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Unternehmen Vergangenheit HELM T.G. GROB Raumfahrer zwischen den Zeiten Bob Carper – ihm wird sein gesunder Menschenverstand zum Verhängnis Nat Davis – ein guter Kamerad, aber auch er besteht die Prüfung nicht Helen – überirdisch schön paßt sie nicht in die rauhe Wirklichkeit. Vielleicht gehört sie auch gar nicht hinein? Richard Miller – Oberst der Verwaltung, der sich nie von seinen Rangabzeichen trennnt. Bombenanschlag Flach, unheimlich, drohend dehnte sich die Wüste. Der Mond hielt sich zwischen tief herabhängenden Wolkenfetzen verborgen. Die Dunkelheit hing wie ein schwarzer Schleier über dem Raketenversuchsgelände Santos, nur manchmal mit nadelfeinem, grellen Strahl aufgerissen, wenn der Kegel des Scheinwerfers über die aufgebrochenen Hügel strich und die niedrigen, verkrüppelten Sträucher in gleißendem Licht badete. Eng an den Boden gepreßt lag Charles, vor sich das kaum erkennbare Gitter der äußeren Umzäunung, hinter sich die Hölle des Durstes und der Verzweiflung, die seinen gläubigen Mut fast gebrochen hätte. Aus seinem weitgeöffneten Mund kamen stoßweise keuchende Atemzüge. Sein Gesicht war eingefallen, und die schweißverklebten, schwarzen, strähnigen Haare hingen ihm wirr in die brennenden Augen. Vor knapp vier Wochen war er aufgebrochen. Jetzt, wo er sein Ziel fast erreicht hatte, trieb ihm die Angst vor dem Wagnis den Schweiß aus seinem ausgesaugten, nach Feuchtigkeit lechzenden Körper, und der Gedanke, daß er nach all diesen Strapazen scheitern könnte, preßte ihm die Kehle zu.
Er duckte sich, wie schon unzählige Male vorher, aus dem Kegel des erbarmungslosen Lichtbündels und schluckte schwer, als es vorüberglitt. Er streckte den linken Arm vor und schob den zerrissenen Ärmel seiner braunen Tuchjacke zurück. 6. 7. 1990 stand auf dem leuchtenden Zifferblatt seiner Armbanduhr, und dazu: 23.05. Pünktlich um 24 Uhr, das wußte er, würde die Ablösung kommen. Er vergaß die bevorstehende Entscheidung und dachte zurück an den Tag, als der Ordner ihn zum Meister der Gemeinde gerufen hatte. Charles war noch Novize, und die Begegnung bedeutete für ihn eine große Auszeichnung. In dem kleinen, einfach ausgestatteten Zimmer stand ein breiter, mit Papieren überladener Schreibtisch. Der sehr verehrungswürdige Meister thronte dahinter, seine fleischigen Hände hielt er auf dem Bauch gefaltet. Sein Gesicht war in gutmütige Falten gelegt, und doch glänzte in seinen Augen ein Feuer, das seine Entschlossenheit und Klugheit verriet. Sonst hätte er auch nicht den von ihm gegrünten Bund der Welterneuerer führen können. Wenn seine Neider verächtlich von einer neuen Sekte sprachen, verteidigte Charles den Bund; er, Charles Brown, gehörte ihm mit Leib und Leben an. Er senkte den Kopf und wartete demütig darauf, was ihm der Meister zu sagen hätte. „Charles", grollte der tiefe Baß, „ich habe eine wichtige Aufgabe für dich." Er wartete einige Sekunden, um dann daran zu erinnern, wie sehr er - und damit der Bund der Welterneuerer - die geplante Marsrakete verabscheue. „Wir sind uns alle einig darüber, daß dieses Teufelswerk verhindert werden muß. Du, Charles, hast Mut und Ausdauer. Du bist in der Wüste aufgewachsen, du kennst die Landschaft und die Entbehrungen. Du sollst unser Werkzeug sein. In vier Wochen könntest du es schaffen. Wir werden dich mit dem Nötigen versehen und dir alle nötigen Instruktionen geben." Der Meister wuchtete sich aus dem Sessel hoch und stand vor Charles, die Hand mahnend erhoben. „Was auch geschieht - die Rakete darf nicht starten." Charles murmelte: „Ja, Sir", und verließ rückwärtsgehend den Raum.
* Damit hatte es angefangen, und vier harte Wochen folgten. Jetzt lag er hier vor dem sorgsam bewachten Startplatz, und neben ihm ruhte sein nun sehr leicht gewordenes Gepäck. Es enthielt eine hochexplosive Haftladung. Er hatte bis jetzt noch nicht darüber nachgedacht, was nach dem Anschlag geschehen sollte. Ein sanftes Brummen, das irgendwoher aus dem Nichts kam, enthob ihn weiterer Überlegungen. Charles schaute nochmals flüchtig zu dem Lichtfinger, der ihn soeben verlassen hatte, und zog sein Päckchen zu sich heran. Dann sprang er auf und lief geduckt die niedrigen Sträucher entlang, bis er an den Wall kam, der die Straße gegen die Stürme aus der Wüste abschirmte. Seine Finger krallten sich in die trockene Erde, und endlich hatte er den Damm bezwungen. Er ließ sich die kleine Böschung hinabrollen und schmiegte sich in den Übergang zwischen Erde und Straße. Angespannt lauernd erwartete er die Autokolonne. Ratternd und polternd zogen die schweren Transporter an ihm vorbei. Er wußte, daß die Männer in den Wagen nur auf den fernen Strahl der Lampen achteten, die ihnen Ruhe und Geborgenheit nach der langen Fahrt verhießen. Als ihn der letzte Wagen passiert hatte, schnellte er hoch und sprang mit langen, aufholenden Sätzen dem Gefährt nach. Noch ein letzter Sprung, der seine ganze, verbliebene Kraft aufzehrte, dann hielt er eine Seitenstrebe umklammert. Mühsam zog er sich hoch und ließ sich in die Sicherheit des Frachtraumes fallen. Vor seinen Augen schwammen wirbelnde Kreise, rasende, rotierende Farbreflexe löschten sein Bewußtsein aus, und die wohltuende Ohnmacht entband ihn für kurze Zeit von seiner Pflicht. Als er wieder zu sich kam, hatte das Stoßen des Wagens aufgehört. Vorsichtig schaute er über die Holzwand. Die Wagenkolonne stand einsam und verlassen inmitten eines weiten Platzes. Aus einigen Baracken am Rande tönte Lachen, mit lauten Stimmen feierten die Männer ihre Ankunft.
Charles kletterte mit zitternden Knien über die Bordwand und ließ sich zwischen die Räder gleiten. Nicht weit von ihm entfernt ragte ein matt glänzender Leib empor. Umgeben von einem Gewirr von Streben und Aufzügen stand dort die Rakete, anmutig schlank in ihrer Form und doch auch drohend in der gebändigten Kraft, die tief im Innern schlummerte. Charles verließ sein Versteck. Jede Deckung ausnutzend arbeitete er sich an sein Ziel heran. Dann schaute er noch einmal furchtsam nach allen Seiten und rannte los. Der Atem rasselte durch seine Lungen, als er die schweißnasse Stirn gegen das kühle Metall preßte. Er hatte es geschafft! Niemand würde ihn jetzt mehr aufhalten! Er vergewisserte sich, daß der Beutel fest über seiner Schulter hing, und kletterte die Sprossen des Gerüstes hoch. Den Aufzug wagte er nicht zu benutzen, da jedes Geräusch in der Stille meilenweit zu hören war. Seine steifen Finger rutschten ab, und mit einem heftigen Ruck warf er sich gegen die Schiene. Er konnte einfach nicht mehr. Entsetzt schaute er nach unten. Der Abgrund zog mit tausend Händen an seinem Körper, verlockend - tödlich. Charles riß gewaltsam den Kopf herum. Zum Greifen nahe schimmerte die schlanke Spitze. Nicht aufgeben, Charles, sagte sie. Charles fuhr mit dem Gesicht über den weichen Stoff des Ärmels und zwang die Hand eine Stufe höher, um die nächste Verstrebung zu packen. Er war nur noch eine Maschine, von einem Wunsch getrieben und von einem Befehl. Er bemerkte erst, daß er die Plattform erreicht hatte, als er schon einige Meter über ihr hing, Eilig ließ er sich zurückgleiten und fand die Luke, die den Weg ins Innere der Rakete freigab. Er hatte nun nichts anderes zu tun, als die Ladung hineinzuwerfen. Dann konnte er versuchen, in dem Tumult der Explosion zu entkommen. Aber nein! Wie leicht konnte die Bombe versagen, sich verklemmen und nur unwesentliche Zerstörungen anrichten. Er mußte hinunter in den metallenen Leib, zu den Motoren. Jedes Kind kannte die Einrichtung des Raumschiffes, denn seit Monaten brachten die Zeitungen genaue Abbildungen des technischen Meisterwerkes. Charles mußte dieses Teufelsding zerstören, daß
kein Mensch mehr damit fliegen konnte. Nicht jetzt und nicht später. Als er die Schleusentür hinter sich zufallen hörte, flammten die in den Wänden verborgenen Lichter auf. Charles preßte die Faust gegen den geöffneten Mund. Dann merkte er zu seiner Erleichterung, daß dicke Panzerwände die Luken abschirmten. Der Korridor führte in den Kommandoraum. Voller Abscheu betrachtete Charles die technische Einrichtung dieses Raumes, die unzähligen Geräte, Hebel, Skalen und Knöpfe vor der sanft geschwungenen, leicht nach innen geneigten Bildscheibe. Pneumatische Sessel hingen in kreisrunden Rahmen. Charles durchquerte die Zentrale und drehte an dem Öffnungsmechanismus. Eine rote Scheibe leuchtete auf. „Danger - Gefahr", warnte sie. Er wußte, daß er nun in den Aufzug steigen mußte, der ihn in das Triebwerk bringen würde. Er warf sich mit aller Kraft gegen das Rad - vergebens. Natürlich, dachte er, eine Sperre. Er ging einige Schritte zur Seite und fand nach einigem Suchen den Magnetschalter. Der Zeiger stand auf 2, und daneben brannte ein kleines Licht. Charles dachte nach. Was würde er tun, wenn... Er schob den Hebel bis zum Anschlag in die Klammer und ließ sie dann auf 0 zurückschnellen. Das Warnzeichen erlosch, aber zugleich heulte eine Sirene auf. Ihr Wimmern drang schaurig auf- und abschwellend durch das ganze Schiff, dann wurde es leiser und verstummte ganz. Charles stand wie gelähmt. Dann packte ihn blindes Entsetzen. Er drückte die nun leicht bewegliche Luke auf und sprang in die schmale Kabine. Die Tür schloß sich automatisch. Lautlos glitt der Lift nach unten. Die Halterung klickte, die Tür schob sich zur Seite, und matt erleuchtet lag fünf Stockwerke übereinander das Herz des Schiffes vor den erstaunten Augen des Eindringlings. In weitem Bogen zog sich eine eiserne Treppe nach unten. Ich muß meine Ladung ganz unten anbringen, dachte Charles. Dann nichts wie raus aus diesem Sarg. Mit fliegenden Händen zerrte er das in Ölpapier eingeschlagene Paket aus seinem Rucksack, holte das bräunlich schillernde, klebrige Zeug hervor, aus dessen Mitte sich eine kurze Leitung schlängelte, die in einem Uhrgehäuse endete.
Er drängte sich durch die wuchtigen Maschinen, fand den bleiverkleideten Kasten, der fast die Hälfte des Raumes einnahm, und klebte die Ladung an. Die kleine Uhr baumelte hin und her. Nervös drehte er an dem Zeiger. Eine Stunde? Zu lang! Er wollte aber auch eine kleine Chance haben. Er gestand sich vierzig Minuten zu, drückte den Auslöser ganz ein und hastete auf die schmale Treppe zu. Das Aufleuchten der Kontrollampe oben an der Tür zum Aufzug traf ihn wie ein Schlag. Jemand hatte die Sirene gehört und kam nun, um nachzusehen, was sie ausgelöst haben könnte. Sein Blick irrte von der baumelnden Uhr hoch zu dem glotzenden Leuchtauge. Er hatte gleich gewußt, daß die Möglichkeit gering war, lebend zu entkommen. Aber jetzt, als die Entscheidung auf ihn zukam, hatte er Angst vor dem Tode. Mit leichtem Poltern kam der Aufzug unten an. Charles umklammerte das schmale, gewundene Geländer. Auf seiner Stirne bildeten sich dicke Schweißperlen. Sein Blick irrte zur Tür und zurück zu dem klobigen Bleimantel. Dann warf er sich herum und flüchtete hinter eine mannshohe Verkleidung. Er preßte die flache Hand gegen den Mund, als er das leise Geräusch vernahm, mit dem die Tür zurückrollte. „Niemand zu sehen, Bob." Polternde Schritte kamen die Stufen herab, gingen die Plattform entlang und verhallten, leiser werdend, zwischen den Maschinen. Charles glaubte das Ticken des Zeitzünders zu hören. Seine Ohren dröhnten, sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. „Es muß aber jemand hier unten sein", grollte eine andere Stimme. „Wir alle haben die Sirene gehört." Sie werden die Ladung finden, dachte Charles. Plötzlich erstarb das Tappen, zwei Schatten flogen auf ihn zu, und kräftige Männerfäuste hielten ihn gepackt. Charles wehrte sich, so gut er konnte. Ein Schlag krachte gegen seine Schläfe, und er verlor das Bewußtsein. Sie zerrten ihn aus seinem Versteck, schleppten ihn in den Aufzug und brachten ihn nach oben.
Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Andrucksessel, und die beiden Männer standen drohend vor ihm. „Du Schuft", keuchte Bob und riß ihn zu sich heran. „Du dreckiger, lausiger Kerl. Was hattest du da unten zu suchen?" Charles klappte den Mund auf. Die Bombe, dachte er und schluckte. In den Augen des Mannes vor ihm glomm ein gefährliches Leuchten auf. „Ich werde jedes Wort aus dir herausschlagen. Also rede freiwillig, solange ich dir noch Zeit dazu lasse." Charles preßte die Zähne in die Unterlippe, um nicht laut zu schreien. Im Korridor wurden Schritte laut. Ein dritter streckte seinen Kopf in die Zentrale und kam dann rasch herein, als er die Versammlung bemerkte. „Wir haben den Kerl, Sir", meldete Bob. Der Offizier, hochgewachsen, in einer tadellos sitzenden Uniform, mit schmalem, herrischem Gesicht und zwei ironisch blickenden Augen schob den Mann, der die Uniform der Werkspolizei trug, zur Seite. „Lassen Sie mich das machen", näselte er und pflanzte sich breitbeinig vor Charles auf. Seine Stimme war gefährlich leise. „Ich gebe dir genau zwei Minuten Zeit", sagte er. Charles sah an dem Offizier vorbei und dachte an den Zeitzünder. Er mußte raus hier, so schnell wie möglich. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und fuhren dem Offizier ins Gesicht, daß er zurücktaumelte und gegen den Kontrolltisch fiel. Mit einem mächtigen Satz stieß Charles die anderen beiseite und sprang zur Tür. Mit saugendem Schmatzen schloß sich die Öffnung, und durch den gewaltigen Körper des Schiffes lief im selben Augenblick ein kaum wahrnehmbares Zittern. „Start - eine Minute", quäkte eine Mikrophonstimme. „Neunundfünfzig, achtundfünfzig..." Charles schwang herum und sah in die käsigen Gesichter der Männer. Sein Blick folgte dem der anderen, die alle auf die Hand des Offiziers starrten, der noch mit der Rechten einen großen, roten Hebel umklammert hielt. „Ich kann nichts dafür", stammelte er. „Ich habe mich festhalten wollen, ich kann nichts..."
„Neunundvierzig, achtundvierzig.. Der breitschultrige Hüne, der bisher noch kein Wort gesprochen hatte, löste den Bann. „In die Sessel!" brüllte er. „Niemand kann den Start mehr aufhalten. Sie werden uns schon wieder herunterholen." Damit hatte er sich in die nächste Liege geworfen und begann, sich festzuschnallen. Sie stürzten auf die Sessel zu und suchten nach den Gurten. Charles schob automatisch die Schnallen ineinander. Die Magnetverschlüsse schnappten ein. „achtzehn, siebzehn, sechzehn..." Langsam fühlte er, wie die pneumatischen Polster unter ihm nachgaben und seinen Körper einhüllten. „... acht..." Die Bombe, dachte er, die Bombe! „null" sagte das Mikrophon, und eine Faust packte die Männer und quetschte sie zusammen. Das Licht ging aus und kam flackernd wieder. Das leise Summen steigerte sich zu einem infernalischen Gekreische. Gebändigte Atomenergie schleuderte das Schiff mit gewaltiger Kraft gegen die Wolken, und es ließ die Erde weit hinter sich zurück. Die Männer lagen gepeinigt in den Sitzen, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Einzig ihre Gedanken arbeiteten. So ein Wahnsinn, dachte Richard Miller, Kommandant und militärischer Beauftragter des Versuchsgeländes von seinem geruhsamen Büro im Pentagon gegen seinen Willen abkommandiert, und Offizier aus Leidenschaft. Morgen früh wäre der letzte Tag hier gewesen. Ich hätte wieder in einem weißen Bett schlafen, bei O'Donnel essen und wie ein Mensch leben können. Wenn ich diese Geschichte heil überstehe, werde ich die drei Narren vor ein Kriegsgericht bringen. Nat Davis hätte gelacht, aber der Andruck gestattete das nicht. Die Welt wird betrogen. Die tüchtigen Geschäftemacher werden platzen vor Wut; eine Armee bewacht den Laden, und so ein lausiger Amateur bringt alle Beteiligten um die Stunde des Jahrhunderts. Aber er hat Mut, der Junge. Der Sergeant Bob Carper hatte den Andruck nicht ausgehalten. Er lag ohnmächtig in den Gurten. Ein Soldat der Wachmannschaft war schließlich kein Pionier der Raumfahrt.
Charles dachte nur an die Bombe. Sie mußte bald losgehen. Ich habe meine Pflicht erfüllt. Der Meister wird zufrieden sein. - Aber es wird unser Leben kosten. Ich möchte aber leben! - Ich will hinunter und den Zünder abreißen. - Laßt mich doch raus! Leben will ich, leben! Unaufhaltsam raste die Rakete hinaus in das All. In ihrem Leib begannen Maschinen, Motoren und all die Wunder der Technik ihr geheimnisvolles, tausendfältiges Werk. Aus den Düsen, die wie ein Kranz um die eingebetteten Köpfe der Männer standen, strömte konzentrierter Sauerstoff und hielt sie mühsam am Leben. Allmählich ließ auch der unerträgliche Druck nach. Bob Carper war aus seiner tiefen Ohnmacht erwacht und begann sich zu regen. Kommandant Miller bewegte die Fingerspitzen, sie waren ganz taub geworden. Nat Davis starrte gleichmütig zur Decke, die keine mehr war. Er allein war für den Flug zum Mars trainiert und wußte genau, daß sie im Augenblick absolut nichts tun konnten. Charles O'Brien versuchte den Kopf zu wenden, um auf die Armbanduhr schielen zu können, deren Gewicht wie Blei an seinem Handgelenk hing. Die Explosion spürten sie nicht. Sie nahmen sie nicht einmal wahr, mit solch unbändiger Kraft trieb sie das Schiff vorwärts, löste alle bekannten Gesetze in Nichts auf in dem Triumpf des Irrealen über die Logik. Der gestählte Körper von Nat Davis erholte sich zuerst. Verwundert erinnerte sich Nat nach langem Dahindämmern, wo er lag. Er vermißte irgend etwas, ohne gleich darauf zu kommen, was es war. Das schwache Glühen der Armaturen tauchte den Raum in ein gespenstisches Licht. Mit leisem Zischen strömte die frische Luft ein, und die verbrauchte wurde abgesaugt, um den Kreislauf neu zu beginnen… Nat richtete sich auf, löste die Verschlüsse und stieß sich von seinem Lager ab. Mit ausgestreckten Händen tastete er sich zum Notaggregat und ließ den Hebel einrasten. Die Lampen flackerten, erloschen, und flammten auf in fahlem, gelbem Licht. Nat beschloß, sofort die Lichtmaschine zu untersuchen. Die Lichtmaschine! Jetzt wußte er, was ihn von Anfang an irritiert hatte. Die Maschinen hatten aufgehört zu arbeiten, das war es. Er vermißte das sanfte Stampfen, das Vibrieren, die Kraft
des Atomreaktors, die durch den ganzen Schiffsleib zu spüren war. Der Kommandant begann leise zu stöhnen. Nat segelte zu seinem Sessel hinüber und löste die Bänder. Das Gesicht des Mannes war von einem schmutzigen Weiß, aus dem die Nase spitz hervorstach. Aus dem Mundwinkel lief ein dünner Faden Blut, zerteilte sich in tief rote Perlen, die langsam davonschwebten. Nat legte dem bleichen Kommandanten die Hand auf die Schulter. Miller hatte viel von seiner Würde verloren, er schien im Augenblick nur ein hilfloses Bündel Mensch, das noch einmal davongekommen war. „Es ist gut, Sir. Bleiben Sie ruhig liegen. Ich werde versuchen, einige Tabletten aufzutreiben." Miller schaute ihn dankbar an. Er fühlte sich so elend wie hoch nie zuvor in seinem ganzen Leben. Auf dem Weg zum Apothekenschrank kam Nat bei Bob vorbei. Der Soldat lag in seinem Andrucksessel, hatte die Gurte bereits gelöst und war sich nicht ganz klar darüber, ob er vor Wut brüllen oder dankbar für sein Leben sein sollte. „Bringen Sie mir auch ein paar, Nat", sagte er. Der Angesprochene verzog sein Gesicht zu einem zufriedenen Grinsen. Blieb also nur noch dieser Bursche, der ihnen die ganze Suppe eingebrockt hatte. Charles hatte die Augen geöffnet und starrte die heranschwebende Gestalt an. „Was ist geschehen?" flüsterte er. „Keine Ahnung", bekannte Nat ehrlich. „Wenn ich dieses Spital versorgt habe, werde ich nachsehen." Charles nahm all seinen Mut zusammen. „Ich habe unten eine Haftladung angebracht", stotterte er aufgeregt, „sie muß jede Sekunde losgehen." Nat glotzte ihn aus aufgerissenen Augen an. „Mann! Wann soll sie... Wir können jede Sekunde..." Er drehte sich wie ein Fisch im Wasser um seine eigene Achse und landete gezielt neben der Sperre nach unten. „Wo?" brüllte er über die Schulter. „An dem Bleikasten." Nat dachte nicht daran, daß er sein Leben aufs Spiel setzte; es wäre ohnehin verwirkt, wenn die Bombe explodieren würde, bevor er sie unschädlich machen konnte.
Mit aller Kraft versuchte er den Hebel nach unten zu drücken vergeblich. Es gab nur eine Erklärung dafür: Die automatische Meteorsicherung hatte sich eingeschaltet, er konnte den Maschinenraum nicht betreten. „Was gibt es?" fragte Miller und erhob sich, was ihm einen unfreiwilligen Flug und einen schmerzhaften Aufprall einbrachte. Nat schüttelte den Kopf. „Aus, Kommandant. Aus, Schluß, vorbei. Unser Musterknabe hier hat uns eine Höllenmaschine an Bord geschmuggelt, und ich kann mir jetzt alles erklären. Wir haben unglaubliches Glück gehabt. Ich kann es nicht beweisen, Sir, aber ich glaube, daß wir im Augenblick in einem raffiniert eingerichteten, mit allen technischen Neuerungen ausgestatteten fliegenden Sarg sitzen. Wenn ich recht habe, gibt es dort, wo einmal die Motoren waren und der Antrieb saß, nur noch ein unschön ausgezacktes Loch." Miller mußte sich übergeben. „Es ist diese ungewohnte Schwerelosigkeit", gurgelte er, und Nat widersprach nicht. Er hatte keine Furcht mehr; alles war ihm aus einem unerklärlichen Grunde gleichgültig. Charles reagierte mit einer neuen Ohnmacht, Bob dagegen bekämpfte die aufsteigende Übelkeit durch eine Flut von ausgewählten Flüchen. Nat begann die Kontrollampen zu überprüfen. Sie bestätigten ihm, was er längst wußte. Sie hatten nicht die geringste Aussicht, etwas gegen ihre ausweglose Lage zu tun; Sie konnten jahrelang in diesem Raum leben vorausgesetzt, daß die Nahrungskonzentrate so lange reichten, weder der durch die eigene Anlage gespeiste Lufterneuerer noch der Wasserfilter ausfiel und andere hundert Kleinigkeiten weiter funktionierten. Und dann kam es noch darauf an, daß ihre Körper dies alles aushalten würden. Aber wenn die Bodenstelle sie nicht in den Leitstrahl bekäme, konnten sie nicht zurück. Das brachte ihn auf den Gedanken, einmal nach draußen zu sehen. Er schaltete die Bildschirme ein und wartete, daß etwas geschehen würde. Wider Erwarten flammten die Bugschirme auf, wenn auch das Licht etwas schwächer wurde. „Schaut euch das an", brachte er hervor, ohne den Blick von dem Bild zu lassen, das sich ihm in einmaliger Schönheit darbot.
Funkelnden Edelsteinen gleich strahlten Trillionen von Sternen, ein unvergleichliches Abbild göttlicher Größe. „Sehr schön", schnaubte Bob hinter ihm. „Das alles ist der Weltraum, und wir sind die ersten Menschen, die ihn so zu sehen kriegen. Grandios!" Er lachte verächtlich. „Sie haben recht", bemerkte Kommandant Miller düster. „Es wäre mir lieber, ich hätte das da nie gesehen." „Herr Kommandant, das ist doch nicht Ihr Ernst", tadelte Nat. „Hier ist kein Platz für Ihre Ironie, Ingenieur Nat Davis", bemerkte Miller streng. „Sie sind der einzige, der mit den Geräten umgehen kann. Ich bin der Ranghöchste auf dem Schiff. Also übernehme ich nun das Kommando und befehle Ihnen, sofort etwas zu tun, was uns zur Erde zurückbringen kann." Nat zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sie haben sich wieder ganz schön erholt, Sir. Wenn Sie glauben, daß hier einer angeben muß - ich habe nicht das Geringste dagegen. Wir sind ein prächtiges Team: ein Verwaltungsoffizier, ein Polizist, der hier völlig fehl am Platze ist..." „Ich verbiete dir..." „Halt den Mund! Ein Polizist, ein verruchter Attentäter und ich, der euch alle aus dem Dreck herausholen soll." Nat hatte die Schirme ausgeschaltet und drehte sich vorsichtig um. Er lachte die drei an. „Habt ihr denn immer noch nicht begriffen, daß dieser Kahn von der Erde aus gesteuert wird, wenn er intakt ist? In diesem Zustand aber..." Er wischte durch die Luft. „Schaut euch einmal dieses Meßgerät an. Es sollte dazu dienen, unsere Geschwindigkeit annähernd zu bestimmen. Es bewegt sich um keinen Millimeter. Kann mir einer sagen - Sie vielleicht, Herr Kommandant - wie schnell und wohin wir fliegen, wenn diese Bezeichnung überhaupt zutreffend ist?" Sie schwiegen betreten, und die Furcht kroch in den Raum und hielt sie fest. „Nehmen wir einmal an, wir geraten in den Anziehungsbereich eines Planeten, - was jedoch unwahrscheinlich ist. Nehmen wir weiter an, wir erkennen ihn rechtzeitig, um auszusteigen, und setzen wir den Fall, dieser Planet hat eine atembare Atmosphäre...." „... ausgeschlossen!"
