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Operation Vergangenheit Ronald M. Harris SCIENCE FICTION Das Quartär stellt die entwicklungsmäßige Fortsetzung der tertiären Fauna dar. Denselben starken Einfluß, den die Eiszeit auf die Entfaltung der Pflanzen und ihrer Gemeinschaften ausübte, besaß sie auch auf die Tierwelt Auch hier kam es zu Wanderungen der wärmeliebenden Typen von Süden nach Norden und der kälteliebenden von Norden nach Süden, als Zwischeneiszeiten mit Eiszeiten abwechselten. Ein für mehrere Eiszeitperioden typisches Tier war in den mitteleuropäischen Breiten das Mammut (Mammonteus Primigenius), wohl das bekannteste fossile Geschöpf, überhaupt und sein treuer Begleiter, das Wollnashorn (Coelodonta Antiquitatis). Was die Entwicklung der Tierwelt anbelangt, erlangte das Quartär jedoch seine besondere Bedeutung durch das Auftreten des ersten Menschen. Deshalb wird diese Epoche manchmal auch Anthropozoikum - das Zeitalter des Menschen, des Herrn und Meisters der Natur - genannt. Es wäre weder richtig noch logisch, anzunehmen, das allgemeine Gesetz der Entwicklung habe für den Menschen keine Geltung. Ganz im Gegenteil ist die Entstehung des Menschen vom biologischen Standpunkt aus gesehen auf anderem Wege als dem der Entwicklung schlechthin unvorstellbar. Auch der Mensch verdankt seine Existenz einer langen Ahnenreihe... * Steiner betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die durch den fallenden Nieselregen kaum sichtbaren Abschirmungen, die das Lager der Zeitexpedition von dem in drohender Finsternis daliegenden Dschungel hermetisch abriegelten. Zigarettenrauch drang hinter die Gläser seiner Brille und quälte ihn. Er zerbröselte die angerauchte Kippe zwischen den Fingern, warf sie zu Boden und trat die Überreste in den Matsch.
Von irgendwoher drang das heisere Brüllen eines Urwaldtieres an seine Ohren, und er sah, wie Flint, der an der Absperrungslinie Streife ging, verschreckt nach seiner Maschinenpistole tastete. Er war unter seinem bis an die Knöchel reichenden Umhang und der spitzen Kapuze, die drei Viertel seines Gesichts bedeckte, nur für diejenigen zu erkennen, die die charakteristischen Bewegungen seines Ganges kannten. Als er Steiner entdeckte, verzog sich sein zerknittertes Gesicht zu einem freundlichen Grinsen. »Hallo, Mr. Steiner. Mit Ihrer Nachtruhe sieht es auch nicht gerade zum besten aus, wie?« Er lachte wie über einen gelungenen Witz. Steiner trat unter der schutzspendenden Holzveranda hervor. Seine Uniformkombination war weitgehend wasserdicht, aber der halbkugelförmige Helm, auf dessen Vorderseite in Großbuchstaben sein Name stand, verhinderte nicht, daß das an ihm herunterlaufende Regenwasser sich einen Weg in seinen Kragen bahnte. Es war das ihn seit einigen Tagen peinigende Schmerzgefühl in seinem Magen, das ihn aufgeweckt hatte, aber es war besser, Flint und die anderen erfuhren nichts davon, daß es die Angst vor dem Krebs war, die ihn Nacht für Nacht aus seiner Koje trieb. Er mußte eine Ausrede finden, denn nun hatte ihn Flint bereits zum dritten Mal während der Nacht außerhalb der Unterkunft gesehen. »Es ist nicht die Schlaflosigkeit, die mich mürbe macht«, sagte er nach einer Weile. »Es ist dieser verdammte Regen, der ständig auf das Dach trommelt und einen glauben macht, ständigem Beschuß ausgeliefert zu sein. Natürlich ist das eine Kleinigkeit; ich weiß schließlich, daß es gewöhnlicher Regen ist, aber das macht die Sache nicht eben angenehmer, verstehen Sie?« Flint nickte mitfühlend. Es gab keine Männer der Zeitexpedition, die nicht an dem vom Regen erzeugten Depressionen litten. Es war eine alte Weisheit, daß das Wetter das Innenleben eines Menschen einschneidend beeinflussen konnte, Flint mußte diese Ausrede hinnehmen. Sie wechselten einige belanglose Worte, dann setzte der Wächter seinen Rundgang fort, Steiner sah ihm nach, wie er zwischen den beiden Lagerhäusern verschwand und krümmte sich in verhaltenem Schmerz. Es stach und rumorte in, seiner Brust, direkt an der Stelle, an der die Rippen endeten, und obwohl ihm
einschlägige Fachliteratur keine andere Auskunft geben konnte, als daß er zuviel rauchte, zuviel Alkohol und heißen Kaffee konsumierte und seine Essensportionen (die er glühendheiß zu sich zu nehmen pflegte) zu schnell und unzerkleinert herunterschlang, wurde er den Verdacht nicht los, daß ihn der Krebs in den Krallen hielt. Natürlich hätte er, wenn er sich zu Hause befunden hätte, längst einen Arzt aufgesucht, aber objektiv gesehen existierte sein Zuhause zur Zeit nicht. Er war darauf angewiesen, daß die nächste Zeitexpedition, die in zwei Monaten eintreffen würde, einen Spezialisten mitbringen würde, einen Arzt, der mehr Ahnung von seinem Fach hatte, als Dr. Levy, der sein Leben in der Armee zugebracht hatte und außer Beinbrüchen und Schußwunden kaum etwas behandeln konnte. Und letztlich durfte er die anderen Männer der Expedition nicht verunsichern. Wenn sie erführen, daß sie einen potentiellen Todeskandidaten in ihren Reihen hatten, würde die Zusammenarbeit gefährdet sein. . Zögernd tastete Steiner erneut nach seinen Zigaretten. Wenn er wirklich erledigt war, kam es auf eine mehr oder weniger auch nicht mehr an. Als sein Gasfeuerzeug aufflammte, glaubte er für einen winzigen Augenblick einen gedrungenen Schatten zu sehen, der auf das erste Lagerhaus zuschlich. Steiner trat einen Schritt unter das Dach der Veranda zurück und wartete, die unangezündete Zigarette zwischen den Lippen. Hatte er Halluzinationen? Flint mußte sich in diesem Augenblick genau am entgegengesetzten Ende des Lagers befinden. Außerdem hatte er keinen Grund, wie ein Verschwörer hier herumzuschleichen. Für einen Augenblick keimte in Steiner der Verdacht auf, daß es einem Frühmenschen gelungen war, die Absperrung zu durchbrechen, aber er schüttelte diese fixe Idee von sich ab wie ein lästiges Insekt. Es war unmöglich, das Lager zu betreten, ohne entdeckt zu werden. Die Energieschirme, die es vom Urwald abgrenzten, waren stark genug, um ein Mammut zu töten. Wenn sich hier jemand herumtrieb, dann mußte es jemand sein, der zur Expedition gehörte. Steiner lauschte. Er glaubte, durch das feine Rauschen des Nieselregens ein leises Plätschern zu hören, so, als schleiche, jemand mit größter Vorsicht durch schlammige Regenpfützen. Die Schritte entfernten sich mehr und mehr. Steiner sah zu den drei Gebäuden hinüber, in denen die
Mitglieder der Zeitexpedition schliefen. Nirgendwo brannte Licht. Die Tür der Baracke II lag so, daß er sie von seinem Standort aus nicht einsehen konnte. Wenn jemand das Haus verlassen hatte, mußte er von dort gekommen sein. Steiner öffnete den Verschluß seiner Pistolentasche und entsicherte die Waffe. Dann glitt er durch den Regenvorhang. Bei den Lagerhäusern hatte normalerweise bis auf das Betriebspersonal niemand etwas zu suchen. Er war darüber informiert, daß in den dort aufgestapelten Kisten Gegenstände lagerten, die für die bald eintreffende zweite Expedition bestimmt waren. Soweit er darüber informiert war, handelte es sich um wissenschaftliches Gerät, das für den Gegner einen beträchtlichen Wert darstellte. Wenn sie einen Saboteur in den eigenen Reihen hatten... Steiner unterdrückte einen Fluch. Er erreichte die langgestreckte Wand des Lagerhauses, ohne auch nur eine Spur von Flint zu sehen. Die Tür des zweiten Lagerhauses schien geöffnet. Sie war nur angelehnt. Sorgsam darauf bedacht, kein Geräusch zu machen, schlich Steiner weiter. Lautlos öffnete er die rechte Hälfte der Flügeltür und sein Blick fiel auf einen hageren, rotbärtigen Mann, der eben dabei war, eine Kiste, auf der in roten Buchstaben STRENG GEHEIM! stand, mit Hilfe eines Stemmeisens zu öffnen. Steiner kannte ihn. Der Mann hieß Brian Alexander, und er war der Assistent von Archer, der ideologischen Laus, die man ihnen in den Pelz gesetzt hatte. Offensichtlich hatte ihn die Neugier alle Vorsicht und Disziplin vergessen lassen. »In Ordnung, Alexander«, sagte Steiner spröde von der Tür her. »Legen Sie das Stemmeisen hin und heben Sie die Hände. Widerstand ist zwecklos, das wissen Sie genausogut wie ich.« Alexander fuhr herum, als habe man ihn bei einem Mord erwischt. Das Stemmeisen rutschte aus seinen Händen und schlug auf den hölzernen Boden auf. In seinem Gesicht schlug sich für den Bruchteil einer Sekunde blankes Entsetzen nieder. Sein Unterkiefer begann vor unverhohlener Angst zu zittern. »Steiner, Sie?« Der Mann starrte ihn verblüfft an. Er war rot bis an die Haarwurzeln, und Steiner entnahm seiner Mimik, daß er krampfhaft nach einer Ausrede für sein seltsames Verhalten suchte. »Ich kann verstehen, daß Sie mein Verhalten seltsam finden«, versuchte Alexander zu erklären, »aber ich bitte Sie,
nicht falsch von mir zu...« Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen. Etwas schob Steiner von hinten brutal zur Seite. Er verlor den Boden unter den Füßen und fiel hin. Dann schienen seine Trommelfelle zu bersten. Jemand schoß. Es war Flint. Steiner sah, wie Alexander mit grotesk verzerrtem Gesicht an seinen Bauch griff. Er gab keinen Laut von sich, als er starb. Als Steiner wieder auf den Beinen war, schien im Lager das Chaos auszubrechen. Stimmengewirr ertönte von überallher, und es dauerte keine Minute, bis das Lagerhaus von Menschen überquoll. Die Männer waren bis an die Zähne bewaffnet, manche hatten sich rasch in die Stiefel gestürzt und trugen Helme. Wie aus weiter Ferne hörte Steiner die rasselnde Stimme Archers, der fragte: »Was ist hier geschehen, Steiner? Wer hat geschossen? Wer oh, mein Gott!« Die Blicke der Männer hefteten sich auf den stumm daliegenden Körper Alexanders, der in einer hellroten Blutlache schwamm. Einige begannen wild durcheinander zu reden. »Alexander versuchte die Kisten aufzubrechen, nachdem er sich in das Lagerhaus eingeschlichen hatte«, antwortete Flint an Steiners statt. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen und trug ein verbissenes Gesicht zur Schau, als müsse er Archer beweisen, daß er ein besonders treuer Untertan der Regierung sei. »Als Steiner ihn dabei erwischte, versuchte er ihn mit seinem Stemmeisen umzubringen. Ich konnte es im letzten Moment verhindern.« Steiner glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Sie reden Unsinn«, fuhr er Flint an. »Alexander dachte nicht daran, mich zu ermorden. Er war eben im Begriff, mir zu erklären, was er hier suchte. Sie haben ihm umsonst umgebracht, Sie Narr!« Flints Augen zogen sich zukleinen Schlitzen zusammen. Sein Gesicht war totenbleich vor offensichtlicher Wut, aber er war klug genug, Steiner und Archer gegenüber nicht aus der Rolle zu fallen. »Verzeihen Sie«, sagte er schnippisch. »Ich bleibe bei der Darstellung meiner Eindrücke. Für mich sah es so aus, als hätte Alexander vorgehabt, Sie zu erschlagen.« Archer bedeutete ihm mit einer Handbewegung, seine Runde fortzusetzen und teilte einige Männer ein, den Leichnam seines Assistenten wegzuschaffen. Die anderen diskutierten erregt im
Regen, bis Steiner sie in ihre Unterkünfte schickte, bevor sie sich den Tod holten. Als er mit Archer allein in dem Lagerhaus stand, fragte er: »Was ist so Interessantes in diesen Kisten, daß Alexander sein Leben opferte, um es herauszufinden?« Er war nicht verwundert, daß Archer einer konkreten Beantwortung seiner Frage aus dem Weg ging. Vielleicht war er auch schockiert, daß es ausgerechnet sein persönlicher Assistent gewesen war, der sich über die Vorschriften, für deren Einhaltung er zu sorgen hatte, hinwegsetzte. Jedenfalls murmelte er etwas Undefinierbares vor sich hin, ohne Steiner dabei in die Augen zu sehen. »Mich interessiert viel mehr«, sagte Archer dann mit einem Rundblick auf die unversehrten, mehr als zwei Meter langen Kisten, »warum Flint den Eindruck zu erwecken versucht, er habe Sie vor einem Mord schützen wollen. Alexander hatte wirklich keine andere Waffe bei sich als dieses ziemlich kurze Stemmeisen. Sie hingegen hatten eine Pistole. Würde ein Mensch, der Herr seiner Sinne ist, mit einem solchen Stemmeisen gegen eine Schußwaffe vorgehen und das, obwohl der Mann mit der Schußwaffe mehr als fünf Meter von ihm entfernt steht.« Steiner stutzte. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß Flint ausgerechnet in dem Augenblick geschossen hatte, als Alexander im Begriff gewesen war, ihm sein Hiersein zu erklären. Das konnte bedeuten daß... »Glauben Sie, Flint wollte verhindern, daß Alexander etwas ausplauderte?« fragte er. Archer zuckte die Schultern. »Möglich ist es. Finden Sie das nicht?« »Doch, ja wenn ich es mir recht überlege...« Was aber war der Grund? Wenn Archers Theorie sich als richtig erwies, bedeutete das, daß Alexander mehr als nur ein gewöhnlicher Neugieriger gewesen war. Er hatte mit Flint unter einer Decke gesteckt, und Flint hatte ihn erledigt, als er plaudern wollte. Er erläuterte Archer seinen Verdacht. »Was gedenken Sie nun zu tun?« fragte Archer. Seine Stimme hatte wieder die kalte Leblosigkeit angenommen, die ihr zu eigen war. »Lassen Sie Flint hochgehen?« Steiner zögerte. »Wenn sich zwei Saboteure in unseren Reihen befinden, ist es nicht unmöglich, daß sie noch mehr Komplicen
unter der Mannschaft haben. In diesem Lager leben vierzig Menschen, Archer. Für wen wollen Sie Ihre Hand ins Feuer legen, nachdem bereits Ihr persönlicher Assistent sich als Verräter entlarvt hat?« Archer schwieg, aber am bewegten Spiel seiner Wangenmuskeln konnte Steiner erkennen, daß er wütend die Zähne zusammenbiß. Auch Archer schien nunmehr erkannt zu haben, daß die Aussiebung der Mitglieder der Zeitexpedition nicht lückenlos vor sich gegangen war. Wem sollte er noch vertrauen, wenn die Verräter sogar in den Reihen der ideologischen Abteilung vorgedrungen waren? Steiner verschloß das Lagerhaus, und sie kehrten in ihre Baracke zurück. Kurz bevor sie die Tür erreichten, wurde Flint von einem anderen Mann abgelöst. Er verschwand in Baracke II und vermied es, Steiner, als dieser an ihm vorüberging, in die Augen zu sehen. Sie nahmen in der Wachstube Platz. Archer holte eine Pfeife hervor und begann sie mit klammen 'Fingern zu stopfen. »Der Tabak geht langsam zur Neige«, erklärte er unnötigerweise. »Hoffentlich ist die zweite Expedition ein bißchen besser mit Genußmittelrationen ausgerüstet als unsere.« Ohne Übergang fragte er plötzlich: »Wieso waren Sie eigentlich auf, Steiner?« »Ich konnte nicht einschlafen.« »So so.« »So so!« äffte Steiner. Seine Augen funkelten. »Glauben Sie mir etwa nicht? Halten Sie mich jetzt auch schon für einen Bolschewisten? Was ist verdächtig daran, wenn ich nachts ein bißchen spazierengehe?« »Nichts, nichts«, erwiderte Archer hastig. Ein paar Tabakkrümel fielen auf die Tischplatte. Er suchte sie sorgfältig zusammen und legte sie in seinen ledernen Tabaksbeutel zurück. Genießerisch begann er zu paffen. »Sie selbst waren es doch, der mich gefragt hat, für welchen Mann dieser Expedition ich meine Hand ins Feuer lege.« Er machte eine Pause und fuhr fort: »Noch gestern hätte ich beide Hände für jeden einzelnen Mann ins Feuer gelegt. Heute weiß ich, daß es nur einen Mann gibt, dem ich hundertprozentig trauen kann: mich selbst.« Steiner brachte ein müdes Grinsen zuwege. Der Schmerz in seiner Brust begann wieder.
»Die Saboteure und Unterwanderer sind überall«, rezitierte Archer. »Sie schleichen sich überall ein, wo unsere ideologische Abschirmung eine Lücke gelassen hat. Sie geben sich nicht mehr damit zufrieden, Betriebsräte zu sein. Sie sitzen heute in allen Schulen, Rundfunkstationen, Tageszeitungen und Fernsehstationen. Sie sind zäh, Steiner, zäh! Sie stecken sogar in der Armee und in höchsten Kreisen der Regierung. Sie sind Mörder und Totschläger, Steiner, vergessen Sie das nicht. Sie schrecken nicht davor zurück, Bomben zu legen und dabei unschuldige Menschen umkommen zu lassen, wenn sie einen Munitionsbunker der Armee in die Luft jagen. Und sie haben sich bereits Eintritt in die ideologische Abteilung verschafft.« »Das deprimiert Sie, was?« fragte Steiner. Er starrte aus dem Fenster. Draußen machte Lexington seine Runde. Ob Lexington auch ein Verräter war? »Wir haben jetzt einen todsicheren Beweis, daß unsere Mission von Saboteuren und Verrätern zu vereiteln versucht wird«, sagte Archer. Steiner fuhr herum. Seine Zähne mahlten eine Weile aufeinander und Archer starrte ihn schockiert an, die Pfeife hilflos in der rechten Hand vor dem geöffneten Mund schweben lassend. »Unsere Mission?« fragte Steiner gedehnt. »Unsere Mission, Mr. Archer? Hätten Sie die Freundlichkeit, mich darüber aufzuklären, was eigentlich diese Mission ist?« Archer wollte zum Sprechen ansetzen, aber im gleichen Augenblick wurde von außen die Tür aufgestoßen und ein blasser Mann mit nervös flackernden Augen kam herein. »Mr. Steiner!« rief er. »Kommen Sie schnell! Flint hat sich das Leben' genommen!« * Allmählich begann der erste graue Schein den Horizont zu erhellen. Die Tiere der Nacht suchten Schutz im Schatten des dichten Buschwerks, in Löchern und Höhlen, um sich durch Schlaf für neue Streif- und Beutezüge zu stärken. Tiefe Stille lag über der Landschaft, als hielte die ganze Natur, bezaubert von dem Wunder des werdenden Tages und der überwältigenden Pracht der langsam emporsteigenden Sonne, in
ehrfurchtsvollem Staunen den Atem an. Sie hatten am Morgen die Leichen von Alexander und Flint (er hatte sich am Fensterkreuz erhängt) bestattet. Archer, der plötzlich eine ungeheure Tätigkeit vortäuschte, ließ Steiner weitgehend allein schalten und walten. Als erstes ließ Steiner die Mannschaft antreten. Die Männer kamen im Speisesaal zusammen, und soweit es zu übersehen war, fehlten bis auf Stark, der momentan Wache hatte, und Archer, der sich in seinem Büro befand, nur Willis und Cartier, die sich verletzt hatten und im Lazarett lagen. »Wie Sie alle wissen«, begann Steiner, »versuchte in der vergangenen Nacht Brian Alexander in eines der Lagerhäuser einzubrechen. Er fand dabei den Tod durch Flint, der ihn erledigte, bevor Alexander mir erklären konnte, was er dort zu suchen habe. Flint erklärte die voreilige Erschießung Alexanders damit, daß er verhindern wollte, daß Alexander mich ermordete. Natürlich war das eine Lüge, und er scheint auch wenig später gemerkt zu haben, daß Mr. Archer und ich ihm keinen Glauben schenkten. Unsere Theorie ging dahin, daß Flint und Alexander unter einer Decke steckten und wahrscheinlich den Auftrag hatten, sich gegenseitig auszuschalten, sollte einer von ihnen geschnappt werden. Unsere Theorie wird eigentlich durch Flints plötzlichen Freitod nur erhärtet. Der Mann wußte, daß er entdeckt war. Da ihm eine Flucht in dieser Zeitebene nur schwerlich einen Vorteil eingebracht hätte, sah er keine andere Möglichkeit, als seinen Tod herbeizuführen.« Steiner wunderte sich über die Kälte, mit der er diese Worte über die Lippen brachte. Aber er war nun einmal nach außen hin ein anderer Mensch als innerlich. Er war unfähig, seine Trauer zu zeigen, und unfähig, zuzugeben, daß der Tod eines Menschen ihn stark mitnahm, egal ob es sich um einen Mörder, einen Gegner oder einen Freund handelte. Wenn er daran dachte, wie Kugeln das Fleisch eines Menschen zerfetzten, dicke, blutende Löcher hinterlassend, wurde ihm übel. Und er haßte diejenigen Leute, die keine Skrupel hatten, auf einen Befehl hin ein Menschenleben auszulöschen, wie die Pest. »Mr. Archer vertritt die Ansicht« fuhr er gedämpft fort, keinen der Männer aus den Augen lassend, »daß dort, wo es zwei Agenten des Gegners gelungen ist, in unsere Reihen unterzukommen, auch möglich ist, daß sich ein Dritter dort
aufhält. Ich habe die Pflicht, Sie darauf hinzuweisen, daß Ihr Nachbar ein Agent der anderen Seite ist, auch wenn dies beträchtliche Verwirrung heraufbeschwören sollte.« Durchdringendes Gemurmel setzte ein. Die Männer musterten sich gegenseitig; einige nahmen bereits räumlichen Abstand voneinander. »Es ist sicherlich falsch, von nun ab in jedem Nachbarn einen Verräter zu sehen«, fügte Steiner hinzu, »aber es ist der Sache sicher dienlich, wenn ein jeder von Ihnen fortan die Augen offenhält. Ich danke Ihnen, meine Herren.« Als er zu Archer ins Büro kam, empfing ihn dieser mit den Worten: » Sind Sie völlig verrückt geworden, Steiner? Haben Sie eigentlich den Verstand verloren?« Er schnaufte erregt und deutete mit geballter Faust auf einen Stuhl. »Wir sitzen hier mutterseelenallein im Anthropozoikum, Millionen von Jahren von unserer Zeit entfernt, und Sie haben nichts Besseres zu tun, als die Männer in dieser Art zu verunsichern? Ja, sagen Sie mal: haben Sie denn überhaupt jemals in Ihrem Leben auch nur das geringste von Psychologie gehört?« Steiner schürzte die Lippen und setzte sich. »Natürlich habe ich das. Sie halten mein Vorgehen also für schlecht?« »Für schlecht?« schrie Archer. Sein Gesicht begann blau anzulaufen, und auf seiner Stirn zuckte unkontrolliert eine dicke Ader. »Das ist tiefste Steinzeit, Mann! Übernehmen Sie die Verantwortung dafür, wenn sich die Männer demnächst gegenseitig über den Haufen schießen? Können Sie nicht so weit denken, sich vorzustellen, daß sie sich nun alle mit dem größten Mißtrauen begegnen werden? Daß jeder einzelne durch Ihr laienhaftes Vorgehen auf das äußerste erregt sofort zur Schußwaffe greift, wenn er in einer ganz gewöhnlichen Handlung eines anderen etwas Verdächtiges zu sehen glaubt?« »Ich kann mir das sehr gut vorstellen«, sagte Steiner, »und genau darauf basiert mein Vorgehen. Die Männer werden wie gereizte Katzen herumlaufen, ganz recht. Sie werden das tun, weil sie annehmen, jeder andere könne ein Spion sein. Und Sie werden gleichzeitig - um nicht für einen Spion gehalten zu werden ganz besonders vorsichtig mit ihren Kollegen umgehen.« »Und?« fragte Archer. »Und?« Er verstand kein Wort. »Hm«, machte Steiner. »Jetzt stellen Sie sich vor, Sie seien der Spion, gesetzt den Fall, daß es noch einen gibt! Wie würden Sie
sich in dieser Atmosphäre verhalten?« »Vermutlich nicht anders als die anderen Männer«, erwiderte Archer zögernd. »Ich verstehe nicht, auf was Sie hinauswollen.« »Nicht anders als die anderen.« Steiner nickte. »Ganz recht. Aber Sie vergessen, daß der Spion bereits die ganze Zeit unter einem gewissen psychischen Druck unter uns lebt, weil er immerhin damit rechnen mußte, daß neununddreißig Männer ihn mißtrauisch beäugen. Nun, wo er weiß, daß die übrigen Leute sich gegenseitig unter Beobachtung halten, kann er eigentlich aufatmen, denn nur noch ein neununddreißigstel der Aufmerksamkeit und des Mißtrauens gehört ihm.« Archer nickte verblüfft. »Tatsächlich! Er wird sich gelöster verhalten als die anderen.« »Und das wird ihn - zumindest uns - verdächtig machen.« Archer rieb sich die Hände. »Wir haben also nichts anderes zu tun, als die Lagerhäuser zu beobachten, bis der Spion sich an ihnen zu schaffen macht?« »Wenn Sie so wollen«, gab Steiner apathisch zurück. Er sehnte sich nach einer heißen Tasse Kaffee. »Wenn, Sie mich jetzt entschuldigen wollen?« * Nachdem seine Frau ihn endgültig verlassen hatte, hatte Steiner sich immer mehr in sich selbst zurückgezogen. Die Arbeit in der Armee forderte einen ganzen Mann, und so hatte er sich in einer plötzlichen Aufwallung von Arbeitswut hinter hundert Aktendeckeln verschanzt und einen Akkord-Arbeiter vorgetäuscht, der er normalerweise gar nicht war. Natürlich war man nach einigen Wochen dahintergekommen, daß er den Tag damit verbrachte, brütend vor sich hin zu starren. Man hatte ihm nahegelegt, sich zu einer Ausbildungseinheit versetzen zu lassen, aber da ihm der Sinn nicht nach Exerzieren und Spindappellen stand, lehnte er ab. In den aktiven Dienst bei den Heeresfliegern wollten sie ihn wegen des fortgeschrittenen Alters - er war damals sechsunddreißig gewesen - nicht mehr gehen lassen. Was blieb ihm anderes übrig, als sich für die Operation Vergangenheit zu melden, wenn er beweisen wollte, daß er noch lange nicht zum alten Eisen gehörte?
