Atlan - Der Held von Arkon Nr. 242
Brennpunkt Vergangenheit Atlan und Fartuloon auf Arkon - als Augenzeugen einer Lege...
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Atlan - Der Held von Arkon Nr. 242
Brennpunkt Vergangenheit Atlan und Fartuloon auf Arkon - als Augenzeugen einer Legende von H. G. Ewers Das Große Imperium der Arkoniden kämpft um seine nackte Existenz, denn es muß sich sowohl äußerer als auch innerer Feinde erwehren. Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Imperiums schwer zu schaffen machen. Die inneren Feinde Arkons sind die Herrschenden selbst, deren Habgier und Korruption praktisch keine Grenzen kennen. Gegen diese inneren Feinde ist der junge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, bereits mehrmals erfolgreich vorgegangen. Selbst empfindliche Rückschläge entmutigen ihn nicht und hindern ihn und seine Helfer nicht daran, den Kampf gegen Orbanaschol III. den Diktator und Usurpator, mit aller Energie fortzusetzen. Gegenwärtig ist Atlan allerdings nicht in der Lage, an diesem Kampf mitzuwirken, da er, sowie ein paar Dutzend seiner Gefährten von der ISCHTAR im Bann AkonAkons, des Psycho-Tyrannen, stehen, gegen dessen Befehle es keine Auflehnung gibt. Akon-Akon, der mit Atlans und Fartuloons Hilfe den »Stab der Macht« in Besitz nehmen konnte, treibt die von ihm beherrschte Gruppe von Männern und Frauen durch einen neuen Transmittersprung weiter ins Ungewisse und Unbekannte. Der Kristallprinz und Fartuloon werden dabei zu Augenzeugen einer Legende – denn sie geraten in den BRENNPUNKT VERGANGENHEIT …
Brennpunkt Vergangenheit
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Die Hautpersonen des Romans: Caycon und Raimanja - Ein Liebespaar, das zur Legende wird. Allan und Fartuloon - Der Kristallprinz und sein Erzieher werden zu Augenzeugen der Vergangenheit. Akon-Akon - Das »wache« Wesen. Tarmin cer Germon - Biogenetiker von Akon. Orthrek - Spezialist des Energiekommandos.
DIE LEGENDE VON CAYCON UND RAIMANJA Es geschah in der dunklen Zeit, als das Große Imperium nur als Idee in den Köpfen einiger vorausschauender Männer existierte, daß sich Caycon und Raimanja in Liebe zusammenfanden. In dem Chaos, das damals auf Arkon herrschte, wurde ihre Liebe harten Bewährungsproben ausgesetzt, denn ihre Familien standen sich in offener Feindschaft gegenüber. Caycon war der jüngste Sohn der Akonda-Familie, die im Großen Befreiungskrieg, der zur Loslösung vom Mutterimperium geführt hatte, eine führende Rolle gespielt hatte und die neue Kolonie im Kugelsternhaufen Urdnir regierte. Raimanja dagegen gehörte zur Sulithur-Familie, die die Opposition anführte und die politischen Ziele der Akonda-Familie erbittert bekämpfte. Es blieb nicht bei den Auseinandersetzungen der Redner im Regierungshaus. Oft bekämpften sich Anhänger beider Familien mit der Waffe in der Hand, und manchmal tobten tagelang erbitterte Straßenkämpfe. Unter diesen Umständen konnten Caycon und Raimanja nicht darauf hoffen, die Einwilligung ihrer Familien zur Eheschließung zu erlangen. Als sie dennoch zusammenzogen, wurden sie aus ihren Familien ausgestoßen. Sie begannen ihr gemeinsames Leben nur mit den Besitztümern, die sie am Leibe trugen. Freunde halfen ihnen, sich eine Hütte zu bauen. Als Raimanja schwanger wurde, wurde das Paar eines Nachts von Fremden überfallen, gefangengenommen und in den Weltraum entführt. Was dort mit ihnen geschah, liegt auf ewig im Dunkel der Geschichte
verborgen. Aber es steht fest, daß dem Liebespaar später die Flucht aus dem Raumschiff der Fremden gelang. Sie flohen nach Perpandron, wo Raimanja nach Ablauf der Zeit einen Sohn gebar. Dieser Sohn war ein waches Wesen, das zurückkehren und große Dinge vollbringen wird, wenn seine Zeit gekommen ist …
1. Ich spürte den Entzerrungsschmerz der Rematerialisation kaum, denn er wurde von einem anderen Schmerz überlagert. Mein rechtes Schienbein war heftig gegen ein Hindernis geprallt. Rings um mich wurden Schreie und Verwünschungen laut. Ich streckte unwillkürlich die Hände aus, um nach einem Halt zu tasten, denn neben den Schmerzen hatte ich nur eine andere Wahrnehmung: völlige Finsternis. Was war das für eine Transmitterstation, in der uns Dunkelheit und Hindernisse erwartet hatten? Nach und nach schalteten meine Gefährten ihre Handscheinwerfer ein. Helle Lichtkegel durchschnitten die Finsternis und warfen Schlaglichter auf geborstenes, flechtenüberzogenes Mauerwerk. Bleiche Schlingpflanzen wucherten um zwei Kegelstümpfe aus Metallplastik; nur die Oberteile mit den Abstrahlpolen für die Energiesäulen des Torbogentransmitters lagen frei. Ich hob den Kopf und blickte nach oben. Sicher hatte auch diese uralte Transmitterstation einst eine kuppelförmige Decke besessen. Sie war längst verschwunden, durch äußere Einflüsse zerstört, wie die gezackten Ränder bewiesen. In der Öffnung schimmer-
4 ten Sterne. Ich sah einige Konstellationen, erkannte sie aber nicht. Der Planet, auf dem wir angekommen waren, mußte in einem mir unbekannten Raumsektor liegen. »Wo sind wir?« fragte Karmina Arthamin. »Keine Ahnung«, erwiderte Fartuloon. »Jedenfalls ist es ein Wunder, daß der Transmitter in diesem Trümmerhaufen überhaupt noch funktioniert und uns unsere Stofflichkeit wiedergegeben hat.« Mein Pflegevater blickte Akon-Akon herausfordernd an. »Du hast mit unserem Leben gespielt, Junge!« Akon-Akon erwiderte Fartuloons Blick nicht. Er starrte düster vor sich hin, ein Junge noch und doch das Wesen, das uns alle beherrschte. Sein edles Gesicht, seine stolze Haltung und sein schulterlanges silberfarbenes Haar wiesen ihn als Arkoniden von hoher Herkunft aus. Außergewöhnlich an ihm waren nur die großen Augen – und die seltsamen Sternsymbole auf den Innenseiten seiner Hände, die schwach rötlich leuchteten, soweit sie für mich sichtbar waren. Ich wußte nicht, was ich von dem Jungen halten sollte, den wir aus seinem gläsernen Turm Perpandron herausgeholt und zum Leben erweckt haben. War er wirklich jenes mysteriöse »wache Wesen«, das in der arkonidischen Mythologie eine so große Rolle spielte? Es schien so, denn sein Geist war außergewöhnlich »wach«, wenn man damit seine Fähigkeit bezeichnen wollte, uns alle durch seine geistigen Kräfte zu beherrschen. Praktisch waren wir seine Sklaven, denn keiner von uns konnte etwas tun, was er nicht wollte. Mehrfach schon hatten wir versucht, uns seinem Einfluß zu entziehen. Es war uns immer wieder mißlungen. »Warum gehen wir nicht hinaus?« fragte Ra. Der Barbar rollte die Augen und deutete unternehmungslustig nach oben. »Wir werden hier den Tag abwarten müssen«, sagte Akon-Akon mit dumpfer Stimme. Ich glaubte, Resignation herauszuhören, und blickte den Jungen verwundert an. Auch
H. G. Ewers andere Mitglieder unserer achtunddreißigköpfigen Gruppe mußten etwas gemerkt haben, denn mehrere Scheinwerferkegel richteten sich gleichzeitig auf Akon-Akon. Im grellen Lichtschein sah ich, daß sein Gesicht angespannt wirkte, so, als lauschte er in sich hinein. Einmal bewegte er lautlos die Lippen. Seltsamerweise blinzelte er nicht, obwohl ein Lichtkegel genau in sein Gesicht stach. Ich wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Wie gebannt stand ich da und sah, wie sich Akon-Akons Hände plötzlich so fest um den geheimnisvollen Kerlas-Stab krampften, daß die Knöchel weiß hervortraten. Als ich den Blick wieder von dem Stab lösen wollte, merkte ich, daß das nicht ging. Immer stärker wurde meine Aufmerksamkeit von diesem Gebilde aus einer unbekannten Legierung gefesselt, das einem Kreuz mit kurzer, nach außen spitz zulaufender Querstrebe glich und oben einen Ringgriff besaß. Allmählich versank alles um mich herum. Ich sah nur noch den schwarzen Metallstab und die Hände des Jungen. Nein, eigentlich sah ich die Hände nicht, sondern nur ihre Umrisse! Die Hände selbst, ihr Fleisch und ihre Knochen, waren durchsichtig geworden. Aber die rötlich leuchtenden Sternsymbole waren geblieben. Eingerahmt von den nebelhaft angedeuteten Umrissen der Hände schimmerten sie, schienen den Kerlas-Stab wie einen losen Sternenhaufen zu umgeben. So wie die Wasser des Flusses unaufhaltsam dahinströmen und ihre Spuren hinterlassen, so strömt auch die Zeit …! Woher kamen mir solche Gedanken? Hatte ich sie irgendwann von Fartuloon gehört oder in einer alten Schrift gelesen? Oder hatte jemand in der lautlosen Sprache des Geistes zu mir gesprochen? So wie das Wasser der Meere verdunstet und zu seinem Anfang zurückkehrt, so steigt der Geist aus seinem Flußbett auf oder aus seinem tiefen Meer oder aus dem Gefängnis
Brennpunkt Vergangenheit des Körpers und weht zurück zu den Spuren, die vor ihm entstanden … Nein, ich war sicher, daß ich so etwas noch nie zuvor gehört oder gelesen hatte. Etwas sprach in mir, wollte mir etwas mitteilen. Aber was? Die Wahrheit über Caycon und Raimanja! Was bedeutete das? War es etwa AkonAkon, der mit seinen Gedanken zu meinen Gedanken sprach? Wieder versuchte ich, meine Aufmerksamkeit von den Sternsymbolen und vom Kerlas-Stab zu lösen – und wieder vergeblich. Dabei merkte ich, daß ich den Stab nur noch als verschwommenen Nebelfleck sah. Nur die Sternsymbole waren noch klar erkennbar – und es war so still geworden, als wäre ich allein in der uralten Transmitterstation. Aber ich hörte nicht einmal meinen eigenen Atem. War ich dann überhaupt noch? Plötzlich verwischten sich die Sternsymbole, dann füllten sie mein Blickfeld aus. Aber sie stellten nicht mehr die gleichen Sternbilder dar, sondern andere, solche, die mir von Karten her vertraut waren. Und doch war etwas daran anders. Sie schienen merkwürdig verschoben, so, als ob sie nicht zu meiner Zeit gehörten. Ich hatte das Empfinden, als würde ich in eine unendliche Tiefe fallen – oder zu unendlichen Höhen aufsteigen. Das Gefühl dafür, ob es ein Steigen oder Fallen war, ließ mich plötzlich im Stich. Doch dann kam ich mit einem Ruck zum Stehen. Ich sah, daß ich mich auf der Oberfläche eines bewohnten Planeten befand – und ich ahnte, wie dieser Planet hieß und was ich zu sehen bekommen würde. Und daß ich – oder vielmehr mein Geist – weit in die Vergangenheit geschleudert worden war …
* Caycon duckte sich, als ein schwerer gepanzerter Fluggleiter um die Straßenecke
5 bog, an der er stand. Der Gleiterpilot mußte wahnsinnig sein, so dicht über dem Boden mit halsbrecherischer Geschwindigkeit um die Ecke zu rasen. Dann erblickte Caycon die bewaffneten Männer, die in dem Gleiter hockten. Sie kümmerten sich nicht um ihn, sondern spähten zu dem großen Kuppelbau hinüber, der ungefähr dreihundert Schritt vor ihnen am rechten Rand der Straße stand, in die der Gleiter soeben eingebogen war. Es war der Kuppelbau, in dem die Regierung der Arkoniden, der Freien, residierte. Caycon ahnte, was geschehen würde – und er wußte, daß es nicht in seiner Macht lag, etwas zu verhindern. Das hätten nur die Führer der beiden Familien, in deren Händen die Führung von Regierung und Opposition lagen, verhindern können. Aber Caycon wußte aus Erfahrung, denn er war der jüngste Sohn der regierenden Akonda-Familie, daß keine der verfeindeten Gruppen zurückstecken würde. Er trat hinter die Hausecke zurück und spähte vorsichtig um sie herum. Der gepanzerte Gleiter jagte mit schrill summendem Feldantrieb auf den Kuppelbau zu. Aus seiner Unterseite schob sich die Kuppel eines Raketenwerfers. Als er auf gleicher Höhe mit dem Hauptportal des Regierungsgebäudes war, Schossen in kurzer Folge eine Reihe flammender Projektile aus der Werferkuppel. Gleichzeitig feuerten die Bewaffneten im Gleiter mit Strahlenkarabinern. Im Innern des Kuppelbaus explodierten die Raketen mit fürchterlichem Krachen. In der Außenwand bildeten sich Risse, aus denen Glut und Rauch schlug. Das Hauptportal verformte sich, dann hörte es auf zu existieren. Der Gleiter mit den Attentätern schoß davon. Aber bevor die Kuppel verwüstet war, hatte sich aus einer Öffnung ihrer Außenhülle eine strahlende Feuerkugel gelöst. Sie raste unaufhaltsam hinter dem Gleiter her, holte ihn in wenigen Augenblicken ein – und verwandelte ihn in einen expandierenden
6 Feuerball. Der Krach der Explosion schmetterte durch die Straße. Die Druckwellen ließen Glassitfenster zerbröckeln, und glühende Trümmerstücke durchschlugen die Wände von Häusern. Danach war es einige lange Augenblicke totenstill – dann gellten panische Schreie der Angst, des Entsetzens und der Schmerzen auf. Einige Männer verließen die Häuser und starrten zu dem zerstörten Kuppelbau hinüber. Caycon überwand seine Erstarrung. Er verließ seine Deckung und lief auf den Kuppelbau zu, um nachzusehen, ob es darin noch Lebende gab, denen noch zu helfen war, oder Sterbende, denen man ihre letzten Atemzüge etwas erleichtern konnte. Doch er mußte vor der Glut kapitulieren, die aus dem Innern der Ruine strahlte und ihm die Brauen versengte, als er sich zu nahe heranwagte. Caycon fragte sich, ob zur Zeit des Anschlags jemand aus seiner Familie in dem Gebäude gewesen war. Er wußte es nicht, denn er hatte jeden Kontakt zu den Akondas verloren, seit man ihn wegen seiner Verbindung mit einem Mädchen, das der führenden Familie der Gegenseite entstammte, ausgestoßen hatte. Er wich weiter zurück, als einige Löschtrupps mit heulenden Sirenen eintrafen, eskortiert von Prallfeldgleitern voller bewaffneter Polizisten. Während aus den drehbaren Schaumkanonen der Löschgleiter Unmengen von Löschschaum in die glühenden Trümmer geschossen wurden, bildeten die Polizisten einen Ring und trieben die Zuschauer zurück. Caycon hatte Hemmungen, sich als Mitglied der Akonda-Familie auszuweisen, was er ja auch nicht mehr war. Nur die Blutsbande bestanden noch. Da ihn keiner der Polizisten erkannte, mußte er wohl oder übel mit den übrigen Zuschauern weichen. Kurz darauf sanken einige Flugpanzer der Tartoos vom Himmel. Die Tartoos waren Soldaten der Privatarmee, die die AkondaFamilie unterhielt. Sie galten als fanatische
H. G. Ewers Kämpfer. Gerüchte wollten wissen, daß in den Tartoo-Kasernen gefangene Angehörige der Sulithur-Familie gefoltert worden seien. Caycon hatte früher, als er noch nicht ausgestoßen war, seinen Vater danach gefragt. Sein Vater hatte die Gerüchte als gezielte Verleumdungen des politischen Gegners zurückgewiesen. Caycon war mit der Antwort zufrieden gewesen. Er hatte sich auch nicht vorstellen können, daß die Familien, die die Hauptlast des Kampfes gegen die Akonen getragen hatten, nach dem gemeinsam errungenen Sieg mit derart verwerflichen Methoden gegeneinander kämpften. Im Lauf der folgenden Zeit aber waren ihm Zweifel an den Worten seines Vaters gekommen. Caycon sah fast täglich die grausamen Folgen der polarisierten Gegensätze. Das Volk, das in dem langen Befreiungskrieg unermeßliche Opfer gebracht hatte und sich anschickte, sich die Natur seiner neuen Heimatwelt Untertan zu machen, erschöpfte einen guten Teil seiner Kraft in politischen Auseinandersetzungen, die zu einem Machtkampf ausgeartet waren. Dabei hätte noch so viel friedliche Arbeit geleistet werden müssen. Die Städte auf Arkon waren nicht viel mehr als mit primitiven Mitteln aufgebaute Ansiedlungen, bestehend aus einem winzigen Stadtkern und darum herum gruppierten regellosen Anhäufungen von Häusern, Hütten und Zelten, in denen die Kolonisten hausten, die erst vor kurzem von den im Krieg verwüsteten Welten gekommen waren. Die Energieversorgung der Städte wurde mit den Fusionskraftwerken von Raumschiffen garantiert, die während der Kämpfe so schwer beschädigt worden waren, daß sich eine Instandsetzung nicht gelohnt hätte. Die intakten Einheiten der Raumflotte durchstreiften den riesigen Kugelsternhaufen Urdnir, um das künftige Ausbreitungsgebiet der Arkoniden abzusichern und um festzustellen, ob in ihm Völker lebten, die Arkon gefährlich werden konnten. Als Caycon sich abwandte, um wieder seiner Wege zu gehen, vertraten ihm zwei Männer den Weg. Sie trugen Zivil, aber er
Brennpunkt Vergangenheit erkannte in ihnen zwei Männer, die für die Akonda-Familie arbeiteten. Ihre harten Gesichter verrieten, welche Art von Arbeit sie auszuführen pflegten. Will meine Familie mich umbringen lassen? fragte sich Caycon unwillkürlich. Aber nicht hier! sagte er sich dann. »Was wollt ihr?« fragte er laut. »Dich zu jemanden bringen, der mit dir reden will«, antwortete einer der Männer. Für einen Augenblick ließ er eine kleine Injektionspistole sehen. »Kommst du freiwillig mit, oder soll ich nachhelfen?« erkundigte er sich. Caycon vermutete, daß die Injektionspistole mit einer Droge gefüllt war, die ihr Opfer willenlos machte. »Ich komme mit«, sagte er. Die beiden Männer nahmen ihn in die Mitte. Es sah aus, als begleiteten ihn zwei gute Freunde. Sie brachten ihn zu einem unauffällig aussehenden Gleiter und stiegen mit ihm auf die Rückbank. Auf dem Vordersitz saß ein dritter Mann; er schien jedoch nur die Funktion eines Piloten zu haben, denn er sprach während des ganzen Fluges kein Wort. Nach einer halben Stunde landete der Gleiter zwischen zwei mächtigen Mauerruinen auf einem kargen Grasboden. Caycon kannte die Gegend. Sie wurde von den Arkoniden »Etset Secinda« genannt, die Stadt der Sieben, weil die Grundrisse aus der Luft das Bild einer in sieben Bezirke gegliederten ehemaligen Stadt boten. Die ersten Kolonisten hatten die riesigen Mauerruinen als Gletscherablagerungen aus einer früheren Eiszeit bezeichnet. Spätere Kolonisten wurden stutzig, weil zwischen den Gesteinsschichten eine bröselige Metallmasse austrat und lange Rostspuren auf die Wände zeichnete. Man untersuchte die Gebilde etwas genauer und fand Schmelzspuren. Danach kam man zu der Ansicht, daß hier vor sehr langer Zeit eine mächtige Stadt gestanden hatte, die von einer in großer Höhe gezündeten schweren Atombombe zerstört worden war. »Aussteigen!« befahl einer der beiden
7 Männer. Caycon gehorchte. Draußen sah er sich aufmerksam um. Er erkannte die Gegend, in dem der Gleiter gelandet war, als den Tempelbezirk. Aus den Schatten der Felsmauer zur Linken trat eine hochgewachsene Gestalt, die in die Kombination eines Raumfahrers gekleidet war. Auf der linken Brustseite prangte das Symbol eines Dreifachen Mondträgers, des Kommandanten eines Schweren Schlachtschiffs. Als der Mann bis auf etwa dreißig Schritt herangekommen war, erkannte Caycon Kuranth, seinen ältesten Bruder. Kuranth trug das Symbol des Dreifachen Mondträgers zu recht. Er hatte im Großen Befreiungskrieg, der vor zwölf Jahren beendet worden war, zuletzt die ROOR-NAKH kommandiert und sich in der Schlacht im Ophuus-Sektor besonders ausgezeichnet. Kuranth kam bis auf drei Schritt heran und musterte das Gesicht seines jüngeren Bruders. »Ich freue mich, dich zu sehen, Caycon«, erklärte er, ohne eine Miene zu verziehen. »Tatsächlich?« erwiderte Caycon höhnisch. »Du triffst dich mit mir auf neutralem Boden, wo keiner das Gastrecht des anderen genießen kann.« Kuranth machte eine abwehrende Handbewegung. »Man muß immer die Spielregeln beachten«, sagte er. »Wie ich hörte, lebst du in einer primitiven Hütte und ernährst dich mehr schlecht als recht von der Jagd.« »Nicht ich lebe dort, sondern es ist das Heim, in dem meine Frau Raimanja und ich wohnen«, entgegnete Caycon. »Getraust du dir nicht einmal, ihre Existenz anzuerkennen?« »Du bist stolz wie alle Akondas«, erwiderte Kuranth. »Deshalb hoffe ich noch immer, daß du deinen Fehler einsiehst und in den Schoß der Familie zurückkehrst. Du wärst uns willkommen. Bedenke, was du alles leisten und werden könntest – als Mitglied der Akonda-Familie – und welches kümmerliche Leben du jetzt zu führen ge-
8 zwungen bist. Oder haben die Sulithurs dich etwa unterstützt?« »Die Familie meiner Frau besteht aus ebensolchen Starrköpfen wie unsere Familie«, erklärte Caycon. »Anstatt zusammenzuarbeiten, richtet ihr die junge Kolonie mit eurem Streit noch zugrunde, Kuranth. Ich will nicht mitschuldig werden. Außerdem lieben Raimanja und ich uns.« »Liebe!« sagte Kuranth verächtlich. »Was ist schon Liebe! Eine Ausrede für sentimentale Naturen. Es schadet dem Ansehen unserer Familie, daß du dich mit einer Tochter des Gegners eingelassen hast.« »Wenn es euch schadet, dann schadet es den Sulithurs genauso«, entgegnete Caycon. »Außerdem sind deine Worte über die Liebe unglaubwürdig. Oder war es nur Sentimentalität, die dich dazu brachte, Gahsinja zu lieben, die als Kommandantin eines Raumschiffs den Tod fand?« In Kuranths Gesicht zuckte es. Der Mund öffnete sich wie zu einem Stöhnen. Doch dann preßte Kuranth die Lippen zusammen. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich verstehe dich ja, Bruder, aber ich unterwerfe mich freiwillig den Beschlüssen des Familienrats – und du solltest es auch tun. Was wäre unsere Welt, wenn wir nicht zusammenhielten?« »Was ist unsere Welt jetzt?« fragte Caycon bitter. »Heute wurde das Regierungsgebäude zerstört. Viele Arkoniden starben sinnlos. Wie lange soll es so weitergehen? Bis wir so geschwächt sind, daß Akon uns wieder in sein Reich einverleiben kann?« Kuranths Augen blitzten zornig. »Die Akonen wissen nicht, wo wir sind«, entgegnete er. »Und wenn sie es wüßten, würden sie es nicht wagen, auch nur eines ihrer Raumschiffe nach Urdnir zu schicken. Ich erkenne, du bist unbelehrbar. Vielleicht ändert sich das. Aber warte nicht, bis es zu spät ist. Die Geduld der Familie ist nicht unerschöpflich.« Er drehte sich um und ging. Nach einiger Zeit tauchte er wieder in den Schatten der Mauerruine unter.
H. G. Ewers Die beiden Männer, die außer Hörweite gewartet hatten, traten wieder neben Caycon. »Wir bringen dich zurück«, sagte der, der bisher immer gesprochen hatte.
* Ich konnte hören und sehen, aber ich spürte die Strahlen der heißen Arkonsonne nicht und spürte auch nicht den Wind, der die Zweige der Bäume bewegte. Es war ein seltsames, nie gekanntes Gefühl, körperlos zu schweben. Aber nach dem ersten Staunen stellte sich das Gefühl der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, ein, denn ich war nicht in der Lage, über mich selbst zu verfügen. Es schien, als wäre mein Geist – oder mein Bewußtsein, oder in welcher Form ich hier existierte – durch unsichtbare Bande an den Arkoniden Caycon gefesselt. In der ersten Zeit wurde meine Aufmerksamkeit durch die Ereignisse so beansprucht, daß ich nicht dazu kam, mich analytisch mit dem auseinanderzusetzen, was mit mir geschehen war. Als Caycon mit dem Gleiter zur Stadt zurückgeflogen wurde und ich unsichtbar mitflog, nahm ich mir die Zeit dazu. Mein Geist hatte sich aus meinem Körper gelöst und war in die Vergangenheit geschleudert worden, soviel begriff ich, nicht zuletzt dank der inneren Stimme, die mich darauf vorbereitet hatte. Ich durfte nur nicht darüber nachdenken, wie so etwas möglich gewesen war. Es mußte irgendwie mit dem Kerlas-Stab zusammenhängen. Vielleicht waren die Kräfte, die meinen Geist in die ferne Vergangenheit meines Volkes geschickt hatten, aus ihm gekommen. Aber wie konnte die Vergangenheit, die ich bisher immer für tot gehalten hatte, wiederbelebt werden? Und wenn sie wiederbelebt worden war, was war dann mit der Zukunft, die meine Gegenwart gewesen war, geschehen? Vergangenheit und Zukunft konnten doch nicht nebeneinander existieren! Oder doch? »Die Zukunft existiert noch nicht«, sagte jemand.
