo der direkte Kontakt zwischen Burgern und Parteien bzw. Kandidaten immer mehr an Bedeutung verloren hat, sind die Medien das Forum, in dem sich der Wahlkampf abspielt. Sie fungieren als Vermittler zwischen den Wahlberechtigten und der Politik - jedoch auch als Auguren, Interpretatoren oder sogar als Wahlkampfer, Durch ihre Omniprasenz, ihre Reichweite und ihre Moglichkeiten zur Darstellung von Politik haben die Medien nicht nur auf die Wahler einen entscheidenden Einfluss, sondem auch auf die Wahlkampfer, auf die Konzeption und das gesamte Management von Wahlkampfen." Die zentrale Rolle der Medien zwingt die politischen Akteure, diese immer starker in ihrem Handeln und ihrer Kommunikation einzuberechnen - die Politik orientiert sich an der Eigenlogik der Massenmedien.Y Waren fruher direkte Kommunikationsmittel wie Hausbesuche, Wahlstande, Flugzettel oder Bus- und Bahnreisen neb en offentlichen Wahlkampfauftritten die wichtigsten Methoden der Wahlwerbung, kommen in der Mediendemokratie auf die Medien zugeschnittene, neuere Methoden hinzu, wie z.B. Interviews mit Joumalisten, Home-Stories und Show-Auftritte in Unterhaltungsmedien (Stichwort Boulevardisierung)", Pressemitteilungen und -konferenzen, Diskussionsrunden und Debatten im Femsehen. Die Wahlkampfer passen ihre Kommunikationsaktivitaten an die Medien an - insbesondere an das Femsehen mit seinem Reichweitenvorteil, seinem visuellen Charakter und seinem authentischen und aktuellen Image." Stil und Formensprache des Wahlkampfes werden infolge dieser Orientierung besonders durch Visualisierung und Ernotionalisierung gepragt." In diesern Kontext spielt auch die Personalisierung von Politik eine entscheidende Rolle. Vertrauen geht zunachst nur von Personen aus, nicht von Systemen'" - urn eine Reziprozitat zwischen Vertrauensgeber und -nehmer herstellen zu konnen, versucht die Politik (z.B. Parteien oder Institutionen), Bezugspersonen aufzubauen, die als Anker fur Personalisierung fungieren konnen. Begunstigt und katalysiert wird dieses Vorgehen heute durch die Funktionsweise des Femsehens: Femsehen lebt von Visualisierung und Personen lassen sich besser visualisieren als Themen, Ideen oder Parteien.Y Durch Personalisierung reduzieren sowohl die Wahlkampfer, als auch die Medien und die Wahler die Kornplexitat von Politik." Zugleich wird mit einer Person und ihrem Image auch ein plastischeres Vertrauensobjekt zur Verfugung gestellt. Komplexitatsreduktion durch Personalisierung und Vertrauensbeziehungen entspricht dabei gleichermahen den Bedurfnissen der jeweiligen Beteiligten. Dabei ist von einem Geflecht von Wechselwirkungen zwischen politischen Akteuren, Medien und Rezipienten auszugehen, deren Erwartungen und Handlungsbedingungen auf den jeweils anderen Teil der Politikvermittlungskette zuruckwirken konnen, Die Medien haben bei der Entstehung von Vertrauen und Misstrauen innerhalb dieses Getlechts eine Schlusselrolle, Nicht zuletzt deswegen zielt Wahlkampfkommunikation heute nicht nur auf die Beeinflussung der Wahlerschaft, sondem auch auf die Beeinflussung von Journalisten ab - darauf, auch das Vertrauen der einflussreichen Medienmacher zu gewinnen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigen empirische Befunde aus der Glaubwurdigkeitsfor-
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Vgl. DOmer& Vogt 2002b: 16; Holtz-Bacha 2002: 23. Vgl. Kepplinger 1998; Sarcinelli 2005b: 35. Vgl. Holtz-Bacha 1996: 38; Plasser 1996: 97. Vgl. Sarcinelli 1998: 288. Vgl. Moller 1999: 40. Vgl. Lewis & Weigert 1985: 975; Schweer 2003: 324; Schweer & Thies 2005: 50-55. Vgl. Holtz-Bacha 1996: 21. Vgl. Holtz-Bacha 2000: 183.
schung: Das Vertrauen der Burger in die Politik hangt u.a. davon ab, welche Medien genutzt werden, wie die Medien tiber Politik beriehten und wie glaubwurdig die Rezipienten die Darstellung der von ihnen genutzten Medien finden." Das Thema Vertrauen ist weit vielsehiehtiger als es hier im Rahmen einer kurzen Einfuhrung dargestellt werden kann - jedoch ist fur die Wahlkampfkommunikation noch eine weitere Perspektive von Bedeutung, die kurz angesprochen werden muss: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte Eigenschaften von Kommunikationsquellen (z.B. Politikem oder Parteien) dazu beitragen konnen, dass diese als glaub- bzw. vertrauenswurdig eingeschatzt werden und ihnen entsprechend Glauben geschenkt bzw. vertraut wird. Beide Begriffe, Glaubwurdigkeit und Vertrauen, werden in der Forschung oft in einern Atemzug genannt, eine Abgrenzung ist schwierig und an dieser Stelle nieht notwendig.i" Ob einer Partei oder einem Kandidaten vertraut wird, hangt davon ab, ob ihm Eigenschaften zugeschrieben werden konnen, die einen entsprechenden Eindruck von Vertrauenswurdigkeit begrunden konnen - es handelt sich also urn einen Attributionsprozess. Dieses Prinzip liegt dem sogenannten Quellen- oder Faktorenmodell zugrunde, das in der Kommunikationsforschung eine groBe Rolle spielt und ungeachtet verschiedener wichtiger Kritikpunkte, die einzelne Annahmen des Modells in Frage stellen", hier kurz expliziert werden muss. Bereits der griechische Philosoph und Rhetoriklehrer Aristoteles legte im vierten Jahrhundert vor Christus dar, dass es fur die Entstehung von Vertrauens- bzw. Glaubwurdigkeit einer Kommunikationsquelle von entseheidender Bedeutung ist, dass die Rezipienten dieser QueUe einen Eindruck von Weisheit, Tugend und Wohlwollen erhalren? Gelingt es demzufolge z.B. einem Politiker, den Eindruek zu vermitteln, er sei einerseits politisch fahig, andererseits moralisch integer und gelingt es ihm zugleich, ein sympathetisches Verhaltnis zwischen ihm und seinen Rezipienten zu etablieren, so wird ihm eher Vertrauen entgegengebracht. 1m 20. Jahrhundert wurde dieser Gedanke von Persuasionsforschern wie der Yale-Forschungsgruppe urn Carl 1. Hovland aufgenommen: In Experimenten wurde gezeigt, dass die Uberzeugungskraft von Botschaften auch von den Eindrucken abhangt, die die Rezipienten von den Qualifikationen, Fahigkeiten und Leistungen einer Quelle erhalten, sowie von Eindrucken von Lauterkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Hovland und Kollegen stellten die Faktoren (wahrgenommene) Expertise und Vertrauenswurdigkeit als wichtige Einflussgrofsen heraus." Spatere Beitrage zu dieser Forschungstradition versuchten, weitere Faktoren zu identifizieren, die geeignet sind, einen vertrauenswurdigen Eindruek entstehen zu lassen: So wurde bisweilen argumentiert, dass Ahnlichkeit die Oberzeugungskraft von Personen und Botschaften steigern kann." Ebenso wie Vertrauen ein Merkmal ist, das die Beziehung zwischen Kommunikationsquelle und -rezipient charakterisiert, so ist auch Ahnlichkeit ein solches Merkmal: Es ist wahrscheinlich, dass einem Politiker, der hinsichtlich seiner Werthaltung und/oder seines sozialen Status bzw. seiner Gruppenzugehorigkeit als ahnlich wahrgenommen wird, eher Vertrauen geschenkt wird." Auch Attraktivitat und Dynamik 49
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Vgl. Wolling 1999; Maurer 2003. Vgl. Bentele 1988. Glaubwurdigkeit kann als Teilphanomen von Vertrauen begriffen werden: Vertrauen bezieht sich auf die Beziehung zwischen Bevolkerung und Politiker, Glaubwurdigkeit ist eine Eigenschaft der Politiker, die von den Wahlern zugeschrieben wird (Vgl. Bentele 1998: 305). Vgl. z.B. Kohring 2004. Vgl. Jackob 2007 [im Druck]. Vgl. Hovland & Weiss 1951; Hovland & Mandell 1952; Hovland, Janis & Kelley 1953. Vgl. Wirth 1999; Perloff 2003. Vgl. Perloff 2003: 169f.
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wurden bisweilen als Einffussgrofsen genannt: Attraktiven Kommunikatoren und solchen mit gutem Auftreten wird in bestimmten Situationen eher vertraut als anderen." GUnter Bentele nennt andere, mit den genannten verwandte, und noch weitere Faktoren, die ausschlaggebend fUr die Attribution von VertrauenswUrdigkeit sein konnen: neben Sachkompetenz und Problemlosungsfahigkeit u.a. auch Kommunikationsadaquatheit, kommunikative Konsistenz und Transparenz.Y Es ist nicht moglich und auch nicht notig, an dieser Stelle noch ausfuhrlicher auf die verschiedenen Eigenschaften einzugehen, denen nachgesagt wird, dass sie Vertrauen einflolien konnen und auch die Kritik an diesem Ansatz muss hier auBen vor bleiben. FUr die folgenden Ausfuhrungen sind die einzelnen Begriffe jedoch wichtig, sie werden bei der Betrachtung der in diesem Buch analysierten Wahlkampfe immer wieder auftauchen.
III. WahlkamptKommunikation als Vertrauenswerbung: Die Beitrage dieses Buches Bevor die Reihe der Wahlkampf-Studien dieses Buches beginnt, wird in den beiden einfuhrenden Beitragen von Harald Schoen und Thomas Roessing der Grundstein fur die folgenden Analysen gelegt. Beide Autoren gehen auf die Rahmenbedingungen von Wahlkampfen, die zentralen Eintlussfaktoren und Akteure ein und zeigen, dass sich die Wahlkampfe je nach dem unterscheiden, in welches gesellschaftliche Klima sie eingebettet sind, welche Akteurskonstellationen vorherrschen, welche Strategien, Instrumente, Medien und Adressaten von Wahlkampfkommunikation in Frage kommen bzw. verftigbar sind. Durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die von der historischen Epoche, von Gesellschaft und Kultur, von den institutionellen und prozeduralen Vorgaben des politischen, rechtlichen und medialen Systems determiniert werden, sind die Bedingungen fur den Ablauf eines Wahlkampfes und die kausalen Vertlechtungen von Gesellschaft, Politik, Kandidaten, Medien, Wahlern und Wahlausgang von Mal zu Mal verschieden. In beiden Beitragen wird mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und Herangehensweisen gezeigt, welche Faktoren bei der Analyse von Wahlkamptkommunikation und Wahlkampfgeschehen zu berucksichtigen sind. Die Autoren bieten einen Uberblick tiber die im Wahlkampf wirkenden Mechanismen, stellen grundlegende Forschungsperspektiven, Ansatze und Probleme der Wahlkampfforschung vor und bereiten durch die Strukturierung der Materie und die Sensibilisierung fur wichtige Fragen auf die Reihe der Wahlkampfstudien vor, die im Anschluss - angefiihrt von der Analyse des letzten Wahlkampfs im Kaiserreich - folgen. 1m Jahr 1912 fanden zum letzten Mal vor dem ersten Weltkrieg Wahlen zum Reichstag statt. Eine Vielzahl von Parteien stellte sich dabei zur Wahl. Die Wahlkampfe dieser Zeit, aueh der von 1912, waren gekennzeichnet von heftigen ideologischen Auseinandersetzungen und einer groben Mobilisierung der Wahlerschaft - die Wahlbeteiligung stieg von 50 Prozent der wahlberechtigten Bevolkerung zu Beginn des Reiches auf tiber 80 Prozent 1912. Zwar war das Kaiserreich keine Demokratie sondem eine Monarchie mit einer gewahlten Volksvertretung, doch spielten Wahlkampfe eine groBe Rolle: ,,(... ) Offentlichkeit besaB plebiszitar, legitimatorisch, unterstutzend oder zur Mobilisierung von Widerstand groBes Gewicht ( ... )".58 In der ersten Wahlkampfanalyse dieses Buches arbeitet Thomas Berg heraus, dass Wahlkamptkommunikation sich einer groBen Anzahl unterschiedlicher 56 57
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Vgl. Perloff 2003: 170ff. Vgl. Bentele ] 998: 308. Stober 2000: 281.
Vermittlungskanale bediente - auch der Massenmedien, genauer: der Presse. Diese hatte im Kaiserreich eine "Phase sturmischer Modemisierung'r" durchgemacht und ihre Auflage und Reichweite dramatisch vergrolsert, Der Autor zeigtjedoch, dass die Wahlkampffuhrung damals verglichen mit heute bei weitem nicht so stark auf die zeitgenossischen Massenmedien abgestellt war, die Schwerpunkte in der politischen Werbung lagen zunachst auf Plakaten und auf Wahlkampfversammlungen sowie auf Wahlaufrufen bzw. Programmen. Wahlkampfe im Kaiserreich wurden von Honoratioren- und spater auch Massenparteien gefuhrt, die Schutzenhilfe oder Gegenfeuer von Vereinen und Verbanden sowie einer Parteienpresse erhielt, wie man sie heute nicht mehr kennt, Da das politische System und die politische Entwicklung des Kaiserreiches verhinderten, dass wichtige Parteien wie die SPD in grolierem MaI3e politische Verantwortung (z.B. in der Regierung) ubernehmen konnten, konzentrierten diese ihre Wahlkampfbemuhungen auf die Mobilisation der eigenen Anhangerschaft - im Mittelpunkt aller Komrnunikationsaktivitaten stand die Vertrauenswerbung bei der eigenen Klientel. Auch so erklart sich die hohe Mobilisierung in der Wahlerschaft: Viele Wahler sprachen den tatsachlichen Machtverhaltnissen ihr Misstrauen aus, indem sie Parteien wie der SPD, die 1912 einen Erdrutsch-Sieg davontrug, ihr Vertrauen aussprachen. Vertrauenswerbung bedeutete hier zunachst, der eigenen Klientel zu zeigen, dass man fur sie einsteht, dass man ihre Wunsche und Unzufriedenheiten kraftvoll vortragt, Sicherlich spielte hier eine auf der Ahnlichkeit zwischen den Bedurfnissen und Ansichten der Anhangerschaft und ihrer politischen Vertretung beruhende Vertrauensbeziehung eine wichtige Rolle, genauer: In dem MaBe, wie die Wahler der Monarchie und/oder anderen politischen Parteien misstrauten, sprachen sie ihrer eigenen politischen Vertretung das Vertrauen aus auch und gerade dann, wenn damit kaum eine Chance auf gestalterische politische Macht verbunden war. Entsprechend polemisch und einseitig waren Wahlkampfe im Kaiserreich, Rucksichtnahmen auf andere als die eigenen (potentiellen) Anhanger waren nicht notig, Volksparteien im heutigen Sinn, die tiber ideologische Grenzen hinweg Angebote an groBe Teile des Elektorats machen, gab es nicht. So war auch die parteiliche Presse nur insofern fur die Wahlkamptkommunikation relevant, als sie von den Angehorigen des eigenen politischen Lagers gelesen wurde, kaum aber von den Gegnern. Flugblatter, Broschuren und personliche Kontakte wurden als wesentlich wirksamer eingeschatzt." Nach dem ersten Weltkrieg anderten sich die Bedingungen der Wahlkampfer: Das Kaiserreich wurde unter den Triimmern des ersten Weltkriegs begraben, eine Demokratie mit einem starken prasidialen Element trat an seine Stelle. Wie die Wahlkampfe im Kaiserreich, sind auch die Wahlkampfe in der Weimarer Republik aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ein weitgehend unerforschtes Feld. Dabei verdient dieses Thema auch wegen des Scheiterns der erst en deutschen Demokratie Aufmerksamkeit. Tanja Engelmann geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Rolle die Presse als Instrument und Akteur von Wahlkamptkommunikation in der Weimarer Republik einnahm. Auch dieser Beitrag konzentriert sich auf einen speziellen Wahlkampf: den Wahlkampf von 1932, der wie sein Pendant von 1912 finalen Charakter hatte. In der Weimarer Republik spielte die Presse eine besondere Rolle - eine ahnliche wie in der Kaiserzeit: Zeitungen wie die Germania oder der Volkische Beobachter waren konsequent parteilich und spielten ihrerseits die Rolle von Akteuren in der Wahlkampfkommunikation. Anders als noch im Kaiserreich, wo viele
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Stober 2000: 282. Vgl. Stober 2000: 286.
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Wahlkampfe nicht oder nur wenig personalisiert waren'", und auch im Gegensatz zu den Wahlen wahrend der ersten Halfte der Weimarer Republik, bei denen eine Personalisierung so gut wie gar nicht stattgefunden hatte, ruckten 1932 politische Kandidaten zunehmend ins Blickfeld der Joumalisten. Die Autorin legt in ihrem Beitrag, der auf einer Magisterarbeit am Mainzer Institut fur Publizistik beruht'", dar, wie die Presse versuchte, auf die Wahler Einfluss zu nehmen, wie die Zeitungen argumentierten, emotionalisierten und diskreditierten. Neben vie len anderen interessanten Befunden tragt die Autorin auch Hinweise dafur zusammen, wie tiber die scharfe Personalisierung die Frage des Vertrauens diskutiert wurde: So schrieb die Germania beispielsweise, ihr unterstutzter Kandidat Bruning habe durch seine Arbeit und sein Verantwortungsbewusstsein das .Vertrauen der Massen" verdient ein Vertrauen, das sich in Massenkundgebungen in Form von groBen Sympathiebekundungen manifestiert habe. Auch der Volkische Beobachter greift zu diesem klassischen Autoritatstopos: Die Manner, welche die NSDAP ins Rennen schickt, hatten sich durch ihren Einsatz das Vertrauen der Massen verdient - gerade Hitler flogen die Sympathien der Menschen zu. Engelmann legt u.a. dar, wie die Presse die verschiedenen Kandidaten als vertrauenswurdig herauszustellen versuchte, indem sie den Wahlkampf personalisierten, die Kandidaten als Vertrauenstrager stilisierten und ihnen Eigenschaften andichteten, die fur das Entstehen eines vertrauenswurdigen Eindrucks von Bedeutung sind, wie z.B. Sympathie, Verlasslichkeit und Erfahrung. Auch die Wahlkampfe der fruhen Bundesrepublik, gerade der erste Wahlkampf 1949, standen noch im Zeichen groBer ideologischer Differenzen und heftiger Polarisierung man war den Grabenkampfen in Weimar noch naher als den vergleichsweise entideologisierten Wahlkampfen der 1990er Jahre und danach. Die Kontroversen entzundeten sich vor allem an der Wirtschafts- und AuBenpolitik. 1949 (und 1953) standen sich mit CDU und SPD zwei Wirtschaftsprogramme und zwei auBenpolitische Handlungsstrategien diametral gegenuber, die vom Kalten Krieg und den unuberbruckbaren ideologischen Blockgegensatzen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gepragt waren. Anette Koch-Wegener legt in ihrem Beitrag dar, wie die beiden groBen Parteien ihre Kampagne fur die erste bundesweite Wahl der Nachkriegsgeschichte konzipierten. Die Autorin zeigt, wie Ludwig Erhard und die COU die soziale Marktwirtschaft als zentrales Argument ihrer Werbekampagne fur Freiheit und "Wohlstand fur alle" einsetzten. Es wird ein pointierter Wahlkampfvor Augen gefuhrt, in dem das Schuren von Angst vor Kommunismus und Sozialismus und das Pochen auf die Altemativlosigkeit der sozialen Marktwirtschaft im Mittelpunkt standen. Man war sich seitens der Union im Klaren daruber, dass mit dem Erfolg des marktwirtschaftlichen Konzeptes auch der eigene politische Erfolg stehen oder fallen musste. Durch die Konzentration auf die Vertrauensfiguren Adenauer und Erhard konnte die Union punkten. Der Wahlausgang von 1949 bescherte der jungen Bundesrepublik entscheidende Weichenstellungen, die ausschlaggebend fur ihre weitere Geschichte waren. Waren Erhard und die soziale Marktwirtschaft bereits im Wahlkampf 1949 eine Personalunion, von der man sich erhoffte, dass sie Vertrauen einflobte und Stimmen brachte, profitierten Adenauer und die CDU schon im zweiten Bundestagswahlkampf 1953 vom wirtschaftlichen Aufschwung, dem offensichtlichen Erfolg der Erhardschen Politik. Das gewonnene Vertrauenskapital, seinerseits Resultat wirtschaftlicher Erfolge, die das Vertrauen in die Westbindung der Regierung und in ihr Konzept eines sozialen Kapitalismus starkten, trug
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Es gibtjedoch Ausnahmen - vgl, Stober 2000. Die Arbeit erschien als Buch im Bohlau-Verlag (Engelmann 2004).
zu den Wahlerfolgen von CDU und CSU im Bund bei. Dies zeigt sich auch und gerade im Wahlkampf 1953, der der COU einen imposanten Sieg einbrachte. Dabei standen Ende 1952 die Wahlumfragen noch gunstig fur die Sozialdemokratie. Denn es ging urn gewichtige politische Weichenstellungen, die die Zukunft des jungen westdeutschen Teilstaates langfristig pragen wurden. Die zentralen Themen des Wahlkampfes waren Adenauers Westbindungskurs und die .Politik der Starke", die Abwehr des Kommunismus, die Wiederbewaffnung, die Saarfrage. Alledem ubergeordnet war die Deutsche Frage, eindringlich durch den Volksaufstand am 17. Juni in der DDR vor Augen gefUhrt. Es war also ein .JieiBer" Wahlkampf im Zenit des Kalten Krieges, den Mathias Friedel in seinem Beitrag beschreibt. Der Wahlkampf zeigte einige interessante Innovationen, z.B. die Nutzung der in Deutschland noch jungen Demoskopie durch die COD. Die Wahl 1953 war nicht zuletzt auch ein Personenwahlkampf, den Adenauer klar fur sich entscheiden konnte. Adenauer wurde von weiten Teilen der Bevolkerung als erfahrener, authentischer und vertrauenswurdiger Staatsmann wahrgenommen, der selbst kompetent erschien und mit Erhard einen erfolgreichen und beliebten Wirtschaftsexperten an seiner Seite hatte. Die Wahl wurde auch deshalb so uberzeugend gewonnen, weil die Bundesburger in den vorangegangenen Jahren von einer insgesamt gunstigen wirtschaftlichen Entwicklung und innenpolitischen Stabilitat profitieren konnten. Der Autor zeigt, dass die Glaubwurdigkeit der Regierung auch durch ihren Erfolg bedingt war - Angriffe auf Adenauers Erfolgsbilanz wie Verweise auf die Armut der Menschen waren meist kontraproduktiv. Das Vertrauen in die Richtigkeit der Politik von Adenauer-Erhard wuchs in dem MaBe, in dem die Teller der Bundesburger sich fullten, in dem die Zweifel an den Alternativen zu Marktwirtschaft und Westintegration zunahmen und in dem die Reputation der jungen Republik stieg. Gerade Adenauers USA-Reise im April 1953 trug zum positiven Gesamteindruck bei, wie Hans-Jurgen Schroder in seiner anschlieBenden Analyse zeigt. Der freundliche Empfang in den Vereinigten Staaten demonstrierte augenfallig den Aufstieg des Landes: .Er knupft die Faden zur freien Welt", argumentierte ein Wahlplakat der COD. Schroder demonstriert am Beispiel der in Propagandafilmen wahlkampftaktisch inszenierten Amerikareisen Adenauers in den Jahren 1953 und 1957, die von US-amerikanischen PR-Fachleuten betreut wurden, die Bedeutung des Mediums Film fur die Wahlkampstrategie der CDU/CSU. 1m Mittelpunkt steht der Film .Ein Mann wirbt fur sein Volk" vom Sommer 1953, der eine geschickte Vertrauenswerbung darstellt - durch Visualisierung der Arbeit Adenauers und seiner Leistungen und durch intensive Personalisierung. Seine USABesuche, auch der von 1957, ebenfalls filmisch zu Wahlkampfzwecken genutzt, dienten der Bilanzierung der Erfolge Adenauers und der Inszenierung seiner Person. Schroder skizziert Adenauer als ersten Medienkanzler der Republik und demonstriert, dass eine aufbestimmte Medien - hier auf den Film - ausgerichtete Wahlkampfkommunikation kein neuartiges Phanomen ist. Vielmehr wird gezeigt, dass auch schon lange vor der sogenannten "Me.. diendemokratie" an die zeitgenossischen Medien angepasste Medieninszenierungen gang und gabe waren. Nachdem die lange Kanzlerschaft Konrad Adenauers 1963 zu Ende gegangen war, Ubemahm Ludwig Erhard das Regiment. Als Kanzler musste sich Erhard erstmals 1965 dem Vertrauenstest einer Bundestagswahl unterziehen - und auch diese Wahl stand im Zeichen der Personalisierung. In ihrem Beitrag geht Isabel Nocker neben anderen Fragen auch der Frage nach, wieso Ludwig Erhard von weiten Teilen der Bevolkerung als Vertrauensperson wahrgenommen wurde. Sie zeigt in ihrem Aufsatz, der auf ihrer Mainzer Magis23
terarbeit aus dem Jahr 1999 beruht'", dass Erhard viele Eigenschaften auf sich vereinte, die die Wahrscheinlichkeit des Vertrauensgewinns in der Offentlichkeit begunstigen: Erhards politische Leistungen und sein Image als Vater des Wirtschaftswunders in der Nachkriegszeit waren starke Argumente im Wahlkampf und fur den Wahler nachvollziebarer als die Plane und Visionen der Opposition. FUr die Vertrauenswurdigkeit Ehrhards, vor allem fur seine Wirtschaftskompetenz, standen vielfach bemuhte und im Wahlkampf eingesetzte Symbole wie die fur Wahlkampftouren genutzte Mercedes-Limousine, in der auch Konigin Elisabeth II. bei ihrem Deutschlandbesuch chauffiert wurde. Auch das Bild vom "ruhigen Schlaf" des Kanzlers wurde von seinen Wahlkamptberatern gezielt verbreitet - es transportierte Konnotationen wie Ausgeglichenheit und Sorgenfreiheit. Das eigentliche Symbol jedoch war die Zigarre, die gleich zwei Bedeutungen fur das Image Erhards hatte: Zum einen war sie ein charakteristisches Merkmal seiner offentlichen Auftritte, zum anderen war sie Ausdruck des Wohlstands und der Wirtschaftsblute - besonders im Bewusstsein derer, die den Krieg miterlebt hatten. Alle drei Symbole wurden von den Medien aufgegriffen und trugen dazu bei, dass Erhard in den Augen der BUrger wirtschaftlichen Aufstieg, staatsmannisches Auftreten und Integritat personifizierte. Die gesamte Wahlkampfkommunikation war ausgerichtet auf die Popularitat Ludwig Erhards, der der grofste Aktivposten der Kommunikation der Union war. Dabei war vor allem die Vertrauensdimension Kompetenz das entscheidende Argument, stellte Erhard sich doch dar als verlasslicher Fachmann, "als personifizierte Wirtschaftspolitik und zugleich als die Person dar, an der das wirtschaftliche Wohl und Wehe hing"." Erhard profitierte vom Renommee seines Amtes und von seinem Vertrauensvorsprung infolge seiner Leistungsbilanz: 1m Wahlkampf gelang es, einen Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit der BUrger und den dafur politisch Verantwortlichen herzustellen. Ludwig Erhards kurze Kanzlerschaft endete mit seinem Rucktritt im Jahr 1966. Sein Nachfolger wurde Kurt Georg Kiesinger, der als Kanzler der ersten GroBen Koalition in der Bundesrepublik vorstand. Dem Kabinett Kiesinger, das bis 1969 die Geschicke des westdeutschen Teilstaates lenkte, gehorte auch der groBe Star der SPD an: Willy Brandt. Der von vielen alsPendant zum charismatischen US-Prasidenten John F. Kennedy als "deutscher Kennedy" gefeierte Sozialdemokrat trat mehrfach erfolglos als Herausforderer gegen Unionskanzler an: 1961 setzte sich der 85-jahrige Konrad Adenauer gegen Brandt und die SPO durch, 1965 der populare Ludwig Erhard. Erhards Rucktritt und die Bildung der GroBen Koalition ermoglichten Brandt, dem Berliner Landespolitiker, den Aufstieg in die politische Bundesliga. Als Vizekanzler und AuBenminister zweiter Mann im Kabinett, ging Brandt 1969 zum dritten Mal ins Rennen urn die Kanzlerschaft. Ilka Ennen beschreibt in ihrem Beitrag, dem ebenfalls eine Mainzer Magisterarbeit zugrunde liegt'", die Wahlkampfe Willy Brandts. 1m Mittelpunkt stehen die Wahlkampfe von 1969 und 1972, mit denen Brandt die Kanzlerschaft errang und verteidigte. Dabei ist die Bundestagswahl 1969 in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, nicht nur weil sie zum Regierungswechsel und einer sozialliberalen Koalition mit Willy Brandt als Kanzler fuhrte: Der vorangegangene Wahlkampf markierte zum einen eine Zasur in den Bemuhungen der SPD, ihre Offentlichkeitsarbeit zu modernisieren, zum anderen war er auch ein ausgepragter .Jvledienwahlkampf". Dem ehemaligen Journalisten und telegenen Brandt kam zugute, dass sich das Fernsehen
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V gJ. Nocker 1999. Hentschel 1998: 87. VgI. Ennen 1996.
als Massenmedium etabliert hatte, dass die Berichterstattung der Presse tiber den Wahlkampf im Vergleich zu 1965 deutlich anstieg und dass viele Medien Brandt und die SPD favorisierten. Fur Brandts Erfolge an der Wahlume gibt es viele Grunde, einer war sicher die Wahrnehmung seiner Person in der Offentlichkeit: So kamen die Oemoskopen vom infas-Institut bereits 1961 zu dem Schluss, dass durch die offentlichen Auftritte Brandts "ein Kapital an Vertrauen und Sympathien mobilisiert'" wurde. Brandt avancierte zum Medienliebling und zum Star einer im Wandel befindlichen Medienkultur, die von Visualisierung und Personalisierung gepragt war." Standen Brandts Vorganger wie z.B. Ludwig Erhard noch fur andere Eigenschaften, etwa Kompetenz und Erfahrung, kam Brandt sein charismatisches und telegenes Auftreten zugute. Das Vertrauensverhaltnis zwischen ihm und seinen Wahlem war durchaus von affektiven Komponenten gepragt: Oem im Vergleich zu den COU-Granden jugendlichen und unverbrauchten "Willy" flogen die Sympathien der Menschen zu, er wurde als moralische und integre Personlichkeit wahrgenommen. Die Emotionalitat der Vertrauensbeziehung zwischen der ihm teilweise leidenschaftlich zugeneigten Wahlerschaft und ihrem "Willy" manifestierte sich insbesondere im hoch emotionalisierten Wahlkampf von 1972, der sogenannten "WiIly"-Wahl, die neben einer beispiellos starken Mobilisierung in Form einer hohen Wahlbeteiligung auch erstmals der SPO eine Mehrheit der Wahlerstimmen einbrachte." Konsequent setzte die SPD auf Vertrauenswerbung durch Personalisierung, Brandt wurde zum "Kanzler des Vertrauens" stilisiert. Bevor im Anschluss an die Analyse der Wahlkampfe Willy Brandts auf Helmut Kohl als Wahlkampfer naher eingegangen wird, zeichnet Hans Mathias Kepplinger in seinem Beitrag ein Bild von den Widerstanden, denen sich Politiker in ihrer Pressearbeit vor Ort konfrontiert sehen. Auf Basis einer Befragung von Kandidaten fur den Deutschen Bundestag in den Jahren 1969 bis 1983 zeigt der Autor, dass die Wahlkampfer je nach dem, welcher Partei sie angehoren, unterschiedliche Chancen haben, ihre Kommunikate (z.B. Pressemeldungen) in den Zeitungen abgedruckt zu tinden. So hatten Vertreter der Volksparteien tiber die Jahrzehnte hinweg meist bessere Chancen mit ihrer Vertrauenswerbung tiber die Presse zu den Wahlern durchzudringen als die kleiner Parteien. Es wird weiterhin dargelegt, dass nicht aile Formen von Wahlkampfkommunikation gleiche Chancen haben, in der Presse Widerhall zu finden: Dass Interviews - die personlichste, authentischste und im Sinne der Vertrauenswerbung sicherlich erstrebenswerteste Kommunikationsform - in der Presse abgedruckt werden, ist nur vergleichsweise schwierig zu erreichen. Berichte tiber Wahlkampfveranstaltungen finden hingegen leichter Berucksichtigung. AuBerdem wird gezeigt, dass der grolste Teil der KommunikationsmaBnahmen von Wahlkampfern nicht zur Offentlichkeit durchdringt, weil Journalisten nicht daruber berichten. Es wird deutlich, dass das haufig kritisierte Erscheinungsbild der Politiker in den Medien von den durch die Medien aufgerichteten Kommunikationsbarrieren mit bedingt ist, da einerseits nicht aIle bzw. nicht die intendierten Botschaften der Politiker aufgegriffen werden und andererseits bestimmte Formen der Selbstdarstellung grobere Chancen haben als andere, die eher geeignet waren, ein authentisches und damit vertrauenswilrdiges Bild zu zeichnen. Der Beitrag Kepplingers schlagt einen historischen Bogen zwischen der Zeit der ersten GroBen Koalition bis zum ersten WahlkampfHelmut Kohls in der Rolle des Bundeskanzlers.
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Zitiert nach Munkel 2005: 230. Vgl. Stem 1975: 70~ vgl. auch Wilke & Reinemann 2000. Vgl. zur .Willy-Wahl" MOiler 1997.
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Erstmals trat Helmut Kohl im Jahr 1976 bei einer Bundestagswahl an. Kohl, der Deutschland 16 Jahre lang regieren sollte und noch Hinger, gut ein Vierteljahrhundert lang, vorn Beginn der 70er bis Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, wie kaum ein anderer Politiker die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und mit ihr auch die Wahlkampfe in dieser Zeit pragte, spielte in allen Bundestagswahlkampfen von 1976 bis 1998 eine entscheidende Rolle: in den Jahren 1976, 1983, 1987, 1990, 1994 und 1998 als Kanzlerkandidat, 1980 als Vorsitzender der COU und Oppositionsfuhrer im Bundestag. Auch bei der Wahl zur Volkskammer der OOR im Jahr 1990 war er aktiv und entscheidend involviert. Oementsprechend schreibt Thomas Petersen in seinem Beitrag die Wahlkampfgeschichte der 1970er, 1980er und 1990er Jahre als eine Wahlkampfgeschichte Helmut Kohls. Petersen zeigt, dass Kohls Erfolge, die er in den meisten seiner Wahlkampfe feiem konnte, durchaus als uberraschend empfunden wurden - vor allem, weil sie oft in einem auffallenden Gegensatz zu seiner phasenweise geringen Popularitat in der Bevolkerung zu stehen schienen und auch nicht der geringen Wertschatzung entsprachen, die Kohl von der Mehrzahl der fuhrenden Massenmedien entgegengebracht wurde. Petersen zeichnet anhand einer Vielzahl von Umfrageergebnissen aus dem Archiv des Instituts fur Demoskopie Allensbach den Verlauf und die Eigenheiten der Wahlkampfe 1976 bis 1998 nacho Dabei zeigt sich, dass Kohl als Wahlkampfer, wie zeitweise generell als Politiker, wahrscheinlich auch deswegen oft unterschatzt wurde, weil seine Starken auf anderen Gebieten lagen als auf denen, die zur Beurteilung einer Politikerpersonlichkeit ublicherweise betrachtet werden. So sei es Kohl nie, wie seinem Vorganger Helmut Schmidt, gelungen, sein Publikum durch die geschickte Prasentation intellektueller Brillanz zu beeindrucken, oder, wie seinem Nachfolger Gerhard Schroder, durch mitreiBende Rhetorik Zuneigung zu erzeugen. Stattdessen zeigen die Umfragedaten, dass es lange Zeit eine Art innerer, wahrscheinlich unbewusster Dbereinstimmung zwischen Kohl und weiten Teilen der Bevolkerung gegeben hat. Letztlich scheint es ein tiefes Zutrauen der Bevolkerung gegenuber Kohl gegeben zu haben, eine Vertrauensbeziehung, die von dem Eindruck gespeist war, Kohl stunde der Bevolkerung in seinen Zielen, Werten und auch personlichen Eigenschaften nahe - Kern der Vertrauensbeziehung war in erster Linie der Faktor Ahnlichkeit. Das grundlegende Zutrauen der Bevelkerung erwies sich in vielen Fallen als starker als die groflere Sympathie und offentliche Anerkennung, die vielen seiner politischen Gegner zuteil wurde. Damit erscheint das, was Kohl uber Jahrzehnte hinweg als Schwache vorgehalten wurde, seine Bodenstandigkeit, seine angebliche Provinzialitat und Unbeholfenheit, als seine wahrscheinlich grofite Starke im Wahlkampf, weil er als vertrauenswurdige Identifikationsfigur wahrgenommen wurde. In seinem letzten Wahlkampf unterlag Helmut Kohl seinem Herausforderer Gerhard Schroder. Auch Schroder setzte im Wahlkampf 1998 auf die Karte Vertrauen: Er spielte auf seine soziale Herkunft aus einfachen Verhaltnissen an und erschien damit gerade jenen als vertrauenswurdig, die selbst einen ahnlichen Hintergrund hatten. Besonders glaubwurdig erschien er immer dann, wenn er uber soziale Ausgrenzung, Bildung fur Arme - Stichwort .Zweiter Bildungsweg" - und Solidaritat sprach. Er wurde einerseits als junger, dynamischer, unverbrauchter Siegertyp inszeniert und wahrgenommen, andererseits als .vcrtrauens- und glaubwurdiger Mann von der StraBe".69 Die SPO setzte entsprechend aufVertrauenswerbung durch Personalisierung und Hervorhebung der Kandidateneigenschaften, ins-
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Webe12000: 32-34; vgl. auch MUller 1999: 260
besondere Dynamik, Ahnlichkeit und auch (Wirtschafts-)Kompetenz. Und in der Tat hatte der Faktor .Kandidat" gerade 1998 einen groBen Einfluss auf das Wahlergebnis. 70 Der Wahlkampf 1998 kann sieher als einer der am intensivsten erforschten und diskutierten der deutschen Geschichte bezeichnet werden, eine groBe Fulle an interessanter Literatur ist tiber diesen von vielen als epochal neuartig und modemisiert empfundenen Wahlkampf publiziert worden." 1m Mittelpunkt des Beitrages von Nicole Podschuweit und Stefan Dahlem und des Beitrages von Birgit Laube steht hingegen der Wahlkampf von 2002. Auch in diesem Wahlkampf setzten Schroder und die SPD ganz auf Personalisierung: Der Kanzler genoss im Vergleich zu seinem Herausforderer Edmund Stoiber (CSU) und im Vergleich zu seiner eigenen Partei hohe Sympathiewerte. Daher wurde die Wahlkampagne auf ibn zugeschnitten - mit Erfolg: Nicole Podschuweit, deren preisgekronte Magisterarbeit Grundlage des Beitrages ist 72, und Stefan Dahlem zeigen, dass die Medien einen entscheidenden Anteil an Schroders Wahlsieg hatten, weil sie die fur den Kanzler sprechenden Aspekte, seine Beliebtheit, die Sympathie und das Vertrauen der BUrger in ibn besonders intensiv thematisierten und zugleich die gegen ihn sprechenden Aspekte, vor allern die vergleichsweise schwachen Kompetenzwerte in Umfragen, vernachlassigten." Die Autoren werten den Ausgang der Wahl 2002 als Resultat einer Vertrauensentseheidung, die nicht tiber die Vertrauensdimension Kompetenz beeinflusst wurde, sondem tiber andere Dimensionen wie Ahnlichkeit, Sympathie, Dynamik und Integritat, Es zeigt sich, dass ein Wahlkampf nur mit Kompetenzargumenten schwerlich zu gewinnen ist. Weiterhin interpretieren die Autoren die starke Personalisierung des Wahlkampfes 2002 als Ausweis des Bemuhens aller involvierten Seiten, die Kornplexitat des Geschehens zu reduzieren. Sie argumentieren, dass es demzufolge Kandidateneigenschaften waren, und hier speziell die wahrgenommene Glaubwiirdigkeit Schroders, die 2002 den Ausschlag gaben: Die Sympathie und die Vertrauenswiirdigkeit des Kandidaten war von entscheidender Bedeutung fUr die Entscheidung der Wahler. Mit einem Verweis auf die Arbeiten der Yale-Forschergruppe urn Carl I. Hovland argumentieren Podschuweit und Dahlem, dass die Konzepte Vertrauen und Glaubwurdigkeit zentral fur das Verstandnis der Kommunikationswirkungen in modemen Wahlkampfen sind und die Frage naeh der Erzeugung von Glaubwiirdigkeit auf der Stimulusseite sowie der Wahrnehmung derselben auf der Rezipientenseite noch intensiver erforscht werden musse. Auf ein Charakteristikum des Wahlkampfes 2002 geht Birgit Laube in ihrem Beitrag ein: Die wiehtige Rolle der AuBenpolitik. Nieht allein die Wahrnehmung des Kandidaten Schroder spielte beim Wahlausgang eine Rolle, aueh einige Themen, die von der Dominanz der Personalisierung und Kandidateninszenierung nieht ganzlich in den Hintergrund gedrangt wurden, waren Signum des Wahlkampfes." Neben Schroders Auftritten im Kontext der Oder-Flut im Wahljahr wurde aueh sein Nein zu einem moglichen Krieg im Irak von vielen Wahlern goutiert: Die Autorin zeiehnet die Diskussionen rund urn die auBenpolitisehe Haltung der rot-grunen Regierung und speziell urn die AuBerungen Schroders im Wahlkampf nacho Es wird gezeigt, wie er das Thema Krieg irn Irak nutzte, urn bei den Wahlern zu punkten. Die Autorin geht unter anderem der Frage nach, inwieweit Annahmen 70
71
72 73
74
Vgl. z.B. Schoen 2004: 325. Vgl. z.B. Rattinger & Maier 1998; Gabriel & Brettschneider 1998; Brettschneider 1999; Noelle-Neumann, Kepplinger & Donsbach 1999; Holtz-Bacha 1999; Kaase & Klingemann 2001; Bergmann 2002. Vgl. Podschuweit 2006. Vgl. Kepplinger & Maurer 2005: 146. Vgl. auch Noelle-Neumann, Donsbach & Kepplinger 2005.
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und Umfrageergebnisse zur Haltung der Bevolkerung gegenuber einem Irak-Engagement in Deutschland eine Rolle bei Schroders Themenmanagement im Wahlkampf gespielt haben. Es liegt nahe, dass die rigorose Weigerung, sich an einem entsprechenden Einsatz zu beteiligen, dem Eindruck von Schroders VertrauenswUrdigkeit zutraglich gewesen ist: Die groBe Mehrheit der Bevolkerung lehnte ein solches Engagement ab - indem Schroder sich zum WortfUhrer dieser Ablehnung machte, brachte ihm dies Sympathie und Vertrauen ein. Die Mehrheit der BUrger fiirchtete sich vor den Konsequenzen militarischer .Abenteuer", wie Schroder es nannte, ein Irak-Krieg war aulserst unpopular und entsprechend dankbar nahmen die Wahler Schroders kategorische Ablehnung auf. Auch im vorgezogenen Wahlkampf 2005 spielte das Thema Vertrauen eine entscheidende Rolle, war es doch eine "unechte,,75 und verlorene Vertrauensfrage, die es Gerhard Schroder ermoglichte, den Bundesprasidenten urn die Ansetzung von Neuwahlen zu ersuchen. Das zentrale Argument Schroders war der Vertrauensverlust bei den eigenen Getreuen, der ihm ein ordnungsgernaties Weiterregieren unmoglich gemacht habe. Alexander Geisler und Martin Gerster - letzterer selbst Mitglied des Bundestages fur die SPD - beschreiben in ihrem Beitrag die Hintergrunde des Wahlkampfes 2005, seine Entstehung, seinen Ablauf, seine Problemlagen und sein Ergebnis. Dabei konzentrieren sie sich auf die Darstellung der Wahlkampffuhrung der SPD und veranschaulichen diese insbesondere durch den Wahlkampf in Martin Gersters Wahlkreis. Sie zeigen unter anderem, wie die SPD das Thema Vertrauen in ihrer Wahlkampfplanung implementierte, etwa in dem sie Schroders (vermeintliche) GlaubwUrdigkeit und die (vermeintliche) UnglaubwUrdigkeit der Unionskandidatin Angela Merkel in den Mittelpunkt ruckte. So argumentierte die SPD unter anderem auch mit dem klassischen Autoritatstopos des personalisierten Vertrauens, also dem Verweis darauf, dass die Menschen ihrem Kandidaten vertrauen und dass dieser wiederum in sein Land und die Menschen in Deutschland vertraut. Dieser wechselseitige Vertrauensbegriff wurde im Schlagwort "Vertrauen in Deutschland" komprimiert. In einem hoch emotionalisierten und im Stile einer Oppositionspartei gefuhrten Wahlkampf wurden wichtige politischen Fragen auf den Vertrauensbegriff verdichtet - auf die .Vertrauensfrage" wurden dieWahlkampfbemUhungen hin ausgerichtet, z.B. in Plakatserien, in denen die Kompetenz und Aufrichtigkeit von Merkel und ihren Mitstreitem in Frage gestellt wurden. Anders sah die Strategie der Union im Wahlkampf 2005 aus: Aus ihrem eigenen Scheitern in den vorherigen Bundestagswahlen zog sie im Bundestagswahlkampf 2005 die Konsequenz eines Strategiewechsels. Angesichts eines von vielen wahrgenommenen Reformstaus in wichtigen Bereichen der Innenpolitik setzen CDU und CSU auf eine Verscharfung des Reformtempos. Die Kandidatin der Union versuchte sich und ihre Partei vom Beginn der Kampagne an als Reformaltemative zu positionieren. In seiner Analyse der Strategie der Union im Wahlkampf2005 kommt Thomas Bippes zu dem Ergebnis, dass der Versuch der Vertrauenswerbung durch Offenheit und die klare Benennung von schmerzhaften Folgen und Einschnitten einer moglichen Regierungspolitik einen Beitrag zum schwachen Abschneiden von CDU und CSU leisteten. So wird einerseits der Versuch, auch unangenehme Folgen von Reformpolitik klar zu benennen, als moralisch richtig bewertet, andererseits auch daraufhingewiesen, dass ein Wahlkampf, der von den Biirgem Aufopferungsbereitschaft und Verzicht abfordert, zugleich aber kaum hoffnungsvolle Botschaften und Chancen kommuniziert, keinen Erfolg haben kann: Die Wahler mogen die Ehrlichkeit einer Partei zwar goutieren, die bereitwillig Kosten und Folgen nennt, anstatt eine rosige Zukunft 75
28
So Schroder tiber ein Vorgehen in der Zeitschrift DER SPIEGEL NT. 43 vom 23.10.2006, S. 43.
zu versprechen, das heiBt jedoch nicht, dass sie einer Partei, die durch solche Offenheit an Vertrauenswiirdigkeit gewinnt, auch am Ende ihr Vertrauen schenken. Die Lehre konnte lauten, dass man Vertrauen eben nicht nur durch Kompetenz, Offenheit, Ehrlichkeit und Konsistenz zwischen Aussage und Handlung erwirbt, sondem auch durch Einfuhlungsvermogen, emotionale Ansprache, Sympathien, Rucksichtnahmen auf die Bedurfnisse der Wahler. Vertrauensentscheidungen sind nicht einfach Produkt rationalen Kalkuls und von Kompetenzabschatzungen, sondern werden stark von emotionalen Obertonen uberlagert. Der Union, die vor der Wahl lange als klare Siegerin, ja - wie der Autor zeigt - bereits als Regierungspartei gehandelt wurde, gelang es nur knapp, starkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu werden. Bippes diagnostiziert ein Vermittlungs-, Argumentations- und Vertrauensproblem als Ursache fur das Abschneiden der Union. Mit den Beitragen zum Bundestagswahlkampf 2005 endet die Reihe der Studien zu Wahlkampfen in Deutschland. Die vorangegangenen kurzen Zusammenfassungen im Kontext des Leitmotivs Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung geben neben Informationen tiber den Inhalt des Buches auch Aufschluss uber verschiedene Aspekte der Bedeutung des Vertrauens in Wahlkampfen, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stattgefunden haben. Doch ist der Wahlkampfkeine Innovation der Modeme - schon in der Antike waren Wahlkampfe im Rahmen von Amtsbewerbungen ublich, In den Texten antiker Autoren wie z.B. Marcus Tullius Ciceros finden sich viele Hinweise zur Funktion, Gestaltung und Wirkung von Wahlkampfen." In ihrem Beitrag - dem ersten von drei Exkursen in angrenzende Gebiete der Wahlkampfforschung - zeigen Nikolaus Jackob und Stefan Geij3, dass in Rom eine diffizile Vertrauensbeziehung zwischen Yolk und Elite existierte: Die mehrheitlich aus Aristokraten bestehende Fuhrungsriege verwies im Wahlkampf auf ihre uberlegene Bildung und Erfahrung sowie auf ihre politischen Erfolge in der Staatsfiihrung. Zugleich berucksichtigte sie die Wunsche der Bevolkerung und zeigte soziale Konformitat durch die Einhaltung oder Ubererfullung von konsensuell geteilten Normen. Auf diese Weise wurde sowohl der Eindruck von Kompetenz als auch der Eindruck von Integritat vermittelt. 1m Mittelpunkt standen neb en manifesten politischen oder militarischen Erfolgen auch Gesten von Wohltatigkeit und die unentwegte Demonstrationen von Normkonformitat und Exzellenz. Die BUrger ihrerseits erkannten die Fuhrungsrolle der politischen Elite an und bestatigten die jeweiligen Fuhrungskonstellationen im Rahmen von Wahlen und Abstimmungen, solange die Eliten das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigten. Dieses Vertrauen hatte durchaus im Sinne Luhmanns die Funktion der Komplexitatsreduktion, war doch der allergrofite Teil der Bevolkerung nicht dazu in der Lage, aktiv an Politik zu partizipieren, sich eine Meinung zu komplexeren Sachfragen zu bilden und Teil eines politischen Diskurses zu seine Anstatt tiber Sachfragen urteilte man tiber Personen. Die Personlichkeit eines Kandidaten, seine Herkunft und seine Erfolge dienten als Urteilsheuristiken fur das Elektorat. Die politische Elite appellierte an das Vertrauen der Wahler, die ihrerseits sowohl der Elite als Kollektiv als auch den Kandidaten als Exponenten einer Wertordnung und farniliaren Tradition vertrauten. Die Autoren zeigen in ihrem Beitrag, dass die Wahler nach ihrem personlichen Vertrauen in die Fahigkeiten und den Charakter der Kandidaten ihre Wahl trafen. Nicht politische Sachargumente, sondem Hinweise auf Charakter, Normkonformitat, Leistungsfahigkeit und die Integration der einzelnen Mitglieder der Fiihrungsschicht in das Kollektiv waren die Wahrung, in der in Rom Vertrauen gehandelt wurde. Damit zeigen die Autoren auch, dass Vertrauenswerbung durch Persona76
VgI. Jackob 2002~ Jackob 2005.
29
lisierung kein neuartiges Phanomen ist - wie in modernen, bisweilen mythisierenden Analysen unterstellt -, sondern so alt wie Wahlkampfe generell. Mit Mythen der Wahlkampfforschung setzen sich auch Marcus Maurer und Carsten Reinemann in ihrem Beitrag, dem zweiten Exkurs dieses Buches, auseinander. Ihre Analyse schildert die Geschichte der Femsehdebatten in den USA, Deutschland und anderen Landem aus wissenschaftlicher Sicht. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: In welchen Landern gibt es Femsehdebatten? Welche Formate kann man unterscheiden? Wie haben sich die Femsehdebatten seit 1960 verandert? Die Autoren entlarven viele bei Joumalisten, Politikern und Wahlem verbreitete Vorstellungen tiber die Wirkungen von Femsehdebatten als Mythen. So zeigen sie z.B., dass TV-Duelie nicht durch AuBerlichkeiten entschieden werden, sondem dass es vielmehr darauf ankommt, was die Kandidaten sagen und wie geschickt sie es formulieren - auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass die Art und Weise, wie Wahlkampfkommunikation, hier in Form der TV-Duelle, gestaltet wird, Einfluss auf die Wahmehmung von Vertrauenswurdigkeit und folglich auf die Vertrauensbeziehung zwischen Rezipient bzw. Wahler und Kommunikator bzw. Wahlkampfer hat. Im Kontext der bisher diskutierten Fragestellung sticht vor allem der Befund heraus, dass die Rezipienten von TV-Duellen sich nicht in erster Linie - wie oft postuliert - von nonverbalen Eigenschaften des Auftritts der Kandidaten beeinflussen lassen, sondem sehr wohl auch auf die Oberzeugungskraft der Argumente achten. Interessant ist weiterhin, dass vor allem solche Argumente als uberzeugend wahrgenommen werden, die allgemein und .zustimmungspflichtig" sind, also in erster Linie die schon in der klassischen Rhetorik beliebten und als wirksam bekannten Gemeinplatze." Diese sind deshalb geeignet, Zustimmung zu erzeugen und Vertrauen zu wecken, weil sie an weithin verbreitete und akzeptierte Einstellungen, Vorstellungen und Normen anknUpfen. Wer sich durch den Appell an diese konsensuell geteilten Grundhaltungen als normkonform und damit auch als ahnlich in Hinsicht auf die geteilten Werte erweist, erweckt Vertrauen und sammelt Punkte bei den Rezipienten. 1m dritten und letzten Exkurs schlieBlich beschaftigt sich Tilo Hartmann mit dem Nutzen von Weblogs in der Wahlkamptkommunikation, mit ihren Einsatzmoglichkeiten und Beschrankungen. Auf Basis der Feststellung, dass sich die sogenannten Blogs besonders gut fur personalisierte Politkampagnen eignen, legt der Autor dar, welche kommunikativen Strategien in Blogs zur Anwendung kommen konnen, Hartmann zeigt, dass die oftmals tagebuchartigen Blogs von Politikem in erster Linie auf Charaktereigenschaften von Personen - wie Fuhrungsstarke, Solidaritat, Humanitat, Integritat - rekurrieren und vor allem deshalb als Instrumente der vertrauensbildenden Wahlkampfkommunikation geeignet sind, wei! sie durch die personliche Ansprache des Autors Authentizitat vermitteln, weil sie Reziprozitat durch interpersonale Austauschmoglichkeiten etablieren und wei! sie eine halbprivate Atmosphare entstehen lassen, die eine naturlichere, weniger artifizielle Vermittlung von personalisierten Wahlkampfbotschaften ermoglicht, Dazu gehort auch, dass die Leser von Blogs mit privaten Informationen tiber Politiker versorgt werden, was sowohl Sympathie entstehen lassen kann, als auch jenen Wahlern eine Urteilsbasis bietet, denen personliche Eindrucke (z.B. infolge eigner Werthaltungen) besonders wichtig sind. So werden z.B. Anekdoten aus der personlichen Vergangenheit von Politikem erzahlt, es werden die Ehepartner und Kinder werbewirksam in Szene gesetzt, es wird Burgernahe demonstriert und somit dem Eindruck elitarer Abgehobenheit entgegengewirkt. Dabei gilt die alte Regel der Persuasionsforschung, die schon von Aristoteles in seiner Rhetorik formuliert 77
30
Vgl. z.B. BuBmann 2003.
wurde, dass je authentischer ein Politiker wahrgenommen wird, desto eher Vertrauen geschenkt wird." Hartmann zufolge eignen sich Blogs in hervorragender Weise dazu, ein Image von Glaubwurdigkeit und damit Vertrauen entstehen zu lassen. Der Beitrag und das Such insgesamt schlieBen mit einem Katalog von Handlungsempfehlungen zum vertrauensbildenden Einsatz von Weblogs in Wahlkamptkampagnen. Es zeigt sich, dass auch neuere Methoden der Wahlkampfkommunikation im Zeichen der Vertrauenswerbung stehen und dass auch die Wahlkampfe des 21. Jahrhunderts sehr von dem Aspekt des Vertrauens und seinen Implikationen gepragt sein werden. Die Suche nach maI3geschneiderten, zielgruppenspezifischen, authentischen und flexiblen Kommunikationsinstrumenten, die sich zur Vermittlung glaub- und vertrauenswurdiger Politik- und Politikereindrucke eignen, legt ein beredtes Zeugnis dafiir abo
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Ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung Von Harald Schoen
1.
Einleitung
Der Bundestagswahlkampf 2005 hatte keine gute Presse, So sahen ihn manche Beobachter in der Sehlussphase zu einer Schlammschlacht geraten.' Politiker bezichtigten sich gegenseitig der LUge, wie auch loumalisten manche Halb- und Unwahrheiten auszumachen meinten. Nicht zuletzt Gerhard Schroder habe vor der Wahl am 18. September 2005 ein "Spektakel virtuoser Weltflucht'" geboten. Nach diesen Eindrucken zu urteilen, scheint die Kampagne 2005 den Blick der Wahlberechtigten auf die Realitat eher vemebelt und nicht zu politisch aufgeklarten Entscheidungen beigetragen zu haben. Freilich ist der Wahlkampf 2005 nieht die erste Kampagne, uber die dieses Verdikt gesprochen wurde. Denn an Wahlkampfen wurde seit jeher in vielen Landern kritisiert, sie seien zu inhaltsleeren Spektakeln verkommen, die es den Wahlberechtigten eher erschwerten als erleichterten, eine Entscheidung im Sinne ihrer wohlverstandenen Interessen zu treffen.' Darf man daraus schlieBen, dass sich Wahlkampfe nicht geandert haben? Sollte die offentliche Kritik an der Wahlkampffiihrung ohne jegliche Wirkung auf die Kampagnen geblieben sein? Haben sie sich gewandelt, ohne dass dies das Urteil der Offentlichkeit beeinflusst hat? Oder haben die Kritiker von vomherein nicht richtig hingesehen? Antworten auf diese Fragen sind von der empirisehen Wahlkampfforschung zu erwarten. Wie andere Zweige der empirischen Sozialforschung verfolgt sie verschiedene Zielsetzungen. Sie strebt danach, einzelne Wahlkampfe zu beschreiben und verschiedene Wahlkampfe zu vergleichen. Einen Schritt weiter gehen Arbeiten, die fragen, aus welchen Grunden eine Kampagne so gefiihrt wurde, wie sie gefuhrt wurde. Eine andere Kausalrichtung betrachten Analysen, die untersuchen, welche Wirkungen von Wahlkampfen ausge . . hen. Dieser Zweig der Wirkungsforschung ist relativ weit fortentwickelt. 1m Vergleich dazu weist die Forschung in den zuvor genannten Hinsichten erhebliche LUcken auf." Dies mag insofem uberraschen, als es dabei zum Teil urn deskriptive und vergleichende Fragen ohne kausal-analytischen Anspruch geht, die einfacher zu beantworten sind als Wirkungsfragen. Allerdings konnte das Defizit auch darauf hindeuten, dass bei der Bearbeitung dieser Fragen spezifische Probleme auftreten.
Vgl. Spiegel Online 2005. Poschardt 2005: 44. VgI. etwa Perloff 1999; siehe etwa Honemann & Moors 1994; Huh 1996. Siehe etwa Schoen 2005.
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Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag nicht das Ziel, Wahlkampfe empirisch zu analysieren. Statt dessen sollen grundsatzliche Fragen der Wahlkampfanalyse diskutiert werden. Zunachst soil die fur jede Analyse fundamentale Frage nach der Abgrenzung von Wahlkampfen behandeIt werden. AnschlieBend werden Kriterien fur die Analyse von Wahlkampfen formuliert. Daraufhin wird die Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampfflihrung diskutiert, ehe der Beitrag mit einem kurzen Resumee schlieBt. 2.
Zur Abgrenzung von Wahlkampfen
Jede empirische Analyse von Wahlkampagnen muB zunachst klaren, was ein Wahlkampf ist, urn entscheiden zu konnen, welche Ausschnitte aus der Realitat untersucht werden soIlen. Weitgehend unstrittig ist, dass in Wahlkampfen politische Eliteakteure Botschaften an die Wahlberechtigten heranzutragen versuchen, urn damit ein moglichst gutes Wahlergebnis zu erzielen. Wahlkampffiihrung ist somit politische Kommunikation. Von alltaglicher politischer Kommunikation unterscheidet sich Wahlkamptkommunikation darin, dass die Zielsetzung, bei einer bevorstehenden Wahl ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen, eindeutig in den Vordergrund tritt. 5 Diese abstrakte Definition durfte kaum auf Widerspruch stoBen, doch ist damit nicht gesagt, dass die Abgrenzung von Wahlkampfen problemlos sei und in jedem Einzelfall Konsens daruber herrsche. 1m Lichte der obigen Definition erscheint es fragwurdig, zur zeitlichen Eingrenzung von Wahlkampfen ohne weiteres auf von politischen Akteuren formulierte Daten zuruckzugreifen." In dieser Lesart markiert beispielsweise die Parlamentsauflosung den Beginn britischer Wahlkampfe, amerikanische Prasidentschaftswahlkampfe setzen nach den Nominierungsparteitagen ein, und Bundestagswahlkampfe fangen mit der Ausrufung des Wahlkampfes durch die Parteien an. Diese Abgrenzungen sind fur Forscher einfach vorzunehmen, doch bleibt zu fragen, ob sie geeignet sind: Ist der offizielle Wahlkampfstart tatsachlich der Zeitpunkt, an dem "die Parteien von der allgemeinen Werbung fur ihre politisehen Ziele dazu ubergehen, ihre Tatigkeit und ihre Energien fast ausschlieBlich auf den Kampf urn die Stimmen der Wahlberechtigten zu richten"?" Da Parteien und Kandidaten durchaus bereits vorher mit Blick auf den Wahltag werben konnen, ist es nieht angebracht, in Wahlkampfanalysen den Kampagnenbeginn ungepruft auf die von politischen Akteuren angegebenen Termine festzulegen. Vielmehr sollten Forseher eigenstandig eine inhaltlich begrundete Entscheidung treffen. Diese Vorgehensweise fuhrt nieht nur zu besser geeigneten Abgrenzungen, sondem eroffnet auch neue Forschungsperspektiven. So erlaubt sie es zu untersuehen, inwieweit der offizielle Beginn mit dem tatsachlichen Wahlkampfstart zusammenfallt, wie das Verhaltnis beider Termine zwischen verschiedenen politisehen Systemen und tiber die Zeit variiert. Beispielsweise spricht die These, wir erlebten die Entwicklung hin zu einer "permanent campaign'", dafiir, dass offizielle und empirische Termine des Wahlkampfbeginns auseinanderfallen und diese Diskrepanz im Zeitverlauf'wachst. Geht man von einer inhaltlichen Abgrenzung aus, ist zu klaren, welche Handlungen in einem konkreten Fall als Wahlkampf zu gelten haben. Diese Frage ist aus dem Alltag in Vorwahlzeiten wohlbekannt. So argumentieren politische Beobachter haufig, bestimmte Handlungen politischer Akteure lieBen sich damit erklaren, dass diese Wahlkampf fUhrten. Vgl. etwa Schmitt-Beck & Pfetsch 1994; Schmitt-Beck & Farrell 2002. Vgl. etwa Bowler & Farrell] 992: ]0-] 1. Hirsch-Weber & Schutz] 957: 3. Blumenthal 1982.
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Gelegentlich wird die Abgrenzungsfrage auch zum Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen, in denen es darum geht, ob eine staatliche und daher der Neutralitat verpflichtete Stelle mit ihrem Handeln zugunsten einer Seite in den Wahlkampf eingegriffen habe, etwa indem das Bundespresseamt Publikationen verbreitet oder Anzeigen schaltet, die fur eine Seite im politischen Wettbewerb Partei ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1977 den Zeitpunkt und die "reklamehafte Aufmachung" als Kriterien formuliert." Daran schlieBt sich unmittelbar die Frage an, wann eine Aufmachung als "reklamehaft" zu gelten hat. Damit ist eine Bewertungsfrage aufgeworfen, die kaum einhellig beantwortet werden kann. Ganz ahnlich verhalt es sich mit unserer Frage, ob eine bestimmte Handlung eines politischen Akteurs als Wahlkampf zu interpretieren ist oder nicht. Aus diesen Uberlegungen folgt zunachst, dass man in der Forschung nicht selbstverstandlich von einheitlichen Abgrenzungen von Wahlkampfen ausgehen kann. Gleichwohl sollte man aus dem Gesagten kein Pladoyer fur definitorische Willkur im Geiste eines postmodernen "anything goes" ableiten. Denn auch wenn es nicht immer die eine unstrittige Losung gibt, schlieBt das keineswegs aus, dass fur bestimmte Problemstellungen manche Abgrenzung besser und manche schlechter geeignet ist. Beispielsweise durfte die Nominierung der Spitzenkandidaten als zeitliche Abgrenzung fur eine Analyse geeignet sein, die sich auf diese Akteure konzentriert, nicht unbedingt jedoch fur eine Untersuchung zu medialen Vermittlungsstrategien. Foiglich spricht einiges dafur, die scheinbar triviale Frage nach der Abgrenzung von Wahlkampfen sorgfaltiger zu behandeln, als es auf den ersten Blick erforderlich scheinen mag. 3.
Zur systematischen Analyse von Wahlkampagnen
An der Wahlkampfkommunikation sind wie an alltaglicher politischer Kommunikation drei Akteursgruppen beteiligt: politische Akteure, Medien und die (wahlberechtigte) Bevolkerung. 10 Ihnen fallen unterschiedliche Rollen zu. Kandidaten und Parteieliten initiieren in der Hauptsache Wahlkampfkommunikation, die an die (wahlberechtigte) Bevolkerung gerichtet ist und von dieser mehr oder weniger intensiv rezipiert wird. Die Massenmedien spielen eine wesentliche Rolle in der Wahlkampfkommunikation als Vermittler zwischen Eliten und Bevolkerung, da direkte Kommunikation zwischen diesen beiden Gruppen eher selten ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, die politischen Akteure und ihre Handlungen in das Zentrum einer Untersuchung zu rucken, wenn man sich fur die Wahlkampffuhrung interessiert. Selbst wenn der Untersuchungsgegenstand soweit eingegrenzt ist, sind Wahlkampagnen ausgesprochen facettenreiche Ketten von Ereignissen.!' Beschreibungen, Vergleiche und kausal-analytische Analysen von Wahlkampfen setzen daher Kriterien voraus, die es erlauben, fur eine Untersuchung relevante von irrelevanten Sachverhalten zu unterscheiden und die Beobachtungen zu ordnen. Sie ergeben sich aus der jeweiligen Problemperspektive, was fur Kriterienpluralitat spricht. So durfte aus linguistischer Perspektive anderes relevant sein als vom Standpunkt der Gender-Forschung aus. Aus Sicht der politischen Kommunikationsforschung erscheinen drei Dimensionen als besonders wichtig: die inhaltliche Gestal-
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BVerfGE 44, 125. Vgl. etwa Schmitt-Beck & Pfetsch 1994. Vgl. Hillygus & Jackman 2003: 584.
tung, die Kommunikationsstrategien sowie die strukturell-organisatorische Dimension. Sie sollen nun an Beispielen genauer erlautert werden. 12 In inhaltlicher Hinsicht lassen sich Kampagnen etwa danach unterscheiden, ob sie bestimmte Gesichtspunkte betonen oder unterdrucken, urn damit einen Eintluss darauf zu nehmen, worUber die Wahlberechtigten nachdenken und welche Kriterien sie anlegen, wenn sie ihre Wahlentscheidung treffen." Beispielsweise durfte eine Partei mit einem popularen Spitzenkandidaten dessen Person in den Vordergrund rucken, Ein geradezu klassisches Beispiel dafur lieferte der Bundestagswahlkampf 2002, den der SPD-Kandidat unter das Motto .Er oder ich?" stellte. Wahlkampfer konnen auch Themen hervorzuheben oder zu unterdrucken versuchen. Dabei besteht ein Anreiz, diejenigen Themen zu betonen, bei denen sie in der Bevolkerung als besonders kompetent gelten." Beispielsweise haben die Grunen einen Anreiz, in Wahlkampfen Umweltthemen in den Vordergrund zu riicken. Denn etliche Personen, die diese Partei nicht ohnehin wahlen wollen, halten sie auf diesem Gebiet flir kompetent und konnten sich daher fur sie entscheiden, wenn sie bei der Stimmabgabe den Eindruck hatten, es gelte, fur die umweltpolitisch kompetenteste Partei zu votieren. Die Unionsparteien gelten hingegen nur wenigen Burgem als umweltpolitisch kompetent, weshalb sie einen Anreiz haben, von diesem Thema abzulenken. Kampagnen enthalten zudem wertende Aussagen. Kampagnen konnen darauf abzielen, die eigene Seite positiv darzustellen oder andere Parteien und deren Kandidaten in ein schlechtes Licht zu rucken, Beispiele fur dieses negative campaigning" sind in vielen Wahlkampfen zu finden." So titulierten Politiker der Unionsparteien vor der Wahl 1961 den SPD-Spitzenkandidaten "Brandt alias Frahm", urn dessen Reputation zu schadigen. 1m Bundestagswahlkampf 2005 verwendete die SPD einige Energie darauf, die Plane der Unionsparteien anzugreifen und den als kunftigen Finanzminister vorgesehenen Paul Kirchhof politisch und durchaus auch personlich zu verunglimpfen. Indem sie positive oder negative Wertungen verwenden, zielen Wahlkampfer nicht darauf ab, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte zu lenken, sondern die Einstellungen zu Parteien oder Kandidaten in eine bestimmte Richtung zu verandem, Gerade, aber nicht nur mit Blick auf kandidatenbezogene Wahlkampfaussagen kann man weiter danach unterscheiden, ob auf politische Gesichtspunkte im engeren Sinn eingegangen oder auf unpolitische Faktoren Bezug genommen wird. 1m ersten Fall wurde beispielsweise darauf hingewiesen, welcher Partei ein Kandidat angehort, wie politisch erfahren er ist und welche Sachkompetenz er besitzt. 1m zweiten Fall wurden dagegen seine physische Attraktivitat oder sein Privatleben in den Vordergrund geruckt, so dass man von einer Privatisierung des Wahlkampfes sprechen konnte. 17 Einen zweiten wichtigen Aspekt der Kampagnenfiihrung stellen die Kommunikationsstrategien dar, die verwendet werden, urn inhaltliche Aussagen zu transportieren. Eine wichtige Unterscheidung bezieht sich dabei auf die eingesetzten Medien. Wahlkampfer konnen mit Wahlberechtigten direkt kommunizieren, beispielsweise in Fulsgangerzonen
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Siehe weiterfuhrend Schoen 2005. Siehe etwa Zaller 1992. Siehe Petrocik 1996. Von manchen Autoren wird die Bezeichnung "negative campaigning" nur fur personliche Angriffe auf Politiker verwendet und nicht fur aIle negativen Bewertungen des politischen Gegners. Siehe etwa Holtz-Bacha 2001. Siehe etwa Brettschneider 2002.
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Passanten ansprechen oder Wahlberechtigte zu Hause besuchen oder anrufen. Kampagnen konnen auch (Massen-)Medien einsetzen, wobei zwei Strategien zu unterscheiden sind. Paid media zeichnen sich dadurch aus, dass Wahlkampfer fur die Nutzung eines Mediums bezahlen und daher alleine tiber den Inhalt entscheiden konnen, den das Medium ubermittelt und der die Rezipienten erreichen soil. Gleichzeitig ist in der Regel leicht erkennbar, dass es sich urn Werbung eines Kandidaten oder einer Partei handelt. Der offensichtlich parteiliche Charakter kann Zweifel an der Glaubwurdigkeit des Inhalts wecken, weshalb diese Werbemittel nicht immer die beabsichtigte Wirkung erzielen. Zu diesen Formen bezahlter Werbung gehoren etwa Zeitungsanzeigen, Wahlkampfzeitungen, Plakate, Postwurfsendungen und Wahlerbriefe. Die Erfindung der elektronischen Medien hat das Arsenal urn Spots in Horfunk und Fernsehen erweitert. Mit der Entwicklung des Internet und der Mobiltelefone sind als weitere Werbemittel etwa Intemetauftritte, E-Mails und SMS hinzugekommen. Mit einer free media-Strategie versuchen Wahlkampfer, ihre Botschaften und Aktivitaten zum Gegenstand der regularen Medienberichterstattung zu machen und damit Massenmedien zu kostenlosen Werbetragern umzufunktionieren. Fur Wahlkampfer ist dies aus verschiedenen Grunden attraktiv. Zum einen ermoglicht es diese Strategie, mit minimalem Aufwand ein riesiges Publikum zu erreichen. So bringen in Bundestagswahlkampfen Parteien rnanches Plakat ausschlieBlich vor ihrer Parteizentrale an und setzen darauf, dass es einen groBen Teil der BUrger tiber die Medienberichterstattung erreichen werde. Zum anderen durfte die Medienberichterstattung bei den Wahlberechtigten als relativ unparteilich gelten und daher vergleichsweise groBe Chancen besitzen, Stirnmberechtigte irn intendierten Sinn zu beeinflussen. Allerdings ist nicht garantiert, dass Medien einem Ereignis tiberhaupt Aufmerksarnkeit schenken und Wahlkampfbotschaften unverandert verbreiten. Denn tiber Inhalt und Tenor der Berichterstattung entscheiden Journalisten, und zwar nach Kriterien, die nicht erwarten lassen, dass politische Ereignisse zwingend mediale Resonanz finden und Kampagnenbotschaften ungefiltert transportiert werden. Urn die Hurden der free media zu uberwinden, suchen politische Akteure bei der WahlkampffUhrung und der Medienarbeitjoumalistische Entscheidungskriterien zu berucksichtigen. Sie stellen beispielsweise Informationsmaterial - seien es Pressemitteilungen, seien es Audioberichte - zur Verfiigung, das journalistischen Anspruchen genugt und daher Chancen besitzt, unverandert in die Berichterstattung ubemcrnrnen zu werden. Auch achten politische Akteure darauf, knappe und pragnante Aussagen zu formulieren, die auch in kurzen Berichten leicht im Originalton eingespielt werden konnen. Sie gestalten zudem Wahlkampfereignisse so, dass sie fur Medien berichtenswert sind. Man denke etwa an Wahlparteitage von Parteien, die geradezu als Kronungsmessen inszeniert werden. Es werden aber auch kunstliche Ereignisse, sogenannte Pseudo-Events 18, arrangiert, urn in die Medienberichterstattung zu gelangen. Dazu gehoren etwa Einweihungen von Autobahnen oder Betrieben, aber auch manche Auslandsreise von Politikem in Wahlkampfzeiten. SchlieBlich passen sich politische Akteure auch insofern medialen Imperativen an, als sie etwa in unpolitischen, aber publikumswirksamen Talkshows auftreten. Die dritte Analysedimension bezieht sich auf die organisatorische Seite der Wahlkampffiihrung. Beispielsweise ist zu fragen, ob auf die Kampagnenftihrung spezialisierte Krafte beschaftigt oder sogar eigene Wahlkampfstabe eingerichtet werden. Werden externe Spezialisten konsultiert? Wird eine landesweite Kampagne zentral gesteuert? Sind Einhei18
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Vgl. Boorstin 1961: 11.
ten zur Gegnerbeobachtung, zur Beobachtung der offentlichen Meinung und zur Ermittlung wichtiger Zielgruppen in der Bevolkerung ausdifferenziert? Werden Wahlkampfinstrumente vor ihrem Einsatz mit geeigneten Methoden auf ihre Wirksamkeit untersucht? Oder wird auf professionelle Krafte, organisatorische Ausdifferenzierung und wissenschaftliche Methoden verzichtet? Die drei dargestellten Dimensionen sind konzeptionell unabhangig voneinander. So sagt beispielsweise der Einsatz hauptamtlicher Krafte nichts tiber die inhaltliche Ausrichtung einer Kampagne oder daruber aus, inwieweit eine paid media-Strategie eingesetzt wird. Indem man die drei Dimensionen kombiniert, kann man ein Raster entwickeln, mit dessen Hilfe sich jede Wahlkampagne systematisch analysieren lasst. Es kann auch als Grundlage fur vergleichende Analysen dienen. Sie konnen Kampagnen verschiedener Parteien vor einer Wahl, aber auch Kampagnen einer Partei bei Wahlen auf unterschiedlichen staatlichen Ebenen zum Gegenstand haben. Ebenso konnen Wahlkampfe in verschiedenen politischen Systemen miteinander verglichen werden. SchlieBlich konnen intertemporale Vergleiche von Wahlkampfen angestellt werden, die es ermoglichen konnen, Entwicklungstrends in der KampagnenfUhrung herauszuarbeiten. 19 4.
Zur Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampffiihrung
Eine zeitliche Entwicklung nachzuzeichnen bedeutet nicht, sie zu erklaren, Urn dies zu leisten, ist es erforderlich, methodisch stichhaltig Ursache-Wirkungsbeziehungen nachzuweisen. Man muB also zeigen, dass Faktoren, die der Wahlkampffiihrung zeitlich vorgelagert sind und theoretisch auf diese wirken sollten, empirisch mit ihr zusammenhangen, An dieser Stelle solI keine empirische Analyse zu Bestimmungsgroben der Wahlkampffiihrung durchgefiihrt werden. Ziel ist es vielmehr, das Problem theoretisch zu diskutieren. Ober die Kampagnenfiihrung entscheiden politische Akteure. 1m Zentrum von Erklarungen fur die Wahlkampffuhrung und deren Wandel sollten daher sie und ihr Entscheidungsverhalten stehen. Urn mit einem solchen akteurszentrierten Modell Erklarungen zu entwickeln, kann man zunachst einige vereinfachende Annahmen treffen.i" In der Forschung wird haufig (implizit) angenommen, dass Parteieliten und Kandidaten das Ziel verfolgen, unter den gegebenen Bedingungen bei der bevorstehenden Wahl ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die Akteure wohlinformiert sind und zweckrational handeln: Sie nehmen die Umwelt zutreffend wahr, wissen, welche Instrumente wie geeignet sind, bestimmte Effekte zu erzielen, und setzen daher die Instrumente ein, die am effizientesten dazu beitragen, das Wahlziel zu erreichen. Soweit diese Bedingungen, die dem Menschenbild des homo oeconomicus entnommen sind", tiber die Zeit hinweg stabil gelten, lassen sich Veranderungen in der Wahlkampffiihrung auf veranderte aulsere Bedingungen zuruckfuhren, unter denen Eliteakteure Kampagnenentscheidungen treffen.f
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Siehe dazu beispielsweise Hetterich 2000~ Norris 2000~ Wagner 2005. Siehe etwa Rose 1967; Smith 1986; Jacobs & Shapiro 1994. Vgl. etwa Downs 1957; Lindenberg 1985. Dieses Argument lasst sich mutatis mutandis auf alle vergleichenden Wahlkampfanalysen anwenden, sei es, dass Kampagnen in verschiedenen Landern oder aufverschiedenen staatlichen Ebenen miteinander verglichen werden.
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Der Entscheidungsspielraum der Eliteakteure ist durch technische Restriktionen eingeschrankt, Beispielsweise konnten vor Erfindung von Radio und Femsehen Kandidaten simultan nur zu Menschen sprechen, die mit ihnen an einem Ort versammelt waren. Ebenso konnte eine Wahlkampagne in den 1970er Jahren nicht das Internet und damit bestimmte Formen der Wahlkampffiihrung einsetzen. Auch durfen finanzielle Restriktionen nicht ubersehen werden, da sie das Arsenal an verfugbaren Instrumenten empfindlich einschranken konnen, Ahnlich bindend wie die beiden bislang genannten Bedingungen sind institutionelle Vorgaben, die haufig gesetzlich geregelt sind und daher mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden konnen. Man denke etwa an das Wahlverfahren, Regelungen der Wah lkamp ffinanzierung, den Einsatz physischer Gewalt und die Neutralitat staatlicher Stellen. Daruber hinaus kann das genuine Geschehen vor einer Wahl, seien es politische Ereignisse oder Naturkatastrophen, nicht ausgeblendet werden. Politisch-kulturelle Faktoren konnen die Wirksamkeit von Wahlkampfinstrumenten beeinflussen. Von grundsatzlicher Bedeutung ist die Haltung der Bevolkerung zu Wahlkampfen, da im FaIle einer fundamentalen Skepsis gegen Wahlkampagnen aufwendige Instrumente nicht anzuraten sind und mancher Akteur sogar versuchen konnte, mit einem ostentativen Wahlkampfverzicht fur sich zu werben. FUr die Ausrichtung von Wahlkampfen bedeutsam ist die Frage, wie viele Wahlberechtigte auf eine bestimmte Wahlentscheidung festgelegt sind und daher im Wahlkampf mobilisiert, aber nicht zu einem Wechsel bewegt werden konnen, Je nachdem, wie groB diese Gruppen sind, sollten unterschiedliche Strategien geeignet sein, ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Indikatoren fur die Beeinflussbarkeit von Wahlberechtigten sind etwa die Verbreitung langfristiger Parteibindungen oder die Zugehorigkeit zu bestimmten sozialen GroBgruppen oder Milieus mit ausgepragten politischen Normen. FUr die konkretere inhaltliche Gestaltung von Wahlkampfen konnen politischkulturelle Faktoren ebenfalls von Belang sein. Welche Vorstellungen tiber die Rolle von Sachfragen in Wahlkampfen sind in der Bevolkerung wie verbreitet? Daneben konnen die wahrgenommene Bedeutung einzelner Themen und die unter Wahlberechtigten vorherrschenden Positionen zu einzelnen Streitfragen eine Rolle spielen. Wie gut die Stimmberechtigten tiber Sachfragen informiert sind, konnte ein Faktor sein, der fur das inhaltliche Niveau relevant ist, auf dem Themen in der politischen Auseinandersetzung behandelt werden. Welche Abweichungen von fruheren programmatischen Aussagen und Positionen eines Politikers oder einer Partei werden von der Bevolkerung erkannt, welche werden akzeptiert, welche mit Zweifeln an der Glaubwurdigkeit eines Politikers oder einer Partei bestraft? Wie werden nach einer Wahl nicht eingehaltene Versprechen sanktioniert? Mit Blick auf die personelle Komponente der Wahlkampffiihrung ist zu bedenken, welche Personen als (Spitzen-)Kandidaten akzeptiert werden. Beispielsweise konnte es in einer Gesellschaft trotz formalrechtlicher Gleichstellung verpont sein, dass sich Frauen oder Angehorige von Minderheiten urn politische Amter bewerben. Auch existieren in der Gesellschaft bestimmte Vorstellungen vom richtigen Verhalten von politischen Akteuren, die deren Akzeptanz beeinflussen konnen, So ist etwa davon auszugehen, dass der Vortragsstil des NSDAP-Vorsitzenden, der urn das Jahr 1930 auf das Publikum attraktiv gewirkt zu haben scheint, am Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich weniger positive Resonanz finden dtirfte. 23
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Dieses Argument verweist auf die generelle Rolle verinnerlichter asthetischer Normen und daraus resultierender Erwartungen der Stimmberechtigten fur die Wahlkampffuhrung. Diese kann man sich etwa daran veran-
Auch kulturelle Faktoren in der massenmedialen Umwelt politischer Akteure konnen die Kampagnenfiihrung beeinflussen. Der Erfolg vonfree media-Strategien hangt nicht nur von deren Gestaltung, sondem auch davon ab, wie Joumalisten damit umgehen, was neben kognitiven und materiellen Ressourcen von deren Rollenverstandnis beeinflusst wird: Bemuhen sie sich urn Objektivitat in der Berichterstattung, oder lassen sie parteiliche Inszenierungen passieren? Geben sie Wahlkampfaufierungen unverzerrt wieder, oder kommentieren sie? Streben sie nach Ausgewogenheit und Fairness, oder verfolgen sie das Ziel, einer Seite im politischen Kampf zu schaden und einer anderen zu helfen? Variationen in den damit angesprochenen Faktoren sind nicht nur denkbar, sondem ernpirisch nachgewiesen. Beispielsweise achten Medien in angelsachsischen Landern starker als in manch anderen Regionen darauf, Regierung und Opposition in der heiBen Wahlkampfphase gleichen Raum in der Berichterstattung einzuraumen.i" Auch scheinen sich nicht aIle Joumalisten im gleichen MaBe parteipolitischer Neutralitat in der Berichterstattung verpflichtet zu fiihlen, wie wiederkehrende VorwUrfe belegen, deutsche und amerikanische Joumalisten berichteten einseitig und entschieden auf diese Weise Wahlen mit,25 Speziell mit Blick auf die USA wird auch darauf hingewiesen, dass sich das Selbstverstandnis der Joumalisten dergestalt geandert habe, dass sie sich von "silent skeptics" zu "vocal cynics" entwickelt hatten, also Aussagen von Politikem zunehmend haufiger interpretierten, kommentierten und kritisierten. 26 Der politische Wettbewerb und die Rolle eines Akteurs darin sind weitere potentiell relevante Faktoren. Zu denken ist etwa daran, dass Regierungsakteure mit ihren Entscheidungen Politik gestalten und damit reale Folgen herbeifiihren konnen, wahrend andere Akteure nur Vorschlage formulieren konnen, Angesichts der Auswahlkriterien von Joumalisten haben es Regierungspolitiker daher vergleichsweise leicht, in die regulate Medienberichterstattung zu gelangen, und genieBen einen Wettbewerbsvorteil im Kampf urn die mediale Aufmerksamkeit." Zugleich werden Regierungsakteure in der offentlichen Wahrnehmung mit ihrem Handeln verbunden, was dazu beitragt, dass Amtsinhaber in Wahlkampfen haufig ihr Regierungshandeln verteidigen und in ein gunstiges Licht zu rucken suchen, wahrend andere Parteien und Kandidaten dieses kritisieren.i" Daneben durften die Zahl der Konkurrenten und deren Strategien fur die Strategiewahl eines Kandidaten oder einer Partei relevant sein. Weniger als Restriktionen denn aIs Anregungen oder Vorbilder konnen andere Kampagnen wirken. Im einfachsten Fall ziehen Akteure aus ihren Wahlkampfen in der Vergangenheit Schlussfolgerungen. Aber sie konnen auch von Kampagnen auf anderen staatlichen Ebenen oder in anderen Landern lemen. Beispielsweise konnen sich Kommunal- oder Landespolitiker von Karnpagnen auf der Bundesebene anregen lassen. Ebenso konnen Wahlkampagnen in anderen Landern die Wahlkampffiihrung wesentlich beeinflussen, wobei die Vorbildrolle arnerikanischer Wahlkampfe in der Forschung bislang eine besonders hervor-
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schaulichen, dass Femsehspots vom Beginn des 21. Jahrhunderts mit ihrer schnellen Schnittfolge in den 1960er oder 1970er Jahren kaum erfolgversprechend gewesen waren, wie auch umgekehrt - sieht man von bewusster Ironie ab - Akzeptanzprobleme auftreten durften. Vgl. etwa Domke et al. 1997; Schoenbach & Semetko 2000. Siehe Noelle-Neumann 1977, 1990; Kepplinger & Donsbach 1983; Lichter et al. 1986; Bennett 1996; Kepplinger & Maurer 2005. Vgl. Patterson 1993. Vgl. etwa Schulz 1998; Schoenbach et al. 2001. Vgl. etwa Kaid & Holtz-Bacha 1995: 213-217; Maurer & Reinemann 2003: 65-72.
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gehobene Rolle gespielt hat." Aber auch neue Entwicklungen in der kommerziellen Werbung oder neue Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Forschung zur politischen Meinungsbildung und zum Wahlverhalten konnen Wahlkampfe beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit solcher Einflusse scheint unter anderem von sozialen Kontakten zwischen verschiedenen Arenen begunstigt zu werden. So wird etwa international aktiven und vemetzten Wahlkampfberatem eine wichtige Rolle bei der Diffusion von Wahlkampfideen zugeschrieben." Diese exemplarisch dargestellten Randbedingungen konnen individuelle und kollektive Entscheidungen uber die Wahlkampffiihrung beeinflussen. Allerdings sind Wirkungen nicht in allen Fallen gleich wahrscheinlich. 1m Falle rechtlicher oder okonomischer Bedingungen ist der Interpretations- und Entscheidungsspielraum der Akteure eng begrenzt. Sind beispielsweise die finanziellen Ressoureen erschopft, konnen keine kostspieligen Instrumente mehr eingesetzt werden. Anders sieht es bei einer Reihe anderer Bedingungen aus, speziell bei politisch-kulturellen. Sie konnen auf das Kampagnengesehehen nur dann wirken, wenn sie von den politischen Akteuren als wahlkampfrelevant angesehen werden. Diese Bedingungen konnen also erst dann als Restriktionen wirken, wenn sie von den Akteuren als solche akzeptiert sind. Damit treten die Realitatsvorstellungen der Akteure, etwa von der wahlkampfrelevanten Umwelt und der Wirksamkeit von Kampagneninstrumenten, als intervenierende Faktoren in Erseheinung. Das oben skizzierte gangige Modell nimmt an, dass die wahrgenommene Realitat mit den objektiven Bedingungen ubereinstimmt, so dass man darauf verzichten kann, die Perzeptionen der Eliteakteure empiriseh zu untersuchen. Doeh kann diese Annahme durchaus verletzt sein. Man denke etwa an Wahlkampfer, die falsche Vorstellungen von der vorherrsehenden politischen Stimmung oder der Wirksamkeit bestimmter Kampagneninstrumente haben. Sind die Akteure nieht wohlinformiert, ist nieht mehr unbedingt damit zu reehnen, dass veranderte Randbedingungen einen Wandel der Wahlkampffiihrung nach sich ziehen. Zugleich kann sich die Kampagnengestaltung aueh bei konstanten Randbedingungen verandern, da sich die Vorstellungen der Akteure unabhangig von der Realitat andern konnen." Sind Wahlkampfer beispielsweise bei tatsachlich konstanten Wahlerpraferenzen nicht langer der Auffassung, Stimmen lieBen sich am besten mit sachlichen Aussagen gewinnen, sondern meinen nun, es komme auf emotionale Appelle an, werden sie die Wahlkampffiihrung entsprechend anpassen. Die Vorstellungen der Akteure von der wahlkampfrelevanten Umwelt konnen somit eigenstandig zur Erklarung des Kampagnenwandels beitragen. Die oben formulierten Annahmen zur Motivation politiseher Akteure mussen ebenfalls nieht durchgangig der Realitat entsprechen. So mussen politische Akteure nieht unbedingt eine auf die gerade bevorstehende Wahl bezogene Zielsetzung verfolgen, sondem konnen auch langerfristige Ziele im Blick haben. Auch kann die Motivation, ein bestimmtes Ziel zu 29 30
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Siehe etwa Kamps 2000~ Wagner 2005. Siehe etwa Plasser 2003. Solche Veranderungen konnen in verschiedene Richtungen gehen und unterschiedliche Ursachen haben. Beispielsweise konnen Erkenntnisfortschritte die Vorstellungen der Akteure realitatsnaher werden lassen. So konnten politische Akteure heutzutage genauere und realitatsgetreuere Vorstellungen von den politischen Praferenzen der Wahlberechtigten haben als in Zeiten ohne stichprobentheoretisch fundierte Umfrageforschung, in denen Kampagnenmanager auf Auguren, Intuition und Daumenregeln angewiesen waren. Allerdings muB der Wahmehmungswandel nicht zwingend in diese Richtung verlaufen. So konnen etwa veranderte kulturelle Normen, etwa Affinitaten zu kulturellen Raumen oder gesellschaftlichen Arenen, zu veranderten, aber nicht unbedingt realitatsnaheren Vorstellungen der Wahlkampfakteure fuhren,
verfolgen, variieren, etwa mit der einer Wahl zugeschriebenen Wichtigkeit. Neben kurzfristigen sind langerfristige Veranderungen denkbar. Beispielsweise konnte die Entwicklung yom ehrenamtlichen zum hauptberuflichen Politiker dazu beigetragen haberr", dass Wahlerfolge fur politische Akteure wichtiger wurden und daher deren Bereitschaft wuchs, sich intensiver darum zu bemuhen und auch kostspielige Instrumente einzusetzen. Damit erscheint die Motivation der Akteure als eine variable GroBe, die zum Wahlkampfwandel beitragen kann." Insgesamt sprechen diese Uberlegungen dafiir, dass die Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampffiihrung eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe ist. Denn neben zahlreichen aufseren Faktoren konnen Veranderungen in der Wahrnehmung oder Motivation politi scher Akteure zum Wahlkampfwandel beitragen. Angesichts der Vielzahl potentieller Einflussfaktoren ist es prinzipiell schwierig, hieb- und stichfest Effekte bestimmter Grofsen nachzuweisen. Hinzu kommt, dass die Forschung bislang einige potentielle Einflussfaktoren kaum berucksichtigt hat, nieht zuletzt die Ziele und Wahrnehmungen politischer Akteure. Das ist insofern erklarbar, als sieh Wahlkampfer nieht geme in die Karten schauen lassen. Doch andert dies niehts an der zentralen Position dieser Faktoren im Entscheidungsprozess, da fur Wahlkampfer wie fur andere Akteure nur das real ist, was sie als real wahrnehmen - und die subjektive Wahrnehmung nieht mit der Realitat ubereinstimmen muss." Vor diesem Hintergrund erseheint es sinnvoll, trotz der damit verbundenen Probleme kunftig zu versuehen, in den .Arkanbcreich der Politik'r" vorzudringen, urn Motive und Wahrnehmungen der politisehen Akteure empirisch zu analysieren, anstatt daruber ungeprufte Annahmen zu treffen.
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Schluss
Wahlen sind fur die Demokratie von herausragender Bedeutung, da sie Burgern die Mogliehkeit bieten, Herrschaft auf Zeit zuzuweisen. Daher erscheint es nur konsequent, daB die empirische Wahlforschung in Demokratien groBe Aufmerksamkeit genieBt und zu den am weitesten fortgeschrittenen Teildisziplinen in der Politikwissenschaft gerechnet wird. Da Wahlkampfe zu Wahlen gehoren wie Exposition, Peripetie und Katastrophe zum klassischen Drama, konnte man vermuten, dass auch Wahlkampfe zu den besonders intensiv untersuchten Gegenstanden sozialwissenschaftlicher Forschung zahlen, Entgegen dieser Vermutung sind sie bislang eher stiefmutterlich behandelt und selektiv erforscht worden. Es finden sich etliehe Arbeiten zur Wirkung von Wahlkampfen und einzelnen Kampagnenelementen auf das Wahlverhalten, was sieh aus der Affinitat dieses Forschungszweiges zur Wahlforsehung erklaren lasst, 1m Vergleich dazu ist die Forsehung zur Wahlkampffiihrung bislang kaum den Kinderschuhen entwachsen. Der vorliegende Beitrag hat sich mit grundlegenden Fragen der Wahlkampfforschung auseinandergesetzt. Zunachst wurde auf Vorzuge einer problemorientierten und theoriegeJ2 33
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Siehe etwa Borchert & Golsch 2003. Als zusatzliche Komplikation kommt hinzu, dass Wahlkampfe haufig nieht Ergebnisse individueller, sondem kollektiver Entscheidungen sind. Diese Uberlegung hat Konsequenzen fur Versuehe, die Wahlkampffuhrung als Indikator fur die poJitische Kultur zu nutzen (siehe etwa Bendikat & Lehnert 1990; Holtz-Bacha 2000; Stober 2000). Denn die Validitat des Indikators hangt entscheidend davon ab, welche Vorstellungen die Akteure von der politischen Kultur entwickeln und wie sie diese in die WahlkampffiihrungeinflieBen lassen. Jarren & Bode 1996: 65.
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leiteten Vorgehensweise bei der Definition von Wahlkampfen und der Identifikation von Kriterien fur Einzelfallstudien und vergleichende Analysen von Wahlkampagnen hingewiesen. AnschlieBend wurde auf die mittlerweile in der Literatur lebendig gefuhrte Diskussion tiber Erklarungen von Veranderungen in der Wahlkampffuhrung eingegangen. Es wurde eine akteurszentrierte Perspektive vorgestellt, die es ermoglicht, das Problem analytisch zu fassen und potentielle Erklarungsfaktoren zu identifizieren. Dabei wurde auf Defizite der bisherigen Forschung hingewiesen, wie auch angeregt wurde, die akteurszentrierte Perspektive starker fur empirische Analysen nutzbar zu machen. Fortschritte bei der Erklarung der Wahlkampffiihrung und ihres Wandels konnten auch dazu beitragen, die eingangs erwahnten kritischen Bemerkungen zu Wahlkampagnen ins rechte Licht zu rucken. Sollte sich die Kampagnenfiihrung beispielsweise als Reaktion auf Vorstellungen und Wunsche der BUrger erweisen, durfte es schwer fallen, allein politische Akteure fur Wahlkampfe verantwortlich zu machen, die man fur inhaltlich unangemessen und niveaulos halt. Vielmehr hieBe dann Wahlkampfe zu kritisieren auch BUrger zu kritisieren. Nicht zuletzt weit reichende Implikationen dieser Art lassen es geboten erscheinen, Wahlkampfe konzeptionell, theoretisch und methodisch sorgfaltig zu untersuchen.
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Wahlkampf und Wirklichkeit - Veranderungen der gesellschaftlichen Realitat als Herausforderung fur die empirische Wahlforschung Von Thomas Roessing
1.
Einleitung
Jeder Wahlkampfist einzigartig. Wahlkampagnen sind stets eingebettet in ein ganz eigenes, sich immerfort wandelndes gesellschaftliches und politisches Klima. Unerwartete Ereignisse oder Veranderungen stellen die Wahlforschung regelmafsig vor neue Herausforderungen. Die kausalen Verflechtungen von Gesellschaft, Politik, Kandidaten, Medien, Wahlem und Wahlausgang zu erforschen, erfordert deshalb besondere Ansatze und Methoden, wenn die Befunde tiber die Beschreibung und Erklarung von Einzelfallen hinausgehen sollen. Oer vorliegende Beitrag diskutiert zunachst einige grundlegende erkenntnistheoretische ProbIerne der ernpirischen Sozialwissenschaft, insbesondere das Problem der veranderlichen sozialen Realitat, die sich unter den Handen der Forscher wandelt. Im Anschluss daran wird der Eintluss spezifischer und veranderlicher Randbedingungen auf Wahlen an einigen Beispielen diskutiert. Am Ende des Beitrags stehen Anregungen fur ernpirische Sozialwissenschaft, insbesondere die Wahlforschung. 2.
Entdecken, Beschreiben, Erklaren
Wissenschaft kann aufgefasst werden als das Entdecken, Beschreiben und Erklaren von Strukturen der Wirklichkeit.' Die Rolle des Entdeckens wird dabei zu unrecht oft vemachlassigt, weil Beobachtungen, die nicht der Uberprufung von a priori aus einer Theorie abgeleiteten Satzen dienen, dem weithin akzeptierten wissenschaftstheoretischen Paradigma des Popperschen Falsifikationismus' zu widersprechen, oder auBerhalb des eigentlichen Wissenschaftsprozesses zu Iiegen scheinen.' Insbesondere Zufallsfunde, Mertons Serendipity", werden gelegentlich als nicht-wissenschaftlich im Sinne des kritischen Rationalismus aufgefasst, weil sie nicht theoriegeleiteter (deduktiver) Beobachtung entspringen. Karl Popper selbst halt jedoch jede Beobachtung fur theoriegeleitet und schlieBt Zufallsfunde keineswegs aus seiner wissenschaftstheoretischen Position aus: ,,(...) 'chance-discoveries' are as a rule refutations of theories which were consciously or unconsciously held: they are made, when some of our expectations (based upon these theories) are unexpectedly disappointedv.? Tatsachlich ist das Entdecken von Strukturen und Zusammenhangen fur die
Vgl. Roessing 2000. Vgl. Popper 1989~ 1994. Vgl. Albert 1973: 66. Vgl. Merton 1995: 100~ Merton & Barber 2004. Popper 1989: 220.
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Wissenschaft mindestens so wichtig wie das Testen von Theorien durch Falsifikationsversuche. Denn Tatsachen, die unentdeckt bleiben, konnen nicht zurn Wissen uber die Wirklichkeit beitragen. Die Wirklichkeit detailliert zu beschreiben ist ebenfalls ein wichtiger Teil wissenschaftlicher Arbeit. Die Forscher mussen sich der Beschaffenheit ihrer Forschungsobjekte sicher sein, unvollstandige oder falsche Beschreibungen fUhren zwingend zu falschen Erklarungen, Das ist der Grund, warum in vielen Bereichen der Naturwissenschaft groliter Wert auf die Beschreibung von Phanomenen gelegt wird (z.B. morphologische Taxonomie in der Biologie), bevor der Versuch einer theoretischen Erklarung oder der Falsifikation von Erklarungen untemommen wird. Als wichtigstes Ziel der Wissenschaft wird schlieBlich vielfach das Erklaren entdeckter und beschriebener Strukturen der Wirklichkeit aufgefasst. FUr Physiker und Chemiker ist es durchaus interessant zu wissen, dass Gegenstande aus Gold stets elektrisch leitfahig sind; mit geeigneten Messinstrurnenten lasst sich das Phanornen auch sehr detailliert beschreiben. Die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftler besteht jedoch darin, die Frage zu beantworten: Warum leitet Gold elektrischen Strom?" Analogien lassen sich in der Wahlforschung leicht finden: Man weiI3, dass Wahler rnanchmal dazu neigen, ihre Stirnme dem vermeintlichen Wahlsieger zu geben. Warum das so ist, mussen Wahlforscher herausfinden und erklaren: 1st hier der Bandwagon-Effekt ausschlaggebend oder Isolationsfurcht?" Eines der Probleme der Wahlgeographie des Andre Siegfried" bestand in der mangelnden Erklarungskraft der von ihm beschriebenen Zusammenhange zwischen geographischen Gegebenheiten unterschiedlicher Landstriche und dem Wahlverhalten der Bewohner. Das Entdecken und Beschreiben von Vorgangen und Ergebnissen bei Wahlkampfen und Wahlen ist ein wichtiger Teil der Wahlforschung, aber ohne das Streben nach Erklarungen bliebe sie unvollstandig. Wissenschaftliches Erklaren ist das Formulieren von Satzen uber kausale Zusamrnenhange.l" Kausale Zusamrnenhange bestehen jedoch stets aus mehr, als aus einer Ursache und einer Wirkung. Die Ursache- Wirkungsbeziehung ist vielmehr umgeben von der Gesamtheit der Randbedingungen, die fur die konkrete Wirkung einer konkreten Ursache unerlasslich sind. 3.
INUS-BedinguDgeD und Ceteris-Paribus-Klauseln
Bedingungen fur Wirkungen werden kausaltheoretisch INUS-Bedingungen genannt. INUS ist ein Akronym fur insufficient but necessary part of an unnecessary but sufficient condition," Eine Ursache U allein ist nicht hinreichend fur eine konkrete Wirkung W. Erst als
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II
Vgl. Lange 2000: 6 ff. Vgl. Simon 1954; Noelle-Neumann 1993. Vgl. Noelle-Neumann 2001: 19. Vgl. Roth 1998: 12 ff. Vgl. Popper 1994: 31 ff 62. Freilich sind sowohl der Begriff der Kausalitat und die Moglichkeiten kausale Zusammenhange zu entdecken und zu beschreiben,umstritten (vgl. Wilson 1985; Salmon 1998, Lange 2000: 3-11). Der vorliegende Beitrag kann auf diesen Streit aus Platzgrunden nicht eingehen; es wird vielmehr davon ausgegangen, dass es Kausalitat gibt und dass es moglich ist, etwas tiber kausale Zusammenhange herauszufinden. Diese Konvention ist eine Obereinkunftahnlich der Realitatskonvention des methodologischen Falsifikationismus (Lakatos 1974), der seinerseitseine wichtige Grundlage des weithin anerkanntenkritischen Rationalismus Poppers ist. Vgl. Westermann2000: ]53.
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notwendiger Teil der Menge der Randbedingungen R entsteht die hinreichende, wenngleich insgesamt nicht notwendige INUS-Bedingung I fur die Wirkung W. Abbildung 1: INUS-Bedingungen
hinreichend, aber nicht notwendig
notwendig, aber nicht hinreichend
Quelle: Eigene Darstellung Die abstrakte Idee der INUS-Bedingungen lasst sich durch ein einfaches Beispiel anschaulich erklaren.V In einer Alltagsbetrachtung wird man ein brennendes Streichholz ublicherweise als Ursache fur ein Feuer ansehen. Bei naherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass ein brennendes Streichholz allein nicht hinreicht, ein Feuer zu verursachen: Zusatzlich rnussen z.B. eine Sauerstoffatmosphare und Brennmaterial (z.B. Holz oder Papier) vorhanden sein, damit ein Streichholz ein Feuer entfachen kann. Das Streichholz ist notwendiger, aber allein nicht hinreichender Bestandteil eines gemeinsam mit Sauerstoff und dem Brennmaterial hinreichenden (wenngleich nicht notwendigen, denn man kann Feuer auch auf andere Weise anztmden, als mit einem Streichholz) Bedingungssatzes fur ein Feuer. Wissenschaftliche Erklarungen gelten in der Regel "ceteris paribus", das heiBt, einzelne Ursachen werden fur kausale Erklarungen herangezogen unter der Bedingung, dass das Geflecht aus Rand- und Nebenbedingungen sich nicht verandert." Die explizite Forderung nach stabilen Randbedingungen ist besonders fur nomothetische Wissenschaft, also das 12 13
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Vgl. Roessing & Esser 2004: 122 I; ahnlich auch Westermann: 2000: 154. Vgl, Westermann 2000: 156 f; Schiffer 1991; Ceteris-Paribus-Klauseln sind wegen ihrer Konsequenzen fur die nomothetische Forschung umstritten, vgl. z.B. Woodward 2002; Lange 2002.
Identifizieren von Gesetzmalsigkeiten der Wirklichkeit'", wichtig. Wissenschaftliche Gesetze gelten nur unter definierten Bedingungen. Andert sich das relevante Umfeld, kann ein Gesetz nicht mehr angewandt werden. So gelten Gesetze der Chemie oft nur fur bestimmte Druckverhaltnisse, physikalische Gesetze nur im Vakuum und biologische Gesetze nur fur bestimmte Okosysterne oder Klimazonen. Das Problem, dass in Gesetzesform formulierte Theorien von der Konstanz der Randbedingungen abhangen, ist schon fur die Naturwissenschaften eine groBe Schwierigkeit, obwohl es dort in vielen Bereichen relativ leicht moglich ist, unter kontrollierten Bedingungen zu arbeiten. Fur die Sozialwissenschaften stellt die Veranderung der Realitat unter den Handen der Forscher eine gravierende Herausforderung dar", was in besonderem MaBe die Wahlforschung betrifft, wie die Beispiele der folgenden Kapitel zeigen werden. 4.
Opinion Leader und der Two-Step-Flow of Communication
Zu einem der wichtigsten Befunde der Studie "The People's Choice" von Paul F. Lazarsfeld und seinen Kollegen 16 gehort der "Two-Step Flow of Communicationv'", also die Beobachtung, "that ideas often flow from radio and print to the opinion leaders andfrom them to the less active sections of the population". 18 Die Studie, die zum Konzept der Meinungsfuhrer und der Vorstellung des Zweistufenflusses der Medienwirkung (und damit letztlich zum Paradigma der schwachen Medienwirkungen 19) fuhrte, wurde 1940 in Erie County im US-Bundesstaat Ohio durchgefuhrt, Das Buch von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet erlautert die Randbedingungen ihrer Untersuchung recht ausfuhrlich: Erie County war kein ,typischer' US-Bezirk, sondern wies einige besondere Eigenschaften auf. 20 Die Bevolkerung wird als familienorientiert beschrieben und der Ort Sandusky als "church town with the church as the core of social life".21 Das Medienangebot bestand aus einigen Zeitungen und dem Radio. Die Befunde der Forschungsgruppe urn Lazarsfeld entstanden also unter sehr spezifischen Randbedingungen, ihre Verallgemeinerbarkeit war damit stark eingeschrankt: ceteris paribus. Das Konzept des Two-Step-Flow of Communication ist allerdings sehr anfallig fur Veranderungen der Gesellschaft und des Medienangebots. Verringert sich die Bedeutung der Familie ineiner Gesellschaft oder steigt die Verfugbarkeit von Medieninhalten an, schwindet die Bedeutung der Meinungsfiihrer als Stufe im Kommunikationsfluss. Seit 1940 ist insbesondere das Fernsehen als neues Medium hinzugekommen. Und seine Nutzung hat sich seit den Anfangen in den 1950er Jahren stark gewandelt. In der Bundesrepublik Deutschland steigerte die Bevolkerung ihren wochentlichen Femsehkonsum zwischen 1967 und 2001 urn fast vier Stunden. Gleichzeitig ging die Reichweite der Informationssendungen zuruck. 22 Mit den veranderten Sehgewohnheiten und immer mehr Fernsehgeraten pro Haushalt muf auch eine weitere Annahme ZUT Wirkung des Femsehens revidiert werden. Noelle-Neumann schreibt 1980 tiber die, verglichen mit der Presse, geringere Rolle der 14 15
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Vgl. Albert 1973: 74 f. Vgl. Roessing & Esser 2004. Vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965. Vgl. Jerabek 2006: 91. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 150, kursiv im Original. Vgl. Donsbach 1991: 18 ff. Vgl, Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 10. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 11. Vgl, Noelle-Neumann & Petersen 2005a: 179.
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Selektion bei der Femsehrezeption: .Lesen als individuell bestimmte Tatigkeit erlaubt freier selektives Verhalten als die charakteristische Gruppensituation des Fernsehempfangs mit unvermeidlich widerstrebenden Bedurfnissen der Gruppenrnitglieder.v'" Durch die Zunahme der Haushalte mit mehr als einem Fernsehgerat und der Zahl der SingleHaushalte durfte das Fernsehen heute vielfach keine "charakteristische" Gruppensituation mehr sein und Selektion - auch angesichts der seit 1984 drastisch gewachsenen Zahl der Sender - auch beim Fernsehen eine Rolle spielen. Man erkennt leicht, dass der Two-Step-Flow of Communication als sozialwissenschaftliches Gesetz nicht in Frage kommt, weil seine Rolle fur die Wirkung der Massenmedien stark von den medialen und sozialen Strukturen abhangt. Mit den Veranderungen der Gesellschaft gegenuber der von Erie County im Jahre 1940 wandelt sich die Rolle der Befunde von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet. Interessanterweise waren die drei Autoren sich der Probleme bewusst, die den Forscher erwarten, der Befunde als allgemeingultige Erklarungen zu generalisieren sucht, In der zweiten Auflage von "The People's Choice" von 1965 schreiben die Autoren in der Einfuhrung: "We are frequently warned that the results of a specific study are valid only for the time and place where it was conducted'v" Sie schlagen die Wiederholung von Studien und den Vergleich ahnlicher Untersuchungen vor, urn dem Problem zu begegnen. Dabei stehen drei Ziele im Vordergrund (auf die spater im vorliegenden Beitrag noch zuruckzukommen sein wird);" 1. Corroboration, also das Untermauern von Befunden, wenn mehrere Studien zum selben Ergebnis kommen; 2. Specification, die genauere Bestimmung von kausalen Beziehungen, wenn mehrere Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, die Unterschiede aber durch Berucksichtigung von Randbedingungen erklart werden konnen; 3. Clarification, die Klarstellung bisheriger Annahmen, wenn neue Studien zu neuen Ergebnissen fUhren.
5.
Wahlen in Deutschland
Wahlkampfe und Wahlen haben sich auch in Deutschland seit den Anfangen der sozialwissenschaftlichen Wahlforschung verandert und die Wahlforschung hat diese Veranderungen identifiziert und nachgezeichnet (beschrieben und zu erklaren versuchtj." Wahlkampfe der Adenauer-Ara" verliefen anders als solche der 1980er und fruhen 1990er Jahre, und diese unterscheiden sich wiederum von den extrem mediatisierten Wahlkampfen der letzten Jahre. Neben der bereits erwahnten Veranderung des klassischen Medienangebots'" und seiner Nutzung, fanden die jungeren Wahlkampfe zudem unter den Bedingungen einer durch das Internet drastisch erweiterten und veranderten Medienlandschaft start." 1m folgenden solI jedoch nicht auf allgemeine Veranderungen der Art, wie Wahlkampfe gefuhrt werden und generelle Entwicklungen der Gesellschaft und der Medien eingegangen werden. Dazu ist
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Noelle-Neumann 1980: 80. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: xiv. Vgl. Lazrasfeld, Berelson & Gaudet 1965: xv. Siehe den Beitrag von Harald Schoen im vorliegenden Band. Siehe den Beitrag yon Mathias Friedel im vorliegenden Band. Vgl. auch Kepplinger 1998: 34 ff. VgJ. Scherer & Schlutz 2004; Webel, Kepplinger & Maurer 1999; DOring 2003; siehe auch den Beitrag von Tilo Hartmann im vorliegenden Band.
ausreichend spezielle Literatur vorhanden." Vielmehr solI gezeigt werden, wie spezielle Situationen und Ereignisse Wahlkampfe gepragt, die Erklarungskraft der Wahlforschung eingeschrankt und die Entwicklung der Wahlforschung zu einer nomothetischen Wissenschaft erschwert haben.
5.1 Bundestagswahl 1972 Nach drei Jahren sozialliberaler Koalition gab es Ende 1972 Neuwahlen, nachdem Bundeskanzler Willy Brandt die Vertrauensfrage gestellt und Bundesprasident Heinemann das Par lament aufgelost harte." Es entwickelte sich ein kurzer, aber extrem emotionalisierter Wahlkarnpf urn die Person Willy Brandts und die von ihm verkorperten Werte sowie die Ostpolitik." Brandt und die starke, von manchem als .rnelodramatischv" ernpfundene Emotionalisierung konnen daher als pragende Randbedingungen des Wahlkampfes und des Wahlausgangs betrachtet werden - eine Konstellation, die beispielsweise bei den Bundestagswahlen von 1980 oder 1994 fehlte." Die Wahl von 1972 trieb unter anderem die Entwicklung der Theorie der offentlichen Meinung als soziale Kontrolle voran, die Elisabeth Noelle-Neumann in den vorausgegangenen Jahren begrundet hatte. Auch das ist den besonderen Bedingungen der Wahl von 1972 geschuidet. Seit 1970 war dem Institut fUr Demoskopie in Allensbach aufgefallen, daB mehr Leute behaupteten, 1969 SPD gewahlt zu haben, als das nach dem amtlichen Ergebnis wirklich getan haben konnten (Underclaiming/Overreporting)." Wie schon bei der Wahl 1965 wurde ein Last-Minute-Swing in Richtung des vermuteten Wahlsiegers beobachtet." So, wie die Stimmung der Wahl 1965 mutmaBlich vom popularen Kandidaten Erhard und einern erfolgreichen Besuch der englischen Konigin beeinflusst wurde, stand die Wahl 1972 im Zeichen des charismatischen Brandt, der gesellschaftlichen Veranderungen in der Foige der (1972 noch andauemden) ,,68er"-Bewegung und der Brandtschen Ostpolitik." FUr die Wahlforschung hat die besondere, und gegenuber den Wahlen der 1960er Jahre stark gewandelte Konstellation der Wahl von 1972 hinsichtlich der hier verfolgten Analyse drei Konsequenzen. Erstens wurde die Wahl von Noelle-Neumann genutzt, urn ihre neue Theorie der Schweigespirale empirisch zu testen." Das Bestehen empirischer Tests sowohl von Lazarsfeld als auch von Popper ,Corroboration' genannt - ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der Hypothese tiber eine anerkannte Theorie hin zu einem allgemeinen Gesetz. Dabei verdankt es die Theorie Noelle-Neumanns gerade dem besonderen emotionalen Potential der Wahl 1972, bestatigt worden zu seine In manchen Wahlkampfen fehlen die von der Theorie geforderten Randbedingungen wie die "moralische Ladung", was eine Uberprufung der Theorie erschwert. Zweitens wurde die Theorie von NoelleNeumann herangezogen, urn den speziellen Einzelfall der Wahl 1972 zu erklaren." Das ist jedoch im ZusammenspieI mit der Bestatigung der Theorie problernatisch. 1m Zentrum 30
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VgJ. dazu z.B. Patterson 1993~ Kepplinger ]998~ Esser & Pfetsch 2003. Vgl. Wilke & Reinemann 2000: 31. Vgl. Noelle-Neumann 2001: ]7 f. Kepplinger, Maurer & Roessing 1999: ] 35. VgI. Noelle-Neumann 1994. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 31. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 51 ~ Noelle-Neumann 2001: 17. Vgl. Noelle-Neumann 2001: 17 ff. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 35. Vgl. Noelle-Neumann 1980.
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dieser Analysen stand die Erklarung des Verhaltens der Wahler bei einer bestimmten Wahl, nicht so sehr das Uberprufen von Theorien und Gesetzen. Problematisch ist es deshalb, weil es zu wenig erhellenden, zirkularen Interpretationen der Befunde fuhren kann (die Theorie erklart die Beobachtungen und die Beobachtungen stutzen die sie erklarende Theorie ... ).40 Es handelt sich also urn ein Beispiel dafur, wie nomothetische Wahlforschung mit dem Wunsch konfligieren kann, die besondere INUS-Konstellation einer konkreten Wahl zu erklaren, Drittens macht die Wahl 1972 die Abhangigkeit von Wahlkampf und Wahlausgang von speziellen und von den meisten Theorien nicht vorhergesagten BedingungsSystemen besonders deutlich. Aus welcher Theorie harte man in den 1960er Jahren eine Prognose fur den Wahlausgang 1972 deduzieren sollen?
5.2 1990 Ein weiteres Beispiel fur eine Wahl unter unerwarteten Vorzeichen war die erste gesamt41 deutsche Wahl nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Das Wahljahr war bestimmt von der Vorbereitung der Wiedervereinigung, der Wahrungsunion mit der untergehenden DDR, den Verhandlungen tiber den 2+4-Vertrag - wobei freilich die Darstellung dieser Ereignisse in den Medien, die Vermittlung des Auftretens der Kandidaten Helmut Kohl und Oskar Lafontaine durch das Femsehen, fur die meisten Menschen ausschlaggebender waren, als die historischen Ereignisse selbst. 42 Auf den Kanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, wurde wahrend des Wahlkampfes ein Attentat mit einem Messer verubt, bei dem er schwer verletzt wurde. Kurz nach der Wiedervereinigung, im Oktober, wurde auBerdem der Bundesinnenminister des Kabinetts Kohl, Wolfgang Schaube, durch ein Attentat lebensgefahrlich verletzt." Aubergewohnliche Ereignisse haben oft auBerordentliche Konsequenzen fur die empirische Sozialforschung. Ein bekanntes Beispiel dafUr ist der Unfall im Kemkraftwerk von TschemobyI im April 1986. In der Folge veranderte sich sowohl die Berichterstattung fiber Kemenergie, als auch die Einstellung der Menschen dazu, sowie zu Technik und Fortschritt allgemein, nachhaltig. Die Berichterstattung tiber den Atomunfall in der UdSSR beherrschte wochenlang die Nachrichtenmedien, gleichzeitig war Tschemobyl fur die Bevolkerung mit Abstand das wichtigste Thema (Agenda-Setting). Durch die sehr starke Berichterstattung wurde eine sehr starke Beachtung des Themas hervorgerufen." In vielen Statistiken und Zeitreihenanalysen wirkt sich der Unfall von Tschemobyl als deutlich sichtbarer Bruch aus. Sozialwissenschaftliche Prognosen, die auf langfristigen Entwicklungen beruhen, oder langfristige Entwicklungen vorhersagen, werden durch Killer Issues wie Tschernobyl massiv gestort, Das gilt in ahnlichem MaBe fur die Anschlage vom 11. September 2001, die gesellschaftliche Entwicklungen verandert oder neu angestoBen haben. Die herkommliche Erkenntnistheorie wurde fur die Naturwissenschaften entwickelt. Allerdings kommt es in den meisten Naturwissenschaften nicht, oder allenfalls aulserst selten vor, dass Ereignisse der Realitat, die Berichterstattung daruber und daraus folgende
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Vgl. Kepplinger, Maurer & Roessing 1999: 216. Vgl. Andersen & Woyke 1990~ Oberndorfer & Mielke 1992. Vgl. Kepplinger, Brosius & Dahlem 1994. Vgl. Kepplinger, Brosius & Dahlem 1994: 27 ff. Vgl. Kepplinger 1989: 191 ff.
weitere reale Ereignisse interagieren." In den Sozialwissenschaften dagegen konnen unerwartete Ereignisse die Entwicklung und die Anwendung von Theorien massiv storen, Nomothetische Wissenschaft kann unerwartete Ereignisse weder integrieren noch prognostizieren, Wie der Kemkraft-Unfall im sowjetischen Tschemobyl 1986 ist die Wiedervereinigung Deutschlands eine Zasur in den Daten der Sozialwissenschaftler. Es anderte sich nicht nur die Grundgesamtheit bei gesamtdeutschen Bevolkerungsumfragen, auch die Medienlandschaft und die Politik wurden durch den Beitritt der DDR stark erweitert und umgestaltet. FUr die Wahlforschung begann eine neue Ara, die Paradigmata der 1970er und 80er Jahre verIoren zurn Teil ihre Gultigkeit, Noch heute sieht man in vielen Statistiken und Graphiken Bruche und erklarende Hinweise zur Entwicklung der Daten "seit 1990".
5.3 Flut und Kriegsgefahr 2002 Der Bundestagswahlkampf im Jahre 2002 wurde von zwei Themen bzw. Ereignissen bee influsst, die als solche uberhaupt nichts mit dem Wahlkampf, den Parteien oder den Kandidaten zu tun hatten. Einerseits verscharfte sich der Kontlikt zwischen den Vereinigten Staaten yon Amerika und dem Regime Saddam Husseins im Irak. Viele Deutsche lehnten einen Krieg der USA gegen den Irak grundsatzlich abo Die SPD und ihr Spitzenkandidat, der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schroder, bezogen ebenfalls diese Position. Die Unionsparteien vertraten dagegen keine grundsatzliche Ablehnung einer militarischen Auseinandersetzung im Irak. Das fuhrte zu Nachteilen fur die Union im Meinungsklima vor der Wahl. Andererseits verdrangte die Elbe-Flut alle anderen Themen fur einige Tage aus den Medien und aus dem Bewusstsein der Bevolkerung, 1m August 2002 ereignete sich in Sud- und Ostdeutschland ein aufsergewohnliches Wettergeschehen. Ein Tiefdruckgebiet hatte tiber dem Mittelmeer groBe Mengen Wasser aufgenommen, die es tiber Osterreich, der Tschechischen Republik, Bayem und Sachsen in Form von starkem Regen wieder ablud. Zahlreiche Flusse schwollen extrem an, traten tiber die Ufer und rissen Hauser, StraBen, Eisenbahnstrecken mit sich. Das Wasser kleinerer Flusse sammelte sich schlieBlich in der Elbe, in der sich ein sehr starkes Hochwasser entwickelte. Dieses Hochwasser richtete unter anderem in Dresden und anderen Orten in Sachsen groBe Schaden an." Die sehr starke und zum Teil emotional gefuhrte und bebilderte Berichterstattung insbesondere des Femsehens tiber die Hochwasserereignisse in Sud- und Ostdeutschland drangte andere wichtige Themen des Wahlkampfs wie den Arbeitsmarkt, Steuem, und allgemein den Standort Deutschland in den Hintergrund.V Politiker zeigten sich in den betroffenen Gebieten den Menschen und selbstverstandlich auch den Medien. Die besten Moglichkeiten dazu hatte - und die meiste Aufmerksamkeit bekam - der damals amtierende Bundeskanzler Gerhard Schroder. Aber auch Kandidaten der Unionsparteien zeigten sich in den Flutgebieten und auf den Deichen, Politiker aller Parteien aulserten sich zu der Frage, wie die Schaden der Flut bezahlt werden konnten, AuBerdem gibt es Hinweise darauf, dass das Hochwasser in Ostdeutschland dem Wahlkampf ein emotionales Potential verliehen hat, welches das Meinungsklima zu Gunsten der Regierungsparteien beeinflusste.
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Eine auffallige Ausnahme ist die Meteorologie, die beispielsweise unerwartete Vulkanausbruche, Meteoriteneinschlage und langfristigen Klimawandel berucksichtigen muss. Vgl. Kepplinger & Roessing 2005: 187 ff. VgL Kepplinger & Roessing 2005: 197; Noelle-Neumann & Petersen 2005:. 134.
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.Bei der Bevolkerung selbst setzte sich die Uberzeugung durch, daB die Bundesregierung und allen voran Bundeskanzler Schroder richtig und angemessen auf die Flutkatastrophe reagierten. Angesichts der gewaltigen Flutschaden erschien es kleinlich und moralisch zweifelhaft, weiterhin auf die ungelosten wirtschaftlichen und politischen Probleme zu verweisen, die den Wahlkampfbislang beherrscht hatten.?"
Anders als die besondere politische Lage 1972, die deutsche Wiedervereinigung und die
vollig unerwarteten Attentate auf Politiker 1990, beeintlussten 2002 Ereignisse den Wahlkampf, die, wie z.B. der Irak-Konflikt, nichts mit der deutschen Politik, bzw., wie die Flutkatastrophe, iiberhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. FUr die Wahlforschung stellen derartige Ereignisse sowohl ein groBes Problem als aueh eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Einerseits wird keine Theorie der Wahlforschung jemals in der Lage sein, drastische, unerwartete Ereignisse zu prognostizieren. Andererseits konnen durch Betrachtung einer groBen Zahl von Wahlkampfen im In- und Ausland, die unter ungewohnlichen, unerwarteten Bedingungen stattfanden, allgemeine Erkenntnisse daruber gewonnen werden, wie besondere Ereignisse auf Wahlkampfe wirken. Konkret werden sich unerwartete Ereignisse, insbesondere, wenn es sich nicht urn soziale, politische Ereignisse, sondem z.B. urn Naturkatastrophen handelt, jedoeh nieht in Theorien des Wahlerverhaltens integrieren lassen.
6.
Zusammenfassung und Foigerungen ffir die Wahlforschung
Die Darstellungen dieses Beitrages lassen sich in acht Feststellungen zusammenfassen. 1. Wissenschaft umfasst das Entdecken, Beschreiben und Erklaren von Strukturen der Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erklarung beantwortet die Frage, warum eine Struktur so ist, wie sie entdeckt und beschrieben wurde. Erklarungen verweisen auf kausale Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen. 2. Theorien und wissenschaftliche Gesetze mUssen allgemein gultig sein. Sie sind deshalb auf stabile kausale Beziehungen angewiesen. Ursachen sind jedoch niemals allein kausal fur bestimmte Wirkungen, sondern nur als notwendiger Teil eines insgesamt hinreichenden, aber nicht notwendigen Bedingungssysterns (INUS-Bedingungen). WissenschaftlicheErklarungen gelten deshalb stets ceteris paribus, also unter der Annahme konstanter Randbedingungen. 3. Die Erie-County-Studie von 1940 ("The People's Choice) ist ein Beispiel fur die Kontextabhangigkeit von Befunden der Wahlforschung. 4. Oft mussen zur Erklarung von Wahlkampfen und Wahlergebnissen besondere Umstande herangezogen werden, die einem speziellen Wahlkampf immanent sind. Ein Beispiel dafiir ist die stark emotionalisierte und personalisierte Bundestagswahl von 1972. 5. In der sozialen und politischen Realitat kommt es gelegentlich zu unerwarteten Ereignissen und Brtichen, die den Verlauf von Wahlkampfen und den Ausgang von Wahlen beeintlussen konnen (intervenierende Bedingungen). Ein Beispiel dafur ist die Bundestagswahl von 1990, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands und Attentate auf Spitzenpolitiker im Wahlkampf gepragt wurde. 6. In manchen Fallen konnen jedoch aueh Situationen, die mit einem Wahlkampf nieht oder nur indirekt zu tun haben, Einfluss auf den Verlauf einer Kampagne und das Ergebnis einer Wahl nehmen. Dabei spielen die Medien eine zentrale Rolle, denn sie sind das Bindeglied zwischen Politik, Bevolkerung und den speziellen extemen Bedingungen. So war der Wahlkampf2002 einerseits dureh den Kontlikt zwischen den Vereinig48
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Noelle-Neumann & Petersen 2005: 134.
ten Staaten von Amerika und dem Irak, andererseits durch das Hochwasser in SUd- und Ostdeutschland, bzw. die intensive Medienberichterstattung daruber, beeinflusst. 7. Einer Wahl immanente, politisch intervenierende, und exteme Randbedingungen erschweren die Anwendung allgemeingultiger Theorien und das Formulieren von Gesetzmaliigkeiten in der Wahlforschung, da sie wechselnde INUS-Bedingungen fur die wissenschaftlich zu erklarenden Strukturen konstituieren. 8. Paul F. Lazarsfeld und seine Kollegen schlugen bereits 1965 als Mittel zur Begrenzung dieser Problematik in den Sozialwissenschaften die mehrfache Replikation von Studien vor. Das hat drei Ziele: (1) corroboration, die Bestatigung bekannter Befunde; (2) specification, die Modifikation von Befunden in Abhangigkeit von spezifischen Randbedingungen; (3) clarification, das Ersetzen oder Erganzen bisherigen Wissens durch neue Befunde. Die Wiederholbarkeit wissenschaftlicher Studien und die Bestatigung von Befunden spielen auch im von Karl Popper begrundeten kritischen Rationalismus eine wichtige Rolle, der eine der erkenntnistheoretischen Grundlagen der empirischen Sozialwissenschaft ist. Die Problematik instabiler und wechselnder Randbedingungen kann durch die detaillierte Analyse von Gemeinsamkeiten der sozialen Realitat zu unterschiedlichen Zeitpunkten, theoretische Berucksichtigung der Variabilitat und Komplexitat sozialen Lebens und methodische Vorkehrungen (beispielsweise bei der Frageformulierung und dem Design empirischer Untersuchungen) gemildert werden. Auf absehbare Zeit wird es jedoch sehr schwierig bleiben, sozialwissenschaftliche Gesetze zu formulieren. Die Wissenschaftler mussen daher bei ihrer Arbeit auch weiterhin stets das Unerwartete erwarten.
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Teil II: Wahlkampfstudien
Wahlen im Kaiserreich anna 1912 Wahlkampf im Obrigkeitsstaat Von Thomas Berg
Einleitung
Wahlkampfkann als eine Methode der Meinungs- und Willensbildung sowie als ein Modus der Machtverteilung einer Gesellschaft verstanden werden. Methode meint dabei die auf die jeweilige Gesellschaft zugeschnittene Art und Weise, wie die Gesellschaft entsprechend ihrer historischen Gestalt angesprochen wird, d.h. unter Berucksichtigung ihrer sozialen und okonomischen Gegebenheiten, vorherrschenden Denkstromungen und Problemlagen. Das bedeutet zugleich, dass jeder Wahlkampf auch ein Kind seiner Zeit ist. Die erste historische Uberlieferung einer Methode der Wahlkampfkommunikation stammt aus den Zeiten der Antike - es handelt sich urn einen Versuch, ein Yolk mittels geeigneter Rhetorik fur bestimmte Ziele zu gewinnen: Der Hotbeamte Korax aus Syrakus war angesichts der Vertreibung des Tyrannen von Sizilien im Jahr 467 v. Chr. mit der Moglichkeit des eigenen Machtverlusts konfrontiert. Urn dem zu entgehen, rief er das Yolk zu einer Versammlung zusammen. Es wird berichtet, dass er mittels einer Rede versuchte, seine Machtposition zu wahren bzw. wieder zu erlangen.' Man konnte diese Volksansprache als die erste Wahlkampfrede bezeichnen, welche die Geschichtsschreibung kennt, auch wenn es sich nicht urn einen formellen Wahlkampf gehandelt hat. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese erste .Wahlkampfrede" genau in jene Zeit fallt, in die auch die Geburtsstunde der Demokratie und der Rhetorik fallt, Seitdem hat sich der Wahlkampf in der Antike, besonders aber in der Neuzeit und vor allem in den letzten Jahrzehnten, zu einem hoch spezialisierten politischen Instrument, einer hoch entwickelten Form der sozialen Interaktion und Kommunikation entwickelt. Amerikanisierung, Mediatisierung, Theatralisierung, Professionalisierung, strategisches Kampagnenmanagement und viele weitere Begriffe umschreiben den heutigen Stand der Wahlkampffiihrung. Die modemen Wahlkampfe spiegeln (wie aIle ihrer Vorganger) im Kern einerseits den historischen Stand des psychologischen Vermogens zur Beeinflussung von Menschen aber auch der Kommunikations- und Medienkultur einer Gesellschaft wieder. So ist es auch mit den Wahlen im Kaiserreich, genauer gesagt den Wahlen fur den Reichtag des Deutschen Reiches. 1m Folgenden soil vor aHem der Wahlkampf von 1912, der letzte Reichstagswahlkampf vor dem ersten Weltkrieg, beleuchtet werden. Zum Verstandnis dieses Wahlkampfes ist es notwendig, dass auch weitergehende geschichtliche HintergrUnde aufgezeigt werden, weil z.B. das soziale und geschichtliche Umfeld Einfluss auf die Art und Weise der Wahlkampffiihrung hat.'
Vgl. Ueding 1995: 15. Vgl. Bertram 1964. In dieser bereits als historisch anzusehenden Untersuchung hat der Autor bereits zeitliche Entwickl ungsab laufe herausgearbeitet.
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1m Kaiserreich vollzog sich ein tiefgreifender Wandel der Wahlkampfkultur: Es fand eine wachsende Professionalisierung der Politiker und der Wahlkampffuhrung statt, welche von einer steigenden Mobilisierung der Massen, von einem wachsenden Umfang an Wahlwerbung, einer grolseren offentlichen Anteilnahme am Wahlkampf und seiner strategischen Aspekte begleitet wurde. Bedingt wurden die vielfaltigen Veranderungen in der Gesellschaftsstruktur im Kaiserreich, und damit auch die Veranderungen im Wahlkampf, letztlich durch die soziookonornischen Umwalzungen infolge der Industrialisierung Deutschlands im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Dynamik, mit der sich die Gesellschaft wandelte, stand jedoch in krassem Gegensatz zum Konservatismus und zu der politischen Starrheit des Kaiserreiches. Und gerade in diesem Widerspruch sehen manche Historiker auch die Crux des Kaiserreichs: Das Dilemma, die Staatsstruktur einer modernen Gesellschaftsstruktur anzupassen.
Das politische System des Kaiserreichs Das Kaiserreich, mit offiziellem Namen als Deutsches Reich (hier synonym verwendet) bezeichnet, war eine konstitutionelle Monarchie in Form eines Bundesstaates. Die am 4. Mai 1871 in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Reiches ging aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1866 hervor und war in Verbindung mit der Kaiserkronung Wilhelm I. in Versailles zumindest nach auBen hin ein Zeichen der nun hergestellten staatlichen Einheit. Die Bundesstaaten besaBen allerdings weiterhin ihre Eigenzustandigkeiten und die Verfassung legte genau fest, wofur die Reichsebene zustandig war. Die Bundesstaaten ubten im Hinblick auf das Reich tiber den Bundesrat ihre Gestaltungsfunktion aus, d.h. in Bezug auf das Reich als Ganzes war in erster Linie der Bundesrat entscheidend, in dem die Vertreter der Bundesstaaten saBen: Er entschied tiber Gesetzesvorlagen fur den Reichstag und tiber dessen Beschlusse. Der Reichskanzler, zugleich Minister der auswartigen Angelegenheiten und preuBischer Ministerprasident, hatte den Vorsitz im Bundesrat inne und fuhrte die Geschafte. Von insgesamt 58 Stimmen im Bundesrat hatte PreuBen 17 Stimmen, so dass PreuBen politisch ein Schwergewicht war. Der Konig von PreuBen war zugleich erblicher Bundesprasident und fuhrte in dieser Eigenschaft den Titel "Deutscher Kaiser".' Er konnte den Reichskanzler emennen und entlassen. Innerhalb der konstitutionellen Monarchie verfugte der preuBische Konig tiber das Heer, die Diplomatie und die Burokratie, als Deutscher Kaiser zusatzlich tiber den Verwaltungsapparat der Reichsbehorden, das Militar und die AuBenpolitik. Wenn man demnach die Machtfiille des Monarchen und seines engsten Mitarbeiterstabes naher betrachtet, dann hatte das Deutsche Reich nahezu absolutistische Zuge, die dem demokratischen Anspruch des Reichstags in keiner Weise gerecht wurden. Die Vertretung des Volkes war der Reichtag. Die Dauer der Wahlperiode betrug zunachst drei Jahre, ab 1888 durch Beschluss von Kaiser Friedrich III. funf Jahre. Es war ubrigens der einzige weitreichende Beschluss in den 99 Tagen der Herrschaft von Friedrich III. Der Reichstag als Versammlung von Abgeordneten, die weder an Auftrag noch Instruktionen gebunden waren, wurde vom Kaiser berufen, eroffnet und geschlossen. Zwar wirkte der Reichstag bei der Gesetzgebung mit, indem er die Initiative ergreifen konnte und das Budgetrecht ausubte, jedoch konnten Reichsgesetze nur mit beiderseitiger Mehrheit von Reichstag und Bundesrat zustande kommen. 1m Hinblick auf die Exekutive oder auf die Vgl. Raff200l: 180.
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Ernennung des Reichskanzlers hatte der Reichstag keine Rechte. Unter Zustimmung des Bundesrats konnte er vorzeitig aufgelost werden. Reichskanzler Bismarck sah im Reichstag nur ein Mittel, urn das .widerspenstige Burgertum':" zu beruhigen. Er setzte Hoffnung auf die Bestandigkeit der konservativen Krafte bei den Reichtagswahlen, was allerdings im Angesicht der Wahlergebnisse zumindest nicht immer der Fall war - schon gar nicht 1912, als die Sozialdemokraten starkste Kraft wurden. Die Sozialdemokratie war von Anfang an als eine fur das Reich zerstorerische Kraft angesehen worden, weshalb ein bestandiger Kampf gegen sie gefuhrt wurde. Durch die Emanzipationsbewegung innerhalb der Arbeiterschaft sahen viele Konservative ihre altdargebrachte, standische Machtstruktur in Gefahr, da diese Emanzipationsbewegung progressiv und modemisierend wirkte und damit Veranderungen in der Gesellschaft bewirken konnte, die den Nahrboden fur traditionelle Strukturen entzog. An dieser Stelle sind wohl auch die Grunde fur die herausgehobene Position des Reichskanzlers Bismarck anzusiedeln: Die Gesellschaft war einerseits von einem tiefgreifenden sozialen Wandel gepragt, andererseits verstand es Bismarck als Vertreter der herrschenden konservativen Elite den Staat durch eine Strategie aus Zugestandnissen (z.B. Sozialgesetzgebung), Forderungen, Repression der Gegner (z.B. Sozialistengesetz) und anderen Mitteln zu stabilisieren' So vertrat Bismarck in einem Balanceakt zugleich moderne und traditionelle Werte. Als Untergebener des Monarchen trug er eine absolutistische Militarpolitik mit und vertrat zugleich eine demokratisch unterbaute Interessenpolitik, die bei innerstaatlichen Problemen wiederum geschickt auf imperialistische, auBenpolitische Fragen gelenkt wurde. Ebenso war die bereits erwahnte Sozialgesetzgebung im Grunde nur ein Zugestandnis, urn die Sozialdemokratie zu schwachen und damit die konservativen Regierungskrafte zu stabilisieren. Wehler beschreibt in kurzer und treffender Weise das Deutsche Reich bis 1890 als ,,(... ) ein plebiszitar gekraftigtes, bonapartistisches Diktatorialregime im Gehause einer die traditionellen Eliten begunstigenden, aber rapider Industrialisierung und mit ihr partieller Modernisierung unterworfenen, halbabsolutistischen und pseudokonstitutionellen, von Burgertum und Burokratie teilweise mitbeeinflussten Militarrnonarchie"." Das Staatsvolk war allerdings bei keiner Entscheidung, auch wenn es mitunter selbst betroffen war, der wirkliche Souveran: Trotz der vorangegangenen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts war im Grunde eher ein Ruckschritt bei der Mundigkeit des Volkes zu verzeichnen. Der herrschenden Klasse gelang es, den eigenen Obrigkeitsstaat immer weiter zu festigen. Gleichzeitig trat dadurch das eigentliche Dilemma des Deutschen Reichs immer weiter zu Tage, namlich einerseits die voranschreitende Industrialisierung mit ihren okonomischen und sozialen Veranderungen und andererseits das starre politische System, das keine Veranderungen im Hinblick auf die sich verandernde Gesellschaft zulieB, sondern immer wieder mit kleinen Zugestandnissen den burgerlichen Kraften den Wind aus den Segeln zu nehmen versuchte. Somit waren keine wirklichen Neuerungen im politischen System im groberen Umfang moglich. Es war ein groBer gesellschaftlicher Veranderungswille vorhanden, der jedoch im politischen System zumindest nicht von der regierenden Seite aufgenommen worden ist.
Wehler 1994: 61. Vgl. ebd.: 65. Ebd.: 67.
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Das Obrigkeitssystem wurde zudem durch die stark konservative Burokratie erganzt, Nur wer sich uber Jahre gegenuber der Obrigkeit als treu und folgsam erwiesen hatte, konnte eventuell in hochste Amter gelangen. Der Anteil des konservativen Adels im Verwaltungsapparat war im Vergleich zu seinem prozentualen Anteil an der Gesellschaft uberdurchschnittlich hoch. Denn Bismarck selbst hatte die liberalen und damit regierungsfeindlichen Beamten ihrer Amter und damit gleichzeitig des Staatsdienstes enthoben. Der konservativ gesinnte Verwaltungsapparat wuchs zudem durch den Ausbau der Finanz-, Steuer und Militarverwaltung, Der Apparat konnte nicht nur Entscheidungen begleiten und umsetzen, sondern auch ebenso verhindern. Der Grad der Organisation entsprach keineswegs dem Grad der Effizienz. Vielmehr kristallisierte sich ein Geflecht von Vorschriften, Erlassen, Formalitaten und Kontrollen heraus, das Feind jeder Veranderung war. Und es ist wichtig zu erwahnen, dass dieses Obrigkeitssystem auch nach der letzten Reichstagswahl bis 1918 existierte und sogar noch in die Weimarer Republik ubemommen wurde. Wahrend Wilhelm I. seinen Kanzler Bismarck in den meisten politischen Fragen gewahren lieB, sah sich Wilhelm II. als der Regent, der von Gottes Gnaden uber alles herrschteo Sein Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Munchen im September 1891 verdeutlicht dies: "Suprema lex regis voluntas!" (Der Wille des Konigs ist hochstes Gesetz)." Auch Bismarck sah ein, dass ein Regieren wie unter Wilhelm I. nicht mehr moglich war. Unter Wilhelm II., der eher eine hofisch-feudale und althergebrachte Kultur pflegte, jedoch zugleich sehr begeisterungsfahig fur technische Neuerungen war, wuchs Deutschland immer weiter zur Industrienation heran. Diesen Spagat zwischen Tradition und Modernisierung kennzeichnete auch das wilhelminische Kaisertum in sich. Doch nicht nur seine eigene Personlichkeit war von diesem Widerspruch gekennzeichnet, sondern auch das gesamte Umfeld von Kaiser Wilhelm II. So umgab er sich vomehmlich mit ihm horigen Gefolgsleuten, die jedoch nicht zu den besten Beratern gehorten. Das zeigte sich besonders bei den Nachfolgern Bismarcks - keiner von Ihnen erreichte das Format und die Kraft, das von Bismarck geschaffene Herrschaftssystem auszufullen. Hinzu kam, dass das Par lament und die Interessenverbande im Lauf des Kaiserreichs immer mehr an Einfluss gewannen. Der Reichstag gewann vor allem deshalb - trotz verfassungsmaliiger Beschrankungen - relativ an Bedeutung, weil er durch seine Budgetkommission Gelder u.a. fur die Kolonialpolitik, fur Expansionsbestrebungen, fur Heer und Marine bewilligen konnte. Man war diesbezuglich auf eine Zusammenarbeit angewiesen. Trotzdem heiBt das nicht, dass der Reichstag deshalb ein hohes Ansehen genoss: Sowohl bei den Spitzenbeamten als auch beim Kaiser selbst - er sprach von einem .Reichsaffenhaus'" - herrschte Geringschatzung vor. Der Reichstag selbst entwickelte allerdings auch keine Initiativen, die Parlamentarisierung voranzutreiben." Wie hatte er dies auch umsetzen konnen, hatte es doch mindestens eine Beschneidung der Kompetenzen des Bundesrates oder gar des Monarchen bedeutet. Die Parteien befanden sich im Grunde in einem ahnlichen Dilemma. Sie entwickelten sich zunehmend von Honoratiorenparteien hin zu Mitgliederparteien mit Verwaltungsapparaten und sparer auch bezahlten Mitarbeitern." Wahrend sich zunachst meist nur politisch Gleichgesinnte zu Wahlzeiten in Form von Wahlkomitees zusammenfanden, war durch den Druck, der durch die Sozialdemokratie und deren aufkommende Massenbewegung entstanden war, auch ein Druck zur Selbstorganisation bei den anderen politischen Gruppierungen
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Ullrich 1999: 145. Cullen & Kieling 1992: 69. Vgl. Ullrich 1999: 164 f. Vgl. Schroder 1999: 53 f. Oftmals waren die bezahlten Mitarbeiter zugleich Abgeordnete.
entstanden. Gleichzeitig wurde durch die voranschreitende Industrialisierung und den damit verbundenen Ubergang vom einer vomehmlich agrarisch hin zu einer industriell gepragten Wirtschaft die gesellschaftliche Meinungsbildung starker ausdifferenziert, was insbesondere die Entstehung von Verbanden forderte, Zunachst waren die Verbande eher als Interessenvertreter im Sinne eines Lobbyismus beim Parlament anzusehen. Wobei Ihnen "eher ein passives Zuwarten auf politische Entscheidungen in ihrem Sinne"!' beschieden war. Damit waren sie auch von den Mehrheitsverhaltnissen im Parlament abhangig, Nachdem Ihnen die Wahlen zum Reiehstag im Jahr 1903 sehr ungunstige Verhaltnisse bereiteten, anderten sie ihre Prinzipien der Einflussnahme grundlegend: Sie bekarnpften fortan ihre politischen Gegner, indem sie sieh als Wahlkampfhelfer fur die ihnen nahe stehenden politisehen Parteien engagierten. Die Entstehung der Massenpressef beforderte zudem die Informationsverbreitung. Mit den Mitgliederparteien, dem Verbandswesen und der Massenpresse entstanden die drei zentralen Faktoren, die auf die Politisierung der Bevolkerung hinwirkten. Als ein Zeiehen fur die zunehmende Politisierung innerhalb der Gesellsehaft kann sicherlieh die Wahlbeteiligung gelten: So stieg die Wahlbeteiligung von 51 Prozent im Jahr 1871 mit Unterbreehungen auf rund 85 Prozent im Jahr 1912 an." Die Annahme, dass dabei die politischen Hauptriehtungen relativ stabil von ihren Wahlern unterstutzt worden sind, ist spatestens mit Blick auf die Wahlergebnisse auf Wahlkreisebene nieht mehr zu halten: Es haben im Zeitraum des gesamten Kaiserreiehs "enorme Veranderungen in der Zusammensetzung des Elektorats" 14 stattgefunden. Dabei lassen sich nieht nur Veranderungen in der Sozialstruktur und im politischen Verhalten feststellen, sondem aueh in der Bevolkerungsstruktur, Ein Hauptgrund fUr die Sehwankungen im Elektorat durfte aber vor allern darin liegen, dass die Wahler sieh immer zu der politisehen Gruppierung hingezogen fUhlten, von der sie sieh eine bessere Interessenvertretung verspraehen. Die meisten Reichstagabgeordneten des spaten Kaiserreichs erlangten ihr Mandat tiber ihren heimatlichen Wahlkreis, allerdings herrschte mitunter ein anderes Verstandnis von den Funktion von Abgeordneten im Reichstag vor: Wahrend sieh Bundestagsabgeordnete heute sehr der sozio-okonornischen Entwieklung ihres heimatliehen Wahlkreis verpflichtet sehen, dominierte damals zunachst eine standische Siehtweise - man sah sieh als Vertreter eines sozialen Standes. Das Selbstverstandnis, die "allgemeine Wohlfahrt" im Wahlkreis zu fordern, entwiekelte sieh erst allmahlich, 1m Zuge der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Parteiensystems konnten immer weniger Abgeordnete im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Wahler fur sich gewinnen, was fur die Erlangung eines Mandats notwendig war. Deshalb kam es vermehrt zu Wahlbundnissen, Dabei sieherte z.B. eine Partie die Unterstutzung eines Kandidaten einer anderen Partei bei der Reichstagswahl zu, wenn im Gegenzug dafur beispielsweise einer ihrer Kandidaten bei einer Landtagswahl von der anderen Partei unterstutzt wurde. Solche Btmdnisse dauerten manehmal tiber mehrere Wahlperioden an. Wahrend auf der einen Seite eher modern wirkende politisehe Verbindungen eingegangen wurden, loste sieh zugleich der Wahlkampf auf der Ebene der Honoratiorenpolitik mehr und mehr auf. Allerdings kann das nieht daruber hinwegtauschen, dass die Parteien unabhangig von ihrer internen Organi-
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GrieBmer 2000: 12. Vgl. Stober 2000. Vgl. Winkler 1995: 84. Ebd.: 197.