„Eben! Aber nehmen wir es einmal an. Unsere Chance steht eins zu einer Million..." Charles, der bisher kein Wort gesprochen hatte, wagte eine Frage. „Sie sagten aussteigen. Haben wir denn Raumanzüge? Kann man mit denen denn fliegen?" Nat schüttelte erstaunt den Kopf. „Bleiben Sie lieber bei Ihren Bomben. Sie sind verbrecherisch ahnungslos." Er wandte sich wieder dem Offizier zu. „Nein", fuhr er fort. „Aber ursprünglich hatten wir zwei Zweimann-Erkundungsboote. Wenn sie noch da sind", schränkte er ein. „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?" frohlockte Miller. „Stellen wir doch fest, ob sie noch zu gebrauchen sind." Nat zuckte die Schultern und erklärte: „Eines ist in der Raketenspitze untergebracht, und das andere hängt gleich hinter den Mannschaftsräumen." Na also, dachte er befriedigt, als er die Gesichter der anderen sah. Die tiefe Resignation war einer frohen Erwartung gewichen. Sie klammerten sich an diesen hingeworfenen Strohhalm. Sie alle versuchten zu glauben, daß die Boote die Rettung bedeuten müßten. Nat griff nach der Haltestange und hangelte sich zu der Luke, die über ihren Köpfen eingelassen war. Die anderen folgten eifrig. Die Luke schnappte mühelos zurück, als Nat den Haltehebel umlegte, und jeder versuchte, der erste zu sein, der in den rettenden Hafen gelangt. Tatsächlich fanden sie das blitzende Etwas unversehrt. Mit viel Phantasie konnte man diesen Flugkörper als Rettungsboot ansehen. Nat deutete auf den schmalen Einstieg, als wollte, er sagen: Na bitte - habe euch nicht zu viel versprochen! „Es können hier natürlich nur zwei Mann Platz finden; Wenn wir auf jeden Ballast verzichten, bringe ich auch drei Personen unter. Aber wir haben ja noch ein Boot," tröstete er hoffnungsvoll. „Womit fliegt das Ding?" fragte Miller. „Düsen", erklärte Nat. „Ganz alltägliche Düsen. Aber ein neuartiger Treibstoff. Hochkonzentriert und äußerst sparsam. Deshalb konnte das Boot auch so klein gebaut werden. Und zuverlässig, sage ich euch. Natürlich", bemerkte er beiläufig, „ist
ein ausgebildeter Pilot dazu nötig. Ich bin ausgebildet worden, das Ding zu steuern." Als sie das kleine Flugboot genügend bewundert hatten, strebten sie wieder zur Zentrale zurück. Man konnte es den. Dreien ansehen, daß sie sich nur ungern von ihrem Strohhalm trennten. Die erste Enttäuschung brachte die Tür zum Korridor.. Sie ließ sich nicht öffnen. „Keine Aufregung, meine Herren. Wir haben Zeit genug, den Schaden zu beheben." Sie waren etwas verwirrt, aber durchaus hoffnungsvoll. Nur Nat wußte, daß sie sich nicht öffnen lassen würde, jetzt nicht und auch später nicht. Die Meteorverriegelung arbeitete absolut zuverlässig. Dort hinten gab es keinen Korridor mehr, kein Rettungsboot, nur noch verbogene Metallplatten und das Vakuum des Raums. Er drehte sich langsam um und streifte mit den Blicken Bob, der ihn nachdenklich betrachtete. Sie glitten auf ihre Sessel zu und nahmen Platz. „So wäre also die Lage", sagte Oberst Miller. „Ich meine, wir sollten überlegen, wie wir die Tür aufbekommen." Er schaute erwartungsvoll zu Nat hin. „Keine Eile, Sir. Wollen wir uns zuerst nach Nährkonzentraten umsehen? Keine angenehme Nahrung, das versichere ich euch, aber besser als gar nichts." „Ich habe keinen Hunger", meinte Charles, und auch die anderen bemerkten plötzlich, daß sie sich körperlich so wohl fühlten, wie schon lange nicht mehr. „Seltsam", murmelte Nat. „Was meinen Sie?" „Nichts", wehrte Nat ab und versank in Nachdenken. Die Männer lagen in den Sesseln und beobachteten Nat, der ihre einzige Rettung bedeutete. „Ich würde vorschlagen, daß wir versuchen zu schlafen." „Ich bin aber nicht müde." Charles wunderte sich selbst darüber. „Das macht nichts", erwiderte Nat und entschied: „Ich werde von der Apotheke Schlaftabletten holen. Wir brauchen unsere Kraft noch sehr nötig."
Nat schwebte zu dem kleinen Kasten, der zwischen zwei Verstrebungen hing. Er suchte nach dem richtigen Glas und schüttelte, für alle sichtbar, vier winzige, gelbe Tabletten heraus. „Schlucken!" befahl er und schob seine Pille in den Mund. Die drei gehorchten. Sie ließen sich in die Sessel zurückfallen, und ihre langen Atemzüge waren bald alles, was die Stille durchbrach. Befriedigt holte Nat seine Tablette aus der Hautfalte am Daumen hervor und steckte sie in die Tasche. Dann machte er sich daran, den Kontrollraum gründlich zu durchsuchen, schwang sich auch zu dem verbliebenen Rettungsboot hinüber und verstaute, was ihm wichtig genug erschien. Endlich kehrte er zu den schlafenden Gestalten zurück. Nachdenklich betrachtete er sie. Keine Nahrung, keine Müdigkeit. Merkwürdig! Er fuhr sich unwillkürlich über das Kinn, das schon einen Stoppelbart haben müßte, wenn er die Zeit in Betracht zog, die sie nun unterwegs waren. Nichts. Sein Gesicht war glatt, frischrasiert. Die Zeit. Was wußten sie schon von ihr? Er vermutete, daß ihre tatsächliche Geschwindigkeit enorm sein müßte und erinnerte sich schaudernd daran, was ihnen für die Reise - die geplante Reise, - an Überraschungen prophezeit worden war. Er beschloß, der Sache radikal auf den Grund zu gehen, und stellte die Luftzufuhr ab. Das Zischen hörte auf, ja, nur die Absaugstutzen setzten zunächst mit dem unangenehmen Schmatzen nicht aus. Allmählich erstarb jedoch auch dieses Geräusch. Es war totenstill, wenn man von dem leisen Ticken der noch funktionierenden Meßgeräte absah. Nat bemerkte plötzlich, daß er nicht mehr atmete. Er spannte die Muskeln an und zog gewaltsam die verbliebene Luft, oder was er dafür hielt, in die Lungen. Dann stellte er das Atmen wieder ein. Er spürte keine Veränderung. Nachdenklich setzte er sich zum Verteiler hin in Bewegung. Die Skala zeigte Stickstoff an. Der Sauerstoff war verschwunden, aufgebraucht und nicht wieder erneuert worden. Also atmeten sie nun Stickstoff, und es machte nicht das Geringste aus. Es war egal, ob und was er atmete - er lebte. Oder war er bereits tot und schwebte in einem unwirklichen Zustand des Scheinlebens?
Nat beschloß, sich selbst zu beweisen, daß er noch aus Fleisch und Blut bestand. Er holte das Klappmesser aus der Tasche und ließ die scharfe, schmale Klinge hervorschnellen. Ohne zu zögern, schob er den Ärmel hoch, und stach sich leicht in den Oberarm. Blutstropfen quollen aus der Wunde, ein normaler Schmerz war die Reaktion. Er nahm sich vor, den anderen nichts von seinen Überlegungen zu sagen. Dann legte auch er sich in einen Sessel und dachte nach. EINER MUSS STERBEN Das Schiff, oder vielmehr die traurigen Überreste des Raumers hatten sich seit der Explosion nicht verändert. Die Luken blieben dicht, die Schotten geschlossen. Nur die vier Männer in der Zentrale waren anders geworden. Allmählich hatten sie begriffen, daß nur ein Boot zu ihrer Rettung zur Verfügung stand, wenn auch diese Rettung in weiter Ferne lag. Die Positionen der Sterne auf dem Bildschirm hatten sich in keiner Weise verändert. Aber noch blieb das Boot ihre einzige Hoffnung. Ein Boot, das höchstens drei Personen faßte. Oberst Miller lehnte am Armaturenbrett in der Zentrale und blickte finster vor sich hin. „Das einzige, was uns retten kann, ist militärische Disziplin. Ich bin darauf geschult, und darum werde ich es nicht zulassen, daß wir uns gegenseitig umbringen. Entweder kommen wir alle aus diesem Metallsarg heraus oder keiner." „Mich dürfen Sie ausnehmen", bemerkte Nat sachlich. „Ich bin vor euch dreien so sicher wie nirgendwo. Ich allein kann das Boot bedienen. Das ist meine Lebensversicherung, das seht ihr doch ein." Charles sagte leise: „Ich denke nicht daran, einen Menschen zu töten, nur um fliehen zu können. Unsere Bruderschaft..." Bob stieß ein verächtliches Grunzen aus. „Laß diesen Quatsch. Ich sage euch, daß ich alles daransetzen werde, um nicht der Vierte zu sein." Er schaute sich herausfordernd im Kreise um. „Was starrt ihr mich so an? Ich weiß es, jeder von uns weiß es. Einer ist zuviel auf diesem Schiff."
Nat legte sich bequem in den Sessel zurück und ließ ihn zur Seite schwenken. „Im Augenblick besteht gar kein Grund, sich darüber Gedanken zu machen. Jeder sollte froh sein, daß er die Schwerelosigkeit vertragen kann, sich wohl fühlt und noch am Leben ist." „Ich pfeife auf dieses Leben", schrie Bob unbeherrscht. „Ich möchte festen Boden unter den Füßen spüren. Ich möchte mich wieder einmal richtig volllaufen lassen, ein Mädchen in den Armen halten und leben, wie es mir gefällt. Wenn es so weit kommt, daß wir dieses Schiff verlassen können, wenn wir gezwungen werden, die Auswahl zu treffen, weiß ich, wer nicht mitkommt." Er schaute sie der Reihe nach an, und sein Blick blieb auf Charles hängen. Charles schluckte. „Der da ist schuld an allem. Er hat die Bombe ins Schiff gebracht, dieser Fanatiker. Soll er doch sehen, wo er bleibt." Oberst Miller räusperte sich. „So lange ich auf diesem Schiff bin, werde ich ein solches Verbrechen niemals zulassen, Carper." Bob Carper lachte höhnisch. „Wollen Sie denn der Vierte sein?" „Schluß jetzt", befahl Nat. „Wenn ihr so weitermacht, werdet ihr alle verrückt. Sir, Ihre Schlaftablette." Miller griff willig danach, Bob Carper folgte, doch als Charles nach der kleinen, gelben Kugel griff, ließ Nat sie fallen. Er folgte der davonschwebenden Tablette in grotesken Sprüngen, erreichte sie aber nicht. Miller und Bob hatten die Augen geschlossen. Sie sanken in eine schönere Welt. „Ich habe mit dir zu reden, Charles", sagte Nat. „Ich möchte wissen, warum du es getan hast?" Stockend begann Charles seine Geschichte zu erzählen, und Nat hörte ihm schweigend zu. Als er fertig war, nickte er ein paarmal mit dem Kopf. „So ist das Leben. Kommst du dir auch heute noch so heldenmütig vor?" „Ich schäme mich", bekannte Charles ehrlich. „Ich kenne das. Der Kopf ist voller Ideen und Ideale. Erst wenn alles vorbei ist, beginnt man zu denken." Er zuckte die Schultern. „Ich mag dich ganz gut leiden. Besser jedenfalls als diesen aufgeblasenen Miller und das hirnlose Muskelpaket da drüben, das sich Bob Carper nennt. Komm, ich will dir etwas zeigen."
Er schwebte zum Pilotensitz und schaltete die Sichtschirme ein. „Schau dir diese Sternbilder an. Immer wenn ihr schlaft, sitze ich davor Und denke nach." „Brauchst du denn keinen Schlaf?" fragte Charles. Nat winkte ab. „Ich hole dir diesen einen Stern heran. Paß auf!" Nat drehte an einer Anzahl von Knöpfen, und das Bild auf dem Schirm veränderte sich. Die glänzenden Punkte rasten auf sie zu, liefen über den Bildrand hinaus und ein strahlendes Gebilde wurde immer größer. Es teilte sich, die Sonne wurde weggewischt, bis nur ein runder Ball den Bildschirm ausfüllte. „Die Erde", stammelte Charles. „Das dachte ich auch zuerst. Das Dunkle da scheinen Meere zu sein. Sieh genau hin." „Nein", sagte Charles enttäuscht. „Das ist nicht das Bild, wie wir es kennen." „Eben! Manchmal glaube ich nicht mehr daran, daß wir uns im Raum fortbewegen. Als die Bombe explodierte, hatten wir schon eine sehr hohe Geschwindigkeit erreicht. Die Detonation vervielfachte sie noch. Was geschieht, wenn ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht? Das wissen wir aus Erfahrung. Was geschieht aber, wenn wir Lichtgeschwindigkeit erreicht hätten oder sie überschreiten? Wir sind die ersten Menschen, die das ausprobieren." Charles wußte keine Antwort darauf. „Mich stört, daß dieser Planet, der ganze Sternhaufen, uns überhaupt nicht näher kommt." Zaghaft fragte Charles: „Könnten wir mit dem Boot den Planeten erreichen?" „Es käme auf einen Versuch an." „Warum hast du es dann nicht schon längst getan? Ich meine, wenn wir schliefen." „Einmal saß ich schon in der Kanzel des Bootes. Dann habe ich mich vor mir selber geschämt und bin wieder zurückgekommen. Ich bin kein besonderer Heiliger, aber ich kann es nicht tun. Alle können nicht mitkommen, einer muß zurückbleiben. Ich hätte den beiden anderen ihre Chance gestohlen." Charles verstand Nat sehr gut, und nach all dem, was hinter ihm lag, hätte er nicht anders gehandelt, das wußte er.
Nat schien seine Gedanken zu erraten. „Ich glaube, du verstehst mich. Deshalb habe ich dir das gezeigt, Charles." Charles hatte das Gefühl, das erstemal in seinem Leben einen Freund zu finden. „Danke", sagte er einfach. „Das löst aber nicht unser Problem." „Nein." „Es ist vielleicht unsinnig, was ich mir ausgedacht habe. Du weißt nun, daß es eine kleine Möglichkeit der Rettung gibt, eine winzige Chance nur, vergiß das nicht. Erstens ist mehr als zweifelhaft, ob das Boot diese Entfernung schafft. Und dann finden wir vielleicht einen Planeten, der für uns tödlich wird. Wir Menschen sind sehr empfindlich, Charles, und dort können wir wahrscheinlich nicht existieren. Trotzdem muß etwas getan werden; und darum werde ich euch dreien die Bedienung des Bootes erklären." Charles schaute ihn erstaunt an. „Weißt du, was du damit tust?" „Ja!" Nat musterte den anderen prüfend. „Die Auswahl gilt auch für dich. Bei dir kommt noch dazu, daß du jetzt von diesem Planeten weißt." „Du hast vorhin selbst gesagt, daß du mich nicht für fähig hältst, die anderen im Stich zu lassen." „Das werden wir auch nicht tun. Drei von uns fliegen, einer muß sterben." Er langte unter seine abgewetzte, verblichene Bluse und brachte einen mattschimmernden Gegenstand hervor. „Eine Pistole!" hauchte Charles. „Ganz recht. Die einzige Schußwaffe, die auf dem Schiff war. Ich behalte sie und werde sie benutzen, wenn es sein muß." Charles legte die Hände flach gegen Rundung des Sessels. „Ich habe einmal Schicksal spielen wollen, und es ist mir nicht gut bekommen. Hoffentlich geht dein Plan so aus, wie du es dir vorstellst." „Wir werden es bald wissen." AUSWAHL Sie waren mit großem Eifer bei der Sache. Nat legte Wert darauf, daß jeder der drei seine Erklärungen auch richtig begriffen hatte, bevor er zum nächsten Punkt der Schulung überging. Er ließ sie alle Handgriffe so oft üben, bis sie das Boot im Schlafe
beherrschen konnten. Er zeigte ihnen auch den Mechanismus, der das Katapult betätigte. „Als Letztes die Landung. Ihr dürft nicht glauben, daß ihr einfach die Motoren abstellt und landen könnt. Ihr braucht viel Gefühl dazu, denn ihr kennt den Luftwiderstand nicht, und kein Kontrollturm ist da, der die nötigen Anweisungen gibt. Herr Oberst, wollen Sie sich nun bitte mal in die Maschine setzen und so tun, als wollten Sie starten." Miller schaute ihn von der Seite an und kletterte in den Pilotensitz. Nat hielt die Rechte in seine Tasche versenkt, Er sah, daß sich auf der Stirne des Offiziers dicke Schweißtropfen bildeten. Miller führte alle Bewegungen aus, die nötig gewesen wären, Charles behielt den Hebel im Auge. Miller tippte nur andeutungsweise daran. Als er fertig war und aus der offenen Kanzel kroch, zitterten seine Hände. Charles hatte seine Prüfung schon vorher bestanden. Als letzter kam Bob Carper dran. Jetzt fühlte Charles, wie eine heiße Welle in sein Gesicht schoß. Er wischte seine nassen Hände an der Hose ab. Mit einem ironischen Grinsen wendete Carper sein Gesicht nach oben. „Ich hätte jetzt das Dach zuwerfen und davonfliegen können. Aber das macht Bob Carper nicht. Bob ist euer Kamerad." Sein Blick ruhte auf Nat. „Darauf hast du doch gewartet, nicht? Ich habe dich genau beobachtet Nimm ruhig deine Hand aus der Tasche." Langsam zog Nat die Pistole heraus. „Hab ich mir's doch gedacht", freute sich Carper, „Ich bin zu lange im Dienst gewesen, Nat. Beenden wir das Spiel." Damit kletterte er aus der Maschine heraus. „Was nun?" fragte Oberst Miller. Nat Davis drehte sich schwerfällig um und ließ sich durch die offene Luke gleiten. „Jetzt hat jeder eine faire Chance", sagte er dabei. „Ich wollte dem Schicksal bei der Wahl nicht vorgreifen." Davis stand vor den Kontrollen am Steuerpult des Raumschiffes und spielte mit den Hebeln, Charles lag in seinem Sessel. Er war wachsam und bereit, sofort zu handeln.
Oberst Miller hing vor der Quarzscheibe, die von außen durch eine dicke Panzerplatte verdeckt war, und Bob stieß sich leicht ab, um nach oben zu segeln. „Ich will sehen, ob ich den Lufterneuerer im Boot ausgeschaltet habe", erklärte Bob Carper und verschwand. Miller schwang herum. „Ich komme mit", schrie er. Charles prallte mit Miller zusammen. Sie erreichten fast gemeinsam die Luke. Er sah im Halbdunkel des oberen Raumes das rote Gesicht Bobs auftauchen. In der Hand hielt er einen klobigen Gegenstand. Miller sauste durch die Öffnung, und Charles wurde zur Seite geschleudert. Dann hörte er den Schrei. Bob lag an der Wandung des Bootes und preßte seine Hände gegen die Brust. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor, auf seinen Lippen stand blasiger Schaum. Oberst Miller hatte ein Messer in der Hand. Sein Gesicht war verzerrt „Er wollte mich töten", verteidigte er sich. Nat erschien; in der Hand hielt er die Pistole. „Er hatte etwas Glänzendes in der Hand und ging damit auf mich los", flüsterte Miller. „Das Ding müßte sich finden." „Ich habe es auch gesehen", bestätigte Charles. „Ich sah, daß er etwas in der Hand hielt." Bobs Kopf fiel langsam zur Seite. Er war tot. „Also Bob!" murmelte Nat und schien nicht sehr zufrieden zu sein. „Ich hätte eher an Sie gedacht, Miller." Der Offizier überhörte die Beleidigung und ließ das Messer fallen. „Jetzt wäre also geklärt, wer zurückbleiben muß." „Ganz recht", nickte Charles. „Ich glaube, deine Idee war nicht sehr glücklich, Nat." Davis zerrte die Leiche zur Seite. Unter dem Körper lag ein kurzes Bleirohr. Sie zeigten Miller ihren Fund. Der Oberst schien nicht sehr beeindruckt. Er war viel zu begeistert über seine Rettung, und seine Arroganz kehrte augenblicklich zurück. „Wir werden sofort starten", ordnete er an. „Sie, Davis, übernehmen das Steuer." Nat knurrte, sagte aber nichts.
Sie hatten nicht viel vorzubereiten. Eng eingezwängt lagen sie in dem viel zu kleinen Beiboot. Nat schloß die Magnetverschlüsse um seinen Leib und prüfte, ob er alle Hebel gut erreichen konnte. Neben ihm lag Charles, und hinten ruhte zwischen provisorisch angebrachten Druckpneus der Oberst. „Deine Rechnung ist nicht aufgegangen, Nat", murmelte Charles und drückte sich tiefer in die nachgiebigen Polster. Davis wendete leicht den Kopf zur Seite. „Durch meine Kenntnisse war ich euch überlegen. Ich wollte deshalb gleiche Chancen schaffen. Kannst du das nicht verstehen?" Charles schwieg. Dann sagte er: „Ich habe nachgesehen. Die Lufterneuerungsanlage war wirklich nicht abgeschaltet." „Vielleicht hat Bob die günstige Gelegenheit wahrgenommen", meinte Nat nachdenklich. „Vielleicht. Aber es gibt noch eine andere Auslegung." „Seid ihr bald fertig?" quäkte Miller von hinten, „Fertig, Sir." Nat griff nach dem Auslöseknopf, und die Kanzel schloß sich langsam. Weiche Polster schmiegten sich um die schräg nach oben geneigten Körper der Männer. Feste Klammern preßten sich in den Nacken, und Kopfstützen glitten darüber. Nat fühlte sich unbehaglich, obwohl er schon einige Male mit dem Rettungsboot geflogen war. Er schloß die Augen und drückte auf den Schalter, auf dem „Start" stand. Der Andruck ließ die Männer in ihre Lager sinken und preßte die Körper zusammen. Wie ein Pfeil schoß das kleine Flugboot aus der Raketenspitze. Dann gab es einen lauten Knall, daß sie glaubten, die Trommelfelle müßten platzen. Nat öffnete die Augen zu schmalen Schlitzen. Genau vor seinen Augen hing der Zielschirm. Er spreizte die Finger, erreichte einen Knopf und ließ den Schirm aufflammen. Das Wrack war verschwunden. Vor ihm, in dem Fadenkreuz, erschien das Sternenbild, das er nie im Leben wieder vergessen würde, weil er es endlose Stunden betrachtet hatte. Er schielte auf den Geschwindigkeitsmesser. Wie festgeklebt hing der Zeiger auf Höchstgeschwindigkeit. Das Gerät würde ihm jetzt wenig nützen. Der Sternhaufen kam langsam, aber zusehends näher.
FINGER AM ABZUG Wochen mochten vergangen sein; oder erschien es den Männern nur so, weil sie untätig in ihren Andrucksesseln hängen mußten? Vorsichtig versuchte Nat einige kleine Bremsschüsse. Eine Faust griff nach dem Rettungsboot und wirbelte es um seine eigene Achse. Verzweifelt versuchte Nat die Maschine wieder in seine Gewalt zu bringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen stand das bekannte Bild wieder auf den schmalen Längs- und Querstrichen. Und dann schrie Nat Davis vor Schmerz auf. Er hatte Hunger, nagenden, brennenden Hunger und Durst. Mit zitternden Fingern fischte er nach der Plastikflasche und ließ das klebrige, zähe Naß durch seine Kehle rinnen. Oh, wie gut das tat. Er wußte, daß es den anderen ähnlich ging. Er hatte also richtig vermutet. Wahrscheinlich war ihre Geschwindigkeit unter die des Lichtes gesunken, und ihre Körper arbeiteten jetzt wieder normal. Er wußte nicht, wie recht er mit seiner Annahme hatte. Die Augen begannen zu brennen, erschöpft und müde lehnte er sich zurück. Er konnte gerade noch das automatische Zielgerät einstellen, bevor er in einen tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf verfiel. Nur schwer befreite er sich aus dem zähen Morast des Vergessens, als er erwachte. Sein erster Blick galt dem Bildschirm. Die vielen Punkte hatten sich geklärt, ein Sonnensystem schälte sich heraus, und es war wirklich verblüffend, wie sehr es dem irdischen ähnelte. Bei der großen Entfernung hatte es genügt, die grob angepeilte Richtung einzuhalten. Jetzt kam es darauf an, den Planeten nicht zu verfehlen. Ein schier unmögliches Unterfangen würde es werden, den Kleinraumer ohne zahlreiche Kursänderungen auf die Bahn des Planeten zu bringen, denn das Boot war nur für Berechnungen auf kurze Strecken eingerichtet. Behutsam gab er einen Stoß der Seitendüsen ab. Das Sternbild glitt aus dem Bereich des Empfangsgerätes. Nat spielte mit der Flugmaschine wie ein Künstler auf seinem Instrument. Aber sie kamen näher, und es gelang ihm auch, die
Richtung beizubehalten. Sie passierten ziemlich nahe einen anderen Planeten, und Nat hatte Mühe; von der Gravitation nicht eingefangen zu werden. Die Maschinen des Bootes arbeiteten zuverlässig. Mit vorsichtigen Schüssen hatte er ihre Geschwindigkeit so weit herabgesetzt, daß der Zeiger auf der Skala nun auszuschlagen begann. Der Planet, ihr Wunschplanet, hatte sich zu einem kleinen bunten Ball vergrößert. Er brauchte nun die Teleoptik nicht mehr zu Hilfe zu nehmen. Die Unterhaltung der Männer hatte sich während der langen Zeit auf das Nötigste beschränkt. Einmal hatte Miller laut und anhaltend geschrien, bis er nicht mehr konnte und seine Stimmbänder nur noch ein heiseres Krächzen hervorbrachten. Diese Stunden der Ungewißheit zerrten an ihren Nerven, die ohnehin keine große Belastung mehr aushalten würden. Charles und der Oberst konnten nichts sehen und waren darauf angewiesen, was ihnen Nat von ihrem näher kommenden Ziel berichten wollte. Es schien ihm das Beste, nun nichts mehr davon verlauten zu lassen, wie nahe sie schon waren. Er hatte keine Zeit mehr zu langen Erklärungen. Der Ball nahm jetzt den ganzen Schirm ein. Er war so groß, wie er ihn mit den vorzüglichen Hilfsmitteln auf dem Mutterschiff gesehen hatte. Der Planet drehte sich um seine eigene Achse. Nat sah riesige Wälder und weite Meere vorbeiziehen, undeutlich natürlich, aber ein Irrtum war ausgeschlossen. Allmählich wurde es unerträglich heiß im Boot. Salziger Schweiß lief Nat in die Augen, und er war glücklich darüber. Es bedeutete, daß sie in eine schwache Atmosphäre eindrangen. Jetzt fühlte Nat sich ganz in seinem Element. Das war kein vorsichtiges Tasten mehr, kein Spiel mit dem Zufall. Sich hier richtig zu benehmen, hatte er gelernt. Er verließ die Lufthülle, um erneut in sie einzutauchen. Die Lufterneuerungsanlage spuckte und vermochte kaum, den Sauerstoff genügend rasch zu produzieren und die verbrauchte, stickige Luft wieder aufzusaugen. Aber sie arbeitete zuverlässig.