Brennpunkt Vergangenheit Verwirrt sah ich mich um – wenn man das, womit ich meine Umgebung »optisch« erfaßte, sehen nennen konnte. Aber außer dem Piloten, Caycon und den beiden Männern befand sich niemand im Gleiter, und von diesen vier Personen hatte niemand die Lippen bewegt. Außerdem, wie hätten sie hören können, was ich nur gedacht hatte? Sie ahnten ja überhaupt nichts von meiner Anwesenheit. »Natürlich nicht, mein Junge. Spürst du meine Gegenwart nicht?« Im gleichen Augenblick durchfuhr es mich wie ein Stromstoß. Da war etwas gewesen, das ich nicht hatte definieren können – und es war noch immer da. Und jetzt, da ich mich darauf konzentrierte, es wahrzunehmen, spürte ich es. Fartuloon! »Du bist also auch hier«, dachte ich. Plötzlich spürte ich ätherische Bewegung und etwas, das sich wie ein Wispern anfühlte. »Sind noch mehr hier außer uns?« »Anscheinend sind wir alle hier«, erwiderte Fartuloon. Ich konnte nur spüren, daß er es war, der zu mir »sprach«, da die Verständigung stimmlos erfolgte. »Aber offenbar muß man sich seelisch nahestehen, wenn man sich in diesem Zustand erkennen und verständigen will.« »Das ist alles Wahnsinn«, erwiderte ich. »Wie können wir hier sein, wenn die Zukunft noch nicht existiert und es uns damit auch noch nicht gibt? Wir können ja nicht einmal geboren sein!« »Es gab die Zukunft – unsere Gegenwart«, antwortete Fartuloon. »Sie hörte auf zu existieren, als wir auf diese Zeitebene kamen. Aber sie muß zwangsläufig so entstehen, wie wir sie kennen, sonst hätten wir sie nicht so erleben können.« »Ich kann mir das alles nicht vorstellen«, erwiderte ich. »Wie können wir – wenn auch nur als geistige Gebilde – existieren, wenn wir noch nicht geboren wurden?« »Weil wir uns auf der existenten Zeitebene befinden«, erklärte Fartuloon. »Außerdem sprechen die Tatsachen für sich.
9 Dir bleibt nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren, auch wenn du sie nicht verstehst.« »Vielleicht träumen wir nur«, gab ich zurück. »Der Kerlas-Stab könnte uns hypnotisch in einen tiefen Schlaf versetzt haben und einen Traum suggerieren.« »Theoretisch wäre das denkbar, aber ich halte es für unwahrscheinlich«, entgegnete mein Pflegevater. »Aber konzentrieren wir uns wieder auf die Geschehnisse, denn der Gleiter setzt zur Landung an. Sicher ist es wichtig für uns in unserer zukünftigen Gegenwart, daß wir alle Informationen sammeln, die sich uns hier anbieten.« Ich mußte Fartuloon beipflichten. Erneut richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den jungen Arkoniden namens Caycon …
2. Caycon stieg aus dem Gleiter. Er blickte nicht zurück, sondern ging zielstrebig die Hauptstraße hinunter. Auf der gegenüberliegenden Seite waren Aufräumungstrupps dabei, die schaumbedeckten Trümmer mit Traktorstrahlen auseinanderzuziehen. Nur noch wenige Leute sahen zu. Die meisten Arkoniden hatten andere Sorgen genug, um sich länger als nötig um ein Attentat zu kümmern. In erster Linie mußte der Lebensunterhalt bestritten werden. Da es noch keine Fabriken für Synthonahrung gab, hing die Ernährung in erster Linie von dem Ertrag ab, den man dem Boden abrang. Folglich arbeiteten die meisten Kolonisten in der Landwirtschaft. Glücklicherweise waren auf dem Planeten, den man Arkon genannt hatte, große Herden von Wildrindern entdeckt worden, die sich zähmen ließen. Die ersten Züchtungsversuche waren überraschend erfolgreich verlaufen. Aber Caycon hatte keine Aussichten, Vieh oder Land zugeteilt zu bekommen. Über beides verfügten ausschließlich die beiden verfeindeten Familien. Seine Familie würde ihm nichts zuteilen, weil er mit einer Sulithur zusammenlebte – und Raimanjas Familie versagte ihr jede Hilfe, weil sie
10 einen Akonda liebte. So blieb Caycon weiter nichts übrig, als von der Jagd zu leben, die immer schwieriger wurde, weil auch andere Männer jagten und dadurch das Wild in der Nähe der Städte immer knapper wurde. Zwar trug Raimanja ihr Teil bei, indem sie Beeren und Pilze sammelte, aber Beeren und Pilze gab es nur zu bestimmten Jahreszeiten. Caycon bog nach links in eine Gasse ab. Hier gab es einige kleine Läden, die weder den Akondas noch den Sulithurs gehörten. Entsprechend begrenzt war das Warenangebot. Vor einem der Schaufenster blieb Caycon stehen. Er musterte die ausgestellten Waffen. Es handelte sich ausschließlich um ein- und zweihändige Schußwaffen, die Projektile mit chemischen Treibladungen verschossen. Andere Waffen waren nicht für den freien Verkauf zugelassen, deshalb hatten sich einige technisch begabte Männer auf die Herstellung von Feuerwaffen nach alten historischen Vorbildern spezialisiert. Caycon betrat den Laden. Hinter der Theke saß der alte Ghodem auf einem Stuhl. Er hatte ein verwüstetes Gesicht und künstliche Arme und Beine. Seine natürlichen Gliedmaßen waren bei der Explosion seines Raumjägers auf der Strecke geblieben. Er hatte nur überlebt, weil der Raumjäger in der Atmosphäre eines Planeten geflogen war, als er von einem Energiestrahl getroffen wurde. »Ich grüße dich, Ghodem!« sagte Caycon. Das verwüstete Gesicht hellte sich auf. »Ich grüße dich, Caycon!« sagte Ghodem. »Wie geht es dir und Raimanja?« »Man schlägt sich durch«, antwortete Caycon. »Das Wild wird immer knapper, teils durch die Abschüsse und teils durch die Rodung von immer mehr Land. Aber wie sollen wir sonst zu Nahrung und Kleidung kommen?« »Ja, es ist schlimm«, erwiderte Ghodem. »Wenn es den großen Familien so dreckig ginge wie uns, würden sie vielleicht Vernunft annehmen, aber so …« »Auch so kann dieser Zustand nicht lange bestehen bleiben«, meinte Caycon. »Irgend etwas muß geschehen. Ghodem, ich brauche
H. G. Ewers nichts weiter als zwei Schachteln Munition für meine Büchsflinte, aber ich kann dir zur Zeit nichts zahlen. Ich muß erst ein paar Ruords schießen und die Felle verkaufen.« Ghodem seufzte. »Eigentlich habe ich mir vorgenommen, meine Waren nur noch gegen Barzahlung abzugeben. Die meisten Jäger haben Schulden bei mir, und wenn das so weitergeht, kann ich bald nichts mehr einkaufen. Aber bei dir will ich noch einmal eine Ausnahme machen.« Er erhob sich und bewegte sich etwas steifbeinig auf ein Regal zu. Die Prothesen waren keine technischen Meisterleistungen, da die hochwertigen Schwingquarze zur Steuerung der Bioelektronik nur für die Feuerleitsysteme der Kampfraumschiffe verwendet wurden. So mußten sich die Prothesenhersteller mit minderwertigem Ersatzmaterial begnügen. Ghodem fischte zwei Schachteln mit Munition, eine mit Langgeschossen und eine mit Schrotpatronen, aus dem Regal und legte sie vor Caycon auf die Ladentheke. »Das macht fünf Merkons, mein Junge.« »Fünf Merkons?« fragte Caycon erschrocken. »Das letztemal habe ich dafür nur vier Merkons bezahlt.« »Inzwischen haben die Hersteller ihre Preise erhöht«, sagte Ghodem. »Aber es wird ja alles teurer. Mit unserer Wirtschaft geht es bergab.« »Hoffentlich wird dann auch für Rohfelle mehr gezahlt«, erwiderte Caycon. »Ich hoffe, daß ich dir in zwei Tagen das Geld bringen kann, Ghodem.« Ghodem lächelte. Es wirkte bei seinem entstellten Gesicht wie das Grinsen eines Dämons. »Dann wünsche ich dir viel Glück bei der Jagd, Caycon!« »Danke, Ghodem!« sagte Caycon. Er verstaute die Munition in den Beintaschen seiner Allzweck-Kombination, dann verließ er den Laden. Außerhalb der Stadt stand die Hütte, die er mit Raimanja bewohnte. Dort befand sich
Brennpunkt Vergangenheit auch sein Jagdgewehr, denn es war verboten, die Stadt bewaffnet zu betreten. Nur die Kampfgruppen der verfeindeten Familien wagten es, gegen das Verbot zu verstoßen, oft mit fatalen Folgen für beide Seiten – und manchmal auch für Unbeteiligte.
* Raimanja wartete unter der Tür der Hütte, als Caycon nach Hause kam. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht«, erklärte sie ohne Vorwurf. Caycon berichtete ihr von dem Attentat auf die Regierungskuppel und der erzwungenen Unterredung mit Kuranth. Raimanja lächelte schmerzlich und hoffnungsvoll zugleich. »Vielleicht ändert sich das in absehbarer Zeit, Caycon«, sagte sie. Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, ergriff sie seine Hand und legte sie auf ihren Leib. »Wir beide, Caycon, lassen uns von unseren Familien auseinanderhalten, du bist ein Akonda und ich bin eine Sulithur. Aber unser Kind wird beides in einem sein, ebenso vom Blut der Akondas wie der Sulithurs, und dadurch werden Blutsbande geschaffen, die die Akondas und die Sulithurs zusammenführen können.« Caycon fühlte, wie eine Welle der Freude in ihm aufstieg. Nach kurzem Stocken arbeitete sein Herz schneller. Er holte tief Luft. »Du bist …?« »Schwanger, ja. Ich habe es heute gemerkt. Wir werden ein Kind bekommen, Caycon.« Impulsiv umarmte Caycon Raimanja, küßte sie und strich ihr übers Haar. »Ich bin sehr glücklich«, flüsterte er ihr ins Ohr. Plötzlich spürte er einen schmerzhaften Stich in der Brust. Seine Haltung versteifte sich. Raimanja merkte es und schaute ihm ins Gesicht. »Was hast du plötzlich, Caycon?« fragte sie besorgt.
11 »Es ist nichts«, versuchte Caycon auszuweichen. Doch er merkte, daß es zu spät dazu war. »Was wird mit unserem Kind geschehen?« fragte er. »Wir müssen die Schwangerschaft melden, wie das Gesetz es befiehlt, und das bedeutet auch, daß man uns das Kind nach der Geburt wegnehmen wird, um es so zu erziehen, daß es sich unserem Volk später stärker verpflichtet fühlt als seinen Eltern, die es nie bewußt kennenlernen wird.« Raimanja wurde bleich. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht«, flüsterten ihre blassen Lippen. »Caycon, ich will mein – unser – Kind nicht hergeben!« »Alle Eltern müssen ihre Kinder hergeben, Raimanja«, erwiderte Caycon tonlos. »Wahrscheinlich ist das sogar besser so. Darin wird es künftig keine familiären Bande mehr geben und folglich auch keine Familien mehr, die sich gegenseitig bekämpfen.« »Das ist kein Argument, Caycon – und das weißt du«, gab Raimanja zurück. »Wenn es keine Familien mehr gibt, werden sich andere Gruppierungen bilden. Das Gesetz über die staatliche Erziehung der Kinder ist ebenso sinnlos wie grausam. Ich sehe nicht ein, daß ich unser Kind nur austragen und gebären darf – und es dann für immer aus den Augen verlieren soll. Lieber will ich mit dir fliehen. Auf Arkon gibt es noch genug unerforschte Gegenden, in denen die Kolonisationspolizei uns nicht findet.« Caycon führte Raimanja zu einem Stuhl und hieß sie sich setzen. Dann nahm er ihr gegenüber Platz. »In der Wildnis leben, heißt, in den Verhältnissen von Primitiven leben«, sagte er. »Selbst dann, wenn ich einen gewissen Vorrat an Munition kaufen könnte, würde er nicht lange reichen. Danach müßte ich mit der Steinschleuder und mit Pfeil und Bogen auf die Jagd gehen. Wir müßten uns in Felle kleiden, unsere Mahlzeiten über offenem Feuer zubereiten – und wir würden unserem Kind nichts von den Annehmlichkeiten der Zivilisation bieten können. Überlege dir, ob
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H. G. Ewers
du das wirklich willst.« Raimanja erschauderte. »Aber was können wir sonst tun, um unser Kind nicht zu verlieren?« fragte sie ratlos. »Wir dürfen vor allem nichts überstürzen«, erklärte Caycon. »Außer uns weiß niemand, daß du schwanger bist, und vorläufig wird man dir auch nichts ansehen können. Wir haben mindestens noch vier Monate Zeit, um uns etwas einfallen zu lassen.« Er wußte, daß sich das Problem auch in vier Monaten nicht würde lösen lassen, aber für den Augenblick war er froh, daß sie die Entscheidung hinauszögern konnten. »Uns wird ganz bestimmt etwas einfallen«, sagte Raimanja und versuchte ein hoffnungsvolles Lächeln. »Aber du mußt hungrig sein, Caycon. Komm, laß uns essen, bevor du zur Jagd aufbrichst!« Sie stand auf und ging zum Elektroherd. Der Tisch war bereits gedeckt, und Raimanja stellte eine Schüssel mit geschmorten Pilzen auf den Tisch. Dazu gab es Brot, das sie selbst gebacken hatte. Caycon hatte schon zu lange kein richtiges Brot mehr gegessen, als daß er sich noch daran störte, daß es zur Hälfte aus gemahlenen stärkehaltigen Baumfrüchten gebacken war. Den leicht bitteren Nachgeschmack bemerkte er kaum. Nach der Mahlzeit schnallte sich Caycon das gebraucht erworbene Flugaggregat auf den Rücken, nahm sein Jagdgewehr und verabschiedete sich von Raimanja. Draußen startete er und nahm Kurs nach Norden, wo es in nicht zu weiter Entfernung noch unberührte Wildnis gab.
* Es war wie verhext. So verzweifelt Caycon auch suchte, an diesem Tage schienen alle Ruords in ihren Höhlen geblieben zu sein. Schon überlegte er sich, ob er nicht einen der zahlreichen durch die Wildnis streifenden Triaps schießen sollte, damit Raimanja und er wenigstens Frischfleisch bekämen, da entdeckte er das Yilld.
Yillds waren Riesenreptilien, halb Schlangen, halb Drachen, und so selten, daß von hundert Jägern höchstens einer einmal in seinem Leben einem begegnete. Ihre Haut war so kostbar und begehrt, daß für eine einzige rund neunhundert Chronners gezahlt wurden – und ein Chronner war immerhin zehn Merkons wert. Dennoch verpaßte Caycon die günstige Gelegenheit, das Yilld zu erlegen, als es sich auf einem glatten Felsblock sonnte. Zu sehr war er von seinem Anblick fasziniert, und als er seine Scheu davor überwand, ein so herrliches und seltenes Tier zu töten, hatte das Yilld ihn entdeckt und war beinahe lautlos zwischen den nächsten Felsblöcken untergetaucht. Caycon packte sein Gewehr fester und eilte dem Tier nach. Noch immer plagten ihn Skrupel, aber seine finanzielle Lage war so verzweifelt, daß er die Bedenken beiseite schob. Wenn er das Yilld erlegte und seine Haut verkaufte, hatten Raimanja und er für einige Monate ausgesorgt. Dann konnte er sich genug Munition kaufen, um so viele Ruords zu schießen, denn oft hatte er Hunderte dieser kleinen Pelztiere gesehen und nur noch eine Patrone im Lauf gehabt. Caycon kletterte auf einen der höchsten Felsbuckel, um Ausschau nach dem Yilld zu halten. Für einen Augenblick sah er die in allen Farben schillernde Haut zwischen zwei Felsblöcken, dann war sie wieder verschwunden. Caycon schaltete das Flugaggregat ein und steuerte in die Richtung, in der er das Yilld gesehen hatte. Das Tier konnte ihm nicht mehr entkommen, denn rund zweihundert Schritte weiter versperrte eine beinahe senkrechte Felswand ihm den Fluchtweg. Aber sein altes Flugaggregat spielte ihm einen Streich. Es stotterte plötzlich, so daß Caycon an Höhe verlor. Er kannte diese Mucken gut genug, um damit fertig zu werden. Der Fehler lag an der elektronischen Steuerung des Luftansauggeräts. Der Öffnungsquerschnitt verringerte sich manchmal selbsttätig. Caycon hatte deshalb eine selbst-
Brennpunkt Vergangenheit gebaute Manuellschaltung angebracht, die er mit Hilfe eines Kunststoffseils betätigen konnte. Nachdem er ein paarmal kräftig an dem Seilgriff gezogen hatte, normalisierte sich die Arbeit des Flugaggregats wieder. Als er wieder an Höhe gewonnen hatte, sah er das Yilld, wie es über einen besonders hohen Felsbuckel huschte. Zehn Schritt weiter ragte die Felswand auf. Dort würde die Flucht des Tieres enden. Caycon steuerte den letzten Felsbuckel an und landete auf ihm. Aber von dem Yilld war weit und breit nichts mehr zu sehen. Der Grund dafür lag auf der Hand. Es mußte in der Höhle verschwunden sein, dessen rechteckiger Eingang sich am Grunde der Felswand befand. Caycon stieß eine Verwünschung aus. Wenn die Höhle sich verzweigte, würde die Jagd nicht nur sehr viel schwerer, sondern auch gefährlich werden. Ein in die Enge getriebenes Yilld sollte sich aus einem scheuen Tier in eine blindwütige angreifende Bestie verwandeln. Deshalb überlegte Caycon sich genau, wie er vorgehen wollte. Er fürchtete sich zwar nicht, aber da er nun die Verantwortung für Raimanja und sein ungeborenes Kind trug, mußte er alles tun, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten. Da ihn das Flugaggregat in der Höhle nur behindert hätte, schnallte er es ab. Er ließ es einfach auf dem Felsbuckel liegen, stieg hinab und schaltete den Handscheinwerfer ein, der in einer Magnethalterung auf dem Brustteil seiner Kombination befestigt war. Indem er das Gewehr schußbereit in Hüfthöhe hielt, drang er langsam in die Höhle ein. Er zuckte zusammen, als er ein hartes Flattern hörte und von einem Luftzug gestreift wurde. Ein Vogel war durch den Lichtkegel aufgeschreckt worden und flüchtete ins Freie. Caycon blieb stehen und drehte sich langsam, damit der Lichtkegel die nähere Umgebung vollständig ausleuchtete und das Yilld ihn nicht überraschte. Von dem Tier war nichts zu sehen, aber da die Höhle sehr tief in den Fels führte, würde es sich bestimmt weiter hinten ver-
13 krochen haben, Caycon ging vorsichtig weiter, umrundete ein kreisförmiges Loch und gelangte rund hundert Schritt weiter an den Abschluß der Höhle. Verblüfft ließ er den Lichtkegel umherwandern. Das Yilld konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. Aber es war nirgends zu sehen. Es kann nur durch das Loch entwischt sein! überlegte Caycon. Er kehrte um und blieb neben dem Loch stehen. Die Öffnung durchmaß etwa vier Schritt. Als Caycon niederkniete, die Lampe in die linke Hand nahm und in das Loch leuchtete, erblickte er einen senkrecht verlaufenden Schacht, dessen Wände so glatt waren, als wären sie mit Desintegratoren aus dem Fels geschnitten worden. Tief unten glaubte Caycon den Boden des Schachtes an einem Lichtreflex zu erkennen. Das Yilld konnte nur über die einen halben Schritt breite Rampe entkommen sein, die sich in zahlreichen Windungen an der Schachtwand hinabschraubte. Caycon überlegte, ob er sein Flugaggregat holen sollte, entschied sich aber, ebenfalls die Rampe zu benutzen. Er hängte sich das Gewehr am Riemen über die Schulter und begann mit dem Abstieg. Der Schacht endete in einem Felskorridor. Caycon leuchtete nach oben und schätzte die Höhe auf neunzig Schritt. Er befestigte die Lampe wieder in der Brusthalterung und drang in den Felskorridor ein. Nach ungefähr hundert Schritt stieß er auf ein zweites Loch, das dem ersten völlig glich. Er leuchtete hinein und sah, daß es wiederum die Öffnung eines Schachtes war. Caycon ahnte, daß das Yilld auch diesen Schacht benutzt hatte. Dennoch folgte er dem Felskorridor bis zu seinem Ende, und erst, als er wußte, daß das Yilld sich dort nicht verbarg, kehrte er zu dem Loch zurück. Auch hier gab es eine spiralförmige Rampe. Caycon zweifelte unterdessen nicht mehr daran, daß er sich in einem künstlich angelegten Höhlensystem befand. Die Natur hät-
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te vielleicht einen Schacht mit einer spiralförmigen Rampe schaffen können, aber nicht zwei, noch dazu so nahe beisammen. Ein leiser Schauder überlief den jungen Mann, als er sich vorzustellen versuchte, daß es auf Arkon schon einmal eine Kolonie gegeben hatte. Oder: Arkon war die Heimatwelt eines ausgestorbenen Volkes gewesen. Fragte sich nur, warum es ausgestorben war und warum es solche Höhlen angelegt hatte. Um sich gegen Angriffe aus dem Weltraum zu schützen? Am Grunde des zweiten Schachtes fand Caycon wieder einen Felskorridor. Er war schmal und rechtwinklig wie der erste, mit glatten Wänden und einer Decke, die das Licht so ähnlich wie Glassit reflektierte. Plötzlich stand Caycon im Eingang einer Halle. Er leuchtete sie mit der Lampe aus. Die gegenüberliegende Wand war so weit entfernt, daß sie das Licht kaum noch reflektierte, aber Caycon schätzte die kuppelförmige Halle so groß, daß darin bequem ein Beiboot von fünfzig Schritt Durchmesser Platz gehabt hätte. In der Wandung befanden sich rechteckige Öffnungen, die Einmündungen von weiteren Korridoren. Von dem Yilld war nichts zu sehen. Dennoch zögerte Caycon, und nicht nur, weil es zu viele Korridore gab, in denen das Tier untergetaucht sein konnte, sondern vor allem deshalb, weil er plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
* War das wirklich der Planet, der jetzt Arkon genannt wurde und viel später, wenn zwei gleich große Planeten auf die gleiche Umlaufbahn gebracht worden waren, Arkon I heißen würde? Ich war mir mit einemmal gar nicht mehr so sicher. Fartuloon hatte mir nie davon erzählt, daß auf Arkon I jemals Spuren einer Zivilisation gefunden worden seien, die untergegangen war, längst bevor das Imperium gegründet wurde. Das Höhlensystem, in das Caycon eingedrungen war, hätte doch nie-
mals in Vergessenheit geraten können. Oder doch? Caycon hatte sich unterdessen entschlossen, seine Suche nach dem Riesenreptil fortzusetzen, obwohl er wissen mußte, daß die Aussichten, das Tier noch aufzuspüren, sich stark verringert hatten. Es konnte sich in dem Korridor verbergen, den er als letzten untersuchte und entkam vielleicht nach oben, während er gerade einen der anderen Korridore durchstreifte. Während ich – beziehungsweise mein Geist – dem jungen Mann folgte, als wäre ich mit unsichtbaren Seilen an ihn gefesselt, überlegte ich, ob ich Einfluß auf die Geschehnisse jener Epoche nehmen könnte. Die Unvernunft der herrschenden Familien erzürnte mich so, daß ich Ihnen am liebsten eine Lektion erteilt hätte. »Das wäre genauso unvernünftig wie die Handlungsweise der verfeindeten Familien«, teilte Fartuloon mir mit. »Außerdem, wie sollten wir in unserer Zustandsform Einfluß auf die Geschehnisse nehmen?« »Du hast recht«, gab ich zu. »Dennoch ärgert es mich, daß man sich zerstritten hat, obwohl man nur in gemeinsamer Anstrengung die Schwierigkeiten der jungen Kolonie meistern kann. Weißt du nichts über diese Epoche und wie der Streit der Familien beendet wurde? Er muß schließlich irgendwann beendet worden sein, sonst hätte das Große Imperium nicht entstehen können.« »Es gibt keine Aufzeichnungen aus dieser Epoche«, erwiderte mein Pflegevater. »Auch keine Legenden – außer der von Caycon und Raimanja?« forschte ich weiter. »Legenden helfen uns nicht weiter, mein Junge«, gab Fartuloon zurück. Ich hatte das Gefühl, als wollte mein Pflegevater mir etwas verschweigen. Es war zu offenkundig, daß ihm das Thema nicht behagte. Da ich seine Gefühle respektierte, wechselte ich zudem anderen Thema über, das mich interessierte. »Weißt du, warum kein arkonidischer Historiker und auch kein anderer Wissenschaftler jemals die Spuren der untergegan-