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sationsentwicklung im Lauf des Kaiserreichs dem Obrigkeitsstaat mehr oder minder ohnmachtig gegeniiber standen. Sie passten sich dem obrigkeitsstaatlichen Ordnungsgefiige an. Das jeweilige Gedankengut der politischen Parteien war aus ideologisch-philosophischen und teils theologischen Schulen hervorgegangen, allerdings war bei der Fortentwieklung dieses Gedankenguts fur die Dauer des gesamten Kaiserreichs kaum ein Fortsehritt zu verzeichnen." Aufgrund der Starrheit des politischen Systems konnten politische Forderungen so gut wie nie wirklich abgearbeitet und in Regierungsprogrammen umgesetzt werden. Die einzigen Anderungen in der Ideologie und Programmatik der Parteien vollzogen sich allenfalls infolge gesellsehaftlicher Umwalzungen, die neue Probleme hervorbrachten, welehe in Parteiprogramme aufgenommen wurden. Doch auch diese neu hinzukommenden Programmpunkte konnten - wenn uberhaupt - nur mehr oder minder in Form von Kompromissen gegeniiber der herrschenden Obrigkeit politisch realisiert werden. Die oben erwahnten Veranderungen des Elektorats stehen sicherlich in Verbindung mit dieser weitgehenden Ohnmaeht der Parteien: Die Parteien aggregierten zwar grundsatzlich die Interessender Bevolkerung, kamen aber nieht dazu, die Agenda politischen Handelns mit zu bestimmen. Und die Wahler blieben trotz ihrer Moglichkeit, an Wahlen zu partizipieren, weitgehend unmundig: Sie hatten allenfalls die Moglichkeit, im Faile von Unzufriedenheit der Wahl fernzubleiben oder beim nachsten Mal eine andere Partei zu wahlen, Dennoch wurden die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften als Krafte der Modernisierung mit der Zeit zu Maehtfaktoren im Deutschen Reich. Und dieser Prozess wurde eindrucksvoll begleitet durch den starken Anstieg der Wahlbeteiligung. Die traditionelle Obrigkeitsauffassung ist vor allem vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Verbandswesens interessante Das Entstehen eines vielfaltigen Organisationsgefleehts in den letzten beiden Jahrzehnten des Kaiserreichs machte es im Grunde unmoglich, auBerhalb desselben zu leben. Auch auf dem politischen Sektor waren Verbande aktiv, die die Politisierung" und vordergrtindige Pluralisierung der Gesellschaft vorantrieben. Bei genauerer Betraehtung der Verbande fallt auf, dass sie zumeist an altere Institutionen anknupfen konnten: So konnte z.B. der Zentralverband deutscher Industrieller auf dem Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, auf dem Verein fur die bergbaulichen Interessen und auf dem Langnam Verein (Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und in Westfalen) aufbauen." Hinzu kam die enge Verknupfung zwischen traditionalistisehen, dem Obrigkeitsstaat zugeneigten Verbanden und Produktionsinteressen, die zunachst kein Gegengewicht in Form modernisierender Krafte hatte. Die groBen Flotten-, Wehr- und Kolonialverbande z.B. unterstiitzen allesamt die StaatsfUhrung in ihrer Politik. Beispielhaft dafur steht der Deutsche Flottenverein, der den Bau der deutschen Flotte vehement unterstiitzte und eng mit der Schwerindustrie verbunden war, die ihm wiederum die notwendigen finanziellen Mittel zur Beschaffung von Propagandamitteln fur die rund 80.000 Einzel- und korporativen Mitglieder bereitstellte."
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Vgl. Rohe 1992: 41. Vgl. Hertz-Eichenrode 1996: 47 ff. Vgl. Wehler 1994: 91. Vgl. ebd.: 93.
Gesellschaftliche und geistige Bewegungen Heutzutage lasst sich durch Meinungsumfragen und durch die hoch entwickelte amtliche Statistik verhaltnismalsig einfach aufzeigen, welche Fragen in der offentlichen Diskussion vorherrschen und welche Denkrichtungen dominant sind. Was die Menschen im Deutschen Reich hingegen bewegt hat, lasst sich nur anhand der Geschichtsschreibung und z.B. der Berichterstattung in den Printmedien aufzeigen - und hier auch nur fur einige wenige Themengebiete. Auf diese Weise lassen sich jedoch einige thematische Schwerpunkte identifizieren, die auch in Wahlkampfen eine Rolle spielten und sich in der Arbeit von Vereinen und Parteien niederschlugen. So war z.B. der Aufstieg der Arbeiterbewegung und der damit verbundene Kampf gegen die Sozialdemokratie ein zentrales Thema. Doch auch die Angste und Unsicherheiten der Menschen im Angesicht der Technisierung der Gesellschaft wurden intensiv diskutiert, Hintergrund beider thematischen Schwerpunkte war die Industrialisierung. Sie wurde als der alles uberlagernde und beeinflussende Prozess durch einen geseIIschaftlichen Wandel in vielen Bereichen begleitet, der neue gesellschaftliche und geistige Bewegungen hervorbrachte. Die deutschen Reformbewegungen, die sich seit Beginn des Kaiserreichs formierten, betrafen im Grunde den gesamten privaten und offentlichen Bereich der Gesellschaft. So wurden z.B. infolge der Reichsgrundung sogenannte Heimatvereine gegrtindet. 1m Gegensatz zu Geschichts- bzw. Altertumsvereinen folgten sie der Zielsetzung, Berichte und Quellen fiber einen bestimmten art zu sammeln und aufzubereiten. Zugleich beschaftigten sie sich aber auch mit der Gegenwart und der Zukunft des jeweiligen Ortes." 1m Mittelpunkt der Arbeit dieser Vereine stand der Versuch, dem Leben in der immer unuberschaubareren Wirklichkeit einen festen regionalen Bezugspunkt zu geben. Die durch die Industrialisierung hervorgerufenen gesellschaftlichen Veranderungen wurden auch von Veranderungen der okonomischen Grundlagen der Gesellschaft begleitet. Die Urbanisierung und der damit einhergehende Prozess der Herausbildung der Massengesellschaft trugen in erheblichem MaBe zu einer Desorientierung bei vielen Menschen bei. Der Einklang von Kerper, Geist und Seele wurde als gestort empfunden. Eine Ruckkehr zu alternativen und vor allem gesunderen Lebensformen wurde gefordert. Die uns heute neben der Schulmedizin bekannten Naturheilverfahren erlebten damals ihre Grundungsphase - es wurde eine angeblich naturgesetzliche Lebensweise in Form von Nahrungs-, Verhaltensund Medikationsweisen propagiert. 1m Zuge der sogenannten .Lebensreformv-Bewegung entstand eine Philosophie zur Behandlung des Menschen mit dem Ziel einer ganzheitlichen Erlosung und einem ganzheitlichen Heil. 20 Dazu gehorten explizite Ernahrungsvorschriften, wie sie z.B. einer der geistigen Vordenker des Dritten Reichs, Julius Langbehn, propagierte. 2 1 Ebenso gehorten dazu aber auch Kleidungsreformen, die Freikorperkultur oder die aufkommende Rassenhygiene. Durch die Ubertragung der Prinzipien des Darwinismus auf den Menschen entstand der Sozialdarwinismus, der die Grundlage fur den theoretisch verbramten Rassismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten darstellte. Durch all diese (teils neuen) Bewegungen und Denkrichtungen wurden auf der einen Seite die innersten Bedurfnisse der Menschen angesprochen, andererseits zugleich in einfacher Form Erklarungsmuster fur Probleme und Ungerechtigkeiten geliefert.
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Vgl. Klueting 1998: 47 ff. Vgl. Krabbe 1998: 73 ff. Vgl. Langbehn 1933: 183 f.
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Die Wahlen zurn Reichstag 1912 Die Reiehstagswahlen von 1912 stellen den letzten Hohepunkt der Wahlermobilisierung in der gesellsehaftliehen und politisehen Entwieklung des Kaiserreiehes dar. Dieser Hohepunkt wurde infolge des Ersten Weltkriegs aueh nieht mehr uberboten, da die Wahlen zum 13. Reiehstag im Jahr 1912 zugleieh aueh die letzten im Deutsehen Reich waren. Die Wahlkampfkommunikation in diesem Wahlkampf war oftmals uberspitzt und verzerrt. FUr den Wahler ergaben sieh uberall Informationsdefizite, auf die aueh die einleitenden Worte im .Wegweiser fur die Reiehtagswahl 1912" hinweisen: "Wo findet er einen Halt, einen Wegweiser dureh das Labyrinth der Parteipolitik?", fragt der Wegweiser und konzediert: .Der Wahlkampfist bei allem Unschonen, das er mit sieh bringt, doeh dadureh, dass er die Geister aufiiittelt, ein gewaltiger Faktor in dem groBen Erziehungsprozesse des deutsehen Volkes.,,22 Diese Definition des Wahlkampfes ist sehr bezeiehnend, tragt der Wahlkampf naeh damaligem Verstandnis doeh zur Erziehung des Volkes bei - eine vergleiehsweise undemokratisehe Vorstellung. Wahrend sieh im fruhen Kaiserreieh vor allem die Honoratioren urn den Wahlkampf kumrnerten und oftmals aueh letztlieh in der Volksvertretung saBen, entwiekelte sieh der Wahlkampfmit der Zeit mehr und mehr zu einem Massenphanornen, das von Massenkommunikation gepragt war und zum Ziel hatte, viele Wahlberechtigte, nieht nur einige wenige zu erreichen. Dabei ubemahrnen in der zweiten Halfte des Kaiserreiehs die Verbande eine tragende Rolle. Unterstutzt wurden sie durch Massenmedien in Form von Plakaten, Flugblattern und nicht zuletzt durch die Berichterstattung in der auflagenstarken Presse. Urn grolsere Teile der Bevolkerung zu erreichen, wurden zunehmend Massenveranstaltungen organisiert, die aueh eine neue Form professioneller Organisation erforderten und so die Professionalisierung von Parteien und Verbanden vorantrieben. Im Zuge dieser Professionalisierung stiegen auch die Wahlkampfkosten dramatisch an, von ca. 500-1000 Mark fur einen aussichtsreiehen Kandidaten urn 1880 auf ca. 20.000-30.000 Mark 1912. 23 Dabei muss man hinsichtlich der Mobilitat des Elektorats zwischen der Stadt- und der Landbevolkerung unterseheiden. Wahrend die stadtische Bevolkerung fur Massenveranstaltungen leichter gewonnen werden konnte, war dies bei der Landbevolkerung nieht so einfaeh. Dafur herrschte "auf dem Land" eher der "personliche" Weg der Wahlkampfkommunikation und -beeinflussung vor. So wurde beispielsweise in vertraulichen Gesprachen im kleinen Kreis, im Rahmen personlicher Beziehungen, aber aueh im Rahmen von Gefalligkeiten oder Repressionen auf die Wahl bestimmter Kandidaten hingewirkt, Diese althergebrachte, eher interpersonale Strategie der Einwerbung von Gefolgsehaft entstammte im Grunde noeh den Zeiten der Honoratiorenparteien - man versuehte Wahler durch personliehe Ansprache im kleinen Kreis zu mobilisieren. Dabei war diese Seite des Wahlkampfs z.T. sehr gut organisiert. Bei der Berliner SPD z.B. musste jeder sogenannte Vertrauensmann im spaten Kaiserreich im Rahmen des Wahlkampfs zwei Hauser "bearbeiten". Heute wird diese Praxis, personlich von Haus zu Haus zu gehen und von Angesieht zu Angesicht fur eine Partei bzw. einen Kandidaten zu werben, mit dem Begriff des Canvassings bezeichnet. Wahrend die Honoratioren in fiiiheren Wahlkampfen dergestalt Einfluss nahmen, dass ihre Wahlabsieht auch fur viele der Angesproehenen, Anhanger und Sympathisanten im Hinblick auf deren eigene Wahlentscheidung bedeutsam war, verlegten sich Honoratio-
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Blaustein & Hillger 1911: 5 ff. Vgl. Kuhne 1997: 142.
ren sparer zunehmend darauf, die Parteien bei Massenveranstaltungen offentlich zu unterstutzen, z.B. indem sie selbst das Wort ergriffen. Das fUhrte mitunter auch dazu, dass Amtspersonen Wahlauftufe von Parteien unterzeichneten. Doch solche Aufrufe wurden oft annulliert, die Unterzeichner wurden angewiesen, solche Aktionen zu unterlassen. Der Wandel von Honoratioren- zu Massenparteien bedeutete allerdings keine Entwertung der Rolle einzelner politischer Personlichkeiten. Zwar waren die Honoratioren als Rollentrager politischen Handelns zunehmend veraltet, dafUr aber kam innerhalb der Massen ein .Verlangen nach einer charismatischen Fuhrerpersonlichkeit'r" auf. Diese charismatische Fuhrerpersonlichkeit, die auch der Organisation des Massenphanornens gewachsen sein sollte, wurde von Max Weber analytiseh herausgearbeitet." Doeh einerlei, ob das politische Geschehen von Honoratioren oder einzelnen Fuhrungspersonlichkeiten dominiert wurde - fur die breite Bevolkerung bedeutete dies weiterhin, dass die Partizipation an der Politik trotz gestiegener individueller Politisierung relativ beschrankt blieb, da letztlich weiterhin nur ein elitarer Zirkel von wenigen Personen an den entscheidenden Schaltstellen der politischen Macht saBen. Uberdies war ohnehin groBen Teilen der Bevolkerung die demokratische Teilhabe verwehrt, da das Frauenwahlrecht erst 1918 beschlossen wurde und erst 1919 zum ersten Mal Anwendung fand. Die Verbande waren sehr intensiv in die Tagespolitik involviert, urn die eigene Klientel zu fordern und zugleich den politischen Gegner zu bekampfen, Ein Beispiel: In Kassel hatte die SPD fur den Wahlkampf 1912 ihre ganze Energie aufgeboten, urn den Wahlkreis zu gewinnen. Die 52 dazugehorigen Ortsvereine lieBen insgesamt ,,779000 Flugblatter, Broschuren und sonstige Schriften" drucken, sowie ,,388 Mitglieder- und 246 offentliche Versammlungen'v" durchfiihren. Trotzdem gelang es dem SPD-Kandidaten nieht, schon im ersten Wahlgang als Sieger hervorzugehen. Dieses Scheitem war auf die Aktivitaten des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie zurtickzuflihren: Der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie hatte Flugblatter verteilt und Zeitungsanzeigen geschaltet, und es wurde ein Schlepperdienst organisiert, urn die weniger Wahlbereiten dennoch zu den Wahlurnen zur bringen." Doch wie sah die Agitation von Parteien und Verbanden gegeneinander im Detail aus? Anfangs wurden z.B. Flugblatter in der Regel von den Kandidaten mehr oder weniger selbst entworfen. Bestenfalls enthielten solche Flugblatter eine Stellungnahme des Kandidaten oder eines anderen Burgers, der fur den Kandidaten warb. Dabei war die Verbreitung eher auf den jeweiligen Wahlkreis beschrankt, Die spatere Entwicklung hin zur Massenkommunikation verlangte eine zentrale Abstimmung durch die Parteizentrale, wo die Themen fur den Wahlkampf auf nationaler Ebene inhaltlich, zeitlich und gestalterisch abgestimmt werden mussten. Hinzu kamen mitunter mehrseitige Beilagen in der Tagespresse, in denen ausfiihrlich die Wahlprogramme dargestellt wurden. Dartiber hinaus gab es Broschuren, Kalender und sogenannte Agitationshandbucher. Sie gehorten zur Grundausstattung eines jeden Redners. Inhaltlich waren sie alphabetisch nach Wahlthemen und programmatischen Aussagen autbereitet. Die Wahlkampfe arteten dabei oft in Materialschlachten aus, bei denen sich die SPD besonders aktiv zeigte. Nach Angaben des Chemnitzer Parteitagsprotokolls der SPD wurden 1912 bei der Reichtagswahl 88 Millionen Flugblatter verteilt. Immerhin konnte man allein den Unter24 25 26 27
Langewiesche 2003: 12. Vgl. ebd: 7, FuBnote 18. GrieBmer2000: 195. Vgl. ebd.: 198.
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verbanden 68 Flugblattvorlagen anbieten.i" Insgesamt wurden bei Reichtagswahlen wesentlich mehr Flugschriften verteilt als bei Landtagswahlen. Die Massenkommunikation konnte im Mehrheitswahlrecht wesentlich besser umgesetzt werden als in PreuBen mit seinem Drei-Klassen-Wahlrecht. Dort musste eine speziellere Ansprache der Wahler erfolgen, wahrend bei den Reichtagswahlen die gesamte Gesellschaft den gleichen Zugang zu den Wahlen hatte. Die Beobachtung der Schriften des politischen Gegners ist ein weiteres Merkmal der damaligen Kampagnen-Planung. So wurden Flugblatter und andere Schriften des politischen Gegners als Belegmaterial eingesammelt und zur Parteizentrale zur dortigen Auswertung gesendet. Dadurch war bisweilen auch eine Angleichung in Gestaltung und Art und Weise der Schriften zwischen gegnerischen Parteien zu verzeichnen, Gleichzeitig war man sich der Notwendigkeit des kunstlerischen Schreibens und Gestaltens bewusst. Wahrend fruher eher theorielastige und langatmige Texte verfasst wurden, passte man sich dem Zeitgeist an und formulierte die Texte popularer, Bisweilen wurde auch versucht, moglichst objektiv uber die Formulierungen und Absichten des politischen Gegners im Wahlkampf aufzuklaren, wie z.B. in einem sozialdemokratisches Flugblatt mit der Oberschrift "Wer verroht die Politik?", welches gegen den Reichsverband gegen die Sozialdemokratie eingesetzt worden ist. Aufgrund des autkommenden Massenmarktes wurde es fur die Parteien immer wichtiger, neue Strategien und Methoden anzuwenden, urn die eigenen Wahler zu mobilisieren. Dabei war nicht nur die Heterogenitat des Wahlvolkes zu beachten, sondem - wie es z.B. in PreuBen der Fall war - auch die durch das Drei-Klassen-Wahlrecht bedingten unterschiedlichen Wertigkeiten von Wahlern auf einen Nenner zu bringen. Die jeweiligen Lebenswelten, in denen die Parteien fur ihre Wahlwerbung nach Gemeinsamkeiten suchten, wiesen letztlich sehr viele Unterschiede auf. Vor diesem Hintergrund schieden rationale Mittel der Wahlkampfwerbung wie Sachargumente, Versprechen politischer MaBnahmen etc. eher aus, man suchte den gemeinsamen Nenner vorrangig im Bereich des Emotionalen. Der Ruckgriff auf schon vorhandene Stereotype innerhalb der Bevolkerung schien dabei ein probates Mittel zu sein, da sich die Bevolkerung in ihren moralischen Ansichten aber auch Ressentiments weit weniger unterschied als in ihren konkreten politischen Bedurfnissen, So wurden die Wahlen von 1907 ganz im Zeichen auBenpolitischer Fragen rund urn imperialistische Machtpolitik gefuhrt, Die Reichtagswahl von 1912 stand dagegen vor allem im Zeichen der Rustungspolitik, 1m Rahmen der Wahlkamptkonzeption war es fur die Parteien keine Selbstverstandlichkeit, in allen Wahlkreisen einen Kandidaten aufzustellen. Wahrend die SPD als besonders groBe und gut organisierte Partei in allen Kreisen einen Kandidaten aufstellte, positionierten andere Parteien nur in aussichtsreichen Wahlkreisen einen Kandidaten. Die antisemitischen Gruppen hingegen nutzten die Gelegenheit, in moglichst vie len - auch aussichtlosen - Wahlkreisen einen Antisemiten aufzustellen. Sie versprachen sich davon, auch im FaIle des eigenen Scheiterns eine gewisse Breitenwirkung zu erzielen und Judenhass anzufachen. Dartiber hinaus fuhrten die bereits erwahnten Wahlbundnisse ebenfalls zu einem vermehrten Auftreten von Antisemiten auf der Wahlbuhne, Die Agitationen gegen Juden nahm bereits in der ersten Halfte des Kaiserreichs Formen an. So wurden bei tagesaktuellen Anlassen in kurzester Zeit Flugblatter und Plakate verteilt, die einen antisemitischen Inhalt aufwiesen, wie z.B. "Wahlet keine Juden".29 Seitens der Konservativen wurde das Feind-
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Vgl. ebd.: 202. Hopp 2003: 271.
bild des Liberalismus mit dem judischen Feindbild verbunden, urn gleich zwei unliebsame politische Gegner miteinander in einen Zusammenhang zu bringen." Durch eindringliches Wiederholen von solchen (Wahlkampf-)Botschaften wurde dem stereotypen Antisemitismus bei vielen Gelegenheiten, wie z.B. Volksfesten oder Wahlveranstaltungen, und mit vielen Medien, z.B. Plakaten und Flugblattern, der Boden bereitet. Auch offentliche Tumulte, Schlagereien u.a, waren bei Wahlkampfveranstaltungen von nun an keine Seltenheit mehr. Durch diese Entwicklungen, aber auch durch die allgemein starke Ideologisierung und Zuspitzung im Wahlkampf, wurden die Wahlkampfe von vielen Menschen eher gering geschatzt, da sie das politisch-soziale Klima insgesamt aufheizten."
Fazit In der Einleitung wurde argumentiert, dass der Wahlkampf auch immer ein Kind seiner Zeit sei. Wie kann man diese Aussage vor dem Hintergrund des Deutschen Reichs verstehen? 1m Deutschen Reich hat sich durch die zunehmende Industrialisierung und die damit einhergehenden sozialen und okonomischen Veranderungen eine groBe Wandlungsdynamik in der Gesellschaft entwickelt. Gleichzeitig wurde allerdings diese Wandlungsdynamik vorn politischen System nicht aufgegriffen. Die Grtinde dafUr liegen im Beharrungsvermogen der herrschenden konservativen Krafte, an deren Spitze der Monarch stand. In der ersten Phase des Kaiserreichs hatte Reichskanzler Bismarck die Vormachtstellung der monarchistischen Krafte mit einer teils sehr geschickten strategischen Vorgehensweise abgesichert. Zugleich wurden die herrschenden Krafte durch einen ebenfalls konservativen und dem Monarchen treu ergebenen Verwaltungsapparat institutionell erganzt, 1m Vergleich zu vergangenen Revolutionen waren im Deutschen Reich keine revolutionaren Veranderungen festzustellen, da das Regime den Kraften der Urnwalzung durch Zugestandnisse und Repressionen den Boden entzog. Dennoch wurden die gesellschaftlichen Veranderungen z.B. in Form der Reformbewegungen nach au13en sichtbar. Und im Yolk war der Wunsch nach Veranderungen, wie sie im Wahlkampfthematisiert und in Massendrucksachen propagiert wurden, weit verbreitet - dies zeigt auch die steigende Wahlbeteiligung und der groBe Zulauf fur die antimonarchischen Krafte im Reichstag. Dies hatte allerdings fur den politischen Alltag kaum Folgen, da die Parteien bei der Verwirklichung ihrer Ziele durch die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit enorm gehemmt waren. Entsprechend folgte auf Wahlen in der Bevolkerung oft Emuchterung, wenn die Versicherungen des Wahlkampfs nach der Wahl nieht entsprechend umgesetzt wurden bzw. werden konnten. 1m Deutschen Reich wurden nicht zuletzt durch die obrigkeitsstaatliche Politik Bismarcks die Grundlagen fur die Fortschreibung der Unmundigkeit groBer Teile des Volkes gelegt, die emeut in der zweiten Halfte der Weimarer Republik spatestens durch die Notstandsgesetzgebung wiederauflebte. Das obrigkeitsstaatliche System des Deutschen Reiches existierte offiziell bis 1918 und der Verwaltungsapparat, der sich bis dahin entwickelt hatte, wurde praktisch unverandert in die Weimarer Republik ubernommen, Die Parteien wandelten sich zwar von Honoratiorenvereinigungen zu Parteien modemen Typs mit ausdifferenzierter Organisationsstruktur und hauptamtlichen Funktionaren, jedoch trifft auch sie zumindest in Teilen das Schicksal der obrigkeitsstaatlichen Unmundigkeit, unabhangig vom historischen Veranderungsprozess, der die Massenparteien hervorbrachte. Die Mas-
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Vgl. ebd. Vgl. Kohne 1997: 139.
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senmobilisierung - insbesondere zu Zeiten des Wahlkampfs - hatte ihren Hohepunkt bei den Reichtagswahlen von 1907. Bei den Wahlen von 1912 war bereits ein leichter Ruckgang zu verzeichnen. Angesichts der formellen Machtlosigkeit der Parteien hatten Wahlkampfe im Kaiserreich neben einer Mobilisierungs- auch eine Artikulations- oder Ventilfunktion: Sie gaben reformerischen oder revolutionaren Gedanken zumindest ansatzweise eine offentliche Plattform. Rudolf Stober schreibt: ,,(... ) Offentlichkeit besaB plebiszitar, legitimatorisch, unterstutzend oder zur Mobilisierung von Widerstand groBes Gewicht (... ),,32. Kritischem Gedankengut konnte Gehor verschafft werden, auch wenn es an der Umsetzung desselben letztlich mangeln musste. Die Grtinde fur den sehr intensiv gefuhrten Wahlkampf im Deutschen Reich sind vielschichtig. Als sieher kann jedoch gelten, dass AusmaB und Intensitat des Wahlkampfs aueh durch das Bestreben der Bevolkerung, der verfassungsmalsigen Unmundigkeit zu entfliehen, mitbestimmt worden ist. Ein Beleg fur diese These fmdet sich im Wahlergebnis selbst: Der uberraschend hohe Sieg der Sozialdemokraten im Jahr 1912 kann aueh als Ausweis eines wachsenden Modernisierungsbedurfnisses und eines Geflihls der Unzufriedenheit mit den herrschenden Zustanden interpretiert werden. Die SPD erhielt 34,8 Prozent der Stimmen und damit mehr als jede andere Partei, die zuvor zu einer Reichstagswahl angetreten war. Zum ersten Mal war die SPD uberdies starkste Fraktion, sie stellte 110 Abgeordnete. Der sozialdemokratische Trend setzte sieh im Ubrigen in Weimar fort - ein weiteres Indiz dafur, dass die Krafte der Modemisierung in der Bevolkerung immer starkeren Ruckhalt fanden. Die rechten Parteien waren die groBen Verlierer der Wahlen 1912. Die katholische Zentrumspartei erlangte 91 Sitze und kam auf Platz 2, gefolgt von der Nationalliberalen Partei, der Deutsch-Konservativen Partei und der Fortschrittlichen Volkspartei, die alle etwas mehr als 40 Sitze erreiehten. Die Wahlkampfe im Kaiserreich waren einerseits von der interpersonalen Wahleransprache und Wahlkampfversammlungen, andererseits vom Aufkommen der (oft parteilichen) Massenpresse'" und von der massenhaften Verbreitung von Wahlaufrufen, Flugblattern und Plakaten gepragt, Diese zeitgenossischen Medien enthielten bereits die klassischen Formen von Wahlkampfbotschaften - von verkurzten programmatischen Wahlaussagen uber Schlagworte bis hin zu Appellen an gesellschaftliehe Stereotype. Die Profilierung der Parteien erfolgte auf Kosten der politischen Gegner, die oft sehr negativ dargestellt wurden. Die Wahlkampfe waren ideologisch zugespitzt und die Wahlwerbung war auf die eigene Anhangerschaft zugeschnitten. Man ging davon aus, dass die Wahlkamptkommunikation ohnehin nur von der eigenen Klientel rezipiert werden wurde und verzichtete daher auf Botschaften, die fur breitere Wahlerkreise interessant gewesen waren, Stattdessen konzentrierten sich die Wahlkampfer auf die scharfe Konfrontation mit dem politischen Gegner. Betrachtet man die Wahlkampfe vor dem Hintergrund der zeitgenossischen Rahmenbedingungen, etwa der technischen Schranken der medialen Vermittlung und Einschrankungen der Wahlkampffinanzierung, zeigt sich, dass den Wahlkampfern, verglichen mit heute, enge Grenzen gesetzt waren. Zusammengenommen gelang es den demokratischen Kraften nicht, echte Demokratisierungsschritte und mehr Pluralismus zu bewirken. 1m Gegenteil: Das Deutsche Reieh erstarrte vielmehr. Alles was an demokratischen Fortschritten historisch notwendig gewesen ware, wurde auf der Weimarer Republik auferlegt. Und auch die Wahlkampfe in Weimar waren, angesichts der teils durehaus ahnlichen strukturellen und kulturellen Problemlagen, von ahnlichen Phanomenen gekennzeichnet.
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Stober 2000: 281. Stober 2000: 282.
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Auge urn Auge, Zahn urn Zahn - die Presse im (Wahl)kampf 1932 Von Tanja Engelmann
Vorbemerkungen "Wer Hitler wahlt, wahlt zum letztenmal; 1m Dritten Reich gibt es keine Wahl"l, schreibt einige Tage vor der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 die sozialdemokratische Zeitung .Vorwarts". Zur gleiehen Zeit warnt das republiktreue "Berliner Tageblatt": "Wer der Urne fernbleibt, obwohl er weiB, daB ein Wahlerfolg Hitlers und seiner Hilfstruppen ein Verhangnis fur die Republik ware, hilft Hitler ebensosehr, wie wenn er einen nationalsozialistischen Stimmzettel in die Urne steckte. Die faschistische Diktatur, die Gewaltherrschaft von Dilettanten und Fanatikem, kann in Deutschland nur vermieden werden, wenn am 31. Juli aile, die den Sinn der Entscheidung begriffen haben, zur Wahl gehen und gegen Hitler, gegen Papen, gegen die Reaktion in jeder Form stimmen.,,2
1m Sommer 1932 war hingegen im nationalsozialistischen "Volkischen Beobachter" zu lesen: .Es geht nieht darum, Manner auszuwechseln und den bisherigen Kurs unverandert beizubehalten. Das System muB fallen! (...) Wir aber wollen nicht Partei bleiben. Wir wollen Yolk werdenl'" Aus heutiger Sicht sind dies ungewohnt deutliche, ja kampferische Zeilen. Sie illustrieren einerseits, welch groBe Zerreillprobe speziell der Juli- Wahlkampf 1932 darstellte - es war ein Wanken zwischen Demokratie und Diktatur, denn die republikanischen Krafte im Weimarer Staat setzten sich fur die Demokratie und das Fortbestehen der ersten deutsehen Republik ein und widersetzten sich denen, deren Anspruch totalitar war. Andererseits geben sie aueh grundsatzlich einen Eindruck davon, wie die Berichterstattung im Vorfeld zu Wahlen in der damaligen Zeit mitunter ausgesehen haben muss - sie entpuppte sich nieht nur im Jahr 1932 als ein Kraftespiel auf dem Papier. Urn dies zu illustrieren, zeigt dieser Beitrag wie fUnf Tageszeitungen der damaligen Zeit den Reichstagswahlkampf im Juli 1932 journalistisch begleiteten, mit welchen Mitteln diese Blatter Wahlkampf fuhrten, gegen wen und fur wen sie Propaganda betrieben. Zu Grunde liegen Ergebnisse einer inhaltsanalytischen Studie der Berichterstattung tiber die Reichstagswahlkampfe der Jahre 1920, 1924, 1928 und 1932 4, bei der vier Zeitungen untersucht wurden, die sowohl die extremen politischen Lager als auch die moderaten Krafte im Weimarer Parteiengefuge reprasentierten: Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands "Rote Fahne", das der linksliberalen DDP nahestehende "Berliner Tageblatt", das Parteiblatt der katholischen Zentrumspartei "Germania" und das ZentVorwarts, .Das ,System' Hitlers.- Die Ruckkehr in den Absolutismus."Nr. 349,27.7.1932, S. 4. Berliner Tageblatt, "Wer nicht wahlt, hilft Hitler!", Nr. 358,30.7.1932 (MA), S. 1. Vgl. Volkischer Beobachter,"Die groBe Not ist da'', Nr. 201,19.7.1932, S. 3. Uberblick zur Berichterstattung wahrend der Reichstagswahlkampfe der Weimarer Republik in Engelmann 2004.
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ralorgan der NSDAP, der .Volkische Beobachter". FUr die Wahl im Juli 1932 wird im Folgenden noch eine fiinfte Zeitung herangezogen: der oben bereits zitierte .Vorwarts", Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Bei der Analyse, wie sie im Folgenden dargestellt wird, spielte unter anderem die Frage nach den aktuellen politischen Themen und der Wahlkampffiihrung eine Rolle. Dabei wurden die Darstellung der Parteien und die Mittel der Wahlkampffiihrung untersucht, wie das Zitieren anderer Pre ssorgane, das Abdrucken von Wahlaufrufen und der Einsatz von Wahlstatistiken sowie -prognosen. AuBerdem wurde berucksichtigt, ob und wie uber Wahlreden und -veranstaltungen berichtet wurde und auf welche Weise Darstellungen von Personen eine Rolle spielten. Mit Blick auf das Ende der Weimarer Republik wird auBerdem dargestel1t, welche Haltung die Zeitungen zum demokratischen System und der Notwendigkeit, wahlen zu gehen, einnahmen. Die Darstellung der damaligen Berichterstattung muss vor dem Hintergrund eines Pressesystems gelesen werden, das erhebliche Unterschiede zu unserem heutigen aufweist. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das joumalistische Selbstverstandnis, kennzeichnete doch der gesinnungsmalsig gebundene Typ von Zeitung den Charakter der damaligen deutschen Presse. So galt die Uberzeugung, dass der Journalist eine meinungsbildende Funktion innehabe und die Presse eine erzieherische Aufgabe erfiillen musse, Vor allem die Herausgeber linksliberaler Blatter als Hauptverfechter einer ideologischen Presse waren der Meinung, dass so die im politischen Denken der Deutschen noch nicht so stark verwurzelte Demokratie gefestigt werden konne, Allerdings befanden sie sich mit ihrer Vorstellung von der der Presse innewohnenden Lehrhaftigkeit in interessanter Gesellschaft: Einer, der ebenfalls fur das Primat der Meinungspresse votierte, war Joseph Goebbels. 5 Die Weimarer Zeitungslandschaft tei Ite sich auf in Parteizeitungen einerseits beziehungsweise Parteirichtungszeitungen und Generalanzeiger andererseits. Letztere verbanden als .wirtschaftliches Kuppelprodukt"? okonomische Interessen mit dem Informationsbedurfnis der Menschen, indem Anzeigenwerbung mit redaktionellen Inhalten kombiniert wurde. Inhaltlich war die Generalanzeiger-Presse zunachst neutral, vertrat aber sparer auch bestimmte parteipolitische Richtungen," Etwa die Halfte der in der Weimarer Republik erscheinenden Zeitungen - ihre Anzahl schwankte zwischen 3.243 (1921), 2.974 (1925) und 4.275 Titeln (1932)8 - bekannte sich offen zu einer parteipolitischen Richtung. Die andere Halfte der Blatter "der ,parteilosen' oder ,neutralen' Ausrichtung HeB, bei genauerer Betrachtung, nicht selten eine politische Grundrichtung erkennen. ,,9
Der Reichstagswahlkampf 1932 In eine Zeit, die gemeinhin als .Auflosungsphase der Weimarer Republik" beschrieben wird, tiel der Reichstagswahlkampf 1932. Es war der sechste von insgesamt acht Reichstagswahlkampfen der Weimarer Republik. Reichsweit wurde auBerdem noch bei der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung im Januar 1919 und bei den Reichsprasidentschaftswahlen abgestimmt. Oem Zeitraum zwischen 1930 und 1933 gingen zwei aufeinander treffende Krisenentwicklungen voraus, die die Ansatze zur Stabilisierung in VgJ. Eksteins 1975: 73f. Wilke 2002: 476. Vgl. Wilke 2000: 346. Schutz 1969: 348-369. Vgl. Fischer 1971: 29; vgl. dazu auch: Deutsches Institut fur Zeitungskunde 1931: 146.
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Deutschland zunichte rnachten: Zurn einen hatte die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise verheerende Folgen fur die ohnehin labile deutsche Wirtschaft, was zu einer sprunghaft ansteigenden Massenarbeitslosigkeit fuhrte, Zurn anderen rnarkierten der Bruch der "GroBen Koalition" unter Reichskanzler Hermann Muller und die Vorbereitung und Einsetzung des ersten Prasidialkabinetts Bruning irn Marz 1930 durch Reichsprasident Hindenburg den beginnenden Zerfall des dernokratischen Regierungssysterns. Bruning regierte mit Hilfe Hindenburgs auf der Grundlage der verfassungswidrigen Kornbination der Verfassungsartikel 48 zurn Notverordnungsrecht und 25 zurn Recht zur Reichstagsauflosung, wodurch das Parlarnent als demokratisches Entscheidungszentrurn faktisch ausgeschaltet wurde. Aufgrund der auf diesem Wege erfolgten Reichstagsauflosung wurden fur September 1930 Neuwahlen angesetzt, die die NSDAP von einer Splitterpartei zur zweitstarksten Fraktion im neuen Reichstag werden lieB. Wahrend die Partei bei der Maiwahl 1928 mit 2,6 Prozent nur zwolf Mandate erringen konnte, steigerte sie sich im September 1930 auf 18,3 Prozent mit 107 Abgeordnetensitzen. Die KPD konnte ihre Mandatszahl urn 23 auf 77 erhohen, so dass irn neuen Reichstag die Bildung einer positiven Mehrheit nicht mehr moglich war. Vor der Wahl hatte sich die DDP, in dem Versuch, die burgerlichen Krafte zu konzentrieren, mit der Volksnationalen Reichsvereinigung, dem politischen Arm des konservativen und antisemitischen Jungdeutschen Ordens, zur Deutschen Staatspartei zusammengeschlossen ohne Erfolg: Die Partei rutschte von 4,9 auf 3,8 Prozent ab." Bruning, der weiterhin das Vertrauen des Reichsprasidenten besaB, scheiterte mit dem Versuch, DNVP und NSDAP zur Unterstutzung der Regierung zu bewegen. Mit Rucksicht auf die in PreuBen bestehende Koalition von SPD, Zentrum und DDP/Staatspartei und aus Furcht vor den Konsequenzen einer emeuten Reichstagsauflosung entschloss sich die SPD dazu, das Kabinett Bruning und dessen Politik zu tolerieren. Im Lauf seiner Kanzlerschaft verlor Bruning die Sympathien bei Hindenburg und dessen Beratem auch aufgrund dieser Tolerierungspolitik mit der SPD und der Umstande der Reichsprasidentenwahlen im Fruhjahr 1932, bei denen sich Hindenburg gegen Hitler durchsetzen konnte. Damit bahnte sich die durch das Intrigenspiel des Generals von Schleicher, Ministeramtschef im Reichswehrministerium, vorangebrachte Entlassung Brunings Ende Mai 1932 an. Die anschlieBende Einsetzung des Prasidialkabinetts unter Reichskanzler von Papen sowie die vorzeitige Auflosung des Reichstags und die Anberaumung von Neuwahlen am 31. Juli 1932 waren Teile einer geheimen Absprache zwischen Schleicher und Hitler vor Brtmings Sturz, wobei Hitler zusagte, im Gegenzug die Prasidialregierung unter von Papen tolerieren zu wol1en. Die Aufhebung des seit April geltenden Verbots der paramilitarischen Organisationen der NSDAP, SA und SS, gehorte ebenfalls zu den Abmachungen Schleichers, so dass der Wahlkampf 1932 durch zahlreiche, blutige Auseinandersetzungen zwischen SA, SS und Stahlhelm einerseits und RFB und Reichsbanner andererseits gekennzeichnet war. Die in Lausanne vom 16. Juni bis 9. Juli 1932 stattfmdende Reparationskonferenz, bei der Deutschland weitgehend von seinen Reparationslasten befreit wurde, fiel ebenso in die Zeit des Reichstagswahlkampfs wie die Absetzung des von den Rechtsparteien verhassten PreuBen-Kabinetts durch ein staatsstreichartiges Manover (sag. PreuBenschlag), das Schleicher, von Papen und Reichsinnenminister von Gayl in die Wege geleitet batten.'!
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Vgl. Winkler 2000: 490 u. 493. Die Fusion im Juli 1930 irritierte nicht zuletzt die judischen Anhanger der DDP, von denen vermutJich viele zur SPD abwanderten. Vgl. Grevelhorster 2000: 143-175.
Die Wahlkampfberichterstattung im Juli 1932 Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Berichterstattung, die jeweils zwischen dem 1. und 3 1. Juli 1932 abgedruckt wurde. Die Beschrankung auf einen Zeitraum von einem Monat vor dem Wahltermin bietet sich an, weil diese Phase haufig als die "heiBe Phase,,12 des Wahlkampfs bezeichnet wird. In den Wochen zuvor finden sich in der Presse nur sehr vereinzelt Beitrage uber Wahl und Wahlkampf. Zudem waren die Wahlkampfzeitraume damaliger Wahlen wesentlich kurzer, als es in der heutigen Zeit der Fall ist. Das "Berliner Tageblatt" beispielsweise empfand es im Juli 1932 als .sehr fruhzeitig"!', dass der Wahlkampfbereits gut drei Wochen vor dem Wahlterrnin begonnen hatte.
Das " Berliner Tageblatt
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Die Berichterstattung des "Berliner Tageblatts" ist gekennzeichnet von der Sorge urn die Zukunft des Weimarer Staates. Der Wahlkampf sei uberflussig, "die Auflosung und Neuwahl des Reichstages im Jahre 1932 ein Akt durchaus vermeidbarer, willkurlicher EntschlieBung der regierenden Gewalt" 14, schreibt das Blatt. Es berichtet tiber die blutigen Stralienkampfe mit zahlreichen Toten und Verletzten, deren Zahl sich besonders seit der Autbebung des Uniforrn- und SA-Verbots gesteigert habe. Ein Durchgreifen der Regierung und die Wiedereinfuhrung des Uniform- und SA-Verbots sei notig - zumindest fur die Dauer des Wahlkampfs. Doch da die Papen-Regierung von den Nationalsozialisten abhangig und ihnen weitgehend horig sei, scheine die Hoffnung daraufvergebens: .Dieser Burgerkrieg wird leider nicht aufhoren, solange sich eine Partei, die taglich den Terror predigt und betatigt, eine uniformierte Privatarmee halten darf, und solange die Regierung wegen ihrer politischen Abhangigkeit von dieser Partei den entscheidenden Schritt fur die Befriedung des politischen Lebens, das Verbot der Uniform, nicht untemehmen kann.':"
Als auBerordentlich bedrohlich wertet das "Berliner Tageblatt" die Handhabung von Notverordnungen durch die Regierung, die die Grundfesten des Weimarer Staates erschutterten. Es kritisiert die von der Reichsregierung geforderten Verbote von .Vorwarts" und .Kolner Volkszeitung", denn so werde das in Jahrhunderten erkampfte Gut der Pressefreiheit verspielt. "N icht weil sie beschimpft, nicht weil sie verachtlich gemacht, nicht weil sie Interessen des Staates gefahrdet haben, sollen diese Zeitungen verboten werden, sondern wei! sie Kritik geubt, weil sie die Empfindlichkeit eines staatlichen Machthabers verletzt haben." 16 Wie die Pressefreiheit allerdings unter einer nationalsozialistischen Herrschaft aussehen wurde, habe Goebbels in einer Rede im Sportpalast verlauten lassen. "Die Nationalsozialisten wurden, wenn sie erst die Herren waren, ganz anders aufraurnen, Sie wurden nicht zwei Zeitungen auf fiinf Tage, sondem 29 Zeitungen auffUnfMonate verbieten.v '" Auch hinsichtlich der auBenpolitischen Aktivitaten der Regierung von Papen ist das "Berliner Tageblatt" skeptisch. Noch vor Abschluss der Verhandlungen in Lausanne be12 13 14 15 16
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VgJ. Wilke & Reinemann 2000: 21. Berliner Tageblatt, .Wahlkarnpf an Rhein und Ruhr", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. 1. BerlinerTageblatt, .Der Wahlkampfhat begonnen",Nr. 313,4.7.1932 (AA), S. 1. Berliner TagebI att, .Erste Korrektur", Nr. 337, 18.7.1932 (AA), S. 1f. Berliner Tageblatt, "Die neue Freiheit", Nr. 309,1.7.1932 (AA), S. If; Berliner Tageblatt, .Das Verbot der .Kolnischen Volkszeitung"', NT. 316,6.7.1932 (MA), S. 12. Berliner Tageblatt, .Prcssefreiheit im dritten Reich", Nr. 323, 9.7.1932 (AA), S. 8.
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zweifelt die Zeitung, dass die deutsche Delegation eine .wirtschaftlich sachlich" bedachte, vernunftige Entscheidung herbeizufuhren imstande iSt.18 Mit dem Verhandlungsabschluss, der Deutschland zu einer abschlieBenden Zahlung von hochstens drei Milliarden Mark verpflichtet, ist das "Berliner Tageblatt" aber zufrieden und stellt hoffnungsvoll fest: "AuBenpolitisch ist damit der Weg freigegeben fur einen wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands. Sehen wir zu, daB er innenpolitisch nicht verschuttet wird."!" Doch mit Blick ins Innere des Landes wamt die Zeitung vor Experimenten, im Besonderen vor der Absetzung der preuBischen Regierung, die von den Nationalsozialisten immerzu gefordert werde. Als der sogenannte .Preubenschlag" am 20. Juli 1932 tatsachlich Realitat wird, schreibt das "Berliner Tageblatt", es sei "ein halsbrecherisches Spiel, das sie damit begonnen haben" und uberhaupt sei es fraglich, ob "der Weg zur Ordnung und vor allem zur Verfassungzuruckgefunden werden konne. Und ebenso schwer ist zu sehen, wie das politische Spiel mit den Kraften ausgehen soli, denen man jetzt einen Trumpf nach dem anderen, einen moralischen Erfolg nach dem anderen in die Hande wirft. Es besteht die hohe Gefahr, daB man die Geister, die man rief, niemals mehr los werden wird. (...) Wir bestreiten mit aller Entschiedenheit, daB dieses gefi1hrlichste verfassungsrechtliche Experiment, das je in der Republik untemommen wurde, notwendig war.,,20
Mit dem Vorgehen gegen PreuBen sei eindeutig bewiesen, was ohnehin schon vorher klar gewesen sei: der Pakt zwischen der NSDAP und der Papen-Regierung." Diese ebne den Weg fur die Nationalsozialisten und bringe Deutschland in eine "Situation, die dem Idealstaat der Nationalsozialisten, die Hitlers ,Drittem Reich' in erschreckender Weise ahnelt.,,22 Wie dieses letztlich aussehen solIe, das habe die NSDAP in einem Programm fur den Fall der Machtubernahme enthullt, in dem eine weitgehende Zen sur der Presse, drastische MaBnahmen im Bereich der offentlichen Sicherheit, die Einrichtung von "Sammellager(n) fur arbeitsunwillige und politisch unzuverlassige Personen", die Streichung der Arbeitslosenhilfe, eine radikale Bearntenpolitik und die Abschaffung der Gewerkschaften vorgesehen seien. 23 Die Frontstellung des "Berliner Tageblatts" gegenuber den Nationalsozialisten zeigt sich deutlich in seiner Themenberichterstattung, die Zeitung will ihren Lesem jedoch zusatzlich die Vorgehensweise und Strategie der Nationalsozialisten vor Augen fuhren: Beispielsweise sei die von den Nationalsozialisten geforderte Aufhebung des SA- und Uniform-Verbots die Ursache der blutigen StraBenunruhen. Selbige wurden aber von der NSDAP als Beweis herangezogen, dass die gewahlten Volksvertreter demgegenuber machtlos seien und deshalb ersetzt werden mussten.i" "Sie fuhren auf der einen Seite bewuBt und planmaflig die Zustande herbei, die sie dann auf der anderen Seite als Vorwand benutzen, urn die Regierung unter Druck zu setzen und VerzweiflungsmaBnahmen von ihr zu verlangen.r" Zudem forderten die Nationalsozialisten offen die Abschaffung des Parla18 19
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Vgl. BerlinerTageblatt, .Der Glaubiger-Vorschlag", Nr. 311,2.7.1932 (AA), S. If. BerlinerTageblatt,"Die Entscheidung in Lausanne", Nr. 322, 9.7.1932(MA),S. If. BerlinerTageblatt,.Llnter dem Ausnahmezustand", Nr. 341,20.7.1932 (AA),S. 1. Vgl. Berliner Tageblatt, .Entschleierung", Nr. 343,21.7.1932 (AA), S. If. Berliner Tageblatt, ,~Schritt fur Schritt", Nr. 345, 22.7.1932 (AA), S. 1. Berliner Tageblatt, .Das Paradies desDritten Reichs", Nr. 345~ 22.7.1932 (AA), S. 7. Vgl. Berliner Tageblatt, "Die Reise nach Neudeck", Nr. 329, 13.7.1932 (AA), S. 1. Die Forderung, die preuBische Landesregierung aufgrund der Tumulte im preuBischen Landtag und den blutigen Kampfen auf den StraBen abzusetzen, wird schlieBlich am 20.7.1932erfullt ("PreuBenschlag"). Berliner Tageblatt, .Gegen Waffenmissbrauch", Nr. 330, 14.7.1932 (MA), S. II.
mentarismus - Hitler drohe in seinen Reden bereits den burgerlichen und nichtburgerlichen Parteien." Die nationalsozialistischen Antrage im preuBischen Landtag zeigten, was die NSDAP zur Gewahrleistung der offentlichen Sicherheit, zur Belebung der deutschen Wirtschaft und zur Rettung der deutschen Kultur plane: Sie fordere unter anderem die Verhaftung der sozialdemokratischen Verantwortlichen in der Polizei und drohe mit der Bewaffnung der eigenen Mitglieder zum Selbstschutz. Die Korperschafts- und Einkommenssteuer solIe radikal erhoht und das Vermogen aller nach 1914 eingewanderten Ostjuden eingezogen werden. Ferner strebe man die Sauberung der deutschen Musik, Kunst und Literatur von "nicht-deutschen Elementen" an. Hochst ironisch geht das "Berliner Tageblatt" auf die einzelnen Punkte ein. Sein Kommentar zu den nationalsozialistischen Vorhaben auf wirtschaftlichem Gebiet kann stellvertretend fur die Meinung des Blattes zum gesamten nationalsozialistischen Programm herangezogen werden: "Wer sie liest, der ist, sollte man meinen, schon kuriert.v" Die innerparteilichen Verhaltnisse in der NSDAP seien von Misswirtschaft und Korruption auf Kosten der Arbeiterschaft gekennzeichnet." Diese Kommunikationsinhalte werden sowohl in der Berichterstattung tiber tagliche Ereignisse als auch in Leitartikeln und Kommentaren transportiert. Nur vereinzelt greift das "Berliner Tageblatt" die Berichte anderer Zeitungen auf, urn sie zu kommentieren. Der Blick in rechtsstehende Zeitungen, wie die "Deutsche Tageszeitung", die "Nationalsozialistische Korrespondenz" oder der "Volkische Beobachter", dient dem "Berliner Tageblatt" lediglich dazu, die dort ubliche parteipolitische Hetze zu kritisieren, die jeder konstruktiven Kritik entbehre." Oem .Volkischen Beobachter" wirft das Blatt vor, seine Leser mit falschen Angaben hinsichtlich der Teilnehmerzahlen bei den Hitlerveranstaltungen in die Irre zu fUhren. "Groteske Obertreibungen leistet man sich aber bei den Berichten tiber die Hitler-Versammlungen. Da berauscht man sich an phantastischen Teilnehmerzahlen.v" Amtlichen Meldungen zufolge seien die Veranstaltungen von weit weniger Menschen besucht worden. Das "Berliner Tageblatt" betont in diesem Zusammenhang, dass die Bevolkerung im Gegensatz dazu von den republikanischen Parteien "sachlich" informiert werde. 31 Mit Wahlaufrufen bemuht sich das "Berliner Tageblatt", die republikanischen Krafte zu unterstutzen und setzt sich fUr den Kampf der Sozialdemokraten und der Zentrumspartei ein. Es fuhrt seiner Leserschaft die Tragweite der Wahlentscheidung klar vor Augen und appelliert an die Vernunft, fur die Freiheit und gegen die Reaktion zu stimmen. Dabei kommen Wahlaufrufe fur eine bestimmte Partei nicht vor. Jedoch sei die Wahl republikanischer Parteien nach Ansicht der Zeitung entscheidend: .Wenn auch diesmal wieder gefragt wird, wen man wahlen solIe, so kann die Antwort nur lauten, daB die bedrohte Freiheit in der Notwehr zu jedem dienlichen Verteidigungsmittel greift. Die Verteidigung liegt beim Zentrum, bei der Sozialdemokratie und bei der Staatspartei.v" Es werden keine bestimmten Wahlergruppen angesprochen. Vier Tage vor der Wahl wendet sich das "Berliner Tageblatt" schlicht an "Aile Manner und Frauen, die kein Hitler-Regime mit der Terrorherrschaft der Braunen und mit seinen unabsehbaren Folgen wunschen, (...) Wer sich aus Be26 27
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Vgl. Berliner Tageblatt, .Hitlers Agitationsfeldzug", Nr. 343,21.7.1932 (AA), S. 7. Berliner Tageblatt, "Der Antrag", Nr. 336, 17.7.1932 (MA), S. If. Berliner Tageblatt, .Das Doppelgesicht der N.S.D.A.P.", Nr. 352,27.7.1932 (MA), S. 2. Vgl. Berliner Tageblatt, .Zuruckhaltung oder Ablehnung", Nr. 323, 9.7.1932 (AA), S. 7; Berliner Tageblatt, .Rechtspresse gegen Lausanner Einigung", Nr. 322, 9.7.1932, S. 2~ Berliner Tageblatt, "Ein sanftes Echo", Nr. 339,19.7.1932 (AA), S. 7. Berliner Tageblatt, "Wahlkampfan Rhein und RuM", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. If VgI. Berliner Tageblatt, .Wahlkampfan Rhein und Ruhr", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. If BerlinerTageblatt,"In Berlinund der ProvinzBrandenburg",Nr. 348,24.7.1932 (MA), S. 1f
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quemlichkeit oder Egoismus druckt, bescheinigt sich selbst seine staatsburgerliche Minderwertigkeit. Gleichgultigkeit wird zum Verbrechen (...).,,33 Mit Vemunft mussten sich die Menschen entscheiden zwischen jenen, "deren Wille und deren Kraft dafiir burgt, daB sie den Anschlag der Feinde politischer Freiheit zuschanden machen" oder denjenigen, die sich in blutigen Stralienkampfen und "Saalschlachten" im preuBischen Landtag prasentierten, .Der Wahler selbst wird zu bestimmen haben, ob er diesen Scharen und ihren vomehmeren Verbundeten das Reich ausliefem will. Er kann jetzt bewahren oder verleugnen, was ihm an Einsicht, an Mut und auch an bloBem Selbsterhaltungstrieb verliehen ist.,,34 Noch habe die republikanische Wahlerschaft den Stimmzettel als Waffe, urn Deutschland vor einem .Absturz in die Finstemis" und einer "unvorstellbare(n) Leidenszeit" zu bewahren, doch wenn davon kein Gebrauch gemacht werde, dann werde fur die Dauer der Herrschaft der Nationalsozialisten niemand mehr zur Wahl gehen konnen - "dann wird man die letzten Reste eurer Freiheit und eurer Burgerrechte zerschlagen und, mit den brutalsten Mitteln, die ihr kennt, euch zu dumpfem Gehorsam, zu schweigender Unterwerfung zwingen.v" Positiv berichtet das "Berliner Tageblatt" hingegen uber Wahlveranstaltungen der Zentrumspartei und der SPD, uber die dort gehaltenen Wahlreden fuhrender Sozialdemokraterr" und Zentrumspolitiker", sowie uber die Wahlreise Heinrich Brtinings und dessen Wahlreden. Sein Auftritt im Rheinland habe einem "Triumphzug" geglichen." Das "Berliner Tageblatt" ist der .Eisemen Front,,39 durchaus wohlgesonnen." Sie sei "die groBe republikanische Organisation zur Abwehr des Faschismus und des S.A.Terrors"?', die mit einer massiven Wahl- und Werbekampagne, deren Kennzeichen drei Pfeile auf rotem Grund seien, fur den Erhalt der Republik kampfe, Darautbin berichtet das "Berliner Tageblatt" immer wieder tiber Veranstaltungen der Eisemen Front und betont den Zuspruch, den die Bewegung aus der Bevolkerung erhalte. Ober eine Massendemonstration beispielsweise schreibt die Zeitung: Zehntausende hatten den gemeinsamen Ruf "Freiheit" skandiert und man habe gespurt, "daB es in Deutschland eine Schutztruppe fur Freiheit, fur die Volksrechte, gegen Diktatur und Parteiherrschaft gibt, die unbesiegbar ist und niemals unterdruckt werden kann. DaB sich heute, klarer als je, zwei Fronten gegenuberstehen, die Front der Freiheit gegen die Front der Reaktion." Wahrend der Demonstrationszug der Eisemen Front, der aIle Volks- und Berufsschichten vereint habe, "durch ein Spalier Begeisterter oder Sympathisierender" am StraBenrand gezogen sei, habe man die stramm marschierenden "Hitler-Garden", die in den Tagen zuvor durch Berlin marschiert seien, nur mit "Teilnahmslosigkeit, KUhle oder Ablehnung" bedacht.Y Negativ berichtet das "Berliner Tageblatt" hingegen tiber AuBerungen nationalsozialistischer Wahlredner." 33 34 35
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Berliner Tageblatt, ,,Am Sonntag Entscheidungsschlacht!", Nr. 352, 27.7.1932 (MA), S. 1. Berliner Tageblatt, .Der Wahler selbst", Nr. 327, 12.7.1932 (AA), S. If Berliner Tageblatt, .Urn Alles!", Nr. 360, 31.7.1932 (MA), S. 1f Vgl. Berliner Tageblatt, "Die Demonstration der Eisemen Front", Nr. 333, 15.7.1932 (AA), S. 7. Vgl. Berliner Tageblatt, "Bruning - Severing - Holtermann", Nr. 337, 18.7.1932 (AA), S. 9; Berliner Tageblatt, .Zentrumsfuhrer gegen Regierungskurs", Nr. 349, 25.7.1932 (AA), S. 9. Berliner Tageblatt, "Bruning im Wahlkampf", Nr. 313, 4.7.1932 (AA), S. 9; auch: Berliner Tageblatt, "BrOnings Wahlreise Nr. 340,20.7.1932, S. 12. Die .Eiseme Front" wurde im Dezember 1931 von SPD, ADGB, Afa-Bund, Reichsbanner und Arbeiterorganisationen gegrundet, Unter dem Fahnensymbol der drei Pfeile veranstaltete sie politische Kundgebungen und Umzuge (Vgl. dazu: Sturm, a.a.O., S. 54). Vgl. BerlinerTageblatt, .Die Eiserne Front im Wahlkampf",Nr. 325, 11.7.1932(AA), S. 10. Berliner Tageblatt, .Wahlkampf'fur die Republik", Nr. 332,15.7.1932 (MA), S. 15. Berliner Tageblatt, "Idee gegen Uniform", Nr. 315, 5.7.1932 (AA), S. 1f. Vgl. Berliner Tageblatt, .Nur eine Kostprobe", Nr. 330, 14.7.1932 (MA), S. 11. H
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Die Berichterstattung tiber Personen oder Kandidaten spielt wahrend des Wahlkarnpfs 1932 im "Berliner Tageblatt" keine Rolle. Jedoch kampft die Zeitung uneingeschrankt fUr den Erhalt der dernokratischen Staatsordnung. Sie steht zurn Weirnarer Staat sowie dessen Verfassung und betont den Schutz der Freiheitsrechte.
Die" Germania " Das Zentrurnsblatt macht die arntierende Regierung fur die angespannte politische Lage verantwortlich. "Die Gefahren, die aus diesem leichtsinnig heraufbeschworenen Wahlkampfe sich entwickeln konnen, Gefahren fur die Freiheit des Burgers und die Ordnung des Staates, sind noch nicht zu ubersehen, ,,44 AuBen- sowie innenpolitisch bescheinigt die "Germania" der Papen-Regierung eine erschreckende Bilanz und lehnt im Gegensatz zurn "Berliner Tageblatt" den Verhandlungsabschluss von Lausanne abo Man habe sich dort von den anderen Staaten in die Enge treiben lassen und das ursprungliche Ziel, Deutschland zu entschulden, vollig verfehlt. Innenpolitisch herrsche Barbarei, Terror und Unordnung nach Ansicht der "Germania" ein Vorgeschrnack auf eine nationalsozialistische Regierung. Das Blatt kritisiert die staatspolitische Entwicklung unter der bestehenden Regierung, die durch ihre Abhangigkeit von den Nationalsozialisten die von Bruning angestrebte .Llnabhangigkeit und Starke der Staatsfiihrung" zunichte gemacht und erneut parteipolitischen Bindungen und Abhangigkeiten untergeordnet habe.'?" Der "gute Ruf Deutschlands als eines Kulturvolkesv'" stehe auf dem Spiel. Auch die "Germania" warnt vor innenpolitischen Experimenten und schreibt zu den Ereignissen in PreuBen: "Was ist das fur ein unerhorter politischer und tatlicher Zwangsakt, mit dem die Trager der Reichsmacht gegen die Trager einer verfassungsmabigen Landesmacht vorgegangen sind und diese aus ihren Amtem entfemt haben! Sind wir von Deutschland- von D e u t s chI and! - tiber Nacht plotzlich nach SUdamerika verschlagen, urn einen gerade falligen Machtkampf zu erleben? (...) Wir furchten sehr, daB das was die Reichsregierunggestem angerichtet und in Bewegunggesetzt hat, ihr selbst und leider auch dem deutschen Volke sehr schlecht bekommenwird.,,47
Ebenso wie das "Berliner Tageblatt" sieht die "Germania" in der bevorstehenden Wahl die
.Jetzte Chance" fur das deutsche Yolk ,jegliche politische(n) Experimente" zu verurteilen." Die Zeitung wendet sich gegen die Nationalsozialisten und die Papen-Regierung wobei stets die Verteidigung der Zentrumspartei und des ehemaligen Zentrumskanzlers Bruning eine wichtige Rolle spielt. Die Vorgehensweise der NSDAP, die zuerst die Regierung Bruning gesturzt und dann wochenlang die Papen-Regierung toleriert habe, wird heftig kritisiert. Nachdem ihr dies von allen Seiten vorgeworfen worden sei, fange sie nun an, die Regierung unter von Papen zu bekampfen, Diese Tolerierungspolitik der NSDAP versucht die "Germania" imrner wieder durch die Veroffentlichung interner Schriftstucke oder Gesprachsprotokolle, die die Absichten der NSDAP offen legen, zu beweisen." Die "Germania" wirft der NS-Partei vor, zu feige zu sein, urn Verantwortung fur ihre Taten zu uber44
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Germania, .Das Zentrum im Angriff", Nr. 184,4.7.1932, S. 1. Germania, "Wohin des Weges?", Nr. 200, 20.7.1932,S. If. Germania, .Eindrucksvolle Bilanz", 17.7.1932, S. 1f. Germania, .Der Schlag gegen PreuBen - Der Stein rollt", Nr, 201,21.7.1932, S. If'(Hcrvorheb. i. Original). Germania, "Die letzte Chance", Nr. 208, 28.7.1932, S. If. Vgl. Germania, "Nazis bleiben verantwortlich", NT. 197, 17.7.1932, S. 11; auch: Germania, .Llnter Beweis gestelltl", 19.7.]932, S. 1.
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nehmen.i" Sie arbeite mit Lugen und Verleumdungen" und predige den einheitlichen Volksstaat, in dem die Trennlinien zwischen den deutschen Volksstammen verschwinden mussen. Der "neutralisierte Durchschnittsdeutsche" solIe wohl das Ergebnis sein, so das Blatt. Die Nationalsozialisten saten nichts als Hass und betrieben "Ubelste Hetze" gegen die katholische Kirche. 52 Die "Germania" kommentiert die Propaganda der anderen Parteien und ihrer Presse in ihrer Berichterstattung: Anlasslich des PreuBenschlages beispielsweise zitiert das Blatt aus der jubelnden Rechtspresse und stelIt spottisch fest, dass es verwunderlich sei, wie einheitlich das Vorgehen der Regierung plotzlich begrulst werde, wo man doch zuvor aufgrund des Wahlkampfs unaufhorlich auf die Regierung unter von Papen geschimpft habe.r' Die "Germania" wehrt sich auch vehement gegen die VorwUrfe der Nationalsozialisten in einem von diesen herausgegebenen "sogenannten Kampfblatt der werktatigen Jugend GroBdeutschlands". Man werde sich zwar nicht der gleichen "gemeinen Waffen" bedienen, mit denen die Nationalsozialisten ihre Gegner bekampften, dennoch sei es aber an der Zeit, "diesen Verfechtern des Christentums die Maske vom Gesicht zu reiBen, indem wir ihnen ihre eigene journalistische Produktion vorhalten. ,,54 Die Wahlkamptberichterstattung der "Germania" ist, ahnlich wie im "Berliner Tageblatt", gepragt von der abwehrenden Haltung gegenuber den staatsfeindlichen Kraften. Die Zeitung verteidigt aber vor allem die Zentrumspartei und wirbt eindringlich fur deren Wahl. Zur Zielgruppe ihrer Aufrufe gehoren die der Zentrumspartei ureigenen katholischen Wahler 55 sowie daruber hinaus besonders Frauen und Adelige. Angesichts der Absetzung der preuBischen Regierung allerdings appelliert das Blatt an die staatsburgerliche Ptlicht eines jeden - die Wahlentscheidung sei durch die Vorgange im Reich .zur Lebensentscheidung fur den deutschen Volksstaat geworden.v'" Eine Besonderheit pragt im Juli 1932 die Wahlkampffiihrung der "Germania": Ausfuhrlich begleitet die Zeitung die Wahlkampftour des Zentrumspolitikers Heinrich Bruning. Am 1. Juli 1932 kundigt sie an, dass fuhrende Zentrumspersonlichkeiten eine Wahlkampfreise durch Deutschland machen werden. "Die Fuhrer der Partei werden in den vier W 0chen des Wahlkampfs - neben den Abgeordneten der einzelnen Wahlkreise - im ganzen Reichsgebiete zum deutschen Volke sprechen. Weit uber die Reihen der Parteianhanger hinaus werden ihre Worte gehort werden.?" AnschlieBend berichtet die "Germania" detailliert tiber die verschiedenen Stationen der Wahlkampfreise Brunings, Spitzenkandidat des Zentrums, durch das Rheinland, PreuBen, Bayem und Westfalen. In der Berichterstattung, die der des nationalsozialistischen .Volkischen Beobachters" ahnelt, werden Bruning als auch Zentrumspolitiker als "FUhrer" beziehungsweise "FUhrer der Partei" bezeichnet. In den Artikeln uber die Veranstaltungen Brunings wird der GruB .Heil Bruning" verwendet und auch in der Art, wie die Wahlreise beschrieben wird, gibt es auffallige Parallelen zur Berichterstattung des "Volkischen Beobachters". Dabei legt die "Germania" Wert darauf, stets die groBe Begeisterung der Men50
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Vgl. Gerrnania, .Verantwortung ist bitter", Nr. 192, 12.7.1932, S. 7. Vgl. Gerrnania, "Der Lugenfeldzug der Nazis", Nr. 197, 17.7.1932, S. 11. Vgl. Gerrnania, "Die Goebbels'sche These", Nr. 207, 27.7.1932, S. If. Vgl. Gerrnania, "Die Rechtspresse jubelt", Nr. 201,21.7.1932, S. 3. Gerrnania, .Das Zentrum - die ,schwarze Schmach"', Nr. 203, 23.7.1932, S. 3. Vgl. Germania, ,,An das christliche Arbeitervolk Deutschlands", Nr. 181, 1.7.1932, S. 7; Germania, .Geschlossene Wah Ifront der Katholiken!", 14.7.1932, S. If. Germania, .Der Schlag gegen PreuBen- Der Stein rollt", Nr. 201,21.7.1932, S. If Gerrnania, .Auf in den Wahlkampf', Nr. 181,1.7.1932, S. 4.
schen und die Tatsache zu betonen, dass riesige Menschenmassen die Reden verfolgt und dem "FUhrer" begeistert zugejubelt batten." .Auch jemand, der durch die vielen Wahlkampfe der letzten Zeit abgestumpft ware, mubte innerlich mitgerissen werden von der Schwungkraft, von der Echtheit der Begeisterung und der mitreiBenden Bereitschaft der Tausende und Abertausende, die sich einsetzen wollen fur den klaren und zielsicheren Weg, den uns der FUhrer Bruning weist.,,59
Die Redaktion der "Germania" allerdings scheint sich der Ahnlichkeit ihrer Berichterstat.. tung mit der der Nationalsozialisten bewusst zu sein, da sie sich bernuht, sich von Vergleichen mit Hitler und der NSDAP zu distanzieren: .Wir lehnen es ab, jene suliliche Stimmung zu erzeugen, mit der man Herro Hitler zum Heros des deutschen Volkes stempeln will. Denn dieser Mann wird einfach nur dazu gestempelt. Wir haben einen FUhrer, der durch die Tat und die verantwortungsbewusste Arbeit bewiesen hat, daB er des Vertrauens der Massen (...) wurdig ist. Heil Bruning! - das ist der Ruf, der uns uberall entgegenklingt''"
Die "Germania" charakterisiert Bruning als einen weitsichtigen, mutigen Politiker, der als 61 Kanzler eine "stille, opferschwere, aber erfolgreiche Arbeit" geleistet habe. Seine politischen Leistungen und sein Einsatz auf der Wahlreise werden fortwahrend gelobt: .Eine unerhorte Leistung hat dieser wahre Volksfiihrer hinter sich: fast 2 ~ Jahre der schwersten verantwortungsvollsten Regierungsarbeit, in einer Zeit, wo eine Krise die andere jagte und aile Krisen uberstanden wurden.,,62 Vnd an anderer Stelle heiBt es: .Brtmings Name zieht den Millionen voraus, sie haben ihn und sein Werk erkannt, sie wissen, daB es keinen deut.. scheren FUhrer gibt als ihn. (...) Zehntausende jubelten ihm, dem wahren FUhrer des echten Deutschlands, zu (...), dem Fuhrer, dem Kanzler der Wahrheit, Klarheit und unbeirrbaren Sachlichkeit, dem Staatsmann hoher Gnade (...).,,63 Die besonderen Eigenschaften eines Staatsmanns und Volksfiihrers seien Bruning, einem geburtigen Westfalen, bereits angeboren, denn tiber den westfalischen Charakter schreibt das Blatt, als die letzte Etappe der Wahlkampfreise Bruning nach Westfalen ftihrt: .Hier wachst ein kemiger Menschenstamm, ein harter, zaher, zielbewusster Menschenschlag, trutziges Bauemtum und ein eisengeharteter Stadter: das ist des Landes und seiner Bewohner Charakter. Diesen schweren Landes Kind ist Heinrich Bruning.v'" Die Zentrumskandidaten in den Wahlkreisen und auf der Reichsliste gibt die "Germania" am 1O. Juli 1932 unter Angabe des Namens, Berufs und Wohnorts der Kandidaten bekannt. Mehr erfahrt der Leser nicht, das Blatt erwahnt lediglich nochmals, dass der Ex-Kanzler Bruning als Spitzenkandidat des Zentrums in fast samtlichen Wahlkreisen an der Spitze desjeweiligen Vorschlags stehe." Die "Germania" bekennt sich zur Demokratie und stellt immer wieder heraus, dass das demokratische Staatsystem erhalten werden musse. Jedoch billigt sie ausdrucklich den 58
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Vgl. Gennania, "Bruning im Rheinland",Nr. 184,4.7.1932, S. If; Gennania, .Bruning-Aufmarsch in Schlesien", Nr. 191, 11.7.1932, S. I; Gennania, .Paroleausgabe in Breslau: Vorwarts mit Bruning!", Nr. 193, 13.7.1932, S. 3; Gennania, .Bruning-Jubel in ganz Westfalen- 50.000 in Bochum", Nr. 207,27.7.1932, S. 7. Gennania, .Volk in Treue zu Bruning", Nr. 194,14.7.1932, S. 4. Germania, .Volk in Treue zu Bruning", Nr. 194,14.7.1932, S. 4. Vgl. Germania, .Zeuge gegen Hugenberg - fur Bruning", Nr. 188, 8.7.1932, S. 3. Gennania, .Paroleausgabe in Breslau:Vorwarts mit Bruning!",Nr. 193, 13.7.1932,S. 3. Germania, "Bruning im Rheinland", Nr. 184,4.7.1932, S. If. Germania, "Bruning in Westfalen", Nr. 205,25.7.1932, S. 1. Vgl. Germania, "Die Kandidaten des Zentrums", Nr. 190,10.7.1932, S. 13.
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Fuhrergedanken und einen damit verbundenen autoritaren Charakter der Demokratie: .Keine Experimente! Autoritat. Jawohl: Aber die Autoritat in einer Demokratie, die kein Zwangsinstitut sein darf, sondem ein Staat der Freiheit und der Toleranz.v'" Der Weg der Brtiningschen Staatsfiihrung habe zum Ziel gehabt, "ohne Beseitigung der gesunden demokratischen Grundlagen eine starke autoritare Regierungsgewalt herauszubilden. ,,67 Die Zeitung wehrt sich dennoch engagiert gegen die von den Rechtsparteien angestrebte Abschaffung des Reichstages, lehnt dabei vor allem eine Ruckkehr zu einem absolutistischen Staatssystem ab und mahnt zur Vorsicht gegenuber solchen Tendenzen. "FOr uns jedenfalls ist der deutsche Staatsburger etwas mehr als das billige Stimmvieh, das man in Kreisen der deutschen Rechten gebraucht, urn die glorreichen Zeiten wieder heraufzufuhren (...). Der monarchische Absolutismus ist langst historische Antiquitat. Glauben die Hitler und Hugenberg dem Volke im 20. Jahrhundert durch Massenhypnose einen parteipolitischen Absolutismus aufoktroyieren zu konnen? Freier deutscher Staatsburger, aufgewacht und aufgepabtl'i'"
Der " Vorwarts
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Auch im .Vorwarts" stehen das Vorgehen der Papen-Regierung bei den Reparationsverhandlungen in Lausanne und ihre Abhangigkeit von den Nationalsozialisten sowie die innenpolitische Situation und der so genannte PreuBenschlag am 20. Juli 1932 im Zentrum der Berichterstattung. Das Ergebnis von Lausanne wertet die Zeitung weitgehend als positiv 69 - die "von der Sozialdemokratie seit vierzehn Jahren vertretene sachliche AuBenpolitik" habe sich erfolgreich durchgesetzt. Zu verdanken sei das allerdings lediglich der wohlwollenden Haltung der Verhandlungspartner USA und Frankreich. Von Papen hingegen sei "in einen Erfolg hineingestolperr'?", den er vor den ibn stutzenden Kreisen verantworten musse. Schwachpunkt des Ergebnisses sei, dass nicht feststehe, ob und wann der Vertrag ratifiziert werde. 7 1 Immer wieder berichtet der "Vorwarts" uber die blutigen Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten, zu denen es uberall im Land kornmt." Die burgerkriegsahnlichen Zustande forderten immer mehr Tote und Verletzte. Haufig schildert die Zeitung Uberfalle oder Morde an Personen aus den Reihen der Sozialdemokratie." Ab dem 20. Juli ist die Absetzung der sozialdemokratischen preuBischen Landesregierung eines der Hauptthemen der Zeitung.i" Mit Blick auf die steigenden Arbeitslosenzahlen" geht das Blatt zudem relativ haufig auf arbeitsmarktpolitische Themen ein, so etwa auf die Plane der Regierung zu 66 67
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Germania, .Volk in Treue zu Bruning", 14.7.1932,S. 4. Germania, .Wohin des Weges?", Nr. 200,20.7.1932, S. If. Germania, .Wohin des Weges?", Nr. 200,20.7.1932, S. If. Vgl. Vorwarts, "Lausanne und der 31. Juli", Nr. 321,10.7.1932, S. 13. Vorwarts, "Die Lehre von Lausanne", NT. 321, 10.7.1932,S. 1. Vgl. Vorwarts, "Die Ernte des Erfullungskanzlers Papen", Nr. 331,16.7.1932, S. 9. Vorwarts, "SA-Ueberfall in Halle", NT. 331, 16.7.1932, S.I~ Vorwarts, "Neue Blutopfer im Reich", NT. 332, 16.7.1932, S. 1~ Vorwarts, Bilanz einer Wahlwoche.", Nr. 333,17.7.1932, S. 18, Vorwarts, .Abgeordneter niedergeschlagen", NT. 342, 22.7.1932, S. 1, Vorwarts, .Wahlterror im OrdnungspreuBen", Nr. 346, 25.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Burgerkrieg im Lande", Nr. 337,20.7.1932, S. 2. VgJ. Vorwarts, .Belagerungszustand tiber Berlin", NT. 338, 20.7.1932, S. 1~ Vorwarts, .Reichswehr im Polizeiprasidium!", Nr. 339,21.7.1932, S. 2~ Vorwarts,"Wie Grzesinski verhaftet wurde.", NT. 339,21.7.1932, S. 4.~ Vorwarts, "Protest aller PreuBenminister.", NT. 34],22.7.1932, S. 3. Vorwarts, "Alarm auf dem Arbeitsmarkt", Nr. 341, 22.7.1932, S. 3~ Vorwarts, .Arbeitsmarkt unter Papenkreuz. Mehr als drei Viertel der Bauarbeiter Ende JUDi arbeitslos.", NT. 335,19.7.1932, S. 4.
einem .Arbeitsdienst", durch den insbesondere arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren in gemeinnutziger Arbeit beschaftigt werden sollen." Es zitiert aus einer Verordnung, die als Rahmengesetz dienen solI: ,,1m freiwilligen Arbeitsdienst solI kunftig ,in gemeinsamem Dienste freiwillig emste Arbeit' geleistet und die jungen Deutschen sollen zugleich korperlich, geistig und sittlich ertuchtigt werden.v " Der .Vorwarts" stellt kritisch fest, dass man keine Details erfahre, also etwa nach welchen Grundsatzen der Dienst durchgefiihrt oder ob eine Versicherung fur die Betroffenen eingefiihrt werden solle. Es sei zu befiirchten, dass "die Arbeitsdienstpflichtigen den Erwerbslosen Arbeitsplatze wegnehmen"." Die Zeitung prophezeit, dass sich die Situation der Arbeiter im Faschismus drastisch verschlechtern wurde und belegt dies mit einem Blick in das .Mutterland des Faschismusv ", Italien. In diesem Zusammenhang weist der .Vorwarts" auch immer wieder auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Arbeiter hin, die sich durch Kurzungen der Arbeitslosenhilfe ergeben habe." Das Blatt stellt unter anderem einen Vergleich mit der Situation im Jahr 1928 81 und der Lage der franzosischen und englischen Arbeiter an. Eindeutig bezieht der "Vorwarts" gegen die Nationalsozialisten Stellung: "Nach unserer Ueberzeugung fordem die innen- und auBenpolitischen lnteressen des deutschen Volkes den allerscharfsten Kampf gegen die nationalsozialistische Judaspartei und gegen jede Regierung, die sich in die Abhangigkeit dieser Partei begibr'", heiBt es Anfang Juli, kurz vor einem funftagigen Verbot des .Vorwarts", Reichsregierung und Justiz hatten ihm vorgeworfen, mit Verleumdungen des Reichsprasidenten und der Regierung die lnteressen des Landes zu gefahrden, Doch diese Frontstellung gegen die NSDAP bleibt kein Einzelfall. "Fort mit der volksverraterischen NSDAP,,83, fordert das Blatt so oder ahnlich immer wieder im Verlauf des Wahlkampfs. Was Adolf Hitler, der haufig im Zentrum der Angriffe steht, diktiere, habe Hunger und Entrechtung zur Folge. Von "Hungerdiktatoren,,84 und vom "Hungerkreuz,,85 schreibt die Zeitung mit Blick auf die NSDAP. Die Nationalsozialisten werden als rupelhaft, unehrlich, hinterhaltig und gewalttatig charakterisiert. Die "NaziFraktion" im preuBischen Landtag, die die Parlamentssitzungen mit Zwischenrufen wie .Judenjungen" oder .Hundesohne'' store, sei eine "deutsche Kulturschande", urteilt das Blatt und fragt .Wollt ihr das auch im Reichstagvv" Die Partei beluge das Yolk, insbesondere die Arbeiterschaft und werde nur von einem Bruchteil des Volkes gestutzt, "von wirtschaftlichen und politischen Bankrotteuren und ihrem zahlenmalrig kleinen Anhang"." Mit Blick auf die gewalttatigen Auseinandersetzungen, die aus Sicht des Blatts stets durch die Nationalsozialisten verursacht werden, ist gar die Rede von der "Nazi-Plage". Der "Vorwarts" stellt fest: .Wir erhalten taglich eine solche Fulle von Zuschriften tiber nationalsozi76 77 78 79 80
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Vorwarts, "Was kostet der Arbeitsdienst?", Nr. 337,20.7.1932, S. 4. Vorwarts, .Kommt die Arbeitsdienstpflicht?", Nr. 333,17.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Freiwillige Arbeitsdienst.", Nr. 333,17.7.1932, S. 10. Vorwarts, .Das Vorbild des Dritten Reichs.", Nr. 321,10.7.1932, S. 9. Vorwarts, "Vor dem Schalter des Arbeitsamts", NT. 341,22.7.1932, S. 2; Vorwarts, "Alarm aufdem Arbeitsrnarkt", Nr. 341,22.7.1932, S. 3; Vorwarts, "VOT der Wahl", Nr. 342,22.7.1932, S. 4. Vgl. Vorwarts, .Ein Vergleich 1928 - 1932 - Was die Arbeitslosen bekommen.", Nr. 341,22.7.1932, S. 11; Vorwarts, .Wahrheit tiber den Wohlfahrtsstaat.", Nr. 343,23.7.1932, S. 10. Vorwarts, ,,'Vorwfirts' wird verboten", Nr. 307,2.7.1932, S. 1. Vorwarts, .Hungerdiktator Hitler", Nr. 331, 16.7.1932, S. 2; Vorwarts, "Hitler diktiert den Hunger!", Nr. 336, 19.7.1932,S.1. Vorwarts, .Hakenkreuz - Lugenkreuz!", Nr. 345,24.7.1932, S. 15. Vgl. Vorwarts .Der Unterstutzungsraub", NT. 347, 26.7.1932, S. 9. Vorwarts, .Jrrenhaus Landtag", NT. 310/319, 9.7.1932, S. 4. Vorwarts, ,,Auf dem Weg zur Entscheidung!", NT. 349,27.7.1932, S. 9.
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alistische Uberfalle und Belastigungen aller Art, daB unser Raum nicht ausreicht, sie aIle zu bringen.v'" Auf die anderen Parteien der Weimarer Parteienlandschaft geht der .Vorwarts" eher selten ein. Hin und wieder nimmt die Zeitung kritisch zur KPD Stellung und wirft der kommunistischen Partei beispielsweise vor, mit ihrer Agitation gegen die Sozialdemokratie die Arbeiterschaft spalten zu wollen." Hingegen ist die Zeitung den biirgerlichen Parteien wie Zentrum und DDP wohlgesonnen, wenn sie auch feststellt, dass die DDP 1932 kaum noch politisches Gewicht habe. Das Zentrum sei .zur Zeit von den biirgerlichen Parteien das weitaus kleinste Uebel", konne aber als Partei der Mitte "ebenso gut mit der Rechten wie mit der Linken koalieren". Zu den Mitteln der Wahlkampffiihrung zahlen nur gelegentlich Bezugnahmen auf die Pressetexte anderer Zeitungen. Beitrage in nationalsozialistischen Blattern wie dem "Volkischen Beobachter" oder der rechtsstehenden .Deutschen Zeitung" kommentiert der "Vorwarts" ablehnend. Letztere habe gegen Volksbildungskurse der Gewerkschaften gewettert. Der "Vorwarts" entrustet sich: "Arbeiter haben dumm zu sein und zu bleiben! Sie wollen den Bildungstrieb im Yolk kiinstlich niederhalten (...). Ihr Ideal ist ein verdummtes Yolk auf niedriger Bildungsstufe - das nur wird das Dritte Reich ertragen.?" Analog zu seiner Frontstellung im Wahlkampf greift der .Vorwarts" auch Artikel in der kommunistischen "Roten Fahne" oder Rundschreiben der KPD in seiner Berichterstattung auf, urn die sozialdemokratische Gegenposition darzustellen." Der "Vorwarts" wird nicht mude, seine Leser immer wieder zur Wahl der sozialdemokratischen Liste 1 aufzufordern. Die Reichstagswahl sei eine Entscheidung mit besonderer Tragweite, die einzig und allein das Yolk zu treffen habe. Nach dern Ende des sechstagigen Belagerungszustands in Folge der Absetzung der preuBischen Regierung am 20. Juli schreibt der .Vorwarts": .Kommen die Nazis zur Macht, dann waren die sechs Tage nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was noch kornrnen solI. Wir denken jedoch, daB dem deutschen Yolk die Kostproben aus Papens Kiiche genugen werden, urn ihm auf aIle Zeiten den Geschmack am Dritten Reich zu verderben.v'" Die Macht des Stimmzettels wird an anderer Stelle hervorgehoben: .Als das Kabinett der Barone in PreuBen seinen Kommissar eingesetzt hat, da hat wohl maneher aktive Genosse einen Augenbliek lang den Gedanken gehabt, ob man denn nieht dieser Gewalt mit dem gleiehen Mittel begegnen musse, Bei ruhiger Uberlegung wird aber gewiBjeder sieh bald uberzeugt haben, daBdie einzig mogliche Abwehr im Gebraueh des Stimmzettels liegt. (...) Der Gebraueh des Stimmzettels ist freilich auberlich weniger heroisch als die Anwendung von Gewalt, aber es ist doeh so, daB am nachsten Sonntag dureh den Stimmzettel tiber Deutschlands Zukunft entsehieden wird. (... ) Es ist moglich, daBdie nationale Reaktion dank der Hitlersehen Tolerierung sieh eine Zeitlang am Ruder halt. Vergessen wir aber nieht, daB sie sieh aussehlieBlieh auf das Wahlergebnis stutzen muB. Der Stimmzettel hat sie emporgetragen, der Stimmzettel wird sie wieder von ihrer Hohe herabsturzen.':"
Zielgruppe der Wahlaufrufe ist in erster Linie die Arbeiterschaft, doch auch Angestellte und Beamre'" werden angesprochen. Ober die Berufsgruppen hinausgehend adressiert die Zei-
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Vorwarts, "Die Nazi-Plage", Nr. 341,22.7.1932, S. 7. Vgl. Vorwarts, "KPD. gegen Arbeitereinheit.", Nr. 347,26.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Kultur-Reaktion", Nr. 349, 27.7.1932, S. 2. Vorwarts, "Schlecht gespielte Entrustung", Nr. 309, 3.7.1932, S. 13114~ Vorwarts, "KPD. gegen Arbeitereinheit", Nr. 347,26.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Belagerungszustand aufgehoben!", Nr. 348, 26.7.1932, S. 1. Vorwarts, "Die Macht der Stimmzettel", Nr. 354,29.7.1932, S. 6. Vorwarts, .Kein koptloser Streik!", Nr. 341,22.7.1932, S. 10.
tung auch "die Jugend?", die fur den von der Regierung geplanten Arbeitsdienst in Frage kame, sowie an mehreren Stellen "die Frauen?" als Wahlergruppen, Sie wendet sich zudem an die kommunistischen'" und bisher noch unentschlossenen Wahler. 98 Neben der direkten Ansprache der Wahlerinnen und Wahler, wirbt der "Vorwarts" noch auf andere Weise urn Unterstutzung der Sozialdemokratie: Wo irgend moglich, vermittelt er dem Leser, wie groB und machtvoll die Veranstaltungen der .Eisemen Front" verlaufen. Von eindrucksvollen Kundgebungen ist die Rede, von Massenversammlungen und Menschenmengen, die den Freiheits-Ruf der .Eisemen Front" skandieren. Unter dem Titel .Das Freiheitsheer marschiert!" schreibt das Blatt, dass "Millionen in Bewegung (seien) fur die Sozialdemokratie": "Wir marschieren. Der Massenauftritt der Eisemen Front geht durch ganz Deutschland. Unter wehenden Freiheitsfahnen und dem Symbol der drei Pfeile ist das Heer der Freiheit in Bewegung. Das Yolk steht auf gegen die Reaktion und den Faschismus! Der Wahlkampf hat mit gewaltigen Massenkundgebungen der Eisemen Front in allen deutschen Grobstadten wuchtig eingesetzt. Aber auch das ganze Land bleibt nieht zuruckl VoH Begeisterungund Kampfwillen erheben sich die sozialdemokratischen Arbeiter.'?"
Sogar mit sonst eher unublichem Fotomaterial arbeitet die Vorwarts-Redaktion und verwendet Bildunterschriften wie "Blick in den uberfullten Versammlungssaal, in dem Wels und Severing zu den Massen sprachen" oder "Die Jugend im Massenaufmarschv.l'" Die Zeitung versteht den Wahlkampf auch als eine Auseinandersetzung, die symbolhaft auf der StraBe ausgetragen wird. Sie schreibt: .Llnterdessen hat in der Reichshauptstadt ein erbitterter Flaggenkrieg begonnen. Daneben wird an dem Hauptverkehrsplatzen Berlins der Kampf urn den Wahler vor allem mit Flugblattern gefiihrt. Soweit sich bisher ein Uberblick uber den Flaggenkrieg gewinnen lasst, karnpfen Neukolln und der Wedding knapp vor dem Osten Berlins urn den Sieg im Hissen der Freiheitsfahnen. 1m Norden wie im Soden sind ganze StraBenzOge geradezu vorbildlich beflaggt: uberall sieht man neben den schwarzrotgoldenen Reichsfarben die drei Freiheitspfeile."'?'
FUr die Wahlkampfberichterstattung der Weimarer Zeitungen eher unublich aufsert sich der "Vorwarts" an einigen Stellen uber den moglichen Ausgang der bevorstehenden Wahl: Wahrend er mit Blick auf die Emporung der Bevolkerung uber die von der SA verursachte Gewalt noch feststellt, dass dadurch .Hitlers Wahlchancen alles andere als verbessert"I02 wurden, raumt die Zeitung zwei Tage spater ein: "Nun ist aber gewiB die Nationalsozialistische Partei, auf die die Papen-Regierung sich stutzt, noch eine gewaltige Macht. Sie wird am 31. Juli die starkste Partei wohl auch im Reiche sein, nachdem sie es in PreuBen schon am 24. April geworden iSt.,,103 Am Morgen des Wahltages druckt das Blatt sogar eine .Vorschau zur Wahl" ab mit dem Hinweis .Wahlziffern konnen richtig nur bewertet werden, indem man sie in Vergleich mit frUheren stellt". Also folgt eine Auflistung des Ergeb95 96
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Vorwarts, .Der freiwilligeArbeitsdienst",Nr. 333,17.7.1932, S. 10. Vorwarts, "Frauen, merkt es euchl", Nr. 333, 17.7.1932, S. 17; Vorwarts, "Frauen erwachen", Nr. 348, 26.7.1932, S. 3; Vorwarts, "Die Frau im ,Dritten Reich"', Nr. 354,29.7.1932, S. 6. Vorwarts, "Schlagt Papen und Hitler! Ein Wort an die kommunistischen Wahler!", Nr. 353,29.7.1932, S. I. Vorwarts, "Holt das Treibholz", Nr. 355,30.7.1932, S. 1. Vorwarts, "Das Freiheitsheer marschiert", Nr. 326, 13.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Berliner Westen im Zeichen der Eisemen Front", Nr. 330,15.7.1932, S. 3. Vorwarts, .Das erwachte Berlin", Nr. 345,24.7.1932, S. 5. Vorwarts, .Wahlterror im Ordnungspreuben", Nr. 346,25.7.1932, S. 2. Vorwarts, "Auf dem Weg zur Entscheidung!", Nr. 349, 27.7.1932, S. 9.
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nisses der Reichstagswahl vom 14. September 1930 sowie zwei jeweils von der "Frankfurter Zeitung" und dem .Freien Wort" angestellte Prognosen zur bevorstehenden Wahl. Grundlage dieser Einschatzungen seien die Ergebnisse der im Fruhjahr 1932 durchgeftihrten Landtagswahlen in PreuBen, Bayern, Wurttemberg, Hessen, Oldenburg, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Anhalt. Insbesondere die Hessenwahl habe ein .weiteres Steigen der nationalsozialistischen Welle gezeigt", so dass he ide Berecbnungen die NSDAP als voraussichtlich starkste und die SPD als zweitstarkste Kraft im Reich sehen. Oer .Vorwarts" kommentiert: .Solche Berechnungen mogen nach der Begeisterung des Wahlkampfes etwas ernuchternd wirken. Es muB aber bedacht werden, daB die burgerlichen Parteien, auch ohne Zentrum, bei Wahlen fast immer wesentlich starker gewesen sind als Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen. Die NSDAP hat die burgerlichen Parteien fast vollig aufgeschluckt, also kann ihre auBerordentliche Starke eigentlich kaum Verwunderung erregen. 1m ubrigen kann heute niemand sagen, wie die Ereignisse der letzten zwei Monate auf die Wahler gewirkt haben. GewiBwar die Zeit fur einen wirklichen Umschwung sehr kurz, desto aufruttelnder waren die Ereignisse.,,104
Damit bezieht sich das Blatt auf die gewalttatigen Unruhen im Land und die Absetzung der preuBischen Regierung unter der Kanzlerschaft von Papens. Bei der Oarstellung von Politikern oder zur Wahl stehenden Kandidaten ist der "Vorwarts" zuruckhaltend. Er druckt weder Kandidatenlisten ab, noch geht er explizit auf die Spitzenkandidaten der SPO ein. Er berichtet hin und wieder tiber die Wahlkampfreden sozialdemokratischer "Genossen", darunter Carl Severing, und schildert diese positiv. Dies geschieht jedoch ohne personalisierende Tendenz, wie es im gleichen Wahlkampf etwa in der "Germania" mit Blick auf Heinrich Bruning der Fall ist. Nur anlasslich des PreuBenschlags druckt die Zeitung auf dem Titelblatt ein Bild von Severing ab, der zu dieser Zeit als preuBischer Innenminister im Zentrum des Geschehens stand, mit der Untertitelung "Unser Carl Severing". 105 Auffallend ist jedoch, dass die Zeitung in Adolf Hitler das erklarte Feindbild ausgemacht hat. Sie kritisiert in ihrer Berichterstattung nicht nur die NSDAP, sondern greift insbesondere Hitler an, der die Regierung von Papen steuere und fur die Situation im Reich verantwortlich sei: .Fur alles, was sie [die Regierung, d.V.] tut, tragt Hitler die Verantwortung. Oenn: ohne Hitler kein Papen! Die Regierung der Barone fUhrt Hitlers Befehle aus. Dafur toleriert Hitler diese Regierung, ihre Notverordnungen, ihre AuBenpolitik, ihre Attentate auf das Volkswohl und auf die Volksrechte. (...) Die Regierung Papen-Schleicher-Gayl ist eine Regierung von Hitlers Gnaden!,,106 Als grolienwahnsinnig stellt der .Vorwarts" Hitler dar und fordert dazu auf, den Hitler-GruB abzuwandeln. "Was ruft die Nazi-Armee? Heil Hitler? SchluB mit diesem GebrUll! (...) Aile rufen: Heilt den Hitler! Ja, heilt den Hitler! Heilt ihn von seinem Grofsenwahn, heilt ibn von dem Irrglauben, er konnte das Yolk weiter betrugen und belugen." 107 FUr den "Vorwarts" ist klar: Bei der bevorstehenden Wahl kommt es darauf an, "die Grundlagen des demokratischen Staates zu erhalten.v" Den Sozialdemokraten Severing zitiert die Zeitung mit diesen Worten, macht dies aber auch zum Leitgedanken ihrer Be-
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Vorwarts, .Vorschau zur Wahl", Nr. 357, 31.7.1932, S. 2. Vgl. Vorwarts, Nr. 338,20.7.1932, S. 1. Vorwarts, "FOnfTage", Nr. 309, 3.7.1932, S. 3. Vorwarts, .Heilt den Hitler", Nr. 343,23.7.1932, S. 6. Vorwarts, "Severing halt Abrechnung", Nr. 354, 29.7.1932, S. 1.
richterstattung. Uneingeschrankt setzt sie sich fur den Erhalt der Demokratie und des Weimarer Staates ein. Zum .Ehrentag der sozialen Demokratie" musse der WahIsonntag werden, fordert der "Vorwarts" kurz vor der Wahl und ruft zum Kampf gegen den Nationalsozialismus auf. .Der Volkssturm muB die Regierung der Hitler-Barone hinwegfegen.v'i"
Die " Rote Fahne" Die "Rote Fahne" konzentriert sich in ihrer Berichterstattung auf die Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Kapitalistenklasse und dem Proletariat. Ein Schwerpunktthema ist dabei die wirtschaftliche Notlage des arbeitenden Volkes, die als das Ergebnis der Unterdruckungspolitik der Papen-Regierung angesehen wird. "Die Aushungerung aller Unterstutzungsernpfanger, der ungeheuerliche Lohn- und Unterstutzungsabbau, die Verteuerung aller Lebensmittel, die Erhohung der Mieten" seien die .Lebensfragen" der werktatigen Bevolkerung, gleich ob es sich dabei urn .Klassengenossen der KPD und SPD" oder urn "die hungemden SA-Proleten" bandele."" Mit Renten- und Lohnabbau, Salzsteuer, Beschaftigtensteuer und Kurzung der Kurzarbeiterunterstutzung fuhre die .Papen-Regierung, die Regierung der Schwerindustrie und GroBagrarier, einen Schlag nach dem anderen gegen das werktatige vou.-!" Die hohen Arbeitslosenzahlen seien als .Bankrotterklarung des Kapitalismus'i'V zu bezeichnen, nur ein Anschluss Deutschlands an die Sowjetunion werde Besserung bringen. Die Reparationsverhandlungen in Lausanne brandmarkt die "Rote Fahne" als .Ausverkauf Deutschlands". Zur Zahlung von Milliardenbetragen solle Deutschland verpflichtet sowie zur "Verpfandung staatlicher Betriebe" aufgefordert werden - nach Ansicht der "Roten Fahne" unhaltbare Plane. Statt dessen sei es an der Zeit, "daB eine deutsche Sowjetregierung die Auslandsschulden auf eben demselben Wege annulliere, wie die Bolschewiki es 1917 gemacht haben, und das kommunistische Programm der sozialen und nationalen Befreiung es vorsieht.,,113 Erst Recht verargert zeigt sich die "Rote Fahne" tiber bekannt werdende Plane der Regierung Papen, Frankreich einen Viermachtepakt gegen SowjetruBland vorzuschlagen. Wahrend auch die Nationalsozialisten dieses Vorgehen unterstutzten, seien die Kommunisten die einzigen, die "gegen Young und Versailles die Werktatigen aus der Versailler Tributsklaverei herausfiihren konnen (...)." 114 Der "Vorwarts" schreibe bezuglich Lausanne tiber "eine sachliche sozialdemokratische AuBenpolitik", woraus die "Rote Fahne" folgert, dass sich die SPD mit der Papen-Regierung solidarisch erklart habe.!" Ein weiteres bedeutendes Thema der "Roten Fahne" sind die blutigen Zusammenstofse zwischen SA-Truppen und Arbeitem, die sich im Sommer 1932 uberall in Deutschland ereignen. Die Ausschreitungen gipfeln am sogenannten .Blutsonntag von Altona", als es in dem Hamburger Stadtteil Altona am 17. Juli 1932 anlasslich eines SA-Aufmarsches zu den bis dahin schwersten Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten und Schwerverletzten kommt. Im Land entbrennt die Diskussion daruber, wer die Ausschreitungen angezettelt 109 110
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Vorwarts, .Sagt es jedem! Schlagt zu!", Nr. 353, 29.7.1932, S. 9. Rote Fahne, "Die Papen..Nazis in der Defensive!", Nr. 144, 1.7.1932, S. 1f. Rote Fahne, "Arbeiter! Her zu uns!", Nr. 149,7.7.1932, S. 1. Rote Fahne, "Neun Millionen Erwerbslose im Winter", 30.7.1932, S. 6. Rote Fahne,,,AusverkaufDeutschlands in Lausanne", Nr. 145,2.7.1932,S. 11. Rote Fahne, .Viermachtepakt gegen die Sowjetunion",Nr. 146,3.7.1932, S. 15; auch: Rote Fahne, "Von Papen bietet selbst Tribute an!", Nr. 147, 5.7.1932, S. 11; Rote Fahne, "Nieder mit dem Pakt von Lausanne!", Nr. 151, 9.7.1932, S. 1. Rote Fahne, "Geheimpakte in Lausanne!", 12.7.1932, S. 7.
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und zu verantworten habe. 116 Die "Rote Fahne" berichtet immer wieder fiber diese Vorfalle und identifiziert vor al1em die Nationalsozialisten als die Schuldigen. Das Blatt ruft zum Kampf gegen die "Mordbanden Hitlers"!" auf und berichtet ausfiihrlich tiber Opfer und Angehorige. Besonders gegen Ende des Wahlkampfs warnt die "Rote Fahne" immer wieder vor einer faschistischen Regierung. Die Lage werde standig bedrohlicher, denn die Nationalsozialisten planten, ungeachtet des Wahlergebnisses am 31. Juli die Macht zu ergreifen. Dieser Umsturzversuch sol1e durch "blutige Exzesse" 118 unterstiitzt werden. Deshalb ruft die "Rote Fahne" zu .Jiochster Alarmbereitschaft" 119 auf. Die Frontstellung der "Roten Fahne" richtet sich im Wahlkampf 1932 nicht an erster Stelle gegen die Nationalsozialisten, die direkten Gegner derKommunisten in den gewalttatigen StraBenschlachten des Sommers 1932. Stattdessen bekampft die "Rote Fahne" unnachgiebig die SPD und wirft ihr .Jvlassenbetrug" an der deutschen Arbeiterschaft, ja sogar Unterstutzung der Reaktion vor. Seitens der Sozialdemokratie verfolge man "eine waste Hetze gegen die Kommunisten". Die "Rote Fahne" habe "immer und immer wieder die sozialdemokratischen, parteilosen und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter daruber aufzuklaren, wer in Wahrheit die Geschafte der Reaktion besorgt."l20 Die Angriffe der Zeitung richten sich besonders gegen die SPD-Ftihrung, die man der "Scheinopposition C...) gegen das faschistische Papen-Kabinett" verdachtigt, mit der sie lediglich "tibelste Man.. datsjagerei" betreibe, urn nach den Wahlen koalitionsfahig zu sein. 121 Die SPD-Ftihrung betreibe eine "Stillhaltepolitik gegenuber der Papen..Regierung".122 Sie sei einst die "Tolerierungspartei fur Schleicher-Bruning" gewesen, wahrend nun "die Nazis die Tolerierungspartei fur Schleicher-Papenv'<' seien. Die "Rote Fahne" wirft der SPD Schwache vor, sie driicke sich davor, auf der StraBe gegen die Nationalsozialisten zu kampfen und setze lediglich auf den Wahlzettel. 124 Die diffamierende Haltung der "Roten Fahne" gegenuber der SPD zieht sich durch ihre gesamte Berichterstattung. Sie spiegelt sich in zahlreichen kritischen, teils hamischen Stellungnahmen der "Roten Fahne" zu Artikeln des sozialdemokratischen .Vorwarts", 125 Auch in den Wahlaufrufen der "Roten Fahne" an die Arbeiterschaft wird die Frontstellung des Blattes gegenuber der Sozialdemokratie deutlich. Die "Rote Fahne" versucht, die Arbeiter davon zu uberzeugen, dass die SPD sie mit falschen Versprechungen in die Irre und schlieBlich in den Faschismus fuhren wolle. 126 Mit dem Aufruf "Arbeiter! Her zu uns! Wir sind Antifaschisten der Tat!" macht sie Werbung fur die Liste der KPD. Doch nicht allein die Wahlunterstutzung ist ihr wichtig. Gemaf ihrer Uberzeugung appelliert sie an aile Arbeiter, unter dem "Banner der Antifaschistischen Aktion" zu kampfen, "Nur die rote Ein-
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Vgl. Rote Fahne, .Der blutige Sonntag von Altona", 19.7.1932, S. 8. Rote Fahne, "Die Papen-Nazis in der Defensive!", Nr. 144, I. 7.1932, S. If. Rote Fahne, .Labt die Papen-Nazis nieht aus der Zange!", 15.7.1932, S. 8. Rote Fahne, "Die hochste Alarmbereitschaft", 30.7.1932, S. I; Rote Fahne, "Alarm! Hochste Gefahr in Verzug!", 31.7.1932, S. 2. Rote Fahne, "Wer hilft der Reaktion?", Nr. 150,8.7.1932, S. 2. Rote Fahne, .Llnerhorte Verhohnungder Notverordnungsopfer", Nr. 144, 1.7.1932,S. 2. Rote Fahne, "SPD als Stillhaltepartei der Papenregierung", Nr. 144, 1.7.1932,S. 5. RoteFahne,.Hitlers Pakt mit Papennoeheinmalbestatigt", Nr. 145,2.7.1932,S. 12. Vgl. Rote Fahne, .Staatspartei lehnt Wahlbiindnis mit der SPD ab", Nr. 151,9.7.1932, S. 8. Vgl, Rote Fahne, .Unerhorte Verhohnung der Notverordnungsopfer", Nr. 144, 1.7.1932, S.2; Rote Fahne, .Der Nazistrum aufdieGewerkschaftshanser!", Nr. 154,13.7.1932, S. 6. Vgl, Rote Fahne, "Ungeheuerlieher Lohnraub beim Konsum", Nr.151, 9.7.1932, S. 10; aueh: Rote Fahne, ,,Zehn Fragen an aile SPD-Arbeiter und -Wahler", 31.7.1932, S. II.
heitsfront schlagt die Papen und Hitler und ihre Helfershelfer.v" Wahrend die Zeitung fur ihre antifaschistische Aktion wirbt, lehnt sie die Unterstutzung einer gemeinsamen Front mit den Sozialdemokraten abo Obwohl die "Rote Fahne" weder Reichstagswahl noch Demokratie eine groBe Bedeutung beimisst, pladiert sie dafUr, zur Wahl zu gehen, denn: "Nur die Stimmen fur die Kommunistische Partei sind wirkliche Kriegserklarungen an die herrschende Klasse und demonstrieren die wachsende Kraft der Arbeiterklasse. (...) Die revolutionaren Arbeiter, die von der Abstimmung fembleiben (, .), weil sie sich von Wahlen keinen Erfolg versprechen, helfen unfreiwilIig, aber faktisch dem Faschismus."!" Auch die Wahl der Sozialdemokraten fuhre in die Irre und nur die KPD weise den Ausweg. Deutschland konne "ein Land sein, in dem der Faschismus ebenso wie in der Sowjetunion keine Basis besitzt."129 Am Wahltag wendet sich das Blatt direkt an den Wahler: .Willst Du neue Notverordnungen, neuen Lohn- und Unterstutzungsraub, neue Massensteuern? (...) Willst Du Hitlers ,Drittes Reich'?" Wer dies vemeine, musse wahlen gehen, da er ansonsten die faschistische Diktatur unterstutze.l'" Die Wahlkampfberichterstattung der "Roten Fahne" ist ahnlich wie die der anderen Zeitungen gepragt von dem Bemuhen, in Berichten tiber Versammlungen und Demonstrationen die groBe Unterstutzung der eigenen Sache durch die Bevolkerung zu betonen. In ihren Artikeln tiber Aufmarsche und Veranstaltungen der Antifaschistischen Aktion zeichnet die "Rote Fahne" immer wieder das Bild von der uberwaltigenden Unterstutzung der Massen. Sie titelt beispielsweise "Uber 100.000 Kampfer marschieren unter dem Banner der Antifaschistischen Aktion!" Dies sei Beleg fur die .Mobilmachung des roten Berlins fur den Reichstagswahlkampf und den Sieg der Liste 3!,,131 An anderen Stellen heiBt es: ,,30.000 Antifaschisten in Hindenburg" 132, "Rote Kolonnen uberschwernmen den Westen,,133 und "GroBte Kampfkundgebung seit Kapp, 70.000 Antifaschisten jubeln in Wuppertal dem Ruf unseres Parteifiihrers zu." 134 Selbst die Begrabnisse der wahrend der StraBenkampfe umgekommenen Arbeiter werden als Massenereignisse dargestellt, tiber die die "Rote Fahne" teils mit Foto berichtet. 135 Den "FUhrer der KPD", Ernst Thalmann, stellt die "Rote Fahne" besonders in Beitragen tiber Parteiveranstaltungen und -versammlungen in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung, wenn auch die Leser nichts tiber personliche Hintergrunde des Kandidaten erfahren.!" Das kommunistische Blatt betont die Begeisterung, die Thalmann wahrend Veranstaltungen entgegengebracht wird mit Beschreibungen wie: "FUhrer der Antifaschisten Aktion, Genosse Ernst Thalmann" spricht auf "Thalmann-Kundgebung", "Massenmarsch, an ~essen Spitze Genosse Thalmann marschierte", .Brausender lube] umbrauste den Ge-
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Rote Fahne, "Arbeiter! Her zu uns!", Nr. 149,7.7.1932, S. 1. Rote Fahne, "Die Bedeutung des Stimrnzettels", Nr. 148, 6.7.1932, S. 1f. Rote Fahne, .Das einzige Land ohne Faschismus", Nr. 151,9.7.1932, S. 7. Rote Fahne, .Vollkommen auf dem Holzwege, wenn Du glaubst, es sei unnotig, zur Wahl zu gehen", 31.7.1932, S. 7. Rate Fahne, "Ueber 100.000 Kampfer marschieren unter dem Banner der Anti-faschistischen Aktion!", Nr. 147, 5.7.1932, S. 2~ Rote Fahne, .Sturmbanner der Anti-faschistischen Aktion tiber Rhein und Ruhr" , Nr. 149, 7.7.1932, S. 2. Rate Fahne, ,,30 000 Antifaschisten in Hindenburg", Nr. 160, 19.7.1932, S. 4. Rate Fahne, .Antifaschistische Massenkundgebungen", Nr. 155,14.7.1932, S. 3. Rote Fahne, "GrOBte Kamptkundgebung seit Kapp", Nr. 155, 14.7.1932, S. 1. Vgl. Rate Fahne, o.T., Nr. 161,20.7.1932, S. 3. Vgl. Rate Fahne, o.T., 30.7.1932, S. 2.
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nossen Thalmann...", "Die Massen brachen in minutenlanges Handeklatschen aus, erheben begeistert ihre geballten Fauste (...)." 137 Eine Premiere erwartet die Leser der "Roten Fahne" drei Tage vor dem Wahltermin 1932: Das Blatt druckt erstmals nicht nur die Kandidatenlisten unter Angabe von Listenplatz, Name, Wohnort und Beruf ab, sondem titelt: .Das sind die Kandidaten des roten Berlin! (...) Die Spitzenkandidaten der Berliner Wahlkreise!" und setzt die Portrats der Kandidaten Ernst Thalmann, Hermann Remmele, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck darunter. In Verbindung mit den Bildem schreibt das Blatt unter anderem: "Die hungernden Volksmassen wissen, daB unsere Kandidaten unerschrockene, langerprobte Kampfer fur die Freiheit der Arbeiterklasse, fur die Diktatur des Proletariats sind. Darum gibt es am Sonntag fur jeden Werktatigen in Stadt und Land nur eine Parole: Alles fur den Sieg der Liste 3 !" 138 Die "Rote Fahne" halt nichts von den ,,,Spielregeln der Demokratie"', mit denen die SPD "den Massen einredet, sie konnten mit Stimmzettel und Parlamentsmandaten die Macht erringen und den Sozialismus durch Mehrheitsbeschluf einfuhren." Dies entbehre aber angesichts der tatsachlichen Gegebenheiten jeder .Logik", Es kommt fast einem Abgesang auf die Weimarer Republik gleich, als die "Rote Fahne" hohnisch das Wahlverspre.. chen der SPD kornmentiert, nach den Reichstagswahlen eine neue, eine .zweite Republik" zu errichten: "Sie belogen das Proletariat, daB man den burgerlichen Staat tiber die Brucke der Koalitionspolitik einfach .ubernehmen', ,mit sozialem Inhalt erftillen' konne, statt ihn zu zerbrechen und an seiner Stelle die Diktatur des Proletariats aufzurichten. (...) Legalisierung, blutiger Terror des Hitler-Faschismus (...), Milliardensubventionen an die Industriefursten, die Bankmagnaten, die GroBagrarier (...), Ausplunderung gegen die Annen, ein Kabinett der groBagrarischen und schwerindustriellen Scharfmacher, das Kabinett der unmittelbaren Aufrichtung der faschistischen Diktatur - d as is t das Resultat der seit 14 Jahren bestehenden Weimarer Republik, die die SPD-Fuhrer in den Jahren 1918, 1920, 1923 mit Stromen vergossenen Arbeitsblutes gegen die Revolution verteidigt haben. ,,139
Der ; Volkische Beobachter" GewissermaBen als Gegenstuck zur Berichterstattung der "Roten Fahne" tiber die .Mordbanden Hitlers" kann die Berichterstattung des .Volkischen Beobachters" tiber die "roten Mordkolonnenv''" angesehen werden. Taglich berichtet die Zeitung tiber Anschlage der Kommunisten auf SA-Mitglieder und droht, dass man zur bewaffneten Selbsthilfe greifen werde, falls es Polizei und Regierung nicht gelinge, "den roten Terror zu brechen".!" Die Hauptgegner seien die Marxisten, wobei der .Volkische Beobachter" ungeachtet ideologischer Unterschiede Kommunisten und Sozialdemokraten zusammenfasst. Das Blatt ernport sich tiber die "systematische Bluthetze der rot en Presse". 142 Es fordert deren Verbot sowie, angesichts der fortwahrenden Zusammenstolie in ganz Deutschland, die Verhangung des Ausnahmezustands und die "sofortige Dienstenthebung der sozialdemokratischen Polizei-
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Rote Fahne, ,,30.000 Antifaschisten in Hindenburg", 19.7.1932, S. 4. Rote Fahne, .Das sind die Kandidaten des roten Berlin!", 28.7.1932, S. 15. Rote Fahne, .Nicht ,zweite Republik' - die Rate-Republik", NT. 149,7.7.1932, S. If (Hervorheb. 1. Original). Volkischer Beobachter, "Die Mobilmachung der roten Mordkolonnen: .Schafft HaBstimmung gegen die Nazis!"', NT. 192/193,10./11.7.1932, S. 1. Volkischer Beobachter, .Waffen im politischen Kampf1", Nr. 192/193, 10.111.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Wo sitzen die Schuldigen? Die systematische Bluthetze der roten Presse", Nr, 184, 2.7.1932,S.1.
prasldenten.r '" Genauso wie die "Rote Fahne" prononciert das Blatt mit umgekehrten Vorzeichen Tater- und OpferrolIe und benutzt die Berichterstattung fur die Agitation. Uber die Konferenz von Lausanne, bei der tiber die deutschen Reparationszahlungen verhandelt wurde, berichtet der .Volkische Beobachter" neutral. Die Beitrage spiegeln die unterstutzende Haltung der Nationalsozialisten gegenuber der Papen-Regierung. Der "Volkische Beobachter" billigt das Verhandlungsziel der deutschen Delegation, die Tributforderungen an Deutschland aufzuheben.l'" Ausdrticklich lobt der "Volkische Beobachter" noch kurz vor Abschluss der Konferenz die Standfestigkeit der deutschen Abordnung, .machdem 18 Jahre lang samtliche fiiiheren Delegationen die Welt daran gewohnt hatten, sich am Ende jeder Konferenz noch immer zu beugen." 145 Doch mit dem Ergebnis von Lausanne ist der .Volkische Beobachter" nieht einverstanden. Das Blatt titelt einen Tag nach dem Ende der Verhandlungen: .Der Geist von Versailles hat gesiegt! Reichskanzler v. Papen unterschreibt in Lausanne einen neuen deutschen Schuldschein." Von Papen sei "trotz alIer Versprechungen umgefallen" und babe so seinen Bonus innen- wie auBenpolitisch endgultig verspielt. .Es bleibt als Schlussfolgerung unsere alte Erkenntnis: nationalsozialistische Gesamtpolitik kann nur von Nationalsozialisten gemaeht werden, denen diese Politik gleichsam angeboren ist. Es hilft nichts, wenn andere sich nur ,auf sie stutzen' wollen."!" Auf einer Gauleitertagung der NSDAP Ende Juni 1932 in Mtmchen verkundet Adolf Hitler "die Parole des kommenden Wahlkampfes": "FUr des deutschen Reiches Kraft und Starke und fur des deutsehen Volkes Einheit." Die NSDAP wolle wie in den vorangegangenen zehn Jahren fur die Einheit des deutschen Volkes und des deutschen Reiches kampfen und sieh "unerbittlich" gegen aIle wehren, die "sieh an dem Reiche vergreife(n)". 147 Gegen diese Gegner des Reiches richtet sich der Wahlkampf des .Volkischen Beobachters" - allen voran gegen die Sozialdemokraten, die das Blatt verachtlich als Marxisten bezeichnet. Der .Volkische Beobachter" macht die SPD, die .Korruptionspartei Deutschlands", verantwortlich fur das Elend des Landes. Ihr wird vorgeworfen, sie setze sieh nieht fur die sozialen Belange der Bevolkerung ein, sondern habe im Gegenteil eine Verschlechterung der sozialen Lage im Sinn, damit sie auch zukunftig gewahlt werde: .Zweck der Sozialdemokratischen Partei ist, eine Politik zu treiben, die darauf abgestellt ist, die soziale Not zu schuren, Unzufriedenheit zu saen, ein moglichst groBes Heer von Unzufriedenen zu organisieren und diese Unzufriedenen zu verleiten, durch Abgabe ihrer Stimme fur die Sozialdemokratische Partei einer moglichst groBen Zahl von Juden, Grobmaulern, Wichtigtuem und sonstigen Bonzen in gutbezahlte Posten und in Amt und WOrden zu verhelfen."!"
Auf die KPD kommt der .Volkische Beobaehter" fast nur im Zusammenhang mit StraBenunruhen zu sprechen, die sieh vor dem Wahltermin fast taglich ereignen. Man habe es mit .rnarxisttschen Verbreehem" zu tun, wobei hier aueh die Sozialdemokraten gemeint sind. 149 143 144
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Volkischer Beobachter, .Wir fordem den Ausnahmezustand!", ]4.7.] 932, S. 1. Volkischer Beobachter, .Der Kampfum die deutsche Sicherheit hat begonnen", Nr. 183, 1.7.1932, S. 2; Volkischer Beobachter, .Schlubkampf in Lausanne", 3./4.7.1932, S. 2; uber den Fortgang der Konferenz berichtet die Zeitung am 6.7.1932, S. If und 7.7.1932, S. 2. Volkischer Beobachter, .Frankrcich macht eine Verstandigung unmoglich", Nr. 190, 8.7.1932, S. 1. Volkischer Beobachter, .Verpabte Moglichkeiten", Nr. ]92/193,10./11.7.1932, S. If. Volkischer Beobachter, "Adolf Hitler verkundet die nationalsozialistische Parole des kommenden Wahlkarnpfes", 30.6.1932, S. I. Volkischer Beobachter, .Marxistische Sozialpolitik in Theorie und Praxis, Teill", 21.7.1932, S. 5; Teil 2 am 24./25.7.1932;Teil3 und Schluss am 26.7.]932, S. 4. Vgl. Volkischer Beobachter, "Die Bluttaten des Reichsbanners in Schlesien", Nr. 195,13.7.1932, S. I.
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Aber auch die Deutsche Volkspartei und das Zentrum sind Ziele der Angriffe des .Volkischen Beobaehters". Die DVP verkomme zur Bedeutungslosigkeit. Sie habe .zu jener Zeit noch eine gewisse Bedeutung (gehabt), als ihr FUhrer Dr. Stresemann von der Juden- und Systempresse zum sakularen ,Staatsmann' und ,Volksheld' hinaufgelobt wurde." Seither allerdings sei es stetig bergab gegangen mit der .Epoche des burgerlichen Liberalismusv.l" Und das Zentrum zahlt der .Volkische Beobaehter" zu den seiner Meinung nach verbrecherischen Systemparteien, denen das Land den "Schandfrieden von Versailles", Inflation, Arbeitslosigkeit, .Youngplan und Kreuzermonopol" verdanke. Das Kabinett von Papen habe zwar den "Schwarzroten im grobsten wenigstens das Handwerk gelegt", doch sei auch diese Regierung nur eine "Episode", hinter der "der Tag der deutschen Freiheit (stehe), die nur Adolf Hitler bringen kann.,,151 Besonders die sogenannte .Lugenabwehr'' spielt bei der Bekampfung der gegnerischen Parteien fur den .Volkischen Beobachter" eine wiehtige Rolle. Dabei nimmt das Blatt haufig Bezug auf die Informationen der .Lugenabwehrstelle'' der NSDAP, die die Partei in der ersten Juliwoche 1932 auf Anraten ihres Gaupressewarts Springer in Berlin eingerichtet hatte. So geht der .Volkische Beobachter" auf die unterschiedlichsten Vorwilrfe gegen die NSDAP vor allern in der Presse der gegnerischen Parteien ein. Zum Beispiel, so berichtet der "Volkische Beobachter", habe der Gauleiter der NSDAP GroB-Berlin, Goebbels, der Lugenabwehrstelle eine Erklarung ubergeben, die zu einem Bericht des .Vorwarts" Stellung nimmt. Der .Vorwarts" hatte ein internes Schreiben der NSDAP veroffentlicht, anhand dessen er zu beweisen suchte, dass die NSDAP "ein(en) Anschlag auf die sozialen Rechte der Arbeiter und Beamtensehaft" plane. Dabei handele es sich, so der .Volkische Beobachter", jedoeh "urn eine ganz gemeine und ungewohnlich skrupellose und raffinierte Falschung".152 Die meisten .Lugen'', gegen die sich der .Volkische Beobaehter" zur Wehr setzt, stammen von der SPD, der gar ein ,,(o)rganisierter Lugenfeldzug (...) zur Reichstagswahl" unterstellt wird. .Das letzte Mittel der sterbenden S.P.D.: Deutschland solI mit einer roten Lugenflut uberschwemmt werden.v" Auch in seinen Wahlaufrufen richtet sich der "Volkische Beobachter" hauptsachlich gegen die Sozialdemokratie und adressiert dabei die Arbeiterschaft. Dreizehn Jahre habe der Marxismus in Deutschland geherrscht, und da er den Arbeitern nur Nachteile gebracht habe, musse damit nun Schluss seine Die Notverordnungen unter Bruning seien nur mit Hilfe der sozialdemokratischen .Arbeiterverrater" zustande gekommen. Daran und an die "sozialdemokratische Millwirtschaft" musse bei der Wahlentscheidung jeder Arbeiter, kleine Angestellte und Beamte denken.f" Der .Volkische Beobachter" beschrankt sich allerdings nieht auf diese Wahlergruppe: In einer Artikelreihe mit Wahlaufrufen adressiert der .Vclkische Beobachter" das ganze Yolk und ruft zurn Handeln gegen die Taten der "Novembermanner"155, gegen die "Tributpolitik" 156 der bisher regierenden Parteien, gegen die .Aera BrUning"157 und die Notverordnungspolitik" auf. .Volk, steh auf und handle! (00') Gebt Hitler die Macht und die Verantwortunglv" 150 151 152
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VolkischerBeobachter, .Volliger Zusammenbruch der Deutschen Volkspartei", Nr. 211,29.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Hitler-Deutschland gegen das November-System", Nr. 189, 7.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Noch eine marxistische .Dokumenten'
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Volkischer Beobachter, "Die Novembermanner",Nr. 204,22.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Weg mit denTributenl", Nr. 199/200, 17.118.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Die Aera Bruning", Nr. 203,21.7.1932, S. 3.
Wesentlicher Bestandteil der Wahlkampfberichterstattung des "Volkischen Beobachters" sind die Berichte uber den sogenannten .Freiheitsflug'' Adolf Hitlers. Dabei handelt es sich urn eine Wahlreise, bei der Hitler in den letzten beiden Wochen des Wahlkampfs per Flugzeug verschiedene Orte in ganz Deutschland besuchte. Der .Volkische Beobachter" kundigt diesen .Freiheitsflug'' am 15. Juli 1932 auf der Titelseite an und betont: "Mehr als 50mal, in unermudlichem, ubermenschlichem Einsatz, wird Adolf Hitler in diesen 14 Tagen zum Volke sprechen." Die Reise Hitlers wurde von den Nationalsozialisten ganz bewusst auch als eine Inszenierung fur die Presse veranstaltet: .Millionen Deutsche werden mit eigenen Ohren den Fuhrer (...) horen, mit eigenen Augen Adolf Hitler sehen. Daruber hinaus aber wird das ganze Deutschland Gelegenheit haben, diesen herrlichen Freiheitsflug im Geiste mit zu erleben. Die Manner der nationalsozialistischen Presse, die an dieser gewaltigen Flugreise des Fuhrers - mitten hindurch durch die Erhebung des Volkes s- teilzunehmen das Gluck haben, werden den Millionen und aber Millionen deutscher Volksgenossen, die arm und geknechtet in allen Winkeln des deutschen Vaterlandes sich nach einem lichten Hoffnungsschimmer im grauen Alltag sehnen, Tag fur Tag durch die nationalsozialistische Presse Bericht geben uber dieses gewaltige deutsche Erlebnis.,,160
Die taglichen Berichte des .Volkischen Beobachters" sind immer gleich strukturiert: Es wird eine Deutschlandkarte mit der Flugroute abgebildet, die Reden Hitlers werden wortlich wiedergegeben und besonderer Wert wirdjeweils auf Teilnehmerzahlen bei den Veranstaltungen gelegt. Einige Tage nach Beginn der Reise beginnt der .Volkische Beobachter" sogar, die Teilnehmerzahlen zu addieren, wobei das Blatt nach dem zwolften Tag auf 2.865.000 Veranstaltungsbesucher kommt."! Die Berichte werden erganzt durch Fotos von Adolf Hitler wahrend der Tour. Meistens handelt es sich dabei urn Panoramafotos, die ein Meer an Zuhorern und begeisterte Menschen zeigen, die Hitler die Hande entgegenstrecken. 162 Dies entspricht schon ganz der Masseninszenierungs-Propaganda der NSDAP, wie sie nach der "Machtergreifung" 1933 ublich wurde. Der unbedingte, selbstlose und .rucksichtslose'' Einsatz fur das Yolk ist in der Darstellung AdolfHitlers durch den "Volkischen Beobachter" ein vorherrschendes Element. Dabei wird Hitler als Erschaffer des heilbringenden Nationalsozialismus und als Erloser des deutschen Volkes bejubelt, das wahrend des Weltkriegs und in der nach Kriegsende gegrundeten Republik besonders gelitten habe. .Ein Mann aber war da, dessen Herz kam nicht los von Deutschland, des Reiches Schande brannte ibn wie eigene Schande, des Volkes Not tat ihm wie der eigene Hunger weh, der Verrater Regiment war ihm hassenswert wie nichts auf der Welt. Und er begriff, daBnur die Freiheit Brot zu schaffen vermag. Und er begann zu arbeiten fur des deutschen Volkes Befreiung - einer allein gegen Millionen Feinde.,,163
Durch Adolf Hitler sei aus der anfangs kleinen Bewegung inzwischen ein gewaltiger Strom geworden, .Jcein See mehr, ein Meer, ein unUbersehbares braunes Meer, und es bricht jetzt hervor und es wird vemichten alles, was dawider steht (...), es ist kein Halten mehr: das Yolk steht auf, der Sturm bricht los - die braune Sturmflut donnert'v" ISS IS9
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Vgl. Volkischer Beobachter, .Nctverordnungsjackenl", Nr. 211,29.7.1932, S. 7. Volkischer Beobachter, .Schiebung! Schiebung!", Nr. 196,14.7.1932, S. 3. Volkischer Beobachter, "Freiheit und Brot! (oo.) Des Fuhrers Freiheitsflug beginnt!", Nr. 197,15.7.1932, S. 1. Vgl. Volkischer Beobachter, o,T' Nr. 213,31.7.1932, S. 2. Vgl. Volkischer Beobachter, NT. 202,20.7.1932, S. 3; auch: Volkischer Beobachter, NT. 211,29.7.1932, S. 6. Volkischer Beobachter, "Des Fuhrers Freiheitsflug uber Deutschland beginnt", NT. 197,15.7.1932, S. 1. Ebd. 3
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Das Verspreehen, die Leser am sogenannten Freiheitstlug unmittelbar Anteil nehmen zu lassen, maeht der .Volkische Beobaehter" wahr: Dokumentariseh berichtet die Zeitung von einem "Tag mit Adolf Hitler auf dem Freiheitstlug" und dartiber, wie morgens aIle Mitreisenden geweekt wurden, alles exakt durehorganisiert sei und fur Hitler Flugzeug und Wagen bereitgestellt wurden, wie er ins Flugzeug einsteige und die Zeitungen studiere und erst "in der Naeht, manehmal erst beim Morgengrauen" in seine Unterkunft komme.l'" Der "Volkisehe Beobaehter" erganzt seine Beriehterstattung durch zahlreiehe Fotos, die immer wieder Mensehenmassen sowie Hitler am Rednerpult oder beim Schutteln von Kinderhanden zeigen. Aueh die Zusammensetzung der Kandidatenlisten lobt die Zeitung, wenn aueh dabei keine einzelnen Personen in den Bliekpunkt genommen werden: ,,100 SA-Manner und FUhrer werden auf der Kandidatenliste der N.S.D.A.P. zur Reichstagswahl stehen, und damit die unzertrennliche Verbundenheit der Bewegung mit den braunen Bataillonen der deutschen Arbeiter- und Bauemsohne zeigen. (...) Die nationalsozialistische Bewegung schickt die Manner ins Parlament, die im Kampf fur die Lebensrechteder Nation seit Jahren an der Spitze stehen und sich das Vertrauen der Massen erworben haben."166
Die bevorstehende Reiehstagswahl ist naeh Ansieht des .Volkischen Beobaehters" die .Bntscheidungsschlacht, die groBe Abreehnung mit den Feinden unseres Volkes" .167 Es sind die gegnerisehen Parteien, die das Blatt als diese Feinde erkennt und nieht so sehr das politisehe System der Weimarer Republik selbst. Ober die Verfassung und die Parteien sehreibt die Zeitung in einem Wah 1aufru f: "Sie haben in Weimar eine Verfassung erfunden. In dieser Verfassung steht geschrieben, daB aile Gewalt vom Volke ausgeht. Die Gewissens- und Meinungsfreiheit solie garantiert werden. Jeder Arbeiter habe das Recht auf Arbeit und Brot. (...) Das Yolk bestimme durch die Parteien sein Schicksal selbst. c...) Was ist aus alledem geworden? Das Yolk hat das Recht, die Parteien zu wahlen, Aber nach der Wahl tun die Parteien immer das Gegenteil von dem, was sie vor der Wahl versprochen haben."'"
Aile in der Verfassung zugesieherten Reehte, so der "Volkisehe Beobaehter" weiter, seien dureh das Versagen der Politik dem Yolk verwehrt geblieben. Die Kritik riehtet sieh also gegen die gegnerisehen Parteien, die wahrend der zurtiekliegenden dreizehn Jahre regiert haben. Diese Parteien, "die unser Yolk ins Ungluck sttirzten,,169, mussten beseitigt werden, so das Blatt in einem Wahlaufruf, allerdings musse das mit Hilfe des Stimmzettels gesche170 An anderer Stelle heiBt es hingegen deutlieh: .Es geht nieht darum, Manner auszuhen. weehseln und den bisherigen Kurs unverandert beizubehalten. Das System muB fallen! (...) Wir aber wollen nieht Partei bleiben. Wir wollen Yolk werden!"!"
Fazit Die Analyse der Presseberiehterstattung wahrend des Wahlkampfs 1932 zeigt: Damals bedeutete Wahlkampf nieht in erster Linie ein Wetteifem politiseher Personlichkeiten urn \65 Volkischer Beobachter, .Ein Tag mit Adolf Hitler aufdem Freiheitsflug", Nr. 201,28.7.1932, S. 7. 166 Volkischer Beobachter, .Wie steht's mit dem Kabinett der .Hitlerbarone'?", Nr. 198, 16.7.1932, S. 3. \67 Volkischer Beobachter, "Wirhaben 55 ProzentallerStimmen!", Nr. 194,12.7.1932, S. 7. \68 Volkischer Beobachter,"Freiheit, Schonheit und Wurdel", 15.7.1932, S. 3. 169 Vgl. ebd. \70 Vgl, Volkischer Beobachter,"Die groBe Not ist da", Nr. 201,19.7.1932, S. 3. 171 Ebd.
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die Gunst der Wahler. Vielmehr war Wahlkampf auch ein Kampf der Presse entlang ideologischer Trennlinien. Schon die Darstellung von aktuellen Themen und Sachfragen foIgt der im Wahlkampf eingeschlagenen Kursrichtung der jeweiligen Zeitung. Tagesgeschehnisse wie die Verhandlungen von Lausanne wurden aufgegriffen, aber gleichzeitig zur Darstellung der eigenen Position im Wahlkampf genutzt. Auch die Auswahl der Themen folgt diesem Prinzip, wurde doch ein Wahlkampfthema wie die von der NSDAP geplante Einfuhrung eines Arbeitsdienstes hauptsachlich yom sozialdemokratischen "Vorwarts" diskutiert, der sich damit der Aufmerksamkeit seiner Klientel, der Arbeiterschaft, sicher sein konnte. Die Leser der anderen Blatter erfuhren kaum etwas tiber dieses Thema. Es wurde urn die Argumentationshoheit gerungen, wenn etwa Stellungnahmen zu Pressebeitragen der "gegnerischen" Zeitungen dazu dienten, den eigenen Standpunkt klarzustellen. Den Schlagabtausch, den wir heute bei der Auseinandersetzung von politischen Spitzenkandidaten im Fernsehen verfolgen konnen, lieferten sich damals auch die Zeitungen in ihrer Berichterstattung. An diesem Selbstverstandnis der Blatter als - nennen wir es - .wehrbafte Instanzen" lasst sich am Deutlichsten die Frontstellung der Presse im Wahlkampf entlang der unterschiedlichen Parteigrenzen ablesen. Die Vorgehensweise der damaligen Joumalisten folgt den Konstruktionsprinzipien, die das Konzept der "opportunen Zeugen,,172 beschreibt - wenn auch mit dem wesentlichen Unterschied, dass man im Weimarer Tageszeitungsjoumalismus offenbar nicht die mit der redaktionellen Linie konsonanten Stellungnahmen bevorzugte. Es wurden durchaus Pressezitate aufgegriffen, die der eigenen Position zuwiderliefen und die es zu entkraften galt. Man verstand es jedoch, diese fremden Pressestimmen jeweils so zu verwerten, dass es der Darstellung des eigenen Standpunkts diente. Ein wichtiges Mittel der WahlkampffUhrung war im Juliwahlkampf 1932 die Art und Weise, wie tiber Wahlveranstaltungen berichtet wurde: Das Bemuhen, den Zuspruch aus der Bevolkerung fur die "eigene Sache" zu betonen, ja fast gebetsmuhlenartig immer wieder zu wiederholen, sticht bei der Betrachtung aller funf Blatter ins Auge. Die "Rote Fahne" und der .Volkische Beobachter" beschrieben jeweils die Veranstaltungen der KPD und der NSDAP als Massenveranstaltungen mit begeisterten Menschen. Und ebenso betonte insbesondere der .Vorwarts", aber auch das "Berliner Tageblatt", die Unterstiitzung der .Eisernen Front". Gleiches gilt fur die "Gerrnania" mit Blick auf die Beitrage tiber die Wahlreise Brunings, Diese Art der Berichterstattung war ein typischer Versuch der Unterstiitzung, denn die vier untersuchten Zeitungen vermittelten Leserinnen und Lesem auf diese Weise ein einseitiges Bild vom herrschenden Meinungsklima. Eine denkbare Folge konnte - nach dem bandwagon effect, den Paul F. Lazarsfeld bei den Prasidentschaftswahlen 1940 in den USA beobachtet hat l73, oder der Theorie der Schweigespirale" - gewesen sein, dass sich die Leser auch mit ihrer Wahleinstellung in Richtung der vermeintlich siegreichen Partei oder Parteirichtung orientierten. Ein weiteres auffalliges Merkmal der Wahlkampfftihrung von .Volkischem Beobachter" und "Germania" im Juliwahlkampf 1932 ist die mediale Inszenierung der Spitzenkandidaten von NSDAP und Zentrumspartei. In bisher noch nicht da gewesener Art und Weise - das kann unter Ruckgriff auf Analyseergebnisse aus den vorhergehenden Weimarer Wahljahren gesagt werden - wurden Hitler und Bruning in den Mittelpunkt der Berichter-
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Hagen 1992: 444-460. Vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1944. Vgl. Noelle..Neumann 1996.
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stattung gestellt. Personendarstellungen, Charakterisierungen von Kandidaten oder auch die Diskussion tiber Scheinkabinette waren in der Weirnarer Presse- beziehungsweise Wahlkarnpfberichterstattung schlicht kein Thema. Besonders vor diesem Hintergrund stechen die Beschreibungen der Wahlkampfreisen und ihrer Hauptakteure, Hitler und Bruning, hervor. Auge urn Auge und Zahn urn Zahn - im Jahr 1932 wurde nicht nur mit Blick auf die bevorstehende Wahl, sondem in "Berliner Tagblatt", "Germania" und "Vorwarts" auch mit Blick auf den Erhalt der Demokratie und die ftiedliche Zukunft Deutschlands mit- und gegeneinander gerungen. Es ging um sehr viel - ein Umstand, den die Zeitungen sehr wohl erkannten, das zeigen ihre Stellungnahmen zum Kurs der Regierung und zu den Planen der 175 NSDAP. So schreibt der "Vorwarts": "Die Regierung der Barone kann nur Episode sein; was ihr folgt, das ist entweder der ganze Faschismus oder die ganze Demokratie.v'I" Demokratie oder Diktatur? Die Wahlkampfberichterstattung im Juli 1932 wies vielfaltige Facetten auf, die teilweise auch kennzeichnend fur die Wahlkampfberichterstattung der Vorjahre waren. Doch sie spitzte sich zu auf diese Frage, zu deren Beantwortung die Presse mit ihrer kampferischen, polarisierenden, ja zum Teil reiBerischen Haltung erheblich beizutragen versuchte.
Quellen und Literatur Berliner Tageblatt (1.7.-31.7.1932) Germania (1.7.-31.7.1932) Die Rote Fahne (1.7.-31.7.1932) Volkischer Beobachter (1. 7.-31.7.1932) Vorwarts (1.7.-31.7.1932) Deutsches Institutfur Zeitungskunde(Hg.): Handbuch der Weltpresse. Berlin 1931. Eksteins, Modris (1975): The Limits of Reason. The German Democratic Press and the Collapse of Weimar Democracy. Oxford. Engelmann, Tanja (2004): Wer nicht wahlt, hilft Hitler! Koln/Weimar/Wien, Fischer, Heinz-Dietrich (1971): Parteien und Presse in Deutschland seit 1945. Bremen. Grevelhorster, Ludger (2000): Kleine Geschichte der Weimarer Republik 1918-1933. Ein problemgeschichtlicher Oberblick. Munster. Hagen, Lutz (1992): Die opportunen Zeugen. Konstruktionsmechanismen von Bias in der Zeitungsberichterstattung uber die Volkszahlungsdiskussion. In: Publizistik, 37, S. 444-460. Lazarsfeld, Paul F., Bernard Berelson & Hazel Gaudet (1944): The People's Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Election. New York. Noelle-Neumann, Elisabeth (1996): Offentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Frankfurt a.M. Schutz, Walter 1. (1969): Zeitungsstatistik. In Dovifat, Emil (Hrsg.): Handbuch der Publizistik, Bd. 3. Berlin, S. 348-369. Wilke, Jurgen (2002): Pressegeschichte. In: Noelle-Neumann, Elisabeth, Schulz, Winfried & Wilke, Jurgen (Hrsg.): Fischer Lexikon PublizistikMassenkommunikation. Frankfurta.M., S. 460-492. Wilke, Jurgen (2000): Grundzuge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfangen bis ins 20. Jahrhundert. Koln/Weimar/Wien. Wilke Jurgen & Reinemann, Carsten (2000): Kanzlerkandidaten in der WahIkampfberichterstattung: eine vergleichende Studie zu den Bundestagswahlen 1949-1998. Koln/Weimar/Wien, Winkler, Heinrich August (2000): Der lange Weg nach Westen. Bd 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Munchen.
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Gemeint ist die so genannte Papen-Regierung, cin Prasidial-Kabinett unter Reichskanzler von Papen, das unter Duldung der NSDAP regierte. Vorwarts, "Freiheit! FUr die Sozialdemokratie - vorwarts!", Nr. 357, 31.7.1932, S. 1.
Der Bundestagswahlkampf 1949 von CDU und SPD im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft Von Anette Koch-Wegener
ProfessionelI geplante und durchgefiihrte Kampagnen, erarbeitet von Beraterteams und Wahlkampfstrategen, bestimmen das Bild heutiger Wahlkampfe. Getreu dem Motto .nach der Wahl ist vor Wahl" wird uber die Legislaturperiode hinweg bis hin zur heiBen Phase eines Wahlkampfes am Erscheinungsbild der Partei und an Profilierungsthemen gefeilt. Ganz anders dagegen gestaltete sich der erste Bundestagswahlkampf nach dem Zweiten Weltkrieg. Gekennzeichnet durch finanzielle Engpasse der Parteien, gepragt von Pragmatismus und einer haufig uneinheitlichen Organisation 1, begann im Juli 1949 der - gerade aus heutiger Sicht - aulserst kurze Wahlkampf zu den Bundestagswahlen am 14. August 1949. Vor dem Hintergrund der zwolf Jahre wahrenden nationalsozialistischen Herrschaft, dem Hunger und der Not nach dem verlorenen Krieg sowie der alliierten Deutschlandpolitik entwickelte sich allerdings ein mit verbaler Scharfe gefiihrter sowie pointierter Wahlkampf, der richtungsweisend fur die Politik und die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland werden soIlte. Dabei standen sich zwei Wirtschaftsprogramme diametral gegenuber, zwischen denen die Wahler zu entscheiden hatten: Planwirtschaft oder Marktwirtschaft? Diesem Votum im Spatsornmer 1949 waren zunachst zahlreiche politische Entscheidungen und Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vorausgegangen. Rund vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation und der Teilung Deutschlands unter alliierter Besatzungspolitik, war am 8. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in dritter Lesung vom Parlamentarischen Rat beschlossen worden und am 23. Mai 1949 in Kraft getreten. Erst damit waren nicht nur die Verfassung und die Grundung des Staates besiegeIt, sondem auch die Wahl der Volksvertreter, des Parlamentes, ermoglicht worden.'
Die politische Ausgangslage nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Deutschland von den Siegermachten besetzt und in vier Zonen unterteilt worden. Obwohl es keine einheitliche Besatzungspolitik gab, war diese im Fruhjahr 1945 noch stark gekennzeichnet von dem grundlegenden Ziel der Alliierten, "Deutschland daran zu hindem, je wieder eine Bedrohung des Weltfriedens zu werden. ,,3 Infolgedessen waren das Land und ergo die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entscheidungen unter die Kontrolle der Besatzungsmachte gestellt worden. Vor allem im Hinblick auf ein potentielles Wiedererstarken der deutschen Wirtschaft sollte eine rigorose industrielle Abrustung durchgefUhrt werden.