Gewiß, es war ein Risiko dabei, sich einige Millionen Jahre in die Vergangenheit versetzen zu lassen, in eine sumpfige Gegend, die von dampfendem Dschungel und reißenden Bestien umgeben war. Die wenigen ausgewählten Männer, die dort einen Stützpunkt errichten sollten, hatten ein entbehrungsreiches Leben ohne Vergnügungen hinzunehmen - und es war nicht einmal sicher, daß man es je schaffen würde, sie zurückzuholen. Das Projekt war streng geheim. Niemand wußte, was ihre Aufgabe war, und es war nur der Tatsache zu verdanken, daß Steiner zu den wenigen Leuten gehörte, die überhaupt von dieser Sache wußten, daß man ihm seine Bitte, dort Dienst tun zu dürfen, nicht abschlagen konnte. »Okay«, hatte man zu ihm gesagt, »die Akten weisen Sie als fähigen Soldaten aus, Steiner. Sie haben keine familiären Verpflichtungen und Ihr ideologisches Weltbild ist ebenfalls gesund. Wenn Sie unbedingt wollen, dann gehen Sie. Aber vergessen Sie nicht, daß Sie es auf eigenes Risiko tun.« Das hatte er niemals vergessen. Aber in der Gegenwart hatte ihn nichts gehalten. Allerdings, und das mußte er zugeben, war es nicht nur nackte Resignation gewesen, die ihn dazu angetrieben hatte, die Zeit, in der er lebte, zu verlassen: es war auch eine gehörige Portion Abenteuerlust mit dabei. Als er nachdenklich den Löffel in der Tasse umrührte, fiel ihm Alexander wieder ein. Welchen Grund hatte der Mann gehabt, sich in das Lagerhaus zu schleichen? War es pure Neugier gewesen? Wohl kaum. Andererseits bedeutete das, daß die Bolschewisten mehr über das Projekt wußten als er selbst, und das, obgleich es geheimer war, als jedes andere zuvor. Das Vergangenheitsprojekt schien sich demnach direkt gegen die Bolschewisten zu richten. Er war nur auf Vermutungen angewiesen, aber das schien das naheliegendste zu sein. Wie eine Nebelwand wich die Illusion der Wissenschaftlichkeit. Natürlich, niemand hatte ihnen Informationen über den wahren Grund ihres Hierseins gegeben, aber im Angesicht der Katastrophe, auf die die westliche Welt seit dem Ende des 20. Jahrhunderts entgegensteuerte, hatte ein jeder von ihnen mit gutem Glauben annehmen können, daß die Regierung die Absicht hatte, diese großartige Erfindung dazu zu benutzen, die Schätze der Frühzeit auszubeuten. Wenn dem aber nicht so war... »In Gedanken, Steiner?«
Steiner zuckte zusammen, als ihn jemand am Unterarm berührte. Der hagere flachsblonde Mann, der neben ihm Platz nahm, war Dr. Levy, der Lagerarzt. Er schien selbst nicht ganz gesund zu sein; jedenfalls wiesen seine unnatürlich großen Pupillen darauf hin, daß er Drogen nahm. »Hallo, Doktor«, sagte Steiner. Er nahm einen kräftigen Schluck, hustete und stieß einen Fluch aus. »Sie sollten etwas gegen Ihren Magen tun«, erwiderte Levy reserviert. Er baute einige Sandwiches vor sich auf. »Sieht man es mir schon an?« »Ich schon. Magengeschwüre, würde ich sagen, was?« Steiner zuckte die Schultern und nickte zögernd. »Kann schon sein. Haben Sie was dagegen?« »Einen guten Rat. Aufhören mit dem Rauchen, mit dem Trinken, keine fetten...« »... keine gesalzenen und keine gezuckerten Speisen«, unterbrach Steiner ihn mit einem Anflug von Galgenhumor. »Nein, danke, Doktor, ich warte besser darauf, daß die Medizin einige Fortschritte macht.« Levy öffnete den Mund, um in sein Sandwich zu beißen, aber die Umstände ließen ihm keine Zeit mehr dazu. Eine schrille Klingel kündigte das Erscheinen von Neuankömmlingen an - und das, obwohl die nächste Expedition erst für in zwei Monaten angekündigt war. * Die Männer, die auf dem von einem niedrigen Energiezaun markierten Platz zwischen den Baracken auftauchten, machten den Eindruck, als seien sie im letzten Moment dem Satan von der Sense gesprungen., Dr. Levy stieß einen erschreckten Schrei aus, als er die ersten in ihren zerfetzten Kleidern und den zerschrammten Gesichtern über den Zaun taumeln sah. Steiner war einer der ersten, die sich faßten. Er bellte mit lauter Stimme einige Kommandos, dann stürmte die Lagerbesatzung aus allen Ecken zusammen und kümmerte sich um die blutbesudelten, bis an die Zähne bewaffneten und verdreckten Gestalten, die hustend und stöhnend durch das flimmernde Energiefeld krochen und sich
reihenweise auf urzeitlichem Boden niedersinken ließen. In der Hauptsache waren es gemeine Soldaten, aber Steiner sah hier und da den weißen Kittel eines Wissenschaftlers und gelegentlich auch die mit silbernen Sternen verzierten Epauletten eines Offiziers. Ein ungeheurer Lärm drang auf die verschreckten Männer ein. Es roch nach Flammen und Napalm, irgendwo in der Gegenwart schienen Bomben zu explodieren. Die Druckwelle erfaßte alle, die sich in unmittelbarer Nähe des markierten Platzes aufhielten und warf sie zu Boden. Steiner hörte Schreie und Befehle; einer der Neuankömmlinge riß seine Maschinenpistole hoch und jagte eine Salve in die Richtung, aus der er gekommen war. So schnell sich die ganze Situation aufgebaut hatte, so schnell verschwand sie wieder. Das wabernde Energiefeld brach zusammen und die Stille eines Grabes kehrte ein. Steiner sprang auf, und die anderen folgten seinem Beispiel. Im Nu hatte Levy ein Kommando aufgestellt, das sich um die verletzten Neuankömmlinge kümmerte und Erste Hilfe leistete. Ein braungebrannter Mann mit kantigem Kinn und der lädierten Uniform eines Colonels baute sich vor Steiner auf, salutierte und schrie: »Sie ist kaputt! Sie ist endlich kaputt!« Dann brach er zusammen und verfiel in wilde, krampfartige Zuckungen. Es waren etwa siebzig Personen in der kurzen Zeitspanne herübergekommen, das sah Steiner auf den ersten Blick. Etwa die Hälfte der Leute wiesen leichte oder schwerere Verletzungen auf. Achtzig Prozent der unangemeldeten Gruppe trugen Uniformen. Steiner griff einen vorbeihastenden Mann mit schütterem Haar und wehendem, rußgeschwärztem Kittel am Arm und herrschte ihn an: »Was ist hier los? Was ist geschehen? Los, reden Sie schon, Mann!« Der Angesprochene - offenbar ein Wissenschaftler - stotterte: »Ich weiß nichts. Sie haben die Maschine bombardiert. Bombardiert, verstehen Sie? Wir hatten keine andere Wahl!« Er schrie auf: »Wo ist meine Frau? Wo sind meine Kinder?« Schockiert ließ Steiner ihn los. Das Lager glich im Moment eher einem Lazarett, als einem Ort, an dem man ein Verhör stattfinden lassen konnte. Archer lief ihm über den Weg. Er trug Verbandszeug und eine Flasche Schnaps. »Irgend jemand hat offenbar verrücktgespielt, Steiner«,
keuchte er. »Die Leute, die Sie hier sehen, sind das wissenschaftliche Personal und die Wachtruppe der Zeitmaschine. Die meisten scheinen den Verstand verloren zu haben.« Steiner wollte wütend erwidern, daß ihm das allerdings auch nicht unbekannt geblieben sei, als jemand an seinem Ärmel zupfte und fragte: »Wer ist der Kommandant, Sir?« »Das ist Mr. Archer«, erwiderte Steiner mehr als schroff, aber Archer hatte sich bereits zu den Verwundeten begeben. »Ich bin sein Stellvertreter, wenn Sie mit mir...« Er hielt inne. Vor ihm stand ein ausnehmend hübsches Mädchen mit angesengtem Blondhaar, einer zerfetzten weißen Bluse, die ihre spitzen Brüste sehen ließ, und einem etwa zwanzig Zentimeter langen Rock aus einem glitzernden Stoff. An ihrem linken Bein befand sich ein einsamer Stiefel. Den anderen schien sie irgendwo Verloren zu haben. »Was kann ich für Sie tun?« fragte er verunsichert. »Ich bin die Tochter von Präsident Hardy.« »Das mag sein.« Aus den Augenwinkeln verfolgte Steiner die Bemühungen seiner Leute, die Verletzten in die Baracken zu transportieren. Eine Gruppe von Militärs und Wissenschaftlern hatte Archer umringt und redete erregt auf ihn ein. »Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?« Der plötzlich auftauchende brennende Schmerz und die ihn mit Gewalt übermannende Wut waren es, die Steiner die Hand ausrutschen ließen. Das Mädchen schrie gellend und hielt sich die brennende Wange. Dann stieß es eine Serie von Zoten gegen Steiner aus, die ihrer höheren Erziehung eigentlich nicht angemessen waren. »Denken Sie, wir hätten keine anderen Sorgen, als rote Teppiche für die High Society auszurollen?« brüllte Steiner. Seine Augen funkelten vor unverhohlener Wut, und es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte ihr einen Kinnhaken versetzt. Wahrscheinlich hatte er einen Fehler begangen, aber das war ihm jetzt auch egal. Jetzt galt es, die Lage zu klären, die Verletzten zu versorgen und herauszufinden, was die Leute dazu angetrieben hatte, ihr Heil in der Flucht in die Vergangenheit zu suchen. »Sie ungebildeter, dreckiger Halunke!« Ihr hübsches Gesicht verzog sich zu einer Fratze. »Ich werde dafür sorgen, daß man Ihnen Manieren beibringt, Sie...« »Scheren Sie sich zum Teufel, Sie Göre«, knurrte Steiner und ging zu Archer und den anderen hinüber. Als er die Gruppe
erreichte, machte sich betretenes Schweigen breit. Alle starrten entsetzt auf Steiner, der sich mit festen Schritten auf sie zubewegt hatte, ohne zu ahnen, daß neben Archer das Verderben auf ihn wartete. Der Mann, der sich ihm als erster zuwandte, war ein hakennasiger, breitschultriger Bursche, dessen Gesicht er in den letzten Jahren mehr als einmal auf den Tridi-Schirmen der Gegenwart gesehen hatte. Es war Präsident Hardy persönlich. * Das Seltsame war, daß Hardy Steiner weder tadelte, noch sonst irgend etwas unternahm, um ihn zu disziplinieren. Er erwartete den Sicherheitsoffizier mit einem abschätzenden Blick, und als Steiner Anstalten machte, zu salutieren, sagte er, ohne dem Ankömmling auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken: »Ich denke, wir haben uns verstanden. Mr. Archer, ich denke, Sie zeigen uns nun unsere Unterkünfte.« Archer schlug die Hacken zusammen und brüllte: »Jawohl, Mr. Präsident!« Dann setzte sich die gesamte Gruppe in Bewegung, Steiner mit der halb zum Gruß erhobenen Hand stehenlassend. Von irgendwoher erklang meckerndes Lachen. Als Steiner sich umdrehte, entdeckte er das verdreckte Gesicht eines Leutnants der, Luftwaffe, der die Insignien der Militärpolizei trug. Der Mann hielt lässig eine Maschinenpistole in der Armbeuge und grinste unverschämt. Offenbar gehörte er zu jenen Leuten, mit denen sich Präsident Hardy vorzugsweise umgab, und die so etwas wie seine private Leibgarde darstellten. Steiner biß sich vor Wut auf die Unterlippe. Er hatte keinen Grund, das Verhalten seines obersten Vorsitzenden zu mißbilligen, schließlich war er es gewesen, der Hardys Tochter mit Ohrfeigen bedacht hatte. Er schüttelte seinen Ärger ab und begann, die Listen zu inspizieren, die Dr. Levy über die Neuankömmlinge angelegt hatte. Das Lazarett war voll, sogar auf den Korridoren der Baracke saßen einige Leichtverletzte und unterhielten sich gedämpft, während sie darauf warteten, daß sie an die Reihe kamen. Überall wimmelte es von Männern und Frauen, die sich hastig
weiße Kittel übergeworfen hatten und sich um die Verletzten kümmerten. Steiner sah Dr. Levy mehrere Male vorüberhasten. In den Behandlungsräumen schrie jemand nach Verbandszeug; ein Techniker des Stammpersonals rannte schwitzend vorbei, einen Stapel Mullbinden unter dem Arm. Miss Gaylord hatte sämtliche anwesenden Frauen zu einer Pflegeeinheit organisiert. Sie kamen keuchend angerannt und bemühten sich, in einem leerstehenden Zimmer Luftmatratzen aufzustellen. Steiner bediente den Blasebalg; bis ihm der Schweiß in Strömen in den Kragen lief. Ein anderer Mann sein Name war Nyborg wechselte sich mit ihm ab. »Was ist geschehen?« fragte Steiner einen aus einer leichten Kopfwunde blutenden Feldwebel. »Hat es, ich meine, ist Krieg ausgebrochen?« Der Mann schien durch ihn hindurchzustarren. Dann schüttelte er den Kopf und zuckte gleichzeitig die Schultern. »Wir sind entkommen«, meinte er, sonst nichts. Er war sehr aufgeregt und kaum in der Lage, eine klare Aussage zu machen. Die anderen Neuankömmlinge wichen zurück, als Steiner durch den Korridor ging. Er hatte den Eindruck, als ob jeder einzelne dieser Leute unter einem schworen Schock stand. Vielleicht war es besser, er suchte sich jemand, den er kannte. Steiners Versuche, Näheres über die unerwartete Ankunft Hardys in Erfahrung zu bringen, erwiesen sich bereits nach wenigen Minuten als Fehlschläge. Zwar waren die Soldaten und Wissenschaftler, die er ansprach, ausgesprochen höflich, aber alle beriefen sich darauf, daß sie vergattert worden seien und keine Auskünfte geben dürften. Dies war mehr als seltsam. Das plötzlich aufleuchtende Zeitfeld und die Schießerei all das konnte nur bedeuten, daß das Forschungsinstitut, von dem aus das Experiment geleitet wurde, bombardiert worden war. Aber von wem? War in der Gegenwart ein Krieg ausgebrochen? Hatte es einen Bürgerkrieg gegeben? »Es sind genau siebenundsechzig Personen zu uns gekommen«, sagte Dr. Levy, als er einige Minuten Zeit für eine Atempause hatte. »Acht von ihnen werden mit Sicherheit den heutigen Tag nicht überleben. Brandwunden, verstehen Sie? Ich habe nicht die nötigen Mittel, um Hautübertragungen vorzunehmen. Ganz zu schweigen von den Mitarbeitern, die ich dazu haben müßte.«
Steiner nickte verstehend. »Sind Sie über die genauen Ereignisse zu Hause informiert?« fragte er. Levy schüttelte den Kopf. Er sah übermüdet aus, was kein Wunder war nachdem, was er in den letzten Stunden geleistet hatte. »Archer hat sich seit Hardys Ankunft nicht mehr sehen lassen. Man erzählte mir, daß er sich mit Hardy und den ganzen hohen Tieren in sein Büro zurückgezogen hat. Weiß der Teufel, was sie dort tun. Ich finde jedenfalls, daß die Sache uns alle angeht, was immer auch geschehen sein mag.« Steiner sah sich um. »Nicht so laut, Doktor. Sie sollten nicht so offen reden.« Levy knurrte wütend: »Ich muß jetzt an meine Arbeit zurück. Hier haben Sie die Listen.« Er gab Steiner einige beschriebene Blätter Und verschwand im Operationsraum. Auf den ersten Blick schien sich der halbe Generalstab der US Army in die Vergangenheit gerettet zu haben. Soweit Steiner sah, waren von den 67 Personen allein 13 Generäle, 7 Colonels, 4 Majore und 6 Hauptleute. Dann gab es eine Reihe von Leutnants und knapp ein halbes Dutzend gewöhnlicher Soldaten. Der Rest waren Zivilisten: Beamte und Angestellte des Forschungsinstituts, einige Wissenschaftler und Techniker beiderlei Geschlechts. Unter den 67 Ankömmlingen befanden sich sechs Frauen, von denen eine im Sterben lag und eine die Tochter Präsident Hardys war. Als Steiner zu seiner Baracke zurückkehrte, sah er Fillmore, einen der Arbeiter, der eben dabei war, einen Tagesbefehl an der Anschlagtafel anzubringen, Neugierig schob sich Steiner heran. Der Text war auf Archers Schreibmaschine geschrieben und lautete folgendermaßen: Bekanntmachung Nr. 22 1. Mit sofortiger Wirkung übernimmt der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika das Kommando über Camp McCarthy, wie das Lager ab sofort zu Ehren des verstorbenen amerikanischen Senators Joseph McCarthy, der in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts für eine vaterländische Politik eintrat, heißt. 2. Zu Stellvertretern des Präsidenten Thomas O. Hardy werden ernannt: a) Generalleutnant Terence W. Shaffer, b) Brigade General Williard C. Cunningham.
3. Zum neuen Sicherheitsoffizier wurde bestimmt: Leutnant Edward D. Langley 4. Alle anderen Positionen im Camp McCarthy bleiben in ihrem derzeitigen Zustand bestehen, (gez.) Virgil T. Archer, Hauptmann, Beauftragter für ideologische Fragen. Steiner schluckte. Es dauerte eine Weile, bis er diese Neuigkeit verarbeitet hatte. Hardy hatte ihn also abgesetzt. Er hatte ihm ganz einfach den Stuhl vor das Haus gesetzt, ohne dafür eine Begründung abzugeben. Nicht daß Steiner seiner Position nachgetrauert hätte; im Gegenteil. Er war froh, daß man ihn von einer Bürde befreite, die er sowieso nicht gern zu tragen bereit war. In gewisser Beziehung war er nichts anderes gewesen als der ausführende Arm Archers; ein Wachhund, der ewig auf der Lauer liegen mußte, um politisch indifferente Personen im Lager zu beobachten und anzuschwärzen. Nominell hatten Steiner und Archer zusammen das Lager geleitet; daß Hardy Archer ebenfalls von seinem Kommandantenposten enthoben hatte, konnte nur bedeuten, daß er bereits erfahren hatte, was hier geschehen war. Es war nicht auszuschließen, daß sich von Anfang an ein Spitzel Hardys im Lager befunden hatte, ein unerkannter Mann, der Archer überwacht hatte. Als Steiner sarkastisch lachte, erklang eine bissige Stimme hinter ihm. »Gefällt Ihnen der neue Tagesbefehl?« sagte jemand höhnisch. Es war der MP-Leutnant, der sich breitbeinig hinter Steiner aufgestellt hatte. Der Mann hatte seine Maschinenpistole jetzt mit einer schwarzen Zigarre vertauscht, die lässig in seinem linken Mundwinkel hing. »Etwas mehr Respekt, Leutnant«, sagte Steiner kalt und deutete auf seine Rangabzeichen. Ansonsten war er nicht der Typ, der den Vorgesetzten herausstrich, aber das unsympathische Gehabe seines Gegenübers brachte ihn in diese Zwangslage. Der Leutnant musterte Steiners Epauletten mit einem spöttischen Blick. Er nahm nicht einmal die Zigarre aus dem Mund, als er sagte: »Was meinen Sie denn? Das etwa?« Steiner war nahe daran, zu explodieren, aber er hielt seine Nerven im Zaum. Ehe er zu einer entsprechenden Antwort ansetzen konnte, fuhr der Leutnant fort: »Sie sollten eigentlich wissen, daß jeder gemeine Wachsoldat während der Wachperiode
mehr Befugnisse hat, als alle Offiziere seiner Einheit zusammen.« Steiner schrie: »Sind Sie Wachsoldat?« »Ich bin der neue Kommandant von Camp McCarthy. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle? Mein Name ist Langley.« Steiner entschied sich, seine Blässe nicht zu zeigen. Er machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon. Daß es Schwierigkeiten geben würde, war nun keine Frage mehr für ihn. * Vor Baracke I lief ihm Archer über den Weg. Er machte einen fahrigen, gehetzten Eindruck und wollte sich an Steiner vorbeidrücken, als er ihn auf sich zukommen sah. »Einen Moment«, sagte Steiner mit ausgestreckter Hand. »Rennen Sie nicht weg, Archer. Ich glaube, Sie sind mir einige Informationen schuldig.« »Ich bin niemandem etwas schuldig«, leierte Archer lahm. In seinem Gesicht zuckten Muskeln. »Ja doch«, knirschte Steiner. »Seit wann werden Offiziere ohne Angabe von Gründen degradiert und durch Rangniedrigere ersetzt? Ist das eine neue Politik, die jetzt gespielt wird?« »Dafür bin ich nicht verantwortlich, Steiner. Lassen Sie mich in Ruhe.« Archer machte Anstalten, in seinem Büro zu verschwinden, aber Steiner hielt seinen Ärmel gepackt. »Ich bin nicht nachtragend, Archer, das wissen Sie«, sagte er. »Ich möchte nur wissen, ob Präsident Hardy daran denkt, hier nach absolutistischen Gesichtspunkten zu herrschen.« »Lassen Sie mich...« Archer riß sich los. Ehe er die Tür von Baracke I geöffnet hatte, wurde sie von innen aufgehalten. Hardy erschien. Er musterte Steiner mit einem eiskalten Blick aus seinen grauen Augen und sagte dann, seine Anwesenheit völlig ignorierend: »Wo bleiben Sie, Mr. Archer? Wir warten auf Sie!« Archer entschuldigte sich wortreich, aber Hardy winkte nur ab. Sie ließen Steiner im Korridor der Baracke stehen und gingen in Archers Büro, aus dem dichte Qualmwolken drangen. Als Steiner in seine Wohnbaracke zurückkehrte, hatten sich dort mehrere erregt diskutierende Gruppen gebildet. Das Stammpersonal soweit es nicht bei Dr. Levy eingesetzt war fragte sich mit Recht, was zu Hause geschehen war und aus welchem
Grund Hardy sich weigerte, sie über das, was sie mit ihren eigenen Augen gesehen hatte, zu informieren. »Da kommt Steiner!« rief jemand. »Vielleicht weiß er etwas!« Sofort war Steiner von einer dichten Menschentraube umringt. Fragen stürmten auf ihn ein. Jeder glaubte, seine eigene Theorie verbreiten zu müssen. Nachdem Steiner für Ruhe gesorgt hatte, meinte er aufrichtig: »Ich weiß genauso wenig wie ihr, Leute. Präsident Hardy und sein Generalstab halten sich in Archers Büro auf. Was sie dort tun, weiß ich nicht. Außerdem hat man mich meines Postens als Sicherheitsoffizier enthoben.« Geraune wurde laut. Einige Männer rannten hinaus, um das Schwarze Brett zu lesen. Steiner hörte vereinzelte Flüche. Die Gerüchteküche lief bereits auf vollen Touren, als er in den Aufenthaltsraum kam. Perez, ein Mann mit einem langen schwarzen Zopf, sagte: »Ist es wahr, daß es Krieg gegeben hat? Sind wir nun von zu Hause isoliert?« Ein anderer Mann begann zu schluchzen. Steiner wußte, daß er zuckerkrank war. Wenn Levys Insulin knapp wurde, würde er ungeheure Qualen aushalten müssen. So gut er konnte, beruhigte er die Männer. »Es wird nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird«, sagte er, aber er kam sich selbst nicht recht überzeugend vor. Draußen ließ Langley nach bester militärischer Tradition eine Gruppe seiner Leute antreten. Offensichtlich gab er ihnen Instruktionen, die nicht für Jedermanns Ohren gedacht waren, denn er flüsterte. Dann spritzten die Männer auseinander und verteilten sich über das Lager. * Am Abend erklangen vor den Barakken des Zivilpersonals laute Schreie. Steiner, der eben seine Uniform anzog, fuhr zusammen, als er erkannte, was dort von einer donnernden Stimme gerufen wurde. »Alle Mann rrraustreeeeten! Alle Mann rrraustreeeeten!« Und dann: »Ich soll euch wohl Beine machen, wie? Hoffentlich schwingt ihr bald die Hufe!«
Überall das Trappeln eiliger Schritte. Dumpfe Stiefelgeräusche auf den hölzernen Barackenfußboden. Nach und nach wurden sämtliche Türen aufgerissen. Behelmte Köpfe wurden in die einzelnen Zimmer gesteckt, und eine andere Stimme brüllte: »Na los! Ihr da seid auch gemeint!« Steiner stürmte hinaus. Draußen wurden sie von einem rotwangigen Major empfangen, der beide Arme in die Hüften gestemmt hatte und schrie: »In einer Reihe antreten! In einer Reihe antreten!« Steiner stellte sich auf. Überall sah er überraschte Gesichter. Der größte Teil des Personals von Camp McCarthy bestand aus Zivilpersonal, aber er erkannte, daß man ohne Ausnahme jeden ins Freie getrieben hatte, der in der Lage war, seine Füße zu benutzen. Mehrere der Soldaten waren verbunden, und sogar die Frauen standen aufgereiht. »Zur Meldung an Kommandanten: die Augen rrrechts!« Hardy erschien in Begleitung eines Dutzends Generälen. Er nahm die Meldung des Majors entgegen, gab dann das Kommando »Rührt euch!« und stellte sich in Rednerpositur, wie Steiner es von ihm aus den Tridi-Programmen gewohnt war. »Meine lieben Mitbürger«, rief Hardy. »Ihr werdet euch mit Sicherheit alle gewundert haben, wieso anstelle der seit langem angekündigten wissenschaftlichen Expedition plötzlich ein Teil des Institutspersonals auf der Bildfläche erscheint. Eure Neugier besteht völlig zu Recht, denn ihr alle habt mit angesehen, auf welche Weise wir bei euch, in der Vergangenheit unserer Welt Schutz suchen mußten. Ich will euch erklären, was zu Hause geschah, während ihr hier auf eurem Posten tapfer ausharrtet!« Gemurmel wurde laut und verstärkte sich. Die meisten der Angehörigen des Stammpersonals hatten noch immer nicht begriffen, was der militärische Firlefanz sollte und mokierten sich mit Recht über die unerwartete Zwangspressung. Allzu laut wagte jedoch niemand seine Zweifel zu artikulieren. »Wie wir alle wissen«, fuhr Hardy mit donnernder Stimme fort, »ist es dem Bolschewismus in den letzten Jahren mehr und mehr gelungen, auf dem Boden unseres Landes an Raum zu gewinnen. Die Bolschewisten haben die Massenmedien unseres geliebten Vaterlandes unterwandert und haben Einzug in öffentliche Ämter gehalten, wobei sie von den liberalen Kräften eifrig beklatscht und