Brennpunkt Vergangenheit genen Zivilisation erwähnte, die es doch gegeben hat, wie wir sehen können?« erkundigte ich mich. »Ich weiß es nicht, aber ich denke mir, daß die Generationen, die auf die von Caycon folgten, das Wissen über solche Funde unterdrückten und vielleicht sogar absichtlich die Spuren zerstörten. Bedenke, daß die damaligen Arkoniden, auch nachdem sie ihre innere Zerstrittenheit überwunden hatten, mit gewaltigen Schwierigkeiten kämpfen mußten. Es ist verständlich, daß sie unter solchen Umständen ihre neue Heimat; von der aus sie ein Imperium aufzubauen gedachten, nicht mit einer untergegangenen Zivilisation teilen mochten, die vielleicht mächtiger war als die ihre.« Das leuchtete mir ein. Außerdem war es immer deprimierend, vor den Zeugen einer großartigen Zivilisation zu stehen, die trotz ihrer gewaltigen Leistungen schließlich untergegangen und in Vergessenheit geraten war. So etwas führte, zwangsläufig zu der Überlegung, daß alle Zivilisationen vergänglich waren und damit auch die eigene. Für ein Volk, das sich gerade eine Zivilisation beziehungsweise ein Sternenreich aufbauen will, können solche Überlegungen gefährlich werden, weil sie den Elan hemmen. Ich beendete meine Grübeleien, als Caycon einen Saal von gewaltiger Ausdehnung erreichte. Seltsamerweise konnte ich den Saal in seiner ganzen Ausdehnung »überblicken«, obwohl der Jäger nur das sah, was vom Lichtkegel seines Handscheinwerfers angestrahlt wurde. Alles das, was Caycon nicht sah, war für mich von einem düsteren Nebel erhellt. Der Saal war nicht rund, sondern viereckig und mochte 200 mal 250 Schritt messen. Genau in der Mitte stand etwas, das einem Tisch ähnelte. Das Material schien selbsttemperierender Kunststoff zu sein, etwas, an dem wir zu meiner Zeit erst experimentierten. Aus dem gleichen Material waren die sieben Stühle, die an einer Längsseite des Tisches standen. Hinter den sieben Stühlen standen die Statuen fremdartiger Le-
15 bewesen. Meiner Meinung nach mußte es sich um die Statuen von Tieren handeln. Nach einer Weile erschienen mir einige der dargestellten Tiere gar nicht mehr so sehr fremdartig, beispielsweise die Statue, die einem unserer arkonidischen Parkrinder ähnelte, aber irgendwie anders proportioniert war. Caycon hatte sich in den Saal hineingewagt und stieß einen Schrei aus, als der Lichtkegel seines Handscheinwerfers auf den Tisch die Stühle und die Tierstatuen fiel. Er war offenbar nicht nur überrascht, sondern auch erschrocken. Es dauerte einige Zeit, bis er es wagte, näher an die Dinge heranzugehen und sie zu berühren. Er zuckte zusammen, als ein dünnes Pfeifen ertönte. Ich konnte mir das Geräusch nicht erklären, bis ich bemerkte, daß Caycons Haar von Windstößen gezaust wurde. Verständlich, daß der Jäger erschrocken war, denn bis in diese Tiefen durfte eigentlich kein Luftstrom dringen. Caycon hatte danach offenkundig genug von diesem für ihn unheimlichen Ort. Er kehrte um, verzichtete darauf, weiter nach dem Yilld zu suchen und stieg in die Außenwelt zurück. Entmutigt schnallte er sich sein Flugaggregat wieder auf den Rücken und startete. Ich war gespannt darauf, wie es weiterging, denn hätten Caycon und Raimanja in ihrer Zeit nicht eine bedeutende Rolle gespielt, wäre niemals eine Legende um sie entstanden …
3. Caycon war niedergeschlagen. Er gab sich selbst die Schuld daran, daß ihm die wertvollste Jagdbeute seines Lebens entgangen war, weil er im entscheidenden Moment gezögert hatte. Warum er aus der riesigen Halle geflohen war, konnte er sich hinterher nicht mehr so recht erklären. Schließlich war es nicht undenkbar, daß ein künstlich angelegtes Höhlensystem über Lüftungssysteme verfügte,
16 die mit der Außenwelt in Verbindung standen: Als Caycon merkte, daß er über eine kleine Herde Triaps hinweggeflogen war, wurde ihm bewußt, daß er unter Schockwirkung stand. Die Erlebnisse in dem Höhlensystem schienen ihn doch stärker beeindruckt zu haben, als er zuerst angenommen hatte. Er betätigte die in der Gürtelschnalle seiner Kombination untergebrachte Steuerung und kehrte in weitem Bogen zurück, bis er die Triaps wieder erblickte. Die Tiere wühlten grunzend und schnaubend im weichen Boden einer Waldlichtung. Das Röhren des Flugaggregats schien sie nicht zu stören. Caycon landete rund hundert Meter von ihnen entfernt zwischen hohen Bäumen. Er schaltete das Flugaggregat aus, nahm sein Gewehr von der Schulter und entsicherte einen der beiden Kugelläufe. Danach pirschte er sich lautlos an die Triaps heran. Am Rand der Lichtung blieb er stehen. Die Tiere waren leicht beunruhigt. Sie hatten die mächtigen Schädel hochgereckt und schnüffelten mit ihren Rüsselnasen. Ihre kleinen nackten Schwänze waren jedoch nicht erhoben, sondern wedelten eifrig hin und her, ein Zeichen, daß die Triaps ihn nicht gewittert oder gehört hatten, sondern nur instinktmäßig wachsam waren. Langsam legte Caycon das Gewehr an, zielte auf ein mittelgroßes weibliches Tier und drückte ab. Der Schuß krachte unnatürlich laut und brachte die üblichen Geräusche des Waldes schlagartig zum Verstummen. Das getroffene Tier knickte ohne einen Laut in den Vorderbeinen ein, dann legte es sich auf die Seite. Seine Beine bewegten sich in dem Kampf, der den ganzen Körper durchlief, dann entspannten sie sich. Die übrigen Tiere stoben erschrocken davon. Caycon lud den abgeschossenen Lauf nach, hängte sich das Gewehr wieder über und trat auf die Lichtung. Unterwegs zog er sein Jagdmesser. Es war ein gewöhnliches Messer mit scharfgeschliffener Stahlklinge. Ein Vibratormesser wäre zu kostspielig gewesen, vor allem, weil die Energiemagazine,
H. G. Ewers die von Zeit zu Zeit erneuert werden mußten, zu teuer waren. Neben dem Triap kniete Caycon nieder. Die Kugel hatte es genau ins Herz getroffen. Es war sofort tot gewesen. Caycon weidete es fachmännisch aus. Er war gerade fertig damit, als ihn sein Instinkt warnte. Blitzschnell ließ er das Messer fallen und machte eine ruckartige Bewegung mit der Schulter, über der das Gewehr hing. Die Waffe glitt ihm in die Hände. Gleichzeitig hatte sich Caycon umgedreht, so daß er den Waldrand hinter sich ins Blickfeld bekam. Die beiden Ongtrees, die sich, tief auf den Boden geduckt, halb über die Lichtung geschlichen hatten, sprangen auf und griffen sofort an. Ongtrees waren geschmeidige Raubkatzen, die an das Leben im Dschungel angepaßt waren. Wahrscheinlich befand er sich in ihrem Revier und wurde von ihnen weniger als Beute denn als Eindringling angesehen, der getötet oder vertrieben werden mußte. Ihre Taktik war so einfach wie vollkommen. Sie griffen ihn in einer Zangenbewegung von zwei Seiten an. Caycon zielte und schoß auf das von links heranstürmende Tier. Er sah noch, daß die Kugel es zurückschleuderte, dann schnellte er hoch und rollte sich über den Triap, um dem zweiten Tier zu entgehen. Der zweite Ongtree landete halb auf dem toten Triap, fauchte und schnellte sich herum. Mit dem nächsten Sprung konnte er Caycon nicht verfehlen. Aber der Jäger war schneller. Er schoß, als die Raubkatze die Muskeln zum Sprung spannte. Das Tier kam noch hoch, dann brach es über dem Triap zusammen. Rasch lud Caycon die beiden leergeschossenen Kugelläufe nach, dann sah er sich um. Aber außer den beiden Ongtrees war kein Raubtier zu sehen, und diese beiden waren tot. Caycon atmete auf. Er überzeugte sich davon, daß die beiden Ongtrees tatsächlich tot waren, denn mancher Jäger hatte schon sein Leben oder seine Gesundheit eingebüßt,
Brennpunkt Vergangenheit weil er eine Raubkatze für tot hielt und dann, als er sie abhäuten wollte, angefallen wurde. Während Caycon anschließend die beiden Ongtrees abhäutete, besserte sich seine Laune. Die Ongtree-Felle würden ihm mindestens dreißig Chronners bringen. Morgen konnte er seine Schuld bei Ghodem begleichen und außerdem noch verschiedene Dinge einkaufen, die Raimanja und er bitter nötig hatten. Die beiden Häute rollte Caycon zusammen und verstaute sie in dem Jagdsack, der unter seinem Flugaggregat befestigt war. Den ausgeweideten Triap befestigte er mit Gurten an der Lastenhalterung vor seinem Bauch. Danach startete er und beschleunigte vorsichtig, um das alte Aggregat nicht zu sehr zu belasten. Anderthalb Stunden später drosselte er das Flugaggregat und setzte zur Landung an. Er runzelte die Stirn, als er den schweren geschlossenen Gleiter entdeckte, der am Rand der Lichtung schwebte, auf der die Hütte stand. Hatte Raimanja vielleicht Besuch von einem Mitglied ihrer Familie bekommen? Caycon landete neben der Hütte, schnallte den Jagdsack und den Triap los und ging auf die Tür zu. Sie öffnete sich vor ihm. Ein hochgewachsener breitschultriger Mann stand in der Öffnung. Er trug den Funkhelm und die hellblaue Uniformkombination der Kolonisationspolizei. »Komm nur herein, Caycon!« sagte er und grinste aufmunternd. Mit gemischten Gefühlen trat Caycon ein. Raimanja saß in der Wohnküche auf einem Stuhl. Drei weitere Polizisten standen mit verschränkten Armen vor ihr. Caycon sah, daß Raimanja geweint hatte. »Was geht hier vor?« erkundigte er sich schroff. Der hinter ihm eingetretene Polizist versetzte ihm einen derben Stoß in den Rücken, so daß Caycon drei Schritte nach vorn stolperte. »Auch noch frech werden, was?« fragte er höhnisch.
17 Caycon fuhr herum, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich protestiere gegen diese Behandlung!« schrie er. »Wir sind keine Verbrecher, sondern freie Bürger.« »So?« erwiderte der Polizist lauernd. »Dann verrate uns mal, wie ihr das nennt, gegen das Gesetz zur Anmeldung von Schwangerschaften zu verstoßen!« Caycon schaute sich nach Raimanja um. Als sie nickte, wußte er, daß es zwecklos war, alles abstreiten zu wollen. Die Dämonen mochten wissen, wie die Polizei von Raimanjas Schwangerschaft erfahren hatte, aber sie wußten nun einmal davon. »Wir hätten es morgen gemeldet«, erklärte er. »Heute ging es nicht mehr, weil ich zur Jagd mußte.« »Morgen wäre es auch nicht gegangen – und übermorgen auch nicht«, höhnte der Polizist. »Vielleicht erst in vier Monaten, wenn es sich nicht mehr verbergen ließ, wie? Oder hättet ihr euch dann dem Gesetz entzogen?« Caycon wurde blaß. Wieder schaute er sich nach Raimanja um. Sie schüttelte diesmal den Kopf. Folglich hatte sie nichts über ihr Gespräch verraten. Aber woher wußte die Polizei dann über alles Bescheid? Es gab nur eine Antwort darauf. Die Polizei mußte über eine verborgene Abhöranlage alles mitgehört haben. Das konnte aber nur bedeuten, daß sie alle erwachsenen Arkoniden überwachte, wahrscheinlich mit Ausnahme der führenden Familien. »Das ist ungeheuerlich!« entfuhr es ihm. »Warum haben wir gekämpft und unbeschreibliche Opfer gebracht, um unabhängig, frei, zu sein, wenn wir uns in unserer neuen Heimat bespitzeln lassen sollen!« »Sei vorsichtig mit solchen Äußerungen, Caycon!« drohte der Polizist, der bisher allein gesprochen hatte. »Sie könnten als Anstiftung zum Aufruhr ausgelegt werden.« »Das ist mir egal«, entgegnete Caycon trotzig. »Mir auch«, sagte der Polizist. »Wir nehmen deine Freundin mit zur Zwangsuntersuchung und Registrierung. Wahrscheinlich
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müssen wir sie wegen Fluchtgefahr inhaftieren, aber darüber entscheidet der Richter. Du kannst hier bleiben. Allerdings wirst du dich, genau wie deine Freundin, vor Gericht verantworten müssen.« Caycon merkte, daß er vor Zorn zitterte. »Ihr wollt Raimanja verschleppen!« schrie er außer sich. »Das lasse ich nicht zu!« Seine Faust schoß vor und landete im Gesicht des vor ihm stehenden Polizisten. Der Mann taumelte zurück, ging aber nicht zu Boden. Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze der Wut. »Dich machen wir fertig!« erklärte er. Als er kam, nahm Caycon die Arme zur Deckung hoch. Er vergaß, daß hinter ihm drei weitere Polizisten standen und merkte es erst, als je ein Mann einen Arm von ihm packte und auf den Rücken drehte. Der Polizist vor ihm holte aus …
* Als Caycon aus dem Dunkel der Bewußtlosigkeit auftauchte, hatte er das Gefühl, aus tiefem Wasser an die Oberfläche zu steigen und dort gegen einen Schiffsrumpf zu stoßen. Sein Schädel schmerzte, als fänden im Innern ständig kleine Explosionen statt. Erst nach längerer Zeit ebbten die Schmerzen soweit ab, daß Caycon halbwegs klar denken konnte. Er bemerkte, daß es dunkel war und er auf einem Fußboden lag. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er im blassen Licht der Sterne, das durch die Fenster fiel, die Umrisse der Möbel erkennen. Er stellte fest, daß er sich in der Wohnküche der Hütte befand. Plötzlich kehrte die Erinnerung an die Polizisten zurück und an das, was geschehen war. Die Polizisten hatten ihn brutal zusammengeschlagen und Raimanja fortgeschleppt. Nur flüchtig dachte er daran, die Polizisten wegen schwerer Körperverletzung anzuzeigen. Es hätte keinen Sinn gehabt, da er Widerstand geleistet hatte. Aber das war ihm auch nicht so wichtig. Wichtig war nur,
daß Raimanja verschleppt und zwangsweise medizinisch untersucht worden war. Wahrscheinlich hatte man sie anschließend in eine Zelle des nächsten Polizeireviers gesperrt. Langsam stemmte Caycon sich hoch. Alle Knochen taten ihm weh, aber er biß die Zähne zusammen, stand auf und wankte in das kleine Badezimmer nebenan. Dort ließ er das Waschbecken voll kaltes Wasser laufen und steckte den Kopf hinein. Das ließ den Kopfschmerz bis auf ein erträgliches Maß abklingen. Caycon rieb sich das nasse Haar behutsam mit einem Handtuch ab, dann kehrte er in die Wohnküche zurück, schaltete das Licht ein und setzte sich. Seine Rippen und die Magengegend schmerzten noch höllisch. Nach einiger Zeit stand Caycon wieder auf, füllte sich einen Becher mit kaltem Wasser und schluckte drei Schmerztabletten. Danach setzte er sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Es erschien ihm unerträglich, daß Raimanja bis zur Geburt des Kindes eingesperrt bleiben sollte. Sie würde das psychisch nicht verkraften und ein Trauma entwickeln, das sich letzten Endes schädlich auf das Kind auswirken mußte. Es würde schließlich ihr und sein Kind bleiben, auch wenn man es ihnen bald nach der Geburt wegnahm. Und das war das andere, was ihm unerträglich erschien. Das Gesetz über die staatliche Erziehung aller Kinder – ohne Kontakt mit den Eltern – stammte noch aus der Zeit des Großen Befreiungskrieges. Da war es aus mehreren Gründen sinnvoll gewesen. Einmal deshalb, weil die Frauen und Männer, die auf den Kampfschiffen Dienst taten, immer in Lebensgefahr schwebten. Sie kämpften besser, wenn sie wußten, daß wenigstens ihre Kinder nicht gefährdet waren, weil sie entweder auf Schiffen lebten, die sich von allen Kampfhandlungen fernhielten oder auf Planeten, deren Koordinaten streng geheim waren. Zum anderen hatten die Kinder so erzogen werden müssen, daß sie keine andere Bindung kannten als die an die Gesamtheit.
Brennpunkt Vergangenheit Diese Gründe existierten nicht mehr. Dennoch wurde das Gesetz beibehalten, mit der Begründung, daß das Volk der Arkoniden immer bereit sein müsse, Überfälle der Akonen abzuwehren und daß die Erziehung zur ausschließlichen Bindung an den Staat die beste Voraussetzung für die Erhaltung der Kampfbereitschaft sei. Caycon glaubte, daß diese Begründung nur ein Vorwand war. Die Akonen waren so schwer geschlagen worden, daß sie froh sein mußten, daß die Arkoniden sie in Ruhe ließen und sich eine neue Heimat gesucht hatten. Wenn es eine ernsthafte Bedrohung für Arkon gab, dann resultierte sie aus der Zuspitzung der innenpolitischen Spannungen und letztlich aus der Unvernunft jener, die die Gesetze machten. Caycon streckte die Finger auf der Tischplatte, dann ballte er die Fäuste und starrte grimmig darauf. Er hatte erkannt, daß die Arkoniden die schlechten Gesetze nicht hinnehmen durften, sondern sich wehren mußten. Er suchte im Trivideogerät nach der Abhörschaltung, fand sie und machte sie unbrauchbar. Danach sah er sich um. Sein Jagdgewehr lag auf dem Boden. Er hob es auf, entlud es und holte die Tasche mit dem Waffenreinigungsgerät. Danach nahm er das Gewehr auseinander und fing an, es so sorgfältig zu reinigen und einzufetten. Als er die Haustür gehen hörte, sprang er auf und griff nach seinem Jagdmesser. Aber es war nur sein Freund Sajogh, der hereinschaute. »Was ist los? Wie siehst du aus? Wo ist Raimanja?« wollte Sajogh wissen. Caycon legte das Messer auf den Tisch und bat seinen Freund herein. Sajogh war zwei Jahre älter als er und hatte im letzten Kriegsjahr als Ortungshelfer auf einem Kreuzer gedient, der allerdings keine Feindberührung mehr gehabt hatte. Als Sajogh saß, berichtete ihm Caycon, was geschehen war. Sajogh hörte ihm aufmerksam zu. Sein Gesicht verdüsterte sich dabei. Als Caycon endete, sah er mißbilli-
19 gend auf. »Und du glaubst, mit deinem Jagdgewehr die Regierung stürzen zu können?« fragte er. »Nein, aber ich kann zumindest Raimanja befreien und dann mit ihr fliehen«, entgegnete Caycon heftig. »Das schaffst du nicht«, erklärte Sajogh. »Auf dem Revier sind immer mindestens vier Polizisten. Sicher, du hast das Überraschungsmoment auf deiner Seite, aber wenn es zum Kampf kommt, verlierst du. Außerdem würde man, falls ihr entkommen könntet, euch mit Gleitern verfolgen. Ihr kämt nicht weit.« »Aber wir können uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen!« begehrte Caycon auf. Sajogh dachte nach. Als er den Kopf wieder hob, wirkte sein Gesichtsausdruck entschlossen. »Du hast recht, Caycon, wir dürfen uns diese Willkür nicht länger gefallen lassen. Aber wir dürfen auch keine Polizisten töten. Sicher, sie haben dich brutal zusammengeschlagen, aber wenn wir nur einen von ihnen töten, hetzen uns die anderen so lange, bis sie uns haben.« »Wir?« fragte Caycon hoffnungsvoll. »Du würdest mir helfen?« »Ich werde dir helfen, wenn es mir gelingt, Patech, Hromer und Lasker zum Mitmachen zu bewegen. Du kennst sie; sie waren wie ich als Helfer auf dem Kreuzer NAHOLK. Wir haben uns in dem Durcheinander bei Kriegsende Waffen beschafft und mitgenommen, Paralysatoren. Damit können wir die Polizisten ausschalten, ohne jemanden zu töten – und wer käme schon darauf, uns zu verdächtigen? Niemand weiß, daß wir Paralysatoren versteckt halten. Die Polizei wird an einen Terroranschlag der Opposition denken. Da Raimanja zur Familie des Oppositionsführers gehört, liegt der Verdacht doch nahe, daß ihre Familie sie befreit hat, nicht wahr?« Caycons Augen funkelten. »Ja, so muß es gehen, Sajogh. Laß uns sofort aufbrechen!«
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Sajogh hob die Hände. »Immer langsam, Caycon! Ich werde jetzt gehen und mit unseren Freunden sprechen. Du packst inzwischen alles, was ihr beide braucht, um in der Wildnis zu überleben – und um dort ein Kind zur Welt zu bringen. Besorge dir medizinische Handbücher und Medikamente, Verbandszeug, Munition und so weiter. Ich werde einen Gleiter beschaffen, denn ihr könnt ja nicht zu Fuß fliehen. Wenn unsere Freunde mitmachen, Überfällen wir heute nacht das Revier und holen Raimanja heraus. Danach kehren wir hierher zurück. Ihr flieht mit dem Gleiter, und wir anderen setzen uns bei mir zu einer Partie Kekach zusammen. Meine Frau wird bestätigen, daß wir den ganzen Abend und die halbe Nacht dort zugebracht haben. Alles klar soweit, Caycon?« »Alles klar, Sajogh«, sagte Caycon. »Ich danke dir, mein Freund.«
* Ich hatte vergeblich versucht, mich Caycon oder Sajogh bemerkbar zu machen. Es war einfach nicht möglich. Auch der Versuch, in Caycon zu schlüpfen, mißlang. Ich vermochte nicht näher als bis auf einen Schritt an ihn heranzukommen: Möglicherweise war sogar diese Annäherung nur scheinbar. Aber auf keinen Fall konnte ich in ihn hinein und eventuell sein Bewußtsein zurückdrängen oder mit ihm Kontakt aufnehmen. »Es wäre sowieso ein Fehler gewesen«, teilte Fartuloon mir mit. »Wenn wir die Vergangenheit beeinflußten, würde das zu einem Paradoxon führen.« »Ich habe einmal gelesen, daß Zeitparadoxa unmöglich seien«, entgegnete ich. »Folglich könnten wir keines herbeiführen.« »Das kommt darauf an, wie man ein Paradoxon definiert«, erklärte mein Pflegevater. »Das absolute Zeitparadoxon kann es niemals geben, denn es würde sich nach dem Gesetz der Negation durch seine Verwirklichung selber aufheben. Aber es gibt immer
die Möglichkeit einer sehr großen Annäherung an ein absolutes Paradoxon. So beispielsweise die Verwirklichung des Unwahrscheinlichen durch Manipulierung der Dimension der Zeit. Wenn wir Caycon nicht so handeln ließen, wie er von sich aus handeln würde, würden wir wahrscheinlich niemals Akon-Akon begegnen und folglich niemals hierher kommen, um Caycon zu beeinflussen.« »Was ich schon sagte«, erwiderte ich. »Zeitparadoxa sind unmöglich, weil ihr Zustandekommen ihre Ursachen eliminieren würde, womit sie eben nicht zustande kämen.« »Aber das muß nicht so sein«, gab Fartuloon zurück. »Wenn wir Caycons Handlungsweise nur modifizieren, so daß AkonAkon geboren würde und wir ihm begegneten, so könnte doch durch die Modifikation etwas verändert werden, das vielleicht entscheidenden Einfluß auf die geschichtliche Entwicklung Arkons nimmt. Beispielsweise so, daß das Große Imperium seine Blütezeit viel früher erreicht hätte und beim Auftauchen der Maahks stark genug gewesen wäre, um die Wasserstoffatmer abzuschrecken und den Methankrieg zu vermeiden.« Ich versuchte, mir das vorzustellen, geriet aber auf immer mehr Variationen, die mich so verwirrten, daß ich beschloß, dieses Thema fallenzulassen. »Also gut«, teilte ich meinem Pflegevater mit. »Beschränken wir uns aufs Beobachten. Ich bin gespannt, wie die Geschichte weitergeht und ob das Paar tatsächlich nach Perpandron entführt wird und von wem.« »Ich habe eine bestimmte Vorstellung, wer es entführen wird«, erwiderte Fartuloon. Mehr verriet er allerdings nicht, obwohl ich ihn drängte. Schließlich gab ich es auf. Wenn Fartuloon über etwas nicht sprechen wollte, konnte er so schweigsam sein wie ein Stein.