Langsam drang der Kleinraumer ein und umrundete in weitgeschwungenen Ellipsen den Planeten. Nat erlaubte sich sogar den Luxus, einen geeigneten Landeplatz auszusuchen. Genau konnte er jetzt erkennen, wie die Landschaft unter ihm wirklich aussah. Zackige, hochragende Gebirge wechselten mit undurchdringlichen Urwäldern ab. Mächtige Baumriesen mußten es sein! Nat ließ das Boot noch tiefer hinabfallen und strich nun in konstanter Höhe über das Land. Das dichte Grün der Baumkronen brach ab und gab ein weites, flaches Tal frei. Sein Herzschlag setzte eine Sekunde aus. Dann aber pochte das Blut in rasendem Wirbel gegen die Schläfen. Eben hatte der Raumer ein bebautes Feld überflogen. In seiner Gleichmäßigkeit konnte es nur von denkenden Wesen angelegt worden sein. Erneut drosselte Nat die Geschwindigkeit und schwenkte in einer weiten Schleife zurück. Irgendwo mußten sie landen. Warum nicht hier?! Das Boot glitt nur wenige Meter über den Wald, machte einen Satz und landete auf flachem Boden. Nat schaltete die Motoren aus, und das Vibrieren der Schiffswände erstarb. Fast senkrecht bohrte sich der Kleinraumer in den weichen Lehm. Ihr verzweifeltes Unternehmen war geglückt. „Was ist los?" fragte Miller kläglich. Nat antwortete nicht. Er wußte, daß es eine entscheidende Frage zu beantworten galt. Alle ihre Bemühungen konnten umsonst gewesen sein. Welche Luftzusammensetzung würden sie hier finden? Ihre Körperfunktion war wieder normal, also brauchten sie Sauerstoff, um weiterleben zu können. Wenn sie das Schiff nur verlassen hatten, um nun in dem Boot ein noch engeres Gefängnis zu finden, wäre es besser gewesen, sie hätten den Flug nicht überlebt. Einmal mußten sie die Antwort finden. Kurz entschlossen ließ Nat das Dach zurückschnellen und schloß die Augen. Der Druck, der auf ihn gelastet hatte, ließ allmählich nach. Dann schnappte Nat kläglich nach Luft.
Kühle, würzige Luft drang in seine Lungen; er atmete hastig und war wie betäubt vor Glück. „Wir haben es geschafft", schrie er mit überschnappender Stimme. „Charles, Miller, raus mit euch. Wir leben wieder." Ihre Glieder waren steif und gefühllos geworden. Mühsam schälten sie sich aus ihren Umhüllungen, kletterten wie Gliederpuppen aus der Kanzel und ließen sich auf den Boden fallen. „Boden", stammelte Charles, „richtiger, fester Boden. O Gott, wie danke ich dir!" „Wir haben auch einen Grund dazu", rief Nat fröhlich. „Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe nie richtig an eine Rettung geglaubt. Wenn wir aber länger im Schiff geblieben wären, hätten wir die Nerven verloren." Miller hatte sich als erster wieder einigermaßen gefaßt. „Seid froh, daß ich hier mit euch stehe und nicht Bob", polterte er. „Meine organisatorischen Erfahrungen werden uns eine große Hilfe sein." Nat schaute ihn ernst an. „Betrachten Sie einmal Ihre Uniform." regte er an. „Zerschlissen, unansehnlich, nicht?" Der Offizier runzelte erstaunt die Stirn. „Ihr Glanz ist verblichen. Ihre Rangabzeichen kann man kaum mehr erkennen. Ihr Titel ist auf der Erde zurückgeblieben. Wenn es Ihnen Spaß macht, werde ich ,Sir' zu Ihnen sagen. Das ist aber alles, was ich für Sie tun kann. Hier sind Sie nur ein Mensch. Entscheidend ist lediglich, wie Sie unserer kleinen Gemeinschaft nützen können. Wenn hier etwas angeordnet wird, tut es der, den die beiden anderen dazu ermächtigen. Ich glaube, daß ich mich deutlich genug ausgedrückt habe." Miller öffnete den Mund, um etwas zu sagen, unterließ es aber. Charles betrachtete die beiden schweigend. „Sie sollen wissen", sagte er dann, „daß ich genauso denke wie Nat. Im Übrigen ist Nat mein Freund. Ich sage das nur, um Klarheit zwischen uns dreien zu schaffen." „Was sollen wir also tun?" fragte Miller mit gespielter Unterwürfigkeit. Nat beachtete ihn nicht weiter. „Die Frage ist, ob wir versuchen sollten, die Leute zu finden, die das Feld dort drüben angelegt haben."
Charles und Miller sahen in die Richtung, die Nat andeutete, und ihre Augen wurden groß und rund. „Tatsächlich!" „Einer muß aber bei der Maschine bleiben. Wer?" „Wenn Sie mich dazu verwenden könnten", schlug Miller vor. Nat zog aus der Tasche die kleine Pistole und betrachtete sie nachdenklich. „Das Boot ist unser kostbarstes Gut. Ich lasse Ihnen die Waffe da, Miller. Ich tue es äußerst ungern. Denken Sie an Ihre Verantwortung, schießen Sie nur, wenn es nicht anders geht. Vergessen. Sie nicht, daß wir von dem Leben, daß es hier gibt, nicht die geringste Ahnung haben. Was Sie für ein Tier halten, kann genauso gut ein denkendes Wesen sein." „Ich werde vorsichtig sein", sagte Miller und streckte die Hand verlangend aus. Nat übergab zögernd die Waffe. Dann kletterte er zur Kanzel und kam mit einem schmalen Dolch zurück. „Für dich, Charles." Charles steckte die Waffe in den Hosenbund. „Gehen wir also", meinte Nat schließlich, und die beiden Männer machten sich auf den Weg. Sie sahen nichts, was ihren Argwohn erweckt hätte, und kamen schließlich zu dem bebauten Feld. „Kaum zu glauben!" Charles zeigte auf die dicken fleischigen Stengel. „Mais. Schlecht bebaut, nur kleine Frucht, aber unverkennbar Mais." Er griff nach den Blättern und zog sie zur Seite. Dann brach er den Kolben ab und schaute ihn prüfend an. „Ich werde es versuchen", entschied er und begann zu kauen. „Schmeckt wunderbar", bekannte er zufrieden und knabberte ein größeres Stück davon ab. „Unser Nahrungsproblem löst sich von selbst. Das sind wirklich irdische Bedingungen, und ich bin fast sicher, daß wir noch andere eßbare Sachen finden." „Wäre nicht schlecht", lachte Nat und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wie wohl diese Wesen aussehen, die hier leben?" „Menschen vielleicht", sagte Charles und biß sich auf die Zunge, als es ausgesprochen war. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. „Ausgeschlossen. Ganz ausgeschlossen. Der Zufall wäre zu groß."
Langsam gingen sie am Rand des Feldes entlang. Über ihnen wölbte sich ein blauer, wolkenloser Himmel. Warme Sonnenstrahlen drangen durch die Kombinationen der Männer und brachten sie zum Schwitzen. Nat zog die Bluse über den Kopf und knöpfte das Hemd weit auf. Er band die Ärmel der Bluse zusammen und hängte sie sich über den Hals. Vor den beiden Wanderern erhob sich ein flacher Hügel, spärlich mit breitblättrigen Büschen bewachsen. Als sie den höchsten Punkt erreicht hatten, schauten sie sich um. „Ein schönes Land", frohlockte Charles erfreut. Nat schaute angestrengt zu der nahen Baumgruppe. Einige Schritte davor stand ein Mensch und blickte zu ihnen herauf. Er war völlig unbekleidet. Seine bronzefarbene Haut glänzte in der Sonne. Sein Haar schimmerte bläulich schwarz, und in der Hand trug er einen gefährlich aussehenden Speer. Er drehte sich um und winkte. Noch mehr Gestalten traten aus ihrem Versteck, und die ganze Gruppe setzte sich auf die Raumfahrer zu in Bewegung. Charles umklammerte den Griff seines Dolches. Nat schaute zurück zum Landeplatz, wo das Boot noch deutlich zu sehen war. Miller stand davor. Ganz in seiner Nähe erkannten sie eine weitere Gruppe von Eingeborenen, die eifrig miteinander diskutierten, Sie schienen zu einer Einigung gekommen zu sein, denn der Größte unter ihnen schwenkte seinen Spieß über den Kopf und kam auf Miller zu. Nat umklammerte schmerzhaft den Oberarm seines Kameraden. Bevor er noch etwas sagen konnte, warf der Nackte die Arme hoch, ließ den Speer fallen und kippte nach vorn um. Der peitschende Knall des Schusses erreichte ihr Ohr. „Dieser Narr!" schrie Nat und stürmte den Hügel hinab; Charles folgte ihm hastig. Die Gruppe der Eingeborenen beim Boot stand einen Augenblick wie erstarrt und stürmte dann auf Miller zu. Der Oberst hatte sich an die schützende Bordwand zurückgezogen, gab noch zwei Schüsse ab und lief dann dem nahen Wald zu. „Es hat keinen Zweck", keuchte Nat. „Er hat die Waffe, und wir können ihm nicht helfen. Wir müssen zusehen, daß wir am Leben bleiben."
Sie rannten auf das Maisfeld zu, brachen durch die dichtstehenden Stengel und ließen sich schwer atmend zu Boden fallen. Sie preßten ihre schweißnassen Gesichter gegen die warme Erde, um sich nicht durch ihr lautes Keuchen zu verraten. „Wenn ich ihm nur nicht die Pistole gegeben hätte", schimpfte Nat. Charles wollte Miller in Schutz nehmen. „Die Kerle sahen ziemlich gefährlich aus. Es wird ihm nichts anderes übriggeblieben sein." „Jedenfalls ist es nun passiert, und wir hocken hier wie die Spatzen auf dem Leim." Jeder hing seinen Gedanken nach und wartete darauf, daß etwas geschehen möge. Die Sonne war hinter den Baumkronen verschwunden und hatte sich in einen blutroten Ball verwandelt, der immer tiefer sank und die Welt in ihren Schein tauchte. Dann wurde es schnell dunkel. Am Himmel stand die schmale Sichel des Mondes. Nat betrachtete ihn lange, verträumt. Dann fuhr er auf. „Mann, Charles, das ist wahrhaftig unser Mond. Wenn es nicht so verrückt klingen würde, könnte ich schwören, auf der Erde zu sein." Charles lachte. „Dann muß sie sich aber gewaltig verändert haben." Er wurde nachdenklich, „Das wäre die Lösung. Als unsere Geschwindigkeit zu groß wurde, blieben wir einfach stehen, oder was weiß ich. Vielleicht wurden wir auch zurückgeworfen. Je länger ich darüber nachdenke, um so wahrscheinlicher wird das alles." Er ereiferte sich. „Es kann auch sein, daß die Erde durch einen Krieg zerstört wurde und die Menschen nun wieder von vorn beginnen müssen. Sicher, so wird es sein. Wir waren also nicht Monate, sondern Jahrhunderte unterwegs." Nat schnaufte. „Was wissen wir über den Kosmos und seine Kräfte. Genausogut können wir auch in ein früheres Zeitalter geschleudert worden sein." „Das ist unlogisch. Oder werden wir in einigen tausend Jahren nochmals geboren?" Charles schüttelte energisch den Kopf. „Warum nicht? Ich habe einmal etwas über Zeitreise gelesen..."
„Glaube ich nicht! Eine solche Zeitverschiebung könnte die ganze Zukunft über den Haufen werfen. Wir kommen aus dem Jahre 1990 - daran ist nicht zu rütteln. Und hast du etwa in den Geschichtsbüchern etwas über Nat Davis, Charles Brown oder einen Oberst Miller gelesen? Ich meine, man müßte das Boot ausgegraben haben oder ein Werkzeug, das von uns stammt, oder etwas Ähnliches. Nein", entschied Charles, „Tatsachen lassen sich nicht ändern." Nat nahm eine Handvoll Erde und zerbröselte sie langsam zwischen den Fingern. „Du überschätzt unsere Wichtigkeit. 1990 wird wieder kommen, wir werden unseren unfreiwilligen Start vornehmen, und..." Charles schaute ihn entgeistert an. „Du glaubst..." „Ganz recht. Wir werden in dem Wrack leben, Bob wird getötet, und wir kehren zur Erde zurück. Immer wieder, Charles. Wie schon unzählige Male vorher, wahrscheinlich. Du hast es nur vergessen." Charles stierte vor sich hin. „Grauenvoll!" Seine Augen bekamen einen irren Glanz. Langsam zog er das Messer aus dem Hosenbund und schaute gebannt auf die schimmernde Klinge. „Wenn ich dieses Messer in meine Brust stoße", murmelte er vor sich hin, „bin ich tot. Einwandfrei. Ich will sehen, ob ich dann..." Nat warf den Oberkörper zurück und preßte die Rechte um die Faust des Freundes. Charles wehrte sich verzweifelt. Verbissen und stumm kämpften die beiden Männer miteinander. Sie wälzten sich durch die niederbrechenden Halme, ineinander verkrallt, bis Nat seine Chance bekam. Er stieß Charles das Knie in den Leib, daß er laut stöhnend zur Seite fiel, und schlug mit der Handkante gegen seine Schläfe. Zitternd nahm Nat das Messer und schob es in seinen Gürtel. Dann warf er sich zu Boden. Er lag lang ausgestreckt, den Kopf auf dem gebeugten Arm und versuchte, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Ein nackter Fuß trat ihm in die Rippen. Er warf sich mit einem Ruck herum und starrte in die drohenden Gechebter über sich, in die gnadenlosen Augen, die ihn anglotzten. Der Wilde, der sich über ihn beugte, gab einige knurrende Laute von sich und senkte langsam die Spitze seines Speeres auf Nats Hals. Dann trat er zur Seite und winkte herrisch.
Nat hatte keine andere Wahl. Er lud sich den noch immer bewußtlosen Charles auf die Schultern und ging vor den Männern her. Sie dirigierten ihn mit ihren Speeren, und als er glaubte, nun wirklich nicht mehr weiter zu können, sah er zwischen Bäumen versteckt eine Anzahl primitiver Hütten. Sie trieben ihn in eine hinein, und er fiel sofort stöhnend zu Boden, Er merkte, daß Charles durch den Aufprall langsam wieder zu sich kam. Er wälzte sich zur Seite und stützte sich auf die Hände. Der Kopf des Bewußtlosen rollte hin und her, durch seinen Körper lief ein Zucken, seine Hände fuhren in die Höhe und klammerten sich an Nat fest. Allmählich kam auch die Erinnerung zurück. „Oh, Nat. Was ist nun wieder geschehen?" Er ließ die Arme zurückfallen. „Reg dich nicht auf", sagte Nat behutsam. „Du hast die Nerven verloren. Jetzt bist du wieder in Ordnung." Charles versuchte, die Dunkelheit in der Hütte zu durchdringen. Sein Blick blieb an dem niedrigen Türausschnitt hängen, durch den schwach der Schein eines flackernden Feuers zu sehen war. Nat kam den Fragen des Freundes zuvor und erzählte ihm alles, was sich zugetragen hatte. „Du kannst nicht aus diesem Leben weglaufen", meinte er schließlich. „Es würde auch nichts ändern. Vielleicht haben wir uns nur etwas in den Kopf gesetzt - bestimmt ist es so. Versuche, nicht mehr daran zu denken. Es ist alles so unverständlich Und unwirklich, daß man den Verstand darüber verlieren könnte." Vor der Hütte wurden Stimmen laut. „Ihr dreckigen Kerle! Wollt ihr mich..." Ein Schlag beendet den Wortschwall, und eine dunkle Gestalt flog zu ihnen herein. „Miller", kommentierte Nat düster. Die Gestalt stieß unverständliche Laute aus und wurde dann plötzlich still. „Heh", sagte eine leise Stimme. „Wer ist da?" „Na, Oberst?" fragte Nat ironisch. „Auch wieder dabei?" Miller kam zu den beiden herüber und ließ sich auf den festgestampften Boden fallen. „Da sind wir ja alle wieder versammelt", stellte er mutlos fest. „Sie haben mich gejagt wie einen Hasen. Als ich den letzten Schuß draußen hatte, sind sie über mich hergefallen."
Er befühlte vorsichtig seinen Kopf und wimmerte. „Warum haben Sie geschossen?" fragte Nat scharf. Miller hob die Schultern und ließ sie fallen. „Es blieb mir keine andere Wahl. Als dieser Wilde auf mich zugerannt kam, sah ich keinen anderen Ausweg. Ihr hättet auch geschossen. Bestimmt!" „Laß doch gut sein", bat Charles resigniert. „Überlegt euch lieber, was sie mit uns vorhaben." „Das erfährst du früh genug", erwiderte Nat, drehte sich zur Seite und schlief. „Die Nerven möchte ich haben", stöhnte Miller. In unruhigem Halbschlaf warteten sie, bis der Morgen kam. Einmal kroch Miller zum Ausgang hin. Er zog seinen Kopf schnell wieder zurück, als der Wächter zu brüllen anfing. Niemand kümmerte sich um die Gefangenen, bis auf eine alte Frau, die ständig vor sich hin kicherte. Sie brachte ihnen einige Fetzen rohes Fleisch. Sie rührten nichts an und hungerten lieber. Es war schon lange wieder Nacht, als, man sie abholte. Ein Haufen grölender Männer nahm die drei in die Mitte und führte sie tiefer in den Wald bis zu einer kleinen Lichtung. Schlagartig verstummte das Geschrei. Die plötzliche Stille war jedoch noch furchterregender. Einige hohe Feuer brannten um einen großen, grob behauenen Stein. Schädel, Knochen und allerlei Geräte lagen darauf. Die drei Männer schauten angewidert weg. Ein leiser Singsang klang auf. Charles betrachtete den dichten Ring der nackten Wilden, die vom Flackern des Feuers gespenstisch umwoben rhythmisch hin und her schwankten. Sie hatten die Beine untergeschlagen, ihre bronzenen Körper schimmerten, wenn das Licht darauf fiel. Im Hintergrund stand kaum sichtbar eine weitere Gruppe mit langen, bis über die Brüste herabhängenden Haaren. Auch die Frauen nahmen also an dem seltsamen Fest teil. Charles dachte an Flucht. Aber es war unmöglich, den dichten Ring zu durchbrechen. Wenn sie Waffen gehabt hätten. „Wo hast du die Pistole?" murmelte er zwischen den Zähnen. Miller drehte sich etwas zur Seite. Sein Augenlid zuckte. „Ich habe sie in der Tasche, aber es ist doch keine Munition mehr drinnen. Er zögerte Und fügte dann hinzu: „Immer Haltung bewahren, junger Freund. ,Sir' nicht vergessen." Charles sah Nat kopfschüttelnd an. Ein hochgewachsener Mann stieß plötzlich
einen Schrei aus, warf die Hand mit dem Speer hoch und erhob sich. Er umschritt die Gefangenen mit kleinen, stampfenden Schritten. Dann trat er zu dem Stein und warf sich flach auf den Boden. Das Singen hörte auf. Leise rauschten die Bäume im Nachtwind, ein Vogel krächzte heiser und strich über die Lichtung. Der Große richtete sich mit einem Ruck auf und ging wieder auf die drei zu. Er blieb vor Miller stehen und sagte etwas in seiner harten, konsonantenreichen Sprache. Einige Männer sprangen von der Gruppe auf und umringten die Gefangenen. Sie trieben Nat mit ihren Speeren zur Seite. Charles fühlte, wie ihm etwas in die Hand gedrückt würde. Dann zogen sich die Männer zurück. Er stand Miller gegenüber. Der hob die Hand und zeigte Charles, was er darinnen hielt. Es war ein klobiger, nach vorn zugespitzter Feuerstein. „Was soll das nun wieder bedeuten?" „Können Sie das nicht erraten, Sir?" Er legte Betonung in die Anrede. „Ein kleiner Opfergang, will mir scheinen. Wir beide, Sir, sollen die Opfertiere sein." „Reden Sie keinen Unsinn", sagte Miller scharf. Aus den Reihen der Eingeborenen kamen kurze, laute Rufe. Miller drehte sich verzweifelt um. Einige traten mit ihren Spießen vor und begannen, auf die beiden einzustechen. „Wir sollen miteinander kämpfen", keuchte Charles; salziger Schweiß lief ihm über die Stirn und in die Augen. Hilfesuchend sah er sich nach Nat um. Die Rufe wurden immer lauter und anfeuernder. Die Stiche mit den primitiven Lanzen brannten in seinem Fleisch. „Los, Miller", rief Charles, „wollen wir so tun als ob." Er ging auf den Offizier zu, und die Wilden zogen sich zufrieden zurück. Die Gefangenen umkreisten sich ein paarmal. „Das ist doch Wahnsinn", stöhnte Miller. „Ich habe keine Ahnung, wie wir uns da herausziehen sollen." Immer noch umkreisten sich die beiden. „Wir müssen zusehen, daß wir aus der Mitte wegkommen", raunte Charles nervös. „Los, Miller, kommen Sie mit. Lieber einen Ausbruch wagen, als sich gegenseitig umbringen."
Miller nickte mehrmals mit dem Kopf und ging dann langsam auf Charles zu. Zu spät sah Charles, wie es in den Augen des Offiziers aufblitzte. Er sah die Faust mit dem Stein kommen und konnte nicht mehr ausweichen. Sein Bewußtsein zerbarst in tausend kleine Teile. DIE ZUKUNFT ÄNDERN? Charles erwachte, als ihn jemand am Bein zog. Mühsam versuchte er, den Arm zu heben und den schwarzen Schleier vor seinen Augen wegzuwischen. Ganz langsam tauchten schemenhaft Konturen vor ihm auf, und als er den großen Stein mit seiner schaurigen Last erkannte, kehrte er langsam in die Wirklichkeit zurück. Dieser Miller hatte ihn niedergeschlagen, um sein Leben zu retten! Charles preßte die Zähne zusammen, daß die Kinnladen schmerzten. Ich hätte es wissen müssen, dachte er. Bob hätte vielleicht mich umgebracht, weil er mich als die Ursache der ganzen Misere haßte, weil er mich als Attentäter betrachtete. Aber vor dem Offizier hatte er Respekt und hätte ihn niemals zu töten versucht, wie Miller behauptete. Wieder fühlte er das Zerren an seiner Hose. Er wendete den Kopf, und ein dunkler Schatten floh in den Wald. Ein heiseres Bellen erklang, glühende Augenpaare starrten ihn an. Sonst lag die Lichtung leer und verlassen. Die Reste der Feuer qualmten, und manchmal flackerte eines auf, um gleich wieder zu verlöschen. Er zog sich an dem Stein in die Höhe und stützte sich schwer dagegen, als er es geschafft hatte. Dann setzte er sich taumelnd in Bewegung. Nat, dachte er. was ist aus dir geworden? Ob sie ihn auch umgebracht hatten? Wahrscheinlich hoben sie ihn für ihre nächste Feier auf, denn daß es etwas mit Religion zu tun hatte, war ihm jetzt klar. Er erreichte den Waldrand und kam auf einen schmalen, ausgetretenen Pfad. Die Schatten folgten ihm zögernd.
Oft mußte er sich an einem Stamm festhalten. Tapfer biß er die Zähne zusammen und stolperte weiter. Er roch das Dorf sofort, hauptsächlich den Rauch, der von den glimmenden Feuern kam. In seinen Eingeweiden fraß der Hunger. Seine Kehle war ausgetrocknet, und die Lippen aufgesprungen. Wo ein Dorf ist, muß auch Wasser sein, überlegte er und machte sich auf die Suche. Sorgfältig hielt er nach Wachen Ausschau, konnte aber keine entdecken. Er hörte das Murmeln des Baches, rannte mit letzter Kraft darauf zu und ließ sich mit dem Oberkörper in das köstliche Naß fallen. Gierig trank er. Dann dachte er daran, daß es vielleicht gefährlich sein könnte, und benetzte sein Gesicht und wusch sich ausgiebig. An seinem Hinterkopf hatte er eine große Beule. Sorgfältig kühlte er sie und verband die Wunde, die wieder zu bluten begann, mit einem Fetzen seines Hemdes. Er fühlte sich frisch und wie neu geboren, wenn er die Nadeln nicht beachtete, die in sein Gehirn stachen. Jetzt muß ich mir etwas zu essen besorgen, dachte er. In das Dorf zu gehen und dort etwas zu stehlen, wagte er nicht. Er erinnerte sich des Maisfeldes und strebte zum Rand des Waldes, der sich hier lichtete. Die Nacht war klar, und Charles konnte ziemlich weit sehen. Er fand auch den Hügel wieder, auf dem er gestern mit Nat gestanden hatte, noch voller Erwartungen und glücklich, jetzt ihrem Raumabenteuer entronnen zu sein. Das Maisfeld umging er vorsichtshalber, denn ihm fiel ein, daß im Boot Nährkonzentrate lagen. Überhaupt das Boot! Er mußte zuerst danach sehen. Es erschien ihm wie ein Stück Heimat, als er endlich vor dem Metallvogel stand. Es war weder bewacht noch sonst gesichert, aber auch nicht beschädigt. Die Eingeborenen hatten offensichtlich Respekt vor dem blitzenden fremden Ding. Er kletterte in die noch offene Kanzel und suchte nach einer Plastikflasche. Leichter Reif lag über allem. Hinter den Baumgipfeln, begann der Morgen zu dämmern. Nebelfetzen wallten durch die Niederung. Ein Plan entstand in seinem Hirn, und er beschloß, tagsüber in der Geborgenheit der Kanzel zu bleiben.
Er hatte nicht viel zu tun. Was er brauchen konnte, steckte er zu sich, vergaß auch die Schachtel mit den Patronen nicht, und legte sich dann in die Andruckpolster. Einmal dachte er daran, aufzusteigen und zum Dorf zu fliegen. Er war ganz sicher, daß alle davonlaufen würden. In dem niedrigen Buschwerk vor der Baumgruppe mußte er aber damit rechnen, daß er zerschellen würde. Die Sonne brannte jetzt schon heiß auf das Glasdach. Nach einigem Zögern schaltete er den Temperaturregler ein. Dann war er eingeschlafen. Charles erwachte, als es schon völlig dunkel war. Er erschrak, auf ihn wartete noch eine anstrengende Arbeit. Vorsichtig kletterte er aus der Maschine und lief auf den Hügel zu. Wie in der Nacht zuvor, bemerkte er nichts Verdächtiges und erreichte bald die Nähe des Dorfes. Die Hütten lagen still und ausgestorben. Irgendwo schrie ein Kind. Er lief zwischen den Behausungen hindurch. Niemand hielt ihn auf. Den schmalen Waldweg fand er sofort. Er hetzte vorwärts, lauernd, stets bereit zur Gegenwehr. Erst als die Feuer am Opferstein durch die Bäume schimmerten, blieb er keuchend stehen. Jede Deckung ausnutzend, schlich er zu der Lichtung. Die Zeit schien um einen Tag zurückgedreht. Wie gestern saß der dichte Kreis der Wilden da, in der Mitte zwischen den lodernden Feuern standen sich zwei Gestalten gegenüber. - Miller und Nat! „Jetzt ist es aus mit dir", sagte Nat, der leicht geduckt um den wachsamen Miller herumging, und Charles verstand jedes Wort. In der Hand blitzte sein Messer. Der Offizier hielt einen Stein fest umklammert. „Sie sind wahnsinnig", keuchte Miller. „Sie müssen das doch einsehen. Ich hatte keine andere Wahl." „Und bei Bob? Hatten Sie da eine Wahl? Oder spielten Sie uns die Notwehr nur vor?" Miller schwitzte. „Ich habe Ihnen doch gesagt, es war ein Mordversuch. Er kam auf mich zu und hielt..." Charles konnte nichts mehr verstehen. Die Rufe der Wilden wurden lauter und gellender.