unterstützt wurden. Sie haben das politische Leben unserer großen Nation infiltriert und nun haben sie endgültig zugeschlagen!« Ein Tumult setzte ein. Selbst Steiner, der auf alles gefaßt gewesen war, riß vor Erstaunen den Mund auf. Ein Bürgerkrieg? Hatte es einen Bürgerkrieg gegeben? Er wagte nicht daran zu denken, was das für sie bedeuten konnte. Während das Zeitfeld eingeschaltet gewesen war, hatte er durch das Gewaber von Licht und Hitze deutlich Rauch und Flammen gesehen... Der rotwangige Major brüllte um Ruhe. Hardy nickte ihm freundschaftlich zu und sagte, nachdem er sich wieder Gehör verschafft hatte: »Der Gegner hat zugeschlagen, meine Freunde, ich will weder die Lage beschönigen noch sie verschweigen! Und er hat dies getan, nachdem er in jahrzehntelanger Wühlarbeit unsere bürgerlichen Freiheiten dazu benutzt hat, unseren Kindern und Jugendlichen eine verderbliche Ideologie einzupflanzen, die dazu geführt hat, daß diejenigen, die ihr ausgesetzt wurden, den rechten, gottgewollten Weg verließen!« Er breitete theatralisch die Arme aus, als wolle er alle Umstehenden umfassen. Seine Stimme überschlug sich fast, als er schrie: »Wir haben den Kampf gegen sie verloren, meine Freunde! Sie haben unsere geliebte Demokratie beseitigt und alle, die sich ihnen dabei in den Weg stellten, gnadenlos beseitigt und dahingemordet! Wir müssen unter allen Umständen dafür sorgen, daß sich die Geschichte in der Epoche, in der wir jetzt leben, nicht wiederholt'.« Das war der Punkt, an dem Steiner die ersten berechtigten Zweifel an Hardys Aufrichtigkeit kamen. Er fühlte plötzlich den unbändigen Drang, Fragen zu stellen, genaue Informationen über die angebliche Katastrophe zu erhalten aber er wußte genau, daß Hardy ihm keine Rechenschaft geben würde. Der Mann hatte das, was ihm auf der Seele lag, gesagt. Er hatte dem nichts hinzuzufügen und war auf eine längere Diskussion auch gar nicht vorbereitet. Die ganze Theatralik, mit der Hardy seine Botschaft vorgetragen hatte, erinnerte Steiner fatal an die Reden eines der früheren Präsidenten der USA, an einen Mann, der Richard Nixon geheißen hatte. Steiner hatte einige Filmaufzeichnungen dieses Nixon gesehen und festgestellt, daß er ein beachtliches Schauspieltalent
besessen haben mußte, denn es war ihm gelungen, in jahrelangen Verdrehungen und Lügen nicht nur die ganze Nation, sondern auch das Repräsentantenhaus hinters Licht zu führen. Nixon hatte sich sogar den obersten Bundesrichtern aggressiv widersetzt, und auch Hardy konnte in dieser Beziehung einiges aufweisen. Die ausgeklügelte Gestik, mit der er seine Worte untermalte, während er seine Greuelgeschichten zum besten gab, mochten einen naiven Menschen zutiefst bewegen und verunsichern. Für einen aufgeweckteren Kopf jedoch wirkten sie wie aus der Plunderkiste eines Schmierenkomödianten gezogen. Als Hardy fertig war und sich mit Tränen in den Augen zurückzog, stand die Lagerbesatzung noch eine Weile in tiefem Schweigen da. Erst die knarrende Stimme des rotwangigen Majors riß sie in die Wirklichkeit zurück. Er befahl ihnen wegzutreten, aber das erwies sich als ziemlich schwieriges Unterfangen. Die meisten der auf dem Platz zwischen den Baracken versammelten Personen waren in diesem Moment viel zu apathisch, um sich schnell zu bewegen. Steiner löste sich aus der Menge. Er hatte am Rande der Veranstaltung die Gestalten Archers und der Hardy-Tochter gesehen. Beide hatten sich wie auch die dreizehn Generäle nicht in die Menge eingereiht, sondern so etwas wie einen besonderen Block gebildet. Archer machte sich hastig aus dem Staube, als Steiner sich seinem Standort näherte, Hardys Tochter blieb stehen und musterte ihn frech. Es roch nach Regen und Nebel. Steiner schnupperte, konnte aber ihrem Blick nicht ausweichen. »Hauptmann Steiner, wenn ich mich nicht irre, nicht wahr?« sagte sie. Steiner deutete auf den Rand seines Helms, auf dem sein Name in großen, unübersehbaren Buchstaben angebracht war. »Lesen können Sie auch?« knurrte er sarkastisch. »Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Warum ist Archer verschwunden? Scheut er es, mir in die Augen zu sehen?« An ihren zusammengepreßten Lippen erkannte er, daß sie beleidigt und wütend war. Weshalb war er eigentlich so grob zu ihr gewesen? Ihm fiel ein, daß sie eigentlich überhaupt nichts getan hatte, was seinen Ingrimm rechtfertigte. Auch als er sie zum ersten Mal gesehen hatte... Langsam wurde ihm klar, daß er es wohl gewesen war, der sich im Ton vergriffen hatte. Sie hatte nicht einmal die Chance gehabt, ihren begonnenen Satz
auszureden. »Entschuldigen Sie mein Verhalten«, sagte er gepreßt. In seinem Magen machte sich ein ungutes Gefühl breit. »Ich habe wohl die Nerven verloren, als...« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.« Ihre Augen sprühten Funken, ihre kleinen Hände waren zu Fäusten geballt. Hatte er erneut einen Fehler gemacht? Steiner war nahe daran, sich zu verfluchen. Warum mußte er auch immer so verdammt impulsiv sein? »Wir sind wohl alle ein wenig durcheinander«, sagte Judith Hardy mit seltsam veränderter Stimme. Erst jetzt nahm Steiner wahr, daß sie viel schöner war, als er sie aus den TridiSendungen her in Erinnerung hatte. Er wußte, daß sie zu den größten Einpeitschern im letzten Wahlkampf gehört hatte; vielleicht rührte seine Aversion gegen sie daher, denn Steiner mochte es einfach nicht, wenn jemand seinen politischen Gegner mit irgendwelchen aasfressenden Tieren verglich und sie als vaterlandslose Gesellen brandmarkte. Sie ließ ihn stehen, ohne ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln. Leutnant Langley, der sie aus einer Entfernung von zwanzig Metern beobachtet hatte, schob fahrig einen Kaugummi zwischen die Lippen. Am gleichen Abend wurde Steiner die Meldung überbracht, daß er zur Wache eingeteilt sei. Das war natürlich eine Schikane, aber er sah ein, daß Hardy bestrebt war, auch die Mitglieder des Stammpersonals in seinen Apparat zu integrieren. Da die von ihm mitgebrachten gemeinen Soldaten zu wenige waren, mußten zwangsläufig auch die mittleren Chargen zur Wache herangezogen werden. Seltsamerweise hatte Hardy Doppelposten aufstellen lassen. Der Mann, mit dem Steiner auf Wache ging, hieß Colby; ein schweigsamer Mensch mit einem traurig herunterhängenden Walroßschnurrbart und feuerrotem Haar. Colby galt im Lager als Phlegmatiker. Er war ein guter Koch, aber kein guter Wachmann. Ob es eine Falle ist? fragte sich Steiner. Er mußte damit rechnen, daß man ihn zu provozieren versuchte. Wenn Colby einen Fehler machte, würde es für Hardy oder Archer ein Leichtes sein, das ihm in die Schuhe zu schieben: Colby war ein Zivilangestellter, Steiner hingegen hatte den Rang eines Hauptmanns inne. Es war mithin seine Pflicht, auf Colby
achtzugeben. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Ich fange langsam an, überall Intrigen zu sehen, schalt er sich selber. Lassen wir diesen Quatsch und sehen uns die Nacht an. Die Nacht war dunkel und klar. Die Sterne, die am Himmel glitzerten erschienen ihm zahlreicher als jemals zuvor in seinem Leben. Wieder setzte leichter Nieselregen ein. Als er zwischen der Lagerbaracke und Dr. Levys Lazaretträumen dahinging, hörte er ein leises, knarrendes Geräusch. Öffnete da jemand ein Fenster? Steiner drückte sich ins Dunkel. Eine finstere Gestalt erschien an einem Lazarettfenster, öffnete es und sah sich suchend um. Steiner hielt den Atem an. Was ging hier vor? Versuchte erneut jemand, in das Lagerhaus einzudringen? Er hatte sich nicht getäuscht. Die mit einem weiten Umhang bekleidete Gestalt glitt zu Boden und rannte geduckt auf das Lagerhaus zu. Steiner sah etwas in der Hand des Mannes. Eine Waffe? Von Colby war weit und breit nichts zu sehen. Wenn der Mann genau nach dem Dienstplan arbeitete, mußte er sich derzeit genau entgegengesetzt von Steiner befinden. Der Vermummte machte sich tatsächlich am Schloß des Lagerhauses zu schaffen. Steiner wartete immer noch. Warum zögerte er? Warum griff er nicht ein? Sein Magengeschwür meldete sich wieder. Ich will verflucht sein, wenn ich noch eine Zigarette anfasse, dachte er. Der Vermummte war jetzt im Lagerhaus verschwunden und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Auf leisen Sohlen schlich Steiner heran. Schweißtropfen auf seiner Stirn. Die Hände, die die Waffe hielten, naß. Als er die Tür öffnete, hatte der Einbrecher die erste Kiste bereits geöffnet. Als Steiner eintrat, wurde er leichenblaß; als er ihn erkannte, lächelte er. Es War Dr. Levy. * »Sie?« fragte Steiner verdattert. Er hatte jeden anderen erwartet. Dr. Levy grinste. »Hallo, Steiner. Kommen Sie doch herein. Und
machen Sie keinen Lärm, damit man uns nicht hört.« Steiner stierte ihn an. Der kollegiale, fast verschwörerische Tonfall mißfiel ihm. War der Arzt sich nicht im klaren darüber, daß er... »Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte Levy ernst. »Aber wenn Sie erst wissen, was in dieser Kiste ist, werden Sie...« »Gar nichts werde ich.« Steiner hob die Waffe. »Sie sind festgenommen, Dr. Levy. Auch die Tatsache, daß ich Ihnen freundschaftliche Gefühle entgegenbringe, bedeutet nicht, daß ich Sie laufenlasse.« Als draußen Schritte erklangen, rief er: »Colby?« »Sir?« Die Tür des Lagerhauses öffnete sich, und das schnauzbärtige Gesicht Colbys sah herein. »Wecken Sie Mr. Archer. Ich habe Dr. Levy bei einem Einbruch überrascht.« Er ließ Levy keinen Augenblick aus den Augen. Überraschenderweise erwiderte Colby: »Alles, was Sie von mir verlangen, Sir aber das werde ich nicht tun. Lassen Sie bitte die Waffe fallen!« * Steiner war zu verdutzt, um an Gegenwehr zu denken. Gewiß, er konnte um Hilfe schreien und damit das ganze Lager wecken aber dann wäre es mit Sicherheit auch um ihn geschehen. »Das ist Meuterei!« knirschte er. Dr. Levy sagte: »Meuterei gegen wen?« »Gegen... gegen die Regierung.« »Es gibt keine Regierung mehr. Hardy hat es selbst gesagt. Es gibt in dieser Zeit nicht einmal mehr die Vereinigten Staaten. Oder besser, es gibt sie noch nicht. Alles, was es auf diesem Kontinent gibt, sind Mammuts und Karibus, Robben und Schneehasen. Und Frühmenschen, die irgendwann einmal Indianer genannt werden.« »Ich... Sie...«, stotterte Steiner. Er war perplex. »Wir sind die ersten zivilisierten Menschen der Erde, Steiner«, fuhr Dr. Levy fort. »Wir sind eine Gemeinschaft von etwas über hundert Menschen, die völlig neu anfangen müssen, die abgeschlossen sind von der übrigen Welt, die selbst entscheiden müssen, wie sie in Zukunft leben müssen, nachdem die
Zivilisation, aus der sie kamen, nicht mehr für sie existiert. Verstehen Sie denn nicht? Hier hat uns kein Präsident Hardy etwas zu befehlen! Dies hier ist eine völlig neue Welt! Niemand hat Hardy zum Präsidenten gewählt. Er ist einfach gekommen und hat sich dazu gemacht. Mit Hilfe seiner getreuen Vasallen ist er einfach hierhergekommen und nun arbeitet er daran, ein neues altes, auf Privilegien aufgebautes System zu errichten. Wir werden dieses Spiel nicht mitspielen!« Steiner starrte ihn an. »Sie sind ja...«, keuchte er, »das sind ja kommunistische Äußerungen! Glauben Sie denn, man...« Levys Gesicht wurde für einen Moment traurig. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen, Steiner«, sagte er. »Ich bin keiner von denen, für die Sie mich halten. Aber ich halte es für mein gutes Recht, mir den Präsidenten, den ich haben will selbst auszusuchen. Wir wollen doch zumindest nicht die demokratischen Spielregeln vergessen, nicht wahr?« Ein innerer Zwiespalt hatte Steiner plötzlich erfaßt. Was Hardy betraf, hatte Dr. Levy unbedingt recht. Es fiel ihm auf, daß noch niemand im Camp die Ankunft des Präsidenten unter diesen Gesichtspunkten betrachtet hatte. Mit welchem Recht nahm Hardy sich heraus, sich hier als großer Führer aufzuspielen? Niemand hatte ihn gerufen. Und mit ziemlicher Sicherheit war das Stammpersonal von Camp: McCarthy gegen ihn. »Und dann zögern Sie noch, Partei gegen einen selbsternannten Präsidenten zu ergreifen?« sagte jetzt Colby. »Besitzen Sie so wenig Zivilcourage, und das, nachdem Sie bereits mitangesehen haben, daß Hardy hier ein militaristisch orientiertes System aufbauen will?« Levy griff in die Kiste, schob Holzwolle zur Seite und brachte einen modernen Fön ans Licht. Er grinste. Dann förderte er der Reihe nach mehrere Weinflaschen, einen Kasten mit Schminkzeug, mehrere Perücken, ein Nageletui in Luxusausführung und verschiedene andere Dinge zutage, die nichts, aber auch gar nichts mit wissenschaftlichen Instrumenten zu tun hatten. »Sind Sie nun überzeugt, daß diese Kisten keine Forschungsgeräte enthalten? Es war niemals vorgesehen, eine Forschungsexpedition ins Quartär zu schicken. Vielmehr hat Hardy bereits vor geraumer Zeit heimlich seine Emigration vorbereitet, weil er seit langem darüber im Bilde ist, daß er seine
Tage in einer alten Kerkerfestung verbringen würde, sollte die Opposition an die Macht kommen.« Steiner stierte fasziniert auf die Gegenstände, die Levy vor ihm ausgebreitet hatte. Es war mit fünf normalen Sinnen einfach nicht zu erfassen. Er war nahe daran, in ein hysterisches Gelächter auszubrechen, als bei ihm der Groschen fiel. Ein Lagerhaus voller Luxusgegenstände. Womöglich gab es hier ganze Berge von seidenen Slips für das Präsidententöchterlein und Rasierwasser für den Herrn Papa. Er dachte an Oberhemden und Krawatten, an Krokodilledertäschchen und Parfüms, an Sockenhalter und Haarspray. Die Galle kam ihm hoch. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Wir waren alle blind«, sagte er dann müde zu den anderen. »Wir müssen verrückt gewesen sein, daß wir nicht schon von Anfang an gemerkt haben, daß Hardy mit uns macht, was er will, dieser...« »Er ist als Privilegierter geboren worden«, erklärte Levy. »Er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß wir ihn vielleicht gar nicht wollen. Für ihn und seine Leute sind wir ein Stück Amerika, das sich in die Vergangenheit hinübergerettet hat. Ein kleiner Bundesstaat, in den er sich zurückgezogen hat, nachdem alle anderen in die Hand des Feindes übergegangen sind.« Steiner nickte. Zum ersten Mal in seinem Leben sah er richtig klar. »Wir werden die Verhältnisse ändern«, sagte er dann. »Wer ist auf unserer Seite?« »Bis jetzt nur ein paar Männer und Frauen. Aber nun glaube ich werden es mehr werden.« * Und es wurden mehr. Die Nachricht, was sich in Wirklichkeit in den Kisten des Lagerhauses befand, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Manche, die sie hörten, waren skeptisch. Andere lachten nur. Aber es gab mehr als drei Dutzend Leute, die sie sehr ernst nahmen. Dr. Levy und seine Leute (zu ihnen zählte neben Colby das gesamte medizinisch ausgebildete Personal von Camp McCarthy, zwei Mann von Steiners Büro und die drei Techniker, die für die
Abschirmung des Lagers zuständig waren) hatten zunächst darauf verzichtet, sich selbst als Gruppe zu erkennen zu geben. Colby hatte verschiedene Zettel in der Kantine auf die Tische gelegt, die aussagten, was sich im Lagerhaus befand. Natürlich wurden sie beim nächsten Frühstück von verschiedenen Leuten gelesen und weitergegeben. Noch schwieg das Stammpersonal von Camp McCarthy. Als Steiner gegen Mittag an Archers Büro vorbeikam, schien sich dort eine erregte Diskussion abzuspielen. Deutlich waren die Stimmen von Hardy, Archer und Brigadegeneral Cunningham zu hören. Steiner tat so, als sei er in die Lektüre des Schwarzen Brettes vertieft und spitzte die Ohren. Ohne Zweifel war man sich in Archers Büro in die Haare geraten. Archer sagte: »... diese Dinge wahr?« »Eine bodenlose Schweinerei ist das!« hörte er Hardy keifen. »Zu was stellen Sie eigentlich Wachtposten auf, Sie Armleuchter!« Archer: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Mr. Präsident, daß seit gestern nicht mehr ich, sondern Generalleutnant Shaffer für die Einteilung der Wachtposten zuständig ist.« Cunningham schnauzte: »Reden Sie sich doch nicht heraus! Sie wissen genau, daß...« Alles Weitere ging in Gemurmel unter. Steiner wandte sich um. Er wollte gehen, aber die Gestalt von Judith Hardy verbaute ihm den Weg. Sie hatte den Mund zu einer scharfen Linie zusammengekniffen und aus ihren Augen strahlte nackter Haß. Steiner hatte sie seit ihrem ersten Zusammenprall noch nicht wieder zu Gesicht bekommen, weil Hardy offenbar dem gesamten weiblichen Personal verboten hatte, den ihm zugewiesenen Bereich zu verlassen. Und jetzt stand sie vor ihm, und er war erledigt. »Sie haben gelauscht, Hauptmann?« Ihre Stimme war hart wie Glas. Irgendwie, fand Steiner, hatte sie einen anmaßenden Zug um den Mund. Sie war in jedem Fall wie man auch zu ihr stehen mochte eine Schönheit. Aber der Überhebliche Ton ihrer Stimme, ihr angewiderter Blick, all das deutete darauf hin, daß er sie von der ersten Sekunde an völlig richtig eingeschätzt hatte: Sie war ein verkommenes, verwöhntes Gör, das im Leben stets alles bekommen hatte, was es wollte. Sie war daran gewöhnt, daß man auf ein Wort von ihr sprang, und das ohne Protest. Sie paßte
nicht hierher. Sie würde auch für Ärger sorgen, wenn sie ohne ihren Vater gekommen wäre. »Ich bin Ihnen über das, was ich tue, nicht die geringste Rechenschaft schuldig«, erwiderte Steiner. »Gehen Sie aus dem Weg!« Sie machte keinerlei Anstalten. Steiner streckte die Hand aus und schob sie auf die Seite. Er fühlte einen harten Schlag auf seinen Schulterblättern, als er an ihr vorbeiging und die Baracke verließ, aber er drehte sich nicht noch einmal um. * An diesem Tag verkündete Generalleutnant Shaffer mehrere neue Befehle. Allerdings vermied er es, sich selbst in der Öffentlichkeit zu zeigen, ohne deswegen einen Grund anzugeben. An seiner Stelle baute sich Leutnant Langley vor der militärisch angetretenen Mannschaft von Camp McCarthy auf. »Wie bekannt wurde, kursieren in Camp McCarthy seit heute morgen einige Gerüchte, die, sagen wir es ganz offen, konspirativen Charakter haben. Offenbar befinden sich unter der Mannschaft einige Elemente, die zum Aufruhr und zur Meuterei neigen. Die Herren, die ich meine, wissen sicher selbst am besten, was sie tun, aber ich möchte hier einmal klar zum Ausdruck bringen, daß jedwede Form des Aufruhrs in unserer prekären Lage für den Verursacher den Tod bedeuten kann.« »Wie meinen Sie das, Sir?« rief jemand. Steiner erkannte in dem Fragesteller Colby. Langley warf dem Mann einen wütenden Blick zu. Er schien es nicht zu schätzen, wenn man ihn unterbrach, aber er war offensichtlich ebenso klug, einzusehen, daß das System, das Hardy sich aufzubauen bemühte, noch nicht gefestigt genug war, um eine offene Diskussion zu verweigern. Noch waren die meisten der versammelten Menschen an ihre bürgerlichen Freiheiten gewöhnt. Mit einem Lächeln sagte er: »Wir befinden uns in einer Zeit, in der sich soeben die ersten Einwanderer aus Sibirien in Amerika breitmachen. Wir sind umgeben von gefährlichen Dschungeln und Sümpfen und können, wenn wir nicht unsere einzelnen Interessen dem Interesse der Gemeinschaft unterordnen, in kurzer Zeit alle tot sein! Die Welt,
in der wir leben, macht harte Gesetze unumgänglich, soll unsere Gruppe nicht in Chaos und Anarchie enden. Wir müssen bildlich gesprochen - jeden Bissen miteinander teilen, den wir haben. Um zu gewährleisten, daß sich niemand auf Kosten seiner Kameraden ein sorgenloses Leben ermöglicht...« Colby trat aus der Reihe. Er baute sich drei Schritte vor Langley auf, stemmte die Arme in die Hüften und schrie: »Gilt das auch für das Parfüm von Hardys Tochter und den anderen Tand, der in diesem Lagerhaus da drüben liegt?« Langley griff sofort zur Waffe, aber er schoß nicht, denn im gleichen Moment gellte ein empörter Schrei aus mehreren Dutzend Kehlen durch das Camp. »Ist das wahr?« schrien die Leute empört. »Parfüm im Lagerhaus?« »Rede, Bursche! Wir wollen endlich die Wahrheit wissen!« Der Tumult wurde immer größer. Langley, der der Demonstration, die jetzt begann, zuerst mehrere Sekunden fassungslos zugesehen hatte, feuerte nun einen Schuß in die Luft ab. Hinter ihm öffnete sich die Barackentür und vier mit Maschinenpistolen bewaffnete Offiziere bauten sich neben ihm auf. »Zurück!« schrie Steiner. Er sah ein, daß es im Moment zwecklos war. Unvorsichtigkeit konnte den sofortigen Tod bedeuten, und er zweifelte nicht daran, daß Langleys Kreaturen schießen würden. Gehetzt wechselte Steiner mit Levy einen Blick. »Wir wollen endlich über unser Schicksal selbst bestimmen!« schrie Levy mit einer Kraft, die Steiner dem Arzt niemals zugetraut hätte. »Wir haben Hardy nicht gerufen und nicht zu unserem Kommandanten gemacht! Wenn die Welt, aus der wir kamen, für uns nicht mehr existiert, hat er uns gar nichts zu befehlen!« »Meuterei!« kreischte Langley fassungslos. Er hob die Waffe und schoß über die Köpfe der Menge. »Zurück! Zurück!« Die Menge spritzte auseinander. Jemand hob einen Stein und warf. Einer der MP-Soldaten klatschte in den Staub. Die anderen verloren die Nerven und feuerten. Rauch und Flammen. Schreie und das Scharren eiliger Füße. Zu einem Gegenangriff gab es weder Zeit noch eine Chance. Steiner sah einen, dann zwei, dann drei und dann vier Männer fallen, ehe sie das Feuer einstellten. Die meisten Menschen hatten sich zu Boden geworfen und