4. Tekla von Khom fuhr hoch, als einer der
Brennpunkt Vergangenheit Ortungsschirme einen Reflex anzeigte, wie er für ein größeres Raumschiff charakteristisch war. »Vielleicht haben wir sie endlich gefunden, Perc!« rief er dem Schiffskommandanten zu. Perc von Aronthe blickte den Wissenschaftlichen Kommandanten gelassen an. »Vielleicht haben wir ein Raumschiff von ihnen gefunden, Tekla«, erwiderte er. »Das muß aber nicht bedeuten, daß sie sich tatsächlich in diesem Kugelsternhaufen niedergelassen haben.« »Der Kurier, den wir verhörten, sagte die Wahrheit«, entgegnete Tekla von Khom. »Er konnte gar nicht anders. Die Welt der Abtrünnigen muß ungefähr im Zentrum des Kugelsternhaufens sein, den der Kurier Urdnir nannte.« »Wir müssen auf jeden Fall vorsichtig sein«, meinte der Kommandant. Er wandte sich an seinen Ersten Piloten. »Folgen Sie dem anderen Schiff in sicherem Abstand und messen sie die Transition an, wenn es springt.« »Wenn wir sie orten, müßten sie dann nicht auch uns orten?« warf Segos, ein Wissenschaftler, ein. »Unsere neuen Hypertaster haben eine größere Reichweite als ihre«, erklärte Perc von Aronthe. »Und wenn sie ebenfalls neuartige Hypertaster entwickelt haben?« fragte Segos. »Dann werden wir in Urdnir sterben«, erwiderte der Kommandant fatalistisch. »Wir können nicht alle Wenn und Aber berücksichtigen, Segos. Wenn unser Vorhaben mißlingt, werden die Abtrünnigen uns in einigen hundert Jahren unterwerfen, denn sie besitzen die Aggressivität von Barbaren.« »Wenn unser Plan fehlschlägt, werden wir dafür sorgen, daß die Abtrünnigen uns niemals finden können«, warf Tekla von Khom selbstbewußt ein. »Die, die sich Arkoniden nennen, mögen die besseren Kämpfer sein, aber wir haben die besseren Wissenschaftler. Wir werden ihnen immer überlegen bleiben.«
21 Der Ortungsreflex des anderen Raumschiffs verschwand vom Ortungsschirm, als es zur Transition ansetzte. Gleich darauf schlugen die Strukturtaster aus. Perc von Aronthe beugte sich vor, um die angezeigten Koordinaten besser ablesen zu können. »Transitionsziel ist tatsächlich das Zentrum des Sternhaufens«, stellte er fest. »Erster Pilot, programmieren Sie eine Transition mit einer Zielpunktabweichung von acht Lichtstunden. Dann warten Sie die nächste Erschütterung im Zielgebiet ab und drücken auf den Knopf. Auf diese Weise werden die Strukturtaster der Abtrünnigen unsere Ankunft für ein Raumecho der anderen Strukturerschütterung halten. So etwas kommt schließlich vor.« Er hob grüßend die Hand, als ein anderer Mann die Hauptzentrale betrat. »Ich denke, Sie werden bald Arbeit bekommen, Orthrek«, sagte er. Der Mann, der Orthrek genannt worden war, kam langsam näher, dann setzte er sich in den Kontursessel neben dem Kommandanten. Seine Bewegungen wirkten so geschmeidig wie die einer Raubkatze, und seine Augen verrieten eine wache Intelligenz und eine kompromißlose Härte. »Ich habe alles vorbereitet, Kommandant«, erwiderte er. »Meine Einsatzgruppe wird ihre Mission erfüllen, wenn Sie uns zum Ziel bringen.« »Strukturerschütterung!« meldete der Erste Pilot und drückte gleichzeitig die Aktivierungstaste für das Sprungprogramm. Da das Raumschiff mit rund neunzig Prozent der Lichtgeschwindigkeit flog, wurde das Programm ohne Verzögerung realisiert. Für die Besatzung des Schiffes wurde alles ausgelöscht – einschließlich ihrer eigenen bewußten Existenz. Als es zurückkehrte, verzogen sich die Gesichter unter dem Eindruck des Entzerrungsschmerzes, der nach jeder Wiederverstofflichung auftrat. Perc von Aronthe ließ sich als einziger Mann in der Hauptzentrale nichts davon anmerken. Leicht ironisch beobachtete er, wie
22 die anderen Männer ihre Nacken massierten. Dann wandte er sich an den Ersten Piloten. »Gut gemacht«, erklärte er. »Ich nehme an, die angemessene Strukturerschütterung stammte von einem Raumschiff, das den Zielsektor verlassen hat. Andernfalls hätten wir die Erschütterung der Entstofflichung vorher anmessen müssen.« »Positiv, Kommandant«, erwiderte der Erste Pilot. Perc von Aronthe schaltete den Interkom zur Ortungszentrale durch. »Wir sind in der Nähe einer sehr großen blauweißen Sonne herausgekommen«, sagte er. »Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das Zielsystem. Ich bitte um Durchtastung mit allem, was wir haben.« »Verstanden, Kommandant«, kam es aus dem Interkomlautsprecher. »Wir tasten das System durch.« »Die blauweiße Sonne liegt fast genau im Zentrum des Kugelsternhaufens«, bemerkte Tekla von Khom, nachdem er die Anzeigen des automatischen Astrogators abgelesen hatte. »Eigentlich unklug von den Abtrünnigen, wenn sie sich längere Zeit verborgen halten wollen. Wer immer in einem Sternhaufen nach ihnen sucht, fängt beim Zentrum an und geht allmählich nach außen. Wir hätten es ebenso gehalten, wenn wir nicht vorher eines ihrer Schiffe geortet hätten.« »Diese Barbaren sind zu stolz, um sich irgendwo in einem Kugelhaufen zu verstecken«, warf Orthrek ein. »Für ihre Mentalität kommt nur das Zentrum eines solchen Gebildes in Frage, denn sie halten sich für den Nabel des Universums.« »Zweifellos werden sie von hier aus ein Imperium aufbauen wollen, das nach und nach den gesamten Kugelsternhaufen in sein Herrschaftsgebiet einverleibt«, sagte Perc von Aronthe. »Das wache Wesen wird dafür sorgen, daß dieses Imperium sich als unsere Kolonie betrachtet«, erklärte Orthrek. Die Ortungszentrale meldete sich. »Die blauweiße Sonne wird von sieben-
H. G. Ewers undzwanzig Planeten umlaufen. Nummer vier ist ein Riesenplanet. Sehr unwirtlich. Dennoch haben die Mentaltaster Impulse von intelligenten Lebewesen aufgefangen, die auf ihm leben.« »Abtrünnige?« fragte der Kommandant. »Nein, es sind Impulse eines fremdartigen Volkes, das nicht mit uns verwandt ist«, kam die Antwort. »Aber auf dem dritten Planeten leben Abtrünnige. Es müssen zirka hunderttausend Arkoniden sein.« »Nennen Sie diese Barbaren nicht Arkoniden!« schrie Perc von Aronthe. »Es sind Abtrünnige! Aber nur hunderttausend? Es müssen Millionensein!« »Wahrscheinlich lebt der große Teil der Abtrünnigen noch auf ihren Raumschiffen«, sagte Tekla von Khom. »Ihre Raumflotte hatte ja längst nicht die Verluste wie unsere.« »Kein Wunder«, meinte Perc von Aronthe. »Die Abtrünnigen hatten schließlich die meisten und besten Kampfschiffe unserer Flotte in ihren Besitz gebracht. Sonst hätten sie keine Chance gegen uns gehabt.« »Dann ist ihre Raumflotte unterwegs«, erklärte Orthrek. »Ich nehme an, sie erkundet bereits systematisch diesen Kugelsternhaufen, um festzustellen, welche bewohnten Planeten als erste unterworfen werden können, damit Milliarden unterdrückte Intelligenzen den Abtrünnigen helfen, ihr geplantes Imperium noch schneller aufzubauen.« »So wird es sein«, sagte Tekla von Khom. »Es wird höchste Zeit, diese Entwicklung in die richtigen Bahnen zu lenken. Perc, wie weit können wir an den Planeten der Abtrünnigen herangehen?« »Wenn sie kein Schiff im Raum haben – und das scheint der Fall zu sein –, dann bis auf eine Lichtstunde.« »In Ordnung«, erwiderte der Wissenschaftliche Kommandant. »Das ist dicht genug, um den Spezifikator einzusetzen und unter hunderttausend Abtrünnigen die Person herauszufinden, die für unsere Zwecke am besten geeignet ist.« Perc von Aronthe gab seinem Ersten Pilo-
Brennpunkt Vergangenheit ten einen Wink. »Kurz beschleunigen und dann Schleichfahrt herangehen!« befahl er.
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auf
* Das Schiff landete gegen Mittag. Caycon eilte hinaus, als er das Dröhnen der Antigravtriebwerke und das Brausen der verdrängten Luftmassen hörte. Er sah, daß es ein Schwerer Kreuzer war, der auf dem provisorischen Landefeld in der Nähe der Stadt niederging. Schillernde Flecken auf der Außenhülle zeigten die Stellen an, die in den Kämpfen des Großen Befreiungskrieges von Schutzschirmdurchbrüchen angeschmolzen worden waren. Caycon wußte, daß für das angekommene Schiff ein anderes Raumschiff starten würde. Es befand sich stets ein großes Schiff in der Kreisbahn um Arkon – beziehungsweise stand eines auf dem Planeten selbst. Mehr war zum Schutz der Kolonie nicht erforderlich, denn die Akonen ahnten nicht, wo die Arkoniden sich niedergelassen hatten. Als Caycon in die Hütte zurückkehrte, schaltete sich das Trivideogerät ein, das in keinem Haushalt der Kolonie fehlte. Die Regierung hatte diese Geräte kostenlos verteilt, weil sie alle ihre Anweisungen und Mitteilungen über Trivideo verbreitete. Es wurden auch Kurse über Agrotechnik, über die Besonderheiten des ökologischen Systems von Arkon und über praktische und theoretische Raumflugprobleme ausgestrahlt, die die Bürger nach eigenem Gutdünken einschalten konnten. Wurden amtliche Bekanntmachungen verbreitet, schalteten die Behörden die Geräte fernsteuertechnisch ein. Diesmal gab das Amt für Raumfahrt die Namen der weiblichen und männlichen Bürger bekannt, die sich zwecks Ausbildung beziehungsweise Auffrischung ihrer Kenntnisse innerhalb von zwei Tagen an Bord des gelandeten Schweren Kreuzers melden mußten. Sie würden für die Dauer von mindestens einem halben und höchstens einem
ganzen Arkonjahr die Hälfte der Schiffsmannschaft stellen und eine Hälfte der bisherigen Besatzung ablösen. Die abgelösten Frauen und Männer waren ebenfalls Reservisten oder Rekruten. Sie würden für zwei Jahre zivilen Tätigkeiten nachgehen und danach wieder aufgerufen werden, sich an Bord eines Raumschiffs zu melden. Auf diese Weise wurde jeder gesunde Erwachsene in die Lage versetzt, notfalls als vollwertiges Besatzungsmitglied eines Raumschiffs zu dienen. Auf einem der beiden inneren Planeten waren die ersten neugebauten Raumschiffswerften in Betrieb genommen worden. Sie produzierten zwar erst dreißig Schiffe jährlich, aber die Produktion sollte innerhalb der nächsten zehn Jahre auf hundertfünfzig gesteigert werden. Caycons Knie wurden plötzlich so weich, daß er sich setzen mußte. Er gehörte zu den wenigen Männern seines Jahrgangs, der noch nie eingezogen worden war und mußte bei jeder Schiffslandung damit rechnen, an Bord gerufen zu werden. Wenn sein Name diesmal genannt wurde, würde sein Plan, Raimanja zu befreien und mit ihr in die Wildnis zu fliehen, undurchführbar werden. Caycon hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, sich dem Flottendienst zu entziehen. Das war eine Pflicht, die jeder Arkonide deshalb erfüllte, um das Überleben seines Volkes zu sichern. Aber die Sendung ging vorüber, ohne daß Caycons Name genannt worden wäre, und Caycon war beinahe zornig darüber, denn er mußte annehmen, daß die Verwaltung veranlaßt hatte, seinen Namen in der Positronik des Amtes für Raumfahrt zu löschen, weil man ihn für unwürdig hielt, Dienst in der Raumflotte zu tun. Wäre der Gedanke an Raimanja und das werdende Leben in ihr nicht gewesen, Caycon hätte sich auf der Stelle darüber beschwert. So aber überwand er seinen Groll und fuhr fort, alles zusammenzusuchen und einzupacken, was notwendig war, um die erste und schwerste Zeit in der Wildnis zu überstehen. Er hoffte, daß das grausame Gesetz
24 in absehbarer Zeit für ungültig erklärt wurde, so daß er mit Raimanja und dem Kind in die Zivilisation zurückkehren konnte. Als es dunkelte, erschien Sajogh mit seinen drei Freunden. Sie trugen Bündel bei sich, und als sie sie aufrollten, kamen schwere Paralysatoren zum Vorschein. Es waren insgesamt fünf Lähmwaffen, so daß auch Caycon eine bekam. Lasker, der Älteste der Gruppe, verteilte schwarze Gesichtsmasken, die über die Köpfe gestreift wurden und nur Mund, Ohren und Augen frei ließen. »Wir werden nicht alle zusammen zum Revier fliegen«, erklärte er. »Das würde sofort Verdacht erregen. Deshalb trennen wir uns nachher und fliegen einzeln aus verschiedenen Richtungen zum Ziel. Damit wir gleichzeitig dort eintreffen, werden wir unsere Chronographen vergleichen und einen Zeitpunkt festlegen.« Er blickte in die Gesichter der Freunde. »Es muß alles sehr schnell gehen«, sagte er. »Da nur Patech, Hromer und ich im Bodenkampf ausgebildet sind, werden nur wir drei ins Revier stürmen. Sajogh und Caycon bleiben draußen und halten uns den Rücken frei. Sobald wir mit Raimanja aus dem Revier kommen, springen wir in den Gleiter und fliegen hierher. Caycon und Raimanja müssen dann ihr Gepäck verladen und sofort weiterfliegen.« »Und wir fliegen dann zu mir«, ergänzte Sajogh. »In Ordnung«, erwiderte Lasker. »Zeitvergleich!« Sie verglichen ihre Armbandchronographen, dann versteckten sie die Paralysatoren in die langen Beintaschen ihrer Kombinationen, steckten die Masken ein und brachen auf. Draußen bedeutete Lasker jedem, wie er fliegen sollte, so daß sie alle zur gleichen Zeit aus verschiedenen Richtungen beim nächsten Polizeirevier eintrafen. Der Fluchtgleiter war bereits in der Nähe des Reviers geparkt. Anschließend starteten sie. Caycon hatte die Richtung zum Lande-
H. G. Ewers platz des Raumschiffs zugewiesen bekommen. Er sollte aber nur die Hälfte der Strecke zurücklegen und danach umkehren. Da die vereinbarte Flughöhe zweihundert Meter betrug, konnte Caycon das hell erleuchtete Raumschiff deutlich sehen. Mit einemmal spürte er so etwas wie Heimweh – Heimweh nach den Sternen, die während der Kindheit sein Zuhause gewesen waren. Im Unterschied zu anderen Kindern waren die der beiden mächtigsten Familien nicht ohne Kontakt mit den Eltern und Geschwistern aufgezogen worden, sondern hatten mit ihren Müttern und den jüngeren Schwestern auf einem geheimen Planeten gewohnt, der der betreffenden Familie gehörte. Sehr oft aber waren sie vom Flaggschiff des Familienoberhaupts abgeholt und für längere Zeit mit in den Weltraum genommen worden, so daß sie mehr zwischen den Sternen als auf ihren Planeten daheim gewesen waren. Es war im Grunde genommen eine schöne Zeit gewesen, und Caycon hätte viel darum gegeben, wenn er mit Raimanja in einem Raumschiff wegfliegen könnte. Er mußte seine ganze Willenskraft aufbieten, um diesen Traum aus seinen Gedanken zu verscheuchen und sich ganz auf das zu konzentrieren, was unmittelbar vor ihm lag. Er kontrollierte fortwährend seinen Chronographen, und als der vereinbarte Zeitpunkt gekommen war, wendete er und flog zu dem Teil der Stadt, in dem sich das zuständige Polizeirevier befand. Unterwegs mußte er gegen Skrupel ankämpfen, die ihm plötzlich kamen. Aber dann sagte er sich, daß ja jemand damit anfangen mußte, sich gegen ein grausames Gesetz zu stellen, das noch dazu von den Herrschenden wie selbstverständlich ignoriert wurde. Wieder kontrollierte er seinen Chronographen. Er beschleunigte etwas, damit er pünktlich am Ziel eintraf. Als er die erleuchteten Panzerglasfenster des Reviers sah, ging er allmählich tiefer. Da er und seine Freunde ohne die vorgeschriebenen Positionslichter flogen, sah er die Freunde, die links und rechts von ihm kamen, erst ziemlich spät. Er
Brennpunkt Vergangenheit winkte kurz, dann zog er sich die Maske über den Kopf, nahm den Paralysator, entsicherte ihn und setzte zur Landung an. Plötzlich flackerte es vor und über dem freistehenden Gebäude des Reviers, eine Sirene durchschnitt mit markerschütterndem Geheul die Stille. Ein Energieschirm! dachte Caycon erschrocken. Sie haben das Revier in einen Energieschirm gehüllt! Aber warum? Sie können uns doch noch gar nicht gesehen haben! »Zurück!« hallte eine Stimme durch die Nacht. Laskers Stimme. Beinahe hätte Caycon zu spät reagiert. Er mußte steil hochziehen, um nicht gegen den Energieschirm zu stoßen. Aber er dachte nicht daran, so schnell aufzugeben. In der Nähe des Reviers befand sich eine verlassene Baustelle. Caycon landete dort und ging hinter einem Transport-Strahlprojektor in Deckung. Als die ersten beiden Polizisten aus dem Revier stürmten und durch eine Strukturlücke im Energieschirm steuerten, schoß er. Die Polizisten zeigten keine Wirkung. Sie flogen nach links und rechts und feuerten mit Thermostrahlern in die Baustelle. Hinter Caycon entstanden zwei glühende und brodelnde Krater. Jemand stieß von oben auf Caycon heran, packte ihn an den Schulterkreuzgurten und schrie: »Sie haben Schutzschirme, du Narr! Los, weg von hier!« Aus der Dunkelheit flog ein eiförmiger Gegenstand heran, explodierte mit dumpfem Knall und hüllte alles in undurchdringlichen Nebel. Caycon begriff, daß einer seiner Freunde die Nebelbombe geworfen hatte, um ihm den Rückzug zu ermöglichen. Er schaltete sein Flugaggregat ein und stieg senkrecht nach oben, weil das die einzige Möglichkeit war, Hindernissen auszuweichen. Irgendwo unter ihm krachten die Energieentladungen von Blasterschüssen. Die Polizisten glaubten offenbar an einen Überfall
25 von Terroristen und rechneten deshalb gar nicht mit der Möglichkeit, daß sich die Angreifer so schnell zurückzogen. Über der Nebelwolke, die inzwischen ein ganzes Viertel einhüllte, erkannte Caycon, daß Hromer ihn herausgeholt hatte. Seine Freunde kreisten in der Nähe und gaben durch Zeichen zu verstehen, daß sie ihnen folgen sollten. Der Gleiter mußte aufgegeben werden. Sie flogen mit Höchstgeschwindigkeit aus der Stadt heraus, gingen dann bis dicht über die Wipfel der Bäume und kehrten in weitem Bogen zu Caycons Hütte zurück. Dort landeten sie. »Wir trennen uns gleich wieder, bevor die Suchkommandos ausschwärmen«, erklärte Lasker. »Der Anschlag auf das Regierungsgebäude muß der Anlaß für die Polizei gewesen sein, ihre Reviere mit Schutzschirmgeneratoren auszustatten.« »Aber woher wußten die Polizisten, daß wir das Revier angreifen wollten?« fragte Caycon. »Sie wußten es bestimmt nicht vorher«, antwortete Sajogh. »Automatische Detektoren müssen unsere Paralysatoren angemessen und Alarm gegeben haben. Damit war unsere Aktion aussichtslos geworden. Du hättest dich ebenfalls gleich zurückziehen sollen, Caycon. Wir haben noch einmal Glück gehabt, aber noch einmal mache ich nicht mit. Tut mir leid für dich und Raimanja. Versuche, dich mit den Tatsachen abzufinden.« Er machte eine Handbewegung zu seinen Freunden. »Kommt!« Caycon blickte ihnen nach, bis sie von der Dunkelheit verschlungen worden waren, dann riß er sich die Maske vom Kopf. Er entfernte das Energiemagazin aus dem Paralysator, holte einen Spaten und vergrub die Waffe und die Maske im Wald. Das Energiemagazin legte er in die Abstellkammer der Hütte. Da es ein Allzweckmagazin war, das auch in mehrere Arbeitsgeräte eingesetzt werden konnte, war sein Besitz nicht verbo-
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H. G. Ewers
ten. Dennoch rechnete Caycon damit, daß die Polizei ihn verdächtigen, festnehmen und verhören würde. Er setzte sich an den Tisch in der Wohnküche und wartete …
* Ich war etwas verwirrt. Niemals hatte ich damit gerechnet, daß ich – beziehungsweise mein Geist oder Bewußtsein – von einem Augenblick zum anderen über viele Lichtjahre hinweg in ein akonisches Raumschiff und später wieder zurück nach Arkon versetzt werden würde. Immerhin war ich froh darüber, etwas mehr über die Vorgeschichte des Großen Imperiums zu erfahren. Die erste Regierung auf Arkon und die Opposition erwiesen mit ihrer erbitterten Rivalität dem Volk zwar keinen guten Dienst, aber wenigstens schien die Rivalität vor der Raumflotte haltzumachen. Die Flotte war anscheinend ausgezeichnet organisiert und wurde von der Gesamtheit aller Arkoniden getragen. Was mich ebenfalls stark interessierte, war der Grund für den Abfall der Akonen vom akonischen Imperium, die sich dann Arkoniden nannten. Dafür hatte ich noch keine konkreten Anhaltspunkte erhalten. Möglicherweise hatte es in der Raumflotte des akonischen Imperiums eine Revolte gegeben, denn nur so konnten die Arkoniden den größeren Teil dieser Flotte in ihre Gewalt gebracht haben. Aber die Ursachen für den Befreiungskrieg mußten tiefer und weiter zurück liegen. Vielleicht stammten die heutigen Arkoniden von einem akonischen Siedlungsplaneten, hatten sich von der Mutterwelt unterdrückt gefühlt und ihre Loslösung vorbereitet, indem sie ihre besten Söhne und Töchter in die akonische Raumflotte geschickt hatten. Im Krieg mußte ihre Siedlungswelt verwüstet worden sein, sonst hätten sie keine neue suchen müssen. Auf jeden Fall mußte der Befreiungskrieg auf beiden Seiten furchtbare Opfer gefordert haben. Rechtfertigte die Erreichung des Zie-
les alle die Opfer? Ich zweifelte plötzlich daran, ob ich weiter gegen Orbanaschol kämpfen durfte, während das Große Imperium sich kaum der Maahks erwehren konnte. Mußte mein Kampf gegen den Diktator nicht letzten Endes zu einer Aufspaltung meines Volkes und zu einem neuen Bruderkrieg mit zahllosen Opfern führen? Ich teilte meine Bedenken gedanklich meinem Pflegevater mit. »Ich verstehe dich«, erwiderte Fartuloon. »Aber zu Orbanaschols Sturz ist kein Bruderkrieg notwendig. Erstens hat er sich durch seine Gewaltherrschaft längst vom Volk isoliert, und zweitens wollen wir nicht die Macht Arkons, sondern nur Orbanaschols persönliche Macht untergraben und nur ihn und seine engsten Komplizen von dem Sockel stoßen, auf den sie sich selbst gestellt haben. Nein, Atlan, wir werden es nicht zu einem Bruderkrieg kommen lassen.« Ich fühlte mich etwas beruhigt. Dennoch waren noch nicht alle Zweifel ausgeräumt. Aber bevor ich meine Überlegungen in dieser Richtung fortsetzen konnte, wurde ich abermals in das Schiff der Akonen geschleudert …
5. »Näher können wir nicht herangehen, ohne geortet zu werden«, sagte Perc von Aronthe. »Unser Schiff ist zu groß, um zwischen den Tasterimpulsfronten durchzuschlüpfen, die die Umgebung des Planeten der Abtrünnigen absuchen.« Tekla von Khom setzte sich vor das Eingabepult der Bordpositronik. »Lassen Sie mir die Ergebnisse der Fremdortungsmessungen durchgeben, Perc«, bat er. »Ich werde dann die raumzeitlichen Intervalle berechnen und ein Annäherungsprogramm für ein kleines Beiboot ausarbeiten.« »Ich soll mit einem programmgesteuerten Beiboot auf dem Planeten der Abtrünnigen landen?« fragte Orthrek entrüstet. »Was glauben Sie denn, wie oft ich mich schon an
Brennpunkt Vergangenheit Objekte herangeschlichen habe, die ihre Umgebung mit Ortungsimpulsfronten absuchten?« »Niemand bezweifelt Ihre Tüchtigkeit, Orthrek«, entgegnete Perc von Aronthe. »Aber diejenigen Einsatzagenten des Energiekommandos, die während des Krieges beim Anschleichen an feindliche Objekte abgeschossen wurden, waren sicher nicht weniger tüchtig als Sie. Dennoch betrug die Ausfallquote siebenundzwanzig Prozent. Unsere Mission ist zu wichtig, um ein Risiko einzugehen, das wir vermeiden können.« »Es widerstrebt mir einfach, wie ein Frachtgutstück in einem Boot zu sitzen und mich von einem Programm ans Ziel bringen zu lassen«, erklärte Orthrek. »Sie werden auf diesem Planeten ausreichend Gelegenheit erhalten, Ihre Tüchtigkeit zu beweisen«, warf Tekla von Khom ein. »Bedenken Sie, daß sie das nicht können, wenn sie vor der Landung geortet und abgeschossen werden.« Orthrek machte eine Handbewegung, die halbherzige Zustimmung ausdrückte. Perc von Aronthe ließ sich weitere Meßergebnisse überspielen. »Sie haben ein einziges raumtüchtiges Großkampfschiff auf ihrem Planeten«, sagte er verwundert. »Die anderen sechzig Raumschiffe, deren Energieversorger wir auffangen, scheinen halbe Wracks zu sein, die als Energieversorger für die winzigen Städte dort dienen.« »Aber wir empfangen starke Energieechos von einem der beiden inneren Planeten«, sagte Segos. »Die Auswertung besagt, daß dort Raumschiffswerften in Betrieb sind. Die Abtrünnigen verstärken demnach ihre Raumflotte.« »Eines Tages wird das alles uns zugute kommen«, meinte der Kommandant des Schiffes. Er schaltete seinen Interkom zur Ortungszentrale durch. »Hat der Spezifikator noch immer kein brauchbares Ergebnis geliefert?« »Soeben überprüft er eine Person, die er schon einmal überprüft hat, Kommandant«,
27 antwortete der Ortungsoffizier. »Das bedeutet, daß er diese Person in die engere Wahl gezogen hat.« »Danke!« erwiderte Perc von Aronthe. »Sobald die Entscheidung gefallen ist, geben Sie mir die Details durch.« Niemand sprach, bis sich der Ortungsoffizier über Interkom meldete. »Die Entscheidung ist gefallen«, berichtete er. »Für die Schaffung eines wachen Wesens erscheint eines der Kinder in der erforderlichen Entwicklungsstufe herausragend geeignet. Durch Mentalüberlagerungsselektion wurde die männliche Komponente ermittelt. Sie ist von der weiblichen Komponente konstant fünf Kilometer entfernt, hat sich während des ersten Prüfverfahrens der weiblichen Komponente genähert, sich dann aber wieder auf Konstantpunkt zurückgezogen. Die weibliche Komponente dagegen bewegt sich niemals weiter als drei Meter nach allen Richtungen.« »Sie befindet sich in einer Gefängniszelle!« rief Orthrek. »Das kompliziert die Angelegenheit.« »Woher wollen Sie wissen, daß die weibliche Komponente sich in einer Gefängniszelle befindet?« fragte Segos. Orthrek lächelte selbstbewußt. »Zu meiner Ausbildung gehörte unter anderem Verhaltungspsychologie«, antwortete er. »Die Bewegungen der weiblichen Komponente sind typisch für die Verhaltensweise von Häftlingen. Außerdem entnehme ich den Bewegungen der männlichen Komponente, daß sie versuchte, die weibliche Komponente zu sprechen oder zu befreien und daß sie sich nach dem Scheitern dieses Versuchs in ihre Behausung zurückgezogen hat und über die Situation nachdenkt.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Segos. »Aber ich verstehe den Spezifikator nicht. Eine Verbrecherin als Trägerin des wachen Wesens!« »Es kommt nicht auf das Psychogramm der Erzeugerkomponenten an, sondern auf das Genetogramm des Embryos«, warf Tekla von Khom ein. »Ob die weibliche Kom-
28 ponente ein Verbrechen begangen hat oder nicht, ist für uns völlig unerheblich.« »Für mich nicht«, erklärte Orthrek. »Es bedeutet nämlich, daß ich die weibliche Komponente gewaltsam aus ihrem Gefängnis holen muß – und das dürfte nicht ohne Aufsehen abgehen.« »Solange niemand dort unten darauf kommt, daß die weibliche Komponente in den Weltraum entführt wurde, braucht uns das Aufsehen, das ihre Befreiung hervorrufen wird, nicht aufzuregen«, sagte Tekla von Khom. »Und wenn Ihr Beiboot nach dem von mir erarbeiteten Programm gesteuert wird, kann niemand an eine Entführung in den Weltraum denken.« Er schaltete eine Interkomverbindung zur Funkzentrale und sagte: »Was hat die Funküberwachung gegeben?« »Es wurde tatsächlich ein Überfall auf ein Polizeirevier verübt«, antwortete der Funkoffizier. »Allerdings glauben die zuständigen Stellen an das Attentat einer zur Opposition gehörenden Terroristengruppe. Regierung und Opposition scheinen sich nicht nur mit Worten zu bekämpfen, sondern stehen sich, bildlich gesprochen, bewaffnet hinter Barrikaden gegenüber.« »Das haben sie von ihrer angeblichen Freiheit«, triumphierte Segos. »Die Abtrünnigen sind Wirrköpfe, die unfähig sind, selbst für Ruhe und Ordnung zu sorgen. In unserem Imperium ginge es ihnen besser.« Orthrek lächelte ironisch, wurde jedoch ernst, als Segos ihm einen fragenden Blick zuwarf. »Wollen Sie das etwa bestreiten, Orthrek?« fragte der Wissenschaftler. »Keineswegs«, erwiderte Orthrek. Tekla von Khom lächelte ebenfalls ironisch. »Als Agent des Energiekommandos weiß Orthrek eben, daß es nirgends gewaltlose Auseinandersetzungen gibt, Segos«, erklärte er. »Nur finden sie manchmal hinter künstlichen Nebelwänden statt.« »Ich muß Sie auffordern, Diffamierungen
H. G. Ewers des Energiekommandos zu unterlassen, Tekla von Khom!« sagte Orthrek steif. Tekla von Khom wurde ein wenig blasser, und das ironische Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, aber seine Stimme klang arrogant, als er entgegnete: »Ich habe nicht behauptet, vom Energiekommando zu sprechen, Orthrek. Versuchen Sie bitte nicht, mir etwas zu unterstellen. Meine Familie ist einflußreich genug, um mich gegen ungerechtfertigte Anschuldigungen zu schützen.« Eine Weile maßen sich beide Männer mit Blicken, dann machte Orthrek eine einlenkende Geste und sagte: »Wir haben eine Mission zu erfüllen, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen uns allen verlangt. Widmen wir uns also den nächsten Schritten unserer Aufgabe.« »Einverstanden«, erwiderte der Wissenschaftliche Kommandant. »Das Programm ist fertig.« »Danke!« sagte Orthrek. »Dann werde ich mit meiner Gruppe starten, und zwar so, daß wir zu einer Zeit in der Nähe des Verweilpunkts der männlichen Komponente landen, in der es dort Nacht ist.«
* Der Fremde stand so überraschend im Zimmer, daß Caycon zuerst dachte, er hätte sich aus dem Nichts materialisiert. Er blieb nur deshalb nicht bei dieser Annahme, weil er eine wissenschaftlich fundierte Bildung besaß und wußte, daß derlei Dinge unmöglich waren. Im ersten Augenblick hielt er den Fremden für einen Polizisten, denn schließlich erwartete er ja die Polizei. Doch dann sah er, daß der hochgewachsene breitschultrige Mann keinen Funkhelm und keine sichtbare Waffe trug. Er war in eine Kombination von dem gleichen Zuschnitt wie die seine gekleidet. Nur das Material schien anders zu sein. Es schimmerte irgendwie kostbar, ohne zu leuchten. Wahrscheinlich war es von hervorragender Qualität.