Einige Sekunden lang war er versucht, Miller durch Nat sterben zu lassen. Nat war ihm überlegen. Nat war stark und hatte ein Messer. Dann griff er in die Tasche, schrie so laut er konnte, um den Lärm zu übertönen: „Hinlegen, ihr beiden!" und warf eine Handvoll Patronen in das nächste Feuer. Er sah noch, wie Nat zu Boden ging und der Oberst über ihn fiel. Dann stoben pfeifend die Geschosse über die Lichtung, sangen zwischen den Leibern der Männer und Frauen, bis die Panik seinen zweiten Wurf übertönte. Sie rannten, brüllten, schrien, heulten - vom Rot der Flammen zuckend beleuchtete Gestalten liefen um ihr Leben. Charles sprang in dem Wirbel zu den beiden hin. Er beugte sich zu ihnen hinab. „Seid ihr verletzt?" fragte er besorgt. Nat wälzte den Oberst ab und kam auf die Füße. „Weg hier!" Sie liefen durch die schreienden Gruppen hindurch, dicht auf folgte ihnen Miller. Allmählich ebbte der Lärm ab. Sie waren in Sicherheit. „Das war Rettung in allerletzter Sekunde", schnaufte Miller und fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Charles sah ihn kalt an. „Die Pistole!" befahl er. Miller holte sie heraus und gab sie ihm. „Es tut mir leid, Charles", sagte er dabei. „Es war ein Kampf ums Leben, gestern." „Komm, Charles", sagte Nat. Miller lief den beiden nach. „Ihr werdet mich doch nicht im Stich lassen. So ganz allein unter diesen Wilden." Charles blieb stehen und holte einige Patronen aus der Tasche. Er ließ das Magazin der Pistole herausrutschen und stopfte die Patronen hinein. Dann setzte er es mit einem Ruck in den Kolben, lud durch und ließ den Oberst in die Mündung sehen. „Hau ab!" sagte er verächtlich. Miller schaute entgeistert von einem zum anderen, preßte die Hände gegen die Ohren und rannte davon. „Das war nicht schön", meinte Nat und packte Charles am Arm, „aber eine gute Lebensversicherung." Sie konnten nicht den Weg zurückgehen und suchten daher auf einem Umweg zum Boot zurückzukommen. Als es bereits hell war, hatten sie den Ausgang immer noch nicht gefunden.
Charles gab Nat aus der Plastikflasche zu trinken. „Ich werde nie mehr über unsere Zivilisation meckern", stöhnte er zufrieden, stülpte den Verschluß über die Öffnung und steckte die Flasche wieder ein. Charles grinste. „Vergiß nicht, daß sie unsere Urahnen sind, diese Wilden." Er winkte beruhigend ab. „Keine Angst! Ich habe mich damit abgefunden. Du darfst nur nicht darüber nachdenken." Der Wald wurde immer dichter. Mühsam mußten die beiden Freunde sich einen Weg durch das verschlungene, verwachsene Unterholz bahnen. Die Zeit floß träge dahin. Endlos schien der Urwald zu sein. Manchmal fanden sie ein paar Beeren und machten sich gierig darüber her. Sie hatten längst jede Richtung verloren. Sie wurden nur noch durch den Motor angetrieben der Selbsterhaltung heißt. „Ich kann nicht mehr", klagte Charles verzweifelt. Er ließ sich einfach fallen. Seine Kleidung bestand nur noch aus Fetzen, die harten Farne hatten seine Haut aufgerissen, die Füße waren wund und verschwollen. Nat setzte sich neben ihn. „Schau, mir geht es doch keine Spur besser. Und doch gebe ich nicht auf." „Für was denn?" klagte Charles. „Wenn du dieses Hindernis aus dem Weg geräumt hast, türmt sich ein neues vor dir auf. Ich bin einfach müde, das ist alles. Seit wir uns das erste Mal gesehen haben, besteht unser Leben nur noch aus Kampf und Enttäuschung. Wir taumeln von einer Katastrophe in die andere. Laß mich hier liegen, und gehe allein weiter, wenn du magst. Ich bin so müde, daß ich sterben möchte." Nat brach einen Zweig ab und zog die Haut des Astes in langen Streifen ab. Dann warf er ihn fort. „So lange du noch deine Füße hast, die dich tragen, und zwei Hände, die zupacken können, darfst du dein Leben nicht wegwerfen. Es ist zwar dein Leben, zugegeben, aber es wurde dir nicht geschenkt, damit du es selber wegwirfst. Ich werde dir..." Hart ergriff er den Arm des anderen. „Beweg' dich nicht", zischte er. Charles war hell wach. Mit angespannten Sinnen lauerte er auf das Geräusch, das anders war als das Gemurmel des Dschungels, das sie bisher begleitet hatte.
Da, jetzt schon wieder! Charles griff mit der Rechten in die Tasche und holte die Pistole hervor. „Nicht", flüsterte Nat. Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, bewegte sich etwas. Ein Kopf mit einem verzerrten Gesicht und erschrockenen Augen kam zum Vorschein, und dann stand der Mann vor ihnen. Er näherte sich vorsichtig, blieb wieder stehen und hob den Speer über den Kopf. Charles ließ den Zeigefinger in den Bügel gleiten und berührte den Abzug. Noch hatte er sich in der Gewalt. Der Wilde wirbelte die schwere, ungefüge Waffe über den Kopf und legte die Steinspitze gegen die Stirn. Charles atmete auf. Dann hob er die Pistole und ahmte die Bewegung des anderen nach. Er hoffte, daß der Krieger ihn verstand. Der nackte Mann sagte etwas in seiner Sprache, die ihnen nur zu gut in Erinnerung war, und winkte mit dem freien Arm. Andere Gestalten kamen heran. Sie mußten ihnen schon lange gefolgt sein, ohne daß Charles und Nat eine Ahnung davon hatten. Die Frage war nur, ob diese Leute zum selben Stamm gehörten. Charles bezweifelte es, denn dann wäre die Begrüßung anders ausgefallen. „Alter Ziegenbock", sagte Nat freundlich und erhob sich würdevoll. „Was du auch von uns willst, du bist dem Tod noch nie so nahe gewesen." Das bartlose Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Grinsen. Auch Charles war aufgestanden und wartete gespannt darauf, was die Wilden nun unternehmen würden. Nat ging auf den Anführer zu und holte seine Namensmarke aus dem Hemdausschnitt hervor. Er zog die dünne Kette über seinen Hals und ließ sie zwischen den Fingern baumeln. Eine zögernde Hand griff danach, und die anderen drängten sich um dieses Wunder. „Wie im Film", kommentierte Charles. „Forscher spielt Zauberer. Nur viel echter." Nat beachtete ihn nicht. Er streckte vorsichtig die Hand aus und griff nach dem Speer. Der andere nickte freundlich und ließ die Waffe in seine Hand gleiten. Nats Daumen glitten prüfend über die Feuersteinspitze.
„Primitiv aber praktisch." Er nahm das Kettchen mit dem Anhängsel daran wieder in Empfang und gab den Speer zurück. Das Tauschgeschäft schien den Eingeborenen nicht sehr zu befriedigen. Sie wurden wieder einmal in die Mitte genommen, und dann fanden sie sich auf einem ausgetretenen Pfad wieder, den sie bisher übersehen hatten. Das Dorf war viel kleiner als das erste. Große Stücke rohen Fleisches wurden gebracht. Nat schauderte. „Ich kann mich an ihre Tischsitten nicht gewöhnen." Er blickte sich suchend um, stand auf und ging zu einem der Feuer. „Sie scheinen sie nie ausgehen zu lassen." Er suchte ein passendes Stück Holz, spießte das Fleisch daran auf und hielt es über die Flamme. Sämtliche Dorfbewohner schauten dabei zu. Allmählich begann es angenehm zu duften. „Mein Magen zieht sich zusammen", frohlockte Nat und betrachtete sein Werk wohlgefällig. Er kauerte sich auf den Boden, zog sein Messer, schnitt sich ein Stück ab und schob es in den Mund. „He, Charles, hast du keinen Appetit?" „Ich kann's kaum mehr erwarten." So begann ihr Aufenthalt im Dorf. Sie waren zwar ungeladene Gäste, aber sie wurden gut behandelt. Niemand hatte etwas dagegen, wenn sie in die engen Behausungen krochen und alles genauestens untersuchten, Sie mußten den Wilden wie Wesen aus einer anderen Welt erscheinen; genaugenommen waren sie auch nichts anderes. Sie ließen sich lange Bärte stehen, und das wurde der Grund für immer neue Bewunderungen. Die Sprache der Eingeborenen war leicht zu erlernen. Sie kannten keine Grammatik und beschränkten sich auf die wesentlichen Bezeichnungen. Nat und Charles waren kleine Götter und wurden entsprechend verehrt. Eine Zeitlang gefiel es den beiden, so zu leben. Dann begann es langweilig zu werden. Nat räkelte sich eines Abends und verschränkte die Arme im Nacken.
„Wieder ein Tag um", bemerkte er lakonisch. „Es wird Zeit, daß wir an unsere Zukunft denken." Charles wälzte sich auf die Seite. „Sie sind alle so freundlich und gutmütig. Ich halte es noch eine ganze Weile aus." Nat schüttelte energisch den Kopf. „Wenn wir schon hier bleiben müssen - und was sollten wir anders tun -, könnten wir ihnen ruhig etwas Kultur beibringen." „Wenn du meinst", zweifelte Charles. „Oh, sie werden uns sehr dankbar dafür sein." Charles begann Pläne zu schmieden, aber Nat war bereits eingeschlafen. Am nächsten Morgen begannen die beiden damit, die nähere Umgebung des Dorfes zu erkunden. Der Häuptling des Dorfes sie hatten ihn Earl getauft, weil er so viel Wert auf den Respekt seiner Stammesgenossen legte - begleitete sie. „Wir müssen sie zunächst dazu bringen", begann Nat, „Kleider zu tragen und feste Häuser zu bauen." Charles schaute ihn entgeistert an. „Das ist nicht schwer", beruhigte Nat den Freund. „Wenn wir wissen, welche Rohstoffe zur Verfügung stehen, können wir schon allerhand erreichen. Sie haben den Vorteil, Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts als Lehrmeister zu bekommen." „Sicher wäre das eine nützliche Aufgabe und auch eine Ablenkung für uns." Charles betrachtete nachdenklich den vor ihnen gehenden Häuptling. „Stell dir mal vor, er würde - vorausgesetzt wir finden wirklich die nötigen Rohstoffe dazu - jetzt eine Kombination oder etwas Ähnliches tragen. In der Hand hätte er ein Gewehr oder mindestens eine Waffe aus Eisen, Ich kann mir nicht helfen, ich glaube nicht, daß es ihn glücklicher machen würde." Nat blieb stehen. „Er könnte uns sicher helfen, daß wir unser Flugboot wiederfinden. Dort haben wir Instrumente zur Auffindung aller möglichen Bodenschätze." Charles betrachtete nachdenklich die nackte Gestalt des Wilden. Er schaute auf und entdeckte in Nats Augen einen lauernden Ausdruck. Er wurde hellwach. „Du hast etwas anderes vor, Nat, etwas ganz anderes. Heraus mit der Sprache! Was willst du wirklich tun?" Nat scharrte verlegen mit dem Fuß in den Blättern, die als dicke Schicht über dem Boden lagen.
„Ich habe wirklich einen Plan", gab er zu. „Erinnere dich an damals in dem Maisfeld. Denkst du noch daran, wie du beinahe den Verstand verloren hast? Ich meine, daß wir immer wieder unser Leben..." „Hör doch auf damit, Nat." „Nein", schrie er, „ich höre nicht auf. Ich habe noch nie an etwas anderes seitdem gedacht. Möchtest du immer wieder geboren werden, immer wieder...?" „Du hast selbst gesagt, ich soll das vergessen", erwiderte Charles müde. „Ja, damals", triumphierte Nat. „Jetzt weiß ich, wie wir dem Dilemma entrinnen können. Paß auf!" Er hockte sich auf die Fersen und schaute seinen Freund ernst an. „Wenn es uns gelingt, eine Kultur aufzubauen, eine gewaltige Kultur, die so groß ist, daß sie nicht mehr ausgelöscht und vergessen werden kann, erreichen wir einmal den Punkt, in der sie sich mit unserer wirklichen Vergangenheit überschneidet. Diese Menschen und wir leben vielleicht einige Tausend Jahre vor Christi Geburt. Wir haben eine vage Erinnerung an diese Zeit. Die Ausgrabungen geben von einem langsamen Ansteigen der Entwicklung genügend Anhaltspunkte. Selbst das sagenhafte Atlantis dürfte eine Kinderei sein gegen alles, was wir mit unseren Kenntnissen erreichen könnten. Was geschieht also, wenn wir der festgefügten Ordnung ein Schnippchen schlagen?" Allmählich begann Charles zu begreifen. Zögernd sagte er: „Die Zukunft würde in andere Bahnen gelenkt." „Eben", nickte Nat befriedigt, Charles schüttelte betrübt den Kopf. „Deine Logik hat einen Haken, mein Bester. Daß wir geboren wurden und all das, was dann folgte bis heute, ist eine Tatsache. Vielleicht könntest du eine Zivilisation aufbauen, zugegeben. In dem Augenblick aber, wo sie die Zukunft, wie wir sie kennen, auslöscht, werden auch wir zu existieren aufhören." „Aber das will ich ja", rief Nat. Charles verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein Trugschluß, nichts weiter. Eine Realität kann nicht beseitigt werden. Die Natur läßt sich nicht ins Handwerk pfuschen, Nat. In dem Augenblick wird alles vergehen, Vergangenheit und Zukunft. Auch der Planet Erde", er senkte seine Stimme zu einem heiseren Flüstern: „Wahrscheinlich sogar das ganze Universum. Dazu gebe ich
meine Hand nicht, niemals. Ich werde dich daran hindern, wenn ich kann." „Earl!" schrie Nat. Der Häuptling drehte sich um. „Ja, Herr?" „Wir wollen zurück ins Dorf." Schweigend machten sich die drei auf den Rückweg. Nach einer langen Pause sagte Nat: „Es gibt noch eine andere Möglichkeit!" Als Charles beharrlich schwieg, sprach er weiter: „Wir gründen dieses Reich auf den Kenntnissen des 20. Jahrhunderts, aber die Überreste werden nie gefunden. Es ändert sich nichts an der Zukunft, weil wir dieser Kultur schon unzählige Male auf die Beine geholfen haben, weil auch diese Idee in das Schema gehört, nach dem wir handeln müssen." Charles starrte den Freund an. Als einzige Antwort seufzte er tief und gequält auf. TRENNUNG In den Wochen, die nun folgten, vermieden die beiden Freunde jedes überflüssige Wort. Sie fürchteten, daß es jeden Augenblick zur Katastrophe kommen könnte. Charles machte seinen allmorgendlichen Spaziergang; Nat schmiedete Pläne. Charles hatte sich genügend Nahrungsmittel mitgenommen und streifte mit einem jungen, starken Eingeborenen, den sie Jo getauft hatten, auf einer längeren Wanderung durch den Dschungel. Er hatte das Bedürfnis, mit sich und der sauberen Unkompliziertheit des großen Waldes allein zu sein. Am zweiten Tag wurde der Weg steiler. Der Wald lichtete sich, und die Bäume wurden kleiner und unscheinbarer. Vor ihnen lag ein Berg. „Nein", sagte Jo nachdrücklich und rammte seinen Speer neben sich bekräftigend in den weichen Waldboden. „Ich nicht gehen weiter mit dir, Herr. Hier großes Geheimnis mein Volk." „Ach geh", sagte Charles neugierig, „böse Geister oder so?" Jo nickte eifrig. „Viele Geister, viel hell, viel gefährlich." Und dabei blieb es. Nichts auf der Welt hätte ihn dazu gebracht, weiterzugeben.
Zögernd machte sich Charles auf den Weg. Er war noch nicht weit gegangen, als er das glänzende, blitzende Ding entdeckt hatte, das sich hinter einem niedrigen Erdaufwurf nur halb verborgen hatte. Leise, sanfte Musik wehte zu ihm herüber, unwirklich in dieser verlorenen Ecke der Welt, tausende von Jahren, bevor ein Mensch an eine solche Musik gedacht hatte. Charles fand keine Erklärung und beschloß, das Rätsel zu lösen, Er erklomm den Hügel und kam zur Stelle, die seine Neugierde geweckt hatte. Er drehte sich um. Jo wartete ganz unten am Fuß des Berges und streckte die Hände zum Himmel. Zweifellos betete er. Ein kaltes Frösteln kroch Charles den Rücken hoch. Verträumt klangen die zauberhaften Töne. Charles stand vor einem blitzenden und glänzenden Block, mannshoch und unverkennbar aus Metall. Eine längliche Öffnung lud zum Eintreten ein. Charles zögerte. Es war alles so unwirklich und unmöglich. Aber war nicht er selbst und die Tatsache, daß er hier stand und nicht irgendwo in Boston zu Mittag aß, unwirklich und unfaßbar? Er gab sich einen Ruck und griff nach dem kühlen Metall. Nichts rührte sich. Langsam trat er auf die Öffnung zu. und ging hinein. Die Musik hörte augenblicklich auf. Er vernahm ein leises Schnurren und fuhr erschrocken herum. Die Türöffnung war verschwunden. Glatt und gleichmäßig glänzte das Metall der Wände in dem schwachen Licht, das von irgendwoher kam. Er saß in einer hypermodernen Falle. Charles stieß einen lauten, spitzen Schrei aus und warf sich gegen die Stelle, durch die er gekommen war. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Wand, brüllend, verzweifelt. Umsonst. Das Licht wurde schwächer, durchlief alle Farben des Regenbogens, um dann ganz zu erlöschen. Helles Tageslicht flutete herein. Wieder klaffte die Öffnung. Charles warf sich herum und hetzte ins Freie. Erlöst atmete er auf. Der Wald stand wie vor einigen Minuten ruhig und zuverlässig. Nichts hatte sich verändert. Nur Jo war verschwunden. Charles konnte noch die Stelle finden, an der er
gestanden hatte. Der schmale Strich auf dem Boden mußte sein Speer sein, den er weggeworfen hatte. Warum? Was hatte er gesehen? „Nicht erschrecken", bat eine weiche, melodische Stimme. Charles' Augen traten aus den Höhlen. Er zitterte vor Furcht Er hörte hinter sich ein Geräusch und spürte das drängende Verlangen fortzulaufen. Gepeinigt hielt er sich die Ohren zu. „Nein!" flüsterte er voller Entsetzen. „Sie sind doch ein aufgeklärter Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts", sagte die Stimme neben ihm. „Glauben sie an Gespenster?" Er ließ die Hände fallen und starrte sie ungläubig an. Sie war ein wenig größer als er, schlank und von einer wunderbaren, klassischen Schönheit. Die Fülle ihrer leuchtenden Haare wurde durch einen schmalen, goldenen Reif gebändigt. Ihren ebenmäßigen Körper verhüllte eine schneeweiße Tunika. Sie trug keinen Schmuck außer einem Armreif und einer dünnen Kette, die ihr vom Gürtel über die Hüften herabhing. In ihren klaren Augen schimmerte ein spöttisches Funkeln. „Ich heiße Helen", sagte sie einfach. Charles schnappte nach Luft. „Ich bin froh, daß gerade ich Sie finden darf", fuhr sie fort. „Ich wußte nicht, wie Sie aussehen, ob Sie jung sind oder alt, mürrisch oder fröhlich. Jedenfalls habe ich mich mein Leben lang auf diesen Augenblick vorbereitet." Charles hatte sich etwas gefaßt. „Ich glaube, Sie sind mir wirklich eine Erklärung schuldig." Das Mädchen zog ihn am Arm und drehte ihn herum. Neben dem metallenen Kasten stand ein ebensolcher Zylinder. „Damit bin ich gekommen", erklärte sie. „Zeitreise." Er schüttelte erstaunt den Kopf. „Wenn ich es nicht selbst sehen würde, könnte ich es nicht glauben." Sie strich ihr Gewand glatt und setzte sich, wobei sie ihn mit sich zog. „Wir haben so lange gewartet. Jetzt wollen wir nichts übereilen." Dann begann sie zu erzählen: „Heute haben wir den zehnten Tag des achten Monats des Jahres viertausendachthundertzwölf."
Sie legte ihm begütigend ihre schmale, gepflegte Hand auf den Arm. „Seit hundert Jahren etwa, als die Zeitreise entdeckt wurde, begannen wir in der Vergangenheit der Erde zu forschen. Wir wußten genau, daß diese Entwicklung das Gefährlichste ist, was je auf der Welt existiert hat. Wir könnten damit unser ganzes Universum vernichten." Charles nickte verstehend. Vor ein paar Wochen hatte er dasselbe gedacht. Sie schien in seinem Gesicht zu lesen. „Also bin ich nicht zu spät gekommen. Das ist auch ganz logisch, aber denken Sie daran, in welcher Angst die Welt lebte, als die Möglichkeit ihrer Vernichtung erkannt wurde. Wir gingen in die Vergangenheit zurück - sehr vorsichtig, wie Sie verstehen werden, und nur in entsprechend weiten Sprüngen. Nichts sollte dazu führen, die Erde und ihre Zukunft auszulöschen. Einmal geschah etwas ganz Merkwürdiges. Es war Lamo, mein verehrter Onkel, der gleichzeitig für den Bruchteil einer Sekunde in zwei verschiedenen Zeiten lebte. In Wirklichkeit war er nicht selbst dort. Wir schickten eine Tastwelle auf die Reise, und da geschah es. Zwei Zeiten liefen nebeneinander her. Die eine war nach unserer Forschung völlig normal, die andere zeigte daneben eine hochstehende Kultur, die mit der unsrigen fast verwandt sein könnte. Bedenken Sie, eine solche Kultur in grauer Vorzeit. Es waren Wochen der Angst, die darauf folgten. Sämtliche Unterlagen über die Möglichkeit der Zeitreise sollten vernichtet werden. Aber die Vernunft siegte. Wir mußten unsere ganze Kraft dafür verwenden, die Ursache dieses Rätsels aufzuspüren." Sie schwieg, und Charles starrte sie unverwandt an. „Haben Sie eine Lösung gefunden?" „Ja", sagte sie und schaute ihn ernst an. „Sie sind die Ursache. Alle, die in dem Schiff waren, das in einem Raum hängt, der über unser Begriffsvermögen geht. Wir haben das Boot gefunden und eine Falle gebaut, in die Sie auch wie erwartet hineingelaufen sind. Die Falle stand schon viele Jahre, bevor ihr gekommen seid. Wir mußten jedes Risiko ausschließen Wir wußten über den Ort Bescheid, nicht aber über den genauen Zeitpunkt eurer Ankunft. Nun, alles hat wunderbar geklappt." Charles wendete den Kopf und schaute über das Blätterdach des Urwaldes hinweg, über dem die flimmernde Hitze des Tages stand.
„Sie haben alles erfahren, was Sie brauchen. Wir haben in dieser Zeit noch nichts verändert, was der Zukunft schaden könnte." Seine Blicke kehrten zu ihr zurück. „Ich weiß, warum Sie kamen. - Sie sind beauftragt, uns zu töten." Sie spielte gedankenverloren mit ihrem Armreif. „Die Lösung wäre zu einfach. Die Welt hat sich inzwischen sehr geändert. Sie hat sich so sehr geändert, daß Sie sie nicht begreifen können. Wir Menschen unseres Jahrhunderts haben das Töten nicht nur verlernt, wir verabscheuen es. Seit tausend Jahren hat kein Mensch mehr einen anderen umgebracht. Auch bei uns gibt es noch Gerechte und Ungerechte, und es wird sie immer geben. Euch zu töten, wäre der einfachste Weg. - Es findet sich aber niemand, der einen Mord begehen würde." Glückliche Welt, dachte Charles, die lieber untergehen will, als töten. Laut sagte er in das Schweigen hinein: „Wie soll es dann weitergehen?" Sie ließ das Armband los. „Ich weiß es nicht. Meine Aufgabe ist es, bei euch zu bleiben. Wir werden vielleicht gemeinsam eine Lösung finden." Er erzählte ihr von seinen Erlebnissen seit dem Start von der Erde, und sie hörte aufmerksam zu. „Gehen wir", sagte sie, als er geendet hatte, und erhob sich. Gemeinsam stiegen sie den Hügel hinunter Bevor Charles in den Wald trat, drehte er sich noch einmal um. Ein Sonnenstrahl ließ die blitzende Metallhülle aufleuchten, den Gruß eines Volkes aus der Zukunft, für dessen Existenz sich Charles von jetzt an verantwortlich fühlte. Nat war mehr nachdenklich als erstaunt, als er die Geschichte hörte und Helen sah. Er wurde nicht müde zuzuhören, wie die Welt von morgen beschaffen war. Helen erzählte von der perfekten Technisierung, die jeden Menschen verpflichtete, einen Tag in der Woche für die Gemeinschaft zu arbeiten und dafür praktisch alles umsonst lieferte. Im Geist sah er die Kontinente, die zu riesigen Städten angewachsen waren und inmitten weiter, erholsamer Parks lagen. Ein Paradies, diese Zukunft. Mit Wehmut dachte er daran, daß er diese Schönheit nie sehen werde.
Charles sagte: „Sei kein Narr. Wir sind früh geboren. Damit müssen wir uns abfinden." Nat zuckte die Schultern und schwieg. Sie lebten ihr gewohntes Leben, nur daß sie jetzt zu dritt ihre Ausflüge unternahmen, lange Gespräche führten, die keine Lösung brachten, und den Eingeborenen zusahen, wie sie auf die Jagd gingen und mit Beute beladen heimkamen. Helen rührte kein Fleisch an, sie verbarg mühsam ihren Abscheu davor. Von Tag zu Tag wurden die drei Menschen aus der Zukunft hoffnungsloser. * Eines Tages verschwand Nat. Charles berichtete Helen davon, daß er und einige Männer des Stammes ganz früh weggegangen seien. „Er wird schon zurückkommen", tröstete sie ihn... Charles schüttelte den Kopf. „Es war nie seine Art, etwas ohne mich zu tun. Wir waren Freunde." „... bis ich kam. Das wollten Sie doch sagen, nicht?" „Vielleicht", sagte Charles, und er sah an ihr vorbei. „Gibt es in eurer vollkommenen Welt ein Gefühl, das man Liebe nennt?" fragte er dann leise. „Liebe?" Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt. „Es ist das größte Geschenk Gottes für uns Menschen. Solange es Menschen gibt, wird es die Liebe geben." „Deshalb mußte einer von uns beiden gehen", seufzte Charles. „Ich glaube, ich habe das große Los gezogen." Charles hatte vor seinem unrühmlichen Attentat keine Zeit gehabt, sich für Frauen zu interessieren. Er war von Helen begeistert. Er begehrte sie mit jeder Faser seines Herzens. Sie erschien ihm als das höchste auf Erden. Er bekam nie genug davon, ihren Gang, ihre anmutige Haltung zu bewundern, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie war so schön, wie es nur eine Frau sein kann, die man liebt. Eines Morgens hatte er seinen Entschluß gefaßt. Er fragte Earl, ob ihm nicht der Stamm helfen wolle, ein neues Haus zu bauen. Earl war einverstanden.