hielten die Hände vor ihre Gesichter, als könnten sie sich dadurch vor dem Tod schützen. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Waffe zu ziehen und sie über den Haufen zu knallen, dachte Steiner erschöpft, aber ihm waren nicht die drohenden Gewehrläufe aus Baracke III entgangen, die aus den Fenstern lugten, gehalten von Männern, auf deren Schultern das Gold im Sonnenlicht glänzte. Sie hatten verloren, daran bestand kein Zweifel. Die ganze Aktion war unvorbereitet abgelaufen und hatte keine Basis gehabt. Es war Schwachsinn gewesen, was Colby getan hatte. Jetzt war er tot, genau wie Dr. Levy, der in einer grotesken Lage auf dem Boden lag. »In die Quartiere zurück! Marsch! Marsch!« Langleys Stimme war dem Überschnappen nahe. Die Menschen rappelten sich auf und drängten sich in die Baracken zurück. Steiner war zu deprimiert, um die nachfolgend von einem ihm unbekannten Leutnant ausgerufenen Befehle geistig verarbeiten zu können. Erst nachdem der Mann geendet hatte, erfaßte er die ganze Tragweite der sogenannten Neuen Lagerordnung. 1. Niemand darf Camp McCarthy verlassen ohne ausdrücklichen Befehl des Kommandanten oder eines seiner Stellvertreter. 2. Wer sich außer dem diensthaben, den Wachpersonal in der Nacht außerhalb seiner Unterkunft aufhält, wird ohne Anruf erschossen. 3. Wer innerhalb von Camp McCarthy aufrührerische Reden hält, konspirative Treffen fördert oder an ihnen teilnimmt, die Ehre des Kommandanten beschmutzt oder zur Meuterei aufstachelt, wird ohne Gerichtsverhandlung erschossen. 4. Wer es wagt, die Hand gegen einen Uniformträger zu erheben, wird zu vierzehn Tagen Nahrungs- und Wasserentzug verurteilt. Dieses Urteil kann von jedem Uniformträger (vom Unteroffiziersanwärter aufwärts) ausgesprochen werden. 5. Ab sofort wird eine neue Unterkunftsregelung eingeführt: a) in Baracke I werden wohnen die Kommandantur, alle Offiziere vom Leutnant an aufwärts, das Büropersonal, der Beauftragte für ideologische Fragen und sämtliche Angehörigen weiblichen Geschlechts. b) In Baracke II sämtliche Angehörigen des Forschungsinstituts (Beamte, Angestellte, Wissenschaftler) sowie die gemeinen Soldaten, c) In Baracke III alle Zivilangehörigen des Stammpersonals sowie die Insassen des Lazaretts bis zu ihrer
Genesung, (gez.) Thomas O. Hardy, Kommandant. »Diese elenden Schweine«, hörte Steiner jemanden neben sich sagen. »Das haben sie sich ja fein ausgeklügelt, Wir haben die Verletzten und sind ohne Arzt und die fallen über die Frauen her!« Steiner erhob sich, inspizierte die Lage. Ein Mann fand sich, der einst Medizin studiert hatte. Er gehörte zum wissenschaftlichen Personal des Instituts, wo er als Physiker gearbeitet hatte. »Natürlich übernehme ich Dr. Levys Stelle«, sagte er kurz. »Hoffentlich bekommen wir keine Schwierigkeiten, wenn ich nach II umziehen muß. Hardy scheint sich ja jetzt auf einen offenen Bürgerkrieg einzustellen.« Steiner packte seine Sachen und meldete sich in Baracke I. Langley, der ihn ungläubig anstarrte, sagte: »Da scheint mir irgendwo ein Fehler zu stecken, Hauptmann. Ich kann mir nicht vorstellen, daß man an Sie gedacht hat, als... na, egal.« »Richtig«, erwiderte Steiner. »Es ist egal. Ich habe mir bekanntlich nicht den Kopf des Kommandanten zu zerbrechen. Zeigen Sie mir mein Quartier, Leutnant.« Erstaunlicherweise fand Langley für Steiner ein Einzelzimmer, und das, obwohl das Camp durch die Ankunft weit überbelegt war. Irgendwo hörte man das Weinen einer Frau. Wahrscheinlich hatte man sie von ihrem Mann getrennt. Er erinnerte sich, daß es im Lager drei oder vier Ehepaare gegeben hatte, die freiwillig gekommen waren. Von nun an wurde das Leben zu einem einzigen militärischen Drill. In Archers Büro wurden desweilen Dauerkonferenzen abgehalten, an denen sich neben Hardy auch die dreizehn Generäle beteiligten. Nichts drang an die Öffentlichkeit. Steiner war es nun vergönnt, eine zwölf Mann starke gemischte Gruppe aus gemeinen Soldaten, Beamten und Zivilisten durch das Gelände zu jagen, und das vorzugsweise zur Nachtzeit oder wenn wahre Wolkenbrüche den Raum zwischen den Baracken in ein Meer von Matsch verwandelt hatten. Er sah die Wut in den Augen der Männer und hörte ihre Flüche. Aber es änderte sich nichts. Nachdem die ersten drei Männer, die im Affekt auf ihre sie schindenden Ausbilder losgegangen waren, apathisch vor Hunger ihre Arbeit taten, war jeder Gedanke an eine Rebellion im Keime erstickt. Foss, ein junger Techniker, hatte in einem Anfall von Raserei einem Leutnant die MP
entrissen, woraufhin andere ihn getötet hatten. Zwei Zivilisten hatten sich die Pulsadern aufgeschnitten und wurden gefunden, als es für sie zu spät war. In einer Nacht war lautes Geschrei aus Baracke III zu hören gewesen, wo man einen Spitzel Hardys entdeckt hatte. Die Folge: in dem entstandenen Handgemenge gab es einen Toten und drei Verletzte. Als Langley mit zwei anderen Leutnants auftauchte, gab es noch zwei Tote mehr und für die ganze Baracke am nächsten Tag einen Zwanzig-Kilometer-Lauf rings um das Haus, bei dem zwei Männer mit Kreislaufkollapsen zusammenbrachen und einer starb. Während dieser ganzen Zeit zeigte sich weder Archer noch Hardy. Obwohl Steiner mit ihnen unter ein und demselben Dach lebte, begegnete er ihnen nie. Leise Andeutungen drangen zu ihm durch, daß zwischen den Generälen ein heftiger Streit um die Frauen entbrannt sei und wenige Tage später fand man Generalleutnant Steinberg mit einem Kopfschuß in seinem Bett. Der Täter wurde nicht gefaßt, allerdings wurde zwei Tage darauf Brigadegeneral Cunningham von mehreren Offizieren abgeholt. Zum ersten Mal, seitdem der Mensch seinen Fuß auf den Boden der Vergangenheit gesetzt hatte, wurde das Energiefeld, das rings um Camp McCarthy lag, abgeschaltet. Steiner sah zu, wie sie Cunningham, der ging, als habe er einen Besenstiel verschluckt, in den Dschungel brachten. Dann dröhnte ein Schuß und die Offiziere kamen zurück. Ohne Cunningham. Sein Nachfolger wurde Brigadegeneral Hall, ein vierschrötiger Haudegen mit einer Reibeisenstimme. . Am sechzehnten Tag nach der Ankunft Hardys ließ sich der Kommandant das erste Mal wieder vor versammelter Mannschaft sehen. »Wie ich höre«, sagte er mit freundlicher Maske, »macht die militärische Ausbildung ungewöhnlich gute Fortschritte. Das freut mich. Wie Sie alle wissen, sind wir hier den Gefahren einer feindlichen und barbarischen Umwelt ausgesetzt, die ständig die Klauen ausstreckt, um uns zu vernichten. Wie wir aus wissenschaftlichen Forschungsergebnissen wissen, ist dies die Zeit, in der die ersten Asiaten die Beringstraße überqueren, um sich in Amerika niederzulassen. Diese Menschen werden über kurz oder lang auch dieses Gebiet hier erreicht haben, und ich brauche wohl nicht gesondert darauf hinzuweisen, daß wir uns
bald gegen diese Barbaren zur Wehr setzen müssen.« Steiner verdrehte die Augen. Wo kein Feind ist, da schafft man sich einen, dachte er. Ein äußerer Feind stärkt den inneren Zusammenhalt, selbst wenn er nur auf dem Papier oder in der Phantasie eines größenwahnsinnigen Diktators existiert. Allmählich begann er Hardys verruchte Lebensphilosophie zu verstehen: Für ihn war es am einfachsten, die Opposition in den eigenen Reihen zu bremsen, wenn er auf einen Gegner hinweis, ihn als gefährlichen Buhmann einstufte. »Um einem eventuellen Angriff nicht unvorbereitet gegenüberzustehen, haben wir uns entschlossen, Camp McCartyh zu befestigen! Wir werden einen Palisadenzaun bauen und den Brunnen befestigen! Da wir auch auf dem Gebiet der Ernährung darauf angewiesen sind, was die Umgebung uns bietet, werden Jagdkommandos zusammengestellt und ein Kundschaftertrupp ausgeschickt, der die nähere Umgebung kartografisch erfassen soll. Es wartet viel Arbeit auf uns, meine treuen Kameraden. Tut eure Pflicht!« »Wegtreten!« brüllte Langley. Die Menge zerstob. In der Tat hatten die meisten Bewohner des Lagers in den letzten zwei Wochen mehr und mehr die militärischen Umgangsformen angenommen. Steiner hatte mehrere Male erstaunt aufgesehen, wenn ein Leutnant in der Kantine statt »Ist dieser Stuhl frei?« schnarrte: »Bitte Platz nehmen zu dürfen!« Als er in seine Unterkunft zurückkehrte, sah er Hardy in einem angestrengten Gespräch mit seiner Tochter. Offenbar schienen sie Ärger miteinander zu haben, denn Judith stampfte plötzlich wütend mit dem Fuß auf und machte Anstalten, Hardy stehenzulassen. Kurioserweise rief Hardy sie zurück, und Steiner, der gerade salutierend an beiden vorbeiging, hörte, wie er wütend sagte: »Ich bin einverstanden! Dein verdammter Dickschädel wird dich eines Tages noch...« Zwei Minuten später erschien ein Fähnrich und lieferte einen Befehl ab. Steiner las, daß er mit sofortiger Wirkung einem Jagdkommando zugeteilt worden sei. Die Liste der Leute, die mit ihm kamen, war beigelegt. Erstaunt registrierte Steiner die Namen. Man hatte sogar die Zivilisten mit militärischen Rängen ausgestattet: Gruppenführer: Leutnant Keith L. Fordyce, Stellv.: Hauptmann Conrad C. Steiner, Gefr. Hamilton, Schützen Nyborg, Carruthers,
Perez, Bernstein. Steiner lachte lautlos. Er kannte Fordyce, diesen schneidigen, auf Etikette bedachten Jungoffizier, der Langley in nichts nachstand. Daß man ihn zu seinem Vorgesetzten gemacht hatte, wunderte ihn nicht. Hamilton war ein Depp, wie er im Buche stand: Söldnermentalität, ein bärenstarker Bursche mit einem Spatzengehirn. Nyborg: Ein blasser Junge aus Levys Stab, Sanitäter. Verläßlich und über die Zustände im Lagerhaus informiert. Carruthers: Ein Elektriker, Stammpersonal wie Nyborg. Intelligent und reaktionsschnell. Brauchbar. Perez: Verschlossen. Einer der gemeinen Soldaten, der mit Hardy gekommen war, hatte gerade eine Verletzung auskuriert. Vermutlich indianischer Abstammung. Bernstein: Ein unbeschriebenes Blatt, möglicherweise ein Spitzel Hardys, aber nicht sicher. Er hatte zum Institut gehört, wo er angestellt gewesen war. Die Gruppe wartete bereits auf ihn, als er die Baracke verließ. Fordyce händigte Steiner eine MP aus, gab ihm jedoch kein Reservemagazin. Er schien ungehalten über die Verspätung, sagte aber nichts. * Von den hohen Bergen, deren Hänge mit belaubten Urwäldern und Büschen von Azaleen und Rhododendron bewachsen waren, eilte ein kleiner Wildbach zu der weiten, kesselartigen Talsenke. Die Gruppe verharrte. An zahlreichen Stellen, wo das Bachbett steil über den Felshang abfiel, stürzte das Wasser in Miniaturfällen hinab, deren weiße Bogen in glitzernden Schaumwolken verschwanden, die sich über die dunklen Blöcke und Felsen ausbreiteten. Dort, wo der Bogen eines solchen Wasserfalls direkt auf Steine oder Felsen auffiel, zerschlug er sich zu Tausenden kleinster Tröpfchen, die im Glanz der Quartär-Sonne strahlenden Edelsteinen glichen, die nach allen Seiten umherflogen. An solchen Stellen des fallenden Wassers und des Wasserstaubs mit regenbogenartiger Lichtbrechung wandelte sich das Murmeln des Wildbaches in ein brausendes Tosen, das wie ein stolzes Lied durch den Urwald klang.
Vor ihnen breiteten sich weite Urwälder aus, die gelegentlich von großen Wiesen unterbrochen wurden. Über den niedrigen, schwertförmigen Blättern der Gräser und den Farbflecken der Blüten ragten große Mengen hohen Buschwerks auf. Viele der Sträucher ragten mit starken Ruten empor. Manche bildeten grüne Fransen, die sich blähten, sobald man auf sie trat. Aus einem dichten Oleander bestand, der knapp am Fuße eines Hügels wuchs, brach krachend ein Amphycion. Es war ein Raubtier und hatte die Größe eines Wolfes, aber es glich eher einer Kreuzung zwischen einem Hund und einem Bär, war von einem groben, bräunlichen Fell bedeckt, das unterhalb der Kehle ein helleres Bruststück hatte. Der mächtige Körper ruhte auf starken Beinen, die schwerfällig und unbeholfen, für einen schnellen Lauf ungeeignet waren. Das Tier gehörte zu den urtümlichen Typen von Raubtieren, in denen hunde- und bärenartige Merkmale stark vermischt waren. Hamilton hob seine Waffe und sah Fordyce fragend an. Der Leutnant winkte ab. Anscheinend, so stellte Steiner fest, faszinierte ihn das Tier genauso wie ihn selbst. Im Lager hatten sie bisher wenig Gelegenheit gehabt, die Tiere dieser Zeit ausgiebig in Augenschein zu nehmen, denn sie näherten sich der Energiesperre nur in der Nacht, weil das Licht sie anlockte. Nachdem er das Dickicht verlassen hatte, lief der Amphycion zu dem Wildbach, verharrte eine Weile unentschlossen und ging dann vorsichtig das Ufer entlang, sorgsam darauf achtend, daß er nicht in das wild dahinschießende Wasser abstürzte. Leise folgte die Gruppe ihm. Jetzt übernahm Steiner die Führung. Er war nicht wenig überrascht, daß Fordyce sie ihm nicht streitig machte, aber offenbar war der dynamische junge Mann nur darauf bedacht, als guter Jäger nach Camp McCarthy zurückzukehren, nicht als guter Führer oder Scout. Sie fanden das Tier über dem Leichnam eines zerschmetterten Riesenmolchs stehend. Der Körper des Molchs hatte sich im Stamm eines umgestürzten Baumes verfangen, der quer über das Bett des Wildbaches gefallen war. Er war bedeckt mit Wunden, die entstanden waren, als ihn das wilde Wasser von den Berghöhen in das Tal hinabgetragen hatte. Anscheinend lebten die Molche hauptsächlich in den kühlen Gewässern der Hügel, in tiefen und stillen Tümpeln, oder in Gebirgsquellen, wo sie unter Felsblöcken oder unterspülten Ufern versteckt auf Würmer, Fische
oder Frösche lauerten. Kaum hatte der Amphycion seine Zähne in den Hals geschlagen, als er ein wimmerndes Geräusch ausstieß. Schaudernd wich er vor dem toten Molch zurück. Scheinbar schmeckte ihm das kalte Fleisch der verendeten Kreatur nicht. »Ist das... das Ding da eßbar?« fragte Hamilton blöde. Steiner wäre ihm beinahe an die Gurgel gefahren, denn der Amphycion richtete die Ohren auf und war im gleichen Augenblick im Dickicht verschwunden. Fordyce fluchte, schnauzte den Soldaten an und meinte dann: »Ich denke, wir schlagen hier irgendwo unser Jagdlager auf und kümmern uns um einen fetten Braten. Hamilton?« »Sir?« Fordyce kam nicht mehr dazu, seinem verläßlichsten Mann eine Anweisung zu erteilen. In dem Moment, in dem er den Mund öffnete, ließ eine gewaltige Explosion den Dschungel erzittern. Steiner warf sich zu Boden, und die anderen taten es ihm gleich. Eine Druckwelle raste über sie hinweg, brachte die Zweige der umliegenden Bäume zum Rascheln und sorgte dafür, daß in ihrer unmittelbaren Umgebung die Vögel tot von den Bäumen fielen. Erschreckte Geräusche aus allen Richtungen, das Trappeln von Hufen. Der Wald begann plötzlich zu leben. »Was war das?« fragte Hamilton blöde. Er hatte die Augen weit aufgerissen. »Eine Explosion«, erwiderte Steiner unnötigerweise, »Im Camp muß etwas geschehen sein. Mein Gott, es wird doch nicht...« Er dachte an Levys Anhänger. Hatten sie einen Aufstand versucht, nachdem ein Großteil von Hardys Offizieren Camp McCarthy verlassen hatte? Fordyce zog seine Pistole, stand auf und hielt den Lauf der Waffe auf den verwirrten Steiner gerichtet, der sich fluchend den Sand aus den Augen rieb. »Geben Sie die MP her, aber schnell«, schrie er. Dann: »Hamilton, entwaffnen Sie die anderen!« Steiner schrie: »Sind Sie verrückt geworden, Mann? Was soll...« »Keine Diskussion!« Fordyce riß ihm die Waffe aus der Armbeuge. Auch die anderen ließen sich ohne Gegenwehr entwaffnen. Die Männer wirkten blaß; nur Hamilton war die Ruhe in Person. An seinem Gesicht konnte Steiner sehen, daß er gar
nicht darüber nachdachte, welchen Grund Fordyce hatte, die Mitglieder seiner Gruppe zu entwaffnen. Er war ein Befehlsempfänger, mehr nicht. »Wir können uns alle im klaren darüber sein, daß die Aufrührer ein Attentat auf Präsident Hardy verübt haben«, rasselte Fordyce, »Sie, Steiner, gehören pauschal gesehen ebenfalls zu den Elementen, die in dieser Situation von nichts anderem reden als von Demokratie und ähnlichem Unfug. Ich sehe in dieser Lage keine andere Möglichkeit, als mich auf die Leute zu verlassen, denen ich hundertprozentig über den Weg trauen kann. Und dazu zählen Sie leider nicht!« »Was tun wir jetzt?« fragte Nyborg. Er warf Steiner einen Blick zu, der besagte, daß er jede Gelegenheit nutzen würde, um Fordyce ein Bein zu stellen. »Wir gehen nach Camp McCarthy zurück!« bestimmte Fordyce. »Steiner geht voran. Und keine verdächtigen Bewegungen, wenn ich bitten darf! Ich verstehe keinen Spaß!« Mit zusammengebissenen Zähnen schritt Steiner der kleinen Gruppe voran. Hinter ihm kam Hamilton, der ihm den Lauf seiner Waffe in die Hüfte drückte, gefolgt von Carruthers und Perez, die nebeneinander gingen. Bernstein und Nyborg machten den Schluß, und hinter ihnen marschierte mit flackernden Augen und nervös zuckenden Gesichtsmuskeln Leutnant Fordyce, der sich zum ersten Mal gar nicht wohl in seiner Haut fühlte, denn das plötzlich einsetzende Gekrache von Dutzenden von Schußwaffen deutete in der Tat darauf hin, daß im Camp eine offene Revolte ausgebrochen war. Steiner überschlug seine Chancen. Es war keinesfalls sicher, daß Levys Anhänger der waffentechnisch gesehen starken Übermacht Hardys Herr werden konnten. Wenn die Rebellen den kürzeren zogen, war es um sie geschehen. Außerdem kannte Steiner Archer gut genug: Der ideologische Wachhund Hardys würde jeden aufknüpfen lassen, den er in die Finger bekam, aus Angst, er könnte sich an einem neuen Aufstand beteiligen. Archer ging kein Risiko ein, das war sicher. Die Chance kam, als Hamilton über eine aus der Erde ragende Wurzel stolperte und nach vorn fiel. Seine MP fiel zu Boden. Carruthers riß sie an sich, während Steiner Hamilton einen Schlag in den ungeschützten Nacken versetzte. Mit einem Grunzen brach Hamilton völlig zusammen.
Ein Schuß krachte und Carruthers schrie hell auf. Ehe er die erbeutete MP hatte in Anschlag bringen können, hatte Fordyce bereits geschossen. Perez trat zu. Fordyce taumelte. Nyborg riß an Fordyces MP, bekam sie zu fassen und löste eine Salve aus, die in den weichen Boden krachte. Bernstein verhielt sich völlig ruhig. Er stand mit aufgeblähten Nasenflügeln neben dem Offizier und warf gehetzte Blicke um sich. Nachdem Steiner Carruthers die Waffe aus den verkrampften Fingern gelöst hatte, zielte er genau auf Fordyces Bauch. Der Leutnant wurde in der gleichen Sekunde weiß wie eine Wand. Aber er hob die Hände und überließ Nyborg seine gesamten Waffen. »Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Steiner«, knirschte er. »Glauben Sie nicht, daß Sie diese Meuterei überleben werden.« »Halt die Schnauze!« Perez knuffte Fordyce eine Faust in die Rippen. »Lange genug habe ich mir dein dummes Geschwätz anhören müssen, du Hund! Ich werde...« »Gar nichts wirst du, Diego«, unterbrach Steiner den Indianer kalt. »Wir haben mit den Methoden dieser Herren nichts gemein, hast du verstanden?« »Carruthers ist tot«, sagte Nyborg leise. Hamilton seufzte und rappelte sich auf. Sein Gesicht zeigte ungläubiges Erstaunen. »Sie haben sich da in eine dumme Lage gebracht«, zischte Fordyce böse. »Wenn wir ins Camp zurückkehren, haben Sie nur zwei Möglichkeiten: Entweder haben die Rebellen gewonnen oder verloren. In letzterem Fall wird man euch alle gleich mit an die Wand stellen!« »Niemand kann uns dazu zwingen, ins Lager zurückzukehren«, warf Nyborg ein. »Wovon, wollt ihr hier draußen existieren? Von Wurzeln und toten Riesenmolchen?« Fordyce lachte zynisch. »Selbst dann wird man euch jagen und umlegen, verlaßt euch dara...« Wie auf ein Kommando hörte die wilde Schießerei, die aus der Richtung von Camp McCarthy kam, auf. Einige Sekunden lang herrschte eine grabesähnliche Stille, in die sich zaghaft das Gefiepe eines unsichtbaren Tieres mischte. Die Männer atmeten auf, aber immer noch quälten starke Zweifel ihre Herzen. Warum diese Stille? Wenn ein Volk über seine Unterdrücker siegt, dachte Steiner, ist Jubel angebracht. Warum sind sie so
ruhig? Es gab nur eine Lösung: Hardy hatte die unvorbereitete Rebellion niedergeschlagen. Plötzlich krachte es wieder. Steiner sah, wie Bernstein mit einem überraschten Augenausdruck die Arme hochriß und nach hinten fiel. Dann kamen die Geschosse aus allen Himmelsrichtungen. * Sie waren von einer Jagdgruppe entdeckt worden, die sich zu Beginn der Schießerei im Camp McCarthy ebenfalls im Dschungel aufgehalten hatte. Steiner entdeckte fast ein Dutzend schwerbewaffneter Männer, die aus dem Dickicht brachen und ihren Standort wild unter Beschuß nahmen. Eine junge Frau gehörte dazu, und als sie laute Befehle zu schreien begann, erkannte Steiner in ihr Hardys Tochter. Zweifellos hatten sie ihn und seine Gruppe aus der Ferne beobachtet und aus den drohend auf Fordyce gerichteten Waffen den richtigen Schluß gezogen. Seltsam war nur, daß sie keinerlei Rücksicht auf ihren Mann nahmen. Vom Boden aus erwiderten sie das Feuer. Fordyce machte einmal den Versuch, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen, aber anscheinend wurde sein Versuch von der Gegenseite mißdeutet. Trommelfeuer schlug ihm entgegen, und mit zitternden Knochen robbte er in die schützende Mulde zurück. »Geben Sie mir eine Waffe, Hauptmann«, bettelte Hamilton. »Ich will nicht hier krepieren, nur weil diese Idioten mich dort für einen Überläufer halten!« »Ruhig!« Steiner feuerte weiter. Ein Aufschrei verkündete einen Treffer. Nyborg und Perez mähten mit ihren Waffen die Umgebung ab. Laute Flüche kamen aus dem Dickicht, dann die sich überschlagende Stimme von Judith Hardy. »Legen Sie die Waffen nieder! Sie haben keine Chance, hier lebend herauszukommen!. Sie sind umzingelt, Steiner!« Anstelle einer Antwort jagte Steiner eine erneute Salve hinaus. Hartes Feuer antwortete ihm und zwang sie, die Köpfe einzuziehen. Es war eine vertrackte Situation. Die Knallerei würde binnen kurzer Zeit die anderen ausgeschickten Kommandos alarmieren. Und was, wenn Verstärkung aus dem Camp kam?
»Wir müssen hier weg«, zischte Steiner Nyborg und Perez zu. »Und zwar schnell!« »Wir haben doch zwei Geiseln«, protestierte Nyborg. »Können wir nicht...« »Die nehmen keine Rücksicht darauf«, sagte nun auch Perez. »Fordyce und Hamilton sind völlig nutzlos für uns. Steiner hat recht. Laß uns die Füße in die Hand nehmen!« »Eine Waffe!« heulte Hamilton. »Gebt mir eine Waffe!« Fordyce drosch ihm mit einem verächtlich verzogenen Gesicht die Faust unters Kinn. Der bärenstarke Mann dachte nicht daran, sich gegen seinen Vorgesetzten zu wehren. Kleinlaut preßte er sich gegen die Erde, verdeckte das Gesicht mit beiden Händen. »Wir sprechen uns noch«, keuchte Fordyce, als Steiner Perez und Nyborg vor sich her in die Büsche trieb. Es war ein Wunder, daß sie aus dem Kessel herauskamen, ohne daß eine Kugel sie traf. Die drei Männer liefen Seite an Seite, deckten die Angreifer mit einem wahren Geschoßhagel ein und stürmten im Zickzack durch das Unterholz. Bald verklangen die Schüsse in der Ferne. Aber Steiner, Nyborg und Perez machten immer noch nicht halt. Sie brachen durch den Urwald wie drei junge Elefantenbullen. Krachend zerbrach dürres Holz unter ihren Militärstiefeln. Sie waren in Schweiß gebadet, als sie das erste Mal rasteten. Steiner wurde von einer seltsamen inneren Unruhe erfaßt. In gewisser Beziehung hatte Fordyce natürlich recht gehabt, mit seinem Vorwurf, daß es nicht einfach sei, in dieser urweltlichen Atmosphäre durchzuhalten. Eine Kontrolle ergab, daß sie zusammen noch über knapp hundert Schuß Munition für die Maschinenpistolen verfügten. Steiner trug zudem noch einen Revolver, aber er hatte nur ein Ersatzmagazin. Er drängte die Männer weiter. Zuerst mußten sie aus der näheren Umgebung von Camp McCarthy verschwinden, denn es war so sicher wie das Amen in der Kirche, daß Hardy ihnen ein Kommando auf die Fersen hetzen würde. Perez, der einiges vom Spurenlesen verstand, machte sich gleich daran, ihre Fährte kunstvoll zu verwischen. Sie wateten durch einen Bach, liefen eine halbe Stunde der Strömung entgegen und gingen dann auf einen Felsenboden über, wobei sie sorgsam darauf achteten, daß ihre genagelten Stiefel keine verräterischen Schrammen hinterließen.