Brennpunkt Vergangenheit Der Mann musterte Caycon aufmerksam, aber ohne erkennbare Gefühlsregung. Die Haut seines Gesichtes war straff und gebräunt, die Augen blickten kalt, und um den Mund lag die Andeutung eines grausamen Zuges. Als einige Zeit vergangen war und der Fremde ihn immer noch musterte, ohne etwas zu sagen, hielt Caycon die beinahe körperlich schmerzende Anspannung der Nerven nicht mehr aus. »Wer sind Sie?« stieß er hervor. »Wollen Sie mich verhaften und wie Raimanja einsperren? Na, schön, ich habe versucht, sie zu befreien, und ich bin bereit, die entsprechende Strafe auf mich zu nehmen. Die Familie Akonda wird nicht intervenieren. Eines Caycons wegen, der sich mit einer Sulithur eingelassen hat, rührt man keinen Finger.« In das Gesicht des Fremden kam Bewegung. Es entspannte sich etwas, ohne freundlich zu wirken. »Ich heiße Orthrek«, erklärte er. »Warum verwendest du mir gegenüber das Sie, als wäre ich ein Offizier und Sie ein Angehöriger der von mir geführten Einheit?« »Ich weiß es nicht«, gab Caycon offen zu. »Es war mir nicht einmal bewußt geworden. Vielleicht erwecken Sie den Eindruck, als ob …« Er stockte. Orthrek lächelte, aber es war kein angenehmes, sondern ein überhebliches Lächeln. »Tiefverwurzeltes läßt sich nicht einfach abstreifen«, stellte er fest. »Aber sprechen wir von dem, was dich zur Zeit am stärksten bewegt. Die Polizei hält deine Freundin gefangen. Du hast versucht, sie zu befreien, aber das ist mißlungen. Was würdest du tun, wenn jemand dir anböte, Raimanja zu befreien und in Sicherheit zu bringen?« »Alles!« rief Caycon impulsiv. Dann fügte er einschränkend hinzu: »Oder doch fast alles. Aber nach dem mißlungenen Versuch wird Raimanja bestimmt noch stärker bewacht als vorher. Es wäre aussichtslos, sie befreien zu wollen.« »Nicht für mich«, sagte Orthrek. Caycon musterte den Fremden zweifelnd.
29 Er erkannte, daß Orthrek eine außergewöhnlich starke Aura von Selbstbewußtsein ausstrahlte. Der Mann war kein Phantast; er wußte genau, was er sagte. In Caycon regte sich plötzlich wieder Hoffnung. »Wie wollen Sie das anstellen?« fragte er. »Das ist meine Sache«, erwiderte Orthrek. Caycon wartete, daß der Fremde noch etwas hinzufügte. Als er merkte, daß Orthrek von sich aus nichts mehr sagen würde, fragte er: »Was verlangen Sie als Gegenleistung?« »Nicht viel – jedenfalls nicht viel für dich in deiner Lage«, antwortete Orthrek. »Nur, daß Raimanja und du mich anschließend begleiten und keine überflüssigen Fragen stellen. Ich werde euch in Sicherheit bringen, aber den Ort selbst bestimmen. Bist du einverstanden?« Caycon erhob sich. In seinem Kopf überstürzten sich die Gedanken, verwirrten sich und brachten ihn dazu, daß er nur noch denken konnte, daß er diese Gelegenheit ergreifen müsse, damit sie nicht unwiederbringlich vorübergehen sollte. »Ich bin einverstanden«, stammelte er. »Gut!« sagte Orthrek. »Warte hier und unternimm nichts!« Er drehte sich um und ging mit den lautlosen geschmeidigen Bewegungen einer Raubkatze hinaus. Nach einer Weile löste sich Caycons Erstarrung. Er eilte zur Tür und blickte hinaus. Aber von dem mysteriösen Besucher war nichts mehr zu sehen. Einen Augenblick lang glaubte Caycon, von irgendwo in der Nähe der Hütte das helle Singen eines Antigravaggregats zu hören, doch als er den Atem anhielt, um sich ganz darauf konzentrieren zu können, hörte er nur noch die üblichen vertrauten Nachtgeräusche des Waldes. Zögernd kehrte er in die Hütte zurück und setzte sich wieder an den Tisch. Er fragte sich, wer ein Interesse daran haben könnte, ihm und Raimanja zu helfen – und fand keine Antwort darauf. Er fragte sich auch, ob es sich um ein Schwindelmanöver gehandelt haben könnte, sah aber keinen Grund, der je-
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manden veranlassen könnte, eine Befreiung Raimanjas vorzutäuschen. Als er kurz hintereinander zwei krachende energetische Entladung gen hörte, sprang er auf und eilte ins Freie. Er vermochte jedoch nichts Besonderes zu erkennen. Plötzlich waberte greller Lichtschein über den Teil des Horizonts, wo die Stadt lag. Kurz darauf drang das schmetternde Krachen einer starken Explosion an Caycons Ohren. Caycon stand unbeweglich da und starrte mit brennenden Augen dorthin, wo der grelle Lichtschein wieder verblaßt war. Er ahnte, daß die Explosion in dem Polizeirevier stattgefunden hatte, in das man Raimanja verschleppt hatte. Die Explosion mußte so stark gewesen sein, daß vom Revier nicht mehr viel übriggeblieben sein konnte. Wenn sich Raimanja noch dort befunden hatte … Caycon merkte, daß er am ganzen Körper zitterte. Er ängstigte sich um Raimanja, wußte aber auch, daß er überhaupt nichts tun konnte. Er war völlig hilflos. Als der elliptische Gleiter gleich einem schwarzen Schatten neben ihm niedersank, vermochte er sich immer noch nicht zu rühren. Erst als eine Tür sich öffnete, fiel die Erstarrung von ihm ab. »Caycon!« rief eine weibliche Stimme – die Stimme Raimanjas. Caycon stürzte vor. Zwei Männer packten ihn an den Armen und zogen ihn ins Innere des Gleiters. Caycon achtete überhaupt nicht auf sie. Er sah nur Raimanja, die auf dem Rücksitz saß und ihn aus leuchtenden Augen ansah. Im nächsten Augenblick fielen sie und er sich in die Arme. Sie hörten nicht, wie die Tür wieder geschlossen wurde, und sie hörten und sahen auch nicht, wie der Gleiter startete und dicht über den Baumwipfeln nach Norden flog.
* Es war schlimm, unbeteiligter Zeuge von Geschehnissen zu sein, die schicksalhafte Bedeutung haben würden. Aber die Faszina-
tion überwog das beklemmende Gefühl der absoluten Passivität. Endlich lernte ich mehr über die Geschichte des Anfangsstadiums der Kolonie auf Arkon kennen, die sich später zur Keimzelle des Großen Imperiums entwickeln sollte. Unsere Urahnen begingen viele Fehler, aber sie vollbrachten zugleich großartige Leistungen. Auf der anderen Seite war aber auch die Handlungsweise der Akonen wahrscheinlich militärisch so geschwächt, daß die Arkoniden innen mühelos den Gnadenstoß versetzen konnten, wenn sie es wollten. Dennoch gaben sie nicht auf. Mit den Mitteln, die ihnen geblieben waren, in erster Linie mit technischen und wissenschaftlichen Feinheiten und in zweiter Linie mit einer Handvoll hervorragend ausgebildeter, geschulter und trainierter Männer wie Orthrek, versuchten sie, die geschichtliche Entwicklung so zu beeinflussen, daß sie auf lange Sicht doch die Sieger sein würden. Ich wußte, daß ihnen das nicht gelungen war, aber ich wußte auch, daß unsere Urahnen ihnen nicht den Gnadenstoß versetzt hatten. Wenn sie sich nicht selbst aufgegeben hatten und ausgestorben waren, mußten sie in einem Sternenversteck immer noch existieren, isoliert, aber vielleicht schon wieder mächtig. Ich fragte mich, warum sie dann bisher nicht wieder auf die Bühne der galaktischen Politik getreten waren. Möglicherweise aus Furcht vor den Maahks. Vielleicht hofften sie auch darauf, daß Arkon im Methankrieg so geschwächt wurde, daß das Große Imperium keine Gefahr für sie mehr darstellte. Als vor dem Bug des Gleiters die dunkle Silhouette der nördlichen Berge auftauchte, zog der Pilot das Fahrzeug höher. Caycon und Raimanja saßen nebeneinander und hielten sich an den Händen. Sie waren glücklich darüber, daß sie wieder beisammen sein durften. Ich überlegte, ob die Bewußtseinsinhalte aller achtunddreißig Personen, die in der halbverfallenen Transmitterstation ange-
Brennpunkt Vergangenheit kommen waren, sich in der Gleiterkabine aufhielten. Irgendwie erschien es mir unglaubhaft, daß wir alle hier Platz haben sollten. Aber vielleicht benötigten Bewußtseinsinhalte überhaupt keinen meßbaren Raum. Im Grunde genommen wußten wir gar nichts über den Geist beziehungsweise das Bewußtsein – und die Bezeichnung »Bewußtseinsinhalt« stellte einfach einen Verlegenheitsbegriff dar, der sich einer klaren Definition entzog. Der Gleiter überflog eine Bergkette, steuerte in eine enge Schlucht hinein und erreichte schließlich ein tiefes kreisrundes Tal. Während er in das Tal einflog, nahm ich voraus ein schwaches Flimmern war – und im nächsten Augenblick war im kalten Licht der Sterne ein kleines diskusförmiges Raumboot zu sehen. Caycon entdeckte es ebenfalls. Seine Haltung versteifte sich. Er wandte den Kopf und blickte Orthrek an. »Das ist ein raumtüchtiges Boot!« stieß er hervor. »Was hat das zu bedeuten? Wollt ihr uns in den Weltraum bringen? Das war nicht abgemacht.« »Es war abgemacht, daß ich den Ort bestimme, an dem ich euch in Sicherheit bringe«, erwiderte Orthrek. »Ihr braucht euch nicht zu beunruhigen. Es ist alles in Ordnung.« Der Gleiter landete neben dem Diskus. Wenig später öffnete sich an der Oberseite des Raumboots eine Schleuse. Der Gleiter stieg wieder auf und schwebte hinein. Caycon sah sich mit ruckartigen Kopfbewegungen um. »Das ist kein arkonidisches Boot«, sagte er. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr?« Er machte Anstalten, aufzustehen, aber zwei der Insassen des Gleiters legten ihm ihre Hände auf die Schultern und drückten ihn auf die Sitzbank zurück. Orthrek hielt plötzlich einen kleinen Paralysator in der Hand. Doch Caycon war nicht mehr zu bremsen. Er duckte sich unter den Händen der beiden Männer weg und wollte sich auf Orthrek stürzen. Aber er kam nicht dazu. Der Paraly-
31 sator summte hell auf, dann brach Caycon gelähmt zusammen. Raimanja schrie auf, blieb aber sitzen. Sicher dachte sie an das werdende Leben in ihrem Leib und bemühte sich, sich so zu verhalten, daß es nicht gefährdet wurde. »Bringt den jungen Heißsporn und seine Freundin in die Steuerkanzel des Bootes!« befahl Orthrek den beiden anderen Männern. Er wandte sich an Raimanja. »Es ist gut, daß wenigstens du vernünftig bist. Ihr solltet uns dankbar sein, daß wir euch vor den Schergen der Abtrünnigen retten.« Raimanja wurde blaß. »Abtrünnige? So nennen uns die Akonen. Ihr seid Akonen!« Orthrek lachte trocken. »Was ist für euch schon dabei? Bei uns seid ihr in Sicherheit.«
6. Orthrek betrat die Hauptzentrale des Raumschiffs und meldete sich bei Tekla von Khom und Perc von Aronthe. »Caycon und Raimanja sind wohlbehalten an Bord«, berichtete er. »Niemand auf dem Planeten der Abtrünnigen hat gemerkt, daß das Liebespaar in den Weltraum entführt wurde. Wir haben die Polizeistation, in der Raimanja gefangengehalten wurde, gesprengt, um keine Spuren zurückzulassen.« »Danke!« erwiderte der Schiffskommandant. »Ich werde das Schiff mit ausgeschalteten Aggregaten am Planeten der Abtrünnigen vorbeitreiben lassen und in zehn Lichtstunden Entfernung anhalten, damit nichts das Vorhaben stören kann.« Tekla von Khom erhob sich von seinem Kontursitz. »Ich werde alles Nötige veranlassen, damit die Arbeiten nachher zügig durchgeführt werden können.« Er wandte sich an Orthrek. »Wenn Sie sich dafür interessieren, kommen Sie doch mit in die Forschungsabteilung, Orthrek. Sie können sich die Vorbereitungen ansehen.« »Sehr gern, danke!« sagte Orthrek.
32 Er folgte dem Wissenschaftlichen Kommandanten über Transportbänder und Antigravlifts in die Forschungsstation des großen Raumschiffs. In einem der größeren Räume war eine spezielle Positronik installiert, in der vor allem der Wissensschatz der akonischen Biogenetik und aller benachbarten Wissensgebiete gespeichert waren. Tekla von Khom stellte ihm die versammelten Wissenschaftler vor. Da war der greise Tarmin cer Germon, der berühmteste Biogenetiker des einstigen Reiches und Rat von Akon. Seine Mitarbeiter hießen Segos, Implikor und Vathore und waren ebenfalls schon berühmt. Tekla von Khom dagegen besaß keinen besonderen wissenschaftlichen Ruf. Er war nicht spezialisiert. Dafür kannte er sich in mehreren Disziplinen so gut aus, daß er Verbindungen zwischen ihnen knüpfen konnte und koordinierend und katalysierend wirkte. Nach der Vorstellung hielt Orthrek sich zurück, denn er wußte, daß er im Kreise so hervorragender Wissenschaftler nicht mitreden konnte. Deshalb beschränkte er sich aufs Zuhören. Tarmin cer Germon sprach. »Alles kommt darauf an, daß wir das Phasus-3-Virus, das als Informationsträger dienen soll, nicht stärker schwächen als unbedingt notwendig. Es soll dem Embryo in Raimanjas Leib keinen Schaden zufügen, soll aber andererseits nicht absterben, bevor es seine Gene nicht in alle Zellen des Embryos geschossen hat, damit sie ihre Informationen so im genetischen Kode verankern, daß sie bei der Zellvermehrung immer wieder weitergegeben werden.« »Phasus-3 wird so arbeiten, wie wir es wollen«, versicherte Segos. »Ich habe die Modifikation stabilisiert, und Implikor hat dafür gesorgt, daß die Kultur gegen alle Umwelteinflüsse abgeschirmt blieb, so daß es nicht zu Mutationen kommen konnte.« »Die Berechnungen zeigen, daß das Trägervirus den Embryo unbeirrbar in unserem Sinne programmieren wird. Phasus-3 ist so stabil, daß es sich unverändert erhalten und vermehren wird, solange das wache Wesen
H. G. Ewers lebt.« Das erklärte Vathore. Tekla von Khom wandte sich an Orthrek und sagte: »Wie allgemein bekannt ist, neigen Viren dazu, sich an die Wandungen von Zellen zu heften und ihren Inhalt in die Zellen zu entladen. Dieser Inhalt besteht im Grunde genommen aus einem genetischen Programm, das dem Kern der betroffenen Zelle aufoktroyiert wird, woraufhin die Zelle im Regelfall nicht mehr sich selbst reproduziert, sondern identische Viren erzeugt, die beim Zerfall der Zelle frei werden und weitere Zellen befallen. Normalerweise wirkt sich das schädlich auf den betreffenden Organismus aus, oft sogar tödlich. Aber es ist erwiesen, daß im Lauf der Evolution immer wieder bestimmte Viren, die sich in Organismen ausbreiteten, diese Organismen nicht schädigten, sondern ihnen Informationen und Fähigkeiten vermittelten, zu denen die Organismen auf normalen Wege nicht oder erst viel später gekommen wären. Wir haben uns diesen Umstand nutzbar gemacht, indem wir bewußt ein Virus züchteten, das den Organismus, den es befällt, nicht schädigt, sondern ihm ausschließlich Informationen und Fähigkeiten übermittelt sowie seine Denkrichtung beeinflußt. Phasus-3 wird in den Embryo Raimanjas eingebracht und wird dafür sorgen, daß sich das Kind zu einem wachen Wesen entwickelt. Sobald es die körperliche und geistige Reife erreicht hat, wird es über alle Voraussetzungen verfügen, das Volk, dem es entstammt, zu führen, ihm seinen Willen und seine Denkungsart aufzuzwingen. Außerdem wird es – unbewußt, aber jederzeit abrufbereit – über ein totales Wissen akonischer Wissenschaft und Technik verfügen. Es wird ein Superwesen sein, das die Abtrünnigen auf unsere Linie zurückführen muß, ob es will oder nicht.« »Das klingt faszinierend«, gab Orthrek zu. »Aber jedes Lebewesen kann getötet werden. Reichen die Fähigkeiten des wachen Wesens aus, es vor Mordanschlägen zu
Brennpunkt Vergangenheit schützen?« Tekla von Khom lächelte. »Niemand, der in die Nähe des wachen Wesens kommt, wird noch in der Lage sein, an einen Mordanschlag zu denken«, antwortete er. »Er wird im Gegenteil alles tun, um es zu beschützen und seine Wünsche zu erfüllen.« »Ein wahrhaft großartiger Plan«, sagte Orthrek. »Ich bin froh darüber, daß ich mithelfen durfte, ihn zu verwirklichen.«
* Caycon ging erregt in der Kabine auf und ab, in die man ihn gesperrt hatte. Obwohl die Kabine luxuriös ausgestattet war und er regelmäßige und gute Mahlzeiten erhielt und sich über Interkom mit Raimanja unterhalten durfte, war er besorgt. Besorgt vor allem deshalb, weil er erkannt hatte, daß es Akonen waren, die ihn und Raimanja entführt hatten. Der junge Arkonide aber dachte und fühlte noch immer loyal gegenüber seinem Volk, obwohl er erst vor kurzer Zeit versucht hatte, gegen die Gesetzeshüter seines Volkes zu kämpfen und Raimanja und sich – und ihr Kind – dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Aber für ihn war es eine Sache, sich gegen ein als ungerecht und grausam befundenes Gesetz zu wehren – und eine ganz andere, mit den Akonen, den Erzfeinden seines Volkes, gemeinsame Sache zu machen. Er wußte es nicht, aber er ahnte, daß die Akonen ihn und Raimanja dazu mißbrauchen wollten, seinem eigenen Volk großen Schaden zuzufügen. Deshalb sann er darüber nach, wie er mit Raimanja fliehen konnte. Er war bereit, sich auf Arkon den Behörden zu stellen und sich vor Gericht zu verantworten, ja sogar, eine strenge Bestrafung auf sich zu nehmen. Als er den Interkom einschaltete, um mit Raimanja – wenn auch wegen der Abhörgefahr nur in versteckten Andeutungen – darüber zu diskutieren, meldete sich seine;
33 Freundin nicht. Caycon ließ den Ruf wieder und wieder hinausgehen. Plötzlich leuchtete der Bildschirm doch noch auf. Aber es war nicht Raimanjas Gesicht, das ihm entgegensah, sondern das Gesicht eines alten weißhaarigen Akonen. »Ich bin Tarmin cer Germon«, sagte der Greis mit gütige, klingender Stimme. »Sorge dich nicht um deine Freundin, Caycon. Sie befindet sich in der Obhut unserer besten Wissenschaftler und wird bald in ihre Kabine zurückkehren.« »In der Obhut Ihrer Wissenschaftler?« rief Caycon. »Was hat man mit ihr vor?« »Nichts, was ihr schaden könnte, Caycon«, erklärte Tarmin cer Germon ruhig. »Raimanja ist schwanger. Da ist es nur natürlich, daß sie medizinisch untersucht wird. Euer Kind soll schließlich gesund auf die Welt kommen. Übrigens kann ich dir schon verraten, daß es ein Sohn sein wird.« »Ein Sohn!« Caycon fühlte Freude. Doch sie wurde sofort wieder von Besorgnis und Argwohn überlagert. »Aber warum kümmern Sie sich darum, ob unser Kind ein Sohn wird und ob es gesund zur Welt kommt? Was steckt dahinter?« Tarmin cer Germon wirkte für einen Augenblick geistesabwesend, dann preßte er entschlossen die welken Lippen zusammen. »Ich dürfte es dir nicht verraten, Caycon«, sagte er. »Aber weil du so besorgt bist und weil ich dich verstehe, denn ich bin selbst Vater von drei Söhnen und Großvater von siebzehn Enkeln, will ich dir wenigstens soviel verraten, daß du beruhigt bist. Dein Sohn, Caycon, soll ein waches Wesen werden, das einmal die Führung eurer Kolonie übernehmen wird. Er soll mit überragenden Fähigkeiten und mit überragender Macht über seine Mitbürger ausgestattet sein, damit ihm alles gelingt, was er sich vornimmt. Da keinem Lebewesen alle diese Gaben gleichzeitig in höchster Potenz von Natur aus mitgegeben werden, müssen wir deinen Sohn im Embryonalstadium einer modifizierenden und programmierenden Behandlung unterziehen.