Vgl. Niemann 1994: 22ff. Vgl. Schneider 1985: 3Off. Zitiert aus der amerikanischen Direktive JCS 1067 nach Steininger 1996: 47.
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Ungeachtet dieser prinzipiellen Zielsetzung des wirtschaftlichen .Kleinhaltens" hatten die Sowjetunion und die westlichen Alliierten begonnen, in ihren Zonen das politische und gesellschaftliche Leben nach ihren jeweils eigenen Vorstellungen zu fonnen. Waren die Sowjetunion und die Westmachte noch wahrend des Krieges Verbundete gewesen, so hatten sich die im Kern unterschiedlichen deutschlandpolitischen Ziele schon unmittelbar nach Kriegsende nicht mehr kaschieren lassen. Damit war die Teilung Deutschlands unumstolslich geworden." In der sowjetischen Besatzungszone waren 1945 zwar Landerregierungen emannt und politische Parteien im Juni des Jahres zugelassen worden. Doch wenig spater hatte sich dort eine fundamentale Veranderung im Parteiensystem abgezeichnet. KPD und SPD verschmolzen im Fruhjahr 1946 zur SED und durch nachfolgende Repressionen war 5 eine politische Opposition praktisch nicht mehr existent. Die westlichen Besatzungsmachte, unter denen die amerikanische die flihrende Rolle im Hinblick auf die Deutschlandpolitik ubemommen hatte, waren hingegen Hingst von ihren restriktiven Richtlinien abgeruckt, Vor allem die USA orientierten sich inzwischen verstarkt an einem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau." So waren in den westlichen Zonen 1945/1946 Lander mit haufig vorlaufigern Status gebildet und Parteien gegrundet worden. Bereits 1946 hatten erste Wahlen zur Bildung von Landerparlamenten stattgefunden. Neben dem Aufbau eines (partei-)politischen Lebens und dem mittelfristigen Ziel einer Demokratisierung war gleichzeitig auch eine staatliche Neuordnung in Gang gesetzt worden.' Fur die zukunftige wirtschaftliche Ausrichtung Westdeutschlands und die ersten Wahlen auf Bundesebene spielten aber sowohl die Umgestaltung des 1947 ins Leben gerufenen Wirtschaftsrates in ein mittelbares demokratisches Organ als auch die politische Konstellation in diesem Wirtschaftsrat eine wesentliche Rolle.
Die wirtschaftspolitischen Voraussetzungen bis zurn Wahlkampf 1949 1m Sommer 1946 hatte sich fur die von den USA und von GroBbritannien besetzten Zonen ein Wandel in der Nachkriegspolitik abgezeichnet." Zum einen hatten die USA offentlich Abstand von der "Morgenthau-Politik" genornmen." Zum anderen waren bereits Planungen im Gange, die britische und die amerikanische Zone zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiet zu vereinen. Das Abkommen wurde schlieBlich im Dezember 1946 abgeschlossen. 10 Der (wirtschafts-)politische Graben zur Sowjetunion sollte sich jedoch weiter vertiefen. Die US-Militarregierung hatte in ihrer Zone nicht nur kontinuierlich Sozialisierungsvorhaben unterbunden, auch wenn Clay immer wieder behauptet hatte, keine bestimmte Wirtschaftsordnung prajudiziert zu haben.!' Neben der Ankundigung eines umfangreichen
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Vgl. zur an der deutschen Frage scheiternden AuBenministerkonferenz im Dezember 1947: Steininger 1998: 1Of. Vgl. Mahlert 1997: Ilff. Siehe auch: KleBmann 1991. Die Direktive JCS 1067 ist offiziell sogar erst im Juli 1947 von der moderaten Direktive JCS 1779 ersetzt worden. Vgl. Gimbel 1971: 17ff. Vgl. Niemann 1994: 13. Siehe zur okonomischenEntwicklungund PoJitikin der franzosischen Zone, die hier ausgeklammertwird, da sie fur den grundsatzlichen Fortgang bis zur Wahl 1949 als nicht ausschlaggebend angesehen wird: Abelshauser 1983: 37ff. Vgl. hierzu die Rede des amerikanischen AuBenministers James F. Byrnes am 6. September] 946 in Stuttgart, in: Kreikamp 1994: 132-142. Vgl. Huster ]975: 34ff. Vgl. Schmidt 1975:25ff. Siehe auch: Koch-Wegener 2005: 43.
Wiederaufbauprogramms fur Westeuropa im Fruhjahr 1947 12, wurden daruber hinaus Vorbereitungen fur eine Wahrungsunion in den Westzonen getroffen worden. Mit der Ausarbeitung konkreter Reformvorschlage war jener Wirtschaftsrat beauftragt worden, in dem Ludwig Erhard die Expertenkommission "Sonderstelle Geld und Kredit" geleitet hatte. 13 Anfang 1948 war dieser Wirtschaftsrat organisatorisch umgestaltet worden. Neben der Verdoppelung seiner Mitglieder war der Verwaltungsrat als Exekutivorgan geschaffen worden. Bereits bei der Konstituierung dieses Wirtschaftsrates hatte sich eine politische Konstellation ergeben, in der die Koalition aus CDU/CSU und FOP, welche sich zu einem marktwirtschaftlichen Konzept bekannten, eine knappe Mehrheit besessen harte." Im Marz 1948 war Erhard zum Direktor der Verwaltung fur Wirtschaft gewahlt worden. Mit seiner Wahl hatte nicht nur die Umsetzung der freiheitlichen Frankfurter Wirtschaftspolitik begonnen, sondern auch die allmahliche Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in den westdeutschen Zonen." Dies bedeutete einen Etappensieg fur die Marktwirtschaft gegen den Sozialismus. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte in den westdeutschen Zonen ein reger Diskurs tiber eine zukunftige Wirtschaftsordnung vorgeherrscht. .Eine Demokratie in Deutschland ist nur lebensfahig", forderte schon 1947 Viktor Agartz, Leiter des Verwaltungsamtes fur Wirtschaft in Minden, "wenn diese Demokratie nicht auf die politische Ebene beschrankt bleibt, wie nach 1918, sondem auch in der Wirtschaft ihre Verwirklichung findet.':" Auf der anderen Seite fragte 1948 der Verfasser eines Beitrages in der Wirtschaftszeitung, Stuttgart: .Planwirtschaft oder Marktwirtschaft - Entscheidung anlalilich der Geldneuordnung?" und bekannte, er hoffe auf ein marktwirtschaftliches Gefuge." Diese Debatte und die gesamtwirtschaftliche Lage des Landes beeinflusste schlieBlich auch in besonderem MaBe den Bundestagswahlkampf 1949. Freiheit oder Sozialismus - eine Wahl zwischen Marktwirtschaft und Planwirtschaft Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes und des Bundeswahlgesetzes, das im Juni 1949 verkundet wurde und ein personalisiertes Verhaltniswahlrecht festlegte, startete im Juli des Jahres der nur rund vier Wochen dauemde Wahlkampf." Die Parteien, die sich nach 1945 teils neu gegrUndet hatten, organisierten noch im Vorfeld der Ratifizierung beider Gesetze Wahlausschusse sowie Wahlkampfleiter und suchten Kandidaten und Wahlbundnisse, Selbst wenn der erste Bundestagswahlkampf in hohem MaBe von Improvisation gekennzeichnet war, begannen Vorbereitungen und Planungen schon Anfang des Jahres 1949. Die Union hatte zur Koordination von Themen, Interessen und Pressearbeit einen Wahlkampfausschuss ins Leben gerufen. 1m Fruhjahr folgte die Emennung des Wahlkampfleiters Alois Zimmer, Vorsitzender der CDU-Fraktion im rheinland-pfalzischen Landtag, 12 13 14
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Vgl. Hardach 1994: 45ff. Siehe auch Schroder 1990: 247f. Vgl. Laitenberger 1986: 56f. Siehe zur Biographie Erhards auch: Mierzejewski 2004. Obwohl innerhalb von CDU/CSU noch das sozialistische Elemente enthaltende .Ahlener Programrn" von 1947 galt, unterstiitzten etliche CDU/CSU-Mitglieder und vor allem Konrad Adenauer die Politik Erhards und der Liberalen. Erst in den .Dusscldorfer Leitsatzen" vom 25. Juni 1949 wurde die Soziale Marktwirtschaft offiziell in das Programm der CDU aufgenornmen. Vgl. Leaman 1988: 50ff. Vgl. Ambrosius 1977: 148ff. .Leistung vor Gewinn", In: Die Welt vom 29.3.1947; Institut fur Weltwirtschaft, Wirtschaftsarchiv Kiel: Film 440, Dokument 335. Meinold 1948; Institut fur Weltwirtschaft, Wirtschaftsarchiv Kiel: Film 440, Dokument 358. Vgl. NiclauB 1998: 26f.
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damit bundesweit eine einheitliche Ausrichtung der CDU/CSU gewahrleistet war. Das Generalsekretariat von CDU/CSU ubemahm eben so noch die Publikation der zentralen Wahlkampfzeitung "Union im Wahlkampf"." Ungeachtet dieser Bemuhungen einer Zentralisierung behielten die einzelnen Landesverbande von CDU und CSU eine ausgepragte autonome Stellung und veroffentlichten auch weiterhin eigenstandig Wahlkampfmittel." 1m Dezember 1948 hatte die SPD bereits eine Wahlkampfprogrammkommission gebildet, in der die Parteispitze vertreten war. Die Leitung des bundesweiten Wahlkampfes, der von der Parteizentrale in Hannover aus organisiert wurde, ubemahm Fritz Heine, Mitglied des Parteivorstandes und fuhrender Pressekopf der SPD. Heine verantwortete ebenso Herstellung und Vertrieb der wesentlichen Wahlkampfmaterialien und die Herausgabe der SPD-Wahlkampfzeitungen. 21 So sehr sich der Bundestagswahlkampf 1949 in Durchfuhrung, Organisation und Professionalitat von den nachfolgenden Wahlkampfen unterscheiden sollte, so sehr gab es bereits damals ein Schwerpunktthema: die Wirtschaftspolitik. Die Einschatzungen der eigenen sowie der volkswirtschaftlichen Situation besitzen nach wie vor innerhalb jedes Wahlkampfes nicht nur hohe Prioritat, sondern daruber hinaus eine sogenannte .Weichenfunktion".22 Es erschien daher naheliegend, dass CDU/CSU und FDP ihren Fokus auf die Arbeit im Frankfurter Wirtschaftsrat legten, seit sie dort aufgrund ihrer knappen Mehrheit maBgeblich die Wirtschaftspolitik des Landes bestimmten. Trotz aller anfanglichen Schwierigkeiten, wie inflationare Tendenzen und hohe Arbeitslosigkeit, zeichneten sich erste Erfolge dieser Politik abo Erhard hatte als Direktor der Wirtschaftsverwaltung nur vier Tage nach der Wahrungsreform, ohne vorherige Rucksprache mit der U'S-Militarregierung, die Bewirtschaftung des Landes weitgehend aufgehoben und auf diesem Weg Tauschhandel, Schwarzmarkt und Warenhortung verdrangen konnen." Infolge dieser Aktion und seines vehementen Eintretens fur ein marktwirtschaftliches Ordnungssystem, galt er in politischen Kreisen schon fruhzeitig als der Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft, als solcher er auch in der Offentlichkeit wahrgenommen wurde. Adenauer, der diese Wahl im Zeichen der Wirtschaftspolitik gewinnen wollte, erkannte nicht nur das wahlkampferische und wahlermotivierende Potenzial Erhards, sondern auch dessen hohe Einsatzbereitschaft fur die langfristige Etablierung eines freiheitlichen Wirtschaftsgefuges. 1m Juni 1949 konnte er Erhard als Wahlkreiskandidaten fur die CDU gewinnen. Ein herber Ruckschlag fur die FOP, mit der Erhard eng verbunden war und blieb und von der Thomas Dehler, damals Landesvorsitzender der FDP in Bayem, wahrend des Wahlkampfes sagte: .Soziale Marktwirtschaft war unsere Idee.,,24 Mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und den bisherigen okonomischen Erfolgen startete die Union auch ihren offiziellen Wah lkamp fauftakt. Konrad Adenauer bezog am 21. Juli 1949 in Heidelberg klar Position in der Frage der grundsatzlichen Auseinandersetzung urn das Wirtschaftssystem. "Wenn jetzt die deutschen Wahler und Wahlerinnen zur Wahl gehen, dann konnen sie in etwa doch auch die Parteien nach dem beurteilen, was sie in den vergangenen Jahren geleistet haben," erklarte der Spitzenkandidat der Union. ,,1m
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Vgl. Recker 1997: 293ff. Vgl. Wengst 1986: 50. Vgl. Recker 1997: 296. Vgl. Toman-Banke 1996: 72. Vgl. Gotz 1977: S. 124-132. Siehe auch: Erhard 1957: 23. .Wir sind keine Partei der Kapitalisten", In: Die Neue Zeitung vom 30.7.1949; ACDP: Ordner 17/00, Bundestagswahl1949 - Parteien im Wahlkampf, FOP.
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Frankfurter Wirtschaftsrat hat die Fraktion der CDU/CSU in einem schicksalsschweren Augenblick die ungeheure Verantwortung auf sich genommen, die bis dahin betriebene Wirtschaftspolitik radikal umzustellen", so Adenauer weiter. .Jch glaube also, daB wir voll Stolz jetzt bei den Wahlen darauf hinweisen konnen, daB die CDU/CSU getreu ihrem Prinzip, keine Kollektivwirtschaft, sondern Freiheit der Personlichkeit, diese Umstellung der Wirtschaft vorgenommen hat.,,25 In zweierlei Hinsicht begann die Union ihren Wahlkampfauftakt gezielt und durchdacht. Zum einen unterstrich Adenauer die bisherigen Leistungen und Erfolge der COUI CSU und im Zusammenhang damit auch die regierungsverantwortliche Rolle seiner Partei. Vor allem die SPD wurde so in eine Oppositionsrolle gedrangt." Zum anderen griffen Adenauer und seine Partei das wichtigste Thema des Wahlkampfes auf - die Wirtschaftspolitik - und machten sie zu ihrem Hauptthema. Ein Hauptthema muss in erster Linie zwei Bedingungen erfiillen konnen: Es solI eine in der Offentllchkeit in hohem MaBe diskutierte Fragestellung sein und die Positionen der konkurrierenden Parteien sollten eindeutig zu unterscheiden sein. Beide Bedingungen waren in diesem Fall geradezu exemplarisch gegeben. Aufgrund der wirtschaftlichen Misere nach Kriegsende und den Entwicklungen bis 1949 besaB die Mehrheit der Wahler ein starkes Interesse an einer zukunftigen Wirtschaftsausrichtung und der Frage, wie es weiter geht. Daruber hinaus waren die ideologischen Standpunkte ebenso klar definiert." Ais ideal erwies sich auBerdem, dass sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als viel debattiertes Sachthema zu einem Leitthema umwandeln lieB. Bereits einige Wochen vor dem Auftakt zum Bundestagswahlkampfhatte die Union schon in Zusammenarbeit mit Erhard die Wirtschaftspolitik als Einzelprogramm im Rahmen der .Dusseldorfer Leitsatze" aufgefUhrt. Diese inhaltliche Ausarbeitung ist hernach fur den Wahlkampf eingesetzt und entsprechend prasentiert worden. Trotz einiger Finanzierungsprobleme und begrenztem Budget wurden 1949 zahlreiche Broschuren herausgegeben." Die Union veroffentlichte zum Konzept und ZUT Politik der Sozialen Marktwirtschaft mehrere Sonderhefte und stellte Erhard zugleich bewusst als ihren Experten vor." Auf diese Art betonte die COU nochmals ihre wirtschaftliche Kompetenz. Des Weiteren stellte sie den Wahlern in Aussicht: "Urn die bisher erreichten Erfolge ihrer sozialen Marktwirtschaft weiter auszubauen, hat die COU daher fUr den kunftigen Bundestag ein umfangreiches Arbeitsprogramm autgestellt.?" 1m Gegensatz zur CDU/CSU (und zur FOP) bekannte sich die SPD klar zum SoziaIismus. Ihre wirtschaftspolitische Programmatik basierte auf Sozialisierung, staatlicher Planung und Lenkung. Somit suchten auch die Sozialdemokraten ihren Wahlkampfschwerpunkt auf eine zukunftige Wirtschaftsordnung und -politik zu legen, betonten aber noch starker ihre sozialpolitischen Komponenten." Erstaunlich ist hierbei, dass die SPD, seit ihr
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Rede von Dr. Konrad Adenauer auf der CDU/CSU-GroBkundgebung am 21.7.1949 in Heidelberg; ACDP: Box 9, Adenauer, Konrad: Reden (Jan. 1949- Dez. 1953). Vgl. Niemann 1994: 89. Vgl. Steinseifer-Pabst 1990: 64ff. Vgl. Recker 1997: 288f. Siehe dazu: Union im Wahlkampf - Informations- und Rednerdienst der Arbeitsgemeinschaft der COU/CSU Oeutschlands: Sondernummer .Dusseldorfer Leitsatze", 16.7.1949; Sonderausgabe .Zur Wirtschaftspolitik der COD", 20.7.1949; Sonderausgabe "Soziale Marktwirtschaft", 3.8.1949; ACOP: Ordner 17/00, Bundestagswahl 1949, Parteien im Wahlkampf - CDU. "Dr. Conrad Adenauer den "Rheinischen Volksblattem" zur kommenden Wahl". In: Rheinische Volksblatter, August-Heft 1949; ACDP: Adenauer, Konrad - Wahlen. Vgl. Knirsch 2003: 128.
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die Oppositionsrolle im Wirtschaftsrat zugefallen war, ihren ersten Bundestagswahlkampf nach 1945 auch aus dieser Perspektive heraus gestaltete. Dafur verstanden die Sozialdemokraten den Wahlkampf tatsachlich als "Kampf", sprachen sie doch davon, den .Fehdehandschuh" aufnehmen zu wollen.Y In ihren Broschuren und Flugblattern opponierten sie gegen die Politik von CDU/CSU und FOP und UberlieBen den im Wirtschaftsrat bestimmenden Parteien den .Regierungsvorteil''. "Prof. Erhard ruiniert die deutsche Wirtschaft" titelte die SPD in einer Informationsbroschure zum Wahlkampf, die fast ausnahmslos sowohl Erhard als auch die Arbeit der Union attackierte. Die Sozialdemokraten erklarten darin, dass "die arbeitende Bevolkerung durch die Frankfurter Wirtschaftspolitik zum Ausbeutungsobjekt gemacht wurde" und beschimpften Erhard, er sei "ein schlechter Prophet. ,,33 Wahrend die CDU/CSU in ihren Broschuren zwar vehement die wirtschaftspolitische Haltung der Sozialdemokraten kritisierte, versuchte sie dennoch verstarkt, Inhalte zu transportieren und sachliche Debatten zu fuhren, Dagegen konzentrierten sich die Sozialdemokraten sehr stark auf Vorwurfe, Anklagen oder Schmahungen gegen Erhard, die burgerlichkonservative Koalition bzw. gegen die COU. Gleich zu Beginn des Wahlkampfes behauptete etwa der nordrhein-westfalische Wirtschaftsminister, Erik Nolting, die CDU sei "eine bunt zusammengesetzte Schwedenplatte, eine politische Eintagsfliege und werde uber das Alter der Milchzahne nicht hinauskommen.r'" Dabei gab die SPD den Wahlern aber nicht in eben solchem MaBe detaillierte, praxisorientierte Antworten auf die vermeintlich "bessere" Wirtschaftspolitik. Die SPO trug ihren Wahlkampf insofern auf sehr ideologischer, theoretischer Basis aus. Teils verfolgten die Sozialdemokraten hehre Ziele, denn .Jhre vordringliche Aufgabe" sahen sie darin, "die Idee des demokratischen Sozialismus nach Ostdeutschland hineinzutragen.v" Vorher wollten sie aber in Westdeutschland eine .Politik der Vollbeschaftigungv.eine .Politik des billigen Zinses", eine .Politik steigender Reallohne"; dies sei "unsere Planwirtschaft - das ist soziale Gerechtigkeit":", erklarte ein SPDFlugblatt, das, wie die meisten Flugblatter dieser Zeit, ein reines Textflugblatt war. Diese vom Seitenumfang begrenzten, aber inhaltlich ausfiihrlichen Flugschriften hatten eine wichtige Funktion, da einerseits der Produktions- und der Kostenaufwand gering ausfielen und sie andererseits der intensiven Auseinandersetzung mit politischen Themen und Zielen dienten.V Zwei andere bedeutende Instrumente im Ringen urn die Wahlerstimmen 1949, die in unmittelbarem Zusammenhang stehen, waren auch damals Wahlkampfveranstaltungen sowie die Berichterstattung von Zeitungen und Zeitschriften. Auf diesen Ebenen fand insbesondere von Seiten der SPD eine Form von Personalisierung durch verbale Angriffe auf den politischen Gegner statt.
Polarisierung und Personalisierung in Wahlkampfveranstaltungen und der Presse 1m Sommer 1949 war das Zeitungswesen noch immer durch die Alliierte Hochkommission lizensiert, auch wenn inzwischen eine Lockerung der publizistischen Kontrollen erfolgt
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Expose Neuer Vorwarts, 25.6.1949~ ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf. Sonderausgabe Sopade - Informationsdienst: "Prof. Erhard ruiniert die deutsche Wirtschaft", 7.7.1949; ACDP: Box 50, Erhard, Ludwig und SPD 1. Siehe dazu auch: Radunski 1980: l Otl, "SPD hat nach zwei Seiten zu fechten". In: Frankfurter Neue Presse vom 15.7.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPD-WahJkampf. "Weg und Ziel der SPD". In: Rheinische Zeitung vom 25.6.l949~ ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf. SPD-Flugblatt: .Millionenarbeitslosigkeit droht", ohne Datum; ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf. VgI. Hetterich 2000: 200f
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war. Doch ungeachtet dieser Tatsache spielte die Berichterstattung bzw. das Lancieren von positiv oder negativ konnotierten Artikeln in (parteinahen) Zeitungen und Zeitschriften eine groBe Rolle. Neben dem Rundfunk waren Zeitungen und Zeitschriften damals diejenigen Medien, die Inhalte und Stimmungen wiedergeben konnten - insbesondere von Wahlkampfveranstaltungen. Eine Artikelserie der Welt ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel fur eine noch gernabigte Parteienwerbung und fur einen zuruckhaltenden Umgang mit dem politischen Gegner: In dieser Reihe wurde den am Bundestagswahlkampf teilnehmenden Parteien die Gelegenheit geboten, sich und ihre Ziele vorzustellen. Sowohl Erhard als auch Erich Ollenhauer, der zweite Vorsitzende der SPD, konzentrierten sich bezeichnenderweise auf ihre jeweilige Wirtschaftspolitik. Wahrend Erhard verdeutlichte, "aile Formen einer untemehmerischen Zwangswirtschaft" abzulehnen und klarstellte, die Behauptungen der Sozialdemokraten in Bezug auf eine CDU-Politik der hochstmoglichen Preise sei "als grobe Entstellung zu bezeichnen't", erklarte Ollenhauer in seinem Beitrag rund zwei Wochen spater: "Die sogenannte soziale Marktwirtschaft der CDU hat uns die Freiheit des Profits auf der einen und die Freiheit des Entbehrens auf der anderen Seite gebracht." Insofem wolle die SPD "eine neue Wirtschaftspolitik", denn "Millionen unserer Mitmenschen stehen mit leeren Handen vor vollen Laden."39 In vergleichsweise scharferem, aggressiverem Ton war jedoch nicht nur die Mehrheit der Artikel gehalten, auch in den Wahlkampfveranstaltungen wurde stark polarisiert und polemisiert. Diese Veranstaltungen dienen in hohem MaB dazu, aufgrund des kampferischen, uberzeugenden Auftretens der Kandidaten eigene Anhanger zu motivieren sowie Prasenz und Offentlichkeit zu schaffen, gerade auch tiber die sich anschlieBende Berichterstattung." Erhard erwies sieh dabei fur die CDU als Glucksfall, er sprach unermudlich auf zahlreiehen Veranstaltungen, ruhrte kraftig die Werbetrommel fur die Soziale Marktwirtschaft und wurde alsbald .Wahllokomotive?" genannt. In der Tat war Erhard der meist eingesetzte Redner im CDU-Wahlkampf, wie ein kleiner Auszug seiner damaligen Termine exemplarisch zeigt: Am 27.7. trat er als Redner in Wolfenbuttel auf, am 1.8. in Boehum, am 4.8. in Frankfurt am Main, am 5.8. in Ludwigshafen, am 8.8. in Reutlingen, am 10.8. in Waiblingen, am 12.8. in Heidenheim, des weiteren ebenso noch in Berlin und Goppingen." Seine Veranstaltungen erfreuten sich freilich nicht immer genereller Zustimmung. 1m Gegentei1: Selbst wenn erste Umfragen aufzeigten, dass die Bevolkerung einer Sozialisierung kritisch gegenuberstand'", so nahm sie die freiheitlichen Wirtschaftsstrukturen aufgrund inflationarer Tendenzen und hoher Arbeitslosigkeit gleichfalls eher verhalten auf. Erhard sei "durch minutenlange Pfuirufe?" am Reden gehindert worden und es seien "Worte im Geschrei und im Pfeifen" untergegangen. Aber dafur herrschte schon damals reges Interesse an seinen Auftritten. Wenn im Saal selbst fur Zuhorer kein Platz mehr vor38 39 40 41
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Erhard 1949; ACDP: Ordner 17/00,Parteien im Wahlkampf- CDU. Ollenhauer 1949;ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf Vgl. Hetterich 2000: 211. Vgl. Niemann 1994:47. Siehe ACDP: Plakate zur Bundestagswahl 1949 Nr. 57, 74, 80, 82, 84, 164, 186, 194, 206,242. Vgl. auch: Laitenberger 1986: 82; Koerfer 1996:211f. Nach Angaben einer Meinungsumfrage der .Emnid KG" lehnten von 3000 Befragten 39,4% ausdrucklich eine Sozialisierung abo Vgl. hierzu: "Soll sozialisiert werden?" In: Industriekuriervom 11.8.1949; Institut fur Weltwirtschaft, Wirtschaftsarchiv Kie1: Film 440, Dokument367. "Nolting verlangt neue Wirtschaftspolitik". In: Die Neue Zeitung vom 6.8.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPDWahlkampf.
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handen war, wurde eine Lautsprecheranlage vor dem Veranstaltungsort aufgestellt." Seine hohe Einsatzbereitschaft brachte ihm nicht nur den Respekt des SPO-Vorsitzenden Kurt Schumacher ein, der bemerkte, Erhard reise "nimmermtide im Land herum":", sondem ruckte ihn auch in den Mittelpunkt politischer Angriffe seitens der Sozialdernokraten, Oenn Erhard war der Offentlichkeit von Beginn an als Wirtschaftsfachmann der COU vorgestellt worden und insbesondere die Frankfurter Wirtschaftspolitik wurde folglich mit seiner Person identifiziert. Insofem musste aus wahlkampfstrategischer Sicht der SPO nicht nur die Wirtschaftspolitik von CDU/CSU und FDP, sondem auch Erhard selbst dernontiert werden, urn der eigenen wirtschaftlichen Ausrichtung und den eigenen Kandidaten rnehr Uberzeugungskraft zu verleihen. Ober eine Veranstaltung in Leverkusen hieB es in einer SPD-nahen Zeitung etwa, Erhard sei ein .Zirkusdirektcr'' und habe zudem "eineinhalb Stunden mit professoraler Scheingelehrsarnkeit tiber seine Wirtschaftspolitik" doziert." In der gleichen Ausgabe hieB es we iter, "daB die Erhardsche Wirtschaftspolitik eine im Grunde gottlose Verleugnung aller menschlichen Prinzipien" sei." Ein anderes Mal bezeichnete der nordrhein-westfalische Wirtschaftsminister, Erik Nolting, Erhard als "Goethes Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los" werde. AuBerdern drehe der Oirektor der Wirtschaftsverwaltung, so Nolting, der wie Erhard gleichfalls Wirtschaftsprofessor war und als sein politi scher Gegenspieler hochstilisiert wurde, ein altesi.Drehorgellied von der Planwirtschaft gegen die Sozialdemokraten.v'" Schumacher ging in seinen Behauptungen sogar noch einen Schritt weiter und versuchte Erhards Glaubwurdigkeit mit folgender Unterstellung zu untergraben: "Prof. Erhard sei nach 1945 bereit gewesen, in die SPO einzutreten und sich fur die Planwirtschaft einzusetzen.r'" 1m Gegenzug schien auch der Direktor der Wirtschaftsverwaltung gelegentlich von Sachargumenten abzurucken, denn "als Idioten, eine Clique von Schiebem, Rattenfanger und Hysterikern" schimpfte er die Sozialisten, wie die Hannoversche Presse hervorhob." Erhard nutzte die Angriffe der SPD auf seine Person und Politikjedoch haufiger, urn in die Rolle des zu Unrecht Gescholtenen zu schlupfen. Er suchte die Beschuldigungen nicht nur mit bisherigen Erfolgen zu entkraften, sondem auch mit seinem auBerst selbstbewussten Auftreten. Auf die von den Sozialdemokraten immer wieder thematisierten rund 1,2 Millionen Arbeitslosen angesprochen, antwortete er etwa dem Neuen Tageblatt, dass .Jch mich mit Ekel und mit Abscheu von meinen politischen Gegnem abwende, denen die Not dieser Menschen recht ist, urn darnit parteipolitische Geschafte zu betreiben.t''" CDU/CSU und Erhard setzten jedoch noch eine andere Strategie eine Nuance erfolgreicher als die SPD ein, urn den Wahlkampf fur die Soziale Marktwirtschaft zu gewinnen. In diesern stark vorn Kriegsende und -ausgang beeinflussten und gepragten Wahlkampf appellierten beide Parteien an kollektive Angstzustande, die auch in den nachfolgenden
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.Wortgcfecht zwischen Erhard und Martin". In: Heidenheimer Zeitung vom 13.8.1949; ACDP: Box 56, Erhard-Reden (1948-1969). Zitiert nach Niemann 1994:47. "Die zwei Erscheinungsformen Erhards", In: Rheinische Zeitung vom 3.8.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPDWahlkampf. "Bourgeois Erhard". In: RheinischeZeitung vom 3.8.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf. "Die Masse geht leer aus - weil sie kein Geld hat!" In: Rheinisches Echo vom 19.7.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wahlkampf. "Erhard wollte in die SPD". In: Die Welt vom 10.8.1949;ACDP: Ordner17/00,SPD-Wahlkampf. Ohne Titel. In: HannoverschePresse vom 6.8.1949; ACDP: Ordner 17/00,SPD-Wahlkampf. "Freiheit - nicht Planwirtschaft", In: Neues Tageblatt vom 28.7.1949;ACDP: Box 56, Reden, Ludwig Erhard - April 1948- Dezember 1969.
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Wahlkampfen weiterhin Bestandteil von Kampagnen bleiben sollten." Die SPD konzentrierte sich hierbei verstarkt darauf, vor negativen Konsequenzen der Marktwirtschaft fur die breite Bevolkerung zu warnen, wie etwa niedrigen Lohnen bei zugleich hohen Preisen.i" Sie warf dem Frankfurter Wirtschaftsrat vor, amerikanische Politik, aber kein politisches Handeln im Sinne der deutschen Bevolkerung zu betreiben. Die Marktwirtschaft hange nicht nur am seidenen Faden, sie fahre auch im amerikanischen Rollstuhl, schalt Nolting, die amerikanische Wirtschaft sei "pflastermtide". "Mit Angst" denke er an die Zukunft, worauthin ein Zuhorer entgegnete, ihm genuge "die Angst vor dem nachsten Ersten."ss 1m Gegensatz dazu suchten COU und CSU auch hier ihren Vorteil darin, im Frankfurter Wirtschaftsrat bereits aktiv Politik betrieben zu haben. Zum einen war nach dem Zweiten Weltkrieg das politische und wirtschaftliche Ansehen Deutschlands ein wunder Punkt. Insofem versprach eine Regierungsmehrheit der burgerlich-konservativen Koalition, wieder an Format und wirtschaftlicher Bedeutung gewinnen zu konnen, schlieBlich gelte Erhard .Jm gesamten Ausland", so eine Wahlkampfbroschurevon CDU/CSU, "als Garant fur den wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands.v" Zum anderen wurde vehement - neben Demokratie versus Totalitarismus, wirtschaftlicher Freiheit contra Zwangswirtschaft - tiber den sozialen und wirtschaftlichen Niedergang disputiert. Obwohl sich die SPD eindeutig gegen eine Zwangswirtschaft wandte, - "weil sie gegen Demokratie verstollt", hieB es dazu in einem Expose" -, wurde sie von der Union und von Erhard nichtsdestotrotz in diese Ecke gedrangt, Dieser Wahlausgang, so eine Botschaft Erhards, sei entscheidend fur die Zukunft Deutschlands, denn bekanntlich .fuhrt die sozialistische Planwirtschaft entweder zu Unterdruckung aller menschlichen Freiheit, insbesondere zur Unterdruckung der freien Berufsund Konsumwahl, oder aber sie fuhrt in den Zusammenbruch. ,,58 Diese Kombination aus Verweisen auf erste Erfolge ihrer marktwirtschaftlich orientierten und regierungsverantwortlichen Politik sowie dem Schuren von Angsten setzten CDU und CSU vor allem auch wirkungsvoll auf ihren Wahlplakaten urn. Die Visualisierung der Sozialen Marktwirtschaft - Plakate und Slogans 1m Wahlkampf von 1949, einer Zeit, in der die wenigsten Haushalte tiber einen Femseher verfUgten, spielten Plakate als traditionelle Werbemittel eine bedeutende Rolle. Wahrend seit den 60er Jahren immer mehr und groflere Portrat-Plakate in den Vordergrund rtickten und die Wahler im Vorbeieilen und -fahren zunehmend nur noch kurze Botschaften erhaschen konnten, unterschieden sich die Plakate Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre sowohl im Format als auch in der Grobe, Ahnlich den Flugblattern beinhalteten sie auffallig viel Text, informierten tiber die Programmatik der Parteien und suchten die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Text-, Slogan- und Motivplakate an stark frequentierten, offentlichen Platzen angebracht, wurden im Wahlkampf 1949 umfassend eingesetzt." 53
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Vgl. Steinseifer-Pabst 1990: 91f. Siehe zu unterschiedlichen Kampagnenformen: Plank 2002: 65-80. "Nolting fordert gelenkte Wirtschaft". In: Allgemeine Zeitung vom 18.7.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPDWahlkampf. Auszuge aus einer Wahlrede Noltings in MUnster, 9.8.1949; AdL: A 36 - 3. Union im Wahlkampf - Sonderausgabe des Deutschland-Union-Dienstes: "Erhard", 13.7.1949; ACDP: Box 44, Erhard, Ludwig - Portrat (Mai 1948 - Dezember 1966). Expose Neuer Vorwarts, 25.6.1949; ACDP: Ordner 17/00, SPD-Wah1kampf. "Freiheit - nicht Planwirtschaft". In: Neues Tageblatt yom 28.7.1949; ACDP: Box 56, Reden, Ludwig Erhard - April 1948 - Dezember 1969. Vgl. Hetterich 2000: S. 193f. Siehe auch: Steinseifer-Pabst 1990: 75.
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.Wohin soli die Reise gehen?", fragte der Wahlausschuss Soziale Marktwirtschaft der Unions-Parteien die Wahler, die auf dem Plakat einen Wegweiser sehen konnten, auf dem die Marktwirtschaft geradewegs zu Wohlstand in die eine und die Planwirtschaft im Schlingerkurs zu Bezugs- und Kontingentenscheinen in die andere Richtung wies.'" Das Motiv des Wegweisers griff die CDU auch auf einem weiteren Plakat wieder auf. Hier fuhrte der Weg auf der einen Seite zur CDU, in eine Welt, in der zufriedene Kindergesichter, arbeitende Menschen oder hUbsche Hauser mit Garten die "Marksteine auf dem Wege unserer Wirtschaftspolitik seit 1947" aufzeigten. Auf der anderen Seite blickte der Wahler nicht nur in leidende, gequalte Kindergesichter, sondem sah sich auch mit Trummem, Hunger , Not und Elend konfrontiert, sollte er sich bei der Wahl fur zwei rote Fragezeichen, eine Symbolik fUr die SPD, entscheiden." Exemplarisch verknUpfte die Union hier Angstzustande mit den ersten Erfolgen der Frankfurter Wirtschaftspolitik und thematisierte Kriegsfolgen, Zerstorung, Armut, Wiederaufbau und Wohlstand durch Marktwirtschaft. Abbildung 1: Wahlplakate der CDU im Wahlkampf 1949
Quelle: Archiv fur Christlich-Dcmokratische PolitikIKonrad-Adenauer-Stiftung.
Obwohl von CDU und CSU zentrale Organe zur WahlkampffUhrung eingerichtet worden waren, konzipierten die durchaus sehr eigenstandig agierenden Landesverbande ebenfalls Plakate . Das fUhrte in Hamburg sogar zu einer fruhen, indirekten Koalitionsaussage, mit der die Konstellation im Frankfurter Wirtschaftsrat widergespiegeIt wurde. 1m Marz 1949 hatten CDU und FDP angesichts ihrer gemeinsamen Ziele und engen Zusammenarbeit einen 60 61
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ACDP: Plakate zur Bundestagswahl 1949, Nr. 126. ACDP: Plakate zur Bundcstagswahl 1949, Nr. 3.
Wahlblock gebildet und im Rahmen dieses Biindnisses ein gemeinsames Wahlplakat ent-
worfen.f Ein iibergroBer Sozialdemokrat, vor allem an seinem roten Parteibuch unter dem Arm erkennbar, blickte auf geschaftiges Treiben im Hafen, wahrend er selbst die Hande in den Hosentaschen vergrub. "Wenn Handel, Wandel wedder gohn, wat hebbt de Sozis dorbi don? Nix!", stellten CDU und FDP ihre in Dialekt gehaltene, rhetorische Frage und empfahlen daher .J mmer nur CDU -FDP .,,63 Abbildung 2: Wahlplakat der SPD im Wahlkampf 1949
Quelle : Archiv fur Christlich-Demokratische Politik/Konrad-Adenauer-Stiftung.
.Alle Millionare wahlen CDU -FDP. Aile iibrigen Millionen Deutsche die SPD,,64, konterten die Sozialdemokraten und versuchten mit dieser Aussage nicht nur gezielt die Arbeiterklasse als Wahlerklientel anzusprechen, sondem auch bewusst ihre traditionelle Herkunft und ihre Rolle als groBe Volkspartei in den Vordergrund zu stellen. Urn Wahlerstimmen zu gewinnen, bediente sich die SPD einerseits klassenkampferischer Aussagen und setzte andererseits wiederholt auf Vorwurfe und Angriffe des politischen Gegners." Da sie im Vergleich zu CDUlCSU und FPD nicht aufwirtschaftliche Erfolge in der Praxis verweisen konnte , blieben die Slogans auf den Plakaten aber, eben so wie auf den Wahlkampfveranstaltungen und in den Zeitungsartikeln, ideologisch und programmatisch. "Sozialistischer Aufbau durch Neubau - Praktische Demokratie durch soziale Gerechtigkeit - Deutschlands
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Vgl. Michel 2005: 39. ACDP: Plakate zur Bundestagswahl 1949, Nr. 19. ACDP : Plakate zur Bundestagswahl 1949, Nr. 150. Vgl. Toman-Banke 1996: 153.
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Einheit durch Freiheit,,66, versprach die SPD irn FaIle eines Wahlsieges und der SPDParteivorstand Hannover klagte Erhard auf einern Textplakat emeut an, seine Politik sei fur Deutschland ruinos, denn: ,,1300000 Arbeitslose, 300000 Kurzarbeiter, 130000 arbeitslose Bauarbeiter, Preissteigerung auf 180%, Lohnsteigerung nur auf 115%, 4 Mrd. O-Mark kostet jahrlich die Arbeitslosigkeit.,,67 Urn die okonomische Inkornpetenz des Direktors der Verwaltung fur Wirtschaft zu demonstrieren, wurde Erhards Konterfei auf einern Motivplakat der Sozialdemokraten karikaturistisch dargestellt. Auf seiner Nase sitzt eine Brille, die sowohI seine Augen als aueh eine Sicht auf die Gegebenheiten verdeekt. Ohne die Verwendung des Parteilogos steht in groBen Sehreibbuehstaben Iediglieh ein einziger, aber markanter Satz am unteren Rand des Plakates: .Jch sehe keine Krise.,,68 Ooeh ungeaehtet aller Bemuhungen der SPO, die Wahler von einem sozialistischen, zentral gelenkten Wirtsehaftskonzept zu Uberzeugen, konnten COU und CSU - wenn aueh denkbar knapp - die Wahl fur sieh gewinnen und gemeinsam mit der FOP und OP die Regierung stellen. Wahrend Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler in Amt und Wurden kam, wurde Ludwig Erhard, wie erwartet, Bundeswirtschaftsminister. Resiimee Nur etwa vier Woehen hatte der Bundestagswahlkarnpf 1949, der von heftigen politisehen Auseinandersetzungen gekennzeiehnet war, seit dem offizieIlen Wahlkampfauftakt der Parteien gedauert. Bereits am 14. August 1949 fanden die bundesweiten Wahlen bei einer Wahlbeteiligung von 78,5%, stan." Beobaehter waren von einem Wahlsieg der SPD ausgegangen, da die Sozialdemokraten auf ein funktionierendes Parteigeftige und Funktionarsnetz zuruckgreifen konnten, wahrend die Union aufgrund ihrer Neugrtindungssituation erst ihren Parteiapparat aufbauen musste." Insofem uberraschte das Wahlergebnis, aueh wenn kein eindeutiger Wahlsieger auszumaehen war: auf die CDU/CSU entfielen 31,0%, auf die SPO 29,2%, auf die FOP 11,9%, auf die DP 4,0% und aufSonstige 23,9%.71 Oiese Bundestagswahl soIlte aus historischer Perspektive betraehtet zu einer "Richtungswahl" werden ", aus der nicht nur eine mehr als ein Jahrzehnt dauemde burgerlichkonservative Regierungsmehrheit hervorging, sondern durch die auch und vor allen Dingen die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland langfristig etabliert wurde - die Soziale Marktwirtschaft konnte sich gegen die Planwirtschaft durchsetzen. Insbesondere die amerikanische Besatzungsmacht zeigte sich im Hinblick auf den Wahlausgang erleichtert, da sie die Etablierung einer freien Marktwirtschaft bereits seit 1945 begunstigt und einem marktwirtschaftliehen Geflige damit eine grundsatzliche Existenz eingeraumt harte." In diesem Zusammenhang waren auch die Mehrheitsverhaltnisse im Frankfurter Wirtschaftsrat von Bedeutung, da CDU/CSU und FDP unter der Fuhrung von Erhard ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen realisieren konnten. Diese politische Arbeit versehaffte
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ACDP: Plakate zur Bundestagswahl1949, Nr. 145. ACDP: Plakate zur Bundestagswahl1949, Nr. 248. ACDP: Plakate zur Bundestagswahl 1949, Nr. 135. Zahl nach Falter 1981: 239. Vgl. Koerfer 1998: 60. Zahlen nach Drechsler, Hilligen & Neumann 1995: 130. Vgl. Toman-Banke 1996: 152. Die amerikanische Hochkommission sprach hinsichtlich des Wahlausgangs sogar von einem Bekenntnis zur Marktwirtschaft. Vgl. Koch-Wegener 2005: 56.
der Union eine Form von .Regierungsvorteil", den sie im Verlauf des Wahlkampfes aueh deutlieh kommunizierte und zu ihrem Vorteil einsetzen konnte." Die SPD nahm nieht nur eine Oppositionsrolle ein, sondem verscharfte die vorherrschende Polarisierungstendenz dureh Schmahungen und ideologisehe Aussagen noeh zusatzlich. Infolge ihrer eindeutigen Positionierung als Befiirworterin der Sozialisierung war eine noch vor dem Wahlkampfvon vielen Politikem diskutierte GroBe Koalition nieht mehr moglich. Erhard und Adenauer sahen darin ohnehin keine Alternative und nannten die Soziale Marktwirtsehaft bei den ansehlieBenden Koalitionsverhandlungen daher aueh als eines der wichtigsten Argumente gegen eine GroBe Koalition: mit der Sozialen Marktwirtsehaft hatte man den sehr stark wirtsehaftspolitiseh pointierten Wahlkampf gefiihrt und gewonnen und mit der SPD war diese Politik nieht umzusetzen." Ungeaehtet all dieser Voraussetzungen und Bedingungen hatte die Union mit Ludwig Erhard einen uberzeugenden, glaubwurdigen, Optimismus ausstrahlenden und unermudlichen Wahlkampfer gewonnen. Erhards Starke lag zum einen in seiner Redegewandtheit, mit der er vielerorts Interesse weeken und Veranstaltungssale fullen konnte." Als Direktor der Verwaltung fur Wirtsehaft gelang es Erhard zudem, sieh als Wirtsehaftsexperte und als Politiker darzustellen. Zum anderen wurde er von den Unionsparteien von Anfang an als der Mann hinter dem Konzept der Sozialen Marktwirtsehaft vorgestellt. Jeder Erfolg, aber aueh jeder Misserfolg, wurde aufgrund dieser Identifikation Erhard zugereehnet - sowohl seine politisehe Karriere und als aueh die Etablierung der Sozialen Marktwirtsehaft waren von einem Wahlerfolg von CDU/CSU abhangig, Den Wahlausgang zugunsten der Union nutzte Erhard als Bundeswirtsehaftsminister daher aueh, urn seine Wirtsehaftspolitik fortzuftihren. Und schon im zweiten Bundestagswahlkarnpf 1953 profitierten Adenauer und die CDU vom wirtsehaftliehen Aufsehwung, dem Erfolg der Erhardsehen Politik. So konnten Erhard und Adenauer als Wahlsieger letztendlieh das Fundament fur den weiteren Weg der Bundesrepublik Deutschland legen.
Quellen und Literatur Archive
Archiv fur Christlich-Dernokratische Politik (ACDP), Sankt Augustin: Pressedokumentation,Plakatsammlung. Archiv des Liberalismus CAdL), Gummersbach:Bestand A 36. Wirtschaftsarchiv Kie1, Institut fur Weltwirtschaft: Film 440.
Literatur Abelshauser, Werner (1983): Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980). Frankfurt am Main. Ambrosius, Gerold (1977): Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945-1949, Stuttgart. "Bourgeois Erhard". In: Rheinische Zeitung vom 3.8.1949. "Die Masse geht leer aus - weil sie kein Geld hat!" In: Rheinisches Echo vom 19.7.1949, "Die zwei ErscheinungsformenErhards". In: Rheinische Zeitung vom 3.8,1949. 74
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Niemann bezeichnet die Rollen, Inhalte und Formen, die die Parteien kommuniziert haben, uberdies als "seJffulfilling prophecy". Vgl. Niemann 1994: 154. Vgl. zu den Koalitionsverhandlungen: Wengst 1985, Vgl. Koerfer 1998: 58.
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Die Bundestagswahl 1953 Von Mathias Friedel
Grundlinien der politischen Auseinandersetzung bis zurn Friihjahr 1953 Die Bundestagswahl am 6. September 1953 1 war eine Wahl mit langem Vorlauf. Sie war Urteil und Richtungsentscheidung'' tiber den seit 1949/50 eingeschlagenen Kurs Konrad Adenauers. Ob Adenauers Variante der Westbindung zu ihrem Abschluss gefiihrt werden konnte, so wie es im Oktober 1954 durch die Pariser Vertrage geschah, entschied sich im Wahljahr 1953. Die dominierenden Themen waren aubenpolitische'', und sie lassen sich auf die Schlagworte Westbindung, Wiederbewaffnung und Deutsche Frage verdichten. Die zur unumstofilichen Richtschnur erhobene Westbindungspolitik Adenauers, die er auch gegen die Offentliohkeit und innerparteiliche Widerstande durchzusetzen nicht scheute, kann nicht nachvollzogen werden, ohne ihren Motor, die Bedrohung durch die Sowjetunion, in Rechnung zu stellen. Denn Westbindung, das hief fur Adenauer in erster Linie innere Immunisierung gegen die kommunistische Ideologie, die ihm als .Aufnahme dieses Giftes yom Osten her'" gaIt, und aulsere Absicherung gegen die UdSSR. Sowjetrussland begriff er stets als expansive Schreckensmacht, weniger als akute militarische Bedrohung, sondem geradezu als Antagonismus westlicher Kultur, der, lieBe man der Sowjetunion freie Hand, kulturell, religios und politisch den Untergang Deutschlands - "finis germaniae" bedeuten wurde.' Sowjetische Politik galt ihm als ein uberaus geschicktes Operieren mit Lockungen und Tauschungen, seien sie ideologischer oder diplomatischer Natur, urn den freien Teil Deutschlands in den Griff zu bekommen. Dass umgekehrt die ,Zone' auf lange Sicht fur Deutschland verIoren war, gehorte zu den fruhen Oberzeugungen Adenauers." Letzteres beeinflusste entscheidend seinen Urngang mit der Deutschen Frage, so dass ihm Wiedervereinigungspolitik wohl in der Tat als "quantite negligeable"? erschien. Schutz vor der Sowjetunion und Konsolidierung des westdeutschen Teilstaates setzten nicht nur die Gesundung der wirtschaftlichen Verhaltnisse voraus, sondem auch Souveranitat und Partnerschaft im GefUge der westlichen und europaischen Staatenwelt. Mit solchen Fortschritten gegenuber den Westdeutschen aufwarten zu konnen, war unerlasslich, denn zumindest formal blieb bis zum Mai 1955 das Besatzungsstatut bestehen. Westbindung fungierte Vgl. hierzu noeh immer die zeitgenossische Wahlstudie von Hirsch-Weber & Schutz 1957. Der Band fur 1953 der Parteivorstandsprotokolle der SPD (SPD unter Kurt Schumacher) ist noch nieht erschienen, daher wurden unveroffentlichte Quellen aus dem Archiv der sozialen Demokratie (AdS) erganzend herangezogen. Da erst im Juni 1953 das neue Wahlgesetz den Bundestag passierte, konnte der Wahlterrnin erst spat auf den 6. September festgelegt werden. Die Auseinandersetzungenzum Wahlgesetz bleiben hier unberucksichtigt, Und Richtungswahlkampf zwischen cnu und der sozialdemokratischen Opposition (vgl. Protokolle Bd. I, Nr. 24, 15.7.1953, S. 600-606); aufbeide Kontrahenten werden wir uns in dieser Arbeit konzentrieren. Vgl. zum Wahlkampfder kleinen Parteien: Hirsch-Weber& Schutz 1957: Kap. II,3-4 u. IV,2-3. Vgl. ebd. S. 117. Auf diesen Themenkreis beschranken wir uns - neben Wirtschaftspolitik- im Folgenden, Adenauer vor dem CDU-Bundesvorstand(Protokolle, Bd. 2, Nr. 8,3.6.1955, S. 571). Repgen 1976, passim. Vgl. zu den militarischen BedrohungsvorstellungenWiggershaus 1995. Vgl. Adenauer an Heinrich Weitz (Anlage), 31.10.1945; auszugsw. abgedr. in: Friedel 2006: Nr. 11,39. Herbst 1996: 110.
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zweifelsohne als Hebel zur Wiedererlangung der Souveranitat und Gleichberechtigung, aber auch als Mittel, urn die Westmachte an die Bundesrepublik zu binden - oder genauer: zu ketten. Denn eine lockere, halbherzige oder inkonsequente Politik harte, so Adenauers Furcht, eine Einigung der vier Siegermachte auf Kosten Deutschlands ermoglichen und damit den westdeutschen Teilstaat schutzlos dem sowjetischen Zugriff aussetzen konnen, Wahrend die Besanftigung dieses Adenauerschen Potsdam-Komplexes in erster Linie bedeutete, eine politische Verstandigung der Westmachte mit der Sowjetunion zu durchkreuzen, war sich Adenauer bewusst, dass politische Fortschritte, die die Bundesregierung erzielte, dUTCh die Existenz des Systemkontliktes wesentlich ermoglicht wurden und Vorleistungen und deutliche Signale an den Westen nicht ertibrigten. .Wenn wir soweit kommen", bemerkte Adenauer im Herbst 1951 durchaus spitzfindig, dann "ist das auch bei den entscheidenden auslandischen Staatsmannern nicht eitel Liebe zum deutschen Yolk, sondern Stalin spielt da auch eine gewisse Rolle"s. Adenauer wusste nur zu gut, dass eine westdeutsche Schaukelpolitik die erfahrene Unterstlitzung aufs Spiel setzen konnte, Entscheidende Bedeutung maB er der Gefahr eines neuerlichen amerikanischen Isolationismus zu. Wenn Adenauer im Juli 1951 auBerte, die Westmachte konnten Deutschland unmoglich in die Souveranitat entlassen, "ohne daB die Deutschen mit Haut und Haaren ihr Schicksal an unseres binden", so traf dies den Kern der westlichen Uberlegungen." Der groBe politische Gegenspieler Kurt Schumacher war von den Determinanten der Adenauerschen AuBenpolitik gar nicht so weit entfemt, wie die mit Verve gefiihrten offentlichen Auseinandersetzungen glauben machen konnten. Weder stand Schumacher Adenauer in seiner streng ablehnenden Haltung gegenuber der Sowjetunion und dem Kommunismus nach, noch sah er letztlich eine gangbare Alternative zur Westintegration, zumal in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht. Konzepte wie die Neutralisierung Deutschlands, urn die Wiedervereinigung zu erreichen, lehnte er ebenso abo Doch es ging ihm urn einen greitbaren "gesamtdeutsche[n] Vorbehalt" 10, mit dem er jedwede Westbindungspolitik versehen wissen wollte, und urn deutliche Zeichen der westlichen Machte fur eine ehrliche Partnerschaft und die Umsetzung politischer Gleichberechtigung. Dieser Kurs betraf einerseits die politischen Vorleistungen, die Adenauer als Bindemittel und Vertrauensbeweis den westlichen Machten konzedierte und andererseits das Tempo der Westbindung. Freilich stand Schumachers Devise "Erst Gleichberechtigung, dann europaische Integration"!' gerade im Hinblick auf Frankreich fernab der politischen Realitat, denn wie sehr Bernuhungen, dem festsitzenden Misstrauen entgegenzuwirken, auch gediehen, so war ein Ausgleich mit Frankreich zur langfristigen Stabilisierung Europas ohne Vorleistungen unmoglich. Fur diese Politik emtete Adenauer den Vorwurf, der "Kanzler der Alliiertenv'? zu sein - so titulierte ihn Schumacher im Bundestag - und sich auf jene "Methode des Junktims?" der Westmachte einzulassen und damit dem politischen Ausverkauf Tur und Tor zu offnen. Doch diese Politik bot auch Chancen, denn der im Mai 1950 aus franzosischer Initiative entstandene Schuman-Plan - die Grundlage der im Juni 1952 Wirklichkeit gewordenen
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Adenauer, Teegesprache 1950-1954,6.9.1951, Nr. 19, S. 143. Ebd., 13.7.1951, Nr. 17, S. 102. - Vgl. Blankenhorn, 27.4.1950, S. 98 u. Bericht Achesons fur den Nationalen Sicherheitsrat, 3.7.1950 (auszugsw. in: Friedel 2006: Nr. 40, S. 92f.). Besson 1970: 67. Dies sei eine Politik, so Schumacher am 8.1.1950, bei der man "die Verhaltnisse so einrichtet, als ob unser Land als Ganzes zusammen ware." Klotzbach 1996: 228; vgl. ebd.: 229f. Herbst 1996: 107. Zit. nach Besson 1970: 89. Carlo Schmid im Deutschen Bundestag am 15. November 1949; auszugsw. in: Friedel 2006: Nr. 33, 81.
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Europaischen Gemeinschaft fUr Kohle und Stahl (kurz: Montanunion) - zielte darauf ab, durch Verflechtung und Kontrolle Deutschlands mithilfe der europaischen Integration die deutsch-franzosischen Beziehungen sukzessive zu entscharfen." Den positiven Elementen, so der Europagedanke, welche die Bundesregierung in einer regelrechten Kampagne bewarb, setzte Schumacher entgegen, der Plan ziele auf die "Schwachung der deutschen Wirtschaft, urn ein groBes Yolk gefiigig zu machen"." Zusehends stellte sich fur die SPD das Problem der Glaubwtirdigkeit, denn es war gelungen, sozialdemokratische Gewerkschafter fur die Verhandlungen fiber die Montanunion zu gewinnen." Wirkungsvollstes Argument der SPD blieb die "ungedeckte Flanke,,17 von Adenauers Europa-Politik: die Saarfrage. Denn im Saarland betrieb Frankreich eine Politik der kulturellen und wirtschaftlichen Anbindung. Derartige Ziele standen in krassem Gegensatz zu den Schlagworten der EuropaIdeen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung. Folgenschwerer als die politische und wirtschaftliche Integration war jedoch die militarische. Denn ein wiederbewaffnetes Westdeutschland musste eine Verstandigung in der Deutschen Frage mit der Sowjetunion - ungeachtet dessen, ob dies unter den Bedingungen des Systemkonfliktes uberhaupt moglich gewesen ware - auf lange Sicht verbauen. Sowjetunion, SED, aber auch zahlreiche westdeutsche Gruppierungen wurden nicht mude, eben diesen Zusammenhang zu betonen. Gustav Heinemann etwa - im ersten Kabinett Adenauer noch Innenminister" -, ging in offene Opposition und fugte sich in die Reihen derjenigen ein, die dem Kurs Adenauers das Gegenkonzept Wiedervereinigung durch Neutralisierung entgegensetzten. Zusammen mit Helene Wessel grundete Heinemann 1952 die Gesamtdeutsche Volkspartei, die erstmals im Wahljahr 1953 auf Bundesebene (erfolglos) antrat. Seit 1951 entstanden vielfach neutralistische Gruppierungen19 im vorparlamentarischen Raum und sorgten, wenn auch wenig erfolgreich, lautstark fur Gegenwind zur Adenauerschen Westpolitik." Doch die Wiederbewaffuung diente Adenauer als Hebel zur Wiedererlangung der Souveranitat, Der Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 beforderte die Entwicklung entscheidend. Wahrend sich der politische Weg zur Wiederbewaffnung offnete - seit Oktober 1950 durch den .Pleven-Plan", der in Form der Europaischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) Gestalt gewann -, waren die Widerstande in der westdeutschen Offentlichkeit erheblich: Der Korea-Krieg hatte massive Weltkriegsangste geweckt, und von einer Bereitschaft der Westdeutschen, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges emeut Soldat werden zu sollen, konnte beileibe nicht die Rede sein: Es kursierte das Schlagwort der "Ohne-mich-Stimmung".21 Politisch konzedierten die drei Westmachte bis Ende 1951 die Ablosung des Besatzungsstatuts durch einen Deutschlandvertrag", dessen Inkrafttreten an das Zustandekommen der EVG gekoppelt und in dem daruber hinaus fest-
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Denn mit ",Kohle und Eisen' verbindet sich der Gedanke .Rustung und Krieg'" - daher habe "das Primat die Politik", Adenauer an Franz Etzel vom 27.6.1950; zit. nach ebd.: 85, Anm. 136. Artikel v. 21.4.1951 nach Herbst 1996: 221 ("Schwachung"); er hatte den Plan auch als "System der vier K konservativ, klerikal, kapitalistisch und kartellistisch" abgewertet; zit. nach Pirker 1965: 136. Zudem hatten sich die meisten sozialistischen Parteien Europas im Juni 1950 positiv zu dem Plan geaubert. Ebd.: 137. Vgl. auch Klotzbach 1996: 200. 1950 trat er von seinem Amt zuruck, da die Wiederbewaffnung "den RiB durch Deutschland vertiefen" WOrde; Aufzeichnung Heinemanns [September 1950); zit. nach Friedel 2006: 105, Anm. 191. Vgl. hierzu Gallus 2001, passim. Zumal Heinemann zusammen mit dem Kirchenprasident von Hessen und Nassau Martin Niernoller einen erheblichen EintluB auf evangelische Kreise ausubte, urn die die enu stets ringen musste. Vgl. Jahrbuch Bd. 1: 350; 355. In den Fassungen vom 26. Mai 1952 und 23. Oktober 1954 auszugsw. in: Friedel 2006: Nr. 52, 111-114.
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geschrieben worden war, dass ein wiedervereinigtes Deutschland die Bundnispflichten der Bundesrepublik ubernehmen musse. Damit war das Dreieck Souveranitat - Wiederbewaffnung - Wiedervereinigung bestimmt, in dem sich die innerdeutschen Auseinandersetzungen abspielten. Die Sowjetunion hatte ihrerseits mit der Note 23 vom 10. Marz 1952 ("Stalin-Note") genau in die offene Wunde der Adenauerschen Politik gestoBen und gegen den Preis der Neutralisierung Deutschlands, die Sanktionierung der Nachkriegsgrenzen und die Ruckkehr zur Viermachtekontrolle die Wiedervereinigung angeboten. Bekanntlich verhallte der Notenwechsel mit der UdSSR. Am 26. Mai 1952 wurde in Bonn der Deutschlandvertrag unterzeichnet. Sein Inkrafttreten wurde das Ende des Besatzungsstatuts und die Wiedererlangung der Souveranitat bedeuteten, so dass Adenauer vor dem Kabinett iiberschwanglich von der "Liquidation eines verlorenen Krieges'v'" sprach. Die Haltung der SPD zur Wiederbewaffnung blieb vielstimmig und ohne realistische Alternativen." Dies wurde fur den SPD-Vorsitzenden Ollenhauer, dem iiberdies das Charisma des im August 1952 verstorbenen Kurt Schumacher fehlte, im Wahljahr 1953 virulent. Wahrend die Partei zunachst, als die Wiederbewaffnungsdebatte 1950 einsetze, grundsatzliche Aufgeschlossenheit signalisierte, blieb die Argumentation von vielen "la, aber" bestimmt. Neben verfassungsrechtlichen Argumenten fuhrte Schumacher erneut ins Feld, dass einem militarischen Beitrag der Bundesrepublik erst die Gleichberechtigung vorangehen miisse und der Pleven-Plan bzw. EVG nieht dazu geeignet seien, die gewunschte Sicherheitsfunktion zu erfiillen. Doch die entscheidende Kehrtwende vollzog die SPD, indem sie sich Anfang 1952 auf die Argumentation verlegte, die EVa tangiere die Aussichten auf die Wiedervereinigung und uberfuhre das Provisorium Bundesrepublik in ein .Jcaum noch revidierbares Definitivum"." Damit war die Gegnerschaft zur Wiederbewaffnung geboren, aus der eine regelrechte Kampagne gegen die Ratifizierung des gekoppelten Deutschland- und EVGVertrages wurde. 27 Ende Januar 1952 hatte die SPD Verfassungsklage gegen die Vertrage herbeigefiihrt, die im Marz 1953 durch das Bundesverfassungsgericht abgewiesen wurde. Weit auBerhalb Adenauers Zeitplan passierten im Marz 1953 die Vertrage in dritter Lesung den Bundestag und im Mai den Bundesrat. Noch musste die Wehrerganzung des Grundgesetzes durchgebracht werden, bevor Bundesprasident HeuB die Vertrage letztlich - Ende Marz 1954 - ausfertigte. Neben den deutschen Kampfen urn die Vertrage war die unsichere Haltung Frankreichs dazu geeignet, den Schlussstein der Westintegration doch noch zu torpedieren - die sozialdemokratische Opposition hat diesen Schwachpunkt stets angegriffen und wusste sich im Verein mit einer weiterhin stark gegen die EVG eingestellten deutschen Offentlichkeit." Es nimmt nicht Wunder, dass Adenauer selbst dem Wahljahr 1953 als "Schicksalsjahr fur das deutsche Yolk und fur unsere Partei,,29 groBe Bedeutung zumaB.
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Ebd.: Nr. 53, 115-1] 7. Sondersitzung der Bundesregierung, 10. Mai ]952; auszugsw. in: ebd.: Nr. 49, S. 106-108, hier 107. Vgl. zu den sicherheitspolitischenGegenkonzepten der SPD Klotzbach 1996: 210-228. Ebd.: 220. Schumacher hatte sich gar zu dem Ausspruch verstiegen: "Wer diesem Generalvertrag zustimmt, hort auf, ein Deutscher zu sein!"; Interview am 15.5.1952~ zit. nach SPD-Fraktion, Bd. 1,1, S. 430, Anm. 2. Vgl. Jahrbuch Bd. I: S. 357f.~ 360f. Protokolle Bd. 1, Nr. 18, 26.1.1953, S. 289.
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Die Wahlkampfinstrumente von CDU und SPD 1m Gegensatz zur SPD konnte die christdemokratisch gefuhrte Bundesregierung tiber Wahlkampfgremien des Parteiapparates hinaus auf einen ausgedehnten Apparat der regierungsamtlichen Offentlichkeitsarbeit zuruckgreifen, der vor allem im Bundeskanzleramt und Bundespresseamt ressortierte. Letzterer trug institutionell, methodisch-inhaltlich aber auch finanziell wesentlich zum Wahlerfolg im September 1953 bei. Ferner profitierte die Regierungspartei von einer guten Koordinierung des CDU-Bundesvorstandes in der sich auspragenden Kanzlerdemokratie und funktionierenden Schnittstellen von Ministerialbeamten des Bundeskanzler- und Bundespresseamtes, der Bundestagsfraktion (v. Brentano) sowie des Bundesvorstandes." Im Herbst 1952 wurden die Wahlkampfplanungen im Bundeskanzleramt konzipiert und im Fruhjahr 1953 die personellen und organisatorischen Fragen zwischen Ministerialburokratie und Parteigremien geklart." Eine zeitgenossische Wahlstudie folgerte dementsprechend im Hinblick auf die einheitliche Binnenstruktur, dass "es im Nachkriegsdeutschland kaum einen so straff ausgerichteten und zugig durchgefiihrten Wahlkampf gab wie den der CDU".32 Dass gerade die fiiihen Jahre der Adenauer-Ara fur die Entwicklung einer innovativen und umfassenden regierungsamtlichen Offentlichkeitsarbeit stehen, ist maBgeblich auf den Staatssekretar im Bundeskanzleramt Otto Lenz 33 zuruckzufuhren, von dessen Berufung sich Adenauer im Hinblick auf die Bundestagswahl 1953 die "Schaffung einer zugkraftigen Propaganda" versprach, wofiir sich der virtuose PR-Praktiker Lenz, der sehr zutreffend als "umtriebige[r] Manager der Offentlichkeitsarbeit" bezeichnet wurde, als uberaus geeignet erwies." Was die Vorstellung von wirkungsvoller Propaganda anbelangte, unterschied sich Lenz jedoch ganz erheblich von seinem Dienstherrn Adenauer. Wahrend fur den sich fortwahrend tiber seine schlechte Presse beklagenden Kanzler erfolgreiche Propaganda in erster Linie aus erfolgreicher Pressebeeinflussung bestand, wozu der Kanzler selbst eine ausgedehnte Interview-Politik 35 betrieb, ging Lenz in contrario davon aus, dass .Jieute die Presse sowieso nur noch in sehr kleinem Umfange die offentliche Meinung beeinflusse und daB es darauf ankomme, mit modemeren Methoden an das Yolk heranzukommen.v'" Die Erfahrung des Nationalsozialismus begrundete ganz entscheidend diese Abkehr von der klassischen Pressearbeit: "Die eigentliche effentliche Meinung aber", fuhrte Lenz in einem Rundfunkinterview aus, "d.h. die Auffassung der breiten Schichten des Volkes, wird doch nicht wirklich entscheidend durch die politische Meinungspresse gefonnt [...]. Harte die groBe politische Presse wirklich entscheidend offentliche Meinung gemacht, dann ware es unmoglich gewesen, daB sich der Nationalsozialismus in Deutschland durchsetzen konn-
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V.a. mit den Vorstandsmitgliedem Bach, Heck, Kaiser, Kiesinger, Tillmanns, Wuermeling und Mullenbach als Organisationsleiter. Vgl. Protokolle Bd. 1, S. VII-XVI u. Nr. 23,22.5.1953, S. 526 u. Franz Mai in: Hase 1988: 52f. Zerbe 2000: 151~ Lenz, 3.2.1953, S. 549; Protokolle Bd. 1, Nr. 23, 22.5.1953, S. 526. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 28 Zu Lenz: Jahn 1966: 243-266; Lenz, S. VIII-XVII (Einleitung d. Bearb.) u. Buchstab 2004. Lenz 16.-20.1.1951, S. 15 ("Schaffung"); ebenso: ebd. 15.1.1951, S. 2; ebd. S. VII ("umtriebige[n]") [Einleitung d. Bearb.]. Es ist sicherlich zutreffend, dass Lenz zudern eine "gewisse Unbekummertheit in der Wahl der Mittel" durchaus qualifizierte. Wengst ] 984: ]48. Lenz selbst betonte, er habe .nicht auf die Moral zu achten, sondem auf die propagandistischen Wirkungen". Lenz, 2.10.1951, S. 140. Vgl. Hoffmann 1995: bes. 74-133 u. Adenauer, Teegesprache 1950-1954 (Einleitung d. Bearb.). Lenz, 20.10.1951, S. 154. Vgl. zu den PR-Konzepten von Lenz: ebd., S. VIII, XIV u. Jahn ] 966: 246f.
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te".37 Lenz unterschied also zwischen offentlicher und veroffentlichter Meinung. Dieser Lenzsche Grundsatz, den er in seinem Wirkungsfeld konsequent berUcksichtigte, auBerte sich vor allem in zwei Konsequenzen, die sichtlichen Einfluss auf die Konzeption des Wahlkampfes der CDU ausubten, namlich die Nutzung der Demoskopie als Richtungsgeber der Offentlichkeltsarbeit und deren Durchfiihrung in praxi mithilfe eines Apparates privater, halbamtlicher Institutionen. Anfang 1950 gab es in Westdeutschland ungefahr 15 grofsere Meinungsforschungsinstitute, deren Entwicklung im Wesentlichen auf amerikanische Initiativen zuruckging.i" Die "modemeren Methoden", die Lenz vorschwebten, erforderten also in erster Linie die in den USA langst ubliche Beobachtung der offentlichen Meinung, urn, so Lenz im Dezember 1951, "in Deutschland Public Relations in der selben Weise aufzuziehen wie in Amerikav" Dies war nicht selbstverstandlich, denn im Nachkriegs-Deutschland hatte die Demoskopie bzw. die empirische Sozialforschung im Allgemeinen gegen ein weitverbreitetes Misstrauen zu kampfen - oft genug wurden Methodik und Nutzen in Zweifel gezogen." Seit dem Herbst 1950 lieferte das Institut fur Demoskopie (ltD) in Allensbach fur das Bundeskanzleramt bzw. das Presseamt regelmafsig Berichte tiber reprasentative Bevolkerungsumfragen zu aktuellen politischen Themen, die im Kanzleramt, im CDU-Bundesvorstand, im Kabinett und in Arbeitsbesprechungen verschiedenster Art zur Beurteilung der tagesaktuellen Politik und der politischen Strategie herangezogen wurden. Im Wahljahr 1953 war es selbstverstandlich, dass Adenauer die neuesten Entwicklungen der offentlichen Meinung dargelegt bekam." Zwar wurden auch Umfragen vom Emnid bezogen, jedoch entwickelte sich die Zusammenarbeit mit Allensbach ungleich tiefgehender. Insbesondere der Geschaftsfuhrer des ltD Erich Peter Neumann nahm bald die Rolle eines wichtigen Beraters fur Lenz ein, wenn es urn die demoskopische Fundierung der Offentlichkeitsarbeit oder die Ausgestaltung von PR-Mitteln ging. Obschon Adenauer zu den Demoskopie-Skeptikem gehorte - die Methode galt ihm als "Hellerseherei" -, nutzte und forderte er sie." Andererseits praktizierte Lenz eine auf Breitenwirkung zielende Offentlichkeitsarbeit, die Multiplikatoren weniger in der Presse als vielmehr unter nichtstaatlichen Organisationen suchte. Diese sollten sozusagen als ,Volkes Stimme' die Regierungspolitik mediatisieren und genossen den Vorzug, in ihrer politischen Kommunikation freier und moglicherweise glaubwurdiger als amtliche Stellen zu sein." Der Autbau eines solchen halbamtlichen Apparates, den Lenz in einem kaum durchschaubaren Dickicht von Gesprachen und
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Zit. nach ebd.: 251. Ebenso gegenuber Adenauer: vgl, Lenz, 8.9.1953, S. 693. Vgl. Friedel 2004: 33-40. Lenz, 3.12.1951, S. 185 Derart, dass der Soziologe Adorno im Dezember 1951 darauf hinwies, die Offentlichkeit musse daruber aufgeklart werden, dass die empirische Sozialforschung "kein Zauberspiel" sei, urn "die Zukunft zu erraten". Zit. nach Friedel 2004: 34. .Besprechung mit Herro und Frau Neumann [...] tiber Fragen der Propaganda unter Auswertung der Ergebnisse des von ihnen geleiteten demoskopischen Instituts". Lenz, 22.2.1951, S. 40. Vgl, zur Diskussion von Umfrageergebnissen ebd., 23.3.1953, S. 597; 27.3.1953, S. 601; 15.7.1953, S. 667,3.9.1953, S. 690; Protokolle Bd. 1, Nr. 24, 15.7.1953, S. 589-592. Zur Nutzung der Demoskopie: Hoffmann 1995: 140-48. ZUf Rolle Neumanns: Zerbe 2000: v.a. 67-74. Krueger 1988: 39. Allerdings nutzte Adenauer Umfrageergebnisse instrumentell und griff die Methode an, wenn Umfragen seiner Politik entgegenliefen, wahrend er Umfrageergebnissegeme vorbrachte, wenn sie seine Politik bestatigten; instruktiv in letzterer Hinsicht der Hinweis Adenauers auf aktuel1e Umfragen gegentiber Wuermeling im Bundesvorstand;Protokolle Bd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 602. Ubersicht der privaten Organisationen bei Walker 1982: 36 u. Anm. 46; Buchwald 1991: 58-60.
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Zusammenktmften gestaltete", lieB sich in administrativer und finanzieller Hinsicht uberhaupt bewerkstelligen, da das Bundespresseamt (BPA), welches anfangs lediglich als Abteilung beim Kanzleramt ressortierte, tiber den Geheimfonds Titel 300 45 verfugte. Somit wurden die meisten dieser Organisationen im vorparlamentarischen Raum tiber das BPA finanziert, wahrend sie das Bundeskanzleramt koordinierte. Politisch war der Titel brisant, da die sich propagandistisch benachteiligt wahnende SPD stets (vergeblich) eine Offen legung des Fonds gefordert hatte. Gerade fur das seit 1952 von Felix von Eckardt geleitete Presseamt, das sich naturlich im Wahlkampf 1953 mit direkter Offentlichkeitsarbeit zuruckhalten musste, erwies sich der private Apparat als nutzliches Instrument, urn auf die Offentlichkeit einzuwirken. Der administrative Vorteil, den die regierende CDU genoss, wird dort offenkundig, wo innerhalb des ministeriellen Apparates Verwaltungseinheiten geschaffen werden konnten, die letztlich der Popularisierung der Regierungspolitik dienten, etwa das im Januar 1952 im BPA geschaffene Referat fur Wehrfragen, welches ganzlich aus dem Titel 300 finanziert wurde." Zudem ermoglichte der private Apparat eine breite thematische Spezialisierung'" und Abdeckung sowie ein gutes Verteilemetz von Propagandamitteln. Beispielsweise war die von Lenz initiierte Gesellschaft Freies Europa auf die Propagierung der Europapolitik spezialisiert", wahrend sich die wichtigste unter Lenz privaten Sprachrohren, die im Dezember 1951 gegrundete Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise (AdK), vor allem der Popularisierung der Wiederbewaffuung annahm. Diese .Adenauerlegion", wie ihr Leiter Hans Edgar Jahn sie selbst nannte, leistete im Wahljahr 1953 beachtliche Schutzenhilfe fur die CDU. 49 Die im Bundesgebiet flachendeckend organisierte AdK wurde in enger Abstimmung mit dem Kanzleramt bzw. Presseamt gelenkt und naturlich hauptsachlich aus dem Titel 300 des Bundespresseamtes finanziert." Auch der AdK-Chef, der engstens mit Lenz zusammenarbeitete, orientierte sich an der amerikanischen PR als "Two-Way-Street", d.h. die permanente Beobachtung der Offentlichkeit als Kompass der Offentlichkeitsarbeit." Die Spezialitat der AdK war die Rednerveranstaltung. Mit ihr lieB es sich bewerkstelligen, wie es Lenz vorschwebte, unvermittelt "an das Yolk heranzukommen" und gleichsam direkten Aufschluss tiber die Propagandawirkung und die Einstellungsveranderung zu erzielen. Dementsprechend hatte die AdK nach eigenen Angaben in ihrem ersten Jahr 1952 1077 Veranstaltungen und Diskussionen mit angeblich tiber 122 000 Teilneh44
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Ein Teil des privaten Apparates war in einer eigenen Organisation ausgegliedert, die unter .Buro Lenz" finnierte. Dazu ausfiihrlich: Zerbe 2000: 76-116. Bis 1953: Titel 31. Der Titel unterlag nur der Kontrolle des Prasidenten des Bundesrechnungshofes. Zum Tite1300: Hoffmann 1995: 50f., 134; Buchwald 1991: 48 u. dort Anm. 7; Walker 1982: 107-112 bzw. 108f.Erst 1958 wurde das BPA eine oberste Bundesbehorde unter einem Staatssekretar. Vgl. ebd.: 79-82, [423428]. Zu diesem: Hoffmann 1995: 51 u. dort Anm. 34. Wahrend der Antikommunismus das Leitmotiv der meisten, wenn nicht aller dieser Organisationen bildete. Vgl. Friedel200l: bes. 49-57 zu den antikommunistischen Vereinigungen. Durch den Vorsitzenden der Gesellschafl Freies Europa Carl Egbring (CDU) und ihre Koordinierung durch das BPA war diese eng mit dem Kanzleramt verbunden und diente daher auch als eine wichtige Schleuse fur die Verteilung von Geldem aus dem Geheimfonds des Presseamtes. Vgl. Lenz 23.2.1951 (2), S. 43; 12.5.1951, S. 81 u. 17.5.1951, S. 82; zur Gesellschaft: Zerbe 2000: 86-90 u. Hoffmann 1995: 137f. Dies registrierte bereits die zeitgenossische Wahlstudie von Hirsch-Weber & Schutz 1957: 26. Vgl. Hoffmann 1995: 254f., 260-262, 265, 267; Stosch 1994: 37; loon 1987: 149. Die Geschichte der AdK ist gut erforscht: Stosch 1994, teilweise zu subjektiv urteilend; aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht: Kunczik 1999; Fascher 1994. - Hoffmann 1995: bes. Kap. 6.8.1; zur AdKWehrpropaganda: Friedel 2003; mit Vorsicht heranzuziehen sind die Memoiren des AdK-Chefs: Jahn 1987. Die Zitate: ebd.: S. 93 ("Adenauerlegion") u. Jahn in: Hase 1988: 54 ("Two-Way-Street").
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mem durchgefuhrt. AIle AdK-Mitarbeiter fertigten nach diesen Zusammenkunften vereinheitlichte Meinungsanalysen an, die die demoskopischen Erhebungen erganzten, Daneben kam bei der AdK eine breite Palette der PR-Medien zum Einsatz wie Filme, Ausstellungen, Plakate, Postkarten, Karikaturen und Broschuren. Auch Pressearbeit wurde betrieben. AIleine 1953/54 hatte die AdK insgesamt 252 Druckschriften in tiber einer Million Exemplaren verbreitet. Hiervon ging natiirlich ein erheblicher Teil an solchen Publikationen ab, die die AdK als Verteiler fur staatliche Stellen unters Yolk brachte.Y Erreicht wurden die Zielgruppen nicht nur durch lokale Redeveranstaltungen der AdK-Mitarbeiter, sondem Jahns Offentlichkeitsarbeiter tingelten auch durch das Land. Hierbei bediente man sich der Mobilwerbung, einer rollenden Werbeagentur, die insbesondere bei der Popularisierung der sozialen Marktwirtschaft und fur den Wahlkampfeinsatz der CDU eine bedeutende Rolle spielte. Diese im Dezember 1952 auf Initiative von Lenz gegrundete Unternehmung war mit einem Netz von Subuntemehmen ausgestattet. Urn Filme und Redner an den Mann zu bringen, unterhielt die von Peter Tinschmann geleitete Mobilwerbung rund 60 Kleinautobusse, die mit Filmprojektoren und Lautsprechern ausgestattet waren. Bei schlechtem Wetter konnte die Technik ausgebaut und in Raumlichkeiten aufgestellt werden. Vor allem in landlichen Gebieten und in Kleinstadten galten die Politbusse als Attraktion.f FUr die Durchfuhrung des SPD-Wahlkampfes nahm Fritz Heine, der Pressechef der SPD, eine maBgebliche Rolle ein. Heine war, im Gegensatz zu Otto Lenz, ein klassischer Parteifunktionar, Schon seit 1928 war er im SPD-Parteivorstand in der Werbe- und Propagandaabteilung tatig und ging nach der Machtergreifung 1933 ins Exil - zuletzt 1941 nach England -, wo er fur die Exil-SPD den propagandistischen Kampf gegen Nazi-Deutschland fortfuhrte." Nach seiner Riickkehr 1946 nach Deutschland wurde er im Mai des Jahres in den geschaftsfuhrenden Parteivorstand berufen und in alter Funktion mit dem Referat .Presse und Propaganda" betraut. Damit wurde er zum wichtigsten Offentlichkeitsarbeiter der Partei und Berater Sehumachers und 0 llenhauers, zumal der geschaftsfuhrende Vorstand lediglich aus dem Parteivorsitzenden, dem Stellvertreter (Mellies) und einigen hauptamtlichen Mitgliedem bestand, darunter Heine, Willi Eichler (Kulturpolitik und innperteiliche Bildung) und Max Kukil (Organisation; seit September 1952).55 Somit gehorte Heine als "Mann des Apparates, der nieht recht in Erseheinung trat" ganz in die Geisteslandschaft des in der SPD bisweilen als "Londoner Emigranten-Klub" bezeichneten Parteivorstandes" und war damit gepragt von marxistiseher Ideologie und der Klassenkampfmentalitat der Weimarer Republik. Letzteres hatte seinen Einfluss auf die strategische und propagandistische Ausgestaltung des SPD-Wahlkampfes und geriet zunehmend mitjenen Kraften innerhalb der Sozialdemokratie in Widerspruch, die eine Auseinandersetzung mit den Traditio52
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Das Lenz-Zitat ("an das Volk"): wie oben Anm. 36. Vgl. Stosch 1994: 39; Jahn 1987: 148; Hoffmann 1995: 268; Kunczik 1999: 386 u. Fascher 1994: 52f., 66. Vgl. zur Diskussion eines AdK-Meinungsberichtes Protokolle Bd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 596. Die Gelder kamen vor allem aus der Industrie und dem Titel300. Ein typischer Produktionsweg dieses kaum durchschaubaren Finnennetzes war, dass das BPA bei der Werbeagentur Werbestudio 7, einer Tochter der Mobilwerbung, vertonte Diaserien oder bei der Deutschen Reportagenfilm GmbH Werbefilme in Auftrag gab, Projektoren wurden bei der Technoton GmbH gekauft, kostenlos an die Mobilwerbung verliehen und auch einer weiteren Tochter der Mobilwerbung, dem Deutschen Filmdienst e. nichtgewerblich zur Verfiigung gestellt. Zur Mobilwerbung: Hoffmann 1995: 270-272; Zerbe 2000: 90-97; Walker 1982: 39f.; Buchwald 1991: 60,71-74. Zu Heine: Appelius 1999: passim. Heine arbeitete seit 1942 in der britischen psychologischen Kriegfiihrung. Zum Parteivorstand: Klotzbach 1996: 274f. u. Appelius 1999: 8,268,270. Auskunft Helmut Schmidts vom 30.8.1994 ("Mann") an Appelius (1999: 7); Hermann Brill an Fritz Erler, 21.11.1957 ("Londoner"); zit. nach Klotzbach 1996: 409, Anm. 269
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nen wunschten. Es war insbesondere Willy Brandt, der fiiihzeitig die Linie vertreten hatte, die Dogmatik der mit ihrer .Zitatenbibel" ausgestatteten Genossen aufzugeben und endlich "unsere Forderungen so positiv wie moglich zu erheben".57 Doch im Wesentlichen blieb die SPD bei ihrem Negativismus, mit dem sie die Wahlen 1953 und 1957 bestritt, bis sie 1958/59 in Godesberg endlich die programmatischen und ideologischen Grundsatzfragen anpackte." Statt sich auf dem SPD-Parteitag in Dortmund im September 1952 an die notwendige programmatische Wende zu machen und diese publikumswirksam zu vermitteln, entstand lediglich ein Aktionsprogramm, das viel zu lang abgefasst, detailverliebt war und ohne Breitenwirkung bleiben musste.i" Es war wiederum negativ bestimmt und gegen die Erhardtsche soziale Marktwirtschaft'", gegen die Wiederbewaffnung und die Adenauersche Westbindung gerichtet. In ganz praktischer Hinsicht beforderte der ideologische Schwerpunkt eine ausgesprochene inhaltliche Komplexitat, Langatmigkeit und Textlastigkeit der Wahlkampfmittel.?' Gerade Heine galt innerparteilichen Kritikem als Hauptexponent einer Politik, die den .Anachronisrnus sozialistischer Selbstgenugsamkeit in einer als feindlich begriffenen Umwelt kultivierte": Auf dem Pressesektor witterte er .Kapitaluberflufi" und politischen .Eroberungsdrang" der Wirtschaft und meinte, dass diese - wie in der Weimarer Republik schon wieder dabei sei, "offentliche Meinung zu kaufen"; die Bundesrepublik wahnte er vor einem autoritaren Umsturz und dem Ende der Demokratie, so dass er nach dem Wahldebakel im Parteivorstand vorgeworfen bekam, er stehe unter "solchem seelischen Druck", dass er nicht "der richtige Pressechef" seL62 In methodischer Hinsicht bedingte Heines Partei-Biographie, dass er ein ausgesprochener Pressearbeiter war'" und die Wirksamkeit von Zeitungen und Textmedien irn Allgerneinen hoch ansiedelte. Heine war sich sicher, dass aIle "anderen Nachrichtenmittel" und .Jnformationsquellen" vom .Rundfunk" bis zurn .Plakatanschlag, Lautsprecherwagen und Reklametrager" ihre "notwendige Erganzung im gedruckten Wort benotigen", Zeitungen und Zeitschriften seien "unersetzlich". 64 Eine "gute Public Relations-Arbeit" setzte er mit "groBere[r] Publizitat" der Presse gleich und betonte, "welch auBerordentlich wichtige Rolle die Tagespresse" fur die "gedruckten Werbemittel" spiele, denn sie halte den "beherrschenden Platz", wenn es darum gehe, die Menschen zu
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Reden Brandts auf dem Landesparteitag in Berlin, Mai 1949 ("Zitatenbibel") und dem Landesparteitag 1954 ("unsere Forderungen"); zit. nach Heimann 2001: 43. Vgl. Klotzbach 1996: 413. Die Phase sozialdemokratischer Opposition, in die die Wahlniederlagen von 1953 und 1957 fallen, ist demzufolge mit vemichtenden Attributen versehen worden: "intransigente Opposition" (Pirker 1965: 110) - .Neinsager-Partei" (Appel ius 1999: 268) - das politische und soziale "Ghetto" (Klotzbach 1996: 187). Adenauer jedenfalls meinte, .jeder von uns" habe doch "den Kopf geschuttelt", als "die Sozialdemokraten ihren Parteitag mit einem ellenlangen BeschluB abschlossen". Protokolle Bd. 1, Nr. 21,20.4.1953, S. 490. Den abstrakten Charakter unterstrich, dass ein regelrechter Kommentar zurn Aktionsprogramm herausgegeben wurde und mehrere Fachtagungen hierzu abgehalten wurden. Wahrend der Sozialisierungsgedanke schon stark auf die Grundstoffindustrien eingeschrankt war. Die SPD aus dem bayerischen Hof kritisierte im November 1953 dementsprechend: .Wir kauderwelschen viel zu viel von integrieren, autoritar, restaurativ, supranational und anderen fur das Yolk unverstandlichen Dingen"; zit. nach Appelius 1999: 283. Klotzbach 1996: 413 ("Anachronismus")~ Heine 1952: 3 ("KapitaluberfluB" bis .kaufen"); Protokoll der Sitzung des SPD-Parteivorstandes am 8.9.1953, S. 2 (Auberung Fritz Henblers); in: AdS, SPD-Parteivorstand, Sitzungen PVIPR Bd. 110. ("solchem"). Seit 1946 hatte er am Aufbau der sozialdemokratischen Lizenzpresse mitgewirkt, und er blieb auch nach seinem Ausscheiden aus dem SPD-Vorstand 1958 als Geschaftsfuhrer der Konzentration GmbH, die die SPDeigenen Zeitungen bewirtschaftete, dem Parteipressewesen verbunden. Heine 1959a: 5.
erreichen." Auf den Vorwurf, die SPD gebe zu viele Textbroschuren heraus, entgegnete Heine bezeichnenderweise, dass "die Menschen zu wenig lesen. Wenn wir diese Art der Propaganda ganz ausschalten, dann geraten wir in die Propaganda der Gedankenlosigkeit".66 Dementsprechend gab die SPD im Wahljahr 1953 ganze vier Wahlzeitungen heraus. 67 Ganz anders Otto Lenz, der ebenfalls zu den Verfolgten der NS-Diktatur gehorte'", jedoch gerade wegen des Siegeszuges des Nationalsozialismus die kontrare Schussfolgerung gezogen hatte, dass die "politische Presse" nicht "wirklich entscheidend" die offentliche Meinung beeinflusse." Den kontaktfreudig-konspirativen, gerissenen "Manager" Lenz, der, ganz auf die USA fixiert, neue Methoden und Ansatze in sein propagandistisches Repertoire frUhzeitig aufgesogen hatte ", und Heine trennten Welten. Heine, der sich Ende Oktober 1956 auf USA-Reise begab, urn den hiesigen Wahlkampf zu studieren, blieb skeptisch. Er informierte sich tiber die "groBen ,Advertisement'-Btiros" und die "Untersuchungen tiber die offentliche Meinung" und berichtete doch sogleich abgrenzend, dass der amerikanische Wahler mit dem deutschen "nicht verglichen werden kann" und nach wie vor der .Kontakt mit dem Individuum" elementar seL71 Zwar setzte auch Lenz auf die Wirkung des personlichen Gesprachs, jedoch meinte Lenz damit vor allem die uberparteiliche - was nichts anderes hieB als die neutral getamte - Ansprache der Menschen durch Organisationen im vorparlamentarischen Raum wie die Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise (AdK). FUr Heine waren dies "Tamorganisationen" - "unterirdische Arbeit" - .PrivatGestapov", denn ihm schwebte doch ein unmittelbares politisches Gesprach zwischen Partei und Wahlerschaft vor, wie es noch fur die Weimarer Republik typisch gewesen war, so daf ihm die "echte aktive Mundpropaganda" als "eigentliche Starke" der Sozialdemokratie galt" und ihm die Lenzschen Methoden verwerflich erscheinen mussten. Lenz, auf den Heine fiiihzeitig Angriffe eroffnete, meinte wohl nicht zu Unrecht, der SPD-Pressechef betrachte ibn "als den scharfsten innenpolitischen Gegner, der unbedingt noch vor den Wahlen abgeschossen werden muBte".74 Die Defizite in der Planung und DurchfUhrung der Wahlwerbung waren jedoch nicht alleine Heine anzulasten - wie es nach dem Wahldebakel allerdings geschah -, sondem auch den Strukturen des Vorstandes und der Partei. Die Vielstimmigkeit und mangelnde Konzentration auf wenige Themen fiihrte Heine selbst auf die "auBerordentlich vielfaltigen 65 66 67
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Heine 1959b: 4a ("gute" bis .Publizitat"); Heine 1959c:3 ("welch" bis "Platz"). In der Organisationskommission des Vorstandes, 16./17.1.1954; zit. nach Klotzbach 1996: 316, Anm. 55. "Neue Bildpost", .Das Blinklicht", .Du und Wir", .Das deutsche Wunder". Vgl. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 79. Oktober 1944 Gestapo-Haft bzw, Marz 1945 Zuchthausstrafe wegen Mitwisserschaft am Attentatsversuch des 20. Juli 1944. Vgl. Jahn 1966: 243-267 u. Lenz, S. VIII-XVII [Einleitung d. Bearb.]. Wie oben Anm. 37; das folgende Zitat oben Anm. 34. Bereits im Marz 1952 hatte Lenz Mitarbeiter des Kanzleramtes in die USA entsandt, urn die Parteikongresse der Republikaner und Demokraten zu studieren. Er selbst begab sich im AprillMai 1953 auf eine dreiwochige Reise in die USA. VgI. Zerbe 2000: 148, 158. Art. .Eindrucke von der Wahlpropaganda-Technik"; in: SozialdemokratischerPressedienst v. 2.11.1956, S. 4. Heine 1952: 5. Heine brachte im SPD-Vorstand am 31.3.1953 folglich den Antrag ein, dass eine Mitgliedschaft in der AdK unvereinbar mit der SPD-Mitgliedschaft sei. SPD-Fraktion, Bd. 1,1, S. 374, Anm. 6. 1m Bundestagswahlkampf 1957 setzte allerdings auch Heine getamte, nicht offenkundig von Parteirednem durchgefiihrte Vortragsveranstaltungenals Wahlkampfmittel ein. Vgl. Appelius 1999: 292. Ausarbeitung Heines fur den Parteivorstand, November 1957; zit. nach Klotzbach 1996: 413, Anm. 284; vgl. auch Appelius 1999: 284. Vgl. zu dieser Konzentration auf die Parteimitglieder und kleinen Funktionare Klotzbach 1996: 414. Bereits Anfang 1952 begannen die Wahlvorbereitungen der SPD mit Tagungen auf Bezirksebene, urn die hauptamtlichen Funktionare einheitlich zu instruieren. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 15. Lenz, 27.3.1953, S. 601. Zu Angriffen auf Lenz: Heine 1952: 5.
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Interessen der Partei" zuruck und schloss beinahe resignierend: .Jvlehr Druck in der Einzelaktion wurde voraussetzen, daB wir eine zentrale Organisation und Fuhrung der Propaganda hatten, die wir nicht haben und die wir auch nicht bekommen werden.v" Wesentliche organisatorische und methodische Neuerungen blieben auf der Strecke. Schon im Marz 1952 wurde im Fraktionsvorstand auf neue Wahlstrategien gedrangt: Wehner forderte "neue Propaganda-Methoden", der Abgeordnete Freidhof kritisierte, "daB wir das Negative zu stark betonen und auch unsere Plakate mangelhaft seien". 76 Der auf dem Dortmunder Parteitag beschlossene .Propagandaausschuls" beim Parteivorstand, dem Werbepraktiker und Offentlichkeitsarbeiter von auBen zugefiihrt werden sollten, kam nicht zustande - man konnte ihn nicht bilden." Daneben war die Oberlastung Heines mit Presse- und Propagandaaufgaben offenkundig, so dass der einflussreiche SPD-Journalist Fritz Sanger dringend anriet, Presse und Propaganda organisatorisch im Parteivorstand zu trennen." 1m Ubrigen bediente sich auch die SPD im Wahlkarnpf durchaus geschickter Mittel und Methoden. Man hatte - ahnlich der Mobilwerbung - fur den Wahlkampf 11 Tonfilmwagen organisiert, die mit Filrnanlage, Projektor und Lautsprecher ausgestattet waren und vor allem in landlichen Gebieten eingesetzt wurden." AuBerdem tingelten fur die SPD zwei politische Kabaretts durch die Stadte, und mit der Aktion .Autohupe" ging ein Opel Baujahr 1924 auf Karnevalsfahrt durch mehrere deutsche Grolsstadte, urn Adenauer aufs Kom zu nehmen." FUr die Konzeption des SPD- Wahlkampfes musste es sich nachteilig auswirken, dass der Parteivorstand keine Zusammenarbeit mit einem Meinungsforschungsinstitut einging. Dies ist umso beachtlicher, als Aufforderungen dazu mehrfach an den Parteivorstand herangetragen worden waren'", so im November 1952 durch Fritz Erler in einem internen Rundschreiben an die Mitglieder des Parteivorstandes." Dabei hatte Erler angeregt, sich nicht mehr auf Stimmungsbilder tiber Parteimitglieder und Funktionare zu verlassen, denn .zur Vorbereitung des Bundestagswahlkampfes durfte es erforderlich sein, die Reaktion der Wahlerschaft auf Propagandamethoden und Argumente grundlicher zu erforschen, als das mit den uns bisher zuganglichen Methoden derDiskussion in offentlichen und Mitgliederversammlungen und der Auswertung von Zuschriften oder auch der Pressestimmen moglich ist." Stattdessen empfahl Erler, bei einem Institut .wissenschaftlich einwandfreie Querschnittsfragen" in Auftrag zu geben und diese vertraulich und ausschlieBlich fUr den Parteivorstand regelmabig anfertigen zu lassen. Als Institut schlug er Emnid vor, da dort "auch Genossen von uns tatig sind". Erler schloss mit den warnenden Worten, dass es ohne die Demoskopie .Jeicht geschehen" konne, dass .wir selbst mit guten Argumenten ins Hintertreffen geraten, wenn sie nicht richtig ankommen" und diese .fur die ganze Richtung unse-
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Heine an Sanger, 12.9.1955~ zit. nach Klotzbach 1996: S. 317, Anm. 57. SPD-Fraktion, Bd. 1,1, Nr. 136, 11.3.1952, S. 345. Wie Heine auf dem SPD-Parteitag 1954 eingestehen musste. Klotzbach 1996: 316 u. dort Anm. 56~ vgl. ebd.: 316f. Auch die Grundung des in Dortmund beschlossen zentralen Diskussionsorgans der Partei - die Zeitschrift Neue Gesellschaft- wurde bis Mitte 1954 verschleppt. Vgl. ebd.: 318. .Presse - das ist Politik ,an sich', Propaganda - das ist Politik in Verbindung mit Organisation und Absicht". Sanger an Heine, 2.8.1954; zit. nach ebd.: 318, Anm. 59. Die Qualitat der SPD-Redner lieBaber offenbar zu wunschen ubrig, Vgl. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 80. Die bekannten Kabarettisten Wolfgang MUller und Wolfgang NeuB traten mit ihrem Programm .Erste Geige gesucht" (23 Vorstellungen) auf, ebenso die Gruppe "Wa(h)lfische" (Programm: "Die Sache mit dem Haken"). Vgl. ebd.: 82. . Vgl. Heine an Erler, 8.1.1953; in: AdS NL Erler Bd. 66A. Erler an Ollenhauer, Mellies, Schmid, Schoettle, Heine (Durchschrift), 27.11.1952; in: AdS NL Erler Bd.66A.
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rer Wahlpropaganda nach meiner Oberzeugung groBe Bedeutung" besitze. Erlers Ansinnen lief jedoch ins Leere. Fritz Heine teilte diesem im Januar 1953 mit'", dass er zwar mit mehreren Instituten verhandelt und sich tiber die Konditionen einer Zusammenarbeit informiert habe, jedoch nach Aussprache im Parteivorstand entschieden worden sei, dass .wir nicht in der Lage sind, die Kosten aufzubringen". Die emsten Hinweise Erlers auf mogliche Nachteile im Wahlkampfbeantwortete Heine mit dem verbluffenden Argument, der Parteivorstand "war umso weniger bereit, die Vorschlage zu akzeptieren, als wir durch gewisse Verbindungen mit unseren Genossen in dem einen oder anderen Institut in der Lage sind, von gewissen Untersuchungen vertraulich zu partizipierenr'" Die gegebene Begrtindung ist durchaus aufschlussreich, denn die Vorstellung, es genuge fur die Analyse der offentlichen Meinung und die Ausgestaltung von Wahlstrategien gelegentlich von Umfrageergebnissen, die auBerhalb beauftragt werden, unter der Hand etwas ,abzubekommen', weist doch insgesamt auf ein gering ausgepragtes Verstandnis fur Grundlagen und Zweck der Oemoskopie hin." Allein die demoskopische Berichterstattung, die zum Verstandnis der nackten Zahlen notwendig ist, aber auch die Vorzuge einer fundierten Politikberatung, die eine enge Zusammenarbeit mit Oemoskopen ermoglicht, bleiben hier auBer Acht. Eben dies leistete fur COU vor allem das Allensbacher Institut. Es ist anzunehmen, dass die dem Parteivorstand von Parteigenossen zugeleiteten Umfragen'" recht punktuell und summarisch ausfielen und mit verkurzten inhaItlichen Analysen auskommen mussten. Oergestalt sind jedenfalls die Umfrageergebnisse, die der Okonom, Statistiker und Wahlforscher Professor Bruno Gleitze, langjahriges SPO-Mitglied und seit 1949 Abteilungsleiter im Deutschen Institut fur Wirtschaftsforschung (DIW), Berlin, an Heine vertraulich ubermittelte und mit knappen Bemerkungen versah."
Der Wahlkampfauftakt im April/Mai 1953 Oer Wahlkampfauftakt der CDU begann mit dem Hamburger Parteitag am 20. April 1953 und der Veroffentlichung des Hamburger Programms. Das Wahlprogramm und die Gestaltung des Parteitages bildeten mit der unmittelbar vorangegangenen USA-Reise Adenauers eine Einheit, so dass sich die Wahlkampfstrategie der COU in der Tat auf zwei klare Ziele
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Heine an Erler, 8.1.1953; in: AdS NL Erler Bd. 66A. Ebd. Hervorheb. v. Verf. Bezeichnenderweise stellte Heine im Marz 1954, nachdem ihm ein ItD-Bericht tiber wirtschaftspolitische Kampagnen in die Hande geraten war, erstaunt fest, dass .auch unsere gesamte Werbung laufend von den Gegnern getestet wird"; zit. nach Schindelbeck & ligen 1999: 94. Vgl. auch .Fragwurdige Fragestellungen"; in: Sozialdemokratische Pressedienst v. 17.8.1956, S. 5f. Davon, so Heine, habe der Parteivorstand bereits "im Laufe der Zeit Gebrauch gemacht" und ubersandte an Erler eine Mappe mit Umfrageergebnissen. Heine an Erler, 8.1.1953; in: AdS NL Erler Bd. 66A. Gleitze leitete im DIW, dem ja bis 1968 der CDU-Politiker Friedensburg vorstand, die Abteilung "DDR und ostliche Industrielander", bevor er 1954 zum Wirtschaftswissenschaftlichen Institut des DGB wechselte. Zu Gleitze: Beier 1983. 1m August 1952 ubersandte Gleitze an Heine einen zweiseitigen Auszug aus den EmnidInformationen Nr. 33/52 vom 16.8.1952 und kommentierte mit wenigen Zeilen, dass der "CDU-Auftrieb" von 1951 .wieder vollig zuruckgegangen" und die SPD-Position "stark gefestigt" sei. Die Emnid-Umfragen - ob diese vorn DIW stammten, geht aus dem Schreiben nicht hervor - befassten sich mit der Parteipraferenz (Januar 1951 bis Juli 1952) und waren nach Unentschlossenen bzw. Nichtwahlern aufgegliedert. Fur Juli 1952 wurde die Parteipraferenz nach Geschlecht, Alter und Beruf (8 Berufskategorien) ausgewiesen. Gleitze an Heine, 19.8.1952; in: AdS SPD-PV Sekretariat Fritz Heine 2IPVAJ 0000032. Vgl. fur weitere Umfragen, die Gleitze am 28.8.1953 Heine zuleitete, Appelius 1999: 277 u. dort Anm. 81. Eine Analyse der Wahlchancen hat Gleitze fur den SPD-Vorstand erst im Vorfeld der Bundestagswahl 1957 angefertigt; vgl. ebd.: 295.
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reduzieren lasst: die "errungenen Erfolge" vor allem "auf wirtschaftlichem und auBenpolitischen Gebiet" zu bewerben und die .Herausstellung der Personlichkeit des Kanzlers". 88 Einen wesentlichen Beitrag zum Wahlerfolg der CDU leistete die intensiv vorbereitete Amerika-Reise" des Bundeskanzlers yom 6. bis 19. April 1953. Dieser erste Staatsbesuch Adenauers in den USA verdeutlicht, wie mit intensiver Medienarbeit und PR-MaBnahmen Adenauers politische Starke, d.h. die auBenpolitischen Erfolge, mit der PersonalisierungsStrategie verknupft wurden. Zur politischen Vorbereitung der Reise hatte die Bundesregierung das Luxemburger Abkommen mit Israel noch im Marz 1953 durch den Bundestag gebracht, und mit der erfolgreichen dritten Lesung des EVG- und Deutschlandvertrages im Bundestag am 19. Marz 1953 konnten positive Vorleistungen mit auf die Reise genommen werden. Geschickt wurde als Leitmotiv der Adenauerschen Visite der tief empfundene Dank des deutschen Volkes gegenuber Amerika gewahlt. Naturlich ging es auch urn vorzeigbare politische Ergebnisse, die Adenauer im Hinblick auf die Bundestagswahl aus Amerika mitnehmen wollte, So erbrachten die politischen Gesprache am 7. April in Washington unter anderem die Zusicherung, dass Westdeutschland nach Abschluss der Ratifikationen des EVG-Vertrages die Souveranitat erhalten werde und die Hohen Kommissionen zu Botschaften umgewandelt wurden, Wichtiger noch war der Eindruck, der die Aufnahme Adenauers in den USA den Deutschen vermittelte - hierzu hatte der Kanzler im ubrigen einen Tross deutscher Joumalisten mitgenommen'" - und sich auf die Formel .Wir sind wieder wer" bringen lasst. Nachdem Adenauer am 7. April die Ehrendoktorwurde der Georgetown-Universitat verliehen worden war, stand am folgenden Tag eine eindrucksvolIe Kranzniederlegung auf dem Soldatenfriedhof in Arlington an, wahrend der die deutsche Flagge gehisst und die deutsche Nationalhymne gespielt wurde. Wie kein anderes Ereignis der Reise symbolisierte Arlington, wie weit der junge deutsche Weststaat auch im Verhaltnis zu dem einstigen Kriegsgegner Amerika unterdessen gekommen war. Begleitet wurden die Stationen der Reise von einern groBen Medieninteresse, das durch geschickte Pressetermine'" gefordert wurde und Adenauer die Gelegenheit bot, die fur ibn vorteilhaften Themen, so Aussohnung mit Israel und Frankreich, Fortsetzung der Westbindung und Europagedanke, in den Vordergrund zu rucken. Urn dem Besuch den notigen "human touch" zu verleihen, begleitete Adenauers recht medienscheue Tochter Lotte ihren Vater auf der Reise und hatte sich demzufolge in die von Lenz ausgetuftelte Kulisse einzupassen; in Deutschland kam eine eigene Broschure "Me in Vater - von Lotte Adenauer" zur Verteilung." Als uberaus nutzlich erwies sich auch die Initiative der Filmabteilung des Bundespresseamtes, das vorzugliche Bildmaterial von der Amerikareise in einem Film zu verwerten. Der von der Deutsche Reportage-Film hergestelIte, wiederum aus dem Titel 300 bezahlte Film .Ein Mann wirbt fUr sein Volk" wurde durch die Neue Deutsche Wochenschau vertrieben, die nach auBen privat und unabhangig etikettiert war, sich jedoch im Besitz der Bundesregierung befand. Nachdem bereits Mitte Juni die Rohfassung des Films fertiggestellt und neben der ursprunglichen Langfassung auch Kurzfassungen produziert worden waren, kam der Film in den Wahlkampfeinsatz und fand beim Publikum groBen Anklang. Als es im August 1953 sogar gelang, den Film in den normalen Kinoverleih zu bringen,
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So der Organisationsleiter der Partei Peter Mullenbach; zit. nach Hirsch-Weber & Schutz 1957: 34. Vgl. auch zurn folgenden Hoffmann 1995: 329-361 und den Beitrag von Schroder in diesern Band. Wobei die Reisekosten aus dern Titel 300 des Presseamtes bestritten werden konnten. Vgl. ebd.: 338f.. Unter anderern Adenauers Auftritt irn National Press Club und vor dern Council on Foreign Affairs. Ebd.: 334. Vgl. Lenz, 1.4.1953, S. 604f. u. Zerbe 2000: 153.
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konnten damit schatzungsweise zwei Millionen Zuschauer erreicht werden." Auch in landlichen Gegenden fand der Film tiber die mit Filmprojektoren ausgerusteten Lautsprecherwagen der Mobilwerbung weite Verbreitung." Gerade die Sequenzen aus Arlington erwiesen sich als wirkungsvoIl, ebenso wie das personliche Bildmaterial von Adenauer und seiner Tochter Lotte. Erganzend wurde im Wahlkampf das Plakat .Er knupfte die Faden zur freien Welt" herausgebracht, das Adenauer, lachelnd den Hut zum GruB erhebend, vor einer schematischen Weltkarte zeigte." Als Adenauer am 19. April in Hamburg eintraf, urn dart am Folgetag auf dem CDUBundesparteitag zu sprechen, wurde ihm ein triumphaler Empfang bereitet, den wiederum Lenz arrangiert hatte'" und der das phanornenale publizistische Echo der Reise abrundete. Hamburg war somit eine ganz auf den mit Ehren uberhauften Staatsmann Adenauer zugeschnittene Inszenierung." Eines der Hauptplakate der CDU - "Deutschland wahlt Adenauer" - war dementsprechend ganz von dem ernsten, staatsmannischen Bild Adenauers eingenornmen." Im Ubrigen geizte der Parteitag mit Angriffen auf die SPD - das passte auch nicht zu dem Nimbus des gerade von der USA-Reise zuruckgekehrten Staatsmannes. Was die Programmatik fur den Wahlauftakt auf dem Hamburger Parteitag am 20. April 1953 anbelangte, waren die strategischen und inhaltlichen Gesichtspunkte definiert. Die Spitzengremien der CDU waren seit Januar 1953 mit der Ausgestaltung des Programms befasst, und Adenauer drangte darauf, "eine Art Wahlschlager" oder so etwas wie die .Zehn Gebote" zu erstellen." In der Tat konzentrierte sich das Programm auf die Pluspunkte der bisherigen Regierungsarbeit. Eindeutig dominierte die Auj3enpolitik: Es wurde mit den Erfolgen der Vergangenheit geworben und zum Thema Wiedervereinigung Adenauers Formel der Politik der Starke bekraftigt; Verhandlungen mit der UdSSR tiber die Deutsche Frage - dies gewann im Wahlkampfnoch Bedeutung - sollten erst nach Inkrafttreten der EVG ins Auge gefasst werden. 100 Der Ertrag der Reise und des Parteitages stellte sich umgehend durch den sprunghaften Anstieg von Adenauers Popularitat ein: Im Juni 1953 hielten ganze 51 % der Bundesburger Adenauer "ZUT Zeit fur den fahigsten deutschen Politiker" - bei CDUAnhangern sogar 810/0. Ollenhauer hingegen rangierte mit 6% weit abgeschlagen und beachtlicherweise hielten sogar SPD-Anhanger zu 30% den politischen Konkurrenten Adenauer fur den fahigsten Politiker und nUT 250/0 verliehen dem SPD-Kandidaten dieses AttribUt.IOI Das Einverstandnis mit der Politik Adenauers stieg von 41 % im Marz auf 48% bzw. 49% von April bis Juni (Abbildung 1). Mit dem Wahlkongress der SPD in Frankfurt am 10. Mai 1953 begann die SPD ihre Wahlkampagne. Obschon der Frankfurter Kongress propagandistisch eindrucksvoll insze-
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Vgl. zu dem Film Hoffmann 1995: 353 u. Anm. 110; 360 u. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 87. Zerbe 2000: 150. Das Plakat in: Langgut 1995: 91. Das dort verwendete Foto Adenauers stammte von der Amerika-Reise. Lenz hatte mehrere Hundert ,spontane' Anhanger und 120 Joumalisten aufgetrieben, Fackeln an die Bevolkerung verteilen lassen und die Lautsprecherwagen der Mobilwerbung eingesetzt. Vgl, Lenz, 19.4.1953, S. 613. Durch die Adenauer als "geachtet und verehrt von den Machtigen der freien Welt, der Verantwortliche fur den inneren und auberen Aufstieg der Nation" herausgestellt werden sollte. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 33. In Hamburg wurde erstmals das neue Parteiemblem (Adler und Kreuz) verwendet und konsequent in den folgenden GroBveranstaltungen gezeigt. Vgl. ebd.: 84f. In: Langguth 1995: 89. Protokolle Bd. 1, Nr. 21, 20.4.1953, S. 490f. Vgl. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 30-32 u. Protokolle Bd. 1, Nr. 18,26.1.1953, S. 397. Schrnidtchen 1965: Tab. 11, S. 52. Auf jene mangelnde Unterstutzung unter den SPD-Anhfingem fur 011enhauer hat Globke im CDU-Bundesvorstand hingewiesen: Protokolle Bd. 1, NT. 24,15.7.1953, S. 591.
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niert wurde - mit aufwendigem Buhnenaufbau und rotem Fahnenmeerl'" - und sich Erich Ollenhauer noch im Januar 1953 fur ein konstruktives und positives Programm ausgesprochen hatte'", dominierte weiterhin der Negativismus. Immerhin trat die SPD in Frankfurt mit einem Schlagwortkatalog als Wahlprogramm an die Offentlichkeit. Diese ,,12 Thesen,,104 stellten in These und Antithese die Forderungen der SPD der Regierungspolitik gegenuber und beruhten inhaltlich auf dem Dortmunder Aktionsprogramm, so die Haltung zur Westbindung (Schumachers Formel "Europa der Freien und Gleichen") und zur Wirtschaftspolitik (soziale Sicherheit, .Verbindung von Planung und Wettbewerb", "Grundstoffindustrie in Gemeineigentum", .rricht Freibeutertum und Kartelldiktatur"). Strategisch setzte die SPD auf die Innenpolitik. ]05 Ollenhauer meinte im Juli vor dem Parteiausschuss der SPD, er sei davon "liberzeugt", dass am Wahltag "fUr Millionen von Wahlern in Deutschland die sehr real en Probleme ihres taglichen Daseins fur ihre Entscheidung eine grofsere Rolle spielen als die sogenannten groBen auBenpolitischen Fragen." 106 Auffallig ist, dass keiner der 12 Punkte eine klare Stellungnahme zur Wiederbewaffnung'l" wagte, die auch in den Kongressreden nur marginal bedacht wurde und dass sich auch das Thema Wiedervereinigung'I" in Allgerneinplatzen bewegte. Zwar gelang der SPD mit den ,,12 Thesen" endlich eine Verknappung und Reduktion ihrer Programmatik''", jedoch blieb die ausgesprochene Neigung zur Textlastigkeit bestehen, wenn das zweifarbige Plakat .Das wollen wir Sozialdemokraten" die Wahlpunkte in aller Lange auffuhrte.i'" Die" 12 Thesen" sollten vor allem das Versagen der Regierung aufzeigen - eine Strategie, die "nur Erfolg haben" konnte, .wenn ein groBer Teil der Offentlichkeit mit den bestehenden Verhaltnissen unzufrieden war."] 1) Dies war eindeutig eine Fehlkalkulation )]2, und nun rachte sich die unterbliebene enge Zusammenarbeit mit einem Meinungsforschungsinstitut, denn die Umfrageergebnisse belegten die gestiegene Akzeptanz der CDU-Wirtschaftspolitik.i" Schon Anfang 1953 war man sich im CDU- Vorstand einig, dass wirtschaftspolitisch ein "positives Gegenprogramm" zur SPD unter dem Motto .Eigentum fur die breiten Schichten des Volkes" - vorsorglich hatte sich die CDU mit Steuersenkungen fur Tabak,
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Vgl. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 18f. Vgl. Appelius 1999:275. Abgedr. in: ProtokolleBd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 595. Neun der zwolf Wahlpunkte betrafen innenpolitische Themen. Rede Ollenhauers vor dem Parteiausschuss, 30.7.1953; zit. nach Klotzbach 1996:283. Punkt 1 lautete lediglich "Friede und Sicherheit durch Verstandigung- nicht Kriegsgefahrdurch Wettrusten", Punkt 3: .Einheit in Freiheit fur Deutschland- kein Verzicht aufOstgebiete und Saar". Die Begrundung fur die 12 Thesen in der Parteipresse war durchaus aufschlussreich: "Es ist der SPD haufig vorgeworfenworden, sie habe nicht oft und klar genug gesagt, was sie wolle, zumindest nicht in einer hinreichend einpragsamen,verdichteten Form." Art. .Auftakt fur Frankfurt"; in: Sozialdemokratischer Pressedienst v. 6.5.1953, 1f., hier S. I. Vgl. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 78 u. fur ein weiteres Bsp. textlastigerWahlkampfmittel ebd.: 79. Ebd.: 21. Vgl. ebd.: 20. Die im Ubrigen im Fraktionsvorstand der SPD nicht unentdeckt geblieben war. So auberte der SPDAbgeordnete Wilhelm Gulich, die Ursache dafur, dass die SPD-Wahlwerbungkeinen Erfolg zeige, liege daran, daB "das Volk die Adenauersche Politik als Erfolg auffasse. Adenauer macht uns unglaubwurdig." SPDFraktion, Bd. 1,1, NT. 136, 11.3.1952,S. 345. Beispielsweise lehnten im August 1953 62% der Befragten die Aussage ab, Westdeutschland sei "fOr die Reichen ein Paradies und fur die Annen eine Holle" (im August 1952 waren es noch 50%). Jahrbuch Bd. 1: S. 228. Danach gefragt, ob es den Befragten .Jieute besser als vor einern Jahr oder schlechter" gehe bzw. ob .kein Unterschied" bestehe, sank der Anteil der Unzufriedenen von 1951 bis 1953 drastisch von 57% auf 19%, wahrend im Wahljahr 1953 schon 24% der Befragten angaben, es gehe ihnen besser und 57% meinten, es gebe keinen Unterschiedzum Vorjahr. IfD-Umfrage in: Schmidtchen 1965:44.
Kaffee und Tee ein Wahlgeschenk gernacht - entwickelt werden musse, da "hier die groBte propagandistische Gefahr von Seiten der SPD droht.,,114 Aus diesem Grunde hatten an Adenauers Wiederwahl rege interessierte Unternehmerkreise im Herbst 1952 den Verein Die Waage gegrtindet, der vor allem mit Zeitungsinseraten, aber auch Plakaten und Filmen, fur die Soziale Marktwirtschaft warb. Urn SPD-Wahler ins eigene Lager abzuziehen, inserierte Die Waage - sehr zurn Verdruss von Heine - gezielt in der SPD-nahen Presse; noch kurz vor dern Wahltag gluckte sogar ein ganzseitiges Inserat mit dern Bild Erhards in der SPD-nahen Neuen Rhein-Zeitung (Essen). Inhaltlicher Schwerpunkt der seit Juni 1953 rnassiv ablaufenden Kampagnen war es stets, die Soziale Marktwirtschaft - unter dem Leit. bild des Wohlstandes fur aIle - der SPD-"Zwangswirtschaft" entgegenzustellen - eben in diese Kerbe schlug auch dasCDU-Wahlplakat "SPD-Prograrnrn [-] CDU-Leistung", das Markt- und Planwirtschaft kontrastierte.!" Die SPD hingegen hatte schon lange argumentiert, dass durch die Erhardtsche Wirtschaftspolitik die Bundesrepublik auf dem Weg in eine Wirtschaftsdiktatur sei - in Frankfurt hatte Ollenhauer gar den Vergleich zurn Freikorps Ehrhardt gezogen. In diese Richtung zielte auch der DGB Ende Juli, der mit dem Wahlaufruf "Wahlt einen besseren Bundestag!" mit Hinweis auf soziale Missstande offen Partei ergriff. Zudem wurde der Adenauer Regierung Autoritarisrnus und Antiparlamentarismus angelastet, sie sei dabei, ein "reaktionar-klerikales DollfuB-Regime" zu errichten.l'" Ebenso wie die CDU setzte auch die SPD auf Personalisierung. Es galt, den Kanzlerkandidaten Ollenhauer aufzubauen. Jedoch versuchte die Partei vom Charisma des im August 1952 verstorbenen Kurt Schumacher zu profitieren, der nicht zuletzt als glanzender Debattenredner just jene Attribute aufwies, die seinem "SchlUsselbewahrer,,117 Ollenhauer fehlten. Zwar war die Wiederbelebung Schumachers im Wahlkampf verstandlich, wollte man das Reservoir seiner Beliebtheit aktivieren, doch musste der Eindruck der Ruckwartsgewandtheit und Profillosigkeit Ollenhauers entstehen, wenn ein SPD-Plakat forderte: "Kurt Schumacher mahnt: Wahlt Sozialdemokraten." 118 Ebenso durfte es kaum einen zukunftsweisenden Eindruck gemacht haben, wenn der szenische Hohepunkt des SPD-Films "J ahre der Entscheidung" 119 das Begrabnis Kurt Schumachers bildete. Andererseits konnte die SPD nicht reussieren, wenn sie mit der fruhzeitig gefundenen'j" Wahlparole "Statt Adenauer Ollenhauer" personalisierte. Mit diesern Motto waren die Hauptplakate der SPD uberschrieben, die nach dem Frankfurter Kongress herauskamen und deren zentrales Motiv das BiId Ollenhauers war. 121 Ob die personliche Werbung mit dem Parteivorsitzenden 01-
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AuBerung Wuerrnelings in: Protokolle Bd. 1, Nr. 18, 26.1.1953, S. 395. Zu den aufgrund demoskopischer Erhebungen gezielt gewahlten Steuersenkungen Schmidtchen 1965: 160. Vgl. zur Waage Schindelbeck & lIgen 1999: passim. Auch fur Die Waage fertigte das ltD Allensbach Wirkungstests (vgl. ebd.: 72-76), darunter fur die bekannte Dialogserie der Figuren Fritz und Otto, die in Tageszeitungen und als Kinofilm gebracht wurde. Vgl. zu den Kampagnen 1953 ebd.: 109-129 u. zur Reaktion der SPD Appelius 1999: 371f.~ das Zitat .Zwangswirtschaft" aus einer Waage-Anzeige v. 29.8.1953 (zit. nach Hirsch-Weber & Schutz 1957: 94)~ das CDU-Plakat ist abgedr. in: Langguth 1995: 97. Vgl. Klotzbach 1996: 283f.; Hirsch-Weber & Schutz 1957: 67f.; Heine 1953: 1 ("reaktionaT"). Art. .Vom Arbeiterjungen zum Volksfuhrer. Der Werdegang Erich Ollenhauers", in: Sozialdemokratischer Pressedienst v. 27.9.1952, S. 2b. Es wurde ganz von dem Bild Schumachers ausgefullt. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 78 Dazu: ebd.: 81. 1mJanuar 1953. Vgl. Appelius 1999: 274 u. dort Anm 59. Der Schriftzug .Adenauer" war in krakeliger Schreibschrift abgebildet und sollte Adenauer als alt und senil darstellen, wirkte aber offenbar kontraproduktiv, denn nachtraglich wurde eine zweite Plakatversion mit steiler Schrift und einem retuschierten Ollenhauer-Bild herausgebracht. Das Plakat in der ersten Fassung ist abgedr. bei Seebacher-Brandt 1984: 300. Vgl. zu dem Plakat Hirsch-Weber & Schutz 1957: 21 u. 78.
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lenhauer uberhaupt sinnvoll war, darf dahingestellt bleiben - die Vorstellung eines Schattenkabinetts ware unter Umstanden gunstiger gewesen. Jedoch konnte die ausdruckliche, wiederum negativ konnotierte Bezugnahme auf Adenauer in Anbetracht von dessen hoher 122 Akzeptanz unter den Wahlern (Abbildung 1) nur nachteilig wirken.
Einfliisse der Au6en- und Deutschlandpolitik (Mai bis Juli 1953) Das Thema Wiedervereinigung gehore, so Otto Lenz, zu den "neuralgischsten Punkte[n]" des CDU-Wahlkampfes und J. B. Gradl befiirchtete im Januar 1953, die SPD werde der CDU "entgegenschreien: Eure Politik steht der Wiedervereinigung im Wege".123 Tatsachlich gewann das Thema kurz nach dem Frankfurter WahlkongreB der SPD - wo ja die innenpolitischen Themen dominierten - einen entscheidenden Auftrieb. Ursache dessen war der britische Premier Churchill, denn dieser hatte am 11. Mai vor dem Unterhaus einen Viermachtegipfel mit der Sowjetunion angeregt. Ein solcher Schritt schien in der nunmehr veranderten auBenpolitischen Lage gangbar: 1m Marz des Jahres war Stalin gestorben und in das Machtvakuum, das er hinterlieB, war ein Triumvirat aus Malenkow, Molotow und Berija geruckt, auf deren Entwicklung die westliche Welt gespannt blickte. SchlieBlich begannen im April 1953 die Waffenstillstandsverhandlungen fur den koreanischen Kriegsschauplatz. Churchills Vorschlag sah eine Konferenz ohne feste Tagesordnung vor und schloss sogar die Idee eines neutralisierten Deutschlands nicht aus. Fur Adenauer bedeutete der Vorschlag in zweifacher Hinsicht ein politisches Desaster. Einerseits konnte er doch eine Verstandigung der Siegermachte des Weltkrieges auf Deutschlands Kosten hervorbringen und die Vollendung der Westbindung torpedieren, und andererseits war Adenauer in eine prekare innenpolitische Lage geraten. Denn die Konferenzplanungen waren dazu geeignet, der SPD-Opposition, neutralistischen Kreisen und ebenso der DDR-Propaganda eine vorzugliche Angriffsflache auf die Bundesregierung zu bieten: Die Ablehnung oder Verschleppung einer Viererkonferenz hatte den ohnehin stets erhobenen Vorwurf, die Bundesregierung vertiefe die Spaltung Deutschlands, an konkretem politischen Handeln messen konnen. Prompt hatte sich die SPD auf die beschleunigte Abhaltung der Viererkonferenz verlegt.V" Hinzu kam, dass sich bei den Westdeutschen hoffnungsvolle Erwartungen auf eine intemationale Entspannung einstellten. 125 Doch mitten in die Konferenzplanungen platzte der Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953. Seitdem die SED-Flihrung nach dem Scheitem der Stalin-Note yom Marz 1952 den .Aufbau des Sozialismus" mit drastischen Methoden vorangetrieben hatte, brodelten die sozialen Missstande und entluden sich am 16. Juni in Berlin. Wie ein Flachenbrand weiteten sich seit dem 17. Juni von Berlin Streiks und Demonstrationen auf die ganze DDR aus, so dass die neue sowjetische Fuhrung den Aufstand blutig niederschlagen lieB. Damit war der Bundesregierung das gewichtige Argument an die Hand gegeben, dass mit einer sol-
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Ein Kritiker des Plakates meinte auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1954 interessanterweise, dass damit "tiberhaupt keine Resonanz bei der Bevolkerung zu erzielen gewesen" sei, denn wer "die modeme Form der Propaganda kennt, weiB, daBauf dem kommerziellen Gebiet keiner die Ware des anderen irgendwie in seiner Werbung anpreist." Zit. nach Appelius 1999: 284. Protokolle Bd. I, Nr. 24, 15.7.1953, S. 596 ("neuralgischen"); ebd. Nr. 18,26.1.1953, S. 396 ("entgegenschreien"). Vgl. Lenz, 1.6.1953, S. 635. Und hierzu am 9.6. einen Antrag in den Bundestag eingebracht. Vgl. SPD-Fraktion, Bd. 1,1, S. 422, Anm. 1. Vgl. Jahrbuch Bd. 1: S. 335.
chen .Rauberbande" nicht zu verhandeln sei. 126 Noch am 17. Juni legte Adenauer vor dem Bundestag eine Erklarung tiber die Voraussetzungen freier gesamtdeutscher Wahlen ab und bekraftigte die Formel der Einheit in Freiheit. Eben diese fasste er, als er am 23. Juni den Trauerfeierlichkeiten fur die Opfer des Aufstandes in Berlin beiwohnte, in einer emotionalen Rede in die Worte l27: .Das ganze deutsche Yolk hinter dem Eisernen Vorhang ruft uns zu, seiner nicht zu vergessen, und wir schworen in dieser feierlichen Stunde: Wir werden sie nicht vergessen. Wir werden nicht ruhen und wir werden nicht rasten - diesen Schwur lege ich ab fur das gesamte deutsche Yolk - bis auch sie wieder Freiheit haben, bis ganz Deutschland wieder vereint ist in Frieden und Freiheit." Die Situation war dazu geeignet, sich des ,Spalter-Images' zu entledigen: Aus diesem Passus der Adenauer-Rede ist ein Wahlplakat entstanden, das eine uberdimensionale Hand mit zum Schwur erhobenen Fingem zeigte; und ein anderes Plakat bildete zwei ausgemergelte Menschen ab - es sollten Ostdeutsche sein -, die mahnten: .Denkt an uns. Wahlt fur uns CDU".128 Geblieben waren die Viererkonferenz-Planungen. Von amerikanischer Seite - seit Anfang 1953 amtierte die neue Regierung unter dem Republikaner Eisenhower mit seinem AuBenminister Dulles - registrierte man besorgt, dass das Thema dazu geeignet war, der SPD-Opposition in die Hande zu spielen und Adenauers Wiederwahl zu gefahrden, so dass Adenauers dringendes Anliegen, die Konferenz auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu vertagen, tatkraftige Unterstutzung fand. 129 Diese Meinung setzte sich auch im britischen Foreign Office durch, wo man tiber Churchills Initiative ohnehin wenig glucklich war. 130 Namentlich die teils offentlich, teils privat geauberte Konzessionsbereitschaft sozialdemokratischer Politiker gegenuber der Sowjetunion 131 veranlasste insbesondere die Amerikaner, fortan zugunsten Adenauers direkt in den deutschen Wahlkampf einzugreifen. Doch etwas tiber eine Woche nach dem Aufstand des 17. Juni war es teils Zufall, teils geschicktes Taktieren, urn Adenauer aus der misslichen Situation zu befreien, denn Churchill - der Motor der Konferenz-Plane - hatte einen Schlaganfall erlitten, und Adenauer reagierte prompt: Am 10./11. Juli sandte er Herbert Blankenhorn nach Washington und lief nun seinerseits auf eine Viererkonferenz drangen. Mit diesem politischen Coup ubernahm er kurzerhand die Forderung der SPD 132 und besetzte somit die Themen Wiedervereinigung und Verhand-
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Adenauer, Teegesprache 1950-1954, Nr. 33, 11.7.1952, S. 329. Nicht zuletzt griff die Argumentation im USHochkommissariat. Vgl. Conant an Dulles, 25.6.1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII,!, NT. 201, S. 479. Zit. nach Hirsch-Weber & Schutz 1957: S. 143. Dabei war es vor allem Lenz zu verdanken (vgl. Zerbe 2000: 142), dass der Kanzler nach Berlin kam, was dieser eigentlich nicht vorhatte und was in dieser emotionalen Situation (vgl. Jahrbuch Bd. 1: 386) einen kapitalen Fehler bedeutet harte - Ollenhauer jedenfalls eilte am 17. Juni nach Berlin. Zum ersten Plakat: Hirsch-Weber & Schutz 1957: 85. Das zweite Plakat in: Langguth 1995: 95. "As you know, he [Adenauer] does not in the least desire a 4-Power conference before the German elections. Indeed, nothing would be less helpful to him in the coming campaign and more helpful to the opposition." Conant an Dulles, 25.6.1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII, 1, Nr. 201, S. 479. Vgl. ebd.: NT. 265, S. 626. So argumentierte Lord Salisbury, der derzeit fur AuBenminister Eden amtierte, England sei .sehr daran interessiert", dass Adenauer .siegt", Doch die .Moglichkeit von Viermachteverhandlungen" oder eines .neuen sowjetischen VorstoBes" in der Deutschen Frage "mit der elektrisierenden Wirkung des Aufstandes" hatten "ein gefahrliches Element von Unsicherheit in das deutsche Wahlgeschehen gebracht". Da die SPD .Jhren Wahlkampf gegen Adenauer mit einem Programm fur baldige Viermachteverhandlungen" fuhre, sei "es ganz wesentlich", dass diese .solange verschoben werden, bis die Wahlen in Westdeutschland stattgefunden haben." Memorandum Salisburys, 3. Juli 1953, auszugsw. abgedr, in: Friedel 2006: Nr. 70,147-149, hier 148f. VgJ. Conant an Dulles, 25. Juni 1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII,I, NT. 201, S. 479. "But there can be no doubt that the Chancellor has scored a considerable political advantage and for the time being at least has fairly well spiked the Opposition's claim that he was not doing all he could to bring about
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lungen mit Russland. Doch Blankenhorn war instruiert, entgegen der ursprunglichen Idee Churchills, eine von langer Hand vorzubereitende Konferenz mit fester Tagesordnung zu bewirken. Die von diesem Coup ziemlich uberrumpelten Amerikaner, Briten und Franzosen stimmten schlieBlich zu: Per Note vom 15. Juli luden sie die UdSSR zu einer Viererkonferenz fiber Deutschland ein. Adenauer konnte nun zufrieden feststellen, durch seinen KonferenzvorstoB und das westliche Angebot sei die Argumentation der SPD in der Frage der Wiedervereinigung "glanzend widerlegtv." Das nun einsetzende Tauziehen zwischen den Westmachten und der UdSSR zog sich so lange hin, dass die Konferenz erst Anfang 1954 zustande kommen konnte, und dies lediglich als AuBenministerkonferenz.
Die heille Wahlkampfphase ab Ende Juli 1953 Die auBen- und deutschlandpolitischen Ereignisse uberlagerten ganz den Wahlkampf, der seit Ende Juli in die heiBe Phase eingetreten war. Adenauer eroffnete am 26. Juli die Wahlkampfveranstaltungen der CDU 134 , nachdem ihm kurz zuvor Prdsident Eisenhower noch ein Wahlgeschenk in Form eines an ihn gerichteten Briefes gemacht hatte, der eine Bestatigung fur die Politik der Starke gegenuber der Sowjetunion war und naturlich groB herausgestellt wurde. 135 Ollenhauer begann am 8. August seine Wahltoumee, die jetzt ganz unter .dem Motto "rur Deutschlands Einheit - gegen Adenauers Scheineuropa'i':" stand. Damit hatte die SPD in der letzten Wahlkampfphase - entgegen dem Wahlprogramm des Frankfurter Kongresses im Mai - doch noch kurzfristig ihre Strategie gewechselt und ihren Schwerpunkt zur AuBen- und Deutschlandpolitik verlagert. Indem sich die SPD nun doch auf das von Adenauer dominierte Terrain begab, fugte sie sich letztlich den Ereignissen, denn es wurden sich doch "aus Faktoren heraus, die wir nicht in der Hand haben", so 01lenhauer Ende Juli, "die auBenpolitischen Probleme sehr stark sich in den Vordergrund des offentlichen Interesses rucken".137 Die SPD blieb also bei ihrer Forderung nach Abhaltung der Viererkonferenz!", obwohl die CDU das Thema nun selbst besetzt hatte. Es war ein recht kraftloses Argument, wie Staatssekretar Lenz feststellte, dass die SPD darauf pochte, sie habe in der Frage der Viererkonferenz Adenauer zu seiner "Sinnesanderung" gezwungen. 139 Diesem Tenor folgte ein SPD-Plakat, das Fotografien vom Arbeiteraufstand des 17. Juni zeigte und uberschrieben war mit "Die SPD hat den Weg zur Wiedervereinigung gezeigt! Die SPD ist im Kampf urn die deutsche Einheit die zuverlassigste Kraft" 140. Eben diese Argumentation, die die SPD mit weiteren Wahlplakaten fortsetzte, drang nicht durch. 1m August 1953 waren 30% der Befragten der Meinung, dass eher eine CDU-Regierung
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German unification. I think everyone must admire the skillful way in which he has turned the flank of the SPD." Conant an Dulles, 17. Juli 1953; in: ebd.: Nr. 205, S. 487. - Vgl. SPD-Fraktion, Bd. 1,1, S. 424f. Protokolle Bd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 596. Vgl. Blankenhorn, IS. Juni 1953, S. 155. In Versammlungen in Koln und Dortmund. Vgl. Protokolle Bd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 621, Anm. 86. Auszuge bei Hirsch-Weber & Schutz 1957: 130. Vgl. Conant an Department of State, 27. Juli 1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII,l, Nr. 208, S. 495. Klotzbach 1996: 284. Rede Ollenhauers vor dem Parteiausschuss, 30.7.1953; zit. ebd.: S. 283. So Ollenhauer am 28. Juli: Verhandlungen uber die Wiedervereinigung mussten .Thema Nr. 1 bleiben" und seien .noch nie so durch die internationale Lage gerechtfertigt gewesen wie gerade jetzt"; SPD-Fraktion, Bd. 1,1, S. 426f., Anm. 2. 1m US-Hochkommissariat bezweifelte man, ob "this type of electioneering will prove very effective in view of the Chancellor's present public stand for four-power talks (the phrase has become a magic word in Germany)." Conant an Dulles, 17.7.1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII,l, Nr. 205, S. 488. Protokol1e Bd. 1, Nr. 24,15.7.1953, S. 594. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 78.
"die Wiedervereinigung mit der Ostzone erreichen" konne als eine SPD-Regierung (21 % ) , womit das Image der SPD als Partei der Wiedervereinigung zumindest deutlich brockelte. 141 Zu sehr uberlagerte der Juni-Aufstand in der DDR das Thema Wiedervereinigung bzw. Viererkonferenz. Bezeichnenderweise hatte eine Umfrage im Juli 1953 ergeben, dass auf die Frage .Wenn Sie sich entscheiden mtiBten: Was ist Ihnen zunachst wichtiger Sicherheit vor den Russen oder die Einheit Deutschlands?" ganze 52% der Befragten die Sicherheit bevorzugten und 36% die Einheit. 142 In dieser Lage waren Konzessionen gegentiber Russland, zumindest, wenn sie den Bestand Westdeutschlands gefahrden konnten, undenkbar.l'" Daher verfehlte auch die neue Deutschland-Note der UdSSR vom 15. August ihre Wirkung, in der die Einberufung einer provisorischen gesamtdeutschen Regierung vorgeschlagen wurde.l" Die Westdeutschen praferierten uberwiegend Adenauers Formel, dass .zuerst freie Wahlen'i" abgehalten werden mussten. Auch Ollenhauer lehnte den sowjetischen Vorschlag ab. 146 Zwar begruliten es im Juli 1953 die Westdeutschen sehr (75%), wenn "Amerika, und RuBland, Frankreich und England zu einer Konferenz tiber Deutschland zusammenkommen wurden", jedoch waren die Aussichten, die der Realisierbarkeit der Wiedervereinigung zugemessen wurden, bei dem tiefsitzenden Misstrauen gegenuber RuBland ernuchtemd gering.!" Der amerikanische Hohe Kommissar Conant berichtete demzufolge sehr zutreffend nach Washington, dass angesichts des 17. Juni die Westdeutschen nunmehr verstehen, dass die Russen aus der DDR nicht .Jterausgeredet" werden konnen.!" Bei einem solchen Stimmungsumschwung vor dem Hintergrund der Ereignisse in der DDR musste die konstante Strategie der CDU, die Notwendigkeit der Westbindung und Wiederbewaffnung durch die kommunistische Bedrohung zu rechtfertigen, auf fruchtbaren Boden fallen. Die im Fruhjahr 1953 konzipierte Plakatserie .Er ist bewaffnet - Wollt ihr ihn hier haben?" zeigte einen Rotarmisten vor verschiedenen deutschen Wahrzeichen: dem Kolner Dom, dem Rathaus in Bremen und der Munchener Liebfrauenkirche.l" Zwar blieb die ablehnende Haltung der Westdeutschen zur EVa bestehen, doch zwischen Marz und
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Jahrbuch Bd. 1: 316. Im April 1952, also kurz nach dem Scheitern der Stalin-Note, meinten etwa doppelt so viele Befragte (27%), dass "die Wiedervereinigung Deutschlands" der SPD .Jm Grunde wichtiger" sei als der CDU (14%; keinen Unterschied zwischen beiden sahen 35% der Befragten). Ebd. Bd. 3: 485. Ebd. Bd. 3: 484. In diesem Sinne folgerte Adenauer, die .Russen haben uns in dieser ganzen Sache sehr geholfen durch alles das, was sich ereignet hat." Protokolle Bd. 1, Nr. 24, 15.7.1953, S. 597 So erteilten im Juli 1953 die Westdeutschen der Neutralisierung Deutschlands eine deutliche Absage (42% dagegen, 29% dafur; Jahrbuch Bd. 1: 318), wahrend demgegenuber im August 1953 41% der Befragten meinten, man solle der UdSSR fur die Wiedervereinigung .xlrei Milliarden Mark Reparationen" anbieten (gegen 34 % Ablehnende). Ebd. Bd. 1: 317. Vg1. zum Einfluss bedrohungssteigernder und -mildernder Ereignisse auf die .Verhandlungsbereitschaft' der Westdeutschen Friedel [LV.]. Den sowjetischen Vorschlag hielten im August 1953 mnd 61% derjenigen Befragten, die von dem Vorschlag gehort hatten (650/0), flir .Jeere Worte". Jahrbuch Bd. 1: 318f. Hierfur sprachen sich im August 1953 670/0 der Befragten aus, wahrend nur 11% meinten, es solie umgehend eine .beratende Versammlung" ost- und westdeutscher Delegierter einberufen werden. Ebd. Bd. 1: 320. Vgl. Lenz, 18.8.1953, S. 683. Jahrbuch Bd. 1: 337. Vgl. ebd. Bd. 1: 320 u. 334. "My analysis of German opinion today is that the most intelligent Germans are torn between their desire for re-unification and their realization that, barring miracles, the Russians are not going ,to be talked out of their Occupation status." Conant an Dulles, 25.6.1953; in: FRUS 1952-1954, Bd. VII,l, Nr. 201, S. 480. Zu der Plakatserie: Lenz, 3.2.1953, S. 549 u. Protokolle Bd. 1, Nr. 19, 11.3.1953, S. 438 u. 439, Anm. 29. Das Plakat ist abgedr. in: Langguth 1995: 94. Zur Propaganda fur den Wehrbeitrag: Friedel 2003.
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August 1953 fiel der Anteil ihrer Gegner urn zehn Prozentpunkte von 43% auf 33%.150 Es fiel nun leichter, das "Janusgesicht der deutschen Sozialdemokratie" 151 in der Wehrfrage anzugreifen und ihr die Verkennung der kommunistischen Bedrohung vorzuwerfen. Es war ohnehin eine langfristige Strategie Adenauers und seiner Partei, die SPD in die Nahe des Kommunismus zu rucken und zu argumentieren, dass eine sozialdemokratisch gefuhrte Bundesregierung letztlich Westdeutschland den Russen in die Hande treiben wurde: Zu den bekanntesten Wahlplakaten der CDU gehort das Plakat "AIle Wege des Marxismus fuhren nach Moskau,,152 mit einer strahlenformig auf einen Rotarmisten zulaufenden Flache, Ende August prophezeite Adenauer in Wahlreden, die Deutschland- und AuBenpolitik der SPD fiihre zum .Ende des deutschen Volkes" und zum .Llntergang Deutschlandsv.P' Die Ende August von Adenauer selbst angestoBene Dokumentenaffare war vor diesem Hintergrund mehr als "Negative Campaigning"; es war der Versuch, die SPD in der heiBen Wahlkampfphase mit dem Feindbild des Kommunismus zu identifizieren. Zuerst in einer Rede in Frankfurt am 15. August, dann in einem Schreiben an den SPD-Pressechef Heine vom 19. August hatte Adenauer behauptet, der Vorsitzende der Solinger SPD, Heinrich Schroth, und Hugo Scharley von der SPD Solingen hatten Gelder aus der DDR erhalten. 154 Jedoch war das Material, auf dem die Vorwurfe beruhten, unserios, Es ist anzunehmen, dass sich Adenauer darum auch wenig sorgte. Nachdem Heinrich Schroth am 25. August den Bundeskanzler wissen lieB, dass er eine einstweilige VerfUgung vor dem Bonner Landgericht auf Unterlassung der Behauptung erwirkt hatte, trat die negative Wirkung ganz zu Tage, denn das "Publikum", so der besorgte Lenz, betrachte die Angelegenheit "als Wahlmanover und reagierte entsprechend sauer".155 Tatsachlich zeigte sich in den Meinungsumfragen noch im August ein Einbruch bei der Frage nach dem Einverstandnis mit Adenauers Politik, wahrend die Parteipraferenz fur die CDU stieg (Abbildung 1).156 Die Affare uberdauerte allerdings den Wahltag, da Adenauer sich weigerte, seine VorwUrfe zuruckzunehmen. IS? Die SPD versuchte ihrerseits, dem Wahlkampf noch einmal eine .Jclassenpolitische Note" zu geben, indem Mitte August die Vorstandsdenkschrift "Untemehmermillionen kaufen politische Macht!" veroffentlicht wurde. Es ging urn die Finanzierung der CDUWahlkampfe durch die Wirtschaft. Die Belege hinsichtlich der Bundestagswahl 1953 waren jedoch recht durftig und knapp, so dass die Denkschrift wohl kaum sonderlich wirksam gewesen sein durfte, 158
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Fur die EVG sprachen sich im August weiterhin nur 30% der Befragten aus, so dass sich das Verhaltnis von Befiirwortern und Gegnern zumindest ausgeglichen hatte. Jahrbuch Bd. 1: 360f. So der Titel eines Buches (Bornhardt 1953), welches das Wehrreferat des Bundespresseamtes tiber den privaten Apparat zur Verteilung brachte. Vgl. Hoffmann 1995: S. 235, Anm. 2 u. 242, Anm. 28. Vgl. Albert & Niedhart 1994: 72-75; Friedel [LV.]; das Plakat "Aile Wege" in: Langguth 1995: 92. Zit. nach Hirsch-Weber & Schutz 1957: 123 u. Appelius 1999: 277. Hintergrund waren AuBerungen aufeiner missgluckten Pressekonferenz der SPD mit Erler, Eichler und Heine am 28. August in Bonn. Vgl. Protokoll der Parteivorstandssitzung am 8.9.1953, S. 1f. ~ in: AdS, SPD-Parteivorstand, Sitzungen PV/PR Bd. 110. Vgl. Appelius 1999: 276. Lenz 31.8.1953, S. 689. Alleine in den letzten 10 Tagen vor der Wahl hat Heine 30 Strafanzeigen wegen VerJeumdung und Dokumentenfalschung erstattet. Vgl. Appelius 1999: 278. Neumann vom ltD Allensbach machte hierfiir zum Teil die Dokumentenaffare verantwortlich. Somit riet Lenz Adenauer, die scharfen Angriffe auf die SPD zu unterlassen. Vgl. Lenz, 4.9.1953, S. 691. Dies tat er erst Anfang 1954. Vgl. Appelius 1999: 278. Hirsch-Weber & Schutz 1957: 113; vgl. ebd.: 112-117. Auch Lenz, der rund einen Monat vor Erscheinen tiber die Denkschrift informiert war, sorgte sich nicht, dass "dieses Kompendium Sensationen hervorrufen wird." Protokolle Bd. 1, Nr. 24, 15.7.1953, S. 595.