Erst gegen Abend hatte Steiner den Eindruck, daß sie weit genug waren. Zwischen ihnen und Camp McCarthy lagen mehr als fünfzehn Kilometer in der Luftlinie. Die Nacht verbrachten sie eng aneinandergeschmiegt unter einem Felsenvorsprung, während rings um sie herum der Urwald zu seinem nächtlichen Leben erwachte. Am Morgen entdeckte Nyborg einen Frühmenschen. * Der Mann war mit leichten Fellen bedeckt und trug das blauschwarze Haar, das er hinter dem Kopf mit einer Sehne zusammengebunden hatte, bis auf die Schulterblätter. Offenbar befand er sich auf der Suche nach etwas Eßbarem, denn er bückte sich in gewissen Abständen, scharrte in der Erde oder im Gras und schritt, nachdem er das, was er gefunden hatte, verschwinden ließ, weiter. Steiner, Perez und Nyborg, die auf der Kuppe eines erdbedeckten Hügels lagen, beobachteten den Mann fasziniert. Es war das erste Mal, daß sie einen der Frühmenschen aus der Nähe sahen. Einige hatten sich in den vergangenen Monaten gelegentlich dem Lager genähert, aber als ob ein innerer Sinn sie gewarnt hätte: Sie waren dem Energiezaun, der sie sofort getötet hätte, niemals zu nahe gekommen. »Wir folgen ihm«, flüsterte Steiner heiser, denn die Sache faszinierte ihn ungeheuer. Es dauerte allerdings eine gewisse Zeit, bis der Frühmensch seine Suche abbrach, seinen Lederbeutel schulterte und Anstalten machte, dorthin zurückzukehren, wo er hergekommen war. Seine Verfolger hängten sich lautlos wie Schatten an seine Fersen. Nach einer halben Stunde betrat der Frühmensch eine winzige Lichtung, die genau in der Sonne lag. Steiner entdeckte eine sprudelnde Süßwasserquelle und zwei Erdgrubenhäuser, von denen eines fertig, das andere noch im Bau war. Er erinnerte sich an seine Schulzeit. Die Häuser verdankten ihren Namen dem Umstand, daß sie zum Schutz vor Kälte und Wind teilweise in die Erde gegraben wurden. Zum Bau eines Erdgrubenhauses wurde eine etwa dreißig Zentimeter tiefe Grube mit einem Durchmesser von mindestens
einen Meter achtzig in den Boden gescharrt. Darüber kam ein Gerüst, das mit Riemen befestigt und unten mit Steinen, Erdreich oder Rasenstücken beschwert wurde, um den Wind abzuhalten. Bis auf die Feuerstelle in der Mitte des Hauses wurde der ganze Boden dann mit Fellen bedeckt. Aber es gab für die Menschen kaum eine Möglichkeit, sich gegen die Mückenschwärme zu schützen, die sich in den unzähligen Teichen und Seen dieser Zeit entwickelten. Deshalb trugen sie ihre Fellkleidung oft bei Tag und bei Nacht, um nicht bei lebendigem Leib aufgefressen zu werden. Auf dem Lagerplatz waren mehrere menschliche Gestalten zu sehen. Zwei Männer waren eben dabei, das Gerüst des im Bau befindlichen Erdgrubenhauses mit Fellen zu versehen, während eine Frau vor einem Feuer kniete und es zu größerer Leistung anzufachen versuchte. Eine zweite Frau saß einige Schritte daneben und war damit beschäftigt, die Haut eines getöteten Karibus abzuschaben. Ein Kind anscheinend ein etwa zwölfjähriges Mädchen schaute interessiert den hausbauenden Männern zu. Der Neuankömmling wurde mit einigen einem Knurren nicht unähnlichen Lauten begrüßt. Er zeigte den Ledersack vor und schüttete eine Ladung Pilze auf eine ausgebreitete Tierhaut. Dann machte er sich auf den Weg zu der bereits. fertigen Hütte, wo eine dritte Frau ihn auf den Knien sitzend erwartete. Fast konnte sich Steiner vorstellen, unter welchen Umständen einst die Vorfahren dieser Menschen in die Neue Welt gekommen waren: Sicherlich waren es nur wenige Familien gewesen, die mit dem Rücken zur arktischen Sonne Asien verließen und der Spur der Karibus, von denen sie abhängig waren, nach Osten gefolgt waren. Welche Entbehrungen mußten diese Menschen, die von ihren Vorfahren heute nicht mehr das geringste wußten, auf sich genommen haben, um das gewaltige Bering-Meer zu durchqueren, das in dieser Epoche noch immer ausgetrocknet war. Es war fast sicher, daß ihre Vorfahren sich ausschließlich von der Jagd ernährt hatten, denn den größten Teil des Jahres gab es für sie keine andere Wahl. In den kurzen Sommern des Nordens, wenn aus dem öden Land gelber Mohn und Saxifrage sprossen, konnten sie eßbare Grünpflanzen, Wurzeln und Ähnliches sammeln. Es gab auch Eier von Zugvögeln, die zu Millionen an den Ufern der Buchten nisteten, und an den sibirischen Ständen und Sandbänken,
konnte man Muscheln sammeln. Es gab auch genügend Fische und während der Laichzeit Schwärme von springenden Lachsen. Aber acht Monate im Jahr war das Land mit Schnee und Eis bedeckt. Die Pflanzen zugedeckt oder im Boden ruhend, die Vögel in den Süden geflogen, die Muschelbänke vereist oder gefroren. Hier am Rand der bewohnten Welt war das Leben nicht leicht. Aber je weiter die Stämme nach Norden zogen, desto besser lernten sie, in der Arktis zu überleben. Sie hatten Beringia, jene weite Fläche welliger, baumloser Ebenen, die nur hin und wieder von Hügelketten durchzogen und mit zahllosen Seen gesprenkelt waren, durchquert. Sie hatten zwischen jenen beiden riesigen Monumentalgletschern gefunden, der Kanada in zwei Hälften spaltete und jetzt waren sie hier, hatten die Vergangenheit vergessen. Es war Nyborg, der sich durch ein unvorsichtiges Niesen verriet. Die Frühmenschen hoben die Köpfe, entdeckten die drei schmutzigen, bärtigen Männer und sahen einander an. Steiner gab seinen Leuten einen Wink. Er sah ein, daß es keinen Zweck mehr hatte, sich zu verstecken. Langsam gingen sie auf das Lager zu, alles im Blickfeld behaltend. Die Frühmenschen kamen nun zusammen und stellten sich abwartend auf. Steiner suchte nach Waffen in ihren Händen, sah aber keine. Wenn sie Angst vor ihnen hatten, zeigten sie sie nicht. Nur das Kind klammerte sich an eine der Frauen. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Frühmenschen eher wie Mongolen statt wie Indianer. Sie waren von mittelgroßer Gestalt, besaßen mandelförmige Augen und gesunde Zähne, die freundlich blitzten. Ihre Augen schienen keinerlei Mißtrauen zu kennen. Wortlos deutete einer der Männer auf die Pilze, die der Mann, den sie verfolgt hatten, dort abgelegt hatte. »Sie laden uns zum Essen ein, glaube ich«, ließ sich Perez vernehmen. »Sollen wir die Einladung annehmen?« fragte Steiner. Er war sich nicht sicher, ob die Gefahr einer Vergiftung bestand. Idiotischerweise erhoffte er sich von Perez eine genauere Auskunft, weil er ebenfalls ein Indianer war. Allerdings dauerte es nur eine Sekunde, bis er an Perez' belustigtem Blick feststellte, daß auch er keine Ahnung vom Leben und den Sitten seiner Vorfahren hatte.
Offenbar waren die Frühmenschen intelligenter als man bislang angenommen hatte. Sie versuchten von sich aus Gespräche in Gang zu bringen, die natürlich wenig ergiebig waren. Dennoch erwiesen sich Steiner und Perez als wahre Verständigungsgenies. Die Sprache ihrer Gastgeber, ein Gemisch aus nur wenigen Vokalen und vielen Kehllauten, war auf rein gegenständliche Dinge beschränkt. Rasch lernten die Männer einige gebräuchliche Vokabeln, während die englische Sprache den Frühmenschen doch noch erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Steiner, Nyborg und Perez beschlossen, für die nächste Zeit bei ihren neuen Freunden zu bleiben und begannen sofort nach dem schmackhaften Karibubraten, zu dem man sie mit freundlichen Gesten einlud, mit dem Bau einer Hütte. Die Frühmenschen unterstützten sie dabei, als hätten die Ankömmlinge bereits schon immer zu ihrer Familie gehört, stifteten einen Packen Felle, mit dem sie das Gerüst bezogen und den Boden auslegten. Perez schenkte ihnen für ihre Mithilfe die mittlerweile leergeschossenen Maschinenpistolen von Fordyce, Hamilton und Bernstein, die bald darauf als Ziergegenstände an den Innenwänden der Erdgrubenhütten hingen. Die nächsten Tage vergingen für die Männer in rasender Schnelle. Sie lernten mit großem Eifer die Sprache ihrer Gastgeber und gingen mit ihnen auf die Jagd, um einen Fleischvorrat für den nahenden Winter anzulegen. Dabei bedienten sie sich der gebräuchlichen Waffen dieser Epoche: der Lanze, des Steinbeils und der Keule. Da sie Hardys Männer unter keinen Umständen auf ihre Spur zu locken beabsichtigten, mußten, sie einfach auf ihre Feuerwaffen verzichten, deren verräterischer Donner weithin zu hören war. Außerdem galt es um jeden Preis Munition zu sparen und die neugewonnenen Freunde, die schon bei einem gewöhnlichen Gewitter vor dem Zorn obskurer Dämonen zu zittern begannen, nicht zu verunsichern. Die Frühmenschen weihten die Männer in die Geheimnisse ihrer Jagd ein. Sobald sich eine Karibuherde näherte, versteckten sie sich unter den Fellen bereits erlegter Tiere, an denen sich noch der Kopf mit dem Geweih befand und schlichen sich aus einer günstigen Richtung an die Herde heran. Dabei konzentrierten sie sich auf jene Karibus, die sich ein wenig vom Gros der Herde entfernt hatten. Und dann sprach die Gewalt der Lanzen.
Wie Steiner herausfand, hing buchstäblich die gesamte Existenz der Frühmenschen von den Karibus ab. Die hirschartigen Tiere, die das Land zu Hunderten und Tausenden durchzogen, lieferten den Siedlern der Neuen Welt eine ganze Reihe lebenswichtiger Dinge: köstliches Fleisch und Fett zum Essen, Felle für die Kleidung und zum Bau von Hütten, Sehnen für Schnüre sowie Knochen und Geweihe, aus denen der Jäger allerlei Geräte und Werkzeuge herstellen konnte von Schabern bis zu Nadeln. Besonders begehrt waren die Winterfelle derjenigen Karibus, die aus dem Schnee und Eis des Nordens kamen. Sie waren weich und samtig und wurden zu bequemen Kleidungsstücken verarbeitet. Warum diese Felle besonders warm waren, konnten die frühmenschlichen Jäger allerdings noch nicht wissen: Karibuhaare enthielten im Gegensatz zu den Haaren vieler anderer Tiere mikroskopisch kleine Hohlräume, die den Wärmeverlust verringerten und das Fell zu einem der besten natürlichen Rohstoffe machten. Perez, der es sich nicht verkneifen konnte, als Entwicklungshelfer seiner eigenen Vorfahren aufzutreten, brachte ihnen ebenfalls einige Tricks bei, so zum Beispiel, wie man effektivere Lanzenspitzen herstellte, wie man sie befestigte und wie man Feuer legen konnte mit Hilfe einer selbstgebastelten Apparatur, die Steiner einst in einem Museum für indianische Kunst gesehen hatte. Zwar war das Feuer den Frühmenschen nicht unbekannt, aber das, das sie seit mehr als einem Jahrzehnt besaßen, war durch einen Wiesenbrand entstanden und wurde seit dieser Zeit gehegt und gepflegt, indem einer der Familie es ständig bewachte und mit Holz fütterte. Die Tage wurden zu Wochen. Der Sommer, der sich bereits dem Herbst zugeneigt hatte, als sie Camp McCarthy verlassen hatten, war den ersten tagelangen Regenfällen gewichen, die sich mit ersten Herbststürmen abwechselten. Die Frühmenschen begannen ihre unterirdisch gelegenen Vorratsräume zu füllen und empfahlen das gleiche auch Steiner, Nyborg und Perez. Das Gesetz der Wildnis war in dieser Region noch härter als in der Wildnis des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Jeder, der im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte war, hatte die Pflicht, für sein eigenes
Durchkommen zu sorgen. Steiner und seine Leute wußten zudem nur zu gut, daß die Geschichtsforschung erwiesen hatte, daß es in der späten Vergangenheit mehr als einmal vorgekommen war, daß die älteren Mitglieder der Frühmenschenstämme freiwillig die Hütten ihrer Kinder verlassen hatten, um ihnen in der kargen Winterzeit nicht zur Last zu fallen. Eines Tages fragte Steiner: »Wie lange sind wir eigentlich schon hier?« »Genau achtundvierzig Tage«, erwiderte Nyborg. Wie die anderen nannte er inzwischen ebenfalls einen dichten Wikingerbart sein eigen. »Achtundvierzig?« Steiner erschrak. »Mir kommt es eher wie eine halbe Ewigkeit vor.« »Was mich wundert«, warf Perez ein, »ist, daß Hardy noch keinen Versuch unternommen hat, uns aufzuspüren.« »Bist du dir sicher, daß er das noch nicht getan hat?« Steiner schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Tag lang damit gerechnet, daß er uns aufgibt. Hardy weiß genau, daß wir eine ständige Bedrohung für ihn sind. Wir sind bewaffnet und brauchen auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Er hingegen ist bestrebt, sein kleines Kaiserreich unter allen Umständen am Leben zu erhalten. Hardy kann sich nicht leisten, am laufenden Band Leute zu verlieren, versteht ihr? Er braucht Arbeitskräfte, denn er hat dafür zu sorgen, daß seine Hundertschaft über den Winter kommt.« »Hm«, machte Perez. »Das stimmt. Für drei Männer ist es kein Auftrag, durchzukommen. Aber für eine große Menschenmenge? Im Moment wird er andere Sorgen haben, als uns nachzujagen, weil er damit rechnen muß, daß wir noch mehr seiner unfreiwilligen Untertanen zu einem Aufstand reizen, wenn seine bewaffnete Garde aus dem Haus ist.« »Mir juckt es in allen Gliedern«, gab Nyborg zu. »Wollen wir nicht mal nachsehen, was Hardy so macht?« Ein heraufziehender Sturm machte ihren Plan zunichte. Zwei Tage lang hielten sie sich in ihrer Hütte auf. Dann rauschte ein Regen nieder, der in wenigen Minuten die ganze Lichtung in ein Feld aus Schlamm verwandelte. »Offen gesagt«, nahm Nyborg am dritten Tag den Faden wieder auf, »sehne ich mich nach ein wenig Zivilisation, und wenn sie auch nur aus ein paar Baracken besteht. Und nach einer Frau.« »Die Frau kannst du dir ganz schnell wieder aus dem Kopf
schlagen, Björn«, sagte Steiner. »Für uns ist da keine Chance drin. Jedenfalls nicht, was die Frauen in Camp McCarthy betrifft. Die hat Hardy hinter Schloß und Riegel« Nyborg verzog das Gesicht. Ich will verdammt sein, dachte Steiner, aber wir kommen hier auf Probleme, die wir besser ausgeklammert hätten. »Ich will doch nur eine sehen«, rief Nyborg in gespieltem Zorn aus. »Nur eine Frau sehen, Mann, verstehst du das denn nicht?« Die Sexualität war bisher ein Thema gewesen, das die drei Männer mit allen Konsequenzen ausgeklammert hatten. Steiner, der sowieso seit mehreren Monaten so gut wie »entwöhnt« war, kannte den Koller, der alle Männer der ersten Expedition über kurz oder lang ergriffen hatte. Jetzt war also Björn Nyborg an der Reihe, auch wenn er den Anschein zu erwecken versuchte, seine Probleme witzig darzustellen. Die Sache konnte ernst werden. Diego Perez hatte seine Emotionen weit mehr unter Kontrolle, aber Steiner waren keinesfalls die begehrlichen Blicke entgangen, mit denen der Indianer die Frauen ihrer Gastgeber gemustert halte. Die Frühmenschen-Frauen waren für ihr Schönheitsideal sicherlich als häßlich zu bezeichnen, aber es war eine Binsenweisheit, daß in einer Zeit völliger sexueller Abstinenz selbst die Männer, die die inneren Werte einer Frau mit Ignoranz übergingen, sogar im Teufel einen Engel erblickten. Die Frühmenschen-Frauen waren sicherlich nicht schön. Sie waren auch nicht charmant, denn das harte Leben, dem sie ausgesetzt waren, ließ sie früh altern und verbraucht erscheinen. Aber sie waren nett, höflich und hilfsbereit - und das konnte ein Punkt sein, der selbst den Mann änderte, der bisher nur auf jene Charaktere reagierte, die sich zu verkaufen wußten. »Packt eure Klamotten«, sagte er am Morgen des nächsten Tages, als der Regen sich verflüchtigt hatte und die QuartärSonne schüchtern und zaghaft ihre ersten Strahlen über die Erde schickte. »Wir gehen etwas bummeln.« Nyborg und Perez ließen sich das nicht zweimal sagen. Rasch schnürten sie ihre Bündel, schulterten die Waffen und machten sich abmarschbereit. Es kostete Steiner einige Mühe, den Frühmenschen ihren unerwarteten Aufbruch plausibel zu machen. Sie schienen nicht gerade begeistert zu sein, denn in der Umgebung, in der sie
lebten, war einer kleinen Familie jede zupackende Hand von immensem Nutzen. Sie brauchten länger als eine halbe Stunde dazu, um Achram, dem Ältesten der kleinen Frühmenschensippe, begreiflich zu machen, daß sie etwas antrieb, das sie nicht begreiflich machen konnten. »Winter kommen bald«, sagte Achram »Mit viel Eis. Viel Schnee. Brüder sterben, wenn nicht Hütte über Kopf. Wir viel Fleisch brauchen, wenn kalt. Uns Brüder fehlen.« Auf Perez und Nyborg deutend, erwiderte Steiner: »Brüder viel allein. Frauen brauchen, sonst traurig werden. Du verstehen?« Achram nickte. »Nicht gut wenig Frauen. Wir wissen. Ihr Frauen holen?« Steiner zuckte die Schultern. »Nicht wissen. Wir Frauen suchen. Wenn welche gefunden, wir kommen zurück. Wenn nicht Frauen gefunden, wir kommen auch zurück. Achram verstehen?« »Ay.« Der Frühmensch nickte. Seine Familie versammelte sich vor den Hütten und starrte den drei einsamen Männern nach, die sich dem Urwald zuwandten und bald in ihm verschwunden waren. * In Camp McCarthy hatte sich viel verändert, seit der mißglückte Aufstand niedergeknüppelt worden war. Die Leute, die nicht auf Hardys Seite standen, waren mittlerweile bekannt und unterstanden einer starken Kontrolle. Ständig waren Jagdkommandos unterwegs, um den Frischfleischvorrat zu ergänzen und Bestände für den kommenden Winter anzulegen. Mehrere Ingenieure und Techniker waren dabei, die neuen Lagerhäuser in Kühlräume auszubauen, was natürlich aufgrund des dazu fehlenden Materials einiges Kopfzerbrechen bereitete. Es hatte auch mehrere Krankheiten gegeben, die der Führung von Camp McCarthy Rätsel aufgaben. Am meisten verbreitet war ein starker Durchfall, der darauf zurückzuführen war, daß die Menschen sich in einer völlig neuen Weise ernährten. Da es die Bakterien, an die der menschliche Organismus gewöhnt war, noch nicht gab, fehlte ihm auch eine gewisse Immunität gegen andere Erreger, auch wenn diese weniger gefährlich waren.
Es hatte einige Selbstmorde gegeben, über die jedoch Stillschweigen gewahrt wurde. Hardy verbat sich strikt die Kritik an seiner Arbeit und seinen Plänen. Seine Offiziere kuschten. Einen stark depremierenden Einfluß auf die Lagerbewohner hatte die Tatsache, daß Hardy seine Pläne geheimhielt und seine unfreiwilligen Untertanen erst damit überraschte, wenn es nichts mehr zu verbergen gab. So hatte er neben dem Palisadenbau, der Camp McCarthy das Aussehen eines massiven Forts verlieh, den Bau eines stark befestigten Zentralgebäudes vorangetrieben, das alle Attribute eines Palastes in sich vereinigte und nur durch einen Eingang zu betreten war, der dreieinhalb Meter über dem Erdboden lag. Um in dieses Gebäude, das sich seiner Vollendung näherte, eintreten zu können, mußte man eine Leiter benutzen, die Von oben herabgelassen wurde. Dazu hatte Hardy von einem seiner Hauptleute eine Flagge entwerfen lassen, die seit drei Wochen auf dem Dach dieses Gebäudes wehte: Sie zeigte auf schwarzem Untergrund eine eiserne Faust, die zum Schlag geballt war. Beim ersten Flaggenhissen war es zu einigen Spötteleien von Seiten der Zivilbewohner des Lagers gekommen. Jetzt schmorten die Männer in einem rasch errichteten Gefängnis, das von einem hartgesichtigen Unteroffizier bewacht wurde. BRINGT DAS BOOT NICHT ZUM SCHWANKEN! stand auf einem hastig in die Erde gerammten Brett. * Angewidert beobachtete Judith Hardy die schweißglänzenden, muskulösen Oberkörper der Männer, die, nachdem sie mit dem Palisadenzaun fertiggeworden waren, sich dem geräumigen, aus Baumstämmen gefertigten Pfahlhaus zuwandten, das ebenfalls seiner Vollendung entgegenschritt. Dieses Haus würde ihr Zuhause werden, und sie freute sich darauf, denn es verging kaum ein Tag, an dem sie die unterwürfige Speichelleckerei der höheren Offiziere nicht in einen hysterischen Anfall trieb. Judith haßte Männer ohne Rückgrat, und am meisten verachtete sie ihren Vater, diesen farblosen, sadistischen Lüstling, den nur eine ungeheure Verklemmtheit davon abhielt, die wenigen
Frauen, über die Camp McCarthy verfügte, zu seinem persönlichen Besitz zu erklären. Bis jetzt hatte Thomas O. Hardy sich vornehm zurückgehalten, aber was würde er tun, wenn er über eine uneinnehmbare Festung verfügte, von der aus er seine Aktionen steuern konnte, ohne ständig vor einem Attentat zu zittern? Zwei Männer hatten nach dem niedergeschlagenen Putsch versucht, ihm das Leben zu nehmen. Der erste, ein ehemaliger Untergebener Dr. Levys, war von Langley mit einem gezielten Schuß niedergestreckt worden, als er ihrem Vater ein Skalpell in die Brust jagen wollte. Der zweite war seltsamerweise einer von Hardys Vertrauensleuten gewesen: Ein Major mit dem Namen Carhart, der plötzlich den Revolver auf ihn gerichtet hatte. Das zweite Attentat hatte Archer verhindert. Judith schüttelte sich, wenn sie ihn sah. Der Mann sah einer Ratte nicht unähnlich, fand sie, und auch sein Verhalten hatte etwas Rattenhaftes. Wenn sein Blick sie traf, mußte sie an sich halten, um nicht auf ihn loszugehen. »In Gedanken?« Judith fuhr herum. Hinter ihr stand Edward Langley, die MP wie immer in der Armbeuge. Sein Grinsen wirkte leicht lädiert, denn er hatte die Nacht über kein Auge zugetan, seit Hardy für die Wachoffiziere, die die Arbeiten an seinem neuen Palast kontrollierten, doppelte Törns befohlen hatte. »Was ich denke, geht dich nichts an«, fauchte sie. »Scher dich auf deinen Posten, du Salonlöwe!« Langleys Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Er hatte seit geraumer Zeit den Eindruck erweckt, als habe er ein Anrecht auf sie. Nicht daß Langley ihr nicht gefiel. Der Mann sah sehr gut aus, war stark und intelligent. Und er war kein Duckmäuser. Aber sie wurde den Verdacht nicht los, daß er eine geborene Killernatur war, die sich stets auf die Seite schlug, bei der mehr heraussprang oder die gerade am stärksten war. »Nanu, Kätzchen, was...«, machte er erstaunt. Sie ließ ihn wortlos stehen und kehrte nach Baracke I zurück, wo ihr Vater zusammen mit Archer über den Bauplänen hockte. Hardy wirkte eingefallen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Die Attentate und der Putsch, der jetzt mehr als sieben Wochen zurücklag, hatten ihn ziemlich mitgenommen. Hektisch winkte er ab, noch ehe sie ein Wort gesprochen hatte.