Mühsam fällten sie Bäume mit ihren primitiven Äxten, fügten sie aneinander und errichteten eine weite, geräumige Hütte. Helen sah ihnen eine Zeitlang zu. „Du hast dir allerhand vorgenommen", sagte sie. Es war das erste Mal, daß sie die Förmlichkeit ablegte und ihn duzte. „Keine Sorge", erwiderte er munter, „das schaffen wir schon." Sie bückte sich und griff nach einer zerbrochenen Axt. Nachdenklich sah sie auf die steinerne Schneide. „Wir haben eine Maschine", sagte sie sinnend, „die aus Quarz Glas macht, ohne daß du einen Finger zu rühren brauchst. Geschwungene, farbige Platten gibt das." Sie schaute zu ihm hinüber. „Es ist nicht richtig, aber ich vermisse meine Welt sehr." Charles setzte den kaum behauenen Balken vorsichtig ab und kam auf sie zu. „Ich glaube nicht, daß es der Zukunft schaden kann, wenn wir beide unser Leben hier so leben, wie wir können. Willst du uns helfen?" Er schaute sie bittend an. „Ich liebe dich, Helen. Ich habe dir nichts zu bieten als ein Leben unter Wilden. Aber ich liebe dich." Er machte abrupt kehrt und rannte davon. Sie strich ihr Gewand glatt, sah den Männern noch eine Weile beim Arbeiten zu und verließ dann langsam das Dorf. Schadet es der Zukunft, wenn wir glücklich sind? überlegte sie und schämte sich dabei. Niemand kann uns hier finden. Charles ist gut zu mir, und ich ertrage mein Schicksal nur seinetwegen. Am Abend kam Helen zurück. Die beiden sprachen kein Wort miteinander, obwohl Charles mit allem Eifer um sie besorgt war. „Gute Nacht, Charles", sagte sie und bückte sich, um durch die Türöffnung seiner Hütte zu schlüpfen. „Helen", bat er. Sie blieb stehen, ohne sich umzudrehen. Sie spürte seine Hände, die nach ihrer Schulter griffen, und wußte, daß sie das Spiel verloren hatte. Man hatte sie als Mädchen einem Mann als Wächter vorgezogen. Niemand aus der Zukunftswelt hatte daran gedacht, daß sie sich verlieben konnte. Jetzt war es geschehen, und keine Macht der Welt würde sie mehr davon abhalten, in seine starken Arme zu fliehen, die sie festhielten. Seine Augen glänzten vor Glück, als er sie an sich zog. Er stammelte tausend sinnlose Worte, zärtlich in dem bezaubernden, ewigen Wirbel der Liebe. Eine Woge des Glücks
brandete über die beiden Menschen hinweg, begrub sie unter der Last der Seligkeit. „Ich erinnere mich nicht mehr an dich, als ich dich oben auf dem Hügel zum erstenmal sah", sagte Helen nach langer Zeit leise. „Und doch ist mir, als hätte ich das alles schon einmal erlebt, dich schon lange gekannt." Behutsam strich Charles ihr über das schimmernde Haar. „Und ich habe Angst, Charles. Meine Liebe zu dir wird mein Tod sein. Das fühle ich." Sekundenlang stand der Mann wie versteinert da, als sähe auch er die Zukunft. Dann aber umschloß er das Mädchen, als könne sein harter Griff sie ihrem Schicksal entreißen. „Bist du nicht glücklich mit mir?" „Sehr glücklich! Aber es ist unrecht." „Was soll dir passieren, Helen, solange ich bei dir bin?" Sie blickte lächelnd zu ihm auf, aber in ihren Augen schimmerten Tränen. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es dumm von mir." Aber die Furcht ließ sie nicht los. Sie wußte, eines Tages mußte sie sich erinnern, und dann würde sie wissen, welchen Fehler sie gemacht hatte. * „Morgen werde ich in unsere Zeit zurückkehren", flüsterte sie ihm ins Ohr. Er richtete sich auf dem Ellbogen liegend auf. „Ich werde dich nie fortlassen", sagte er überzeugt. Sie drückte zärtlich seine Hand. „Ich möchte etwas zu unserem Heim beitragen." Sie wurde ganz eifrig. „Niemand kann mir das verbieten. Ich habe so viel aufgegeben, ohne einen Lohn zu erwarten. Nur einige Dinge aus meiner Welt will ich holen. - Das kann doch nicht verboten sein. Oder?" „Sie werden es merken und dich nicht zurücklassen", versetzte er ganz traurig. Sie lachte. „Der Zylinder auf dem Berg ist der einzige, den wir besitzen. Ich verstehe gut damit umzugehen. Es ist unwahrscheinlich, daß ich genau in meine Zeit zurückkomme. Etwas früher oder später. Aber was macht das aus. Niemand wird
etwas merken, wenn ich ein paar nützliche Sachen hierherbringe." Zuerst hatte Charles Bedenken. Doch Helen küßte seine Zweifel fort. Gegen Mittag machten sie sich gemeinsam auf den Weg. Diesmal gingen sie ohne den eingeborenen Führer. Charles kannte den Weg genau. Unversehrt fanden sie die Zeitmaschine. „Es ist besser, wenn du etwas zur Seite gehst." sagte Helen. Charles nahm ihre Hände. „Laß mich nicht zu lange warten", bat er. „Ich werde hierbleiben, bis du wiederkommst." Sie lächelte. „Keine Sorge, Charles. Die ,Falle' wird mich sicher zurückführen. Er ist die einzige Stelle, die ich mit Gewißheit wiederfinden kann." Dann löste sie sich behutsam von dem Mann und ging hochaufgerichtet zu dem Zylinder zurück. Die glatte Außenfläche öffnete sich und nahm das Mädchen auf. Beunruhigt, aber doch gehorsam, drehte sich Charles um und machte ein paar Schritte. „Habe ich dich lange warten lassen?" Er wirbelte herum. Helen stand hinter ihm. „Du bist doch eben erst..." „Die Zeit", erinnerte sie ihn. „Ich war eine ganze Weile fort. Du hast wohl nichts davon gemerkt?" „Wie im Traum", murmelte er. „Ein schöner Traum", ergänzte sie zufrieden. Beide betrachteten sich die Schätze, die sie mitgebracht hatte. Er merkte jetzt erst, daß in der Zeitmaschine viel Platz sein mußte. Immer neue, undefinierbare Gegenstände schleppte Helen ins Freie, seltsame Halbkugeln mit kleinen Antennen daran, die leise vibrierten, schwere Bleiklötze, die sie kaum zusammen heben konnten, unwirklich erscheinende Maschinen, die in Tausenden von Jahren zum selbstverständlichen Alltagsleben gehörten. „Wie hast du das nur angestellt?" staunte er. Sie berichtete. „Es war ganz leicht. Ich ging in ein Magazin, und der Verwalter des Tages brachte alles für mich in mein ,Flugboot'. Daß dieses Boot in Wirklichkeit eine Zeitmaschine ist, habe ich ihm nicht gesagt."
„Und er hat es dir geglaubt?" wunderte sich Charles. „Warum nicht?" Sie brachte einen neuen, ebenso seltsamen Gegenstand. „Es gibt bei uns immer neue Erfindungen und Konstruktionen. Darüber hält sich keiner mehr auf. Und ein Lagerverwalter kennt nicht alle Modelle." Charles hielt es für zweckmäßig, Hilfskräfte zu holen, und machte sich auf den Weg zum Dorf. Noch in der Nacht brachten sie die Sachen in ihr neues Haus. SKLAVENSTAAT Nat Davis floh vor der Versuchung. Er hatte junge, kräftige Männer bei sich und streifte ziellos durch den Dschungel. Jetzt war alles gut, und alle häßlichen Gedanken verblaßten in der unberührten, reinen Natur. Er liebte Helen mit der Glut seines empfindsamen Herzens. Sie war für ihn der Inbegriff alles Guten, Schönen und Begehrenswerten. Nur daß sie nicht ihm, sondern Charles gehören würde, das schmerzte. Der einfachste Weg, das Problem zu lösen, wäre gewesen, seinen Nebenbuhler umzubringen. Die Welt war nur zu gern bereit, dem Stärksten ihre Gaben uneingeschränkt zu schenken. Sollte er aber sein Glück mit dem Leben seines einzigen Freundes erkaufen? Niemals! Die Ideale seines Jahrhunderts, Moral und Ethik, konnte er nicht seinem Trieb opfern. Wenn er auch schon lange unter Wilden lebte, so blieb er doch ein zivilisierter Mensch. Er war sich klar darüber, daß er vor sich selber mit einem Mord jede Zugehörigkeit zu seiner Zeit verwirkt hätte, auch wenn er nie mehr dorthin zurückkehren konnte. Und er brauchte die Achtung vor sich selber zum Weiterleben. Er irrte auf verfilzten, kaum erkennbaren Wegen durch den Urwald, zerschnitt sich die Arme und das Gesicht an den langen, scharfen Blättern. Um ihn herum raunte und flüsterte die Wildnis, und seine Träume gaukelten ihm das Gesicht Helens vor. Müde und zerschlagen kroch er aus dem Blätterdach hervor, der ihm nachts Schutz und Wärme gespendet hatte. Jo hatte bereits ein Feuer entfacht und briet darüber einen Fetzen Fleisch, genau wie es ihn die Fremden gelehrt hatten.
Nat gähnte. „Jo", sagte er, „kennst du einen Stamm, der Mais anbaut? Er muß in der Nähe eures Dorfes wohnen." Jo kratzte sich nachdenklich sein langes, zerzaustes Haar. „Mais? Was Mais ist?" fragte er. Nat setzte sich auf. „Früchte", erklärte er. „Wachsen an langem Stengel, viele Stengel stehen nebeneinander, und die Männer und Frauen holen davon. Zum Essen. Lauter kleine Körner. Verstehst du?" Jo nickte eifrig. „Männer, die nicht jagen können." Seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten. „Männer essen Körner... Keine Kraft. Männer feige und Angst vor großen, schönen Wald." Das konnte Nat nun nicht gerade bestätigen, aber Jo schien zu wissen, was er wollte. „In welcher Richtung wohnen diese Männer denn?" fragte er neugierig. „Da", sagte Jo, „und da, und da." Er deutete in verschiedene Richtungen. Es mußten mehrere Stämme im oder am Wald leben. Wie sollte er aber die Stelle finden, wo das Flugboot stand? Nat stand auf und klopfte seine zerrissenen, mit Tiersehnen ausgebesserten Kleider ab. „Führe mich zu ihnen", bat er. Jo nickte, winkte den übrigen und begann, wie schon so oft, einen Weg durch das dichte Unterholz zu brechen. Nat vergewisserte sich, daß die Pistole nicht aus dem Gürtel rutschen konnte, und trabte hinterher. Am nächsten Tag erreichten sie den Waldrand. „Da", sagte Jo und deutete in die Ebene. „Da Männer, die nicht jagen." Nat war verzweifelt. Wie sollte er die Stelle je wiederfinden, an der er gelandet war? Jo machte das Lager für die Nacht zurecht. Er holte sein sorgsam gehütetes Holz hervor, mit dem er Feuer machte. Einen kurzen Stab drehte er geschickt in einer Vertiefung und war immer wieder stolz, wenn feiner Rauch aus dem Loch kräuselte. Lange lag Nat wach, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und schaute hinauf zu den Sternen.
Rätselhafte Schönheit! Er war zwischen die Mühlsteine Gottes geraten, die ihn nun zu zermalmen drohten. Er träumte in wirren, vorbeihuschenden Bildern von der Erde, wie er sie gekannt hatte, von der Welt, in der er geboren war, der Kadettenanstalt, und seinen Freunden. „Nat Davis", sagte sein Ausbilder mit schnarrender Stimme. „Es wird Zeit, daß Sie aufstehen." „Ja, Sir!" Nat wischte sich den Schlaf aus den Augen. „Nat Davis!" Er ließ sich auf den Bauch fallen, die Hand glitt an die Waffe. Er wendete den Kopf, um nach den Männern des feindlichen Stammes zu suchen. Sie standen hinter den Bäumen, wachsam, bereit. Das war kein Traum mehr. Jetzt ging es um das nackte Leben. „Hier spricht Oberst Miller", sagte die bekannte Stimme. „Da staunen Sie wohl, was?" „Miller", stotterte Nat. „Sie habe ich fast vergessen." „Ich verstehe Sie ausgezeichnet. Ich hätte Sie einfach umbringen können, Davis. Sie sind sich darüber im Klaren, daß ich auch das Recht dazu hätte, nachdem, was ihr mit mir gemacht habt." Nat schob sich millimeterweise zur Seite, bis er hinter einem umgestürzten Baumstamm lag. Miller lachte. „Das nützt Ihnen gar nichts. Passen Sie auf." Er gab einige kurze, unverständliche Befehle, und ein Schwarm von Pfeilen sang durch die Luft und bohrte sich in das Holz. „Während Sie auf Beerensuche gegangen sind, habe ich meine Zeit gut genützt." Nat war verblüfft. Bisher hatte er noch keinen Bogen oder Pfeile bei den Wilden entdecken können. „Meine Arbeit", sagte Miller mit Stolz. „Sie werden sich wundern, warum ich Sie am Leben gelassen habe. Die Erklärung ist einfach Diese erbärmlichen Eingeborenen gehen mir allmählich auf die Nerven, wenn sie auch ganz brauchbar sind. Ich habe Verlangen danach, mich mal wieder mit einem richtigen Menschen zu unterhalten. Nebenbei kann ich Ihnen auch einen ganz passablen Verwalterposten anbieten."
Nat hatte den Worten Millers nur mit halbem Ohr zugehört. Er suchte nach einer Bewegung, die ihm den Standort seines Gegners verraten hätte. Vorsichtig ließ er eine Patrone in die Kammer gleiten. Er brachte die Waffe über den schützenden Stamm und suchte sein Ziel. „Warum antworten Sie nicht, Davis?" Nat schloß die Augen zu einem winzigen Spalt, dann drückte er ab. In dem Meer aus Farnen sprangen Gestalten hoch, wilde Schreie gellten, und Nat feuerte auf den anstürmenden Haufen. Er bemerkte aus den Augenwinkeln, wie ihm seine Freunde zu Hilfe kamen. Aber der Kampf war nur kurz. Speere mit Steinspitzen und Muskelkraft gaben nur wenig Möglichkeiten gegen die schnellen heimtückischen Waffen der Angreifer. Starke Arme entwanden ihm die Pistole und preßten jeden Widerstand aus ihm heraus. Seine Freunde vom Stamm der Jäger flüchteten. Oberst Miller erschien und pflanzte sich vor ihm auf. Zufrieden blitzten seine Augen. „Das wäre nicht nötig gewesen, Nat. Ich werde Sie jetzt nicht mehr als Verwalter brauchen können. Diese Kerle müssen einen starken Führer haben, dem sie blindlings gehorchen. Ich bin für sie unüberwindlich, und deshalb glauben sie an mich. Vielleicht auch, weil ich Ihnen bessere Waffen gegeben habe und sie nun weniger Mühe dabei haben, wenn sie sich den Bauch vollschlagen wollen." Nat schaute den anderen voller Verwunderung an. Er trug einen sorgsam aus Pflanzenfasern geflochtenen Überwurf auf dem nackten Körper. Die Zeichen seines früheren Ranges hatte Miller an dem primitiven Kleidungsstück befestigt. Nat mußte lachen. „Sie können es nicht lassen, nicht wahr, Oberst?" Miller schaute irritiert auf Nat herab. „Ich meine Ihren Standesdünkel. Sogar im tiefsten Urwald. „Das begreifen Sie nicht, Davis. Etwas muß ich haben, das mich an früher erinnert." Er schaute auf Nats Pistole, die er erbeutet hatte. Seine Finger strichen liebkosend über den bläulichen Lauf.
„Das da ist viel besser. Ich hätte sie schon früher haben sollen." Er winkte mit der Waffe. Einige Eingeborene hoben Nat auf und schleppten ihn zu einer Tragbahre. Andere kamen gelaufen und brachten ein weiteres Gestell, auf dem ein Sitz angebracht war. „Nobel, nobel", sagte Nat. „Eine Sänfte. Sie spielen wohl wirklich den Herrscher hier, wie?" Miller setzte sich bequem zurecht, und vier Männer packten die Stangen. Hoch über ihren Köpfen schwankte Miller davon, dicht dahinter Nat in einer weit weniger beneidenswerten Lage. Die Sonne brannte heiß auf die schwitzenden Körper. „Wie haben Sie uns gefunden?" rief Nat nach vorn. „Meine Späher waren Ihnen schon eine ganze Weile auf den Fersen. Was ist übrigens mit Charles geschehen?" Nat beschloß, die neue Situation zu verschweigen. Er wußte eigentlich nicht, warum. Es schien ihm aber, als drohe auch Helen von diesem ehrgeizigen, fast größenwahnsinnigen Mann Gefahr. „Es geht ihm gut", sagte er gleichgültig. Minutenlang war nur das Keuchen der Träger zu hören und die halblauten Rufe der anderen, die in gleichmäßigem Trott nebenher liefen. „Wollen Sie nicht wissen, wie ich das alles erreicht habe?" „Sie werden es mir schon sagen." „Ich kriege Ihren Spott noch unter, verlassen Sie sich darauf." Nat fuhr mit der Zunge über seine aufgesprungenen Lippen. Der Trupp verließ den Waldsaum und betrat den hier nur wenig Schatten spendenden Wald. Er bemerkte erstaunt, daß eine breite Schneise geschlagen worden war. Gefällte Bäume lagen auf der Seite, der Boden war dicht mit abgeschlagenen Ästen bedeckt. Ein hoher Erdwall versperrte den Weg. Mehrere Bewaffnete lungerten vor dem offenstehenden Tor herum und überfielen ihre siegreichen Gefährten mit einem lauten Redeschwall. Auch das Dorf, das er noch so gut in Erinnerung hatte, schien sich gewandelt zu haben. Die Hütten waren massiven Holzhäusern gewichen, die sich um einen weiten, freien Platz gruppierten. Dort stand das Flugboot. Die Männer setzten ihre Lasten ab.
Nat betastete seinen zerschlagenen Körper. Er ließ sich auf die Erde fallen und stützte seinen schmerzenden Kopf zwischen die Hände. „Das war es doch wohl, was sie suchten? fragte Miller und wippte auf den Fußspitzen. „Ich habe sogar eine Start- und Landebahn bauen lassen. Alles, was sich in der kurzen Zeit machen ließ, habe ich getan." Er ließ sich neben Nat nieder. Seine ausgestreckte Hand deutete zwischen die Bäume. „Als ihr mich zurückgelassen habt", begann er zu erzählen, „stieß ich bald wieder auf unsere Freunde. Sie ließen mich einen Tag lang in der Hütte schmoren und brachten mich dann zu ihrem Opferstein, als es Nacht wurde." Millers Gesicht verdüsterte sich. Er schien sich nicht gerne daran zu erinnern. „Ich habe übrigens diese lächerliche Kultstätte abgeschafft. Mein Ersatz dafür ist viel besser." Nat schaute ihn fragend an. „Das Flugboot", erklärte Miller freundlich. „Sehen Sie, nur, wie es glänzt und blitzt, wenn die Sonnenstrahlen darauffallen. Sie haben es auf Baumstämmen als Kufen hergeschleppt. - Wo war ich stehengeblieben? Ach ja! - So ein stinkender Bursche wurde mir als Gegner gegenübergestellt. Wir bekamen den obligatorischen Steinbrocken in die Hand, und ab ging die Post. Er griff mich an wie ein gereizter Stier, und die Menge brüllte begeistert. Da besann ich mich rechtzeitig, daß Judo einmal zu meiner Ausbildung gehört hat. Jedenfalls war er sehr verwundert, als er sich unversehens auf der Erde wiederfand." Miller riß einige Gräser aus und wickelte sie sich um den Zeigefinger. „Ich habe ihn mit dem Stein getötet. Es blieb mir kaum etwas anderes übrig." „Wie üblich bei Ihnen. Sie können nie etwas dafür, wenn Sie töten." „Warum glauben Sie mir nicht? Ich sage die Wahrheit", beharrte Miller. Er wartete, ob Nat etwas darauf zu erwidern habe, und als er schwieg fuhr er fort: „Sie stellten mir noch ein paar Kämpfer gegenüber. Sie waren natürlich viel kräftiger als ich. Was soll ich sagen - ich besiegte sie mit den Kenntnissen unserer Zivilisation. Damit wurde ich automatisch ihr Häuptling. Zuerst wußte ich nicht sehr viel mit der neuen Würde
anzufangen. Dann erkannte ich aber meine große Chance. Ich bestieg unser Boot und stieg unter dem Staunen meiner neuen Untertanen auf. Die Bordmeßgeräte verrieten mir, daß der Boden und die Berge in der Nähe von Eisen, Kupfer, Zinn und einer ganzen Anzahl weiterer nützlicher Dinge nur so strotzten. Es war wirklich nicht schwierig. Jeder mittelmäßig gebildete Mensch unseres Jahrhunderts hätte es so gut gekonnt wie ich." Nat wunderte sich über die Bescheidenheit, die so gar nicht zu Miller paßte. Aber er schwieg beharrlich, und der Oberst berichtete weiter. „Ich ließ Schmelzöfen bauen, zeigte den Wilden, mit Waffen und Geräten umzugehen, von denen ihre Nachkommen noch nichts geahnt hätten, kurz und gut: ich begann diese Primitiven ein wenig zu zivilisieren. Ich habe bald erkennen müssen, daß man nicht zuviel von ihnen verlangen darf. So habe ich mich darauf beschränkt, nur die Klügsten und die Willigsten auszuwählen und machte sie zu Aufsehern. Ich habe nämlich vor, ein neues gewaltiges Reich aufzubauen, ein Reich, mein Lieber das einem Nero oder Hannibal Bewunderung abnötigen würde. Meine Reserven sind unerschöpflich, und was das Beste ist - ich habe nicht die geringste Konkurrenz." Irgendwo, zwischen den Häusern gellten laute Schreie auf. Ein nackter Mann lief auf den freien Platz zu, stürzte sich vor Miller auf die Knie und hob flehend die Arme. Stammelnd stieß er unverständliche Laute hervor. Nat hielt, den Atem an. Ein anderer Eingeborener kam hinterhergelaufen; sein stumpfes Gesicht war verzerrt, in der Faust schwang er eine schwere Peitsche. „Was ist los?" bellte Miller..... „Nicht arbeiten", keuchte der Verfolger und begann auf den Winselnden einzuschlagen. Ein anderer kam dazu, und gemeinsam schleppten sie ihn weg. Nat verzog angeekelt das Gesicht. „Sie widerwärtiger Nero", sagte er dünn. Gleichmütig zuckte Miller die Schultern. „Was soll ich machen? Sie sind so primitiv, und gute Worte bewegen sie nicht zur Arbeit. Das einzige, was sie verstehen, ist rohe Gewalt. Die Leute in diesem Dorf sorgen dafür, daß alles so
getan wird, wie ich es wünsche. Dabei sind sie keine Spur intelligenter als die anderen. Nur treu ergeben." Nat wiegte zweifelnd den Kopf. „Haben Sie keine Angst, daß Sie das Machtgefühl der Wilden anstacheln? Eines Tages werden sie darauf kommen, daß auch Sie verletzbar sind." „Bis dahin habe ich meine Macht so weit gefestigt, daß mich keiner mehr stürzen kann. Sehen Sie, Nat, als ich wußte, was aus diesem Land alles herauszuholen ist, habe ich den Männern des Dorfes zuerst beigebracht, wie man Bogen anfertigt und damit umgeht. Unser erster Kriegszug brachte uns soviel Menschenmaterial, daß ich mit der Arbeit beginnen konnte. Sie glauben nicht, wieviel Mühe es macht, jeden bei der Arbeit zu halten, die ich ihm zugewiesen habe. Ich habe die Intelligentesten ausgesucht, um Schmiede zu bekommen. Es war zum Verzweifeln, bis mir die Sache mit den Peitschen einfiel„ Jetzt klappt alles wie am Schnürchen." Nat lehnte sich zurück und umfaßte seine Knie mit den Händen, „Ein Sklavenstaat also", stellte er sachlich fest. „Das haben die Leute erfunden, die sich zivilisiert nannten." „Glauben Sie denn wirklich, daß ich da mitmache?" Miller, lachte. „Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben." Ein Mann brachte eine dampfende Holzschale, auf der große Fleischstücke lagen. „Greifen Sie zu, Nat", sagte Miller, „mit vollem Bauch sieht alles anders aus." Schweigend verzehrten sie ihr Mahl. „Sie werden bei mir wohnen. Ich würde Ihnen raten, den Raum nur zu verlassen, wenn ich es gestatte. Vor der Tür stehen die Verläßlichsten des ganzen Stammes. Sie würden Sie töten, bevor es mir leid tun kann." * Die Wochen vergingen, und der Regen kam, der alle Unternehmungen in seinen Wassermassen ertränkte. Aus dem leise sprudelnden Bach wurde eine zerstörende Flut. Der Wald dampfte, die Menschen hatten sich in ihre Hütten verkrochen. Nur einige verließen das Dorf, um für Nahrung zu sorgen...