34 Wir wählten euren Sohn deshalb, weil er sich im erforderlichen Entwicklungsstadium befindet und weil er durch die Verschmelzung von deiner und Raimanjas Erbmasse jene besondere genetische Grundvoraussetzung mitbringt, die für den Erfolg unserer Behandlung entscheidend ist. Du kannst stolz darauf sein, daß ausgerechnet dein Sohn dazu auserwählt wurde.« Caycon war verwirrt, aber obwohl er nur einen geringen Teil dessen verstand, was der Alte ihm gesagt hatte, ahnte er, daß die Akonen etwas Ungeheuerliches planten. Er ballte die Fäuste. »Sie haben kein Recht, werdendes intelligentes Leben zu manipulieren«, sagte er zornig. »Ich verlange, daß mein Sohn unversehrt bleibt. Er hat ein Recht darauf, das zu werden, worauf er angelegt ist.« Tarmin cer Germon machte eine begütigende Geste. »Alle Lebewesen werden ununterbrochen manipuliert, sei es durch die universellen Einflüsse wie die verschiedenen Strahlungsarten, die Magnetfelder von Planeten, Sonnen und Galaxien oder sei es durch Gesellschaftsordnungen, Traditionen, die ökologischen Umweltverhältnisse oder andere Lebewesen. Nur deshalb gibt es eine Evolution und letztlich bewußte Intelligenz. Die bewußte Intelligenz aber ist in der Lage, Ursachen und Wirkungen in ihren Zusammenhängen zu durchschauen und sich der Kausalitäten zu bedienen, um durch Erzeugung gesteuerter Ursachen gewollte Wirkungen zu erzielen.« »Nichts als verwirrende Worte!« schrie Caycon aufgebracht. »Ich begreife nicht viel davon, aber ich will nicht, daß mein Sohn manipuliert wird. Was für ein Sinn soll überhaupt dahinter stecken?« »Ein großer und guter Sinn, Caycon«, erklärte der Wissenschaftler. »Ihr Abtrünnigen nennt euch Arkoniden, was soviel wie Freie bedeutet. Ihr habt euch vom Mutterreich gelöst und dabei unsere gemeinsame Zivilisation fast ausgelöscht. Aber ihr werdet so wenig frei sein können wie als Mitglieder des
H. G. Ewers Mutterreichs auch, denn absolute Freiheit gibt es nicht. Nirgends und nirgendwann ist ein Lebewesen frei. Der Wurm gehorcht seinen Instinkten, höhere Lebewesen gehorchen Instinkten und Erfahrungen – und Intelligenzwesen gehorchen den Geboten der Vernunft, wenn sie nicht scheitern wollen. Das wache Wesen, zu dem dein Sohn werden wird, ist berufen, die Abtrünnigen in die alte Gemeinschaft zurückzuführen, denn nur in der Gemeinschaft können wir uns gegen die Gefahren der inneren und äußeren Natur durchsetzen.« »Mein Sohn – soll zum Verräter an Arkon werden?« fragte Caycon erschrocken. »Nicht zum Verräter, sondern zum Retter«, erwiderte Tarmin cer Germon. »Wir werden dich und deine Freundin auf den Planeten Perpandron bringen. Dort wird euer Sohn zur Welt kommen, und dort werden wir alles vorbereiten, um die Entwicklung des wachen Wesens zu sichern.« »Das ist ungeheuerlich!« flüsterte Caycon entsetzt. »Das ist Wahnsinn! Das dürfen Sie nicht tun! Ich bringe Sie um!« »Beruhige dich!« mahnte der Akone. »Du kannst nichts ändern daran, daß dein Sohn ein waches Wesen wird. Denke an die Zukunft. Akonen und Arkoniden haben eine gemeinsame Herkunft. Die äußerlichen Unterscheidungsmerkmale stammen nur daher, weil unser Volk damals, als es vor einer Gefahr, die vergessen ist, geflüchtet war, zwei unterschiedliche Welten besiedelte. Aber wir blieben dennoch eine Gemeinschaft, bis ihr auf den unseligen Gedanken kamt, ein eigenes Imperium aufbauen zu wollen.« »Weil ihr uns unterdrückt und ausgebeutet habt!« schrie Caycon. »Aber damit ist es vorbei! Alle eure Anstrengungen werden euch nichts nützen.« Als der Bildschirm dunkel wurde, hämmerte er mit den Fäusten dagegen, bis er erschöpft war. Danach sank er in sich zusammen und brütete dumpf vor sich hin.
*
Brennpunkt Vergangenheit Ich konnte nicht umhin, die Logik in den Argumenten des greisen Wissenschaftlers zu sehen. Jedenfalls hatte das, was er gesagt hatte, aus seiner Sicht logisches Gewicht. Dennoch mußte ich den Plan der Akonen mißbilligen, denn er nahm keine Rücksicht auf die ethischen und moralischen Grundsätze, nach denen im allgemeinen wohl auch die Akonen lebten. Andererseits mußte ich mich davor hüten, deswegen die Akonen als schlecht und uns Arkoniden als gut zu betrachten. Sowohl Akonen als auch Arkoniden hatten Gutes vollbracht und Schlechtes verübt oder geduldet. »Wie das Beispiel von Orbanaschol beweist«, meldete sich mein Pflegevater nach längerer Zeit wieder. »Ein Außenstehender der Zeit, aus der wir kommen, könnte sehr wohl die Arkoniden schlechthin als böse bezeichnen, weil er ihre Taten beurteilt, ohne zu berücksichtigen, daß sie dem Willen eines Diktators entspringen.« »Eben deshalb wird es höchste Zeit, Orbanaschol zu stürzen – und wir irren kreuz und quer durch die Galaxis, nicht mehr Herr unseres Willens und unfähig, unsere eigenen Ziele zu verwirklichen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir ebenfalls manipuliert.« »Alles wird manipuliert, Atlan«, erwiderte Fartuloon. »Der Blütenstaub der Blumen, der Flug des Vogels und sogar das Universum als Ganzes. Wir alle irren durch ein Labyrinth, in das wir hineingestellt wurden, ohne den Ausgangspunkt und das Ziel zu kennen. Das letzte Ziel erreichen wir wahrscheinlich niemals, bestenfalls eine Zwischenstation.« »Die Philosophie eines Bewußtseinsinhalts hat etwas Ätherisches an sich«, spottete ich. »Sie soll jedenfalls nicht der Zerstreuung dienen«, gab Fartuloon zurück. »Mir scheint, unser junger Freund hat etwas vor. Er ist aus seiner Kabine ausgebrochen.« Die Mitteilung war überflüssig gewesen, denn da meine Aufmerksamkeit von unbekannten Kräften auf das Objekt unserer Be-
35 obachtung gezwungen wurde, hatte auch ich gesehen, daß es Caycon gelungen war, das Schott seiner Kabine zu öffnen. Ich war gespannt auf das, was er vorhatte …
7. Als Caycon die dumpfe Verzweiflung überwunden hatte, kristallisierte sich bei ihm der Gedanke heraus, daß er etwas unternehmen müsse, um den Plan der Akonen zu vereiteln. Er ahnte, daß seine ursprüngliche Absicht, mit Raimanja aus dem Schiff zu fliehen, sich nicht realisieren ließ. Da die Akonen den Embryo so manipulieren wollten, daß er sich zu einem wachen Wesen entwickelte, würden sie Raimanja zweifellos schwer bewachen. Caycon focht einen inneren Kampf aus. Er wußte, daß es seine Pflicht war, den hinterhältigen Anschlag gegen die Freiheit seines Volkes zu vereiteln. Andererseits fühlte er sich auch für Raimanja verantwortlich – und für seinen Sohn. Die Frage war nur, was schwerer wog. Eigentlich kannte Caycon die Antwort darauf. Schwerer wog auf jeden Fall das Wohl der Gesamtheit. War die Gesamtheit bedroht, mußte das Individuum sich notfalls opfern. Nachdem Caycon vergebens nach einem Kompromiß gesucht hatte, der es ihm erlaubte, allem gerecht zu werden, faßte er schweren Herzens den Entschluß, alle persönlichen Interessen hinter das Gemeinwohl zu stellen. Er zitterte am ganzen Körper, als er diesen Entschluß faßte; dennoch ging er sofort daran, ihn in die Tat umzusetzen. Das erste Problem bestand darin, daß er aus seiner Kabine entkommen mußte, obwohl das Schott durch ein elektronisches Schloß verriegelt war. Da sich Caycon mit einfacher Elektronik auskannte, weil er notgedrungen die elektronischen Einrichtungen im Haushalt selbst hatte reparieren müssen, löste er dieses Problem relativ schnell.
36 Er besaß zwar kein Flugaggregat mehr, wohl aber die dazu gehörige elektronische Steuerung, die in seiner Gürtelschnalle untergebracht war. Die elektronische Steuerung sandte bestimmte Impulse aus, die die Ansaug- und Ausstoßleistung eines Flugaggregats sowie den Grad der Aufheizung durch den atomaren Mikroreaktor regelten. Da die Impulse sich durch einfache Manipulationen variieren ließen, brauchte Caycon nur so lange herumzuprobieren, bis er die Frequenzkombination erhielt, auf die die elektronische Türverriegelung ansprach. Das klang einfach, war aber in der Praxis ohne Hilfe eines Positronengehirns sehr mühselig, da sich ein organisches Gehirn die bereits durchgeprobten Frequenzkombinationen nach einiger Zeit nicht mehr merken konnte. Caycon mußte also mehr oder weniger auf einen glücklichen Zufall hoffen, so ähnlich wie ein Bhvrat-Spieler, der auch nicht vorausberechnen konnte, wo die rollende Kugel zum Stillstand kam. Caycon hatte sehr viel Glück, denn er traf die richtige Frequenzkombination bereits nach anderthalb Stunden. Als die beiden Schotthälften mit schwachem Surren auseinander glitten, trat er rasch auf den Korridor und schaute nach links und rechts. Niemand war zu sehen. Das war verständlich, denn die Akonen hatten nicht damit rechnen können, daß ihr Gefangener auf den Gedanken käme, die Schottelektronik mit Hilfe einer Flugaggregatschaltung zu überlisten. Für die akonische Denkweise, die sich im Rahmen technischer Perfektionierung bewegte, war kein Platz für primitive Improvisationen. Einen Moment lang stand Caycon unschlüssig auf dem festen Seitenstreifen des Korridors. Am liebsten wäre er in die Richtung gefahren, in der er Raimanja vermutete. Aber er wußte, daß er sich damit nur jegliche Aussicht auf Flucht verbaut hätte. Wie schon zuvor, siegte auch diesmal sein Pflichtgefühl der Gesamtheit gegenüber. Caycon kannte sich im inneren Aufbau von Raumschiffen aus. Er wußte außerdem,
H. G. Ewers daß sich in der Beziehung die Raumschiffe der Arkoniden nicht von denen der Akonen unterschieden. Schließlich war der Große Befreiungskrieg auf arkonidischer Seite anfangs mit erbeuteten akonischen Raumschiffen geführt worden. Inzwischen hatte sich die akonische Raumschiffsform verändert; die Pole waren stärker abgeflacht, aber die innere Struktur unterschied sich nicht wesentlich von der arkonidischer Schiffe. Caycon betrat das nach rechts führende Transportband, fuhr auf ihm zu einem der durchgehenden Antigravschächte und schwang sich hinein, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß er leer war. Offenbar befand sich die Besatzung auf den Stationen. Das allmählich anschwellende Tosen der Kraftwerke verriet außerdem, daß das Schiff Fahrt aufnahm. Das setzte Caycon unter Zeitdruck, denn er wußte nicht genug von der Navigation eines Raumschiffs, um nach Arkon zurückzufinden, wenn das Schiff erst einmal eine Transition ausgeführt hatte. Ungeduldig wartete er darauf, daß er das Deck erreichte, auf dem die kleinen Beiboote untergebracht waren. Dort schwang er sich hinaus, sprang auf das nächste Transportband und lief in Fahrtrichtung, um noch schneller voranzukommen. Endlich hatte er das erste innere Hangartor erreicht. Er sprang vom Band und drückte auf die grün leuchtende Kontaktplatte. Die Torhälften glitten auseinander. Caycon blickte in einen hellerleuchteten Schleusenhangar, in dem ein Raumboot stand, das dem, mit dem er und Raimanja von Arkon entführt worden waren, genau glich. Aber er sah nicht nur das Boot, sondern auch die beiden Akonen, anscheinend Techniker, die das Kanzeldach geöffnet hatten und an den Kontrollen hantierten. Im ersten Augenblick stand Caycon wie erstarrt. Er glaubte sich ertappt. Doch dann erkannte er, daß die Akonen ihn nicht bemerkt hatten. Seine erste Eingebung war, das Hangartor wieder zu schließen und beim nächsten Hangar sein Glück zu versuchen. Aber das Tosen der Aggregate schwoll immer mehr an,
Brennpunkt Vergangenheit verwandelte sich in ein Dröhnen, das die Schiffszelle zum Vibrieren brachte. Die Transition mußte kurz bevorstehen. Es war keine Zeit mehr, in einen anderen Hangar auszuweichen. Caycon faßte sich ein Herz und eilte so leise wie möglich auf das Raumboot zu. Die Techniker unterhielten sich leise über irgendein Problem. Caycon war froh darüber, denn dadurch war ihre Aufmerksamkeit völlig auf die Kontrolle des Bootes gerichtet. Er erreichte die Einstiegsluke, zog sich hoch und kletterte in die Steuerkanzel. Einer der beiden Techniker wollte seinem Kollegen gerade etwas erklären, drehte sich dabei um und deutete auf etwas hinter Caycon. Mitten in der Bewegung schien sein Arm einzufrieren. Der Mund blieb halbgeöffnet stehen. Caycon sprang auf den Mann zu und schlug ihn nieder. Inzwischen hatte der andere Techniker ihn ebenfalls bemerkt. Er war unbewaffnet, aber er griff nach einem Detektorstab, um ihn als Hiebwaffe zu benutzen. Caycon, dessen Reflexe und Muskeln durch die Anforderungen der Jagd trainiert waren, schlug den halb erhobenen Arm des Akonen beiseite und stieß ihm die Faust ans Kinn. Der Mann verdrehte die Augen und ging ebenfalls zu Boden. Als Caycon sah, daß auch der erste Akone bewußtlos war, überlegte er, ob er sie an Bord lassen sollte. Er lauschte dem Dröhnen der Aggregate und entschied, daß er es noch schaffen konnte, die beiden Techniker von Bord und in Sicherheit zu bringen. Ließ er sie in der Steuerkanzel liegen, würden sie ihm später nur Schwierigkeiten bereiten. Er lud sich den ersten Akonen über die Schulter, trug ihn aus dem Boot und legte ihn außerhalb des Schleusenhangars nieder. Danach erwies er dem zweiten Techniker den gleichen Dienst. Anschließend schloß er das innere Hangartor, damit es im Schiffsinnern nicht zu einer verheerenden Dekompression kam. Als er wieder in der Steuerkanzel war, hatte sich in das Dröhnen ein schrilles Pfei-
37 fen gemischt. Caycon wußte nicht, was es bedeutete, nahm aber vorsichtshalber an, daß es ein Zeichen für die unmittelbar bevorstehende Transition war. Hastig aktivierte er die Schaltungen für den Kanzeldachverschluß, hieb mit der Faust auf die Schaltplatte der Außenschott-Fernimpulsschaltung und aktivierte das Triebwerks-Kraftwerk. Als er sah, daß sich das äußere Hangartor öffnete, schaltete er rücksichtslos das Kraftwerk hoch und preßte die Hand auf die Schaltplatte für Vorwärtsbeschleunigung. Eine Art Gongschlag ertönte, dann wurde das kleine Boot von ohrenbetäubendem Lärm erfüllt. Caycon sah, wie die Ränder des Außentores auf ihn zuschossen und schloß die Augen. Als er sie wieder öffnete, war von dem Hangar nichts mehr zu sehen. Ringsum leuchteten die Sterne gleich Diamanten auf schwarzem Samt. Caycon kam nicht dazu, den Anblick zu bewundern. Das Grollen der Aggregate wurde von einem mörderischen Krachen übertönt. Aus den Kontrollpulten schlugen blauweiße Blitze. Eine Alarmsirene heulte – und plötzlich drehten sich die Sterne wie rasend um Caycon …
* Als Caycon wieder zu sich kam, hing er pendelnd in den Anschnallgurten seines Kontursessels. Ihm war übel, und abwechselnd tauchten vor seinen Augen die Sterne des Weltraums und die Inneneinrichtung der Steuerkanzel auf. Er brauchte nicht lange, um sich diese Phänomene zu erklären. Das Boot raste offenbar durch den Raum und überschlug sich dabei fortwährend. Auch der Grund dafür wurde Caycon bald klar. Das große akonische Raumschiff mußte, kurz nachdem er es mit dem Beiboot verlassen hatte, in Transition gegangen sein. Die nahe Strukturerschütterung hatte die Bootselektronik und die positronischen Regelelemente schwer beschädigt. Sämtliche Triebwerke waren ausgefallen, aber offenkundig nicht mit einemmal,
38 sondern in zwei Schüben. Dadurch hatte das Beiboot den Impuls erhalten, der es sich überschlagen ließ. Caycon überlegte, was er tun konnte, um den untragbaren Zustand zu beenden. Wenigstens arbeiteten die Andruckabsorber noch, sonst könnte er überhaupt nie mehr denken. Aber wenn er die Überschlagsbewegungen nicht stoppte, würde er nicht viel länger zu leben haben. Schon verwirrte sich sein Geist zeitweise. Er litt unter Halluzinationen, Kopfschmerzen und Übelkeit. Es wäre sinnlos gewesen, die Abdeckung des Hauptsteuerpults zu entfernen und zu versuchen, die Elektronik zu reparieren. Mit den komplizierten Steuer- und Regelsystemen eines Raumschiffs kannte er sich nicht aus. Er konnte nur hoffen, daß es an Bord eine Selbstreparaturanlage gab, die lediglich durch das Herausschlagen von Sicherungen ausgefallen war. Zwischen den Schwindelanfällen und Halluzinationen suchte Caycon mit den Augen nach dem betreffenden Sicherungssystem. Als er glaubte, es entdeckt zu haben, öffnete er das Sammelschloß seiner Anschnallgurte. Im nächsten Augenblick mußte er sich krampfhaft an den Seitenlehnen seines Kontursessels festhalten, um nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt zu werden. Erst nachträglich wurde ihm klar, daß auch die künstliche Schwerkraft ausgefallen war – oder doch die Polung der künstlichen Schwerkraft. Er suchte mit den Augen einen Haltegriff am Hauptsteuerpult, berechnete im Kopf die Bewegung des Schiffes um seine verschiedenen Achsen und stieß sich auf gut Glück ab. Seine Berechnungen mußten wenigstens annähernd gestimmt haben, denn er bekam den Haltegriff mit einer Hand zu fassen. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, als würde ihm der Arm vom Körper gerissen. Verbissen kämpfte er darum, auch die zweite Hand an den Haltegriff zu bringen. Als ihm das endlich gelungen war, ruhte er sich aus – notgedrungen, denn sein Geist verwirrte sich erneut.
H. G. Ewers Doch sein starker Wille half ihm, die Krise auch diesmal zu überwinden. Er befand sich mit dem Gesicht ganz in der Nähe des Sicherungssystems, das er für das der Selbstreparaturanlage hielt. Die Kippschalter waren nach unten geflogen und von ein paar inzwischen erkalteten Tropfen geschmolzenen Metallplastiks festgeschweißt worden, sonst hätten sie von der Notschaltautomatik nach einiger Zeit wieder nach oben geworfen werden müssen. Caycon preßte die Zähne aufeinander, konzentrierte sich, ließ die rechte Hand vom Haltegriff fahren und stemmte die Handfläche mit aller Kraft gegen den ersten Kippschalter. Er keuchte, als der Schalter sich nicht rührte. Plötzlich gab es einen Ruck, der Schalter flog nach oben und rastete ein. Etwas summte und knisterte. Caycon nahm die Hand an den Haltegriff zurück und legte eine zweite Pause ein. Anschließend versuchte er sein Glück bei dem zweiten Kippschalter. Diesmal stellte sich der Erfolg schneller ein. Im letzten Augenblick, bevor sich sein Geist wieder verwirrte, brachte er die freie Hand wieder an den Haltegriff. Dann verlor er das Bewußtsein, hielt sich aber dennoch fest. Als er wieder zu sich kam, fühlte er sich so elend, daß er wußte, er würde nur noch einen winzigen Versuch unternehmen können. Wenn es ihm dabei nicht gelang, den dritten und letzten Kippschalter hochzustemmen, würde er nicht mehr genügend Kraft für einen weiteren Versuch aufbringen. Erneut konzentrierte er sich, dann ließ er mit der rechten Hand los und schlug die Handfläche von unten gegen den dritten Kippschalter. Es knackte, dann flog der Schalter hoch. Ein blauer Blitz zuckte auf. Ein Dröhnen schüttelte die Schiffszelle, dann gab es einen schmerzhaften Ruck. Caycon vermochte sich nicht länger zu halten. Seine linke Hand glitt von dem Haltegriff und er fiel. Seltsamerweise wurde er nicht durch die Steuerkanzel gewirbelt, sondern fiel nur einen halben Schritt tief und prallte auf den Boden der Kanzel. Zu seinem
Brennpunkt Vergangenheit Erstaunen blieb er dort liegen, und wiederum verwirrte sich sein Geist. Als er das nächstemal wieder zu sich kam, fühlte er sich viel besser. Ihm war nicht mehr übel, und der Schwindel in seinem Kopf hatte nachgelassen. Dennoch war Caycon so erschöpft, daß er vorerst liegenblieb. Allmählich klärte sich sein Geist wieder. Caycon erkannte, daß die künstliche Schwerkraft wieder auf die Soll-Ebene des Beiboots gepolt war. Dadurch spürte er nichts mehr von den Überschlägen des Diskus. Nur der Blick auf das transparente Kanzeldach bewies, daß sich das Boot unverändert überschlug. Es hatte den Anschein, als wirbelten die Sterne des gesamten Universums rasend schnell um das Boot herum. Mühsam richtete Caycon sich auf. Er fühlte sich schwach, und die Erinnerung an Raimanja und an das Schicksal, das die Akonen ihr zugedacht hatten, ließ seine Glieder in haltlosem Krampf zittern. Allmählich aber ließ das Zittern wieder nach. Caycon überlegte, warum die Akonen sich nicht um ihn gekümmert hatten. Die Kontrollen in der Hauptzentrale hatten den unvorhergesehenen Start des Beiboots zweifellos angezeigt. Caycon zweifelte auch nicht daran, daß die Akonen daraus den richtigen Schluß gezogen hatten. Offenbar aber hatte der Autopilot im Augenblick ihrer Erkenntnis die Transition eingeleitet. Die Frage blieb, warum sie nach der Rematerialisierung am ersten Transitionsziel nicht unverzüglich umgekehrt waren, um das Boot zu suchen und wieder einzufangen. Nach einigem Überlegen fand Caycon auch darauf eine Antwort. Die Akonen hatten ganz einfach angenommen, daß der heftige Strukturschock ihrer Transition das kleine Raumboot, das sich bis zu diesem Zeitpunkt nur um höchstens drei oder vier Lichtsekunden entfernt haben konnte, zerrissen hatte. Sie hielten ihn, Caycon, demnach für tot. Und warum hätten sie sich um einen Toten kümmern sollen, der in dem Wrack eines Beiboots ziellos durchs All trieb?