»Ich halte diese Eintönigkeit nicht mehr aus, Vater«, sagte sie laut. »Ich werde verrückt in diesem Fort, wenn ich nicht bald nach draußen gehen kann und...« »Ich kann keinen Mann entbehren«, sagte Hardy wütend. »Ich kann auch allein gehen, Dad, das weißt du so gut wie ich!« Sie stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Das kommt nicht in Frage!« Seine Augen blitzten, als er das sagte. Die Heftigkeit seiner Stimme schockierte sie, denn so sprach er selten mit seiner einzigen Tochter. Im Moment hatte Hardy nur sein Hauptquartier im Kopf, denn Sicherheit ging ihm über alles. »Wenn du dich langweilst, kannst du das Quartier der Frauen inspizieren.« Zornig ging sie hinaus. Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätte vor Wut laut geheult, aber diese Blöße durfte sich eine Hardy nicht geben. Mit aggressiv vorgeschobenem Kinn begab sie sich in den hinteren Gebäudetrakt. Hier lebten die zwölf Frauen, über die Camp McCarthy außer ihr verfügte. Sie sollten die Garanten der Menschheit sein, wie sich ihr Vater auf seiner letzten Rede ausgedrückt hatte, die Urmütter der menschlichen Rasse. Seltsam war nur, daß keine der Frauen hinter den Ausführungen Hardys stand, im Gegenteil. Sie hatten sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, unter den einzelnen Offizieren verteilt zu werden, um eine Nachkommenschaft sicherzustellen. Mehrere der Frauen waren verheiratet, eine mittlerweile Witwe, weil ihr Mann versucht hatte, sie zu befreien und mit ihr in den Dschungel zu fliehen. Eine der Frauen war eine Farbige - und auch das hatte unter den mehr oder weniger rassistischen Offizieren Probleme aufgeworfen. Einige wollten die Botanikerin Nitha Smith dem »Volk« überlassen, aber andere hatten darauf hingewiesen, daß dies dazu führen könne, daß es in Camp McCarthy in einigen Jahren von Mischlingen wimmeln könne, worauf man sich schleunigst darauf geeinigt hatte, bei erstbester Gelegenheit Miß Smith zu sterilisieren. Die sich daraufhin anbahnende Empörung hatte beinahe dazu geführt, daß die Frauen sich gemeinsam das Leben zu nehmen versuchten. Das System steckt in der Klemme, dachte Judith, als sie den Aufenthaltsraum der Frauen betrat. Mein Vater ist nicht einmal mit Waffengewalt in der Lage, seine Ziele zu erreichen. Irgendwie erfüllte sie dieser Gedanke mit einer sadistischen Freude. »Achtung!« Eileen Thorne nahm Haltung an, als Judith das
Zimmer betrat. Sie salutierte und wollte Meldung machen, aber Judith winkte ab. Sieben Frauen befanden sich im Aufenthaltsraum und vertrieben sich die Zeit ihrer Isolation mit Lesen. Auch Miß Smith befand sich unter ihnen. Sie musterte Judith mit einem verächtlichen Blick. »Mich würde interessieren«, sagte Judith, während sie aus dem einzigen Fenster starrte, »wie Sie sich unsere Zukunft vorstellen.« Schweigen. Niemand antwortete. Sie drehte sich um. »Haben Sie dazu keine Meinung?« Irrte sie sich oder lächelten die Frauen? Im Gesicht von Miß Gaylord schien so etwas wie Sarkasmus aufzuleuchten. »Die Zukunft wird auf jeden Fall anders aussehen, als Sie sie planen«, erwiderte sie dann laut. »Wie meinen Sie das?« »Wie ich es sagte... Die größenwahnsinnigen Pläne Ihres verrückten Vaters sind zum Scheitern verurteilt. Glauben Sie nicht, daß das Massaker von vor sieben Wochen den Leuten das Genick gebrochen hat. Selbst die Leute aus Ihren Reihen sind nicht mehr zuverlässig, wie die mutige Tat von Major Carhart beweist.« Judith biß sich auf die Lippen. Die Festigkeit, mit der Lora Gaylord ihr geantwortet hatte, ließen in ihr Angstgefühle aufkeimen. Brodelte es bereits wieder im Untergrund? »Warum sind Sie gegen meinen Vater?« fragte sie vorsichtig. »Was haben Sie gegen ihn und gegen mich?« »Ihr Vater ist hier aufgetaucht und hat sich ohne uns zu fragen zu unserem Führer aufgeschwungen«, antwortete Miß Smith anstelle von Lora Gaylord. »Er baut allein auf die Macht der Gewehrläufe der ihm ergebenen Militaristen. Er hat uns von unseren Kollegen und Männern getrennt und betreibt ein Zuchtprogramm, in dem nur für weiße Menschen Platz ist. Er hat sich gegen demokratische Bestrebungen mit Schüssen gewehrt und setzt nun alles daran, hier einen Privilegienstaat aufzubauen, den wir nicht haben wollen!« »Hm«, machte Judith. Ihr leuchtete ein, daß verschiedene Klassen entgegengesetzte Interessen vertraten. Sie gehörte zu den Privilegierten und war bestrebt, ihre Privilegien zu erhalten, genau wie ihr Vater und die Offiziere. Miß Smith hingegen und mit ihr der größte Teil des ehemaligen Stammpersonals von Camp
McCarthy gehörten einer unterprivilegierten, einer beherrschten Schicht an, die kein Interesse daran haben konnte, auch hier so zu leben wie in der Welt, die für sie nun nicht mehr länger ein Maßstab war. Die Macht kam aus den Gewehrläufen der Offiziere, das stimmte. Aber wenn die Unterdrückten sich ihre langersehnte Freiheit nicht nahmen sollte sie sie ihnen dann schenken? Sollte sie das angenehme Leben, das sie geführt hatte und bald wieder führen würde, freiwillig abgeben? Sollte sie die Festung Hardys gegen einen Platz auf einem Kartoffelacker tauschen? Ihr war völlig klar, daß der Standpunkt, den sie vertrat, unmoralisch und opportunistisch war, aber als Produkt ihrer Erziehung würde sie bis zum letzten Atemzug für ihre Privilegien kämpfen. * Der schwarzhaarige Mann, der im Nieselregen der Nacht einsam seine Patrouille um Camp McCarthy ging, fühlte plötzlich einen heftigen Druck an seinem Hals. Dann tauchte ein blitzendes, langes Messer vor seiner Kehle auf. Entsetzt ließ er sein Gewehr fallen. »Keinen Laut!« zischte jemand an seinem Ohr. Dann sagte Steiners Stimme überrascht: »Mein Gott, Jason! Du bist das?« Der Wächter riß erschreckt den Mund auf, als sich der stählerne Griff lockerte. »Steiner du?« fragte er. Er war nicht weniger überrascht als der bärtige, langhaarige Mann, der hinter ihm in der Dunkelheit stand. »Ich dachte, du seist längst... längst tot!« Steiner zog Jason in eine Nische des Lagerhauses. »Wie du siehst, erfreue ich mich bester Gesundheit«, flüsterte er. »Und du? Gehörst du nun zu Hardys Schergen?« Der Mann wehrte entsetzt ab. »Was sollte ich denn tun? Wir sind nur noch wenige, die den Mut haben, erneut einen Vorstoß zu machen, aber bald wird es zu spät sein!« Er informierte Steiner über das große Gebäude, an dem alle Männer mit vereinten Kräften arbeiteten. Tatsächlich war viel geschehen, seit Steiner in den Dschungel geflohen war: Hardy hatte die Energiezäune abschalten lassen. um Strom zu sparen; man hatte eine drei Meter hohe Palisade um die Baracken gelegt, die fast fertig war.
»Als Hardy zum ersten Mal die Jagdkommandos ausschickte, glaubten wir freie Hand zu haben«, flüsterte Jason heiser. »Die meisten seiner Getreuen waren damals draußen, aber wir kamen gegen ihn einfach nicht an. Sieben Mann wurden erschossen, und Langley, dieser elende Bluthund, schleuderte eine Druckbombe in eine der Baracken, die zehn Männern die Lungen platzen ließ. Du kannst dir vorstellen, daß wir unter diesen Umständen keine Lust verspürten, weiterzumachen.« Steiner fluchte unterdrückt. Wenn die Männer weiterhin so planlos gegen Hardy vorgingen, würden sie sich bald selbst ausgerottet haben. Es mußte eine straffe Führung her, man mußte Kaderschulung betreiben und mit kleinen, aber wirksamen Sabotageakten anfangen. »Das haben wir auch schon eingesehen«, gab Jason ein wenig kleinlaut zu. »Da ich von keinem von Hardys Leuten als Rebell erkannt wurde, war es mir möglich, mich in die Reihen der Bewaffneten einzuschleichen. Aber die Chancen stehen schlecht, wenn nicht bald etwas Entscheidendes geschieht. Es gibt außer den alten Militaristen kaum jemand, der noch auf Hardys Seite steht, und das hat er sich und seinen dreckigen Methoden selbst zuzuschreiben.« Nun berichtete Jason über die kleinsten Kleinigkeiten, die sich während Steiners Abwesenheit in Camp McCarthy zugetragen hatten. Er berichtete von Hardys Menschenaufzuchtprogramm, von einem durchgeführten Euthanasieprogramm, das fünf schwerverwundete Männer das Leben gekostet hatte, weil sie als Amputierte Hardy nicht mehr von Nutzen waren. Der Mann, der Dr. Levys Arbeit übernommen hatte, war freiwillig aus dem Leben geschieden, weil er die Unmenschlichkeit nicht mehr mit ansehen konnte. »Hardy scheint sich also wirklich als der unumschränkte Herrscher des Quartärs anzusehen, wie?« fragte er spöttisch. Jason nickte. »Er benimmt sich schlimmer als Kaiser Nero. Und bald wird er alles umgebracht haben, was nicht hundertfünfzigprozentig auf seiner Seite steht!« »Dafür kann ich garantieren«, sagte plötzlich eine harte Stimme über ihnen. Steiner wollte aus seiner knienden Stellung hochfahren, aber der kalte Lauf eines Revolvers hinderte ihn daran. Kurz über seinem Kopf hatte sich ein Fenster geöffnet. Er konnte zwar
nichts sehen, aber er hatte bereits an der Stimme erkannt, daß es Hardys verfluchte Tochter gewesen war, die sie jetzt in der Zange hatte. »Miß Hardy, ich...«, setzte Jason an. »Halt den Mund!« schnauzte Steiner. Zu Judith Hardy gewandt: »Darf ich meinen Kopf drehen?« »Sie bleiben hübsch, wie Sie sind«, erwiderte sie fest, während Steiners Augen verzweifelt die Dunkelheit absuchten, in der er Nyborg und Perez erahnte. Was hatte sie vor? Wenn sie ihn töten wollte, könnte sie das sofort tun. Er spürte einen schalen Geschmack im Mund. Weder seine, noch Jasons Waffe war nahe genug, um etwas damit anfangen zu können. »Okay, ich gebe auf«, sagte er, scheinbar resignierend und hob die Hände. »Stehen Sie auf!« herrschte Judith ihn an. »Sie bleiben hocken, Jason! Lassen Sie das Gewehr in den Staub fallen!« Jason tat, wie ihm geheißen. In seinem breitflächigen Gesicht zuckte es. Aus den Augenwinkeln sah Steiner einen Schatten heranfliegen. Er warf sich gegen Jasons Beine und brachte den Mann zu Fall. Dann sah er Perez, der mit der Linken Judiths Waffe an sich riß und mit der Rechten ihren Mund verschloß. Dann war auch Nyborg heran. Beide Männer zogen die sich heftig wehrende Frau aus dem Fenster und warfen sie zu Boden. Ein Lappen verschloß ihr den Mund. Perez nahm ein Halstuch und band es ihr zusätzlich um den Kiefer, während Nyborg sie fesselte. Jason keuchte aufgeregt. »Was tun wir jetzt? Ich bin verloren, wenn ihr...« »Wir nehmen sie mit«, bestimmte Steiner kurz. Er warf einen Blick auf das wütend zuckende Bündel Mensch. Perez und Nyborg grinsten. Eigentlich hatten sie sich die erste Frau, die sie nach langer Zeit wieder sahen, etwas anders vorgestellt. »Du kannst hier nicht mehr bleiben, Jason.« »Ja, aber...«, stotterte der Wächter. »Was habt ihr denn vor? Wenn Hardy merkt, daß seine Tochter verschwunden ist, wird er uns um die ganze Erde hetzen.« »Wenn du hierbleibst, läßt er dich hängen, weil du die Entführung nicht vereiteln konntest. Wenn sie hierbleibt, hängen sie dich, weil du ein Rebell bist.« Jason schluckte. Offenbar hatte er sich nicht im Traum vorgestellt, daß er sich eines Tages so schnell würde entscheiden
müssen, auf welcher Seite er nun wirklich stand. Er hatte sich bisher immer vor der Aktivität gedrückt, aber nun hatte er keine Wahl mehr. * Die Wachablösung brachte an den Tag, daß der Wächter Jason seinen Posten verlassen hatte. Es gab Alarm, und wenige Minuten später war das ganze Camp auf den Beinen. Hardy schäumte, als man ihm die Nachricht von der Entführung seiner Tochter überbrachte. Spuren deuteten darauf hin, daß an der Stelle, an der die Palisade noch nicht fertig war, ein Kampf stattgefunden hatte. Man suchte die nähere Umgebung ab, fand aber von Judith und Jason nicht die kleinste Spur. Da auch Jasons Waffe verschwunden war, konnte Hardy nicht ausschließen, daß der Mann selbst seine Tochter entführt hatte. »Möglicherweise zieht Jason ein Leben im Busch mit einer Frau dem Leben in Camp McCarthy ohne Frau vor«, sagte Leutnant Langley. Innerlich verfluchte er sich, daß er keinen anderen Mann auf Patrouille geschickt hatte, denn es gab keinen Zweifel, daß man ihm die Sache anlasten würde. Hardy schrie: »Bringen Sie mir den Mann tot oder lebendig, Langley! Ich dulde es nicht, daß man meiner Tochter auch nur ein einziges Haar krümmt. Wenn sich dieser Unmensch an ihr vergangen hat, wird er tausend Tode sterben, dafür garantiere ich!« Froh, nicht selbst zur Verantwortung gezogen worden zu sein, stellte Langley eine Kampfgruppe aus vier jungen Leutnants zusammen. Einer seiner Männer, Leutnant Keith Fordyce, hatte sowieso noch eine Rechnung mit Steiner zu begleichen und weder Langley noch Fordyce zweifelten daran, daß die Entführung Judith Hardys etwas mit Steiner zu tun hatte. Langley hatte in den vergangenen Wochen alle möglichen Leute verhört, die Steiner gekannt oder mit ihm befreundet gewesen waren. Letztere Leute waren zwar selten gewesen, aber alles in allem hatte er erfahren, daß Steiner zu jenen Charakteren gehörte, mit denen man nicht umspringen konnte, wie man wollte. Der Mann hatte eine Engelsgeduld, aber wehe, man reizte ihn. Seine Reizbarkeit schien in Zusammenhang zu stehen mit
einer Krankheit, die er hatte und geheimhielt. Manche seiner Bekannten tippten auf Krebs. Während das Suchkommando feldmarschmäßig gekleidet Camp McCarthy verließ, überschlug Langley die Chance, die sie hatten. Steiner war clever, das war ein Fakt. Er hatte einen unbeugsamen Willen, das war ein anderer. Die Leute, die sich allem Anschein nach bei ihm befanden Björn Nyborg und Diego Perez waren schon aus dem Grunde wertvoll für Hardy, weil sie Spezialisten waren. In Camp McCarthy wurde dringend ein medizinischer Fachmann gesucht (mehrere der Generäle litten unter dem feuchten, subtropischen Klima; anderen machten Zahnschmerzen das Leben zur Qual) und außerdem hatte Hardy verkündet, daß sie dringend Arbeitskräfte benötigten, die sie nur aus den Reihen der zurückhaltenden Frühmenschen rekrutieren konnten. Perez schien der geeignete Mann dafür zu sein, das Vertrauen der zurückhaltenden asiatischen Einwanderer zu gewinnen. »Leutnant Langley!« Langley sah auf. Grant hatte an einem Ast ein langes blondes Haar entdeckt. Das war die erste Spur, die von Judith stammte. Von nun an stießen sie in regelmäßigen Abständen auf Hinweise, welchen Weg Hardys Tochter genommen hatte, denn sie hatte nach und nach einzelne Perlen ihrer Halskette auf den Boden geworfen, um so, etwaigen Verfolgern zu zeigen, wohin man sie schleppte. Das mußte bedeuten, daß die Entführer sie ungefesselt mit sich führten, was eigentlich logisch war, denn ein Mensch, der in dieser Umgebung an seiner vollen körperlichen Bewegungsfreiheit gehindert wurde, mußte zu einem großen Sicherheitsrisiko werden. Sie verfolgten die Spur, bis sie an einen Bach kamen. In den Boden eingedrückte Spuren bewiesen, daß Judiths Entführer durch das Wasser gegangen waren. Langley ließ seine Männer ausschwärmen, aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Auf der anderen Seite des Baches setzte sich die Spur nicht fort, obwohl sie den Lauf in beiden Richtungen mehrere Kilometer weit verfolgten. * Steiner wurde in der Nacht von einem lauten Klatschen
geweckt, dem ein heiserer Fluch und dann eine wüste Beschimpfung folgte. »Nimm deine dreckigen Pfoten weg, du Dreckskerl!« Sofort war er wach. Neben ihm erhob sich Perez in der Dunkelheit. Sie hatten es vorgezogen, die Nacht in einer zufällig entdeckten Höhle zu verbringen, weil es nach Regen gerochen hatte. Und nun hatte Nyborg die Chance genutzt. Steiner seufzte. »In Ordnung, Björn, du hast deine Chance gehabt. Nimm jetzt die Pfoten von dem Mädchen, hast du verstanden?« »Auf Ihre Fürsprache kann ich verzichten, Sie Meuterer«, fauchte Judith Mardy in der Dunkelheit. Nyborg, der sich von ihr wegschob, knurrte etwas, beruhigte sich aber nicht. »Mir hast du gar nichts zu befehlen, Steiner«, erwiderte er. Seine Stimme war ruhig, und das war immer ein ungutes Zeichen. »Leg das Messer weg, Björn«, ließ sich nun Perez vernehmen. »Eine falsche Bewegung und du hast ein Loch im Bauch.« Etwas schepperte metallisch. Steiner stand auf. »Danke, Diego.« Perez erwiderte: »Keine Ursache. Aber so etwas kann ich nicht mit ansehen.« Nyborg begann plötzlich zu schluchzen wie ein kleines Kind. »Ich kann das nicht mehr aushalten«, wimmerte er. »Ich werde noch verrückt! Ich bin ein Mensch des einundzwanzigsten Jahrhunderts, verdammt noch mal! Ich kann einfach nicht von heute auf morgen wie ein Steinzeitmensch in einer Höhle leben und auf all das verzichten, was ich immer gehabt habe!« Steiner, der sowieso nicht mehr schlafen konnte, übernahm freiwillig die Wache, während Nyborg in einen todesähnlichen Schlaf fiel und leise vor sich hin murmelte. Draußen begann es bereits zu tagen. Die Sonne machte sich daran, die dichten Wolkenfelder zu durchdringen und irgendwo zwitscherten Vögel. Steiner ging hinaus und trat an den Bach... Er konnte den Schuß, der jetzt krachete, zuerst gar nicht hören, so überrascht war er. Ein Felssplitter zischte an ihm vorbei und verfehlte ihn um Haaresbreite. »Steiner!« Perez war sofort auf den Beinen und warf ihm eine geladene MP zu. Um in die Höhle zurückzukehren, war es bereits zu spät. Steiner ließ sich flach auf den Bauch fallen und suchte Deckung hinter einem Felsbrocken. Er hatte im ersten Moment
angenommen. Nyborg habe die Nerven verloren und sei hinter ihm hergeschlichen um ihn umzubringen, aber das war ein Trugschluß gewesen. Unter ihm, etwa zwanzig Meter vom anderen Ufer des Baches entfernt, blitzten verschiedene Stahlhelme das Licht der Sonne wider. Hardys Leute! Es gab keinen Zweifel. Jason, der sich während des Streits nicht ein einziges Mal zu Wort gemeldet hatte, tauchte nun neben Perez und Nyborg im Höhleneingang auf. Die Blicke der Männer waren fragend. Steiner gab ihnen mit Zeichen zu verstehen, daß sie es mit einem Gegner zu tun hatten, der ihnen zahlenmäßig offensichtlich nicht überlegen war. Perez grinste und robbte auf ihn zu. Zu zweit würde es einfacher sein, die Angreifer, die jetzt zu einem Trommelfeuer ansetzten, unter Beschuß zu nehmen. »Laß sie ihr Pulver erst einmal verschießen«, sagte Steiner. »Wir können uns auf ein großartiges Geplänkel jetzt nicht einlassen.« »Verstanden.« Perez nickte. »Soll ich versuchen, in ihren Rücken zu kommen?« »Schaffst du das?« »Ich will es versuchen.« Wie eine Schlange schob sich der Indianer vorwärts und verschwand in einem nicht einsehbaren Gebüsch. Steiner fluchte. Er dachte an Achram und die anderen Frühmenschen, an ihre gemeinsam erbaute Hütte. Es war eine ausgemachte Narretei gewesen, nach Camp McCarthy zurückzukehren. Nun hatten sie den Salat. Ob ihre Chancen besser waren, wenn sie Hardys Tochter hier zurückließen und sich aus dem Staub machten? Welcher Teufel hatte sie nur alle geritten, daß sie das Mädchen mit sich genommen hatten? Eine Salve deckte ihn ein. Steiner zog den Kopf zwischen die Schultern und gab einzelne Schüsse zurück. Durch einen Spalt zwischen zwei Felsen konnte er das verbissene Gesicht von Leutnant Fordyce erkennen. Der Mann neben ihm schien Langley zu sein. Mit einer Auslieferung Judiths würde es somit nichts werden. Steiner hatte Langley in den wenigen Wochen ihres Zusammenlebens deutlich genug analysiert, um zu wissen, daß der Mann einen einmal gestellten Gegner nicht laufenließ.