Abbildung 1: Zufriedenheit mit Aden auer und Parteipraferenz
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1953 [1 :1 Sind Sie im qrotsen und ganzen mit der Palitik Adena uers einverstanden ade r nicht einve rstanden?
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Einverstanden
[2:] Welch e Partei steht Ihren An sichten am necnsten ?
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COU SPO 25
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ltD ; Quelle: Schmidtchen 1965: 63 u. 65.
Nach der Wahl Am 6. September 1953 erreichte die CDU tiber 45% der Mandate mit einem Plus von rund funf Million en Stimmen - die SPD blieb mit 28,8% wie schon 1949 in ihrem ,,30-ProzentTurm", obwohl auch die Sozialdemokraten Stimmengewinne verbuchen konnten.P" .Diese Sache ist ja nun ganz gut erledigt, nun mussen wir wieder neu an die Arbeit gehen", quittierte Adenauer den Wahlausgang.l'" Ein Jahr sparer, als die Adenauersche Westbindungspolitik sich mit den Pariser Vertragen ihrer Vollendung naherte, konnte man in der Frankfurter Allgem einen lesen: .Der Bundeskanzler hat mit den westlichen Machten die AuBenpolitik verwirklicht, der die uberwalti gende Mehrheit des Volkes in den Adenauer-Wahlen beigepflichtet hat". 161 Eine .Adenauer- Wahl" war die Bundestagswahl 1953 sicherlich . Sie leitete, auch wenn Einzelnen in der SPD nun der "Zweikampf von Personen" als .Panne" galt, doch den Trend zur Personalis ierung der deutschen Wahlkampfe ein. 162 Zum Wahlerfolg der CDU haben die auBenpoIitischen Ereignisse bedeutend beigetragen, insbesondere weil die Schwachstelle der Adenau erschen Westbindungspolitik, die Wiedervereinigung, angesichts des 17. Juni nicht virulent werden konnte . Die CDU betr ieb eine geschickte, modeme Pro' 59
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Klotzbach 1996: 293. Selbst in der klassis chen SPD-Klientel, der stadtischen Arbe iterschaft, konnte sie nur ca. 50% der Sti mmen erreichen und reussie rte led iglich bei Jugendlichen unter 30 Jahren . Die CDU punktete bei Neu- und Nichtwahlern , Frauen, Kathol iken, Landwirten, Freiberuflern und Rentnern (vgl. ebd.: 286£.), wahrend Adenauers Personli chkeit d ie Wahlentsc heidung positiv beeinflusst hatte (hierzu : Merritt 1980). Lenz, 7 .9 . 1953 ~ S. 692. Art . .Opfer auf dem Wege" vo n Hans Baumgarten, 25.10.1954; auszugsw. in Friedel 2006: Nr. 78, 158. SPD-Fraktion, Bd. 1,2, Nr. 182, 17.9.1953, S. 7 (im Or ig.: .,2-Kampf'). An der Medienberichterstattung lasst sich der Trend zur Personalisierun g ablesen: vgl. Wilke & Reinemann 2000: 82.
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paganda, die uber klassische Pressearbeit weit hinausging, was zu einem Gutteil Otto Lenz zu verdanken sein durfte, der die Bundestagswahl als Staatssekretar jedoch nicht uberstand. 163 Mit der Bundestagswahl 1953 trat die Demoskopie ihren Siegeszug als Richtungsgeber und Instrument der deutschen Wahlkampfe an, und umgekehrt wurden in der SPD, als das Wundenlecken nach dem Wahldebakel einsetzte, Stimmen laut, die eine starkere Berucksichtigung der Demoskopie dringend wunschten.l" Dass der .Propagandaapparat" der SPD nicht auf "der Hohe modemer Erkenntnisse" sei, wie es in der SPD-Fraktion nun hieli, wurde vor allem Fritz Heine angelastet.l'" Jedoch verschleppte die SPD, deren Wahlkampf an Negativismus, Ideologie- und Textlastigkeit Iitt, weiterhin die programmatischen Reformen und steuerte somit auf die Wahlniederlage von 1957 zu.
Quellen und Literatur Unveroffentlichte Quellen
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Kurz vor dem Wahltag war es noch zu einer Affare urn Lenz gekommen, die sich im Wahlkampf aber nicht mehr negativ auswirken konnte. Es ging urn Lenz' anfangs wohl von Adenauer unterstutzte Plane, ein zentrales Informationsministerium einzurichten. Die Plane wurden nach einer "gezielten Indiskretion" aus dem Bundespresseamt (Hoffmann, 1995: 61) seit dem 19. August scharf in der Presse mit Parallelen zum Goebbels-Ministeriumattackiert, so dass Adenauer sich rasch von diesen distanzierte. Lenz nahm daraufhin seinen Abschied bzw. lieB sich in den Bundestag .wegwahlen'. Vgl. ebd.: 61f~ Lenz, 25.9.1953, S. 705~ 28.9.1953, S. 707 u. Zerbe 2000: 156-172. Vgl. Klotzbach 1996: 316. Fritz Erler, der ja, wie wir gezeigt haben, Ende 1952 dem Parteivorstandangeraten hatte, mit einem Umfrageinstitut zusammenzuarbeiten, kritisierte im Oktober 1953 dementsprechend, die SPD habe "mit ihren handwerklichen Propagandamethoden gegenuber den wissenschaftlichen Methoden modemer Meinungsforschung, deren sich die Bundesregierung bedient hat, nicht vermocht, sich auf die Meinung vieler Wahler ,uns geht es gar nicht schlecht' einzustellen."Zit. nach Schindelbeck & lIgen 1999: 94. Der bald nach der Wahlniederlage von 1957 seinen Hut nehmen musste. Vgl. Klotzbach 1996: 413-417. Das Zitat: SPD-Fraktion, Bd. 1,2, Nr. 182,17.9.1953, S. 8.
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Wahlkampfbilder: Die Visualisierung von Adenauers Amerikareisen 1953 und 1957 in Propagandafilmen derCDU Von Hans-Jurgen Schroder
Das Medium Film hat in politikwissenschaftlichen und historischen Analysen der ersten Bundestagswahlkampfe bisher kaum Beachtung gefunden. Das ist umso erstaunlicher, als lange vor dem Siegeszug des Femsehens seit Ende der 1950er Jahre der Film und insbesondere die Wochenschau wichtige wahlkampfpolitische Kommunikationsmittel darstellten. 1m Folgenden soll am Beispiel der Amerika-Reisen Konrad Adenauers in den Jahren 1953 und 1957 auf die Bedeutung des Mediums Film fur die Wahlkampfstrategien der CDU hingewiesen werden. 1m Mittelpunkt steht der Film .Ein Mann wirbt fur sein Volk" vom Sommer 1953.
Die Amerikareise des Jahres 1953 Die Amerikareise Adenauers vom 6. bis 18. April 1953 war fur die Bundesrepublik ein herausragendes politisches Ereignis, die historische Bedeutung ist unbestritten. Das gilt insbesondere fur die Adenauer-Forschung: Adenauer war der erste deutsche Regierungschef, der die Vereinigten Staaten von Amerika besuchte. 1 Allein diese Tatsache verlieh dem Ereignis Gewicht. Der Besuch - seither hat sich ubrigens ein deutscher Regierungschef nie wieder so lange in den USA aufgehalten - dokumentierte vor allem die enge Anlehnung Bonns an die USA, und er verdeutlichte die auBenpolitische Emanzipation der jungen Republik. Diese beiden Faktoren erhielten in der internationalen Konstellation nach Stalins Tod zusatzliches Gewicht. SchlieBlich war die Amerikareise ein spektakularer personlicher und politischer Erfolg fur Konrad Adenauer. Innenpolitisch war dies angesichts unbefriedigender Umfragewerte im Hinblick auf die bevorstehenden Bundestagswahlen von unschatzbarem Wert. Diese innenpolitische Funktion haben die Architekten des Besuchsprogramms offensichtlich von Anfang an im Blick gehabt. Die Amerikareise des Kanzlers war jedenfalls perfekt inszeniert. Das zeigt bereits ein Blick auf Reiseroute, Transportmittel und Gesprachspartner. Washington, New York, San Francisco, Chicago und ein Abstecher nach Ottawa waren die Stationen der fast zweiwochigen Amerikareise. Die Hinfahrt erfolgte per Schiff, im Ubrigen wurde die Reiseroute per Flugzeug absolviert. Die Bandbreite der Gesprachspartner umfasste aIle Ebenen der amerikanischen Politik, allen voran die Spitzen der amerikanischen Regierung. Washington signalisierte mit der demonstrativ zu Schau gestellten Gastfreundschaft den gestiegenen Stellenwert der Bundesrepublik. So erhielt der Bundeskanzler hinreichend Gelegenheit, gegenuber Prasident Eisenhower und AuBenminister Dulles sowie dem einflussreichen AuBenpolitischen Ausschuss des Senats, seine politi-
Vgl. als neueren Beitrag Maulucci 2003: Kreke11996.
577~596;
auBerdem Grabbe 1983: 192 ff.; Kohler 1994: 767 ff.;
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schen Vorstellungen zu entwickeln' Dies garantierte Medieninteresse, das der Bundeskanzler in geschickter Weise genutzt hat, wie seine zahlreichen Pressekonferenzen sowie Interviews mit Vertretern von Zeitungen, Rundfunkanstalten und dem neuen Medium Fernsehen
belegen.' Adenauer war mit den Ergebnissen der Reise mehr als zufrieden. Noch wahrend seines Aufenthaltes in den USA berichtete er dem Bundesprasidenten im Telegrammstil: "Aufnahme allenthalben sehr gut. Washington war ausgezeichnet". Die Verhandlungen mit Eisenhower und Dulles seien "gut und erfolgreich" verlaufen. "Eisenhower war besonders freundlich"." Seinem Freund Dannie Heinemann vertraute er an: "Meine ganze Reise in die Vereinigten Staaten wird in meiner Erinnerung bleiben als eine wirklich schone und erfolgreiche Zeit. Ich bin uberall so gut aufgenommen worden und habe uberall so viel verstandnisvolle und warmherzige Menschen angetroffen, dass ich auch jetzt, nachdem meine Eindrucke sich gesichtet haben, dankbar und erstaunt daruber bin.:" Vor dem Bundesvorstand der COU auBerte Adenauer groBe Zufriedenheit tiber seine ,;ilberraschend" gute Aufnahme in der Neuen Welt, die "man sich besser gar nicht habe vorstellen konnen." Auch die "Aufnahme durch Prasident Eisenhower personlich" sei "wirklich so" gewesen, .xlass mir nachher in Chicago und New York Deutsch-Amerikaner, altere Leute, mit Tranen in den Augen sagten: Wir danken Ihnen dafur, dass Sie gekommen sind. Jetzt ist fur uns Amerikaner deutscher Herkunft der letzte Schatten genommen, der noch aufgrund des letzten Krieges auf uns lag." Besonders Eindruck hatte bei Adenauer der von ihm immer wieder geschilderte Besuch auf dem Nationalfriedhof in Arlington hinterlassen, der vom amerikanischen Protokoll uberaus wirksam inszeniert worden war: Salutschusse, Nationalhymne, Herausstellen der deutschen Fahne; eine "demonstrative Begrufnmg", so Adenauer, fur die Bundesrepublik Deutschland, die .wirkungsvoller und besser nicht mehr zu denken ist"." Selbstverstandlich blieb es nicht bei internen Bekundungen. Das ergab sich schon aus dem groBen Medieninteresse an Adenauers Amerikareise. Namentlich die Presse hat die Anwesenheit Adenauers in den USA ausfiihrlich kommentiert.' Zu nennen sind vor allem die groBen uberregionalen Zeitungen wie etwa die New York Times. 8 Auch nach Abschluss der Reise hat sich die Deutsche Vertretung in Washington bemuht, dieses Interesse wach zu halten. Das belegt etwa die 200 Seiten umfassende Publikation "Journey to America"." Besonders ausfuhrlich haben naturlich die deutschen Medien tiber die Amerikareise des Kanzlers, an der zehn deutsche Journalisten teilnahmen, berichtet. Hervorzuheben sind die Zeitungen und die ausftihrlichen Berichte in den Wochenschauen."
10
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Die Besprechungen sind dokumentiert in: Foreign Relations of the United States 1952..1954, Bd. VII, 1986, S. 424-447; Akten zur Auswartigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1953, Bd. I, 2002, S. 315 ..331. Vgl. Journey to America 1953. Adenauer an Theodor Heuss, 12. April 1953. In: Mensing 1987: 357. Adenauer an Dannie N. Heinemann, 23. Mai 1953. In: Mensing 1987: 370. Protokoll der Sitzung vom 22. Mai 1953. In: Buchstab 1986: 519 ff. Vgl. die Zusammenstellung Amerikanische Pressestimmen zum Adenauer-Besuch, 9. April 1953, in: Bundesarchiv Koblenz (zitiert BA) BI45/1444. Vgl. insbesondere Drew Middleton: Adenauer's Visit Marks Germans' Critical Hour. Chancellor Seeks Support in His Hard Struggle for a United Europe, 5. April, 1953; Peter Kihss: Adenauer Arrives, Visits Art Museum, 7. Apri11953; Walter H. Waggoner: Adenauer Pledges Full German Aid in Resisting Aggression by Soviet, 8. April 1953; Drew Middleton: U.S Visit Fortifies Adenauer Position. Successful Talks Are Viewed as Key Factor in Election Campaign in Germany, 15. April 1953. Journey to America 1953. Vgl. das detaillierte Bestandsverzeichnis der Deutschen Wochenschau GmbH in Hamburg, zurn Teil veroffentlicht in: http://www.deutsche-wochenschau.de.
"Ein Mann wirbt fur sein Volk" Erst nach der Ruckkehr Adenauers entstand der Gedanke, tiber die Amerikareise des Bundeskanzlers einen Dokumentarfilm zu produzieren. Drei Faktoren waren in erster Linie entscheidend: der groBe Erfolg der Amerikareise, das wahrend der Reise entstandene umfangreiche Bildmaterial und die Tatsache, dass die CDU und das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Anfang 1953 ein umfangreiches Filmprogramm in Gang gesetzt hatten. In Dokumentarfilmen von bis zu 30 Minuten Lange sollte fur den Europagedanken geworben und vor allem die Arbeit der ersten Regierung Adenauer in positiver Weise gewurdigt werden. 11 Den Wahltermin 6. September hatten die Akteure fest im Blick. Das galt in ganz besonderem Malre fur das Projekt des Films uber die Amerikareise Adenauers. Der Auftrag zur Herstellung des Films erging noch Ende April 1953 an die Deutsche Reportage-Film GmbH in Remagen mit der Vorgabe, mit der Durchfiihrung der Produktion die Neue Deutsche Wochenschau GmbH in Hamburg zu beauftragen. Aus dem zur Verfiigung stehenden Bildmaterial von 5.000 Metem der Neuen Deutschen Wochenschau und deren Partner in den USA sollte ein Film von etwa 800 Metem Lange erstellt werde. Das Presseund Informationsamt gewahrte einen Zuschuss von 50.000 DM. 12 Entsprechend dieser Vorgabe wurde innerhalb weniger Wochen ein Film mit einer Spielzeit von 30 Minuten produziert mit dem Titel .Ein Mann wirbt fur sein Volk".13 Die Oberfahrt an die amerikanische Ostkuste absolvierte Konrad Adenauer mit der United States, dem "schnellsten Schiff der Welt". Der Bundeskanzler war der "bisher prominenteste Gast" wie der Kommentator versichert. Die Schiffsreise bot eine allmahliche Annaherung an Amerika. So blieb zunachst Zeit, den Kanzler ins rechte Bild zu rucken, Aufnahmen Adenauers auf der Kommandobrucke des Schiffes stimmen den Zuschauer darauf ein. Die Kommentierung der Uberfahrt enthalt dann im Wesentlicben zwei Botschaften. Der Bundeskanzler hat auch wahrend der Abwesenheit das politische Tagesgeschaft voll im Griff, und sein hobes Alter kann keineswegs ein Argument sein, an seiner physischen Leistungsfahigkeit Zweifel aufkommen zu lassen. Bei sturmischem Wetter hatte die "Seekrankheit ihre Opfer aucb unter der Begleitung Dr. Adenauers". "Nur der Kanzler selbst war nicht gezwungen, seine auch in den Sturmtagen durchgefiihrte Arbeit zu unterbrechen. Selbst beim Spaziergang an Deck bart die Arbeit nicht auf." Auch von dem Schiff aus .behalt er die Faden in der Hand". Mit der Annaherung an die amerikanische Kuste wird dann politische Spannung aufgebaut. Es werde immer deutlicher, so der Kommentar, .wie entscheidend die kommenden Besprechungen mit den fiihrenden Mannern der starksten Macht der Welt" sein werden. .Wird es dem ersten deutschen Kanzler, der zu einem offiziellen Staatsbesuch in die Vereinigten Staaten kommt, gelingen, acht Jahre nach dem totalen Zusammenbruch fur sein Yolk das Vertrauen zu gewinnen, das ihm ein Leben in Freiheit und Frieden und die Ruckgewinnung seiner Einheit erreichen hilft?" Optisch wird dieser Anspruch in geschickter Weise legitimiert: durch Einblendung der Freiheitsstatue.
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Materialien zum Filmprogramm befinden sich unter anderem in den Akten des Presse- und Infonnationsamtes im Bundesarchiv in Koblenz (BA, B 145) und im Nachlass Otto Lenz im Archiv der Christlich-Demokratischen Politik in Sankt Augustin (zitiert ACDP, 01-172); vgl. auch Buchwald 1991: bes. 141 ff. Vgl. Felix von Eckardt an Deutsche Reportage-Film GmbH, 29. April 1953, in: BA, BI45/1444. Ein Mann wirbt fur sein Yolk. Ein NDW Bericht fiber den USA-Besuch des Bundeskanzlers; im Folgenden zitiert nach der Kopie in: ACDP, 10-100-104. Ein FiJmskript befindet sich in: BA, 8145/1444.
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Abbildung I: Filmszene - Kanzler Adenauer bei der Uberfahrt tiber den Atlantik
Quelle: DeutscheWochenschau GmbH, Hamburg.
Nach kurzem AufenthaIt in New York begab sich Adenauer in die Hauptstadt der USA. In seiner BegrtiBungsansprache bei der Ankunft auf dem Flughafen in Washington dankte der Kanzler dem amerikanischen Volk - ahnlich wie in seiner ersten Regierungserklarung vom 20. September 194914 - fur die "gro13herzige Hilfe" nach dem Kriege. Zugleich bekraftigte er den Freiheitsgedanken: "Nehmen Sie von mir in diesem denkwurdigen Augenblick die feierliche Erklarung entgegen: das deutsche Volk will die Freiheit. Das deutsche Volk will Recht und Gerechtigkeit flir aile Volker." WeiBes Haus, Kapitol, Georgetown University, Wohnsitz des ersten amerikanischen Prasidenten in Mount Vernon - offensichtlich hatten die politischen Besprechungen ein Ergebnis, das die "deutschen Erwartungen voll erfiillt" hat. Adenauer schien es vor allem gelungen zu sein, eine Vertrauensbasis herzustellen. Das fast freundschaftliche Nebeneinander von AuBenminister Dulles und Bundeskanzler Adenauer signalisiert dies im Bild. Diese .Atmosphare des Vertrauens, die in diesen Tagen geschaffen wurde, wird in die Zukunft weiter wirken. Auch nach amerikanischer Auffassung ist die deutsche Karte wieder im Spiel. Der, der sie im rechten Augenblick auf den Tisch zu legen verstand, heiBt Dr. Konrad Adenauer." Emotionaler Hohepunkt in Washington war der Besuch Adenauers am Grabmal des unbekannten Soldaten in Arlington. "Von Offizieren getragen, folgt die deutsche Flagge dem Bundeskanzler, der unter den Klangen des Deutschlandliedes zur Kranzniederlegung vor dem Grabmal des unbekannten Soldaten schreitet. Ehrenkompanien aller Waffengattungen prasentieren; eine Ehrung, die den Gefallenen aller Volker gilt. Diese Stunde, so sagte Dr. Adenauer den amerikanischen Presseleuten spater, wiegt mehr als viele Seiten beschriebenen Papiers.", so kommentiert der Sprecher die Bildfrequenz. Dem deutschen Zuschauer wurde ein tiber Regierungsbesprechungen weit hinausreichender Akt der Versohnung prasentiert, Arlington war Symbol der Anerkennung des neuen Deutschland und 14
Vgl. Verhandlungen des deutschen Bundestages. Stenographische Berichte, Bd. 1,1 949, S. 20 ff.
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der Verstandigung der beiden Volker, die im Weltkrieg gegeneinander gekampft hatten . Die grol3e Bedeutung, die der Kanzler in der Kranzniederlegung gesehen hat, belegt die Tatsache, dass dieses Ereignis von Adenauer in Kommentaren tiber die USA immer wieder zum Bezugspunkt gemacht wird, bis hin zu seinen Erinnerungen." Abbildung 2: Kanzler Adenauer in Washington
Quclle : Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef-Rhondorf
Nach Abschluss des offiziel1en Besuchsprogramms in Washington reiste Adenauer in die amerikanischen Metropolen San Francisco, Chicago, New York und Boston und zu Besprechungen mit der kanadischen Regierung in Ottawa. Die Reisebilder vermitteln auch Einblieke in den privat-personlichen Bereich des Kanzlers. Nicht nur der erfolgreiche Staatsmann Adenauer reist durch Amerika, es ist auch der vielseitig interessierte Weltburger zu sehen, der Kunstausstel1ungen besucht, sich fur Stadtebau interessiert und auf die Menschen zugehen kann. Das zentrale Verbindungselement zwischen Staatsmann und Privatmann repraIS
Vgl. Adenauer 1965: 588 f.
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sentiert im wahrsten Sinne des Wortes seine Tochter Lotte, die den Witwer Adenauer auf der Reise begleitete. Von ihr werden wiederholt Bilder gezeigt, und ihre Bedeutung wird auch im gesprochenen Kommentar herausgestrichen : .Auch Dr. Lotte Adenauer hat es nicht leicht, sich all der Reprasentationspflichten zu entledigen. An der Seite ihres Vaters war sie der zweite Blickpunkt des amerikanischen Interesses ." Abbildung 3: Kanzler Adenauer in Arlington
Quelle : Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef-Rhondorf
Die zahlreichen akademischen und politischen Ehrungen, die dem Bundeskanzler zuteil wurden, gaben hinreichend Gelegenheit, immer wieder an die Verdienste des international geachteten Staatsmannes in Bild und Ton zu erinnern. Eine Ehrenurkunde des New Yorker Oberburgermeisters bescheinigte dem Bundeskanzler ausdrucklich "seine Verdienste urn die Einigung Europas und den in Amerika besonders bewunderten Wiederaufbau des zerstorten Deutschland. Dr. Adenauer, so sagte der Oberburgermeister in seiner sehr herzlich gehaltenen Ansprache, sei fur die Amerikaner eine Garantie dafur geworden, dass in Deutschland kein totalitares Regime mehr entstehen konne." Die Ruckkehr nach Deutschland war als propagandistisches Resumee ebenfalls perfekt inszeniert. Das Flugzeug brachte den Kanzler direkt nach Hamburg, urn dort vor den Delegierten des CDU-Parteitages (18.-22. April 1953) zu sprechen." In seiner Rede hob der .6
Text der Rede vom 21. April 1953 in: Deutschland , sozialer Rechtsstaat im geeinten Europa 1953: 210 ff.
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Kanzler hervor, dass sich die USA im Abschlusskommunique "rtickhaltlos fur die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit ausgesprochen haben". Dies durfe "vom deutschen Volke und der Wahlerschaft [!] nicht vergessen werden"." 1m Film wird diese Rede allerdings nur am Rande visualisiert. Offenbar sollte der Eindruck der Oberparteilichkeit suggeriert werden. So nimmt der Film die Ruckkehr des Kanzlers nach Bonn zum Anlass, die Amerikareise zu bilanzieren. Einstimmung hierzu sind die Bilder, welche die versammelten BUrger und die Reprasentanten von Bundes- und Lokalpolitik zeigen. Das signalisiert Zustimmung zur Politik des Kanzlers. Die weitere wahlpolitische Botschaft wird dann aIlerdings tiber den gesprochenen Text prasentiert. Es uberrascht nicht, dass die Bilanz positiv ausfiel. Adenauer habe die Reise "zu einem einzigen groBen Erfolg" gemacht. Hier wurden allerdings keine langatmigen politischen Argumente prasentiert, Vielmehr wurde die schon zu Beginn des Filmes visualisierte Botschaft aufgegriffen, die sich an all diejenigen richtete, die das hohe Alter des ersten Bundeskanzlers thematisierten: seine offenbar unbegrenzte Schaffenskraft. .Besichtigungen und gesellschaftliche Verpflichtungen wurde absolviert. Und immer war es die nie ermudende Energie Dr. Adenauers, die bei seinen weit jungeren Begleitem den Anstof gab, trotz der ubergrolsen Anstrengungen nicht zu erlahmen. Die Hochachtung vor der Leistung dieses Mannes, in des sen hohen Alter andere sich langst zur Ruhe gesetzt haben, war auch in Amerika uberall zu spuren. Ein Deutscher, der seit langen Jahren in Amerika lebt, sagte: Dieser Besuch hat von uns Amerika-Deutschen den letzten Schatten der vergangenen Jahre genommen. Die Amerikareise des Bundeskanzlers war ein Erfolg fur Deutschland. AIle, die seinen Weg verfolgen konnten, wissen darum: Dieser Mann warb fur sein Volk." Adenauer warb fur Adenauer, so wird man nicht zuletzt unter wahlstrategischen Gesichtspunkten erganzen mussen, Bezeichnenderweise wurde "Ein Mann wirbt fur sein Volk" innerhalb der CDU auch .Kanzlerfilm" genannt." Filmpropaganda
UDd
Wahlanalyse
Bei der politischen .Vermarktung" der Amerikareise der Person Adenauers und seiner erfolgreichen Regierungsarbeit hat .Ein Mann wirbt fur sein Volk" eine wichtige Rolle gespielt. Er war integraler Bestandteil des bereits erwahnten Filmprogramms der CDU und des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung. Die Gesamtbilanz, die drei Tage vor dem Wahltag dem Bundeskanzler vorgelegt wurde ", war beeindruckend.t" Seit Mitte Februar 1953 wurden 14 Dokumentarfilme produziert. Bis Mitte August waren tiber 1.000 Schmalkopien und nahezu 300 Normalkopien im laufenden Einsatz und zwar sowohl in gewerblichen Filmtheatern als auch in auBergewerblichen Filmvorflihrungen. Die Besucherzahl addierte sich auf insgesamt 10 Millionen. Das Filmprogramm erreichte mithin im statistischen Durchschnitt nahezu jeden fiinften Bundesburger, Bei ihrem Multimediaein17
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In seinen Bemerkungen tiber den Empfang durch den kanadischen Ministerprasidenten und samtliche kanadische Minister auf dem Flughafen in Ottawa lieB sich Adenauer It. Protokoll zu folgender Formulierung hinreiBen: .Jch, der Bundeskanzler des Deutschen Reiches (Heiterkeit) - so nenne ich ihn schon; es ist ein bisschen verfruht, sagen wir: Deutschlands -, wurde auf dem Flugplatz mit allen militarischen Ehren empfangen. (Lebhafter Beifall)", ebenda: 213 f. CDU Bundesgeschaftsstelle (Dietrich Beyer) and Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 10. Juli ]953, in: BA, BI45/1444. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Krueger) an Bundeskanzler, 3. September 1953. In: BA, 8145/240. Aufstellung der im Einsatz befindlichen Filme staatsburgerlicher Aufklarung, Stand 15.08.1953, Anlage zu Krueger an Lenz, 3. September 1953, in: BA, BI45/240.
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satz legte die cnu auch besonderen Wert darauf, die Menschen auf dem .flachen Land" zu erreichen, mit dem Ziel, die Erfolge einer vierjahrigen Regierungspolitik "propagandistisch auszuwerten." In Orten unter 2.000 Einwohnem waren durchschnittlich 500/0 der erwachsenen Bevolkerung zu den "politischen Filmvorfiihrungen" erschienen. In der Filmwerbung wurde auch an die potentiellen Wahler von morgen gedacht. Das zeigt beispielsweise die Zusammenarbeit des Presse- und Informationsamtes mit dem Filmdienst der amerikanischen Hohen Kommission in Berlin. 21 Hier wurde eine "einmalige Gelegenheit" darin gesehen, "die Ostbesucher und Ostfluchtlinge im Sinne der Public Relations ins Bild zu setzen, solange sie in den im Bundesgebiet eingerichteten Fluchtlingslagem untergebracht sind." Es gebe .Jcein aufnahmewilligeres Publikum als diese Menschen, die unter dem Einfluf des politischen Drucks im Osten hier aufatmen. Spater, .wenn die Lager aufgelost und die Menschen im Bundesgebiet verteilt angesiedelt werden", seien sie "nie mehr in dem eindrucksvollen AusmaB zu beeinflussen". 22 Im Rahmen der visuellen Wahlwerbung der CDU nahm der Streifen .Ein Mann wirbt fur sein Volk" fraglos eine herausragende Rolle ein. Er wurde von den genannten 14 Dokumentarfilmen mit Abstand am haufigsten prasentiert. Seit Fertigstellung wurde der Film wochentlich in tiber 1.600 Auffuhrungen mit durchschnittlich mehr als 400.000 Besuchem pro Woche gezeigt. Hochgerechnet ergab dies eine Gesamtbesucherzahl in der Grolsenordnung von etwa zwei bis drei Millionen. Dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung wurden die Kopien formlich aus der Hand gerissen. In den verschiedenen Organisationsebenen der CDU erfreute sich der Film grolster Beliebtheit. Der .Kanzlerfllm'' hatte einen "so groBen Anklang gefunden", dass die CDU-Bundesgeschaftsstelle von den Landesverbanden und von Abgeordneten gedrangt wurde, "so schnell wie moglich recht viele Kopien zu liefem". Es sei der .weitaus beste Film von den bisher zur Verfligung stehenden".23 FUr die heiBe Wahlkampfphase wurde von .Ein Mann wirbt fur sein Volk" auch eine Kurzfassung angefertigt. Der Landesgruppe der Industriellen Arbeitgeberverbande Nordrhein-Westfalens war es vor allem zu verdanken, dass der .propagandistisch auBerordentlich wirksame" Filmstreifen tiber "einen uns nahe stehenden" Filmverleih noch im August in uber 500 Kinos gezeigt werden konnte. Die propagandistische Wirkung wurde durch den Wochenschaucharakter des Films noch verstarkt, wei! der Film als vermeintlich "objektiver" Bericht nicht als Wahlwerbung der Union erkennbar war. Der Ausgang der Bundestagwahl war fur die CDU ein groBartiger Sieg. In dieser Hohe war dies selbst von den Optimisten in der Union nicht erhofft worden: CDU/CSU erhielten 45,2% der Zweitstimmen und die absolute Mehrheit der Mandate, die SPD dagegen nur 28,8%?4 Das Wahlergebnis gewinnt zusatzliche Bedeutung, wenn man sich vor Augen halt, dass bei Meinungsumfragen sich CDU und CSU noch Ende 1952 in einer Zustimmungsrate von 30% bewegten." Welches waren die Grunde fur die schlechten Umfrageergebnisse vom Dezember 1952? Warum konnten die Unionsparteien innerhalb von neun Monaten so kraftig zulegen? Eine Wahlanalyse der Bundesgeschaftsstelle der CDU hat hierauf Antwor-
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Vgl. z.B. Office of the United States High Commissioner for Germany, Berlin Element, Public Affairs Division an Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 15. August 1953. In: BA, B/]444. Aufzeichnung Franck, Presse- und Informationsamt, 17. Juli 1953. In: BA145/1444. CDU Bundesgeschaftsstelle (Dietrich Beyer) and Presse- und Infonnationsamt der Bundesregierung, 10Juli 1953. In: BA, BI45/1444. Vgl. Korte 2005: 32. Vgl. Grabbe 1983: 193.
ten gegeben." Nach dem knappen Erfolg der Wahlen von 1949 habe die offentliche Meinung "gegen die Regierungspolitik Stellung genommen". Das erklare sich .zunachst aus dem allgemein zu beobachtenden Sympathieverlust, den Parteien erleiden", wenn sie in Krisenzeiten die Regierung ubernehmen. In der Bundesrepublik habe sich "erschwerend" ausgewirkt, dass die Politik der sozialen Marktwirtschaft in ihrer Anfangszeit durch die Koreakrise belastet worden sei. Dies habe ihre Erfolge fur groBe Bevolkerungsschichten zunachst wieder in Frage gestellt. Die Bundesregierung .musste auBerdem seit 1950/51 in den Mittelpunkt ihrer AuBenpolitik einen aktiven deutsehen Verteidigungsbeitrag rucken", Dies sei "anfangs aulserst unpopular" gewesen. In der Haltung der Offentlichkeit zur Regierung Adenauer sei dann etwa im MarzApril des Jahres 1953 ein Wandel eingetreten. Suche man naeh einem "greitbaren AnlaB", so sei dies .zweifellos in erster Linie" die Amerikareise des Bundeskanzlers gewesen. .Wenn wir als den ,Wendepunkt' die Amerikareise des Bundeskanzlers genannt haben, mussen wir uns daruber im klaren sein, dass es sieh dabei nieht urn ein absolutes Ereignis, sondem lediglich urn einen besonders geeigneten Kristallisationspunkt fur die Offentlichkeit handelte." 1m Fruhjahr 1953 sei die Gesamtentwieklung auf auBen- und wirtsehaftspolitischem Gebiet soweit fortgesehritten gewesen, dass sieh "in immer zunehmenden MaBe ihre positiven Auswirkungen fur die Gesamtbevolkerung zeigten", In dieser Situation habe es "eines solehen Kristallisationspunktes" bedurft, urn die offentliche Meinung zu "einer entseheidenden Schwenkung zu veranlassen", Hinzu komme die Person des Bundeskanzlers. Was den unerwartet hohen Wahlsieg anbelange, so habe dieser Faktor .zweifellos eine groBe Rolle gespielt", Die "auBenpolitischen Erfolge des letzten Jahres und die Anerkennung, die er sich und der Bundesrepublik in der gesamten westliehen Welt verschafft hat", habe Dr. Adenauer in Deutschland eine solche Popularitat gegeben, daB ein Teil der Stimmen sieher mehr ihm selbst als seiner Partei gegeben worden ist." Der Erhard-Wahl von 1949 folgte 1953 eine .Adenauer-Wahl". In der Analyse des Wahlergebnisses wurde von der Bundesgeschaftsstelle der CDU die Bedeutung des Films als wichtiges Kommunikationsmittel im Bundestagswahlkampf mit Hinweis auf die Wahlergebnisse in den Landern Schleswig-Holstein, Hessen und Rheinland-Pfalz nachdrucklich unterstriehen. In diesen Bundeslandern habe der Sehwerpunkt der Filmvorfiihrungen gelegen. Hier habe die CDU aueh besonders gute Ergebnisse erzielt. Dies sei ein Indikator fur die auch kunftige Bedeutung des Films als Wahlkampfmittel. Es charakterisiert die Stimmung, wenn nach den Wahlen die Firma Mobilwerbung in einem von ihr verbreiteten Werbeprospekt stolz die Botschaft verkundete: ,,300.000 Meter Film halfen die Wahl gewinnen.v"
1957: "Partner der Freiheit" An den erfolgreichen Einsatz der an das Wochenschauformat angelehnten Propagandafilme und der Thematisierung des Faktors Amerika hat die CDU auch im Wahlkampf 1957 angeknupft. Rechtzeitig vor der Wahl reiste Adenauer in die USA, denn an der hervorragenden innenpolitischen Funktion des Faktors Amerika hatte sich nichts geandert, Naeh bewahrtem Muster prasentierte sich Adenauer als weltweit und vor allem in den USA geachteter 26
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Vgl. Die Bundestagswahlen vom 6. September 1953, hrsg. von der Bundesgeschaftsstelle der Christlich Demokratischen Union Deutschlands, Bundesgeschaftsstelle, Bonn (hektographiert), Anlage zu Adenauer an BundesministerTillmanns, 7. Dezember 1953. In: ACDP, 07-001-500. In: ACDP, 01-172-046/4.
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Staatsmann, der mit den fiihrenden amerikanischen Politikern offensichtlich gleichberechtigt verhandelt. Dies war an sich schon eine Erfolgsbilanz. Adenauer .wirbt" nicht mehr fur "sein Volk", jetzt - vier Jahre sparer - ist er "Partner der Freiheit". So lautet der Titel des 28 Filmberichts tiber seine USA-Reise vom 24. bis 29. Mai 1957. Nach Ankunft in New York erweist er der Hilfsorganisation CARE die Referenz, urn ihr fur die humanitare Hilfe in den Nachkriegsjahren zu danken. Es folgt ein Besuch im Goethe-Institut, einem, wie es heiBt, "Sinnbild" weltweiter kultureller Verbindungen. Die Kamera nimmt die Buste Goethes ins Visier, dann auch Adenauer neben Goethe - zwei groBe Manner eben! Vor den offiziellen Gesprachen in Washington" reiste der Kanzler nach Gettysburg auf die Farm des Prasidenten, eine Ehre, die "nur wenigen Staatsmannern" zuteil wurde. Die Aufnahmen der halb-privaten Begegnung vermitteln Vertrauen: Der "Rosenzuchter vom Rhein" wird tiber die Rinderzucht des Prasidenten informiert. Von der Farm wird aber bereits die zentrale Botschaft abgesetzt: Ohne die deutsche Wiedervereinigung konne es keine Entspannung in der Welt geben. Dieser Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch den ganzen Film. Ganz im Mittelpunkt stand die deutsche Frage bei der Berichterstattung tiber die offiziellen Besprechungen in Washington, die im State Department begannen. Hier darf AuBenminister von Brentano kurz mit ins Bild, die eigentliche filmische Aufmerksamkeit gilt aber dem als Erfolgsduo prasentierten Staatsmannern Konrad Adenauer und AuBenminister Dulles. Der anschlieBende Empfang im WeiBen Haus ist eine Mischung aus fast familiar anmutender Freundlichkeit fur den deutschen Kanzler und staatspolitischem Ernst. Uber die filmische Darstellung der Auftritte Adenauers hinaus diente "Partner der Freiheit" auch als Folie zur Verteidigung der Adenauerschen Deutschlandpolitik. Das Spannungsfeld zwischen Wiedervereinigungspostulat und Forcierung der Westintegration wurde von Kritikern als Widerspruch empfunden. Diesen hat Adenauer mit seiner Formel .Wiedervereinigung durch Westintegration" zwar in genialer Weise propagandistisch tiberbruckt, Mit Fortschreiten der Westintegration stellte sich naturgemaf aber auch die Frage nach Fortschritten in der Losung der deutschen Frage. In dem Film "Partner der Freiheit" sollte dies propagandistisch dadurch abgefangen werden, dass in die Ansprache Adenauers vor dem amerikanischen Reprasentantenhaus filmische Sequenzen integriert waren, die sich uberwiegend der deutschen Frage im Kontext der Ost-West-Konfrontation widmeten. So sol1te dokumentiert werden, dass die deutsche Frage nach wie vor auf der internationalen Tagesordnung stand. Durch Bildberichte tiber den 17. Juni 1953, die Unruhen in Posen 1956 und die sowjetische Niederschlagung des ungarischen Aufstandes vom Oktober 1956 wurden dann auch die sowjetischen Machthaber als die Verantwortlichen fur die Stagnation in der deutschen Frage bildlich festgehalten. Ungeachtet all dieser Widrigkeiten, so das bildJiche Fazit, sei Adenauer rastlos im Einsatz fur die Freiheit aller Deutschen. Und hier gab es durchaus Erfolge: 1955 war das Jahr der Souveranitat fur die junge Republik; Adenauers Moskaureise brachte Freiheit fur die deutschen Kriegsgefangenen; die Eingliederung des Saargebietes in die Bundesrepublik am 1. Januar 1957 war "mit der Heimkehr einer Million deutscher Menschen" immerhin eine Wiedervereinigung im Kleinen. Besonders wichtig: Die deutsche Frage bleibt auf der intemationalen Tagesordnung und die Bundesrepublik ist wichtiger Partner des Westens. Visualisiert wird dies durch einen Bericht tiber die
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Kopie in: ACDP, 10-100-0087. Der Verlaufder Gesprache ist dokumentiert in: Foreign Relations of the United States, 1955-1957, Bd. XXVI, 1992: 258- 295.
Nato- Tagung in Bonn vom Fruhjahr 1957, die ausdrilcklich bekraftigte, dass die Frage der deutschen Wiedervereinigung im Zentrum europaischer Entspannungspolitik stehen musse, Mit der Ruckblendung auf Adenauer am Rednerpult des Reprasentantenhauses folgt Adenauers Bekenntnis zur Westorientierung der zweiten deutschen Republik. "In wiederholten Entscheidungen haben die Deutschen in der Bundesrepublik mit groBer Mehrheit die unauflosliche Zugehorigkeit des deutschen Volkes zur freien Welt bekraftigt, Mit der freien Welt teilen wir auch die Gefahren, die ihr drohen, Gefahren fur den Frieden. Als ein Land, durch dessen lebendigen Organismus jetzt eine Trennungslinie geht, die Teil des eisemen Vorhangs ist. So sind wir uns dieser Gefahren besonders bewusst. Wir bedurfen deshalb der Sicherung. Niemand in Deutschland, bei Gott niemand, spielt mit dem Gedanken der Gewaltanwendung oder des Krieges, auch nicht in der Frage der deutschen Wiedervereinigung, die uns doch so brennend am Herzen Iiegt. Darum, urn unserer aufrichtigen Liebe des Friedens willens, folgen wir auch mit wacher Aufmerksamkeit und Anteilnahme den Bemuhungen Ihrer Regierung, tiber eine allgemeine kontrollierte Abrustung zu einer Verminderung der Gefahr eines Krieges zu kommen. Wenn heute zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Volk ein Verhaltnis verstandnisvollen Einvemehmens, ja, ich wage es zu sagen , herzlicher Freundschaft besteht, so ist das nicht die Folge eines zufalligen Zusammentreffens vorubergehender Interessen, sondem es beruht auf der Gemeinschaft tiefer Uberzeugung. Es beruht auf der einzigen Macht, die freie Menschen dazu bringt, ihre Sicherheit dauerhaft aneinander zu binden, auf Vertrauen. Das deutsche Volk bringt Ihnen dieses Vertrauen entgegen. Bewahren Sie uns Ihr Vertrauen, das ist meine Bitte an Sie." Standing Ovation fur den deutschen Bundeskanzler. Der Applaus der amerikanischen Abgeordneten wurde zum Gutesiegel der AuBen- und Deutschlandpolitik des Bundeskanzlers. Abbildung 4: SPD-Plakat im Wahlkampf 195330
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Wie bei der ersten Amerikareise 1953 war auch im Wahlkampfjahr 1957 die Kranzniederlegung am Grabmal des unbekannten Soldaten ein emotionaler Hohepunkt der Reise. In subtiler Weise werden dem Zuschauer aber auch die Unterschiede und damit die Fortschritte der Adenauerschen Politik und die Illusion einer Gleichberechtigung prasentiert. .A merikanische Soldaten tragen wie damals die schwarz-rot-goldene Fahne ." Doch jetzt, 1957, so wird die Zeremonie kommentiert, "griil3en die deutschen Militarattaches" als .Abgesandte der verbundeten deutschen Streitkrafte ." Unter Hinweis auf 1953 wird an die Worte Adenauers erinnert, mit denen er bereits bei seinem ersten Besuch in Arlington die Bedeutung dieses Ereignisses gewurdigt hatte. Sechs Tage "entscheidende Verhandlungen" wurden durch einen .Jierzlichen Abschied fur Dr. Adenauer" mit militarischen Ehren abgeschlossen . .Der Marsch Alte Kameraden in dieser Stunde" sei "mehr als eine freundliche Geste", denn "diese Ehrung Dr. Adenauers wurde in Washington sonst nur Staatsoberhauptern zuteil" . Abbildung 5: SPD-Plakat im Wahlkampf 19573 1
Es war eine fundamentale Fehleinschatzung der Machtverhaltnisse im internationalen System, der einsetzenden Amerikanisierung in Westdeutschland und der Stimmung in der Bevolkerung, wenn die SPD glaubte, sich in ihrer Wahlpropaganda gegen den Faktor AmeJI
Wahlkampfplakat der SPD im Privatbesitz des Autors.
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rika stemmen zu konnen, Vier Jahre sparer hat die Sozialdemokratie im Wahlkampf von 1957 aus diesem wahltaktischen Fehler die Konsequenz gezogen und ihrerseits versucht, den Faktor Amerika innenpolitisch fur die eigenen Ziele zu instrumentalisieren: Ein SPDWahlplakat zeigte Prasident Eisenhower und den Parteivorsitzenden Ollenhauer bei einem ,Handshake'. .Handschlag mit Amerika", lautete jetzt die Parole. Doch warum sollte der Wahler in Sachen Amerikaorientierung das Imitat wahlen, wenn das Original bereits erfolgreich war? Der Slogan der Unionsparteien von 1957 "keine Experimente" galt auch in Bezug auf die Politik gegenuber den USA.
Adenauer: Medienkanzler? Der Film .Ein Mann wirbt fur sein Volk" war offenbar deshalb so erfolgreich, weil er zwei fur die deutsche Politik des Jahres 1953 entscheidende Elemente miteinander verknupfte: die Bedeutung der USA und die Fuhrungsrolle des Kanzlers, die durch die Amerikareise bestatigt wurde. Das politische Kalkul der CDU-Wahlkampfstrategen war voU aufgegangen, wie der unerwartet hohe Wahlsieg der Unionsparteien zeigt. Dazu hatte das Medium Film einen wichtigen Beitrag geleistet. So wie seit Ende der 1950er Jahre auch in Deutschland das Femsehen die politischen Botschaften in das Wohnzimmer transportiert, so haben die Wahlkampfstrategen der CDU in gewerblichen und vor allem nichtgewerblichen Vorfiihrungen die politischen Botschaften in die Stadte und Dorfer getragen, zum Teil mit mobilen Vorfuhrgeraten. In der Bundestagswahl 1953 wurde Konrad Adenauer medienwirksam im wahrsten Sinne des Wortes ins Bild gesetzt. Angesichts dieser Beobachtungen stellt sich die Frage, ob bereits Konrad Adenauer als Medienkanzler charakterisiert werden kann, wie unlangst Daniela Munkel bei den 23. Rhondorfer Gesprachen, die dem Thema .Jvledienmacht und Offentlichkeit in der Ara Adenauer" gewidmet waren, vorgeschlagen hat. 32 Der Begriff Medienkanzler wird in der Regel mit Willy Brandt und Gerhard Schroder in Verbindung gebracht, weil beide es meisterhaft verstanden haben, das Medium Fernsehen fur ihre personlichen und politischen Ziele zu instrumentalisieren. Diese Fixierung auf das Fernsehen verstellt allerdings den Blick auf die Tatsache, dass es bereits Konrad Adenauer verstanden hat, die wichtigsten Medien seiner Zeit, also vor allem Printmedien, Radio und Wochenschauen fur seine politischen Zwecke zu instrumentalisieren." Die Amerikareise des Jahres 1953 ist ein wichtiger Beleg dafiir, dass Adenauer die Visualisierung seiner Auftritte gesucht und es verstanden hat, sich medienwirksam zu prasentieren, Bereits auf der Uberfahrt fand er sich werbewirksam im Freizeitlook auf der Brucke der United States ein. Auch in Washington nahm er sich die Zeit, auf den Treppen des Kapitols fur die Kamera zu posieren. AuBerdem gewahrte er auch Einblicke in die Privatsphare, In diesem Sinne war Konrad Adenauer ein Medienkanzler, der es in subtiler Weise verstanden hat, die Medien seiner Zeit politisch und insbesondere als wahltaktische Kommunikationsmittel zu nutzen. Dazu gehorte auch der Film. .Ein Mann wirbt fur sein Volk" ist dafiir ein frtiher und besonders eindrucksvoller Beleg. Die sich hier manifestierende Fahigkeit Adenauers zur Selbstinszenierung hat zu den grandiosen WahlerfoIgen von 1953 und 1957 entscheidend beigetragen.
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Munkel 2007; vgl. Blasius, Rainer: Auf den Alten kam es an. Und nieht auf die Bonner Joumalisten: Die Medien in der Ara Adenauer, in: FAZ, 25.09.2006, S. 10. Vgl. Mensing 2004; generell zur Medienpolitik und zur .Mediensteuerung'' v. Hodenberg 2006.
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Der Wahlkampffur Ludwig Erhard 1965 Von Isabel Nocker
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Einordnung in den historischen Gesamtzusammenhang
Oem Bundestagswahlkampf im Jahr 1965 kam fur die Christlieh Demokratisehe Union (CDU) eine besondere Bedeutung in der deutsehen Naehkriegsgesehiehte zu: War er doeh der erste, an dessen Spitze nieht Konrad Adenauer, sondem Ludwig Erhard als .Zugpferd'' fur die Union stand. Oer Begrunder der Kanzlerdemokratie, Konrad Adenauer, hatte sieh nach dem Wahlsieg 1961 in dem Koalitionsvertrag mit der Freien Oemokratischen Partei (FOP) das Verspreehen zu einem vorzeitigen Rucktritt im Laufe der Legislaturperiode abringen lassen. Nach der SPIEGEL-Affare, die eine Neuordnung des ehristlieh-liberalen Kabinetts erforderlieh machte, legte er offiziell am 15. Oktober 1963 sein Amt nieder. Bereits im Fruhjahr 1963 hatte die COU/CSU-Fraktion Erhard zum nachsten Kanzlerkandidaten bestimmt - nieht ohne den heftigen Widerstand Adenauers. Am 16. Oktober 1963 wahlte der Deutsche Bundestag den bisherigen Vizekanzler und Bundeswirtsehaftsminister Ludwig Erhard zum neuen Bundeskanzler.' Mit ihm zog die Union 1965 in den funften Bundestagswahlkampf der Republik. Obwohl von renommierten Demoskopen ein aulsergewohnlich hoher Anteil an unsehliissigen Wahlem urn die Jahreswende 1964/65 ermittelt und ein Kopf-an-Kopf- Rennen mit der Sozialdemokratischen Partei Deutsehlands (SPO) prognostiziert wurde, gewann die CDU mit Ludwig Erhard uberraschend deutlieh vor der SPO und ihrem Kanzlerkandidaten Willy Brandt. 47,6 Prozent der Wahler konnte die CDU/CSU fur sieh gewinnen. Die SPO lag bei 39,3 Prozent. Die FDP verlor im Vergleich zur Wahl 1961 Stimmen, bildete aber dennoch gemeinsam mit der Koalition aus CDU und CSU das zweite Kabinett Erhard. 2 2
Einordnung in den publizistikwissenschaftlichen Zusammenhang
Nicht nur in der politischen, sondem auch in der publizistischen Forschung kommt dem Bundestagswahlkampf 1965 eine besondere Bedeutung zu: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik praktizierten die groBen Parteien politisehes Marketing, d.h. die Meinungsforschung wurde zum neu entdeckten Instrument der Politik und der politischen Vermittlung im Wahlkampfund ermoglichte so ein .Disponieren vom Markt her"." In den Beraterstaben Brandts und Erhards wirkten - wie im Folgenden gezeigt wird - Demoskopen und Werbefachleute, die politische Aussagen, Strategien der Public Relations (PR) und Kampagnen aus den demoskopischen Ergebnissen ableiteten." Die Folge: eine zunehmende Vgl. Lehmann 2002: 149ff. Vgl. ebd.: 157ff. Diederich & Grubling 1989: 163. Holtz-Bacha bemerkt dazu dass die Demoskopie zwar auch in den vorangehenden Wahlkampfen eine Rolle gespielt habe, ,,[n]ie zuvor war aber die Meinungsforschung so umfangreich [... ] eingesetzt worden." (HoltzBacha 2000: 104). Zum Verstandnis des Ausdrucks "Public Relations" und dem synonym verwendeten Begriff "OffentJichkeitsarbeit" vgl. Kunczik 1993: 12ff.
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Mediatisierung der Politik und Tendenzen zur Amerikanisierung des Wahlkampfes in Deutschland.' Gemeint ist die allmahliche Annahrung der Wahlkampfftihrung an die Art und Weise, wie in den USA Wahlkampf betrieben wird, gekennzeichnet u.a. durch eine zunehmende Professionalisierung, eine wachsende Bedeutung von symbolischer Politik, eine inhaltliche Ausrichtung an vermeintlichen Images statt an Themen oder programmatischen Profilen." Deutlich wird dies im Jahr 1965 u.a. an den Slogans der groBen Parteien. Suchte die FDP sich mit dem Slogan "FDP - notiger denn je" als unabdingbare dritte Kraft im Maehtgeftige darzustellen, so war eine thematische Unterscheidung der beiden groBen Parteien anhand der Wahlslogans nieht mehr moglich. Sie setzten nahezu identisch auf das Thema Sicherheit: "Sieher ist sicher - SPD" und .Llnsere Sicherheit - CDU" lauteten ihre Slogans. Sie versuchten stattdessen ihre inhaltlichen Untersehiede an den Images ihrer beiden Protagonisten festzumaehen: Auf der einen Seite stand Willy Brandt, der "deutsche Kennedy?", mit Visionen von der Zukunft Deutschlands, auf der anderen Seite Ludwig Erhard, der "Talisman"g der Deutschen, der von seinem Vertrauensvorsprung und dem Renommee seines Amtes in der Offentlichkeit profitierte, auf Konsolidierung setzte und das bisher Erreichte in Deutschland erhalten wollte. Beide Parteien setzten aufPersonalisierung und muteten ihren Kanzlerkandidaten ein enorm hohes Pensum an Wahlkampfveranstaltungen zu." Fur Ludwig Erhard im Besonderen ruhte die politisehe Offentlichkeitsarbeit im Wahlkampf 1965 auf zwei Saulen: Zum einen auf der Vemetzung verschiedener Organisationen und Institutionen, die auf ihre Art und Weise und mit den ihnen eigenen Einflussmoglichkeiten die Maehtposition Erhards und sein Bild in der Offentlichkeit zu starken suehten, und zum anderen auf Ludwig Erhard selbst, ohne dessen enormen Vertrauensvorsprung ein Wahlkampf dieser Art nicht moglich gewesen ware. Er war es - wie es zu zeigen gilt -, der mit seiner Personlichkeit, seinem Erfolg als Wirtsehaftsminister, seinem Image als "Vater des Wirtsehaftswunders" entscheidend zum Ausgang der Wahl beitrug. 3
Institutionelle politische Offentlichkeitsarbeit ffir Ludwig Erhard
Die Organisationen, die an dem Erfolg der Union bei der Bundestagswahl 1965 maBgeblich beteiligt waren, sind vielfaltig: das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA), das Bundeskanzleramt, die Wahlkarnpfstrategen in der Union, die Arbeitsgerneinschaft Dernokratischer Kreise (ADK), die Mobilwerbung und der "Sonderkreis", urn nur einige zu nennen. Unterschiedlich motiviert, mit einern unterschiedlichen Grad an Professionalitat und Engagement und mit deutlich divergierenden Einflussmoglichkeiten einte sie
Belegt ist z.B., dass Hans Edgar Jahn, Grunder der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise .Jm Auftrag des Herro Bundeskanzlers" im Herbst 1964 zur Beobachtung und Analyse des Prasidentschaftswahlkampfes in die USA reiste. (Der Amerikanische Prasidentschaftswahlkampf 1964. Darstellung cines Wahlkampfes und Versuch einer Analyse yon Hans Edgar Jahn. Unveroffentlichtes Manuskript. Akte 454-30-5, B 145/3537, BA.) Und auch fur die SPD war die USA-Reise ihres Spitzenkandidaten im Vorfeld der Wahl ein wichtiger Bestandteil der Wahlkampfkonzeption. Vgl. MOnke12003: 58ff. Vgl, Radunski 1996: 34~ Holtz-Bacha 1996: l lff Zum Begriff "Image" vgl. z.B. Lippmann 1964: 61ff.~ Boulding 1971: 19ff. Munke12004: 14; Keil2004: 374ff. Stackelberg 1967. Die CDU hatte ihre Wahlkampagnen bereits 1953 und 1957 personalisiert und erfolgreich mit dem Konterfei Adenauers geworben ("Keine Experimente - Konrad Adenauer", 1957). (Vgl, Holtz-Bacha 2000: 94.)
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ein Ziel: der Wahlsieg Ludwig Erhards. Gemeinsam lieferten sie im Wahlkampf fur die Medien und die Offentlichkeit eine "bUhnenreife Produktion"." Ebenso wichtig wie die Arbeit dieser Institutionen war, diese zu koordinieren und miteinander zu verzahnen. Wahlkampfstrategen aus unterschiedlichen Bereichen bzw. Institutionen, die die Offentlichkeitsarbeit der Partei und die von Ludwig Erhard bereits seit Jahren bestimmten, suchten teils gemeinsam, teils getrennt voneinander, die divers en kommunikationspolitischen Krafte einzusetzen, zu bundeIn, ihr Zusammenspiel zu organisieren oder miteinander zu verflechten. Verantwortlich hierfUr waren die Strategen aus dem Bundeskanzleramt (Karl Hohmann), aus der CDU (Josef Hermann Dufhues) und aus dem Presse- und Informationsamt derBundesregierung (Karl-Gunther von Hase).ll
3.1 Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) Mit dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (BPA) hatte Ludwig Erhard einen gut organisierten und funktionierenden PR-Apparat von seinem Vorganger im Amt ubernornmen." Das BPA hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den fehlenden .Bewufitseinszusammenhang zwischen der eigenen Zufriedenheit und den politisch dafur Verantwortlichen" 13 bei den Bundesburgern wiederherzustellen. Deshalb vereinbarte es eine enge Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt und konzipierte gemeinsam mit ihm eine ubergeordnete PR-Strategie, die sich u.a. auf folgende Aufgaben konzentrierte: • die langfristige Planung der publizistischen Aktivitaten des Bundeskanzlers; • die Organisation zusatzlicher Informationsreisen fur Chefredakteure und Joumalisten nach Bonn; • die .Verstarkung der direkten Einwirkung des BPA auf Presseorgane durch Matemseiten, Presse- und Artikeldienste, Grafiken usw. [... ]"; • "eine besondere Betreuung der meinungsbildenden Multiplikatoren im Land" und der mit dem BPA .zusamrnenarbeitenden Organisationen (z.B. ADK) durch finanzielle Starkung, aktuelle Informierung, Broschuren und personliche Besuche
[...l": • • • •
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eine "breite Streuung von attraktiv gestalteten Broschuren [... ]"; ein ; verstarkter Einsatz der Filmdienste des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, insbesondere fur die Wahlversammlungen" 14; zusatzliche Einsatze von Femsehfilmen tiber Arbeit und Absichten der Bundesregierung; diverse Gro13projekte, wie eine Serie von Gro13anzeigen in publikumswirksamen Zeitungen ("Mitburger fragen - der Bundeskanzler antwortet") oder den Einsatz der Mobilwerbung."
Busch & Luke 1965: 65f. Vgl. Abstimmung der Wahlkampfvorbereitungen zwischen Presseamt und Bundeskanzleramt. Vertraulicher Vermerk von Bebenneyer, 08.02.1965. Akte 142/0, B 136/3911, BA. Zur Zusammenarbeitder ADK mit Erhard personlich vgJ. Jahn 1987:479. Abstimmung der Wahlkampfvorbereitungen zwischen Presseamt und Bundeskanzleramt, 08.02.1965. a.a.O.. B 136/3911,SA. VertraulicheZusammenfassung einer Klausurtagung, 24.11.1964.Akte 142/0, B 136/3911, SA. Vgl. ebd..
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Dieses fragmentarische PR-Konzept aus dem Jahr 1964 macht deutlich, dass allein das BPA tiber unterschiedliche Kanale zur Wahlkamptkommunikation verfugte, die es ohne Abstimmung mit der CDU einsetzen konnte und wollte. So hatte es z.B. durch die bereits erwahnte Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise (ADK) sehr gute Kontakte im vorparlamentarischen Raum." Als Verein ubemahm die ADK seit 1951 Aufgaben der Public Relations fUr die Bundesregierung und etablierte sich so zu einer der bekanntesten und eintlussreichsten Institutionen fur politische Offentlichkeitsarbeit in den Nachkriegsjahren." Die ADK leistete auch einen besonderen Beitrag zur Wahlkamptkommunikation Ludwig Erhards: Sie richtete von November 1964 bis November 1965 das Referat .Heimatpresse" ein, das unter dem Deckmantel eines freien Redaktionsburos in der kurzen Zeit seines Bestehens mehr als 200 "regierungsfreundlich kommentierende Leserbriefe" an die Presse verfasste oder Textvorlagen fur die CDUKreisverbande oder das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung lieferte." DarUber hinaus verfugte das BPA tiber ein eigenes Medium, das es ibm ermoglichte Regierungspropaganda - unabhangig von den traditionellen Massenmedien - bis in den entlegensten Winkel der Republik zu bringen: die Werbomobile." Besonders in Iandlichen Gegenden erreichten die Volkswagen-Busse, .Kreuzungjen] aus Kino und Kollegsaal auf Radem,,20, die mit einem Filmprojektor mit Hebebuhne sowie einem Techniker und einem professionellen Sprecher besetzt waren, mit ihren medialen Vorflihrungen und dem, was heute als .Jnfotainment'r" bezeichnet werden wurde, hochste Aufmerksamkeitswerte. Die Werbomobile, die durch die Mobilwerbung GmbH eingesetzt wurden, hatten das Ziel, Politik unterhaltsam zu vermitteln und gleichzeitig fur die Regierung oder fur den Kanzler zu werben. Die Bundesregierung, das BPA und vor allem das Kanzleramt blieben dabei fur das offentliche Auge unsichtbar. War die Mobilwerbung GmbH unter Adenauer noch wegen der Auftragslage auf das Bundespresseamt angewiesen, so wurde sie nun unter Erhard - aufgrund mangelnder Liquiditat - vollstandig subventioniert und vertraglich gebunden zum offentlichkeitswirksamen Instrument fur die Vermittlung von Regierungsbotschaften. Nach dem Wahlsieg 1965 gab man die Zusammenarbeit mit der Mobilwerbung auf, nach der Bildung der GroBen Koalition wurde sie aufgelost, Conrad Ahlers, stellvertretender Regierungssprecher, begrundete dies 1967 damit, dass sie "von den Sozialdemokraten von Anfang an als ein feindliches Instrument empfunden worden'v" war. Anhand dieser zwei Beispiele (ADK und Mobilwerbung) wird deutlich, dass das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung tiber mannigfaltige Einflussmoglichkeiten in der Offentlichkeit verfugte, ohne selbst in Erscheinung zu treten. Aber auch Beispiele fur direkte Offentlichkeitsarbeit fur die Bundesregierung und eine enge Verzahnung mit den Interessen des Kanzleramtes sind im Laufe des Wahlkampfes 1965 dokumentiert: Beispielhaft hierfur war die bereits erwahnte Anzeigenkampagne "Mitbiirger fragen - der Kanzler 16
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Zu Entstehung und Funktion der Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise vgl. Schindelbeck & ligen 1999. Vgl. auch Kunczik 1998: 59. Vgl. ebd .. Und: Helmut Schmidt zitiert bei Hans Edgar Jahn: "Sie fragen, [... ] warum die ADK weg muss? loon und seine Organisation haben der SPD mehr geschadet als die CDVICSV zusammengenommen." (loon 1987: 93.). Vgl. Tatigkeitsbericht, 30.09.1965. Akte 454-30-2, B 145/3540, BA. Vgl. Holtz-Bacha 2000: 107. Buchwald 1991: 71. Zum BegriffInfotainment vgl. z.B. Hoffmann 1998: 434. .Anstofiige Elemente werden eliminiert". In: Capital 6 (1967), Heft 10. S. 32, Pressedokumentation, ACDP.
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antwortet'v", die das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung im FrUhjahr/Sommer 1965 initiierte und finanzierte. In Absprache mit Hohmann und einem Stab so genannter .Werbeberater" entwickelte das BPA eine Kampagne, die "den Verstand ansprechen", .Tatsachen vermitteln" und die "vorliegenden Positiva der Bundesregierung starker heraus[ ... [stellen'v" sollte. Zielgruppe waren vor allem die unentschlossenen Wahler. Die Anzeigenserie mit sechs verschiedenen Motiven in deutschen Tageszeitungen hatte ein einheitliches Gestaltungsmuster, bei dem eine aktuelle politische Frage gestellt und dem Kanzler nachfolgend ausreichend Raum zur .Beantwortung" eingeraumt wurde." Obwohl dieser Kampagne ein gewisser Informationswert mit aktuellem Bezug nicht abgesprochen werden kann und sie moglicherweise auch einen Beitrag zur politischen Aufklarung der BUrger leistete, war sie doch zweifelsohne parteipolitisch gefarbt, auf die Person Erhards zugeschnitten und rief unmissverstandlich zur Wiederwahl des Amtsinhabers auf. Oavon zeugten nicht nur em einspaltiges Portratfoto (in wechselnder Pose) und die faksimilierte Unterschrift Ludwig Erhards - zwei Gestaltungselemente, die sich auch in der zeitgleich geschalteten CDU-Werbung wieder fanden und damit eindeutig an die Werbewirkung der Parteiplakate anknupften -, sondern auch, dass von Erhard gepragte Fachtermini wie Formierte Gesellschaft oder Deutsches Gemeinschaftswerk benutzt wurden." Oer politische Gegner kritisierte die Anzeigenserie vehement. Geschatzte 1,8 Millionen OM solI das Bundespresseamt der SPD zufolge ausgegeben haberr", urn .Eigenwerbung der Regierung" und "tible Wahlpropaganda" auf Kosten der Steuerzahler zu betreiben." Hinzukommt, dass sich die groBen Parteien vor der Wahlkampfperiode erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik auf eine .Vereinbarung tiber die Fuhrung eines fairen Wahlkampfes und uber die Begrenzung der Wahlkampfkosten" geeinigt hatten. Zum Wahlkampf 1965 sollten die Kosten fur CDU, SPD und FDP auf 15 Millionen DM und die Dauer des Wahlkampfes (z.B. durch Plakatierungen ausschlieBlich binnen der letzten 30 Tage vor der Wahl) begrenzt werden." Abgesehen davon, dass beide groBen Parteien sich nicht an diese finanzielle Beschrankung hielterr", erscheint besonders vor diesem Hintergrund die Legitimitat einer vom BPA geplanten und finanzierten Anzeigenserie fur den amtierenden Kanzler, die unabhangig vom Wahlkampfbudget der Union realisiert wurde, hochst zweifelhaft.
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Der Titel der Anzeigenkampagne entstand in Anlehnung an eine Informationssendung des ZDF .Journalisten fragen - Politiker antworten" (Vgl. Hildebrand 1984: 149). 5. Besprechung mit Werbeberatern am 15.03.1965. Vertrauliche Aufzeichnung von Schulze, 16.03.1965. Akte 142/0, B 136/3911, BA. Kopien der Anzeigenserie finden sich im Anhang der Magisterarbeitvon Nocker (Nocker 1999: S. 109ff.). Vgl. Walker 1982: 37. Vgl. 6. Besprechung mit Werbeberatem am 22.03.1965. Vertrauliche Aufzeichnung von Schulze, 16.03.1965. Akte 142/0, B 136/3911, BA. Die SPD drohte mit einer Verfassungsklage, die sie erst 1969 zuruckzog, Parallel zur BPA-Kampagne veroffentlichten die Sozialdemokraten Persiflagen auf die Erhard-Anzeigen mit dem Titel "MitbOrger fragen - der ,Volks'kanzler antwortet nicht", Mehr dazu vg1. Nocker 1999: 109ff. Ellwein 1977: 199. Laut Holtz-Bacha wurden die Ausgaben von CDU und SPD fur die Werbekampagne zur Wahl "spater auf rund das Doppclte" als die vereinbarten 15 Millionen DM geschatzt (Holtz-Bacha 2000: 104).
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3.2 Das Bundeskanzleramt 1m Palais Schaumburg liefen in den Jahren 1964 bis 65 die Faden der Bemuhungen urn die Gunst der Wahler zusammen. Neben zwei Hauptabteilungen im Bundeskanzleramt, in dem damals rund 170 Mitarbeiter dem Bundeskanzler zur Seite standen, gab es zwei Sonderburos, die von auBerordentlicher Bedeutung fur Ludwig Erhard waren: das AuBenpolitische Buro und das Kanzlerburo, Die Kooperationen mit dem BPA, die Abstimmungen mit dem in Kapitel 3.3 erwahnten Sonderkreis, "die Vorbereitungen der Kanzlerreden, der ganze Public-Relations-Apparar':" wurden hier geplant und gebundelt. Hier sind vor allem Karl Hohmann aber auch Hans Klein zu erwahnen, die sich entscheidend urn Fragen der Public Relations im weitesten Sinne wahrend des Wahlkampfes 1965 gekummert haben. Die Rollen zwischen beiden im Kanzleramt waren klar verteilt: Wahrend Karl Hohmann der PRFachmann mit Geschick und strategischer Weitsicht war, fungierte Klein als kollegialer Ansprechpartner fur Pressefragen. Karl Hohmann, promovierter Volkswirt, avancierte bereits 1956 zum .Jiochst aktiven" Pressereferenten Erhards, als dieser noch Wirtschaftsminister war. .Diskret, einfallsreich und die guten Verbindungen zu seinen zahlreichen Bekannten aus dem Bereich des Journalismus und der Publizistik nutzend'v", bernuhte sich Hohmann, die verschiedenen Kanale, die ihm zur politischen Kommunikation zur Verfugung standen und die in diesem Aufsatz beschrieben sind, Gewinn bringend einzusetzen und moglichst miteinander zu vemetzen. Von ibm stammte die Idee, Erhard einen Beraterkreis (wie den Sonderkreis) zur Verfugung zu stellen, die "Brigade Erhard":" fur PR-politische Zwecke zu nutzen, von den Kontakten des Bundespresseamtes zu professionellen Werbeberatem zu profitieren oder mit prominenten Sympathietragern fur Ludwig Erhard wahrend des Wahlkampfes 1965 zu werben, urn seinen Vorgesetzten und dessen Regierungspolitik zu vermarkten." Hans "Johnny" Klein, der erst 1965 als pressepolitischer Referent ins Bundeskanzleramt kam, galt nicht als enger Konfident Erhards, war dennoch fUr seine Pressepolitik von grofser Bedeutung. Vor seinern Wechsel ins Palais Schaumburg harte er ein Zeitungsvolontariat und eine Schriftsetzerlehre absolviert und war als Redakteur fur diverse Zeitungen tatig gewesen. Bei der Wahlkampfreise 1965 im Sonderzug des Kanzlers galt er als eine der wichtigsten Kontaktpersonen des Kanzleramtes zur Presse - und umgekehrt. Er war das ideale Pendant zu einem eher schwermutig wirkenden Ludwig Erhard und zu einem sachlich verschwiegenen Hohmann." Versiert, humorvoll und als Gleicher unter Gleichen galt er als die "Seele der Unterhaltung" in Erhards Sonderzug zum Wahlkampf, als das "geschatzte Bindeglied der Presse zum Bundeskanzleramr". 31 32 33
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Caro 1965:230. Koerfer 1987: 158. Die "Brigade Erhard" gilt als Sammelbegrifffur einen Kreis einflussreicher Personlichkeiten in der Bundesrepublik, die sich fur Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft einsetzten. Die genaue personelle Zusammensetzung dieser .Ordensgemeinschaft'' bleibt anhand der Literaturlage heute umstritten. Vgl. dazu Schlecht 1977: 131 und Kempski 1999: 112. Vgl. dazu Caro 1965: S. 234ff. Und: Protokoll der SK-Sitzung, 05.12.1964, NE 559, LESt. In dem Protokoll heiBt es: ,,[Hohmann] teilte sodann mit, daB daran gedacht sei, ein Erhard-Deutschland-Komitee zu begrunden [... ]. Es solie dabei in erster Linie abgestellt werden auf Wirtschaft, Wissenschaft und Publizistik, die CDU solIe dabei nicht genannt werden. Es mubten etwa 50 Namen von bekannten und bedeutenden Personlichkeiten der Bundesrepublik darin enthalten sein [... ) u.a. Heisenberg. Jaspers, Zuckmaier, Kokoschka, Eschenburg [... ), Romy Schneider [... ]." Busch und Luke bezeichnenHohmann"als unergiebig" fur die Presse (Busch & Luke 1965: 179). Ebd.: 177.
3.3 Der Sonderkreis In den so genannten Sonderkreis hatte Hohmann im Auftrag Erhards Experten aus Wissenschaft, Publizistik und Politik zur Beratung des Kanzlers in aktuellen Fragen berufen. Erklartes Hauptziel war die Vorbereitung auf den Bundestagswahlkampf 1965. In der Zeit von November 1964 bis Marz 1966 kam der Sonderkreis zu mehr als 20 protokollierten und als "vertraulich" eingestuften Gesprachen zusammen. Seine wichtigsten Mitglieder waren der Publizist RUdiger Altmann, der Werbefachmann und ehemalige SPIEGEL-Redakteur Hermann Blome, der damalige Chef der politischen Abteilung des Deutschlandfunks Johannes Gross, der Psychologe Manfred Koch, der Geschaftsfuhrer des Umfrageinstituts DIVO und Professor der politischen Wissenschaften Rudolf Wildenmann sowie aus dem Kanzleramt Karl Hohmann, der PR-Fachmann im Kanzleramt Hartmut Bebermeyer und 37 Hans "Johnny" Klein. Der Sonderkreis sollte dem Bundeskanzler einen Beraterstab zur Seite stellen, eine "interne Denkfabrik":", ahnlich den "Spin Doctors" nach amerikanischem VorbiJd. Sich selbst betrachtete der Sonderkreis als "Studiengruppe,,39. Er sollte Erhard in Fragen der PR zu aktuellen politischen Themen unterstutzen und Vorschlage zur wirkungsvollen Offentlichkeitsarbeit machen. Allerdings ist die wahre Bedeutung des Sonderkreises fur die Public Relations Erhards umstritten. Einerseits fehlten Struktur, zum Teil auch konzeptioneller Weitblick und vor allem der nachweisbare Einfluss auf den Regierungschef. Welchen Ratschlag Erhard bei seinen Erwagungen befolgte und ob er den Sonderkreis uberhaupt zu gewissen Problemen Stellung nehmen lieB, bestimmte er allein - oder gegebenenfalls Hohmann. Andererseits wird dem Sonderkreis ein .betrachtlicher EinfluB auf die Formulierung und die Strategie der Erhardschen Politik im Wahljahr?" zugesprochen. Folgt man Benteles 1998 formulierten Aufgabenstellung fUr PR- bzw. Kommunikationsabteilungen in Organisationen'", so hat der Sonderkreis retrospektiv jedoch durchaus Funktionen eines PR-Stabes ubernommen: die .Beobachtung der Organisationsumwelt", die .Planung und Analyse" sowie die .Beratung der Organisationsspitze auf allen Ebenen" gehorte zu seinen Hauptaufgaben." 3.4 Die CDU Nahezu unabhangig vom Bundespresse- und dem Kanzleramt entwickelten die Wahlkampfstrategen in der CDU/CSU-Fraktion ihr eigenes PR-Konzept. Zustandig hierfur waren Josef Hermann Dufhues, Geschaftsfuhrer der COU und "Wahlkampfmanager", sowie Wahlkampfleiter Dr. Konrad Kraske. Beide waren .froh", "wenn ,Hohmann & Co.' sich nicht standig, sondem nur zeitweilig einmischten.?" Auf Seiten der Union waren sie damit beschaftigt, "den Tross der Parteireferenten fur die Wahlschlacht zu gruppieren. Sie mussten versuchen, [... ] das Denken vieler Menschen konstruktiv auf ein Ziel auszurichten.
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Vgl. Protokolle der Sonderkreis-Sitzungen, NE 559 und NE 562, LESt. Mierzejewski 2004: 285. Protokoll der SK-Sitzung, 07.01.1965, NE 559, LESt. Laitenberger 1986: 193. Vgl. Bentele 1998: 139. Ausfuhrliche Infonnationen tiber die Empfehlungen des Sonderkreises vgl. Nocker 1999: 67ff. Busch & Luke 1965: 65f.
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Zum anderen rnussten die von den Referenten [... ] erarbeiteten Strategiefragrnente zu der groBen Wahlkampfkonzeption zusammengefugt werden. ,,44 Ihnen zur Seite standen Werbeagenturen wie Hegemann in Dusseldorf und Die Werbe in Essen sowie ein Stab von CDU-Referenten, Motiv- und Meinungsforschem, Statistikem und Politologen, die Untersuchungen zur "statistischen Untermauerung des Wahlkampfes" vomahmen; allen voran Hanns Wilhelm GroBe-Wilde, Referent fur Werbung in der Abteilung Offentlichkeitserbeit und ehemaliger Schuler Professor Wildenmanns, der seinerseits im Sonderkreis tatig war. Insbesondere seinem Wirken ist es zuzuschreiben, dass die COU erstmals gezielt politisches Marketing betrieb." Die Wahl der Werbemittel war weit gestreut und unterschied sich nicht wesentlich von der der SPO: Druckerzeugnisse, Filmwerbung, Werbelieder auf Vinyl sowie Spots im Rundfunk." Auf eine Wahl-Illustrierte verzichtete die Union. 47 Stattdessen gab es die ubliche Auftakt- und Abschlussveranstaltung zum Wahlkampf sowie eine Wahlkampfreise, die generalstabsmabig nach amerikanischem Vorbild bei beiden Parteien geplant war. Die COU jedoch wahlte die Reiseroute nicht nach Gesichtspunkten der Effizienz aus, sondem mutete ihrem 68-jahrigen Spitzenkandidaten auffallend viele Wahlkampfveranstaltungen und -reden zu. Wahrend das Konzept der SPD, Willy Brandt mit seinem Wahlkampfteam vorwiegend in Arbeitervierteln in Grofsstadten auftreten zu lassen, aufging und ihr dort nachweislich einen Stimmengewinn einbrachte, musste Erhard auf der Wahlreise vielen Verptlichtungen nachkommen, die wenig besucht waren und durch menschenleere Landschaften fuhrten." Das inhaltliche Konzept der CDU war einfach: Da es ihr an zukunftsweisenden Ideen im Parteiprogramm mangelte, versuchte sie, Erhard mit seiner Vision einer .Formierten Gesellschaft" und seiner Popularitat in den Mittelpunkt des Wahlkampfes zu stellen. FUr die Union war er nicht nur ein idealer Imagetrager, sondem auch und vor allem das Symbol einer po litischen Idee, einer konservativen Tradition im Nachkriegsdeutschland. Er galt als die Verkorperung der politischen Ideale und Ziele der Partei. Deshalb spitzte sie die Polarisierung Bundeskanzler versus Kanzlerkandidat bzw. Amtsinhaber versus Amtsanwarter weiter zu. Den Hohepunkt bildete eine von den Christdemokraten in Auftrag gegebene Anzeigenserie in der Presse am Wahlsonntag mit einer - ebenfalls fur einen Wahlkampf mit Tendenzen zur Amerikanisierung typischen - "Schlussphasen-Dramatisierung". Sie reduzierte offentlich samtliche Inhalte des Wahlkampfes auf den Slogan: "Erhard oder Brandt - das ist hier die Frage"."
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Ebd .. Erstmals legte auch die SPO die Wahlkampfleitung in die Hande weniger Personen: Willy Brandt, Herbert Wehner und Fritz Erler gehorten dazu. Vgl. Struve 1971: 141. COU: Politisches Marketing. In: Neumann & Sprang 1966: 361. Zu den Sendezeiten von SPD und CDU vgl. Holtz-Bacha 2000: 108. Vgl. .Zur Wahlkampf- und Werbekonzeption der COU 1965." Vorlage der Abteilung Offentlichkeitsarbeit, 14.01.1965. Pressedokumentation, ACDP. Vgl. dazu Holtz-Bacha 2000: 104 ff.; Hildebrand 1984: 150; Nocker 1999: IlIff. Vgl. ebd.: 154f.
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Personliche politische Offentlichkeitsarbeit fur Ludwig Erhard
4. J Zur Person Ludwig Erhards Die politisehe Karriere Ludwig Erhards'" (geboren am 4. Februar 1897 in FUrth, gestorben am 5. Mai 1977 in Bonn) begann naeh dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Von 1947 hatte er das Amt des Bayerisehen Wirtsehaftsministers inne und wurde Vorsitzender der "Sonderstelle Geld und Kredit" sowie Direktor der .Verwaltung fur Wirtsehaft" in Frankfurt am Main. Aus dieser Zeit stammen sein Ruhm und sein legendarer Ruf als Begrunder der Sozialen Marktwirtsehaft in Deutschland." Seit September 1949 lenkte er die Gesehicke der Bundesrepublik als erster Wirtschaftsminister und "Vater des Wirtschaftswunders" im Kabinett Adenauer, bis er 1963 dessen Nachfolge antral. Der "Kampf urns Kanzleramt" gestaltete sich als auBerordentlich problematisch, da Adenauer seinen langjahrigen Mitarbeiter fur zu unerfahren und ungeschiekt hieIt, urn die entscheidenden Krafte im politischen System auszubalancieren.Y Auch innerhalb seiner Partei gaben weder Kompetenzvermutung noch Sympathie den Ausschlag fur die Nominierung Erhards zum AdenauerNachfolger. Seine Wahl war die Konzession der Union an den vermeintlichen Wahlerwunsch: .Er galt fur viele als Ubergangskanzler, als ein Mann, den man wahlte, urn die ,besonnte' Vergangenheit zu reproduzieren, noch einmalZeit zu gewinnen, in der die Unionsparteien sich erholen konnte, urn dann in eine neue Politik einzutreten.v" Tatsachlich dauerte die Amtszeit Erhards nicht lange. AuBenpolitische Konflikte und innerparteiliche Querelen trieben ihn in die Isolation. Hinzu karn, dass dem harmoniebedurftigen Wirtsehaftswissensehaftler machtpolitisches Kalkul weitgehend fremd war. 54 Nach dem legendaren Wahlsieg 1965, nach seiner Ernennung zum Bundesvorsitzenden der COU, also auf dem Hohepunkt seiner Karriere, drangte man Erhard dazu, am 01.12.1966 das Kanzleramt zu raumen.
4.2 Die Bedeutung Ludwig Erhards fur den Wahlkampf Die gesamte Wahlkampfkommunikation war ausgerichtet auf die Popularitat Ludwig Erhards. Er war der eindeutig starkste "Aktivposten" in der Kommunikation der Union. 55 Auf den Kanzler konzentrierte sieh eine Vielzahl der MaBnahmen, die bereits erwahnt wurden. Neben dem Image, das ibm vorauseilte und auf das im Folgenden eingegangen wird, war die direkte politische Ansprache der wichtigste Aspekt in Erhards Wahlkampfkommunikation. Er profitierte dabei von dem offentlichen Vertrauerr", das ibm entgegen gebracht wurde. Seine Reden vermittelten nieht nur Fachwissen, sondem auch groBe Authentizitat, weil er im "Kern seiner Ausftihrungen [... ] ehrlicher bleiben [konnte] als die meisten Politiker. Denn es ist fast immer Erhard, uber den Erhard spricht, ,,57 Zeitgenossen bestatigten, 50
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Zur Person Ludwig Erhards vgJ. u.a. Mierzejewski 2004~ Hentschel 1998; Hohmannn 1997; Laitenberger 1986~ Lukomski 1965. Vgl. Hentschel 1998: 83~ Bickerich 1998: 120. Zum Verhaltnis Adenauer-ErhardvgJ. Koerfer 1987; Westrick 1976: 169-176. Altmann & Gross 1972: 33. Vgl. von Stackelberg 1967: S. 13; Caro 1965: 240. Vgl. .Zur Wahlkampf- und Werbekonzeption der COU 1965." Vorlage der Abteilung Offentlichkeitsarbeit, 14.01.1965.Pressedokumentation, ACOP. Zum Begriff "Offentliches Vertrauen" vgl. Bentele 1994: 131-158. Gaus 1965: 34.
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dass er bei seinen Zuhorern das "unerschtitterliche Urvertrauen in das Gute, Wahre, Schone"S8 ausstrahlte und ein "Geflihl direkter Zusammengehorigkeit'f" bei ihnen weckte. So waren, neben der personlichen Ansprache, die haufigsten Kommunikationsinstrumente, die er anwandte, Reden, Interviews und von ihm selbst verfasste Artikel. Dabei prasentierte er sich als "ein Mann ohne Eigenschaften eines Politikers, als [... ] verlalslichen Fachmann [... ], als personifizierte Wirtschaftspolitik und zugleich als die Person, an der das wirtschaftliche Wohl und Wehe hing."?" Ludwig Erhard vereinte viele Faktoren, die - gemaf Bentele - die Wahrscheinlichkeit des Vertrauensgewinns, der Vertrauensbildung und der Vertrauenskonstitution in der Offentlichkeit begunstigen: .Jcommunikative Transparenz", .Jcommunikative Offenheit" und "gesellschaftliche Verantwortung" bzw. "Verantwortungsethik". Diese Vertrauensfaktoren sorgten bei vielen Wahlern dafur, dass seine .Kommunikation als glaubwurdig empfunden und Vertrauen mittels politischer Offentfichkeitsarbeit [... ] erworbenv'" wurde. Die "Sachund Problernlosungskompetenz" galt es im Wahlkampf unter Beweis zu stellen/" In dieser Hinsicht setzte die Union - wie bereits erwahnt - auf die Gegenuberstellung mit Willy Brandt. Erhards Leistungen fur Deutschland, sein Image als Begrunder des wirtschaftlichen Wohlstands in der Nachkriegszeit, sprachen fur sich und waren fur den Wahler greifbarer als Visionen und Zukunftsplane von einem besseren Deutschland, wie Brandt sie zu entwerfen suchte. Daruber hinaus bemuhten sich die Strategen urn den Einsatz von symbolischer Politik im Wahlkampf: Da war das Bild von der Mercedes-Limousine, in der bereits Konigin Elisabeth II. bei ihrem Deutschlandbesuch gefahren und von den Deutschen bejubelt worden war. Mit ihr fuhr der Amtsinhaber staatsmannisch von einem Wahlkampftermin zurn nachsten. Da war aber auch das Bild vom "ruhigen Schlaf" des Kanzlers, das von seinen Wahlkampfgefahrten stetig bemuht und in der zeitgenossischen Berichterstattung mit Attributen wie "in sich ruhend", "ausgegIichen", "sorgenfrei sein" oder gar "ein reines Gewissen haben" fur Erhard belohnt wurde. Das eigentliche Symbol jedoch war die Zigarre. Sie hatte gleich zwei Symbolwerte, die von wesentlicher Bedeutung fur das Image Erhards waren: Zum einen war sie ein charakteristisches Merkmal in seinem offentlichen Auftreten, ein Symbol mit Wiedererkennungswert. Zurn anderen war sie Ausdruck des Wohlstands und der Wirtschaftsblute - besonders irn Bewusstsein derer, die den Krieg miterlebt hatten. So urteilt die NRZ am 28.08.1965: "Die Wohlstandsmotive der CDU-Lokomotive werden sorgsam gepflegt. Die Zigarre darf nie verloschen und er selbst sagt: ,Die Leute wollen mich in dem grolsten Wagen.' Die Zigarre und der Mercedes werden bestaunt. Es sind Wertzeichen dieses Mannes.v'" Aile drei Symbole wurden nahezu stereotyp in der Presse wiederholt und trugen dazu bei, dass Erhard wirtschaftlichen Aufstieg, staatsmannisches Auftreten und Integritat personifizierte. Zwar musste Ludwig Erhard im Laufe seiner Amtszeit als Bundeskanzler einen Imagewechsel hinnehmen, jedoch hatte dieser keinen Einfluss auf den Ausgang des Wahlkarnpfes 1965. Dieser Imagewechsel hatte seinen Ursprung in dem Konflikt zwischen Ade-
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.Der Talisman der Deutschen". In: Der Spiegel, 13.01.1997, 3, S. 92 - 103. S. 93, Pressedokumentation, ACDP. Gaus 1965: 39. Hentschel 1998: 87. Bentele 1998: 143. Bentele 1994: 144. "Die dicke Zigarre". In: Neue Ruhr Zeitung, 28.08.1965, Pressedokumentation, ACDP.
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nauer und Erhard bei dem "Kampf urns Kanzlerarnt". Er rUckte seine zunachst positiv bewerteten Eigenschaften in ein negatives Licht: Attribute wie "Giite" und "Weisheit" wurden ihm bereits nach zwei Jahren Kanzlerschaft als Schwache und Nachgiebigkeit ausgelegt. Dennoch war er - laut Umfrageergebnissen - "in den Augen des uberwiegenden Teils der Bevolkerung der Inbegriff der Gute und der moralisehen Lauterkeit, weitgehend unbelastet dureh das veraehtete Parteigezank"." Sein Image war von einem aufsergewohnlich groBen MaB an offentlichem Vertrauen gepragt: .Erhards Image hat Magie, ist [... ] nahezu im Traumbereieh angesiedelt. [... ] [Es] erlaubt [... ] den Wahlem, die Augen vor der Harte der po litisehen Situation zu versehlie13en. ,,65 So erseheint es ruckblickend aueh folgeriehtig, dass eine von der WahlkampffUhrung geplante Negativkampagne mit Erhard nieht urnzusetzen war. Der Wahlkampf sollte zwar in klarer Frontstellung zur SPO gefiihrt werden, doch die rhetorisehen Attacken, die Erhard zu Beginn des Wahlkampfes exemplarisch gegen Willy Brandt vorbraehte, standen in so deutliehem Gegensatz zu Erhards Bild vom gutigen ehrliehen Volkskanzler, dass allein der Versuch einer negativ besetzten Kampagne gegenuber Brandt aus Furcht vor einem moglichen Imageverlust Erhards wieder aufgegeben wurde.
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Resiimee
Der Wahlsieg der Union im Jahr 1965 war nicht allein der Verdienst Ludwig Erhards. Der Wahlkampf stand unter den Zeichen einer zunehmenden Mediatisierung der Politik und Amerikanisierung des Wahlkampfes. Beides erforderte mehr kommunikative Kompetenzen von Politikern und Parteien als zuvor. Aufgaben wie Wahlkampfstrategie, Planung von Medienereignissen und symbolischer Politik konnten von Politikern allein nicht mehr geleistet werden. Wie gezeigt wurde, verhalfen auch der Union und Erhard im Wahlkampf 1965 Kommunikationsexperten dazu, sein Image, sein Programm und seine Botsehaften Erfolg versprechend zu prasentieren, In diesem Zusammenhang nahm der Sonderkreis mit seinen versehiedenen Berater"typen", den Medienberatem Klein und Gross, dem Demoskopen Wildenmann, dem Psychologen Koch, den politischen Strategen Hohmann und Bebenneyer, dem Werber Blome und Altmann, dem Texter im modemen Verstandnis, eine besondere Stellung im Geflecht der Wahlkampfftihrung ein. Aber auch die Werbekonzeption der CDU beweist, wie bedeutend Kommunikations- und Werbefachleute und ihr Verstandnis von mediatisierter Politik fur den Wahlkampf Mitte der 60er Jahre waren. Die Rolle des BPA mit seinen Tamorganisationen als Beratungsinstitution im Wahlkampf ist unumstritten. Es legte ein langfristiges PR-Konzept auf der Basis von Meinungsumfragen vor und hatte - im Gegensatz zum Sonderkreis - Mittel und Wege zur Durchfuhrung, Der Kanzler selbst profitierte vor allem von der Loyalitat der Wahler gegenuber der seit 1949 regierenden Union, vom Kanzler-Effekt und der generalstabsmafiigen Planung seiner PRMitstreiter, allen voran Karl Hohmann. Dennoeh: Sein Image als "Vater des Wirtschaftswunders" und seine Leistungen als unermudlicher Wahlkampfer waren retrospektiv von unschatzbarem Wert fur den Wahlsieg der Union im Jahr 1965. Die polyzentrische Struktur der Wahlkampfkommunikation, die nieht straffunter einen patriarchalischen Spitzenkandidaten organisiert war (wie unter Ade-
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.Zur Wahlkampf- und Werbekonzeption der CDU 1965." Vorlage der Abteilung Offentlichkeitsarbeit, 14.01.1965. Pressedokumentation, ACDP. Stackelberg 1975: 158.
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nauer), sondem sich eher lose ineinander fugte und - wo moglich - erganzte, war allein auf das Image Erhards abgestellt. Oer amtierende Bundeskanzler war ein Symbol, das Symbol fur Soziale Marktwirtschaft, die den .Wohlstand fur alle,,66 gebracht hatte. Die COU nutzte die Zugkraft und die Popularitat ihres Spitzenkandidaten, urn ihren Fortbestand aIs Regierungspartei zu sichem. Als "Wahllokomotive", "als Karrierespender im Patronagegefuge" oder "als Fullhom der individuellen Interessenbefriedigung fur Wahler und Akteure der Politikv'" hatte Erhard seine Aufgabe, einen WahIsieg fur die COU ohne Konrad Adenauer an der Spitze zu erringen, erftillt.
Quellen und Literatur Archive
Archiv fur christlich-demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP) Pressearchiv Bundesarchiv Koblenz (BA) Bestand Presse- und Infonnationsamt (B 145) Bestand Bundeskanzleramt (B 136) Ludwig-Erhard-Stiftung, Bonn (LESt) Nachlass Erhard (NE 559, NE 562)
Literatur
Altmann, RUdiger & Gross, Johannes (1972): Gesprach tiber Erhard. In: Schroder, Gerhard, Muller-Armack, Alfred & Hohmann, Karl u.a. (Hrsg.): Ludwig Erhard. Beitrage zu seiner politischen Biographie. Festschrift zurn 75. Geburtstag. Frankfurt a.M., S. 21-38. Bentele, Gunter (1994): Offentliches Vertrauen - normative und soziale Grundlagen fur Public Relations. In: Armbrecht, Wolfgang & Zabel, Ulf (Hrsg.): Nonnative Aspekte der Public Relations. Grundlegende Fragen und Perspektiven. Eine Einfuhrung. Opladen, S. 131-158. Bentele, Gunter (1998): Politische Offentlichkeitsarbeit. In: Sarcinelli, Ulrich (Hrsg.): Politikvermittlung und Demokratie in der Mediengesellschaft. Beitrage zur politischen Kornrnunikationskultur. (Schriftenreihe der Bundeszentrale fur politische Bildung, Bd. 352.) Bonn, S. 124-145. Bickerich, Wolfram (1998): Die D-Mark. Eine Biographie. Berlin. Boulding, Kenneth (1971): The Image. Knowledge in Life and Society. Michigan. Buchwald, Frank Andreas (1991): Adenauers Informationspolitik und das Bundespresseamt. Strategien arntlicher Presse- und Offentlichkeitsarbeit in der Kanzlerdemokratie. Diss. Mainz. Busch, Joel & Luke, Friedmar (1965): Wir hatten die Wahl. Die Parteien irn Kampf um die Macht 1965. Munchen/Wien. Caro, Michael K. (1965): Der Volkskanzler. Ludwig Erhard. Koln/Berlin, CDU: Politisches Marketing. In: Neumann, Eckhard & Sprang, Wolfgang (Hrsg.) (1966): Werbung in Deutschland. Jahrbuch der deutschen Werbung 1966. Dusseldorf, S. 361-365. Diederich, Reiner & Grubling, Richard (1989): Stark fur die Freiheit. Die Bundesrepublik im Plakat. Hamburg. Ellwein, Thomas (1977): Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. Erhard, Ludwig (1957): Wohlstand fur aile. DUsseldorf. Gaus, GUnter (1965): Bonn ohne Regierung? Kanzlerregiment und Opposition. Bericht - Analyse - Kritik. MUnchen. Hentschel, Volker (1998): Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, Berlin.
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163
Kommunikationsbarrieren Die Wege zu den Zeitungslesem bei Bundestagswahlen Von Hans Mathias Kepplinger
Die BUrger, die sich vor Bundestagswahlen anhand der Berichterstattung der Regionalzeitungen informieren wollen, erkennen nur einen Teil der Aktivitaten der Kandidaten, weil die Blatter nur einige ihrer Initiativen aufgreifen: Nicht aIle Wahlveranstaltungen werden angekundigt und berichtet, nicht aIle Presseerklarungen werden gedruckt, nicht alle Wahlanzeigen angenommen. Die Berichte tiber ihre Aktivitaten vermitteln zudem nicht immer den Eindruck, den die Kandidaten vermitteln wollten. Wesentliche Aussagen der Kandidaten in Wahlkampfreden, Interviews und Presseerklarungen werden nicht berichtet, zentrale Botschaften durch wertende Formulierungen relativiert. Fur diese im Kern unstrittigen Sachverhalte gibt es mehr oder weniger gute Grunde, Die Zeitungen konnen aus Personalund Platzmangel nicht uber aIle Aktivitaten der Kandidaten berichten. Sie mussen folglich schon aus praktischen Grunden eine Auswahl treffen. Die Zeitungen sind zudem keine Sprachrohre der Parteien, sondem eigenstandige Faktoren der Meinungsbildung. Dazu gehoren die Gewichtung und Bewertung des Geschehens entsprechend der redaktionellen Linie der Blatter und der Sichtweise ihrer Joumalisten. Auch diese Sachverhalte sind unstrittig. Neben den legitimen Eigeninteressen der Zeitungen und ihrer Mitarbeiter existieren die ebenso legitimen Eigeninteressen der Parteien und ihrer Kandidaten. Dazu gehort ihr Interesse an offentlicher Sichtbarkeit durch Presseberichte. Dabei treffen sie auf zwei Kommunikationsbarrieren - Eingangshurden und Darstellungshurden. Bei den Eingangshurden wird entschieden, ob die Zeitungen uberhaupt tiber sie berichten. Bei den Darstellungshurden wird entschieden, ob sie in den Berichten gut sichtbar, umfassend und unverfalscht zu Wort kommen. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei zentrale Fragen: Die erste Frage lautet: Welche Aktivitaten sind mit Blick auf die Regionalpresse erfolgversprechend? Wie hoch sind mit anderen Worten die Einhangs- und Darstellungshurden der verschiedenen Aktivitaten, wie z. B. Presseerklarungen und Pressekonferenzen, Interviews und Wahlveranstaltungen? Die zweite Frage lautet: Besitzen die Aktivitaten der Kandidaten aller Parteien die gleichen Publizitatschancen? Treffen mit anderen Worten die Kandidaten aller Parteien auf die gleichen Eingangs- und Darstellungshurden? Hierbei geht es zum einen urn die Art und Haufigkeit der Aktivitaten der Kandidaten, die vor allern von den finanziellen und personellen Ressourcen ihrer Parteien abhangen, Sie stehen hier nieht zur Diskussion. Zurn anderen geht es urn die Resonanz der Aktivitaten, Sie wird hier naher betrachtet. Die Chancen von Politikem, ihre Sichtweise in den Medien zu platzieren, wurden im Unterschied zur Beriehterstattung uber sie relativ selten untersucht. Die wenigen Studien hierzu analysieren den Niederschlag der Pressemitteilungen der Parteien und Fraktionen in der aktuellen Berichterstattung. Bei derartigen Input-Output-Studien sind zwei Fragen zu unterseheiden: Erstens, mit welcher Wahrscheinlichkeit werden Pressemitteilungen abge164
druekt? Die Grundlage der Betrachtung bilden bier alle Pressemitteilungen. Zweitens, welcher Anteil der thematisch relevanten Beriehterstattung ist auf Pressemeldungen zurUckzufuhren? Die Grundlage der Betrachtung bilden hier alle Presseberichte. Die wesentliehen Befunde dieser Studien kann man trotz einer Reihe von Besonderheiten in zwei Satzen zusammenfassen: Die Wahrseheinlichkeit, dass Pressemitteilungen der Parteien und Fraktionen abgedruckt werden, ist nieht sehr groB, und der Anteil der thematisch relevanten Berichterstattung, den man auf Pressemitteilungen der Parteien und Fraktionen zuruckfuhren kann, ist relativ gering. Dabei ist noch zu berucksichtigen, dass die Parteien und Fraktionen bei der Planung ihrer Pressemitteilungen z. T. schon deren Publikationschancen abschatzen und die Themen entsprechend wahlen, Verallgemeinemd folgt daraus: Die Vorstellung, dass die Parteien und Fraktionen durch ihre Pressemitteilungen vor den Wahlen einen maBgeblichen Einfluss auf die Beriehterstattung tiber die von ihnen gewahlten Themen besitzen, ist in ihrer Allgemeinheit falsch.' Der Vorteil der skizzierten .Jnput-Output-Analysen" besteht in ihrer methodisehen Genauigkeit: Anhand der Befunde kann man die Publikationsehaneen der Meldungen z. B. von untersehiedlichen Urhebern, mit unterschiedlieher Thematik und unterschiedlicher Gestaltung exakt bestimmen, die Ursaehen unterschiedlieher Publikationsehancen abschatzen und daraus gezielte Optimierungsmoglichkeiten ableiten. Ihre Naehteile bestehen in der Verengung der Problematik auf einen kleinen Teil der publizistiseh relevanten Aktivitaten sowie in der geringen Relevanz der Pressemitteilungen. Die politisehen Urheber wie die journalistischen Adressaten wissen, dass es sich bei den Pressemitteilungen im Vergleich zu Pressekonferenzen, Interviews und Wahlreden urn Dutzendware handelt. Entsprechend gering sind - von seltenen Ausnahmen abgesehen - ihre politische Bedeutung und ihr publizistischer Nachrichtenwert. Eine Alternative zu Input-Output-Studien bietet die Befragung von Politikem zu ihren Erfahrungen im Umgang mit den Medien. Auch wenn man Erinnerungsfehler nicht ganz ausschlieBen kann, liefern sie zuverlassige Informationen fiber unstrittige Fakten. Ein Beispiel hierfiir ist die Frage, ob eine Zeitung ein Interview mit den Befragten veroffentlicht hat oder nicht, Mit grofierer Vorsieht sind Meinungsauberungen zu betrachten, etwa zur Tendenz und Wirkung der Berichterstattung. Sie werden deshalb hier nieht behandelt, Auskunft tiber die Erfahrungen der Direktkandidaten geben schriftliche Befragungen anlasslich 2 der Bundestagswahlen von 1969 bis 1983. Einen Sonderfall bildete die Bundestagswahl 1976, bei der nur die Erfahrungen mit der Fernsehberichterstattung ermittelt wurden. Sie wird hier nieht berucksichtigt. 3 Grundlage aller Befragungen ist eine Zufallsauswahl von 25 der 248 Wahlkreise." Etwa drei bis vier Monate nach den Wahlen wurden alle Direktkandidaten aller Parteien angeschrieben. Der relativ groBe Zeitabstand zum Wahltag wurde mit Bedacht gewahlt, weil vor allern die Kandidaten der groBen Parteien wahrend der Regierungsbildung kaum antworten WOrden. Von den 576 Direktkandidaten, die sich bei den vier hier relevanten Bundestagswahlen beworben haben, haben 307 an der Befragung teilge-
Vgl, Knoche & Lindgens ] 988~ Donsbach & Wenzel 2002~ Kepplinger & Maurer 2004~ Frohlich & Rudiger 2004. Vgl. auch die Literaturubersicht von Donsbach & MeiBner2004. Vgl, Panknin ]971. Die Konzeption der Befragung stammte von Walter 1. Schiltz. Von ]972 bis ]983 hat der Verfasser die Befragungen weitergefuhrt; vgl. Staab] 985. Siehe auch die ahnlich angelegte Studie von Gartner 1986. VgL dazu Bingenheimer 1987. Nach der Wahlkreisreform 1978 wurde die Basis entsprechend angepaBt. Vgl. Staab] 985: 30 f.
165
nommen. Dies entspricht einem Rucklauf von 55 Prozent.' Dabei ist zu berucksichtigen, dass ein Teil der Direktkandidaten bei mehreren Bundestagswahlen antrat und folglich mehrfach befragt wurde. Weil sie bei verschiedenen Wahlen mit den Regionalzeitungen in ihrem Wahlkreis unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben konnen, gehen ihre Antworten in die Analyse ein. Eine Ubersicht tiber die Teilnehmer der Befragungen gibt Tabelle 1. Tabelle 1: Direktkandidaten zu den Bundestagswahlen 1969-1983, die an der Befragung teilgenommen haben. 1969
1972
1980
1983
CDU/CSU
16
12
11
15
54
SPD
19
15
9
10
53
FDP
10
20
17
15
62
20
1
14
34
Partei
GRUNE
Gesamt
DKP
9
8
7
24
NPD
17
2
16
-
4
8
41
Sonstige
255
36
87
38
39
Gesamt
87
75
73
72
307
Basis:
3
25 Direktkandidaten pro Partei und Wahl; 'Basis: 24; 2Basis: 21; 3NPD stellte keine Direktkandidaten auf; "Basis: 12; 5Basis: 44; 'Basis: 5; 7Basis: 37. Geringer Ruckstand durch Antwortverhalten der Kandidaten des KBW; 8Basis: 8. Ausschopfung 1969 = 60 %; 1972 = 60 %; 1980 = 45 %; 1983 = 50 %; Durchschnitt = 54 %.
Die Direktkandidaten in den 25 Wahlkreisen erhielten Fragebogen, in denen aIle Regionalzeitungen aufgefiihrt waren, die in ihren Wahlkreisen erschienen. Je nach Wahlkreis konnten es bis zu acht Blatter sein. Die Befragten sollten angeben, ob und wie die genannten Blatter uber sie berichtet hatten. Grundlage der Analyse sind die .Kontakte'' zwischen den Direktkandidaten und den Regionalzeitungen in ihren jeweiligen Wahlkreisen. Ein Kontakt im Sinne dieser Studie liegt vor, wenn die Kandidaten auf eine gezielte Frage angegeben haben, dass sie zu dem Blatt einen Kontakt hatten, bzw. wenn sie angegeben hatten, dass das Blatt tiber sie berichtet hat. Die Direktkandidaten konnten aufgrund der Zeitungsstruktur in ihren Wahlkreisen durchschnittlich zu 4,5 Regionalzeitungen Kontakte besitzen." Von 1969 bis 1983 ging die Zahl der theoretisch moglichen Kontakte von 4,7 auf 4,5 zuruck. Grunde dafur waren die andauernde Pressekonzentration und die Wahlkreisreform Die Ausschopfung betragt im Detail: CDU/CSU 54 %, SPD 53 %, FDP 62 0/0, GRONE 69 %, DKP 32 0/0, NPD 70 %, Sonstige 44 0/0. Vgl. Panknin 1971; Staab 1985; Die folgenden Daten hat Joachim-Friedrich Staab fur seine Magisterarbeit berechnet und sind seiner Darstellung entnommen (vgl. FuBnote 3). Allerdings wurden die Indikatorfragen anders zusammengefasst und zusatzliche Kennziffem berechnet. Die Pressekonzentration hat die guten Kontaktchancen der Kandidaten der groBen Parteien kaum verandert, die Kontaktchancen der Kandidaten der kleinen Parteien aber verbessert, weil es ihnen leichter fiel, zu der ge-
166
von 1978, durch die sich die Zeitungslandschaft in den Wahlkreisen anderte. Tatsachlich hatten die Kandidaten durchschnittlich zu 3,6 Regionalzeitungen Kontakte. Legt man diesen Wert zugrunde, konnten sie ihre Erfahrung mit der Berichterstattung der Regionalzeitungen in 1.105 Fallen (308 Befragte x 4,5 Kontaktmoglichkeiten) anhand von zahlreichen differenzierten Fragen beschreiben. Diese Falle (= Kontakte) liegen der folgenden Darstellung zugrunde." Die Kandidaten der Volksparteien im Zentrum des politischen Spektrums konnten ihre Kontaktmoglichkeiten besser ausschopfen als die Kandidaten der kleinen links- und rechtsextremen Parteien. Die Kandidaten der FDP und der GRONEN waren weder so erfolgreich wie die Kandidaten der CDU/CSU und SPD, noch so erfolglos wie z. B. die Kandidaten der DKP. Die unterschiedlichen Erfolge sind im Wesentlichen auf zwei Ursachen zuruckzufuhreno Zum einen haben die Kandidaten der groBen Parteien mehr technische Moglichkeiten sowie mehr Mitarbeiter und Helfer, urn Kontakte zu den Zeitungen in ihren Wahlkreisen herzustellen. Zurn anderen besitzen die Kandidaten der groBen Parteien, weil sie mehr Leser ansprechen, einen hoheren Nachrichtenwert. SchlieBlich durften die politischen Anliegen der Parteien einen Einfluss gehabt haben. So kann man vermuten, dass die von Beginn an relativ erfolgreichen Pressekontakte der GRONEN eine Folge der im Joumalismus zu Beginn der achtziger Jahre bereits weit verbreiteten Sorge tiber Umweltbelastungen waren (Tabelle 2). 9 Tabelle 2:
Anteil der realisierten an den moglichen Zeitungskontakten
1972
1980
%
0A.
%
%
CDU/CSU
90
96
94
89
92
SPD
94
97
95
100
97
FDP
78
99
90
89
89
78
69
74
47
61
57
56
62
Partei
1969
GRUNE 69
DKP
1983
Durchschnitt 0A.
NPD
68
61
Sonstige
59
67
63
69
65
Gesamt
77
84
80
77
80
I
Die NPD stellte bei der Bundestagswahl 1980 keine Direktkandidaten auf
ringeren Zahl von Blattern Kontakte herzustellen, Dies widerspricht der vielfach geauberten Vermutung, Pressevielfalt vergrobere per se die publizistischen Moglichkeiten der politischen Akteure. Vgl. hierzu die Spezialanalysevon Staab 1986. Die Zahl der Antwortenden pro Testfrage hangt von der Pressestruktur in den Befragungsjahren sowie von den Kontakten der Befragten zu den einzelnenZeitungen abo Die einzelnen ProzentweTte besitzen folglich unterschiedlicheBasen, die fur die ermitteltenDurchschnittswerte nicht einzeln ausgewiesen werden konnen. Vgl. Kepplinger,Brosius & Staab o. 1.
167
Ersten Aufschluss tiber die publizistische Prasenz der Bundestagskandidaten in der Regionalpresse geben ihre Aussagen tiber Beitrage zu ihren Wah Iveranstaltungen, tiber die Veroffentlichung von Interviews, tiber die Publikation von Bildern und tiber die Wiedergabe von Presseerklarungen, sofern sie welche herausgegeben hatten. Urn die Darstellung moglichst einfaeh zu halten, werden die Aussagen anlasslich aller vier Wahlen zu Durchschnittswerten zusammengefasst. Auf die Tatsache, dass es sich urn Durchsehnittswerte handelt, wird im folgenden Text nicht mehr eigens hingewiesen. aber 60 Prozent der Kandidaten berichteten, dass die Regionalzeitungen mindestens eine ihrer WahlveranstaItungen'" angektmdigt haben. Fast 60 Prozent erinnerten sich, dass die Blatter tiber mindestens eine ihrer Wahlveranstaltungen berichtet haben. Ahnlich viele sagten, dass die Regionalzeitungen mindestens eine ihrer Presseerklarungen abgedruckt, bzw. mindestens ein Bild von ihnen veroffentlicht haben. Das Gegenteil - die genannten Sachverhalte wurden nicht veroffentlich - behaupten jeweils nur wenige. AIle Werte Jiegen, von einer Ausnahme abgesehen, unter 20 %. Die Differenzen zu jeweiIs 100 % deuten darauf hin, dass sich ein Teil der Befragten nicht mehr sieher war, ob in einer bestimmten Zeitung Z. B. ein Bericht tiber ihre Wahlveranstaltung erschienen war oder nicht. 11 Interviews mit den Kandidaten erschienen im Unterschied zu Wahlberichten, Presseerklarungen und Bildem relativ seIten: Nur ein Viertel kam in mindestens einem Interview zu Wort. Dies deutet darauf hin, dass fUr die Kandidaten die Eingangshtirden vor einem Interview besonders hoch sind. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil die Kandidaten in Interviews ihre Personlichkeit und Zielsetzung besonders ausfuhrlich und lebendig prasentieren konnen, Geht man von der plausiblen Annahme aus, dass aIle oder fast aIle Kandidaten die Wahler geme durch Interviews angesproehen hatten, wird deutlich, wie sehr die Kandidaten in einem zentralen Bereich ihrer Wahlkampffiihrung von der Presse abhangig sind: Wenn die Zeitungen in ihrem Wahlkreis keine Interviews mit ihnen veroffentlichen, was ihr gutes Recht ist, dann besitzen sie keine Chance auf ein Interview. Wendet man den Blick von den Publizitatschancen der versehiedenen Aktivitaten auf die Publizitatschancen der Kandidaten verschiedener Parteien, erkennt man noch deutlicher als zuvor die Chancenungleichheit der Bewerber. Die Publizitatschancen der Kandidaten der beiden Volksparteien waren - und sind vermutlich auch heute noch - zwei- bis dreimal so groB wie die Publizitatschancen der Kandidaten der kleinen Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums. Auch bei dieser Betrachtung nahmen die Kandidaten der FDP und der GRONEN eine Sonderstellung ein. Dies durfte im ersten Fall darauf zurUckzufUhren sein, dass die FDP als einzige Partei bei allen Wahlen an der Regierung beteiligt war. Ihre Kandidaten hatten deshalb aufgrund ihrer politischen Rolle einen relativ hohen Nachrichtenwert. 1m zweiten Fall durfte die bereits erwahnte Umweltprogrammatik der Partei eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Ergebnisse lassen die haufig geaufserte Klage, ein Kandidat sei in der Presse nicht hinreichend prasent, in einem neuen Licht erscheinen. Sie werfen die Frage auf, woran die mangelnde Prasenz liegt - an ihm oder an der Presse und deren legitimen Eigeninteressen. Letzteres fiihrt zu der hier nicht zu klarenden
10
JJ
168
Der Hinweis auf "eine" Wahlveranstaltung ist wichtig, weil nur naeh einer gefragt wurde. Dies gilt aueh fur die publizistiseheBeachtungder ansehlieBend genanntenAktivitaten. Die Fragen naeh der Ankundigung und Berichterstattung tiber Wahlveranstaltungen sowie tiber Presseerklarungen enthielten die Moglichkeit zu expliziten Verneinung. Zu 100 % fehlende Werte deuten hier auf Erinnerungslucken. Die Fragen nach der Publikation von Interviewsund Bildem enthielten keine solche Moglichkeit. Hier wird die Negation auf der fehlenden Bejahung erreehnet. Die Werte sind deshalb nieht direkt vergleiehbar.
Nachfrage, welche Auswirkungen das legitime Eigeninteresse der Presse auf Wahlergebnisse besitzt (Tabelle 3). Tabelle 3:
Generelle publizistische Prasenz der Direktkandidaten - Durchschnitt der Aussagen nach den Wahlen CDU!
CSU
"
%
SPD %
FDP %
GRUNE %
DKP %
NPD %
Sonstige %
%
88
93
83
57
25
47
43
62
2
2
1
17
36
11
52
17
88
93
79
50
19
43
28
57
4
2
7
24
39
19
36
19
gefuhrt
49
36
49
14
10
9
16
26
nicht gefuhrt
51
64
51
87
90
91
85
74
89
94
85
49
31
52
23
60
3
1
3
13
29
13
18
11
veroffentl i cht
87
92
78
45
19
29
33
55
nicht veroffentlicht
13
8
22
56
81
71
68
46
Positiv (Durchschnitt)
80
82
75
43
21
36
29
Negativ (Durchschnitt)
15
15
17
39
55
41
52
Wahlveranstaltungen angektmdigt nicht angekundigt berichtet nicht berichtet Interviews
PresseerkHirungen* wiedergegeben nicht wiedergegeben Bilder
* Vorfrage, ob Pressekonferenzen abgehalten, Presseerklarungen abgegeben wurden. Ausgewiesen sind die Antworten der Politiker,die Presseerklarungen abgegeben bzw. Pressekonferenzen abgehaltenhaben. Zu 100 % fehlende Werte: Keine konkreten Angaben; Uber 100 % hinausgehende Werte: Rundungsfehler. Die Tatsache, dass die Aktivitaten der Kandidaten berichtet werden, ist eine notwendige, jedoch keine hinreichende Voraussetzung fur die gewunschten Effekte. Sie konnen mit groBer Wahrscheinlichkeit nur dann eintreten, wenn die Beitrage so gut platziert werden, dass sie von vie len Lesem beachtet werden. Ob dies tatsachlich der Fall ist, lasst sich nur
169
durch Leserbefragungen klaren, Eine vorlaufige Alternative hierzu sind die Eindrucke der Kandidaten. Sie geben Hinweise auf die Darstellungshurden, denen sich die Kandidaten ausgesetzt sehen. Nur jeweils etwa ein Drittel der Kandidaten war mit der Platzierung ihrer Presseerklarungen, der Ankundigung ihrer Wahlveranstaltungen sowie den Berichten tiber ihre Wahlveranstaltungen zufrieden. Etwas mehr Zufriedenheit rief die Berichterstattung tiber Pressekonferenzen hervor. Die Aussagkraft dieser Urteile kann man generell mit der Vermutung bezweifeln, in den negativen Urteilen schlugen sich nur die ubersteigerten Erwartungen der Kandidaten nieder, die die Zeitungen ohnehin nicht zufrieden stellen konnten. Diese Vermutung ware dann richtig, wenn aIle Kandidaten ahnlich unzufrieden gewesen waren, Dies war nicht der Fall. Die geringe Zufriedenheit tiber die zuerst genannten Aktivitaten ist vielmehr vor allem darauf zuruckzufuhren, dass kaum ein Kandidat der klei.. nen Parteien der Meinung war, seine Presseerklarungen, seine Veranstaltungsankundigungen sowie die Berichte tiber seine Auftritte seien angemessen platziert gewesen. Sie waren mehrheitlich der Meinung, die Beitrage seien in schlecht genutzte Ecken der Zeitungen verbannt worden. Die Kandidaten der groBen bzw. etablierten Parteien waren da ganz anderer Meinung. Sie fanden mehrheitlich, dass die Beitrage tiber ihre Aktivitaten gut platziert waren. Dieser Befund spricht gegen die oben formulierten Zweifel an der Aussagekraft der Urteile. Einen weiteren Beleg fur ihre Aussagekraft liefern die Urteile tiber die Platzierung der Berichte tiber Pressekonferenzen. Mit ihr waren die Kandidaten der kleinen Parteien vie} eher zufrieden als mit der Platzierung z. B. ihrer Presseerklarungen, Die Kandidaten waren folglich keineswegs generell mit der Platzierung der Beitrage tiber ihre Aktivitaten unzufrieden. Sie urteilten vielmehr differenziert, was darauf hindeutet, dass sich in ihren Urteilen unterschiedliche Erfahrungen niederschlugen (Tabelle 4). Entscheidende Voraussetzung der unverfalschten Selbstdarstellung der Kandidaten und der umfassenden Orientierung der Wahler ist eine moglichst vollstandige und sachlich richtige Berichterstattung tiber die Aktivitaten und Ansichten der Politiker. Ob die Berichterstattung die Ansiehten der Kandidaten riehtig, d. h. den Intentionen der Politiker entspreehend wiedergibt, wurde mit einer Serie von Fragen nach der Prasentation von Wahlveranstaltungen, Interviews, Pressekonferenzen und Presseerklarungen differenziert ermittelt. Dabei wurde zwischen der sachlichen Richtigkeit und der Vollstandigkeit der Beitrage unterschieden. Ein Indikator fur die Vollstandigkeit der Beitrage ist die Antwort auf die Frage, ob alle wesentlichen Argumente gebraeht wurden. Die Antworten zeigen, dass dies auf die Beitrage tiber verschiedene Aktivitaten in untersehiedlichem Malle zutraf. Interviews erschienen meist ohne wesentliche Kurzungen (52 0/0). Aueh die Berichte tiber Pressekonferenzen enthielten oft aIle wesentlichen Argumente (46 %). Dies traf auf Beriehte tiber Wahlveranstaltungen (28 %) nur relativ selten zu. Dieser niedrige Wert ist vor allem darauf zuruckzufuhren, dass die Kandidaten der kleinen Parteien zwar in den Berichten tiber Pressekonferenzen und in Interviews - sofem sie uberhaupt erschienen - relativ urnfassend zu Wort kamen, nieht jedoeh in Berichten tiber Wahlveranstaltungen. Sie vermittelten aus Sieht der Betroffenen nur selten die Kernbotsehaften der Kandidaten von kleinen Parteien. Ein Indikator fur die saehliehe Riehtigkeit der Berichte sind die Antworten auf die Fragen, ob die Kandidaten korrekt zitiert wurden, bzw. ob ihre Argumente riehtig wiedergegeben wurden. Nach Auskunft der Kandidaten wurden in gut zwei Dritteln der Falle ihre Aussagen in Interviews (70 0/0), sowie in etwa der Halfte der FaIle ihre Stellungnahmen bei Pressekonferenzen (56 %) und bei Wahlveranstaltungen (43 %) korrekt wiedergegeben.
170
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch ein relativ hoher Anteil der Kandidaten der kleinen Parteien erklarte, dass ihre AuBerungen in Interviews und bei Pressekonferenzen riehtig wiedergegeben wurden. Aus Sieht aller Kandidaten liegen die Mangel der Beriehterstattung folglieh weniger im Wahrheitsgehalt dessen, was berichtet wurde, sondem in der Bedeutung dessen, was gesagt aber nieht beriehtet wurde. Dies trifft in besonderem MaBe auf die Kandidaten der kleinen Parteien an den Randern des politischen Spektrums ZU, die wesentliehe Teile ihrer Wahlkampfaussagen in der Presseberichterstattung nieht wieder fanden (Tabelle 5). Tabelle 4:
Platzierung der Berichte tiber die Direktkandidaten - Durchschnitt der Aussagen nach den WahleneDU! CSU %
SPD
FDP
GRUNE
DKP
NPD
Sonstige
0
%
%
otic>
%
%
%
%
Wah Iveranstaltu ngen Ankiindigung deutlich sichtbar
54
66
48
16
4
15
4
30
schlecht platziert
6
10
12
15
11
9
6
10
angemessen aufgemacht
60
66
53
15
3
9
2
30
schlecht aufgemacht
9
8
7
17
6
9
6
9
angemessen platziert
62
72
60
23
13
52
24
44
schlecht platziert
13
8
8
23
16
16
23
15
angemessen platziert
70
67
52
]4
8
28
]2
36
8
11
11
9
13
6
4
9
Positiv (Durchschnitt)
62
68
53
17
7
26
11
Negativ (Durchschnitt)
9
9
10
16
12
10
10
Bericht
Pressekonferenzen*
PresseerkHirungen*
schlecht platziert
* Vorfrage, ob Pressekonferenzen abgehalten, Presseerklarungen abgegeben wurden. Ausgewiesen sind die Antworten der Politiker,die Presseerklarungen abgegeben bzw. Pressekonferenzen abgehalten haben.
171
Tabelle 5:
Sachliche Richtigkeit und Vollstandigkeit der Berichte - Durchschnitt der Aussagen nach den Wahlen eDU/ SPD esu % 0/0
FDP GRUNE
DKP
NPD
Sonstige
0 %
%
%
%
0/0
%
Wahlveranstaltungen
wesentliche Argumente berichtet
58
54
54
17
2
11
3
28
wesentIiche Argumente weggeJassen
11
15
11
15
3
9
7
10
sachlich richtig berichtet
71
89
70
28
8
23
10
43
3
0
8
2
5
im Wesentlichen ungekUrzt
76
70
78
59
56
4
23
52
Wesentliches gekurzt
10
18
12
32
27
34
5
20
korrekt zitiert
84
86
80
71
57
63
49
70
9
3
7
21
37
13
14
15
wesentliche Argumente widergegeben
71
73
55
22
18
52
33
46
wesentliche Argumente nicht widergegeben
5
2
4
21
II
21
13
11
sachlich richtig berichtet
78
84
72
28
24
62
42
56
0
2
14
4
12
2
5
sachlich falsch berichtet
3
Interviews
ungenau, missverstandlich zitiert Pressekonferenzen *
sachlich falsch berichtet Presseerkliirungen *
unredigiert
30
32
28
9
3
6
2
16
redigiert
45
43
33
15
19
35
22
30
Positiv (Durchschnitt)
67
70
62
33
24
32
23
Negativ (Durchschnitt)
12
12
10
18
15
18
9
* Vorfrage, ob Pressekonferenzen abgehalten, Presseerklarungen abgegeben wurden. Ausgewiesen sind die Antworten der Politiker, die Presseerklarungen abgegeben bzw. Pressekonferenzen abgehalten haben.
172
Die Kornmunikationshurden, vor denen die Direktkandidaten stehen, sollen abschlieBend noch einmal an zwei Beispielen aufgezeigt werden, den Berichten tiber Wahlveranstaltungen und der Publikation von Interviews (Tabelle 6). Tabelle 6:
Kommunikationsbarrieren an zwei Beispielen - Durchschnitt der Aussagen nach den Wahlen CDUI SPD FDP GRUNE DKP CSU % % % % %
NPD
Sonstige
()
%
%
0/0
Wah Iveranstaltungen 88
93
79
50
19
43
28
57
4
2
7
24
39
19
36
19
60
66
53
15
3
9
2
30
9
8
7
17
6
9
6
9
wesentliche Argumente berichtet
58
54
54
17
2
11
3
28
wesentliche Argumente weggelassen
11
15
11
15
3
9
7
10
sachlich richtig berichtet
71
89
70
28
8
23
10
43
sachlich falsch berichtet
3
0
8
2
5
gefuhrt
49
36
49
14
10
9
16
26
nicht gefuhrt
51
64
51
87
90
91
85
74
im Wesentlichen ungekurzt
76
70
78
59
56
4
23
52
Wesentliches gekurzt
10
18
12
32
27
34
5
20
korrekt zitiert
84
86
80
71
57
63
49
70
9
3
7
21
37
13
14
15
Positiv (Durchschnitt)
69
71
66
36
22
23
19
Negativ (Durchschnitt)
14
16
14
29
29
26
22
berichtet nicht berichtet angemessen aufgemacht schlecht aufgemacht
3
Interviews
ungenau, missverstandlich zitiert
173
Die Eingangshurden fur Berichte tiber Wahlveranstaltungen waren fur die Kandidaten aller Parteien relativ niedrig: Die Kandidaten erklarten, dass die Regionalzeitungen in den meisten Fallen (57 %) tiber mindestens eine ihrer Wahlveranstaltungen beriehtet hatten, allerdings war nur ein knappes Drittel der Berichte angemessen aufgemacht (30 %). Die Inhalte der Berichte waren in fast der Halfte der Faile (43 010) sachlieh riehtig, allerdings enthielt deutlich weniger als ein Drittel der Berichte alle wesentlichen Argumente (28 0/0). Kandidaten, die die Hurden vor einem Bericht tiber ihre Wahlveranstaltung uberwunden haben, konnen folglich keineswegs damit reehnen, dass sie ihre Sichtweise den Lesem umfassend mitteilen konnen. Sie miissen vielmehr meist zufrieden sein, dass sie nur am Rande und dort nur stark verkurzt zu Wort kommen. Die Eingangshiirden fur die Publikation von Interviews waren relativ hoeh: Die Kandidaten erklarten, dass die Regionalzeitungen nur in wenigen Fallen (28 %) ein Interview mit ihnen brachten. Die meisten moglichen Beziehungen zwischen Kandidaten und Zeitungen schlugen sieh folglich nieht in Interviews nieder. Falls dies gesehah, waren die Interviews meist nieht wesentlieh gekurzt (52 %) und gaben fast immer (70 %) ihre Ansichten korrekt wieder. Kandidaten, die die Hurden vor einem Interview uberwunden haben, konnen folglich damit rechnen, dass sie ihre Sichtweise den Lesem relativ ausfuhrlich prasentieren konnen. Allerdings haben nur wenige Kandidaten diese Chance, worunter vor allem die Kandidaten der kleinen Parteien leiden. Als erstes Ergebnis der Studie kann man festhalten, dass die Kommunikationsbarrieren fur die Kandidaten der groBen bzw. etablierten Parteien in der Mitte des politischen Spektrums niedriger sind als fur die Kandidaten der kleinen Parteien am Rande des politischen Spektrums. Dieser Befund ist nieht neu und nieht uberraschend, Der Sachverhalt vergrofiert vermutlieh die Wahlchancen der groBen bzw. etablierten Parteien und tragt dadurch zur politisehen Stabilitat bei. Zugleich vermindert er vermutlich die Wahlehancen der kleinen Parteien und steht dadureh politisehem Wandel entgegen. Es durfte eine Ursache dafur sein, dass im Bundestag seit Jahrzehnten nur relativ wenige Parteien vertreten sind. Dies mag man im Interesse einer Reprasentation aller moglichen politischen Stromungen bedauern. Man kann es aber auch im Interesse der Entscheidungsfahigkeit des Parlamentes begruben, Als zweites Ergebnis kann man festhalten, dass die unterschiedliehen Aktivitaten der Kandidaten auf unterschiedlich hohe Kommunikationsbarrieren treffen. Dabei kann man zusatzlich noch untersehiedlich hohe Eingangs- und Darstellungshiirden erkennen. So sind die Eingangshurden fur Beriehte tiber Wahlveranstaltungen im Vergleich zu den Eingangshurden fur die Publikation von Interviews relativ niedrig. Dafur sind die Darstellungshiirden bei Berichten tiber Wahlveranstaltungen im Vergleich zu den Darstellungshurden bei Interviews relativ hoch: Die Kandidaten kommen zwar leiehter zu Wort, sie konnen jedoeh schwerer mitteiIen, was sie mitteilen wollen. Die Kandidaten sind folglich mit der Frage konfrontiert, wie sie die jeweiligen Eingangs- und Darstellungshiirden gezielt uberwinden konnen. Moglichkeiten dazu bieten z. B. kritische Stellungnahmen zu Parteikollegen, die einen hohen Naehriehtenwert besitzen (iiberwindet Eingangshurden fur Interviews) und die Konzentration aufplakative und entsprechend leicht zitierbare AuBerungen bei Wahlveranstaltungen (uberwindet Darstellungshiirden). Beides gehort heute zum Repertoire erfolgreicher Politiker.V Als drittes Ergebnis kann man festhalten, dass wesentliche Teile der politischen Kommunikation unter Ausschluss der Offentlichkeit stattfinden: Die weit uberwiegende 12
174
Vgl. Kepplinger 1998: 199-202.
Mehrheit der Wahler erfahrt nieht, was die Kandidaten tatsachlich gemaeht und gesagt haben, weil selbst die Regionalzeitungen, die dazu noch am ehesten in der Lage waren, daruber nieht beriehten. Dazu gibt es angesiehts der geringen Aufnahmefahigkeit des Publikums und des daraus resultierenden Zwangs der Medien zur Selektivitat keine Alternative. Problematiseh ist, dass sieh weder die Masse der Wahler noeh die Mehrheit der Wahlforscher dieser Tatsaehe hinreiehend bewusst ist. Als viertes Ergebnis kann man folgern, dass Kritik am offentlichen Erseheinungsbild der Kandidaten, die die Ursachen alleine in den Kandidaten lokalisiert, an einem wesentlichen Teil des Problems vorbeigeht und unausgesproehen die bedingungslose Anpassung der Kandidaten an die Erfolgsbedingungen der Medien - und das heiBt die weitere Mediatisierung der Politik - fordert, Das zuweilen fragwurdige Erseheinungsbild von Politikern ihre mangelnde Prasenz in der Offentlichkeit und kritikwurdige Stellungnahmen - ist nieht nur eine Folge ihres Auftretens einsehlieBlich ihrer AuBerungen, sondern aueh der zuweilen ebenso fragwurdigen Mechanismen ihrer Darstellung.
Literatur Bingenheimer, Gabriele (1987): Die Bundestagswahlkampfe 1969-1983. Die Urteile der Bundestagskandidaten uber die Femsehberichterstattung. Unveroffcntlichte Magisterarbeit am Institut fur Publizistik. Mainz. Donsbach, Wolfgang & MeiBner,Antje (2004): PR und Nachrichtenagenturen. Missing Link in der kornrnunikationswissenschaftlichen Forschung. In: Raupp, Juliana & Klewes, Joachim (Hrsg.): Quo vadis Public Relations? Auf dem Weg zurn Kommunikationsmanagement: Bestandsaufnahrnen und Entwicklungen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 99-112. Donsbach, Wolfgang & Wenzel, Amd (2002): Aktivitat und Passivitat von Joumalisten gegenuber parlamentarischer Pressearbeit. Inhaltsanalyse von Pressernitteilungen und Presseberichterstattung am Beispiel der Fraktionen des Sachsischen Landtags. In: Publizistik, 47, S. 373-387. Frohlich, Romy & Rudiger, Burkhard (2004): Determinierungsforschung zwischen PR-"Erfolg" und PR.Einflufi". Zum Potential des Framing-Ansatzes fur die Untersuchung der Weiterverbreitung von Polit-PR durch den Journalismus. In: Raupp, Juliana & Klewes, Joachim (Hrsg.): Quo vadis Public Relations? Auf dem Weg zurn Kommunikationsmanagement: Bestandsaufnahrnen und Entwicklungen. Wiesbaden: VSVerlag, S. 125-141. Gartner, Hans-Dieter (1986): Wahlkampf und Presse. Portrait der Zeitungslandschaft Hessen anhand von pressestatistischen Daten und einer Fallstudie. Konigstein: Anton Hain. Kepplinger, Hans Mathias, Brosius, Hans-Bernd & Staab, Joachim-Friedrich (0. 1.): Instrumentelle Aktualisierung. Personliche Befragung zum Wertsystem von 214 Journalisten im Sommer 1984. Unveroffentlichter Forschungsbericht. Institut fur Publizistik der Universitat Mainz. Kepplinger, Hans Mathias (1998): Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg i. Br. Verlag Karl Alber. Kepplinger, Hans Mathias & Maurer, Marcus (2004): Der EinfluBder Pressemitteilungen der Bundesparteien auf die Berichterstattung im Bundestagswahlkarnpf 2002. In: Raupp, Juliana & Klewes, Joachim (Hrsg.): Quo vadis Public Relations? Auf dem Weg zurn Kommunikationsmanagement: Bestandsaufnahmen und Entwicklungen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 113-124. Knoche, Manfred & Lindgens, Monika (1988): Selektion, Konsonanz und Wirkungspotential der deutschen Tagespresse. Politikvermittlung am Beispiel der Agentur- und Presseberichterstattung uber die GRUNEN zur Bundestagswahl ]987. In: Media Perspektiven, 8, S. 490-510. Panknin, Eva-Maria (1971): Bundestagskandidaten und Lokalpresse im Wahlkampf 1969. Unveroffentlichte Magisterarbeit am Institut fur Publizistik. Mainz. Staab, Joachim-Friedrich (1985): Der EinfluB der Pressestruktur auf die Berichterstattung nber die Bundestagswahlen 1969-1983 aus der Sicht der Kandidaten. Unveroffentlichte Magisterarbeit am Institut fur Publizistik. Mainz. Staab, Joachim-Friedrich (1986): Direktkandidaten in den Bundestagswahlkampfen 1969-1983. Erfahrungen im Umgang mit der lokalen und regionalen Presse. In: Publizistik, 31, S. 296-314.
175
Der lange Weg zum Triumph der "Willy-wahlen"-Wahl: Willy Brandt als Wahlkampfer - 1961 bis 1972 Von Ilka Ennen
Das Politiker-Bild, das in den Kopfen der Menschen entsteht, ist in erster Linie ein Bild aus zweiter Hand. Gepragt und beeinflusst von der Darstellung der Massenmedien - in der Wahlkampfzeit Willy Brandts genauso wie heute. Doch die Arbeit der Hauptakteure auf der politischen Buhne in den sechziger und fiiihen siebziger Jahren lasst sich nicht mit heutigen Mabstaben messen. Das Zeitalter der Fernsehdemokratie ist noch nicht angebrochen. Die neusten theoretischen Erkenntnisse der Publizistikwissenschaft, angelehnt an die bestehenden Verhaltnisse in der Beziehung zwischen Politik und Massenmedien, sind deshalb nur bedingt auf die Vergangenheit Ubertragbar. Seit Anfang der 60er Jahre beginnen Politiker und Parteien, ,,[...] sich und ihre Politik zunehmend ,medial' zu begreifen [... ].,,1 Die Medien stellen nicht nur Offentlichkeit her, sondem interpretieren, konstruieren und beeinflussen politische und gesellschaftliche Prozesse und erhalten dadurch fur die politische Willens- und Meinungsbildung eine immer wichtigere Bedeutung. Nicht nur, aber besonders auch in Wahlkampfzeiten. Willy Brandt kommt dies entgegen. Er ubemimmt eine Vorreiterrolle bei der offentlichen Inszenierung von Politik. Die Historikerin Daniela Munkel etikettiert ihn als ersten Medienkanzler in der Geschichte der Bundesrepublik.' NatUrlich ist Brandt bei der Vermittlung seiner Politik abhangig von den Medien. Und natiirlich benutzt und instrumentalisiert er ihre Kraft und ihre Macht wahrend seiner gesamten politischen Karriere. Brandt ist selbst lange Jahre Journalist gewesen. Ein Schreiber. Er beherrscht das Handwerk. Kennt die Wunsche, Bedurfnisse und Note der Medienleute. Viele Joumalisten sehen in Brandt den alten Kollegen und der alte Kollege lebt diese Rolle gem.' Die Barrieren, die die Spharen von Politik und Joumalismus und die Akteure auf beiden Seiten trennen sollen, sind niedrig. Haufig sogar durchlassig. Brandt schart Top-Joumalisten als Mitarbeiter urn sich: Egon Bahr, Conrad Ahlers, GUnter Gaus und Klaus Harpprecht." Andere wechseln nicht die Seiten und sind trotzdem dienlich. Beide Seiten ziehen ihren Nutzen daraus. Die Medienwelt ist vor allem Printwelt. Das Femsehen spielt in einer Zeit, als die Kinos noch Lichtspielhauser heiBen, im Wahlkampf eine untergeordnete RoUe. Politiker und Berater schielen dennoch bereits in den When 60er Jahren auf diese neue Form der Selbstdarstellung. Weil das Femsehen sich nur langsam in deutschen Wohnstuben verbreitet, wird dem neuen Medium keine wahlkampfentscheidende Wirkung zugestanden.' Es dauert jeMiinke12001: 24. Vgl. Miinke12005. Vgl. Egon Bahr im Interview mit der Autorin. In: Ennen 1996. Bahr war Chefredakteur und Bonner Korrespondent des RIAS, Ahlers war Redakteur beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel, Gaus war Spiegel-Chefredakteur und Harpprecht ZDF-Korrespondent in Washington. Vgl. Munke12005: 228. Glaubt man aber Franz Barsig, erfiillt das Femsehen bereits fruh die Funktion politischer Auslese. Er behauptet: Erich Ollenhauer wird nicht als Kanzlerkandidat nominiert, wei! er die Anforde-
176
doch nur wenige Jahre, bis das neue Massenmedium seinen Siegeszug antritt und zum Leitmedium bei der Politikvermittlung avanciert. Brandt meistert die Herausforderungen, die das neue Medium an die Selbstdarstellungsfahigkeit von Politikern stellt. Er verkauft sich blendend und weiB ,,[...] immer sehr genau, wie man am besten in eine Kamera schaut"." "Brandt war ein Medienereignis in sieh", sagt sein Freund und Berater Klaus Schutz.' Femsehjoumalist Klaus Harppreeht sprieht bewundemd von einer geradezu unverschamten Telegenitat" und Daniela Munkel eharakterisiert ihn als den ersten Politiker, der zum Femsehstar in der Bundesrepublik avanciert und eine fernsehgereehte Inszenierung und Darstellung von Politik entwickelt." Die Betonung liegt auf Politik, denn Brandt mag urn der Einsehaltquoten willen kein Hauptdarsteller des bundesdeutsehen Oberflachenfemsehens sein. Er schwingt keine Koehloffel in Promisendungen und rat nieht bei Robert Lemkes "Was bin ich". In reinen Unterhaltungssendungen findet der Mensch und Politiker Willy Brandt nieht statt. Auch nieht in Wahlkampfzeiten. Trotzdem muss er sich - wie sich im Folgenden zeigen wird - im Kampf urn die Wahlerstimmen aueh verbiegen. FUr den Wahlsieg geht Brandt an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Er ist immer ein fiihrender Kopf in der strategischen Planung. Und ein engagierter Kampfer vor Ort. Albrecht MUller, verantwortlich fur die 72er-Wahl, lobt seinen Chef als einen groBen, disziplinierten Wahlkampfer und Partner. Dialogfahig, lernfahig, beratungsfahig, Und ausgesprochen einfallsreich." Die Geschichte der Wahlkarnpfe Zweimal tritt Willy Brandt als Kanzlerkandidat an und scheitert im Kampf urn die Eroberung der Macht: 1961 setzt sich der 85-jahrige Konrad Adenauer durch, 1965 der populare Ludwig Erhard. Erhards Rucktritt und die Bildung einer GroBen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger im Dezember 1966 fuhren dazu, dass Brandt der Rolle des Berliner Burgermeisters entwaehsen kann. Seitdem ist Brandt der zweite Mann irn Kabinett: AuBenminister und Vizekanzler. Und geht unter diesen veranderten Vorzeichen 1969 ein drittes Mal ins Wahlkampf-Rennen. Seine SPD steht erstmals nicht als Opposition im Schatten einer Regierung. Sie ist selbst Regierungspartei und hat Minister in ihren Reihen. Erfahrene Politgrofsen, die fast drei Jahre lang die Geschicke Deutschlands mitbestimmt haben. Das schafft Vertrauen bei den Wahlern, Am Wahlabend erhalt Kiesinger bereits Gluckwunschtelegramme aus aller Welt. Die CDU/CSU bleibt starkste Partei und verliert dennoch. SPD und FDP reichen eine knappe Mehrheit zur sozialliberalen Koalition. Willy Brandt ist am Zie1. WeB 1969 das Jahr ist, in dem sich die politische Landschaft grundlegend wandelt, liegt auf der Betrachtung dieses Wahlkampfs ein Schwerpunkt der folgenden Darlegungen. Drei Jahre lang regiert die sozialliberale Koalition und nimmt sich schwieriger Themen an. 1m Streit urn die Ostpolitik sehrumpft die knappe Mehrheit der Regierung. FDPPolitiker wandern ab, bekennen sich zum Parteibuch der CDU. Nach einem gescheiterten
10
rungen des Fernsehens nieht erfullt. Franz Barsig war von 1958 bis 1965 Pressespreeher der SPD-Bundestagsfraktion. Vgl. Barsig 1985: 105. Klaus Schutz im Interview in Museumsmagazin online (2/2004). (www.museumsmagazin.com). Klaus Schutz im Interview mit der Autorin. In: Ennen 1996. Vgl. Klaus Harpprecht im Interview mit der Autorin. In: Ennen 1996. Vgl. Munke12005: 146. Vgl. Muller 1997: 81; 132.
177
Misstrauensvotum stellt Willy Brandt die Vertrauensfrage. Bei den Neuwahlen im November 1972 muss die Union zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik die Rolle der Herausforderin annehmen. Sie scheitert. Es kommt zu einem triumphalen Sieg der SPD. Seitdem wird die 72-er Wahl auch "Willy-Wahl" genannt.
Die Kampagnen
1961: Wahlkampfnach amerikanischer Art 196 I betritt erstmals ein Mann in der Funktion eines Kanzlerkandidaten die politische BUhne: Willy Brandt ist dazu auserkoren und das Wahlkampf-Karussell der SPD dreht sich vor allem urn seine Person. 11 Diese starke Personalisierung ist ein Novum in der SPDGeschichte. ]2 Vieles hat sich verandert, seit sich die .alte Tante" SPD im Jahr 1959 in Bad Godesberg in ein neues programmatisches Kleid gehullt hat und auf dem Weg ist von der Arbeiter- zur Volkspartei. Wahlkampfmanager Klaus Schutz importiert Wahlkampfelemente aus den USA und tritt damit eine haufig kritisierte Amerikanisierung bundesdeutscher Wahlkampfe los. Brandt erinnert sich: .Jvlanches war fur uns nutzlich, anderes nicht, Wir haben die amerikanischen Beispiele sozusagen ,verdeutscht' - und die anderen Parteien folgten uns damit recht schnell." 13 Die Dramaturgie der Auseinandersetzung ergibt sich aus der Person des Kanzlers. Die SPD will polarisieren: Auf der einen Seite Konrad Adenauer, der starre, im Gestern verhaftete Alte vom Rhein. Auf der anderen Seite ein Mann, der an den amerikanischen Prasidenten Kennedy erinnert und Jugend, Modernitat und Aufbruch symbolisiert. Schutz schickt Brandt auf .Deutschlandreise". Sein Wahlkampfer soll nach amerikanischem Vorbild durch die Lande tingeIn, urn sich den Wahlern personlich vorzustellen. 40.000 Kilometer tourt Brandt im cremefarbenen Mercedes-Cabriolet, das ein Symbol wird fur den Versuch, dem Image der Arbeiterpartei zu entfliehen. Brandt halt Reden, streichelt Kinderkopfe, schuttelt Hande, schwenkt staatsmannisch seinen grauen Homburg. Die Wahlkampfstrategen drangen ihn auf Marktplatze und in Bierzelte." Wahlemahe suchen heiBt sich auszuliefern. Brandt taucht in die Masse ein und versucht sich in der Rolle des Everybody's Darling. Doch sie liegt ihm nicht, Der Kanzlerkandidat steckt im Korsett der Wahlkampfschopfung und wirkt verkrampft und kunstlich." .Da war er kein groBer Star [...]", sagt Karl Garbe." Die Resonanz der Offentlichkeit und der Medien ist dennoch positiv. Die Zeitungen berichten ausfuhrlich, Die Demoskopen des infas-Instituts erforschen die AuBenwirkung und kommen zum Schluss: .Das Auftreten Willy Brandts war zumeist ein Ereignis. [...] Wo immer der Brandt-Besuch einigermaBen vorbereitet war, wurde ein Kapital an Vertrauen und Sympathien mobilisiert." 17
11
12 13 14 15 16
17
178
Vgl. Holtz-Bacha2000: 98. Vgl. MUnke12005: 222. Brandt 1976:48. Die Deutschlandreise ist ausfuhrlichbeschriebenim Spiegel-Artikel .Wahlkampf" vom 6.9.1961. Vgl. Egon Bahr und Klaus Harpprecht im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Karl Garbe im Interview mit der Autorin. In: Ennen 1996. Karl Garbe, Redakteur der Parteischriften .Klarer Kurs", .Eilt" und .Bonner Depesche", war an der Wahlkamptkonzeption von 1961 beteiligt. 1962 bis 1969 war er Leiter der Abteilung fur Offentlichkeitsarbeit der SPD. lnfas: Brandt unterwegs. Eine Untersuchungder Resonanz der Deutschlandreise vom Juni 196]. Zitiert nach Munkel 2005: 230.