Nat hatte widerwillig seine Arbeit getan und auf einen günstigen Zeitpunkt gelauert, um zu entfliehen. Aber Miller hatte seinen Gefährten bewacht wie einen kostbaren Schatz. Sie lagen auf den weichen Fellen am Boden. Auf das Blätterdach trommelt der Regen seine eintönige Melodie. „Ich habe Gewissensbisse", begann Miller und spielte mit der Pistole. „Sie? Das ist doch wohl ein Witz!" spottete Nat. Miller sah ihn unwillig an. „Sie dürfen nicht glauben, daß ich unmenschlich bin. Unsere Lage hat mich härter werden lassen, als es unter normalen Umständen nötig gewesen wäre. Ich meine auch nicht diese Eingeborenen. Für sie bin ich ein Geschenk Gottes. Nein, ich spreche von Charles." Er steckte den Finger In den Bügel und ließ die Waffe rotieren. „Machen Sie sich um den keine Sorgen. Er lebt im Wald bei seinen Freunden und..." „Freunde!" schnaubte Miller verächtlich. „Haben Sie keinen Funken Standesgefühl mehr im Leib?" Nat schwieg. Miller schob den Unterkiefer vor. „Ich habe mich entschlossen. Ich werde etwas für ihn tun, ob Sie es wollen oder nicht. Ich werde ihn in unsere Gemeinschaft aufnehmen, bevor er anfängt, nach dem Vorbild Ihrer ,Freunde' ein Barbar zu werden. Ich bin ihm das schuldig, wenn Ich ihn auch nicht besonders leiden mag. Denn schließlich war er es ja, der uns in diese Situation gebracht hat. Schon daran können Sie erkennen, daß ich ein Übermaß an Verantwortungsgefühl besitze." „Klar, Oberst!" Nat betrachtete den Mann vor sich belustigt. „Zuerst müssen Sie ihn aber finden." „Sie halten mich für reichlich naiv. Das ist mein Land, mein Reich, wenn Sie erstehen, was ich meine. In diesem Bezirk geschieht nur, was ich will. Wenn die Regenzeit zu Ende geht und sie kann nicht mehr lange dauern - werde ich meine Züge ohnehin auch in den dichten Wald ausdehnen. Ich muß ihn dabei finden. Schon der erste Stamm der Jäger weiß sicher, wo ein Mann lebt, der mir ähnlich steht." Er richtete sich mit einem Ruck auf. Seine Augen glänzten. In königlicher Pose stand er da. „Was ich einmal angefangen habe, führe ich auch bis zum Ende durch. Dieses Reich wird so gewaltig sein, wie Sie es sich mit Ihrem bißchen Verstand nicht vorstellen können. Ich werde über meine
Untertanen herrschen wie ein Kaiser." Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Ich werde herrschen wie ein Gott." Nat sah auf seine Hände. „Wenn ich es kann, werde ich Sie daran hindern", sagte er einfach, drehte sich auf die Seite und wickelte sich in die Felle. Miller schaute ihn nachdenklich an. „Ich warne Sie. Niemand wird mich aufhalten. Sollten Sie mich bekämpfen, werde ich Sie zertreten wie einen Wurm." Erregt wandte er sich um, stieß die Türe auf und lief in den Regen. UNBESCHRÄNKTE MACHT Wie ein vielfüßiges Tier wand sich die Menschenschlange durch den Urwald. Die Männer lachten und schwatzten aufgeregt und voller Erwartung. Ihr neues Leben gefiel ihnen, denn durch ihre überlegene Bewaffnung hatten sie nicht allzuviel zu befürchten. Sie waren des langen Wartens während der Regenzeit überdrüssig und daher voller Unternehmungslust. Ein Späher näherte sich unterwürfig Millers tragbarem Sessel. „Mann mit langem Bart und Weib mit heller Haut dort", verkündete er stolz und wies mit dem Finger in die Richtung. Miller drehte sich erstaunt zu Nat um, „Hat sich Ihr Freund so weit herabgelassen, daß er mit einer Eingeborenen umgeht?" fragte er voller Abscheu. „Nein", versetzte Nat kurz. Miller hob den Arm. „Weiter!" brüllte er. Nat hatte Angst vor der Begegnung. Er wußte genau, daß Miller die Neuigkeit, wenn er erst die Wahrheit erfuhr, für seine Zwecke ausnutzen würde. Vielleicht kam es ihm in den Sinn, In die Zukunft zu reisen. Nat war sicher, daß Miller nicht davonlaufen würde wie er. Der ehemalige Oberst würde Helen für sich beanspruchen, die einzige Frau, die er hier für würdig halten konnte. Miller verbot die Rast. Bei Tagesanbruch erreichten sie das Dorf der Jäger und schlossen es ein. Miller lehnte neben Nat an einem breiten Baum, der genügend Schutz vor Überraschungen bot.
In der kleinen Senke, in der das Dorf lag, hatte sich nicht viel geändert. Die Hütten wären etwas stabiler geworden. Zwischen den Bäumen des Waldes aber, am Rande des Dorfes, lag ein großes, weitläufiges Gebäude. Es paßte so wenig in diese Zeit, wie das Raumboot in Millers Dorf. Miller drohten die Augen aus dem Kopfe zu treten. „Jetzt weiß ich, warum Sie mich mit allen Mitteln davon abhalten wollten, hierherzukommen." Wie ein bunter, harmonischer Fleck leuchtete das Haus zu ihnen herüber. Ein flaches kühn geschwungenes Dach überspannte die Anlage, vielfarbige Platten in wahllos erscheinender Zusammensetzung bildeten die Wände. „Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde", flüsterte Miller, „würde ich es nicht glauben." Er sah Nat scharf an. „Was ist das?" Nat lachte. „Sie werden es mir nicht glauben, aber ich selbst bin genauso überrascht wie Sie. Ich habe eine Ahnung, zugegeben. Aber überzeugen Sie sich doch selbst." „Das werden wir auch sofort tun", versprach Miller. Das Dorf lag wie ausgestorben. Die Annäherung eines feindlichen Stammes war nicht verborgen geblieben. Miller ließ seine Leute ausschwärmen. Sein System war einfach, aber wirkungsvoll. Hinter jeweils drei Kämpfern stand eine drohend geschwungene Peitsche. Sie hielten sich nicht lange auf, durchquerten das Dorf und verhielten erst, als das Haus zum Greifen nahe vor ihnen lag. Miller stand im Schutze der Leiber seiner Anhänger. „Charles", schrie er. „Ich möchte nicht gegen Sie kämpfen. Fragen Sie Nat hier neben mir, was ich alles erreicht habe. Sehen Sie sich meine Männer hier an. Eiserne Waffen. Vergessen Sie doch, was einmal war. Wir müssen das Beste aus der Situation herausholen." Oben, im Haus, wurde es lebendig. „Eine beachtliche Streitmacht", rief Charles zurück. „Versuchen Sie einmal, in das Haus einzudringen." „Wie Sie wollen", brüllte Miller. „Ich biete Ihnen die Vorzüge, die ich errungen habe, - und Sie wollen mir das Geheimnis vorenthalten, das mit diesem Haus verbunden ist. Schon deswegen muß ich hinein. Ich gebe zu, daß ich neugierig bin. Ihr letztes Wort?"
„Mein allerletztes", rief Charles. „Los!" brüllte Miller anfeuernd. Die Mauer aus nackten Menschenleibern setzte sich stampfend in Bewegung. „Weiter!" herrschte Miller die Wilden an. Die Peitschen knallten, Waffen klirrten. Ein tiefes, langanhaltendes Gebrüll, der Kampfruf des Urwaldes, entrang sich heiseren Kehlen. Es war der Schrei eines Primitiven, der sein Wild eingekreist hatte und sich nun mit Mordlust in den Augen auf das Tier stürzte, um die Zähne in das warme, blutige Fleisch zu graben. Der Urmensch berannte die Zivilisation. „Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken", sagte Nat. voller Abscheu. „Sie sind ein Schandfleck unserer Zeit." Miller hörte ihn nicht. Er wartete fiebernd darauf, die Geheimnisse dieses Hauses zu ergründen. Aber das Haus, das mit den Stoffen einer zukünftigen Welt gebaut worden war, lachte ihn aus. Die Menschenmauer prallte gegen die Wände aus Kunststoff, die eisernen Äxte und Schwerter versuchten die Platten zu zerschlagen, aber es war nur, als hämmerten Kinder dagegen. Die Technik der Zukunft widerstand. Langsam ebbte das Freudengeheul ab. Ratlos standen die Männer mit ihren Waffen, dem Geschenk ihres großen Häuptlings, die sie für unüberwindlich gehalten hatten. Miller war bleich geworden. „Ich kann mir keine Niederlage leisten", sagte er. Nat grinste. „Zurück!" brüllte Miller. Der Haufen löste sich auf und trottete zu seinem Gebieter zurück. Nach einigem Überlegen ließ Miller große Bäume fällen. Die Wilden bauten einen Schlitten daraus und setzten ihm ein Gestell auf, zwischen dem in starken Bändern ein mächtiger Rammbock hing. Darüber war die Nacht hereingebrochen. Miller ließ harzige Äste als Fackeln anbrennen, deren Schein ein gespenstisches Flackern über die arbeitenden Körper warf. Sie arbeiteten die ganze Nacht hindurch. Still und gelassen lag das Haus. Seine Bewohner aber fanden keinen Schlaf.
Charles und Helen standen eng aneinandergepreßt im großen Wohnraum. Sie betrachteten durch die von innen durchsichtigen Wände das hastige Treiben. „Ich kann das alles nicht verstehen", sagte Helen verstört. „Dieser Mann da drüben ist doch von deiner Rasse und aus deiner Zeit. Wie kann er sich so weit erniedrigen und das zulassen?" Charles legte den Arm um ihre Schulter. „Er ist Offizier und das Befehlen liegt ihm im Blut. Zu Hause war er eingeengt durch Vorschriften und ein wohldurchdachtes militärisches System, das ihm Grenzen aufzwang. Es ist das alte Lied von den Soldaten, die groß werden, aber nicht die Fähigkeit in sich tragen, zwischen Verantwortung und eigener Herrschsucht zu unterscheiden." Gebannt verfolgten sie das Schauspiel, wie sich der Rammbock zwischen den Männern langsam auf sie zuschob. Dann dröhnten seine dumpfen Stöße durch die Stille. Die beiden Menschen vergaßen zu atmen. Aber das Haus widerstand allen Bemühungen. „Komm", sagte Charles. „Versuch etwas zu schlafen." Willig ließ sich Helen zu ihrem Lager führen. Charles setzte sich neben sie und streichelte begütigend ihr Haar. „Er kann uns hier nichts anhaben", sagte sie müde. „Wie lange werden es aber die Leute vom Dorf aushalten?" „Ich will gleich einmal nach ihnen sehen", versprach Charles und stand auf. Er schob die Tür zur Seite und kam in die Zimmer, in denen die Dorfbewohner verängstigt auf dem Boden hockten. „Viel Furcht", sagte Earl, und sein mächtiger Körper wurde von Angst geschüttelt „Sie alle töten." Charles versuchte ihnen Mut zuzusprechen, aber er wußte gleichzeitig, daß sie nicht mehr lange aushalten konnten. Sie waren Kinder des Waldes, die sich vor diesem geheimnisvollen Haus mehr fürchteten als vor irgend etwas anderem. Draußen hatten sich die anderen zur Belagerung eingerichtet. Große Feuer brannten ringsum, und Miller betäubte die Stimmung der Niederlage mit gewaltigen Fleischbergen. Gegen Morgen begann Miller seinen Appell an die Dorfbewohner, denn er vermutete sie im Hause. Er erklärte ihnen in leicht verständlichen Worten, was sie erwartete, wenn man ihn zwingen sollte, das Haus zu erstürmen. Daß es ihm gelingen würde, daran ließ er keinen Zweifel. Dann
schilderte er in verlockenden Farben, was er ihnen zu bieten habe, wenn sie freiwillig herauskämen. Den ganzen Tag Essen, weiche Felle und Waffen, gute unzerbrechliche Waffen für die Jagd. „Er ist raffinierter, als ich dachte", sagte Charles zu Helen. „Er weiß ganz genau, daß sie es schon bereut haben, bei uns im Hause zu sein." Helen drehte sich langsam um. „Ich werde öffnen." Charles sprang ihr nach und hielt sie an der Schulter fest „Das wirst du nicht tun. Ich kenne Miller und weiß, zu was er fähig ist." Sie schüttelte seine Hand ab. „Wir sind für unser Problem selbst verantwortlich. Ich verabscheue den Gedanken, daß ein Mensch meinetwegen getötet werden könnte." Sie sah ihn bittend an. „Gewalt mit Gewalt begegnen, wird nie etwas Fruchtbares hervorbringen." Sie legte die Verschlußklappe um und ließ die breite Wand zurückschwingen. Die Eingeborenen sprangen auf, griffen nach ihren Waffen und stürmten den kleinen Hügel hinan. Die Vordersten blieben stehen und zwangen auch die Nachdrängenden zum Halten, als Helen vor ihnen stand. Sie war so anders als die Männer aus dem Flugboot. Die Raumfahrer hatten breite Schultern, auf die man einschlagen konnte. Dieses Mädchen aber mit dem langfließenden, goldenen Haar zwang sie, ihre Waffen zu senken, zähmte ihre primitive Wildheit nur mit dem Anblick ihrer überirdischen Schönheit. Miller war es nicht besser ergangen. Er hatte nur den Vorteil, in einer zivilisierten Welt erzogen worden zu sein. Alles andere hätte er erwartet, nur nicht diese klassische Schönheit. Er zog sich mit einem Ruck den Überwurf um die Schultern und drängte sich durch die gaffende Menge. Elegant verbeugte er sich und versicherte: „Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, daß mich hier ein Wunder erwartet. Können Sie mir verzeihen, daß Sie meine Leute belästigt haben?" Helen nickte lächelnd. „Sie waren zu versessen, hinter das Geheimnis des Hauses zu kommen. Sie haben Schweres durchgemacht. Wenn Sie ein guter Mensch sind, können wir Freunde werden."
Mit finsterem Gesicht betrachtete Charles die Begegnung. Er war fest entschlossen, Miller in seine Schranken zu weisen, wenn er Helen zu nahe kommen würde. Miller brachte Bewegung in die staunenden Männer. Er wirbelte sie durcheinander, und aus den scheinbar sinnlosen Befehlen entstand Ruhe und Ordnung im Dorf. Miller ließ sich mit anerkennender Bewunderung durch das Haus führen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Einfache Räume, die durch die Vielzahl der wohlabgestimmten Farben Behaglichkeit ausströmten, waren mit bequemen Sesseln und praktischen Möbeln ausgestattet. Hier konnte man leben! „Sie sind natürlich unser Gast", erklärte Helen. Miller verbeugte sich dankend. „Ich möchte nicht zu neugierig erscheinen. Aber ich kann mir nicht erklären, wie Sie das alles geschaffen haben. Vor allem würde es mich interessieren, woher Sie kommen, gnädige Frau." Nat und Charles warfen sich einen raschen Blick zu. Miller hatte seine Neugierde zu lange bezähmt und er würde nicht ruhen, ehe er alles wußte. Deshalb sagte Charles rasch: „Sie kommt aus der Zukunft." „Mit einer Maschine?" fragte Miller schnell. „Nein", unterbrach Nat, bevor Helen antworten konnte. „Die Menschen ihres Jahrhunderts transportieren Körper und Sachen nur durch die Kraft ihres Geistes." „Erstaunlich!" bekannte Miller, aber er schien wenig überzeugt. „Dann haben Sie alle diese Sachen mit hierhergebracht?" wandte er sich wieder an die Frau. „Nicht diese Sachen. Ich habe eine Maschine, die produziert. Wir nennen dieses Gerät Fabrik. Es ist die größte Erfindung unserer Zeit, die in jahrzehntelanger Arbeit von den fähigsten Köpfen entwickelt worden ist. Jeder Wohnring besitzt sie. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen." Nat und Charles folgten den beiden. Die Freunde warfen sich mißtrauische Blicke zu. In einer schmalen Kammer stand die „Fabrik". Es war ein seltsames Gerät, aus vielen Teilen zusammengesetzt, jedes für sich ein eigenes, unentwirrbares Rätsel. Helen lachte über Millers erstauntes Gesicht. „Sie ist so einfach zu bedienen, daß es jedes Kind kann."
Sie zog einen dicken Band aus einem Fach und blätterte. „Der Katalog. Jeder Gegenstand, der hier gezeigt wird, ist herstellbar. Manche meiner Zeitgenossen ziehen es vor, alles Nötige aus den Magazinen zu holen. Viele aber auch wollen ihre eigenen Wünsche ganz speziell angefertigt und verwirklicht sehen. Da hilft die Fabrik. Ich habe leider nicht die geringste Ahnung, was in seinem Inneren vor sich geht. Man braucht einen Grundstoff", sie hob einen großen, schimmernden Kristall vom Boden und ließ ihn auf der flachen Hand glänzen. „Auch das Kohlendioxyd der Luft oder andere Dinge können bei dem Produktionsvorgang mit einbezogen werden. Auf jeden Fall produziert die Fabrik alles„ was Sie hier im Hause sehen und auch das Haus selbst." Miller hatte den Katalog an sich genommen und zeigte nun wahllos auf einen Gegenstand. „Könnten Sie das heranholen?" „Gerne." Helen las die Nummer ab, die hinter der Abbildung stand, und fütterte den Apparat mit den Zahlenreihen. Das schlafende Gebilde begann sich zu regen. Es klickte und schnurrte, unbekannte Kräfte ließen den Boden leise vibrieren. Gebannt schauten die drei Männer auf das Produkt, das langsam aus dem geöffneten Maul der Maschine hervorkam. Spinnenarme krochen aus der Seitenwandung hervor, umfaßten die Stäbe und formten sie zu der bestellten Liege. Sie leuchtete in sattem Blau, die Ornamente aus dem gleichen Stoff schimmerten in einem harmonischen Grauton. Miller bückte sich und hob den großen, glasklaren Brocken Rohmaterial auf. „Bergkristall", verkündete er und seine Augen leuchteten. „Ich habe vielleicht zwanzig Tagemärsche, vom Dorf ein großes Lager davon registriert. Ich hätte damals nicht geglaubt, daß ich den Steinhaufen noch einmal so gut gebrauchen könnte. „Ich weiß nicht, aus was es besteht", bemerkte Helen. „Wir stellen das Quarzgestein künstlich her." Miller fragte höflich nach der Erlaubnis, die Maschine für sich benutzen zu dürfen, und er bekam sie auch. Ihr nimmermüder Leib spie Werkzeuge aus, härter als Stahl, in den spielerisch bunten Farben. Millers Sklavenheere bauten unter seiner Anleitung große, weite Hallen, verwandelte die Lichtung in
eine Stadt der Zukunft, die ihn und seine Getreuen beherbergen sollte. * Miller, der zunächst ein gutmütiges Wohlwollen gegenüber seinen früheren Gefährten an den Tag gelegt hatte und Helen mit einer stillen, unaufdringlichen Verehrung umgab, begann sich immer mehr in die Rolle eines absoluten Herrschers in dem von ihm geschaffenen Sklavenstaat hineinzuleben. Sein Haus glich einem Palast mit der sinnlosen Flucht von Räumen, die nur zur Befriedigung seiner Geltungssucht dienten. Er hatte alles, was ihm die Zeit bieten konnte. Er lebte in einer verschwenderischen Pracht auf Kosten seiner Sklaven, die er aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen hatte, um sie in den Zwitterzustand zwischen moderner Kultur und tiefster Barbarei zu verpflanzen. Charles und Helen zogen sich immer mehr von ihm zurück; Nat blieb der zuverlässige Freund, der die Liebe zu dem Mädchen in seinem Herzen begrub, aber Miller bewahrte trotz der Erfolge seinen scharfen, geschulten Verstand. Es genügte ihm nicht, von einer Herde dummer, williger Tiere umgeben zu sein. Er hatte den Ehrgeiz, sein Reich zu festigen. So war er, immer auf der Suche nach jungen Burschen aus den Dörfern, die sich durch größere Intelligenz der Masse ihrer Stammesgenossen überlegen zeigten. Diese jungen Männer umgab Miller mit allem Luxus und lehrte sie ihre Brüder zu verachten. Er verfeinerte ihre Sprache, schulte sie, in weiten Räumen zu denken und versuchte, ihnen den Wunsch nach Fortschritt und Zivilisation einzuimpfen. Die Jahre vergingen, und Miller gelang es, sein Reich zu festigen und zu stärken. Er hatte es nun nicht mehr nötig, die Sklaven überall und allzeit mit wachsamen Augen zu beobachten. Seine Elite nahm ihm diese Arbeit zuverlässig ab. Die jungen Handlanger übertrafen ihren Herrn und Meister sogar, wenn es darum ging, neue Mittel und Wege zu finden, um für ihr eigenes Wohlleben alle Kraft aus den geknechteten Kreaturen herauszupressen. Miller dachte an einen Nachfolger, und er hatte die Eingeborenenfrauen satt, die er regelmäßig zu sich beorderte.
Deshalb befahl er eines Tages Helen zu sich auf sein Schloß. „Ich werde dieses Scheusal umbringen", tobte Charles. Nat lag hingestreckt im Sessel und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Er wippte mit den Fußspitzen. „Du wirst gegen eine Mauer anrennen. Vor Jahren hätten wir uns aufraffen sollen, das zu tun. Heute ist es zu spät." Helen lehnte sich gegen die durchsichtige Wand und schaute hinüber, wo Millers Schloß zwischen dem sorgsam gepflegten Park prunkte. „Es gibt nur eine Möglichkeit. Wir müssen in die Wälder fliehen." Nat richtete sich auf. „In die Wälder", höhnte er. „So weit du gehen kannst, reicht Millers Herrschaft. Wir sind noch keine Nacht unterwegs, da werden uns seine Schergen einfangen. Wir haben diesen Mann unterschätzt, und jetzt müssen wir dafür büßen." Charles ging unruhig von der Wand zur Tür und wieder zurück. „Ich gehe mit dir", entschied er. „Dann begleite ich euch auch", sagte Nat mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Und dabei blieb es. Grimmig dreinschauende Wächter empfingen die drei und brachten sie auf das Dach des Hauses, wo Miller inmitten seiner Vasallen auf einem Sessel saß. Er schaute finster von seinem erhöhten Thron auf die drei Freunde herab. „Ich kann mich nicht erinnern, euch beide eingeladen zu haben", murmelte er. „Mein Befehl galt nur Helen. Ich bin heute der Mächtigste auf der Erde, und ihr Platz ist bei mir. Sie soll leben wie eine Fürstin." Helen schaute zu Boden. „Ich kann Sie nicht lieben. Ich werde nie aufhören, Sie zu hassen." Sie senkte die Stimme zu einem kaum vernehmbaren Flüstern. „Ich hätte nie geglaubt, daß ich einmal wünschen könnte, jemand würde Sie töten." „Dummes Zeug", schnauzte Miller. „In ein paar Wochen haben Sie diese Vagabunden vergessen." Charles sprang vor und wollte sich auf den Mann, der im Sessel thronte, stürzen. Aber kräftige Fäuste rissen ihn zurück. Miller schaute nachdenklich auf seine gepflegten Hände. „So lange ihr frei herumlaufen könnt, stellt ihr eine Gefahr für mich
dar. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb heraus muß ich eure Freiheit beschränken." Er winkte den Wächtern, und wenige Sekunden später waren die beiden Männer überwältigt. „Charles", schrie Helen und wollte auf ihn zulaufen. Sie hämmerte mit ihren Fäusten gegen die Muskeln der Männer, die sie zurückhielten. Aber sie mußte zuschauen, wie Nat und Charles weggeschleppt wurden. GEFANGEN Nat hockte verzweifelt auf dem festgestampften Lehmfußboden. Die Luft war angefüllt mit dem Gestank schwitzender Menschenleiber, die in den Käfigen auf ihr Ende warteten. Der schwache Schein der rußigen Fackeln beschien die schweißglänzenden, behaarten Körper urweltlicher Wesen, die nichts verbrochen hatten, die nur so leben wollten wie ihre Ahnen. Miller, der Herr über alle, hatte sie hierher verbannt, sie aus den Wäldern getrieben, die ihnen das Leben bedeuteten. „Charles", rief Nat und klammerte die Fäuste um die festen Holzstäbe, die ihn einschlossen. „Aussichtslos, was?" kam Charles' Stimme. „Oder hast du eine brauchbare Idee, wie wir hier herauskommen könnten?" Nat ließ mutlos die Hände sinken. Auf drei Seiten schlossen ihn Gitter ein, hinter seinem Rücken ragte der gewachsene Fels in die Höhe. Auf der Felsentreppe, die hinaus in die Freiheit führte, dröhnten polternde Schritte. Gnomenhafte Gestalten, mit langen, herabbaumelnden Armen, stießen die schweren Türflügel auf und tappten herunter in das Reich der Gefangenen. Aus den Käfigen drangen ängstliche Rufe. Die Menschen rafften sich auf und preßten ihre verängstigten Gesichter zwischen die Stäbe, denn es gab nur zwei Gedanken, die ihr Leben beherrschten. Entweder brachten die Wächter etwas zu essen, oder sie holten einige Männer, die dann nie mehr zurückkehrten. Die Schreie der Unglücklichen konnte man dann stundenlang im Verlies hören ise brachen sich zwischen den Felswänden, um endlich gurgelnd zu ersterben.
Nat spürte das Würgen in seiner Kehle. Vor Wut brannten ihm Tränen in den Augen. Sie schoben ihm ein Stück rohes Fleisch herein, aber er konnte nichts herunterbringen, so sehr ihn auch der Hunger quälte. Dann sah er, wie die Käfige geöffnet wurden, und die wimmernden Sklaven verschwanden in die oberen Räume des Schreckens. Folternd schloß sich der Zugang. „Ich halte das nicht lange aus", klagte Charles. Nat hatte sich wieder etwas gefaßt. „Seit wann, glaubst du, sind wir hier unten?" „Ich habe jedes Gefühl für Zeit verloren." „Hör zu, Charles", begann nach einiger Zeit Nat, und seine Stimme gewann an Festigkeit. „Wir dürfen nicht aufgeben. Wir müssen etwas essen und trinken, um am Leben zu bleiben. Denke an Helen, die Miller nun in seiner Gewalt hat." Helen! Das war die Triebfeder, der Motor, der sie all diese Schmach und Erniedrigung ertragen ließ, der unablässige Gedanke an das Mädchen war ihre einzige Waffe gegen den Wahnsinn, der sie umlauerte. Sie hatten eine Verantwortung, sie durften nicht aufgeben. Nat riß mit den Zähnen lange Stücke aus dem Brocken Fleisch und würgte sie hinunter. Du mußt, sagte er sich, du mußt am Leben bleiben. „Versuch doch einmal zu essen", riet er in das Klagen der anderen hinein zu Charles hinüber. „Wenn du den ersten Widerwillen bezwungen hast, geht es ganz gut." Charles dachte an Helen und begann das Fleisch hinabzuschlingen. Dann trank er aus dem Krug mit fauligem Wasser. „Du hast recht", gab er zu, „es geht alles, wenn man nur will." Nat wischte sich die Hände an der Hose sauber, die noch aus Helens Fabrik stammte. „Mit diesem Willen, der stärker sein muß als jede Vernunft, werden wir hier herauskommen." Charles gab keine Antwort mehr. Er schlief den Schlaf der Erschöpfung. *
Die Zeit verging mit den Unterbrechungen, wenn die Wärter Essen brachten und neue Gefangene, und die Henker andere abholten, deren Zeit abgelaufen war. Niemand kümmerte sich um die beiden. Nat hatte schon alle Möglichkeiten versucht. Er hatte in langer, mühsamer Arbeit ein Loch in den Boden gegraben, bis der gewachsene Felsen darunter seinen Bemühungen ein Ende setzte. Er hatte versucht, den Riegel der Gittertür zu heben. Er hatte seine ganze Kraft damit verschwendet. Es gelang ihm nicht einmal, den schweren Balken einen Zoll breit anzuheben. Dann kam der Tag, als eine so große Masse Sklaven eingeliefert wurde, daß auch die beiden Zellen neben Nat gebraucht wurden. Zwei Wärter stemmten sich mit aller Gewalt ihrer muskulösen Arme gegen die Sperre, die anderen trieben die Gefangenen in die Pferche. Die Tür knallte ins Schloß, und sie waren wieder allein mit den stumpf vor sich hin glotzenden Wilden. Nat ging zur Seite und konzentrierte sich ganz auf seinen Plan. Er zitterte, als er daran dachte, daß die Rettung doch so leicht sein könnte, wenn neben ihm vernunftbegabte Menschen wären. „Wo kommt ihr her?" fragte er leise in ihrer wortarmen Sprache. Einige hoben den Kopf, schauten ihn ausdruckslos an und verfielen wieder in Dahindämmern. „Möchtet ihr essen?" fragte Nat. „Essen, viel Fleisch und gutes, frisches Wasser. Ich weiß eine Stelle, da, liegen viele Blätter unter den Bäumen. Wenn ihr satt seid, könnt ihr schlafen, so lange ihr wollt. Warum liegt ihr auf dem harten Boden, wenn ihr euch in die weichen Blätter legen könnt? Fleisch", lockte Nat, „viel Fleisch und gutes, kaltes Wasser." Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, daß sie ihm zuhören mußten, wenn sie verstehen wollten, was er ihnen vom Essen, Trinken und Schlafen erzählte. Er betete inbrünstig, daß niemand kommen möge, um Nahrung zu bringen. Er wußte, daß er diese Männer nur mit den einfachsten Dingen aus ihrer Stumpfheit aufwecken konnte. Allmählich zeigte sich der Erfolg seiner Bemühungen. Sie reckten die Oberkörper, und aus ihren Kehlen drangen brummende, zustimmende Laute. „Bauch leer", sagte einer. Er stand auf und ging zu den Gittern. Er stemmte seine Schultern dagegen und begann zu drücken. Das Holz ächzte und stöhnte, aber es hielt.