Jetzt feuerte Perez. Der Indianer hatte es wie durch ein Wunder geschafft, im Rücken der Angreifer aufzutauchen, und nun spuckte seine MP Feuer und Blei. Steiner sprang auf und gab Nyborg und Jason ein Handzeichen. Gemeinsam rückten sie gegen Langleys Männer an, die nun zwischen zwei Feuern hockten und wütend schrien. Einer der angreifenden Leutnants schien nicht die gesündesten Nerven zu haben. Er sprang plötzlich auf, warf seine Waffe weg und schrie: »Aufhören! Ich ergebe mich!« Den Satz aus seiner Deckung schaffte er, aber dann setzte eine wohlgezielte Kugel aus Fordyces Waffe seinem Leben ein Ende. Ein anderer Mann schrie: »Du hundsgemeiner Mörder!« Etwas klatschte laut, dann rollte ein Helm über die Erde. In der Deckung tauchten zwei ineinander verkeilte Männer auf, während zwei andere von denen der eine Langley war -sie wütend wieder herunterzuzerren versuchte. Perez schrie: »Keine Bewegung!« Er sprang aus dem Dickicht, drohend die Waffe auf die Kämpfenden gerichtet. Jetzt kam Steiner und die anderen. Langley, der weiß vor Zorn war, knallte seine MP auf den Boden und fluchte wie ein Kutscher. Fordyce schien verwirrt, weniger jedoch der Mann, der ihn noch immer an der Gurgel hatte. Steiner kannte ihn: Leutnant Grigorjew war einer der wenigen aus Hardys Gefolgschaft gewesen, die andere Leute wie Menschen behandelten. »Sie haben gewonnen«, knurrte Langley. »Bringen Sie uns jetzt gleich um oder erst später?« »Wir sind keine Mörder«, sagte Steiner ernst und nicht weniger erregt. »Aber wenn Sie uns noch lange provozieren, Langley, werde ich mir ernsthaft überlegen müssen, ob ich nicht doch für eine Sekunde meinen Schatten überspringen kann.« »Sie elender Bolschewist«, keuchte Fordyce. »Das gilt auch für Sie!« schnappte Perez. »Und jetzt raus aus der Deckung. Die Hände an den Kopf, schnell!« Sie führten die vier Männer im Gänsemarsch zu ihrer Höhle. Judith Hardy hatte sich mittlerweile aufgesetzt. Als sie Langley und seine Getreuen sah, umspielte ein zynisches Lächeln ihre Lippen. »Willkommen in der Steinzeit«, lachte sie rauh. »Ich wußte doch, daß du im Grunde ein Waschlappen bist.« »Halt die Schnauze«, sagte Langley grob. Er nahm neben ihr
Platz. »Vielleicht wäre es nicht das schlechteste, wenn man euch Bonzenkinder mal für ein paar Stunden diesen...« Er verzog angeekelt das Gesicht, »... diesen Typen da ausliefern würde.« Er war nun wirklich nicht in der Stimmung, sich verhöhnen zu lassen. Steiner winkte seine Leute heran und sagte so leise, daß man ihn kaum hören konnte: »Was machen wir mit denen? Wir können uns mit Langley unmöglich auch noch belasten.« Perez sagte: »Eine schwierige Situation. Wenn ihr sie umlegen wollt, macht das ohne mich.« »Du hast mich falsch verstanden«, erwiderte Steiner brüsk. »Ich habe keinesfalls die Absicht. Aber wenn wir sie nun laufenlassen, hetzen sie alles aus Camp McCarthy auf uns, das eine Waffe tragen kann.« In diesem Moment kam Jason herein. Er war totenbleich und zitterte am ganzen Körper. »Draußen...«, stammelte er, »draußen wimmelt es von Soldaten!« »Verdammt!« Steiner knirschte mit den Zähnen. Nun saßen sie in der Falle. »Hauptmann Steiner«, sagte Judith plötzlich, »wußten Sie eigentlich schon, daß diese Höhle einen zweiten Ausgang besitzt?« * Die Entmaterialisierung ging ohne große Komplikationen vor sich. Die Männer spürten lediglich ein feines, kaum wahrnehmbares Kribbeln am ganzen Körper, dann verschwamm die Umwelt wie unter einem gewaltigen Hitzeschild vor ihren Augen. Dies alles dauerte nur eine Sekunde. Als Hauptmann Gene Anders die Augen wieder öffnete, war die kreisrunde Metallplatte des Zeittransmitters unter ihren Füßen verschwunden. Sie standen am Ufer eines dahinplätschernden Bachbettes. Das Institut existierte nicht mehr oder besser noch nicht, wie Anders sich selbst in Gedanken korrigierte. An seiner Stelle erhob sich rings um die Gruppe ein feuchter, modrig riechender Urwald, der scheinbar endlos war. Anders schnappte nach Luft. Die Männer schienen alle dazusein. Sicherheitshalber ließ er ihre Namen aufrufen. Sergeant Cody
rief: »Anders!« Er antwortete automatisch. »Hier!« »Ayres?« »Hier!« »Bascom?« »Hier!« Es war einfach phantastisch. Obwohl die Wissenschaftler des Forschungsinstituts ihn über alles, was sie erwarten würde, eingehend aufgeklärt hatten, war es für Anders noch immer schwer, die Tatsache, fünfunddreißigtausend Jahre in der Vergangenheit zu weilen, zu erfassen, ohne gleichzeitig überzuschnappen. Sergeant Cody sagte: »Alle Männer vollzählig versammelt, Sir.« »Sind alle wohlauf?« Zögernd kamen die Antworten. Bei einigen der dreißig Mann starken Gruppe war das Kribbeln noch nicht ganz abgeklungen, aber ernste Beschwerden wurden nicht festgestellt. »In Ordnung. Die Karten!« befahl Anders. Cody reichte sie ihm. Er war genau wie die beiden anderen Gruppenführer, Wilkinson und Caxton, ein ausgebildeter Spurensucher. »Wie zu erwarten, sind wir durch die Beschädigungen an der Zieleinrichtung ein wenig vom Kurs abgekommen«, erklärte er ohne Umschweife. »Normalerweise hätten wir hier...«, er deutete mit einem Finger auf eine Stelle, die deutlich als Tal zu erkennen war, »herauskommen müssen. Auf den ersten Blick würde ich sagen: Wir sind ziemlich genau zehn Kilometer von unserem Zielobjekt entfernt.« »Das bedeutet Fußmarsch«, sagte Anders. Cody nickte. »Zweifellos.« Es gefiel Anders nicht, daß sie eine solche Strecke zu Fuß laufen mußten, denn die Umgebung erschien weder ihm noch seinen Männern ganz geheuer. Wenn sie auf wilde Tiere stießen und das war bei einem Trupp von dreißig Mann fast unausweichlich konnte es eine Knallerei geben, die Hardy und seine Vasallen unweigerlich aufs Tapet locken mußte. »Ihr wißt, daß wir ganz allein auf unsere Cleverness angewiesen sind«, sagte Anders, zu seinen Leuten gewandt. »Ein Schritt in ein falsches Loch kann unseren gemeinsamen Tod bedeuten, denn wir müssen damit rechnen, daß Hardy alle Möglichkeiten
ausgeschöpft hat, seine Stellung zu verminen. Wenn auf einen von euch was zukriecht, das kleiner als ein Mammut ist, muß die Sache mit dem Messer erledigt werden.« Die Männer lachten. Irgendwie schien sich ihre Beklemmung jetzt zu lösen. Einige boxten sich vor Vergnügen in die Seiten und Anders sah, wie einer an seine Kameraden kostenlose Kaugummis verteilte. Die drei Kundschafter, die gleich nach dem Aufrufen der Namen wie geplant losgezogen waren, kamen zurück. Einer meldete die Existenz einer Höhle, die etwa dreißig Meter unterhalb des Baches lag. Sie mußte etwas oberhalb des Laufes in einen Hügel hineinführen, wie der Mann ausführte. Cody schlug vor, dort das vorläufige Hauptquartier aufzuschlagen. Anders nahm den Vorschlag an. Die Männer nahmen Aufstellung und legten die kurze Strecke in zwei Minuten zurück. Eine Kette wurde gebildet, die die Ausrüstung des Kommandos den felsigen Hang hinaufschleppte, während Anders mit seinen Gruppenführern und zwei bewaffneten Soldaten die Höhle inspizierten. Cody schnüffelte. »Hier hat jemand ein Feuer gemacht«, stellte er fest. »Tatsächlich?« Anders war schockiert. Er dachte an die ersten Ureinwohner Amerikas, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits hier niedergelassen haben mußten. Cody schickte seine Kollegen aus. Einer der Männer gab einen leisen Pfiff von sich, nachdem er sich gebückt hatte und etwas aufgehoben. »Was ist denn das?« »Ein Knopf?« fragte Cody erstaunt. Er starrte Anders an. »Wir sind nicht die einzigen, die diese Höhle kennen, Sir«, sagte er dann. »Hardy?« fragte Anders erregt. Er betrachtete den Knopf eingehend. Er schien zu einer Uniform zu gehören. »Luftwaffe, würde ich sagen, wie?« Die Männer stimmten zu. Anders machte kehrt und seinen Befehl rückgängig. Eine Höhle, die dem Gegner bekannt war, war wertlos für sie. Ohne zu murren luden die Soldaten das Gepäck wieder auf ihre Schultern. Cody stellte einen Spähtrupp zusammen, der der Gruppe vorausging. Als sie das Bachbett in der Nähe der Höhle
überquerten, fand einer der Männer mehrere Patronenhülsen, die einwandfrei aus einer Maschinenpistole stammten. »Ich habe ein ungutes Gefühl«, sagte Cody später. »Eigentlich ist der Zufall zu groß, daß wir an dieser Stelle auf Hardys Spuren stoßen.« Anders lachte leicht hysterisch auf. »Glauben Sie an Verrat? Denken Sie wirklich, daß Hardy noch Verbindung mit zu Hause hat? Daß jemand ihn von unserem Auftauchen in Kenntnis setzte?« Cody zuckte die Achseln. Den ganzen Weg sagte er kein Wort mehr, während Anders sich mit selbstquälerischen Vorwürfen marterte. Es war wirklich nicht auszuschließen, daß es immer noch treue Anhänger Hardys gab. Aber wie und wann sollte einer dieser Getreuen seinem Herrn die Information geliefert haben? »Vielleicht bilden wir uns alles nur ein«, murmelte er. »Vielleicht sind einige von Hardys Leuten hier vorbeigekommen und haben auf irgendwelche Tiere geschossen...« Aber auch diese Alternative war nicht eben dazu angetan, ihn von seinen plötzlichen Magenschmerzen zu befreien. * Steiner hatte sorgfältig jede Bewegung der Fremden in der Höhle beobachtet. Seltsam kam ihm vor, daß die Neuankömmlinge ihm samt und sonders unbekannt waren und das, wo er im Camp McCarthy doch beinahe jedes Gesicht und den Namen eines jeden Mannes kannte. »Sie sind weg«, erklärte er, nachdem er durch den dunklen Korridor gelaufen war und den nächsten Hohlraum betrat. »Es waren Fremde, versteht ihr? Männer, von denen ich nicht einen kannte!« Langley grunzte überrascht. Nyborg sagte: »Ist das ein Witz? Fremde?« Steiner referierte kurz seine Beobachtungen. Die Spannung stieg merklich unter den Anwesenden, nur Judith Hardy lachte überheblich und stellte Steiner als Phantasten hin. »Wo sollen diese Leute denn herkommen, wenn ich fragen darf? Von zu Hause vielleicht? Das Zeitfeld wurde zerstört! Niemand hat mehr
die Möglichkeit, bis hier...« »Vielleicht war es nur beschädigt«, warf Perez erregt ein. »Jetzt hat man es wieder unter Kontrolle und...« »Alle Wissenschaftler, die an diesem Projekt arbeiteten, gingen mit uns ins Exil«, warf Judith ein. »Niemand blieb zurück.« »Sie irren«, sagte Leutnant Grigorjew, der aufstand und einige Schritte machte. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, daß Dr. Stahl und der Ingenieur Axelrod sich ergaben, als der Angriff begann. Mithin besteht eine sehr gute Möglichkeit, daß man das Zeitfeld wieder unter Kontrolle bekommen hat.« Judith und Langley wurden blaß. Fordyce begann zu zittern. Der vierte Mann ihres Kommandos, der kleingewachsene Leutnant Shann, sah auf seine Stiefelspitzen. »Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht, daß wir uns nicht zu erkennen gegeben haben. Aber daran können wir jetzt nichts mehr ändern. Ich habe einen Plan. Hört zu!« Steiner zog seine Männer in eine Ecke und erläuterte, was er ausgetüftelt hatte. Er wollte allein den Neuankömmlingen folgen und herausfinden, welche Ziele sie hatten. Perez, Jason und Nyborg sollten sich mit allen fünf Gefangenen auf den Weg zum Lager der Frühmenschen machen, wo sie so lange auf ihn warten sollten, bis er ihnen Nachricht gab. »Wenn wir sie nicht töten wollen, haben wir keine andere Wahl«, gab Perez zu. »Ich bin dafür.« »Jason?« »Ich auch.« »Und du, Nyborg?« Nyborg nickte. Dann fragte er: »Was hältst du von Grigorjew?« »Keine Ahnung. Aber er gehört eher zu uns als zu denen da.« Nachdem die anderen verschwunden waren, schulterte Steiner seine MP und machte sich auf den Weg. Der wochenlange Aufenthalt bei den Frühmenschen und die Hilfe Perez' hatten ihn in der letzten Zeit zu einem guten Spurenleser werden lassen, der an abgebrochenen Zweigen und zertretenem Gras ohne weiteres abzulesen verstand, wie stark die Gruppe war, an deren Fersen er sich hängte. Die Männer, die er verfolgte, gingen einen großen Umweg, aber ihr Ziel war unverkennbar Hardys Lager, auch wenn sie es auf verschlungenen Pfaden zu erreichen trachteten. Als es Abend wurde, entdeckte Steiner einen Posten.
Das mußte bedeuten, daß die Fremden eine Rast einlegten oder ein neues Quartier gefunden hatten. Er ging seitlich weg, durchdrang Gebüsch und Lianengewirr, bis er auf eine Anhöhe traf, die er geräuschlos wie eine Katze erklomm. Oben angekommen, sah er einen winzigen Talkessel unter sich, der kaum mehr als zwanzig Meter im Durchmesser groß, nur durch einen engen Felsspalt betretbar war. Ein guter Platz. Die Soldaten bauten Plastikzelte auf, andere hantierten an einer komplizierten Funkanlage, hinter der ein grauhaariger Unteroffizier der Nachrichtentruppe saß. Vor dem Mund des Mannes hing an einer dünnen Schwenkklammer ein winziges Mikrofon, durch das er wohl irgendwelchen anderen Leuten Anweisungen gab. Steiner hörte Füßescharren hinter sich. Es gab keinen Zweifel, daß er in eine Falle getappt war. Ehe er sich umdrehen konnte, spürte er etwas Hartes im Rücken und eine nicht unfreundlich klingende Stimme sagte: »Nehmen Sie die Hände noch, Hauptmann. Wenn wir unten sind, werden Sie genügend Gelegenheit zum Reden bekommen.« * Hauptmann Anders' Gesicht - verzog sich, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen, als Steiner mit seiner Geschichte am Ende war. »Dieser eiskalte Intrigant«, zischte er dann fassungslos. »Wir hatten uns die Sache ungefähr so vorgestellt, wie Sie sie uns schilderten, Mr. Steiner, deshalb sind wir ja auch hier! Als wir Präsident Hardys private Aufzeichnungen über das Zeitforschungsprojekt beschlagnahmten, stellten wir fest, daß alles, was die parlamentarische Opposition gegen diesen Mann zum Vorwurf erhob, die reine Wahrheit gewesen ist. Es ist kaum glaublich, daß unsere Nation zum zweiten Mal in ihrer kurzen Geschichte einen offensichtlich krankhaften Psychopathen zu ihrem Präsidenten machte. Cody erzählen Sie dem Hauptmann, was wir wissen!« Cody trat vor. Obwohl er ein Lächeln versuchte, konnte Steiner an seinen Augen erkennen, daß das, was jetzt kam, eher zum Weinen als zum Lachen sein mußte.
»Präsident Hardy hat während seiner Regierungszeit Pläne entwickelt, die in jeder Beziehung denen eines gewissen Hitler glichen, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gelebt hat...« »Ich habe davon gehört«, gab Steiner zu. »Fahren Sie fort.« »Er wollte ein mächtiges Reich errichten, in dem die USA die alleinige Vorherrschaft ausübten. Nachdem das Zeitalter der sanften Kolonisation gegen Ende der neunziger Jahre abgeschlossen wurde, glaubte er an eine gewaltige Verschwörung der Dritten Welt gegen die USA. Als er zum erstenmal vor der UNO-Vollversammlung von einem Terror der Mehrheit sprach, gab es einen Sturm der Entrüstung. Hardy hat damals wohl eingesehen, daß er keine Chance hatte, seine Ziele - nämlich die Herrschaft über die Rohstoffländer zugunsten der USA erreichen konnte, wenn er seine undemokratischen Theorien in die Öffentlichkeit hinausposaunte. Mit der finanziellen Unterstützung mächtiger Industriekapitäne, die regelmäßig seinen Wahlkampf bezahlten, ließ er Putsch-Pläne vorbereiten, die ihn der wachsamen und damit lästigen Opposition im eigenen Land entledigen sollte. Gleichzeitig ließ er Gerüchte ausstreuen, die besagten, die Opposition plane einen Putsch, um das Land den Roten in die Arme zu treiben. Mit diesen Gerüchten wollte er sich das Recht erkaufen mit Hilfe ihn unterstützender Militärs der Opposition zuvorzukommen. Es gab eine ungeheure Verhaftungswelle, kaum nachdem das Forschungsinstitut die erste Expedition in die Vergangenheit geschickt hatte.« Steiner keuchte erregt. Waren sie denn alle blind gewesen, daß sie nicht von selbst auf diese Vermutung gekommen waren? »Leider hatte Hardy sich geirrt, was die Vertrauenswürdigkeit seiner Untergebenen anbetraf. Einer seiner engsten Berater informierte die Öffentlichkeit über das schmutzige Spiel, das hier gespielt wurde. Und in der gleichen Minute spielte das Militär nicht mehr mit. Es wandte sich gegen den Präsidenten, der sich vorsorglich in das Institut zurückgezogen hatte, um von dort aus die Entwicklung seines Putsches abzuwarten. Hardy blieb keine andere Wahl, als in der Vergangenheit zu verschwinden, wobei einige Getreue hinter seinem Rücken die Transmissionsapparatur zerstörten oder doch zumindest stark beschädigten.« Steiner begann es zu schwindeln. Sein Magengeschwür, das er
seit Wochen nicht mehr gespürt hatte, begann sich wieder zu melden. Er wollte zu einer Entgegnung ansetzen, wollte irgend etwas sagen um das entsetzliche Schweigen zu durchbrechen, das jetzt unter den ihn umstehenden Soldaten ausgebrochen war, aber Hauptmann Anders kam ihm zuvor. »Normalerweise hätte es der Welt egal sein können, daß Hardy sich in die Vergangenheit zurückgezogen hatte, aber neueste wissenschaftliche Erkenntnisse haben uns dazu bewogen, die Zeitapparatur zu reparieren.« Ohne Übergang fragte er: »Was, glauben Sie, würde mit Ihnen geschehen, wenn jemand Ihren Großvater umgebracht hätte, bevor er dazu gekommen wäre, Ihren Vater zu zeugen?« »Ich würde aufhören zu existieren«, gab Steiner verblüfft zurück. Anders nickte. »Richtig. Wenn nun jemand in die Vergangenheit geht und dort alle Ölfelder ausbeutet, würden sie im zwanzigsten Jahrhundert nicht mehr existent sein. Wenn jemand im Jura die Saurier völlig ausrottet, hätte das eine Veränderung der ganzen Tierwelt zur Folge. In der Gegenwart unserem Zuhause könnte das zu einem Zeitchaos führen, das die ganze Welt vernichten kann, wie wir sie kennen! Und wenn Hardy hier und jetzt anfangt, eine Kolonie zu gründen, die sich zwangsläufig vermehren und ausbreiten wird, kann er damit die ganze Geschichte des amerikanischen Kontinents, die Geschichte Europas und der ganzen Welt verändern und zum Untergang bringen.« In Steiners Gehirn jagten sich die Gedanken. Natürlich! Der Lauf der Geschichte würde sich radikal ändern, wenn Hardy im Quartär Fuß faßte. Er zweifelte nicht daran, daß Hardy die asiatischen Einwanderer, die einmal zu Indianern werden würden, am Aufbau einer eigenen Kultur hindern würde. Für einen Mann wie ihn würden sie Sklaven sein, die man unter die Knute der Weißen zwang. »Haben wir - ich meine das Stammpersonal der Station nicht schon zuviel angerichtet«, keuchte er. »Ich meine, einfach durch unsere Existenz in dieser Zeit?« Anders zuckte die Schultern. »Bis jetzt sind die Auswirkungen nicht bemerkt worden. Sicher war es eine kluge Angelegenheit, das Lager mit einem Energiezaun zu umgeben und die Natur im weitesten Sinne so zu lassen, wie sie vorgefunden wurde. Sie haben vielleicht einige Tiere erlegt, nun gut. Das wird nicht gleich
dazu führen, daß die ganze Rasse ausstirbt und die Flora und Fauna der Erde beeinflußt. Schlimmer wäre es, wenn Sie versucht hätten, den Frühmenschen mit technischem Brimborium etwas auf die Sprünge zu helfen. Was haben Sie denn...?« Steiner war plötzlich weiß wie eine Wand. Verstört berichtete er von den Maschinenpistolen, die sie bei Achram und seiner Familie zurückgelassen hatten. »Allerdings ohne Munition«, beeilte er sich hinzuzufügen. Anders setzte sich. Die sie umringenden Männer machten zwiespältige Gesichter. »Verstanden sie den Mechanismus der Waffen?« fragte Cody. Steiner verneinte. »Sie sahen uns nicht einmal damit schießen. Vielleicht halten sie sie für Ziergegenstände, die man sich um den Hals hängen kann.« Anders atmete auf. »Gott sei Dank. Wir werden sie ihnen wieder abnehmen müssen, trotz allem. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wie ein deutsches Sprichwort sagt. Wir müssen um jeden Preis verhindern, daß diese Einwanderer durch irgendein Geschenk dazu inspiriert werden, seine Funktion zu ergründen. Wenn sie auch nur Pfeil und Bogen eine Generation früher erfinden als geschichtlich verbürgt, kann das Auswirkungen haben, auf die wir am besten verzichten.« »Hardy wird diese Skrupel nicht haben«, erwiderte Steiner. »Richtig. Vielleicht denkt er auch gar nicht daran, was er anrichtet. Wenn es zu Kämpfen mit ihm und den Frühmenschen kommt, wird das zwangsläufig dazu führen, daß die Primitiven irgendwie in den Besitz einer Schußwaffe gelangen. Und das wäre dann das Ende vom Lied, auf das wir nun besser verzichten.« Nachdem Anders' Gruppe sich in dem Talkessel eingerichtet hatte, stellten die Unteroffiziere mit Steiners Hilfe einen Spähtrupp zusammen. Er bestand aus sechs Mann: Cody, Steiner, Anders und drei weiteren Leuten. Ihre Aufgabe sollte es sein, die genaue Stärke von Camp McCarthy auszukundschaften, schwache Stellen für einen Angriff zu suchen und nach Möglichkeit mit den im Lager lebenden oppositionellen Kräften Kontakt aufzunehmen. Steiner führte den Spähtrupp auf dem kürzesten Weg zum Lager. Aus einer Entfernung von zweihundert Metern beobachteten sie mit Hilfe starker Ferngläser das Treiben auf der Lichtung.