Vor al1em die Springer-Presse gehort zu den Brandtschen Hofberichterstattem, die den SPD-Mann 1961 massiv bei der Nominierung zum Kanzlerkandidaten unterstiitzt und zum Nachfolger Adenauers aufbaut. FUr die Bild-Zeitung ist Brandt ein Star. IS Dieser revanchiert sich und ist den Meinungsmachern gefallig, Er futtert sie mit Informationen und lasst sie - fur die damalige Zeit sehr ungewohnlich - in sein Privatleben schauen." Unter der Berliner Kaseglocke entspinnt sich die wechselseitige Abhangigkeit einer Kommunikationsgemeinschaft, ein System aus Geben und Nehmen. Doch das genugt nicht, urn das Gros der Wahler zu uberzeugen. 1961 gewinnt die SPD zwar Stimmen und stiehlt der Union die absolute Mehrheit, aber die Anpassung des Wahlkampfes an die Bedurfnisse der Medien und die Inszenierung des Kanzlerkandidaten reichen nicht zum Eintritt in die Zentrale der Macht. Ein Stein im Mosaik des Seheitems ist sieher die Diffamierungskampagne gegen Brandt, ausgedaeht von der Union, der konservativen Presse" und der Stasi. Die Gemeinschaft der BrandtVerhinderer schurt Ressentiments, sat Misstrauen und demontiert Brandts Image, indem sie seine uneheliche Geburt, seine Emigration naeh Norwegen und den Namenswechsel" propagandistisch ausschlachtet. Seine Gegner stellen ihn als charakterschwaehen, zwieliehtigen und unmoralisehen Mensehen dar. Ungeeignet fur das Amt des Bundskanzlers.f Aueh Adenauer bedient sieh dieser Methode, schmaht den Konkurrenten offentlich als "Brandt alias Frahm"." Die Resonanz in der Bevolkerung ist enorm, bose Briefe und Besehimpfungen prasseln auf Brandt nieder.
1965: Der lrrtum der Wahlforscher 1965 wil1 die SPD Willy Brandt nieht wie vier Jahre zuvor als Hauptdarsteller exponieren. Der Gegner ist nieht mehr der greise Adenauer, dessen Politkarriere zwei Jahre zuvor ihren Seheitelpunkt erreieht hat. Das personifizierte Wirtsehaftswunder sitzt im Kanzleramt. Ein Platzhirseh mit Wohlstandsbaueh und Zigarre, dessen Erseheinung selbst wie ein politisehes Programm anmutet: Ludwig Erhard. "PR-Berater hatten ibn nieht besser ,erfinden' konnen.v'" Diesmal also kein forcierter Zweikampf, keine Gegenuberstellung, keine Polarisierung, keine Betonung der mensehliehen Qualitaten Brandts wie 1961. 25 Der SPDler kann es mit der Popularitat eines Erhard obnehin nieht aufnehmen. Dabei gilt der Kanzler bei Menschen, die in der politisehen Landschaft heimiseh sind, als fiihrungssehwaeh und richtungslos. Sie diskreditieren ihn als Waekelpudding und Gummilowen." Pluralisierung heiBt die Devise. Die Mannsehaft soil ins Rampenlieht. In den Anzeigen preist die Partei die politisehen Fahigkeiten und die Saehkompetenz des so genannten Professorenkabinetts 27 an. Aber obwohl strategiseh nieht gewollt, dominiert wieder der Kanzlerkandidat die SPD-Werbung. Brandt-Plakate werden von der Basis bestellt und geklebt. Und geklebt und \8 \9 20
21 22 23
24
2S 26 27
Vgl. Stem 1975: 70. Vgl. Schrock 1991: 158. Dazu gehorten beispielsweise der Neue Presse-Verlag, der Echo-Verlag, die Deutsche Tagespost, die Deutsche Zeitung, die Neue Bildpost und die Deutsche Nationalzeitung. Willy Brandts Geburtsname lautet Herbert Frahm. Vgl. Ennen 1996: 133-140. Adenauer 1975: 417. Munkel 2005: 245. Vgl. Kei12003: 288. Vgl. Merseburger 2002: 471. Vgl. Kei12003: 288.
179
bestellt. So viele wie nie zuvor. Auch in der Wahl-Illustrierten und in der InseratenKampagne ruckt Brandt ins Zentrum." Naturlich muss er auch wieder raus zu den Wahlern. Brandt reist - ausgewahlte Journalisten im Gepack - im zurn Hotel und Hauptquartier umfunktionierten Sonderzug durch die Republik. Fahrt bei Auftritten in einer Mercedes-Nobelkarosse vor und prasentiert sich vor allem in den Arbeitervierteln der Grolsstadte. An seiner natiirlichen Scheu andert sich nichts und manch Wahlkampfbeauftragter wird sich gewUnscht haben, die zuweilen maskenhaften Gesichtszuge Brandts weichzeichnen zu konnen, .Das WeiBe im Auge des Wahlers zu fixieren fallt ihm schwerer, als den Krebs zu besiegen und den Herzinfarkt abzuschaffen, was er gelegentlich noch verspricht", notiert Spiegel-Redakteur Dieter Schroder." Brandt ist zuversichtlich, obwohl die Gegner seine Biografie wieder in aller OffentIichkeit durch den Schmutz ziehen. Er prophezeit den grofsten Wahlerfolg in der Geschiehte der SPD und ist uberzeugt, dass seine Partei starkste Fraktion wird." Die ComputerMasehinerie der Demoskopen hat Einzug gehalten ins Wahlkampfgeschehen und entspreehendes Zahlenwerk geliefert. Vom Kopf-an-Kopf-Rennen ist die Rede. Brandt glaubt den Vorhersagen der Wahlforscher." Und wird enttauscht, Es reicht nicht. Wieder nicht. 39,3 Prozent der Stimmen gehen an die SPD. 47,6 Prozent an die Union. Brandt ist deprimiert. Die Diffamierungen haben ibm zugesetzt. Auf einer Pressekonferenz am Tag naeh der Wahl gibt er zu: ,,[...] ich bin nieht unversehrt aus dieser Kampagne herausgekommen.v" Er kundigt an, fur einen weiteren Wahlkampf nieht mehr als Kanzlerkandidat zur Verfugung stehen zu wollen.
1969: Der Weg ins Kanzleramt 1965 haben die Demoskopen geirrt. Trotzdem wachst ihr Einfluss von Jahr zu Jahr. Auch vor der Wahl· 1969 schauen die Meinungsforscher unterschiedlicher Institute den Wahlern in den Kopf und konzedieren: Nicht Brandt, sondern Wirtschaftsminister Karl Schiller ist 33 der Publikumsliebling und fuhrt die Rangliste der popularsten SPD-Politiker an. Brandt kann weder mit dem Image Schillers noch mit dem Image Kiesingers konkurrieren. Der Kanzler ist landauf, landab beliebt. Nicht nur bei CDU-Wahlern. Auch SPD-Anhanger halten den Mann fur einen guten Regierungschef. 34 In einer Umfrage vom Mai 1969 sprechen sich 52 Prozent der Befragten fur Kiesinger als Kanzler aus. Nur 27 Prozent fur Brandt. Frnhere Ergebnisse zeigen ein ahnliches Bild. Zudem wird der Parteivorsitzende mit der traditionalistischen SPD in Verbindung gebracht, die wenig attraktiv fur Wechselwahler ist. 35 Menschen, die von Meinungsforschern mit dem Namen Brandt konfrontiert 36 werden, assoziieren Margarine und Vertreter. Oder Fahrrad.
28 29
30 3)
32
:n 34
35 36
180
Vgl. MOnke12005: 254f. Schroder, Dieter: Berliner Luft bei Kaffee und Kuchen. In: Der Spiegel vom 1.9.1965. Vgl. Merseburger2002: 479f. Vgl. Volker Rigger im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Brandt, Willy zitiert nach Kempski, Hans Ulrich: Doch keiner weiB, wohin die Wege fiihren. In: Suddeutsche Zeitung vom 25/26.9.1965. Vgl. Wolf 1980: 216. Vier Wochen vor der Wahl halten 38 Prozent der SPD-WahlerKiesingerfur den besseren Kanzlerkandidaten. Vgl. Kaltefleiter 1970: 60; 74; Wolf 1980: 204. Vgl. Holtz-Bacha2000: 111. Vgl. Kaltefleiter 1970: 94.
Die SPD hat aus den Wahlkampf-Niederlagen der Vergangenheit gelemt. Sie hat sich weiter entwickelt und sucht den Rat extemer Experten. Werbeleute, Joumalisten, Kommunikationsberater und Meinungsforscher beteiligen sich im Wahlkampf an der Kunst der Fuhrung und Verfiihrung. Der CDU-nahe Sozialwissenschaftler und Politologe Werner Kaltefleiter konstatiert die erste professionell gefUhrte Kampagne der Partei." Die SPD stellt keinen Einzelkampfer, sondem die regierungserfahrene Mannschaft in den Mittelpunkt ihrer Werbung." Ihr Leitmotiv: "Wir haben die richtigen Manner". Die Werbeagentur ARE aus DUsseldorf setzt die Konzeption urn, die das Team urn Offentlichkeits-Arbeiter Werner MUller und Bundesgeschaftsfuhrer Hans-Jurgen Wischnewski erdacht hat. 39 Sie entwirft Broschuren, Flugblatter, Plakate. Produziert Fernseh- und Rundfunkspots. Die Farbe rot wird eingemottet. Ausgetauscht gegen ein leuchtendes Orange. GUnter Grass, der Wahlkampftrommler, beschreibt in seinem "Tagebuch einer Schnecke", welche Eigenschaften Umfrageinstitute dieser Farbe beimessen: Orange .Jst heiter und sinnlich, wirkt aktiv sportlich modern, zieht jung an, stoBt alt nicht ab, leuchtet reif und gesund.v'" Millionenfach trag en Menschen einen orangefarbenen Stecknadelkopf als Sympathiezeichen am Revers." So wirkt erfolgreiches Corporate Image. Die CDU entscheidet sich fur eine One-Man-Show. Sie konzentriert ihre Kampagne so stark wie nie zuvor auf ihren Spitzenkandidaten und plakatiert: "Auf den Kanzler kommt es an." Das Team urn den Regierungschefmuss in der Partei-Werbung mit einer Nebenrolle vorlieb nehmen.f Die SPD vermeidet die Konfrontation mit der CDU. Straft den politischen Gegner, der gleichzeitig auch Koalitionspartner ist, mit Nichtachtung. Erst in der heiBen Wahlkampfphase verscharft sich der Ton. 43 Brandt, Mitglied des zentralen Wahlkampfgremiums, unterstutzt diese Taktik." Er setzt vor allem auf Image- und Sympathiewerbung." Die SPD verkauft sich als moderne Partei. Als Partei der Zukunft und der Reformen.f Sie wirbt: "Wir schaffen das moderne Deutschland" und "SPD. Die beste Zukunft, die Sie wahlen konnen." Das Fernsehen macht Politkarriere Zum ersten Mal sind Fernsehspots neben Anzeigen das mit Abstand wichtigste Instrument politi scher Werbung." Die Bilder sollen kein Vehikel fur politische Informationen sein, sondern das modeme Image der Partei in die Kopfe der Wahler transportieren. Passe sind Bilder, die der Homestory einer Frauenzeitschrift entliehen sein konnten: Willy Brandt beim Angeln. Willy Brandt beim Bootfahren. Willy Brandt am Kaffeetisch (1961). Auch
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Vgl. ebd.: 99. Vgl. Kei12003: 290. Die ARE Werbeagentur ist von der SPD gegrundet worden. Grass 1972: 159f. Vgl. Merseburger 2002: 569. Vgl. Keil2003: 289. Vgl. Kaltefleiter 1970: 97. Vgl. Sitzungsprotokoll des SPD-Parteirates vom 28. Juni 1969. In: Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung (im Folgenden AdsD), SPD-Parteivorstand, PV-Protokolle, Mai-August 1969. Vgl. Holtz-Bacha 2000: 111. Vgl. Kei12003: S. 201; Wischnewski 1969: 157. Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1968/1969: 49.
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die Spots im Stile einer Nachrichtensendung mit einer Femsehansagerin als Sprecherin kommen in die Mottenkiste der Vergangenheit (1965).48 Ein Femsehprofi setzt die Werbebotschaft der SPO in Szene. Der spatere .Klimbim"Regisseur Michael Pfleghar inszeniert rasante Kamerafahrten, knappe Schnittfolgen, uberraschende Perspektiven. Die Protagonisten der Spots sind Brandt und sein .Kompetenzteam": Helmut Schmidt, Karl Schiller, Herbert Wehner, Kate Strobel und Georg Leber. Die Motive sind Symbole des Fortschritts: Flugzeuge, Raketen, modeme Industrielandschaften." Brandt ist auch ein Modemisierer, sofem er einen Nutzen davon hat. Emeut versucht er, das politische Duell nach amerikanischem Vorbild zu verdichten und fordert seinen Widersacher offentlich zur Femsehdebatte heraus. Kiesinger halt es wie zuvor Adenauer und Erhard. Er lehnt abo Die Manner in der Schaltzentrale der Macht wollten und wollen dem Herausforderer im Wettstreit urns Kanzleramt keine zusatzliche Buhne bieten. Brandt ist da keine Ausnahme. Einmal Chef der Bundesregierung halt er am Althergebrachten fest. Kein Disput im Scheinwerferlicht mit Rainer Barzel. Seine halbherzigen Begrundung: Er wolle im Jahr 1972 nicht zu neumodisch werden.i" Trotzdem treffen die politischen Gladiatoren in der Femseharena aufeinander. Die vier Parteivorsitzenden argumentieren, werben und streiten in der so genannten Elefantenrunde fur ihre Politik. Femsehauftritte und besonders Live-Sendungen dieser Art erfordem eine grUndliche Vorbereitung. Brandt und seine Helfer machen ihre Hausaufgaben. Themen werden diskutiert, Fragenkataloge ausgearbeitet, Argumentationsketten entworfen. Die Dialogfuhrung detailliert geplant." Trotz der intensiven Vorbereitung ist Brandt bei diesen Sendungen angespannt.Y Reinhard Appels ZDF-Sendung .Drei Tage vor der Wahl" mit Brandt, Kiesinger, StrauB und Scheel bannt die politikinteressierte Femsehnation VOT den Bildschirm. In Zeiten des offentlich-rechtlichen Monopols geht es noch ohne abgegriffene Worthulsen und vom Dauer-Wahlkampf durch aile Tv-Kanale abgenutzte Gesichter. Hinsichtlich ihres Informationsgehaltes schreibt diese Runde Geschichte: Der FOP- Vorsitzende WaIter Scheel kundigt erstmals vor geschatzten 30 Millionen Zuschauem die Bereitschaft seiner Partei zur sozialliberalen Koalition an. 53 Ein Paukenschlag. Das Femsehen steigert das Volumen der Wahlkampfberichterstattung." Und tragt seinen Teil zum SPD-Erfolg bei. Die ARD-Politmagazine Report und Panorama begrulsen den Wechsel an der politischen Spitze. Panorama-Mann Sebastian Haffner fasst Ende Dezember 1969 die COU-KanzIerschaften von Adenauer, Erhard und Kiesinger in einem Satz zusammen: "Neue Gesichter, aber immer die alte Politik. ,,55 Trotzdem kann 1969 keine Rede sein vom Femsehwahlkampfnach amerikanischem Vorbild, in dem Bildschirmduelle Wahlkampfe entscheiden konnen. Dazu sind die Printmedien nach wie vor zu wichtig. Eine Analyse der Suddeutschen Zeitung, der Welt, der Frankfurter Allgemeinen und der Frankfurter Rundschau belegt einen Anstieg der WahIkampfberichterstattung urn 40 Prozent im Vergleich zu 1965. 56 48
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Vgl. Holtz-Bacha2000: 108. Vgl. MOller 1969:90. Vgl. Protokoll der Bundespressekonferenz vom 25.9.1972. In: AdsD, Willy Brandt-Archiv (im Folgenden WBA), Verz. Bundeskanzler, Order 69. Vgl. AdsD, WBA, Verz. Parteivorsitzender, Ordner 65. Egon Bahr im Interview mit der Autorin. In: Ennen 1996. Vgl. Baring 1998: 176. VgL Munke12005: 266. Haffner, Sebastianzitiert nach Lampe 2000: 267. Vgl. Wilke 2000: 170.
Die Polarisierung der Presse: Kanzlermacher vs. Kanzlerverhinderer Nicht nur die Strippenzieher in den Hinterzimmem der SPD-Baracke avancieren zu Kanzlermachem. Wichtige Geburtshelfer der Regierung sitzen auBerhalb der Parteizentrale. 1m Wahlkampf verlassen Joumalisten ihre Posten als mehr oder minder neutrale Beobachter und Berichterstatter. Sie mischen sich ein. Leben ihre Rolle als Meinungsmacher. Ergreifen im wahrsten Sinne des Wortes Partei und bereiten so den Machtwechsel vor. Ahnlich der Politik ist die Presselandschaft polarisiert, in zwei groBe Lager gespalten. Die linksliberalen Medien sind lautstarke Befiirworter des Wechsels. Die konservative Presse, allen voran das Meinungskartell urn den Verleger Axel Springer, macht Propaganda gegen die SPD und Brandt. Yom Einklang fruherer Zeiten sind Brandt und Springer weit entfemt. Springer ist einer, der die Pressefreiheit als Verlegerfreiheit definiert. Er halt seine Redakteure an der kurzen Leine und bestimmt den Kurs der Berichterstattung. Als Brandt seine Politik nach Osten offnet, kommt es zum Bruch mit dem Verleger, der eine Ausrichtung nach Westen fordert und die gemeinsamen politischen Ziele verraten sieht. Fortan lasst der Machthaber tiber das grofste deutsche Zeitungsimperium seine Redakteure los, die im Wahlkampf 1969 zum ersten Generalangriff ubergehen und sich in Brandt und seine Politik verbeiBen. Brandt ist erbost und beleidigt und schlieBt die Springer-Blatter von Hintergrundinformationen aus. Der Versuch des Parteivorstandes, das Verhaltnis vor der Wahl wieder in geordnete Bahnen zu lenken, scheitert." Ohne die Ruckendeckung durch eine joumalistische Gegenmacht im Kampf gegen Springer hatte Brandt die Ostpolitik aufgeben mussen, glaubt Egon Bahr. 58 Die liberalen Zeitungen und Magazine, allen voran die Suddeutschen Zeitung, die Zeit, der Stern und der Spiegel, formieren sich zu dieser joumalistischen Gegenmacht, die Brandt ins Kanzleramt zu schreiben versucht. Brandt spinnt ein Netzwerk der Vertrauliehkeit, fuhrt Hintergrundgesprache und macht die Journalisten zu Mitwissem und Mitdenkem seiner Politik. 59 Das Verhaltnis ist unbefangen, der Vmgang offen, sagt Brandt-Portrait-Schreiber und Zeit-Redakteur Gunter Hofmann." Die Schreiber sind mit ihrer Rolle einverstanden. Sie verstehen sich nieht als Diener oder Hofschranzen, sondem sind uberzeugt von Brandts Politik. Vnd stolz auf ihren Einfluss.?' Manchmal verstricken sich die Medienleute in der Nahe zur Macht und uberschreiten die imaginaren Grenzen, die Joumalismus und Politik voneinander trennen sollen. Aus Meinungsmachem werden Redenschreiber und Berater. Spiegel-Chefredakteur GUnter Gaus schreibt tiber die NATO und hofft auf eine weitere Zusammenarbeit, Zeit-Redakteur Rolf Zundel hilft bei einer Haushaltsrede. Naturlich streng vertraulich.Y Der Publizistikwissenschaftler Hans Mathias Kepplinger beschreibt die Neigung zur publizistischen Parteinahme fur die ,gute' Sache als charakteristisch fur den deutschen Journalismus.f In den Wahlkampfen 1969 und vor allem 1972 findet dies sehr ausgepragt statt. Der Spiegel, der in den Jahren zuvor ein gespaltenes Verhaltnis zu Brandt und seiner 57
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Vgl. Brief von Alfred Nau an Brandt vom 3.9.1969. In: AdsD, WBA, Verz. Parteivorsitzender. Verbindungen mit Mitgliedem des Prasidiums,Ordner 14. Vgl. Jurgs 1995: 243 und ausfiihrlich Kruip 1999. VgJ. Ennen 1996:36-41~ 75-79. VgJ. Gunter Hofmann im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Vgl. ebd. Vgl. Briefe von Gunter Gaus an Brandt und von Brandt an Rolf Zundel. In: AdsD, WBA, Verz. AuBenminister, Ordner 4 und VerzeichnisBundeskanzler, Ordner 20. Vgl. Kepplinger 1998: 179.
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Partei hat, geht 1968 in die Pro-Brandt-Offensive. Zwischen September 1968 und Oktober 1969 erhalt Brandt in fiinf Spiegel-Gesprachen ein Forum zur ausfiihrlichen Selbstdarstellung. Die Berichte sind auBerst positiv.?' Das reicht den Machem aber nicht. Herausgeber Rudolf Augstein und Chefredakteur GUnter Gaus lassen eine Woche vor der Wahl jede publizistische Zurtickhaltung fahren und propagieren in ihrem Blatt: "Wir wollen [...] einen Bundeskanzler Brandt an der Spitze einer Koalition aus SPD und FDP, gleichgultig, welche Zahlen die Demoskopen dieser Gruppierung voraussagen.v'" Brandt bedankt sich und lasst wissen, wie sehr er ,,[...] die Haltung zu schatzen weiss, die Ihr Blatt mit dem Blick auf den 28. September eingenommen hal.,,66 Der Stern schlagt sich schon Anfang der sechziger Jahre auf Brandts Seite. Chefredakteur Henri Nannen ist ein klarer Befurworter der Ostpolitik und trimmt sein Blatt auf Linie. Das Magazin startet eine Umfrage nach der anderen, ,,[...] mit dem Ziel, durch steigende Prozentzahlen nachzuweisen, daB sich die Deutschen innerlich mit dem Verlust der von Polen verwalteten Ostgebiete abgefunden haben.r'" Brandt ist dankbar fur die Hilfe und schreibt an Nannen, dass er einen nicht geringen Anteil an der Chance des Regierungswechsels habe. Und: "FUr die guten Veroffentlichungen des STERN mochte ich Ihnen schon jetzt danken. Ihr eigener Artikel hat im Vorwahlkampf eine entscheidende Rolle gespielt.v'" Auch in der Zeit avanciert Willy Brandt zum politischen Helden." Rolf Zundel, Theo Sommer und Marion Gratin Donhoff kommt die Kritiklust abhanden, sie engagieren sich massiv fur einen Regierungswechsel. Und Hans Ulrich Kempski von der Suddeutschen Zeitung redet in der Wahlnacht auf den zogernden Herbert Wehner ein, bis dieser brummelnd Brandt anruft und Ruckendeckung fur eine sozialliberale Koalition verspricht. Zuvor hat Kempski Brandt einen Zettel zugesteckt mit der Aufforderung: .Jetzt oder nie.,,70 Die Brandtschen Wahlkampfhelfer: die Sozialdemokratische Wahlerinitiative (SWI) 1m Wahlkampf melden sich nicht nur Joumalisten zu Wort. Es ist die Zeit der Einmischung. Es ist die Zeit, in der Intellektuelle fur ihre politische Uberzeugung eintreten und Offentlichkeit herstellen. GUnter Grass trommelt Dichter und Denker zusammen und grtmdet die Sozialdemokratische Wahlerinitiative (SWI). Von Beginn an engagieren sich der Redakteur GUnter Gaus, die Schriftsteller Siegfried Lenz und Thaddaus Troll, die Historiker Amulf Baring und Eberhard Jackel und der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer. Im Fruhjahr 1969 bezieht die Gruppe eine Kommandozentrale in dusteren Bonner Raumen mit Hinterhotblick - und macht von dort aus so viel Larm, dass die ganze Republik daruber
spricht." Die Idee ist nicht neu. Die Geburtsstunde der Wahlerinitiative datiert auf das Jahr 1961. In einem Rowohlt-Bandchen, herausgegeben von Martin Walser, streiten Schriftsteller und Publizisten fur eine neue Regierung. .Das hatte es noch nie gegeben in Deutsch64 65 66
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Vgl. Miinke12005: 95. Augstein, Rudolfund Gaus, Gunter: Lieben Sie Abziehbilder? In: Der Spiegel vom 22.9.1969. Vgl. Brief von Brandt an GOnter Gaus vom 7.10.1969. In: AdsD, WBA, Verz. SPD Parteivorsitzender, Pers. Korrespondenz )968-1980, Ordner 4. Gayer 1969: 156. Briefe von Brandt an Henri Nannen vom 18.9 und 7.10.1969. In: AdsD, WBA, SPD-Parteivorsitzender, Personliche Korrespondenz 1968-1980, Ordner 4 und 6. Vgl. Munke12005: 116. Kempski 1999: 144f. Vgl, Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1968/69: 64
land: Ein Mann bewarb sich urn das hochste Regierungsamt und fand sogleich die Unterstiitzung zahlreicher Schriftsteller, Maler, Komponisten und Wissenschaftler. Wir waren uns einig. Willy Brandt war unser Mann", erinnert sich der Schriftsteller Siegfried Lenz." Vier Jahre sparer brutet Grass in Absprache mit Brandt das "Wahlkontor" deutscher Schriftsteller aus. FUr zehn Mark die Stunde entwerfen die Literaten Reden, erfinden Slogans, sind Erhard und seiner Union unbequem. GUnter Grass vermarktet seine eigene Popularitat, reist durch die Republik, singt ein "Loblied auf Willy" und rat den Menschen .EsPe-De" zu wahlen." Die Sozialdemokratisehe Wahlerinitiative ist professioneller als ihre Vorganger und ein wirksames Element der 69-er Wahlkampfkommunikation. Sie schaut sich Wahler aus, die per se nieht zu den Fans der SPO zu rechnen sind: Jungwahler, berufstatige Frauen, altere Bildungsburger, katholisehe Arbeitnehmer." Grass redet, propagiert und uberzeugt mit Sehlagwort-Prosa statt mit Versen. Zur Not auch vom Autodach herab. 75 Oer Agitator wagt sich in Unionshochburgen mit absoluten Mehrheiten. Die Menschen drangt es, ihn zu sehen. Die Veranstaltungen, sagt Grass, sind aIle ausverkauft. Oft sogar tiberfUllt.76 Der Wahlkampf uberflutet nieht aus einer ubermachtigen Bonner Parteizentrale das Land, sondem speist sich aus den vie len kleinen Quellen vor Ort. Die Partei begrulit die Aktion, die sich quer durch die Republik fortpflanzt. Initiative und Parteigremien halten Kontakt, .tauschen sieh aus. Zu den groBen Befurwortern zahlt Herbert Wehner, der dem Projekt hochste Aufmerksamkeit zugesteht. 77 Brandt schaufelt, wann immer er kann, Zeit frei fUr Treffen, diskutiert, korrigiert und gibt Anregungen. Die Arbeit der SWI bleibt in den Kopfen vieler Menschen haugen, Sie weckt die Lust, sich am Unternehmen Kanzlersturz zu beteiligen. Prominente scharen sich urn den harten Kern der Aktivisten und bekennen sich mit groBen Testimonial-Anzeigen zur SPo. Unprominente sehlieBen sieh in 72 lokalen und regionalen Wahlerinitiativen zusammen. Sie engagieren Redner, veranstalten StraBendiskussionen, werben mit Flugblattern." Bekannte Journalisten wie Gunter Gaus und Klaus Harppreeht, aber aueh Marion Grafin Donhoff und Peter Merseburger engagieren sich in der SWI-Zeitsehrift "dafUr". Sie versuchen, die Vorteile sozialdemokratiseher Politik zu akzentuieren und weisen auf die Notwendigkeit von Reformen in der Innen- und AuBenpolitik hin. 79 80 1m Laufe der Zeit kippt das Meinungsklima zugunsten der SPD. Am Wahltag wird die SWI fur ihr Engagement belohnt und kann sich der Anerkennung der Partei sieher sein." Horst Ehmke, der sich selbst als einer der Geburtshelfer der SWI in der SPD bezeiehnet, ist uberzeugt: .Der Wahlerfolg der SPD bei den Bundestagswahlen 1969 ging nieht zuletzt auch aufihr Konto."s2 Willy Brandt ist am Ziel. Am 21. Oktober wird er zum vierten Kanzler der Bundesrepublik Deutschland gewahlt,
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Lenz, Siegfried. In: Engholm 1992: 64. Grass 1965. Vgl. Wischnewski 1970: 51; Grass 1972: 52. Vgl. Spiegel, Hubert: Der Schneckenreiter. In: FrankfurterAllgemeineZeitung vom 16.9.2005. Vgl. Grass 1970: 80. Vgl. Brief Herbert Wehners an Brandt vom 29. September 1969. In: AdsD, WBA, SPD Parteivorsitzender. Verbindungen mit Mitgliedem des Prasidiums,Order II. Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1968/69: 64. Vgl. ebd.: 65; MOnke12005: 171 f. VgL MOller 1982: 119. VgI. Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1968/69: 65. Ehmke 1994: 85.
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1972: Die Willy-wahlen-Wahl Die Auflosung des Bundestages Ende September 1972 ist der Startschuss fur einen knapp zweimonatigen Wahlkampf. Erstmals profitiert die SPD vom Kanzlerbonus. Die Kemstrategie ist kein Streitthema: Der Wahlkampf konzentriert sich auf Willy Brandt. Sein Bild dominiert die Anzeigen, die Plakate, die Femsehspots. Erstmals sind auch die PopularitatsZahlen der Demoskopen gunstig fur ibn: Brandt liegt deutlich vor seinem Herausforderer Barzel. 83 "Sein wachsendes Ansehen hing ein ganzes Stuck mit der mutigen AuBenpolitik zusammen. Das durchgehend positive Presseecho im Ausland, von den USA bis nach Polen, wirkte stark auf die Beliebtheit des Kanzlers in Deutschland zuruck, Nach der Verleihung des Friedensnobelpreises vertrug sich die Abneigung von Unionsanhangern einfach nicht mehr mit dem Lob fur Brandt aus alIer Welt.,,84 In Deutschland sind die medialen Fronten abgesteckt. Seit Januar 1969 sendet das ZDF-Magazin urn Moderator Gerhard Lowenthal und schief3t aus allen Rohren gegen die Ostpolitik und die Regierung." Die Springer-Blatter treten im Auftrag ihres Verlegers ,,[...] zu einer Art letzten Schlacht fUr die Freiheit [...] an".86 FAZ, Handelsblatt, Quick und die Neue Revue beteiligen sich an diesem Feldzug. Der Spiegel und Stern, die Zeit, die Frankfurter Rundschau und die Suddeutsche Zeitung, die ARD-Magazine Panorama und Monitor formieren sich und bilden eine Phalanx fur Brandt. Schreiben und sprechen tiber die .Panikmache" und den "Verdummungsfeldzug" der Union. Brandt selbst will mit Macht seine Anhanger mobilisieren. Aus Mitgliedem MuItiplikatoren machen. Infonnieren, Argumente an die Hand geben, uberzeugen, Die Wahlkampfer glauben, dass die SPD ohne den Aufbau einer von Menschen getragenen Gegenoffentlichkeit keine Chance hat. 87 Also sagt der SPD- Vorsitzende auf dem Dortmunder Parteitag: "Wahlen werden nicht durch das Femsehen, das Radio, Zeitungsberichte, Annoncen, Plakataktionen beeinfluBt, sondem weitgehend durch unsere Oberzeugungsarbeit im Gesprach entschieden.v'" Brandt will Graswurzeldemokratie. Die Parteizentrale spuckt Tonnen an Werbe- und Informationsmaterial aus. Versorgt ihre Mitglieder tiber neu konzipierte Informationsdienste auch tiber Nacht mit Fakten und Meinungen. Der Funke springt tiber. Die Basis versteht - schuftet, klebt PIakate , verteilt Flugblatter vor Fabriktoren, in Fufsgangerzonen und an Bushaltestellen. Verkauft Willy" wahlen-Buttons, wirft Broschuren in Tausende von Briefkasten, skandiert "Willy wahlen" und spruht vor Begeisterung. Politik dringt in aIle Lebensbereiche ein, ist ein Thema am Arbeitsplatz, zu Hause, in der StraBenbahn. Die Sozialdemokratische Wahlerinitiative lebt wieder auf und entwickelt ,,[...] sich zu einer regelrechten Massenbewegung, getragen von der Mittelschicht mit Willy Brandt als Identifikationsfigur und ,HeIden' .,,89 Bis zu 70.000 Menschen in tiber 350 Iokalen Gruppen mobilisieren die Offentlichkeit fur eine Wiederwahl des Kanzlera" Daruber hinaus kommt es ,,[...] zu einem nie gekannten Werbefeldzug 83 84
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Vgl. Moller 1997: 130. Ebd. Vgl. Ennen 1996: 53ff. Springer 1980: 127. Vgl. MOller 1997: 155. Die Parteitagsrede Willy Brandts ist abgedruckt in: Protokoll der Verhandlungen des AuBerordentlichen Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlandsvom 12. bis 13. Oktober 1972 in Dortmund. Bonn 1972. MOnke12005: 173. VgJ. MOHer 1997: 66.
von Schriftstellem und Wissenschaftlem, Schauspielem und Kunstlem.v'" Nicht aIle sind SPD-Mitglied, aber alle sehen sich als Sozialdemokraten. Die Wahlerinitiative ist keine Marionette, die an den Faden von Parteifunktionaren zappelt - sie agiert frei. Sie koordiniert Rundreisen der SWI-Prominenz, schaltet Anzeigen, druckt eine Wahlzeitung, produziert Aufkleber, Buttons und Plakate." "Unser Land braucht keine Panikmacher oder Krisen- und Inflationsschwatzer, Deutschland braucht einen Kanzler von Format, Wir vertrauen Willy Brandt, und deshalb unterstutzen wir ihn - in diesen Wochen erst recht", heiBt es in der SWI-Zeitung Wahltag. Die SPD-Sympathisanten fuhlen sich im Einklang mit dem Zeitgeist und bekennen sich zu ihrer Oberzeugung. Die Unions-Anhanger ziehen sich zuruck und duckrnausern. Die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann nennt dies den Prozess der Schweigespirale, der den Wahlausgang beeinflusst." Wichtiger als Plakate und Anzeigen, sagt Albrecht MUller, sind engagierte, faszinierte Menschen." Auch Brandt kampft mit Leidenschaft: Der Sonderzug rumpelt Tausende von Kilometern durch die Republik, halt an fur fiinf, sechs groBe Kundgebungen am Tag. In den meisten Stadten sind die Hallen zu klein, urn die Menschenmassen aufzunehmen. Monitore ubertragen die Wahlkamptbilder fur die OrauBengebliebenen. Oft verspatet sich der Wahlkampfer zwei, drei, vier Stunden und trotzdem harren die Menschen aus. Der Wahlkampf gleicht einem Triumphzug, sagt Ehefrau Nummer drei, Brigitte Seebacher." Er ist der Hohepunkt der Popularitat und des Personenkultes urn Brandt. 96 Und Barzel? Der erklart: .Jch kann und will nicht holzen.v'" Oer Herausforderer verschleiBt sich nicht. Hetzt nicht von Termin zu Termin, von Stadt zu Stadt, von Kundgebung zu Kundgebung. An vielen Tagen steht oft nur eine einzige Veranstaltung in seinem Kalender. Nie mehr als vier. Kempski bernerkt, dass der Kandidat die MuBe hat, stundenlang auszuruhen. Ein Bad zu nehmen. Die Wasche zu wechseln. "Frisch wie ein gebraunter Urlauber, nach letzter Mode gekleidet, umgeben von Hostessen in tomatenrotem HosendreB, strahlend aIle Zahne zeigend [...] sturzt er dann wie atemlos in die jeweilige Halle, wo ibn Kinder mit Blumen bewerfen und die Musik aufspielt.':" Die COU sieht sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte gezwungen, ihren Spitzenkandidaten in ein Mannschaftsgefiige einzuhullen. Sie verspricht Sicherheit. Stabilitat, Fortschritt. Aggressiv wird der Ton in der parallel gefahrenen Negativ-Kampagne. Die Union und ihre Anhanger schuren die Angst vor dem Sozialismus, schieben die Sozialdemokraten ins Kommunisteneck. Eine Anzeige zeigt Hammer und Sichel unter der Uberschrift "Totengraber einer Nation"." Eine Flut anonymer Anzeigen erscheint. Sie diffamieren den Bundeskanzler und prophezeien im Faile eines SPD-Sieges den Staatsbankrott und Deutschlands Untergang. Die SPD-Anzeigenkampagne "Wir gegen uns" greift die gangigen Vorwurfe auf, urn der Angstkampagne der COU die Spitze zu nehmen. Sie tragt einen humoristischen Unterton, garniert mit einer Portion Selbstironie. Oer Auftakt klingt so: .Da gibt es doch Leute, die werfen uns vor, daB es unter 870.000 SPD-Mitgliedem verschiedene Meinungen gibt. 91 92 93
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Merseburger 2002: 653. VgJ. Muller 1997: 66. VgJ. Noelle-Neumann 1991: 18. Vgl. Muller 1997: 36. Vgl. Seebacher 2004: 232; Kempski 1999: 198f. Vgl. Munkel: 2005. 281. Rainer Barzel zitiert nach Kempski 1999: 195. Ebd. Die Anzeige ist abgedruckt in MOiler 1972: 52.
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Und wundern sich, daB Meinungen bei uns offen diskutiert werden. Diagnostizieren die Konservativen: Selbstzerfleischung. Wei! wir streiten, wenn es urn die Sache geht. Wei! wir kritisieren, damit die Sache besser wird. Manch einer muB da schon mal Fedem lassen. Aber letzten Endes, dann wird die beste Sache gemacht."IOO Kurz vor der Wahl titelt die Partei in einer Doppelanzeige irn Spiegel: ,,1m Himmel CDD, auf Erden SPD." Vnd: "Es gibt zwei gute Grunde, SPD zu wahlen: Willy Brandt und Franz-Josef StrauB." 101 Der Wahlkampf der SPD ist erwachsen geworden. Selbstbewusst. Brandt notiert Ende August in seinem Tagebuch: .Eine interessante Veranderung, 1960 fuhren Alex Moller und Klaus Schutz nach Amerika, urn Erfahrungen aus der Kennedy-Kampagne zu vermitteln. Inzwischen konnen wir auf solche Erfahrungen verzichten.v'Y' Die kreativen Kopfe der ARE-Agentur, mitverantwortlich fur den 69-er Erfolg, konzipieren emeut die Werbung fur die Stimmenjagd und setzen die Konzepte in einzelne Kampagnen urn. Der Leitgedanke ist, Kommunikation auszulosen. .Jeder Text, jede Schlagzeile, jeder Slogan wurde daraufhin uberpruft, ob er dieser Anforderung gerecht wurde.,,103 Die Resonanz der Wahler auf die verschiedenen Werbeformen ist eindeutig: Die SPD liegt in allen Bereichen weit vor der CDU. 104 Ein einziges Foto von Willy Brandt pragt den Wahlkampf. Es dominiert die Plakate und Anzeigen. Es ist das Bild eines Zufriedenen, der den Moment genieBt. Ein leises Lacheln im sonnengebraunten Gesicht. Es strahlt Ruhe und Zuversicht aus. "Willy Brandt muB Kanzler bleiben" steht daneben. Oder "Kanzler des Vertrauens". Der Wahlkampf tragt bis hinein in die Slogans die Handschrift Brandts.l'" Der Mann aus der Wortewelt formuliert: "Deutsche, wir konnen stolz sein auf unser Land." Den Stolz auf das eigene Land zu plakatieren, gibt ibm ein wahlkampferischer Sinn ein, sagt Seebacher.l'" Offenbar sind viele Menschen stolz aufihr Land und auf Willy Brandt: Sie gehen zur Wahl und bescheren der Demokratie ein Traumergebnis: 91,1 Prozent Wahlbeteiligung. Der Wahlsieg mit einem Stimmanteil von 45,8 Prozent ist der grolrte Erfolg der SPO in ihrer Geschichte.
Der Imagefaktor: Brandt als jugendlicher Held, Staatsmann und Friedenskanzler Brandt steht im Blickpunkt des offentlichen Interesses. Joumalisten, Wissenschaftler, Zeitzeugen und andere, die sich berufen fuhlen, aufsern sich tiber den Menschen, den Politiker, den Staatsmann. Jeder dieser Berufenen tragt mit seiner Darstellung zu Brandts Image bei, Manche Bilder verselbststandigen sich und nisten sich in den Kopfen der Menschen ein. Da wird aus Willy Brandt der "smiling Willy". Ein deutscher Kennedy. Oder der Friedenskanzler. 1969 ist der Wahlkampfer Brandt nicht mehr "nur" Kanzierkandidat und Berliner Burgermeister. Er ist AuBenminister und er reift mit diesem Amt. In der groBen Koalition schlupft Willy Brandt peu a peu aus der Rolle des jugendlichen HeIden, verwandelt sich zurn Staatsmann. Wahrend des Wahikampfes arbeitet er ais Halbtagsbeschaftigter, der zwei Fulltime-Jobs unter einen Hut bringen muss: Vormittags vertritt der Minister Deutschland drauBen in der Welt, nachmittags treibt der Parteimann seine Karriere als Kanzler in spe
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Die Anzeige ist abgedruckt in MOller 1997: 46f. Ebd.: 122f. Brandt, Willy zitiert nach MUlier 1997: 192.
Ebd.:] 80. Vgl. MUnke12005: 280. Vgl. MUlier 1997: ]32. Vgl. Seebacher 2004: 234.
voran. .Das Bild des Politikers Willy Brandt in Offentlichkeit und Presse hat sich wesentlich gewandelt", formuliert ein internes SPD-Papier zur Wahlkampfkonzeption.l'" Dieses neue Bild soll die Formen seiner offentlichen Auftritte bestimmen.l'" Der Wahlreisende verzichtet bei seiner Deutschlandtoumee auf Rummel nach amerikanischer Art. Es blast keine Kapelle. Es blodeln keine Kabarettisten. Als Postulat gilt die Reduktion auf das WesentI iche: Brandt und seine Politik. .Er hat seine Partitur gut im Kopf", notiert SZ-Redakteur Hans-Ulrich Kempski. "Motivforseher und Wahlstrategen haben ihm aufgeschrieben, nieht als Ehrgeizling zu erseheinen. Keine Siegesvisionen, kein zankisches Gepolter, keine Scharfmacherei, auch kein Ubelnehmen, All dies fallt Brandt nicht schwer. Die vorgegebene Route entspricht seinem Naturell. AuBerdem hat er dazugelernt. [...] Er diszipliniert sich als Redner. Seine Ansprachen enden exakt auf die festgelegte Minute, in der Regel nach einer halben Stunde.,,109 Auch Spiegel-Redakteur Hermann Schreiber spurt die Verwandlung, die Wendung zum Besseren, deren Beginn er auf die Wahlniederlage 1965 datiert. Er empfindet keine von der Parteirason erzwungene Charakterkosmetik. Keine Ahnlichkeit mit einer rucksichtslos retuschierten Titelblatt-Figur. Brandt habe seinen eigenen StH gefunden. .Der Willy Brandt, der jetzt auf Wahlreise ist, will ja nicht mehr urn jeden Preis gefallen."!" Er sei etwas geworden. Nicht blof AuBenminister. "Er ist Willy Brandt geworden." 111 Folgt man der Darstellung des Politikwissenschaftlers Franz Walter, erlebt Brandt 1965 ,,[...] wohin es fuhrt, wenn Politiker sich zu sehr Imageberatem und Marketingbubchen anvertrauen, wenn sie sich zu sehr Masken aufsetzen und Rollen zuweisen lassen. Sie ruinieren sich, verlieren Autoritat und Authentizitat." 112 Kein Politiker, schreibt er, ist zuvor derart nach demoskopischen Vorgaben in Rollen hineingesteckt worden ist, ob sie nun passen oder nicht. l 13 Ein Bild ist in die Geschichte eingegangen. Es wird noch heute stetig transportiert und zur Wahrheit erhoben: Brandt als deutsche Kennedy-Kopie des Wahlkampfs 1961. Ulrich Brecht nordet Brandt als ,,[...] Opfer manipulativer Zwange; ihm auferlegt von den PsychoStrategen der SPD, umfunktioniert zu einer Mischung aus Kennedy-Look und staatsmannischer Pose.,,1l4 Franz Walter polemisiert als einer unter vielen, Brandt sei wie ein peinliches Kennedy-Imitat durch die politische Landsehaft stolziert.!" Kennedy steht fur Jugend, Aufbruch, Emeuerung. Er ist charmant und gebildet, ein strahlender Familienvater. "Mit der neuen Generation, die mit Kennedy ins Rampenlicht drangt, webt plotzlich frischer Wind uber den Atlantik naeh Europa bis in die stickig-restaurative Atmosphare der Bundesrepublik. [...] Mit dem Amtsantritt Kennedys sieht der altmodische Adenauer, Herr des ruckstandigen Bonner Palais Schaumburg, plotzlich aus wie ein Fossil [...]." 116 Warum also nicht Anleihe nehmen am positiven Image des machtigsten Mannes der Welt? Vordenker Klaus Schutz formt aus seinen amerikanischen Beobachtungen die deutsche Wahlkamptkonzeption. Lasst Brandt durch Deutschland touren und flustert ihm ein, seine Rede anlasslich seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten mit dem Amtseid zu 107
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AdsD, WBA, Verzeichnis Wahlen, Ordner 4. Vgl. ebd. Kempski 1999: 142f. Schreiber, Hermann: .Vielleicbt muss ich esja machen." In: Der Spiegel vom 15.9.1969. Ebd. Walter, Franz: Der schwierige Aufstieg des Willy B. In: Spiegel Online vom 17.04.2006. (www.spiegel.de). Vgl. ebd. Brecht 1972: 44. Vgl. ebd. Merseburger 2002:,389.
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beenden. Abgekupfert von der Kennedy-Kampagne. Wie manches andere auch. "Man hat schon versucht, Brandt ein bisschen darauf zu dressieren", urteilt Klaus Harpprecht aus der Distanz.'!" Einige Autoren bemuhen Bilder, urn die These vom deutschen Kennedy zu stutzen. Fotografien sollen dokumentieren, dass sich Brandt in straffer, aufrechter Haltung und mit hochgerecktem Kinn in der Art des amerikanischen Prasidenten prasentiert, Und schlieBlich wird gar die Schwangerschaft Rut Brandts zur Wahlkampfinszenierung stilisiert, SchlieBlich sei Jackie Kennedy ebenfalls im Wahlkampf schwanger geworden, 118 Die Realitat ist komplexer, als es solche Erklarungsversuche glauben machen, Was ist dran an diesen Geschichten, die sich wie ein roter Faden durch die Literatur ziehen? Nichts, sagen die Manner von der vordersten Wahlkampffront. Egon Bahr, Karl Garbe und Klaus 119 Schutz schutteln den Kopf, wenn sie derartige Legenden horen. Es sei das Bedurfnis der Medien gewesen, die Ahnlichkeit zwischen Kennedy und Brandt zu beschreiben. "Die deutsche Presse war voll von Vergleichen. Das lag auf der Hand. Beide waren jung und traten gegen Greise an, gegen veraltete, verknocherte Formen. Sie wollten neue Ideen, neuen Schwung in die Politik bringen." 120 Bahr spricht von der natiirlichen Parallelitat von zwei jungen, unverbrauchten Leuten, die eine neue Richtung wollten. Brandt, sagt Schutz, hat sich in den Lichtschein Kennedys begeben. Hat Wert darauf gelegt, class er ein besseres Verhaltnis zu ihm hatte als andere.V' Natiirlich auch aus Wahlkalkul, Redakteur Karl Garbe kennt die Dynamik der Medien. WeiB, wie sich Geschichten weiterpflanzen. Von einem Medium ins nachste, Die Vorurteile, sagt er, rauschten durch die Intelligenzblatter, FAZ. Spiegel. Zeit. ,,[...] [D]ann begannen die mit ihrem Eigenleben. Mit der Wirklichkeit hat das nichts zu tun gehabt.,,122 Darum kann er sich auch an keine Besprechung der Abteilung fur Offentlichkeitsarbeit erinnern, in der die Image-Kopie erdacht, diskutiert oder mit Leben erfullt worden ware. In einem internen Papier schreibt er: .Es ist Mode geworden, uber Image oder uber den falschen bzw. richtigen Aufbau des Kandidaten zu schwadronieren. Wer von einem .fur Willy Brandt zurechtgemachten Image' spricht, der will Ressentiments schuren anstatt sich objektiv auseinanderzusetzen. [.,.] Niemand war gerufen oder berufen daran herumzupfuschen. [...] ,Maskenbildner urn Willy Brandt', das ist bestenfalls der TiteI fur eine Rauberpistole." 123 Auch Brandt halt nichts von der Feststellung, dass ihm von seinen Wahlkampfmanagem ein Kennedy-Image aufgezwungen worden sei. .Das habe ich nicht so empfunden. Gewill, wie sovieI anderes ist bei uns in Deutschland und anderswo in Europa auch das Ringen urn das Vertrauen der BUrger durch amerikanische Werbepraktiken beeintluBt worden. Was ich von den zu neuen Ufern aufbrechenden Amerikanem lemte, hatte jedoch mehr mit Inhalt als mit AuBerlichkeit zu tun.,,124 Klaus Schutz bringt es auf den Punkt: .Der ,deutsche Kennedy' ist eine reine Medienkreation, und er bleibt eine Legende ohne Realitatsbezug."!"
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Klaus Harpprecht im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Harpprecht arbeitete wahrend dieser Zeit als ZDF-Korrespondentin Washington. VgJ. Marshall 1993: 53; Drath 1975:285; Koch 1988:229. Egon Bahr, Klaus Schutz und Karl Garbe im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Klaus Schutz im Interviewin Museumsmagazin online (2/2004) (www.museumsmagazin.de). VgJ. Klaus Schutz und Egon Bahr im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Karl Garbe im Interviewmit der Autorin. In: Ennen 1996. Garbe 1965. Brandt 1989: 71. Schutz 1995: 34.
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1m Wahljahr 1972 zehrt Brandt von seinen ostpolitisehen Erfolgen, seinem politisehen Gespur, der den Kniefall von Warsehau hervorbringt, und der Verleihung des Friedensnobelpreises. FUr die auslandische Presse ist Brandt der personifizierte gute Deutsche. Das Image Brandts, ,,[...] so wie es sich in der veroffentlichten Meinung des Auslandes spiegelte, war beispiellos: Die Wertschatzung, die der Bundeskanzler wahrend seiner Regierungszeit in anderen Landern erfuhr, war keinem anderen deutschen Politiker in dieser Intensitat je dargebraeht worden. Sie grenzte an Verehrung.i'F" Auch die links-liberalen Medien bewegen sich im Gleichklang: Eingehullt in die Wattebausche eines geistigen Klimas, in dem Kritik am Bundeskanzler einem Sakrileg gleichkommt 127, bauen sie kraftig am Denkmal des Friedenskanzlers mit. Brandt ist Kult - zumindest eine Zeit lang. Die Willy-Wahl kommt einem Plebiszit tiber die Person des Kanzlers und seiner Ostpolitik gleich. 128 Nach dem triumphalen Wahlerfolg zeigt Brandt Schwache, Er wirkt ,,[...] schon am Tag nach der Wahl wie jemand, dem man noch auf dem Siegerpodest die Klappe unter den FtiBen geoffnet hat.,,129 Einsamkeit inmitten von begeisterten Anhangern diagnostiziert MUller. "Was der Schwung des Wahlkampfes noch verdeckte, kam unmittelbar nach dem 19. November zum Tragen."':" Es dauert nieht lange und die fruheren Brandt-Verehrer rutteln am selbst errichteten Oenkmal, das naeh Wehners Kritik .Der Kanzler badet geme lau" endgultig einsturzen wird.':"
Schlussbetrachtung Die Nominierung Willy Brandts zum Kanzlerkandidaten 1961 geht einher mit einem Wandel in der Wahlkamptkonzeption. Die SPD nimmt Anleihe an der Modeme. Mitarbeiter Brandts beobachten die mediengerechte Inszenierung des Prasidentschaftswahlkampfs in den USA und importieren wesentliehe Elemente. Fortan geht Brandt auf Deutschlandreise. Fortan bestimmen nieht Programme, sondem vor allern Personen den Wahlkampf. Auf Personalisierung setzt aueh die Union - im Positiven wie im Negativen. Brandts Gegner wuhlen in seiner Vergangenheit, starten Diffamierungskampagnen, die ihm vor allem 1965 so sehr zusetzen, dass er naeh der Niederlage nieht mehr kandidieren mochte. Die Geschichte will es anders. Das Jahr 1969 wird zum Wendepunkt. Auch unter Wahlkampfgesiehtspunkten. Die SPD igelt sieh nieht ein, urn den Wahlkampf neu zu erfinden. Sie offnet sich naeh auBen. Naturlich bleibt Brandt wie in den Jahren zuvor ein fiihrender Kopf der Planung. Er feilt an den Konzepten, gibt Richtungen vor und weiB als ehemaliger Journalist, wie man Nachrichten an Medienleute verkauft. Aber im Hintergrund ubemehmen erstmals nicht Parteistrategen, sondem ein Heer aus Kommunikationsexperten, Werbefachleuten und Demoskopen den Transport der politischen Botsehaft in die Wahlerkopfe, Die Kornplexitat der politischen Realitat wird so lange eingedampft und verschlagwortet, bis sie den Bedurfnissen der Medien entsprieht, und anschlieBend vermarktet wie ein Produkt. Die Mediatisierung der Politik und die Professionalisierung von politiseher Werbung sind nieht rnehr aufzuhalten. 126 127 128 129
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Zons 1984: 194~ vgl. auch Ennen 1996: Kapitel 7.2. Imagebildungdurch auslandischeMedien. VgJ. Zons 1984: 52. VgJ. Merseburger2002: 656. MUlier 1997: 12. Ebd.: 134. Vgl. Ohne Verfasser: "Was der Regierung fehlt ist ein Kopf" In: Der Spiegel vom 8.12.1973.
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1972 perfektioniert die Parteiorganisation ihre Wahlkampf-Maschinerie. Die Personalisierung der Politik erklimmt einen neuen Hohepunkt. Brandt wird von Medien, Genossen und Bewunderem zur Kultfigur stilisiert. Er fasziniert nicht nur die Intellektuellen. Er fasziniert die Menschen quer durch aJIe Bevolkerungsschichten. SPD-Anhanger besetzen den offentlichen Raum. Eine Welle der Politikbegeisterung uberschwemmt die Republik, in deren Sag Brandt und die SPD zu einem Wahlsieg getragen werden, der bis heute unerreicht ist.
Quellen
UDd
Literatur
Archive
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Helmut Kohls Wahlkampfe Von Thomas Petersen
1m Oktober 1982, unmittelbar nachdem Helmut Kohl zum sechsten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewahlt worden war, untersuchte das Institut fur Demoskopie Allensbach in einer bevolkerungsreprasentativen Umfrage das politische Meinungsklima im Land. Die Unionsparteien lagen bei Fragen nach der Wahlabsicht nahe bei 50 Prozent, die SPD hatte ihr schlimmstes Tief in den Umfragewerten uberwunden, doch in den letzten Monaten der sozialliberalen Koalition hatte sich bei der Bevolkerung das Bild einer zutiefst zerstrittenen Partei verfestigt. Die Regierung Schmidt war zuletzt angesichts der schwierigen Wirtschaftslage bei der Bevolkerung aufserst unpopular geworden, so sehr, dass schlieBlich sogar Schmidt selbst, der bis dahin auch bei den Anhangern der Opposition groBes Ansehen genossen hatte, von einer Mehrheit der Bevolkerung negativ beurteilt wurde. I In einer soIchen Situation erscheint es zunachst nahe liegend anzunehmen, dass der Regierungswechsel mit Erleichterung aufgenommen worden ware, denn immerhin brachte er die Partei an die Macht, die von einer Mehrheit der Bevolkerung unterstutzt wurde, und der auch von vielen politischen Gegnem die grofrte Kompetenz in den damals die offentliche Diskussion beherrschenden Fragen der Wirtschaftspolitik zugetraut wurde. Doch das Gegenteil war der Fall. Eine relative Mehrheit von 40 Prozent der Deutschen sagte, sie sei wegen des Regierungswechsels enttauscht oder sie harte sich sogar daruber geargert, Nur 22 Prozent aufserten sich erleichtert oder erfreut. 2 Wie ist diese scheinbar widerspruchliche Situation zu erklaren? In dem Untersuchungsbericht zu der Umfrage vom Oktober 1982 heiBt es dazu unter der Uberschrift "Verlust einer Symbolfigur": "Wenn man versucht, die Reaktionen zu verstehen, mull man vor allern an das groBe Vertrauen denken, das Helmut Schmidt als Bundeskanzler in den letzten acht Jahren bei der Bevolkerung besaB. Es ist viel von den Angsten gesprochen worden, die die Bevolkerung und insbesondere die junge Generation seit Anfang der siebziger Jahre zunehmend erfullt haben: Zusammenbruch des Fortschrittsglaubens, des Glaubens an weiteres wirtschaftliches Wachstum, Zusammenbruch der euphorischen Ziele, Enttauschung, daf alle Opfer der Ostpolitik doch zu keiner wirklichen Entspannung gefuhrt hatten, wachsendeErkenntnis der militarischen Bedrohung durch die Sowjetunion, Angst vor Kemenergie, vor Umweltverschmutzung, Terrorismus. Helmut Schmidt wurde in diesen Jahren fur einen groBen Teil der Bevolkerung zur Symbolfigur, daB schlieBlich alles doch unter Kontrolle gehalten werde, daB die Gefahren gemeistert werden wurden, Der Habitus der Selbstsicherheit, die eher bewundemde Aura, die Helmut Schmidt in den Medien verliehen wurde, die intemationale Anerkennung, wie sie von den deutschen Medien gespiegelt wurde, all das gab der Bevolkerung gleichsam festen Halt. Das Vertrauen zu Helmut Schmidt war
VgJ. Institut fur Demoskopie AJlensbach: Die ersten Wochen der Regierung Helmut Kohl. Reprasentativumfrage im Bundesgebiet mit West-Berlin zwischen dem 9. und 18. Oktober 1982. Allensbacher Archiv, IfDBericht Nr. 3268. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 4015, Oktober 1982.
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eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Bevolkerung, die mit einem viel zu kleinen Bestand nationaler Gemeinsamkeiten auskommen muB.,,3 Einen groberen Kontrast in der offentlichen Wahrnehmung zwischen dem Bundeskanzler Helmut Schmidt und seinem Nachfolger Helmut Kohl Anfang der 80er Jahre konnte es kaum geben. Auf der einen Seite der mit der Aura des Weltmannischen ausgestattete Staatsmann , auf der anderen Seite der als aufrichtig und Vertrauen erweckend eingestufte, aber auch als provinziell und unbeholfen angesehene CDU-Vorsitzende. Bereits 1975, ein Jahr, bevor Kohl zum ersten Mal als Kanzlerkandidat der Unionsparteien bei einer Bundestagswahl antrat, zeichnete sich das Meinungsbild ab, das den spateren Bundeskanzler tiber Jahrzehnte begleiten sollte. Er sei "ein Politiker mit Verstand und klarer Linie", bescheinigten ihm 46 Prozent der Westdeutschen, 45 Prozent meinten, er sei Vertrauen erweckend, 39 Prozent hielten ihn fur fair, 38 Prozent fur ehrlich. Dass er ein glanzender Redner sei, fanden nur 25 Prozent der Befragten, fur schwungvoll hielten ibn 12 Prozent." In den darauf folgenden Jahren beherrschte dieses Bild des vielleicht anstandigen aber unbeholfenen, eher langweiligen und letztlich seinem Amt nicht gewachsenen Mannes die offentliche Darstellung und das Image von Helmut Kohl. Hans Mathias Kepplinger, Wolfgang Donsbach, Hans-Bernd Brosius und Joachim Friedrich Staab haben in den 80er Jahren eine ausfiihrliche Medieninhaltsanalyse der Berichterstattung tiber Kohl vorgelegt, in der sie die Strukturen des weit uberwiegend negativen Medientenors gegenuber Kohl dokumentierten' Als Illustration mogen vier aufeinander folgende Ausgaben des damals noch mehr als heute im Joumalismus meinungsbildenden Nachrichtenmagazins .Der Spiegel" vom Jahresbeginn 1984 dienen, in denen Kohl durchweg jeweils in groBen Artikeln, teilweise den Leitartikeln der jeweiligen Ausgabe, vorgehalten wurde, er sei ungeschickt im Umgang mit auslandischen Staatsmannern6, fUhrungsschwach 7, fUr zahlreiche .Pannen und Peinlichkeiten" verantwortlich", und habe keinen Oberblick tiber die komplizierten Vorgange der AuBenpoli9 tik. Immer wieder wurde in der Berichterstattung das Motiv des Provinzlers gezeichnet, wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass dabei in der Regel angenommen wurde, dass die Betonung der Verwurzelung des Politikers in der Provinz die Zweifel an seinen Fahigkeiten in der "groBen", vor allem intemationalen Politik nahrte. Nur so ist es zu verstehen, dass der "Spiegel" Kohl mit deutlich hohnischem Beiklang als den "guten Mensch von Oggersheim" bezeichnete'" oder mit auffallender Ausfuhrlichkeit ein sachlich irrelevantes Detail aus dem Tagesablauf des Bundeskanzlers berichtete: .Abends ging es frohlich zu im Kanzlerbungalow. Kohl hatte aus seiner Pfalzer Heimat schlachtfrische Wurste und Wellfleisch herbeischaffen lassen (... ).,,11 Wahrscheinlich liegt in der Annahme, die Anmutung des Provinziellen sei eine Schwache der offentlichen Prasenz von Helmut Kohl gewesen, eines der wesentlichen Missverstandnisse, die sich bis heute urn den langjahrigen Bundeskanzler ranken. Dass er den medienwirksamen Gestus des Weltmannischen nicht wie Helmut Schmidt beherrschte, lieB ihn ohne Zweifel weniger brillant, weniger schillemd und faszinierend erscheinen als
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Institut fur Demoskopie Allensbach: Die ersten Wochen der Regierung Kohl, S. 4. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 30]6, Juni 1975. Vgl. Kepplinger, Donsbach, Brosius & Staab ]986. Vgl. Leinemann 1984. Vgl. "Helmut, das ist Deine Sache." In: Der Spiegel Nr. 6 vom 6. Februar 1984, S. ]7-23. Dort S. ]7. Vgl, "Man faBt sich an den Kopf." In: Der Spiegel Nr. 7 vom 13. Februar 1984, S. 17-21. Dort S. 17. Vgl. Vor den Kopf. In: Der Spiegel Nr. 8 yom 20. Februar 1984, S. 21-23. "Helmut, das ist Deine Sache" In: Der Spiegel Nr. 6 vorn 6. Februar 1984, S. 17-23. Dort S. 17. "Man faBt sich an den Kopf' In: Der Spiegel Nr. 7 vorn 13. Februar 1984, S. 17-21. Dort S. 17.
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seinen Amtsvorganger, Doch daraus zu schlieBen, dass Kohl keinen Zugang zur Bevolkerung gehabt habe, ist ein Irrtum. Analysiert man im Ruckblick die zahlreichen Umfragen und Analysen des Instituts fur Demoskopie Allensbach und anderer Institutionen zu den Bundestagswahlkampfen von 1976 bis 1998, an denen Kohl in prominenter Position beteiligt war, dann erkennt man, dass einiges darauf hindeutet, dass es nieht zuletzt die vermeintliche Provinzialitat war, die oft belachelte Biederkeit Kohls, die ibn aus Sieht der Wahler authentiseh und uberzeugend erscheinen lieB. Auf jeden Fall war Kohl ein auBerordentlich erfolgreicher Wahlkampfer, der mit seinem personlichen Einsatz seiner Partei in fast jedem Fall zu mehr Erfolg verholfen hat, als ihr wenige Monate zuvor von den Analytikem zugetraut worden war. Das gilt selbst fur die von der CDU/CSU deutlich verlorene Bundestagswahl 1998. Eine Uberblicksdarstellung tiber die Bundestagswahlen in einer Zeitspanne von fast einem Vierteljahrhundert, wie sie in diesem Beitrag versueht werden soli, kann zwangslaufig nur wenige, einzelne Aspekte der jeweiligen Wahlkampfe herausarbeiten. Sie muss vergleichsweise oberflachlich und unvollstandig bleiben, ermoglicht im Gegenzug jedoeh den Blick auf ubergreifende Strukturen, langfristige Entwicklungen, die Tragweite tiber den einzelnen Wahlkampfhinaus besitzen. In diesem Beitrag sollen auch nieht die Resultate der zahllosen Wahlforsehungsstudien referiert werden, die seit dem Jahr 1976 angefertigt wurden. Stattdessen soli er ein wenig Einblick geben in die Verlaufe der Wahlkampfe, wie sie sieh aus Sicht der damals beteiligten Wahlforscher dargestellt haben. Die Basis hierzu bilden die Reprasentativumfragen des Instituts fur Demoskopie Allensbaeh. Teilweise bildeten diese Umfragen die Grundlage der aktuellen Berichterstattung, etwa umfangreicher Artikelserien, die in den Jahren 1976, 1983 und 1987 in der Tageszeitung "Die Welt" und ab 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, teilweise dienten sie aueh der Politikberatung und dem Test von Werbemitteln. Viele der im Folgenden prasentierten Forschungsergebnisse sind spater in Fachpublikationen verarbeitet worden, doeh in dem vorliegenden Beitrag werden sie zum ersten Mal in einer zusammenfassenden Uberblicksdarstellung prasentiert. Den Sehwerpunkt bildet dabei die Rolle Helmut Kohls in den betreffenden Wahlkampfen, was auch dazu fUhrt, dass ein besonderes Gewicht auf der Rolle der Kandidaten irn Wahlkampf generell liegt, Mit diesem Schwerpunkt soll nieht die trotz aller Personalisierung im Wahlkampf nach wie vor auBerordentlich wichtige Rolle geleugnet werden, die andere Kriterien bei der Wahlentscheidung spielen, wie etwa Sachfragen, die den Parteien zugesehriebenen Problemlosungskompetenzen, traditionelle farniliare oder aus der sozialen Herkunft begrUndete Parte il oyalitaten, urn nur einige zu nennen. Dass der Fokus hier auf der Person Kohl liegt, ist in dem Ubersichtscharakter der Darstellung begrundet, Kohl hat wie kein anderer Politiker die Wahlkampfe jener Jahre gepragt. Er bietet gleichsam den roten Faden, der sich durch fast ein Vierteljahrhundert deutscher Wahlkampfgeschichte zieht,
1976: Der Kampf gegen die Schweigespirale Die Bundestagswahl 1972 war in mancherlei Hinsicht ein bis dahin einzigartiges Ereignis in der Geschichte der BundesrepubIik Deutschland. Die drei Jahre zuvor gebildete sozialliberale Koalition wurde mit einem glanzenden Wahlergebnis im Amt bestatigt, Zum ersten Mal seit Grundung der Republik erhielt die SPD mit 45,8 Prozent mehr Wahlerstimrnen als die CDU/CSU, fur die sich nur 44,9 Prozent der Wahler entschieden. In den soziologischen und politikwissenschaftlichen Wahlanalysen, die in den darauf folgenden Jahren veroffent196
licht wurden, lag der Schwerpunkt der Betrachtungen auf den traditionellen Fragestellungen der Sozialstruktur'", der Frage nach den Parteikompetenzen" oder dem an der Michigan University in den USA gepragten Konzept der Parteiidentifikation." Die Schlagworter von der .Personalisierung" und .Amerikanisierung'' der Wahlkampfe waren noch nicht gangig, aber es war erkennbar, dass sich etwas Wesentliches am politischen Klima gegenuber den vorangegangenen Wahlkampfen geandert hatte. Mit den Ostvertragen hatte der Wahlkampf 1972 ein alles dominierendes Thema, mit ibm verknupft geriet die Wahl aber auch zu einer stark emotionalisierten Volksabstimmung tiber Bundeskanzler Willy Brandt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Helmut Norpoth stellte wenige Jahre spater fest, dass die Wahlkampfe von 1969 und 1972 "am starksten den Stempel. des Kandidateneinflusses" getragen hatton. 15 Das auffalligste Merkmal des Wahlkampfes 1972 war aber der bis dahin unbekannte Grad der Politisierung der Bevolkerung, die das politische Klima in vielerlei Hinsicht veranderte. Die Wahlbeteiligung war mit 91,1 Prozent auf den hochsten Wert in der Geschichte der Bundesrepublik gestiegen, der auch bei spateren Bundestagswahlen nicht mehr erreicht werden sollte. Zum Teil hatte sich diese Entwicklung bereits in den vorangegangenen Jahren angekundigt. Mit der Durchsetzung des Femsehens als Massenmedium war in den 60er Jahren der Anteil derjenigen in der Bevolkerung, die sagten, sie interessierten sich fur Politik, sprunghaft von unter 30 auf tiber 40 Prozent angestiegen." Doch in der besonderen Situation des Wahljahres 1972 kulminierten diese Entwicklungen, das besonders emotionalisierende Thema der Ostvertrage und die Auseinandersetzung urn die Person Brandts, zu einer auBerordentlich aufgeheizten Atmosphare, die die Anhanger aller Parteien erreichte." In dieser Situation gab es eine auffallende Veranderung im Stil der Wahlkamptkommunikation. Vor allem die Anhanger der SPD, getragen von einem auBerordentlich starken .Selbstbewusstsein, begannen sich in der Offentlichkeit deutlich zu ihrer politischen Oberzeugung zu bekennen. Mit zahlreichen Autoaufklebem, Plaketten, Wahlerinitiativen und offentlichen Wahlaufrufen durchbrachen sie die ungeschriebene gesellschaftliche Regel, wonach "man" tiber Politik nieht spreche. Wahlstrategen und Anhanger der CDU/CSU wurden von dieser Welle der offentlichen Bekenntnisbereitschaft der SPD-Anhanger geradezu uberrollt. Nach der Wahl sagten in einer Umfrage des Instituts fur Demoskopie AIlensbach 53 Prozent der Befragten, sie hatten im Wahlkampf vor allem Aufkleber, Anstecknadeln und Plaketten der SPD gesehen. Nur 9 Prozent glaubten, ein Obergewicht der Werbemittel der CDU/CSU wahrgenommen zu haben." Es war diese Situation, in der Elisabeth Noelle-Neumann die Theorie der Sehweigespirale entwickelte. Die ersten Ideen dazu entstanden bereits im Zusammenhang mit dem Bundestagswahlkampf 1965, nun aber, im aufgeregten Wahljahr 1972, nahm die Theorie konkrete Gestalt an und wurde auch gleieh in den Wahlumfragen des Instituts fur Demoskopie Allensbaeh umfangreich getestet. Konnte es sein, so die Oberlegung, dass viele Anhanger der CDU/CSU, eingeschuchtert durch das groBe Selbstbewusstsein und die gewaltige Bekenntnisbereitschaft der SPD-Anhanger, den Eindruck bekamen, mit ihrer Mei12 13 14 15 16 17 18
Vgl. z.B. Pappi 1973. Vgl. z.B. Klingemann 1973. Vgl. z.B. Berger 1973. Vgl. Norpoth 1977: 567; vgl. hierzu auch Ohr 2000: 287-288. Vgl. Noelle-Neumann 1988. Vgl. Kaase 1973: 157-158. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 2129.
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nung gesellschaftlich isoliert zu sein und sich daraufhin aus Furcht, sich die Missbilligung ihrer Umwelt zuzuziehen, immer weniger trauten, ihre Meinung offentlich zu auBem?19 Es erscheint auch nach mehr als 30 Jahren noch nachvollziehbar, dass die Kemthese der Theorie der Schweigespirale, wonach Menschen, die sich mit ihrer Ansicht isoliert fiihlen, dazu neigen, in der Offentlichkeit zu verstummen, wodurch ihre Position zusatzlich geschwacht wird, wesentlich unter dem Eindruck des Wahlkampfes von 1972 entstand. Schaubild ]:
Offentliche Sichtbarkeit und offentlich sichtbarer Einsatz der Volksparteien in den Wahlkampfen 1972 und 1976
Fragen:
"Von den verschiedenen Parteien gab es ja auch Plaketten und Nadeln zum Anstecken und Aufkleber fur das Auto. Was ist Ihr Eindruck: Von welcher Partei konnte man am meisten solche Aufkleber oder Plaketten und Anstecknadeln sehen?" "Wie eine Partei bei der Wahl abschneidet, hangt ja auch sehr davon ab, wie stark sich ihre Anhanger im Wahlkampf einsetzen. Was ist fur Eindruck: Die Anhanger welcher Partei waren im Wahlkampf am aktivsten, we1che haben den grobten personlichen Einsatz gezeigt?"
Die meisten Nadeln und Aufkleber waren zu sehen von der... CDU/CSU
[]ill]
Den grof'1ten Einsatz haben gezeigt die Anhanqer der ... , _ CDU/CSU •
SPD
SPD
53 44
29
1972
31
1976
1972
1976
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-UmfragenNr. 2129,2191.
Wahrend die Theorie der Schweigespirale in der Wissenschaft praktisch sofort, nachdem die ersten Veroffentlichungen dazu erschienen waren, auf ein geteiltes Echo stieB - neb en viel Zustimmung gab es von Anfang an auch skeptische Einwendungen", wurden die darin beschriebenen Zusammenhange in den Wahlkampfzentralen der Parteien, vor allem bei der CDU/CSU, mit grolitem Interesse aufgenommen. Mit grtindlichen Werbemitteltests versuchte die Wahlkampffiihrung der Partei schon im Vorfeld der Wahl 1976 zu verhindern, dass sich die Situation von 1972 mit einer drtickenden Uberlegenheit der SPD in der Qualitat der Slogans, Plakate, Broschuren und Anzeigen wiederholen konnte. Vor allem aber wurde die Parteibasis mit den wesentlichen Punkten der Theorie der Schweigespirale vertraut gemacht und damit fur die Bedeutung des offentlichen, selbstbwussten Bekenntnisses
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Vgl. Noelle-Neumann 2001: 23-58. Vgl. z.B. Noetzel1978.
sensibilisiert, Es ist nicht gewagt anzunehmen, dass es, zumindest bis zum Wahlkampf 1998, keinen anderen Wahlkampf in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat, in dem Ergebnisse der kornmunikationswissenschaftlichen Grundlagenforschung so konsequent umgesetzt worden sind. Tatsachlich zeigte sich im Wahlkampf 1976 ein ganz anderes Stimmungsbild als vier Jahre zuvor. Obwohl sich im Verlauf des Wahlkampfes in der Bevolkerung allmahlich die Oberzeugung durchsetzte, dass die Koalition aus SPD und FDP die Wahl gewinnen werde'", lieBen sich die Anhanger der Unionsparteien nicht, wie vier Jahre zuvor, von dem gegen sie gerichteten Meinungsklima einschuchtern. In ihrer Exponierbereitschaft standen sie den Anhangem der SPD nicht nach, ein erheblicher Teil der Bevolkerung war nach der Wahl sogar der Ansicht, sie hatten grofieren Einsatz gezeigt als die Wahlkampfer der - vom Meinungsklima nach wie vor eher gestutzten Sozialdemokraten (Schaubild 1). Die Stimmungslage der Bevolkerung war im Jahr 1976 in vielerlei Hinsicht anders als 1972. Die Hochstimmung, die Willy Brandt den deutlichen Wahlsieg und der SPD das beste Ergebnis ihrer Geschichte eingebracht hatte, war bereits wenige Monate sparer verflogen. Die erste Olkrise, Rezession, Inflation, steigende Arbeitslosigkeit pragten das Lebensgefuhl der kommenden Jahre und lieBen die Aufbruchstimmung von 1972 in sich zusammenfallen. Die Popularitat Brandts war bereits vor seinem Rucktritt im Jahr 1974 stark zuruckgegangen.f So war die Ausgangssituation 1976 fur dieSozialdemokraten erheblich schwieriger als vier Jahre vorher, doch eine Parallele zu 1972 gab es: Emeut hatte die SPD mit dem amtierenden Bundeskanzler - inzwischen Helmut Schmidt - einen auBerordentlich popularen Spitzenkandidaten. Anders als 1972 genoss 1976 aber auch der Spitzenkandidat der Opposition ein hohes Ansehen bei der Bevolkerung, auch tiber den Kreis der Anhanger der eigenen Partei hinaus. Wie oben bereits beschrieben, liest sich die Liste der Eigenschaften, die die Bevolkerung Helmut Kohl zuschrieb, 1976 wie in spaterer Zeit wie ein Gegenentwurf, ein Kontrastprogramm zum aulserst charismatischen Helmut Schmidt. Doch alles in allem, wenn es urn die Gesamtbeurteilung ging, ahnelten sich die Profile von Schmidt und Kohl auffallend, so sehr sie im Detail auch voneinander abwichen. Dies zeigt sich an den Ergebnissen einer Frage, bei der die Befragten gebeten wurden, auf einer elfstufigen Skala, die von +5 bis -5 reichte, einzustufen, fur wie gut sie verschiedene Politiker hielten. Wie Schaubild 2 zeigt, uberwogen bei Schmidt wie bei Kohl die positiven Wertungen deutlich, wobei das Urteil tiber Schmidt noch ausgepragter positiv war als das Urteil tiber Kohl, jedoch nicht grundsatzlich anders. Bei beiden Politikem standen der groBen Zahl enthusiastischer Befurworter nur wenig entschiedene Gegner gegenuber, Ein ganz anderes Bild zeigt sich im Kontrast dazu bei Franz-Josef StrauB, der zwar von knapp der Halfte der Bevolkerung durchaus positiv beurteilt wurde, doch bei immerhin fast einem Viertel der Westdeutschen auf heftige Ablehnung stieB. Erst im Vergleich zu dem Meinungsbild tiber StrauB zeigt sich die Starke des Profils von Kohl: Er war im Jahr 1976 bei der Bevolkerung kaum weniger konsensfahig als Bundeskanzler Schmidt.
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Ein Punlet, auf den in diesem Zusammenhang nicht eingegangen wird, ist das "doppelte Meinungsklima",die Beobachtung, dass sich die Oberzeugung von einem Wahlsieg der Koalition nur bei denjenigen in der Bevelkerung durchsetzte, die uberdurchschnittlich viele politische Informationen aus dem Femsehen bezogen. Siehe hierzu ausfilhrlich Noelle-Neumann 1977. Vgl. Noelle-Neumann & KOcher 1993: 764.
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Schaubild 2:
Fragc:
Popularitatsprofile von Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Franz-Josef Strauf 1976
"Wir mochteneinmal feststellen, wie die Bevolkerung verschiedenePolitiker beurteilt. Dazu habe ich dicses Blatt mit schwarzenund weil3en Kastchen, und auf diesen Kartenstchcn Namen von Politikem. Konnten Sie nun die Karten einmal auf diescn Streifen verteilen,je nachdem, wie Sie die betreffenden Politikereinschatzen...?" (Kartenspie1- und Listenvorlage)
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Schmidt
Zum Vergleich : Straufs
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Quelle: AllensbachcrArchiv, IfD-Bericht Nr. 3351 , S. 28.
Die meiste Zeit, in der er in der Politik eine fuhrende Rolle einnahm, genoss Kohl weniger Zuspruch in der Bevolkerung als seine Partei, Dies erscheint auf den ersten Blick bemerkens wert, weil Kohl bei den meisten Wahlen dieser Jahre die Position des Amtsinhabers bekleidete und in der Forschung oft die These vertreten wird, dass Amtsinhaber in aller Regel ¥:egenUber ihren Herausforderem einen "Bonus", eine begUnstigte Ausgangsposition hatten. 3 Doch auch Adenauer hatte den grofsten Teil seiner Regierungszeit keinen Kanzlerbonus. Adenauer und Kohl sind Beispiele dafur, dass ein Spitzenkandidat, der weniger popular als seine Partei ist, fur diese nicht zwangslaufig eine Belastung darstellen muss . Beide, Adenauer wie Kohl, waren brillante Wahlkampfer, denen es stets rechtzeitig vor dem Wahltermin gelang, eine Dynamik zu erzeugen, eine Stimmung, in der ihr Ansehen stieg und damit auch die Wahlchancen ihrer Partei. Bei Kohl war dies zumindest in Ansatzen bereits 1976 zu beobachten. Bei der Frage "Wer ware Ihnen als Bundeskanzler lieber, Kohl oder Schmidt?" lag Helmut Schmidt vom Beginn des Wahlkampfes an deutlich in Fuhrung , Rund die Halfte der Bevolkerung sprach sich fur ihn aus, fur Kohl entschied sich etwa ein Drittel der Westdeutschen. Wahrend des Wahlkampfes verringerte sich der Abstand zwischen Schmidt und Kohl langsam aber beharrlich. Kurz vor der Wahl war der 23
Vgl. z.B. Eltermann 1978.
200
Anteil derjenigen, die Helmut Kohl als Bundeskanzler bevorzugten, auf rund 40 Prozent gestiegen (Schaubild 3). SchlieBlich gewann die Regierungskoalition aus SPD und FDP die Wahl aulierst knapp mit einem Vorsprung von nur 1,9 Prozent vor der CDU/CSU . Schaubild 3: Kanzlerpraferenz und Wahlabsicht CDU/CSU im Wahlkampf 1976 Frage:
.N ach der nachsten Bundestagswahl muB ja wieder entschi eden werden, wer Bundeskanzler werden soil. Wer ware Ihnen als Bundeskanzler lieber, Kohl oder Schmidt?"
<6\r
-
Schmidt Kohl Wahlabsicht CDU/CSU (Erststimme)
51
52
50,5 49 ,8
50
50 47 ,9
49 ,1 48,9 ______
47~
48
. 46
46
46 44 41
42 40 38 36 34 32 30 Ende Juni
Anfang August
Mitte August
Ende 28.8 .-2. 3.9.-10 . 9.9.-16. 20.9 .-2 25 .9.-2 9. 9. 9. 4.9. 9.9.* August
• Letzter Wert im Trend "Wahlabsicht": Erststimmenergebnis der Bundestagswahl vom 03.10 1976.
Quelle: Allensbacher Archiv, IID-Umfragen .
Zwei Aspekte der Wahlkampffiihrung der CDU/CSU im Jahr 1976 sind aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive besonders interessant, namlich erstens die Entscheidung zugunsten des umstrittenen Wahlkampfslogans "Freiheit statt Sozialismus" und zweitens die Entscheidung fur einen Plakatentwurf. Beide Entwurfe, der Slogan wie das Plakat, waren bei traditionellen Tests durchgefallen. Die Entscheidungen fielen auf der Grundlage 201
unkonventioneller Untersuchungsmethoden, die bis heute in der Wahl- wie auch der Werbemittelforschung wenig bekannt sind. Oer Slogan "Freiheit statt Sozialismus" stieB zu Beginn des Wahlkampfes, im Fruhjahr 1976, bei der uberwiegenden Mehrheit der Bevolkerung und auch bei einem erhebli.. chen Teil der CDU/CSU-Anhanger auf Ablehnung. Fast zwei Drittel, 65 Prozent, sagten im Mai des Jahres, ihnen gefiele die Parole nicht." Den ganzen Wahlkampfhindurch blieb das Motto kontrovers. Doch die Umfragen des Allensbacher Instituts hatten auch gezeigt, dass es fur eine Partei - auch eine Volkspartei - nicht immer am Vielversprechendsten ist, den Slogan auszuwahlen, der beim grofsten Teil der Bevolkerung auf Zustimmung stoBt, sondem dass es fur sie sinnvoll ist, ein Thema zu wahlen, das ihre potentiellen Wahler besonders beschaftigt und bei dem ihr von der Bevolkerung ein Kompetenzvorsprung vor dem politisehen Gegner zugesprochen wird. Wenn diese Bedingungen gegeben sind, ist auch eine schroffe Ablehnung des Mottos durch die Anhanger des politischen Gegners hinzunehmen. Wahlslogans, die die Zustimmung einer groBen Mehrheit der Bevolkerung tinden, aber ein Thema betreffen, bei dem die Bevolkerung .keinen groBen Unterschied zwischen den Parteien wahmirnmt, sind fur den Wahlkampfnicht geeignet. Oer Slogan "Freiheit statt Sozialismus" war, obwohl er von einern erheblichen Teil der Bevolkerung abgelehnt wurde, erfolgreich, weil er die Aufmerksamkeit der Wahler auf ein Thema lenkte, bei dem sie den Unionsparteien weit mehr Kompetenz zutrauten als der SPD. 1m Juli 1976 sagten 56 Prozent der Westdeutsehen, sie fanden es besanders wichtig, dass verhindert werde, "daB sich bei uns ein Sozialismus in der Art der DDR durchsetzt", im September waren 59 Prozent dieser Ansicht. Die Zustimmung zu dem politischen Ziel .Verhindem, daf kommunistische Einflusse in Europa vordringen" stieg gleichzeitig von 51 auf 59 Prozent, man musse "verhindem, daB die Gewerksehaften bei uns mehr und mehr den Ton angeben, daB sie mehr Macht als die Regierung bekommen", meinten im Juli 1976 35 und im September 40 Prozent. Diese Zuwachse mogen auf den erst en Blick nieht sehr groB erscheinen, doch bei den zahlreichen anderen politischen Zielen, die in der betreffenden Frage zur Auswahl gestellt wurden, waren keine ahnlichen Zuwachse zu verzeichnen, und bei allen drei genannten politischen Zielen vollzog sich der Anstieg der Zustimmung besonders deutlich bei den potentiellen Wahlern der CDU/CSU. 50 Prozent der Befragten sagten im September 1976, die CDU/CSU sei gut darin, zu verhindern, dass .sich bei uns ein Sozialismus in der Art der DDR durchsetzt", iiber die SPD sagten dies nur 19 Prozent. Bei dem Ziel .Verhindern, daB kommunistische Einflusse in Europa vordringen" betrug das Verhaltnis 46 zu 15 Prozent, bei dem Ziel der Zuruckdrangung der Macht der Gewerkschaften 30 zu 7 Prozent." Die Auswahl des Kandidaten-Wahlplakats von Helmut Kohl fur den Wahlkampf 1976 ist deswegen von besonderem Interesse, weil hier eine Testmethode zum Einsatz kam, die bis heute wenig bekannt ist, namlich der sogenannte "Zeitraffertest". Dieser Methode liegt die Uberlegung zugrunde, dass nicht immer das Foto fur den Einsatz im Wahlkampf am Besten geeignet ist, das in Reprasentativumfragen auf die spontan grolste Zustimmung stoBt, sondem das Foto, das aueh nach mehrfacher Vorlage am besten vor dem Betrachter Bestand hat. In der kurzen Zeit, die fur die Entscheidung fur ein Wahlplakat zur Verfugung steht, lasst sich die Langzeitwirkung von Plakatmotiven nicht unter realistisehen Bedingungen testen. Mit Hilfe des .Zeitraffer-Tests" wurde deswegen die Langzeitwirkung innerhalb
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Vgl. Allensbacher Archiv, ItD-Bericht NT. 2251, S. 32. Vgl. ebd.: 37-42.
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einer Umfrage ansatzweise simuliert. Hierzu wurde den Befragten im Rahmen einer langeren Umfrage ein Plakatmotiv nicht einmal, sondem dreimal vorgelegt, einmal ganz am Anfang des etwa einstundigen Interviews, ein zweites Mal in der Mitte und ein drittes Mal ganz am Ende des Fragebogens. Die eine Halfte der Befragten bekam dabei ein Foto vorgelegt, das den Kandidaten Kohl lachend zeigte, bei der anderen Halfte der Interviews wurde ein Bild gezeigt, das Kohl eher ernst zeigte. Die Befragten wurden gebeten, bei jeder Vorlage des Bildes auf einer Skala von -5 bis +5 anzugeben, wie gut ihnen das Bild gefiel." Bei der ersten Vorlage wurden die beiden Plakatentwurfe von den Befragten noch ahnlich gut beurteilt. Doch bei der zweiten und dritten Vorlage erhielt das emste Bild immer bessere, das heitere immer schlechtere Noten." Erst auf diese Weise zeigte sich, dass das eine Bild, das bei einmaliger Vorlage durchaus attraktiv erschien, fur die Betrachter schnell langweilig wurde.
Polarisierung FUr Sozialwissenschaftler war der Wahlkampf 1980 insofem von besonderem Interesse, wei! mit Franz-Josef StrauB auf der Seite der Unionsparteien ein Kanzlerkandidat antrat, der nach den Malsstaben der Wahlforschung nicht als geeigneter Kandidat eingestuft worden ware. Es war das erste Mal, dass eine Partei bewusst mit einem Kandidaten ins Rennen ging, der seit 20 Jahren fast ununterbrochen zu den unpopularsten Politikem des Landes gehorte und von dem fast ebenso lange regelmaliig mehr als 50 Prozent der Wahler erklarten, sie hatten keine gute Meinung tiber ibn. 28 Es ist oft angenommen worden, Kohl habe StrauB bei der Bundestagswahl 1980 den Vortritt gelassen, weil es in diesem Jahr ohnehin keine Chance fur die CDU/CSU gegeben hatte, die Wahl zu gewinnen. Doch die Annahme, die Wahl sei bereits im Vorfeld entschieden gewesen, wird von den Analysen des Allensbacher Instituts nicht gestutzt, Die Unionsparteien wurden, trotz der groBen Popularitat von Bundeskanzler Schmidt und trotz der beginnenden Massenproteste gegen Atomkraftwerke und die NA TO-Nachrtistung, die die kommenden Jahre pragen und den Aufstieg der Partei der Grunen wesentlich befordern sollten, eher starker vom Zeitgeist gestntzt als in den zwei Bundestagswahlkampfen zuvor. Bereits 1976 traute die Bevolkerung der CDU/CSU bei der Mehrzahl der sie bewegenden politischen Themen eine grolsere Sachkompetenz zu als der SPD. 1980 hatte sich dieser Vorsprung noch etwas vergrofiert. Bei einigen Themen, wie der Bekampfung der Arbeitslosigkeit und der Forderung von Familien mit Kindem, hatte die SPD den Vertrauensvorsprung, den sie gegenuber der Union noch 1976 hatte, verloren. Die Bekampfung der Inflation sahen 1976 noch gleich viele Befragte bei der CDU/CSU und der SPD in guten Handen, 1980 hatten sich die Oppositionsparteien einen deutlichen Vorsprung erarbeitet. 29 Hinzu kam ein generelles Zeitklima, das eher konservative politische Grundpositionen zu stutzen schien. So hatte sich beispielsweise die Neigung der Bevolkerung, im Konfliktfall eher dem Wert der Gleichheit als dem der Freiheit den Vorzug zu geben, seit 1976 verringert." Damit war die Ausgangsposition vor der Bundestagswahl fur
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Zu der sogenannten"Stapel-Skala" siehe Auer 1981. Vgl. Allensbacher Archiv, ItD-UmfrageNr. 2186, Juni 1976~ Noelle-Neumann & Petersen 2005: 490-492. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 540. Vgl. Institut fur Demoskopie Allensbach: Vor der Bundestagswahl 80. Der EinfluB von Personen und Programmen auf das Meinungsklimaim Sommer. AllensbacherArchiv, IfD-BerichtNr. 2662, S. 33-41. Vgl. ebd: 27.
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die Oppositionsparteien eigentlich gunstig, doch dieser Umstand wurde vollstandig uberlagert von der Polarisierung, die der Kanzlerkandidat StrauB ausloste, Aufschlussreich ist an dieser Stelle der Kontrast zwischen den Reaktionen auf StrauB und Kohl. Schon im Marz 1979, bevor sich die CDU/CSU fur StrauB als Kanzlerkandidaten entschied, hatte ein Test des Allensbacher Instituts ergeben, dass Kohl als Kanzlerkandidat voraussichtlich etwa funf Prozent mehr Wahlerstimmen bekommen wurde als Straub." Dabei sprach die Bevolkerung StrauB nicht die Fahigkeit ab, das Amt des Bundeskanzlers auszufiillen. Etwa die Halfte der Befragten sagte in den Allensbacher Umfragen regelmaBig, er hatte "das Zeug dazu", Bundeskanzler zu werden. Deutliche Mehrheiten bescheinigten ihm, er sei ein glanzender Redner, konne sich gut durchsetzen und verfiige tiber eine groBe Sachkenntnis "auf allen Gebieten". In diesen Punkten ubertraf er in den Augen der Bevolkerung sogar Helmut Schmidt, dem diese Eigenschaften im Vergleich zu anderen Politikem ebenfalls bereits weit uberdurchschnittlich haufig zugeschrieben wurden.f Doch die Zustimmung zu StrauB beschrankte sich fast ausschlieBlich auf das Lager der entschiedenen Anhanger der CDU/CSU. In den Kreisen der nicht parteigebundenen Wahler, die grundsatzlich der CDU/CSU nahe standen, gewann er keine Zustimmung, wahrend umgekehrt Helmut Schmidt bis weit in das CDU/CSU-Stammwahlerpotential hinein ein hohes Ansehen genoss. StrauB konnte mit seiner rhetorischen Brillanz, Sachkenntnis und Prasenz die eigenen Anhanger in ihrer Position bestarken, doch die Wechselwahler, die er harte uberzeugen mussen, urn die Wahl zu gewinnen, blieben fur ibn unerreichbar." Der Kontrast zu Kohl ist auffallig: Obwohl er auf den ersten Blick weit weniger charismatisch, weniger brillant auf die Bevolkerung wirkte als StrauB, konnte er auch auBerhalb der Kemanhangerschaft seiner Partei die Wahler ansprechen.
Die Quellen der scheinbar ratselhatten Dynamik in Kohls Wahlkampfen Es kann auf der Grundlage der existierenden Daten nicht bewiesen werden, erscheint aber wahrscheinlich, dass der bemerkenswerte Erfolg Kohls als Wahlkampfer auch mit der Darstellung Kohls in der Medienberichterstattung auBerhalb der Wahlkampfe zusamrnenhangt, Der Politikwissenschaftler Thomas E. Patterson hat mit Inhaltsanalysen die Veranderungen der amerikanischen Politikberichterstattung in den 1960er bis 1990er Jahren nachgezeichnet. Er stel1te fest, dass die Berichterstattung tiber die politischen Akteure in dieser Zeit fast kontinuierlich negativer geworden war und sich gleichzeitig die Lange der "soundbites", also die Lange der von den Fernsehsendem zur VerfUgung gestellten Zeit, in der die Politiker selbst zu Wort kamen, kontinuierlich verkurzt hatte. Die Fernsehzuschauer konnten sich also immer weniger em eigenes Bild von den Politikem machen. Stattdessen sahen sie mehr und mehr negativ gefarbte Interpretationen der Journalisten." Hans Mathias Kepplinger hat fUr Deutschland ahnliche Entwicklungen dokumentieren konneri", wobei die Berichterstattung der fiihrenden deutschen Massenmedien tiber Kohl, wie bereits erwahnt, noch tiberdurchschnittlich stark ausgepragt negativ war." In den Umfragen des Allensbacher Instituts zeigte sich regelmalsig, dass Befragte, die viet femsahen, eine deutlich ungunstigere Ein3\ 32
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Institut fur Demoskopie Allensbach: Kohl oder StrauB? Allensbacher Archiv, ItD-Bericht Nr. 2540. Institut fur Demoskopie Allensbach, IfD-Bericht Nr. 2662, S. 43-46. hierzu auch Berger et aJ. 1983: 43-45. Patterson 1993. Kepplinger 1998. Kepplinger et al. 1986.
stellung zu Kohl und der CDU/eSU entwickelten, als Befragte, die wenig femsahen, ein Effekt, der ubrigens in seiner ganzen Starke erst erkennbar wurde, wenn man bei der Analyse intervenierende Variablen wie das Alter der Befragten und das politische Interesse berucksichtigte." In einem Wahlkampf andert sich nun die Struktur der Medienberichterstattung. Das Interesse an den Kandidaten und ihren Aussagen nimmt zu und mit ibm die Gelegenheiten fur sie, in Interviews oder Diskussionssendungen auch mit langeren Beitragen selbst zu Wort zu kommen. Man kann annehmen, dass im FaIle Kohls aus Sicht der Femsehzuschauer und Zeitungsleser der Kontrast zwischen dem indirekt aus Uberwiegend negativen Kommentaren gewonnenen Eindruck vom Kandidaten Kohl und dem Eindruck, den sie aus der "direkteren" und ausfuhrlicheren Wahlberichterstattung gewannen, besonders scharf war. Jedenfalls wurde Kohl in allen Wahlkampfen, die er als Kanzler gefuhrt hat, zunehmend positiver beurteilt. Seit 1987 lag er in der Popularitat stets deutlich hinter seinern jeweiligen Herausforderer zuruck, aber Gerhard Schroder war im Jahr 1998 der erste, dem es gelang, einen Vorsprung bis zum Wahltermin zu verteidigen, und auch hier konnte Kohl den Abstand verringern. So spricht einiges dafur, dass die von vielen Beobachtern des politischen Geschehens als ratselhaft empfundene Fahigkeit Kohls, im Verlauf eines Wahlkampfes eine deutliche Verbesserung seines Ansehens zu bewirken, auch eine Folge des Meinungsklimas zwischen den Wahlen war. Zugespitzt formuliert: Nur weil Kohls Ruf in Zeiten abseits des Wahlkampfes so grundlich beschadigt wurde, konnte er im Vorfeld der Wahl unter veranderten Bedingungen in den Medien jene Dynamik entfalten, die, auch weil sie so Uberraschend erschien, die Wahlchancen seiner Partei verbesserten. So ergibt sich das eigentumliche Muster, dass Kohl, obwohl er nur in einem einzigen Wahlkampf, namlich dem Wahlkampf 1990 unmittelbar nach der Deutschen Einheit, gunstigere Zustirnmungswerte erreichte als seine Parter", dennoch als Wahlkampfer fur seine Partei zu einer wesentlichen, treibenden Kraft wurde. Dies zeigt beispielsweise der Vergleich der Entwicklung der Popularitat Kohls mit der Wahlabsicht fur seine Partei im Wahlkampf 1982/83. Nachdem die Unionsparteien in den letzten Monaten vor dem Bruch der sozialliberalen Koalition stets bei tiber 50 Prozent gelegen hatten, ging unmittelbar nach dem Regierungswechsel der Anteil derjenigen an der Bevolkerung, die sagten, sie wurden bei der kommenden Bundestagswahl die CDU/CSU wahlen wollen, auf rund 47 Prozent zuruck, Da gleichzeitig die FDP als Foige des Regierungswechsels in die bisher schwerste Krise ihrer Geschichte geriet und es nicht sicher erschien, ob sie bei einer baldigen Neuwahl den Wiedereinzug in den Bundestag schaffen wurde, sah sich Kohl wegen seiner Entscheidung, im Marz 1983 Neuwahlen abzuhalten, auch in seiner eigenen Partei scharfer Kritik ausgesetzt, wei! viele Mitglieder furchteten, Kohl setze damit die gerade gewonnene Mehrheit im Bundestag ohne Not aufs Spie1.39 Vor allern nach der Burgerschaftswahl in Hamburg vom 19. Dezember 1982, die der SPD mit 51,3 Prozent die absolute Mehrheit, der COU mit 38,6 Prozent und der FDP mit 2,6 Prozent dagegen schwere Wahlniederlagen bescherte, schien eine Bestatigung des neu formierten Regierungsbundnisses in Bonn keineswegs sieher zu sein. 1m Laufe des Wahlkampfes zeigte sich dann das Bild, das sich bei spateren Wahlen wiederholen sollte: Das Ansehen Kohls, das tiber die Weihnachtstage einen Tiefpunkt bei der Bevolkerung erreicht hatte, verbesserte sich in den letzten Wochen vor der Wahl rasch, 37
Vgl, Institut fur Demoskopie Allensbach: IfD-Bericht Nr. 3268, S. 38; Noelle-Neumann & Petersen 2005:
38
416-418. Vgl. Noelle-Neumann 1990: 5. Vgl. Kohl 2005: 67-76.
39
205
und auch der Anteil derjenigen, die sagten, sie wollten bei der kommenden Bundestagswahl die CDUlCSU wahlen, nahm zu. Mit Hilfe von zeitverstezt angelegten Korrelationsanalysen lasst sich dabei zeigen , dass diese beiden Entwieklungen nieht zeitgleich verliefen, sondem dass die Verbesserung des Ansehens von Kohl der Veranderung der Wahlabsicht voraus lief. Es war also nicht so, dass Kohl von einer gewachsenen Popularitat seiner Partei mit profitierte, sondem es war umgekehrt das Urteil uber Kohl, das eine veranderte Wahrnehmung seiner Partei nach sich zog (Schaubild 4). Schaubild 4:
Wahlabsicht CDUlCSU und Einverstandnis mit Kohl im Bundestagswahlkampf 1982/83
Mit der Politik von Kohl einverstanden -
Wahlabsicht CDU/CSU (Erststimme)
55 49,7
50
51,1
50,7
50,5
4~
45
52,1
51,6
~ 43
42
40 35 30 Okt.
1982
Okt.l Nov .
Dez.
1982 1983/1 1983/2 1983/3 1983/1 1983/2 1983/3 Marz
1982
Jan .
Jan.
Jan .
Feb.
Feb .
Feb.
Feb.!
Nov .
1982
1983
Korrelationen zwischen den beiden Trendvertaufen (Pearson): Zeitgleich: r = 0,46; Popularltat Kohls vorauslaufend: r = 0,68; Wahlabsicht vorauslaufend: r = 0,21. • LetzterWert im Trend .Wahlabsicht": Erststimmenergebnis der Bundestagswahl vom 6. Marz 1983. Quell e: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen.
Wahlkiimpfe mit Weihnachtspause Die vorgezogene Bundestagswahl des Jahres 1983 hatte zur Folge, dass auch fur die darauf folgenden Wahlen vom traditionellen Herbsttermin, der sich seit den Anflingen der Bundesrepublik fur Bundestagswahlen eingebiirgert hatte, abgewichen werden musste. Erst die Wahl 1994 fand wieder zum gewohnten Zeitpunkt im Jahr statt. Die Verlegung der Wahlen auf das Friihjahr fuhrte dazu, dass der Wahlkampf in die Weihnachtszeit fiel. Damit wurde auch del' Blick der Wahlforscher auf einen fur die Meinungsbildung wichtigen Zeitpunkt im Jahresverlauf gelenkt, der bis dahin wenig Aufmerksamkeit erfahren hatte: Die Weihnachtspause. Rund zwei Wochen lang ruht urn den Jahreswechsel das politische Geschaft.
206
Die Aufmerksamkeit der Bevolkerung wird von anderen Dingen als der Politik in Anspruch genommen, die bis Mitte Dezember erreichte Mobilisierung der Parteianhanger geht zumindest zu einem wesentlichen Teil wieder verloren. Die politischen Themen, die bis dahin im Vordergrund der Diskussion gestanden haben, geraten zumindest vorubergehend in Vergessenheit. Gleichzeitig steigt aber der Medienkonsum der Bevolkerung gegenuber dem Alltag deutlich an. In der zweiten Januarwoche, wenn das Land allmahlich in den Alltag zuruckkehrt, hat sich das politische Klima gegenuber der ersten Dezemberhalfte nicht selten erheblich verandert. Forschungsergebnisse deuten daraufhin, dass zwischen den Jahren die Moglichkeiten, uber die Medienberichterstattung Einfluss auf die Bevolkerung zu nehmen, besonders gunstig sind. Wahrscheinlich konnte man in dieser Phase die Strukturen der Wirkung der Massenmedien auf die politische Meinungsbildung wie in einem Vergrolserungsglas betrachten. Die fur eine solche Analyse notigen Medieninhaltsanalysen fehlen bisher allerdings. FUr die Wahlkampfe der 80er und 90er Jahre war die Weihnachtspause mehrfach von entscheidender Bedeutung. Bereits 1982/83 hatte sich gezeigt, dass sich die Position der SPD in dieser Zeit spurbar verbesserte, wahrend das Ansehen Kohls und der Unionsparteien zum Jahreswechsel auf einen Tiefstand fiel (Schaubild 4). Noch deutlicher zeigte sich die Bedeutung dieser Phase vor der darauf folgenden Bundestagswahl vom 25. Januar 1987. Hans Joachim Veen hat mit gutem Grund bereits 1991 gesagt, die Wahl von 1987 werde als eine der weniger bedeutenden und wenig spannenden Wahlen in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eingehen." Tatsachlich fand die Wahl vor dem Hintergrund einer vergleichsweise ruhigen innenpolitischen Situation statt. Die Bevolkerung war mit der Lage im Land und mit der Politik der Bundesregierung alles in allem zufrieden, an der Wiederwahl der Regierung Kohl bestand kein emsthafter Zweifel. Doch der Verlauf des Wahlkampfes war ebenso wechselhaft wie lehrreich, besonders aus sozialwissenschaftlicher Sicht. Unmittelbar vor Beginn der Weihnachtspause schien die Position der CDU/CSU im Wahlkampf auBerordentlich stark zu sein: 49 Prozent der Befragten gaben an, sie wollten mit ihrer Zweitstimme die CDU/CSU wahlen'", in der offentlichen Diskussion kam die Frage auf, ob es den Unionsparteien gelingen wurde, die absolute Mehrheit im Bundestag zu erreichen.Y Zwischen den Jahren veranderte sich die Situation dann deutlich: Das Interesse der Bevolkerung an der Bundestagswahl ging deutlich von 38 auf 30 Prozent zuruck", die Erwartung, dass es in den kommenden 6 Monaten mit der Wirtschaft in Deutschland bergauf ginge, brach von 36 auf 20 Prozent ein." Die Aufmerksamkeit der Offentlichkeit wurde durch die Folgen eines schweren Unfalls in der Schweizer Chemiefabrik Sandoz in Basel auf das Thema der Umweltverschmutzung durch die Industrie gelenkt, auBerdem ruckte in der Weihnachtspause das traditionell fur die SPD giinstige Thema der sozialen Gerechtigkeit ins Blickfeld von Medien und Bevolkerung." 1m Januar dann hatte die CDU/CSU ein Zehntel ihrer Wahler verloren: Nun sagten nur noch 45 Prozent, sie wollten bei der kommenden Bundestagswahl eine der Unionsparteien wahlen, die SPD erholte sich auf37 Prozent." An diesen Wert en anderte sich bis zum Wahltermin nichts mehr.
40
41 42 43 44 45
46
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Veen 1991: 9. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 4984/1. Fogt 1991: 43. Noelle-Neumann & Reitzle 1991: 248. ebd.: 253. ebd.: 257-258. ebd.: 258.
207
Es zeigte sich, dass das damals sogenannte "Januar-Problem" der CDU/CSU kein neues Phanomen war. Ein Blick auf die Parteistarken fiiiherer Jahre zeigte, dass die CDU/CSU fast immer seit 1967 die niedrigsten Werte im Verlauf eines Jahres im Januar erreichte'", nur dass dies lange Zeit nicht aufgefallen war, weil die Parteistarken im Januar angesichts der Wahltermine im Herbst nie sehr aufmerksam betrachtet worden waren. Auch in den folgenden Jahren lieB sich dieses Muster beobachten. Von besonderer Relevanz erwies es sich im Vorfeld des in vielerlei Hinsicht in der Offentlichkeit missverstandenen Wahlkampfes 1998. Die fur die SPD auBerordentlich gunstige Ausgangsposition zu Beginn dieses Wahlkampfes, der schlieBlich zur Abwahl der Regierung Kohl fuhren sollte, ist das Ergebnis einer klug angelegten langfristigen Strategic." Ober drei Jahre hinweg, seit dem Amtsantritt von Oskar Lafontaine als SPD-Vorsitzender im November 1995, gelang es der Opposition, das Vertrauen der Bevolkerung in die Fahigkeit der Bundesregierung, die Probleme des Landes zu losen, mehr und mehr zu erschuttem, Die entscheidenden Einbruche in der Zustimmung zur CDU/CSU fanden dabei jeweils am Jahresende, tiber die Weihnachtstage start."
Das letzte Gefecht Die Wahlkampfe der Jahre 1990 und 1994 waren wesentlich von der Dominanz der Personlichkeit Kohls gepragt, Anders als in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft wurde er nach der politischen Wende in der DDR und der von ihm federfiihrend gestalteten Vereinigung der beiden deutschen Staaten in der veroffentlichten Meinung zwar noch immer nicht sehr freundlich behandelt'", aber zumindest wurde er nun nicht mehr unterschatzt, Behauptungen, er wurde Deutschland international blamieren, hatten jegliche Glaubwtirdigkeit verloren. Allerdings war im Marz 1990 noch immer eine relative Mehrheit von 46 Prozent der Bevolkerung der Ansicht, Kohl wirke oft ratios gegenuber den politischen Problemen, substantielle Minderheiten meinten, er habe keine eigenen Grundsatze und handele wechselhaft. .Es ware interessant", heiBt es dazu trocken in einem Allensbacher Untersuchungsbericht, hierzu "eine Reprasentativumfrage von Personen (durchzufuhren), die Bundeskanzler Kohl auch personlich kennengelemt haben.?" Obwohl ibm also trotz seiner innen- und auBenpolitischen Erfolge von Medien und Bevolkerung nach wie vor bei weitem nicht die Bewunderung entgegengebracht wurde wie seinem Vorganger, wiederholte sich das bereits oben beschriebene Muster, dass sich das Ansehen des Bundeskanzlers im Verlauf des Wahlkampfes bemerkenswert verbesserte, bei der Bundestagswahl 1990 ebenso wie vier 52 Jahre spater. Sein Anteil am uberraschenden Wahlsieg der CDU bei der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR am 18. Marz 1990 kann kaum uberschatzt werden." Urn den Bundestagswahlkampf 1998, den letzten, in dem Helmut Kohl als Kanzlerkandidat antrat, ranken sich viele Legenden, etwa die, dass der Wahlkampf durch ober47
Vgl. ebd.: 262.
48
VgI hierzu von Webel 1999.
49
so 5\
52
53
208
Vgl. Noelle-Neumann 1999: 174. Siehe hierzu z.B. Kanzlerbonus sticht. In: Medien Monitor Nr. 7,18. Oktober 1994, S. 3. lnstitut fur Demoskopie Allensbaeh: Bundeskanzler Helmut Kohl und Kanzler-Kandidat Oskar Lafontaine. AlJensbaeherArehiv, IfD-Bericht Nr. 3865, S. 5-7. Vgl. Emmert, lung & Roth 1998: 76-77. Vgl. Institut fur Demoskopie Allensbaeh: Ruckblick auf die Volkskammerwahl. Mehrheit begrubt den Ausgang der Volkskammerwahl und sieht darin personlichen Erfolg fur Helmut Kohl. Allensbaeher Arehiv, IfDBericht Nr. 3878.
flachliche Inszenierungen entschieden worden sei. Die bemerkenswerte "Modemisierung und Professionalisierung'f" des SPD-Wahlkampfes, die Einbindung von Werbeagenturen in die Wahlkampforganisatiorr" und der schon bald als .Kronungsmesse" bezeichnete SPD56 Parteitag zur Nominierung Gerhard Schroders zum Kanzlerkandidaten im April 1998 haben in der Offentlichkeit den Eindruck entstehen lassen, das Medienspektakel sei die Hauptsache in diesem Wahlkampf gewesen. Tatsachlich aber war der Grund fur den Wahlsieg der SPD, wie beschrieben, bereits in den Jahren zuvor gelegt worden. Das Spektakel diente schlieBlich nur noch dazu, den bereits zuvor errungenen Vorsprung vor der CDUI CSU bis zum Wahltermin zu halten und dabei die besonders wankelmutigen, politisch wenig interessierten Wechselwahler an der Seite der Sozialdemokraten zu halten.i" Verbunden mit der Annahme, die Inszenierungen der SPD-Wahlkampfzentrale "Kampa" seien das wichtigste Element des Wahlkampfes gewesen, ist die Vermutung, der Wahlkampf 1998 habe sich durch ein bis dahin unbekanntes AusmaB an Personalisierung ausgezeichnet, die Medienwirksamkeit des Kandidaten Gerhard Schroder auf der einen Seite und der Umstand, dass die Bevolkerung nach 16 Jahren Regierungszeit Helmut Kohls uberdrussig geworden sei, habe die Bundestagswahl entschieden. Mit dieser These wiederum verbunden ist die Annahme, Kohl habe aus Eigennutz die schwere Wahlniederlage seiner Partei herbeigefuhrt.i" Er habe nicht erkannt, dass seine Zeit abgelaufen sei, habe die Macht nicht aus den Handen geben konnen und damit seinem designierten Nachfolger Wolfgang Schauble die Chance genommen, nach einem Wahlsieg 1998 Bundeskanzler zu werden. Richtig an diesen Uberlegungen ist sicherlich, dass der Wahlkampf 1998 durch ein hohes MaB an Personalisierung gekennzeichnet war", dass Gerhard Schroder ein auBerordentlich popularer und medienwirksamer Kanzlerkandidat war und dass sich in der Bevelkerung ein gewisser Uberdruss an der Person Helmut Kohl ausgebreitet hatte. Doch die Annahme, dass dies der entscheidende Faktor fur den Wahlausgang gewesen sei, ist falsch. Sie ubersieht, dass die groBe Mehrheit der Bevolkerung bereits Monate bevor bei der SPD die Entscheidung tiel, Gerhard Schroder zum Kanzlerkandidaten zu bestimmen, das Vertrauen in die Fahigkeit der CDU/CSU verloren hatte, die Probleme des Landes zu losen, Bereits zu Beginn des Jahres 1998 war zu erkennen, dass hierin auch ein entscheidender Unterschied im Vergleich zurn Wahljahr 1994 lag. Auf den ersten Blick scheint die Situation zu Beginn der Wahljahre 1994 und 1998 vergleichbar zu sein. In der ZweitstimmenWahlabsicht kamen CDU/CSU und FOP gemeinsam im Januar 1994 auf 43 Prozent, 1998 auf 39 Prozent, SPD und Grune erreichten Anfang 1994 50, vier Jahre spater 52 Prozent." Doch deutIicher als die Parteistarken hatte sich das Bild der Parteien in der Vorstellung der Wahler verandert. Von den sechs politischen Aufgaben, von denen die meisten Menschen sagten, dass sie sie besonders beschaftigten, wurden im Fruhjahr 1994 noch drei eher der CDU/CSU als der SPD zugeordnet: Es trauten mehr Wahler der CDU/CSU als der SPD zu, die Renten zu sichem, dafiir zu sorgen, dass die Preise stabil blieben, dass die BUrger vor 54 55
56 57
5R 59
60
Holtz-Bacha 1999. Vgl. von Webe11999: 16-20. Vgl. Holtz-Bacha 1999:20. Dass es sich bei denjenigen, die sich erst spat im Wahlkampf fur eine Partei entscheiden, uberproportional haufig urn politisch wenig interessierte und informierte Wahler handelt, hat bereits Paul Lazarsfeld in seiner beruhmten Untersuchung zur arnerikanischen Prasidentschaftswahl des Jahres 1944 beschrieben. Dieser Befund ist danach immerwieder bestatigt worden (Vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1948: 52-56). Vgl. z. B. Emmert,Jung & Roth 2001: 55. Wobei selbst diese Annahme nicht sicher belegt werden kann. Siehe hierzu Brettschneider2001: 351-400. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen Nr. 5089, 6053.
209
Kriminellen geschutzt werden. Bei der Bekampfung der Arbeitslosigkeit wurde den beiden Volksparteien nahezu die gleiche Problemlosungskompetenz zugeschrieben.?' 1998 hatte die SPO bei den von der Bevolkerung als besonders wichtig angesehenen Aufgaben der Rentensicherung und der Bekampfung der Arbeitslosigkeit einen deutlichen Vorsprung gegenuber den Unionsparteien erarbeitet. Nur noch zwei der wichtigsten sechs Themen, die Inflations- und die Verbrechensbekampfung, sah die Bevolkerung bei der COU/CSU in besseren Handen (Tabelle 1).62 Tabelle 1: Fragen:
Oer Vertrauensverlust in die COU/CSU 1998 gegenuber 1994
.Hier sind noch einmal die (vom Befragten vorher ausgesuchten) Karten mit den wichtigen politischen Zielen. Verteilen Sie die Karten bitte auf dieses Blatt hier, je nachdem, ob etwas ganz allgemein von groBer Bedeutung ist, oder ob es auch Sie besonders beschaftigt."
.Verteilen Sie jetzt die Karten doch bitte einmal auf dieses Blatt hier, je nachdem, ob das Probleme sind, urn die sich rnehr die CDU/CSU kummert oder mehr die SPD."
1994
1998
Darum kummert sich mehr die
Darum kummert sich mehr die
CDUI CSU %
SPD
SPD
%
COUI CSU %
Die Renten sichern (51 0/0)
25
19
DaB die Belastungen durch Steuem und Abgaben nicht weiter steigen (43%) Dafiir sorgen, daB die Preise stabil bleiben, daB es keine Inflation gibt (38%) DaB die BUrger besser von Kriminellen geschutzt werden (34%) Bekampfung der Arbeitslosigkeit (33%)
11
.Das beschaftigt mich ganz besonders" (1998)
FUr soziale Gerechtigkeit sorgen (33%) Summe
Oifferenz
SPD
%
COUI CSU %
17
28
-8
+9
34
11
31
0
-3
23
12
19
10
-4
-2
24
6
27
8
+3
+2
21
25
14
30
-7
+5
8
49
6
49
-2
0
112
145
94
156
-18
+11
* Letzter Wert im Trend "Wahlabsicht": Erststimmenergebnis der Bundestagswahl vom 6. Marz 1983. Quelle: Kepplinger 1999: 225; Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen Nr. 5113, 5146.
61 62
210
Vg. AJlensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 5113. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 5146.
%
Bereits im Jahr 1994 war die Bundesregierung nur auBerst knapp und mit Hilfe eines uberraschenden Wirtschaftsaufschwungs bestatigt worden. FUr die Wahl 1998 war die Ausgangsposition der Regierungsparteien noch wesentlich schlechter und bei nuchterner Betrachtung bereits seit 1996 aussichtslos, unabhangig davon, wer als Kanzlerkandidat fur die Union ins Rennen ging. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Kohl, dem von denen, die ibn personlich kennen, ein auBerordentlich feines Gespur fur Stimmungen in der Bevolkerung nachgesagt wird'", dies nicht wahrgenommen haben solI. Welche personlichen Beweggrunde Kohl auch immer gehabt haben mag, noch einmal fur das Amt des Bundeskanzlers zu kandidieren - die Daten deuten darauf hin, dass er mit dieser Entscheidung seine Partei von noch schwereren Stimmenverlusten bewahrt und es seinem Nachfolger im Parteivorsitz ermoglicht hat, sein Amt anzutreten, ohne gleich von Anfang an durch eine Wahlniederlage po litiseh geschwacht zu sein. Dass der Vertrauensverlust in die Problemlosungskompetenz der CDU/CSU wesentlich zum Wahlergebnis von 1998 beigetragen hat, hat Hans Mathias Kepplinger anhand der Daten einer Panelbefragung des Allensbacher Instituts nachweisen konnen. Je mehr Kompetenzen die Befragten in der Zeit zwischen 1994 und 1998 der SPD zuschrieben, urn so eher wurden sie aueh Anhanger der SPD. Kepplinger sehreibt: "Die Wahrscheinlichkeit eines Weehsels der Wahlabsicht zugunsten der SPD stieg von unter 10 Prozent in der Gruppe derer, die der SPD im Laufe der Zeit keine neuen Kompetenzen zuschrieben, auf nahezu 60 Prozent in der Gruppe derer, die ihr im Laufe der Zeit drei und mehr Kompetenzen zuschrieben.t''" Demgegenuber wird der Effekt der Personalisierung im Wahlkampf 1998 bis heute wahrseheinlich eher uberschatzt. Die Medien lieBen sich, wie Wolfgang Donsbaeh mit einem Vergleich der Pressemitteilungen der Parteien mit der Naehriehtenauswahl der fuhrenden deutschen Massenmedien nachwies, nur teilweise auf das Bestreben der SPD-Parteistrategen ein, den Wahlkampf ganz auf die Kandidaten zu konzentrieren." Aueh die Richtung des Effekts, der von der Fokussierung auf die Kandidaten ausging, ist nicht so eindeutig, wie oft vermutet wird. Kohl wurde in der Berichterstattung nieht so negativ dargestellt wie die CDU/CSU, wahrend das Bild der SPD etwa gleieh positiv war wie das Schroders, Kepplinger folgert daraus, dass Schroder der SPD weniger und Kohl der CDU/CSU mehr genutzt habe als allgemein angenommen wird: " Schroder", schreibt er, .wurde von der publizistisehen Zustimmung zur SPD getragen - und umgekehrt, wahrend die publizistisehe Ablehnung der CDU/CSU Kohl anhing. Dies war vermutlieh ein wiehtiger Grund fur den nur seheinbar paradoxen Befund, daB Schroder fur die SPD nieht viele Wahler hinzugewinnen konnte - die meisten SPD- Wahler hatten sich aufgrund der Ausgangslage und der hervorragenden Erscheinungsbildes der Sozialdemokraten sowieso fur die SPD entschieden. Der eigentliehe Wahlsieger war deshalb nieht Schroder, sondem Lafontaine, der die Sozialdemokraten auf Erfolgskurs gebracht hatte. Kohl brachte den Unionsparteien immerhin die Stimmen derjenigen, die sie aufgrund der Ausgangslage und des miserablen Erscheinungsbildes der CDU/CSU eigentlich nieht wahlen wollten, was jedoeh fur eine entscheidende Trendwende nicht ausreichte. Kohl war nieht die Ursache der Wahlniederlage einer ansonsten aussichtsreiehen CDU/CSU, er war der Kristallisationskem des Unmutes in weiten Teilen der Bevolkerung uber die Politik der amtierenden Regierung. Dies bedeutet nieht, daB Kohl keine Schuld an der Wahlniederlage der Unionsparteien hatte
63 64
65
Siehe z. B. Noelle-Neumann 2006: 223-225. Kepplinger 1999: 233-234. Vgl. Donsbach ]999: 170.
211
- letztlich war er fur die Entscheidungen seiner Regierung (...) verantwortlich. Diese Verantwortung betraf jedoch Aspekte, die mit seiner Rolle als Kanzlerkandidat der CDU/CSU und dem EinfluB seiner erneuten Kandidatur auf den Wahlausgang nur indirekt zu tun hatten.,,66
Fazit Die Wahlkampfe Helmut Kohls sind ein bis heute wenig verstandenes Phanomen erfolgreicher Kommunikation. Seine Kampagnenerfolge sind in der offentlichen Diskussion oft, wie im FaIle des Wahlkampfes von 1998, ubersehen oder als Zufall interpretiert worden. Doch sie traten zu oft und zu regelmabig auf, als dass sie durch bloBe Fortune zu erklaren waren. Sie sind letztlich wahrscheinlich nur zu verstehen, wenn man sie als das Resultat einer Art unbewussten inneren Ubereinstimmung zwischen einem groBen Teil der Bevolkerung und Kohl betrachtet. Analytiker, die ratseln, wie ein auf den ersten Blick so wenig intellektuell brillant, geschliffen und weltmannisch wirkender Mann so dauerhaften Erfolg nicht nur in der praktischen Politik sondern auch bei den Wahlern haben konnte, gehen wahrscheinlich von falschen Voraussetzungen aus. Ohne Zweifel kann Bewunderung eine Basis fur Wahl .. erfolge sein, wie das Beispiel Helmut Schmidt zeigt, doch sie ist nicht die einzige. Bei Adenauer war es eher Respekt, der die Wahler an ihn band, bei Brandt vielleicht eine charakteristische Form der menschlichen Zuneigung. Bei Schroder mag eine Faszination im Spiel gewesen sein, mit der Menschen auch Filmstars betrachten. Kohls Wirkung auf die Wahler war, soweit sich das erkennen lasst, subtiler, indirekter, doch damit auch auf eine besondere Weise dauerhaft. Dass er auf die Bevolkerung gegenuber den meisten seiner Gegenkandidaten wenig faszinierend wirkte, erscheint im Ruckblick eher als Starke denn als Schwache, denn die Aura der nicht zur Schau gestellten, sondem glaubwurdig verkorperten Volksnahe, die ihn umgab, und die ihm den Spott von Intellektuellen und den ihnen nahe stehenden Medien eintrug, vermittelte weiten Teilen der Bevolkerung den Eindruck, der Kandidat sei "einer von ihnen". Kohl wurde auch zu Zeiten seiner grolsten politischen Erfolge von der Bevolkerung nie geliebt, aber bei ihm fuhlten sich die Menschen zuhause. 1m April 2000, eineinhalb Jahre nach dem Ende der Regierung Kohl und auf dem Hohepunkt der CDU-Spendenaffare stellte das Institut fur Demoskopie Allensbach einem reprasentativen Bevolkerungsquerschnitt die Frage: .Das ist sicher schwer zu sagen, aber wenn Sie einmal ganz nach Ihrem Gefuhl gehen: Welche Politiker empfinden Sie als typisch deutsch?" Mit weitem Abstand an erster Stelle, genannt von 61 Prozent der Befragten, 67 stand Helmut Koh1.
Literatur Auer, Maria (1981): The Stapel Scale. A Versatile Instrument of Survey Research. Vortrag auf dem Jahreskongress der World Association of Public Opinion Research (WAPOR), Amsterdam, 23. 8.1981. Berger, Manfred (1973): Parteienidentifikation in der Bundesrepublik. In: Politische Viertcljahresschrift, ]4, S. 215-225.
66
Kepplinger 1999: 140.
67
Vgl. Allensbacher Archiv, ItD-Umfrage Nr. 6091.
212
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00572.
214
Das Paradoxon der Wahlwerbung Wahrnehmung und Wirkungen der Parteienkampagnen im Bundestagswahlkampf 2002 Von Nicole Podschuweit und Stefan Dahlem
Werbung macht Wahlkampagnen in modemen Demokratien sichtbar und verleiht ihnen Gestalt. Dafur spricht, dass ein GroBteil der Wahler angibt, durch Plakate oder Werbespots im Femsehen auf den Wahlkampf aufmerksam geworden zu sein.' Die hohen Aufmerksamkeitswerte der Wahlwerbung sind jedoch nicht der eigentliche Grund dafur, dass sich die Parteien ihre Werbekampagnen Millionen von Euro kosten lassen. Das vorrangige Ziel der Parteien ist, durch ihre Werbung Wahlerstimmen zu gewinnen.' Doch haben die Parteien tatsachlich die Aussicht, dass sich ihre hohen Investitionen auszahlen? Kann Wahlwerbung das Entscheidungsverhalten der Wahler allein dadurch beeintlussen, dass sie von ihnen beachtet wird? Anders als in den USA, wo die Forschung eine Vielzahl von Studien zur Wirkung von Wahlwerbung hervorgebraeht hat, wurde dieses Gebiet in Deutschland bislang kaum untersucht. US-amerikanische Studien kommen zu dem Schluss, dass Wahlwerbung das Wahlverhalten indirekt tiber Wissen, Einstellungen, Vorstellungen und Emotionen beeinflusst.' Allerdings lassen sich diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf deutsche Wahlwerbung ubertragen. Oenn trotz einer "bedingten Amerikanisierung'" deutscher Wahlkampfe unterscheidet sich die hiesige Wahlkamptkommunikation von der in den USA. Oer Grund hierfur sind u.a. erhebliche Oifferenzen zwischen den politischen Systemen und den Mediensystemen der beiden Lander.' Die wenigen Studien, die hierzulande durchgefiihrt wurden, orientieren sich vor allem an punktuellen Fragestellungen." Was bislang aussteht, ist eine systematische Analyse der Wirkung von Wahlwerbung. Einen ersten Schritt hierzu solI der vorliegende Beitrag leisten. Er systematisiert zum einen die relevante Literatur und analysiert zurn anderen Werbetrackingdaten zur Wahrnehmung und Wirkung der Parteienwerbung im Bundestagswahlkarnpf 2002.
I.
Theoretische Einfiihrung
Unter einer Wahlkampagne fasst man aIle organisierten und geplanten Kommunikationsaktivitaten zusammen, die Parteien in einern Wahlkampf durchfiihren, urn moglichst viele
Vgl. Holtz-Bacha 2000a: 13. Vgl. Hetterich 2000: 48. Vgl. Holtz-Bacha 2000a: 48, Holtz-Bacha 200Gb: 52. Vgl. Holtz-Bacha & Kaid 1995: 11ff, U.a wurde untersucht, ob Wahlwerbung Agenda-Setting-Effekte hat oder ob sie sich auf das Image der Spitzenkandidaten auswirkt (vgl. Schmitt-Beck 1999: l Zff vgl. zusammenfassend Holtz-Bacha 2000a),
215
Stimmen zu erhalten." Bei der Beschreibung der Wahlkampagne lassen sich verschiedene Kampagnenformen auf der einen und verschiedene Komrnunikationsebenen auf der anderen Seite unterscheiden (Tabelle 1). Die Leitkampagne umfasst aIle anderen Kampagnenformen und komrnt im Idealfall mit nur einer zentralen Botschaft aus, die der Wahler mit einer Partei assoziiert und fur die die Partei im Wahlkarnpf steht. Eng mit ihr verbunden ist die Positionierungskampagne, bei der es meist urn die Frage geht, wo sich eine Partei auf dem Links-Rechts-Schema einordnet. Daneben gibt es Kampagnen, die Themen oder Personen vermitteln wollen, andere dienen der Mobilisierung der eigenen Partei oder der Ansprache bestimmter Zielgruppen." Die Parteien haben verschiedene Moglichkeiten, urn ihre Wahlkampagnen zu kommunizieren. In modemen Demokratien ist die Werbung der Parteien ein wesentlicher Bestandteil der gesamten Wahlkommunikation. Parallel dazu gibt es verschiedene andere Kommunikationsebenen, wie etwa Public Relations oder die Medienberichterstattung, in die Werbung eingebettet ist und mit denen sie mehr oder weniger ubereinstimmt. Urn bei den Wahlern gIaubhaft zu sein, sollten die Parteien allerdings dafur Sorge trag en, dass ihre Kampagnen auf allen Kommunikationsebenen dieselben Botschaften vermitteln. Tabelle 1: Kampagnenstrategien und Kommunikationsebenen im Wahlkampf Werbung
PR
ebenen Kampagnenformen
Medienberichterstattung
Parteiorganisation
Interpersonale
Komrnunikation
Leitkampagne
K
K
K
K
K
Positionierungskampagne
A
A
A
A
A
Themenkampagne
M
M
M
M
M
Personenkampagne
P
P
P
P
P
Zielgruppenkampagne
A
A
A
A
A
Mobilisierungskampagne
G
G
G
G
G
Announcement-Kampagne
N
N
N
N
N
Spendenkarnpagne
E
E
E
E
E
Quelle: Eigene DarsteIIung in Anlehnung an Plan (2002, S. 70).
Vgl. Schmitt-Beck 2002: 22. Vgl. Plan 2002: 69ff.
216
1m Rahmen ihrer Wahlkamptkommunikation setzen die Parteien vorrangig auf ihre Medienkampagne. Zum einen hoffen sie, von der Glaubwurdigkeit der Medien profitieren zu konnen, zum anderen konnen sie auf diesem Weg ihre werbende Absicht vor den Wahlern verbergen." Problematisch an der Medienkampagne ist aus Sicht der Parteien, dass die Berichterstattung umso seltener in ihrem Sinne ausfallt, je kontlikthaltiger, strittiger und bedeutsamer ein Thema ist." Die Medienkampagne besitzt also Vor- und Nachteile: Als "free media" 11 baut sie ohne hohere Kosten fur die Parteien einen starken Kommunikationsdruck auf, wobei Inhalte und Wertung dann kaum zu steuern sind, wenn es wirklich wichtig ist. Aus der uberragenden Bedeutung der Medienkampagne im Wahlkampf darf allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass sich aIle anderen MaBnahmen erubrigen, Vor allem, wenn Wahlausgange so knapp sind wie in Deutschland, wird die Werbekampagne zu einem entscheidenden Faktor fur den Wahlsieg." 1m Gegensatz zur Medienkampagne unterliegt sie keinen joumalistischen Veranderungen. Vielmehr konnen die Parteien ihre Meinung so unzensiert bzw. ohne journalistische Selektion und Bearbeitung in den Massenmedien verbreiten. Der Nachteil der Werbekampagne ist, dass die Werbung von den Rezipienten unmittelbar als solche erkannt wird. Dies wirkt sich negativ auf die Glaubwurdigkeit aus, da politische Parteien in der Offentlichkeit verglichen mit den Massenmedien als weniger objektive und weniger neutrale Informationsquelle gelten. Politische Werbung unterliegt somit stets einer Diskrepanz zwischen unverzerrter und glaubwurdiger Darstellung." Als "paid media" erganzt Wahlwerbung jedoch die Schwachstellen der "free media" in idealer Weise. Auf dem dramatischen Hohepunkt der Wahlkampffuhrung wird sie als Instrument eingesetzt, urn "die Meinungen und Botschaften in parteiischer Argumentation in der Offentlichkeit ,brennpunktartig' bekannt zu machen und die Wahler zur ,richtigen' Wahl aufzurufen"." Hierbei stellt sich insbesondere die Frage, was sich beim Wahler besser durchsetzt: eine strategisch langfristig entwickelte Botschaft, die auch unabhangig oder sogar gegen die politischen Entwicklungen bzw. die darauf bezogene Medienberichterstattung durchgehalten wird, oder eine nach der aktuellen politischen Situation formulierte Werbeaussage.
Strategien politischer Werbung Wahlkampagnen politischer Parteien orientieren sich zunehmend an Marketingkampagnen von Wirtschaftsunternehmen." Dementsprechend ist politisches Marketing "auf die avisierten Wahlergruppen und ihre Einstellungen und Praferenzen [ausgerichtet], wobei das Wahlprogramm und auch die Kandidaten nachfrageorientiert auf die anzusprechenden Wahler zugeschnitten werden". 16 Bei der Vermittlung ihrer Kandidaten und Themen setzen die Parteien verstarkt auf Strategien, die mit emotionalen Reizen wie z.B. Familie, Hoffnung oder Stolz arbeiten.i Emotionale Reize haben sich in der Wirtschaftswerbung u.a.
10
)1 12
13 14
15 16 17
Holtz-Bacha 2000a: 14. Vgl. Kepplinger 1998. Vgl. Joslyn 1984. Vgl. Radunski 1980: 92. Vgl. Strohmeier 2002: 151. Huh 1996: 123. Vgl. Wangen 1983; Falter & Rommele 2002: 53. Kreyher 2004: 15. Vgl. Kannwischer & Druwe: 52.
217
deshalb bewahrt, weil sie leicht Aufmerksamkeit erregen, langer im Gedachtnis abgespeichert werden und sich kaum abnutzen." Neben Strategien, die der Wirtschaftswerbung entlehnt sind, gibt es spezielle Strategien politischer Werbung. Seit den 1980er Jahren ist in Deutschland ein verstarkter Trend zur Personalisierung der Wahlkampffuhrung zu beobachten. Die Kandidaten rucken also zunehmend in den Fokus der Kampagnen, wahrend politische Themen und Parteien zurucktreten.!" Ein wesentlicher Vorteil von personalisierter Werbung ist, dass sie sowohl fur die Parteien als auch fur die Wahler Komplexitat reduziert. FUr die Parteien ist es einfacher, abstrakte und komplexe Politik durch Personen zu vermitteln, denn die Kandidaten sind einfacher zu visualisieren als politisches Handeln oder politische Ideologien. FUr die Wahler ist es leichter, sich ein Bild von der Politik zu machen, wenn diese sich auf Personen
bezieht." Als weitere Strategien politischer Werbung lassen sich beim Negative Campaigning" Angriffswerbung und vergleichende Werbung unterscheiden. Mit Angriffswerbung soIl das positive Image der politischen Gegner nachhaltig zerstort werden, wahrend vergleichende Werbung die eigenen positiven Standpunkte und Leistungen mit den vermeintlich negatiyen Standpunkten und Leistungen des Gegners konfrontiert. Grundsatzlich wird negative politische Werbung wirksamer eingestuft als positive. Dies liegt daran, dass der Nachrichtenfaktor Negativitat nicht nur die Aufnahmebereitschaft der Journalisten sondern auch die der Rezipienten erhoht. 22 Allerdings kann negative Wahlwerbung einen Bumerangeffekt ausloserr", da die Rezipienten die Werbung unter Umstanden als unehrlich und unfair wahrnehmen und deshalb negative Gefuhle gegenuber dem Angreifer entwickeln. Diese Gefahr besteht bei Angriffswerbung noch verstarkt, Deshalb scheint es aus Sicht der Parteien in jedem Fall rats am , ein ausgewogenes Verhaltnis zwischen positiver und negativer Werbung zu wahren." Auf dem Weg in diese Richtung konnen Parteien auf die Ambiguitat ihrer Werbung setzen. Hierrnit ist gemeint, dass Parteien und Kandidaten ihre Ansichten und Ziele bewusst vage formulieren, urn keine Wahler gegen sich aufzubringen, sondem im Gegenteil mogIichst viele auf ihre Seite zu ziehen." Da die Meinungen innerhalb der Wahlerschaft zu konkreten politischen Sachfragen oft erheblich differieren, wurde eine Partei fast immer Gefahr laufen, einen Teil der Wahler zu verargern, wenn sie zu solchen Fragen klar Stellung nimmt. Deshalb ist es aus Sicht der Parteien ratsamer, allgemeine Ziele zu kommunizieren, tiber die innerhalb der Bevolkerung weitgehender Konsens herrscht, wie z.B. die Schaffung von Arbeitsplatzen, Frieden oder die Bekampfung der Arrnut" 18 19
20 21 22 23
24 25 26
218
Vgl. Meyer-Hentschel 1995: 85. Personalisierung ist keine neue Erscheinung. Bereits in den 1950er bis 1970er Jahren wurden mit Adenauer, Erhard, Brandt und Schmidt als Protagonisten personenzentrierte Wahlkampfe gefuhrt. Durch die inzwischen fast vollstandigeAusrichtung des Wahlkampfs auf die Person der Kandidaten hat die Personalisierungjedoch eine vollig neue Qualitat erlangt (vgl. Falter & Rommele2002: 51f). Vgl. Holtz-Bacha2003: 20. Vgl. Sarcinelli 1987. Vgl. Schulz 1976. Vgl. z.B. Hill 1989:20. Vgl. Strohmeier2002: 138. Vgl. Campbell 1983: 284. Vgl. Page 1976: 749. Dass sich Ambiguitat fur die Parteien auszahlt, haben Maurer und Reinemann in einer Analyse zur Wahmehmung der Kanzlerkandidaten wahrend der TV-Duelle im Bundestagswahlkampf2002 nachgewiesen. So wurden Schroder und Stoiber immer dann von den Zuschauem positiv beurteilt, wenn sie ihre Ansichten allgemein fonnulierten. AuBerten sich die Kandidaten hingegen daruber, mit welchen konkre..
In jeder Wahlkampagne empfiehlt sich schlieBlich eine dramaturgische Themensetzung, d.h. die Wichtigkeit der Themen, die eine Partei in ihrer Werbung aufgreift, sollte im Verlauf der Kampagne zunehmen. Unmittelbar vor der Wahl wird genau das Thema kommuniziert, das der Bevolkerung dann als besonders wichtig erscheint und bei dem sie der Partei die grobte Kompetenz zuschreibt. 27 Hierbei stellt sich insbesondere die Frage, wie die politischen Kampagnenplaner strategisch vorgehen konnen: in dem gleichen planbaren AusmaB wie ihre Kollegen in der Wirtschaftswerbung, die ausschlieblich in Krisensituationen unter starkem Mediendruck stehen, oder ob der Druck und die Bedeutung der Medienberichterstattung im Bereich der Politik nicht vielmehr so groB sind, dass sich die Werbung immer an ihr messen muss.
Wirkungen von Wahlwerb ung US-amerikanische Studien zur Wirkung von Wahlwerbung kommen zu folgenden Ergebnissen: Negative Wahlwerbung erzielt Wirkung, allerdings nicht immer die von den Parteien intendierte. FUr den Einsatz von Angriffswerbung spricht, dass sie als informativ wahrgenommen und besser erinnert wird als positive Werbung.i" Entscheidende Nachteile sind, dass negative Wahlwerbung bei einem GroBteil der amerikanischen Wahlerschaft unbeliebt ist und fur nicht besonders glaubwurdig gehalten wird. 29 Als gut abgesichert gilt inzwischen, dass Wahlerbung Lerneffekte hat." Durch Wahlwerbespots im Femsehen lernen die Zuschauer etwas tiber die Eigenschaften und die politischen Positionen der Kandidaten, wobei die Spots in der Informationsvermittlung sogar den Kandidatendebatten uberlegen sind." Daruber hinaus konnen die Spots vor allem bei weniger gut infonnierten Zuschauem Agenda-Setting-Effekte haben, d.h. die Rezeption fuhrt bei ihnen mit hoherer Wahrscheinlichkeit zu veranderten Einschatzungen der Wichtigkeit politischer Probleme als bei informierten Zuschauern" Auf das Image der Kandidaten kann sich Wahlwerbung sowohl positiv als auch negativ auswirken. Dass Angriffswerbung das Image eines Kandidaten beschadigen kann, haben verschiedene Untersuchungen gezeigt." Kaid und Chansler kommen jedoch zu dem Schluss, dass Wahlwerbung auch positive Imageeffekte haben kann." Allerdings kann selbst die beste Werbung nichts ausrichten, wenn der Kandidat durch sein offentliches Auftreten sein gutes Image zerstort." Die vermeintlich wichtigste Frage - ob Wahlwerbung die Wahlentscheidung beeinflusst - wurde in amerikanischen Studien vergleichsweise selten behandelt. Holtz-Bacha
27
28
29 30 31
32 33
34 35
ten Mitteln sie ihre Ziele umsetzen wollten, "war die allgemeine Zustimmung sogleich dahin" (Maurer & Reinemann 2003: 129). Auch dieser Schluss lasst sich aus der Analyse von Maurer und Reinemann ziehen. So fanden die Autoren heraus, dass die Wahrscheinlichkeit einer positiven Bewertung dcr Kandidaten im Veriauf eines Statements steigt, wenn die einzelnen Aussagen stringent aufeinander aufbauen. Dartiber hinaus erzielte bei den Rezipienten vor allem das letzte Argument eines Kandidaten-Statements Wirkung, vermutlich, weil sich die Zuschauer am besten daran erinnern konnten (vgl. ebd.: 99f). VgJ. z.B. Newhagen & Reeves 1991: 215. Vgl. Garramone 1984: 253[ Vgl. Holtz-Bacha 2000a: 54. Vgl. Just et al. 1990. Vgl. Atkin & Gary ]976: 224f. Vgl. z.B. Basil et a1. ]991: 259. Vgl. Kaid & Chanslor ]995: 96. Vgl. Diamond & Bates 1992: 363.
219
zufolge liegt dies daran, dass die Wirkung von politischer Werbung auf das Wahlverhalten nur schwer zu ermitteln ist, zumal eine Wahlentscheidung von einer Vielzahl anderer Faktoren abhangt, Trotzdem geht ein groBer Teil der Wirkungsstudien implizit davon aus, dass sich die Wirkungen von Wahlwerbung auf das Wissen und die Einstellungen der Rezipienten auch in der Stimmabgabe niederschlagen." In Deutschland liegen bislang nur sparliche, an punktuellen Fragestellungen orientierte Befunde tiber die Wirkung von Wahlwerbung vor." Schmitt-Beck zufolge gehen von Wahlwerbung kognitive Wirkungen aus, d.h. die Rezipienten erwerben durch Wahlwerbung Kenntnisse tiber die Wahl und den Wah Ikampf. Daruber hinaus lernen die Burger durch Wahlwerbung Parteien kennen, von deren Existenz sie bislang noch nichts wussten. Untersuchungen von Wahlwerbespots haben allerdings ergeben, dass auf diesem Weg keine tiefer gehenden Kenntnisse tiber die Ziele der einzelnen Parteien vermittelt werden." Dass die Rezeption von Wahlwerbung Agenda-Setting-Effekte nach sich ziehen kann, wurde auch durch eine deutsche Studie bestatigt, 39 Daruber hinaus kann angenommen werden, dass Wahlwerbung eine .Katalysatorfunktionv'" erfullt, indem sie das Involvement der Wahler in den Wahlkampf verstarkt, was wiederum eine wichtige Voraussetzung zur Meinungsbildung tiber den Wahlkampfund fur die Beteiligung an der Wahl iSt.4 1 Persuasive Wirkungen von Wahlwerbung, also Wirkungen auf die Einstellung und das Verhalten der Rezipienten, wurden in Deutschland im Hinblick auf die Images von Parteien und Kandidaten untersucht. 1m Unterschied zu amerikanischen Studien, die der Wahlwerbung eine solche Wirkung zusprechen, kommen deutsche Studien allerdings zu keinem klaren Ergebnis. Durch Experimente im Vorfeld der Bundestagswahlen 1990 und 1994 konnten Holtz-Bacha und Kaid zwar nachweisen, dass Wahlwerbespots sowohl zu einer veranderten Syrnpathieeinschatzung als auch zu einer veranderten Bewertung von Personlichkeitsmerkmalen der Spitzenkandidaten fuhren, Allerdings fielen die Einschatzungen der Versuchspersonen nach der Rezeption der Spots teils positiver und teils negativer aus. 42 In diesem Zusammenhang stellt sich abschlieBend die Frage, wie die Wirkungen der Wahlwerbung abgebildet und mit den Strategien in Verbindung gesetzt werden konnen,
II.