Die Gefängnisse waren gut und solide gebaut. Miller kannte die Kraft seiner Wilden; aber er rechnete auch mit ihrer Naivität, und das war die Lücke, die Nat ausnützen wollte. Der Wilde sah, daß er nichts ausrichten konnte, und ließ sich wieder zu Boden fallen. „Kein Fleisch", sagte er traurig und versank in stumpfes Brüten. „Hör zu", ermunterte ihn nun Charles, der schnell gemerkt hatte, was Nat bezweckte. „Du bist stark. Zeig deinen Arm, daß ich sehen kann, wie stark du bist." Der Mann sprang in die Höhe und trommelte mit den Fäusten gegen seinen mächtigen Brustkasten. „Viel stark", frohlockte er. „Viel stark." „Schau den Baum an", sagte Nat, „der da vor dir liegt. Wenn du ihn hochheben kannst, bekommst du viel Fleisch zu essen. Da oben liegt viel Fleisch, du mußt nur hinlangen und essen." Ein Funke von Verstehen glomm in den Augen des Hünen. Auch die anderen waren aufgestanden und schauten ihren Häuptling an, der kurze, erregte Schreie ausstieß. Nat fuhr mit dem Arm über seine Stirn und wischte den Schweiß weg. Seine feuchten Hände klammerten sich um das Holz, denn jeden Augenblick konnten die Wächter kommen, um nach dem Grund der Unruhe zu sehen. Da packte der Wilde den Verschlußbalken und stemmte sich dagegen. „Ihr seid genauso stark", rief Nat mit sich überschlagender Stimme, und der Hüne drehte sich unwillig um. „Versucht es", hetzte Nat weiter. Ein kurzer Ruck, ein Schwung, polternd stürzte das Holz zu Boden. Nat warf sich mit den Schultern gegen das Gatter. Schwerfällig schwang es zurück. Die Männer trotteten aus dem Pferch, unschlüssig und unsicher. „Da", schrie Nat, „noch viele Bäume. Alle wollen essen. Alle viel Fleisch.'' Der weite Kellerraum hallte wider von ihren Schreien. Als sie einmal begriffen hatten, wie sie zu dem verlockenden Essen kommen könnten, sprengten sie ihre Gefängnisse. Die Tür oben sprang auf, und Gestalten drängten sich hindurch. Nat sah, daß sie lange Peitschen in den Fäusten trugen. „Da oben ist Fleisch" schrie Nat. Geht hin und holt es euch."
Die Wächter schwangen ihre Peitschen und ließen sie auf den Rücken der Gefangenen tanzen. Aber die Masse war nicht mehr zu bändigen. Die Männer wälzten sich nach oben, alles unter sich begrabend, was sich ihnen in den Weg stellte. Nat rannte den Gang entlang, bis er den Käfig erreichte, in dem sein Freund gefangen saß. Er ergriff eine der vorbeihastenden Gestalten am Arm. „Hochheben!" brüllte er in das verzerrte Gesicht. Widerwillig halfen sie ihm, auch diesen Riegel zu entfernen. Gemeinsam ließen sich Charles und Nat in der Masse treiben. Sie quetschten sich mit den anderen die Treppe hinauf, durch die Tür und prallten mit ihnen auf die Mauer der Bewaffneten, die alles niedermachten, was ihnen vor die Schwerter kam. Sie taten ihnen leid, diese geschundenen Kreaturen; für Mitleid aber war keine Zeit, und helfen konnte man jetzt ohnehin nicht. Die Freunde rannten um ihr Leben. Ein grimmiger Wächter wollte sich ihnen entgegenstellen. Nat unterlief seinen Arm mit der Waffe und warf den Dicken über die Schulter. Ein kurzer Ruck, und der Weg war frei. Hinter den beiden verebbten die Schreie der Kämpfenden. Sie preßten sich aufatmend gegen eine Hüttenwand. „Wohin jetzt?" stammelte Charles. Nat schaute sich suchend um. „Helen ist sicher noch im Palast. Sie werden alle Hände voll zu tun haben, die Ausgebrochenen wieder einzufangen. Vieleicht kann uns dadurch die Befreiung gelingen." Jede Deckung ausnützend, arbeiteten sie sich zum Palast vor. Auf der breiten Freitreppe wimmelte es nur so von hastenden Gestalten. „Heh!" rief Nat aus seiner Deckung hervor. Eine Gruppe blieb stehen und sah sich suchend um. „Hierher!" brüllte Nat. Drei Männer lösten sich von der Gruppe, die anderen eilten weiter dem Gefängnis zu. „Wir brauchen ihre Waffen und Umhänge", erklärte Nat eilig. Da waren sie auch schon heran. Nats Faust fuhr dem ersten in den Leib, daß er laut aufheulend vornüberfiel. Er sah aus den Augenwinkeln, daß auch Charles seinen Mann überwältigen konnte und sprang dem dritten, der seinem Gefährten zu Hilfe eilen wollte, an die Gurgel. Zwei stählerne Arme umfaßten Nats' Leib; aus dem weit geöffneten Mund des Wilden kam ein wütendes Grunzen.
Verzweifelt umklammerten Nats Hände die Schläfen des Gegners. Er jagte ihm sein Knie in den Leib, daß er zusammenklappte, und schlug ihm mit der Handkante gegen den Hals. Sie rissen die Umhänge ab und warfen sie sich um die Schultern. Die erbeuteten Waffen schenkten ihnen ein Gefühl der Überlegenheit. Ihre Verkleidung war mangelhaft, trotzdem wagten sie es und rannten auf den Eingang zu. Niemand hielt sie auf. Aus den oberen Räumen drang Millers verärgerte Stimme herunter. „Ich lasse euch auspeitschen, wenn ihr die beiden Fremden nicht wieder zurückbringt." „Hinauf!" zischte Nat. Der Korridor spie eine Anzahl waffenklirrender Leibwächter aus. Charles zog eine Tür auf und zog Nat mit sich hinein. Sie warteten, bis das Tappen der nackten Füße auf den Fliesen verklungen war, und schauten dann vorsichtig auf den Gang. Still und ruhig lag nun der große Palast. Alles, was Beine hatte zum Laufen und Hände zum Greifen, war unterwegs. Nat grinste zufrieden. Leise schlichen die beiden die Stufen hinauf, nach allen Seiten vorsichtig sichernd. Die weichen Kunststoffteppiche verschluckten jetzt jeden Laut, so daß sie schneller vorwärtskamen. „Aus dieser Richtung kam seine Stimme", wisperte Nat. Charles nickte. Eine Gefahr bildeten die Wände um sie herum, denn man konnte nicht hineinsehen, wohl aber waren sie von innen durchsichtig. Charles hielt den Freund am Arm fest. Gut fünf Meter weiter kamen Laute aus einer geöffneten Tür. Es war so, als schlüge Metall gegen einen festen Körper. Sie nickten sich zu und stürmten los. Miller stand an die breite Außenwand gelehnt. Er hatte die Rechte gegen die Scheibe gestützt, in der Linken hielt er die Pistole. Er hörte das Geräusch in seinem Rücken und fragte: „Habt ihr was gefunden?" Als die Antwort ausblieb, wandte er sich um, aber er hatte keine Chance mehr.
Nat preßte ihm die Spitze des erbeuteten Schwertes in die Seite und flüsterte: „Keinen Mucks, Miller." Dann drehte er sich zu Charles um. „Nimm ihm die Pistole ab." Miller öffnete seine kraftlos gewordenen Finger, und die Waffe polterte zu Boden. Charles hob sie auf, streichelte zärtlich über den Lauf und richtete die Mündung auf den ehemaligen Offizier. „Wo ist Helen?" fragte er schneidend. Miller verzog sein Gesicht zu einem widerlichen Grinsen. „Ihr kommt zu spät, meine Herren, die wunderschöne Dame Helen gehört bereits zu mir. Ich kann mir nicht gut vorstellen, daß sie noch nach euch Sehnsucht hat." Er sah, wie sich das Gesicht von Charles verzerrte, und bemerkte, daß sich sein Zeigefinger um den Abzug der Waffe bog. Schnell warf er deshalb ein: „Wollt ihr sie nicht selber fragen? Ich allein kann euch zu ihr führen." Auf seiner Stirn stand der Angstschweiß, und aufatmend bemerkte er, daß sich die Starre in Charles' Körper löste. Er drehte sich um. „Kommt mit!" Nat drückte die Schwertspitze fester gegen die Rippen des Herrschers der Wilden und stieß zwischen den Zähnen hervor: „Versuchen Sie keine faulen Tricks, Miller, sonst..." Miller schüttelte sich und setzte sich an die Spitze des schweigsamen Zuges. Er griff in die Tasche, und Charles riß sofort die Pistole hoch. „Keine Angst", krächzte Miller mit belegter Stimme. „Ihr werdet mich noch umbringen, wenn ihr so schreckhaft seid." Er zog einen grob gearbeiteten, eisernen Schlüssel hervor und steckte ihn in ein primitives Schloß, das die mattgelbe Schiebetür am Ende des Korridors verunzierte. Dann gab er die Öffnung frei und trat zur Seite. Helen, in dem Kleide, in dem Charles sie zum erstenmal gesehen hatte, stand vor ihnen. „Helen", rief er, und sie flog in seine Arme. „Sie haben sich getäuscht", sagte Nat grinsend zu dem finster dreinblickenden Miller. „Und jetzt gehen Sie uns folgsam voraus!" „Wohin?" fragte Miller argwöhnisch. „Aufs Dach, zum Flugboot", meinte Nat lakonisch. Miller schüttelte den Kopf. „Ihr habt kein Recht, unser gemeinsames Boot für euch allein zu beanspruchen. Ich bin..."
Nat blinzelte. „Sie sprechen von Recht und gemeinsamen Interessen? Ausgerechnet Sie, Miller? Wer hat uns denn immer erzählt, daß das Recht immer auf Seiten des Stärkeren ist?" Er packte den Griff des Schwertes fester. „Doch ein gewisser Miller, der gerne die Welt beherrschen möchte." - Seine Stimme wurde härter. „Nehmen Sie sich zusammen, Mann, auch wenn es Ihnen jetzt mal zur Abwechslung an den Kragen geht. Vorwärts!" Auf dem Flachdach griff der Wind, der von den nahen Bergen kam, kräftig in ihre Kleider. Charles atmete tief. „Bald, Sir, können Sie sich wieder in aller Ruhe ihrem Sklavenstaat widmen. Wir suchen uns eine Gegend, die noch sauber ist, die Sie nicht verunreinigt haben. Wir wollen endlich Ruhe finden, und ich glaube, ohne Sie ist diese Zeit wie geschaffen dafür." Auf der schräg nach oben geneigten Start- und Landebahn, deren Bau sicher viel Schweiß gekostet hatte, stand der schlanke Rumpf des Rettungsbootes. Die Augen der Freunde hingen gebannt an dem Produkt ihrer Zeit. „Ich werde es sehr vermissen", meinte Miller leise und strich sanft über die glatte Bordwand. „Es ist ein Stück von mir. Wenn ich den ganzen Trubel da unten über hatte, bin ich oft in die Kanzel geklettert und habe davon geträumt, zurückzukehren. Ich bin von hier aus noch nie damit geflogen, denn es hat nicht mehr viel Treibstoff. Wenn ich könnte, käme ich mit euch. Manchmal habe ich Sehnsucht nach einem Fleckchen, wo ich ausruhen kann. Ich weiß aber genau, daß ich dort nicht lange bleiben würde, denn ich muß, organisieren und planen, etwas schaffen, wenn ich auch nicht weiß, für wen. Ich bin nun mal so. Was kann ich dafür?" Nat und Charles schauten nach diesem Geständnis erstaunt auf den einsamen Mann. Nat schüttelte sich und kehrte in die Wirklichkeit zurück. „Gehen wir", sagte er rauh und schob Charles auf die Maschine zu. „Laß Miller nicht aus den Augen", befahl er noch und schwang sich in die Kanzel. Er winkte Helen zu sich herauf. Als Nat die Hände auf die Apparatur gelegt hatte, fühlte er sich zufrieden wie lange nicht mehr. Das war seine Welt! Er prüfte sorgfältig sämtliche Kontrollen und ließ erst den einen, dann den anderen Motor warmlaufen. Pfeifend strömten die Gase aus den Düsen.
„Einsteigen!" brüllte Nat in den Lärm hinein. „Leben Sie Wohl, Miller", rief Charles, schob die Pistole in den Hosenbund und folgte den anderen nach. Die Kanzel schloß sich langsam. Miller strebte in langen Sätzen einer Deckung zu. Der Leib des Bootes erzitterte, dann löste sich der Kleinraumer von seiner Unterlage, rutschte langsam und immer schneller werdend die Rampe hinauf und erhob sich in sein Element. Wehmütig sah Oberst Richard Miller dem immer kleiner werdenden Punkt nach, bis er sich in der Ferne verlor. BRUCHLANDUNG Helens Nacken schmerzte von dem ungewohnten Druck der Kopfstütze. „Wir sind doch jetzt weit genug entfernt", klagte sie. Nat, der gelassen die Steuerhebel bediente, schaltete die Sichtschirme ein. Unter ihnen lag leicht gekräuselt die grünblaue Flut des Meeres. Er prüfte den Kraftstoffmesser. Der Zeiger war der roten Marke bedenklich näher gerückt. Das Flugzeug beschrieb eine weite Schleife und kehrte zum nahen Festland zurück. Der Strand war sanft und verlockend. Er bot auch ausgezeichnete Landemöglichkeiten. Nat umrundete noch einmal die Stelle, und als er den schmalen Bach entdeckte, der immer breiter werdend sich in das Meer ergoß, entschloß er sich zur Landung. Sanft setzte er das Boot auf den Sand. „Die Stelle ist ganz gut", bemerkte Nat und kletterte über die Stummeltragfläche nach unten. Jetzt waren sie wieder so weit wie damals, als sie das erstemal gelandet waren. Ohne die nötige Ausrüstung, mit der Angst im Herzen, daß sie keine geeignete Nahrung finden würden und mit dem unheimlich lauernden Dschungel im Rücken. „Fangen wir an, uns einen Unterschlupf zu bauen." Nat kehrte nochmal ins Schiffsinnere zurück und holte die wenigen Habseligkeiten heraus. Sorgfältig prüfte er die Schneide des erbeuteten eisernen Schwertes auf ihre Schärfe. Die Untersuchung schien ihn nicht zu befriedigen.
„Es muß gehen", entschied er endlich und ging mit langen Schritten auf das karge Unterholz zu, das als Ausläufer des Urwaldes in der Nähe der Landestelle begann. Sie bauten sich notdürftig eine Hütte aus Zweigen und den breiten Farnwedeln. Dann holten sie aus dem nahen Bach Wasser, das sie in der zusammengehaltenen Jacke aufbewahrten. „Wir sind zu rasch aufgebrochen", brummte Charles mißmutig und suchte weiter in der Kanzel nach Brauchbarem. Er brachte noch ein Kunststoffmesser, die restlichen Plastiknährflaschen aus dem Raumschiff und einige Kleinigkeiten zum Vorschein. Zum Glück hatten sie noch die Pistole. Sie ernährten sich von Beeren und Wurzeln. Einmal schoß Nat ein Tier, das einem Bären ähnelte. Das Fleisch reichte eine Zeitlang. Sie mußten sparsam mit ihrer Munition umgehen. Deshalb schnitten sie die geeigneten Stücke Fleisch in lange Streifen und trockneten sie. Das Fell war eine willkommene Ausstattung ihrer Hütte. Die mit einem Schlage einsetzende Regenzeit trieb sie in ihren Unterschlupf. Nur ungern verließ einer das schützende Dach, um draußen im Regen Wasser zu holen oder Wurzeln zu sammeln. Die Luft war dick zum Schneiden, denn der gleichmäßig herabfließende Regen brachte keine Erfrischung. Vielmehr verwandelte er den Urwald in ein Dampfbad, dessen fauliger Atem zu ihnen herüberwehte. Sie sprachen nicht viel miteinander. Sie wurden gereizt, und allmählich begann Nat, seine Hemmungen Helen gegenüber zu verlieren. Es kam die Zeit, da jeder den anderen zum Teufel wünschte. Helen blieb der ruhende Pol, ständig bemüht zu beruhigen und zu besänftigen. Sie hatte sich immer mehr von Charles zurückgezogen, obwohl sie ihn noch immer liebte. Sie. wußte, wie sehr er darunter litt; sie sah aber auch das Verlangen in Nats Augen. Die Luft war derartig schwül und drückend geworden, daß sie nur noch leicht bekleidet herumlaufen konnten. „Ihr benehmt euch wie die Wilden", ermahnte Helen die Männer. „Ich leide genau so wie ihr unter dem Wetter, aber ich beherrsche mich, obwohl ich nur eine Frau bin." „Für was das alles?" resignierte Nat und wischte sich träge den Schweiß aus den Augen. „Wir sind hier in einer trostlosen Lage,
zwei Männer und eine Frau. Wir haben keine Aussicht, jemals in unserem Leben unsere Lage zu verbessern, Worauf warten wir also?" Er schaute die beiden herausfordernd an. Sein Gesicht verzerrte sich. „Komm zu mir, Helen. Ich habe es satt, Theater zu spielen. Meine Flucht damals war sinnlos. Ich habe dich geliebt, seit ich dich kenne. Und ich kann einfach nicht dagegen an." Er griff nach ihrem Haar und wand es um seine Faust. Mit der anderen Hand richtete er seinen Oberkörper auf. In Helens Hand blitzte plötzlich die Pistole. Das Mädchen zitterte am ganzen Leib. „Nimmt die Hand weg, oder ich schieße!" flüsterte sie heiser. Nat lachte laut auf. „Schießen willst du?" Er ließ sie los und hielt sich den Leib vor Lachen. „Töten", gluckste er, „wenn du das könntest, wären wir schon lange nicht mehr am Leben. Warum hat euer Volk uns ausgerechnet dich als Wächterin auf den Hals geschickt?" Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, immer noch lachend. „Weil ihr nicht töten könnt. Ist es nicht so? Du hast es doch selber erzählt. Und du solltest uns mit deiner Hilflosigkeit verführen. Na, das ist dir ja auch prächtig gelungen." „Aber ich kann dich töten", sagte Charles. Er war ganz ruhig, griff mit der Rechten nach der Pistole und zog sie aus Helens widerstrebenden Fingern. „Du hast ganz recht. Einer ist hier überflüssig. Du benimmst dich genauso wie Miller." Er deutete mit der Mündung zur Tür, vor der das Fell hing. „Geh raus", sagte er. Nats Augen irrten von dem Mädchen zu seinem Freund. Er hatte sich wieder in der Gewalt. „Es tut mir leid", sagte er, „es wird nicht wieder vorkommen." „Raus!" wiederholte Charles. „Ich weiß, daß du nichts dafür kannst. Aber es wird immer wieder vorkommen." Helen lag auf den Knien zwischen den Männern. „Du hast mich an etwas erinnert, Nat. Es ist wahr, daß ich nicht töten kann. Es ist aber auch wahr, daß ich versagt habe. Während wir nur an unser eigenes Leben gedacht haben, während wir uns gegenseitig zu hassen beginnen, lebt in unserer Nähe ein Mann und baut an seinem Reich, das die Zukunft zerstören wird." Die Männer vergaßen sofort ihren Streit und schauten sie verständnislos an.
„Aber wir sind doch deinetwegen geflohen", sagte Nat, und dann fügte er zögernd hinzu: „Natürlich wollten wir auch uns retten. Aber ohne dich hätten wir uns sicher mit Miller vertragen können." „Als ich noch ein Kind war, fand Lamo, mein Onkel, in der Vergangenheit einen Augenblick, in dem sich eine normale und eine irreale Welt trafen. Ihr erinnert euch? Gut! Jetzt weiß ich, wie diese Welt, die nicht existieren darf, entstanden ist. Ich selbst habe dazu geholfen, als ich die Fabrik herbrachte. Damit hat es angefangen. Ich habe versagt. Das war mein Fehler, nach dem ich schon seit langem suchte." Sie warf sich auf den Boden, und Schluchzen schüttelte ihren Körper. Die beiden Männer sahen sich ratlos an. „Wein doch nicht", versuchte es Charles voller Mitleid. Nat saß wie versteinert. In was hatte sie sich da eingelassen?! „Hör auf zu heulen", sagte er grob. „Wir werden den Fehler korrigieren." Helen wischte sich über ihr Gesicht. „Selbst wenn ihr wolltet, könnt ihr es nicht ändern. Wenn es euch gelingen würde, Miller zu beseitigen, läßt sich nicht wegwischen, was er gebaut hat. Ich kann auch nicht zulassen, daß meinetwegen jemand getötet wird." Charles saß ganz still in seiner Ecke und rührte sich nicht. In seinem Gesicht arbeitete es. „Nat, kannst du die Stelle wiederfinden, wo Millers Schloß liegt, und das Dorf und all die anderen Häuser aus Kunststoff?" Nat überlegte. „Ich könnte es versuchen." „Ich werde nicht zulassen, daß ihr meinetwegen tötet", begehrte Helen auf. „Habe ich etwas davon gesagt?" fragte Charles arglos. „Also, Nat versucht es, den Rückweg zu finden. Ihr fragt mich nicht, ich werde es ganz alleine verantworten." „Worauf warten wir noch?" fragte Nat mit neuem Mut und sprang auf. Zögernd folgte Helen. Im strömenden Regen rannten sie zu dem Boot, stiegen eilig hinein und ließen die Kanzel zufallen. Es war durch das eingedrungene Wasser ungemütlich feucht, die pneumatischen Kissen saugten sich voll und klebten schon bald an ihren schweißnassen Körpern. Charles und Nat stülpten
die durchsichtigen Helme über, um sich bei dem Motorengeräusch über die Helmanlage unterhalten zu können. Nat startete. Er versuchte verzweifelt, die Werte in sein Gedächtnis zurückzurufen, die ihn hierher gebracht hatten. Die Kraftstoffuhr zeigte keinen Ausschlag mehr. Es wurde allerhöchste Zeit. In der Ferne erkannte er viele farbige Punkte, die in das gleichbleibende Grün der Baumkronen eingestreut schienen. Das Glück hatte sie nicht verlassen, er hatte die Route richtig berechnet. Aufgeregt schrie er dem neben ihm liegenden Charles ins Ohr, „Da vorne!" „Schnell abdrehen", ordnete Charles an. „Wir haben kaum mehr Brennstoff für die Landung", erwiderte Nat. „Du mußt in die Schlucht da kommen, und wenn die Maschine zu Bruch geht. Ich will zu der Zeitmaschine." Nat nickte verstehend. Vorsichtig drosselte er die Geschwindigkeit, zog eine Schleife und flog die gleiche Strecke zurück. Das Schiff streifte gegen die rauhen Steinsplitter auf dem Geröllfeld, kippte zur Seite und prallte heftig gegen einen Felsen. Nat hatte eben noch Zeit, die Zufuhr des Treibstoffes abzustellen, bevor er ohnmächtig wurde. Als Helen erwachte, fand sie sich auf dem Geröllfeld wieder. Ihr Kopf schmerzte, aber sie konnte klar denken. Hatte sie diesen Augenblick nicht schon einmal erlebt? Mit plötzlicher Klarheit sah sie ihr zukünftiges Schicksal, so wie es der Onkel ihr geschildert hatte. „Wenn du erwachst und neben dir ein zerstörtes Raumschiff findest, beginnt für dich das Ende deines Auftrages. Du wirst dich dann meiner Worte erinnern. Ermahne den Mann, den du liebst, rasch zu handeln. Er darf keine Rücksicht auf dich nehmen. Es gibt nur eine Hoffnung für euch, aber darüber kann ich dir nichts sagen. Überlasse das mir. Du hast doch Vertrauen?" Das waren seine Worte gewesen, und Helen hatte Lamo nur zugenickt. Jetzt betastete sie ihren Körper und stellte fest, daß sie unverletzt war. Soweit also Lamos Voraussage. Helen stand auf und suchte nach den Männern. Hinter dem Kleinraumer, dessen Bug völlig zertrümmert war, lag Charles. Noch war er bewußtlos, aber der Kunststoffhelm hatte ihm das
Leben gerettet. Er öffnete gerade die Augen und richtete den Oberkörper auf, als Helen zu ihm trat. Spiegelte sich die Sonne in einem Schmuck, den Helen trug, oder ging von ihren Händen selbst ein Leuchten aus? Charles hätte sich die Augen gerieben, wenn der Helm nicht im Wege gewesen wäre. Er starrte das Mädchen an, als sähe er es zum erstenmal. „Kümmere dich um Nat", bat Helen. „Und dann mußt du deine Aufgabe durchführen. Auf mich darfst du keine Rücksicht nehmen. Es wird alles gut, wenn du stark genug bist." Charles erhob sich mühsam. „Vorhin warst du noch dagegen, und jetzt..." „Frag mich nicht. Ich kann es dir selbst nicht erklären. Such deinen Freund. Ich weiß nur, daß wir nicht mehr zögern dürfen." Gehorsam wandte sich Charles ab und kletterte in das Wrack zurück, um nach Nat zu sehen. Nat lag eingeklemmt zwischen den geborstenen Geräten der Kontrollanlage und atmete schwach. Mit aller Kraft zerrte Charles die sperrenden Trümmer weg und befreite den Freund aus seiner Umklammerung. Dann trug er ihn hinunter und legte ihn in den Schatten des Wracks. Er schaute hinunter in den Wald, aus dem jeden Augenblick schreiende Gestalten waffenschwingend hervorbrechen mußten. Zu seiner Überraschung geschah nichts. Das Tabu der Wilden war wohl schuld daran, daß niemand kam. Sie wagten sicher noch immer nicht, diesen Berg zu betreten. Er sah an sich herunter und bemerkte, daß auch er aus vielen Wunden blutete. Es waren aber nur unbedeutende Verletzungen. Nat lag in tiefem, ohnmachtsähnlichen Schlaf. Wo aber war Helen geblieben? Sollte sie in die Zeitmaschine geflohen sein? Unmöglich! Noch einmal ging Charles um das Wrack herum. Er hatte jetzt den Helm abgenommen, und die Sonne, die durch die Wolkenschleier brach, brannte ihm auf den Schädel. Mehrmals rief er ihren Namen, aber nichts rührte sich, und dann sah er plötzlich in einiger Entfernung einen weißen Fleck mitten im üppigen frischen Grün, das der Regen hervorgelockt hatte. „Helen", brüllte er und lief über das Geröllfeld dem bewachsenen Boden zu. Die Gestalt rührte sich nicht.