39 Aber er war nicht tot. Und wenn es ihm gelang, die Fluglage des Bootes zu stabilisieren und unter den zahllosen Sternen die Sonne Arkon ausfindig zu machen, dann würde er das Boot vielleicht auf Heimatkurs bringen können. Der Name Perpandron geisterte durch sein Gehirn. Es war der Name jener Welt, auf die Raimanja gebracht werden sollte, damit sie dort ein waches Wesen gebären konnte. Wenn es ihm gelang, nach Arkon zurückzukehren und alles zu berichten, dann konnte der verhängnisvolle Plan zunichte gemacht werden. Caycon zog sich in den Kontursessel vor dem Hauptsteuerpult, schnallte sich an und streckte die Hände nach den Triebwerksschaltungen aus. Wenn die Schäden nicht irreparabel waren, dann hatte die Selbstreparaturanlage sie vielleicht schon behoben …
* Als es unsicher schien, ob Caycon die Sicherungen für die Selbstreparaturanlage des Beiboots würde einschalten können, nahm ich plötzlich eine wellenförmige Ausstrahlung von Panik wahr, die mich in kurzen Intervallen durchdrang. Ich wußte, daß die Ausstrahlung nicht von Fartuloon stammte, denn es gab keinen Grund für meinen Pflegevater, in Panik auszubrechen. Demnach konnte sie nur von Akon-Akon stammen. Fürchtete der Geheimnisvolle um das Leben seines Vaters – und war seine Furcht so stark, daß sie in Panik ausartete und von mir wahrgenommen werden konnte? Aber aus welchem Grund? Caycon war – so oder so – seit vielen Generationen tot. Es gab keinen vernünftigen Grund mehr, sich wegen einer gefährlichen Lage, in die er einst geraten war, so zu ängstigen, daß man in Panik ausbrach. Ich versuchte, mit dem Bewußtseinsinhalt Akon-Akons, der sich ebenso im Beiboot befinden mußte wie die Bewußtseinsinhalte
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aller »Zeitreisenden«, Kontakt aufzunehmen. Aber alle meine Bemühungen blieben ergebnislos. Wahrscheinlich war der Bewußtseinsinhalt Akon-Akons nicht in der Lage, mich wahrzunehmen. »Was meinst du dazu?« erkundigte ich mich bei Fartuloon. Doch mein Pflegevater meldete sich nicht. Es war, als sei sein Bewußtseinsinhalt verschwunden. Ich hielt das für unmöglich. Offenbar wollte Fartuloon zur Zeit den Kontakt mit mir meiden. Ich begriff zwar nicht, warum, aber ich hatte auch keine Möglichkeit, einen einseitigen Kontakt herzustellen. Also verfolgte ich weiter die Geschehnisse, körperloser Gast aus einer Zukunft, die es »jetzt« noch nicht gab, an die ich mich aber dennoch klar erinnerte …
8. Caycon atmete erleichtert auf, als die Triebwerke ansprangen. Er versuchte, die Fluglage des Beiboots zu stabilisieren, indem er die Aggregate im Rand des Diskusfahrzeugs abwechselnd hoch- und herunterschaltete. Bald sah er ein, daß er damit nichts anderes erreichte, als daß die Überschlagsachsen sich veränderten. Vielleicht hätte ein routinierter Raumschiffspilot die Fluglage nach Gefühl stabilisieren können. Er aber war keiner. Schon wollte er aufgeben und sich damit abfinden, daß er ziellos durch den Raum treiben würde, bis entweder zuerst der Vorrat an Atemluft oder der an Trinkwasser verbraucht war und er erstickte oder verdurstete, da fiel sein Blick auf eine ovale Schaltplatte neben den Triebwerksschaltungen. Er wußte nicht, welchem Zweck sie diente, aber da ihm ohnehin alles egal war, drückte er sie nieder. Über den Hauptsteuerkontrollen blinkte eine gelbe Scheibe auf. In ihr wurden Symbole und Zahlengruppen erkennbar, die in rascher Folge wechselten. Gleichzeitig damit veränderte sich die Geräuschkulisse der
Triebwerke – und nach kurzer Zeit merkte Caycon, daß die Fluglage des kleinen Beiboots sich allmählich stabilisierte. Er lachte humorlos. Da hatte er die ganze Zeit über mit den Triebwerksschaltungen herumprobiert, ohne etwas zu erreichen und ohne daran zu denken, daß die weitgehend perfektionierte Technik der Akonen eine Lösung für sein Problem bereithielt: eine Fluglagestabilisierungsautomatik. Es dauerte nicht mehr lange, bis aus dem regellosen Umherwirbeln des Bootes ein gleichförmiger Geradeausflug mit konstanter Beschleunigung geworden war. Beruhigt lehnte er sich zurück und schlief ein. Als er wieder aufgewacht war, entdeckte Caycon auch verschiedene Meßinstrumente, so die Anzeigen für Flugrichtung, Fluggeschwindigkeit und die Entfernung des nächsten in Flugrichtung gelegenen Objekts. Er stellte fest, daß das Boot sich mit einer Geschwindigkeit von neunundneunzig Prozent LG fortbewegte, eine Folge der stetigen Beschleunigung. Wie lange es her war, daß das Beiboot diese Geschwindigkeit erreicht hatte, vermochte Caycon nicht festzustellen, aber er kannte die Gesetzmäßigkeiten der Zeitdilatation und wurde halb wahnsinnig vor Angst bei dem Gedanken, für Raimanja und die Arkoniden auf Arkon könnten in der Zeit, die er geschlafen hatte, Monate oder Jahre verstrichen sein. Unter Umständen war Raimanja längst auf Perpandron angekommen, war sein Sohn schon geboren. Voller Panik schaltete er die Triebwerke ab – und dachte erst einige Minuten später erschrocken daran, daß sich damit die Geschwindigkeit des Beibootes nicht änderte. Caycon aktivierte die Gegenbeschleunigung und schaltete die Triebwerke solange hoch, bis seine Geschwindigkeit auf Null gesunken war. Dann schaltete er die Triebwerke abermals ab. Verzweifelt wurde er sich klar darüber, daß er in den wenigen Stunden Eigenzeit infolge des schnelleren Zeitablaufs seiner Umwelt möglicherweise Lichtmonate oder
Brennpunkt Vergangenheit Lichtjahre zurückgelegt hatte. Wie sollte er unter diesen Umständen nach Arkon zurückfinden? Ja, wie sollte er überhaupt unter so vielen Sternen den fernen Stern ermitteln, der das Muttergestirn der Kolonie Arkon war? Er versuchte es dennoch. Als er merkte, daß seine Bemühungen nicht die geringsten Aussichten auf Erfolg hatten, kam er auf den Gedanken, das Beiboot zu wenden, wieder auf neunundneunzig Prozent LG zu beschleunigen und diese Geschwindigkeit für die Dauer von drei Stunden Eigenzeit beizubehalten. Falls seine Schätzung stimmte, würde er dann ungefähr die Position erreichen, wo das Beiboot zum erstenmal in den relativistischen Flug übergegangen war – und das konnte nicht mehr als einige Lichtstunden von Arkon entfernt sein. Es drängte ihn, sofort damit anzufangen. Doch diesmal zwang er sich zur Geduld. Er wollte nicht wieder planlos handeln, denn wenn er die Richtung, aus der er gekommen war, nicht ganz genau traf, dann würde er Arkon niemals wiederfinden. Caycon suchte seine Kenntnisse zusammen und stellte fest, daß er das Boot mit dem Bug um exakt hundertachtzig Grad wenden mußte, um es auf einen entgegengesetzten Kurs zu bringen. Außerdem mußte er darauf achten, daß das Boot keine vertikalen Bewegungen ausführte. Bei diesen Überlegungen fielen ihm siedendheiß seine Bemühungen ein, die Fluglage durch impulsive Schaltmanöver zu stabilisieren. Sein Mut sank, denn wenn er – was anzunehmen war – dabei den ursprünglichen Kurs verändert hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, zur Ausgangsposition zurückzufinden. Resignierend schloß Caycon die Augen. Er wußte, daß er endgültig verspielt hatte. Er würde weder Arkon noch Raimanja wiedersehen – und niemals würde er erfahren, was aus seinem Sohn geworden war. Aber nach einiger Zeit regte sich in ihm der Wille wieder, gegen Widerstände jeder
41 Art anzukämpfen. Belebt wurde dieser Wille durch die vage Hoffnung, die Akonen könnten in ihren Raumschiffen und Beibooten über Automatiken verfügen, die eine automatische Rückführung zum Startpunkt ermöglichten. Caycon rieb sich die schmerzenden Augen, dann begann er mit seiner Suche. Er fand zwar nicht direkt das, was er zu finden hoffte, aber er schaltete zufällig ein Gerät ein, das eine direkte akustische Kommunikation mit ihm und der kleinen Bordpositronik erlaubte. Von der Bordpositronik, die nicht viel mehr als ein kleines positronisches Robotgehirn mit Anschlüssen an alle Schiffssysteme war, erfuhr er, daß ein mündlicher Befehl von ihm genügte, um die Positronik zu veranlassen, jedes gewünschte Manöver auszuführen. Dennoch wagte Caycon es nicht, seinen Wunsch sofort auszusprechen, weil er befürchtete, die Bordpositronik könnte ausgerechnet zur Erfüllung dieses Wunsches nicht in der Lage sein. Endlich aber gab er sich doch einen Ruck und sagte, was er wollte. Er vernahm gleich darauf die Bestätigung der Positronik. Dennoch wagte er erst an die Erfüllung seines Wunsches zu glauben, als er merkte, daß das Boot wendete. Auf einem Anzeigeschirm war zu sehen, daß das Beiboot eine Wendung um genau hundertachtzig Grad vollführte und dabei vertikale Abweichungen vermied. Anschließend beschleunigte es. Caycon verfolgte aufmerksam die Instrumentenanzeigen. Deswegen bemerkte er den Fehler, der ihm unterlaufen war und den die Positronik nicht als solchen erkennen konnte, noch rechtzeitig. Die Bordpositronik beschleunigte das Boot nämlich über die kritische Geschwindigkeitsgrenze hinaus, die zwischen Normal- und Dilatationsflug unterschied. Auf Caycons Anfrage teilte sie ihm mit, sie hätte den Herflug nach Umkehr der Flugrichtung genau rekonstruiert. Er wies sie an, unter der kritischen Grenze zu bleiben, ansonsten aber nichts zu verändern. Aber die Bordpositronik gab sich nicht
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damit zufrieden. Sie teilte ihm mit, daß der Rückflug zum Ausgangspunkt in dem Fall dreieinhalb Jahre dauern würde. Das versetzte Caycon einen Schock, denn daraus erkannte er, daß seit seiner Flucht aus dem akonischen Schiff nicht nur einige Monate, sondern tatsächlich dreieinhalb Jahre vergangen waren. Da die akonischen und arkonidischen Jahre annähernd gleich lang waren, brauchte er nicht erst umzurechnen, sondern gab sich mit dem Grobwert zufrieden. Dreieinhalb Jahre! Und genau diese Zeit würde er brauchen, um seinen Ausgangspunkt wieder zu erreichen, ganz gleich, ob er sich im normalen oder im relativistischen Geschwindigkeitsbereich bewegte. Der einzige Unterschied bestand darin, daß er in dem einen Fall die Flugzeit als Eigenzeit erlebte und im anderen Fall als einige Stunden Eigenzeit infolge der relativistischen Verlangsamung seines eigenen Zeitablaufs. Unter diesem Umständen entschied sich Caycon für die Methode, bei der wenigstens ihm die Zeit schneller verging – jedenfalls relativ gesehen. Er teilte seinen Entschluß der Bordpositronik mit, die ihn zur Kenntnis nahm und in die Tat umsetzte. Caycon aber war nahe daran, endgültig den Verstand zu verlieren, denn er mußte ständig daran denken, daß für den Rückflug objektiv noch einmal dreieinhalb Jahre vergehen würde, so daß seit seiner Flucht aus dem akonischen Raumschiff sieben Jahre vergangen sein würden, wenn er seinen Ausgangspunkt erreichte.
* Caycon fiel in einen Schlaf der Erschöpfung, in dem er von Alptraum zu Alptraum taumelte. Alle Personen, die er gut gekannt hatte, tauchten in diesen Träumen auf, aber ständig war Raimanja dabei, wenn auch in wechselnder Gestalt. Und ab und zu begegnete Caycon in sei-
nen Träumen seinem Kind, das einmal ein Baby war, dann ein Knabe von sieben Arkonjahren und einmal sogar ein junger Mann. Er versuchte, seinen Sohn anzufassen und mit ihm zu sprechen, aber jedesmal verblaßte die Erscheinung. Endlich erwachte Caycon schweißgebadet. Er zitterte am ganzen Körper und hatte große Mühe, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Er kehrte erst dann wieder voll in die Realität zurück, als die Bordpositronik ihm mitteilte, daß der Ausgangspunkt des Fluges erreicht sei. Caycon erkundigte sich, ob die Positronik das Schiff zum Planeten Arkon steuern und darauf landen lassen konnte. Sie antwortete, daß es ihr nicht möglich war, den Planeten Arkon anzufliegen, da in ihr keine Daten darüber gespeichert seien. Demnach ist es doch nicht das Boot, das Raimanja und mich von Arkon zum Schiff der Akonen brachte! überlegte Caycon. Er sah ein, daß er von nun an wieder auf sich selbst gestellt war. Wenn er die Sonne Arkon entdeckte und identifizierte, würde er sicher auch zum Planeten Arkon zurückfinden. Geduldig beobachtete er die Sterne, aber er fand keinen, dessen Helligkeit so stark war, daß er auf eine Entfernung von nur wenigen Lichtstunden schließen konnte. Wieder wäre Caycon bald verzweifelt. Es dauerte lange, bis er darauf kam, daß er die Arkonsonne vielleicht nur deshalb nicht sah, weil sie unterhalb seines eingeschränkten Gesichtsfelds lag. Er forderte die Positronik auf, das Schiff um hundertachtzig Grad zu kippen. Die Positronik gehorchte – und diesmal entdeckte Caycon die große, helleuchtende blauweiße Sonne sofort. Das mußte Arkon sein! Caycon wußte, daß er die Planeten der Arkonsonne finden würde, wenn das Boot unbeweglich verharrte und er lange genug ausharrte, um die Planeten von den scheinbar feststehenden fernen Sonnen zu unterscheiden. Aber er brachte, so nahe an seiner Heimat, nicht mehr die Geduld auf, solange
Brennpunkt Vergangenheit stillzusitzen und nur zu beobachten. Eine Anfrage bei der Bordpositronik ergab, daß die Positronik in der Lage war, die Planeten des Arkonsystems ortungstechnisch zu erfassen. Caycon erkundigte sich, wie viele Planeten die Positronik der großen blauweißen Sonne zuordnete. Als er hörte, daß es siebenundzwanzig waren, war das die Bestätigung seiner Annahme, daß er sich im Arkonsystem befand. Er erklärte dem Positronengehirn, daß seine Zielwelt der dritte Planet sei, von innen nach außen gezählt. Daraufhin teilte die Positronik mit, daß sie nun, da sie das Ziel kannte und ortungstechnisch erfaßt hatte, das Beiboot hinbringen könnte. Caycon erteilte ihr den entsprechenden Befehl, und das Beiboot setzte sich in Bewegung. Der Planet Arkon war bereits münzengroß zu sehen, als es Caycon einfiel, daß die Ortungsstationen der planetarischen Raumüberwachung das Boot zweifellos erfassen mußten. Da es nicht angemeldet war, würde die Zentrale der Raumüberwachung es anfunken und die Identifizierung verlangen. Caycons Augen suchten den Hyperkom. Würden die Offiziere der Raumüberwachungszentrale ihm glauben, wenn er sagte, wer er war? Wenn sie das Boot als akonisches Beiboot identifizierten und niemand ihn erkannte, würden auf Arkon einige Raumjäger starten, ihn abfangen und abschießen. Er beschloß, die Raumüberwachung von sich aus anzurufen. Dann konnte man dort wenigstens nicht auf den Gedanken kommen, er hätte sich heimlich anschleichen wollen. Zwar war ihm die Flottenfrequenz, auf der die Raumüberwachung arbeitete, nicht bekannt. Doch er wußte, daß die betreffenden Hyperfunkanlagen über Suchsysteme verfügten, die die Umgebung Arkons auf allen Frequenzen nach Funksprüchen absuchten. Caycon schaltete den Hyperkom ein und stellte ihn vorsichtshalber auf maximale Sendeenergie. Dann ließ er das programmierte Rufsignal ausstrahlen.
43 Es dauerte nur wenige Sekunden, bis auf dem Bildschirm das Gesicht und der Oberkörper eines arkonidischen Funkoffiziers erschienen. Das Gesicht des Mannes drückte unverhohlenes Mißtrauen aus. »Raumüberwachungszentrale an anfliegendes Fahrzeug«, sagte der Offizier. »Drosseln Sie Ihre Sendeleistung um neunzig Prozent und identifizieren Sie sich! Sie sind dabei, in militärisches Sperrgebiet einzufliegen.« Mit zitternden Händen verstellte Caycon die Sendeleistung, dann sagte er: »Hier spricht Caycon aus der Familie Akonda. Meine Frau Raimanja und ich sind vor sieben Jahren von Fremden entführt worden. Mir gelang die Flucht mit einem Beiboot. Ich bitte um Landeerlaubnis.« Der Funkoffizier wölbte die Brausen. »Caycon – aus der Familie Akonda, ja?« »Ja, es stimmt«, versicherte Caycon hastig. »Ich wurde allerdings aus meiner Familie ausgestoßen, da ich mit einer Sulithur zusammenlebte, und …« Die Miene des Offiziers erhellte sich. »Ah, Sie wurden ausgestoßen«, erwiderte er. »Wenn sich das bestätigt, ändert das die Sachlage. Normalerweise haben wir auf Arkon nämlich keinen Platz für einen Akonda – und auch nicht für einen Sulithur. Nennen Sie mir Ihre Kodenummer!« »Welche Kodenummer?« fragte Caycon verwundert. »Na, die, die Sie erhielten, als Sie Ihre erste Ausbildungszeit in der Flotte registriert wurden«, erklärte der Offizier. »Aber ich wurde nie eingezogen«, erwiderte Caycon. Der Blick des Funkoffiziers verriet eisige Ablehnung und Unglauben. »Mann, Sie sind schätzungsweise fünfundzwanzig alt, Sie steuern ein Raumboot – und Sie wollen mir erzählen, Sie hätten noch keine Dienstzeit bei unserer Raumflotte absolviert? Lassen Sie sich schnell etwas einfallen, sonst muß ich die Raumabwehr alarmieren. Mit Spionen machen wir kurzen Prozeß.«
44 »Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, als ich entführt wurde«, sagte Caycon verzweifelt. »Weil ich mich mit Raumschiffen nicht auskannte, blieb ich viele Stunden lang auf Maximalbeschleunigung, wodurch ich in die höchsten Dilatationsstufe kam. Seit ich meinen Entführern entfloh, sind rund sieben Jahre objektiver Zeit vergangen.« »Wir werden das überprüfen«, erklärte der Offizier. »Stoppen Sie, Caycon! Ich schicke Ihnen zwei Piloten, die dafür sorgen, daß Ihr Boot sicher gelandet wird.« »Das ist unnötig«, erwiderte Caycon. »Mein Boot wird durch die Bordpositronik gesteuert und kann auch von ihr gelandet werden.« »Wer hat je von solchem Unsinn gehört«, entgegnete der Offizier. »Eine Bordpositronik ist zur Unterstützung des Piloten da, aber nicht, um ihn zu ersetzen. Es bleibt dabei, ich schicke Ihnen zwei Mann hinauf. Stoppen Sie sofort!« Es blieb Caycon nichts weiter übrig, als zu gehorchen. Eine halbe Stunde später kam ein Beiboot in Sicht, das nicht viel größer war als seines. Es legte an, und zwei Arkoniden in Raumanzügen stiegen über. Sie waren vorsichtig. Einer durchsuchte das Boot, während der andere mit gezogener Waffe in der Steuerkanzel stand und Caycon beobachtete. Schließlich hatte der erste die Durchführung beendet und kehrte in die Steuerkanzel zurück. »Nichts Verdächtiges«, erklärte er, dann blickte er Caycon an. »Ich heiße Eljan, mein Gefährte heißt Hakhon. Hakhon wird dein Boot landen.« »Und du paßt inzwischen auf mich auf, nicht wahr?« fragte Caycon bitter. »Selbstverständlich«, erklärte Eljan. »Reichsadmiral Farthu von Lloonet hat höchste Wachsamkeit empfohlen, denn Arkon ist von Feinden umgeben.« »Reichsadmiral Farthu von Lloonet?« erkundigte sich Caycon. »Ihr müßt entschuldigen, daß ich unwissend bin, aber ich war sieben Jahre fort. Demnach regieren keine Fa-
H. G. Ewers milien mehr?« »Sie wurden entmachtet und verbannt, da sie mit ihrer korrupten Politik die Schlagkraft der Flotte gefährdeten«, antwortete Eljan. »Als der damalige Flottenadmiral Farthu von Lloonet das erkannte, sorgte er an der Spitze einer Tausendschaft Raumlandesoldaten für Ordnung. Seitdem hat sich die Politik dem Wohl Arkons unterzuordnen, was mir sehr weise erscheint.« »Mir auch«, bekannte Caycon erfreut. »Endlich hat dieser Irrsinn ein Ende gefunden.« Seine Augen verdunkelten sich. »Aber zu spät für Raimanja und meinen Sohn.« Eljan und Hakhon wollten mehr von ihm erfahren, doch Caycon brütete nur dumpf vor sich hin und reagierte auf keine Frage mehr. Er stand lediglich auf und setzte sich in einen anderen Kontursessel, als Hakhon seinen Platz beanspruchte. Erst als während des Landemanövers die Impulssteuerung plötzlich unregelmäßig arbeitete und das Boot nicht mehr exakt auf die Steuerschaltungen Hakhons reagierte, erwachte er aus seinem Brüten. »Wahrscheinlich liegt ein Defekt vor«, erklärte er. »Zwei akonische Techniker untersuchten gerade die Kontrollen, bevor ich mir das Boot aneignete und floh.« »Daran hättest du vorher denken sollen«, sagte Hakhon. »Übrigens, es gibt keine Akonen.« »Aber ich …«, wollte Caycon einwenden. Eljan unterbrach ihn grob. »Merke dir ein für allemal: Es gibt keine Akonen, sondern nur Fremde, die uns unsere Erfolge neiden!« erklärte er. Caycon preßte die Lippen zusammen und schwieg. Es war zudem keine günstige Zeit für Diskussionen, denn das Raumboot schlingerte so heftig, daß Hakhon endgültig die Gewalt darüber verlor. In der Ferne war der Kontrollturm des nächsten Raumhafens schon in Sicht, als das Boot durchsackte und gegen die Flanke eines Hügels raste. Caycon nahm das Bersten und Krachen nicht mehr wahr, mit dem das Beiboot in seine Bestandteile zerfiel …
Brennpunkt Vergangenheit
* Es dauerte nicht lange, da waren die ersten Rettungsgleiter zur Stelle. Das Wrack hatte seine Einzelteile gleich einem Kometenschweif hinter sich gelassen und bestand nur noch aus einer Reaktorzelle und dem schief darauf liegenden Boden der Steuerkanzel. Die Retter beeilten sich, denn aus dem Reaktorteil drang der Qualm schwelender Speicherspulen. Ich sah, wie Caycon und die beiden Raumfahrer geborgen wurden. Sie waren alle drei bewußtlos und offenbar schwer verletzt. Wären sie mit ihren Kontursessel nicht auf den lockeren Sand der Hügelkuppe geschleudert worden, hätten sie den Absturz sicher nicht überlebt. Während unsere Bewußtseinsinhalte, gleichsam durch magische Kräfte an die Nähe Caycons gefesselt, die Fahrt im Ambulanzgleiter mitmachten, überdachte ich das, was Eljan dem Rückkehrer berichtet hatte. »Farthu von Lloonet!« dachte ich an Fartuloons Adresse. »Findest du nicht auch, daß dieser Name eine frappierende Ähnlichkeit mit deinem Namen hat?« »Ich kann es nicht leugnen«, erwiderte Fartuloon. »Nein, das kannst du nicht«, übermittelte ich meinem Pflegevater. »Ich bin so gut wie überzeugt davon, daß der Retter Arkons ein Urahn von dir war. Hoffentlich wirst du dadurch nicht übermütig.« »Das glaube ich kaum«, meinte Fartuloon. »Die Verstümmelung des ehedem hochadligen Namens scheint mir darauf hinzudeuten, daß es in der Kette meiner Vorfahren jemanden gab, der diesen Namen so in den Schmutz zog, daß ihm der Adelstitel entzogen wurde und er seinen Namen änderte, um irgendwo unerkannt leben zu können.« »Wer hätte auf seiner Ahnentafel keine dunklen Flecken aufzuweisen!« gab ich zurück. »Schau doch nur mal auf meine Ahnentafel! Der größte Verbrecher der arkoni-
45 dischen Geschichte ist zweifellos Orbanaschol III. und dieses Scheusal ist mein Onkel. Es besteht also keine Ursache für dich, Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln.« »Aber froh bin ich auch nicht darüber, daß ich den guten Namen meines Urahns verloren habe«, erklärte mein Pflegevater. »Ob ein Name angesehen ist oder nicht, darüber entscheidet immer sein Träger selbst«, erwiderte ich. »Jedenfalls bin ich froh darüber, daß wir ein paar Blicke hinter das Dunkel der Vorgeschichte des Großen Imperiums werfen dürfen. So manches wird mir jetzt leichter verständlich. So beispielsweise, warum Arkon zur Keimzelle eines extrem expandierenden Imperiums wurde.« »Weil es in der ersten Aufbauphase von den Militärs regiert wurde«, ergänzte Fartuloon. »Anfangs war das zweifellos positiv. Allerdings halte ich es für möglich, daß es niemals zu einem kriegerischen Zusammenstoß mit den Maahks gekommen wäre, wenn sich unser Imperium nicht so schnell ausgebreitet hätte und von dem Gedanken beseelt gewesen wäre, daß Widerstand immer mit Gewaltanwendung zu brechen sei.« »Alles hat seine Vor- und Nachteile«, gab ich zurück. »Ich bemerke soeben, daß Caycon zu sich kommt. Es wird interessant sein, seine Gespräche mit den Arkoniden zu belauschen, die ihn verhören werden.«