Empirische Befunde
Die Wirkungen von Wahlwerbung analysieren wir im Folgenden auf der Basis von Sekundardaten, die im Rahmen einer bundesweit reprasentativen Tracking-Studie zur Werberezeption, dem .Zeitungsmonitor", erhoben wurden. Design und Fragebogen des .Zeitungsmonitors" erarbeitet die Zeitungs Marketing Gesellschaft (ZMG), die Feldarbeit liegt bei der BIK Umfrageforschung in Hamburg. Befragt werden seit Januar 2002 in Telefoninterviews (CATI) jede Woche 350 Personen, wobei die deutschsprachige Bevolkerung der Bundesrepublik Deutschland ab 14 Jahren die Grundgesamtheit bildet. 1m Wahlkampf2002 wurde mit dem Instrument erstmaIs die Wirkung von Parteienwerbung erfasst." 36 37 38 39 40 41
42
43
220
Vgl. Holtz-Bacha 2000a: 55f. Vgl. Schmitt-Beck 1999: 16. Vgl. Holtz-Bacha 2000a: 86. Vgl. Semetko & Schonbach 1994: 97-106. Schmitt-Beck 1999: 19. VgI. Holtz-Bacha 2000a: 87. VgI. Holtz-Bacha & Kaid 1993: 190ff; Holtz-Bacha & Kaid 1996: 192ff. Der .Zeitungsmonitor" wurde entwickelt, urn Werbekunden und Werbeagenturen eine Moglichkeit zu geben, den Erfolg einer Kampagne zeitnah zu uberprufen (vgl. Dahlem & Kretschmer 2004).
Tabelle 2: Operationalisierung der Wirkung von Wahlwerbung im "Zeitungsmonitor" 2002 Feb. Werbung
JUDi
Stimmungsklima
X X
x
x
ungestutzte Erinnerung
X
X
Einpragsamkeit
x
Interessantheit
X
X X
GlaubwUrdigkeit
X X
X X X X
X X X X
X
X
X
Wahlabsicht politisches Interesse
X
Partei identi fikati on
Sept. X X X X X X X X X
X X
x
allgemeine Bewertung
X
x
X X X
differenzierte Bewertung
X X X
X X
x
X
X X
X X
aktuelle Wirtschaftslage zukunftige Wirtschaftslage
Kandidaten
Aug.
gestutzte Erinnerung
Entscheidungsimpuls politische Verhaltensweisen und Einstellungen
Juli
Wichtigkeit
Politische Themen/ Probleme
Losungskompetenz
Mediennutzung
WNK, LpN etc.
Soziodemographie
Geschlecht, Alter etc.
X
X
X X X
X
X
X
X
Quelle: Eigene Darstellung.
Wir uberprufen die Wirkungen von Wahlwerbung auf vier verschiedenen Ebenen: der Aufmerksamkeits-, der Verarbeitungs-, der Erinnerungs- und der Verhaltensebene. Dabei lassen wir uns von theoretischen Ansatzen und Modellvorstellungen der Werbewirkungsforschung leiten" Wie vie] Aufmerksamkeit die Parteien mit ihrer Werbung bei den Wahlem im VerIauf des Wahlkampfs erzielten, wurde anhand der gestutzten Werbeerinnerung der Befragten errnittelt. Die ungestutzte Werbeerinnerung gibt Auskunft daruber, ob sich Wahlwerbung auch langerfristig im Gedachtnis der Wahler verankert hat. Auf der Verarbeitungsebene kann mit den vorliegenden Daten analysiert werden, ob die Werbung der Parteien den Wahlem einpragsam, interessant und glaubwurdig erscheint. Welchen Einfluss Wahlwerbung auf das Entscheidungsverhalten der Wahler hat, wird anhand der Wahlabsicht uberpruft. Als weitere Erklarungsfaktoren der Wahlentscheidung gehen die Parteibindung, die Einschatzung der Kandidaten sowie der Wichtigkeit verschiedener politi scher Probleme, soziodemographische Merkmale als Indikator fur die Bindung an soziale Gruppen und die wahrgenommene Wirtschaftslage Deutschlands als Indikator fur das Stimmungsklima in die Analyse mit ein. Wir stellen die Wirkungen der Wahlwerbung damit in den Kontext der wichtigsten Faktoren der Wahlentscheidung.f Tabelle 2 gibt einen Uber-
44 45
VgJ. Schenk et aJ. 1990; Hofsass & Engel 2003: 233. Einer Wahlentscheidung konnen insgesamt sechs verschiedene Mechanismen zugrunde liegen, die den Wahlern zur Informations- und Urteilsvereinfachung dienen: die Parteiidentifikation, die Bindung an soziale
221
blick daruber, in welchen Monaten im .Zeitungsmonitor'' die Fragen erhoben wurden, mit denen wir im Folgenden die Wirkungen der Wahlwerbung uberprufen,
Aufmerksamkeit gegenuber Wahlwerbung Den Parteien ist es im Bundestagswahlkampf 2002 sehr gut gelungen, sich mit ihrer Werbung gegen unzahlige andere Werbebotschaften durchzusetzen. Allein in der letzten Woche des Wahlkampfs konnten sich mehr als zwei Drittel der Wahler gestiitzt an Werbung von einer der vier etablierten Bundestagsparteien erinnem. Folglich sind im Verlauf des Wahlkampfs fast aIle Wahler in Kontakt mit Wahlwerbung gekommen. Entscheidend dafur, wie stark die Werbung beachtet wurde, war in erster Linie der Werbedruck. Hierfur spricht zum einen, dass die Werbung von SPD und Union auf deutlich mehr Aufmerksamkeit traf als die Werbung der Grunen und der FDP. Da den beiden groBen Parteien ein wesentlich hoheres Wahlkampfbudget zur VerfUgung stand als den kleinen 46, konnten sie auch entsprechend mehr Werbemittel einsetzen und diese breiter kommunizieren. Zum anderen erzielten aIle vier Parteien mit ihrer Werbung umso mehr Aufmerksamkeit bei den Wahlern, je starkeren Werbedruck sie ausubten. 1m Vergleich zur Quantitat war die Qualitat der Werbung von nachrangiger Bedeutung, wenn man allein die Aufmerksamkeit betrachtet. So wurde die Werbung von SPD und Union auch dann gleich stark beachtet, wenn beide Parteien qualitativ unterschiedliche Werbemittel einsetzten." Verschiedene Merkmale der Wahler konnen ebenfalls kaum erklaren, weshalb Wahlwerbung wahrgenommen wurde." Politisch Interessierte und Wahler mit Parteibindung kamen zwar eher in Kontakt mit Wahlwerbung als andere Wahler. Die Werbung der beiden groBen Parteien wurde jedoch auch von politisch N icht- Interessierten und Wahlern ohne Parteibindung stark beachtet. Dies lasst darauf schlieBen, dass Parteien durch einen starken Werbedruck selbst die Aufmerksamkeit von Burgem gewinnen konnen, die nicht aktiv nach Infonnationen tiber das Wahlgeschehen such en oder soIche Informationen sogar bewusst vermeiden wollen. Die Folge ist eine Art Wettrtisten: Wenn eine Partei einen starken Druck tiber bestimmte Werbemittel macht, ziehen die anderen Parteien im Bernuhen urn die Aufmerksamkeit der Wahler nach und halten dagegen. In deutschen Bundestagswahlkampfen aulsert sich dies durch eine "plakatierte" (d.h. mit Plakaten ubersate) Republik, in amerikanischen Prasidentschaftswahlkampfen durch die "Spotbombardements" in den Swing-States. Schaubild 1 zeigt, wie viele Wahler die Werbung der vier untersuchten Parteien im Verlauf des Wahlkampfs wahmahmen. Insgesamt kann man drei Phasen der Aufmerksamkeit differenzieren: eine Anfangsphase, eine Steigerungsphase und eine Kulminationsphase. In der Anfangsphase, die bis Ende Juli dauerte, waren lediglich einzelne Anzeigen und Plakate der Parteien zu sehen. Dies erklart, weshalb zu dieser Zeit nur eine Minderheit der Wahler Wahlwerbung beachtete. Es folgte zeitgleich mit der Flachenplakatierung die Stei-
46
47
48
222
Gruppen, die ideologische Orientierung, die Orientierung an politischen Sachfragen, Kandidatenimages und Vorstellungen vom Meinungsklima (vgl. Dahlem 2001: 447). Die SPD investierte etwa 26 Millionen Euro in ihre Wahlkampagne, die Unionsparteien 24,5 Millionen Euro, Bundnis 90/Die Grunen 3,5 Millionen Euro und die FDP 5,1 Mio. Euro. Die Ausgaben der Untergliederungen sind dabei nicht berUcksichtigt (vgl. Korte 2005: 109). Das war in den letzten fUnf Wochen des Wahlkampfes der Fall. Logistische Regressionsanalysen auf die Aufmerksamkeit der Wahlwerbung haben ergeben, dass die Parteibindung, das politische Interesse der Wahler, ihr Mediennutzungsverhalten und verschiedene soziodemographische Merkmale zusammen maximal 6% der Varianz (R2 nach Nagelkerke) erklaren konnen,
gerungsphase, in der sich die Aufmerksamkeitsstarke'" der Werbung drastisch erhohte . Ab Ende August setzten die Parteien neben bundesweiten Anzeigen- und Plakatkampagnen ihre Spots im Fernsehen ein. Da die Aufmer ksamkeitsstarke der Werbung bere its mit Beginn der heil3en Wahlkampfph ase ein sehr hohes Niveau erreicht hatte, zeigt sich in den letzten vier Wochen bis zur Wahl ein Deckeneffekt: In der Kulm inationsphase stieg die Aufmerksamke itsstarke zwar weiter an, allerdings nicht mehr so stark wie im August. Bis dahin hatten die Parteien vor allem mit ihren Plakatkampagnen die Aufmerksamkeit des Landes erobert und waren weithin sichtbar. FUr die Werbung der beiden grolien Parteien vollzog sich diese Entwicklung auf einem deutlich hoheren Niveau als fur die Werbung der beiden kleinen Partei en. Wahrend SPD und Union in der Woche vor der Wahl jeweils knapp 60 Prozent der Wahler mit ihrer Werbung erreichten, erzielte die Werbung von FOP und den Grunen in diesem Zeitraum etwas mehr als 40 Prozent Aufmerksamkeitsstarke.i" Schaubild I: Aufmerksamkeitsstarke der Wahlwerbung im VerIauf des Wahlkampfs Frage:
.Konnen Sie sieh in der letzten Woehe (von Montag bis einsehlieBlich Sonntag) an Werbung von der SPD (der CDUlCSU I den Grunen I der FPD) erinn ern?"
Phase 3: Kulmination der Aufmerksamkeit
70%
Wahl
60%
Phase 2: Steigerung der Aufme rksamkeit
50% 40% --
»: =7
10%
#
--- --. ... .... :-: .. , -.. .. . . ----.-: .. .. . .. ~
~
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24 -
25 SPD
.'
I
".
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.,
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Juni
KW23
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to
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%
... .- .. - .
A
30% 20%
~-
- -
Phase I : niedriges Niveau der Aufmerksamkeit
.-
August
Juli
26
27
28
-
29
30
CD U/CSU
31
32 -
33 -
34 • Gru ne
September
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36 -
37 -
38
39
• FDP
Basis: Befragte ab 18 Jahren (n = 5.624) Quelle: Zeitungsmonitor 2002
.9
Sf)
Die Aufmerksamkeitsstllrke der Werbung bezeiehnel den Antell der Personen, die sich gest utzt an Werbung erinnem konnen. Jc grober der Anteil an Personen ist, die sieh erinnem konnen, desto grober ist entspreehend die Aufrnerksamkeitsstark e. Die beiden Volksparteien befinden sieh dann auf einem Aufine rksamkeilsniveau, wie es nur wenige Werbungtreibende im Zeitungsmonitor erreiehen.
223
I
Verarbeitung von Wahlwerbung
Urn in einer entseheidungsrelevanten Situation einen Einfluss auf das Verhalten der Rezipienten auszuuben, muss Werbung insgesamt drei Dinge leisten: Erstens muss sie prasent sein, d.h. sie sollte sieh den Rezipienten einpragen, Zweitens muss sie die Rezipienten involvieren , indem sie ihr Interesse weekt. Drittens muss die Werbung den Rezipienten glaubhaft erseheinen, urn sie im intendierten Sinne zu beeinflussen. Denn vor allem die Glaubwurdigkeit der Werbung entseheidet daruber, wie sichdie Werbung auf das Verhalten der Rezipienten auswirkt." Die Starke der Wahlwerbung im Bundestagswahlkampf 2002 lag in ihrer Einpragsamkeit. In der heil3en Phase des Wahlkampfs empfanden mehr als die Halfte der Rezipienten die Werbebotsehaften der Parteien als einpragsam, was nieht zuletzt auf den starken Werbedruek der Parteien im September zuruckzufuhren ist. Dagegen wurde die Werbung mehrheitlieh als eher uninteressant und unglaubwurdig eingestuft. Dies traf noeh verstarkt auf ungebundene Wahler zu, deren Stimmen hierzulande entscheidend fur den Wahlsieg sind. Sehaubild 2 zeigt diese Zusammenhange. Sehaubild 2: Verarbeitung der Wahlwerbung in der heil3en Wahlkampfphase Frage :
.Finden Sie die Werbung der SPD (der CDUlCSU) ist eher glaubwurdig oder eher nieht glaubwurdig (eher einpragsam oder eher nieht einpragsam / eher interessant oder eher nieht interessant?"
.Jst eher einprligsam" SPD - aile Wahle r . . . - - - - - - - - - - - . -.".,.., 1~ 1 - - - - - - - - - - .
-=
CDU/CSU - aile Wahle r 1!!!;,! ....----------l SPD - Wahler ohne PI CDU/CSU - Wahler ohn e PI 1 - - - - - - - - - -........ ,.+.,.:;== - - - - - - - - -1 W",
.Jst eher interessant" 1-- - - - - - - - __....,.+-- - - - - - - - - - -1 SPD - aile Wahle r B I CDU/CSU - aile Wahle r 1----------:;= W',.:;:r= Y - - - - - - - - - - - - I SP D - Wahler ohn e PI CDU/CSU - Wahler ohne PI I-
• 11111 """"'~:;===L+------------I
.Jst eher glaubwiirdig" SPD _ aile Wahler I - - - - - - - - - - - ;""""= T + - - - - - - - - - - - - I
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~I CDU/CSU - aile Wahl er I---------:=~='T-+------------I SPD - Wahler ohne PI CDU/CSU - Wahler ohne PI 1--------;= ,.....,.-== - - + - - - - - - - - - - - - 1
oml
WII1JI
%
10%
20 %
30%
40 %
50 %
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70%
80%
90%
100%
Basis: Befragte ab 18 Jahren , die sich gestutzt an Wahlwerbung erinnern konnten (SPD : n = 756 bzw. 262; Union : n = 747 bzw. 242) Quelle : Zeitungsmonitor 2002, KW 36-39
51
224
Vgl. Schenk et al. 1990: 107ff.
Die Rezipienten beurteilten die Werbung der SPD in allen drei Punkten besser als die Werbung der Union. Dass die Werbung der SPD den Rezipienten einpragsamer erschien, kann daran liegen, dass auf den Werbemitteln der SPD vor aHem Bundeskanzler Schroder zu sehen war. Die Union zeigte dagegen uberwiegend unbekannte Testimonials anstelle ihres Kanzlerkandidaten. Forderlich auf die Glaubwurdigkeit und die Interessantheit der SPDWerbung hat sich vermutlich die Darstellung Schroders als hart arbeitender Staatsmann ausgewirkt. Denn Schroder versprach in der Werbung nicht nur Deutschlands Probleme anzupacken, es wurde auch gezeigt, dass er tatsachlich etwas unternahm. Mit diesem Konzept gelang es zwar, die Union zu uberholen, nichtjedoch das Wohlwollen der Mehrheit zu gewinnen. Die Union dagegen konzentrierte sich in ihrer Werbung auf den Angriff der SPD und malte die Situation des Landes in schwarzesten Zugen, statt den Wahlern jemanden an die Seite zu stellen, der sich fur sie einsetzt. Die Werbung der SPD pragte sich dam it gut ein, war jedoch nicht iiberzeugend interessant und glaubwurdig, Weniger noch beschaftigte die Werbung der Union die Wahler, sondem blieb eher blass und wenig relevant.
Erinnerung von Wahlwerbung Wie viele Wahler die Wahlwerbung langerfristig im Gedachtnis abspeicherten, hing ebenso wie die Beachtung der Werbung maBgeblich von der Menge der eingesetzten Werbemittel abo Je starker der Werbedruck wurde, desto mehr Wahler konnten sich auch ungesttitzt an die Werbung der Parteien erinnem. Infolgedessen hat sich die Erinnerungsleistungf der Werbung im Verlauf des Wahlkampfs ahnlich entwickelt wie die Aufmerksamkeitsstarke (Schaubild 3). Wahrend der Anfangsphase, die bis Ende Juli dauerte, drang die Werbung der vier Parteien bei vergleichsweise wenigen Wahlern ins Gedachtnis, Es folgte die Steigerungsphase, in der sich insbesondere die Erinnerungsleistung der Werbung von SPD und Union rasch und deutlich verbesserte. Aufgrund ihres geringeren Werbebudgets konzentrierten die beiden kleinen Parteien ihre Werbeaktivitaten noch starker als die beiden groBen Parteien auf die heiBe Wahlkampfphase in den letzten Wochen vor der Wahl. Dies wirkte sich starker auf die Erinnerungsleistung ihrer Werbung aus als auf die Aufmerksamkeitsstarke. Damit sich die Werbung der Parteien im Gedachtnis der Wahler verankerte, war offenbar ein grofierer Werbedruck erforderlich. DafUr spricht, dass die Erinnerungsleistung der Werbung von Grunen und FDP im Unterschied zur Werbung von SPD und Union im Verlauf des Wahlkampfs keine Kulminationsphase erreichte, sondem bis zuletzt stetig anstieg. Obwohl sichdie Erinnerungsleistung der Werbung von Grtmen und FOP im September noch einmal deutlich verbesserte, wurde die Werbung der kleinen Parteien durchweg schlechter erinnert als die Werbung der groBen Parteien. Wahrend die Werbung von SPD und Union in der letzten Woche des Wahlkampfs von knapp der Halfte der Wahler im Gedachtnis abgespeichert wurde, erinnerten sich weniger als ein Drittel der Wahler ohne weitere Stutzung an die Werbung von Grtinen und FDP.
52
Die Erinnerungsleistung der Werbung bezeichnet den Anteil der Personen, die sich ungestiitzt an Werbung erinnem konnen.
225
Schaubild 3: Erinnerungsleistung der Wahlwerbung im Verlauf des Wahlkampfs .Konnen Sic sieh in der letzten Woehe von Montag bis einsehlieBlich Sonntag an Parteienwerbung erinnem? Und wennja, von welehen Parteien konnen Sic sieh an Werbung erinnem? "
Frage:
Phase 3: Kulmination der 70% ~ r----------------------- Erinnerungsleistung 60% 1- -
-
-
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50% 1- -
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40% 1- -
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-1
-'
-'
Phase 2: Steigerung der Erinnerungsleistung
- Phase I: niedriges Niveau dcr Erinnerungsleistung
20% 1- -
-
-
,
Se tember 34 -
SPO
-
cou/csu
•
•
- Griine
35
36 -
37 -
38
39
• FOP
Basis : Befragte ab 18 Jahren (n = 5.624) Quelle : Zeitungsmonitor 2002
Bemerkenswert ist, dass die Werbung der SPD in den letzten vier Wochen des Wahlkampfs eine grolsere Erinnerungsleistung erzielte als die der CDU/CSU, obwohl die Werbung beider Parteien in diesem Zeitraum eine vergleichbare Aufmerksamkeit band . Eine mogliche Erklarung hierfUr ist, dass die Union gegen Ende des Wahlkampfs aufgrund ihres kleineren Werbeetats nieht mehr einen ganz so starken Werbedruck wie die SPD ausuben konnte . Gegen diese Annahme spricht, dass die CDU/CSU sogar mehr Wahlwerbespots im Femsehen sendete als die Sozialdemokraten." Die Parteibindung der Wahler kann eben falls nicht erklaren , weshalb die Werbung der SPD gegen Ende des Wahlkampfs besser erinnert wurde. Folglich muss die Ursache fUr die bessere Erinnerungsleistung der SPD-Werbung in der Qualitat der Werbung Iiegen. In der heiJ3en Wahlkampfphase setzten die Sozialdemokraten atmospharische Anzeigen, Plakate und TV-Spots ein, die sich grundlegend von den Werbemitteln aller anderen Parteien unterschieden. Die Werbemotive erwecken den Eindruck, es handle sich urn Schnappschusse aus Schroders Arbeitsalltag. Schroder wird als hart arbeitender Kanzler dargestellt, u.a. wie er am Schreibtisch sitzt und ein Dokument unterschreibt. Bei der Lichtgestaltung der gezeigten Szenen wird auf eine aus Filmen bekannte Technik zuruckgegriffen: den Low-Key-Stil. Charakteristisch fur diese Art der Ausleuchtung sind ausgedehnte, wenig oder Uberhaupt nicht durchzeichnete Schattenflachen, die eine dramatische Atmosphare erzeugen. Durch schroffe Hell-Dunkel-Kontraste und abgeS3
226
Aus den Kampagnenberichten der beiden Parteien geht hervor, dass die SPD im Bundestagswahlkampf 2002 insgesamt 236 TV-Spots sendete, die Union 351 (vgI. SPD-Parteivorstand 2002 : 21; CDU-Bundesgesehaftsstelle 2002 : 23).
rnilderte Ubergange wird dartiber hinaus der Eindruck ungeschminkter, harter Realitat vermittelt." Die Einzigartigkeit und Neuartigkeit der atmospharischen Werbernittel war vermutlich ausschlaggebend dafiir, dass sich die Werbung der SPD besonders gut irn Gedachtnis der Rezipienten verankert hat. Dies sagt jedoch noch nichts uber ihre Wirkungen auf die Wahlentscheidung aus.
Wahlwerbung und Wahlentscheidung Die Wirkung der Parteienwerbung auf die Wahlentscheidung muss im Kontextweiterer Faktoren betrachtet werden. Zusatzlich zur Wahrnehmung und Bewertung der Werbung" berucksichtigen wir im Folgenden zurn einen die drei klassischen Erklarungsfaktoren der Michigan-Schule", also die Parteibindung der Wahler, die Bewertung der Kandidaten und die wahrgenornrnene Problemlosungskompetenz der Parteien." Zurn anderen gehen verschiedene soziodemographische Merkmale der Wahler als Indikatoren fur deren soziales Umfeld in die Analyse ein sowie die Einschatzung der zukunftigen Wirtschaftslage Deutschlands als Indikator fur das Stimmungsklima. Bevor wir zur Darstellung der Befunde der logistischen Regressionen kommen, ist ein kurzer Blick auf die Entwicklungen des Ereignisrahmens sowie der Medienberichterstattung notig, da sich in den letzten vier Wochen des Wahlkampfes ein radikaler Themenwechsel vollzog. In einer .Jahrhundertflut" trat die Elbe uber die Ufer, uberschwemrnte weite Teile des Landes und stellte fur zahlreiche Burger in der Region eine existenzielle Bedrohung dar. Dieses Ereignis passte optimal in das Berichterstattungsschema der Massenmedien und insbesondere des Femsehens, da es sowohl Dramatik als auch Dynamik besaB. Taglich waren bedrohliche und glaubwurdige Bilder verfUgbar, gingen uber die Sender und steigerten sich im weiteren VerIauf mit dem Ansteigen des Wassers bis uber die kritischen Pegel. Gleichzeitig erwies sich die Bevolkerung als ausgesprochen hilfsbereit und zuversichtlich, die Herausforderung durch die Natur zu meistem. Damit waren Bilder verfiigbar, die dem Stereotypen vom .Jrilflosen Ostdeutschen" ein Gegenbild boten, das auch als Identifikationsobjekt fur das gesamte Land dienen konnte: Man kann sich aus eigener Kraft aus der Krise befreien. Schroder erkannte die einrnalige Gelegenheit und setzte sich an die Spitze der Unterstutzungsbewegung, In der Manier "eines Deichgrafen" prasentierte er sich zugleich entschlossen und solidarisch. Dagegen musste Kanzlerkandidat Stoiber erst uberzeugt werden, seinen Urlaub abzubrechen und war erst Tage nach Schroder im Katastrophengebiet prasent. Die Elbe-Flut und der Umgang der Bundesregierung damit war auch ein wichtiges Thema der ersten Femsehdebatte im Bundestagswablkampf zuoz."
54 55 56 57
58
Vgl. Hicketier 2001: 80. Zu den Faktoren der Wahlentscheidung vgl, umfassend Dahlem (2001). Vgl. Campbel1 et al. 1960. Berucksichtigt werden nur die Kandidatenmerkmale, die das Gesamtbild der Kandidaten Regressionsanalysen zufolge am starksten pragten (Sympathie, Vertrauenswurdigkeit, Ausstrahlung, Wirtschaftskompetenz, Reprasentation Deutschlands im Ausland) sowie die Themen, die fur die Wahler in der heiBen Phase des Wahlkampfs am wichtigsten waren (Arbeitslosigkeit, Steuer, Kinder/Farnilie). Vgl. Maurer & Reinemann 2003.
227
Tabelle 3: Ursachen der Wahlentscheidung in der heiBen Wahlkampfphase - Binare logistische Regression Modell 1 (KW 36-39)
Modell 2 (KW 36-37)
Modell 3 (KW 38-39)
SPD Exp(B)
Union Exp (B)
SPD Exp (B)
Union Exp (B)
SPD Exp (B)
Union Exp(B)
Parteiidentifikation
9,63**
31,90**
12,78**
38,72**
8,88**
57,16**
Problernlosungskompetenz .Arbeitslosigkcit"
2,50**
2,71 **
3,18**
3,75**
2,02*
Problemlosungskompetenz "Steuer" Problemlosungskompetenz
22,93**
0,12**
~~KinderlFami1ie"
Allgemeine Bewertung des Kandidaten
3,57**
Sympathie des Kandidaten
1,91*
Vertrauenswurdigkeit des Kandidaten
1,73*
5,01 **
5,88**
3,35*
2,41*
12,15**
2,10* 2~ 14*
3,92**
3,52*
Ausstrahlung des Kandidaten Wirtschaftskompetenz des Kandidaten
2,38**
Reprasentation Deutschlands im Ausland durch den Kandidaten
3,35*
1,99*
2,89*
Stimrnungsklirna"
1,77*
Geschlecht (Referenz: Frauen) Alter Bildung Aufmerksamkeit gegen .. tiber Wahlwerbung
0,52*
0,52*
0,38*
0,35*
Einpragsamkeit der Werbung Interessantheit der Werbung GlaubwUrdigkeit der Werbung
1,94*
3,20*
Entscheidungsimpuls der Werbung Pseudo-R" (Nagelkerke)
0,65**
0,77**
0,69**
0,80**
0,64**
Ausgewiesen sind nur signifikante Effekte: *p<0,05, **p
228
0,78**
Parallel zu dieser Entwicklung drehten sich die Zukunftserwartungen der Bundesburger zur wirtschaftlichen Entwicklung von einer negativen in eine positive Perspektive.l" Hoffnung kam auf, dass sich die Bundesburger ahnlich der Flut aus ihren Schwierigkeiten selbst befreien konnten, Dies kann mit einer steigenden Wahlabsicht zugunsten der SPD insbesondere bei den unentschiedenen Wahlern verbunden werden, die bis zum Wahltag immer starker aufholte und eine vermeintlich verlorene Wahl noch knapp gewann/" Die starken Veranderungen in den letzten vier Wochen veranlassten uns, drei verschiedene Regressionsmodelle zu rechnen, zunachst ein traditionelles, das die gesamten letzten vier Wochen umfasst, im weiteren zwei dynamisch angelegte, in denen wir zunachst die ersten und dann die letzten beiden Wochen des Wahlkampfes betrachten. Geman den skizzierten Entwicklungen kommen die drei Modelle zu unterschiedlichen Ergebnissen/" Die Parteibindung leistet in allen drei Modellen mit Abstand den grobten Erklarungsbeitrag. Vor allem die Anhanger der CDU/CSU beabsichtigten mit hoherer Wahrscheinlichkeit als andere Wahler, der Union ihre Stimme zu geben. Auch die Einschatzung der Parteien und der Kandidaten konnen die Wahlabsicht erklaren, wornit die Analyse den Ansatz der Michigan-Schule in seinen Grundzugen bestatigt, Uberraschend sind dagegen die Ergebnisse zur Wirkung der Wahlwerbung auf die Entscheidungsbildung. Die Aufmerksamkeit gegenuber Wahlwerbung hatte im ersten Modell sowohl fur die SPD als auch fur die Union einen eigenstandigen Einfluss auf die Wahlabsicht, allerdings einen negativen. Dies bedeutet, dass Wahler, die mit Werbung der SPD bzw. der Union in Kontakt gekommen waren, eher nicht dazu tendierten, die werbende Partei zu wahlen, Die Werbung der SPD wirkte sich nur unter einer Bedingung positiv auf die Wahlabsicht aus, namlich dann, wenn die Wahler sie als glaubwurdig empfanden. Die GlaubwUrdigkeit der SPDWerbung hatte sogar einen ahnlich starken Einfluss auf die Wahlabsicht wie die Sympathie und die Vertrauenswurdigkeit Schroders, Hier zeigt sich ein .Paradoxon" der Wahlwerbung im Bundestagswahlkampf 2002: Sie wirkte bei einer Minderheit der Wahler, die sie als glaubwurdig ernpfanden, positiv auf die Wahlentscheidung. Die Mehrheit der Wahler schreckte die Werbung allerdings eher ab, da sie den Botschaften wenig Vertrauen schenkten. Im Folgenden betrachten wir die Ergebnisse von Modell 2, das den Anfang der heiBen Wahlkampfphase umfasst, und Modell 3, das sich tiber die letzten beiden Wochen bis unmittelbar zum Wahltag erstreckt.Y Zu Beginn der heilsen Wahlkampfphase zeigten sich der negative Aufmerksamkeitseffekt sowie der positive Glaubwurdigkeitseffekt der SPD-Werbung noch starker. Im Unterschied dazu hatte die Werbung der Union in diesen beiden 59
60 61
62
Die Erwartungen, dass sich die Wirtschaft in einem Jahr gut entwickelt, stieg von August bis September 2002 von 32% auf 39%, wahrend gleichzeitig der Anteil derjenigen, die eine schlechte Wirtschaftentwicklung erwarteten, von 450/0 auf 3] % sank (vgl. ZMG Zeitungsmonitor). Vgl. ebd. Unsere Analysen fuhren uns zu der Vermutung, dass ein Teil der eher punktuell angelegten Wahlforschung mit ihren stationaren Regressionsmodellen der Dynamik modemer Wahlkampfe nicht gerecht wird. Vielmehr sollte es zu einem Standardverfahren werden, auch kurzere, inhaltlich abgrenzbare Phasen des Wahlkampfes zu untersuchen und durch den Vergleich der verschiedenen Phasen den Charakter der Entscheidungsdynamik herauszuarbeiten. Beide Madelle zeigen interessante Differenzierungen zum Einfluss von Kandidaten und Themen auf die Wahlentscheidung. So konnte z.B. zu Beginn der heiBen Wahlkampfphase lediglich der Gesamteindruck, nicht aber einzelne Charaktereigenschaften der Kandidaten die Wahlabsicht erklaren, Dies spricht fur die Vermutung, dass die Wahler ihre Vorstellungenvon den einze1nen Eigenschaften der Kandidaten im Verlauf des Wahlkampfs sowohl ihrem Gesamteindruckanpassen (vgl. hierzu Kepplinger & Maurer 2005: 119ft), als auch im Einklang damit weiter ausdifferenzieren.
229
Wochen keinen signifikanten Eintluss auf die Wahlabsicht: Sie war zwar sichtbar, aber nicht mit der Entscheidung verbunden. In den letzten beiden Wochen vor dem Wahltag ergab sich dann ein deutlich verandertes Bild. Die Werbung der SPD trug zwar nicht entscheidend zum Wahlerfolg der Partei bei - imrnerhin wirkte sie sich aber nicht mehr kontraproduktiv auf die Wahlabsicht aus. Stattdessen hatte sie keinen eigenstandigen Eintluss auf das Entscheidungsverhalten der Wahler mehr. Anderes gilt fur die Werbung der Union: War sie zu Beginn der heiBen Wahlkampfphase noch nicht entscheidungsrelevant gewesen, so zeigte sich ein Negativeffekt erst unmittelbar vor der Wahl. Diese deutlichen Veranderungen durften mit dem Stimmungsklima zusammenhangen, das fur die SPD gegen Ende des Wahlkampfs an positiver Dynamik gewann: Wahler, die die zukunftige wirtschaftliche Entwicklung positiv sahen, waren eher dazu geneigt, die Sozialdemokraten zu wahlen, Diese "optimistischen" Wahler wurden insbesondere im Kontext des Umganges von Kanzler Schroder mit der Elbe-Flut hinzu gewonnen. Unmittelbar vor dem Wahltag waren die Sympathie und die Vertrauenswurdigkeit der Kandidaten von entscheidender Bedeutung fur das Entscheidungsverhalten der Wahler. Die Bundesburger entschieden sich zuletzt fur den amtierenden Kanzler, dem sie eher zutrauten, sie mit Sympathie und Vertrauen in eine positive Zukunft zu fuhren, Dagegen wehrten sie sich gegen den Kandidaten, dessen Angriffswahlkampf das positive aufkommende Stimmungsklima konterkarierte. Zusammenfassung und Schlussbemerkung Der vorliegende Beitrag hat verschiedene Erkenntnisse zur Wahrnehmung und Wirkung von Parteienwerbung in Bundestagswahlen herausgearbeitet, die sich in folgenden Punkten zusammenfassen lassen. Erstens, bauen die Parteien mit ihrer Wahlwerbung in den klassischen Medien Plakat, Femsehen und Zeitung einen enonnen Kommunikationsdruck auf und machen sowohl die Kandidaten als auch die Botschaften im ganzen Land sichtbar. Wahlwerbung hat damit enorme Aufmerksamkeits- und Awareness- Wirkungen. Zweitens, konnen weder die beiden groBen Volksparteien noch die beiden kleineren Parteien einen Aufmerksamkeitsvorsprung untereinander herausarbeiten. Dies mag daran liegen, dass die Werbeetats ahnlich hoch waren und dass die Mediaselektion vergleichbar ist - mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der Plakatwerbung, urn die eigenen Parteimitglieder und Stammwahler zu aktivieren. Hier versuchen die Parteien, sich Paroli zu bieten, was im GroBen und Ganzen auch gelingt. Drittens, hat die Parteienwerbung ein Verarbeitungsproblem. Sie wird nur von einer Minderheit als glaubwurdig eingeschatzt und gilt ebenfalls nur selten als eine wichtige Hilfe bei der Entscheidungsbildung. Oer tatsachliche Einfluss von Wahlwerbung auf die Wahlentscheidung scheint jedoch deutlich starker zu sein als es den Wahlern bewusst ist. Viertens, wird die Werbung einer Partei dann besonders gut erinnert, wenn die Botschaften und Visualisierungen besonders realistisch erscheinen und einpragsarn sind. Erst dann wird Werbung "ernst" und es lohnt sich fur den Wahler, auf die Botschaften einzu-
230
gehen und sie im Gedachtnis zu speichern." Das heiBt jedoch nicht, dass sie seine Wahlentscheidung in jedem Fall positiv beeinflusst. Fiinftens, konnen keine allgemeingultigen Aussagen zu den Wirkungen der Wahlwerbung auf die Wahlentscheidung gemacht werden. Die Effekte scheinen vielmehr davon abzuhangen, wie stark die Werbung im Einklang mit der politischen Lage, der Offentlichkeitsarbeit der Parteien und der Medienberichterstattung steht. Tut sie das nicht, kann die Wahrnehmung von Werbung im Extremfall sogar das Gegenteil bewirken und von der Entscheidung fur eine Partei abstoBen, da sie als unglaubwurdig empfunden wird, was sich moglicherweise auf den Absender ubertragt,
1m ersten Schritt geht es bei der Werbekommunikation also darum, genug Werbedruck gegenuber den konkurrierenden Parteien aufzubauen. Das ist im Bundstagswahlkampf2002 sowohl den Unionsparteien als auch der SPD als Volksparteien und den kleineren Partien FOP und den Grunen im Rahmen ihrer Etatmoglichkeiten gelungen. Die Parteien gewannen so Sichtbarkeit gegenuber ihrer Kemklientel und ihren Parteimitgliedem. Dies ist eine zentrale Voraussetzung fur die Mobilisierung der Anhanger und der Stammwahlerschaft, Auf einem anderen Blatt steht, was die Parteien an die Wahlerschaft kommunizierten und wie dies zur Entscheidungsbildung beitrug. Die SPD prasentierte in ihrer Wahlwerbung einen fUr das Land arbeitenden Kanzler, der sich den Wahlern gut einpragte, in den ersten beiden Wochen der heiBen Phase des Wahlkampfes aber etwas deplatziert wirkte. Der im "Halbdunkel der Werbung" fur Deutschland aktive Kanzler erschien vor dem Hintergrund einer noch im Fruhjahr betriebenen .Politik der ruhigen Hand" sowie aktueller bedrohlicher Wirtschaftsentwicklungen erklarungsbedurftig, Dies unterstrich die Union mit ihrem Slogan "Zeit fur Taten" und kritisierte Schroder als "Tu-nix-Kanzler". Sie prasentierte sich als Kritiker der wirtschaftlichen Entwicklungen in Deutschland und propagierte die Erfolglosigkeit der rot-grunen Koalition, was fur die meisten Wahler nach vier Jahren jedoch noch nicht ausgemacht war. 1m Kern ging es also urn die Frage, welche der beiden Volksparteien die Bundesrepublik in eine hoffnungsvolle Zukunft fuhren kann: Die SPD mit ihren ersten Versuchen, das Land nach sechzehn Jahren schwarz-gelber Koalition auf einen neuen Weg zu bringen, oder die Union mit einem neuen Konzept zur wirtschaftlichen Erneuerung aus der Opposition heraus. FUr die Entscheidung zwischen diesen beiden Altemativen schienen der noch ambivalenten Wahlerschaft klare Bilder und Reprasentationen erforderlich. Ein Kristallisationspunkt dabei war der Umgang mit der .Jahrhundertflut" der Elbe. Diese Naturkatastrophe, die als ein Sinnbild fUr das drohende "Land unter" der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland aufgefasst werden konnte, wurde von Bundeskanzler Schroder als .Deichgraf" entschieden angepackt, wahrend sein Kontrahent Stoiber zauderte und erst durch seinen Wahlkampfberater aus dem Urlaub zuruckgerufen werden musste. Die Wahler lemten die Lektion, dass sie mit dem "emsten Mann fur ernste Zeiten" vielleicht in der Kommunikation aber nicht in der realen Situation rechnen konnten. Vielmehr ergaben jetzt die Bilder des hart fur Deutschland arbeitenden Kanzlers Schroder einen Sinn, und Hoffnung keimte auf, dass der entschiedene Mann auch das Staatsschiff wieder auf eine erfolgreiche und ruhige Bahn mit sicherer Zukunft navigiert. Parallel dazu bewarb die 63
Die Variable ungestutzte Werbeerinnerung, auf die sich dieser Befund bezieht, gilt als ein Indikator fur das Speichem globaler Werbebotschaften im Gedachtnis der Befragten und beschreibt ein Wirkungskonzept, das sich als .kognitive Verankerung" beschreiben lasst (vgl. Dahlem & Kretschmer 2004).
231
SPD in Zeitungsanzeigen die eigenen Leistungen und verglich sie mit Versaumnissen der Vorgangerregierung. Sie folgte dabei einer Strategie der vergleichenden Werbung, die sie bei der Eroberung des Kanzleramtes vier Jahre zuvor noch eleganter angewendet hatte: "Wir machen nicht alles anders, aber vieles besser." Dagegen bekam die Union mit ihrem eindimensionalen Angriffswahlkampf zunehmend ein Akzeptanz- und Glaubwurdigkeitsproblem. In ihrer Kampagne war sie zu berechenbar, auBerdem wusste sie die unvorhergesehenen politischen Ereignisse nieht zu nutzen." Die vorliegenden Ergebnisse deuten auf ein .Paradoxon" der Wahlwerbung hin. Auf der einen Seite geht es darum, eine moglichst groBe Aufmerksamkeit zu gewinnen und damit die eigenen Potenziale zu rnobilisieren. Urn im Angriffswahlkarnpf den Gegner mit einer negativen Kampagne zu uberziehen und zu spalten, kann haufig kein Klotz grob und kein Keil breit genug sein. Auf der anderen Seite sollen jedoch auch die unentschiedenen Wahler erobert werden, die durch einen Angriffswahlkampf eher abgestoBen werden. Hierfur bietet sich die positive Eigendarstellung oder vergleichende Werbung an. Die positive Selbststilisierung kann dabei auf Glaubwlirdigkeitsprobleme stoBen, selbst wenn sie strategisch und professionell abgeleitet und entwiekelt wird, wie das Beispiel der SPD-Kampagne im Bundestagswahlkampf 2002 zeigt. Erst als sie durch das Handeln Schroders in der Bewahrungsprobe der Elbe-Flut eine Entsprechung fand, nutzte die Kampagne der Sozialdemokraten jetzt durch ihre Siehtbarkeit, ohne wie zuvor durch ihre noch fehlende Glaubwurdigkeit zu schaden. Dies scheint die zentrale Erkenntnis zu den Werbewirkungen im Bundestagswahlkampf2002: Findet die Werbung keine ausreichende Entsprechung in der politischen RealiHit sowie der Berichterstattung der Massenmedien, wird sie mehrheitlich aIs unglaubwurdig empfunden und schreckt Wahler eher von der Entscheidung fur die werbende Partei abo Attackiert eine Partei dann noch in einem eindimensionalen Angriffswahlkampf ihren politischen Gegner sowie die aktuelle politische Situation und verdirbt eine autkeimende Hoffnungsstimmung, wie es die Union im Bundestagswahlkampf2002 tat, ist ihr ein BumerangEffekt sicher, wie ihn Hovland in seinen Studien zur persuasiven Kommunikation bereits in den 40er Jahren herausgearbeitet hatte. Hovland wies ebenfalls schon auf die Konzepte des Vertrauens und der Glaubwurdigkeit hin, die nichts von ihrer Aktualitat eingebulst haben. Sie erscheinen vielmehr als zentral fur das Verstandnis der Kommunikationswirkungen und Entscheidungstreiber in modemen Wahlkampfen, Dies genau herauszuarbeiten - wie man Glaubwurdigkeit auf der Stimulusseite erzeugen und in der Wahrnehmung auf der Responseseite gewinnen kann - ist eine zentrale Frage fur die kunftige Forschung.
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Der Faktor Amerika im Wahlkampf 2002 Von Birgit Laube
Der Faktor Amerika hat in den Wahlkämpfen der Bundesrepublik immer eine zentrale Rolle gespielt.1 Von Konrad Adenauer zu Helmut Kohl haben alle Bundeskanzler ihre Beziehungen zu den amerikanischen Regierungen innenpolitisch instrumentalisiert. Das gilt auch für deren Herausforderer, die in Wahlkampfzeiten besonders intensiv die Nähe zur westlichen Führungsmacht zu demonstrieren suchten. Von den meisten Wählern wurden gute deutsch-amerikanische Beziehungen als das „zweite Grundgesetz“ der Bundesrepublik angesehen. Daher wurde es von vielen Bundesbürgen als radikale Zäsur empfunden, als Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahre 2002 nicht Wahlkampf mit Amerika, sondern „gegen“ Amerika führte. Auch 2002 war der Faktor USA zentrales Element des Wahlkampfes – allerdings mit negativen Vorzeichen. Schröder versuchte mit seiner Kritik an der Irak-Politik der Regierung George W. Bush wahlpolitisches Kapital zu schlagen. Dabei kam ihm zugute, dass der Irak nach dem 11. September in den weltpolitischen Mittelpunkt gerückt war. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass der irakische Diktator Saddam Hussein versuchte, sich einer effektiven Rüstungskontrolle durch die Vereinten Nationen zu entziehen, und die Bush-Administration ihre Politik gegenüber dem Irak verschärfte. Position der Regierung Schröder Gerhard Schröder war sich bewusst, dass ein von amerikanischer Seite erwarteter Beitrag der Bundesrepublik zu einem Einsatz im Irak in der deutschen Öffentlichkeit höchst unpopulär und nur schwer durchsetzbar sein würde. Auch für Schröder war ein deutscher Truppeneinsatz im Irak zu keiner Zeit eine politische Option. Dies machte er im Spätsommer 2002 in vielen Reden und Interviews unmissverständlich deutlich. In seiner Rede zu Eröffnung der heißen Wahlkampfphase am 5. August 2002 in Hannover wurde das Irak-Problem thematisiert.2 Ausgangspunkt war die Definition deutscher Interessen. So vertrat Schröder – gestützt auf einen Beschluss des SPD-Präsidiums3 – die Auffassung, dass man sich „auf den Weg gemacht“ habe, „auf unseren deutschen Weg“. Wenn er wiederholt von einem „deutschen Weg“ sprach, dann bezog er das zunächst nicht primär auf die Außenpolitik, sondern auf die innenpolitische Entwicklung und im Besonderen die Sozialpolitik. Allerdings problematisierte Schröder auch Deutschlands neue Rolle in der Welt, wie sie sich für ihn aus der internationalen Konstellation nach dem Ende des Kalten Krieges darstellte. „Selbstbewusstsein ohne Überheblichkeit“ lautete seine einprägsame Formel. Er definierte deutsche Außenpolitik als Friedenspolitik. Demonstrativ stellte er die rot-grüne Außenpoli1 2
3
Für zahlreiche Anregungen danke ich Prof. Dr. Hans-Jürgen Schröder, Universität Gießen. Rede von Bundeskanzler Schröder zum Wahlkampfauftakt am Montag am 5. August 2002 in Hannover (www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/SPD_Schroeder_Rede_WahlkampfauftaktHannover.pdf; 21.07.04). Dies teilte SPD-Generalsekretär Franz Müntefering der Öffentlichkeit mit; vgl. Sturm 2002: 2; außerdem Münteferings Äußerung: „Wir gehen unseren deutschen Weg“, zitiert nach: Vom „Deutschen Weg“ zur Normalität? In: Die Welt, 7. August 2002, S. 2.
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tik in die Kontinuität der Friedenspolitik der sozialdemokratischen Bundeskanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt. Die von ihm geführte Bundesregierung sei nicht bereit, auf militärische „Abenteuer“ einzugehen: „Spielerei mit Krieg und militärischer Intervention – davor kann ich nur warnen. Das ist mit uns nicht zu machen.“ Natürlich stehe Deutschland eng verbunden auch weiterhin an der Seite der Vereinigten Staaten. Allerdings werde die Regierung nicht wieder den „bequemen Ausweg gehen“ und sich etwa wie unter Helmut Kohl von seinen internationalen Verpflichtungen mit finanziellen Mitteln freikaufen. Die Zeit der „Scheckbuchdiplomatie“ sei endgültig vorbei. Eine große Wahlveranstaltung am 15. September 2002 bot ein „Novum der deutschen Wahlkampfgeschichte“.4 Erstmals warben „die Spitzenkadidaten konkurrierender Parteien“ gemeinsam um die Stimmen der Wähler. Demonstrativ stellte der Kanzler argumentativ und optisch den Zusammenhang zwischen Außenpolitik und Wahlkampf her, als er zusammen mit dem Außenminister für eine Fortführung der rot-grünen Koalition warb. Die nächsten vier Jahre, so Schröder, wolle er „mit diesem und keinem anderen Außenminister“ weiterarbeiten. Fischer bekräftigte seinen Anspruch auf das Auswärtige Amt. Er wolle zwar nicht Kanzler werden, aber „unter Gerhard Schröder vier weitere Jahre als Außenminister Verantwortung für unser Land tragen“.5 Beide Politiker wiederholten ihr „Nein zu einem Krieg im Irak“.6 Dass zwischen Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer eine prinzipielle Übereinstimmung in der Ablehnung eines Irak-Kriegs und einer deutschen Beteiligung bestand, zeigte sich allerdings nicht erst in diesem gemeinsamen Wahlkampfauftritt, denn auch in Fischers Wahlkampf spielten der Irak und die amerikanische Außenpolitik zentrale Rollen. Akzentuierter als der Kanzler ordnete Fischer die amerikanische Irak-Politik immer in die gesamte Nahost-Problematik ein und forderte insbesondere, im israelisch-palästinensischen Konflikt nach Lösungen zu suchen. Zu Beginn der heißen Wahlkampfphase erläuterte der Außenminister in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung seine Grundposition zur Irak-Frage.7 Er bezeichnete es als „unkalkulierbares Risiko“, im Irak einen neuen Konflikt zu eröffnen. Priorität müsse der Kampf gegen den „islamischen Terrorismus“ haben. Hier warf er allerdings die Frage auf, ob in diesem Zusammenhang der Irak zu nennen sei. Der Außenminister bezweifelte, ob die USA sich „über die Risiken im Klaren“ seien, die eine „völlige Neuordnung“ durch militärisches Eingreifen mit sich bringen würde. Für die USA bedeute das vielleicht eine „jahrzehntelange Präsenz in dieser Region“. Ob die USA hierzu bereit seien, „ist mehr als offen“. Überdies müsse man bei einem etwaigen verfrühten Rückzug aus der Region mit „fatalen Konsequenzen“ rechnen.8 Der Kurs der Bundesregierung zur Irak-Frage und zur amerikanischen Irak-Politik stieß in der SPD-Fraktion auf breite Zustimmung. Hier setzte man klar die Priorität auf friedliche Mittel zur Lösung der strittigen Fragen. Allerdings mündete die Erkenntnis einiger SPD-Abgeordneter, dass man der amerikanischen Hegemonie weitgehend ohnmächtig gegenüberstand, in verbalen Attacken gegen den amerikanischen Präsidenten und dessen Politik. Innerhalb der SPD-Fraktion erregte vor allem Fraktionschef Ludwig Stiegler mit amerikakritischen Äußerungen Aufsehen. Er sagte in einem Interview, die US-Regierung 4 5 6 7
8
Schubert 2002: 18. Zitiert nach Zylka 2002: 7. Streib 2002: 5 Joschka Fischer warnt vor einem Militäreinsatz gegen Saddam Hussein. In: Süddeutsche Zeitung, 7. August 2002, S. 9. Ebd.
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unter George W. Bush betrachte sich als das „neue Rom“ und ihre Verbündeten als „Verfügungsmasse“. Bush benehme sich, „als sei er der Princeps Caesar Augustus und Deutschland die Provincia Germania“. In diesem Zusammenhang verglich Stiegler den amerikanischen Botschafter in Berlin, Daniel Coats, mit dem ehemaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Andrejewitsch Abrassimow. Stiegler unterstellte dem Amerikaner, er wolle die Richtlinien der deutschen Außenpolitik bestimmen.9 Hinzu kam ein nicht wortgetreu überlieferter Vergleich von Präsident Bush mit Adolf Hitler durch Justizministerin Hertha Däubler-Gmelin, der zu einem Eklat führte und die deutsch-amerikanischen Beziehungen noch zusätzlich belastete. Derartige Vorfälle „erleichterten es der US-Administration in teils echter, teils inszenierter Entrüstung, den alten Bündnispartner mit Liebesentzug zu bestrafen“.10 Die rigorose Ablehnung einer amerikanischen Militärintervention im Irak durch die Bundesregierung und SPD-Fraktion wurde von Bündnis 90/Die Grünen uneingeschränkt unterstützt. Für die Grünen war die strikte Haltung des Kanzlers auch deshalb positiv, weil ihnen interne Spannungen erspart blieben. Schließlich war Friedenspolitik ein Eckpfeiler im grünen Selbstverständnis. Die Bundesregierung und die sie tragenden politischen Parteien vertraten in der Irak-Frage mithin weitgehend homogene Positionen: Ablehnung einer militärischen Intervention, Priorität der Diplomatie, Kritik am amerikanischen Unilateralismus, Betonung der UNO. Dem gegenüber gelang es der Opposition nicht, in der Irak-Frage eine einheitliche Position zu entwickeln. Kritik der Opposition Der Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber hatte während des Wahlkampfes das Problem, in den persönlichen Zustimmungsraten nicht an Gerhard Schröder heranzureichen.11 Bereits während der Flut-Katastrophe war der Kanzler klar als Macher aufgetreten und damit schon mit Vorsprung in die heiße Wahlkampfphase gestartet. In der Irak-Frage befand sich die Union wahlkampftaktisch in einem Dilemma. Die Union und Stoiber selber wollten einerseits treu an amerikanischer Seite stehen, andererseits spürte auch der Kanzlerkandidat die Stimmungslagen der Bevölkerung gegen einen Irak-Krieg.12 Diese Ambivalenz mag erklären, warum Stoiber in der heißen Wahlkampfphase keine eindeutigen und eigenständigen Positionen zum Thema Irak bezog. Statt offensiv eigene Konzeptionen zu vertreten, reagierte er in erster Linie auf Schröders Politik und griff den Kanzler persönlich an. So warf er Schröder die Formulierung des „deutschen Weges“ vor, den man immer wieder mit dem „geschichtsträchtigen deutschen Sonderweg“ assoziiere.13 Für Stoiber und die Union gebe es „nur einen europäischen, aber keinen deutschen Weg in der Außenpolitik“. Während Stoiber den Parteien der rot-grünen Koalition allgemein Antiamerikanismus unterstellte, sah sich der Kanzlerkandidat der Union unter dem Eindruck verschärfter Drohungen aus den USA mit einem Militärschlag gegen den Irak Ende August veranlasst, zu Washington
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Streit um Beziehungen zu USA wird schärfer. In: Neuss-Grevenbroicher Zeitung, 7. September 2002. Rudolf 2002: 19f. Vgl. hierzu Roth & Jung 2002: 14; kurz vor der Wahl hatte Gerhard Schröder eine Zustimmungsrate von 58%, Edmund Stoiber lag bei 34%. Vgl. Deutschland vor der Wahl. Aktuelle Themen. In: Deutschland hat gewählt. Infratest dimap Wahlreport. Wahl zum 15. Deutschen Bundestag, 22. September 2002, Berlin 2002: 133. Vgl. „Ein hundsgefährlicher Weg“. In: Welt am Sonntag, 25. August 2002, S. 4.
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auf Distanz zu gehen.14 „Wenn 75 Prozent der Wähler einen Angriff auf Irak ablehnen, werden wir ihn nicht lauthals fordern“, zitierte Die Welt einen Unionsabgeordneten. Die Positionen Stoibers schienen sich inhaltlich weitgehend mit der Position des Bundeskanzlers zu decken. Das erklärt, warum er in erster Linie den Stil der Schröderschen Politik kritisierte. So unterstrich er in einem ausführlichen Spiegel-Interview, dass er einen „Alleingang der Amerikaner ohne Konsultationen mit den Partnern und ohne Uno-Mandat für falsch“ halte.15 Sein Bemühen, dem „deutschen Weg“ des Kanzlers einen „europäischen Weg“ entgegenzusetzen konnte Stoiber nicht konsequent durchhalten. Er ließ sich gelegentlich sogar zu überzogener Amerikakritik hinreißen. Es war offensichtlich, dass die Instrumentalisierung der Irak-Frage durch Schröder eine für die rot-grüne Koalition erfolgreiche Wahlkampfstrategie zu sein schien. Nur so ist es zu deuten, dass Stoiber einmal sogar versuchte, Schröder in dessen Friedenskurs mit antiamerikanischer Akzentuierung zu überbieten. „Würden Sie bei einem Angriff der USA auf Irak Deutschland als strategischen Stützpunkt zur Verfügung stellen?“, wurde Stoiber in einer RTL Fernsehsendung am 19. September 2002 gefragt.16 Stoiber verstieg sich zu der Antwort: „Mit Sicherheit niemals bei einem Alleingang der Amerikaner.“ Angesichts der Tatsache, dass die Union dem rot-grünen Lager immer wieder eine amerikafeindliche Politik unterstellte, kann es nicht überraschen, dass die Wahlkampfstrategen Stoibers dies als Kommunikationsdesaster betrachteten und die Äußerungen zurückzogen. Medienberater Michael Spreng sprach von einem „Missverständnis“, und aus München verlautete, eine unionsgeführte Bundesregierung werde auf keinen Fall gegen eine Nutzung der amerikanischen Stützpunkte in der Bundesrepublik etwas einzuwenden haben. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hielt es für wichtig, weiter „Druck auf Saddam Hussein auszuüben, dass er endlich die Uno-Resolutionen einhält“.17 Es sei falsch, „Szenarien an die Wand zu malen, die nicht aktuell“ seien. Allerdings betonte auch sie bei aller Kritik an der rot-grünen Koalition, dass es in Deutschland „wenn es um verantwortliches außenpolitisches Handeln“ gehe, ein „hohes Maß an Gemeinsamkeit“ gebe. Daher warnte Merkel davor, „mit den Ängsten der Menschen zu spielen“. In Bezug auf das Verhältnis zu den USA und Präsident Bush in dieser Frage zog Merkel die von George Bush Senior proklamierte „partnership in leadership“ (korrekt: „partners in leadership“) heran. Dieses Angebot beinhaltete aus ihrer Sicht, „dass wir Deutsche und Europäer unsere Interessen eigenständig im Bündnis einbringen und trotzdem Freunde sind“.18 Wiederholt äußerte Merkel scharfe Kritik an der Amerika- und Irakpolitik der Bundesregierung und insbesondere des Bundeskanzlers. Der „deutsche Weg“ bedeute „Isolation in Europa und in der Weltgemeinschaft, mehr Unsicherheit für unser Land“.19 Es gehe jetzt um das „Schmieden von Allianzen“ und nicht um „irgendwelche Alleingänge“. Anstatt sich in die internationale Debatte einzubringen, versuche Schröder die „diffusen Sorgen der Menschen vor einem IrakKonflikt zu instrumentalisieren“, um von den wichtigen innenpolitischen Problemen wie der Arbeitslosigkeit abzulenken. Die „eigentliche Wählertäuschung Schröders“ liege aber
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Vgl. Dausend & Haselberger 2002: 7. „Wir haben uns verändert“. In: Der Spiegel Nr. 36/2.9.02, S. 40. Hier zitiert nach: Meng 2002: 6. „Eigenständig im Bündnis und trotzdem Freunde“. In: Berliner Zeitung, 9. August 2002, S. 5. Ebd. „Die Umfragen spornen uns an“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15. September 2002, S. 4.
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darin, dass er wisse, dass „keine deutsche Regierung seine Position des Alleingangs auch nur eine Stunde über den Wahltag hinaus durchhalten kann“. Daher forderte sie Schröder auf, „endlich eine Kurskorrektur“ vorzunehmen und für eine „gemeinsame europäische Haltung“ einzutreten. Zudem habe es Schröder versäumt, vor den vom Saddam Hussein ausgehenden Gefahren zu warnen. Das gelte zum einen für den „Besitz von Massenvernichtungswaffen“. Zum anderen sei es dessen „erklärtes Ziel, Israel zu vernichten“. Es müsse ein „ehernes Prinzip deutscher Politik nach dem Zweiten Weltkrieg bleiben, nicht tatenlos zuzusehen, wenn das jüdische Volk ein zweites Mal mit der Möglichkeit der Vernichtung bedroht ist“.20 Die kritischen Stimmen der Unionsparteien setzten sich in erster Linie mit dem Bundeskanzler und führenden Mitgliedern der Regierung auseinander. Allerdings wurde begierig auch jede amerikakritische Äußerung aus den Reihen weniger Prominenter Politiker der SPD und der Grünen aufgegriffen. Das gilt etwa für die zitierten Äußerungen Stieglers über den amerikanischen Botschafter. Der außenpolitische Experte der CDU, Friedbert Pflüger, nannte die Äußerungen Stieglers „eine geschmacklose Entgleisung“. Diese zeige, dass Stiegler jedes Geschichtsbewusstsein fehle. „Die Kaiser haben mit ihren Legionen Europa mit militärischen Mitteln niedergehalten, die USA dagegen Europa von Hitler und Stalin befreit.“ Wolfgang Schäuble wies Stieglers Vergleich Coats – Abrassimow ebenso nachdrücklich zurück. „Herrn Coats mit dem kältesten aller kalten Krieger, dem einstigen Statthalter der Sowjetunion in der DDR, zu vergleichen ist nicht nur absurd, sondern auch eine Geschmacklosigkeit sondergleichen.“21 Auch in diesen Stellungnahmen wird deutlich, dass die Union versuchte, die Kritik an der Irak-Politik der Bush-Administration als prinzipiell antiamerikanisch zu diskreditieren. Die FDP bewegte sich in ihren Stellungnahmen zur Irak-Frage und den transatlantischen Beziehungen weitgehend im politischen Kielwasser der Unionsparteien. Laut dem ehemaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher würde es „zur Zeit keine Voraussetzung“ für einen „Militärschlag gegen den Irak“ geben. Die „Möglichkeiten für eine politische Lösung“ – die bei der FDP immer „im Vordergrund“ stehe – sei „bei weitem noch nicht ausgeschöpft“. Mit der jetzigen Politik der Bundesregierung verspiele man die „Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik, das Markenzeichen unter den Außenministern Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel“.22 Allerdings war Parteichef Guido Westerwelle gegen „einen Alleingang der Amerikaner“, und gegen eine „Beteiligung an einer militärischen Intervention ohne Mandat der Vereinten Nationen“.23 Fraktionschef Wolfgang Gerhardt äußerte sich in ähnlicher Weise. Der UN-Sicherheitsrat sei der Ort, „wo militärische Aktionen entschieden werden sollten, wenn sie denn unumgänglich sind“.24 Es komme jetzt darauf an, die Amerikaner „in eine gemeinsame Position“ einzubinden. Europa müsse „mit einer Stimme“ sprechen.25 Ähnlich wie Westerwelle formulierte Gerhardt den außenpolitischen Führungsanspruch der FDP. „Was Joseph Fischer mühsam erlernen mußte, was Gerhard Schröder im Geschichtsunterricht verpaßt hat, das wurde Freien Demokra20 21 22
23
24 25
Ebd. Streit um Beziehungen zu USA wird schärfer. In: Neuss-Grevenbroicher Zeitung, 7. September 2002. Westerwelle und Gerhardt für Schröder-Regierungserklärung zu Irak (www.fdp-bundesverband.de/aktuell/ presse.php?id=35029&page_nr=1&printversion=1; 29.01.05). Wen wollen Sie zum Kanzler machen, Herr Westerwelle? Der FDP-Vorsitzende über Koalitionen, Katastrophen und über die wahren Spaßparteien in Deutschland. In: Tagesspiegel, 2. September 2002, S. 8. „Wir brauchen eine Kehrtwende“. In: Hamburger Abendblatt, 7. August 2002, S. 2. Vgl. Gerhardt: Abstimmung mit den Europäern wurde versäumt. In: Die Welt, 30. August 2002, S. 2.
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ten schon mit der politischen Muttermilch verabreicht.“ Für seine Partei stehe an erster Stelle kein „deutscher Weg“, sondern die „europäische Einbettung und das transatlantische Bündnis mit den Vereinigten Staaten“.26 Während die Unionsparteien und die FDP in der Irak-Frage Stand und Zukunftsperspektiven der transatlantischen Beziehungen in den Mittelpunkt ihrer Regierungskritik stellten, war dies für die PDS wegen ihrer fundmentalen antiamerikanischen Grundposition kein Thema. Die PDS gerierte sich als einzige Friedenspartei, die Gewalt als Mittel der Politik prinzipiell ablehne. Daher erteilte die Partei einer möglichen Intervention im Irak eine radikale Absage.27 Die Argumente der PDS erreichten offenbar aber nur einen sehr kleinen Teil des Wahlvolkes. Das war fraglos auch ein Kommunikationsproblem. Während des Wahlkampfes war ihr der brillante Rhetoriker Gregor Gysi wegen der so genannten Flugmeilenaffäre als Agitator abhanden gekommen. Die TV-Duelle Im Bundestagswahlkampf 2002 kam es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – nach amerikanischem Vorbild28 – zu einem direkten Schlagabtausch der Kanzlerkandidaten im Fernsehen. Am 25. August und am 8. September 2002 trafen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber aufeinander. In der RTL/Sat.1-Übertragung vom 25. August wurde als Erster der Bundeskanzler auf den Themenkomplex Irak angesprochen.29 Dabei bekräftigte Schröder die Linien seiner bisherigen Irak- und Amerikapolitik. Er machte deutlich, dass er eine militärische Intervention im Irak für „falsch“ halte. „Und deswegen ist sie unter meiner Führung auch nicht mit Hilfe Deutschlands zu machen.“ Stoiber unterstützte im Prinzip die Friedensrhetorik des Kanzlers: „das ist eine Selbstverständlichkeit“. Der Kanzlerkandidat der Union gab allerdings zu bedenken, dass man es bei Saddam Hussein mit einem „Kriegsverbrecher“ zu tun habe, der „Massenvernichtungswaffen besitzt“, die er „bereits gegen sein eigenes Volk und gegen den Nachbarn Iran eingesetzt“ habe. Stoiber warf dem Bundeskanzler vor, sich einseitig von jeder militärischen Option distanziert zu haben. Dies sei zu dem jetzigen Zeitpunkt verfrüht gewesen und habe die negative Wirkung, dass Deutschland den internationalen Druck auf Saddam durch seinen Alleingang abgemildert habe. Der Kanzler habe „plötzlich aus Wahlkampfgründen eine Position eingenommen“, die Stoiber „für unverantwortlich halte“. In seiner Entgegnung bestritt der Bundeskanzler einen ihm unterstellten Positionswandel gegenüber der Rolle der UNO in der Irak-Frage. Schließlich sei es das Ziel der Vereinten Nationen, „die Inspekteure ins Land zu bekommen“. Dem gegenüber ziele die in Amerika geführte Diskussion „auf Saddam und dessen Ablösung“. Dies seien jedoch „zwei unterschiedliche Sachverhalte, mit denen man unterschiedlich umgehen“ müsse. Ein weiterer Kritikpunkt Stoibers richtete sich gegen Schröders Formel vom „deutschen Weg“. Stoiber wollte den „europäischen Weg gehen und nicht einen separaten deut26
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Mehr Vertrauen. Rede von Dr. Wolfgang Gerhardt, MdB, Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, zum außerordentlichen Parteitag am 8. September 2002 in Berlin (www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/ FDP_gerhardt.pdf; 13.03.05). Vgl. hierzu: PDS steht als Kanzlermacher für die Sozialdemokraten bereit. In: Welt am Sonntag, 25. August 2002, S. 5.; „Sie, lieber Oskar Lafontaine, und wir... In: Frankfurter Rundschau, 4. September 2002, S. 4. Informationen hierzu enthält die Homepage der Commission on Presidential Debates (www.debates.org/ pages/history.html; 22.07.06); vgl. auch den Beitrag von Marcus Maurer und Carsten Reinemann in diesem Buch. Transkript in www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/tvduelle1.pdf (17.04.05).
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schen Weg. Der führt in die Irre, und der ist mit mir auch nicht zu machen.“ Auf diesen Vorwurf ging Schröder nicht direkt ein, betonte im Schlusswort jedoch seine Bereitschaft zu internationaler Zusammenarbeit. Die deutsche Außenpolitik stehe vor der Frage, ob es zu schaffen sei, „Deutschland auf einem friedlichen Weg zu halten, Beistandspflichten unseren Verbündeten gegenüber zu erfüllen, ohne uns in militärische Aktionen hineinziehen zu lassen, deren Rationalität nicht auf der Hand liegt und die wir vor dem Hintergrund, was wir für richtig halten, nicht wollen“. Dem Grundtenor dieses außenpolitischen Resümees stimmte Stoiber im Wesentlichen zu. Es komme darauf an, „Frieden zu bewahren“ und auf die Amerikaner Einfluss zu nehmen. Das Verhältnis zu den USA wurde dann von Stoiber im zweiten Fernsehduell ausführlicher thematisiert werden. Das zweite TV-Duell hatten ARD und ZDF am 8. September 2002 gemeinsam ausgerichtet.30 Der Bundeskanzler wurde mit der Frage konfrontiert, ob er mit seiner Haltung in der Irak-Frage eine „riskante Kraftprobe mit der Weltmacht USA gesucht“ habe: „Riskieren Sie damit nicht eine dauerhafte Beschädigung dieser wichtigen Achse DeutschlandAmerika, alles nur, um im Wahlkampf ein paar Stimmen zu bekommen?“ Schröder bestritt nicht, dass es „offenkundig Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten“ gebe, „zwischen mir und möglicherweise dem amerikanischen Präsidenten“. Der Bundeskanzler sah dann allerdings „überhaupt keine Gefährdung von Freundschaft, weder zwischen den handelnden Personen, noch zwischen den Völkern“. Er halte es allerdings für falsch, dass man „zu einer Position, die man für nicht richtig“ halte „einfach ja und Amen“ sage. Freundschaft könne doch nur heißen, dass man auf einer „gesicherten Basis der Zusammenarbeit Meinungsverschiedenheiten austrägt“. Es handele sich um existenzielle Fragen – „und die Frage Krieg und Frieden ist eine solche“. Diese würde „in Berlin entschieden“, betonte Schröder. „Und unter meiner Führung wird es keine Beteiligung Deutschlands an einer militärischen Intervention geben.“ Auf die Nachfrage „nur mit UNO-Mandat oder nicht mit UNO-Mandat auf keinen Fall“ legte sich der Bundeskanzler eindeutig fest. „Meine Argumentationen bleiben auch bestehen unabhängig von dieser Frage.“ Auf die Spekulation, ob sein Verhalten nur wahltaktisch zu deuten sei, und man nach der Wahl „noch mal neu überlegen“ müsse, folgte ein klares „Nein“. An seiner Haltung werde sich „weder vor der Wahl noch nach der Wahl etwas ändern“. Und auf einen Einwurf nach seiner Glaubwürdigkeit bekräftigte der Bundeskanzler: „Ob die Meisten das glauben oder nicht, in solchen existenziellen Fragen gibt es nur eine klare Antwort und gibt es kein Rumdrücken: […] Ich bin gegen eine militärische Intervention im Irak. Unter meiner Führung würde Deutschland sich daran nicht beteiligen.“ Dieser Absage des Kanzlers stimmte Stoiber grundsätzlich zu: „In bin gegen jegliche militärische Auseinandersetzungen im Irak.“ Stoiber warf dem Bundeskanzler jedoch vor, durch seine Äußerungen die „Druckkulisse gegenüber Saddam Hussein“ geschwächt zu haben. Überdies habe Schröder die deutsch-amerikanischen Beziehungen ramponiert. Als Kanzler würde er „bei allen Meinungsverschiedenheiten, die wir mit den Amerikanern haben“ in dem Bewusstsein handeln, „dass die deutsch-amerikanische Freundschaft für Deutschland unverzichtbar ist, und dass der Ton die Musik macht. Und wie sie gegenwärtig gemacht wird, führt das zu schweren Verletzungen.“ Diese Vorhaltungen ließ der Bundeskanzler an sich abperlen. Sein staatsmännisch inszeniertes Schlusswort steckte den allgemeinen Rahmen künftiger deutscher Außenpolitik ab: „Wir wollen eine internationale Politik machen, bei der Solidarität zum Bündnis völlig klar ist, aber auch klar ist, dass Solidari30
Transkript in www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/tvduell.pdf (17.04.05).
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tät nicht heißt, Verzicht auf die existenziellen Entscheidungen, die wir selber zu treffen haben. Und diese internationale Politik, selbstbewusst, ohne Überheblichkeit, die will ich mit meinem Außenminister auch die nächsten vier Jahre miteinander und mit ihm zusammen machen.“ Die Presse war nach den Duellen in der Bewertung gespalten. Ein Kommentator sprach zwar von einer verkrampften, „hoch aufgeladenen Situation“, die Wähler hätten aber die „Chance gehabt, beide Politiker so unmittelbar zu erleben, wie nie zuvor in einem Wahlkampf“.31 Hierzu hatte allerdings Jürgen Kaube in der FAZ bereits nach dem ersten Fernsehduell eine radikal andere Auffassung vertreten.32 „Die politische Information war keine, war bekannt und so schon oft gehört.“ Das Mitgeteilte habe „allenfalls über die Gedächtnisleistungen vielbeschäftigter Spitzenkräfte“ informiert, die sich auch „unter Streß an Versatzstücke ihrer Wahlkampfreden erinnern können“, lautete das vernichtende Urteil. „Nicht informativ, nicht unterhaltend, nicht werbend – wir wurden Zeugen der Geburt eines neues Sendeformates: Man könnte es das politische Testbild nennen.“33 Ähnlich unterschiedlich fielen auch die Urteile darüber aus, wer aus den Duellen als „Sieger“ hervorgegangen sei. Für Peter Dausend lag der Kanzlerkandidat der Union vorn. „Stoiber geht nämlich nicht unter, er schwimmt obenauf. Immer sicherer, je länger die Sendung dauert.“ Insgesamt habe der Kandidat „ruhiger und gleichzeitig bestimmter als der Kanzler“ gewirkt. „Der agiert, je länger die Debatte dauert, gereizter.“34 Wolfgang Münchau erinnerte in seiner Einschätzung an die großen Fernsehdebatten zwischen den US-Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy und Richard M. Nixon im Jahre 1960 und sprach von einem „Nixon-Effekt“.35 Diesem Effekt sei auch Stoiber zum Opfer gefallen. Stoiber habe viel klarer argumentiert als der Kanzler, „und er hat trotzdem verloren“. Schröder „wirkte schlagfertiger, und er hatte seine Mimik und Gestik besser im Griff als der zeitweise verkrampfte bayrische Ministerpräsident“. Deutsche Pressekommentare Als der Bundeskanzler beim Wahlkampfauftakt in Hannover den „deutschen Weg“ proklamierte, war abzusehen, dass dies auch in der Publizistik kritische Reaktionen hervorrufen würde. Der Begriff weckte bei vielen Kommentatoren negative historische Assoziationen. Der Terminus konnte als deutsche Eigensucht verstanden bzw. missverstanden werden. Außerdem erinnerte er sprachlich und inhaltlich an den Begriff des „deutschen Sonderweges“ vor 1945, der eine deutsche Politik der Alleingänge mit einer antiwestlichen Stoßrichtung suggerierte.36 Hier knüpften zahlreiche Kommentatoren an: Als einer der ersten meldete sich der Historiker und Chefkorrespondent der Zeitung Die Welt Michael Stürmer zu Wort.37 Schröders „Feststellung, dass die Deutschen den deutschen Weg gehen und keinen anderen“, sei „entweder banal oder gefährlich. Banal, denn nur im Karneval gibt man vor, ein anderer zu sein als der, der man ist. Gefährlich, weil die Distanzierung von Amerika unüberhörbar ist.“ Stürmer erinnerte an die Unberechenbarkeit deutscher 31 32 33 34 35 36 37
Appenzeller 2002b: 1. Vgl. Kaube 2002: 31. Ebd. Dausend 2002: 3. Münchau 2002: 30. Vgl. zur Sonderwegdebatte z.B. Grebing, Brelie-Lewien & Franzen 1986; Janning 2002: 9ff. Vgl. Stürmer 2002a: 9.
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Außenpolitik im Kaiserreich. „Ein Echo des weiland Wilhelminismus, laut und unberechenbar, schallt durch Kanzleramt, Außenministerium und SPD-Parteizentrale.“ Wer dem Kanzler geraten habe „auf die deutschnationale Pauke zu hauen, der will ihm nicht wohl“.38 Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung zitierte den Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher. Dieser bezeichnete den Begriff „deutscher Weg“ als eine „Absage an unsere europäischen und atlantischen Überzeugungen, keine deutschen Alleingänge mehr zu beschreiten“. Bracher empfahl vom „deutschen Interesse“ zu sprechen, denn der „deutsche Weg“ enthalte einen „Ausschließlichkeitsanspruch“.39 Für Herbert Kremp von der Welt war der „deutsche Weg“ ein „romantischer Topos“, der „instinktiv an die Neigung vieler seiner Landsleute, an Lagerfeuer und Thing-Stätten der Welt den Rücken zuzukehren“, appelliere.40 Einige Kommentatoren verstiegen sich in ihrer Kritik an Schröder sogar zu der Unterstellung, der Kanzler begünstige die Politik des Diktators Saddam Husseins. Mit seinem „deutschen Weg“ habe der Bundeskanzler dem irakischen Diktator „signalisiert, daß er, zumindest was Deutschland angeht, mit keinen ernsthaften Folgen zu rechnen habe, gleichgültig, gegen welche UN-Resolutionen er verstoße und welche internationalen Vereinbarungen er mit Füßen trete“, schrieb Günther Nonnenmacher in der FAZ. Deutschland habe sich in einer „entscheidenden Lage aus der Weltpolitik abgemeldet“; damit stehe „Deutschland beiseiten – ein selbstgewählter Rückfall in die weltpolitische Zwergenrolle“.41 Michael Stürmer ging sogar noch weiter, wenn er der Bundesregierung Kriegstreiberei unterstellte. „Wer, wie die rot-grüne Bundesregierung, Saddam Hussein Signale der Zerstrittenheit des Westens gibt – in Bagdad begeistert aufgenommen –, verhütet nicht Krieg, sondern trägt zur Gefährlichkeit der Lage bei, weil der Iraker ermutigt wird.“42 Allerdings gab es auch Stimmen, die für Schröders Konzept Verständnis zeigten. So interpretierte Georg Watzlawek vom Handelsblatt, dass der „deutsche Weg“ nichts anderes sei, „als der europäische Ansatz einer multilateralen, auf dem Prinzip des Rechts und der Methode der Verhandlung fußenden Weltordnung“. Diese reibe sich „heftig mit der unilateralen, wenn nicht gar imperialen Politik der Stärke Washingtons – die sich anmaßt, Regeln für internationale Beziehungen zu setzen, ohne sich ihnen selbst zu unterwerfen“.43 Auch Holger Schmale formulierte in der Berliner Zeitung Verständnis für die Politik der Bundesregierung.44 Er stellte Schröders Ansatz eines „deutschen Weges“ zur Lösung internationaler Konflikte sogar in die Tradition sozialdemokratischer Politik der 1960er und 1970er Jahre. „Die von Willy Brandt und Egon Bahr in den sechziger Jahren entwickelte Doktrin des Wandels durch Annäherung – in den USA mit größtem Misstrauen verfolgt – gehört in die gleiche Kategorie.“ Neu sei, dass „es sich heute um einen Konflikt handelt, in dem die USA ureigene vitale Interessen geltend machen, und dass die Bundesrepublik ein souveräner Staat mit einem selbstbewussten Kanzler geworden ist“.45 Schröders Formel vom „deutschen Weg“ berührte selbstverständlich das Verhältnis Berlins zu anderen Staaten. In der publizistischen Debatte über Schröders Politik im Vorfeld der Bundestagswahl, rückten die Beziehungen der Bundesrepublik zu den Vereinigten 38 39 40 41 42 43 44 45
Ebd. Inacker 2002: 4. Kremp 2002: 9. Nonnenmacher 2002: 1. Stürmer 2002b: 8. Watzlawek 2002: 9. Vgl. Schmale 2002: 4. Ebd.
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Staaten immer stärker in den Mittelpunkt. Das kann nicht weiter überraschen, denn Schröders Kritik an der Regierung Bush war in der Geschichte der Bundesrepublik beispiellos. Nie zuvor hatte ein deutscher Bundeskanzler in einer zentralen Frage der internationalen Politik in der Öffentlichkeit die Gefolgschaft zu den USA versagt. Genau hier setzten zahlreiche Kritiker an. Es wurde von einem „Wettersturz der deutsch-amerikanischen Beziehungen“ gesprochen.46 So weit seien „Deutschland und Amerika seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie auseinander“ gewesen.47 Ein „Grundgesetz der (west-) deutschen Nachkriegsgeschichte“ schien „in diesen Tagen zu zerbrechen: das verlässlich gute deutschamerikanische Verhältnis“.48 Die Politik Schröders definierten viele Kommentatoren nicht nur als deutsch-amerikanisches Problem, sondern als eine Krise der gesamten transatlantischen Beziehungen. „Seit dem 11. September haben sich Amerika und Europa auf eine Weise voneinander entfremdet, die alle bisherigen Störungen im transatlantischen Verhältnis in den Schatten stellt.“49 Die Verantwortung für diesen desolaten Zustand der deutschamerikanischen Beziehungen wurde insbesondere von der eher konservativen Presse dem Bundeskanzler und den ihn tragenden politischen Kräften angelastet. Michael Inacker diagnostizierte eine dramatische Umorientierung deutscher Außenpolitik. „Die SPD verlässt den Weg nach Westen“ lautete der Titel seines Kommentars in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Inacker sah sogar die gesamte Westorientierung der deutschen Außenpolitik gefährdet.50 Bei der Analyse der deutsch-amerikanischen Beziehungen wurde wiederholt auch das persönliche Verhältnis zwischen dem deutschen Bundeskanzler und dem amerikanischen Präsidenten thematisiert. Dass Schröder und Bush „nicht gut miteinander auskommen wie Schröder und Bill Clinton“, sei „kein Geheimnis“. Der Umgang sei „rauer“ geworden, stellte Karl-Ludwig Günsche fest.51 Ein anderer Kommentator ging noch einen Schritt weiter. Der Kanzler habe sich zu „übertriebenen polemischen Attacken gegen Washington“ verstiegen, „die sein Verhältnis zu George W. Bush dauerhaft ruinieren dürften“.52 KlausDieter Frankenberger warnte vor der Gefahr, dass die amerikakritische Akzentuierung der Regierung Schröder, Berlin langfristig auch jedes Einflusses auf die Politik der USA berauben würde.53 „Der Vertrauensschaden ist viel schlimmer, als die Bundesregierung glauben machen will.“ Amerika betrachte „die Entwicklung Nachkriegsdeutschlands als einen der größten Erfolge seiner Außen- und Weltpolitik“. Es sei der Regierung Bush „nicht zu verdenken, wenn sie fortan wenig Konsultationsneigung gegenüber Politikern zeigt, die offenbar meinen, nicht Saddam Hussein sei das Problem, sondern ein schießwütiger, von Ölkonzernen geschmierter Texaner im Weißen Haus – ganz als regierten Karikaturen in Washington“. Hier bestehe die Gefahr „deutschen Einfluß leichtfertig zu verspielen – man verliert ihn schnell, aber gewinnt ihn langsam“.54 Neben wahlkampftaktischen Motiven wurden auch ideologische Gründe ausgemacht.
46 47 48 49 50
51 52 53 54
Stürmer 2002c: 8. Marschall 2002: 1. Schmale 2002: 4. Schuster 2002: 8. Vgl. Inacker 2002: 4; dieser Titel erweckt in der Formulierung gedankliche Assoziationen an das zweibändige Werk von Winkler (2000a/b). Günsche 2002: 1. Klau 2002: 26. Vgl. Frankenberger 2002b: 1. Ebd.
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Ähnlich wie bei der Kritik am „deutschen Weg“ wurde historisch argumentiert. „Während unter Adenauers Führung das, was vom Bürgertum noch übrig war, das Gelobte Land im Westen fand, suchte die Sozialdemokratie unter Schumacher dritte Wege für Außen- und Innenpolitik und fand nur Niederlagen.“55 Dies habe sich erst 1959 mit dem Godesberger Programm der SPD geändert. Pointierter als auf die Gründungsphase der Republik wurde auf die Protestbewegung der 1960er Jahre verwiesen. Die „Rebellion der Achtundsechziger“ sei auch eine Rebellion gegen Amerika gewesen. Ho Chi Minh und Mao seien zu „Ikonen der neuen Jugendbewegung“ geworden.56 In dem, „was der Bundeskanzler, sein Außenminister und ihre Sekundanten zum Thema Irak zum besten geben“, breche sich – so Klaus-Dieter Frankenberger – „der ganze aufgestaute Widerwille gegen die Weltmacht Amerika Bahn“. Offenbar sei es „eine befreiende Lust“, den Amerikanern „endlich die Gefolgschaft aufkündigen zu können“.57 Noch akzentuierter leitete Georg Paul Hefty (FAZ) die gegenwärtige Politik der rot-grünen Koalition aus den Biographien ihrer Führungsfiguren ab. Das „Klischee vom Präsidenten Bush als Cowboy“ bediene „die längst widerlegten Vorurteile einer linken oder pazifistischen Klientel, deren antiamerikanische Ressentiments aus den Juso-Jahren der Schröder- und Fischer-Generation datieren“.58 Stärker als die vermeintlich ideologischen Grundlagen der rot-grünen Koalition wurde in der Publizistik der Zusammenhang zwischen Wahlkampf und Amerikakritik der Bundesregierung herausgestrichen. Gerhard Schröder brauche „den Krieg nur als Möglichkeit, als Bedrohung“.59 Ihm gehe es primär um seine Wiederwahl.60 Als „Instinktpolitiker“ habe er „ein Thema entdeckt, für das Zustimmung garantiert zu sein“ scheine.61 Thomas Klau konsternierte in der Financial Times Deutschland, dass Schröder nur von der Arbeitslosigkeit ablenken wolle, in dem Bewusstsein, dass ihn dieser Misserfolg den Wahlsieg kosten könne. Schröder arbeite ausschließlich an dem Ziel, „die eigene politische Haut zu retten“. Nach der Flut, bei der er „sein beträchtliches Talent als Krisenmanager“ demonstriert habe, brauche „der Kandidat ein neues Thema“; dies heiße Irak. Der Kanzler agiere „als Hauptdarsteller eines unredlichen Spiels mit der Sehnsucht der Bürger nach Frieden“.62 Pointierter bezeichnete Wolfgang Molitor von den Stuttgarter Nachrichten „Schröders klares Nein zu jeglicher Beteiligung an einem Schlag gegen den Irak“ als einen geschickten „Schachzug in der Schlussphase des Wahlkampfs“. Gleichzeitig prophezeite er, dass Schröder nach einem Wahlsieg „keinen geringen Preis dafür bezahlen“ müsse.63 Der große Stellenwert außenpolitischer Fragen im Bundestagswahlkampf war keineswegs vorauszusehen und entsprach auch nicht den wahltaktischen Interessen der Union. Diese hatte in richtiger Einschätzung der ökonomischen Schwierigkeiten die Wirtschaftspolitik ins Zentrum gerückt. Außerdem schienen auf dem Gebiet der Außenpolitik die Profilierungsmöglichkeiten eher begrenzt.64 Dieses Urteil erwies sich als Fehleinschätzung. Die Union hatte große Schwierigkeiten, sich auf die von Schröder in den Vordergrund geschobenen außenpolitischen Fragen wahltaktisch einzustellen. Dies wurde von der Presse klar 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64
Stürmer 2002a: 9. Ebd. Frankenberger 2002a: 6. Hefty 2002: 14. Kohler 2002: 1. Vgl. Kornelius 2002: 4. Ebd. Klau 2002: 26. Molitor 2002: 2. Vgl. Reker 2002: 2.
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erkannt. Die Opposition biete in der Außen- und Sicherheitspolitik „nicht gerade ein glänzendes und vor allem kein einheitliches Bild“.65 Das Schwanken Stoibers ist offensichtlich damit zu erklären, dass er die Außenpolitik der Regierung zwar attackieren wollte, gleichzeitig aber erkennen musste, dass Schröder das zentrale Wahlkampfthema quasi „besetzt“ hatte. „Hat Gerhard Schröder am 5. August in Hannover instinktiv eine Gefahr angesprochen, die in der Luft lag?“, fragte der Tagesspiegel. „CDU und CSU wehrten sich gegen diese Einschätzung, obwohl ihnen die Reaktionen der Bürger bei Wahlveranstaltungen zeigten, dass der Kanzler mit seiner Absage an kriegerische Abenteuer den Deutschen aus der Seele gesprochen hatte.“66 Dem gegenüber stehen „CDU und CSU beim Irak-Thema für unentschlossenes Eiern“, so die Financial Times Deutschland.67 Amerikanische Pressekommentare Die Thematisierung der amerikanischen Irak-Politik im Bundestagwahlkampf hat dazu beigetragen, dass die überregionale amerikanische Presse der innerdeutschen Auseinandersetzung relativ große Beachtung schenkte und dem Bundeskanzler ein erstaunliches politisches Comeback attestierte.68 In einem Bericht über Schröders Wahlkampfauftakt Anfang August in Hannover betonte die New York Times die taktische Komponente der AmerikaKritik des Bundeskanzlers.69 Edmund Stoiber habe vor allem wirtschaftliche Fragen aufgegriffen, Schröder präsentiere sich demgegenüber als erfahrener Außenpolitiker, „a wiser head in foreign policy“. In gewisser Weise artikuliere Schröder jedoch die in Europa generell vorherrschenden Zweifel über die Dringlichkeit und den Sinn eines militärischen Angriffs auf den Irak, fügte die Zeitung Mitte August hinzu, als sie darüber berichtete, dass Botschafter Coats im Bundeskanzleramt vorstellig geworden sei, um das Unbehagen der Bush-Administration zu übermitteln.70 In der amerikanischen Regierung sei man sich zwar bewusst, dass sich Schröder im Wahlkampf befinde. Washington sei jedoch wenig glücklich darüber, dass der Bundeskanzler den Vorwurf des Unilateralismus formuliere und Präsident Bush als schießwütigen Texaner („a trigger-happy Texan“) darstelle.71 In der letzten Woche vor der Wahl wurden die möglichen Rückwirkungen der Argumentation Schröders auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen problematisiert. „Trading Allies for Votes“72, „Germany Vote Has U.S. Hinge“73 und „Bush-Hitler Remark Shows U.S. as Issue In German Election“74 lauteten typische Überschriften. Mit den „Kosten“ der Schröderschen Wahlkampfrhetorik setzte sich das Wall Street Journal besonders kritisch auseinander.75 Nicht Bush sondern Schröder sei isoliert, nicht Bush sondern Schröder handele unilateral. Allerdings sei es gut möglich, dass Amerika am Montagmorgen nach der Wahl feststellen müsse, dass Schröder noch im Amt sei. Was dann? Eine schnelle Rückkehr zum „business as usual” könne es wohl kaum geben. Mithin 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
Greven 2002: 27. Appenzeller 2002a: 1. Proissl 2002a: 31. Vgl. Schröder, the Comeback Kid. In: Financial Times, 10. September 2002, S. 12; Beste 2002: S. 24-34. Vgl. Erlanger 2002a: 9. Vgl. Erlanger 2002b: 4. Vgl. ebd. Erlanger 2002c: 1. Erlanger 2002e: 1. Erlanger 2002d: 1. Vgl. Unilateralist Germany. In: Wall Street Journal, 19. September 2002, S. 6.
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setze Schröder die historische Errungenschaft der Westintegration aufs Spiel.76 Um dieses Urteil quasi offiziös zu untermauern, gab das Wall Street Journal einem profilierten deutschen Kritiker der Politik Schröders Gelegenheit zu einer ausführlichen Stellungnahme.77 Unter dem Titel „How Germany Became Saddam’s Favorite State“ fasste Wolfgang Schäuble seine Positionen für das amerikanische Publikum zusammen. Für seinen ganz persönlichen Vorteil habe der Bundeskanzler die Bundesrepublik in eine internationale Krise gestürzt. Es charakterisiere Schröders Unfähigkeit, zwischen Innen- und Außenpolitik zu unterscheiden, wenn er glaube, nach einer Wiederwahl den entstandenen Schaden leicht reparieren zu können. Isolation und Sonderwege würden sich nicht auszahlen, resümierte Schäuble. Wenngleich die kritischen Stellungnahmen in der amerikanische Presse überwogen, fehlte es nicht an Stimmen, die vor einem vorschnellen Urteil über Schröders Wahlkampfstrategie warnten. In einem Leitartikel vom 6. September 2002 äußerte die Los Angeles Times Verständnis für Schröders Kurs.78 Schröders wiederholte Feststellung, dass er für „Abenteuer“ nicht zur Verfügung stehe, habe im Weißen Haus Grollen hervorgerufen. In seinen Wahlkampfauftritten erhalte der Bundeskanzler jedoch frenetischen Beifall, wenn er erkläre, Deutschland werde sich an einem Irak-Krieg nicht beteiligen. Natürlich müssten diese Äußerungen als Teil des Wahlkampfs gesehen werden. Dennoch spiegele sich in ihnen eine in Europa weit verbreitete Furcht. Schließlich habe die Bush-Administration bisher keine überzeugenden Argumente für einen Waffengang gegen den Irak vorgelegt. Statt über den Bundeskanzler wütend zu sein, sollte die Bush-Administration den mäßigenden Worten Schröders Gehör schenken. Im Übrigen hätten seit der deutschen Wiedervereinigung alle amerikanischen Regierungen die Bundesrepublik ermuntert, die Zwitterrolle als ökonomischer Riese und politischer Zwerg – „economic giant/political dwarf“ – aufzugeben, dies habe Schröder jetzt getan.79 Der Tenor dieses Leitartikels ist allerdings eher die Ausnahme. Im Vordergrund stand die Kritik an Schröder. Das gilt vor allem für das der Bush-Administration nahe stehende Wall Street Journal. Reaktionen auf den Wahlausgang Der Bundestagswahlkampf hatte im deutsch-amerikanischen Verhältnis tiefe Spuren hinterlassen. Die Reaktionen der amerikanischen Regierung auf den Wahlsieg von Rot-Grün waren in der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen ohne Beispiel. Der Präsident versagte dem Bundeskanzler das obligatorische Glückwunschtelegramm. Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bezeichnete die Atmosphäre öffentlich als vergiftet, eine Beschreibung, die Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice schon kurz vor der Wahl benutzt hatte.80 Der politisch interessierte Beobachter konnte erkennen, dass der Wahlausgang nicht den Wünschen der Regierung in Washington entsprach. So gab der Sprecher des Weißen Hauses, Ari Fleischer, den viel sagenden Hinweis, Washington unterhalte mit jeder demokratisch legitimierten Regierung „Arbeitsbeziehungen“.81 Das Telefonat von Außenminister 76 77 78
79 80 81
Vgl. Ebd. Vgl. Schauble 2002: 6. Vgl. Why They Say Nein to War. In: Los Angeles Times, 6. September 2002, S. B14.; vgl. auch Williams 2002a: A3; Williams 2002b: A3; Williams 2002c: A5. Vgl. Why They Say Nein to War. In: Los Angeles Times, 6. September 2002, S. B14. Vgl. Selvin 2002: A14; Schmid 2002: 1; Barone 2002. Vgl. Press Briefing by Ari Fleischer, 24. September 2002 (www.whitehouse.gov/news/releases/2002/ 09/20020924-3.html#9; 22.07.06).
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Colin Powell mit Fischer vom 23. September wurde als Beleg genannt. An der Verärgerung des Präsidenten ließ Fleischer jedoch keinen Zweifel. Schließlich habe Schröder im Wahlkampf antiamerikanische Ressentiments geschürt: Jetzt, nach der Wahl, könne man nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen.82 Während die amerikanische Regierung aus politischen Gründen ein Interesse daran hatte, zwischen dem Wahlsieg Schröders und dessen amerikakritischer Rhetorik keine Kausalität herzustellen, galten für die Publizistik derartige taktische Rücksichtnahmen nicht. Die deutschen und amerikanischen Printmedien waren sich in ihren Analysen einig, dass der Wahlerfolg Schröders vor allem auf dessen Frontstellung gegen die amerikanische IrakPolitik zurückzuführen war. „Mit Außenpolitik lassen sich also doch Wahlen gewinnen“, kommentierte das Handelsblatt.83 Es herrschte weitgehend Einigkeit auch darüber, dass durch die Art und Weise, wie Schröder Wahlkampf geführt hatte, die deutschamerikanischen Beziehungen an einem Tiefpunkt angekommen seien. Die Süddeutsche Zeitung sah die deutsche Außenpolitik vor einem „Scherbenhaufen“.84 Die Welt diagnostizierte „Amerikas Bauchschmerzen“.85 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sah Deutschland „Am transatlantischen Graben“.86 Für die Financial Times Deutschland war ein „Gefährlicher Bruch“ entstanden.87 „Eine historische Leistung“ könne Schröder „auf jeden Fall für sich beanspruchen“, kommentierte die Zeitung mit beißender Ironie. Er habe die deutschamerikanischen Beziehungen „auf den Tiefstand seit 1945 gebracht“. Schröders Verhalten in den vergangenen Wochen habe „eine Seite des deutschen Regierungschefs gezeigt, die so deprimierend wie beunruhigend“ sei. Der Bundeskanzler sei „bereit, Deutschlands Interessen zu schaden, wenn es seinen persönlichen Interessen“ nutze. Der Wahlkämpfer Schröder habe „einen einmaligen Ansehensverlust Deutschlands bei der politischen Klasse Amerikas“ verschuldet. Seine Wahltaktik mag ihm Wählerstimmen eingebracht haben, mit Blick in die Zukunft sei dies das „Werk eines politischen Hasardeurs“.88 Die Zeitungen beschränkten sich aber nicht auf eine rückwärtsgewandte „Trauerarbeit“, sondern richteten ihren Blick vor allem in die Zukunft. Alle Kommentatoren waren sich darin einig, dass es jetzt darauf ankomme, an den deutsch-amerikanischen Beziehungen die notwendigen Reparaturarbeiten vorzunehmen. Über das Vorgehen im Einzelnen wurden allerdings unterschiedliche Akzente gesetzt. „Beide Seiten müssen nachgeben“, lautete die Formel des Amerika-Korrespondenten Thomas Spang.89 Die meisten Kommentatoren waren allerdings der Auffassung, dass die politische Bringschuld beim Bundeskanzler liege.90 Da werde, kommentierte die Gießener Allgemeine Zeitung, „vermutlich Fischer die Brücken über den Atlantik bauen müssen, über die Schröder dann eines Tages wieder gehen kann“.91 Dieser „deutsche Weg nach Washington“ könnte sich nach Meinung der Süddeutschen Zeitung für Deutschland als kostspielig erweisen. Für eine Versöhnung werde Bush „Gaben fordern: mehr deutsche Soldaten in den Schluchten Afghanistans und des Balkan, um die Amerikaner für ihren Irak-Feldzug zu entlasten; politische Unterstützung 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91
Vgl. ebd. Bonse 2002: 11. Fried 2002: 2. Cramer 2002: 8. Bandow 2002: 35. Proissl 2002b: 31. Ebd. Spang 2002: 2. Vgl. Ostermann 2002: 3; Günther 2002: 2; Lehming 2002: 1; Gedmin 2002: 2. Bräuning 2002: 4.
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für ein UN-Mandat gegen Bagdad, falls es ein solches denn geben sollte; Einknicken in etlichen anderen bilateralen Streitpunkten“.92 Die Argumentationslinien der amerikanischen Zeitungen waren ähnlich angelegt. Zunächst wurde festgestellt, dass Schröders Kritik an der amerikanischen Irakpolitik den Ausgang der Bundestagswahl entschieden habe. Die New York Herald Tribune veröffentlichte einen Beitrag des in den USA lebenden Romanciers und Journalisten Peter Schneider zum „Iraq Factor“ unter der Überschrift „The chancellor can thank Bush“.93 Im Mittelpunkt der amerikanischen Publizistik stand allerdings weniger die Analyse wahltaktischer Schlenker in der deutschen Innenpolitik, sondern die Bestandsaufnahme der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Hier waren sich auch die amerikanischen Printmedien darin einig, dass das Verhältnis Deutschland-USA einen Tiefstand erreicht hatte. Das Nachrichtenmagazin Time titelte: „Bad Blood“ und sprach in einem Artikel von „Collision Course“.94 Und die New York Times gab einem Kommentar die Überschrift: „No More Bratwurst!“95 Unterschiede ergaben sich allerdings in der Bewertung sowohl der Ursachen als auch der Zukunftsperspektiven der bilateralen Beziehungen Berlin-Washington. Die kritischste Position nahm das Wall Street Journal ein. Für die New Yorker Zeitung waren Wahlkampf und Wahlausgang Ausdruck eines deutschen Antiamerikanismus.96 Als Belege wurden Schröders Warnungen vor amerikanischen „Abenteuern“ und die Äusserungen DäublerGmelins angeführt: „Eager to deflect from a sluggish domestic economy and rising unemployment, Mr. Schroeder focused the final days of his election campaign on a pledge not to involve German troops in any American ‘adventure’ in Iraq. Some of his rhetoric, and a reported comment by Justice Minister Herta Daeubler-Gmelin comparing U.S. President Bush’s tactics with those of Hitler, verged on anti-Americanism.”97 Die Verantwortung für den Stand der deutsch-amerikanischen Beziehungen wurde dem deutschen Bundeskanzler angelastet. Die Zeitung ging auf einen publizistischen Konfrontationskurs. Symptomatisch war der Abdruck eines Leserbriefs aus England unter der Überschrift „Forget the Germans“. Die Amerikaner sollten aus dem deutschen Wahlergebnis ihre Schlüsse ziehen. „Some of us who know a bit about Europe were not surprised that a vote-desperate German chancellor should turn on the USA. But the fact that Gerhard Schroeder could get a 7% poll swing by trashing Uncle Sam ought to teach you guys something.”98 Demgegenüber urteilte die Washington Post wesentlich differenzierter. Hier wurde die Position des Kanzlers primär als eine Anti-Bush-Haltung gedeutet. Schröders Politik habe dazu beigetragen, ein Klima zu schaffen, das zahlreiche Politiker glauben mache, mit einer gegen die amerikanische Politik gerichteten Position politisch punkten zu können. Und mit seiner Irak-Politik habe Schröder dem amerikanischen Präsidenten mit gleicher Münze heimgezahlt: „In the case of Iraq, Schroeder is giving the Bush administration a taste of its own medicine.“99 Die amerikanische Presse war sich ebenso wie die deutschen Printmedien darüber im Klaren, dass die deutsch-amerikanischen Beziehungen umfangreicher Reparaturarbeiten bedurften: „there is plenty of fence-mending to do“.100 So vermutete die Washington Post 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Ulrich 2002: 4. Schneider 2002: 8. Time, European Edition, Titelseite und Geary 2002: 31-34. Dowd 2002: 21. Vgl. Champion 2002: 6. Ebd. Forget the Germans ... Come Lift a Pint With US. In: Wall Street Journal, 25. September 2002, S. 7. Daalder 2002: A27. Ebd.; vgl. auch Finn 2002: A01; Hoagland 2002: A33.
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kurz nach der Wahl, dass die Verstimmungen eine Zeitlang andauern würden, die Substanz der deutsch-amerikanischen Beziehungen jedoch nicht ernsthaft gefährdeten, „they should not substantially affect what remains one of the world’s most important bilateral relationships“.101 Fraglos würden die Differenzen letztlich überwunden werden, schwerlich aber eine antiamerikanische Grundstimmung in der deutschen Bevölkerung: „Schroeders campaign, say some here, has effectively licensed Washington-bashing as an accepted part of German public discourse, breaking a taboo that had lasted a half-century.”102 Die Los Angeles Times gab allerdings bereits wenige Tage nach der Bundestagswahl den beiden Politikern den Rat zur schnellen Versöhnung: „‘Now boys’, a wise parent might say to President Bush and newly reelected German Chancellor Gerhard Schroeder. ‘Don’t you think it’s time to shake hands and make up?’“103 Gleichgültig, welche Emotionen die harsche Rhetorik bewirkt habe, weder Deutschland noch die USA könnten es sich leisten, ihre Streitigkeiten fortzusetzen. Bereits während des Wahlkampfes hatte die Los Angeles Times davor gewarnt, die Schrödersche Rhetorik als prinzipiell antiamerikanisch zu deuten. Schröder komme zwar aus dem linken Flügel der SPD, er sei jedoch kein antiamerikanischer Hitzkopf („no anti-American fireband“). Und seine Opposition gegen einen Irak-Krieg resultiere nicht aus einer Ablehnung der USA sondern aus seiner kritischen Einschätzung der von Bush verfolgten Politik.104 Schlussbetrachtung Da der Bundeskanzler auch nach seinem Wahlsieg – entgegen den bereits zitierten Behauptungen führender Oppositionspolitiker – gegenüber der amerikanischen Regierung bei seinem rigorosen „Nein“ in der Irak-Frage blieb, kamen die deutschen Bemühungen um eine Stabilisierung der bilateralen Beziehungen über Ansätze nicht hinaus. Zum Teil ist dies damit zu erklären, dass Schröder die Betonung deutscher Interessen auch für den Landtagswahlkampf in Niedersachsen für nützlich hielt. Zu nennen ist etwa seine viel zitierte Rede am 21. Januar 2003 in Goslar.105 Bedeutsamer war in diesem Kontext allerdings, dass sich die Bush-Administration in ihrem Führungsanspruch bedroht fühlte. Dieses Bedrohungssyndrom der Supermacht USA wurde noch dadurch verstärkt, dass auch Frankreichs Staatspräsident Chirac jede Unterstützung einer amerikanischen Militäraktion ablehnte und seit Anfang 2003 zu den USA stärker auf Distanz ging. Der von Washington verkündeten „Koalition der Willigen“106 standen die von der – seit Herbst 2002 reaktivierten107 – deutsch-französischen Achse dominierten Gegner des Irak-Krieges gegenüber, die noch „eine Alternative zum Krieg“ im Irak sahen.108 Diese Konfrontation drohte zum Sprengsatz für die Europäische Union zu werden. Zum Teil hat Washington diese innereuropäischen 101 102 103 104 105
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Daalder 2002: A27. Diehl 2002: A29. Accept Schroeder’s Offering. In: Los Angeles Times, 25. September 2002, S. B12. Vgl. Why They Say Nein to War. In: Los Angeles Times, 6. September 2002, S. B14. Vgl. Schröder schließt Ja zur Kriegsresolution aus, 22. Januar 2003, FAZ.NET (www.faz.net/s/ Rub9E7BDE69469E11D4AE7B0008C7F31E1E/Doc~E32C8579B82894ED09988DF916C3B8365~ATpl~Ec ommon~Scontent.html; 22.07.06); Leersch 2003: 3; Hogrefe 2003: 21. Vgl. Rice, Condoleezza: The Coalition, 6. April 2003 (www.whitehouse.gov/infocus/iraq/coalition.html; 17.04.05); „Unsere Stärke liegt in unserer Einigkeit“. Gemeinsamer Aufruf acht europäischer Staats- und Regierungschefs vom 30. Januar 2003, S. 373. Vgl. Maull 2003: 1292. „Es gibt noch eine Alternative zum Krieg“. Gemeinsame Erklärung von Frankreich, Deutschland und Russland zum Irak vom 10. Februar 2003 (Wortlaut), S. 372.
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Spannungen sogar bewusst gefördert. Dem „alten Europa“ wurde ein so genanntes „neues Europa“ gegenübergestellt. Offiziell beigelegt wurde der Disput zwischen Schröder und Bush mit dem Besuch des US-Präsidenten in Mainz im Februar 2005. Die deutsch-amerikanischen Irritationen konnten aber nicht nachhaltig überwunden werden. Die amerikanische Regierung hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie eine christdemokratisch geführte Berliner Regierung favorisierte. Daher eröffnete die Bildung der Regierung Merkel die Perspektive zu einer Verbesserung und Neujustierung der deutsch-amerikanischen und damit auch der transatlantischen Beziehungen.
Quellen und Literatur Internetquellen www.debates.org/pages/history.html; 22.07.06. www.faz.net/s/Rub9E7BDE69469E11D4AE7B0008C7F31E1E/Doc~E32C8579B82894ED09988DF916C3B8365 ~ATpl~Ecommon~Scontent.html; 22.07.06. www.fdp-bundesverband.de/aktuell/ presse.php?id=35029&page_nr=1&printversion=1; 29.01.05. www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/SPD_Schroeder_Rede_WahlkampfauftaktHannover.pdf; 21.07.04. www.wahlkampf2002.gmxhome.de/dokumente/tvduelle1.pdf; 17.04.05. www.whitehouse.gov/infocus/iraq/coalition.html; 17.04.05 www.whitehouse.gov/news/releases/2002/ 09/20020924-3.html#9; 22.07.06. Literatur Accept Schroeder’s Offering. In: Los Angeles Times, 25. September 2002, S. B12. Appenzeller, Gerd: Der Keil zwischen uns. In: Tagesspiegel, 29. August 2002a, S. 1. Appenzeller, Gerd: Stöber, Schroider? Von wegen! In: Tagesspiegel, 9. September 2002b, S. 1. Bandow, Doug: Am transatlantischen Graben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. September 2002, S. 35. Barone, Michael: German Poison. In: U.S. News & World Report, 26. September 2002. Beste, Ralf u.a.: Das Comeback des Kanzlers. In: Der Spiegel Nr. 38/16.9.2002, S. 24-34. Bonse, Eric: Schröder muss auf Bush und Chirac zugehen. In: Handelsblatt, 24. September 2002, S. 11. Bräuning, Burkhard: Zweite Chance. In: Gießener Allgemeine Zeitung, 24. September 2002, S. 4. Champion, Marc: German Vote Is Examined For Any Anti-U.S. Trends. In: Wall Street Journal, 24. September 2002, S. 6. Cramer, Ernst: Amerikas Bauchschmerzen In: Die Welt, 23. September 2002, S. 8. Daalder, Ivo H.: Mending Fences with Germany. In: Washington Post, 25. September 2002, S. A27. Dausend, Peter: Sprechstunde in Studio B. In: Die Welt, 26. August 2002, S. 3. Dausend, Peter & Haselberger, Stephan: Edmund Stoiber geht auf Distanz zur Bush-Administration. In: Die Welt, 29. August 2002, S. 7. „Deutschland vor der Wahl. Aktuelle Themen.“ In: Deutschland hat gewählt. Infratest dimap Wahlreport. Wahl zum 15. Deutschen Bundestag, 22. September 2002, Berlin 2002. Diehl, Jackson: The Poison Lingers. In: Washington Post, 14. Oktober 2002, S. A29. „Die Umfragen spornen uns an“. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15. September 2002, S. 4. Dowd, Maureen: No More Bratwurst! In: New York Times, 25. September 2002, S. 21. „Eigenständig im Bündnis und trotzdem Freunde“. In: Berliner Zeitung, 9. August 2002, S. 5. „Ein hundsgefährlicher Weg“. In: Welt am Sonntag, 25. August 2002, S. 4. Erlanger, Steven: Trailing in Polls, German Leader Tries Early Start in Race. In: New York Times, 6. August 2002a, S. 9. Erlanger, Steven: U.S. Quietly Chides German For His Dissension on Iraq. In: New York Times, 17. August 2002b, S. 4. Erlanger, Steven: For Now, Trading Allies for Votes. In: New York Times, 15. September 2002c, S. 1.
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Zentral geplant, lokal gekämpft Der Wahlkampf der SPD zur Bundestagswahl 2005 – Der Wahlkreis 293 Biberach als Fallbeispiel Von Alexander Geisler und Martin Gerster1
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Die SPD im Bundestagswahlkampf 2005: „Gefühlter Wahlsieg“ nach „gefühlter Abwahl“
Der Anfang hätte eigentlich das Ende sein sollen. Als am Wahlabend des 22. Mai 2005 die ersten Prognosen über die Bildschirme flimmerten, stand die Diagnose fest: Das Projekt Rot-Grün ist tot. Nach einer Serie von elf Wahlschlappen auf Landesebene und einer dramatischen Niederlage bei der Europawahl war mit dem Verlust des Ruhrgebiets letztendlich auch die sozialdemokratische Herzkammer in Nordrhein-Westfahlen zum Stillstand gekommen. Rund vier Jahrzehnte hatte die SPD in Düsseldorf regiert. „Manche Dinge müssen einfach rot bleiben“, so hatte noch 2000 die Wahlkampfleitdevise gelautet2 – nun würde die CDU den Ministerpräsidenten des bevölkerungsreichsten Bundeslandes stellen. Ein historischer Sieg für Jürgen Rüttgers und ein fataler Schlag für die Seele einer ohnehin angezählten sozialdemokratischen Partei. Rüttgers sollte sein Triumph nicht vergönnt sein. Eine knappe halbe Stunde nach Schließung der Wahllokale trat der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering vor die Presse und kündigte – am Tiefstpunkt der Regierungspopularität – Neuwahlen auf Bundesebene an. Dieser unerwartete „Befreiungsschlag“ kam scheinbar aus dem Nichts, sogar für die eigene Partei. Dem Schritt war eine einsame Entscheidung zwischen Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder vorausgegangen. Sie stellte den Auftakt zu einem Manöver dar, das womöglich das bis dato gewagteste Vabanquespiel der BRD-Wahlgeschichte werden sollte. Die SPD begann damit eine Partie, die von Anfang an als „Selbstmord aus Angst vor dem Tode“3 charakterisiert wurde. Eine Partie, die sich – nach einem verhaltenen Start – zu einer Aufholjagd entwickeln und in den vier Monaten bis zum 18. September der am „intensivsten geführte Wahlkampf in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik“4 werden sollte. Noch im Juni lag die CDU in den Umfragen nahezu uneinholbar vor den Sozialdemokraten. „Stimmungswerte von fast 25%, nach Meinung der Demoskopen ein Verlust von der Hälfte der Wählerinnen und Wähler von 2002 – das waren nur einige Zahlen, die uns Woche für Woche erreichten und mit denen die Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer der SPD tagtäglich auch medial eingedeckt wurden“, so Wahlkampfleiter Kajo Wasserhövel in einem Rückblick auf die wenig erbauliche Ausgangslage seiner Kampagne.5 Umso überra-
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Die Autoren danken Frau Vanessa Greiff für ihre wertvolle Unterstützung bei der Erstellung des Manuskripts. Vgl. Geisler & Tenscher 2002. Vgl. Priess 2005; vgl. ebenfalls Malzahn 2005. Tenscher 2006. SPD 2005b.
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schender das Wahlergebnis: 118 Tage nach dem Debakel von Düsseldorf und der Eröffnung des „Neuwahlkampfes“ lagen die beiden Volksparteien in der Wählergunst praktisch Kopf an Kopf. Für die Union angesichts des Traumstarts eine herbe Enttäuschung. Mit 35,2 Prozent konnte sie ihr erhofftes Ergebnis von mindestens 45 Prozent der Stimmen nicht annähernd erreichen und büßte weitere 3,3 Prozentpunkte gegenüber dem schwachen Ergebnis von 2002 ein.6 Die bereits totgesagten Sozialdemokraten hingegen gingen – trotz herber Verluste von 4,3 Prozentpunkten – als gefühlte Wahlsieger aus dem Abend hervor. Wie war ein solcher Umschwung möglich? Schließlich hatte niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik eine Partei in so kurzer Zeit einen so großen Vorsprung verspielt.7 Auf der Suche nach Ursachen stellt sich – unter Berücksichtigung der besonderen situativen Charakteristika – einmal mehr die Frage nach Wirksamkeit und Wirkungsbedingen von Wahlkampagnen. Spätestens seit Anfang der 90er Jahre wird auch in Deutschland massiv über die professionelle Ausgestaltung politischer Kommunikationsangebote und deren Folgen für die Demokratie diskutiert. Speziell Wahlkämpfe als Kulminationspunkte in der Auseinandersetzung um politische Zustimmung genießen dabei traditionellerweise die besondere Aufmerksamkeit von Wissenschafts- und Medienwelt. Für demokratische Systeme stellen sie zeitlich begrenzte Ausnahmesituationen dar, in denen die politischen Konkurrenten, in der Regel also Parteien und ihre Kandidaten, bemüht sind, den Wählerinnen und Wählern überzeugende Kommunikationsangebote zur Verfügung zu stellen. Ihr Ziel ist es deshalb, Einfluss auf die politische Tagesordnung zu gewinnen, Themen zu besetzen und um Sympathien für ihre personellen und inhaltlichen Alternativen zu werben. Anders gesagt geht es darum, „die längerfristigen Parteibindungen der Wähler zu aktualisieren sowie die beiden kurzfristig wirksamen Determinanten des Wahlverhaltens – die Kandidaten- und Sachthemenorientierung – im Sinne der Stimmenmaximierung für die eigene Partei optimal zu beeinflussen“.8 Gerade die langfristigen Parteibindungen scheinen sich jedoch im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte zunehmend abgetragen zu haben, traditionelle soziokulturelle Milieus haben sich von „ihren“ Parteien entkoppelt, die Zahl der potenziellen Wechselwähler steigt9 und viele Menschen entscheiden erst kurz vor dem Wahltermin, ob sie am Urnengang teilnehmen und wem sie ihre Stimme geben. Im Umkehrschluss lässt dies die Vermutung zu, dass Wahlkämpfe tendenziell an Bedeutung gewinnen10, da es bis zur letzten Minute gilt, das volatile Potenzial auszuschöpfen. Dass die Art und Weise, wie Wahlkämpfe geplant und geführt werden, in der Vergangenheit starken Veränderungen unterworfen war, darf in der wissenschaftlichen Diskussion mittlerweile als nahezu unbestritten gelten.11 Im Mittelpunkt der diesbezüglichen Debatten stand vor allem die Frage nach der Interpretation des dahinter stehenden Wandlungsprozesses. Wurde vor allem nach der Bundestagswahl von 1998 massiv über eine vermeintliche „Amerikanisierung“12 der politischen Wahlkampfkultur spekuliert, prägen gegenwärtig weniger plakative Etikettierungen die Auseinandersetzung. Ein populärer Ansatz interpretiert die Veränderungen im Bereich der Wahlkampfkommunikation analog zum Prozess der
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Schmitt-Beck & Faas 2006: 7 f. Vgl. Brettschneider 2005. Niedermayer 2000: 192. Vgl. Roth & Wüst 2005: 43. Vgl. Schmitt-Beck 2003. Vgl. Schoen 2005: 513 f. Vgl. Plasser 2000; vgl. ebenfalls Wagner 2005.
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gesellschaftlichen Modernisierung.13 Häufig wird dabei auf Dreiphasenmodelle zurückgegriffen, die Veränderungen in diversen Bereichen der Wahlkampfführung beschreiben. So hat sich der Wahlkampf neue Mittel, Wege und Techniken im Bereich der Kommunikation erschlossen, wie sich gerade in der Bedeutungszunahme der elektronischen Medien und hier speziell des Internets zeigt.14 Auch hat sich die traditionelle Mobilisierungsorientierung der Wähleransprache zugunsten einer auf Interaktivität setzenden, den Wähler als Kunden begreifenden Ansprachelogik gewandelt. Daraus wird eine Reihe von Veränderungen für den Gesamtstil der Kampagnen abgeleitet.15 Zusammenfassend stehen vormodernen Wahlkämpfen, die – idealtypisch betrachtet – kurzfristig angelegt, dezentral organisiert und von den lokalen Parteistrukturen getragen wurden, moderne Wahlkampfformen gegenüber, welche den Bedürfnissen einer individualisierten, differenzierten und medial stark vernetzten Massengesellschaft besser gerecht werden. Ein erstes wichtiges Charakteristikum moderner Wahlkämpfe stellt dabei die zentrale Koordinierung der entsprechenden Kampagnen dar, die in „Phase 3“-Modellen16 um spezialisierte, dezentrale Strukturen ergänzt wird, um beispielsweise regionalen Besonderheiten und Bedürfnissen vor Ort besser Rechnung tragen zu können. Hinsichtlich der Wahlkampfführung wird davon ausgegangen, die Parteien bedienten sich in immer stärkerem Maße der zur Verfügung stehenden Medien und machten sich deren Eigenlogik gezielt zu Nutze, beispielsweise indem sie ihre Kommunikationsangebote an den Arbeitsbedingungen, -techniken und normativen Erwartungshaltungen von Journalisten ausrichten (Ereignis- bzw. Newsmanagement). Die Berichterstattung der Massenmedien dient dabei als kostenloses Transportvehikel politischer Kommunikationsinhalte (free media), das das Repertoire teurer Eigenproduktionen (paid media), beispielsweise in Form von Werbespots und Zeitungsanzeigen, ergänzt, erweitert und teilweise ersetzt. Das betrifft auch die Tendenz der Parteien, ihrer Natur nach unpolitische Medienangebote, wie beispielsweise Talkshows17 und andere Unterhaltungsformate18, zu nutzen, um ihren Kandidaten und Themen öffentlich Gehör zu verschaffen (Entertainisierung und Talkshowisierung). Die Person der wahlkämpfenden Politiker rückt dabei in immer stärkerem Maße in den Mittelpunkt der Kampagnen, wodurch die Beteiligten selbst zum Ankerpunkt der politischen Botschaften (Personalisierung) avancieren. Damit geht zudem eine Tendenz einher, das Privatleben des politischen Personals zum Wahlkampfthema zu machen, um zusätzliche Aufmerksamkeit zu generieren und den Eindruck von Menschlichkeit und Bürgernähe zu vermitteln (Privatisierung). Schließlich gelten auch die gezielte Beobachtung der politischen Konkurrenz19 sowie Rückgriffe auf Techniken des „Negative Campaignings“ als Kennzeichen professionalisierter Kampagnen. Ziel solcher Maßnahmen ist es, die Persönlichkeit des politischen Gegners in ein schlechtes Licht zu rücken und sein Image gezielt zu beschädigen. Im Zuge der Modernisierung wandelt sich somit das strategische Grundparadigma der Wahlkämpfe von einer vormodernen Parteienlogik hin zur Medienlogik der Moderne, die in ihrer maximal professionalisierten Variante einer übergreifenden Marketingorientierung gehorcht und 13 14 15 16 17 18 19
Vgl. Geisler & Sarcinelli 2002. Vgl. Geisler 2002. Vgl. Gibson & Römmele 2006: 6. Vgl. Farrell & Webb 2000. Vgl. Tenscher 2002. Vgl. Dörner 2001. Die SPD zog in der Selbstbeschreibung ihrer Wahlkampfstruktur die Bezeichnung Konkurrenzbeobachtung dem Terminus „Gegnerbeobachtung“ vor.
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statt auf reine Breitenwirkung auf die zielgruppengerechte Ansprache unterschiedlicher Wählersegmente abzielt.20 Diese Neigung schlägt sich zunächst im Ausbau von Feedbackinstrumenten nieder, was sich in umfangreichen Rückgriffen auf Meinungsumfragen oder die Beobachtung spezieller Fokusgruppen manifestiert. Ähnliches gilt für den Bereich der direkten Kommunikation durch E-Mail-, Brief- und Telefonaktionen, die ebenfalls einer Tendenz zur zielgruppenspezifischen Differenzierung nach Marketingkriterien (Narrow Casting) unterliegen. Die in diesen Bereichen anfallenden Aufgaben werden mit steigendem Modernitätsgrad verstärkt durch externe Dienstleister übernommen, deren fachliches Know-how somit an Bedeutung für den Bereich der Routinepolitik außerhalb des Wahlkampfs gewinnen soll. Im Stadium des „postmodernen Wahlkampfes“21 stellt sich Politik als permanente (Wahl-) Kampagne dar, die in Planung und Durchführung das Produkt hochprofessioneller Experten ist. Dieses Outsourcing hat letztendlich seinen Preis: Wachsende Etats für Beratung, Forschung und Werbung sind ein weiteres Wesenmerkmal (post-)moderner Kampagnen. Gerade das Leitmotiv der Professionalisierung in der Politikvermittlung genießt gegenwärtig massive wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Wenngleich man in Deutschland noch weit von den nahezu mythologisierten Spin-Doctors amerikanischer Prägung entfernt ist22, steht die Rolle von „Politikvermittlungsexperten“23 aller Art innerhalb und außerhalb von Wahlkämpfen nach wie vor im Mittelpunkt des Interesses. „Professionalisierung“ wird dabei zum Synonym für den State-of-the-art zeitgemäßer Wahlkampfführung, um dem etwas sperrigen Begriff des Postmodernen zu entkommen. Tabelle 1: Kriterien professionalisierter Wahlkämpfe Kommunikationsstrukturen Größe der Wahlkampfbudgets Größe des Mitarbeiterstabes Ausmaß der Zentralisierung der Kampagnenorganisation Ausmaß der Externalisierung Ausdifferenzierung der internen Kommunikationsstrukturen Art und Umfang der Rückkopplung Ausmaß der Gegnerbeobachtung Kampagnendauer
Kommunikationsstrategien Ausmaß der Zielgruppenorientierung Ausmaß der Narrowcastingaktivitäten Relevanz der paid media Relevanz der free media Relevanz der Talkshowisierung Ausmaß der Ereignis- und Newsmanagements Ausmaß der Personalisierung Ausmaß der Privatisierung Ausmaß des Negative Campaigning
Hinsichtlich der Bundestagswahlen 2005 gibt es bemerkenswerte Bemühungen, den Begriff der Professionalität zu operationalisieren und somit messbar zu machen.24 Dabei bietet es sich an, den Professionalisierungsgrad von Wahlkämpfen an der Ausprägung bestimmter Kommunikationsstrukturen einerseits, andererseits an der Entwicklung der zum Einsatz kommenden Kommunikationsstrategien festzumachen.25 Das Niveau der erreichten Professionalisierung lässt sich auf Grundlage eines solchen Index (vgl. Tabelle 1) auch im Ver20 21 22 23 24 25
Vgl. Plasser 2003. Norris 1997. Vgl. Mihr 2003. Tenscher 2003. Vgl. Römmele & Gibson 2005. Vgl. Geisler & Tenscher 2002.
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gleich unterschiedlicher Wahlkampagnen darstellen, beispielsweise in der Gegenüberstellung von Europa- und Bundestagswahlkämpfen.26 Während die entsprechenden Studien jedoch primär die Perspektive der Wahlkampfzentralen wiedergeben, bleibt die Dimension der praktischen Umsetzung vor Ort zumeist außen vor. Dabei ist die Frage, ob die Modernisierung von Wahlkämpfen zwangsläufig zu einer „Funktionsentleerung der Parteibasis“27 führt, durchaus nicht trivial. Wie gestaltet sich die Rolle der Parteimitglieder im Rahmen der Wahlkampfführung? Kann Professionalisierung dazu beitragen, auch hier Effekte zu schaffen, die für das Gelingen des beobachteten Meinungsumschwungs auf den letzten Metern des Wahlkampfes zentral waren? Aktuelle Stimmen aus der Politikberatung betonen immer wieder die Rolle der „Grassrootskampagne“28, die neben der medialen Fokussierung auch auf die Wirkung direkter, interpersoneller Kommunikation setzt. Vor diesem Hintergrund nimmt sich der vorliegende Beitrag der Kampagne der SPD zur Bundestagswahl 2005 an und will zu einer vernetzten Betrachtung von strategischer und lokal-operativer Ebene beitragen. Aus der Perspektive der praktischen Wahlkampforganisation vor Ort soll er anregen, eine bislang wenig beachtete Facette im komplexen Mosaik von Professionalisierung und Modernität bundesdeutscher Wahlkampführung näher unter die Lupe zu nehmen. Die Mikroperspektive der SPD-Kampagne wird dabei am Fallbeispiel des Wahlkreises 293 Biberach ausgeleuchtet, in dem einer der Autoren des vorliegenden Beitrags selbst den Wahlkampf als Kandidat zu bestreiten hatte. So sollte es möglich sein, einen Eindruck aus erster Hand über die Bedingungen, Handlungsspielräume und Schwierigkeiten von Bundestagswahlkämpfen in den einzelnen Wahlkreisen zu bieten, um weitere systematisch ansetzende Forschung auf diesem Gebiet zu unterstützen. 2
Strukturen, Strategien, Stationen: Vom Kaltstart zum Fotofinish
Im Bundestagswahlkampf 1998 war es der SPD zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik gelungen, eine Regierungsmehrheit durch Abwahl aus dem Amt zu drängen. Mit ihrer parteiexternen Wahlkampfzentrale, der es sogar möglich war, sich selbst – im Sinne eines „Meta-Campaignings“ – zum Wahlkampfthema zu stilisieren, kreierten die SPD-Wahlkämpfer geradezu einen eigenen „Kampa-Mythos“ (Hans-Matthias Kepplinger). Die diesem Wahlsieg zugeschriebene Dimension bot zahlreichen Spekulationen bezüglich einer scheinbar unaufhaltsamen Professionalisierung der politischen Kommunikationskultur in Deutschland fruchtbaren Nährboden. 2002 hatten die Sozialdemokraten trotz ungünstiger Ausgangsbedingungen ihr Ziel erreicht, an der Regierung zu bleiben. Damals führten viele Beobachter dies jedoch weniger auf ihre eigene Stärke als vielmehr die relative Schwäche des Gegenkandidaten Edmund Stoiber und den Zufall der Flutkatastrophe zurück, bei der Kanzler Schröder seinen medialen Amtsbonus geschickt auszuspielen verstand. Die Wahlkampfführung der politischen Kontrahenten erschien hingegen durch die Bank relativ „unspektakulär, ideen- und leidenschaftslos“.29 Von einem Mangel an Leidenschaft konnte im Bundestagswahlkampf 2005 zumindest keine Rede sein.
26 27 28 29
Vgl. Tenscher 2006. Vgl. Niedermayer 2000. Vgl. Korte 2005; vgl. ebenfalls Melchert, Magerl & Voigt 2006. Tenscher 2005a.
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2.1 Zurück zur Zentrale: Der SPD-Bundestagswahlkampf im Willy-Brandt-Haus Als Gerhard Schröder antrat, um Helmut Kohl abzulösen, hatte sich die SPD rund zwei Jahre Zeit genommen, um den Wahlkampf vorzubereiten. Zeit, die sie 2005 angesichts des turbulenten Starts in den Kampf ums Kanzleramt schlichtweg nicht hatte. Es verwundert deshalb kaum, dass man diesmal auf eine externe Kampa verzichtete und den Mitarbeiterstab der Wahlkampfleitung im Berliner Willy-Brandt-Haus (WBH) ansiedelte. Wahlkampfleiter wurde Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel, der den Wahlkampf in enger Kooperation mit Kanzleramt und Parteiführung koordinierte. Als wichtigster externer Kooperationspartner fungierte die Düsseldorfer Agentur BUTTER, mit der die SPD bereits in Nordrhein-Westfahlen und Thüringen zusammengearbeitet hatte und die für das kreative Gesamtkonzept verantwortlich zeichnete. Unter Kreativchef Frank Stauss übernahm BUTTER 2005 zum ersten Mal einen Wahlkampf auf Bundesebene. Des Weiteren kooperierten die Sozialdemokraten mit der Webagentur Face2net, Becker/Kronacher und CompactTeam als Eventagentur, die bereits 1998 den – unter Wahlkampfkennern „legendären“30 – Leipziger Parteitag der SPD organisiert hatte. Insgesamt 240 Personen wirkten am Wahlkampf des Willy-Brandt-Hauses mit, von denen ein Großteil (190) dauerhaft für die Partei tätig war. Weitere 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden eigens für den Wahlkampf angestellt. Zudem leistete sich die Partei 30 externe Beraterinnen und Berater, die in Planung und Durchführung der Kampagne eingebunden waren. Die organisatorische Spitze der Kampa im WBH bildete die politische Wahlkampfleitung, der die technische Wahlkampfleitung unterstellt war. Dieser arbeiteten zum einen die Agenturen zu, die mit der Produktion der Werbematerialien und Medienprodukten betraut waren. Auch war ihr die so genannte „Koordinierungsgruppe“ angegliedert, der unter anderem die Organisation von Veranstaltungen und Kongressen oblag. Die Abteilung Finanzen war ebenfalls der technischen Wahlkampfleitung direkt zugeordnet und betreute die diversen Aspekte der Wahlkampffinanzierung. Verschiedene Unterabteilungen beschäftigten sich mit der Gewinnung und Betreuung von Unterstützerinnen und Unterstützern, mit Fragen des Themenmanagements, dem umfangreichen Onlinewahlkampf31 der Partei oder Themenfeldern wie Analyse/Forschung/Technik und last but not least der Presse. Besonders bemerkenswert ist auch die Schaffung des „Roten Telefons“ als Betreuungshotline für Fragen zum Wahlkampf. Angesichts der entscheidenden Rolle der ostdeutschen Wahlkreise leistete eine eigene Unterabteilung den eher strukturschwachen Landesverbänden in Ostdeutschland mit speziellen Wahlkampfunterstützergruppen, zusätzlichen Mitteln für Anzeigen und speziellen Angeboten wie „roten Wahlkampfbussen“ Hilfestellung.
30 31
Vgl. Lianos & Schwarz 2005: 05. In diesem Bereich entfaltete nicht nur der Wahlkampf der SPD besondere Dynamik. Auch andere Parteien entdeckten das Internet und die neuen Möglichkeiten des jungen Mediums für sich, was auf die Fortsetzung der bereits seit längerem anhaltenden Entwicklung hindeutet (vgl. Geisler 2002). Allein die Sozialdemokraten etablierten neben der bestehenden Internetseite des Bundeskanzlers (www.gerhard-schroeder.de) eine Angriffsseite für ihr Negative Campaigning (www.die-falsch-wahl.de), eine Plattform zur Unterstützung ihrer Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer (www.rote-wahlmannschaft.de) sowie ein Portal zur Vernetzung von wahlkampfbezogenen online-Tagebüchern (weblogs) unter der Adresse www.roteblogs.de. Hauptamtliche Mitarbeiter konnten zentrale Informationen über ein Intranet abfragen und austauschen. Die Plattform Spd.online hielt darüber hinaus besondere Wahlkampfinformationen für Mitglieder bereit, während die Parteiseite www.spd.de zum „zentralen Kampagnenportal“ (SPD-Intern 6/2005) ausgebaut wurde und zusätzlich Plattformen vernetzen sollte.
259
Vor dem Hintergrund der lokalen Kampagnenführung ist jedoch vor allem die von der Kampa eigens eingesetzte Projektgruppe „Mobilisierung und Regionalisierung“ von Interesse. Ihr kam die Aufgabe zu, die regionalen Aktivitäten der Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer zu koordinieren und zu unterstützen. Dabei hatte sie speziell die in vielen Wahlkreisen gegründeten „Jungen Teams“32 sowie die Aktivitäten der AG 60+ im Auge und koordinierte darüber hinaus eine Aktionsbörse, die als Marktplatz für Wahlkampfideen genutzt werden konnte. Schließlich wirkte die Projektgruppe auch an der raschen Integration von Neumitgliedern in den Wahlkampf mit. Das anfänglich verplante Budget von 25 Millionen Euro wurde für den Wahlkampfendspurt noch einmal um 2,2 Millionen aufgestockt. Mit insgesamt 27,2 Millionen war der SPD-Wahlkampf 9,2 Millionen teurer als die Kampagne der CDU, die ihrerseits 18 Millionen Euro eingeplant hatte. Ihre Schwesterpartei, die CSU, investierte immerhin 4,9 Millionen in ihre Kampagne. Linkspartei und Grüne gaben für ihre Werbefeldzüge 4,25 bzw. 3,8 Millionen Euro aus, die FDP beließ es bei 3,5 Millionen. Somit hatte der Gesamtwahlkampf ein Volumen von 61,65 Mio. Euro.33 2.2 Orientierungsversuche: Ausgangslage und Positionierung der SPD-Kampagne Angesichts der geschilderten Vorgeschichte erfolgte der Start in den Wahlkampf unter gewissen Vorbehalten. Zunächst stand die Legitimität der absichtlich verloren gegebenen Vertrauensfrage massiv in Frage. Erst zwei Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hatte es vorzeitige Wahlen gegeben – 1972 und 1983, schon damals unter schwer wiegenden Bedenken bezüglich des formalen Procedere. Zwei Hürden galt es zu nehmen, um die Neuwahlen überhaupt möglich zu machen: Die Entscheidung des Bundespräsidenten und die Bestätigung dieser Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht. Der Schritt in Richtung Neuwahlen war zunächst ohne Konsultation des Bundespräsidenten gemacht worden. Es war jedoch völlig unklar, ob Horst Köhler diese Entscheidung mittragen würde. Zudem stand Schröder vor der schwierigen Herausforderung, seinen Kurs glaubwürdig zu erklären. Das Argument, Neuwahlen seien der Weg, die im Bundesrat vorhandenen Blockaden zu überwinden, hätte jeden ernsthaften Wahlkampf unmöglich gemacht – wäre doch jede Stimme für den SPD eine Stimme für den Status quo gewesen. So verschob sich Schröders Linie zur Begründung des Weges in die Neuwahl mehrfach. Trotz der fehlenden Ansprache und erheblicher juristischer Einwände34 gegenüber dem eingeschlagenen Weg löste Bundespräsident Horst Köhler den Bundestag am 21. Juli auf und setzte Neuwahlen für den 18. September an. Die Abgeordneten Jelena Hoffmann (PDS) und Werner Schulz (Die Grünen) klagten daraufhin beim Bundesverfassungsgericht, das am 25. August bestä-
32
33
34
Dabei handelte es sich um ein von der SPD und den Jungsozialisten (Jusos) entwickeltes Konzept „von jungen Leuten für junge Leute“. Die jungen Teams sollten durch „ihre offene, aktionsorientierte Struktur“ auch parteinahe, wahlkampfinteressierte Personen ansprechen und integrieren. Die hier vorgestellten Zahlen entstammen dem Datenbestand des European Campaign Projects (ECP), das von Jens Tenscher (Universität Koblenz-Landau) in Zusammenarbeit mit Tom Moring (Universität Helsinki) durchgeführt wird und eine langfristig angelegte Vergleichsstudie zur Modernität von Kampagnenstrukturen und Strategien darstellt. Für die freundliche Unterstützung möchten sich die Autoren an dieser Stelle herzlich bedanken. Die Angaben stammen von den verantwortlichen Wahlkampfleitern selbst, weshalb auf abweichende Daten, die sich auf Informationen aus Pressekreisen berufen, keine Rücksicht genommen wurde (vgl. Schmitt-Beck & Faas 2006). Vgl. Schenke & Baumeister 2005.
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tigte, dass Köhlers Entscheidung mit dem Grundgesetz in Einklang war. Der Weg zu Neuwahlen war frei. Gerade aus Kürze und Kurzfristigkeit, die es notwendig machten, in Rekordzeit einen inhaltlich und organisatorisch stimmigen Wahlkampf aus dem Boden zu stampfen, bezog die SPD-Kampagne – wie der Wahlkampf insgesamt – eine besondere Dynamik.35 Hierbei sahen sich die Sozialdemokraten gezwungen, aus der Not eine Tugend zu machen. Obwohl der für die ursprüngliche Legislaturperiode 2006 bis 2010 angepeilte Programmfindungsprozess nicht abgeschlossen war, stand die SPD – wie alle anderen Parteien – plötzlich vor dem Problem, ihre Kampagne und die entsprechenden Positionierungen unter hohem Zeitdruck zu entwickeln. Als treibende Kraft hinter der überraschenden „Neuwahl“ galt es darüber hinaus, diese Entscheidung zu begründen und sie den Menschen glaubhaft zu vermitteln. Der deutliche Vorsprung der Union in den Umfragen, die Vertrauens- und Mobilisierungsprobleme bei der eigenen Wählerschaft und die neue Konkurrenz durch die „Linkspartei“ taten ihr Übriges, um den Aufbruch in den Wahlkampf zu verkomplizieren.36 Entsprechend „holprig“37 gestaltete sich angesichts dieser Situation der Start in die Kampagne. Lediglich die – eigentlich überaus problematische – Tatsache, dass große Teile der Medien die Abwahl von Rot-Grün nur noch als Formalie behandelten, sollte sich im weiteren Zeitverlauf ironischerweise als Vorteil für die SPD-Wahlkämpfer herausstellen. Grundlage aller weiteren Entscheidungen musste eine gründliche Situationsanalyse sein. Hinsichtlich ihrer Chancen auf dem Wählermarkt orientierte sich die SPD-Kampagne an folgenden Einschätzungen, die sich primär aus der Auswertung der vergangenen Bundestagswahl ergaben38: ! Die der SPD zugeneigten Wählerinnen und Wähler wurden als jünger und besser qualifiziert als der Bevölkerungsdurchschnitt identifiziert. Ihre politischen Forderungen lagen in einer „sozial gerechten Zukunftspolitik, die die Interessen der jüngeren Generation im Blick hat und die Arbeitslosigkeit bekämpft“.39 Sie gaben der SPD die Durchschnittsnote 2,8. ! Unentschiedene Wählerinnen und Wähler, die der Partei 2002 verloren gingen, entstammten vor allem den mittleren berufsaktiven Altergruppen. Innerhalb dieser Gruppe fanden sich überdurchschnittlich viele Menschen mit einfachen und mittleren Schulabschlüsse sowie Arbeiter. Für sie standen politisch vor allem die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und mehr Verteilungsgerechtigkeit im Vordergrund. Neben Gerechtigkeit forderte diese Gruppe aber auch Sicherheit und Ordnung ein. Beide Volksparteien hatten in dieser Schicht an Vertrauen verloren, die SPD (Durchschnittsnote 3,6) jedoch weniger als die CDU (3,8). ! Bei den Wechselwählern, die man 2002 an die CDU verloren hatte, war zu konstatieren, dass diese sich bereits relativ weit von der SPD entfremdet hatten. Sie vergaben die Durchschnittsnote 3,9 an die Sozialdemokraten (Union: 3,0). Diese Gruppe war zum einen älter als der Durchschnitt, zum anderen fanden sich hier überdurchschnittlich viele Männer. Eine große Mehrheit sah sich als Gewinner der Entwicklung. ! Was das Wählerpotenzial der Linkspartei angeht, wurde dieses als jünger und weiblicher als der Durchschnitt identifiziert. Besonders auffällig war die Heterogenität dieser Grup35 36 37 38 39
Vgl. Schmitt-Beck 2006: 15. Vgl. SPD 2005a. Priess 2005: 10. Vgl. SPD 2005a. Ebd.
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pe, die „postmaterialistisch“ eingestellte Wählergruppen und enttäuschte Arbeitnehmer sowie Menschen, die sich als Verlierer der politischen Entwicklung sehen, vereinte. Mit der Durchschnittsnote 3,2 bewerteten sie die SPD aber deutlich besser als der Durchschnitt der Unentschiedenen. Für die strategische Positionierung der Partei war somit eine Abgrenzung in zwei Richtungen notwendig. Gegenüber Schwarz-Gelb galt es, dem zu erwartenden Bilanzwahlkampf die Spitze zu nehmen, fehlende Erfolge und sonstige negative Aspekte der Regierungsarbeit zu dethematisieren und politische Bereiche in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken, in denen der Sozialdemokratie ein Kompetenzvorsprung zugeschrieben wurde.40 Keineswegs wollte man der Union den in Nordrhein-Westfahlen erfolgreich praktizierten Versuch durchgehen lassen, ihre Positionen „weichzuspülen“ und sich um klare Aussagen bezüglich ihrer Ziele im Falle der Regierungsübernahme zu drücken. Auch musste die Möglichkeit berücksichtigt werden, dass die Union ein klares wirtschaftliberales Programm vorlegen könnte. Die Tatsache, dass Angela Merkel als Anwärterin auf das Kanzleramt noch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war, galt es ebenfalls einzukalkulieren. Konkret bedeutete das für die SPD, den Wahlkampf der CDU als kalkulierte „Politik der Verunsicherung“ darzustellen und ihre Bilanzierungsversuche ins Licht der Unglaubwürdigkeit zu rücken. Etwaige Ausweichmanöver der Union nach der „Methode Rüttgers“ wollte man mit der Riposte kontern, die Union lasse die FDP aussprechen, was sie selbst plane. Im Falle einer klaren wirtschaftsliberalen Gangart der Union sollte ein aggressiver Wahlkampf gegen die „soziale Kälte“41 der Christdemokraten gefahren werden, getragen vom Vorwurf, den sozialen Konsens aufkündigen zu wollen. Kurz gesagt, galt es zu vermitteln: „Mit der Union wird es vielen schlechter gehen“. Bezüglich der CDU-Kanzlerkandidatin lautete die Stoßrichtung, das von CDU-Seite bewusst „unbeschriebene Blatt“ mit eigenen Inhalten füllen, um sie für die eigene Klientel unattraktiv zu machen und SPD-nahe Wähler zur „Wahl gegen Merkel“ zu motivieren. Hierfür fand man im Willy-Brandt-Haus eine Reihe von Ansatzpunkten. Das noch unscharfe Image der CDU-Fraktions- und Parteivorsitzenden sollte genutzt werden, um sie als zaudernd und taktierend darzustellen. Ihre Haltung zum Irak-Krieg bot ausreichend Angriffsfläche, um sie als aufgeschlossen für außenpolitische Abenteuer erscheinen zu lassen und sie politisch Seit an Seit mit dem – in Deutschland gemeinhin – unpopulären USPräsidenten George W. Bush zu verorten. Auch sollte die im Vergleich zu 2002 klare koalitionsstrategische Allianz zwischen FDP und Unionsparteien genutzt werden, um Angela Merkel und den FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle als wirtschaftsliberales „Duo Infernale“ darzustellen. Hierdurch wollte man den der FDP – in weitaus stärkerem Maße anhaftenden – Vorwurf der sozialen Kälte auch auf Merkel und ihre Partei abfärben lassen. Seitens der Linkspartei erwartete man in der SPD-Wahlkampfzentrale den Versuch, sich als einzige wirkliche Alternative gegenüber den etablierten Parteien zu inszenieren. Die dabei ins Feld geführten Argumente betrachtete man als „Sozialpopulismus“ und strebte an, sie als „Politik der Illusion und der Verantwortungslosigkeit“42 zu entlarven. Dabei sollte vor allem die Finanzierbarkeit der von der Linkspartei vertretenen Ideen in Frage gestellt werden, um sie als verkappte „Steuererhöhungspartei“ brandmarken zu können. Um am linken Rand nicht zu viele von der SPD enttäuschte Wähler an den WASG-Flügel zu 40 41 42
Vgl. Brettschneider 2005: 21 Vgl. Jesse 2006: 24. SPD 2005a
262
verlieren, sollte der Zusammenschluss mit der PDS als Etikettenschwindel charakterisiert werden, im welchem klar die Ideen und Anhänger der vormaligen SED-Nachfolgepartei dominierten43. Die Doppelkandidatur von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine wollte man mit dem Verweis auf deren unrühmliche Rücktrittsgeschichte als Berliner Wirtschaftssenator bzw. als Bundesfinanzminister auskontern. Beiden sollte das Image von Schönwetterpolitikern verpasst werden, denen es am notwendigen Charakter mangelte, um im Ernstfall realpolitische Verantwortung zu tragen. 2.3 Alles auf Rot: Strategiefindung Aufbauend auf diesen Vorgaben entschied man sich seitens der SPD für einen Wahlkampf, der gezielt auf die polarisierende Wirkung einer Richtungswahl zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün setzte, womit man insbesondere frühere SPD-Wählerinnen und Wähler von 2002 sowie jene Sympathisanten ansprechen wollte, die man zwischenzeitlich an die Linkspartei und das Lager der Unentschiedenen verloren hatte. Drei zentrale Botschaften galt es zu kommunizieren, um die aus Sicht der SPD gewünschten Resultate zu erzielen: ! Positive Bilanzierung der Regierungsarbeit im Sinne der anzusprechenden Wählerinteressen: „Wir haben Deutschland gerecht erneuert und stellen diese Politik zur Wahl.“ ! Polarisierung durch Zuspitzung auf fundamentale Gegensätze in der politischen Zielrichtung: „Es geht um eine Richtungsentscheidung über die zukünftige Politik.“ ! Zuspitzung durch Betonung der Personalalternative Schröder vs. Merkel: „Gerhard Schröder ist der bessere Kanzler für unser Land.“ Einen weiteren Aspekt der Neupositionierung stellte die gezielte rhetorische Linksprofilierung der SPD dar, die in der von Franz Müntefering angestoßenen „Heuschreckendebatte“ zur Rolle des global flexibilisierten Kapitals kulminierte. Auch die Bezeichnung des am 4. Juli verabschiedeten SPD-Wahlprogrammes als „Wahlmanifest“ stellte – zumindest semantisch – Anklänge an historisch-programmatische Vorbilder des 19. Jahrhunderts her und sorgte dafür, dass man den Sozialdemokraten von Seiten der Medien eine inhaltliche Akzentverschiebung „back to the roots“ attestierte.44 Gerade in Bezug auf das Duell Schröder vs. Merkel wollte die SPD durch die kommunikative Zuspitzung der Botschaften auf die beiden Spitzenkandidaten zur angestrebten Polarisierung beitragen. Dabei sollten die Tabelle 2 zusammengefassten Akzente gesetzt und im Sinne des Richtungswahlkampfes kontrastiert werden.45 Es ist eine Grundregel des Wahlkampfes, auf die eigenen Stärken zu setzen und vom Gegner thematisierte Schwächen nur im notwendigsten Maße zu kontern. Bei der strategischen Anlage ihrer Selbstdarstellung setzte die Partei deshalb auf drei Punkte, die sie für sich als Gewinnerthemen identifiziert hatte: Mut zu Reformen, Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit. Der Claim „Vertrauen in Deutschland“ sollte diese Botschaft komprimiert transportieren und das Motiv der gestellten Vertrauensfrage semantisch einbetten. Auch auf der visuellen Ebene sollte Aufbruchsstimmung demonstriert und mit traditionellen Sehge-
43
44 45
Die Ängste vor einer Vereinnahmung der Wahleralternative durch die PDS existierten auch innerhalb der frisch gegründeten Partei massiv und wurden unter anderem von der Beobachtung untermauert, dass die WASG insgesamt nur so viele Mitglieder hatte, wie die PDS in ihren strukturschwachen westdeutschen Landesverbänden (Schoen & Falter 2005: 34). Vgl. Niedermayer 2006: 143. Vgl. SPD 2005a.