Charles ließ sich neben dem Mädchen auf die Knie fallen, griff nach der Hand und suchte den Puls. Erleichtert atmete er auf. Helen lebte. Und doch sah er an ihrer Totenblässe, daß sie nicht nur vor Erschöpfung eingeschlafen war. Wahrscheinlich hatte der Schock nachträglich eine Ohnmacht verursacht. Er hob den zierlichen Körper auf und trug ihn zum Wrack. Dort bettete er Helen behutsam neben Nat. Er hoffte, daß die beiden morgen wieder auf den Beinen sein würden, vorausgesetzt, es gäbe für sie noch einen morgigen Tag. Er machte sich auf die Suche nach der Falle und der Zeitmaschine. Er erinnerte sich genau, wo sie ungefähr stehen mußte. Er war früher oft mit Helen allein hierher gegangen und Helen hatte ihm die Bedienung der Maschine erklärt, nachdem ihr Charles versprochen hatte, niemals den Versuch zu machen, in ihre Zeit zu kommen. Er würde dieses Versprechen nicht brechen. Aber die Anlage war jetzt die letzte, die einzige Rettung. Er überwand eine gefährlich aussehende, herabhängende Felswand, und als er auf dem schmalen Grat stand, sah er gefällte Baumstämme. In einer langen, unordentlichen Reihe schlängelte sich eine hölzerne Rutschbahn vom Berg zum Wald. Es war nicht mehr nötig, einen Schritt weiterzugehen. Die Hölzer bewiesen zu deutlich, daß die Metallzylinder weggeschafft worden waren. Es gab nur einen Menschen, dem das Geheimnis der Eingeborenen, das Tabu des Berges, aufgefallen sein konnte: Miller. Er durfte aber keine Stelle in seinem Reiche dulden, vor der seine Untertanen Respekt hatten. Deshalb war er sicher in die verbotene Zone gegangen und hatte die Wahrheit gefunden. Natürlich konnte er mit den beiden Zylindern nicht das Geringste anfangen. Charles war jedoch sicher, daß Miller daran arbeitete, den Schlüssel in die Zukunft zu finden. DIE ZEITMASCHINE So schnell es ging jagte Charles zurück zum Wrack. Nat saß aufrecht an die zerborstene Bordwand gelehnt und untersuchte stöhnend seine Wunden. Helen half ihm dabei.
„Helen, die Zeitmaschine ist fort", rief Charles schon von weitem. Die Frau stieß einen erschrockenen Schrei aus. Nat erhob sich schwankend. „Ich werde sie zurückholen", versprach er, „und wenn es das letzte ist, was ich tue." Charles winkte ab. „Nicht nötig Wir werden Miller einen Besuch abstatten." Nat nahm die Pistole an sich, ließ eine Patrone in die Kammer gleiten und steckte das Ersatzmagazin aus dem Flugboot griffbereit in die Tasche seiner zerfetzten Hose. Sie warteten, bis die Nacht hereinbrach, und machten sich dann auf den Weg. Der dunkle, geheimnisvolle Urwald schien hinter jedem Baum eine Gefahr für sie bereitzuhalten. Sie waren alle drei übernervös und sahen imaginäre Augen, die sie aus der Dunkelheit anstarrten. Wie durch ein Wunder erreichten sie jedoch unangefochten die Stelle, an der das Dorf gestanden hatte. Miller hatte die Regenzeit nicht ungenützt gelassen. Alle Hütten waren verschwunden und hatten den farbigen, wie Perlen auf eine Schnur gereihten Kunststoffhäusern Platz gemacht. Nat überlegte, wie sich wohl die Eingeborenen in der ungewohnten Behausung fühlen mochten. Auch der Palast hatte sich verändert. Er war größer geworden, und inmitten eines Ringes von Lagerfeuern und Wachen stand auf dem freien Platz davor ein neues, würfelförmiges Gebäude. Sie wußten sofort, was Miller dort aufbewahrte. Aber wie sollten sie hineinkommen. In der Stadt - nur so konnte man das neue Gebilde bezeichnen wimmelte es von geschäftigen Leuten. Freilich gab es noch immer nackte Wilde. Aber das waren und blieben die Sklaven. Die Intelligenteren jedoch, Millers Elite, trug die neuen Kleidungsstücke und war sich ihrer jungen Würde voll bewußt. Es berührte Nat seltsam, daß Miller von praktischen Kombinationen auf lange Gewänder übergewechselt war, wie sie Helen getragen hatte. Das sah wirklich wie eine Stadt der Zukunft aus, die eben diese Zukunft gefährden sollte. Noch einmal an diesem ereignisreichen Tag war den dreien das Glück hold. Als sie noch darüber berieten, wie dieser undurchdringbare Ring der Wachen gesprengt werden könnte, öffnete sich das Portal des Schlosses, und heraus kam eine
Anzahl in prächtige Roben gekleideter Menschen, allen voran Miller, herausgeputzt wie ein Pfau. Die Wachen sprangen auf und bildeten eine breite Gasse. Alles Volk hatte nur Augen für seinen Herrn, den Großen, den Mächtigen, ihren Vater, der sie zu solch ungeahnten Höhen geführt hatte. „Los!" zischte Nat und sprang hinter dem Baum hervor. Charles blieb ihm dicht auf den Fersen. Der Eingang des würfelförmigen Hauses öffnete sich vor Miller. Die Wächter verbeugten sich ehrerbietig. Jetzt waren die Männer heran. „Zurück, Miller!" schrie Charles mit donnernder Stimme. Der ehemalige Oberst wirbelte herum. Seine Augen wurden groß und rund. Aber schon hatten die beiden Männer die Kette der Wachen durchbrochen und verschwanden im Haus. Miller schrie auf wie ein verwundetes Raubtier. Charles hörte den Lärm. Er zitterte vor Angst, aber er zwang sich, jetzt in der entscheidenden Sekunde, ruhig zu bleiben. Aus dem Tohuwabohu heraus gellte ein spitzer Schrei, Nat bremste seinen Lauf und drehte sich um. Durch die Tür quoll eine Anzahl waffenschwingender Eingeborener, ihnen allen voran mit haßverzerrtem Gesicht - Miller. Hinter der durchsichtigen Wand sah Nat, wie Helen sich in den Fängen einiger Männer wand. „Nein!" schrie er. In seinen Augen glomm der Wahnsinn auf. „Helen!" Charles stand ganz ruhig. Er hob die Arme und machte die vorgeschriebenen Bewegungen, die die elektronischen Sperren lösten. Dann schlüpfte er durch die Öffnung und hörte sie hinter sich wieder ins Schloß schnappen. Erschöpft lehnte er seine klopfende Stirn gegen das kühle, Sicherheit ausstrahlende Metall. Er sah durch die von innen durchsichtigen Wände, wie die Männer auf die Hülle aufprallten, wie Miller verzweifelt gegen die Wand hämmerte. „Ich kann Sie gut verstehen", sagte Charles, und augenblicklich wurde es ruhig draußen. „Kommen Sie heraus, Charles", flehte Miller. „Bei allem was dir heilig ist, Kamerad, laß mich nicht im Stich." „Ich kann nicht, Sir", sagte Charles. „Sie wissen es nur noch nicht, aber was ich jetzt tun muß, tue ich auch für Sie."
„Das ist alles Unsinn", stammelte Miller. „Ich hätte damals im Schiff auch allein fliehen können. Ich habe es nicht getan, weil ich dann zwei anderen Kameraden die Chance gestohlen hätte. Sie können mich nicht verlassen." Charles schaute ihn lange an. „Wir werden zusammenbleiben", versprach er. Dann drehte er sich um und begann, die Tastwelle spielen zu lassen. Er hatte eine gute Ausgangsposition für die Einstellung. Er richtete den Strahl auf die Trümmer des Kleinraumers und wollte eben beginnen, die Energie einzuschalten, als ihn ein Schrei aufschreckte. Widerstrebend sah er nach draußen. In der engen Halle lag vor dem Zylinder der Körper Nats. Er regte sich nicht mehr. Miller stand breitbeinig über ihm und hielt Helen in seinen Armen. „Sehen Sie sich das Mädchen an, Charles. Wenn Sie nicht augenblicklich öffnen, bringe ich sie um." Charles schwankte. Er stürzte sich gegen die Wand. „Können Sie mich sehen, Charles? Ich weiß, daß Sie alles gut erkennen können. Eine Peitsche!" befahl er dann. Das schwere Leder wippte in seiner Hand. „Zum letztenmal. Machen Sie - auf - " Charles sah in die Augen des Mädchens, das ihn nicht mehr sehen konnte, dass seine Hilfe aber nicht wollte. Mein Gott, betete er, gib mir Kraft! Er umfaßte noch einmal mit den Blicken Helens liebe Gestalt. „Leb wohl, Helen", flüsterte er mit bebenden Lippen. Dann drehte er sich endgültig um und wandte seine ganze Aufmerksamkeit den Instrumenten zu. Er hörte Helens Schreie nur im Unterbewußtsein, während er sich die enge Haube über den Kopf stülpte. Die Tastwelle hatte den Kleinraumer erreicht, der als unbrauchbarer Metallhaufen in der Nähe der Urwaldstadt lag. Er drückte den Auslöser, und sein Gehirn zerbarst scheinbar. Er spürte, wie das Rettungsboot sich wieder zusammenfügte, mehrmals landete und startete, alles in umgekehrter Reihenfolge, und wie es endlich zurückflog in den Leib des Raumers. Als das Schiff das Boot wieder aufgenommen hatte, ließ Charles den Strahl verweilen. LAMO
„Wir werden sofort starten", sagte Oberst Miller eben, als Charles die Zeitmaschine auf Gegenwart umgeschaltet hatte. Er selbst, Charles Brown, stand vor dem Oberst und dachte dieselben Gedanken, die er schon einmal gedacht hatte. Nur wußte er jetzt einen Ausweg aus dem Abenteuer. Aber er konnte nichts sagen, denn er mußte genauso handeln wie damals. Charles hatte das Gefühl, neben sich selbst zu stehen, doppelt zu sein, ein heimlicher stiller Beobachter. Es war, als säße er in einem Sessel und erlebe in Gedanken noch einmal eine Situation, die ihn vor langer Zeit stark beeindruckt hatte. Erklärungen gab es hierfür nicht. Deshalb schaltete Charles die Maschine wieder auf Vergangenheit um, und während sie langsam anlief, konnte er die Sätze der Kameraden nicht mehr verstehen, denn sie sprachen jetzt rückwärts. Charles schaltete auf volle Kraft, und nun huschten die Ereignisse nur noch wie Schatten an ihm vorbei. Sekundenlang lag Bob Carper tot vor ihm, dann stand er auf und schlich sich rückwärts aus der Kabine, Charles verzichtete darauf, den Mord zu untersuchen. Er wußte auch so, daß Miller damals nicht in Notwehr gehandelt hatte. Plötzlich fühlte er sich von starken Fäusten gepackt, stand im Lift und glitt in den Maschinenraum des Schiffes. Dann schoben ihn zwei Männer in sein Versteck, der eine verschwand, und der andere schritt rückwärts zum Lift, die Hände tastend ausgestreckt. Schnell rollte die Türe des Aufzuges zu, und er summte nach oben. Jetzt verließ Charles sein Versteck, trat zu dem Bleikasten, riß die Bombe los, stellte den Zünder in die Ausgangsstellung und schlich zum Aufzug. Sämtliche Erlebnisse wiederholten sich. Der einzige Unterschied war, daß alles in umgekehrter Reihenfolge geschah. Die Gedanken jedoch dieselben. Wieder empfand Charles die panische Angst vor dem Lichtkegel des Forschungsgeländes. Jetzt schaute er auf die Uhr. 6. VII. 1990, 23.05 registrierte er. Und obgleich er sicher geborgen in seiner Zeitmaschine saß, spürte er noch einmal den höllischen Durst, den Hunger und die Furcht, genau wie damals. Noch hielt Charles nicht an. Er mußte zu dem Augenblick zurückkehren, da der Meister ihm die Bombe gegeben hatte. Das
war sein Plan. Er würde sich weigern, die Haftladung anzubringen. Damit zerstörte er alle Voraussetzungen für das Abenteuer. Ein zweitesmal erlebte Charles seine Berufung zum Meister. Genau in diesem Augenblick schaltete er die Zeitmaschine auf Zukunft. Er ließ sie nun nur noch mit einem winzigen Bruchteil von Energie laufen. Langsam kam das Haus in sein Blickfeld. Charles Brown schritt über den Rasen und wollte eben die Türe öffnen. Sofort warf der Mann in der Zeitmaschine, der auch Charles Brown war, sämtliche Hebel in ihre Ausgangsposition zurück. Es war, als stünde die Welt still. Charles sah sich vor dem Haus stehen, steif und reglos wie eine Puppe. Er spürte nicht, daß er aufstand und die Zeitmaschine verließ, nicht ohne sie sorgfältig zu sichern. Dann kehrte wieder Leben in Charles Brown. Er wandte sich um und betrachtete den Rasen. Nichts war hier zu sehen. Nicht einmal zerdrückte Halme. Einige Sekunden blieb Charles noch unschlüssig stehen. Doch dann stellte er mit Befriedigung fest, daß er nichts von seinem Vorhaben vergessen hatte, daß all seine Erlebnisse noch wach in seinem Bewußtsein lebten. Die Maschine stand noch da, aber man sah sie nicht, weil der hochwertige Kunststoff, den die Erbauer verwendet hatten, undurchsichtig war wie ein blankes Fenster. Charles betrat das einfache Zimmer, und sein Blick fiel sofort auf den mit Papieren überladenen Schreibtisch. Der Meister thronte dahinter, die fleischigen Hände auf dem Bauch gefaltet. „Charles, ich habe eine wichtige Aufgabe für dich", grollte seine tiefe Baßstimme. „Nein, Sir", sagte Charles mit ruhiger Stimme, „ich werde die Bombe nicht anbringen." Minutenlang herrschte Stille im Raum. Dann stand der Meister auf und ging dem jungen Mann mit ausgestreckten Händen entgegen. „Jawohl, Charles, das ist die Lösung. Zweimal mußtest du zu mir kommen." Verwirrt blickte Charles den Alten an. Was sollte das bedeuten? Er war darauf gefaßt gewesen, aus dem Bund gestoßen zu werden. Er hatte sich auf eine lange Debatte vorbereitet, Aber dieses überraschende Einverständnis machte ihn unsicher.
„Zweimal? Ja, erinnern Sie sich denn an unsere erste Begegnung?" staunte er. „Setz dich, mein Junge!" Charles kam der Aufforderung zögernd nach. Der „Meister" nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und schaute Charles lange forschend an. Dann begann er seine Erklärung: „Du mußtest zu dem Mann zurückkommen, der dieses Abenteuer verursachte." „Aber ich war doch selbst schuld daran. Hätte ich die Bombe nicht angebracht..." „Und wer beschaffte dir die Bombe, die Unterlagen, die Informationen? Von selbst wärest du nie darauf gekommen." Der Alte fuhr sich mit einer müden Bewegung über die Augen. „Ich wollte die Zukunft retten, und dabei machte ich selbst den größten Fehler meines Lebens. Fast hätte ich unsere Welt zerstört. Und ich tat es wirklich nur aus Sorge und in bester Absicht." Langsam schüttelte Charles den Kopf. „Ich begreife kein Wort." „Du wirst es gleich verstehen. Hat dir Helen von ihrem falschen Onkel erzählt, der eine doppelte Vergangenheit fand, als er seine ersten Versuche mit der Zeitmaschine machte?" „Ja, Lamo hieß er. Aber woher kennen Sie..." „Ich selbst bin Lamo." „Sie?" Der Unterkiefer des jungen Mannes fiel herunter. „Das ist doch nicht möglich! Sie gehören der Zukunft an, oder vielmehr Lamo lebt in der Zukunft. Er weiß, wie gefährlich es ist, in die Vergangenheit..." „Kein Mensch ist unfehlbar, Charles. Ich bin an allem schuld. Laß mich der Reihe nach berichten. Störe dich nicht daran, daß ich sage ,ich machte mein Versuche', obwohl ich genau weiß, daß ich sie erst in einigen Jahrhunderten machen werde. Wir haben für solche Schilderungen noch keine Worte, selbst in meiner Zeit nicht. - Ich traf bei meinen Forschungen auf die Stadt im Urwald und wunderte mich darüber, weil ich nirgends Aufzeichnungen über eine Kultur gefunden hatte, die der unseren so ähnelte. Ich verfolgte euren Weg zurück und entdeckte das Raumschiff, aus dem ihr mit dem Rettungsboot geflüchtet wart. Hier liegt der Fehler. Hätte ich weitergesucht, so wäre ich auf dich gestoßen, hätte die Explosion der Bombe gesehen und wäre nie auf den
Gedanken verfallen, ein Attentat vorzubereiten. Aber ich beobachtete nur den Raumer, und betrachtete ihn als Ursache für die Entstehung einer doppelten Wirklichkeit." „Und die Sekte?" „Warte! - Ich studierte die Geschichte deines Zeitalters und fand verschiedene Bestrebungen, die Welt zu verbessern. Eine Sekte mehr oder weniger konnte also das Gefüge nicht gefährden, besonders, da ich vorhatte, die Bruderschaft sofort nach Gelingen meines Planes wieder aufzulösen." „Dann haben Sie uns alle belogen und betrogen?" Ein gefährliches Feuer glomm in den Augen des jungen Mannes auf. „Um die Zukunft zu retten, ja. Du brauchst dich darüber nicht zu erregen. Hättest du mein Studium hinter dir, dann wüßtest du, daß ganz andere Machenschaften im Gange sind, aus weit weniger positiven Beweggründen. Aber das kannst du nicht wissen, denn die Politik der Gegenwart wird erst Geschichte, wenn sie Vergangenheit ist." Charles ballte die Faust und schwieg. „Ich suchte dich aus, den Tapfersten meiner Anhänger, gab dir die Bombe und schickte dich auf den Weg. Und damit war ich selbst der Mann, der die doppelte Wirklichkeit entstehen ließ, denn die Explosion brachte euer Schiff in jene Zeit, die ich vorher untersucht hatte." „Haben Sie eine Erklärung dafür, wie es geschah?" Charles war noch immer verbissen. „Leider, junger Freund. Die Bombe brachte ich aus meiner Zeit mit, weil ich euren Sprengkörpern nicht trauen durfte. Da wir selbst den Krieg verabscheuen, mußte ich sie in meinem Labor eigenhändig herstellen. Ich benutzte dazu dieselbe Energie, mit der ich die Zeitmaschine speise." Charles schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf. „Nenne mich ruhig einen Idioten", sagte der alte Mann traurig. „Aber ich danke meinem Schicksal, daß ich dich finden durfte, denn du hast alles gerettet." „Ich? Unmöglich! Helen ist tot. Die Stadt im Urwald wurde gebaut. Nat ist verloren. Carper wurde ermordet. Und Miller regiert seine Sklaven." „Nein!" Das Wort blieb im Raum hängen und schien in tausendfaltigem Echo widerzuhallen. „Machen Sie mich nicht wahnsinnig!"
„Du mußt dir die letzte Wahrheit anhören, soweit ich sie dir erklären kann, denn dann ist es an dir, eine Entscheidung zu treffen. Der einzige Mensch, den ich auf dem Gewissen habe, bist du." „Ich? Ausgerechnet ich? Und ich sitze hier heil und gesund, während meine Kameraden..." Lamo hob gebieterisch die Hand. „Mit einiger Überlegung hätte ich bei meinen ersten Versuchen erkennen müssen, daß die Natur keine unlogischen Ereignisse zuläßt. Wäre die Rakete gestartet, wie es ihre Konstrukteure geplant hatten, dann hätte es die doppelte Wirklichkeit nie gegeben. Aber ich griff mit frevelnder Hand in den Ablauf der Geschehnisse. Stell dir die Zeit als ein Gummiband vor, auf dem nur eine Fliege Platz findet. Greifst du beide Enden und dehnst das Band aus, so können nebeneinander zwei oder mehrere Fliegen darauf sitzen." „Was sollen die Fliegen?" „Ein Beispiel nur. Nehmen wir an, zwei Fliegen säßen auf dem Band. Jede stellt eine Wirklichkeit dar. Eigentlich hätte nur eine Fliege Platz, aber jemand hat das Band gedehnt. Was geschieht, wenn du das Band weiter anspannst?" „Es reißt." „Und wenn du losläßt?" „Schnurrt es wieder zusammen." „Richtig! Sobald ich meine frevelnden Hände zurückziehe, wird es nur noch eine Wirklichkeit geben." „Und wie wollen Sie das machen?" „Ich muß sterben, ehe ich dir den Auftrag geben kann, die Bombe anzubringen." „Dann wünschen Sie also eine dritte Begegnung?" „Eine erste. Unser heutiges Gespräch wird nicht stattfinden, wenn du dich richtig entscheidest." „Was habe ich damit zu tun?" „Du mußt mich töten." Charles lachte heiser. „Sind Sie zu feige es selbst zu tun?" „Ja." Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Charles vor sich hin. „Nein, ich kann es nicht." Er sprang auf und wollte aus dem Zimmer laufen, aber die Stimme des Alten hielt ihn zurück. „Denke an Helen."
Langsam drehte sich Charles um „Helen ist tot", sagte er leise. „Miller hat sie umgebracht." „Miller wird sie nie kennenlernen, wenn du den Mut aufbringst, den ich von dir verlange." Flammende Röte übergoß das Gesicht des Novizen. „Was geschieht im Augenblick? Während wir hier reden, meine ich?" „Nichts. Wir leben außerhalb der Zeit. Für uns halt die Welt den Atem an. Wenn du jetzt durch die Straßen einer Stadt gehen könntest, würdest du nur leblose Puppen finden, die mitten in ihren Handlungen versteinert wurden." „Sagen Sie mir noch, was mit Helen geschehen wird, wenn ich es tue." „Nichts. Sie wird nie eine Zeitmaschine betreten, weil ich ihr den Auftrag dazu nicht geben kann. Sie wird glücklich bei ihren Freunden leben. Den alten Onkel wird sie bald vergessen haben. Jeder weiß, daß ich gefährliche Experimente mache. Warum sollte ich also nicht bei meinen Versuchen In die Luft fliegen? Klingt doch glaubwürdig, oder?" In die Luft fliegen! hämmerte es in Charles' Gehirn, und langsam formte sich ein Plan. „Sie sind sicher, daß Nat, Bob und Miller dadurch in ihre Zeit zurückversetzt werden?" „Ich sagte Ihnen doch, daß sie die Gegenwart gar nicht verlassen." Ein langes Schweigen folgte. Dann sagte Charles langsam: „Ich bin bereit." Der alte Mann lächelte. „Ich wußte, daß Sie sich so entscheiden würden. Aber ich durfte Sie nicht beeinflussen. Kommen Sie, kehren wir gemeinsam zu dem Augenblick unserer ersten Begegnung zurück." Er erhob sich und ging voran. Als sie die Zeitmaschine betraten, drängten sich Charles zwei Fragen auf. „Wie kommt es, daß ich nicht zum Zeitpunkt unserer ersten Besprechung zurückkehrte?" Lamo nickte. „Das mußtest du fragen. Die Maschine war so eingestellt, daß du mich nur im zeitlosen Raum treffen konntest. Sonst hättest du wieder so gehandelt wie damals. Und damit wäre nichts geändert worden." „Und die Maschine? Warum ist sie jetzt unsichtbar, während ich sie im Urwald deutlich sehen konnte?" „Eben das hätte dich schon bei deiner Ankunft stutzig machen müssen. In dieser Periode, die wir jetzt erleben und die zwischen
den Zeiten liegt, ist die Maschine unsichtbar. Es wird mir nicht mehr gelingen, das Phänomen aufzuklären, denn wir erreichen jetzt gleich die entscheidende Minute." Charles beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie Lamo die Regler bediente. „Welchen Augenblick haben Sie gewählt? Ich meine, in Zahlen ausgedrückt?" „Warum willst du dich mit diesem Wissen belasten? Außerhalb der Zeitmaschine wärest du jetzt fünf Jahre alt. Du schläfst und hast einen furchtbaren Traum. Bald wirst du aufwachen, und dann ist alles vorüber." Die Finger des Alten glitten über die Knöpfe. Plötzlich spürte Charles, daß die Maschine stillstand. Schweiß trat ihm auf die Stirne. Jetzt also sollte er zuschlagen. Er hatte keine Waffe bei sich. Wie konnte er einen Menschen mit den bloßen Händen… Lamo drehte sich um. In der Hand hielt er einen schimmernden Gegenstand. Charles versuchte zu erkennen, plötzlich wußte er es. Die Bombe! „Was soll ich damit? Ich dachte, Sie hätten vor... Sie wollen mich doch nicht zum zweitenmal anstiften. Sie Teufel!" Über Lamos Züge huschte ein verlorenes Lächeln. „Ich werde Sie immer wieder anstiften. Solange bis..." Er schob Charles die Bombe zu. In Charles Hirn wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Kaum registrierte er, was seine Hände taten. Er stellte die Zündung auf eine Minute, schaute auf seine Uhr und behielt die Bombe vierzig Sekunden in der Hand. Ich will leben! Raus hier, ehe es passiert! Weit fort! Er schleuderte den Sprengkörper von sich und stürzte zur Tür. Wie von Geisterhänden geöffnet, schwang sie zur Seite, und Charles stürzte sich hinaus, fiel vornüber auf den Rasen und krallte seine Finger in die weichen, kühlen Halme. Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerplatzte hinter ihm die Zeitmaschine. Charles erwachte schweißgebadet. „Verdammt, immer derselbe Traum", fluchte er und griff nach seinen Zigaretten. Seit Jahren wiederholte sich dieser Traum. Und immer waren es dieselben Daten und Zahlen, die er deutlich auf dem Leuchtblatt seiner Uhr sah. Seufzend goß er sich einen Whisky ein und stürzte ihn hinunter. Nun, das Rätsel würde sich bald lösen, denn
morgen war der 6. 1. 1990. Wenn er an Vorahnungen geglaubt hätte, dann wäre er sicher ängstlich gewesen. In dieser Nacht tat Charles kein Auge mehr zu. Als er sich am nächsten Morgen völlig übernächtig auf den Weg machte und eine Zeitung kaufte, blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. „Erster Start zum Mars für den 7. Juli 1990 angesetzt", las er in riesigen Schlagzeilen. Wütend zerknüllte er die Zeitung und warf sie fort. „Nicht einmal die Zeitungen stimmen", murmelte er, und einige Passanten blickten sich erstaunt nach ihm um. Aber dann fielen ihm die Einzelheiten seines Traumes wieder ein. War die Rakete durch sein Attentat nicht zu früh gestartet? Hatte man die Reise nicht eigentlich für den 7, Juli geplant? „Quatsch", schimpfte Charles und stieß mit einem dicken Herrn zusammen, den er übersehen hatte, Und doch schien sein Traum mit dem Raumstart in Verbindung zu stehen. Denn nach dem 7. Juli 1990 träumte er nie wieder von Lamo und seiner Zeitmaschine. Ende Jan Heinemann, der verwegene Raumschiffskapitän, und seine Mannschaft machen ein erstaunliche Entdeckung, während sie das Universum nach schädlichen Strahlen absuchen: ein Planetoid kreuzt ihre Bahn, der im Jahrbuch der Raumfahrt nicht verzeichnet ist. Sofort beginnt das Team mit der Erforschung des streunenden Himmelskörpers, und hierbei tauchen immer neue Rätsel auf. Von den Wissenschaftlern um einen Namen gefragt, nennt ihn der Entdecker „Mephisto-Pheles", und wie recht er mit dieser Bezeichnung hatte, erfährt die Forschergruppe, als sie, auf dem Planetoiden gefangen, dem Grauen begegnet. Diesen atemberaubenden Utopia-Zukunftsroman Nr. 223 erhalten Sie nächste Woche bei ihrem Zeitschriftenhändler für 60 Pf Boten des Teufels von Alf Tjornsen