9. Caycon hatte die Augen geöffnet, aber er konnte nur schemenhafte Bewegungen in seinem Blickfeld erkennen. Sein Schädel fühlte sich an wie ein zu stark aufgeblasener Ballon, und von seinem Körper spürte er überhaupt nichts. Er konnte sich das nicht erklären, bis ihm wieder einfiel, daß er sich in einem Raumboot befunden hatte, das beim Landeanflug auf einen Raumhafen außer Kontrolle geraten und abgestürzt war. Eigentlich war es fast ein Wunder, daß er den Aufprall überlebt hatte. Er war bestimmt schwer verletzt. Sicher hatten die Mediziner ihn mit Betäu-
46 bungsmitteln vollgepumpt. Das mochte erklären, warum sein Sehvermögen getrübt war und er seinen Körper nicht fühlte. Etwas rückte plötzlich dicht an sein Gesicht heran. Nach einiger Zeit erkannte Caycon die Konturen eines anderen Gesichts, wenn auch undeutlich. »Können Sie mich hören, Caycon?« fragte jemand. Die Laute schnitten wie mit glühenden Messern durch Caycons Schädel. Er wollte schreien, brachte aber nur einen gurgelnden Laut zustande. »Schwere Schädelfrakturen und Gehirnquetschungen«, sagte eine andere, scheinbar weit entfernte Stimme. »Wir müssen so schnell wie möglich operieren und ein Ventil einsetzen. Die Brüche der Arme und Beinen können warten.« Das Gesicht vor seinen Augen verschwand. Caycon hatte das Empfinden, als bewegte er sich schwebend. Neue Schemen tauchten in seinem Gesichtskreis auf. Rote, grüne und blaue Leuchtflecken tanzten auf und ab; ihr Licht schmerzte seinen Augen, doch er konnte sie nicht schließen. Caycon versuchte zu ergründen, was er in einem Raumboot getan hatte. Er vermochte sich vage an eine lange Reise, an kreiselnde Sterne und an die blechern nachhallende Stimme eines Positronengehirns zu erinnern. Was hatte das Positronengehirn zu ihm gesagt? Hatte es etwas von ihm gewollt? Oder hatte er etwas von ihm gewollt? Aber da war noch etwas gewesen, etwas, das wichtiger war als alles andere. Nur, Caycon kam einfach nicht darauf, was das gewesen war. Plötzlich hörte die schwebende Bewegung auf. Mehrere Stimmen flüsterten. Ein Surren mischte sich in die Geräusche, dann das klopfende und schmatzende Geräusch eines Pumpaggregats. Etwas Nasses wischte über Caycons Gesicht. Das Surren wurde lauter, verwandelte sich in ein gedämpftes Heulen. Plötzlich kam es Caycon vor, als sei der prall gefüllte Ballon, als den er seinen Schädel gefühlt hatte, geplatzt. Der Druck ließ nach. Der
H. G. Ewers Splitter einer Erinnerung wurde frei. Er reichte gerade aus, um Caycon erkennen zu lassen, daß er etwas unternehmen mußte, um etwas Furchtbares zu verhindern. Er versuchte, sich aufzurichten. Doch das ging nicht. »Was ist mit ihm los?« fragte eine Stimme. »Habt ihr einen Rindenbezirk aktiviert?« Caycon begriff nichts von dem, was die Stimme gesagt hatte. Er begriff auch nicht, was der winzige Splitter seiner Erinnerung bedeutete, sondern handelte unter innerem Zwang, der von seinem Unterbewußtsein ausgeübt wurde. Mit äußerster Willensanstrengung schaffte er es, die Lippen zu bewegen und seine Stimmbänder zu steuern. »Er … er ist – ein waches Wesen!« stieß er hervor, dann blitzte es irgendwo in seinem Schädel auf – und gleich danach wurde es dunkel. Als Caycon wieder zu sich kam, war alles ganz anders. Er fühlte seinen Körper und konnte die Konturen seiner Umgebung einigermaßen klar erkennen. So sah er, daß er in einem Zimmer voller elektronischer und positronischer Apparaturen lag. Er war auf ein Bett geschnallt und konnte den Kopf nicht bewegen. Und irgendwo in seinem Schädel gluckste und zischte etwas leise. Kurz darauf hörte Caycon die Geräusche, die beim Öffnen und Schließen einer Tür entstehen. Da die Tür außerhalb seines Blickfelds lag und er den Kopf nicht wenden konnte, sah er nicht, wer eingetreten war – bis der Betreffende in seinem Blickfeld erschien. Es war ein Mann von zirka vierzig Arkonjahren. Er trug eine Uniformkombination und einen Waffengürtel mit zwei Halftern, aus denen die Griff stücke von Energiewaffen ragten. Sein hartes Gesicht verzog sich zur Andeutung eines Lächelns, als er sich auf einen Hocker neben Caycons Bett setzte. Er legte die rechte Hand auf das blaue Planetensymbol, das er auf der linken Brustseite seiner Uniformkombination trug und
Brennpunkt Vergangenheit sagte: »Ich bin Kjarmansul, Einfacher Planetenträger und der Kolonisationspolizei zugeteilt. Wie geht es Ihnen, Caycon?« »Ich fühle keine Schmerzen«, antwortete Caycon und wunderte sich, daß er mühelos sprechen konnte. »Aber ich kann mich nicht bewegen.« »Sie sind angeschnallt«, erklärte Kjarmansul. »Das ist auf der Intensivstation eines Krankenhauses so üblich. Die Mediziner berichteten mir, daß Sie sich von Ihren Verletzungen weitgehend erholt hätten. Allerdings ist Ihr Schädel noch nicht ganz in Ordnung. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dennoch einige Aussagen machen würden. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?« »Ja«, antwortete Caycon. »Aber ich glaube, ich weiß nichts. Wenn ich etwas gewußt habe, das wichtig für Sie ist, habe ich es vergessen. Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich hier bin.« »Sie flogen Arkon mit einem kleinen Raumboot an«, sagte Kjarmansul ernst. »Der Raumüberwachung erklärten Sie, daß Sie vor sieben Jahren von Fremden entführt wurden, daß Ihnen die Flucht mit dem Raumboot gelang und daß Sie die bewußten sieben Jahre verpaßt hätten, weil Sie sich unwissend längere Zeit dem maximal denkbaren Dilatationseffekt ausgesetzt hätten.« »Das Boot!« flüsterte Caycon. »Ja, ich glaube, ich erinnere mich an das Boot. Es sprach zu mir – oder vielmehr sprach die Bordpositronik des Raumboots zu mir. Es ging, glaube ich, darum, zurückzukehren zu einem Punkt, der …« Er seufzte. »Jetzt ist alles wieder fort.« »Während Ihrer Schädeloperation sagten Sie etwas von einem wachen Wesen«, sagte Kjarmansul eindringlich. »Genau sagten Sie: ›Er ist ein waches Wesen.‹ Was meinten Sie damit, Caycon?« »Ein waches Wesen!« stammelte Caycon. »Er ist ein waches Wesen.« Plötzlich zuckte er heftig zusammen. »Er ist es, mein Sohn!« schrie er. »Oh, Raimanja, unser Sohn! Sie haben ihn zu einem wachen Wesen ge-
47 macht!« Erschöpfung breitete sich in ihm aus, und er konnte, bevor er erneut das Bewußtsein verlor, nur noch flüstern: »Hilf mir, Raimanja!« Als Caycon diesmal zu sich kam, brauchte er nicht zu warten, bis jemand erschien. Er sah einen Mediziner auf dem Hocker neben seinem Bett sitzen. Der Mediziner bemerkte, daß Caycon die Augen öffnete, schaltete ein Armbandfunkgerät ein und flüsterte ein paar Worte. Wenig später hörte Caycon das Öffnen und Schließen einer Tür, dann trat ein hünenhaft gebauter Mann in sein Blickfeld. Er trug über der schlichten Uniformkombination einen kurzen Schulterumhang, auf dem zwei goldfarbene Kometensymbole leuchteten. Die linke Brustseite seiner Kombination wurde von drei gelben Sonnen geschmückt. Der Mediziner erhob sich und verließ schweigend das Zimmer. Dafür setzte sich der hünenhafte Mann auf den Hocker. Caycon sah, daß sein glattrasiertes Gesicht schwarzblaue Bartschatten aufwies, was bei einem Arkoniden sehr selten vorkam. Die Augen waren nicht rötlich, sondern gelb. »Ich grüße Sie, Caycon!« sagte der Mann mit sonorer Stimme. »Ich bin Reichsadmiral Farthu von Lloonet. Wie fühlen Sie sich, Caycon?« »Gut, glaube ich«, antwortete Caycon. »Ich erinnere mich. Jemand sagte mir, daß Sie Arkon regieren.« »Ich habe die Verantwortung für die Lenkung des Sternenreichs auf mich genommen«, erwiderte der Reichsadmiral. »Es ist eine schwere Bürde, das dürfen Sie mir glauben, Caycon. In diesem Amt kann ein Mann seiner Verantwortung aber nur gerecht werden, wenn er über alles informiert ist, das wichtig für die Politik des Reiches ist. Deshalb kam ich zu Ihnen. Planetenträger Kjarmansul berichtete mir, daß Sie einen Sohn haben, der zu einem wachen Wesen gemacht worden sein soll.« »Ein waches Wesen!« flüsterte Caycon gedankenverloren. »Ja, da war etwas …«
48 »Ich habe Nachforschungen anstellen lassen«, fuhr Farthu von Lloonet fort. »Vor rund sieben Jahren wurde das Liebespaar Raimanja und Caycon von ihren Familien verstoßen, weil sie sich nicht trennen wollten, obwohl ihre Familien verfeindet waren. Wenig später verhaftete die damalige Polizei Raimanja, da sie ihre Schwangerschaft nicht gemeldet hatte. In der zweiten darauf folgenden Nacht wurde die Polizeistation, in der Raimanja gefangengehalten wurde, von Unbekannten überfallen und in die Luft gesprengt. Dabei kamen neun Personen ums Leben. Da von Raimanja keine Überreste gefunden wurden, nahm man damals an, ihr Mann Caycon hätte sie befreit und wäre mit ihr in die Wildnis geflohen. Sieben Jahre später kehrte ein Mann zurück, der sich Caycon nannte: Sie!« »Ja, ich bin Caycon«, flüsterte Caycon. »Raimanja und ich – sind nicht geflohen. Ich glaube, wir wurden entführt.« »Sie glauben es?« fragte der Reichsadmiral und wölbte die dichten schwarzen Brauen. »Erinnern Sie sich nicht mehr?« »Die Fremden«, stammelte Caycon. »Sie sagten, mein Sohn sollte ein waches Wesen werden. Raimanja, sie wollten sie nach Perpandron bringen, wo sie das Kind – unseren Sohn gebären sollte. Unser Sohn, ein waches Wesen.« »Was bedeutet das: ein waches Wesen?« erkundigte sich Farthu von Lloonet. »Macht!« sagte Caycon. »Alle werden vor ihm in den Staub fallen und seine Füße küssen, und niemand wird ihm widerstehen können in seinem Glanz, der die Augen blendet. Das Licht ist so grell. Es schmerzt meinen Augen.« »Bitte, beruhigen Sie sich, Caycon!« bat der Reichsadmiral. »Ich habe die Beleuchtung verringern lassen. Versuchen Sie, Ihre Gedanken zu ordnen! Sie nannten einen Namen: Perpandron. Sagen Sie mir, ist Perpandron der Name eines Planeten? Ich hörte ihn von Ihnen zum erstenmal.« »Perpandron!« flüsterte Caycon. »Mächtig, mächtig wird er sein! Oh, Rai-
H. G. Ewers manja, was haben sie mit dir gemacht? Werde ich dich je wiedersehen? Sieben Jahre zu spät, zu spät!« Sein Reden ging in ein undeutliches Murmeln über, das allmählich ganz versiegte. Als zwei Mediziner den Raum betraten, erhob sich Farthu von Lloonet und sagte: »Sein Geist ist verwirrt. Er muß noch unter der Nachwirkung eines schweren seelischen Schocks stehen. Wird er sich wieder davon erholen?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete einer der Ärzte. »Alles hängt davon ab, ob er sich selbst von seinem Trauma befreien kann. Alles, was wir dazu tun konnten, haben wir getan.« »Ich danke Ihnen«, sagte der Reichsadmiral düster. »Wenn ich nur wüßte, wo Perpandron liegt, ich würde noch heute dorthin aufbrechen – und eine ganze Flotte mitnehmen.«
* Caycon schlief den Schlaf des seelisch Erschöpften, der sich in Träume zu retten versucht, weil er sich in der Wirklichkeit nicht mehr zurechtfindet. Aber irgendwann kehrte er doch wieder ins bewußte Leben zurück. In seinem Zimmer war es dunkel, und als Caycon sich bewegte, merkte er, daß er nicht mehr angeschnallt war. Auch seinen Kopf konnte er frei bewegen. Caycon setzte sich auf. In seinem Hirn hatte sich der Gedanke festgesetzt, daß er Raimanja suchen müsse, denn wo Raimanja war, dort mußte auch sein Sohn sein. Ihm wurde gar nicht bewußt, daß er überhaupt keine Vorstellung davon hatte, wo er mit der Suche beginnen mußte. Ansonsten aber zeugten seine Handlungen von schlafwandlerischer Sicherheit. Er rückte sein Kopfkissen so zur Seite, daß es das rötlich glimmende Fernsehauge der Beobachtungsanlage verdeckte. Danach stieg er leise aus dem Bett, öffnete den Wandschrank und entnahm ihm seine Kleidung,
Brennpunkt Vergangenheit die instand gesetzt und gereinigt worden war. Er zog sie an, öffnete die Tür und befand sich auf einem hellerleuchteten Korridor, durch den zwei gegengerichtete Transportbänder glitten. Caycon blickte sich um. Niemand war zu sehen. Er bestieg eines der Transportbänder, ließ sich von ihm zur nächsten Einstiegsöffnung eines Antigravlifts tragen und schwang sich in den Schacht. Als er wieder ausstieg, stand er in einer halbrunden Halle, deren Außenwand transparent war, so daß Caycon durch sie einen von mehreren Lampen erleuchteten Park sehen konnte. Die – ebenfalls transparente – Tür öffnete sich, als Caycon nur noch zwei Schritte von ihr entfernt war. Etwas summte, dann sagte eine blechern nachhallende Stimme: »Sie haben vergessen, Ihre ID-Plakette in den Schlitz der Registrierautomatik zu schieben. Bitte, holen Sie das nach!« Caycon kümmerte sich nicht darum, sondern ging zielstrebig in den Park. Sein Unterbewußtsein registrierte, daß die Klinik auf einem Hügel oberhalb einer mittelgroßen Stadt stand, die sich in einer stürmischen Periode des Wachstums befand, wie die zahlreichen beleuchteten Baustellen an den Rändern bewiesen. Weit hinter dem gegenüberliegenden Rand der Stadt blinkten die Positionslichter zweier großer Raumschiffe, die zur Landung angesetzt hatten. Nichts von alledem nahm Caycon bewußt wahr. Seine Beine schienen einen eigenen Willen entwickelt zu haben. Sie trugen ihn durch den Park der Klinik, aus dem Park hinaus und auf einen schmalen Weg, der zuerst durch eine Grasebene, dann durch finsteren Wald und zuletzt in ein Gebirge führte. Caycon spürte keine Müdigkeit, auch dann nicht, als der Pfad immer steiler anstieg und schließlich an einem steinigen Steilhang endete. Caycon setzte seinen Weg auf Händen und Füßen fort. Bald bluteten seine Hände aus zahlreichen Rißwunden und Aufschürfungen, sein Haar war schweißverklebt, und der Schweiß rann ihm an den Innenseiten
49 der Arme und Beine und am Rücken hinab. Irgendwann in dieser Nacht brach Caycon erschöpft zusammen. Als er erwachte, war die Morgendämmerung angebrochen. Caycon spürte kaltes Wasser über seine Stirn rinnen und bemerkte, daß er mit dem Rücken an einer Felswand lehnte und von fremden Händen gestürzt wurde. Das Gesicht einer Frau war dicht vor seinem. »Raimanja?« flüsterte Caycon. »Es ist schön, daß du bei mir bist.« Er bekam keine Antwort, aber er brauchte auch keine. Er wußte genau, daß er seine Raimanja wiedergefunden hatte. »Weißt du noch, wie wir uns liebten?« fuhr er fort. »Unsere Familien waren dagegen, denn sie bekämpften sich, aber wir, wir haben nur auf die Stimme unserer Liebe gehört. Dann kamen die Fremden. Sie entführten uns in den Weltraum, weil wir ein waches Wesen gezeugt hatten.« Caycon lächelte verloren. »Doch wir haben sie überlistet. Wir sind aus ihrem Raumschiff geflohen, und ein sprechendes Boot hat uns nach Perpandron gebracht. Dort brachtest du unseren Sohn zur Welt – und wir waren sehr glücklich. Höre, Raimanja, niemand weiß, wo Perpandron liegt, auch Reichsadmiral Farthu von Lloonet nicht. Ich habe es nicht verraten und werde es niemals verraten.« Er schloß die Augen, riß sie aber gleich wieder auf, als fürchtete er, einzuschlafen. »Kein Liebespaar hat so viel Schweres durchgemacht wie wir, Raimanja«, flüsterte er. »Aber keines hat so viel Glück erlebt. Unser Sohn, das wache Wesen, wird Perpandron eines Tages verlassen, und der Glanz seiner Macht wird die Sterne des Universums verblassen lassen.« Seine Augen weiteten sich, als der Glutball der Sonne sich über den Horizont schob. »Das Licht!« rief er. »Das Licht, es weist mir den Weg! Ich komme, komme zurück nach Perpandron – zu dir, Raimanja!« Caycon seufzte tief, dann kippte sein Kopf zur Seite. Die immer noch weit geöffneten Augen aber blickten ins Leere …
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H. G. Ewers
* Erschüttert erkannte ich, daß Caycon tot war. Aber wenigstens war er in der Überzeugung gestorben, daß er seine geliebte Raimanja wiedersehen würde. Und wer weiß, vielleicht hatte seine Seele schon den Raum zwischen Arkon und Perpandron übersprungen und weilte bei Raimanja. Ich sah, wie die Arkonidin, die ihm durch ihr Verhalten das Sterben erleichtert hatte, ihm die Augen zudrückte. Sie trug ein wallendes Gewand, das mit stilisierten Augen geschmückt war. Ihr Haar wurde von einer glitzernden Spange festgehalten. »Eine Dienerin des Tempels der Wahrheit«, teilte Fartuloon mir mit. »Es gibt diesen Tempel seit vielen Jahrhunderten nicht mehr, aber seine Existenz ist geschichtlich nachgewiesen.« »Das erklärt, wie es zur Entstehung der Legende über das Liebespaar Caycon und Raimanja kam«, erwiderte ich. »Die Tempeldienerin wird das, was der Sterbende ihr sagte, ihrer Tempelherrin und den anderen Dienerinnen ihres Tempels mitgeteilt haben. Diese verbreiteten es dann unter dem Volk. Vielleicht wurde diese Geschichte auch aufgezeichnet. Ob wohl dein Urahn den Planeten Perpandron jemals gefunden hat?« »Er wohl nicht, sonst wäre Akon-Akon schon damals zum Leben erweckt worden«, meinte mein Pflegevater. »Farthu von Lloonet hätte sich durch die Fallen und Wächter der uralten Stadt ebenso wenig aufhalten lassen wie wir. Er hat mir gefallen.« »Mir auch«, erklärte ich. »Vor allem, weil er ein Hüne von einem Mann ist – ganz im Gegensatz zu dir«, stichelte ich. »Es kommt nicht auf das Äußere an«, entgegnete Fartuloon verärgert. »Und an meinen geistigen Qualitäten willst du doch wohl nicht zweifeln, Küken!« »Habe ich das je getan?« erwiderte ich. »Außerdem hast du doch etwas von deinem adligen Vorfahren geerbt, nämlich den starken schwarzen Bartwuchs und die gelbli-
chen Augen. Nur auf dem Schädel, da hat es bei dir zu keinem Haarwuchs gereicht.« »Frauen bevorzugen kahlköpfige Männer, mein Junge!« trumpfte Fartuloon auf. »Ich wußte gar nicht, daß ich einen Kahlkopf habe«, erwiderte ich. »Gib nicht so an!« rügte mein Pflegevater. »Paß lieber auf, was jetzt kommt! Ich nehme an, wir werden zu Raimanja versetzt, um mitzuerleben, wie es ihr ergangen ist.« »Wie es ihr ergeht«, korrigierte ich. Der Bewußtseinsinhalt meines Pflegevaters kam nicht mehr dazu, mir eine passende Antwort zu geben, denn im nächsten Augenblick verblaßte die Sonne Arkon. Ein Dröhnen erfüllte die Luft, schwoll an und riß mich in einen Strudel der Finsternis. Ich hatte das Empfinden, durch einen endlosen immateriellen Korridor in unendliche Höhen zu steigen – oder in unendliche Tiefen zu fallen. Ich ahnte, wohin es mich schleudern würde und wappnete mich auf die Schockwirkung, die wohl oder übel eintreten mußte …
* Das erste Gefühl war das eisiger Kälte. Es war, als wäre ich in ein Bassin voll Eiswasser gestürzt. Ich sah noch nichts, aber ich hörte ein schwaches Klopfen, das allmählich stärker und schneller wurde – und plötzlich erkannte ich den Rhythmus meines eigenen Herzschlags. Als ich ihn erkannte, entschwand er meiner bewußten Wahrnehmung. Dafür drangen andere Laute an mein Gehör: Stöhnen, Seufzen und Scharren. Plötzlich konnte ich wieder sehen. Ich sah durch meine Augen und nicht auf die unbegreifliche Weise, auf die ein Bewußtseinsinhalt sieht. Die Lichtkegel vieler Handscheinwerfer erhellten die Szene und ließen mich erkennen, daß ich noch immer – oder wieder – in der halbverfallenen Transmitterstation einer unbekannten Welt stand. Viele der Lichtkegel waren auf das Gesicht Akon-Akons gerichtet.
Brennpunkt Vergangenheit Akon-Akon verriet keine Regung. Er stand wie erstarrt, blickte geradeaus und hielt den geheimnisvollen Kerlas-Stab mit beiden Händen umklammert. In meiner Nähe entdeckte ich Fartuloon, Ra und Karmina Arthamin. Auf dem Gesicht des Barbaren malte sich Entsetzen. Karmina dagegen schien nur verwundert zu sein – und mein Pflegevater lächelte wissend. Unsere übrigen Gefährten verrieten teils Fassungslosigkeit, teils Erschütterung. »Also waren wir – wenn auch nicht körperlich – in ferner Vergangenheit«, stellte Karmina Arthamin nüchtern fest. »Waren wir das wirklich?« fragte Fartuloon. »Wie meinst du das?« erkundigte ich mich. »Wir könnten die Vergangenheit auch nur geträumt haben«, erklärte mein Pflegevater. »Ein derart informativer Traum muß seine Informationen irgendwoher bezogen haben«, entgegnete Karmina. »Nach Lage der Dinge aus der Vergangenheit – beziehungsweise aus Caycons Realzeit.« Ich blickte wieder zu Akon-Akon, um festzustellen, wie er auf die Nennung von Caycons Namen reagierte. Schließlich war Caycon sein Vater gewesen – und noch immer wußten wir nicht, was aus seiner Mutter geworden war. Aber der Junge schien uns weder zu hören noch zu sehen. Befand sein Geist sich etwa noch in der Vergangenheit? Ich wechselte einen Blick mit Fartuloon. Es bedurfte zwischen uns keiner Worte. Wir verstanden uns auch so. Wenn Akon-Akons Geist noch nicht zurückgekehrt war, dann unterlagen wir nicht mehr dem geheimnisvollen Zwang, mit dem er uns bisher beherrscht hatte. In dem Fall mußten wir so schnell wie möglich aus seiner Nähe fliehen, um nicht wieder in seinen Einflußbereich zu geraten. Ich blickte nach oben und sah durch die geborstene Decke der Transmitterstation, daß die Sterne verblaßten. Draußen wollte der neue Tag dämmern.
51 »Wir gehen!« sagte ich. Doch als ich mich in Bewegung setzen wollte, gehorchten mir meine Füße nicht. Wir standen weiterhin unter Akon-Akons Bann. »Es geht nicht«, stellte Karmina fest. Ra sank auf die Knie, legte den Kopf in den Nacken und streckte die Hände mit den Handflächen nach oben. Er flüsterte kaum hörbare Worte in seiner Barbarensprache. Wahrscheinlich rief er eine der Gottheiten seines Volkes an. Es war seine Art, über seinen Schock hinwegzukommen, und es war eine wirksame Art, für ein Wesen, das an alle möglichen Götter, Geister und Dämonen glaubte. »Ich denke, daß unsere Bewußtseinsinhalte tatsächlich in der Vergangenheit weilten«, sagte ich. »Aber eine Bestätigung dafür werden wir wohl nie erhalten.« »Aber wie?« fragte Karmina. »Der Kerlas-Stab«, sagte Fartuloon. »Er muß durch den engen Kontakt mit AkonAkon eine unbekannte Kraft aktiviert haben, die unsere Bewußtseinsinhalte aus den Körpern riß und den Zeitstrom hinauf beförderte. Ich frage mich nur, ob diese Kraft schon erschöpft ist, denn wir kennen erst einen Teil der Geschichte.« »Früher oder später werden wir auch den zweiten Teil der Geschichte erfahren«, erklärte ich. »Es muß etwas zu bedeuten haben, daß Akon-Akon in geistiger Konzentration erstarrt ist. Ich ahne …« Die Sternsymbole auf Akon-Akons Händen leuchteten so grell auf, daß ich geblendet die Augen schloß. Als ich sie wieder öffnete, war es dunkel. Jemand stöhnte dumpf. Ra leierte eine Beschwörungsformel herunter. Die Blendwirkung ließ nach, dennoch vermochte ich keine klaren Konturen zu erkennen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, als füllte sich die Transmitterhalle mit einem grauen Dunst, der auch die vagen optischen Eindrücke verschlang. Etwas wie ein lockender Ruf erfüllte mich. Ich versuchte, dagegen anzukämpfen
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– und wurde dennoch in den Strudel gerissen, von dem ich bereits wußte, wohin er führte … ENDE
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