263
wohnheiten gebrochen werden: Im Erscheinungsbild der SPD-Kampagne löste Umbra das traditionelle – aber unter Werbegesichtspunkten „abgenutzte“ – Blau ab.46 Tabelle 2: SPD-Strategie – Angestrebte Kontrastierung im Kandidatenvergleich Gerhard Schröder
Angela Merkel
Glaubwürdigkeit
Hat das Vertrauen der Menschen
Die Menschen vertrauen ihr nicht
Souveränität
Er vertraut Deutschlands Stärken
Sie vertraut Deutschlands Stärken nicht
Soziale Gerechtigkeit
Erneuerung mit Augenmaß
Reformiert nach McKinsey-Prinzipien
Internationales Ansehen
Guter Repräsentant im Ausland
Schlechte Repräsentantin
Entschlusskraft/Durchsetzungsfähigkeit
Entscheidet klar und mit Verantwortung
Zaudert und taktiert
Mediationsfähigkeit
Kann in der Gesellschaft vermitteln
Kann gesellschaftlich nicht vermitteln
Dialogfähigkeit ggü. dem Bürger
Volksnah
Distanziert
Entsprechend den angepeilten Gewinnerthemen erfolgte auch die Ausgestaltung der Kommunikationskampagne, die in der ersten Dekade mit fünf unterschiedlichen Großflächenplakaten (insgesamt rund 25.000 bundesweit) startete. Diese sollten die Positionen der SPD auf den entsprechenden Feldern mit den noch weitgehend unbekannten Alternativangeboten der politischen Konkurrenz in Zusammenhang bringen („Wir stehen für den Mut zum Frieden. Aber wofür stehen die anderen?“). Die zweite Dekade spitzte die Kampagne auf die Person Gerhard Schröders zu, wobei eine Reihe von Porträtfotos den Kanzler möglichst authentisch und ohne künstlich anmutende Retusche als „echten“ und „ernsthaften“ Politiker präsentieren sollte.47 Diese Personalisierung gipfelte in der dritten Dekade in einem Porträtplakat mit dem Slogan „Kraftvoll. Mutig. Menschlich“, das in der letzten Woche vor der Wahl mit dem Aufkleber „Damit Deutschland sozial bleibt – beide Stimmen SPD“ versehen wurde. Ergänzt wurde die Großflächenplakatierung durch eine ganze Reihe thematischer Plakate, die gemeinsam mit den jeweiligen Kandidatenmaterialien durch die Partei vor Ort bestellt und platziert wurden. Anzeigen wurden in überregionalen und regionalen Tageszeitungen, in Zeitschriften und – speziell für Ostdeutschland und Berlin – auch in Anzeigenblättern geschaltet. Die TV-Spots der Partei wurden 16 Mal im öffentlichrechtlichen Fernsehen ausgestrahlt, hinzu kamen 153 Ausstrahlungen bei den Privatsendern. Der Kinospot der Sozialdemokraten lief in 627 Lichtspielhäusern und 55 Städten. Flankierend ergänzten in einzelnen Regionen Maßnahmen wie Postkartenaktionen, Hörfunkspots mit Veranstaltungshinweisen und zusätzliche Anzeigen in überregionalen Tageszeitungen, in denen sich prominente SPD-Unterstützer der Öffentlichkeit vorstellten, den Medienwahlkampf der SPD.48 Als Projektionsfläche für ihre Inhalte setzte die Partei gerade in der Schlussphase ganz auf ihr Aushängeschild Gerhard Schröder, der in der Kanzlerpräferenz der Bevölkerung fast 46 47 48
Vgl. SPD 2005b: 10. Vgl. SPD 2005b: 12. Vgl. SPD 2005a.
264
über die gesamte Wahlkampfzeit hinweg vor Merkel lag. Auch bei der eigenen Anhängerschaft war Schröder nahezu den ganzen Wahlkampf hindurch beliebter als Merkel bei den CDU-Sympathisanten.49 Nicht nur im Rahmen der Medienkampagne stand die Person Gerhard Schröder konsequent im Vordergrund, auf seiner Wahlkampftournee hatte der Kanzler etwa einhundert Wahlkampfveranstaltungen zu absolvieren.50 Er und Vizekanzler Franz Müntefering sprachen auf 60 Großveranstaltungen mit insgesamt über 300.000 Zuschauern. In diesem Zusammenhang ist allerdings zu beachten, dass Merkel in der Bewertung durch die Bevölkerung recht nahe an Schröder heranreichte und sich insgesamt wesentlich besser schlug als Edmund Stoiber im Wahlkampf von 2002.51 Insofern dürfte der elektorale Ertrag des eingeschlagenen Personalisierungskurses nicht von so entscheidender Bedeutung für den Wahlausgang gewesen sein, wie gemeinhin angenommen. In der öffentlichen Wahrnehmung herrschte vielmehr ein ambivalentes Bild vor, das sich letztendlich auch im Ergebnis widerspiegelte: „Der mediale Charismatiker stand einer Kandidatin mit protestantischer Demutsethik gegenüber. Der eine wollte Deutschland gerechter reformieren, die andere Deutschland dienen. Keines der beiden Konzepte war mehrheitsfähig. Weder Show noch Armutsästhetik wurden eindeutig belohnt.“52 Dennoch erfüllte die Kampagne in vielerlei Hinsicht alle Kriterien eines Wahlkampfes auf der Höhe der Zeit. So attestierten vor dem Hintergrund der anhaltenden Modernisierungsdiskussion auch wissenschaftliche Beobachter dem SPD-Wahlkampf 2005 hinsichtlich seines Professionalisierungsgrades einen Vorsprung53 gegenüber der politischen Konkurrenz: „Sowohl in struktureller als auch in strategischer Hinsicht stellte sich die SPDKampagne als (…) auf dem Weg zur Professionalisierung als am weitesten vorangeschritten dar.“54 Obgleich sich zwischen dem Professionalisierungsgrad einer Kampagne und dem Endergebnis am Wahltag keine klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge herstellen lassen, ist zu vermuten, dass die Wahlkampfführung doch dazu beigetragen haben dürfte, die Weichen an bestimmten Stationen des Wahlkampfes zugunsten der SPD zu stellen. Die Wahlkampfplanung der Sozialdemokraten untergliederte die Kampagne dabei in fünf Phasen: In Phase I, die bis zum 1. Juli, dem Tag der Vertrauensfrage, projektiert war, sollten die Grundlagen für die Kampagne gelegt und alle weiteren Schritte vorbereitet werden. Phase II sollte bis Anfang August dazu dienen, das Konzept der Richtungsentscheidung als Grundlage der Wahlkampagne in den Köpfen zu verankern. Hierzu dienten die Verabschiedung und Kommunikation des „Wahlmanifestes“ am 4. Juli sowie eine bundesweite Mobilisierungskonferenz am 5. August. Der Start in den Wahlkampf wurde als Phase III von Anfang bis Mitte August verplant und sah neben der ersten Staffel Großflächenplakate (als Anspielung auf die steuerpolitischen Pläne der Union) auch einen Aktionstag zum 49
50 51 52 53 54
Für die SPD-Strategie schien vor allem der deutliche Vorsprung Gerhard Schröders bei den im Bereich der in der Parteinpräferenz unentschlossenen ehemaligen SPD-Wählern von 2002 relevant. Zur Illustration zog man in der parteieigenen Wahlkampfpräsentation die Zahlen des ARD-Deutschland Trends extra aus der Kalenderwoche 34 heran. So lag bei dieser Gruppe von Befragten der Kanzler mit 59 zu 17 Prozent klar vor seiner Herausforderin, 25 Prozent der Befragten hatten keine Präferenz bzw. keine Meinung geäußert. Noch deutlicher das Ergebnis für die seit 2002 zur Linkspartei abgedrifteten Wählerinnen und Wähler, die es von SPDSeite ebenfalls „einzufangen“ galt. Sie hätten Schröder gegenüber Merkel mit 65 zu neun Prozent vorgezogen. Vgl. SPD 2005 b: 34; Schmitt-Beck & Faas 2006: 12. Vgl. Niedermayer 2006: 137 f. Korte 2005b: 13. Vgl. Gibson & Römmele: 19. Tenscher 2006: 25.
265
Thema „Merkelsteuer“ sowie erste Anzeigenschaltungen vor. Phase IV widmete sich der Vertrauenswerbung für die SPD und sollte bis zum 3. September, dem Tag des TV-Duells, dauern. In diese Phase fielen der Beginn der Wahlkampftour von Gerhard Schröder und Franz Müntefering sowie ein Aktionstag zum Thema Bürgerversicherung vs. Kopfpauschale. Auch folgte die zweite Staffel Großflächenplakate und eine Reihe regionaler Zeitungsanzeigen. Der Bundesparteitag am 31. August sollte einen weiteren Höhepunkt der Medienaufmerksamkeit auf sich ziehen. Phase V galt schließlich dem Wahlkampfendspurt, der durch das TV-Duell eröffnet wurde. Die dritte Staffel der Großflächenplakate sollte mit den aufwändig in Szene gesetzten Abschlussveranstaltungen am 16. September das Ende der Kampagne einläuten. 2.4 Stationen des Wahlkampfes Eine der Erkenntnisse des Wahlkampfes lautete in Abwandlung eines klassischen SpinDoctor-Mottos: „It wasn’t the candidate, stupid“. Trotz seines zweifelsohne hohen Engagements hatte nicht die Person Gerhard Schröder den Wahlkampf für die SPD entschieden. Um die beispiellos erfolgreiche Aufholjagd zu erklären, gilt es den Blick auf andere Facetten der Entwicklung zu lenken. So illustrierte der Wahlkampf vor allem eine zweite Wahlkämpferweisheit: Dass Wahlen durch Kampagnen eigentlich nicht zu gewinnen sind, aber sehr wohl verloren gehen können. Der verspielte Unionsvorsprung erklärt sich eher aus einer Reihe von Fehlentscheidungen – gepaart mit einem misslungenen Themenmanagement. Wahlkampftaktische Fehlpässe und Steilvorlagen, die man auf Seiten der SPD gerne annahm und konsequent im Konter verwandelte. Der vorherrschende Medientenor erwies sich dabei als unerwarteter Trumpf zugunsten der Sozialdemokraten. Er erlaubte der SPD, im Wahlkampf die traditionellen Rollenbilder und Strategiemuster von Amtsinhaber vs. Amtsanwärter zu durchbrechen, ja geradezu auf den Kopf zu stellen. So ergab es sich nach dem – aus sozialdemokratischer Sicht – überaus schwierigen Start, dass der Wahlkampf schon sehr bald mit vertauschten Rollen geführt wurde. Standen doch die Unionsparteien für weite Teile der Medienlandschaft so unumstößlich als Sieger fest, dass man im WillyBrandt-Haus einen Angriffswahlkampf aus der „gefühlten Oppositionsregierung“ ex ante heraus führen konnte.55 Nur deshalb blieb es der SPD erspart, „einen vergleichbar unpopulären Offenbarungseid zu leisten, welcher der objektiven ökonomischen Situation angemessen gewesen wäre“.56 Erste handwerkliche Fehler der Union spielten den Sozialdemokraten dabei schon frühzeitig in die Hände – angefangen bei Merkels an sich harmlosen Brutto-Netto-Verwechsler, der erste Zweifel an der Sachkompetenz und Ehrlichkeit der Unionskandidatin und ihrer Partei aufkommen ließ.57 Angesichts der Tatsache, dass sich der Unionswahlkampf gerade auf diese beiden Säulen stützte, eine überaus ungünstige Entwicklung.58 Un55 56 57
58
Vgl. Eisel 2005. Jung & Wolf 2005: 5 Dabei war weniger problematisch, dass die Kandidatin in einem ARD-Interview Bruttolöhne mit Nettolöhnen verwechselt hatte. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die wiederholte nachträgliche Korrektur des angeblich im Wortlaut wiedergegebenen Interviews auf der CDU-Homepage. Um diese „Strategie der Ehrlichkeit“ hatte es innerhalb der CDU bis zuletzt heftige Diskussionen mit den Befürwortern einer weicheren Wahlkampflinie gegeben, wie man sie in Nordrhein-Westfahlen erfolgreich praktiziert hatte. Letzten Endes hatten vermutlich der scheinbar sichere Triumph an den Urnen und die Befürchtung, dass ein Wahlkampf der Weichzeichner viele Wähler nachhaltig verprellt hätte, sobald es an die Umsetzung harter aber notwendiger Reformen durch eine CDU-geführte Regierung gegangen wäre (Schmitt-
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vorsichtige Äußerungen von prominenten Köpfen aus der CDU/CSU lieferten ihren politischen Gegnern weitere Munition und wirkten vor allem in Ostdeutschland demobilisierend. In diesem Zusammenhang sei nur Edmund Stoibers Aussage erinnert, die „frustrierten“ Ostdeutschen dürften nicht die Wahl entscheiden oder Jörg Schönbohms Gedankenspaziergänge zur „Verwahrlosung“ in den neuen Bundesländern. Ähnlich problematisch wirkte die Ankündigung einer Mehrwertsteuererhöhung59, deren Begründung kommunikativ nicht ausreichend vermittelt wurde. Die Union offenbarte hier Schwächen, die sich im Streit und um die Rolle von Friedrich Merz, den Angela Merkel trotz seiner hohen finanzpolitischen Kompetenz zuvor an den Rand gedrängt hatte, fortsetzen sollten. Eng im Zusammenhang mit der Personalie Merz stand auch die Berufung des ehemaligen Verfassungsrichters Paul Kirchhof in das Kompetenzteam der Kanzlerkandidatin. Eine Entscheidung, die sich als finaler Sargnagel für den Wahlkampf der Union herausstellen sollte. Von den Medien wurde der Heidelberger Professor zwar zunächst als Quereinsteiger mit hoher Sachkenntnis gefeiert. Seine finanz- und steuerpolitischen Konzepte standen jedoch im Widerspruch zu den programmatischen Aussagen der Union. Auch schien der parteipolitisch nicht vorbelastete Wissenschaftler auf seine Rolle im Wahlkampf und die in diesem Terrain üblichen Regeln – speziell im Umgang mit den Medien – schlecht vorbereitet zu sein. Die SPD verstand es ihrerseits, diese offene Flanke zu nutzen und schoss sich konsequent darauf ein, eine mögliche schwarz-gelbe Regierungspolitik als unsozial und einseitig wirtschaftsfreundlich zu geißeln.60 Anschaulich findet sich dies immer wieder in den Reden des wahlkämpfenden Kanzlers Gerhard Schröder wieder: „Wenn ich dann diesen Professor aus Heidelberg höre, wie er sich verbreitet, dass die Rente wie die KfZ-Versicherung behandelt werden kann, dann wird darin ein Menschenbild deutlich, das wir bekämpfen müssen. Menschen sind keine Sachen.“61 Alle Versuche der CDU-Wahlkämpfer, den unbequem gewordenen Finanzexperten „vom Zugpferd zum Zaungast“62 zu degradieren, scheiterten, nicht zuletzt auf Grund des für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich aggressiven Negative Campaignings der SPD.63 Dass hierin eine zentrale Achillesferse des Wahlkampfes der Unionsparteien lag, bestätigte auch Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber, der nach der Wahl eingestand, dass es ihren politischen Gegnern gelungen sei, mit Kirchhofs Äußerungen das Wahlprogramm und die Steuerkonzeption der Union zu torpedieren: „Die Union hatte damit dem Eindruck der Öffentlichkeit nach praktisch zwei Steuerkonzepte und wurde vom politischen Konkurrenten als sozial kalt diffamiert“.64
59 60 61 62 63
64
Beck & Faas 2006: 7 f.), den Ausschlag für die gewählte Variante gegeben. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich die SPD in ihrer Strategiefindung mit exakt diesen beiden Szenarien auseinandergesetzt und die geschilderten Reaktionsoptionen entwickelt hatte. Vgl. Brettschneider 2005. Vgl. Rattinger & Juhasz 2006: 7. Kaiser & Sach 2005. Fried 2005. Vgl. Holtz-Bacha 2006: 18. Von Seiten der Verantwortlichen werden solche Tendenzen gerne dementiert, was auf politisch-kulturelle Unterschiede zwischen den USA und Deutschland zurückzuführen sein dürfte. So äußerte sich Frank Stauss, Kreativchef der (für die SPD tätigen) Agentur BUTTER, zur Frage nach etwaigen Rückgriffen auf Mittel des Negative Campaignings klar ablehnend: „Nein, wir waren weit davon entfernt unter die persönliche Gürtellinie zu gehen, wie es etwa in Amerika gemacht wird. Uns ging es um Inhalte.“ (N.N. 2005: 21) Der SPIEGEL. Wahlsonderheft 2005: 18.
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Ein Blick auf die im Wahlkampf herrschende Medienpräsenz der Parteien lässt die Vermutung zu, dass das dahinter stehende Kalkül seitens der Sozialdemokraten aufging. Zum einen berichteten die Medien deutlich häufiger über die Oppositionsparteien als über die Regierungsparteien. Zum anderen gelang es, die Berichterstattung über die SPD-Positionen stark auf den Sympathieträger Schröder zu fokussieren, auf den in der Schlussphase des Wahlkampfes zwei Drittel aller SPD-bezogenen Aussagen entfielen. Seiner Konkurrentin von der CDU gelang dies in weitaus geringerem Maße: Sie konnte lediglich gut ein Viertel aller unionsbezogenen Aussagen in den Fernsehnachrichten auf sich vereinen.65 Auch auf einem anderen Schlachtfeld des Medienwahlkampfes konnten die Sozialdemokraten zumindest einen Punktsieg erringen.66 Das neunzigminütige TV Duell am 4. September, das in den Augen zahlreicher Berichterstatter – einschließlich der SPD-Kampagnenführung – einen zentralen Höhepunkt des Wahlkampfes markierte, verfolgten rund zwanzig Millionen Menschen. Dem ersten Eindruck der Zuschauer nach ging der Sieg an Schröder, rund die Hälfte fand den amtierenden Kanzler überzeugender als seine Gegnerin, lediglich ein Viertel sah Merkel als Gewinnerin.67 Doch mit dem ersten Ergebnis hatte der Kampf um die Deutungshoheit erst begonnen. Selbst wenn die Medienberichterstattung, sehr zum Unverständnis der SPD, auch Merkel einen relativen Sieg attestierte, stellte sich in der Folge verstärkt der Eindruck ein, der Kanzler habe das Duell für sich entschieden. Angemerkt sei hier, dass Merkel sich durch die Ablehnung eines zweiten Duells weiter in die Defensive rückte.68 Diese Wende hatte ausschlaggebende Bedeutung für die parteiinterne Stimmung, deren Rolle gerade von Seiten der SPD-Wahlkampfzentrale immer wieder massiv unterstrichen wurde.69 Ein Stimmungsumschwung, der schon während des laufenden Wahlkampfes in den Fokus der journalistischen Aufmerksamkeit geriet: „Und hier hat die Union fast planmäßig dafür gesorgt, dass eine am Boden zerstörte Sozialdemokratie, der schon Zerfall, Nachfolgekämpfe, Linksaufweichung und andere Krankheiten diagnostiziert worden waren, sich hochrappelt und in den Wahlkampf zieht.“70 Diese Entwicklung wirkte bis tief in die untersten Ebenen des Wahlkampfes hinein. Hierin lag auch ein entscheidender Faktor für die engagierte Arbeit der Wahlkämpfer vor Ort, die hier am Beispiel der Kampagne von Martin Gerster im Wahlkreis 293 Biberach illustriert werden soll. 3
Umsetzung vor Ort
Moderne Bundestagswahlkämpfe sind sicherlich in erster Linie Medienwahlkämpfe. In der Wahrnehmung der Bevölkerung spielen sie sich zunächst auf der Berliner Bühne ab, wo medienprominente Politikerinnen und Politiker in mehr oder weniger nachrichtenähnlichen 65 66
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70
Vgl. Brettschneider 2005: 22 f. Wie es Matthias Machnig im Interview formulierte, sei die besondere Wirkung des TV-Duells vor allem in der Konkretisierung von Merkels inhaltlichem und charakterlichen Profil zu sehen: „Vor allen Dingen aber werden sie unter dem Aspekt laufen, dass die Menschen Angela Merkel kennen lernen. Denn die breite Öffentlichkeit weiß eigentlich noch recht wenig über sie.“ (Bundeszentrale für politische Bildung 2005). Vgl. Gaschke 2005. Vgl. Brettschneider 2005:22. So betonte Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel in der parteieigenen Publikation SPD-Intern nachdrücklich die Rolle der aktiven Mitgliederpartei für den angestrebten Wahlkampferfolg und versuchte mit Verweis auf die anstehende „Richtungsentscheidung“ zu deren Motivation beizusteuern: „Ein professioneller Wahlkampf und eine aktive Mitgliederpartei bedingen einander. Einen reinen Medienwahlkampf kann man nicht mehr gewinnen. Wir werden unsere Siegchance dann nutzen, wenn wir offen und ehrlich, offensiv und selbstbewusst in diese Richtungsentscheidung einsteigen.“ (SPD Intern 5/05:2). Carstens 2005: 3.
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Formaten um die Zustimmung der Wähler zu ihren programmatischen und personellen Angeboten ringen. Weitaus weniger öffentliche Aufmerksamkeit genießen die Wahlkämpfe der Kandidatinnen und Kandidaten vor Ort, denen es in den seltensten Fällen vergönnt ist, zur ersten Garde der Telepolitiker zu gehören. Dennoch wird es sich keine Partei nehmen lassen, auch auf Wahlkreisebene Flagge zu zeigen und zu versuchen, ihre Anwärter auf die zu vergebenden Mandate möglichst bekannt zu machen. Schließlich geht es um die Erzeugung von Stimmung – auch (aber eben nicht nur) in die Partei hinein – und den Versuch, im direkten Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern das Gefühl eines „heißen“ Wahlkampfs zu erzeugen, dessen Ausgang jeden und jede Einzelnen persönlich betrifft. Im Visier haben die Wahlkämpfer dabei vor allem jene lokalen Bastionen, wo möglichst viele potenzielle Sympathisanten an die Urnen gebracht werden können. Zur Anwendung kommen in diesem Kontext nicht nur die hochmodernen Mittel wahlkampfbezogener PR- und Öffentlichkeitsarbeit. Hier leben auch die Tradition des klassischen Klinkenputzens, die Parteiveranstaltung im Hinterzimmer und der gute alte Marktstand fort. All diese sind jedoch eingebunden in die geschilderten Modernisierungs- bzw. Professionalisierungsprozesse, die seitens der Parteizentralen (nicht nur in Wahlkampfzeiten) aktiv vorangetrieben werden, um auch den lokalen Kampagnen die notwendige Effizienz und Schlagkraft zu verschaffen.71 Regionale und lokale Wahlkämpfe finden nicht im luftleeren Raum statt. Sie sind eingebettet in spezifische geografische Situationen, gewachsene politisch-kulturelle Gegebenheiten und sozialstrukturelle Zusammenhänge. Um diese Hintergründe und die daraus resultierenden besonderen Herausforderungen an den SPD-Wahlkampf greifbar zu machen, ist es zunächst erforderlich, einen Blick auf diese lokalen Spezifika zu werfen. 3.1 Der Bundestagswahlkreis 293 im Überblick Der Bundestagswahlkreis Biberach liegt im Südosten Baden-Württembergs zwischen Donau und Bodensee sowie zwischen Schwäbischer Alb und Allgäu. Das Gemeindegebiet umfasst 242.338 ha. Er besteht in seiner heutigen Form schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts und umschließt zum einen den gesamten Landkreis Biberach mit den Städten Bad Buchau, Bad Schussenried, Biberach an der Riß, Laupheim, Ochsenhausen und Riedlingen. Des Weiteren liegen auch Bad Waldsee, Bad Wurzach, Isny im Allgäu, Leutkirch im Allgäu sowie Wangen im Allgäu innerhalb des Wahlkreises, sie gehören jedoch dem Landkreis Ravensburg an. Neben diesen zehn Städten zählen weitere 48 Gemeinden zu diesem nach wie vor ländlichen und politisch überaus konservativ geprägten Flächenwahlkreis, in dem fast 323 000 Menschen leben. Von 1903 bis 1918 vertrat Matthias Erzberger als Abgeordneter der katholischkonservativen Zentrumspartei den Wahlkreis im Berliner Reichstag. 1919 wurde er zum Vizekanzler und Finanzminister ernannt. Der Zentrumspolitiker erzielte seinerzeit Wahlsiege in astronomischer Höhe. Die hohe Zustimmung innerhalb der Bevölkerung für die Nachfolgepartei CDU hat bis heute Tradition. Bei den Kommunalwahlen 2004 erreichten die CDU-Politiker 34,8% der Stimmen, bei den Landtagswahlen 2006 erhielten die Christdemokraten im Wahlkreis Biberach 51,2 %, im Altkreis Wangen sogar 58,0%.
71
Nur ein Beispiel dafür sind die zahlreichen Mitglieder- bzw. Kandidatenschulungen und Fortbildungsmaßnahmen, die von Parteien und parteinahen Stiftungen kontinuierlich angeboten werden. Hier sei beispielsweise an die Kommunalakademie erinnert, die der kommunalpolitischen Qualifizierung aktiver Parteimitglieder dient.
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Wenngleich der Wahlkreis mit seinen großen Naturschutz- und Landschaftsschutzgebieten aber auch den Kulturschätzen entlang der „Oberschwäbischen Barockstraße“ eine beliebte Freizeit, Kur- und Urlaubsregion ist, lebt er jedoch keineswegs nur vom Tourismus und Bäderbetrieb. Mittlerweile haben sich gleich mehrere Industriestandorte als Kristallisationspunkte für eine mittelständische High-Tech-Industrielandschaft mit über 50% Exportanteil etabliert. Schwerpunkte liegen dabei in der Herstellung von Bau- und Werkzeugmaschinen, der Metallverarbeitung sowie im Bereich der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Die Mehrzahl der Beschäftigten ist im verarbeitenden Gewerbe tätig, gefolgt vom Bereich Dienstleistungen. Der Wahlkreis ist Sitz zahlreicher prosperierender mittelständischer Unternehmen und kann auch Ansiedlungen weltweit agierenden Firmen wie zum Beispiel Boehringer Ingelheim, Liebherr oder die Hymer AG vorweisen. Eine niedrige Arbeitslosenquote von 4,8% im Landkreis Biberach (2/2005)72, ein positives Zuwanderungssaldo sowie ein leichter Geburtenüberschuss weisen die Region klar als Wachstumsregion aus. Gegen den erstmals kandidierenden SPD-Kreisvorsitzenden Martin Gerster traten von Seiten der anderen in den 16. Deutschen Bundestag gewählten Parteien Franz Romer (CDU) sowie Oswald Metzger (Grüne), Xaver Schmid (FDP) und Karl Schweizer (Die Linke) an. Gerster übernahm mit seiner Kandidatur die Nachfolge des 2004 verstorbenen Matthias Weisheit, der die oberschwäbische SPD seit 1992 im Bundestag vertreten hatte. Romer hatte sein erstes Bundestagsmandat bereits 1990-1994 inne und war dann wieder seit 1996 Mitglied des Bundestags. Während Romer mit nahezu absoluter Sicherheit auf eine Fortführung seines Direktmandats hoffen konnte, stellte die Aufstellung des landesund bundespolitisch bekannten früheren Bundestagsabgeordneten Metzger eine besondere Herausforderung für die SPD dar, die sich auch im Wahlergebnis niederschlagen sollte. Dass der Wahlkreis 293 zu den Hochburgen der CDU und Diasporagebieten der SPD gehört, lässt sich auch am Organisationsgrad festmachen. Zum Wahltag waren unter den über 234.130 Wahlberechtigten lediglich 700 Mitglieder der SPD, während die CDU auf etwa fünfmal so viele Parteizugehörige zählen konnte. Erschwerend für die Sozialdemokraten und die Organisatoren des Wahlkampfes kam hinzu, dass sich die CDU-Mitglieder auf nahezu alle Ortschaften im Wahlkreis verteilen, während die Mitglieder der SPD vor allem in größeren Gemeinden ansässig sind und somit ganze Landstriche fast ohne Organisationsabdeckung sind. Welche Schwierigkeiten – etwa bei der flächendeckenden Versorgung der Haushalte mit Informationsmaterial – damit verbunden sind, lässt sich vor diesem Hintergrund leicht ausmalen. 3.2 Der Bundestagswahlkampf der SPD 2005 im Wahlkreis Biberach Die im Falle des Wahlkreises 293 gegebenen politischen Rahmenbedingungen spiegelten sich auch auf der organisatorischen Ebene des Wahlkampfes wider. So ruhte die Wahlkampfführung vor allem in den Händen des Kandidaten, dem die inhaltliche Ausgestaltung der Kampagne oblag, und seines Wahlkampfleiters Niklas Merk, der vor allem organisatorische Funktionen übernahm. Dies betraf vor allem Koordination des Terminkalenders des Kandidaten, der angesichts zahlreicher Anfragen und Aufgaben schnell anwuchs. Dement-
72
Vgl. http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/SRDB/home.asp?H=ArbeitsmErwerb&U=01&R=BT293 (01.09.2006).
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sprechend war es notwendig, weitere ehrenamtliche Kräfte in den Wahlkampf mit einzubinden. Denn nach wie vor gilt: „Mitglieder stellen immer noch eine freiwillig und entgeltlos bereitgestellte Finanz-, Wahlkampf-, Legitimations- und gesellschaftliche Anschlussressource dar, auf die Parteien auch im Interesse einer Führungsnachwuchsreserve bei ihrer gegenwärtigen Aufgaben und Ressourcenstruktur nicht verzichten können. (…) Zudem wird den Mitgliedern immer noch eine wichtige Wählermobilisierungs- und Botschafterrolle auf der lokalen Basis zugesprochen.“73
Auf Grund der relativen Strukturschwäche der lokalen Parteigliederungen konnten die Ortsvereine diese Ressourcen nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung stellen, was die konsequente Wahrnehmung der zahlreichen anfallenden Aufgaben deutlich erschwerte. Zu den auf dieser Ebene zu regelnden Wahlkampfmaßnahmen zählen zunächst die Vorbereitung und Durchführung der anfallenden Plakatierung, die Verteilung von Parteimaterialien, die Organisation von Marktständen und kleinerer Veranstaltungen mit kommunalem Bezug sowie die Unterstützung des lokalen Wahlkampfes bei Bewältigung größerer organisatorischer Herausforderungen wie Besuchen (mehr oder weniger) prominenter Politiker der Bundes- und Landesebene. Darüber hinaus leisten die Parteimitglieder vor Ort wichtige Beiträge im lokalen Medienwahlkampf, beispielsweise als Leserbriefschreiberinnen und -schreiber und in Form von Wählerinitiativen, die sich in Anzeigen öffentlichkeitswirksam zu ihrer Parteien bzw. Kandidatenpräferenz bekennen. Daraus ergibt sich für die Wahlkampforganisation eine besondere Verantwortung, auch die Kommunikation, speziell mit den aktiven Mitgliedern, zu pflegen und sich auf die besonderen Erwartungshaltungen, Befindlichkeiten und Spielregeln der „Parteibinnenkommunikation“ einzulassen. Diese „primären gesinnungsexpressiven und sozial-integrativen Kommunikationsbedürfnisse der freiwilligen Mitglieder“74 bezeichnen den Wunsch der Parteibasis, die eigene Organisation als lebendiges, politisch sinn- und gemeinschaftsstiftendes Umfeld zu erfahren, das auf geteilten politischen Werten und Überzeugungen aufbaut. An diese Werte und Überzeugungen zu appellieren und somit die Parteibasis auch emotional in den Wahlkampf einzubinden, stellt daher ein zentrales Ziel des Wahlkampfes dar. Nicht umsonst betrachten auch Experten aus der Praxis die Motivation der Mitglieder als nicht zu unterschätzenden Faktor für den Wahlerfolg. So scheiterte nach Meinung einzelner Kommentatoren die Union in ihrem Wahlkampf vor allem daran, ihre eigenen „Mitglieder als Erfolgsgaranten“75 zu mobilisieren: „Wenn das Herz der Mitglieder im Wahlkampf nicht schneller schlägt und ihre Bekenntnisfreudigkeit gebremst ist, sind Wahlen nicht zu gewinnen.“ Entsprechend sind auch Kajo Wasserhövels Appelle zu verstehen, der „Mundfunk müsse den Rundfunk“ ersetzen, womit er auf die lokale Multiplikatorenfunktion der Parteibasis und die spezifische Relevanz der interpersonellen Kommunikation für das Meinungsklima vor Ort anspielt.76 De facto finden sich allerdings pro Ortsverein maximal ein halbes Dutzend Aktive, die es in den Wahlkampf zu integrieren gilt und die als Meinungsführer in die Partei und die Bevölkerung hineinwirken. Was aber bleibt dem Kandidaten darüber hinaus zu tun? Primärziel des Wahlkampfes ist die Erzeugung von Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung. „Uns gibt es auch hier, und wir wollen gewinnen“, lautet die auf das Essentielle verkürzte Botschaft, die gerade 73 74 75 76
Wiesendahl 2002b: 608. Wiesendahl 2002a: 365 f. Eisel 2005: 205. Vgl. SPD Intern 5/2005: 3.
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dann besonders wichtig ist, wenn die Partei des Bewerbers nicht die von der Mehrheit vor Ort favorisierte Wahl ist. Selbstverständlich gilt es auch, den Kandidaten oder die Kandidatin bekannt zu machen, Kompetenz zu demonstrieren und Sympathie zu erzeugen – möglichst im direkten Kontakt mit möglichst vielen Menschen. Realistischerweise ist jedoch zu sagen, dass auch im heißesten Wahlkampf die Anzahl der Besucher von Parteiveranstaltungen nicht ausreicht, um die notwendige Breitenwirkung in der regionalen Öffentlichkeit zu entfalten. Hier führt der Weg nur über die lokalen Medien, wobei es sich in der Regel um Lokalzeitungen und regionale Radiosender bzw. die Regionalbüros öffentlich rechtlicher Rundfunkanstalten handelt. Im Falle des Wahlkreises Biberach/Wangen sind dies in allererster Linie die Schwäbische Zeitung, zwei wöchentlich erscheinende Anzeigenblätter (Info/Wochenblatt), die auch redaktionelle Berichterstattung beisteuern, das Biberacher SWR-Büro, der Ulmer Sender Radio 7 sowie Radio Donau 3 FM. Um diese kostenlosen Informationskanäle (free media) als potentielle Multiplikatoren für den Kandidatenwahlkampf zu gewinnen, führt kein Weg an ausführlicher Pressearbeit vorbei. Selbst der kleinste Marktbesuch wird angekündigt oder gar in Form eigener Pressemitteilungen begleitet, dasselbe gilt für Hausbesuche und andere Wahlkampfroutineveranstaltungen, die in der Regel nicht für eine eigenständige redaktionelle Berichterstattung interessant sind. Wichtige Foren für alle Parteien sind Podiumsdiskussionen, die von diversen Gruppierungen, Institutionen und Organisationen im Vorfeld der Wahl angeboten werden. Allein im Wahlkreis Biberach-Wangen standen sieben solcher Gespräche auf dem Plan, wobei das thematische Spektrum von kommunalpolitischen Themen über Arbeitnehmerpolitik bis hin zu kirchlichen und sozialethischen Themen reichte. Hier treffen die lokalen Parteikandidaten in direkter Konfrontation aufeinander und können im unmittelbaren Vergleich punkten, wobei im Normalfall auch die Berichterstattung der Medien sichergestellt ist. Ein weiterer Grund, der die lokalen Parteigliederungen zwingt, auf die Medien als Transmissionsriemen zu setzen, ist das relativ geringe Wahlkampfbudget77, das für die lokale Kampagne zur Verfügung steht. In der Regel reicht das Geld kaum aus, um mehr als den Ankauf der Kandidatenmaterialien zu finanzieren und ein paar Zeitungsanzeigen als Eigenwerbung zu schalten. Insofern sind ausgefallene Werbefeldzüge über den Ankauf von Medienpräsenz (paid media) in Presse, Funk, Fernsehen oder Kino eher die Ausnahme als die Regel. Auch auf lokaler Ebene besitzt das Internet deshalb große Attraktivität, erlaubt es den Kandidaten doch eine ebenso schnelle wie relativ preiswerte Plattform zur Selbstdarstellung und Kommunikation mit Wählern und Parteimitgliedern. So nimmt es nicht Wunder, dass auf dem eigens für die Kampagne angeschafften Wahlkampfbus, der als fahrendes Werbemittel zum Einsatz kam, der Verweis auf die Internetseite www.martin-gerster.de besonders prominent hervorstach. Die Seite informierte über die biografischen Hintergründe des Kandidaten und zentrale Wahlkampfthemen sowie die üblichen weiterführenden
77
In die Wahlkampagne des Kandidaten Martin Gerster flossen rund 20.000 Euro, von denen ca. 5.400 in Formkleinerer Privatspenden (in Höhe von durchschnittlich 80 Euro) eingeworben werden konnten. Die unterstützenden Zuschüsse von Seiten des SPD-Landesverbandes beliefen sich auf insgesamt 7.500 Euro. Hinzu kam ein Zuschuss von 600 Euro für die logistischen Aufwendungen im Zuge der Großveranstaltung mit Kanzler Gerhard Schröder in Rust. Weitere 3.600 Euro standen in Form einer Wahlkampfrücklage, die der verstorbene SPD-MdB Matthias Weisheit angelegt hatte, zur Verfügung. Allein für den Ankauf von Kandidatenmaterialien und die Gestaltung von Anzeigen und Flyern galt es ca. 7.700 Euro aufzubringen, die sechs im Kontext des Wahlkampfes geschalteten Anzeigen schlugen mit rund 2.900 Euro zu Buche.
272
Links und Terminhinweise, um Bürgerinnen und Bürgern die Gelegenheit zu bieten, persönlich Tuchfühlung aufzunehmen. Tabelle 3: „Prominenz“ im Wahlkreis Biberach-Wangen Termin und Ort 4. August (Amtzell)
Prominente G. Tessmer MdL
9. August (Biberach) 11. August (Biberach/Leutkirch)
N. Zeller MdL R. Weckenmann MdL
17.August (Biberach)
Dr. W. Caroli MdL
18. August (Riedlingen)
F. Huby
22. August (Riedlingen)
R. Gall MdL
25. August (Wangen) 3. September (Laupheim/Isny) 6. September (Laupheim) 6. September (Überruh/Wangen) 7. September (Biberach/Riedlingen) 8. September (Laupheim) 10. September (Biberach) 11. September (Biberach) 14. September (Biberach/Wangen) 16. September 17. September
U. Vogt MdB U. Kumpf MdB
Thema Landwirtschaft und Nahversorgung im ländlichen Raum (Besuch eines landwirtschaftlichen Betriebs, Gespräch mit Bauernverband und Bürgerinitiative) Schule und Bildung (Gespräch mit Elternvertretern) Integration und Arbeitsmarkt (Besuch bei Integrationsfachdienst und Beratungsstelle, Diskussionsveranstaltungen) Verkehrspolitik (Besuch einer Schule und Treffen mit Bürgerinitiative) Gemeinsamer Besuch der Polizeistation und Lesung eines Krimis Feuerwehr und THW (Besuch der entsprechenden Einrichtungen) Allgemeine Wahlkampfveranstaltung Allgemeine Wahlkampfveranstaltung
M. Rivoir MdL
Mittelstandsförderung (Firmenbesichtigung)
U. Hausmann MdL K. Altpeter MdL
Gesundheit (Besuch der LVA und eines Gesundheitszentrums) Kinderbetreuung und demografischer Wandel
S. Braun MdL
Rechtsextremismus
U. Vogt MdB W. Drexler MdL
Besuch bei THW und Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) Allgemeine Wahlkampfveranstaltung
H. Däubler-Gmelin MdB
Wahlkampfendspurt
D. Koschnik D. Senghaas
Friedenspolitik Friedenspolitik
Selbstverständlich wollen die Kandidaten vor Ort auch eigene thematische Akzente setzen, was vor allem in Form von Veranstaltungen mit bekannten Köpfen aus Politik, Kultur und Gesellschaft geschieht, die sich zu thematisch ins Profil des Kandidaten und der Kampagne vor Ort einbetten lassen. Seitens der Wahlkampforganisation wird hierbei versucht, die entsprechenden Besuche zeitlich und geografisch sinnvoll zu verteilen, um den gesamten Wahlkreis abzudecken und mit Blick auf den Wahltag eine dramaturgische Zuspitzung für den Endspurt zu erreichen. So kamen in Biberach/Wangen zunächst eine ganze Reihe von Landtags- und Bundestagsabgeordneten zum Zuge. Besuche der SPD-Landes-vorsitzenden Ute Vogt und der ehemaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin in Biberach und Wangen sowie des SPD-Fraktionsvorsitzenden im Stuttgarter Landtag, Wolfgang Drexler, in Biberach stellten von politischer Seite besondere Höhepunkte des regionalen Wahlkampfes dar. Abgerundet wurde das Bild durch kulturelle Einsprengsel wie die Lesereise des baden-württembergischen Krimi- und Drehbuchautors Felix Huby oder die auf das Thema „Deutschland als Friedensmacht“ ausgerichteten Abschlussveranstaltungen mit dem 273
Politikwissenschaftler Dieter Senghaas und dem Bosnienbeauftragten der Bundesregierung, Dieter Koschnick (siehe Tabelle 3). Bei den entsprechenden Terminen handelte es sich nicht immer nur um klassische Vorträge oder Diskussionsabende, deren eigentlicher Nachrichtenwert für die lokale Presse in der Regel verhältnismäßig gering ist. Vielmehr wurde versucht, durch die Einbettung der Prominenten in Firmenbesuche, Gespräche mit Bürgerinitiativen und ähnliche Ortstermine den für die Berichterstattung notwendigen Lokalbezug herzustellen und die Veranstaltung in einen überparteilichen Kontext zu setzen. Natürlich obliegt es den Kandidatinnen und Kandidaten auch, Termine außerhalb des Wahlkreises wahrzunehmen, vor allem dann, wenn sie regionale Schwerpunkte im zentral organisierten Wahlkampf der Bundesprominenz darstellen. Hierunter wären Besuche des Kanzlers in Wahlkreisnähe, etwa beim SPDFamilientag im badischen Rust (6. August), in Friedrichshafen (26. August) oder Franz Münteferings Wahlkampfauftritt in Ulm (8. September) zu subsumieren. Selbst ohne prominente Rückendeckung und mediale Begleitung suchen die Kandidatinnen und Kandidaten bei einer ganzen Reihe von Veranstaltungen den Kontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern. Vor allem Wochenmärkte und regionale Feste bieten sich dafür an, da hier ohne größeren Organisationsaufwand von eigener Seite viel „Laufkundschaft“ unterwegs ist. Rund zwei Dutzend solcher Festebesuche, Markt- und Infostände galt es im Wahlkreis Biberach/Wangen zu absolvieren, nicht selten mehrere an einem Tag, was angesichts der in einem ländlichen Flächenwahlkreis zurückzulegenden Wege durchaus auch eine logistische Herausforderung war. Hinzu kamen ab Anfang September klassische Hausbesuche in ausgesuchten Schwerpunktgebieten, bei denen der Kandidat vor allem dort persönlich vorstellig wurde, wo sich eine hohe Wahlbeteiligung zugunsten der SPD auswirken sollte. Zu weiteren Stationen, die im Wahlkampf absolviert werden mussten, zählten auch Treffen mit parteigebundenen Gruppierungen und Vorfeldorganisationen, wie den SPDSenioren, deren Unterstützung auch mit Blick auf einen erfolgreichen Einzug in den Bundestag von vorrangiger Bedeutung ist. Darüber hinaus galt es, Wahlkampfteamsitzungen, Kandidatenschulungen und nicht zuletzt kleine Freiräume für private und berufliche Termine im Kalender unterzubringen. Die Kürze der Zeit bis zum Wahltag stellte gerade neue Kandidaten vor besondere Herausforderungen, galt es doch, von 0 auf 100 möglichst viel zu stemmen. Ohne Unterstützung eines eingespielten Büros mit fest angestellten Mitarbeitern war voller Einsatz nötig. Im Kalender des Kandidaten Martin Gerster findet sich so von Ende Juni bis zum Wahltag kein einziger Tag ohne öffentliche Termine, neben denen auch Etatplanungen, Zeitungs- oder Hörfunkinterviews zusätzliche zeitliche Ressourcen beanspruchten. Die Wahlbeteiligung der im Wahlkreis lebenden 185.041 wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger lag bei der Bundestagswahl vom 18. September 2005 bei 79 Prozent.78 Dabei sah die Verteilung der Erststimmen wie folgt aus: CDU 52,4% (-5,2 PP); SPD 20,5% (-5,6 PP); Grüne 14,0% (+5,7 PP); FDP 7,2% (+1,4 PP). Bei den Zweitstimmern gestaltete sich das Ergebnis folgendermaßen: CDU 49,8 % (-4,4 PP), SPD 22,3 % (-2 PP), GRÜNE 8,9 % (- 1 PP), FDP 11,2 % (+4,6 PP). Der Wahlkreis ging somit direkt an Franz Romer (CDU), Martin Gerster (SPD) konnte sein Bundestagsmandat über die Landesliste, Listenplatz 20, antreten.
78
Ebd.
274
3
Fazit: Lokaler Wahlkampf ist nicht alles – ohne ihn ist alles nichts
Der Kampf um Wählerstimmen ist eine politische Herausforderung, die im Sinne der Handlungslogik moderner Parteien auf allen Ebenen der Politik angenommen und geführt werden muss. Auch wenn in der Regel nur eine Handvoll medienprominenter Politiker die öffentliche Wahrnehmung der Kampagnen bestimmt, kann und will (und sollte) keine Partei darauf verzichten, im Wahlkampf vor Ort Präsenz zu zeigen und durch das persönliche Engagement ihrer Kandidaten und Mitglieder für sich zu werben. Gerade für die – noch immer auf Mitgliederwahlkampf angewiesenen – Volksparteien gilt, dass man die eigene Wählerschaft nur dann erfolgreich mobilisieren kann, wenn es gelingt, auch die eigene Basis zu motivieren. Im Falle der SPD ist dies 2005 zweifelsohne geglückt, da die Berliner Parteizentrale erfolgreich das Bild einer Richtungsentscheidung in den Köpfen der Parteimitglieder und letztendlich auch zahlreicher Wählerinnen und Wähler verankern konnte. Es ist durchaus plausibel, diesen Erfolg auf den hohen Professionalitätsgrad eines Blitzwahlkampfes zurückzuführen, den es zudem unter erschwerten Bedingungen zu planen und zu führen galt. Dass SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel mit dem Preis für die Kampagne des Jahres ausgezeichnet wurde, ist ein weiteres Indiz für die anerkannt gute Performance der Sozialdemokraten im Wahlkampf. Einschränkend muss jedoch festgehalten werden: Der an den niedrigen Erwartungen im Vorfeld gemessene, „relative“ Sieg der SPD konnte dabei vor allem von der Unfähigkeit der CDU, „unterschiedliche Sachkonzepte mit einer gemeinsamen Sprachregelung zu synchronisieren“79, profitieren. Unter Wahlkampfaspekten mag die „Causa Kirchof“ fortan als Musterbeispiel für unnötige Patzer auf CDU und handwerklich solide Konter auf SPD-Seite dienen. Obgleich die Regierung Schröder ausreichend Angriffsfläche geboten hätte, scheiterten die Unionsstrategen an der Aufgabe, ihren ins Stocken gekommenen Angriffswahlkampf wieder aus der Defensive zu bringen. Im Gegensatz zum vorherigen Bundestagswahlkampf stellte sich diesmal nicht der direkte Kandidatenwettstreit als das entscheidende Element des Kampagnenerfolgs dar. Vielmehr gibt es trotz leicht besserer Sympathiewerte gute Gründe, den Anteil des vermeintlichen Zugpferds Gerhard Schröder am Wahlausgang nicht überzubewerten. Eher dürfte die Wahrnehmung der recht deutlich im Mittelpunkt der Kampagnen stehenden inhaltlichen Unterschiede zwischen den Parteien den Wahlausgang entscheiden haben. Hier konnten vor allem kleinere Parteien auf Kosten der CDU – und in geringerem Umfang der SPD – profitieren. Im Vergleich zum Bund gestalteten sich die Verschiebungen auf Wahlkreisebene relativ unspektakulär. Angesichts der traditionellen politisch-kulturellen Prägung des Wahlkreises, des aus SPD-Sicht geringeren Organisationsgrades im Wahlkreis und dementsprechend relativ minimaler Mittel handelte es sich um ein Duell im Stil von David gegen Goliath. Um den Wettstreit dennoch zu führen, galt es, die zur Verfügung stehenden Potentiale möglichst effizient zu nutzen und mit den knappen Ressourcen Zeit und Geld sorgsam hauszuhalten. Gerade für einen neuen, regional noch nicht etablierten Kandidaten war dabei besonders zentral, mit möglichst vielen Wählerinnen und Wählern in Kontakt zu kommen und sich als feste Größe im lokalen Wahlkampfgeschehen zu etablieren. Umfangreiche Medienarbeit und die persönliche Anwesenheit bei möglichst breitenwirksamen Events und Veranstaltungen standen deshalb im Mittelpunkt auf Wahlkreisebene verfolgten Strategie.
79
So Michael Spreng in Politik und Kommunikation, Dezember 2005/Januar 2006.
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Auf Grundlage der vorhandenen Datenlage lassen sich leider keine Rückschlüsse auf die Auswirkungen der lokalen Kampagnen auf das Wahlergebnis ziehen. Hierin ist sicherlich ein Ansatzpunkt für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik zu sehen. Angesichts der relativ prominenten Konkurrenz durch den ehemaligen Bundestagsabgeordneten von B90/Die Grünen Oswald Metzger und das bereits etablierte Direktmandat von Franz Romer, stellen sich die SPD-Verluste bei den Erststimmen als verhältnismäßig milde dar. Mit – im Vergleich zur CDU – leichten Verlusten bei den Zweitstimmen waren auch hier die mäßigenden Impulse des bundespolitischen Wahlkampfverlaufs spürbar. Ohne einen sichtbaren Kandidaten und eine kämpferisch-gestimmte Parteibasis, die in Städten und Gemeinden offensiv Flagge zeigte, wären diese Einbußen vermutlich weitaus höher ausgefallen. Insofern stellt der Wahlkampf vor Ort ein Teil in der Feinmechanik der großen Bundestags-Wahlkampfmaschine dar. Ein kleines (eher unscheinbares) Rad, das dennoch eine unersetzliche Funktion für die lebensweltliche Anbindung der Menschen vor Ort an das zentral geplante Spiel der politischen Kräfte besitzt.
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278
Ist der Ehrliche der Dumme? Bundestagswahl 2005 – Wahlkampf unter verkehrten Vorzeichen Von Thomas Bippes
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2005 war für CDU und CSU eine herbe Niederlage und endete in einem Patt: Weder Union noch SPD konnten mit ihren Wunsch-Koalitionspartnern FDP und Bündnis 90/Die Grünen eine mehrheitsfähige Regierung bilden. Der Union gelang es knapp, stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu werden. Mit 35,2 Prozent blieb sie nicht nur hinter allen Erwartungen zurück, sondern lag auch 3,3 Prozentpunkte unter dem schwachen Ergebnis von 2002 wieder auf dem historischen Tief von 1998. Die großen Volksparteien SPD und CDU/CSU gingen gleich stark aus der Wahl hervor. Zum ersten Mal seit 1949 erreichten die Volksparteien bei einer Bundestagswahl zusammen weniger als 70 Prozent der Wählerstimmen. Mit der neuen Linkspartei, die bei der Bundestagswahl 8,7 Prozent erzielte, scheinen bis auf weiteres Zweier-Koalitionsbündnisse einer multipolaren Parteienlandschaft zu weichen. Betrachtet man die Ergebnisse von CDU und CSU in den Bundesländern, wird die Dramatik des Wahlergebnisses für die Union deutlich. Gerade einmal in vier Bundesländern – in Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen – schnitt die Union am 18. September 2005 besser ab als die Sozialdemokraten. Der Union gelang es also nicht, an die Erfolge bei den zurückliegenden Landtagswahlen anzuknüpfen. Nicht in Nordrhein-Westfalen, nicht in Hessen oder in Niedersachsen. Im Vergleich zu den zurückliegenden Landtagswahlen mussten erhebliche Verluste hingenommen werden. Spitzenreiter war Bayern mit einem Minus von 9,4 Prozent. Die Wahlanalyse des Statistischen Bundesamtes1 verdeutlicht die Tragweite des Ergebnisses. Die Sozialdemokraten erfuhren in allen Altersgruppen einen ähnlichen Zuspruch wie die Union. In den Alterskohorten weichen ihre Ergebnisse nur um 5,3 Prozentpunkte ab. Am besten lag die SPD mit 40,6 Prozent bei den 18-24jährigen weiblichen Jungwählern. Insgesamt – bei Männern und Frauen – lag die SPD hier bei 38,6 Prozent. Einen „Frauenbonus“ konnte Angela Merkel der Union also nicht bescheren. Bei der Union gehen die Ergebnisse bei den Alterskohorten um über 16 Prozentpunkte auseinander, zwischen nur 26 Prozent bei den 18-24jährigen Frauen und 42 Prozent bei den über 60jährigen Frauen. Die stärksten Einbrüche gegenüber der Bundestagswahl 2002 trafen die Union bei den 18-29jährigen Männern (-7,4 Prozent). Insgesamt verlor die Union bei den Männern 5,3 und bei den Frauen 1,4 Prozentpunkte. Mit ähnlichen Zahlen sah sich die Union schon nach der Bundestagswahl 2002 konfrontiert. Schon hier lag die SPD bei den Frauen vorn. Als Konsequenz wurde der Arbeitskreis „Große Städte“ unter der Leitung des nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden und stellvertretenden Bundesvorsitzenden Jürgen Rüttgers ins Leben gerufen. Dieser Arbeitskreis sollte ergründen, weshalb die Union das Lebensgefühl gerade der Frauen und der Menschen in großen Städten nicht traf. Im Bericht der Arbeitsgruppe wurde festgestellt, dass die Union die großstädtische Wirklichkeit nicht angemessen wahrgenommen habe. Wo 1
Vgl. Statistisches Bundesamt 2005.
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sich die Union mit Großstadtthemen wie Frauenpolitik oder Kinderbetreuung befasst habe, sei das Engagement der Christdemokraten von den Betroffenen häufig als „bemüht und aufgesetzt“ empfunden worden. Der Arbeitskreis forderte, dass die Union die Kommunen mit hoher Bevölkerungsdichte auch für Familien mit Kindern attraktiver machen müsse – Jürgen Rüttgers bei der Vorstellung des Berichtes wörtlich: „Wir müssen nun einmal hinnehmen, dass Frauen in Großstädten Ganztagsschulen haben wollen. Die lassen sich von uns nicht mehr sagen, sie sollten zu Hause bleiben.“2 Tatsächlich war das Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl 2005 insbesondere mit Blick auf die Metropolen enttäuschend. In Berlin zum Beispiel kam die Union nur noch auf 22 Prozent. Wie auch die Ergebnisse der Bundestagswahlen 1998 und 2002 zeigen, kann man den Ausgang der Wahl 2005 aus Sicht der Union kaum als „Betriebsunfall“ bezeichnen. Es greift zu kurz, die 1998er Bundestagswahl mit dem „Kohl-Überdruss“, das Wahlergebnis 2002 mit dem geschickten Agieren der SPD in der „Irak-Frage“ und die Rolle Paul Kirchhofs als Grund für die Stimmenverluste bei der Bundestagswahl 2005 zu erklären. Weshalb gelang es der Union nicht, ihre Politik zu vermitteln? War die Strategie falsch, einen „ehrlichen“ Wahlkampf zu führen? Worauf beruhten die guten Umfragewerte, die der Union so viel Selbstsicherheit bescherten. War die eigene Stärke oder nur die Schwäche des politischen Gegners Ursache für die demoskopischen Höhenflüge von CDU und CSU? Im vorliegenden Beitrag wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu finden. Die Ausgangslage Während die Niederlage der Sozialdemokraten angesichts der Vorgeschichte der Wahl nicht besonders überraschte, war die Niederlage der Union unerwartet, denn schließlich waren der Bundestagswahl elf Wahlsiege bei Landtagswahlen in Folge vorausgegangen. Der letzte davon – der Erfolg der CDU in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 – hatte zu der verblüffenden Ankündigung von vorgezogenen Neuwahlen durch den SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering und Bundeskanzler Gerhard Schröder geführt. Statt des sicher geglaubten Wahlsiegs bei der Bundestagswahl fuhr die Union mit 35,2 Prozent der Wählerstimmen ihr zweitschlechtestes Wahlergebnis auf Bundesebene ein. Die Regierungsübernahme durch Schwarz-Gelb scheiterte, obwohl die FDP beachtliche 9,8 Prozent der Zweitstimmen erlangen konnte. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat eine Partei innerhalb so kurzer Zeit einen so großen Vorsprung verspielt wie die Union bei der Bundestagswahl 2005. Nach der Landtagswahl in NRW lagen CDU und CSU bundesweit in Meinungsumfragen mit 20 Prozentpunkten und mehr vor den Sozialdemokraten. CDU und CSU gingen in einen Bundestagswahlkampf, der mit Blick auf die Meinungsumfragen schon gelaufen schien. Die Zustimmungswerte erreichten gefährliche, weil unrealistische Höhen. Werte, die sogar eine absolute Mehrheit für möglich erscheinen ließen, wurden im Juni von Meinungsforschern ermittelt. Fragte man den Wähler nach den Kompetenzwerten von CDU/CSU und SPD, kam ein ähnliches Bild zutage. In den wesentlichen Politikfeldern – „Arbeitsplätze sichern und schaffen“, „Zukunftsprobleme lösen“ – lag die Union deutlich vor der SPD.
2
Vgl. Mehlitz 2004; vgl. auch die Berichterstattung zum Zwischenbericht des Arbeitskreises (Birnbaum 2004).
280
Tabelle 1:
Kompetenzwerte der von SPD und CDU SPD %
CDU %
Arbeitsplätze sichern und schaffen
23
43
Gute Steuerpolitik betreiben
35
35
Altersvorsorge langfristig sichern
35
30
Für soziale Gerechtigkeit sorgen
48
25
Zukunftsprobleme lösen
29
34
Quelle: Infratest DIMAP, Stand 7. September 2005. Fehlende Werte zu 100 Prozent sind „Andere Partei“ oder „Keine Angabe“.
Vor dem Hintergrund der demoskopischen Ausgangslage war das Abschneiden der Union bei der Bundestagswahl eine große Überraschung. Zu groß schien der Vorsprung der Union nach dem Wahlsieg von Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen zu sein. Die Niederlage der Sozialdemokraten schien vor dem Beginn des Bundestagswahlkampfes fest zu stehen. Die Analyse des CDU/CSU-Bundestagswahlkampfes muss also vordringlich die Gründe beleuchten, weshalb es Schwarz-Gelb trotz einer ausgesprochen günstigen Ausgangslage nicht gelang, vom Wähler einen klaren Regierungsauftrag zu erhalten. Medienwahlkampf – Ist der Ehrliche der Dumme? Auch für die Bundestagswahl 2005 gilt: Der Wahlkampf der Parteien wird zunehmend in den Medien entschieden. Die Inszenierung der Politik bestimmt vorrangig den Erfolg der Kampagne, nicht Inhalte und Ziele der Parteien. Mit Blick auf diese Feststellung ist die Bundestagswahl 2005 ein hervorragendes Beispiel. Wegen des deutlichen Rückgangs langfristiger Bindungen an Parteien und des großen Einflusses der Massenmedien, versuchen politische Akteure den Vorgang der Interpretation von Situationen im Prozess der Meinungsbildung so weit wie möglich in ihrem Sinne zu beeinflussen. Dazu steht der politischen Öffentlichkeitsarbeit ein reichhaltiges Angebot an Instrumenten zur Verfügung – zum Beispiel das Plakat als wichtigstes Transportmittel für Themen und Gesichter. Und insbesondere auch Öffentlichkeitsarbeit, die auf Massenmedien abzielt.3 Der Wahlkampf wird immer mehr zum Medienwahlkampf. Im Vordergrund ihres Wahlkampfes stand für die Union zu Beginn die Festlegung eines Wahlkampfthemas und die Art, wie die Botschaften formuliert und vermittelt werden sollen, um den Wähler zu erreichen. Doch schon an diesem Punkt begann in der Union – im Nachhinein betrachtet – ein verhängnisvoller Prozess. In der öffentlichen Wahrnehmung waren CDU und CSU bereits „Regierung“. Alles deutete darauf hin, dass die Union die Bundestagswahl gewinnen würde. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Angela 3
Vgl. Sarcinelli 1991.
281
Merkel als Bundeskanzlerin vereidigt wird. Zu deutlich lagen CDU und CSU in allen Meinungsumfragen vor der SPD. Die Sozialdemokraten hingegen nahmen ihre Rolle wahr und führten einen Oppositionswahlkampf gegen eine „fiktive unionsgeführte Bundesregierung“. Statt Verheißungen mit einfachen Botschaften zu transportieren, die Partei und Kandidatin in einem guten Licht erscheinen lassen, setzten CDU und CSU auf Reformen, die für die Bürgerinnen und Bürger Einschnitte, aber auch Chancen beinhalteten. Die Union setzte im Wahlkampf auf Ehrlichkeit und Vertrauen – wollte den Menschen vor dem 18. September genau sagen, was sie nach der Wahl in Regierungsverantwortung umsetzen will. Der Kanzlerkandidatin der Union wurde – sozusagen vor dem Hintergrund der Erkenntnisse aus der Bundestagswahl 2002 – schon früh auch aus den eigenen Reihen empfohlen, im Wahlkampf das Land auf weitere notwendige Reformen vorzubereiten und „den Bürgern ehrlich und detailliert zu sagen, was wir nach der Wahl machen wollen“, so beispielsweise der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger.4 Ähnlich Bernd Ulrich in der Zeit: „Sollte sich eine neue Regierung ein ehrliches Mandat für echte Veränderung holen, so wäre damit eine neue Qualität im Verhältnis von Politik und Wähler erreicht. Wo der Staat kein Vater mehr sein kann, hört der Bürger auf Kind zu sein. Das wäre ein echter Paradigmenwechsel in unserer Wahlkampfkultur.“5 Andere, wie der Chefredakteur der Wirtschaftswoche, rieten dazu, die Durchsetzung von anstehenden Reformen zwar klar im Auge zu behalten, aber jetzt zum Wahlkampf eher eine pragmatische Linie zu vertreten und beschrieben damit das theoretisch bestmögliche Szenario eines „ehrlichen Wahlkampfes“. Er gab Angela Merkel zwei Ratschläge: „Politiker müssen vor den Wahlen die Wahrheit sagen, aber nicht die ganze Wahrheit. Gewiss, die Bürger sind nur bereit, Reformen mit zu tragen, wenn sie das Ziel der Reformen kennen. Ziele sind jedoch nicht zu verwechseln mit Instrumenten. In Bezug auf einzelne Reformmaßnahmen können Politiker also durchaus unscharf bleiben. Ja, sie müssen es sogar, wollen sie nicht die Ziele selbst gefährden. Schon vor den Wahlen einen breiten Konsens über die einzelnen Reformmaßnahmen anzustreben, um sich für diese ein Wählermandat zu holen, ist eher kontraproduktiv.“6 Anders gesagt: Man sollte das Ergebnis der Operation in den Vordergrund stellen, weniger die Operationstechniken. Man muss den Bürgerinnen und Bürgern eine Gewinnerperspektive geben, wenn man sie für Reformen gewinnen will. Dass Operationen notwendig sind, steht seit Beendigung der Ost-West-Bipolarität und den Entwicklungen, die aus dieser neuen Ordnung heraus entstanden sind, außer Frage. Es ist und bleibt Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik, auf diese Veränderungen zu reagieren und Deutschland wettbewerbsfähig zu machen. Das Wahlkampf-Rüstzeug – Programm und Personen Die Kernpunkte des Wahlprogramms von CDU/CSU Nicht zum ersten Mal schrieb die Union über die Vorhaben, mit denen sie in einen Wahlkampf zieht, vollmundig „Regierungsprogramm“. Aber selten passte der Titel „Regierungsprogramm 2005-2009. Deutschlands Chancen nutzen. Wachstum. Arbeit. Sicherheit.“ – gedruckt vor schwarz-rot-goldenem Hintergrund – so gut. Das Ziel des Machtwechsels 4 5 6
Zitiert nach Der Tagesspiegel, 19.06.2005. Ulrich 2005. Baron 2005.
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wurde – wie selbstverständlich – vorweggenommen. Der Wahlkampf wurde zu einem Zeitraum, der einfach nur vorübergehen musste, bis die Union die Bundesregierung stellen würde. CDU und CSU setzten sich nach einem Wahlsieg „die Rückkehr zu mehr Beschäftigung, Wachstum und Sicherheit“ zum Ziel. In ihrem 38 Seiten starken Regierungsprogramm kündigte die Union Reformen in nahezu allen Politikbereichen an. Zentrale Punkte: Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und Senkung der Lohnnebenkosten. Bei der Vorstellung des Programms am 11. Juli 2005 verteidigte Angela Merkel die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent schon für 2006 als „unumgänglich“. Um möglichst schnell eine Wende auf dem Arbeitsmarkt zu schaffen, müssten die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Dass Mehreinnahmen aus der Mehrwertsteuer auch für die Haushalte der Länder verwendet werden sollten, war für die Vermittlung des Programms nicht besonders hilfreich – wurde doch der Eindruck erweckt, als würden mit der höheren Mehrwertsteuer nicht nur Lohnnebenkosten gesenkt, sondern auch Löcher in Länderhaushalten gestopft. Mit einer großen Steuerreform weckte die CDU auf ihrem Leipziger Parteitag Ende 2003 große Hoffnungen. Sie wurde schließlich am Verhandlungstisch mit der CSU endgültig auf die lange Bank geschoben. Eine Reform der Einkommenssteuer kündigte die Union für den 1. Januar 2007 an. Einer Senkung der Einkommenssteuer stand die Kürzung von Pendlerpauschale und Zuschlägen für Sonn-, Nacht- und Feiertagsarbeit gegenüber. Familien sollten durch einen Steuerfreibetrag und einen „Kinderbonus“ in der Rentenversicherung für jedes neu geborene Kind unterstützt werden. Auch Steuerschlupflöcher sollen geschlossen werden. In punkto Gesundheitspolitik setzt die Union auf eine solidarische Gesundheitsprämie. Insgesamt rechnete die Union durch ihr Konzept mit Einsparungen von 10,6 Milliarden Euro. Die Union wollte mit ihrem Programm deutlich machen: Es wird mit einer CDU-geführten Bundesregierung kein „Weiter so“ und keine „Politik der ruhigen Hand“ geben. Mit einem „ehrlichen“ Programm, mit „mutigen“ Konzepten sollte es wieder aufwärts gehen mit Deutschland. Die Union wollte verlässlich sein. Man wollte nichts versprechen, was man nicht halten konnte.7 Das Regierungsprogramm im Überblick I. Arbeitsmarkt: Die Union wollte im Kündigungsschutz und Tarifrecht Arbeitnehmerrechte einschränken. Vereinbarungen, in der Arbeitnehmer auf Kündigungsschutzklagen verzichten und gleichzeitig Abfindungen festgeschrieben werden, sollten zulässig werden. Zudem sollten betriebliche Bündnisse für Arbeit zwischen Unternehmen auf der einen Seite, Betriebsrat und Belegschaft auf der anderen Seite möglich werden. Arbeitslosengeld-IIEmpfängern sollte nach der Einstellung ein Arbeitslohn gezahlt werden, der bis zu zehn Prozent unter Tarif liegen sollte. Außerdem sollten alle Kommunen die Möglichkeit haben, die Vermittlung von Arbeitslosen in ihre Hände zu nehmen. II. Senkung von Lohnnebenkosten und Mehrwertsteuererhöhung: Der Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung sollte Anfang 2006 um zwei Prozentpunkte von 6,5 auf 4,5 Prozent gesenkt werden. Im Gegenzug sollte die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf 18 Prozent erhöht werden. Dabei sollte der ermäßigte Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent, der beispielsweise für Lebensmittel und den öffentlichen Nahverkehr gilt, erhalten bleiben.
7
Vgl. Hessen Kurier 2005.
283
III. Forschung: Die jährlichen Investitionen in Forschung und Entwicklung sollten um eine Milliarde Euro erhöht werden. Dies sollte durch den Abbau von Subventionen finanziert werden. IV. Steuern: Steuerschlupflöcher für Großverdiener sollten beseitigt werden. Die Erbschaftssteuer sollte von 2006 an gestundet oder bei einer Unternehmensfortführung von mindestens zehn Jahren gestrichen werden, um einen Generationenwechsel im Mittelstand zu erleichtern. Am 1. Januar 2007 sollte die grundlegende Einkommensteuerreform mit dem vorrangigen Ziel der Steuervereinfachung in Kraft treten. Der Eingangssteuersatz sollte auf 12, der Spitzensteuersatz auf 39 Prozent gesenkt werden. Im Gegenzug sollten auch Steuervergünstigungen wie die Pendlerpauschale reduziert oder gestrichen werden. Familien sollten durch einen Steuerfreibetrag von 8000 Euro pro Familienmitglied entlastet werden. Hinsichtlich der Unternehmensteuer gab es noch keine konkreten Festlegungen. Es wurde lediglich versprochen, den Steuersatz für Kapitalgesellschaften von 25 auf 22 Prozent zu senken. V. Energie: Der Konsens über den Atomausstieg wurde in Frage gestellt, den Betreibern von Kernkraftwerken sollten längeren Laufzeiten ermöglicht werden. VI. Familie und Eigenheimzulage: Beitragszahler in die gesetzliche Rentenversicherung sollten für Kinder, die vom 1. Januar 2007 an geboren werden, bis zu deren 12. Lebensjahr eine Beitragsermäßigung von 50 Euro erhalten. Dies sollte durch die Abschaffung der Eigenheimzulage finanziert werden. VII. Gesundheit und Pflege: Die gesetzliche Krankenversicherung sollte vom einkommensabhängigen prozentualen Beitragssatz auf eine einheitliche Gesundheitsprämie umgestellt werden. In der Pflegeversicherung wollte die Union mit der Einführung einer Kapitaldeckung beginnen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeberanteil nicht mehr erhöht werden sollte. Vielmehr sollten sich die Versicherten für einen bestimmten Anteil zusätzlich privat versichern müssen. VIII. Innere Sicherheit und Zuwanderung: Die Bundeswehr sollte zur Terrorismusbekämpfung auch im Inneren zum Einsatz kommen. Sicherheitsgesetze sollten verschärft werden. Das Zuwanderungsgesetz wurde als nicht ausreichend bezeichnet, um Integrationsdefizite zu beheben. IX. Außenpolitik: Zum Verhältnis zu den USA hieß es im Regierungsprogramm: „Wir beleben die transatlantische Zusammenarbeit mit den USA neu.“ Außerdem sprach sich die Union gegen eine weitere Zentralisierung Europas, aber im Grundsatz für den Europäischen Verfassungsvertrag aus. Die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei wurde abgelehnt. Das Kompetenzteam von Angela Merkel Kein „Schattenkabinett“, sondern ein „Kompetenzteam“ stellte Kanzlerkandidatin Angela Merkel am 17. August 2005 der Öffentlichkeit vor. Bis auf Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus, zuständig für den Aufbau Ost, waren die Mitglieder des Kompetenzteams bereit, in einer CDU-geführten Bundesregierung mitzuarbeiten. Angela Merkel machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass nicht alle Persönlichkeiten ihrer Mannschaft nach einem Wahlsieg in das Kabinett wechseln könnten, weil dessen Zusammensetzung von Koalitionsverhandlungen abhänge. Völlig unklar war die künftige Rolle von Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber. Stoiber wollte erst nach der Wahl am 18. September über einen Wechsel nach Berlin entscheiden. Mit Ausnahme von Prof. Paul Kirchhof, mit dem 284
Angela Merkel zunächst einen echten Coup landete, setzte Merkel auf bewährte Experten und Zugpferde aus den Reihen von CDU und CSU. Als Experten für Finanzen und Haushalt stellte Angela Merkel den renommierten Steuerexperten und ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Paul Kirchhof (parteilos) vor. Er wurde von der Kanzlerkandidatin als Vorkämpfer für ein vereinfachtes Steuersystem ohne Schlupflöcher präsentiert. Auf die große Steuerreform, die von der CDU auf dem Leipziger Parteitag zwar beschlossen wurde, die aber nicht Teil des Regierungsprogramms von CDU und CSU war, wurde Paul Kirchhof schon bei seiner Vorstellung als Mitglied Kompetenzteams angesprochen. Er machte deutlich, dass er dieses Reformwerk weiterhin fest im Blick behalten werde: „Wenn der Ball auf dem Elfmeterpunkt liegt und ich soll als Schütze antreten, dann sage ich, jawohl, die Chance nutze ich.“8 Um die Themen Wirtschaft und Arbeit kümmerte sich im Wahlkampf der saarländische Ministerpräsident Peter Müller. Zum Zeitpunkt seiner Berufung regierte der Landesvater schon seit sechs Jahren. Als Vorsitzender der CDU-Kommission zur Zuwanderung wurde Peter Müller bundesweit bekannt. Die niedersächsische Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, Ursula von der Leyen, war im Kompetenzteam zuständig für Gesundheit und Familie. Die siebenfache Mutter galt als neuer Star der Bundes-CDU und wurde auf dem CDU-Parteitag im Dezember 2004 in Düsseldorf überraschend mit einem Wahlergebnis von über 94 Prozent in das Präsidium gewählt. Der frühere CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble repräsentierte die Außen- und Sicherheitspolitik der Union im Wahlkampf. Die baden-württembergische Kultusministerin Annette Schavan vertrat in Angela Merkels Kompetenzteam die Themen Forschung und Bildung. Sie wollte erste Ministerpräsidentin in Baden-Württemberg werden, unterlag aber in einer Mitgliederbefragung dem jetzigen Amtsinhaber Günther Oettinger. Die stellvertretende Bundesvorsitzende der Union gilt als enge Vertraute von Angela Merkel. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) war zuständig für die Innenpolitik. Die ehemalige Bundesministerin und stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Gerda Hasselfeldt war zuständig für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz. Die CSU-Politikerin war in der Regierung von Helmut Kohl erst Bau- und dann Gesundheitsministerin. Norbert Lammert, der Vizepräsident des Deutschen Bundestages, war schließlich für Kultur zuständig. Er war Vorsitzender der CDU-Landesgruppe Nordrhein-Westfalen im Bundestag und ehemaliger kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.9 Unionsinterne Analyse des Wahlergebnisses Schon vor der Bildung der großen Koalition begann in den Reihen der Union eine intensive Diskussion über den Bundestagswahlkampf. Eine Bundesvorstandssitzung Anfang Dezember beschäftigte sich eigens mit der Aufarbeitung der Bundestagswahl. Die Analyse verwies auf Schwachstellen in der Unionsstrategie: das „ungeschickte“ Verhalten von Kompetenzteam-Mitglied Paul Kirchhof, mangelnde soziale Kompetenz und ein zu technokratischer Wahlkampf, der zu wenig die Ängste der Menschen vor Veränderungen berücksichtigte. Die Partei solle jetzt „bitte nicht so tun, als könne das schlechte Wahlergebnis mit dem einen oder anderen Plakat oder mit dem Namen Paul Kirchhof erklärt werden – die 8 9
Zitiert nach Spiegel Online, 17. August 2005. Vgl. Leersch 2005.
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Ursachen“, so CDU-Präsidiumsmitglied Peter Müller, „liegen viel tiefer. Wir haben zwar immer davon gesprochen, dass es um eine Richtungswahl geht, aber es ist uns nicht gelungen, den Menschen deutlich zu machen, für welche Richtung wir stehen.“10 BadenWürttembergs Ministerpräsident Günther Oettinger rief zu einer „ehrlichen Analyse“ des Bundestagswahlkampfes auf. Ein Wahlkampf, der sich hauptsächlich mit Aspekten der Wirtschafts- und Finanzpolitik beschäftige, sei zu kurz gegriffen: „Es war richtig, das zum Hauptthema zu machen, es darf aber nicht das alleinig Sichtbare sein.“ Es hätten auch andere Aspekte des Programms deutlicher in den Vordergrund treten sollen. In der Diskussion über eine Mehrwertsteuer-Erhöhung und die Pläne von Paul Kirchhof habe die SPD in der Endphase des Wahlkampfes noch Pluspunkte sammeln können. „In den letzten Tagen waren wir nicht reaktionsschnell genug.“11 Auch der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber äußerte Zweifel, ob die Union die richtigen Prioritäten gesetzt hat. Für Forderungen, wie die nach Abschaffung der Steuerfreiheit von Zuschlägen für Nacht- und Feiertagsarbeit, gäbe es „heute in der CDU/CSU-Fraktion keine Mehrheit mehr“.12 Unions-Finanzexperte Friedrich Merz sprach sich für einen verschärften Reformkurs aus. Die CDU/CSU sei im Wahlkampf in die Defensive geraten, „so ein Fehler darf einer Opposition nicht passieren.“13 Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung seien nicht ausreichend thematisiert worden. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch nahm Angela Merkel gegen mögliche Schuldzuweisungen an der Wahlkampfführung der Union in Schutz: Nicht Merkel, die Union insgesamt habe schlecht abgeschnitten. Koch riet der Union, bei ihrem Programmkern zu bleiben – er sei „richtig“. Die Kanzlerin müsse die Deutschen „in eine Zeit der modernen Sozialen Marktwirtschaft führen“. Die Union habe die Bürgerinnen und Bürger mit zu vielen Belastungen konfrontiert – kritisierte auch Wolfgang Bosbach, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mit Mehrwertsteuererhöhung, Kürzung der Pendlerpauschale und Lockerung des Kündigungsschutzes habe man den Wählern „einfach zu viel zugemutet“, so Bosbach.14 Der niedersächsische Regierungschef und CDU-Bundesvize Christian Wulff machte deutlich, dass aus gemeinsam gemachten Fehlern für die Zukunft gelernt werden müsse. Es sei im Wahlkampf vor allem nicht gelungen, Zuversicht der von der SPD geschürten Angst gegenüberzustellen.15 Tiefgründig äußerte sich CDU-Bundesvize Christoph Böhr in einem NDR-Radiointerview.16 Er forderte dazu auf, die Frage zu diskutieren, wo die Gründe dafür liegen, dass seit etwa eineinhalb Jahrzehnten „Reformvorhaben in unserer Gesellschaft so gut wie nie eine Mehrheit finden“. Die Politik, so Christoph Böhr, müsse den Menschen die Angst vor Reformen nehmen, „auch dadurch, dass wir ihnen sagen, wohin wir mit ihnen gehen wollen“. Die Union habe einen „etwas unterkühlten Wahlkampf geführt, weil wir zu sehr betriebswirtschaftlich erklärt haben, was der Gesellschaft bevor steht.“
10 11 12 13 14 15 16
Zitiert nach Die Welt, 3. Dezember 2005. Zitiert nach Dörris & Schneider in der Süddeutschen Zeitung, 2. Dezember 2005. Zitiert nach Viering in der Süddeutschen Zeitung, 24. Oktober 2005. Ebd. Zitiert nach Graw in Die Welt, 3. Dezember 2005. Zitiert nach Focus online, 06. Dezember 2005. Zitiert nach NRD-Info, 05. Dezember 2005.
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Die Rolle der Union im Bundestagswahlkampf – eine kritische Betrachtung Im Bundestagswahlkampf 2002 wurde den Wählern das wahre Ausmaß der problematischen ökonomischen Lage der öffentlichen Finanzen und der sozialen Sicherungssysteme sowie die notwendigen Reformen, die in Angriff genommen werden müssen, verschwiegen. Entsprechend heftig war die Verärgerung in der Bevölkerung, als die rot-grüne Bundesregierung nach gewonnener Wahl die Karten auf den Tisch legen musste. Ein eigens eingerichteter Untersuchungsausschuss beschäftigte sich zu Beginn der neuen Legislaturperiode mit diesem Doppelspiel. Der rot-grünen Bundesregierung bescherte dies einen miserablen Start in eine glücklose Legislaturperiode. 2005 wurde seitens der Union aus der Bundestagswahl 2002 die Lehre gezogen, im Wahlkampf den Wählerinnen und Wählern genau das zu sagen, was man nach gewonnener Wahl umzusetzen gedenkt. Dass die Bürgerinnen und Bürger im Juni 2005 davon ausgingen17, dass auch eine SPD-geführte Bundesregierung die Mehrwertsteuer erhöhen würde, kam der Union bei ihrem Schritt, einen ehrlichen Wahlkampf führen zu wollen, ganz zu pass und bestärkte sie darin, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Doch warum ging diese Strategie nicht auf? Ein Grund wurde bereits genannt. Als vermeintlich nicht mehr zu verhindernde „Siegerin“ übernahm die Union die Rolle der Regierungspartei. Alle Meinungsumfragen kamen zu dem Ergebnis, dass Angela Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland würde. Es konnte nur eine Frage der Zeit sein. Aus diesem besonderen Umstand erwuchs eine intensive öffentliche Debatte über das Regierungsprogramm der Union und die Personen, die für dieses Programm standen. Die Union befand sich mit Beginn des Wahlkampfes im Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses. Kaum Aufmerksamkeit hingegen wurde der SPD und ihrem Programm geschenkt, da diese – in die Rolle der (künftigen) Opposition gedrängt – in der öffentlichen Wahrnehmung die Bundestagswahl verlieren würde. Daran konnte in Anbetracht der Meinungsumfragen kein Zweifel bestehen. Die SPD musste keinen unpopulären Offenbarungseid leisten und erklären, wie die Staatsfinanzen und die sozialen Sicherungssysteme zu retten sind. Sie konnte sich darauf beschränken – gleich einer Oppositionspartei – das „Regierungs“-Programm und das Personal der Union zu kritisieren und auf die eigenen Stärken – Kompetenzvorsprung „Für soziale Gerechtigkeit sorgen“ – setzen. Die Botschaft der SPD: CDU und CSU wollen eine lediglich der Wirtschaft ausgerichtete, technokratische Politik der sozialen Kälte. Mit der Nominierung des Quereinsteigers Paul Kirchhof als Steuerexperten der Union konnten CDU und CSU zunächst einen Überraschungserfolg feiern.18 Doch durch dessen Verhalten im Wahlkampf kehrte sich das Bild sehr schnell. Die Äußerungen bzw. Positionen Kirchhofs im Bundestagswahlkampf (Große Steuerreform, Abschaffung aller Sondertatbestände, Flat-Tax, ...) deckten sich nicht mit dem Wahlprogramm der Union. Damit bot die Union der SPD eine im Wahlkampf entscheidende Angriffsfläche, die Gerhard Schröder und die SPD medienwirksam aufgriffen. Teile der Union distanzierten sich öffentlich von Paul Kirchhof und legten damit die Axt an die Wurzel der eigenen Wahlkampfstrategie. Die Union geriet in die Defensive. Es wurde über Flat-Tax nach „Art des Professors aus Heidelberg“ diskutiert, kaum mehr über die Mehrwertsteuererhöhung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In der Woche vor der Bundestagswahl ermittelte der Politbarometer, 17 18
Vgl. Politbarometer, Juni 2005, 23. KW. Vgl. auch Landau Media Monitoring, Berlin: Wahlstudie 2005. Seite II.
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dass nur 11 Prozent der Auffassung waren, die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die entsprechende Senkung der Lohnnebenkosten führe zu mehr Arbeitsplätzen. 23 Prozent glaubten sogar, das Konzept der Union werde sich schädlich auf den Arbeitsmarkt auswirken und 61 Prozent gingen von einem insgesamt vernachlässigbaren Effekt aus.19 Die Union hatte keine Chance, aus der Falle, in die sie sich selbst manövrierte, herauszukommen. Die Argumentationslinie der Union wurde unwirksam. Eine Pannenserie ließ den politischen Gegner zudem frohlocken: Da war zunächst das Gerangel um die Frage, ob Angela Merkel und Gerhard Schröder sich zu einem oder zwei TV-Duellen treffen werden. Die Kanzlerkandidatin der Union setzt sich mit ihrer Forderung nach nur einem Duell zwar durch. Bei vielen Bürgerinnen und Bürgern blieb aber zweifelsohne haften, Angela Merkel drücke sich vor der direkten Auseinandersetzung mit dem Amtsinhaber Gerhard Schröder. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch durch Interviews der Kanzlerkandidatin. Ihr wurde vorgeworfen, die Begriffe „brutto“ und „netto“ verwechselt zu haben. Das erinnerte an den glücklosen SPD-Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping, dem 1994 ähnliches passierte. Zu allem Überfluss wurde öffentlich angeprangert, die Bundes-CDU hätte entsprechende Passagen der Interviews auf ihrer Internetseite verändert. Ungünstig aus Unionssicht war die Diskussion über angebliche oder tatsächliche Pannen im Wahlkampf, weil CDU und CSU mit dem Versprechen antraten, das politische Handwerk viel besser zu beherrschen als die oftmals chaotisch wirkende rot-grüne Bundesregierung.20 Hinzu kam die Protestwelle über Äußerungen von Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm, der neun Babymorde in seinem Land als Folge einer „Proletarisierung“ der Ostdeutschen durch das SED-Regime darstellte. Schlussbetrachtung Ist der Ehrliche der Dumme? Mit Blick auf den Bundestagswahlkampf von CDU und CSU könnte diese Aussage zutreffen. Die Sozialdemokraten boten den Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkampf leichte Kost an und konnten für den Wähler eine hohe Identifikation schaffen: Soziale Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung, Sicherung des Friedens. Über Details ging man großzügig hinweg. Reformvorhaben, die für die Bürgerinnen und Bürger Einschnitte bedeutet hätten, wurden im Wahlkampf ausgeklammert – oder es wurde der Eindruck erweckt, sie seien unnötig. Als „designierter Wahlverlierer“ konnte sich die SPD einen oberflächlichen Oppositionswahlkampf ohne Aussicht auf Erfolg leisten. Der Union gelang es nicht, die Menschen für ihre Politik zu gewinnen. Schlimmer noch: Soziale Komponenten der Programmatik (Erhöhung der Mehrwertsteuer zur Senkung der Lohnebenkosten, „Sozial ist, was Arbeit schafft“) waren sicherlich nicht besonders einfach zu kommunizierenden Botschaften. Sie verlangten dem Wähler hohe intellektuelle Leistungen ab, waren für viele nicht nachvollziehbar und damit für den politischen Gegner leicht angreifbar. Die Union selbst ging mit der eigenen Programmatik im Wahlkampf sehr zurückhaltend um – vielleicht auch deshalb, weil sie fürchtete, noch weiter in die Defensive zu geraten. Übrig blieb beim Wähler ein zu technokratisches Image und die Gewissheit, dass die Union schmerzliche Reformen umsetzen wollte, die Verzicht bedeuteten. Das Programm war detailliert, die Vermittlung verwirrend. Was das große Ziel der Union war, der Überbau der Programmatik sozusagen – der Wähler hat es nie erfahren. Vielleicht hätte 19 20
Vgl. auch „Kirchhof wird zur Last für CDU/CSU“, in: Frankfurter Rundschau, 20.09.2005. Siehe auch das Stern-Interview mit der Kanzlerkandidatin in Heft 34/2005.
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es eines für den Bürger klar nachvollziehbaren Ziels bedurft, um den Menschen zu verstehen zu geben, weshalb die Union die Mehrwertsteuer erhöhen, den Arbeitsmarkt flexibilisieren oder das Krankenkassensystem auf eine so genannte Gesundheitsprämie umstellen will. „Politik aus einem Guss“ – für die Union seit 1998 eine große Herausforderung. Hinzu kam, dass die Union im Wahlkampf nicht das Bild einer geschlossenen Partei abgab. Die ängstliche Distanzierung einiger Unionspolitiker von Kompetenzteam-Mitglied Paul Kirchhof beispielsweise entwertete die Personalentscheidungen von Angela Merkel völlig.21 Dass in Folge der Distanzierung von Paul Kirchhof Friedrich Merz von führenden Politiker von CDU/CSU als Finanzminister einer unionsgeführten Bundesregierung vorgeschlagen wurde und sich Paul Kirchhof daraufhin genötigt sah, eine Tandemlösung mit Friedrich Merz als „Ideallösung“ zu bezeichnen, diskreditierte ihn selbst und die Kanzlerkandidatin. Noch am 12. September sprach sich Angela Merkel in einer Wahlsendung der ARD dafür aus, Paul Kirchhof das Finanzressort zu übertragen. Der Wähler war verunsichert. Eine Partei, die der Vorsitzenden und Kanzlerkandidatin nach Kräften den Rücken stärkt und für ihre Ziele gemeinsam kämpft, sieht anders aus. Über 80 Prozent der Deutschen waren zum Zeitpunkt der Bundestagswahl über ihre Zukunft besorgt, fast 50 Prozent der Beschäftigten hatten Angst vor Arbeitslosigkeit.22 Allein mit Blick auf diese Grundstimmung muss die Strategie der Union in Frage gestellt werden. Statt den Menschen Hoffnung zu machen und ihnen eine Gewinnerperspektive zu eröffnen, verunsicherte die Union die Bürgerinnen und Bürger mit ihrem Programm weiter. Im ganzen Land plakatierte sie Negativbotschaften („Tag für Tag 1.000 Arbeitsplätze weg“ oder „5 Mio. Menschen ohne Arbeit“) und versuchte so, für den Wechsel zu werben. Vielleicht wäre es hilfreicher gewesen, die Schmuckstücke des Wahlprogramms in die Wahlkampfvitrine zu stellen. Mit ihrem Steuerkonzept hätte die Union die Menschen im Land deutlich besser gestellt. Eine Familie mit drei Kindern hätte nach dem Programm der Union einen Steuerfreibetrag von 40.000 Euro erhalten. Doch scheinen solche Botschaften bei den Wählerinnen und Wählern nicht angekommen zu sein. Dass die Union am Ende knapp vor der SPD aus der Bundestagswahl hervor ging, kann nur damit erklärt werden, dass die Verärgerung der Bürgerinnen und Bürger über die Politik der SPD am 18. September 2005 noch überwog. Die Union war für die Wählerinnen und Wähler das „kleinere Übel“.
Literatur Baron, Stefan: Politiker müssen vor den Wahlen die Wahrheit sagen, aber nicht die ganze Wahrheit. In: Wirtschaftswoche, 23. Juni 2005. Birnbaum, Robert: Landpartei auf Stadtpartie. In: Der Tagesspiegel, 17. Juni 2004. Dörris, Bernd & Schneider, Jens: Oettinger bemängelt Wahlkampf der Union. In: Süddeutsche Zeitung, 2. Dezember 2005. Forschungsgruppe Wahlen (Hrsg.): Politbarometer – Repräsentative Meinungsumfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF, Juni 2005, 23. KW. Graw, Ansgar: Mehr Gefühl wagen. In: Die Welt, 3. Dezember 2005. Hessen Kurier – Magazin der CDU Hessen: Verlässlichkeit und Klarheit. Wiesbaden, September 2005. Leersch, Hans-Jürgen: Angela Merkel will Ministersessel für Kirchhof. In: Berliner Morgenpost, 19.08.2005. Mehlitz, Johannes: Raumschiff Ortsverband. In: Rheinischer Merkur, 27. Oktober 2005. 21
Siehe auch das Interview mit dem Parteienforscher Eckard Jesse in Das Parlament, 23. September 2005; Vates 2005. 22 Vgl. Nahrendorf 2005.
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Nahrendorf, Rainer: Demoskopen: Wahrheits-Wahlkampf hat Merkel geschadet. Die Union hatte der Angstkampagne nichts entgegen zu setzen. In: Handelsblatt, 6. Oktober 2005. Sarcinelli, Ulrich (1991): Massenmedien und Politikvermittlung – eine Problem- und Forschungsskizze. In: Rundfunk und Fernsehen, 39, S. 439-486. Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2005): Wahl zum 16. Deutschen Bundestag am 18. September 2005, Sonderheft. Erste Ergebnisse aus der Repräsentativen Wahlstatistik für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden. Ulrich, Bernd: Flucht in die Wahrheit. In: Die Zeit, 23. Juni 2005. Vates, Daniela: Paul im Wunderland. In: Berliner Zeitung, 23. September 2005. Viering, Ulrich: Union streitet über Fehler im Wahlkampf. In: Süddeutsche Zeitung, 24. Oktober 2005.
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Teil 3: Exkurse
Wahlkampfe in Rom - Ein Beitrag zu einer historischen Wahlkampfkommunikationsforschung Von Nikolaus Jackob und Stefan Geij3
1
Einfiihrung
Das politische System der romischen Republik unterscheidet sich deutlich von allen demokratischen Systemen der Modeme. Wahlkampfe in Rom waren in vielerlei Hinsicht anders als die in diesem Buch vorgestellten Wahlkampfe in Deutschland. Viele Strukturen und Prinzipien, die heutige Demokratien, auch die deutsche, pragen, waren entweder nieht bekannt, nieht bedaeht, nieht vollstandig entwickelt oder nicht gewunscht. 1 AuBerdem mussten die antiken Politiker vollig ohne rnassenmediale Politikvennittlung auskommen. Doch weil die Wahlkampfe damals und heute in vielen Punkten so unterschiedlich sind, foIgt daraus nicht, dass man aus dem Kontrast, der dem vorliegenden Buch im Folgenden eine weitere, historische Perspektive hinzufugt, nichts lernen kann. Zumindest in einem Punkt zeigt sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit offenkundig Verbindendes: Die Notwendigkeit von Wahlen und Wahlkampfen, die konstitutives Element aller halbwegs freiheitlichen Systeme sind und damals wie heute fundamentalen Einfluss auf politisches Han .. deln haben: .Wahlkampfe gibt es, seit sich Akteure auf Wahlamter jeglicher Art bewerben - somit seit Beginn organisierter menschlicher Gesellungsformen uberhaupt, ,,2 Im vorliegenden Beitrag wird eine beispielhafte Analyse der Wahlkampfkultur und der politischen Kommunikation in der Romischen Republik untemommen, urn einen deutlichen Kontrast zu modemen Wahlkampfen, wie sie im vorliegenden Buch dargestellt werden, aufzuzeigen. So kann beispielsweise gepruft werden, ob und inwiefem sich Unterschiede erkennen lassen und welche Ruckschlusse man daraus fur modeme Wahlkampfkommunikation ziehen kann. Dabei wird kein Vergleich einzelner Wahlkarnpfe vorgenommen, wie er im Sinne echter vergleichender Forschung notwendig ware", sondem es werden die Strukturen und Prozesse der Wahlkampfkommunikation in Rom systematisch dargestellt und fur Vergleiche mit modernen Wahlkampfmustem zuganglich gemacht. Die Analyse des Wahlkampfmanagements und seiner Rahmenbedingungen aus einer Zeit, die der unseren 2000 Jahre vorausgeht, sowie die Kontrastierung mit den in diesem Buch dargestellten Wahlkampfen der Modeme eroffnet drei interessante Perspektiven, die einen Exkurs in dieses zunachst etwas exotisch anmutende Forschungsfeld rechtfertigen: Erstens tritt ein andersartiges System politischer Kommunikation in seiner historischen Gestalt hervor. Zweitens ergibt sich so die Moglichkeit, gangige Annahmen tiber den historischen Wandel politischer Kommunikation - z.B. formuliert in Ansatzen wie der Ameri-
Vgl. Jehne 1995b~ Bleicken 2004: 25-31. Dies gilt z.B. fur die strikte Gewaltenteilung, die Reprasentativitat, kodifizierteBurger- und Menschenrechte, universelles aktives und passives Wahlrecht u.a. Domer 2002: 20; vgl. auch Sarcinelli2005: II, 19. Zu den PrinzipienvergleichenderForschung vgl. Esser 2003; Esser & Pfetsch 2003.
293
kanisierungs-, Modemisierungs- oder Globalisierungsthese" - zu hinterfragen. Es kann der Frage nachgegangen werden, ob die Eigenheiten modemer Wahlkampfe Charakteristika von Wahlkampfen generell sind oder auf den Gemeinsamkeiten modemer Gesellschaften beruhen. Im Umkehrschluss errnoglicht der historische Kontrast drittens, (venneintliche) Neuartigkeiten modemer Wahlkampfe als solche in Frage zu stellen. Die Fragen konnten also lauten: .Jst das, was wir als eine Besonderheit modemer Wahlkampfe betrachten, tatsachlich modern?" und .Jst das, was wir fur selbstverstandlich an Wahlkampfen halten, tatsachlich selbstverstandlich?" Urn Anhaltspunkte zur Diskussion dieser Fragen im zweiten Teil des Beitrags zu erhalten, muss zunachst im ersten Teil eine historische, kulturelle und politische Kontextualisierung erfolgen, ohne die kein Forschungsansatz, erst recht kein vergleichender, gelingen kann. Gerade fur Analysen der politischen Kommunikation gilt, dass .Auspragungen, Formen und Strategien der Politikvermittlung abhangig sind von den jeweiligen Strukturbedingungen des politischen Systems und des Mediensystems eines Landes."? Ohne eine entsprechende Berticksichtigung dieser und weiterer Rahmenbedingungen ist keine sachgerechte Analyse moglich, 1m Gegenteil: Es werden vorschnell und geschichts-, bzw. kulturund strukturblind Innovationen gefeiert, die langst bekannt sind, und Eigentumlichkeiten mit universellem Geschehen verwechselt - und vice versa. Daher ist es unabdingbar, "Strukturkontexte,,6 im Design solcher Analysen zu berucksichtigen, erst recht dann, wenn der analysierte Gegenstand historisch und kulturell so weit weg ist von unserer Zeit wie im Fall der romischen Republik. Daher folgen auf den nachsten Seiten zunachst einige grundlegende Hinweise zum politischen System und zur politischen Kultur Roms - der Beitrag versucht, wie von Michael Gurevitch und Jay Blumler gefordert, zumindest in einigen Punkten systemempfindlich zu sein," 1m Anschluss werden die Prozesse und Strategien der Wahlkamptkommunikation beleuchtet und einige Uberlegungen zu den Ahnlichkeiten und Unterschieden zwischen damals und heute angestellt. Die Analyse eines zu den bisher in diesem Buch dargestellten Beispielen tendenziell sehr verschiedenen politischen Systems mit seinen eigenen Routinen politischer Kommunikation lasst sowohl Unterschiede als auch Ahnlichkeiten besonders deutlich. hervortreten. Das Kontrastierungspotential, das sich aus der Analyse vonWahlkampfen, die sowohl auf der historischen als auch auf der kulturellen Achse so weit von den bisher in diesem Buch beschriebenen Wahlkampfen entfemt sind, ist nur ein Grund fur die Auswahl des Untersuchungsgegenstands. Auch die verhaltnismalrig sichere Quel1enlage sowie die rege Behandlung des Zeitraums in den Geschichtswissenschaften spricht fur die Betrachtung Roms: Verglichen mit vielen anderen historischen Epochen, in denen (freie) Wahlen existierten, bietet die romische Republik die bestmoglichen Voraussetzungen fur eine solche Analyse, denn kaum eine Epoche vor der Neuzeit ist in Quellen so gut dokumentiert wie die letzte Phase der Republik.
Vgl. Kapitel 6 dieses Beitrages. Esser & Pfetsch 2003: 55. Esser & Pfetsch 2003: 55. Vgl. Gurevitch & Blumler 2003.
294
2
Das politische System der romlschen Republik
2.1 Die Sozialstruktur der romischen Gesellschaft Die romische Gesellschaft lasst sich in verschiedene soziale Schichten oder Gruppen einteilen, etwas vereinfacht: Adel, Ritter, Yolk und Sklaven. Nach der Aufhebung der ursprunglichen Standeunterschiede zwischen dem Adel (Patrizier) und dem Yolk (Plebejer) im Zuge der Standekampfe im fiinften und vierten Jahrhundert vor Christus bildete sich eine neue Fuhrungsschicht heraus: die Nobilitat (nobilitas), ein Amtsadel, der diejenigen Personen umfasste, die aufgrundihrer Amterkarrieren einen Platz im Senat innehatten. Die Nobilitat hatte sich in der Entwicklungsphase der Republik aus den Patriziern und den politisch ambitionierten und wohlhabenden Plebejern allmahlich gebildet. Diese mussten in der spaten Republik eben so wie der Ritterstand (equites) - der als Erweiterung der Obersicht betrachtet werden kann - ein Mindesteinkommen aufweisen. Viele equites waren bemuht, in die Nobilitat aufzusteigen, welche wiederum ihre Machtpositionen gegen jede Verwasserung durch Aufsteiger zu schutzen trachtete. Deshalb und aus Grunden, die spater noch zu erlautern sind, war die soziale Mobilitat relativ gering und Emporkommlinge (homines novi) waren sehr selten." Die breite Bevolkerung (plebs) machte den grolsten Teil der romischen Gesellschaft aus und umfasste ein weites Spektrum von Einstellungen, Lebensweisen und Interessen: von Wohlhabenden und politisch Ambitionierten bis zu solchen Personen, die zu ihrer eigenen Versorgung und der ihrer Familien neben ihren beruflichen Einkiinften auf Wohltaten der Oberschicht angewiesen waren." Eine weitere, groBe Gruppe der Einwohnerschaft Roms waren die Sklaven, die als einzige der genannten Gruppen keinerlei Rechte auf politische Mitbestimmung hatten, d.h. anders als Adel und Yolk auch nicht tiber das aktive und passive Wahlrecht verfiigten. FUr die Wahlkampffiihrung hatten jedoch zumindest die stadtischen Sklaven eine groBe Bedeutung - insbesondere fur die Stimmungsmache und das Image der Kandidaten bei den Wahlburgern. Daruber hinaus wurden Sklaven bisweilen nach relativ kurzer Zeit von ihren Herren freigelassen und somit in die Bevolkerung integriert. Solche Freigelassene hatten allerdings noch Verpflichtungen gegenuber ihren ehemaligen Herren. 10 Trotz dieser Differenzierung mehrerer Gruppen finden sich in den antiken Quellen haufig nur zweiteilende Unterscheidungen zwischen der Oberschicht und der "Masse", also der Schicht freier BUrger mit Wahlrecht aber ohne groBes Vermogen."
2.2 Politische Sozialisation und politische Normen FUr das Verstandnis offentlicher bzw. politischer Kommunikation ist auch die Frage bedeutsam, wie die Romer ihre politischen Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensdispositionen erwarben. Grundstein der politischen Sozialisation war eine Erinnerungskultur ", die das romische Gesellschaftsmodel1 in mundlicher, schriftlicher und monumentaler Form verherrlichte und seine Erfolge genauso feierte wie die Tugenden, auf die es sich stutze. Die Erinnerungskultur stellte Identifikationsfiguren und Vorbilder bereit, an denen alle
10 II 12
Vgl. Laser 2001: 10-17. Vgl. Kuhnert 1991: 62-67. Vgl. Kuhnert 1991: 29-32. Vgl. Kuhnert 1991: 16-18. Vgl. Holkeskamp 1996: 302.
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Romer gleichermaBen Orientierung finden und fUr die sie Bewunderung zeigen konnten." So wurden gemeinsame Werte vermittelt, die vor allem fur die Nobilitat, aber auch fur das Yolk verbindlich waren. Dazu gehorten u.a. Tapferkeit, Bescheidenheit, Treue, Selbstlosigkeit, Mabigung, FleiB, Klugheit und nicht zuletzt das Streb en nach Wurde und Autoritat, Und obwohl man diese Werte fur das ganze romische Yolk und die romische Geschichte zum Leitbild erhob, blieb doch kein Zweifel daran, dass die nobiles aIle anderen in dies en Eigenschaften ubertrafen, wei! sich die Leistungen ihrer Ahnen praktisch vererbten." Die Nobilitat beanspruchte fur sich deshalb, mit ihren Fahigkeiten und ihrem Ansehen der gemeinsamen Sache, der res publica, zu dienen. AuBerdem strahlten der Erfolg und die Leistung der nobiles auf den Staat und das gesamte Yolk aus. Es entstand ein idealisiertes Selbstbild, an das immer wieder appelliert werden konnte. Die rornische Geschichte wurde nicht als Ganzes vermittelt, sondern in einzelnen idealisierten und verallgemeinerten Schemata, so genannten exempla. Sie waren personalisierte Lehrbeispiele fUr den VerstoB gegen bzw. die Einhaltung oder gar Ubererfullung von Normen und Werten. Sie waren allgemein bekannt und konnten zitiert werden. Wahrnehmung, Denken, Einstellungen und Handeln der Romer wurden durch sie reguliert. Diese Vielzahl von Normen und Werten wurde in ihrer Gesamtheit als mos maiorum, als die "Sitte der Ahnen", bezeichnet. Die Medien zur Vermittlung dieser Erinnerungskultur waren vielfaltig: Denkmaler und Gebaude sowie in privaten und offentlichcn Raumen ausgestellte wertvolle Beutestucke waren uberall in Rom prasent und zeugten yom Erfolg der Republik und ihrer Elite. Pompose Beerdigungszeremonien fur politische Leistungstrager sowie Triumphzuge der militarisch Erfolgreichen aktualisierten die tief verwurzelten Vorstellungen von Normen und Tugenden und machten sie begreifbar." Auch die Geschichtsschreibung und die Geschichtsvermittlung in Reden und Gesprachen sowie in der Unterhaltungskultur des Theaters und der Spiele trugen zu dieser Erinnerungskultur beL 16 Sie pflanzte sich in der familiaren Erziehung fort." Diese Verbindung von Personalisierung, Idealisierung und Generalisierung schuf Schemata, die im Alltag aktiviert und die in der politischen Kommunikation zur Steuerung der Wahrnehmung und Bewertung von Informationen eingesetzt wurden." Weiterhin war die symbolische Ubertragung gesellschaftlicher Strukturen in den romischen Alltag von Bedeutung, etwa die streng en Aufstellungs- und Sitzordnungen bei religiosen Ritualen, bei den Spielen und Abstimmungen in den Volksversammlungen." Durch den Ausschluss der Nichtburger bei diesen Gelegenheiten wurden die gemeinsamen Erfolge und Interessen sowie die Privilegien des romischen Burgerrechts veranschaulicht. 20 Auch die Kleidung und die Ausstattung von Amtstragern mit Ehrengarden (Liktoren) zog eine klare Linie zwischen Fuhrungsschicht und Yolk. Die Redeversammlungen (contiones) waren weniger hierarchisiert und reglementiert und konnen somit als ein Venti] fur aufkommende Unzufriedenheit angesehen werden. Sie waren Schauplatze offener Interaktionen zwischen Senat und Volk. 2 1 13 14 15 16 17 18 19 20
21
296
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Holkeskamp 1996~ Timpe 1996. Holkeskamp 1995: 11-17,30,33; Timpe 1996: 279-281. Holkeskamp 1995: 30~ Timpe 1996: 279-281. Flaig 1995: 105-118~ Holkeskamp 1995: 16-25. Kloft 1992: 29-31. Holkeskarnp 1995; Jehne 2001: 167-169; vgl. auch Taylor, Peplau & Sears 2003: 80-84. Flaig 1995: 106-118. Holkeskamp 1995: 42; Flaig 1995: 101-102. Flaig 1995: 89-96.
Schaubild 1: Geschichte, Tradition, politische Kultur und politische Kommunikation
nahme' IBe Nutzung desPersuasionspotentials lUg
Selektion Idealisierung Normenbezug Personalisierung Verallgemeinerung
•
VerstarkungderpolitischenSozialisation
V
Geschichtliche Ereignisse
~ negative Positive und exempla
l
~~
I
"
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~
mosmaiorum
Handlungen und Interaktionen
Kumulation del aUgemein bekannten exemplaIn einem Normen. ond Wertesystem
I
Handeln gemo& del meresund example Handeln entgegen der moresund exempla
I
Quelle: Eigene Darstellung
Zusammengefasst konnten all diese Rituale und Verhaltensmuster in den politischen Prozess einbezogen werden, urn bestimmte Personen- oder Sachentscheidungen der politischen Fuhrungsriege zu legitimieren oder zumindest zu unterstiitzen. Sie bildeten die Grundlage der politischen Kultur und der politischen Kommunikation im romischen Staat. AuBerdem wurden bestimmte Rollenbilder fur das offentliche Auftreten etabliert (mit Abgrenzung zum Privatleben), wie z.B. das des stimmberechtigten, Verantwortung fur die Gemeinschaft tragenden Staatsburgers, aber auch das des gehorsamen Soldaten und das des geborenen po 1itischen AnfUhrers. 22 2.3 Politische Institutionen und Funktionen
Urn die Wahlkampfkommunikation im alten Rom zu verstehen, muss auch dargelegt werden, wie politische Macht und politische Prozesse institutionalisiert waren. Das institutionelle Gefiige der Republik erfuhr in der Spatzeit haufig Veranderungen.f Die drei maBgeblichen Organe und ihre Funktionen blieben jedoch unverandert: Volksversammlung, Magistrate und Senat bildeten den Kern der republikanischen .Verfassung". Das Yolk trat in Redeversammlungen (contiones) und in verschiedenen Beschlussorganen (comitia centuriata, comitia tributa, concilium plebis) zusammen. In den contiones wurden Antrage vorgestellt, begrundet und diskutiert, wobei nur der leitende Beamte, ein Magistrat, das Rederecht erteilte und die Antragsinitiative innehatte." Antrage konnten weder modifiziert werden, noch konnte ein Gegenantrag vorgebracht werden. Die contiones dienten folglich vornehmlich der Information der Bevolkerung tiber das Gesetzesvorhaben, tiber das dann in den Beschlussversammlungen abgestimmt wurde. In den Beschlussversammlungen ging es 22 23 24
Vgl. Holkeskamp 1995: 36. Vgl. Bleicken 2004: 58-78. Es war allerdings ublich, auch Gegner einer Gesetzesinitiative zu Wort kommen zu lassen (Vgl. Holkeskamp 1995: 35).
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formeller zu: Die BUrger stellten sich nach Stimmkorpern auf, die sich je nach Versammlung unterschieden, und konnten in einer geheimen Abstimmung lediglich zustimmen oder ablehnen. In den genannten Versammlungen wurden auch die Magistrate gewahlt: Quastoren, Adilen (comitia tributa), Volkstribunen tconcilium plebis), Pratoren und Konsuln (comitia centuriata). Von besonderer Bedeutung waren die Konsulwahlen in der comitia centuriata: AIle wahlberechtigten BUrger (nur Manner besaBen das aktive und passive Wahlrecht) wurden einem von 193 Stimmkorpern, so genannten Zenturien, zugeteilt. In den verschiedenen Zenturien waren jeweils unterschiedlich viele BUrger eingetragen: je hoher das Einkommen, desto geringer die Anzahl derjenigen, mit denen man im Mehrheitswahlrecht eine Stimme teilen musste. Je reicher man war, desto mehr galt die eigene Stimme (timokratische Ordnung). Trotz solcher Ungleichheiten waren breite Schichten der romischen Burgerschaft fur den Wahlausgang von Bedeutung. SchlieBlich gewannen die beiden Kandidaten, die in den meisten Zenturien die Mehrheit erreichten. Fur die Magistratsamter konnten sich aIle rornischen BUrger zur Wahl stellen. Jedoch musste jeder Kandidat, der das hochste Amt, das Konsulat, anstrebte, eine langwierige Arnterlaufbahn durchlaufen. Oer Bewerber musste aile vorhergehenden Amter bekleidet haben." AuBerdem verhinderte die finanziell aufwandige Wahlkampfftihrung sowie die Wichtigkeit von Prestige und Herkunft die Kandidatur einfacher BUrger. Die Konsuln besaBen umfassende Amtsgewalt, das so genannte imperium. Sie waren gleichzeitig oberste Heerfiihrer, fUhrten den Vorsitz im Senat und konnten bei Bedarf in Rechtsprechung und Finanzwesen eingreifen. Diese umfassende Macht wurde von verschiedenen Verfassungselementen beschrankt: Konsuln wurden wie alle anderen Beamten nur fur ein Jahr gewahlt (Annuitat), Weiterhin wurden fur jedes Jahr zwei Konsuln gewahlt, die sich in ihren Amtsaufgaben abwechselten (Kollegialitat) und sich gegenseitig kontrollierten - der jeweilige Kollege konnte die Anordnung des anderen aufheben (Interzessionsrecht)." Der Senat schlieBlich galt als die zentrale Institution der Republik. Obgleich er eigentlich nur beratende Funktion hatte, wurde ihm hochste Autoritat attestiert. Er fallte Entscheidungen, die fur die Magistrate bindend waren und denen die Bevolkerung nur selten Widerstand entgegensetzte. Das Yolk nutzte seine Entscheidungs- und die Magistrate ihre Initiativ- und Exekutivbefugnisse nur selten unabhangig von "Senatsempfehlungen", weil die Autoritat der im Senat versammelten Adligen, die sich durch Fahigkeiten, Leistungen und durch Volksnahe ausgezeichnet hatten, allgemein anerkannt war. 3
Politiscbe Kultur
UDd
politische Kornmunikation
Die vorangegangene Einfiihrung dokumentiert, dass das politische System der romischen Republik und ihre politische Kultur sich in wichtigen Punkten grundlegend von heutigen Demokratien wie der Deutschen unterscheiden. Die politische Verfassung war nieht gleiehermaBen freiheitlieh, wie es heute Kennzeichen demokratischer Systeme ist, Wahlrecht und Wahlmodus unterscheiden sich, die Partizipationsmoglichkeiten des Yolks und die Beziehungen zwischen Yolk und Regierenden waren sehr verschieden - im Grunde war die Republik eine sehr aristokratische, auf der Existenz von sozialer Ungleichheit beruhende politisehe Ordnung. Und doch lassen sieh - wie auch in Kapitel 5 dieses Beitrages gezeigt
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Vgl. Laser 2001: 10-15. Vgl. Bleicken 2004: 25-26.
wird - Muster in der Wahlkamptkommunikation erkennen, die auch heute noch Signum von Wahlkampfen sind. Unabhangig von institutionellen und kulturellen Unterschieden zwingt die Bewerbung urn Wahlamter zu Verhaltensweisen, die uberall gleich sind. Es finden sich Phanornene, die in ihrer individuellen Auspragung unterschiedlich sein mogen, aber vom dahinter liegenden Prinzip her sehr ahnlich sind. Urn die Muster politischer Kommunikation verstehen zu konnen, muss man zwischen der Kommunikation innerhalb der Fiihrungsschicht, der Kommunikation innerhalb der Bevolkerung und der Kommunikation zwischen Fuhrungsschicht und Bevolkerung unterscheiden. Die Interaktionsmuster innerhalb der romischen Fuhrungsschicht sind in erhaltenen Briefwechseln hinreichend dokumentiert und analysiert worden." Das poIitische Handeln der Romer grundete sich sehr stark auf Beziehungsnetzwerke und die Rangstruktur in der Oberschicht. Es gab keine "objektiven" Kriterien wie Einkommen oder Besitz, die automatisch Rang und Wurde mit sich gebracht hatten, Dies fuhrte dazu, dass sich je nach Struktur des sozialen Gefiiges immer neue Konfliktkonstellationen einstellten, die relativ unabhangig von personlichen Vorlieben, eigenen Interessen und Freundschaften waren. Sie wurden nach Nutzenerwagungen fur den Rangerwerb gebildet, Schneider spricht hierbei von "situativer Identitat'", die starke Freund- und Feindschaften innerhalb der Oberschicht verhinderte. Gezieite Provokationen durch Missachtung oder verweigerte Anerkennung konnten die Krafteverhaltnisse der Allianzen aufzeigen und somit zur Steigerung oder Senkung von Ansehen fuhren, was unmittelbar auch andere Personen betraf, die der geschadigten Person im personalen Netzwerk nahe standen. Dabei gaiten jedoch bestimmte Regeln, die eingehalten werden mussten, wollte der Streitausloser sich nicht isolieren. Die Storung des Konsens fuhrte zu einer Aktualisierung der Bewertung der beteiligten Personen, woraufhin der Dissens nach festgelegten Regeln wieder in den Konsens iiberfiihrt wurde. Bei einer Abweichung von diesen Regeln drohten der Person die Abwertung, schlieBIich sogar Missachtung und Isolation. Grundlegende Motivation war zwar Eigennutz, die Steigerung des eigenen Ranges, doch war dieser Eigennutz so sehr in Beziehungen und Anerkennungsnote eingebunden, dass sehr viele weitere Faktoren in das eigene Handeln mit einbezogen werden mussten, wollte man den eigenen Rang und den ihm zugrunde liegenden Konsens wahren. Solche Leistungen konnten sowohI offentliche als auch informelle Handlungen umfassen, also vom Unterstutzen einer Kandidatur uber finanzielle Beihilfe bis hin zu muhseliger Oberredungsarbeit im Senat reichen. Aus dem Widerspruch zwischen Konformitat und Exzellenz, zwischen engen sozialen Netzen und Konkurrenz, entstanden Teamarbeit trotz individuellem Leistungszwang, Flexibilitat bei der Implementierung von Innovationen trotz Konservatismus.f" Sowohl in der Offentlichkeit als auch hinter den Kulissen spielten die personlichen Netzwerke und die gegenseitige Anerkennung eine entscheidende Rolle. Berucksichtigung der anderen Senatoren und des Volkes, Antizipation von Reaktionen und vorausschauendes Handeln waren folglich unerlasslich, wollte man im komplexen Interaktionsfeld zwischen Yolk und Fuhrungsschicht bestehen. Betrachtet man die Interaktion der BUrger untereinander, muss man sich zunachst vor Augen halten, dass nicht aIle Personen mit offentlichen Reden oder anderen Formen zeitgenossischer Publizistik, also durch Reden, Ausrufe, offentliche Bekanntmachungen durch Anschlage an Gebauden u.a., direkt erreicht werden konnten - hier zeigt sich ein funda27 28 29
FUreine ausfiihrliche Analyse vgl. Schneider 1998. Schneider 1998: 140. FUr den ganzen Absatz vgl. Schneider 1998: 684-705.
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mentaler Unterschied zu heute, einer Zeit, die durch die Existenz reichweitenstarker Massenmedien gepragt ist. Die Auftritte der Mitglieder der Fuhrungsschicht in der Offentlichkeit konnten kaum von allen Romern in der Weise beobachtet werden, dass es ihnen moglich gewesen ware, sich ein angemessenes Bild der Zustande im Staat zu machen. Nur einige hundert oder tausend Menschen konnten ihren Politikem bei deren Auftritten beiwohnen. Das bedeutet, dass der Yerbreitung von Inforrnationen und Meinungen iiber mehrere Diffusionsschritte in einem Stufenflussmodell eine entscheidende Bedeutung zukommt. So konnten sich jedoch Nachrichten sehr schnell verbreiten, besonders, wenn es sich urn wichtige oder interessante Sachverhalte handelte. Die Stadt Rom galt als unablassig brodelnde Geruchtekuche: Die Menschen tauschten sich auf den Platzen Roms - in der Offentlichkeit unter freiem Himmel - wie auch an den heimischen Herden tiber ihre Politiker aus. Und durch Klatsch und das Stadtgesprach (fama und sermo) erreichten Nachrichten und Stimmungen auch tiber die Stadt Rom hinaus einen groBen Empfangerkreis." Die Interaktion zwischen Fiihrungsschicht und Yolk ist derjenigen innerhalb der Fiihrungsschicht prinzipiell ahnlich." Diese Handlungen konnen sowohl auf einer individuellen als auch auf einer kollektiven Ebene betrachtet werden. Auf der individuellen Ebene war das Leistungsstreben jedes einzelnen nobilis mit der Notwendigkeit der Anerkennung durch das Yolk verbunden, weil das Yolk aufgrund der Wahlen groBen Einfluss auf die Aufstiegschancen ausubte, Jedes einzelne Mitglied der Oberschicht bemuhte sich urn ein positives Image, was vor allem durch offentlich zur Schau gestellte Gefalligkeiten und Wohltaten erreicht werden konnte. Hierzu gehorte das Halten von Reden, das Ausrichten von Spielen, Speisungen, die Gewahrung gerichtlichen Beistandes, das Errichten von Bauten, aber auch verantwortungsvolle Amtsausubung sowie militarische Leistungen und deren Vermarktung." Nach romischer Vorstellung erforderten soIche Vorleistungen wiederum Gegenleistungen von den Burgern, also die Nutzung der eigenen Handlungsspielraume fur das fragliche Mitglied der Oberschicht in der Offentlichkeit, urn dessen Image weiter zu verbessem, und die eigene Stimmabgabe bei einer eventuellen Kandidatur. In offentlichen Reden wurde das Yolk generell mit positiven Eigenschaften assoziiert und sogar respektvo11 angesprochen - wohingegen die Senatoren untereinander haufig abwertend vom V 0 lk sprachen. Wer das Yolk offentlich missachtete, musste mit Zuruckweisung rechnen." Auch auBerhalb des Wahlkampfes war es wichtig, beim Yolk beliebt zu seine Auf kollektiver Ebene fand unentwegt eine Emeuerung der gegenseitigen Anerkennung zwischen Yolk und Senat statt: Mit seinem Wahl- und Abstimmungsverhalten und seinen offentlichen Reaktionen brachte das Yolk dem Senat solange Vertrauen entgegen, wie dessen Handlungen das Vertrauen rechtfertigten. Dieses Vertrauen wurde durch die Kumulation individueller Handlungen und den Erfolg des Staates insgesamt erworben und durch die politische Sozialisation gefestigt. Eine Uberbeanspruchung des Yertrauens fiihrte zunachst zu Missfallensaufierungen gegeniiber einzelnen nobiles, die gemeinsame Normen verletzt hatten. Sie wurden beispielsweise bei offentlichen Reden angeschwiegen, ausgepfiffen oder im Theater verspottet, ihre Feinde hingegen worden gefeiert." Wenn sich sol30
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Vgl. Laser 2001: 67 (Cicero, Comm. pet. 17); vgl. zur Informationsdiffusion via interpersonaler Kommunikation auch Weimann 1994; Schenk 2002; vgl. zur Rolle von Geruchten als Transportmitteln von Informationen, Stimmungen und Normen z.B. Jackob 2005: 134-139. Vgl. Schneider 1998: 701-702. Vgl. Holkeskamp 1995: 30; Holkeskamp 1996; Flaig 1995; vgl. Laser 200 I: 59 (Cicero, Comm. pet. 17). Vgl. Holkeskamp 1995: 38. Vgl. Flaig 1995: 118-127.
ehe Reaktionen nieht nur in Einzelfallen zeigten, war der gemeinsame Konsens gefahrdet, der auf Kommunikation beruhte: ,,(... ) Rom war nieht regierbar, wenn die Plebs den Kommunikationsprozess sabotierte.?" Dies konnte so weit gehen, dass ziviler Ungehorsam demonstriert oder Gewalt angewendet wurde. Das Fehlen einer Polizei verstarkte diese Gefahr. Der Konsens war wahrseheinlieh ein Spatprodukt der Standekampfe: Damit sieh Yolk und Senat nieht standig in kraftezehrenden Machtkampfen aufrieben, wurden die Auseinandersetzungen institutionalisiert und formalisiert, so dass sieh die Methoden politischer Interaktion anderten - statt manifester Gewalt entwiekelten sieh Abhangigkeiten, die auf Gruppen- und Individualebene wirksam waren." So zeigte das Fehlen einer Polizei an, dass letztlieh das zahlenmafng tiberlegene Yolk die Macht besaB, was sieh in der Entscheidungsbefugnis der Volksversammlungen und den Rechten der Volkstribune widerspiegelte. Andererseits war das V 0 lk von der Fuhrungsstarke , Kompetenz und Effektivitat seiner Fuhrungsschicht abhangig, Deshalb wurde vom Yolk erwartet, den Senatsempfehlungen zuzustimmen, wobei auch hier die Senatoren Gesetze kassierten, die auf allzu harsehe Ablehnung in den contiones stieBen. Weiterhin ist ein ausgepragter Personenkult zu erwahnen, der die politisehe Kommunikation pragte - in viel grolserem MaBe, das dies fUr die heutigen, vielfach ebenfalls von starker Personalisierung gekennzeiehneten Wahlkarnpfe zutrifft. Wahlen in Rom waren ausschlieBlich Personenwahlen und sogar Gesetze wurden stets mit Personennamen verbunden (die Gesetze wurden nach dem Antragsteller benannt). Positive Charaktereigensehaften wurden in der politischen Sozialisation als Kemwerte vermittelt (exempla, mos maiorum). Es entstand ein langfristig angelegtes Vertrauen, das jedoch in der tagtaglichen Interaktion immer wieder emeuert werden musste. Wer auf die charakterliche Integritat der Mitglieder der Fuhrungsschicht achtete und so nach personlichem Vertrauen in Fahigkeiten, Kompetenzen und Charakter seine Wahl fallte, brauchte sich mit einzelnen Sachfragen nicht gezielt auseinanderzusetzen. FUr den politischen Prozess hieB das: Nicht nur die Herstellung von Konsens im Senat, sondern auch ein Konsens mit dem Yolk war notwendig, urn Entscheidungen fallen und durchsetzen zu konnen, Auf individueller Ebene war der soziale Aufstieg innerhalb der Nobilitat von der Zustimmung der BUrger abhangig, Auf kollektiver Ebene beruhte der Fuhrungsanspruch der Nobilitat auf der gegenseitigen Einhaltung eines Konsenses, der von beiden Seiten, Senat und Yolk, groBe Anstrengungen verlangte. Denn aller Konsensorientierung der Gesellschaft zum Trotz hatten die Standekampfe letztlich mit MaBnahmen zivilen Ungehorsams erreicht, dass die Einflussmacht des Senats vom Yolk abhing - ein einseitiges Auflosen des Konsenses hatte somit einen emeuten Machtkampf bewirkt. 37 Fur die jeweiligen sozialen Schichten hatte diese Form der politischen Kultur eine Einengung des Handlungsspielraums zur Folge. 38 35 36 37 38
Flaig 1995: 120. VgJ. Bleicken 2004: 20-31. Vgl. ebd. In der spaten Republik verioren diese Kommunikationsmechanismen an Bedeutung, Die zur Schau gesteJJte Homogenitat der Fuhrungsschicht war nicht mehr gegeben. Es kam zu grundlegenden Veranderungen in der politischen Kultur und in den Mustern politischer Kommunikation, Zwei Strategien bildeten sich heraus, die von ambitionierten Politikem verfolgt werden konnten: Die traditionelle Strategie, die sogenannte "optimatische" Politik, setzte auf die Durchsetzung politischer MaBnahmen, die durch einen Konsens im Senat legitimiert worden waren, wohingegen die neue .populare" Politik darin bestand, auch gegen die Zustimmung des Senats Entscheidungen in der Volksversammlung zu erreichen. Populare Politik zeichnete sich durch die instrumentelle Verwirklichung volksnaher Interessen aus (z.B. durch die Subventionierung der Getreidepreise). Optimaten waren auf die Erhaltung der Vormachtstellung und def Autoritat des Senats bedacht und waren
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Zwischenbilanz
Die Macht der romischen Elite basierte auf der Anerkennung und dem Vertrauen der Burgerschaft. Deshalb mussten sich romische Politiker stets urn die Zustimmung des Volkes bemuhen, Sie mussten mit Leistungen in der Staatsfiihrung glanzen und im Einklang mit den traditionell vermittelten Werten und Normen handeln. Innerhalb der Elite waren Machtkampfe aufgrund des hohen Konkurrenzdrucks urn Ansehen und Amter an der Tagesordnung. Aus ihnen siegreich hervorzugehen war der Schlussel zu Macht und Ansehen, dem Ziel aller nobiles. Es existierte eine rege und direkte Interaktionen zwischen Yolk und Fuhrungsschicht, Gegenseitige Anerkennung war die Grundlage des Konsensus, der der Fuhrungsschicht Macht, Ansehen und Autoritat, dem Yolk Rechtssicherheit, Freiheit und Teilhabe am offentlichen Leben einbrachte. Tabelle 1: Konsens in der Interaktion zwischen Fuhrungsschicht und Volk Erwartetes Verhalten und erwartete Eigenschaften
Mittel zur Einforderung der Konsensleistungen
Vertrauen wecken Soziale Uberlegenheit, Bildung, Erfahrung; Erfolg in der Staatsfuhrung; Berucksichtigung bzw. Einbeziehung des Volkes; Handeln nach gemeinsamen Wertvorstellungen.
Politi scher, militarischer, juristischer Erfolg; Wohltatigkeit; symbolische Politik; soziale Abhangigkeiten; Demonstration von Einigkeit; Reden und Auftritte in der Offentlichkeit; Rucksicht auf die offentliche Meinung; offentliche Darstellung von Werten, Geschichte, Abstammung; Sozialisation der BUrger. Wahlverhalten bei Wahlen und Abstimmungen; offentliche Reaktionen z.B. bei contiones, Spielen, religiosen Festen usw. (z.B. Pfeifen, Verspotten); ziviler Ungehorsam; gewaltsame Aktionen.
Vertrauen schenken Anerkennung und Bestatigung; Folgsamkeit bei Wahlen bzw. Abstimmungen; Desinteresse an konkreten politischen Inhalten; Selektion der Fuhrungsschicht; Einfluss auf die Hierarchie der Fuhrungsschicht. Quelle: Eigene Darstellung
Fur den Bestand des romischen politischen Systems waren zwei Mechanismen des sozialen Einflusses konstitutiv: der Einfluss der offentlichen Meinung und der Einfluss von AutoriUit39, wobei der Einfluss der offentlichen Meinung auch die Bedeutung der allgegenwartigen Normen und Werte einschlieBt. Dieses System und seine Grundlagen wurden in der politischen Sozialisation vermittelt. Fuhrungsschicht und Burger wurden in ihre Rollen im Staat eingewohnt, so dass Machtgefalle akzeptiert wurden. Zentraler Mechanismus hierzu war die Etablierung von idealisierten, generalisierten und personalisierten Beispielen aus der Geschichte, so genannten exempla, auf die auch in der offentlichen Interaktion stets
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bemuht, die Alleingange von Popularen zu verhindem oder zu bekampfen (Vgl. Schneider 1998: 726-729; Laser 2001: 13-14; Bleicken 2004: 203-204). Vgl. Kloft 1992~ Taylor, Peplau & Sears 2003: 224-229~ Jackob 2005: 34-46, 154-169.
Bezug genommen wurde. Sie waren Schemata, die Wahrnehmung und Verarbeitung von Infonnationen steuerten und Handlungsimplikationen beinhalteten. Das Yolk beschaftigte sich kaum mit Sachfragen, sondem achtete besonders auf den Charakter, die Nonnkonformitat, die Leistungsfahigkeit und die Integration der Fuhrungsschicht. Auf diese Weise wurde die Komplexitat der Politik auf ein fur zeitgenossische Publika nachvollziehbare Weise reduziert. Diese Personalisierung der Politik hatte uberdies die Politisierung der Personen zur Folge - die einzelnen Senatoren fuhrten ein dezidiert offentliches Leben ohne
Privatsphare." 5
Wahlkampfkommunikation im antiken Rom
5.1 Ziele der politischen Kommunikation Auf Basis des bisher Dargestellten konnen nun die aus den Quellen bekannten und erschlieBbaren Wahlkampfmechanismen mit hinreichendem Verstandnis der politisehen Hintergrunde dargestellt, eingeordnet und diskutiert werden. Zunachst ist es wiehtig, einen Uberblick Uber Ziele und Strategien der Akteure zu gewinnen, ehe dann der Versueh einer modellhaften Darstellung der Wahlkampfkommunikation untemommen wird. Mit der politischen Kommunikation im Wahlkampf verbanden sich je nach Perspektive verschiedene Interessen. Das Interesse des Wahlkampfers, die Wahl zu gewinnen, lasst sich in verschiedene Einzelinteressen aufschlusseln: Er wollte BUrger zur Stimmabgabe zu seinen Gunsten bewegen'", Wahlkampfer werben, interpersonale Kommunikation zu seinen Gunsten stimulieren, Geriichte und Tratsch unterdriicken bzw. in Gang setzen - was angesichts der Absenz von Massenmedien besonders wichtig war -, mogliche Befiirworter des Gegners von der Stimmabgabe femhalten und dessen Wahlkampfmaschinerie torpedieren." Einflussreiche Personen, die der Wahlkampfer zu seiner Unterstiitzung rekrutieren wollte, mussten ihr Image in der Offentlichkeit beaehten: Besonders die Angehorigen der Fuhrungsschicht mussten die Konsequenzen ihres Agierens fur oder gegen einen Kandidaten sorgsam abwagen." Sie mussten darauf achten, ihre eigene Reputation nieht zu beschadigen, indem sie einen chancenlosen, umstrittenen oder unbeliebten Kandidaten unterstUtzten. Schlimmstenfalls drohten ihnen die Isolation im Senat und die offentliche Schmahung durch das Volk. 44 Die einfache Bevolkerung zog verlassliche Kandidaten vor, die ihre Ubereinstimmung mit den Werten und Nonnen klar zurn Ausdruck brachten." AuBerdem konnte sich die Bevolkerung an der Unterstutzung eines Kandidaten durch bestimmte Gruppen, insbesondere des Senatorenstandes, orientieren. Dessen uberragende Autoritat und Erfahrung in der Fuhrung der Amtsgeschafte lohnte eine Berucksichtigung. Weiterhin 40 41
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Vgl. Flaig 1995: 124-127~ Laser 2001: 61-63 (Cicero, Comm. pet. 8-11); Jackob 2005: 100..175. Die Haufigkeit von Wahlen, das niedrige Involvement, die hohe Wahrscheinlichkeit, gar nicht zur Abstimmung zu gelangen und das Fehlen des Gedankens der Reprasentation (vgl. Jehne 1995a~ Jehne 1995b: 51-64~ Laser 2001: 17) waren wahrscheinlichdie Ursachen fur eine generell geringe Wahlbeteiligung. Auch limitierten die raumlichen Kapazitaten der offentlichen Platze die Wahlbeteiligung (vgl. Laser 2001: 16). Desha1b war es bereits ein groBer Erfolg, Wahler uberhaupt soweit in das Wahlkampfgeschehen zu verwickeln, dass sie mit ihren Stirnmendas Ergebnis in ihrer Zenturie beeinflussten. Vgl. Laser 2001: 67-81, 81-89 (Cicero, Comm. pet. 16-40,41-53). Vgl. Schneider 1998: 669-71 7. Vgl. Flaig 1995: 118-124~ Schneider 1998: 685. Vgl. Flaig 1995: 124-127.
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konnten Wahlanreize in Form von Unterhaltung z.B. im Theater, Nahrungsmitteln oder finanzieller Zuwendungen okonomisch Abhangige motivieren." Sachfragen konnten kaum Gegenstand des Wahlkampfes werden, weil enorme soziale und okonornische Unterschiede eine zu kleinteilige Klientelpolitik bewirkt batten, die nicht mehrheitsfahig gewesen ware. So fand der Wahlkampfer im spatrepublikanischen Rom erne groBe Vielfalt von ineinander verwobenen Interessennetzen vor, in denen sich ein Kandidat nur allzu leicht verfangen konnte." Deshalb bildeten sich verfestigte Strukturen der Wahlkampfflihrung heraus."
5.2 Strategische Situationsanalyse 1m Zentrum des Wahlkampfes stand das Kandidatenimage. Die Kandidaten bei einer Konsulwahl waren keineswegs unbeschriebene Blatter, jeder hatte in der Arnterlaufbahn Magistraturen ausgeflillt und konnte mehr oder weniger groBe Leistungen fur die Gemeinschaft nachweisen. Die Leistungsfahigkeit musste man auf mehreren Gebieten bewiesen haben, wobei hier durchaus Spezialisierungen zu beobachten sind. Das Volkstribunat und die Adilitat dienten dazu, Bekanntheit und Beliebtheit zu erlangen", da diese Amter geradezu darauf ausgelegt waren: Der Volkstribun war der Vertreter der Volksinteressen, der Adil war u. a. fur die reibungslose Durchfiihrung von offentlichen Spielen verantwortlich. Doch auch in den anderen Amtem, im Militardienst und im Gerichtswesen, galt es, Bekanntheit zu erlangen sowie die eigene Beliebtheit, Wurde und Autoritat zu steigern." Da die Mitglieder angesehener und traditionsreicher Familien bereits Bekanntheit und Beliebtheit in einem gewissen MaB besaBen, waren die erbrachten Leistungen fur das Gemeinwesen besonders fur den Ritterstand wichtig, dessen Angehorige sich bemuhten, in den Senatorenstand aufzusteigen. Alle Erfolge mussten jedoch in der Offentlichkeit dargestellt und kommuniziert werden. Einigen Bewerbern hafteten noch unvergessenes fruheres Versagen bzw. Normverstofse an, was sich gewinnbringend fur eventuelles Negative Campaigning nutzen lieB.51 Genauso wichtig wie der Erwerb eines hohen Ansehens war die richtige Einschatzung des eigenen Ansehens im Vergleich zu demjenigen moglicher Mitkandidaten. Das gunstigste Jahr mit einem zu bewaltigenden Konkurrenzdruck fur die Bewerbung auszusuchen, muss ebenfalls in den Katalog der Wahlkampfstrategien aufgenommen werden.Y Eine weitere Gegebenheit waren die weit verzweigten sozialen Netze, bestehend aus Freundschaften und Abhangigkeiten, durch die man tiber einflussreiche Personen auch die einfachen BUrger erreichen konnte." In einer Gesellschaft ohne Massenmedien mussten diese stabilen Kommunikationsstrukturen genutzt, die Multiplikatoren identifiziert werden. In der offentlichen Meinung spielte vor allem der generelle Eindruck von den Eigenschaften des Kandidaten eine Rolle: Grausamkeiten und Fehler in der Vergangenheit lieBen umfassende Zustimmung zu einem Kandidaten genauso wenig zu, wie offentliche Unmutsauferungen vergangene Leistungen ganzlich vergessen machen konnten.i" Wichtig zur 46 47
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Vgl. Jehne 1995a: 63-64. Vgl. Laser 2001: 89-90 (Cicero, Comm. pet. 54). Vgl, z.B. Jackob 2002. Vgl. Laser 2001: 14. Vgl, Holkeskamp 1995: 11-16. Vgl. Laser 2001: 61-63 (Cicero, Comm. pet. 8-10); Jackob 2002. Vgl. Laser 2001: 63 (Cicero, Comm. pet. 11). Vgl. Laser 2001: 59 (Cicero, Comm. pet. 6). VgL Flaig 2005: 118-127.
Beeinflussung von Kandidatenimage und Meinungsklima war, sich in einem vordemoskopischen Zeitalter uberhaupt ein Bild von den vorhandenen Stimmungen und Vorstellungen machen zu konnen, Dies geschah durch die Beobachtung der Reaktionen versammelter Menschenmengen - z.B. im Theater oder bei den Abstimmungen - gegenuber den Kandidaten und im personlichen Gesprach." Dabei konnte es allerdings zu Fehlannahmen tiber Meinungsklima und Kandidatenimage kommen, da diese ja auch von den Konkurrenten gezielt beeinflusst wurden.
5.3 Methoden der politischen Kommunikation Von der Situationsanalyse ausgehend konnte eine Strategie fur den Wahlkampf erarbeitet werden. Da der Wahlkampf in Rom ganzjahrig stattfand und die Amter hart umkampft waren, bildete sich ein festes Instrumentarium von Beeintlussungsstrategien heraus, das die Kandidaten je nach personlichen Fahigkeiten und Kenntnissen mehr oder weniger konsequent einsetzten." Die wichtigsten Methoden der Wahlkampfkommunikation lassen sich in vier Typen einteilen: legitime wie illegitime Wahlbestechung, offentliches Auftreten, offentliche Reden sowie private Gesprache. Die im Folgenden aufgezeigten Wahlkampfstrategien zielten auf die Beeinflussung des Kandidatenimages und damit auch der offentlichen 57 Meinung ab. Die Bedeutung des Kandidatenimages zeigte sich insbesondere darin, dass sich die Kandidaten ,,(... ) [urn] ihre Wahlchancen zu erhohen ( ... ) in bestimmter Weise in der Offentlichkeit prasentieren'r" mussten. Und bei der Beeinflussung der offentliche Meinung war die Maxime: "Die Siegchancen stiegen (...), wenn man wie ein Sieger aussah.v" Schon damals waren die Mechanismen von Bandwagon-Effekt und Schweigespirale beschrieben worden und bei Wahlkampfern allgemein bekannt." 5.3.1
Bestechung und Wohltatigkeit
Wahlbestechung im romischen Wahlkampf hatte als Wohltatigkeit einerseits Tradition und wurde in einem gewissen Ausmaf nicht in Frage gestellt. Andererseits hatten taktische Uberlegungen von Mitbewerbern und der ausufemde Gebrauch in der spaten Republik zu reger Gesetzgebung gegen den so genannten ambitus gefUhrt. Diese Versuche waren groBtenteils zum Scheitem verurteilt, weil eine Grenzziehung zwischen erlaubten und unerlaubten Bestechungstatigkeiten zwangslaufig zu Missbrauchen fiihrte oder aber lang gepflegte Traditionen unterband. Wahlbestechung umfasste Geldzahlungen, Volksspeisungen, die Ausrichtung von Theaterauffiihrungen und Spielen sowie die Bezahlung von Begleitem im Gefolge." Die Kandidaten rnussten Grolszugigkeit und Selbstlosigkeit demonstrieren - so wurden sie nieht nur sympathischer und "norm-konformer" wahrgenommen, sie machten sich auch urn die gesamtgesellschaftliche Stabilitat verdient: Die okonomische Situation der Armen wurde verbessert, so dass diese ihre Konsensorientierung nieht wegen drohender
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Vgl. Jackob 2005: 122-125. Vgl. Evans 1991; Jehne 1995a: 51; Laser 2001. Vgl. z.B. Dahlem 2001: 438-474. Jehne 1995a: 58. Jehne 1995a: 59~ vgl. Jackob 2005: 100-110,164-169. Vgl. Jackob 2005: 164-170. Vgl. Jehne 1995a: 51-54.
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Verelendung aufgeben mussten. Der Kandidat zeigte, dass er das Yolk schatzte und bereit war, auf seine Bedurfnisse einzugehen. Insgesamt zielte die MaBnahme also auf die Verbesserung des Kandidatenimages ab und wirkte insofern auch auf die offentliche Meinung, als so der Boden fur offentlich gezeigte Zustimmung bereitet wurde. Genauso wichtig war es in der spaten Republik, dass anlasslich der alljahrlichen Wahlkampfe die Frequenz der Spiele und Auffiihrungen erhoht wurde. Diese konnten als symboIische Ersatzhandlung fur die nachlassende Face-to-face-Interaktion zwischen Wahlkampfern und Wahlern dienen.f Auf der anderen Seite brachte die Ausweitung der Wahlbestechung auch Unannehmlichkeiten mit sich, was erst zu ihrer gesetzlichen Bekampfung fuhrte, Viele nobiles verschuldeten sich und mussten diese Schulden oftmals wahrend ihrer Amtszeit durch Amtsmissbrauch und Korruption wieder tilgen, was wiederum auf das Ansehen der ganzen Nobilitat negative Auswirkungen harte." AuBerdem bot der Mechanismus reichen- politischen Aufsteigem gute Erfolgsaussichten, was bei den nobiles zu Gegenreaktionen fiihrte. Die Achtung des ambitus lieB sich im Wahlkampf nutzen: Man konnte den Eindruck erwecken, die Aktivitaten der Konkurrenten genau zu uberwachen und sie gegebenenfalls wegen ambitus anzuklagen." AuBerdem konnte offentlich der Vorwurf erhoben werden, die anderen Kandidaten bedienten sich unlauterer Wahlkampffiihrung, waren verschwenderisch oder charakterlich nicht integer. 65 5.3.2
Offentliches Auftreten
Wahrend der Kandidatur war der gesamte Tagesablauf von offentlichen Auftritten gepragt. Mit ihrem auffallenden Gewand, der toga candida, konnten die Kandidaten uberall erkannt werden. Auch die sonstige Ausstattung des Gefolges und der Auftritte sollte moglichst beeindruckend sein. Der Tag eines Kandidaten begann mit der Aufwartung seiner Anhanger an seinem Haus, von denen ihn dann einige zum Forum begleiteten, wo er mit seinem Gefolge, dem engsten Kreis der Anhanger, umherzog, Hande schuttelte und moglichst viele Leute mit dem Namen begrubte." Auch spat nachts sollte er Gaste und Anhanger freundlich empfangen, seine Tur stets offen stehen. Bei all diesen Gelegenheiten war der Kandidat der Beobachtung durch die Offentlichkeit ausgesetzt - ob auf dem Forum, im Theater, in 67 der Arena oder sogar im eigenen Haus. Unentwegt waren die Kandidaten den Wohlwollens- oder Abneigungsbekundungen der Offentlichkeit ausgesetzt, sie wurden mit Beifall und anspomenden Zurufen ebenso bedacht wie mit Verwilnschungen. Von den Spielen im Theater ist bekannt, dass deshalb bisweilen Teile des Publikums dafur bezahlt wurden, bestimmte Kandidaten hochzujubeln oder auszupfeifen, urn Image und die Einschatzung der Siegeschancen zu beeinflussen. Doch letztlich konnte dies nur gelingen, wenn damit eine Iatente Stimmung innerhalb des Publikums aktiviert werden konnte. Ansonsten tiel der Manipulationsversuch schnell aufund bewirkte das Gegenteil."
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Vgl. Flaig 1995: 103-106. Vgl. Jehne 1995a: 71. Vgl. Jehne 1995a: 53; Laser 2001: 23,91 (Cicero, Comm. pet. 56). Vgl. Laser 2001: 89 (Cicero, Comm. pet. 52). Vgl. Laser 2001: 31,34, 77-79, 81-83 (Cicero, Comm. pet. 31-42). Vgl. Flaig 1995; Laser 2001: 85-87 (Cicero, Comm. pet. 48). Vgl. Flaig 1995: 123.
Neben der prunkvollen Inszenierung des Auftritts war fur die Wirksamkeit die GroBe und Zusammensetzung des Gefolges entscheidend." Die wichtigsten Kriterien waren hierbei die Vertretung aller relevanten gesellschaftlichen Schichten und der Einfluss der Begleiter. Die umworbenen Gefolgsleute mussten vom Nutzen ihrer Unterstutzung uberzeugt werden, so dass unbekannte oder unbeliebte Kandidaten nicht darauf bauen konnten, mit einem groBen und einflussreichen Gefolge ihr schlechtes Image aufzupolieren, da ihre Unzulanglichkeiten unweigerlich auf die Unterstiltzer zurilckgewirkt batten. AuBerdem musste der Kandidat Gegenleistungen in Aussicht stellen konnen oder bereits geleistet haben. Cicero z.B. konnte sein rhetorisches und juristisches Geschick als Pfand einsetzen, urn Begleiter zu werben." Die Senatoren als die einflussreichsten Personen im romischen Sozialgefiige verfugten schon aufgrund ihres politischen Einflusses uber weit reichende Bekanntschaften und unterhielten ein soziales Netzwerk, mit dem sie Wahlen und Abstimmungen beeinflussen konnten. Doch auch aufstrebende Ritter wollten ein solches Netzwerk etablieren und die Unterstutzung der Kandidaten fur die eigene Karriere gewinnen." Die Wirksamkeit offentlicher Auftritte hat mehrere Grunde: Einerseits erhohte ein groBes Gefolge die Chance, dass ein Burger sich mit einem der Gefolgsleute - und damit auch mit dem Kandidaten - identifizieren konnte oder sich diesem verptlichtet fiihlte ..Weiterhin ubertrugen sich positive (oder negative) Einstellungen gegenuber dem Unterstutzer auch auf den Kandidaten. Die GroBe und Vielfalt des Gefolges andererseits zeigte, dass der Kandidat in Senat und Yolk unterstutzt wurde und deshalb gewisse Siegchancen bestanden. Auch das Verhalten der Kandidaten in der Offentlichkeit war bedeutsam, wei! dadurch das Meinungsklima verandert werden konnte. Es war besonders wichtig, sich keinen Fehltritt und keine Unfreundlichkeiten zu erlauben, denn solches Verhalten war auffallig und wurde genau beobachtet. Gerilchte uber Fehlleistungen schadigten das Image, unterbanden die offentliche Unterstutzung in Yolk und Senat und lieBen das Meinungsklima zunehmend ungiinstiger werden.f Die Kandidaten versuchten, den Eindruck solider Verankerung im sozialen Gefuge auf allen sozialen Ebenen und umfassende Volksnahe zu vermitteln. AuBerdem lie13en sie Muhen, Einsatz und SelbstIosigkeit erkennen, wei! sie rastIos urn Stimmen und Anhanger warben, sogar auf Kosten der eigenen Privatsphare. Die Vielzahl von Treueverhaltnissen, die ein groBes Gefolge indizierte, lieB auf weitere Tugenden des Kandidaten schliefien, beispielsweise Leistungsfahigkeit und Zuverlassigkeit. 5.3.3
Offentliche Reden
Wahrend sich an der Notwendigkeit offentlicher Auftritte und an der Intensitat offentlicher Prasenz - wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben - zwischen damals und heute kaum etwas Grundlegendes geandert haben durfte, zeigen sich im Bereich offentlicher Stellungnahmen zur Politik groBe Unterschiede: Gelegenheiten zur Selbstdarstellung in Reden waren wahrend des Wahlkampfs selbst nicht vorgesehen. Urn uberhaupt Reden halten zu konnen, musste man die Gunst eines amtierenden Magistrats gewinnen oder anderweitige Redegelegenheiten suchen, z.B. vor Gericht, bei der Eroffnung von Spielen oder anlasslich
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VgI. Vgl. Vgl. Vgl.
Laser 2001: Laser 2001: Laser 2001: Laser 2001:
77 (Cicero, Comm. pet. 34). 59,67-69, 79,83-85 (Cicero, Comm. pet. 4,18-19,21,38,45-47). 75-76, 89 (Cicero, Comm. pet. 30, 33 51). 83-87 (Cicero, Comm. pet. 45-50).
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des Todes eines Verwandten." Sachfragen wurden in solchen Reden nonnalerweise nicht erortert, da die Burgerschaft daran gar nicht interessiert war. Zudem entwickelten die Kandidaten meist keine politische Programmatik, da rornische Politik sieh im Normalfall darauf beschrankte, akute Notlagen zu bekampfen.i" Jeder Innovationsversuch musste als Umsturzversuch erscheinen, was weder Senat noch Yolk guthielsen." Zudem bedeutete eine Stellungnahme zu Sachfragen im Umkehrschluss, dass man nicht mehr verschiedenartige Hoffnungen in den unterschiedlichen Lagem wecken konnte, sondem sich festlegte und sornit sein Wahlerpotential einschrankte." Doch obwohl die Kunst der Rede im Wahlkampf selbst nieht so sehr zur Geltung kornmen konnte wie bei anderen Anlassen, blieben Redetatigkeit und insbesondere Redefahigkeit wichtige Faktoren im Wahlkampf. Gewandte Redner hatten gute Aussichten darauf, von weiten Teilen des Senats unterstutzt zu werden, weil Redner fur die Republik wichtige Funktionen erfullten." Die Stabilitat der Republik wurde erhoht, indern die Redner das Yolk unterhielten, begeisterten und beeintlussten und indern sie die Leistungen der FUhrungssehicht genauso verrnittelten wie die Normen und Werte der Romer. Letztlieh war wohl die Bekanntheit des rednerischen Geschieks oder Ungeschicks fur die Kandidatur wichtiger als die tatsachliche Redetatigkeit, Der Zuhorerkreis bei solchen offentlichen Reden war sehr viel begrenzter als der Zuschauerkreis bei offentlichen Auftritten oder der Kreis der Profiteure von Wahlbesteehung, auch wenn man davon ausgehen kann, dass Redeinhalte sich durch interpersonale Kommunikation rasch verbreiteten. Offentliche Rede und Redefahigkeit trugen zur Starkung der Interaktion zwischen Fuhrungsschicht und Yolk und damit zur Stabilisierung des politischen Systems bei. 5.3.4
Private Gesprache
Wahrend der Wahlkampagne uberschnitten sich Privatsphare und Offentlichkeit und auch der .Freundeskreis" der Kandidaten weitete sich aus - man versuchte, Nutzen aus befristeten, politisch opportunen .Freundschaften'' zu ziehen." Dieses Streben beruhte auf Gegenseitigkeit: Die Kandidaten strebten nach einem Zugewinn an Wahlerstimmen in den einflussreichen Zenturien. Sie beabsichtigten, ihr interpersonales Kommunikationsnetzwerk auszuweiten und weitere interpersonale Kommunikation zu stimulieren. Zudem versuchten sie, einen moglichst groBen und einflussreichen Freundeskreis urn sich zu scharen und somit den Eindruck breiter Unterstutzung zu verrnitteln. Die urnworbenen .Freunde" hingegen konnten sich ohne groBe Anstrengungen urn ein hochrangiges und im Aufstieg befindliches Mitglied der Nobilitat verdient machen, was dieses wiederum durch Gegenleistungen vergelten musste, urn nicht an Ansehen zu verlieren. Deshalb rnusste der Kandidat solche Gegenleistungen in Aussicht stellen oder fur Where Leistungen von seinen Freunden Einsatz im Wahlkampf einfordem. Hierbei sollte im Gesprach auf die individuellen Interessen des Gegenubers eingegangen werden." AuBerdem musste der Kandidat sich
73 74 75
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Vgl. Jehne 1995a: 59-62. Vgl. Schneider 1998: 702-705. Vgl. Kloft 1992: 32. Vgl. Jehne 1995a: 60; Laser 2001: 69-71 (Cicero, Comm. pet. 22). Vgl. Holkeskamp 1995. Vgl. Laser 2001: 67 (Cicero, Comm. pet. 16). Vgl. Laser 2001: 67-71, 79, 83-85 (Cicero, Comm. pet. 18-23,38,44-45).
besonders urn ihm nahe stehende Personen bemuhen, urn die "Insider", z.B. Familienmitglieder, Freigelassene und Haushaltssklaven. Was diese an Informationen in die Menge streuten, verbreitete sich aufgrund der hohen Glaubwiirdigkeit - und moglicherweise der hohen Brisanz - der Inhalte in der ganzen Stadt. Verbitterte oder neidische Haushaltsangehorige mussten besanftigt werden. Folglich eignete sich die Verbreitung von negativen Berichten und Geruchten zur kurzfristigen und langfristigen Schadigung des Gegners, da solche Geruchte kaum mehr aus der Welt geschafft werden konnten. Berechtigte Vorwurfe hingegen konnten durchaus offentlich verkundet werden, da man sich so als Huter der gesellschaftlichen Norrnen stilisieren konnte." Durch Gesprache mit .Freunden" konnten also Zweckbundnisse geschlossen werden, die drei Funktionen besaBen: Die Ausweitung des sozialen Netzwerks, die Stimulation interpersonaler Kommunikation sowie die Ausweitung und Verstarkung des sozialen Drucks durch kumulierte Autoritat." Und all dies sowohl vertikal als auch horizontal, d.h. Kommunikation innerhalb gleicher sozialer Schichten (BUrger und BUrger, Senator und Senator) und zwischen sozialen Schichten (BUrger und Senator, Senator und BUrger), da die Richtung der Beeinflussung keineswegs vorgegeben war. Wenn es ihm mehr nutzte als schadete, konnte ein Senator sehr wohl dem Einfluss vieler Burger nachgeben." 5.4 Wahlkampfkommunikation im Modell
Die vorgestellten Wahlkampfstrategien konnen kaum isoliert voneinander beurteilt werden. Die Wechselwirkungen zwischen breiten gesellschaftlichen Schichten, der Fuhrungselite, den Kandidaten, zwischen Uberredung, Oberzeugung und Druckausubung, machen eine systematische Beschreibung der vielen genannten Einzelheiten schwierig. Die Verbindung zwischen den dokumentierten Handlungsweisen findet sich in der weitgehenden Orientierung aller an zentralen Normen und Werten, die in der politischen Sozialisation vermittelt wurden. Auch die Beeinflussungsstrategien waren weitgehend ahnlich: Sie dienten - individualpsychologisch betrachtet - der Verbesserung des eigenen Images und der Diffamierung des Gegners, - sozialpsychologisch betrachtet - der Erzeugung eines gunstigen Meinungsklimas und - soziologisch betrachtet - der Schaffung von Verpflichtungen gegenuber dem Kandidaten. Diese verschiedenen Wirkungsebenen konnen nicht getrennt betrachtet werden, sie durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig. Das Ziel der Wahlkampagne war die Beeinflussung der offentlichen Meinung und des Kandidatenimages in den relevanten sozialen Gruppen. Bevor eine Kommunikationsstrategie gewahlt werden konnte, musste der Wahlkampfer sich zunachst einen Eindruck vom Meinungsklima und seinem Image in def Bevolkerung und in den einflussreichen Gruppen machen. Dies war vor allern im Rahmen personlicher Gesprache und bei Auftritten in der Offentlichkeit moglich - allerdings konnte man sich uber die tatsachliche Stimmung im Elektorat auch tauschen, 1m nachsten Schritt folgte die Beurteilung der Gesamtsituation, z.B. der Vergleich des eigenen Images, der eigenen Leistungen oder Starken mit den Eigenschaften anderer Kandidaten. Ziel der Analyse war die Gewichtung der anzuwendenden Wahlkampfstrategien und die Anpassung der Kommunikationsformen und -inhalte an die Umstande und Zielgruppen. Dabei spielte z.B. die Frage eine Rolle, ob mehr Wert auf of80 81
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Vgl. Laser 2001: 89-91 (Cicero, Comm. pet. 52, 55). Vgl. Kloft 1992. Vgl. Flaig 1995.
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fentliches Auftreten oder private Gesprache, auf die Verteilun g von Bestechungsleistungen oder anderes gelegt werden sollte; ob eher eigene Starken betont, eigene Schwachen beschonigt, die Schwachen von Gegnem angeprangert oder deren Starken relativiert werden sollten; ob eher Bezug zum einfachen Volk oder zur Fuhrungsschicht hergestellt werden sollte; wie weit man bei der Vereinnahmung von exempla und Norrnen gehen konnte , ohne sich der AnmaBung schu ldig zu machen oder sich gar der Lacherlichkeit preiszugeben. Schaubild 2: Modell der Wahlkampfkommunikation in der romischen Republik Kandidatenimage Familiarer Hintergrund Leistungen fur die Republik UnlerslOlzung im Senat Unl ersl Olzung im Volk E inh a ~ un g der Norme n und W erte
Interaktions- und Kommunikationsstrategien Bestechung
Klient ele/K oliegienNereine Nobiles
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Selbsl bild, Starken und Schwilchen Familiarer Hint ergrund Leistungen Vergleich mil ande ren Kandidate n Zi elgruppen
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Quelle: Eigene Darstellung
Danach ruckten die konkreten MaBnahmen zur Beeinflussungen von bestimmten Personenkreisen und zur Nutzung von existierenden Abhangigkeiten in den Blick. Dabei hing die Beeinflussung von einflussreichen und weniger einflussreichen Einze lpersonen und Gruppen sowie die Einflussnahme auf das Volk durchaus zusammen: Waren Kandidaten beispielsw eise im Volk nicht akzeptiert, war es fur einflussreiche Personen , die urn ihr eigenes Image besorgt waren , unmoglich, offentliche UnterstUtzung zu leisten. Waren Kandidaten von der Fuhrungsschicht nicht restlos akzeptiert, kamen auch in der Bevolkerung Zweifel an der Eignung des Kandidaten fur das fragliche Amt auf. s3 83
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Unbeliebthcit, die sich in Form von PfilTen, Buhrufen und kursiercnd cn GerO chten auberte, farbte cinerseits auf den Unterstutzer ab, andererseits bewies der Kandidat, dass er unfahig war, zur Aufrechterhaltun g des Konsensus zwischen Senat und Yolk bcizutragen.
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Foigerungen
Eine Analyse wie die obige in einem Such tiber Wahlkampfe abzudrucken kann zwar durch das Thema selbst und den Infonnationsgehalt der Analyse gerechtfertigt werden - warum ein solcher Beitrag aber Teil eines Suches tiber Wahlkampfe in Deutschland sein soIlte, mag sich vielleicht nicht unmittelbar erschlieBen. Dabei wird sicherlich mancher Leser wahrend des Lesens versucht haben, das Gelesene in einen Bezug zu Wahlkampfen in der Gegenwart zu setzen - einen Vergleich anzustellen. Und zu diesem Zweck wurde der Ausflug ins antike Rom untemommen: Die groBe Epoche der romischen Republik mit ihren Wahlkampfen war fUr viele Jahrhunderte das einzige in diesem Umfang und Detailreichtum uberlieferte Beispiel fUr eine auf Wahlamtern basierende, republikanische Herrschaftsform. Wenn man etwas tiber die Grundkonstanten von Wahlkampfen, aber auch tiber den historischen Wandel und verschiedene Auspragungsformen lemen mochte, ist sicher nicht nur ein Vergleich mit der jtmgeren Geschichte oder mit Wahlkampfen in anderen Landern sinnvoll, sondem auch ein Vergleich mit einem der historischen Prototypen. Ein solcher Vergleich wurde hier zwar nicht explizit unternommen, aber zumindest ermoglicht. Der episodenhaften Geschichtsschreibung der deutschen Wahlkampfkommunikation wird mit diesem Beitrag ein historischer Exkurs beigefugt, der helfen kann, einige der beschriebenen Entwicklungen in den Gesamtzusammenhang der Wahlkampfgeschichte einzuordnen, der maBgebliche Rahmenbedingungen der Wahlkampfkommunikation - z.B. das politische System, das Wahlsystem oder die politische Kultur - erkennbar werden und letztlich Differenzen und Parallelen zwischen "modemen" und "antiken" Wahlkampfen hervortreten lasst. Der Zusammenhang zwischen der rornischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland ist nicht so konstruiert, wie er erscheinen mag: Ideengeschichtlich tragen aIle heutigen Republiken ein romisches Erbe in sich. Bevor ein Vergleich zwischen Wahlkampfen in Rom und modemen Wahlkampfen, wie sie verschiedentlich im vorliegenden Band beschrieben sind, erfolgen kann, muss zunachst noch einmal auf die fundamental unterschiedlichen Rahmenbedingungen von politischem System und politischer Kultur verwiesen werden, die im ersten Teil dieses Beitrags beschrieben wurden. Die ausfUhrliche Kontextualisierung zeigt, dass vergleichende Aussagen nur mit auferster Vorsicht getroffen werden konnen und der historische, kulturelle und politische Kontext entscheidend fur die Analyse ist. Trotz der groBen Unterschiede zeigen sich durchaus einige Parallelen: Manches Phanornen, das als Charakteristikum oder Innovation modemen Wahlkampfmanagements gilt, war in der Antike sogar starker ausgepragt als in aktuellen Wahlkampfen: So waren romische Wahlkampfe ganz auf die Kandidaten zugeschnitten, vollkommen personalisiert. Ihrem Charakter, ihremVerhalten und ihrer Wertkonformitat wurde bei der Wahlentscheidung eine entscheidende Bedeutung eingeraumt, Themen hingegen waren weitgehend bedeutungslos, politischen Programmen und Ideologien wurde nur geringe Aufmerksamkeit geschenkt. Da es keine Parteien gab, waren "catch-all"-Strategien, wie sie oft als genuines Merkmal modemer Wahlkampfe begriffen werden, starker ausgepragt, als es in gegenwartigen Wahlkampfen der Fall ist. Auch Emotionalisierung und Negative Campaigning waren als Komponenten von Wahlkampfstrategien hinlanglich bekannt - viele romische Wahlkampfe waren weitaus schlimmere Schlammschlachten als das heute der Fall ist und die Wahlkampfer versuchten intensiv, tiber emotionale Appelle das Elektorat zu beeinflussen." Auch die maBgeschneiderte Ziel84
Vgl. dazu auch Jackob 2005: 176-277.
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gruppenansprache nach vorheriger Analyse der Zusammensetzung des Elektorats war ublich und ein Kandidat, der sich optimal vorbereiten wollte, sammelte ein Team von einflussreichen Personlichkeiten und Experten urn sich. Viele Konsulatsbewerbungen liefen professionell ab, es gab hauptberufliche Wahlkampfhelfer (z.B. nomenclatores'iv und Wahlkamptberater, Kommunikationsfachleute fur das heute so modeme "Networking" und Rhetoriktrainer, die auch das nonverbale Verhalten der Kandidaten schulten. Nichts davon ist auch nur ansatzweise neu, auch wenn vieles heute professioneller, kommerzieller und wissenschaftlich (empirisch) fundierter ablauft, Auch die Wichtigkeit von Imagearbeit war bekannt, sowie die Notwendigkeit der Motivation von Fursprechern aus anderen Gesellschaftsbereichen, heute auch oft "Testimonials" genannt, oder die offentlichkeitswirksame Inszenierung der eigenen Personlichkeit und der eigenen Auftritte. Andererseits sind auch deutliche Unterschiede zwischen modernen und antiken Wahlkampfen zu beobachten: 1m modernen Wahlkampfmanagement spielen offene Wahlbestechung oder die strategische Entwicklung und Nutzung sozialer und okonomischer Abhangigkeiten keine vergleichbare bzw. eine geringere Rolle - in pluralistischen, demokratischen Rechtsstaaten werden viele der in Rom ublichen Strategien zumindest nicht mehr geduldet, auch wenn sie vielfach hinter den Kulissen gleichwohl stattfinden. Weiterhin waren antike Wahlkampfe wegen des Fehlens von Massenkommunikationsmedien auf interpersonale Kommunikation und auf die Beeinflussung von Versammlungsoffentlichkeit ausgerichtet. Und hier findet sich der wichtigste und wohl auch entscheidende Unterschied zur Moderne: Die Orientierung modemer Wahlkampfe an der Logik des Mediensystems ist eine Besonderheit moderner Wahlkampfe." Die Existenz eines mehr oder minder unabhangigen Systems massenmedialer Kommunikation sowie des modernen Journalismus drucken den Wahlkampfen heute ihren Stempel auf. Politiker sind in ihrer strategischen Kommunikationsplanung bei Weitem nicht mehr so autonom, wie sie es vor 2000 Jahren waren, die technischen und berufsprofessionellen Routinen des massenmedialen Journalismus zwingen die Politik oftmals, sich nach den Eigengesetzlichkeiten des Mediensystems zu richten - em Zustand, wie er im antiken Rom vollkommen unbekannt war. Sicherlich mussten auch romische Politiker sich situativen Zwangen beugen und den Auffuhrungsbedingungen und Rezipientenkreisen ihrer Kommunikate bei der Anfertigung derselben Rechnung tragen. Doch ein einflussreiches, von der politischen Elite unabhangiges, analysierendes, kritisierendes und gegenuber den Rezipienten vermittelndes Kommunikationssystem existierte nirgends. Damit war zwar die Reichweite politischer Kommunikation zunachst kleiner, aber auch die Unabhangigkeit und Macht der politischen Elite urn einiges grolier. Ahnlichkeiten und Unterschiede zwischen antiken und modernen Wahlkampfen, wie sie in den vorangegangenen Passagen kurz umrissen wurden, lassen sich auf verschiedene Faktoren zuruckfuhren: Zum einen spielt der technische und kulturelle Fortschritt von Gesellschaften sowie die Entwicklung von Medieninnovationen eine entscheidende Rolle. Zum anderen lassen sie sich direkt auf die Existenz unterschiedlicher Institutionsgefiige und sozialer bzw. ideologischer Konflikte zuruckfuhren, welche die Zeitgeschichte, den politischen Diskurs und die offentliche Kommunikation in einer bestimmten Epoche pragen, Dabei haugen die verschiedenen Faktoren zusammen, bedingen sich gegenseitig und erklaren die Unterschiede der Wahlkampfkultur zwischen verschiedenen Epochen oder politi-
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Assistenten, die bei der Identifikation von Personen und deren sozialen Status halfen und so dem Wahlkampfer die Ansprache und den Umgang erleichterten. Vgl. z.B. Donges 2000: 29; Griese 2002: 81; Sarcinelli 2005: 193.
schen Systemen gemeinsam. So ist daran zu denken, dass die verschiedenen InstitutionsgefUge und Formen der politischen Interessenvertretung auch von der gesellschaftlichen Entwicklung sowie dem Fortschritt und der Ausdifferenzierung der demokratischen Staatsform abhangen, An dieser Stelle kann man wieder an den Anfang dieses Buches mit den Beitragen von Harald Schoen und Thomas Roessing zurtickverweisen, die detaillierter darauf eingehen, wie unterschiedliche Rahmenbedingungen von z.B. Wahlsystem, gesellschaftlicher Entwicklung, Medien- und politischem System historisch unterschiedliche Auspragungen von Wahlkamptkommunikation hervorbringen konnen, Auf Basis des vorliegenden Exkurses und der vorangegangenen Wahlkampfstudien lassen sich einige MutmaBungen tiber die Angemessenheit der verschiedenen Konzepte wie "Modemisierung" und .Amerikanisierungv'" anstellen, die zu erklaren versuchen, warum und wie sich Wahlkampfmuster in westlichen Demokratien entwiekelt und verandert haben. Die unabhangig voneinander erfolgte Entwieklung einiger ahnlicher Wahlkampfstrategien in Modeme und Antike zeigt, dass manche MaBnahme sieher keine modeme Innovation ist, sondern vielmehr Resultat einer situativ notwendigen Anpassungsleistung an gesellschaftliehe Bedingungen - der Begriff "Modernisierung" -kann hier zwar als Ausdruek eines auf der Zeitachse sich vollziehenden Fortschritts durchaus gebraueht werden, modem im Wortsinne sind viele der in der Literatur beschriebenen Phanomene (z.B. Personalisierung, Emotionalisierung, Theatralisierung, Depolitisierung oder Inszenierung) jedoeh nicht. Die Gesellschaft pragt die Form von Wahlkampf aus, die ihrer kulturellen EigengesetzIichkeit und politischen Organisation entspricht - okonomische, soziale, politische und technologische Veranderungen bilden die Grundlage fur die Veranderungen von Wahlkampfstrategien. Eine Anpassung, die notwendig ist, muss nicht zwangslaufig modem sein. AuBerdem handelt es sich bei den verschiedenen beschriebenen Wahlkampfstrategien interessanterweise urn Ergebnisse von Anpassungsprozessen an innergesellschaftliche Bedingungen. Die Obemahme bereits in anderen Landern praktizierter Strategien - wie z.B. im .Amerikanisierungsansatz" postuliert - ist eine Moglichkeit, diese Anpassung zu leisten. Allerdings konnen sich aueh ohne aufsere Einflusse ahnliche Wahlkampfmuster herausbilden, wenn die Bedingungen in einem betreffenden politischen System vorliegen. So muten manche der in den letzten Jahren angestellten (insbesondere popularwissenschaftlichen) Diagnosen vermeintlieh amerikanisierter Wahlkampfe vorschnell an 88 : Zumindest einige - wenngleich wiehtige - der in der (auch wissenschaftliehen) Literatur versehiedentlieh genannten Indikatoren fur Arnerikanisierung'", sind bei genauerem Hinsehen klassische Phanornene, die schon immer Kennzeichen von Wahlkampfen in untersehiedlichen Epoehen und Kulturen waren: Die Inszenierung oder Theatralisierung modemer Wahlkampagnen mag aus heutiger Sieht professioneller ablaufen, die Unterschiede sind jedoch den zeitgenossischen Kontexten geschuldet, An den Rahmenbedingungen der jeweiligen Zeit gemessene, professionelle Inszenierungen finden sieh sieher in allen Epochen der Menschheitsgesehichte, wie das Beispiel Rom nahe legt. Die Emotionalisierung modemer Wahlkampagnen ist - vergleicht man im Grunde sehwerlich Vergleichbares - sieher heute nieht intensiver, als dies in anderen Zeiten, etwa in der romischen Republik der Fall war. Auch die Bedeutung symbolischer Politik, die in erster Linie nicht auf Problemlosung sondem auf die Gewinnung von Wah-
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Vgl. zu den Begriffen, Ansatzen und Lesarten z.B. Caspi 1996; Radunski 1996; MUller 1999; Kamps 2000; Griese 2002; Esser & Pfetsch 2003; Kleinsteuber 2003; Sarcinelli 2005: 202 ff.; Wagner 2005. Vgl. auch Esser & Pfetsch 2003; Sarcinelli 2005: 21,28. Vgl. z.B. Griese 2002: 81.
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lergunst ausgerichtet ist90, kann nicht als genuines Kennzeichen modemer Medienwahlkampfe begriffen werden: Sprachliche und nicht-sprachliche Syrnbole'" dienten schon immer der Reduktion von Kornplexitat und der Erzeugung von Aufmerksamkeit und Emotionen - es handelt sich urn eine der altesten Techniken der politischen Kommunikation uberhaupt, nicht urn ein modemes Phanomen. Gleiches gilt fur das sogenannte Negative Campaigning: Was vor 2000 Jahren im Rahmen gezielter Rufmordkampagnen versucht wurde'", fand zu allen Zeiten statt. Die Zuspitzung des Wahlkampfes auf den Aspekt des Kampfes auch des schmutzigen Kampfes - zwischen zwei Lagern bzw. Personen ist kein neues Phanomen. Auch personalisierte Wahlkampfe gab es schon immer, wenngleich dieser Aspekt sehr stark politisch-institutionell und -kulturell determiniert ist. Die Eigenschaften von Personen waren in Rom entscheidende Wahlkampfargumente, urn die Kandidaten herum wurden anspruchsvolle Imagekampagnen entworfen - am Prinzip ist nichts neu, nur die Methoden andern sich." Politik als "Spiel zwischen Personenv'" anstelle eines Kampfs urn Positionen - auch dieses Interpretationsmuster des Wahlkampfgeschehens ist aus der Antike uberliefert, auch hier gab es die Star-Politiker, die im Mittelpunkt des Wahlkampfes standen und die auch heute noch als solche in den Geschichtsbuchern stehen, so z.B. Cicero, Caesar, Pompeius oder Marcus Antonius. Und auch depolitisierte und ideologiefreie Wahlkampfe gab es schon vor der heutigen Zeit, was sich ebenfalls durch Beachtung des Strukturkontextes erklaren lasst: Auch zu anderen Zeiten traten politische Inhalte hinter der Darstellung der Politiker zuruck, Mit alledem ist freilich nicht bewiesen, dass Modemisierungs- oder Amerikanisierungsuberlegungen schlechthin falsch waren - es wird nur gezeigt, dass jede Form pausehaler Diagnose ohne angemessene Kontextualisierung zu falsehen Schlussfolgerungen fuhren muss. Tatsachlich gibt es Amerikanisierungs-, Globalisierungs- oder - die sieher treffendste Umsehreibung - Modemisierungstendenzen, die sieh auch in intemationalen Konvergenzen im Wahlkampfgesehehen modemer Demokratien niederschlagen. Doeh nur wenn man die Einzelphanomene in toto betrachtet und in den jeweiligen Kontext einbettet, lassen sie sieh die Entwieklungen wissenschaftlieh erschlieBen. Kurzum: Personalisierung - urn emeut ein Einzelphanomen herauszugreifen - ist noeh kein Ausweis fur Modemisierung, Amerikanisierung oder Globalisierung. Erst im Zusammenspiel mit anderen Phanomenen entsteht ein Muster und ein sinnvoller Zusammenhang. Und sehlieBlich ist an dieser Stelle noch zu konzedieren, dass mit der Komplexitat einer Gesellschaft aueh die Komplexitat von Politik und damit auch von Wahlkampfen wachst. Modeme Gesellschaften sind in vielen Punkten deutlieh komplexer als die Gesellschaften der Antike - es sind u.a. viel komplexere Interessenstrukturen, Problemlagen und Akteurskonstellationen involviert. Wahlkampfer heute stehen vor anderen Herausforderungen und haben andere Moglichkeiten. Daher sind die Ergebnisse von Vergleichen, wie sie in diesem Beitrag ansatzweise unternommen wurden, nur mit gewissen Einschrankungen brauchbar und es lassen sich sieher wichtige Einwande dagegen vortragen. Es konnte dennoch gezeigt werden, dass bei hinreichend genauer Berucksichtigung von politiseher Sozialisation, politiseher Struktur und politi scher Kultur der Rekurs auf Wahlkampfkommunikationsstrategien in fiiiheren Epochen fur die Kommunikationsforsehung gewinnbringend 90
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Vgl. Holtz-Bacha 1996: 12. Vgl. Tenscher 1998: 186. Vgl. dazu auch Jackob 2002. Zu diesem Schluss kommt Sarcinelli (2005: 28, 190) auch fur bundesdeutsche Wahlkampfe. Vgl. Plasser 1996: 97.
sein kann. Es zeigten sich neben Parallelen zwischen modemen und romischen Wahlkampfen auch einige charakteristische Unterschiede. Die Erforschung der Entwicklung der Wahlkampfkommunikation kann von der historischen Perspektive profitieren. Auch bei der Betrachtung von Wahlkampfen in Deutschland kann die hier angebotene historische Perspektive einen Beitrag leisten, z.B. indem sie darauf hinweist, welche Phanomene in der Wahlkampfkommunikation als generelles Signum aller Amtsbewerbungen betrachtet werden konnen und welche dagegen als Folgen der Spezifika konkreter Umstande zu gelten haben. Zudem lasst sich auch die Rolle der Massenmedien in Wahlkampfen anhand des historischen Vergleichs ausloten, weil im Vergleich zwischen massenmedial vermittelten Wahlkampfen und den Wahlkampfen in einer Face-to-face-Gesellschaft wie der Roms der Einfluss der Massenmedien auf die Gesellschaft besonders stark hervortritt. Dieser erweiterte Betrachtungshorizont politischer Kommunikation nimmt jedoch auch eine Vielzahl von Nachteilen und Unscharfen in Kauf. Zu nennen sind beispielsweise die schlechte Anwendbarkeit empirischer Methoden sowie die Lucken und Verzerrungen in der Oberlieferung. Deshalb konnen derartige Untersuchungen im Grunde nur zur Exploration, zur Erganzung und Kontrastierung dienen.
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TV-Duelle als Instrumente der Wahlkamptkommunikation: Mythen und Fakten Von Marcus Maurer und Carsten Reinemann
Die Geschichte der Femsehdebatten begann im amerikanischen Prasidentschaftswahlkampf 1960. John F. Kennedy gewann die erste von vier Debatten, weil sein Kontrahent Richard Nixon krank aussah und schlecht rasiert war, Weil Kennedy die Debatte gewann, gewann er wenig spater auch die Prasidentschaftswahl, Spatere Prasidentschaftswahlkampfe wurden unter anderem dadurch entschieden, dass ein Kandidat wahrend einer Debatte zu haufig auf die Uhr sah oder zu oft tiber die Aussagen seines Kontrahenten lachte. So oder ahnlich wird die Geschichte der Fernsehdebatten zusammengefasst, wenn deutsche Medien ihre Leser und Zuschauer auf die auch hierzulande immer popularer werdenden TV-DuelIe in .Wahlkampfen einstimmen wollen. Seit ihrer Premiere im Bundestagswahlkampf 2002 sind die TV-Duelle auch in Deutschland zentrale Elemente des Wahlkampfs. Die Duelle dominieren die Medienberichterstattung mehrere Tage. Politiker, Wahlkampfberater und Medien schreiben ihnen einen groBen Eintluss auf die Wahler zu, weil sie hohe Einschaltquoten haben und einen direkten Vergleich der Personlichkeiten und Sachpositionen der Kandidaten ermoglichen, Viele dieser Vermutungen basieren jedoch nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vielmehr handeIt es sich oft urn Jahrzehnte alte Mythen, die vor allem dadurch richtig erscheinen, dass sie unablassig wiederholt werden. Wir wollen einigen dieser Mythen auf den folgenden Seiten auf den Grund gehen und ihnen wissenschaftliche Forschungsergebnisse gegenuberstellen, My then und Fakten
Mythos 1: Die erste Wahlkampfdebattefand im amerikanischen Prasidentschaftswahlkampf 1960 zwischen John F. Kennedy und Richard Nixon statf Die erste Wahlkampfdebatte fand lange vor Erfindung des Fernsehens statt. 1858 debattierten die spateren Prasidentschaftskandidaten Abraham Lincoln und Stephen Douglas im Senatswahlkampf in Illinois sieben Mal tiber ein einziges Thema: die Zukunft der SkIaverei. Als sie zwei Jahre sparer im Prasidentschaftswahlkarnpf emeut gegeneinander antraten, verzichteten sie allerdings auf eine Debatte. Das erste im Rundfunk ubertragene Duell fand 1948 statt. Die beiden republikanischen Vorwahl-Kandidaten Stassen und Dewey debattierten im amerikanischen Radio tiber ein Verbot der kommunistischen Partei. 1956 wurde schlieBlich das erste Wahlkampfduell im Fernsehen ubertragen, Die beiden demokratischen Kandidaten Stevenson und Kefauver standen sich im Rahmen der Vorwahlen in Florida gegenuber, Die vier Debatten zwischen Kennedy und Nixon 1960 waren folglich nur die ersten Femsehduelle zweier US-Prasidentschaftskandidaten. Sie begrUndeten zunachst auch noch keine Due Il-Tradition in den USA. Die nachsten Duelle fanden erst im Prasidentschaftswahlkampf 1976 statt. Bis dahin hatten die Amtsinhaber jeweils ein Duell abge317
lehnt. 1 Auch in Deutschland waren die Duelle zwischen Gerhard Schroder und Edmund Stoiber im Bundestagswahlkampf 2002 keine echte Premiere. Bereits 1996 duellierten sich Henning Voscherau und Ole von Beust anlasslich der Burgerschaftswahl in Hamburg im Norddeutschen Rundfunk. Zwei Jahre sparer trat dort Gerhard Schroder zu einem Duell gegen Christian Wulff im niedersachsischen Landtagswahlkampf an. Allerdings blieben diese beiden Duelle zunachst einmalig. Erst seit einigen Jahren werden zunehmend auch in Landtagswahlkampfen Duelle ausgetragen.
Mythos 2: In Wahlkampfdebatten treten in der Regel zwei Kandidaten gegeneinander an 1m Bundestagswahlkampf 2002 wollte sich die FDP als eigenstandige Volkspartei etablieren und nominierte Guido Westerwelle als Kanzlerkandidaten. Hieraus resultierte eine monatelange Diskussion daruber, ob Westerwelle als dritter Kandidat an den Debatten zwischen Schroder und Stoiber teilnehmen durfe. Die Femsehsender lehnten dies ab und erhielten nach einem langwierigen Weg durch die Gerichtsinstanzen Recht. Westerwelle durfte nicht teilnehmen, weil das Konzept derSendung darin bestunde, die aussichtsreichen Kandidaten fur das Kanzleramt zu prasentieren, Westerwelles Kandidatur aber nicht aussichtsreich seL Folgt man dieser Argumentation, konnte man den Eindruck gewinnen, dass es ublich ist, dass in Wahlkampfdebatten nur zwei Kandidaten gegeneinander antreten. Tatsachlich gibt es jedoch weltweit vollkommen unterschiedliche Formate. Schon Ende der 1990er Jahre gab es in mindestens 35 Landern Fernsehdebatten.' In vielen Landern mit Mehrparteiensystemen (z.B. Israel, Sudafrika, Kanada, Neuseeland, Australien) treten die Kandidaten aller Parteien gleichzeitig an. In anderen Landern (z.B. Niederlande) werden getrennte Debatten fur die Vertreter der grolseren und kleineren Parteien durchgefiihrt. In Osterreich treten die Vertreter aller Parteien so lange paarweise gegeneinander an, bis sich jeder Kandidat mitjedem anderen duelliert hat. Selbst im klassischen Zwei-Parteien-System der USA haben zweimal dritte Kandidaten an den Femsehdebatten im Prasidentschaftswahlkarnpf teilgenommen: 1980 der Kongressabgeordnete John Anderson aus Illinois, weil in Bevolkerungsumfragen mehr als 15 Prozent der Wahler fur ibn als Prasident votierten. Allerdings trat Anderson nur einmal gegen Ronald Reagan an, wei! sich Amtinhaber Carter weigerte, an einer Debatte mit Anderson teilzunehmen. An einer zweiten Debatte nahmen nur Carter und Reagan teil. 1992 wurde der unabhangige Kandidat Ross Perot zugelassen, der gegen George Bush und Bill Clinton antrat.' SchlieBlich gab es auch in Deutschland lange vor der Diskussion urn TV-Duelle schon Wahlkampfdebatten. Zwischen 1969 und 1987 trafen sich die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien in jedem Wahlkampf mindestens einmal zu abendfullenden Diskussionsrunden, die als .Elefantenrunden" in die Geschichte eingingen. Sie wurden 1969 ins Leben gerufen, nachdem sich Bundeskanzler Kiesinger geweigert hatte, an einem Duell nach amerikanischem Vorbild gegen Herausforderer Brandt teilzunehmen. Diese Diskussionsrunden hatten zwar zunachst sehr hohe Einschaltquoten, erhielten jedoch bei weitem nicht die Medienaufmerksamkeit wie sparer die rv-neeue.' 1987 wurden sie - vor allem FUr einen Uberblick uber die Geschichte der Femsehdebatten in den USA vg1. z.B. Trent & Friedenberg 2000. Vgl. Plasser & Plasser 2002: 312. FUr einen Uberblick tiber Formate mit mehr als zwei Kandidaten vgl. Holme 2000. Vgl. Wilke & Reinemann 2004.
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wegen zunehmend geringer werdendem Zuschauerinteresse - eingestellt. 5 In einem stark gekurzten 90-Minuten-Format finden diese Sendungen mittlerweile wieder statt. 2005 geriet die Sendung wieder in die Schlagzeilen, weil- nachdem der SPD-Vorsitzende Muntefering abgesagt hatte - Kanzler Schroder und die CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Merkel gemeinsam teilnahmen und die Sendung zu einem ,,2. TV-Duell" hochstilisiert wurde. Zuschauerzahlen und Medieninteresse blieben jedoch weit hinter dem eigentlichen TV-Duell zuruck. Es spricht folglich wenig dafur, dass Wahlkampfdebatten im DuellFormat ausgetragen werden mussen, 1m GegenteiI: In Landern mit Mehrparteiensystem, in denen zudem Parteien und nicht Personen gewahlt werden, passt das Duell-Format nicht zum Wahlsystem. Empirische Untersuchungen zeigen zudem, dass die kleinen Parteien, die nicht an einem Duell teilnehmen durfen, darunter leiden - ihre Wahler werden unsieher, ob sie nicht doeh eine der beiden groBen Parteien wahlen sollen" oder andem gleich ihre Wahlabsicht zugunsten der groBen Parteien.'
Mythos 3: In TV-Duel/en kommt es vor allem auf das Auftreten der Kandidaten an, Inhalte spielen kaum eine Rolle - Die 55%-38%-7%-Regel Die erste Debatte im amerikanischen Prasidentschaftswahlkarnpf 1960 ist der Ursprung des wohl popularsten Mythos tiber die Wirkung von Femsehdebatten. Am 26. September 1960 standen sich Nixon und Kennedy in der ersten von vier einstundigen Debatten in einem CBS-Studio in Chicago gegenuber, Nixon war der Favorit, doch hatte er einen langeren Krankenhausaufenthalt hinter sich, bei dem er rund 30 Pfund abgenommen hatte. Von unzahligen Wahlkampfterminen gehetzt, traf er blass und kranklich aussehend im Studio ein. Zudem war er schlecht rasiert. Weil der deutlich jtmgere und sonnengebraunte Kennedy nicht geschminkt werden wollte, verzichtete auch Nixon auf einen Maskenbildner. In der Debatte versagte ihm haufig die Stimme. Wahrend Kennedy in die Kamera blickte und so das Publikum vor dem Fernseher direkt ansprach, wendete sich Nixon an Kennedy, als wolle er nicht die Zuschauer sondem ihn uberzeugen. Nixon verlor das Duell und sparer die Wahl. Umfragedaten suggerierten allerdings, Kennedy habe das Duell nur bei den Femsehzuschauern gewonnen, Nixon dagegen bei den Radiohorem, Der Mythos vorn Wahl entscheidenden Femsehduell, in dem es mehr auf AuBerlichkeiten als auf die Inhalte ankommt, war geboren. Er hat sich seitdem scheinbar in vielen Fernsehduellen bestatigt: Demnach verlor George Bush eine der Debatten mit Bill Clinton und Ross Perot 1992, weil die Fernsehkamera haufig einfing, wie er auf seine Armbanduhr sah. Al Gore verlor eines der Duelle 2000 gegen George W. Bush dadurch, dass er haufig tiber Bushs Aussagen lachteo Christian Wulff verlor, so sagt er selbst, das Duell gegen Gerhard Schroder im Landtagswahlkampf 1998, weil er - wie damals Nixon - nieht in die Kamera sah, wenn er sprach' Eine - vermeintlich - wissenschaftliche Erklarung fur dieses Phanomen liefert die bei Kommunikationstrainern beliebte ,,55%-38%-7%-Regel", auch als Kommunikationspyramide bekannt. Demnaeh werden 55 Prozent der Wirkung einer Rede durch die Korpersprache, 38 Prozent durch die Stimme und nur 7 Prozent durch den Redeinhalt verursacht. Auch
Zu den Elefantenrunden vgl. z.B. Weiss 1976; Klein & Nawrath 1990. Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 212. Vgl. Hofrichter 2004. Vgl. FAS vom 25.8.2002.
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in der modemen Politikberatung greift man auf diese .Erkenntnisse" geme zuruck, meist mit dem vagen Hinweis verbunden, dies sei aus "amerikanischen Forschungen" bekannt." Tatsachlich ist es aus wissenschaftlicher Sicht heute kaum zu beantworten, warum Nixon die erste Debatte gegen Kennedy 1960 und sparer die Wahl verloren hat. Die Forschungslage hierzu ist uneindeutig. Fest steht, dass bereits vor den Duellen ein langfristiger Trend zugunsten Kennedys Partei zu erkennen war. 10 Fest steht ebenfalls, dass sich die Behauptung, Nixon habe die Debatte bei den Radiohorern gewonnen, beim Vergleich mehrerer Studien nicht halten lasst. 11 Fest steht schlieBIich, dass die Medien nach der ersten Debatte kaum etwas anderes thematisierten als Nixon schlechtes Aussehen. Es ist folglich unrnoglich, zwischen den visuellen Eindrucken der Zuschauer und den Wirkungen der verbal vermittelten Medienberichte zu trennen. 12 Die ,,55%-38%-7%-Regel" ist dagegen in jedem Fall ein seit Jahrzehnten tradierter Mythos, der wissenschaftlich nicht belegt ist und dessen Ursprung kaum jemand kennt. Er geht zuruck auf zwei kleine Experimente, die der amerikanische Psychologe Albert Mehrabian in den 1960er Jahren durchgefiihrt hat. Die Versuchspersonen sollten anhand einzelner positiver und negativer Worter (z.B. "thanks" oder "terrible"), die in unterschiedlichen Stimmlagen (freundlich, neutral, unfreundlich) auf ein Tonband gesprochen waren, und Fotos, auf denen die Sprecher in unterschiedlichen Korperhaltungen abgebildet waren, die Stimmungen der Sprecher einschatzen. 1m ersten Experiment - noch ohne die Fotos - war der Tonfall fur die Urteilsbildung der Probanden weit wichtiger als das gesagte Wort. 1m zweiten Experiment - mit Fotos - waren die auf dem Foto erkennbaren Korperhaltungen am wichtigsten." Die ,,55%-38%-7%-Regel" ist das Resultat einer inhaltlich kaum nachvollziehbaren Verrechnung der Ergebnisse beider Experimente. Ihre Popularitat ist das Resultat einer Uberinterpretation der Ergebnisse in der Folgezeit, an der der Autor durch die offensive Darstellung seiner Daten vermutlich nicht ganz unschuldig war." Bezweifeln muss man vor allem, dass es zulassig ist, von der Wirkung einzelner Worter auf die Wirkung von Argumenten oder Sachaussagen zu schlieBen. Auch wenn eine offene Korperhaltung die Wirkung eines einzelnen unfreundlichen Wortes ins Gegenteil verkehren kann, scheint es doch fraglich, ob dies auch dann noch gelingt, wenn man den Menschen in einem TV-Duell erklaren muss, dass man die Steuem erhohen oder die Renten kurzen will. Was wissen wir alsotatsachlich tiber den Einfluss verbaler und visueller Eindrucke auf die Wirkung von Politikem? Uber unbekannte Politiker bildet man sich - wie tiber andere Menschen auch - in wenigen Sekunden anhand ihres Aussehens, ihrer Gestik und Mimik ein Urteil. 15 Die ungewohnlich lange visuelle Prasenz von Politikem in Femsehdebatten konnte zu einer ahnlichen Art der Urteilsbildung fuhren, obwohl die meisten Wahler die Kandidaten schon vorher kennen." Hierfur spree hen z.B. experimentelle Studien, die gezeigt haben, dass sich die Urteile der Zuschauer tiber die Kandidaten verandern, je nachdem, aus welcher Kameraperspektive man ihnen die Kandidaten zeigt. 17 Auch wenn die genannten Studien fur einen Eintluss visueller Eindrucke sprechen, sagen sie nichts daruber
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Vgl. z.B. Kolbe 2000: 475. Vgl. Katz & Feldman 1962:211. VgJ. Vancil & Pendell 1987. VgJ. Schroeder 2000. Vgl. Mehrabian & Ferris 1967; Mehrabian & Wiener 1967. Vgl. hierzu auch Oestreich 1999. Vgl. z.B. Frey 1999. VgI. Hellweg et al. 1992. Vgl. Tiemens 1978; Morello 1988.
aus, wie bedeutsam diese im Vergleich zu verbalen Eindrucken sind. Eine Reihe von Experimenten mit kunstlich variiertem Stimulusmaterial zeigt, dass visuelle Eindrucke unter bestimmten Bedingungen tatsachlich starker wirken als verbale Eindliicke. Die wichtigste dieser Bedingungen ist, dass visuelle und verbale Eindrucke in dieselbe Richtung weisen, sich also nicht widerspreehen. 18 Nieht-experimentelle Studien mit realen Nachrichtenfilmen zeigen dagegen, dass verbale Eindrucke den Gesamteindruck, den die Zuschauer anhand der Fernsehnachrichten von Politikem erhalten, in der Regel starker pragen als visuelle Eindrucke. 19 Dies gilt fur TV-Duelle vermutlich noeh starker: Die meisten Zuschauer sehen Femsehdebatten, urn sich tiber die Standpunkte der Kandidaten zu informieren und wei! sie sich eine Hilfe fur ihre Wahlentscheidung erhoffen.i" Sie sind in der Regel folglieh nieht nur von dem, was die Kandidaten sagen, personlich betroffen (hohes Involvement), sondern auch motiviert, Informationen aufzunehmen. Beides zusammen erhoht die Aufmerksamkeit der Zuschauer und fordert eine Konzentration auf die verbale Ebene." Dass dies zutrifft, kann man mit so genannten Real-Time-Response-Messungen (RTR) zeigen." Dabei wird eine Gruppe von Wahlern gebeten, wahrend eines Duells mit Hilfe eines elektronischen Eingabegerates kontinuierlich ihren Eindruck von den Kandidaten abzugeben. Die Eindrucke werden sekundlich in einem zentralen Computer gespeichert, so dass jeder Eindruck der Zuschauer unmittelbar auf die Aussagen der Kandidaten oder ihre Gestik und Mimik zuruckgefuhrt werden kann. Solche Analysen zeigen, class sich die Eindrucke der Zuschauer mit den Aussagen der Kandidaten erklaren lassen: Die positiven und negativen Ausschlage sind immer dann besonders deutlich, wenn die Kandidaten besonders relevante Themen angesprochen oder besonders geschickt argumentiert haben. Wir wollen dies an einem Beispiel aus dem zweiten Femsehduell im Bundestagswahlkampf 2002 aufzeigen: Beide Kandidaten wurden besonders positiv bewertet, als sie eine deutschen Beteiligung am Irak-Krieg ablehnten. Innerhalb dieser Diskussion lassen sich die starksten Ausschlage genau in dem Moment feststellen, an dem die Kandidaten ihre Ablehnung in einem einfachen Satz klar formulierten (Schaubild 1).
Mythos 4: TV-Duelle werden durch einzelne, besonders gelungene Aussagen entschieden 1m Anschluss an TV -Duelle werden weltweit auf allen Kanalen Joumalisten, Politiker und Kommunikationsexperten zu ihren Eindrticken davon befragt, wer das Duell gewonnen hat und welche Aussagen dafiir entscheidend waren. Die Geburtstunde dieser so genannten "Instant Analysis" war die erste der drei US-Debatten 1976. Zuvor hatten die Joumalisten Bedenken, ob eine solche Einmischung in die Urteilsbildung der Zuschauer angemessen sei. Mitten in der Debatte kam es in dem Theater, aus dem die Debatte ubertragen wurde, dann jedoch zu einem 27miniitigen Tonausfall, den die Femsehkommentatoren spontan dazu nutzten, tiber das Auftreten der Kandidaten zu diskutieren. Auch Gesprache mit ihren Beratem wurden gefiihrt. In den folgenden Jahren wurden solche Analysen unmittelbar nach dem Ende der Debatten selbstverstandlich. Die Experten sind in solchen Fallen nie urn eine Antwort verlegen. Sie wissen sofort, welche die entscheidenden Aussagen einer Debatte waren. Sieg und Niederlage konnen bereits wenige Minuten nach Ende des Duells erklart 18 19 20
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Vgl. z.B, Argyle et al. 1970. Vgl. Maurer & Kepplinger 2003. Vgl. Chaffee 1978. Vgl. Petty & Cacioppo 1986. Vgl. Biocca et al. 1994~ Maurer & Reinemann 2003~ Reinemann & Maurer 2005.
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werden . Die zweite der drei Debatten 1976 hat Gerald Ford demnach verloren, wei! er behauptete : .Es gibt keine Dominanz der Sowjetunion in Osteuropa, und unter einer Regierung Ford wird es auch keine geben. " Acht Jahre spater gewann Ronald Reagan die zweite Debatte , weil er sich selbstironisch tiber sein Alter (73) auBerte: Er wolle das Alter nicht zum Wahlkampfthema machen, weil er nicht vorhabe, die Jugend und mangelnde Erfahrung seines Kontrahenten Walter Mondale (56) auszunutzen. Ein ahnlicher Coup gelang Gerhard Schroder - glaubt man den Schnell-Analysten - im Kanzlerduell 2005 mit der in das Duell eingeflochtenen Liebeserklarung an seine Frau (" ... das ist nicht zuletzt der Grund, warum ich sie liebe") . Schaubild 1: Der Eintluss von Kandidaten-Aussagen auf die EindrUcke der Zuschauer im zweiten TV-Duell im Bundestagswahlkampf2002 (RTR-Messung) 7
Schroder spricht
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Quelle: Maurer & Reinemann (2003), S. 99 Lesehilfe: 4 ist der neutrale Minelwert, Werle unter 4 bedeuten, dass die Zuschauer einen guten Eindruck von Schroder haben, Werle uber 4 bedeuten, dass die Zuschauer einen guten Eindruck von Stoiber haben.
Subjektive Eindrucke von .Experten" sollten aber nicht mit Fakten verwechselt werden . Die EindrUcke von Wenigen sagen erstens nichts daruber aus, wie die Kandidaten in der gesamten Bevolkerung wahrgenommen wurden. Umfragen, die unmitte lbar nach dem Duell zwischen Ford und Carter durchgefuhrt wurden, zeigen beispielsweise, dass die Zuschauer Ford trotz seines scheinbar offensichtlichen Fehlers zum Sieger der Debatte erklart hatten . Erst nachdem die Medien in den folgenden Tagen Fords unsinnige Behauptung gebetsmuhlenartig wiederholt hatten, anderten die Zuschauer ihre Ansichten darUber, wer die Debatte gewonnen harte." Einige Aussagen hinterlassen folglich nur bei Experten Wirkungen, weil nur sie sie richtig einordnen konnen . In anderen Fallen tauschen sich die Experten daruber, welche Aussagen bei der Bevolkerung gut ankommen. Dies kann man wiederum mit Real23
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Vgl. Steeper 1978.
T ime-Response-Messungen ze igen. Sie belegen beispielsweise, dass Schroders Liebeserklarun g im Femsehduell gegen Angela Merkel im Bundestagswahlkampf 2005 die Wahler uberhaupt nicht beeindruckt hat. Im Gegenteil: Zuschauer, die vor dem Duell nicht mit Schroder sympathisiert hatten, reagi erten sogar ausg esprochen negativ. Selbst SchroderAnhanger waren von diesem Satz wesentlich weniger begeistert als von vielen anderen Aussagen ihres Kandidaten. Auch hier kann man freilich nicht ausschlieBen, dass sich die intensive Medienberichterstattung tiber diese Aussage auf die Meinungen der Zuschauer ausgewirkt hat (Schaubild 2). Schaubild 2: Wie sich Experten irren : Die " Wirksamkeit" der Liebeserklarung Schroders an seine Frau im TV-Duell im Bundestagswah lkampf2005 (RTR-Messung) Guter Eindruck vonMerkell schlechter Eindruck von SchrOder
MerkelsprichlOberKirchhof. anschlieRend folgl eine Fragean Schroderzu selner Frau
SchrOder (i.iber seine Frau): "Und,ichfuge hinzu, dasistnicht zuletzt derGrund, warum Ichsie Iiebe."
Guter Eindruck von SchroderI schlechter Eindruck von Merkel
Lesehilfe: 4 ist der neutrale Mittelwert , Werle unter 4 bedeuten, dass die Zuschauer einen guten Eindruck von Schroder haben, Werle uber 4 bedeuten, dass die Zuschauer einen guten Eindruck von Merkel haben.
Der zweite Grund, warum man sich nicht auf die Eindrucke weniger Experten, welche Aussagen ein Duell entschieden haben, verlassen solite, ist die Tatsache, dass man bezweifeln muss, dass Duelle uberhaupt dUTCh einzelne Aussagen entschieden werden. Zweifellos punkten die Kandidaten mit manchen Aussagen mehr als mit anderen. Und zweifellos verges sen die Zuschauer die meisten Aussagen relativ bald wieder. Dennoch spricht einiges dafUr, dass sie sich wahrend des gesamten Duells kontinuierlich eine Meinung tiber die Kandidaten bilden. Das kann man unter suchen , indem man Zuschauer, die an Real-TimeResponse-Messungen teilgenommen haben , nach einer Debatte nach ihren EindrUcken davon befragt, wer das Duell insgesamt gew onnen hat. Der Mittelwert aller einzelnen Eindrucke, die die Zuschauer wahrend des gesamten Duells von den Kandidaten hatten, erklart ihre Sieg erwahmehmung nach dem Duell ausgesprochen gut. Greift man dagegen bestimmte Passagen heraus - z.B. einzelne Themenblocke oder einzelne Aussagen - ist die Erkla323
rungskraft meist geringer, selten ahnlich hoch." Das spricht dafUr, dass die Zuschauer zwar die Aussagen der Kandidaten recht schnell wieder vergessen, der Eindruck, den die einzelnen Aussagen erzeugt haben, jedoch bestehen bleibt. Neu hinzukommende Informationen modifizieren diesen Eindruck dann immer wieder bis zum Ende des Duells. 25
Mythos 5: TV-Duelle gewinnt man, indem man die Wahler au/seine Seite zieht Der demokratietheoretische Sinn von Debatten besteht fraglos darin, den Wahlern die konkurrierenden Positionen der Kandidaten und Parteien vor Augen zu fuhren, damit diese sich ein Bild von den Unterschieden der Parteien machen konnen, Aus Sicht der Kandidaten wurde dies bedeuten, dass sie ihre Positionen so klar wie moglich darstellen sollten, urn damit moglichst viele Wahler auf die eigene Seite zu ziehen. Dies gelingt besonders gut, wenn man Zahlen und Fakten anfuhrt, die die eigene Position unterstreichen." Was demokratietheoretisch wunschenswert ist, ist in der Praxis allerdings recht schwierig: Ein GroBteil der Wahler ist bereits vor einem Duell parteipolitisch gebunden oder hat sich bereits Meinungen zu umstrittenen Sachfragen gebildet. Dieser Teil des Publikums ist auch mit noch so iiberzeugenden Fakten kaum umzustimmen. 1m Gegenteil: Werden Fakten angefuhrt, die die eigene Position in Zweifel ziehen, reagieren die Zuschauer mit klarer Ablehnung des Redners." Zudem bringen konkrete MaBnahmen in der Regel zumindest fur einen Teil der potenziellen Wahler Nachteile mit sich. SolI z.B. der KUndigungsschutz reduziert werden, verargert man die Arbeitnehmer, weil sie urn ihren Arbeitsplatz furchten. SoIl der KUndigungsschutz erhalten bleiben, verargert man die Arbeitgeber, weil sie sich mehr Flexibilitat fur ihr Untemehmen wunschen. Die vage Formulierung "Wir mussen die Interessen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber gegeneinander abwagen" ist dagegen unverfanglich und verargert niemanden. Politiker neigen deshalb haufig dazu, sich vage auszudrticken." Oer Grundgedanke ist dabei, dass das Risiko, durch einen klaren Standpunkt Wahler zu verlieren grofier ist, als die Chance, durch einen klaren Standpunkt Wahler zu gewinnen. 29 Diese Uberlegung findet ihre Entsprechung in der Sozialpsychologie in der SocialJudgment-Theorie?O Demnach hat jeder Mensch eine bestimmte Bandbreite von Meinungen oder Vorschlagen, die er akzeptieren kann (Akzeptanzbereich). Meinungen oder Vorschlage, die jenseits dieses Bereiches liegen, werden nicht akzeptiert (Ablehnungsbereich). Zudem gibt es den Bereich der Indifferenz. Meinungen, die in den Akzeptanzbereich fallen, werden als der eigenen Meinung ahnlicher wahrgenommen, als sie tatsachlich sind (Assimilations-Effekt). Meinungen, die in den Ablehnungsbereich fallen, werden als unahnlicher wahrgenommen, als sie tatsachlich sind (Kontrasteffekt). Ubertragt man diese Idee auf den Wahlkampf, ist es folglich gar nicht notig, die Meinungen von Wahlem zu verandern. Man muss lediglich seinen Standpunkt so ausdrUcken, dass er in den Akzeptanzbereich moglichst vieler Wahler fallt, Das erreicht man am ehesten, wenn man ihn so vage halt, dass sich viele darin wieder finden.
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Vgl. Maurer & Reinemann 2003. Vgl, hierzu ausfuhrlich Lodge et al. 1995. Vgl. z.B. Reinard 1988. Vgl. z.B. Meffert et al. 2006. Vgl. z.B. Waldman & Jamieson 2003. V gl. auch Shepsle 1972. Vgl. Sherif & Hovland 1961.
Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Kommunikationsstrategie auch in Femsehdebatten erfolgreich ist. So haben in der Geschichte der amerikanischen Femsehdebatten fast immer diejenigen Kandidaten die Duelle verloren, die mehr konkrete Fakten und Zahlen prasentiert haben." Diese Befunde werden wiederum von Ergebnissen von RealTime-Response-Messungen gestutzt, 1m zweiten Fernsehduell im Bundestagswahlkampf 2002 waren die erfolgreichsten Aussagen beider Kandidaten entweder Aussagen, die so vage gehalten waren, dass sie keine politische Richtungsentscheidung beinhalteten, oder so selbstverstandlich waren, dass sie von nahezu allen Parteien und Wahlern geteilt wurden. Besonders erfolgreich waren Aussagen, in denen beides zusammenkam und zudem unter Verwendung emotionaler Sprache vorgetragen wurde. Ein Beispiel hierfiir ist eine Aussage Schroders zur Bildungspolitik - einer der erfolgreichsten Aussagen im Duell: "Was ieh nieht mochte, ist, dass wir in diesem Land eine Situation bekommen, wo es Kindem aus sozial schwacheren Familien - ieh habe meine Abschlusse tiber den zweiten Bildungsweg machen mussen nieht rnehr moglich ist, zu Deutsehlands hohen und hochsten Sehulen zu gehen, weil sie sie nieht bezahlen konnen."
Wer wollte da widersprechen? Aussagen, in denen die Kandidaten ihre politischen Standpunkte klargemacht haben, haben die Zuschauer dagegen polarisiert: Zwar stimmten ihnen ihre eigenen Anhanger zu. Anhanger des jeweils anderen Lagers lehnten sie aber ebenso deutlich abo Auch die Vnentschiedenen haben diese Aussagen kaum beeindruckt.Y Es geht folglich in Femsehduellen nieht darum, die Wahler auf die eigene Seite zu ziehen. Es geht vielmehr darum, sich moglichst geschickt auf die Seite der Wahler zu schlagen. Das gilt VOT allem dann, wenn man vor dem Duell in der Wahlergunst zuruckliegt und darauf angewiesen ist, zusatzliche Wahlerstimmen zu gewinnen. 1m Sinne der Demokratie ist das allerdings sieher nicht,
Mythos 6: TV-Duelle nil/zen dem Herausforderer mehr als dem Amtsinhaber In der Vergangenheit sind TV-Duelle haufiger daran gescheitert, dass der Amtsinhaber nicht zu einem Duell bereit war. So war es in den amerikanisehen Prasidentschaftswahlen 1964 (Johnson), 1968 und 1972 (jeweils Nixon). So war es in den Bundestagswahlkampfen 1969 (Kiesinger), 1972 (Brandt), 1976 (Schmidt) und 1998 (Kohl). Vnd so war es auch in einigen Landtagswahlkampfen, zuletzt in Rheinland-Pfalz 2006 (Beck). Diesen Entsehei.. dungen liegt vermutlich jeweils die Annahme zugrunde, dass ein Herausforderer von einem Duell nur profitieren kann: Er steht dem Amtsinhaber fur 60 oder 90 Minuten auf gIeicher Augenhohe gegenuber, kann seine Bekanntheit vergrofsern und den Amtsinhaber fur dessen Regierungsbilanz attackieren. Der Amtsinhaber dagegen muss sich verteidigen und seine herausgehobene Position fur die Zeit des Duells aufgeben. Empirische Untersuchungen bestatigen zunachst einmal, dass die Zuschauer in Fernsehdebatten in der Regel mehr tiber Sachpositionen der Herausforderer lemen als tiber die Sachpositionen der Amtsinhaber." Zugleich verandern sich die Meinungen der Zuschauer tiber die Herausforderer starker als tiber die Amtsinhaber." Beides kann man damit erkla-
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Vgl. Levasseur & Dean 1996. Vgl. Maurer & Reinemann 2003; Reinemann & Maurer 2005. Vgl. Holbrook 1999; Benoit & Hansen 2004. VgI. Maurer & Reinemann 2003; Benoit & Hansen 2004.
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ren, dass die Amtsinhaber besser bekannt sind. Die Zuschauer haben deshalb gefestigtere Meinungen tiber sie. Dies sagt aber noch nichts daruber aus, ob sich dies fur Amtsinhaber und Herausforderer jeweils zum Positiven oder Negativen auswirkt. Die Idee, dass es ein grundsatzlicher Vorteil fur den Herausforderer ist, den Amtsinhaber attackieren zu konnen, hat sich jedenfalls als falsch erwiesen. Zwar haben negative Informationen im Prinzip groBerer Wirkungen als positive Informationen." Wenn die Kritik jedoch vom politischen Gegner kommt, wirkt sie unglaubwurdig und fallt auf den Urheber zuruck, Dies zeigen z.B. Studien zu den kontraproduktiven Effekten negativer Wahlwerbung." Schon in den Elefantenrunden vor den Bundestagswahlen 1972 und 1976 wurden die Kandidaten, die die ubrigen besonders stark attackiert haben, von den Zuschauem als am wenigsten sympathisch eingeschatzt." 1m zweiten TV-Duell vor der Bundestagswahl 2002 haben sich ahnliche Ergebnisse gezeigt: Schroder und Stoiber wurden von den Zuschauem immer dann besonders positiv wahrgenommen, wenn sie (vage) tiber ihre eigenen Ziele und Plane gesprochen haben. Haben sie dagegen ihren Kontrahenten angegriffen, wurden sie uberwiegend negativ beurteilt. 38 Wem TV-Duelle mehr nutzen, hangt weniger von der Rolle als Amtsinhaber oder Herausforderer, sondem vielmehr von den Personen selbst und ihrem Auftreten abo Neben den bereits skizzierten Argumentationsstrategien kommt es dabei auch auf die Erwartungen an, die die Zuschauer vor einem Duell an die Kandidaten haben. Ein Kandidat, von dem die Zuschauer eine klare Niederlage erwarten, kann in einem Duell schon dadurch einen guten Eindruck hinterlassen, dass er - entgegen den Erwartungen - mithalt, Ein Kandidat, von dem man einen klaren Sieg erwartet, kann schon dadurch verlieren, dass ihm nur ein knapper Sieg gelingt. SchlieBlich profitieren von einem TV-Duell vor allem Parteien mit einem popularen Kandidaten. TV-Duelle lenken die Aufmerksamkeit der Wahler weg von den Parteien und Sachthemen hin zur Personlichkeit der Kandidaten. Die Wahler treffen ihre Urteile tiber die Kandidaten und ihre Wahlentscheidungen vor allem aufgrund der Informationen, die momentan verfugbar sind. Dies bezeichnet man als Priming-Bffekt." In einem Femsehduell erhalten die Wahler vor allem Informationen uber die Kandidaten und ihre Personlichkeit, Sie beurteilen deshalb die Kandidaten nach einem TV-Duell eher anhand ihrer Personlichkeit als anhand ihrer Sachkompetenz und wahlen eher anhand ihrer Kandidatenpraferenz als anhand ihrer Parteibindung. Dieser Effekt wird nach dem Duell in erheblicher Weise von der intensiven Medienberichterstattung verstarkt." Je naher ein Duell am Wahltag liegt, desto grofser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dies auch auf das Wahlergebnis auswirkt.
Mythos 7: TV-Duelle bestatigen die Wahler nur in ihren Wahlabsichten, verandern diese aber nicht Die Annahme, dass politische Kampagnen und die Medienberichterstattung in Wahlkampfen grundsatzlich Wahlentscheidungen nicht verandern, geht auf eine fruhe Studie zu den
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Vgl. z.B. Skowronski & Carlston 1989. Vgl. z.B. Allen & Burrell 2002. Vgl. Baker et al. 1981. Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 97f. Vgl. Iyengar & Kinder 1987. Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 191ff.
Ursachen des Wahlverhaltens zuruck'" und ist an sich bereits ein Mythos. Die Studie zeigte, dass immerhin 17 Prozent der Wahler im Verlauf der Kampagne zur amerikanischen Prasidentsehaftswahl 1940 ihre Wahlabsicht in der ein oder anderen Weise geandert hatten. Weil damals noeh deutlich starkere Medien- und Kampagnenwirkungen erwartet worden waren, wurde das Ergebnis aber vollkommen zu Unrecht als Beleg fUr geringe Wirkungen interpretiert. In den folgenden zwei Jahrzehnten verfestigte sieh die These von der selektiven Nutzung und Wahrnehmung von Medieninhalten: Wahler nutzen nur die Informationen, die prinzipiell geeignet sind, ihre bereits bestehenden Meinungen zu bestatigen, Wenn man wie in TV-Duellen - Informationen, die mit der eigenen Meinung nieht ubereinstimmen, nieht vermeiden kann, -werden sie nicht wahrgenommen oder uminterpretiert. Die Konsequenz hieraus lautet, dass Kampagneninformationen Wahler niemals umstimmen konnen, Sie konnen lediglieh bereits bestehende Meinungen und Wahlabsiehten bestatigen, Die Theorie der selektiven Wahrnehmung von Medieninhalten ist zwar grundsatzlich riehtig. Die hieraus gezogenen Schlusse sind jedoch bei weitem ubertrieben. Richtig ist, dass die Wahler ein TV-Duell dlircfiCIieH"paItelpotitiscneBrtlle" betrachten. Fragt man sie danaeh, wer das Duell aus ihrer Sicht gewonnen hat, nennen viele den Kandidaten als Sieger, den sie schon vor dem Duell fur den besseren hielten.V Ahnliche Ergebnisse zeigen sich auch, wenn man die spontanen Eindrucke der Zusehauer wahrend eines Duells betrachtete Wahrend des zweiten TV-Due lis im Bundestagswahlkampf 2002 hatten die Anhanger von SPD und Grunen fortwahrend einen besseren Eindruck von Schroder. Die Anhanger von COU und FOP hatten dagegen einen besseren Eindruck von Stoiber." Das bedeutet aber nicht, dass das Auftreten und die Aussagen der Kandidaten bedeutungslos sind: Einige Wahler lassen sich im Verlauf eines Duells auch von einem Kandidaten beeindrucken, dessen Partei sie vor dem Duell nicht nahe standen. Der Einfluss der Eindrucke von den Kandidaten wahrend eines Duells auf die Einschatzung, wer das Duell gewonnen hat, ist deshalb grofser als der Einfluss der langerfristigen Parteibindung der Zuschauer." Zurn anderen nimrnt die Zahl der Wahler, die noeh kurz vor der Wahl unentschieden sind, welchen Kandidaten sie praferieren und welche Partei sie wahlen wollen, ZU. 45 Da diese Wahler keine Voreinstellungen mitbringen, greift die Regel der selektiven Wahrnehmung hier nicht. Es lassen sich folglich deutliche Wirkungen von TV-Duellen aufzeigen: Die Zuschauer bilden sich Meinungen tiber die Kandidaten und werden sich ihrer Wahlentscheidung sicherer oder unsicherer. Sie andern aber auch ihre Meinungen tiber die Kandidaten und ihre Wahlabsichten. Meinungsanderungen tiber die Kandidaten kommen dabei zwar haufiger vor als Veranderungen der Wahlabsicht. Betrachtet man die bisherigen Untersuchungen'" zusammen, kann man aber davon ausgehen, dass im Schnitt immerhin rund funf Prozent der Zuschauer von TV-Duellen ihre Wahlentscheidung in die ein oder andere Richtung verandem. Wie groB der Effekt im Einzelfall ist, hangt freilich davon ab, wie deutlieh die Untersehiede im Auftreten der Kandidaten sind. Sollte ein Kandidat komplett versagen, kann ihn dies noeh weit mehr Stimmen kosten. Funf Prozent mogen auf den ersten Blick nicht viel erscheinen. Tatsachlich gibt es aber fur die Kandidaten wohl kaum eine andere 41
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Vgl. Lazarsfeld et al. 1944. Vgl. z.B. Holbrook 1996; Donsbach & Jandura 2005. Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 103ff. Vgl. Reinemann & Maurer 2005. Vgl. z.B. McAllister 2001. Vgl. z.B. Holbrook 1996; Shaw 1999; Maurer & Reinemann 2003; Hofrichter 2004; Klein 2005.
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Moglichkeit, mit einem einzigen Ereignis eine ahnlich groBe Zahl von Wahlern zu bewegen. Ob dies ausreicht, urn ein Wahlergebnis zu drehen, hangt freilich davon ab, wie knapp die politischen Lager beieinander liegen. Dies hangt wiederum von vielen Faktoren ab: Von den Leistungen der Parteien in der abgelaufenen Legislaturperiode, vom Auftreten der Kandidaten auBerhalb des Duells, von den Ereignissen, die sich im Wahlkampf abspielen, und natiirlich von der Medienberichterstattung, die all dies vermittelt.
Mythos 8: Es kommt vor allem auf das Duell selbst an / Es kommt vor allem auf die Nachberichterstattung an Massenrnedien vennitteln Ereignisse nicht ungefiltert. Sie wahlen vielrnehr nur bestimrnte Aspekte der Ereignisse fur die Berichterstattung aus und rticken die Ereignisse durch ihre mehr oder weniger subjektive Kommentierung in ein bestimmtes Licht. In den meisten Fallen kann man kaum zwischen der Wirkung eines Ereignisses und der Wirkung der Berichterstattung unterscheiden, weil beides untrennbar miteinander verbunden ist: Die Rezipienten haben keine andere Moglichkeit, sich tiber ein Ereignis zu informieren, als tiber die Massenmedien. Eine der wenigen Ausnahmen sind TV-Duelle. Bereits unmittelbar nach dem Duell laufen auf mehreren Programmen Diskussionsrunden, in denen das Duell analysiert wird. In den nachsten Tagen dominiert die Berichterstattung tiber das Duell in Tageszeitungen und Femsehnachrichten. Dabei werden zum einen die Ergebnisse von reprasentativen Bevolkerungsumfragen prasentiert, Zurn anderen komrnentieren Joumalisten, Politiker und Experten das Duell aus ihrer subjektiven Sicht. In diesern Fall kann man folglich unterscheiden, ob die Wirkung eines Ereignisses, das zwar durch das Femsehen vennittelt, dabei aber nicht joumalistisch gefiltert wird, oder die Wirkung der Berichterstattung tiber dieses Ereignis grolser ist, Dies hat zu zwei gegensatzlichen Annahmen gefiihrt: Lange Zeit ist man davon ausgegangen, dass es in Wahlkampfen vor allem auf die Duelle selbst ankommt. Nach wie vor untersuchen die mit weitem Abstand rneisten Studien nur die Wirkung der Duelle. In jungerer Zeit wird zunehmend auch die Gegenthese vertreten. Demnach spielen die Duelle selbst gar keine Rolle, es kommt allein darauf an, wie die Massenmedien in den folgenden Tagen tiber die Duelle berichten. Tatsachlich kann man davon ausgehen, dass Duelle und Nachberichterstattung etwa gleich groBe Wirkungen entfalten. Untersuchen kann man dies nur dann, wenn man dieselben Wahler sofort nach einem Duell und wenige Tage spater emeut befragt (Panel). Solche Analysen zeigen erstens, dass rund ein Viertel bis ein Drittel der Zuschauer in diesern Zeitraurn seine Ansichten daruber, wer das Duell gewonnen hat, andert. Dabei passen die Zuschauer ihre Meinungen in der Regel dem Medientenor an. Sie trauen dem Medienurteil folglich mehr als ihrern eigenen.V Betrachtet man das AusmaB der Meinungsanderungen tiber die Kandidaten und der Veranderungen der Wahlabsicht, die durch das Duell und durch die Nachberichterstattung ausgelost wurden, im Vergleich, zeigt sich, dass das Duell selbst etwas grolsere Veranderungen hervorruft. So anderten z.B. durch das zweite Duell im Bundestagswahlkampf 2002 rund 35 Prozent der Zuschauer ihre Meinungen tiber Stoiber. In den Tagen nach dem Duell waren es rund 25 Prozent." Dabei muss man auch bedenken, dass nicht alle Meinungsanderungen in den Tagen nach dem Duell auf die Wirkung der Nachberichterstattung zuriickgefiihrt werden konnen, Etwa die Halfte davon kann man
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Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 141ff.; Donsbach & Jandura 2005. Vgl. Maurer & Reinemann 2003: 164ff.
damit erklaren, dass die Wirkungen des Duells bei einigen Zuschauem relativ bald wieder naehlassen: Was wie eine Wirkung der Naehberiehterstattung aussieht, ist lediglieh eine Ruckkehr zu den Meinungen, die die Zusehauer vor dem Duell hatten." Die Wirkungen der Massenmedien kann dennoeh nieht hoch genug eingeschatzt werden. Da sie die letzte Deutungshoheit tiber das Duell haben, spielen sie fur die Wahler eine ebenso groBe Rolle wie das Duell selbst. Dies ist schon deshalb bemerkenswert, weil Femsehdebatten ublicherweise durchgefuhrt werden, damit sich die Wahler ein eigenes, unverfalschtes Bild von den Kandidaten machen konnen. Es ist folglieh aulserst fragwurdig, wenn dieses Bild durch die unrnittelbare Naehberiehterstattung tiber ein Duell bereits konterkariert wird.
Fazit Vor rund 50 Jahren hat der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith den Begriff des .Jconventionellen Wissens" gepragt, Verkurzt gesagt handelt es sieh dabei urn einfache, bequeme Wahrheiten, die von kaum jemandem in Frage gestellt werden - ganz unabhangig davon, ob sie die Wirklichkeit adaquat besehreiben oder nicht" Sie werden von Experten tiber die Medien verbreitet und von den Rezipienten ubernommen, weil sie allen das Gefuhl geben, das die Welt doeh nieht so kompliziert ist, wie es manehmal scheint. Dabei ist es gleichgultig, ob es urn die Ursaehen der Kriminalitat, die Folgen der Euro-EinfUhrung oder die Wirkung von TV-Duellen geht: Alles erscheint in wenigen Satzen und ohne komplizierte wissenschaftliehe Analysen erklarbar. Vieles davon stellt sich bei naherer Betraehtung allerdings als falseh heraus. Dabei handelt es sieh meist noeh nieht einmal urn bosen Willen der Experten. Wird man wenige Minuten nach einem TVDuell danaeh gefragt, wer das Duell gewonnen hat und woran das lag, kann man wenig anderes tun, als das zu wiederholen, was bereits seit Jahrzehnten als riehtig gilt. Die wissensehaftliehen Analysen, die Tage, Monate oder gar Jahre sparer veroffentlicht werden, erreiehen nicht annahernd die offentliche Aufmerksamkeit der ersten subjektiven Eindrueke, die Experten und Laien in den Stunden nach einem Duell in den Medien auBero. Die wissenschaftlichen Studien kommen zu spat, erscheinen zu umfangreich und vor allern - zu kompliziert. Sie stellen das einfache konventionelle Wissen in Frage. Und dennoch sind wissenschaftliche Untersuchungen die einzige Moglichkeit, verlassliche Aussagen tiber die Wirklichkeit zu erlangen. Duelle, Debatten und Diskussionsrunden sind mittlerweile in vielen Demokratien ein zentrales, wenn nieht das zentrale Element der Wahlkampfkommunikation. Die Kandidaten bereiten sich intensiv auf die Sendungen vor, mehr Zuschauer aIs bei jeder anderen Wahlkampfsendung schalten ein, die Medien berichten tagelang tiber kaum etwas anderes. Trotz der groBen Bedeutung fur aile Beteiligten kursieren in der Offentlichkeit eine ganze Reihe falseher Vorstellungen tiber die Wirkung von Fernsehdebatten, In der Regel handelt es sich urn Mythen oder konventionelles Wissen, das seit Jahrzehnten tradiert wird und deshalb zunehmend riehtig erseheint. Wir haben diese Mythen fur den vorliegenden Beitrag gesammelt und wissenschaftlichen Forsehungsergebnissen gegenubergestellt, Einige haben zumindest einen wahren Kern, dem wissensehaftlichen Forsehungsstand entsprechen sie aber alle nieht. Wir pladieren deshalb fur eine Versaehlichung der Diskussion tiber TVDuelle. Sie sind vor allem dann ein hilfreiehes und wirksames Instrument der Wahlkampf-
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Vgl. ebd.: 182. Vgl. Galbraith 1958.
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kommunikation, wenn ihr Potenzial und auch die damit verbundenen Risiken allen Beteiligten bekannt sind. Hierbei hilft ein Blick in die wissenschaftliche Forschungsliteratur. Der vorliegende Beitrag kann hierfur nur als Einstieg dienen.
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Blogs im Wahlkampf - Moglichkeiten und Perspektiven Von Tilo Hartmann
1.
Einleitung
"eCampaining" lautete eines der popularen Schlagworte im Vorfeld der Bundestagswahl 2005. 1 Das Wort steht fur den Wahlkampf der Parteien und Kandidaten, der online ausgefuhrt wird, also tiber strategisch platzierte Darstellungen auf Intemetseiten, in frei zuganglichen Videobeitragen" oder in Chat-Interviews oder Foren-Beitragen. Ein Instrument im Mix der eingesetzten Onlinemedien trat dabei zum ersten Mal auf der nationalen Wahlkampfbuhne in Erscheinung: Die Weblogs (oder kurz .Blogs"; der Begriff ist eine Zusammenfiihrung der Worter "Web" und .Logbuch"). Bei einern Blog handelt es sich urn eine Art regelmalsig gefuhrtem Intemet-Tagebuchs, das interaktive Rtickmeldungen und Kommentierungen durch andere Intemet-Nutzer ermoglicht und das unter anderem auf diese Weise stark mit anderen Blogs vernetzt ist.' 1m Fal1e eines Wahlkampfes wird das Blog entsprechend, zumindest nach auBen hin, von einem Kandidaten gefuhrt, der das Angebot regelmalsig mit seinen personlichen Berichten, Ansichten und Vorstellungen bestiickt, die wiederum der freien Kommentierung durch interessierte Nutzer offen stehen. So bloggte im Rahmen der Bundestagswahl 2005 zum Beispiel das "gesamte neunkopfige Spitzenteam der Grunen, vom Spitzenkandidat Fischer bis zum Parlamentarischen Geschaftsfuhrer Volker Beck". 4 Damit folgten die deutschen Politiker dem oft zitierten strategischen Einsatz von Weblogs irn U'S-Prasidentschaftswahlkampf 2004, in denen vor allem der als AuBenseiter gehandelte Howard Dean, aber auch die Spitzenkandidaten Bush und Clark, die interaktiven Tagebticher erfolgreich in ihre Kampagne integriert hatten.' Die Kommunikationswissenschaft hat sich recht schnell dem neuen Phanomen der Web logs angenommen und bereits eine Reihe an Analysen und empirischen Studien zu dem Therna hervorgebracht." Einige Aufsatze, die zurn Teil in den Politikwissenschaften entstanden sind, thernatisieren zudem speziel1 den Einsatz und die Nutzung von politischen Weblogs.' Der Literaturbestand zum Einsatz von Weblogs im Rahmen politischer Wahlkampagnen ist hingegen noch vergleichsweise dunn." Das vorliegende Kapitel versucht daher, zunachst den Forschungsgegenstand "Weblogs" zu charakterisieren, indem Funktionen, Erscheinungsformen und die Nutzerschaft beschrieben werden (Abschnitt 2). Politische Weblogs bzw. tiber die Vernetzung entwickelte .Blogosphere" werden dabei als speziVgl. Bieber 2005~ Schweizer 2005~ vgl. auch Online-Campaigning, Bieber 1999~ Plank 2002, Gellner & Strohmeier 1999. Podcasts; vgl. Meyer & Bieber 2005. Siehe fur eine ausfiihrlicheErlauterung Abschnitt 2. Luke 2005; vgl. blog.gruene.de. Vgl. u.a. Hienzsch & Prommer 2004~ siehe fur einen kritischen Vergleich von eCampaigning in den USA und Deutschland Wagner 2004. Vgl. Bucher & BOffe12005. Vgl. Abold 2005b~ Hienzsch & Prommer 2004. Siehe Verweise in diesem Kapitel.
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fische Erscheinungsformen gesondert beschrieben (Abschnitt 3). Unter Berucksichtigung der bisherigen kommunikations- und politikwissenschaftliche Literatur wird darauf autbauend diskutiert, welche Chancen und Risiken der Einsatz politischer Web logs als Wahlkampfinstrument mit sich bringt (Abschnitt 4). Ein Fazit mit Handlungsempfehlungen rundet den Beitrag ab (Abschnitt 5).
2.
Blogs und Blogosphere - eine Ubersicht
2. 1 Funktionen und Typen Ein Blog ist ein Intemetangebot, auf dem von einem oder mehreren Autoren gemeinsam regelmalsig personliche Berichte eingepflegt werden, die in chronologisch absteigender Reihenfolge prasentiert werden und durch andere Nutzer sowohl direkt auf dem Angebot als auch auf deren eigenen Blogs kommentiert werden konnen." FUr das Einpflegen der Berichte sind keine besonderen technischen Kenntnisse erforderlich. Frei verfugbare Online-Redaktionssysteme ermoglichen es, mit einer Reihe von Mausklicks einen eigenen Blog zu veroffentlichen (z. B. Blogger. com). Fur den Nutzer bestehen also nur sehr geringe Eintrittsbarrieren auf dem Weg zum offentlichen Online-Diskurs. Blogs werden von verschieden Autoren benutzt: Zum Beispiel von Laienjoumalisten (also Nutzern ohne journalistische Ausbildung"), von Profijournalisten (die neben ihrer Arbeit frei von joumalistischen Zwangen publizieren wollen), von Unternehmen (die Blogs ihrer Fuhrungsriegen erstelIen) oder von Politikern. Haufig werden Blogs mit Blick auf die regelmafsige Einpflegung personlicher Ansichten auch als Intemet-Tagebucher bezeichnet. II Ursprunglich bezogen sich die erstellten Eintrage in Blogs auf Fundstellen im Internet, auf die die Autoren beim Surfen aufmerksam wurden und die dann fur andere Nutzer kurz beschrieben und verlinkt wurden (sogenannte .Filter-Blogs"). Seit 1999, als ungefahr die ersten Blogs im Internet entstanden', hat sich der Kreis an eingeptlegten Berichtstypen erweitert, wobei Grundfunktionen wie die Kommentierung durch andere Nutzer und Charakteristika wie der personliche Sprachstil stets beibehalten wurden. Auf diese Weise entstanden verschiedene Typen von Blogs, die nach den jeweiligen Berichtsarten und Autoren unterschieden werden konnen." Einigeprominente Typen sollen an dieser Stelle kurz erwahnt werden. Sehr popular sind Tagebuch-Blogs, in denen Laienjoumalisten die personlichen Erlebnisse und Ansichten aus ihrem privaten oder beruflichen Umfeld veroffentlichen (z. B. www.lyssaslounge.de). In den USA haben War-Blogs viel Aufmerksamkeit erfahren, die zum Beispiel entweder von betroffenen Zivilisten im Irak-Krieg (z. B. dear_raed.blogspot.com) oder professionellen Joumalisten gefiihrt wurden (z. B. www.warblogging.com). In Zeitungsoder Zeitschriften-Blogs nutzen Joumalisten und offentliche Personen die Moglichkeit, sich interaktiv mit den Nutzern und Lesem auszutauschen (z. B. blog.focus.msn.de); neuerdings werden auch Leser selbst als Autoren auf Onlineangeboten traditioneller Nachrichtenmedien eingesetzt (z. B. mendener-zeitung.mzv.netlblog/menden). In Mediawatch-Blogs werden Missstande der etablierten Massenmedien kommentiert (z. B. www.bildblog.de). Executives-Blogs oder Corporate-Blogs werden von Unternehmen zu PR-Zwecken und zur
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Blood 2002; Schmidt 2006. Blobaum 2005. Schmidt 2006. Bucher & Buffel 2005. Fikisz 2004; Herring, Scheidt, Kouper & Wright rim Druck]; vgl. auch http://deutscheblogcharts.de.
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Kundenbindung eingesetzt (z. B. www.sap.com/community; eine Ubersicht findet sich auf www.toplOO-business-blogs.de). Undpolitisch gefdrbte Blogs werden entweder von Politikern in Wahlkampfzeiten eingesetzt (z. B. www.bemd-schmidbauer.de) oder von Laienoder Profijoumalisten gefiihrt, die auf ihren Online-Tagebuchern Stellung zu offentlichen Themen nehmen (z. B. www.basicthinking.de). Blogs bieten die Moglichkeit, dass die eingepflegten Beitrage von anderen Nutzem kommentiert werden. Dieses kann entweder direkt auf dem Blog-Angebot geschehen. Kommentare zu einem Beitrag konnen aber auch auf anderen Blogs erscheinen, wobei sie dann idealer Weise mit einer Verlinkung und mittels wortlicher Referenzierungen arbeiten. Auf diese Weise entstehen tiber sich aufeinander beziehende Blogs Kommentiemetzwerke, die zusammen genommen als Blogosphere bezeichnet werden. In der kommunikationswissenschaftlichen Literatur wird an verschiedenen Stellen daraufhingewiesen, dass aus publizistischer Sicht weniger der einzelne Blog von Interesse ist als vielmehr das Kommunikationsnetzwerk." .Es ist gerade der ,Systemcharakter', namlich die dichte Vemetzung der Web logs zu einer Blogosphere, also einer eigenen Form virtueller offentlichke it, die als Strukturmerkmal diese Kommunikationsform charakterisiert." 15 Interessante Themen konnen sehr rasch von anderen Blogs aufgegriffen werden 16 und sich so tiber ein Schneeballsystem mitunter rasant verbreiten.i Es erscheint berechtigt, dabei von einer offentlichen Meinung zu sprechen, die zu den viel diskutierten Themen in der Blogosphere gebildet wird. Empirische Forschung zeigt, dass sich dabei durchaus Meinungsfiihrer-Blogs herausbilden, die von anderen Blogs besonders haufig zitiert werden. 18 Anders als jedoch im traditionellen Prozess der offentlichen Meinungsbildung spielen, letztendlich aufgrund der niedrigen Eintrittsbarrieren, im Prozess der Meinungsbildung "Schleusenwarter" wie Redaktionen oder Profijoumalisten keine oder nur eine indirekte Rolle l9 - vielmehr konnen Berichte von prinzipiell jedem Nutzer eingepflegt werden und sich dann durch die Mechanismen der Diffusion in der Blogosphere zu einem Diskurs aufschaukeln." An Stelle einer Redaktion als .Koordinationszentrurn" des Nachrichtenflusses tritt demnach die vemetzte Kommunikationsgemeinschaft." Oer Prozess der offentlichen Meinungsbildung innerhalb der Blogosphere ist dabei mit traditionellen Bereichen des Mediensystems reziprok verbunden - Themen der Agenda, die durch die klassischen Massenmedien gebildet wurde, werden aufgegriffen und zu einem eigenen Meinungsklima verarbeitet", welches dann wiederum von publizistisch arbeitenden Personen wahrgenommen und in anderen Systembereichen verarbeitet wird." "Die Blogosphere ist zwar ein eigenstandiges virtue lIes Oiskursuniversum, aber eng an die Medienkommunikation angekoppelt: durch thematische Ubemahmen, reflexive Kommentierungen oder aufgrund personeller Uberschneidungen". 24
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Vgl. Herring et al. 2005. Blocher & Buffel 2005: 90. Vgl. Drezner 2005. "Online word-of-mouth"; Sun, Youn, Wu & Kuntarapom 2006; Lasica, 2001; vgl. "information epidemics"; Adar, Zhang, Adamic & Lukose 2004. Vgl. Lasica 2001; Drezner 2005; Adar et al. 2004; siehe "A-List Blogs" bci Herring et al. 2005. Vgl. Bucher & BOffe12005. Vgl. Bowman & Willis 2003. Bucher & Buffel 2005. Vgl. Adamic & Glance 2005. Vgl. ZerfaB & Boelter 2005. Blocher & Buffel 2005: 91.
2.2 Blogging im deutschen Internet Was stellt die deutsche Blogosphere dar? Zunachst ist hierzu festzustellen, dass sich das Internet in Deutschland etabliert hat. 25 Es besitzt eine hohe Verbreitung (70% der Haushalte besitzen einen Zugang), taglich werden 28% der Bevolkerung erreicht. Das Internet wird in erster Linie aus einer Informationsmotivation heraus genutzt. Die dargebotenen Informationen werden zwar zusammengenommen als weitaus weniger kritisch und glaubwurdig eingestuft als die Inhalte traditioneller Massenrnedien wie Femsehen und Tageszeitung. Jedoch verzeichnete das Internet in den letzten Jahren einen Zuwachs an Glaubwurdigkeit, wahrend insbesondere die Tageszeitung tendenziell an Glaubwurdigkeit verliert. Mit fortschreitender Integration des Internet in den Alltag der Nutzer kann erwartet werden, dass sich das neue Medium in starkerem MaBe als Informations- und Nachrichtenquelle hervortut. Insbesondere jtmgere Nutzer beziehen bereits heute einen GroBteil ihrer Informationen fiber die Welt und die Gesellschaft aus dem Internet. Die deutschsprachige Blogosphere ist als ein Teil des Internets in jene Trends eingebunden. Sie bietet fur eine bestimmte, im Vergleich zu den Publika der traditionellen Massenmedien noch verhaltnismalsig uberschaubare Nutzergruppe einen besonderen Zugang zu Informationen tiber private und offentliche Themen." Einer aktuellen Umfrage zufolge haben 45% der deutschen Intemetnutzer noch nie etwas von einem Weblog gehort oder gelesenr" Ca. 32% der Befragten liest der Studie zufolge die tagebuchahnlichen Onlineangebote (geschatzte 6,6 Mio. Bundesburger), wahrend nur 7% ein eigenes Weblog fuhren, Mit Abstand die aktivsten Rezipienten (und auch die typischen Ersteller eigener Blogs) sind der Studie nach 14-19jahrige Schuler, Aber auch unter 50-59jahrigen sind die Angebote vergleichsweise beliebt: 35% der Intemetnutzer dieser Altersgruppe, die Blogs zumindest dem Begriff nach kennen, konsultieren auch einen. Daruber hinaus werden Weblogs offensichtlich eher von Personen mit hoherem formalen Bildungsgrad gelesen und/oder erstellt. In einer weiteren Studie zu blogaffinen Intemetnutzem finden Schmidt und Wilbers ebenfalIs, dass die Nutzer von Blogs (sowohl Leser als auch Autoren) eine hohe formale Bildung aufweisen und sich "oft noch in der schulischen oder studentischen Ausbildung" befinden.i" Am haufigsten werden .Berichte, Episoden, Anekdoten aus [dem] Privatleben" eingepflegt (ca. 75% der Befragten). 1m Durchschnitt werden jedoch nur wenige Beitrage von anderen Nutzem kommentiert." Aus Lesersicht wird von Blogs erwartet, dass sie die Moglichkeit bieten, Kommentare abzugeben, dass die personliche Meinung des Autors in einem lockeren Stil wiedergegeben wird und dass Themen veroffentlicht werden, die in anderen Medien keine Erwahnung finden. Insgesamt weisen die Ergebnisse daraufhin, dass die deutsche Blogosphere derzeit eher ein Nischenphanomen ist, das mehrheitlich aus Blogs besteht, die von Laienjoumalisten gefuhrt werden, welche Informationen aus ihrem Privatleben veroffentlichen. Die Moglichkeit zur Kommentierung wird zwar erwartet, aber nur selten genutzt, was Fragen bezuglich der diskursiven Verschrankung der Blogosphere aufwirft. Analysen der US-Blogosphere zeichnen ein entsprechendes Bild: Ein GroBteil der
251m Folgenden vgI. Ridder & Engel 2005. VgI. ZerfaB & Boelter 2005. 27 Digital Life Report 2006 des TNS Infratest; reprasentativeBefragung deutscher Intemetnutzem ab 14 Jahren. 28 VgI. Schmidt & Witbers 2006. 29 Vgl. auch Herring et aI. [im Druck].
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Blogs ist demnaeh nieht vemetzt und erhalt kaum Kommentare, wahrend einige Meinungsfuhrer-Blogs das GroB an Aufmerksamkeit auf sieh vereinigen."
3.
Politische Weblogs
Politische Weblogs bilden ein Teilsystem der Blogosphere. Sie existieren in ganz unterschiedliehen Varianten. lnhaltlich reicht die Bandbreite von Weblogs, die in der Art eines Tagebuch-Blogs uberwiegend private oder nicht-politische Beitrage veroffentlichen und nur gelegentlich Stellungnahmen des Autors zu politischen Themen beinhalten, bis zu jenen Angeboten, die sieh aussehlie131ieh politisehen Themen widmen. Rund 41% der Betreiber deutschsprachiger Blogs geben an, dass .Kommentare zu aktuellen politisehen Thernen" (unter anderen) auf ihren Blogs veroffentlicht werden." Dazu kommen ganz unterschiedliche Autoren der Angebote, von Laienjournalisten, die nieht im politisehen Kontext arbeiten bis hin zu Profijoumalisten oder Politikern. All jene unterschiedlichen Blogs sind gemeinsam an der Ubernahme und -diffusion politischer Themen in der Blogosphere beteiligt. Originalberichte und Diskurse werden zum Beispiel aus anderen Bereiehen des Mediensysterns ubernommen und auf Meinungsfuhrer-Seiten kommentiert, urn dann in vemetzten Tagebuch-Blogs weiter diskutiert zu werden. Und die von Politikem gefiihrten Blogs nehmen zum einem an der Kommentierung der Diskurse teil, zum anderen produzieren sie aueh eigene Originalberiehte, die dann wieder Gegenstand einer Debatte innerhalb der Blogosphere sein konnen" Politiker-Blogs wurden auf nationaler Ebene zum ersten Mal umfassend im Bundestagswahlkampf 2005 eingesetzt." Der Einsatz von Blogs in dieser Phase wurde in einer Reihe an Studien analysiert'", deren Ergebnisse zur weiteren Charakterisierung des Gegenstands herangezogen werden konnen, Vor allem SPD, Grone und die FDP haben demnach Blogs als Instrument im Kontext ihrer Online-Kampagne eingesetzt, wahrend sich PDS und CDU/CSU im Bundestagswahlkampf zuruckhaltender zeigten." Genutzt wurden haufig zentrale Serviee-Plattformen, die es den Politikem ermoglichten, eigene Blogs ohne Programmierkenntnisse einzurichten." Einige Blogs wurden jedoch auch in Eigeninitiative entwickelt und eingesetzt, vor allem von jungeren Politikem." Die Vemetzung und diskursive Verschrankung der Politik-Blogs tiel sehr unterschiedlich aus. Eine ganze Reihe an Weblogs verzichtete vollstandig auf die Moglichkeit, ihre Berichte durch Nutzer kommentieren zu lassen." FUr die Politiker-Blogs, die eine Kommentarfunktion eingerichtet hatten, zeigte sich, dass uberproportional mehr kommentiert wurde, ,je prominenter die Plattforrn [war] (also das Webangebot, in dessen Kontext der Weblog installiert wurde; Anm. des Verfassers)"." Sehr viele Kommentare erhielten zum Beispiel die Politiker-Blogs, die bei
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Vgl. Herring et al. 2005; Adamic & Lance 2005. Vgl. Schmidt & Wilbers 2006. Vgl. Coenen 2005. Vgl. Abold 2005b; eine kommentierte Liste politischer Weblogs findet sich bei Bell & Geelhaar 2005. Vgl. Albrecht, Lubcke, Perschke & Schmitt 2005; Abold 2005a; Abold 2005b; Abold & Heltzsche 2006; Gang 2005. Vgl. Gang 2005; Abold 2005a. Z.B. parteiubergreifende Angebote wie wahl.de oder parteispezifische Angebote wie roteblogs.de; vgl. Albrecht et al. 2005. Vgl. Bell & Geelhaar 2005; Abold 2005b. Vgl. Bell & Geelhaar 2005. Gang 2005, Abs. 3.
dem hoch frequentierten Angebot "Focus-Online" verankert waren. Nahezu aile Blogs unterlieBen es jedoch, in ihren Berichten die Beitrage anderer Politiker-Blogs direkt zu kommentieren. Eine Analyse der .Blogroll", also der auf einer Blog aufgefiihrten Liste, welche anderen Blogs vom Autor geschatzt oder gar regelmafiig konsultiertwurden, legt jedoch nahe, dass SPD-nahe Angebote zumindest diskursiv am starksten verschrankt waren." Abold zieht in seiner Studie das kritische Fazit, dass die Vemetzungsmoglichkeiten der Politiker-Blogs untereinander im Bundestagswahlkampf 2005 nicht genutzt wurden, wodurch es versaumt wurde, einen offentlichen Diskurs innerhalb der Blogosphere aufzubauen." Auch LUke kritisiert, dass das eCampaining im Wahlkampf2005 nur auf .Jnteraktivitat in engen Grenzenv''i zuruckgegriffen hat. Dieser Umstand mag verwundem, da die auf den Blogs gefiihrte Diskussion inhaltlich stark auf sachpolitische Themen abhob'", wonach sich eine intensive Vemetzung angeboten harte. Inhaltlich dominierend war zudem das "negative Campaigning", also die Kritik an Personen oder Programmen der Konkurrenzparteien." Auch dieser inhaltliche Strang harte es angeboten, direkte Bezuge von einem Blog auf andere Politiker-Blogs vorzunehmen. Abold untersuchte in einer Studie ausfuhrlich die Nutzung von Politiker-Blogs, die im Bundestagswahlkampf 2005 eingesetzt wurden." In der Befragung unter internetaffinen politisch interessierten Wahlern gab ungefahr ein Drittel an, politische Blogs haufig konsultiert zu haben. Weitaus beliebter als die Weblogs von politischen Parteien und Kandidaten waren jedoch Weblogs von Privatpersonen mit politischem Inhalt. Wahrend die BIogs von Parteien und Kandidaten von vielen Nutzem als zu inszeniert und unpersonlich empfunden wurden, wurde an jenen Auftritten die direkte und authentische Infonnationsvermittlung geschatzt. Die Studie gibt auch Auskunft daruber, welche Nutzer sich aktiv mit Kommentaren auf politischen Weblogs beteiligten. Es zeigt sich, dass ein GroBteil dieser Personen selbst einen eigenen Blog betrieb und uberdurchschnittlich aktiv (auch auBerhalb des Internets) politische Informationen bezog. .Demnach scheint eine .Verstarkungshypothese' angebracht zu sein, die ein [durch politische Weblogs] zusatzlich gesteigertes Engagement von Personen postuliert, die bereits tiber andere Wege (online oder offline) am politischen Diskurs partizipieren"." Einen etwas breiteren Nutzerkreis politischer Weblogs sieht Abold daruber hinaus in Personen, die die Angebote - ohne selbst Kommentierungen vorzunehmen - als zusatzlichen Informationskanal nutzen, urn "Meldungen und Verweise auf Themen" zu erhalten, "die in den sonstigen Quellen eher vernachlassigt werden"." Zusammengefiihrt zeigen die Studien, dass die in der Vergangenheit von Politikem im Wahlkampf eingesetzten Weblogs Defizite in ihrer gegenseitigen Verschrankung und Bezugnahme aufwiesen und vielen Nutzem als zu unpersonlich erschienen. Die Berichte auf den Angeboten wurden von einem harten Kern an politisch rnotivierten Nutzem gelesen und kommentiert: "Weblogs wurden im Wahlkampf 2005 vor allem von einer kleinen Gruppe hoch gebildeter, politisch stark interessierter Intemetuser, aus dem politisch eher linken Spektrum genutzt"." Ein grofierer Nutzerkreis ist hingegen auf die vermutlich per40
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Vgl. Albrecht et al. 2005. Vgl. Abold 2005b. LUke2005: 5. Vgl. Gang 2005. Vgl. .Watchblogs''; Abold 2005b: 5. Vgl. Abold 2005a; Abold 2005b. Abold 2005b: 19. Abold 2005b: 19. Abold 2005a: 14.
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sonlicheren und wohlmoglich unterhaltsameren Blogs von Nicht-Politikem ausgewichen und war dort in die politische Meinungsbildung involviert. Damit stellt sich die Frage nach den zukunftigen Optimierungsmoglichkeiten, Chancen und Risiken des strategischen Einsatzes von Weblogs im politischen Wahlkampf." 4..
Wahlkampfkommunikation und Blogs: Chancen und Risiken
Aus Sicht der Parteien, die im Wahlkampf stehen, haben "aIle Kampagnen [... ] zum Ziel, Botschaften zu vermitteln, Meinungen zu bilden bzw. zumindest zu beeinflussen und sich eigene Vorteile zu verschaffen"." Das Primarziel ist die Stimmenmaximierung." Leit- und Themenkampagnen versuchen, zentrale Botschaften einer Partei zu vermitteln; darin eingebettete Personenkampagnen zielen darauf ab, die Kandidaten im rechten Licht darzustellen. 52 Dabei steht der modeme Wahlkampf vor der Chance, die wachsende Masse der unentschiedenen, parteilich ungebundenen Wechselwahler kurzfristig zu beeinflussen.f Zugleich steht er vor der Herausforderung, Meinungsbildung in einem ansonsten eher politisch desinteressierten Publikum zu betreiben. Eine aktuelle, im Zuge der oft konstatierten Professionalisierung" eingesetzte Strategie ist, Narrationen aufzuspannen und darin die Kandidaten ais Charaktere zu platzieren." Die Narrationen werden tiber die Instrumente der Parteiwerbung erzahlt (also z. B. tiber die Massenmedien). Sie nehmen Bezug zu tatsachlichen gesellschaftlichen Problemen oder zu eigens geschaffenen Pseudo-Ereignissen.i" Die eigene Partei und die Kandidaten tauchen darin als erfolgversprechende Charaktere auf, den HeIden in einer klassischen Erzahlung nieht unahnlich", die eine verheiBungsvolle Zukunft ausbreiten und diese Vision durch symbolische Handlungen untermauern. .Personen verkorpem die politischen Botschaften'r" im modemen Wahlkampf, wodurch wahrgenornmen Eigenschaften wie .Fuhrungsstarke", .Jntegritat", "Technik- und Finanzkompetenz" oder "Menschliehkeit und Warrne" eine besondere Bedeutung zukommt. 59 Da die offentlich zugeschriebenen Attribute der Parteien (und mitunter auch die ihrer Kandidaten 60) jedoch verfestigt und stereotypisiert sind und daher nur im eingeschrankten MaBe verandert werden konnen, bernuht sich der moderne Wahlkampf, angesichts der bestehenden Attribute "gtinstige Ereignisse" in Rahmen der strategischen Narrationen hervorzuheben oder eben eigens zu kreieren." Ein solches Vorgehen hat aus Sicht des Wahlkampfers mehrere Vorteile: Es ermoglicht einen personalisierten Wahlkampf, der in ein konstruiertes Sinngefiige eingebettet ist, wodurch auch apolitische Wahler involviert werden konnen, da der NaehvoIlzug von Sachverhalten und die Bewertungen der Partei und ihrer Kandidaten erleichtert werden. Das persuasive Potenzial der Wahlkamptbotschaften wird aufgrund
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Siehe hierzu auch Abold & Heltsche 2006. Plank 2002~ vgl. auch Bentele 1998. Vgl. Rudolf & Wicker 2002. Vgl. Plank 2002. Vgl. Holtz-Bacha 1999. Vgl. Holtz-Bacha 1999. Vgl. Hollihan 2006~ Comog 2004~ Green, Strange & Brock 2002. Vgl. Boorstin 1987. Vgl, Althaus 2002: 125; Slater & Rouner 2002. Radunski 2002: 188. Stem & Graner 2002. Vgl. Brettschneider 2001: 386. Vgl. Hollihan 2006.
ihrer Einbettung in eine Geschichte zudem erhoht; so konnen zum Beispiel auch einstellungskontrare Personen erreicht werden. 62 1m Folgenden werden funf mogliche Ziele des Einsatzes von Politiker-Blogs im so skizzierten Wahlkarnpf erortert, 4.1. Authentische Charakterkonstruktion des Kandidaten Bei Blogs als einem Kornmunikationsweg steht der Autor im Vordergrund und ist unmittelbar mit der Botschaft verknupft, Die Nutzer von Blogs erwarten authentische, personliche Berichterstattung. Blogs bieten sich daher in modemen personalisierten Politkampagnen an, weil sie es ermoglichen, eine bestimmte Zielgruppe mit kandidatenbezogenen Wahlkampfaussagen zu erreichen, urn den Charakter der Kandidaten - parallel zu ihrer Oarstellung in den Massenmedien - tiber direkte (interpersonale) politische Kommunikation auszugestalten." So konnen die Charakter-Eigenschaften, die im Rahmen der strategisch erzahlten Narrationen giinstig erscheinen (z. B. Fuhrungsstarke, Solidaritat, Human itat), authentisch kommuniziert werden. In traditionellen Massenmedien stehen hierzu bislang Darstellungen in Werbefilrnen, Auftritte in Streitgesprachen oder in Talkshows und allgemein symbolische Gesten und Handlungen zur Verfugung." Blogs versprechen aber, aufgrund ihrer interpersonalen Austauschmoglichkeiten und ihrer halbprivaten Atmosphare, die personalisierte Darstellung naturlicher und also weniger kunstlich wirken zu lassen, was Persuasi onseffekte begunstigen konnte. 65 Personliche Noten, die Politiker im Wahlkampf auf Blogs veroffentlichen, konnen fur den Wahler zugleich unterhaltsam und informativ sein. Unterhaltsamkeit fordert die Aufmerksamkeit und erleichtert auch unversierten Nutzem den Zugang zur politischen Sphare. 66 Private Hintergrundinformationen, zurn Beispiel zur Vergangenheit, zu den Interessen, zur Familie des Kandidaten, sind zugleich fur die Wahlentscheidung vieler Nutzer substanziell." In eher sachpolitisch orientierten Berichten konnen hingegen professionelle Merkmale wie Fuhrungsstarke oder Fachwissen kornrnuniziert werden. Oer Blog bietet sich hierdurch_ als ein zielgruppenspezifisches Instrument im "Storytelling" tiber den Kandidaten an. Das Risiko, den Politiker auch tiber seine Privatsphare als einen uberzeugenden Kandidaten darzustellen, liegt naturlich, wie zurn Beispiel bei Talkshow-Auftritten, darin, dass Grenzen uberschritten werden konnen, die das Bild eines professionellen Politikers schadigen." Die Frage ist also, wie stark der Versuch, authentisch und personlich zu wirken, dazu beitragt, dass der Kandidat aus der Rolle eines professionellen Politikers heraustritt." Es bleibt eine empirische Frage und damit Gegenstand zukunftiger Forschung, wie viel Selbstoffenbarung auf Politiker-Blogs zur optimalen Nutzerunterhaltung bzw. zur gelungenen Charakterkonstruktion im Wahlkampfzweckdienlich ist. Zu den Inhalten, die erfolgreiche strategische Narrationen im US-Wahlkampf Hollihan zufolge aufwiesen, gehorten unter anderem eine faszinierende personliche Vergangenheit des Politikers, ein attraktiver Ehepartner, gut erzogene Kinder und vor allern das Selbstver62
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Vgl. Slater & Rouner 2002; Green, Strange & Brock 2002. Vgl. Rommele 2002. Vgl. Brettschneider 2002. Vgl. Friestad & Wright 1996. Vgl. GeiBler2002. Vgl. Brettschneider 2001; Stem & Graner 2002. Vgl. z. B. den Kommentar des Nutzers Gomez zu dem Blogeintrag des FDP-Abgeordneten Rainer Stinner auf http://rainerstinner.wahl.de/2005/0910]I. Siehe auch Abold & Hentsche 2006: 20; GeiBler2002: 277.
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standnis des Politikers, trotz der personlichen Starken immer noch ein normaler Mensch aus dem Kreis der Wahler geblieben zu sein." Sollte gerade der zuletzt genannte Punkt auch auf die erfolgreiche Charakterkonstruktion deutscher Politiker im Wahlkampf zutreffen, boten sich Blogs (neben dem klassischen Wahlkampf vor Ort) als ein burgernahes Kommunikationsmittel an. Denn es erscheint plausibel, dass bloggende Politiker von ihrem Publikum als weniger elitar und abgeschottet wahrgenommen werden. Dieses sollte insbesondere der Fall sein, wenn den Nutzem die Moglichkeit zur Kommentierung der veroffentlichten Inhalte eingeraumt wird. Wenn der Blog eines Kandidaten im Wahlkampf als authentisch wahrgenommen wird, verspricht er gunstige Eigenschaften des Politikers in einem Kontext zu kommunizieren, der zugleich Vertrauen schafft. Vertrauen zu einem Kandidaten beeinflusst generell die Wahlentscheidung im hohen MaBe.7 1 Das Schaffen von Vertrauen ist damit ein strategisch bedeutsames Ziel. Daruber hinaus ist es aber plausibel, dass Personen, die als vertrauenswurdig gelten, auch als glaubwurdige Kommunikatoren erscheinen." Glaubwurdige Kommunikatoren wiederum, das ist aus der Persuasionsforschung hinreichend bekannt, sind kraftvoll darin, Ansichten zu formen und Einstellungsanderungen hervorzurufen."
4.2. Persuasion Blogs bieten die Moglichkeit, sehr rasch auf sich dynamisch andernde Themen- und Ereignislagen zu reagieren, auf die sich ein flexibler Wahlkampf einstellen muss. 74 In Abstimmung mit der taglichen Kampagnenplanung kann der bloggende Politiker so unmittelbar Stellungnahmen z. B. zu zentralen Aussagen der Opposition vomehmen, Bezuge zu Ereignissen herstellen oder offentliche Diskurse aufgreifen (ahnlich den Rapid-Response-Systemen oder Watchblogs, die in Wahlkampfzeiten eingesetzt wurden wie z. B. stimmtnicht.gruene.de von den Grunen oder wahlfakten.de von der COU). Urn die fur Blogs typische Vemetzung urnzusetzen, sollten dabei Verweise auf andere Intemetquellen eingearbeitet werden. Da Nutzer Blogs aktiv aufsuchen mussen und die interaktive Nutzung von ihnen eine gewisse Fokussierung verlangt und weil bekannt ist, dass die meisten Leser oder Kornrnentierer von Blogs politisch interessiert sind, ist von einem recht hohen Involvement der Nutzerschaftauszugehen. Neben dem Einfluss des wahrgenomrnenen Autors (als einer Kommunikationsquelle) auf die Informationsverarbeitung der Nutzer kommt daher auch den veroffentlichten Argumenten eine groBe Bedeutung zu, da die Oberzeugung der Nutzer im Wesentlichen tiber elaborierte Verarbeitungswege erfolgen durfte." Es ist also anzunehmen, dass die Oberzeugungskraft der Quelle (also des Autors) und der Botschaft (also der eingeptlegten Nachrichten oder Kommentare) bei Blogs Hand in Hand gehen. Einmal mehr gilt deswegen, dass persuasive Inhalte der Politiker-Blogs nur dann ihre Wirkung entfalten durften, wenn die Darstellung authentisch und vertrauensvoll erscheint. 76
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Vgl. Hol1ihan 2006. Vgl. Stern & Graner 2002: 151-152. Vgl. Abold 2005a. Vgl. O'Keefe 2002. Vgl. Radunski 2002. Vgl. O'Keefe 2002. Vgl. Friestad & Wright 1996.
Neben der Reaktion auftagesaktuelle Ereignisse bieten sich Blogs dazu an, das im Rahmen der Leitkampagne formulierte .Angriffsthema'r" urnzusetzen. Mittels der bislang eher wenig genutzten Kommentierungen von Blogs gegnerischer Politiker" konnen offensive Argumente in den Online-Wahlkampf eingebracht werden. Neben Bezugen zu sachpolitischen Thernen konnen naturlich - im Rahmen eines Negative Campaigning"- auch sinnvolle Kritiken der Konkurrenz erfolgen, die sich zum Beispiel eher auf die Person beziehen. Durch den Einsatz von direkten Zitaten oder von expliziten Verweisen zu manifestem Material "des Gegners" ist zu erwarten, dass die erfolgten Kritiken vergleichsweise nachvollziehbar und damit glaubwtirdig erscheinen, was ihre Uberzeugungskraft fordern durfte und das Risiko schmalern sollte, in den Rufzu geraten, unredliehe Propaganda zu betreiben." Ferner bietet sich selbstverstandlich nahezu jeder Einzelberieht auf Blogs an, urn auf verwandte Parteistandpunkte (interaktiv) zu verweisen oder Verlinkungen zu Hintergrundinformationen vorzunehmen, die den Nutzer ticfer gehend tiber Wahlprogramme oder Parteistandpunkte aufklaren." Von dieser Moglichkeit wurde auch bereits mittels der PolitikerBlogs im Wahlkampf 2005 rege Gebraueh gemacht." Die auf Blogs umgesetzte personliche und mitunter durchaus unterhaltsame Auseinandersetzung mit Politik im Wahlkampf konnte dabei als ein Aufhanger fungieren, urn auch weniger interessierte Nutzer, die beim Surfen durch das Internet eher beilaufig auf ein Angebot gelangen, zu involvieren und an zentrale Standpunkte des Kandidaten oder der Partei heranzufiihren.
4.3. Agenda-Setting Abold konstatiert kritisch, dass derzeit in Deutschland "politische Weblogs [... ] keiner breiten Offentlichkeit bekannt [sind], [... ] keine Meinungsrnacht [haben] und nicht die Starke [besitzen, urn] Themen in die Offentlichkeit zu bringen.v'" Auf der anderen Seite stehen jene Blogs, die im Rahmen des Wahlkampfes 2005 eine kritische Masse an Aufmerksamkeit im Netz auf sich vereinigen konnten, etwa, weil sie auf hoch frequentierten Webangeboten wie Focus-Online verankert waren. Auch ist plausibel, dass Blogs von Spitzenpolitikem regen Zulauf verzeichnen konnen, wenn sie nur in den traditionellen Massenmedien hinreiehend beworben werden. Zudem fuhrt die vernetzte Struktur von Blogs dazu, dass ihre Inhalte auf popularen Suehmaschinen wie Google nieht selten prominent gelistet werden, was sich gunstig auf Nutzerstrome auswirken durfte, Auch wenn daher Blogs zurn gegenwartigen Zeitpunkt sieher zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird, als dass sie Themen in der gesamtgesellschaftlichen Offentlichkeit etablieren konnten, durften sie das Potenzial besitzen, die Agenda einer empirisch bislang nur ansatzweise umrissenen Nutzerschaft zu beeinflussen, die politisch interessiert ist, kommunikativ ausgerichtet ist und daher durchaus Meinungsfuhrerqualitaten innehaben durfte." Jene Nutzerschaft wirkt an der Meinungsbildung innerhalb der gesamten Blogosphere mit 85 und vermag zugleich
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Radunski 2002: 188; 192. Vgl. Abold & Heltzsche 2006. Vgl. Althaus 2002: 122. Vgl. Althaus 2002: 122. Vgl. Schweitzer 2005. Vgl. Abold & Heltzsche 2006. Abold 2005a: 13. Vgl. Delwiche 2005~ Coenen 2005. Siehe Abschnitt 4.6.
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politisehe Gesprache auBerhalb des Intemets anzuregen." Da sieh Politik im Wahlkampf darum bernuht, Aufmerksamkeit zu erregen und Themen zu besetzen'", erseheint es daher nieht zu weit hergeholt, die Agenda-Setting-Funktion von Blogs hervorzuheben.
4.4. Stimmungsbilder Generell wtinsehen sich einer Studie von Rudolf zufolge ca. 20°A> der deutschen Bevolkerung die Moglichkeit, in Wahlkampfzeiten den Politikem ihre Meinung zu sagen." Blogs bieten diese Moglichkeit, sofem die Option auch tatsachlich .aktiviert wird" - was, wie in Abschnitt 3 dargestellt, bislang offensichtlich fur Politiker-Blogs nieht der Regelfall gewesen ist. Blogs bieten im Wahlkampf die Chance, den politisch motivierten und engagierten Nutzem, die den empirischen Erhebungen zufolge derzeit das Publikum der Angebote darstellen'", die Moglichkeit zur Interaktion zu geben. Auf diese Weise konnen - naturlich nur begrenzt generalisierbare - Stirnrnungsbilder auf aktuell veroffentlichte Themen und auf die verfolgte Charakterkonstruktion des Kandidaten eingefangen werden. Unter Umstanden boten Blogs damit einen innovativen Ruckkanal "von der Basis", der Informationen generiert, urn in der Kampagnenplanung Erkenntnisse zu erganzen, die durch aufwendig angelegte Fokusgruppen oder Umfragen gewonnen werden. Riskant sind Kommentierungen, wenn sie uberwiegend negativ oder gar diffamierend ausfallen. In diesern Fall ist zu entscheiden, wann die feine Grenze zwischen einer aus Kandidatensicht eher abtraglichen aber legitimen und einer unzumutbaren Nutzerreaktion uberschritten wird. Diffarnierende AuBerungen konnen mit Verweis auf fur Blogs typisehe Verhaltensstandards'" editiert werden. Kritische Meinungen hingegen, die saehlieh vorgetragen werden, sind naturlich Teil der Dialogkultur auf Blogs. Ein strategisch im Wahlkampf eingesetzter Politiker-Blog liefe sieher Gefahr, sein ohnehin schwierig aufzubauenden Kredit als unverfalschte und daher glaubwurdige Informationsquelle zu verspielen, wenn es ersiehtlich wurde, dass kritische Meinungen aussortiert wurden.
4.5. Mobilisierung Die Mobilisierung von Parteimitgliedern und Sympathisanten ist ein wichtiges Ziel spezifischer Kampagnen in Wahlkampf-Zeiten." Zwei Moglichkeiten sind zu erwahnen: Zum einem konnen Service-Plattformen zur Mobilisierung beitragen, indem sie das einfache Einrichten von Politiker-Weblogs ermoglichen und diese "unter einem Daeh" bundeln." Von dieser Option wurde in der Vergangenheit im Wahlkampf auch Gebrauch gemacht ·z. B. von der SPD mittels des Angebots roteblogs.de oder in Form des parteiubergreifenden Angebots wahI.de. Das Risiko der so geforderten Erstellung von Blogs liegt darin, dass der Chor an Meinungen, die Vertreter einer Partei im Wahlkampf aufiem, grofser wird, sofem die zentralen Standpunkte der Leitkampagne nieht einheitlich beachtet werden." Die Ver-
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Siehe Abschnitt 4.5. Vgl. Radunski 2002. Vgl. Rudolf 2002. Siehe ebenfalls Abschnitt 3. Vgl. Hausler 2005. Vgl. Plank 2002. Vgl. Abold & Heltsche 2006. Vgl. Abold & Hentsche 2006.
mittlung der Botschaften wurde dann uneinheitlich vollzogen und die Intemet-Kampagne konnte aufgrund fehlender Konsonanz wirkungsloser werden. 94 Zum anderen konnen Blogs selbst genutzt werden, urn die Mobilisierung voranzutreiben. Ober Blog-Eintrage erfahren die Nutzer etwas tiber zentrale Spendenaufrufe der Partei (wie z. B. tiber den mittlerweile abgeschalteten FDP-BUrgerfond) oder werden direkt zum Spenden ermuntert." Daneben versprechen Politiker-Blogs, nicht nur "Leser" auf sich zu ziehen, sondem auch die Anschlusskommunikation unter den Nutzem zu fordern, Das kann naturlich online tiber andere Blogs geschehen, welche Kommentierungen eines PolikerBlogs vornehmen. Aber Mobilisierungseffekte sind auch in Form politischer face-to-face Gesprache der Nutzer mit ihren Freunden oder Bekannten zu erwarten. Die Anregung politischer Gesprache wird im Rahmen vereinfachter Top-Down-Wirkungsmodelle in Wahlkampagnen haufig vernachlassigt, sie ist aber, sofern sie online in der Blogosphere vollzogen wird, recht gut messbar (siehe Fazit). Und sie ist zudem wichtig, urn WahlkampfBotschaften tiber interpersonale Prozesse zu verbreiten und zu verankern."
4.6. Die Blogosphere im politischen Wahlkampf Wie bereits erwahnt ist eine Diskussion von Weblogs nur dann vollstandig, wenn sie nieht nur einzelne Angebote betrachtet, sondem vielmehr auf ihre Vemetzung zu einer Blogosphere abhebt. Aus diesem Grund ist auch die politische Blogosphere, also das Netz von aufeinander im Wahlkampf Bezug nehmenden Blogs, anzusprechen. Die bislang uber Blogospheres erworbenen Grundkenntnisse lassen sich aueh auf die politische Blogosphere adaptieren." Demnach besteht diese aus wenigen Politiker.. Blogs, die als hoch frequentierte Meinungsfiihrer-Angebote, wie etwa Blogs von Spitzenpolitikem oder eben Angebote auf popularen Tragerwebsites, gut verlinkt sind, viele Kommentierungen generieren und am ehesten Themendiskurse anstoBen konnen." Diese zentralen Angebote werden von einer Vielzahl an Satelliten umgeben, die rnehr oder minder stark untereinander vemetzt sind und deren Veroffentlichungen haufig Bezuge zu den Meinungsfiihrer-Blogs herstellen. Neben den Politiker-Blogs durfte ein GroBteil der Meinungsfiihrer-Blogs und ihrer Satelliten dabei von Autoren betrieben werden, die nicht unmittelbar der Politik entstammen (wie es Kandidaten, Parteien oder ihre PR-Abteilungen tun), und die einem joumalistisehen Selbstverstandnis folgend ausschlieBlich oder gelegentlich politische Inhalte reflektieren. Uber die Mechanismen des "Online-Word-of-Mouth,,99 konnen Themen ihren Widerhall in dieser Masse an privaten oder professionellen Blogs tinden, wobei der Inforrnationsfluss jedoch haufig von den gut verlinkten zentralen Angeboten ausgehen durfte, Auf die so skizzierte politische Blogosphere durfte auch im Wahlkampf zutreffen, was schon im Rahmen von Public-Relations-Strategien generell diskutiert wurde: Sie besitzt das Potenzial, eine systeminteme und damit an anderen Offentlichkeiten nur angekoppelte Themenagenda zu generieren, also auch eigene Diskurse und offentliche Meinungen hervorzubringen.l'" Auch wenn die empirische Erforsehung, wovon die Diffusion von Themen
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Vgl. Noelle-Neumann 1979. Vgl. Hienzsch & Prommer 2004. Vgl. Pan, Shen, Paek & Sun 2006. Vgl. Adamic & Lance 2005. Die "A-List"; Herring et al. 2005. Sun et al. 2006. Vgl, Bucher & Buffel 2005.
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in der Blogosphere abhangt, noch am Anfang steht'?' und keine konkreteren Empfehlungen, wie politische Thematisierungen auf Blogs gestrickt sein sollten, urn das AgendaSetting innerhalb der Blogosphere in Wahlkampfzeiten erfolgreich zu betreiben, abgeleitet werden konnen'?", sind Chancen und Risiken benennbar, die an die Thematisierungsfunktion vemetzter Blogs geknupft sind. Zunachst zu den Chancen. Wahlentseheidungen sind als Gruppenverhalten rekonstruierbar.l'" Die Einstellungen zu Parteien und Kandidaten bilden sich dabei in dynamisch ausbalancierten Gruppenprozessen heraus: Homogene Gruppenmeinungen beeinflussen tendenziell die Redebereitschaft 104, was den interpersonalen Diskurs, auch innerhalb einer Gruppe, beeinflusst. Gleichzeitig schlagt sich die wahrgenommene Wichtigkeit eines Themas im Netzwerk und in der personlichen Agenda nieder.l'" Aus diesem Grund scheint es ein strategisch sinnvolles Bernuhen, im Online-Wahlkampf darauf hinzuwirken, dass eine kritische Anzahl an vernetzten Blogs ein Thema aufgreift, so dass hier die Zusammenhange zwischen Gruppenwahrnehmung und Agenda-Setting bzw. Persuasion greifen konnen. Die zu verbreitenden Themen konnen dabei entweder den Kandidaten oder die eigene Partei positiv darstellen oder aber Konkurrenten in ein negatives Licht rucken, Gerade mit Blick auf zu verbreitende negative Botschaften ist anzunehmen, dass sachliehe kritische, konflikthaltige Beitrage uber prominente Konkurrenten einen hohen Nachrichtenwert besitzen 106, der die Diffusion der veroffentlichten Infonnationen verstarkt, In Anlehnung an anekdotische Berichte zu der Themendiffusion in der US-amerikanischen Blogosphere durften dabei vor allern Inhalte aufgegriffen werden, die in den traditionellen Massenmedien - trotz ihres Nachrichtenwerts - anders oder gar nicht behandelt werden. In diesem Fall bote die Blogosphere einen fruchtbaren Rahmen, urn das Negative Campaigning im Wahlkampf einzusetzen. Das strategische Ziel ware es, auf die wahrgenommene Integritat und Tauglichkeit eines Konkurrenten einzuwirken und die Nutzer darin zu bestarken, den Kandidaten nicht zu wahlen, 107 Neben jenen Chancen birgt die Themendiffusion in der Blogosphere auch Risiken. Aus Sicht eines urn Kontrolle bernuhten Wahlkampfstrategen durfte die Meinungsbildung riskant wirken, weil sie, unter anderem aufgrund fehlender wissenschaftlicher Analysen und Modellierungen, nur schlecht prognostizierbar ist. In diesem Sinne ist weitere empirische Forschung vonnoten, urn Diffusionsprozesse in der Blogosphere besser nachzuvollziehen und prognostizieren zu konnenl'", damit das Risikopotenzial von Onlinekampagnen zukunftig besser kalkuliert und letztendlich verringert werden kann.
5.
Fazit UDd Handlungsempfehlungen
Politiker-Blogs stellen im Rahmen von Wahlkampfen nach wie vor ein vergleichsweise innovatives Instrument dar. Sie versprechen, in interpersonalen Kontakt mit einer politisch motivierten, intemetaffinen und redebereiten 109 Zielgruppe zu treten, die MeinungsfUhrer101 102 103 104 105 106
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Vgl. Delwiche 2005; Herring et al. 2005; Sun et al. 2006. Vgl. Albrecht et al. 2005. Vgl. Schmitt-Beck 1998. Vgl. Noelle-Neumann 1979. Vgl. ROssler 1999. Vgl. Kepplinger 1998. Vgl. Hollihan 2006. Vgl. auch Albrecht et al. 2005. Vgl. Scherer ]992.
Qualitaten besitzt. Daruber hinaus kann bei geeigneter personlicher und dadurch unterhaltsamer Aufbereitung der veroffentlichen Inhalte ein weiterer Leserkreis gewonnen werden. Zudem durfte das Instrument, weil Blogs generell in einigen popularen Suchmaschinen gunstig gelistet werden, aueh relativ gut die Aufmerksamkeit von Nutzem erregen, die auf der Suehe naeh politisehen Inhalten das Internet durehforsten. Entlang dieser dreiteiligen Segmentierung potenzieller Nutzer empfehlen sieh Politiker-Blogs fur ein modernes, zielgruppenspezifisehes Online-Campaigning.'!" Strategisehes Ziel des Einsatzes durfte zunachst sein, den Charakter des Politikers auszugestalten und neben seinen professionellen Kernkompetenzen auch .weiche Faktoren" hervorzuheben, die im politischen Persuasionsprozess bedeutsam sind und nach wissensehaftlichem Kenntnisstand die Wahlentseheidung beeinflussen." 1 Die strategiseh eingesetzten Narrationen, die im Rahmen der Leitkampagne bzw. ihrer taglichen, flexibel auf Themen und Ereignisse reagierenden Urnsetzung "erzahlt" werden, konnen auf Blogs weitergeflihrt werden, urn das Instrument in den Kanon an geplanten Veroffentlichungen zu integrieren. Weitere Ziele, die mit dem Einsatz eines Politiker-Blogs verknUpft werden konnen, sehlieBen saehpolitisehe Persuasionserfolge, Negative-Campaigning-Malsnahmen, Agenda-Setting-Effekte, Mobilisierungen und das Einfangen von Stimmungsbildern ein. Bei der Erstellung der Politiker-Blogs sollte darauf geaehtet werden, dass ein sprachlicher Ausdruek realisiert wird, der einen authentischen und glaubwurdigen Eindruck erweekt, dabei zugleieh unterhaltsam ist und "locker" wirkt, ohne jedoeh die Rolle eines professionellen Politikers, eines Fuhrungs- oder Vorbildcharakters, dem ein Wahler seine Stimme leihen mochte, zu gefahrden, Die auf den Politiker-Blogs eingepflegten Beitrage sollten joumalistisch sorgfaltig autbereitet sein, also zum Beispiel mit Querverweisen auf andere Online-Quellen und mit korrekten und ausdrucklich markierten Zitaten arbeiten, urn die Glaubwurdigkeit weiter zu starken. Zugleich kann hierdureh der Vernetzungsgrad von Politiker-Blogs untereinander optimiert werden, der in ihren ersten Einsatzen (z. B. im Bundestagswahlkampf 2005) nur schwach ausgepragt war, dessen Erhohung aber fur Persuasions- und Agenda-Setting-Effekte vorteilhaft sein durfte. Ohne Aufmerksamkeit, ohne Nutzersehaft, ist die Wirkung auch eines optimal autbereiteten Blogs marginal. Eine Wahlkampfstrategie zum Einsatz von Politiker-Blogs sollte daher darauf abzielen, einige zentrale .Aufmerksamkeits-Anker" in Form von hoch frequentierten Blogs einzusetzen, die Nutzerstrome auf sich lenken, weil sie zum Beispiel als Angebote von Spitzenkandidaten beworben werden oder auf bereits popularen TragerWebsites installiert sind. Urn jene Anker zu setzen, bedarf es einer strategischen Planung und eines gewissenhaften Kampagnenmanagements. Urn die Anker herum kann dann ein Netz an weiteren "verbundeten" Politiker-Blogs aufgespannt werden, das weniger "von oben" geplant wird, sondem dessen Ausbreitung tiber speziell eingerichtete ServicePlattformen lediglieh stimuliert wird, welehe die Einstiegsbarrieren fur motivierte "Wahlkarnpfer in eigener Sache" niedrig halten. Jenes Netz an Satelliten ist naturlich eng mit den Anker-Blogs zu verknupfen, so dass es von den Nutzerstrornen profitiert und Aufmerksamkeit erlangt. Urn die Wirkung des Netzes an Satelliten zu optimieren, bote es sieh an, uber (generelle oder tagliche) Instruktionen und Empfehlungen des Kampagnenmanagernents die Spannbreite an Stimmen jener in Eigeninitiative betriebener Politiker-Blogs zu bundeln, indem die Autoren zum Beispiel ermuntert werden, an die Leitkampagne anzuknupfen, 110
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Vgl. Rohrschneider 2002. Vgl. Brettschneider 200 I.
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strategische Narrationen aufzunehmen, oder im Verbund und somit wohlmoglich in kritische Masse gezielte Negative-Campaigning-Aktionen auszufiihren. Urn den tiber die so gestaltete Blogosphere erzielten Erfolg im Rahmen der OnlineKampagne zu kontrollieren stehen verschiedene kostenfreie Onlinedienste zur Verfu1l 2 gung , die sich jedoch haufig noch in der Entwicklungs- bzw. Reifephase befinden. Eine wochentlich aktualisierte Obersicht tiber die beliebtesten deutschen Blogs findet sich auf http://deutscheblogcharts.de, die auf Basis von Statistiken (bezuglich der Anzahl an Links, die von anderen Blogs auf den Blog verweisen) erstellt wird, welche von der BlogSuchmaschine Technorati (www.technorati.com) errechnet werden (siehe fur eine deutsche Blog-Suchmaschine http://blogs.seekport.de). Der Anbieter NITLE Blog Census versucht, mittels intelligenter Software eine vollstandige Liste aller aktiven Weblogs aufzubauen, deren aktueller Stand kostenfrei heruntergeladen werden kann (www.blogcensus.net). Derzeit sind ca. 35000 deutsche Blogs indiziert. Auf Technorati.com und auf einer Reihe weiterer Angebote (z. B. http://blo.gs; www.blogrolling.com) wird die Moglichkeit geboten, auf neue Veroffentlichungen ausgewahlter Blogs direkt aufmerksam gemacht zu werden, urn Thementrends zu verfolgen. Ein weiteres nutzliches Angebot zur Beschreibung und Darstellung von Thementrends in der Blogosphere, aber auch zur Analyse der Performanz eines Blogs, ist Blog Pulse (www.blogpulse.com; siehe Herring et aI., 2005, fur eine Ubersicht). Kostenpflichtige Services zurn Blog-Monitoring existieren naturlich auch, zurn Beispiel von dem Anbieter bc.lab (www.bclab.de). Bislang ist der Einsatz von Politiker-Blogs nicht selten auf die Wahlkampfzeit beschrankt (vgl. www.cdunion.de). so dass die Angebote unmittelbar naeh dem Wahltag vergreisen ("Blogfading,,).I13 Der sorgfaltig aufgebaute Nutzerstamm wird auf diese Weise naturlich nieht weiter genutzt, was im Sinne einer permanenten Kampagne jedoeh von Vorteil ware. Das rasehe Abschalten von Blogs naeh einem Wahlkampf kennzeichnet sie zudem als strategisch eingesetzte Werbemittel, was ihre Authentizitat und Glaubwurdigkeit in zukunftigen Einsatzen beeintrachtigen konnte, Aueh auBerhalb des Wahlkampfs soUte daher Uberlegt werden, ob nieht hinreiehend Ressoureen abgestellt werden konnen, urn strategisch geplante Politiker-Blogs langerfristig einzusetzen. Spatestens im Zuge der nachsten Bundestagswahlkampf wird sieh dann zeigen, inwiefem der Einsatz von Blogs neben dem anderer Online-Instrurnente wie der Website der Partei, personlicher Hornepages der Politiker und Podcasts etabliert wurde!", inwiefem er professionalisiert wurde und seine Wirkung optimiert werden konnte.
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Die Autoren in der Reihenfolge der Beiträge Dr. Nikolaus Jackob, seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter (Geschäftsführung) am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zwischenzeitlich Projektmitarbeiter im Projekt „Benchmarking im Immobilienjournalismus“. Autor von Veröffentlichungen u.a. über politische Kommunikation, Kommunikationsgeschichte, Rhetorik und persuasive Kommunikation. Dr. Harald Schoen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Autor zahlreicher Publikationen zur politischen Soziologie und zu den Methoden der empirischen Sozialforschung. Thomas Roessing, M.A., seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Davor Projektmitarbeiter in Mainz und Mannheim. Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Methodik und Methodologie der Kommunikationswissenschaft, Computer- und Online-Kommunikation, öffentliche Meinung. Thomas Berg, M.A., Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Betriebswirtschaftslehre und Pädagogik an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Tätigkeiten als Projektleiter zur Einführung des betrieblichen Rechnungswesens und Bildungsreferent, derzeit im Bereich Marketing und PR tätig. Veröffentlichungen u.a. zum modernen Wahlkampfmanagement. Tanja Engelmann, M.A., Studium der Publizistik, Amerikanistik und Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Redakteurin in der Unternehmenskommunikation der Deutschen Bank, Veröffentlichung zu Wahlkämpfen in Weimar. Dr. Anette Koch-Wegener, Studium der Politikwissenschaften, Psychologie und Neueren Geschichte in Gießen, Tätigkeit in der Unternehmenskommunikation der Deutschen Bank 24, Promotionsstipendium der Friedrich-Naumann-Stiftung, Mitarbeit in der Öffentlichkeitsarbeit von Hamburg Leuchtfeuer, Veröffentlichungen zu Politik und Zeitgeschichte. Mathias Friedel, M.A., Studium der Publizistik, Mittleren und Neueren Geschichte und Politikwissenschaft in Mainz. Freier Autor und wissenschaftlicher Redakteur, Lehrtätigkeit in der politischen Bildung, Monographien zur Zeitgeschichte und zu den Methoden der Umfrageforschung. Prof. Dr. Hans-Jürgen Schröder, Professor für Zeitgeschichte an der Justus-LiebigUniversität Gießen, Veröffentlichungen zu zahlreichen Themen der Geschichte der USA und der deutsch-amerikanischen Beziehungen. Isabel Nocker, M.A., Studium der Publizistik, Deutschen Philologie und der Mittleren und Neueren Geschichte in Mainz. Bis Mai 2006 Leiterin des Geschäftsbereichs „PR & Marketing“ beim Europäischen Zentrum für Medienkompetenz GmbH (ecmc). Seit Juni 2006 freie Autorin.
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Ilka Ennen, M.A., Studium der Publizistik, Deutschen Philologie und Soziologie in Mainz. Leitende Redakteurin. Derzeit Geschäftsführerin der Unternehmensberatungsagentur Firmenwelten. Dr. Thomas Petersen, seit 1993 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demoskopie Allensbach, seit 1999 Projektleiter ebendort. Lehraufträge in Konstanz, Dresden und Mainz, Autor zahlreicher Veröffentlichungen in den Bereichen Methoden der Demoskopie, Feldexperimente, Visuelle Kommunikation, Wahlforschung, Panel-Markt- und Sozialforschung, Theorie der öffentlichen Meinung. Nicole Podschuweit, M.A., Studium der Publizistik, Politikwissenschaft und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seit Oktober 2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Publizistik in Mainz. Dissertationsvorhaben zu den Wirkungen von Wahlwerbung im Kontext des Medientenors. Prof. Dr. Hans Mathias Kepplinger, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Risikokommunikation, Kommunikationsforschung, Wirkung der Massenmedien. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur Wahlkampf- und politischen Kommunikationsforschung. Dr. Stefan Dahlem, Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an den Universitäten Münster und Mainz. Anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz. Seit 1993 Projektleiter bei der ZMG Zeitungs Marketing Gesellschaft, seit 1997 Leiter Key-Account. Lehraufträge für Medienmanagement und Mediaplanung an den Universitäten Mainz und Dresden. Autor zahlreicher Beiträge zur Kommunikationsforschung, Medienforschung und Wahlforschung. Birgit Laube, M.A., Studium der Politikwissenschaft, Neueren Geschichte und Soziologie. Gegenwärtig Volontärin bei der Gießener Allgemeinen Zeitung. Dissertationsvorhaben zur Rolle des Faktors Amerika in bundesdeutschen Wahlkämpfen. Alexander Geisler, M.A., Studium der Politikwissenschaft, Mittleren und Neueren Geschichte und Soziologie in Mainz und Tours. Tätigkeiten in Wissenschaft, Öffentlichkeitsarbeit, Politik und Wahlkampforganisation. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Martin Gerster MdB. Autor verschiedener Veröffentlichungen zu modernem Wahlkampfmanagement und Politikvermittlung. Martin Gerster, M.A., MdB, seit 2005 Mitglied der SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Davor Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften in Mainz, Tätigkeiten in Journalismus, Politik und Wahlkampforganisation. 2002 bis 2005 parlamentarischer Berater im Landtag von Baden-Württemberg. Autor verschiedener Veröffentlichungen zum modernen Wahlkampfmanagement.
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Dr. Thomas Bippes, Studium der Politologie in Marburg, ab 1998 Pressesprecher der CDU Rheinland-Pfalz und der CDU-Fraktion im Landtag von Rheinland-Pfalz, Chefredakteur der CDU-Mitgliederzeitung ebendort. Davor wissenschaftlicher Referent des CDUFraktionsvorsitzenden im Hessischen Landtag. Stefan Geiß, Studium der Publizistik, Psychologie und Politikwissenschaft, diverse Tätigkeiten in Journalismus und schulischer Bildung, wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Publizistik in Mainz. Dr. Marcus Maurer, seit 2003 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Davor von 1997 bis 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort. Autor zahlreicher Veröffentlichungen u.a. zur politischen Kommunikation und Medienwirkungsforschung. Dr. Carsten Reinemann, seit 2003 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Davor ab 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter in Leipzig und Mainz. Autor zahlreicher Veröffentlichungen u.a. zur politischen Kommunikation und Journalismusforschung. Dr. Tilo Hartmann, Studium Medienmanagement an der Hochschule für Musik und Theater Hannover, Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung. Von 2002 bis 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter ebendort. Von Januar bis Mai 2006 Post-Doktorand an der Annenberg School for Communication, University of Southern California, Los Angeles. Seit 2006 Mitarbeiter am Seminar für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Erfurt.
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