Die Palisade war mittlerweile fertiggestellt und wurde nur noch von dem Gebäude überragt, das Hardy sich hatte bauen lassen. Noch immer befanden sich einige Männer auf dem Dachstuhl und arbeiteten. An den vier Ecken des nunmehr quadratisch wirkenden Forts begannen andere Gruppen mit dem Aufbau von Wachttürmen, von denen einer bereits seiner Vollendung entgegensah. Hardy hatte auch Laufgänge hinter den Palisaden aufstellen lassen. Ab und zu erkannten sie einen Bewaffneten, der dort Patrouille lief. »Er muß eine höllische Angst haben«, flüsterte Anders. »Oder größenwahnsinnig sein.« »Ich glaube, er ist beides«, meinte Steiner, Hardy fühlte sich vom Tag seiner Ankunft an von Feinden umgeben. Wenn er es geschickt angefangen hätte, würde es nie zu Schwierigkeiten gekommen sein. Jason berichtete, daß mehrere Attentate auf ihn verübt wurden. Sogar von einem seiner Offiziere. Seitdem läßt Hardy sich nicht mehr draußen sehen. Das befestigte Haus soll sein Quartier werden, und wie ich gesehen habe, wirkt es wie ein Bunker, in dem es keine Fenster gibt nur Schießscharten.« Sie warteten die Nacht ab, aber auch jetzt wurde es nicht einfacher, in das Fort einzudringen. Die Wachen verdoppelten sich plötzlich, als ahne Hardy, daß sein kleines Reich aus der Dunkelheit beobachtet wurde. Cody warf sich plötzlich keuchend neben Steiner und Anders auf den Boden. Der Scout hatte einen kurzen Streifzug unternommen. Hastig berichtete er von einer Gruppe Bewaffneter, die sich im Anmarsch auf Camp McCarthy befänden. »Sie tragen erlegte Tiere zwischen sich. Wahrscheinlich ein Jagdtrupp.« Steiner überschlug die Lage. Die Ankunft eines Trupps, der Frischfleisch transportierte, dürfte genügend Aufmerksamkeit auf sich lenken, um eine Lücke zum Durchschlüpfen zu finden. Rasch verständigte er sich mit Anders und tauchte in der Dunkelheit unter. Wie er vorausgesehen hatte, zogen sich die auf den Laufgängen befindlichen Wächter am Tor zusammen, als der Jagdtrupp aus dem Dschungel kam. Wie eine Katze glitt Steiner an der Palisadenwand hoch. Ein kräftiger Schwung hievte ihn über die angespitzten Pfähle. Der nächste Wächter war zwanzig Meter von ihm entfernt und
unterhielt sich - Steiner den Rücken zuwendend - mit einem anderen Mann. Steiner nutzte die Chance, glitt am Laufgang abwärts und ließ sich auf den weichen Boden sinken. Sofort verschwand er hinter einem Stapel Baumaterial und unbearbeiteten Brettern. Aus der Enge seines Verstecks beobachtete er, wie die Männer ihre Jagdbeute im Lagerhaus unterbrachten. Alle Lichter waren gelöscht, nur in Archers Büro zeugte ein einsames Lämpchen davon, daß dort jemand war. Durch das Fenster konnte Steiner zwei Schatten erkennen, die sich gegenübersaßen. Nachdem die Jäger in Baracke III verschwunden waren, glitt er über den Innenhof. In Gedanken überschlug er die Namen jener Leute, die Jason ihm als unbedingt verläßlich angegeben hatte. Einige dieser Leute wohnten in Baracke I, die er jetzt natürlich nicht aufsuchen konnte, weil er damit rechnen mußte, daß die Angehörigen des Jagdtrupps nicht sofort einschliefen. Steiner konzentrierte seine Bemühungen auf Nummer II. Er schlich unter den Fenstern entlang. Die dahinterliegenden Zimmer waren dunkel. Er hob einige Steinchen auf. Der Mann, der hinter dem Fenster schlief, reagierte sofort. Erst tauchte ein braungebranntes Gesicht hinter der Scheibe auf, dann ein muskulöser Oberkörper. Steiner gab ein Handzeichen. Der Mann öffnete leise das Fenster, formte den Mund zu einem lautlosen »Oh« und ließ Steiner hinein. Rasch verschloß er wieder das Fenster. »Ich soll schöne Grüße von Jason ausrichten«, flüsterte Steiner. »Bist du allein, Clement?« Im Dunkel des Zimmers raschelte etwas. Dann richteten sich auf den Betten drei andere Gestalten auf. Steiner wußte von Jason, daß er vor diesen Männern keine Angst zu haben brauchte, denn sie hatten geschickt arrangiert, daß sie alle auf die gleiche Kammer gekommen waren. »Keiner von uns ist für Hardy«, gab Clement aufgeregt zurück. Ein anderer Mann, von dem Steiner wußte, daß er Cartier hieß, fragte: »Was liegt an, Hauptmann?« »Wir wollen Hardy absetzen. Wenn wir noch länger warten, kann es für uns alle zu spät sein.« Mit wenigen Worten klärte er die Männer darüber auf, daß sie nicht mehr länger als hoffnungsloses Häuflein angesehen zu werden brauchten. Innerhalb von wenigen Minuten stieg die Stimmung der
Anwesenden auf den Höhepunkt. Die Männer waren hellwach und lauschten Steiners Worten wie hungrige, sprungbereite Tiere. Die Nachricht von der Ankunft einer Hilfseinheit aus der Gegenwart gab allen sofort neuen Mut. »Unter diesem Gesichtspunkt könnten wir sofort losschlagen«, meinte Clement heiser. »Zwei von unseren Freunden gehören zur Palisadenwache. Willis wird einen von ihnen in einer halben Stunde ablösen. Damit haben wir drei Mann draußen, die sofort zuschlagen und die Wachen überrumpeln können.« »Welche Stellen müssen als erste besetzt werden?« fragte Cartier. »Die Waffenkammer, damit wir genügend Spritzen an unsere Leute verteilen können. Wie sieht es mit der Bewaffnung von Hardys Getreuen aus?« »Seit dem letzten Attentat sind nur noch die Generäle ständig bewaffnet«, sagte Clement. »Sie schlafen in seiner neuen Festung. Die restlichen Offiziere erhalten - genau wie das übrige Personal - nur dann Schießeisen, wenn sie Wachdienst haben oder ein Jagdkommando führen.« »Was ist mit dem Kommando, das soeben aus dem Dschungel kam?« wollte Steiner wissen, aber Clement konnte seine Bedenken sofort zerstreuen. »Sie geben automatisch ihre Jagdwaffen in der Waffenkammer ab. Dort sitzt ein Unteroffizier, der alles registriert, was entliehen und zurückgebracht wird.« Das bedeutete, daß zuerst dieser Mann ausgeschaltet werden mußte, wenn man herausbringen wollte, wer im Moment bewaffnet in Camp McCarthy herumlief. Die Gelegenheit ergab sich, als Willis sich für seinen Wachdienst vorbereitete. Wie lautlose Schatten folgten Steiner und Clement dem kleinen, breitschultrigen Mann durch die Korridore. Die Waffenkammer war verschlossen, aber ein hinter der Türglasscheibe aufleuchtendes Licht zeigte an, daß dort ein einzelner Mann hinter einem Schreibtisch saß. »Willis? Borgholm?« Willis sagte: »Ja, hier ist Willis!« Steiner, der sich dreist neben ihn stellte, gab sich als Borgholm zu erkennen. Das war der Mann, der neben Willis zur Ablösung gehen sollte; allerdings war er noch nicht da, hatte wahrscheinlich verschlafen. Mürrisch öffnete der Unteroffizier die Tür. Steiners Arme zuckten vor und erwischten ihn am Hals, ehe er einen Laut von
sich geben konnte. Clement entwaffnete ihn geschickt und hielt ihm den Lauf seiner Dienstpistole gegen die Stirn. »Keinen Laut«, zischte Steiner. »Oder du bist ein toter Mann, Raleigh!« Raleigh verdrehte die Augen in stummem Protest. Der Mann war ein Anhänger Hardys, aber die Furcht vor dem Tod war größer als seine Ergebenheit seinem Herrn gegenüber. Willis packte mehrere MPs und Stangenmunition an sich. In diesem Moment betrat der Wachmann Borgholm den Raum, riß erstaunt den Mund auf und schloß ihn wieder, denn die beiden restlichen Männer aus Clements Stube waren hinter ihn getreten und blufften ihn mit einem ausgestreckten Zeigefinger, den sie in Borgholms Rücken bohrten. »Nein - nein«, keuchte der Mann. »Tut mir - tut mir nichts. Ich...« Clement gab seinen Männern einen Wink. Ein Schlag schaffte Borgholm in das Land der Träume. Die Männer bewaffneten sich, dann fesselten und knebelten sie Raleigh. »Woodrow und Kubiak - laßt die Gefangenen frei«, sagte Steiner. Und zu Willis: »Mach ein paar Waffen fertig für die Leute. Wir dürfen keine Zeit verlieren!« Es dauerte nur zwei Minuten, dann schlichen fünf weitere Männer in die Waffenkammer, sie waren ausgemergelt und sahen müde aus, aber in ihren Augen funkelte Leben. Hastig stürzten sie eine Kanne kalten Tees hinunter, die Raleigh auf seinem Schreibtisch stehen hatte und bewaffneten sich. Clement und Steiner verständigten sich mit einem kurzen Blick. Ihr Plan war klar. Die Waffenkammer war in ihrem Besitz, und Raleighs Liste hatte ergeben, daß außer den Generälen in Hardys Festung lediglich Archer und die sieben Wächter am Palisadenzaun bewaffnet waren; und von denen gehörten noch zwei zu den Männern, die Hardy lieber heute als morgen hinter Gittern sahen. »Willis!« Der kleine Mann schloß sich Steiner sofort an. Zusammen huschten sie in das Dunkel hinaus, während die freigelassenen Gefangenen unter Clements Führung im Inneren des Lagers ausschwärmten. Steiner und Willis gingen ganz offen auf die Palisadenwand zu. Da Steiner ungefähr Borgholms Größe hatte, dauerte es lange, bis einem der Wachmänner auffiel, wen er vor sich hatte. Aber er
bekam keine Gelegenheit mehr, etwas zu sagen, denn Clements Wachmänner reagierten schneller. Der Hardy-Mann öffnete den Mund zu einem Schrei, als ihm sein Nachbar den Kolben seiner Waffe in den Nacken schlug. Der dumpfe Aufprall erregte die Aufmerksamkeit der anderen, aber schon war der zweite Vertraute Clements zur Stelle und hielt den ihm am nächsten stehenden Mann in Schach. Aus dem Dunkel der Nacht richteten sich mehr als ein halbes Dutzend Gewehrläufe auf die überraschten Wächter. Zögernd hoben sie die Hände. Einer allerdings schien es vorzuziehen, den Helden zu spielen. Er riß sein Gewehr hoch und feuerte einen Schuß auf Willis ab, der sich mit einem Hechtsprung in Sicherheit brachte. Der Schuß bewirkte aber weitaus Schlimmeres. Im Nu erwachte das ganze Lager und verwandelte sich in ein Tollhaus. * Die Männer suchten sofort Deckung, als aus den Schießscharten von Hardys Festung plötzlich ein ungeheures Sperrfeuer auf sie eröffnet wurde. Zum Glück wimmelte es im Innenhof des Lagers noch von unaufgeräumtem Baumaterial, hinter dem man sich verschanzen konnte. »Clement!« schrie Steiner. »Sorgen Sie dafür, daß das Tor aufgemacht wird.« Clement nickte und huschte mit Cartier davon. Die in Schach gehaltenen Wachmänner hatten sich inzwischen von ihrem Schreck erholt und eröffneten - soweit sie noch im Besitz von Waffen waren, und das war nur bei zweien der Fall - ebenfalls das Feuer. Steiner hörte von jenseits der Palisade erregte Kommandos, dann stieg eine rote Leuchtkugel auf und tauchte das ganze Lager in ein helles Licht. Anders kam! Steiner atmete auf, als er sah, wie sich langsam das schwere Palisadentor öffnete und Anders' Leute mit den Waffen im Vorhalt, in den Innenhof stürzten. Die Nacht lag im Geprassel der Schußwaffen. Als erste gaben die halb überrumpelten Wachmänner Hardys auf und kamen mit erhobenen Händen aus ihren Verstecken. Die in den einzelnen Baracken aufgeflammten Lichter erloschen sofort, als eine verirrte Kugel eine Scheibe durchschlug und eine Lampe traf. Vereinzelte
Uniformierte drängten sich aus den Türen und machten sich auf den Weg zur Waffenkammer, wo sie von einer Salve empfangen und zurückgetrieben wurden. Anders warf sich neben Steiner zu Boden. Ein schwerer Bretterstapel schützte sie weitgehend vor dem MP-Feuer aus der Festung. Ab und zu zeugte ein brüllender Aufschrei von einem Treffer. »Es hat keinen Zweck, Steiner«, keuchte Anders. »Sie sitzen dort wie in einem Bunker, gegen den wir mit unseren Faustwaffen nicht ankommen.« »Was wollen Sie tun?« schrie Steiner zwischen zwei Schüssen zurück. »Sie aushungern?« »Vielleicht.« Auch Anders schoß nun. Es war reine Munitionsverschwendung, denn der gesamte Innenhof befand sich nun bereits in ihren Händen. »Warum sollen wir zusehen, wie die Männer sich in Fetzen schießen lassen, während diese Burschen da drin so sicher sind wie in Abrahams Schoß?« Steiner nickte. »Sie haben recht.« Er hob die Hand und schrie: »Aufhören! Sofort aufhören!« Die Schießerei ebbte ab. Einige Männer fuhren auf Lafetten aufgebaute Scheinwerfer heran, die sie auf Hardys Festung richteten. Jetzt wurde die Szene taghell erleuchtet. Cody meldete: »Wir brauchen unsere Spezialisten, Hauptmann. Soll ich einen Kurier ausschicken?« Anders wollte nicken, aber Steiner winkte ab. »Lassen Sie mal. Mir fällt da etwas ein.« Als er Anders erzählte, daß Nyborg, Jason und Perez Hardys Tochter in ihrer Gewalt hatten, fielen dem Kommandanten des Stoßtrupps fast die Augen aus dem Köpf. »Und das sagen Sie mir erst jetzt?« »Es ist verrückt, ich weiß es«, gestand Steiner, »aber Sie müssen meine Lage verstehen. Wir waren anfangs keinesfalls sicher, ob an der Geschichte, die Hardy uns über den Bürgerkrieg erzählte, nicht doch etwas Wahres dran sei. Immerhin war es möglich, daß Sie kein ehrenwerter Mann, sondern ein Gangster in Uniform waren, der jedes Mittel benutzt hätte, um Hardys habhaft zu werden. Auch das Leben seiner Tochter.« »Ich verstehe.« Anders lachte. »Ich zweifle auch nicht daran, daß Hardy jede Art von Erpressung als Lächerlichkeit angesehen
hätte weil er weiß, daß wir Ehrenmänner sind Was nützt uns da jetzt noch seine Tochter?« »Sie kann mit ihm reden.« »Glauben Sie?« Anders war skeptisch. »Passen Sie auf«, fuhr Steiner fort. »Hardy sitzt fest. Er kann uns nicht entkommen. Ich hole Ihre Spezialisten, die ihn so in die Zange nehmen, daß er die Aussichtslosigkeit seiner Lage sieht. Als Psychopath wird er jedoch um keinen Preis nur aufgrund der militärischen Überlegenheit seines Gegners aufgeben. Ein Faktor, mit dem er nicht rechnet, kann der Angelegenheit eine völlig neue Wendung geben.« Anders akzeptierte Steiners Vorschlag. In Camp McCarthy war jetzt völlige Stille eingetreten. In den Baracken regte sich niemand, als Steiner in den Urwald huschte und vom blaugrünen Gewoge des Dickichts verschluckt wurde. * Steiner mußte an Björn Nyborg denken, als die Erdgrubenhütten der Frühmenschen in der Ferne auftauchten. Hatte die Anwesenheit von Perez und Jason einen beruhigenden Einfluß auf ihn gehabt? Judith Hardy war - das mußte er sich ehrlich eingestehen - die schönste Frau, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Für einen von seinem Trieb gepackten Mann war sie eine einzige Versuchung. Das Lager der Frühmenschen lag in völliger Stille vor ihm. Steiner verharrte. Wenn ihn seine Sinne nicht trogen, hätte um diese Zeit bereits ein saftiger Braten auf dem Familienfeuer brutzeln müssen. Vor der Hütte Achrams lag ein schmutziges, menschengroßes Bündel, das. O Gott! Steiner wurde schwindlig, als in ihm der Gedanke aufzuckte, dies könne einer seiner Freunde sein. Wie eine Wilkatze schlich er sich heran. Er erwartete, aus den Hütten die üblichen Schlafgeräusche zu hören, aber überall herrschte eine schreckliche, eiskalte Stille. Die Hütte, die er zusammen mit Perez und Nyborg gebaut hatte, war leer. Das Feuer war erloschen, die Felle lagen durcheinander, als hätte jemand versucht, sich in sie
einzuwühlen. Das Bündel vor Achrams Haus war ein Mensch. Steiner stöhnte laut auf, als er den Mann herumdrehte und in seine gebrochenen Augen starrte. Terengi war der Pelzsammler gewesen, dem sie bis hierhin gefolgt waren. Er war erschossen worden, und auf seinen eher affenähnlichen Zügen zeigte sich ungläubiges Erstaunen.'' In der dritten Hütte fand Steiner die Leichen von Nyborg und Jason. Sie lagen beide mit dem Gesicht zur Erde und die Kalte hatte ihre beiden Körper bereits erstarren lassen. Totenbleich wankte er hinaus. Hinter den Hütten befand sich eine kleine Mulde, in der der aufziehende Wind leise die Grashalme bewegte. Hier lag der tote Leutnant Grigorjew. Eine Kugel hatte seine Kniescheibe zerschmettert, eine zweite seine Brust. Steiner zweifelte nicht daran, daß die zweite Wunde von Grigorjew selbst verursacht worden war, denn er hielt noch immer eine Pistole in der ausgestreckten Rechten; Welches Drama hatte sich hier abgespielt? Die Tatsache, daß er weder auf Fordyce noch auf Langley gestoßen war, bewies, daß Hardys Leute seine Freunde überrumpelt hatten. Möglicherweise hatten die Frühmenschen ihnen helfen wollen, wobei Terengi das Leben verloren hatte und die anderen geflüchtet waren. Grigorjew, den Steiner als eigentlich lauteren Charakter kannte, mußte sich dazwischengeworfen haben. Die Fußverletzung konnte ihm Nyborg oder Jason beigebracht haben und Langley hatte anschließend darauf verzichtet, den Verwundeten mitzunehmen. Steiner brauchte einige Zeit, den schweren Schlag zu überwinden. Dann legte er sich auf die Erde und suchte nach Spuren. Nun kamen die ihm von Achram beigebrachten Kenntnisse zum ersten Mal voll zugute. Es gab zwei, verschiedene Gruppen von Spuren, die in unterschiedliche Richtungen wiesen. Die einen stammten unzweifelhaft von der Familie der Frühmenschen, die sich in die Tundra geflüchtet hatte. Die anderen, Abdrücke von drei paar schweren Militärstiefeln, die von weniger stark eingeprägten Fußspuren begleitet wurden, deuteten auf Langley, Fordyce, Grant und Judith Hardy hin. Gelegentlich hörten Judiths Spuren auf und die anderen sanken tiefer ein. Das mochte bedeuten, daß die Männer das Mädchen abwechselnd getragen hatten. Aber wo war Perez geblieben? Steiner versuchte verzweifelt,
irgendwo die Abdrücke des Indianers ausfindig zu machen, was ihm jedoch mißlang. Ob Perez mit den Frühmenschen gegangen war? Wenn er sich hatte retten können, hätte er ihm eigentlich begegnen müssen. Die Spur führte in einem weiten Bogen in die Tundra hinaus und ging dann wieder in die Richtung auf den Dschungel zu, an dessen anderem Ende Camp McCarthy lag. Scheinbar hatte Langley für eine Weile die Orientierung verloren. Gegen Abend stieß Steiner auf die erkalteten Reste eines Lagerfeuers. Mehrere Zigarettenkippen lagen auf dem Boden herum. Langley schien sich sehr sicher zu fühlen, daß er es nicht einmal für nötig hielt, seine Anwesenheit zu verschleiern. Sicher rechnete er auch gar nicht mit Steiners Rückkehr. Steiner verbrachte die Nacht am Rand des Urwaldes und setzte seinen Weg im Morgengrauen fort. Seine Sinne waren hellwach. Jeder abgebrochene Zweig führte ihn weiter, jedes niedergetretene Grasbüschel oder Strauch wies ihm den Weg. Gegen Mittag hörte er einen krachenden Schuß, dem ein lautes Freudengeheul folgte. Sofort lokalisierte er den Ort des Geschehens. Langley hatte einen seiner Leute auf die Jagd geschickt, vielleicht auch alle beide, denn nach seiner eigenen Stimme hatte der Ruf nicht geklungen. Steiner pirschte vorsichtig weiter. Er entsicherte seine MP, nachdem er das Magazin kontrolliert hatte. Kalte Wut kroch in ihm hoch. Die Männer vor ihm waren Mörder, aber durfte er sich anmaßen, über sie zu richten? Steiner schüttelte den Kopf. Es lag ihm nicht und hatte ihm nie gelegen. Nach Möglichkeit wollte er einen Schußwechsel vermeiden, aber wenn man ihn dazu zwang . Als er seinen Kopf vorsichtig durch einen blühenden Busch steckte, sah er Leutnant Grant, der neben einem eben erlegten Urtapir kniete und es mit einem Messer fachmännisch zerlegte. Seine Uniform bestand nur noch aus Fetzen und der Bart, der sein kantiges Kinn umrahmte, war schmutzig und verfilzt, aber die MP, die neben ihm auf der Erde lag, glänzte noch. »Keine Bewegung, Grant«, zischte Steiner. »Ich töte nicht gern Menschen!« Der Uniformierte zuckte zusammen, aber er bewegte sich nicht. »Leg die Hände über den Kopf!« Grant tat, wie ihm geheißen.
Gehorsam ließ er das Messer fallen. Steiner trat von hinten an ihn heran, nahm sorgfältig Maß und ließ die Handkante gegen Grants Nacken knallen. Der Mann fiel um und lag still. Ehe Steiner sich umdrehen konnte, ratterte eine Waffe in seinem Rücken. Er fiel mehr, als er sich warf. Das Urtapir wurde von den Kugeln buchstäblich zerfetzt und blutige Fleischstücke flogen Steiner um die Ohren. Grant bäumte sich plötzlich auf. Auf seinem Rücken waren zahllose Einschläge zu sehen. Jemand brüllte einen Fluch. Dann: »Langley! Langley! Kommen Sie schnell!« Das war Fordyce. Es krachte im Unterholz, dann brüllte wieder die Waffe auf. Steiner rollte sich so gut er konnte aus dem Schußfeld und blieb keuchend hinter dem Stamm eines Mammutbaums liegen. Seine Hände waren schweißnaß, und noch immer war Fordyce nicht zu sehen. Er hatte keine andere Wahl, als blindlings in die Gegend zu knallen. Steiners MP rasselte, entfesselte ein höllisches Inferno. Irgendwo fiel etwas dumpf auf den Boden, dann schrie Fordyce: »Meine Hand! Der Lump hat meine Hand...« Er taumelte aus einem Gebüsch, mit irrem Blick und einer Pistole in der Linken. Unablässig feuernd rannte er auf Steiner zu, der erschreckt seine Waffe hochriß. Im entscheidenden Moment versagte Fordyces Waffe. Dann teilte sich hinter ihm das Dickicht und Langley erschien, sonnenverbrannt, eine erloschene Zigarre zwischen den Lippen. Seine Augen sagten Steiner, daß er verloren war, wenn er jetzt nicht augenblicklich handelte. Er kam nicht mehr dazu, den Abzug zu betätigen, denn im gleichen Augenblick raschelte es in den Zweigen eines Baumes. Langley sah hoch. Überraschung war auf seinem Gesicht. Eine Lanze mit steinerner Spitze raste auf ihn zu und durchbohrte sein Herz. Steiner hörte in der Ferne Judith Hardy laut schreien. Er sah Fordyce, der mit einem irren Lachen in das Geäst zeigte, aus dem sich eben Diego Perez schwang und sich zu Boden warf. Dann war plötzlich eine unerklärliche Schwäche in seinen Gliedern und die Welt versank in einem schimmernden Kristall.
* Als sie in Camp McCarthy ankamen - Steiner, Perez, Judith Hardy und der verletzte Keith Fordyce wehte bereits eine andere Flagge über den Palisaden. Sie brachten Fordyce ins Lazarett, wo ihm sofort die rechte Hand amputiert wurde, dann begaben sie sich zu jenem Wal! aus alten Fässern, Sandsäcken und Bohlen, die man rings um die Festung Hardys aufgebaut hatte. Anders empfing sie mit lautem Hallo, klopfte Steiner auf die Schulter und ließ sich Diego Perez vorstellen, der als einziger dem Massaker entkommen war, das Langley und seine Vasallen angerichtet hatten, nachdem es ihnen gelungen war, den Frühmenschen Terengi mit Hilfe eines versteckt gehaltenen Messers als Geisel zu nehmen. Perez' Gesicht hatte sich zu einem entsetzlichen Schmerz verzogen, als Steiner ihn nach dem genauen Hergang des Geschehens gefragt hatte. »Jason hatte Fordyce kaum seine Waffe ausgehändigt, als Langley Terengi umbrachte. Wir waren alle viel zu verwirrt in diesem Moment, um an eine Gegenwehr zu denken. Mich erwischte ein Streifschuß an der Stirn, der meinen Kopf mit Blut überströmte. Deswegen haben sie mich für tot gehalten. Als ich erwachte, liefen sie davon, Hardys Tochter zwischen sich, die sich wie eine Tigerin wehrte. Auch Grigorjew wandte sich gegen die kaltblütigen Morde. Fordyce verpaßte ihm eine Kugel in die Kniescheibe; sie haben ihn einfach liegengelassen. Als ich wieder bei Kräften war, war er schon tot.« Anders sagte: »Sie sind Miß Hardy?« Als sie nickte, deutete er auf die Festung, hinter deren Schießscharten keinerlei Leben erkennbar war. »Die Generäle, die Ihren Vater unterstützt haben, legten bereits gestern die Waffen nieder und kamen heraus. Ihr Vater hat den letzten Mann, der ihn verlassen wollte, in den Rücken geschossen. Er ist nun allein.« Steiner registrierte, daß in den letzten Stunden jegliche Arroganz aus Judiths Gesicht geschwunden war. Das Mädchen machte einen verstörten Eindruck und hatte den ganzen langen Weg über, während dem Steiner ihr alles über ihren Vater erklärt hatte, was er wußte, geschwiegen. Gelegentlich hatte er geglaubt, Tränen in ihren Augen zu sehen, aber ihr Gesicht war
starr wie eine Maske gewesen. »Glauben Sie mir nicht?« hatte er sie gefragt, kurz bevor sie Camp McCarthy erreichten. »Ist es Ihnen unmöglich, sich vorzustellen, daß Ihr Vater ein psychopathischer, reaktionärer Träumer ist, der sich auf eine Insel zurückzog, weil er seine Vorstellungen von einer anderen Welt zu Hause nicht durchsetzen konnte?« »Es ist mehr in den letzten Wochen geschehen als in meinem ganzen Leben zuvor«, erwiderte sie mit fester Stimme auf Anders' Worte. »Ich habe immer die Ansicht vertreten, daß derjenige, der die Macht will, darum kämpfen muß. Glauben Sie nicht, daß ich meine Ansichten über die Machtverteilung geändert habe. Diesmal haben Sie gewonnen. Aber nur dieses Mal.« »Wir werden von nun an wachsam sein«, konterte Anders. Sie ging nicht auf seine Worte ein. »Ich gehe jetzt zu meinem Vater.« »Holen Sie ihn heraus?« fragte Steiner. Sie zuckte die Schultern. »Ich will es wenigstens versuchen.« Als sie die Deckung verließ, fielen die ersten Schüsse. Die Männer duckten sich, Judith Hardy strauchelte und fiel hin. Mit einem Panthersatz war Steiner über den Wall hinweg und warf sich auf ihren Rücken. Automatisch griffen seine Finger nach dem Abzug. Seine MP spuckte Feuer und Blei gegen die Festung Hardys, aber noch durch das Gedröhne der Waffen war die kreischende Stimme des einsamen Mannes zu hören, der schrie: »Mich bekommt ihr nicht! Mich nicht! Ich werde ein Imperium errichten, das die Geschichte überdauern wird! Meine Getreuen stehen auf meiner Seite!« Steiner riß Judith an der Schulter zurück. In seiner linken Hüftseite tobte Schmerz. Hilfreiche Hände rissen ihn und das weinende Mädchen über den Wall. Hardy schrie: »General Cunningham! Lassen Sie die Geschütze sprechen! General Cunningham! Hören Sie denn nicht?« Und ein wenig später: »Das ist Meuterei, Cunningham! Ich lasse Sie vor ein Kriegsgericht stellen!« »Feuer einstellen«, befahl Anders. Sein Gesicht war jetzt weiß. »Es ist schlimmer, als wir gedacht haben«, hörte Steiner ihn sagen. Aus der Festung erklang jetzt lautes Schluchzen. Dann wurde die Tür geöffnet und Hardy kam heraus. Sein rechter Arm lag in
einer Schlinge, in der Linken hielt er einen ehemals weißen, jetzt blutdurchtränkten Lappen. Er heulte vor Wut. Jemand schrie: »Sanitäter!« und Judith, die neben dem verletzten Steiner auf dem Boden hockte und sich an seinen Oberkörper klammerte, sagte mit bleichen Lippen: »Mein Gott...« * Zwei Wochen später. Alles wurde für die Rückreise in die Gegenwart vorbereitet. Die Techniker des Stammpersonals waren damit beschäftigt, die Generatoren, die für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen hatten, wieder aneinanderzukoppeln. Anders' Männer und die Wissenschaftler und Angestellten des Forschungsinstituts hatten sich in mehreren Reihen neben ihren Habseligkeiten aufgestellt. Die Maschinerie, die sie alle wieder in die Heimat zurückkehren lassen sollte, war noch nicht fertig, und die Männer standen deshalb vor mehreren aufgereihten Tischen, tranken Kaffee aus großen Blechkannen und vertrieben sich die Zeit mit Würfelspielen und derben Witzen. Anders stand bei ihnen, ein hagerer, braungebrannter Mann mit wachsamen Augen, muskulösen Armen und blitzenden Zähnen. Er lachte, trank einen Becher Kaffe und scherzte mit Miß Smith, die trotz ihrer dunklen Hautfarbe bis hinter die Ohren errötete. Ein dumpfes Nebelhorn klang auf, dann sagte die Stimme eines Technikers über die Lautsprecheranlage: »In vier bis fünf Minuten sind wir soweit, Leute. Vergeßt eure Koffer nicht und grüßt mir mein geliebtes Louisiana!« Die Umstehenden lachten. Nicht alle würden jetzt wieder zurückkehren, aber diejenigen, die die Generatoren in Gang halten mußten, würden spätestens in zwei Tagen abgelöst werden. Wie Anders versichert hatte, wartete auf der anderen Seite bereits die seit langem angekündigte wissenschaftliche Expedition, die sich der Vergangenheit behutsam annehmen und auch die etwaigen Vergehen, die Hardys blinder Aktionismus angerichtet hatte, wieder ausbügeln würde. Steiner gehörte zu den Auserwählten, die das Quartär verlassen würden. Allerdings hatte er es nur auf einen kurzen Urlaub in der Gegenwart abgesehen, in dem er sich mit einigen Bücherkisten
eindecken und Bekannte besuchen wollte. Er trug sich mit dem Gedanken, seine Erlebnisse im Anthropozoikum schriftlich niederzulegen und sie einem Verlag anzubieten, aber sicher würde noch eine gewisse Zeit vergehen, bis es überhaupt an die Öffentlichkeit drang, daß eine Zeitreise überhaupt möglich war. Jemand nahm ihm plötzlich mit sanfter Hand die Krücke aus der Hand, griff nach seinem rechten Arm und legte ihn sich über die Schulter. Steiner war überrascht, aber er war mehr erfreut als erbost, daß es Judith Hardy war, die ihn stützte. Sie hatten in den letzten Tagen mehrere lange Gespräche geführt, die damit geendet hatten, daß er sie zutiefst verwirrt und verunsichert zurückgelassen hatte. Es war nicht einfach gewesen, sie davon zu überzeugen, daß das Zeitalter der Privilegien, das Zeitalter der Herrschaft der Wenigen über die Vielen nun zu Ende war. Sie hatte seine Worte nach und nach zögernd akzeptiert, wenngleich sie sich kaum vorstellen konnte, wie ein System funktionieren konnte, in dem nicht in althergebrachter Weise über das Volk geherrscht wurde. »Jedes Volk hat die Regierung, die es verdient«, hatte sie anfänglich gemeint. »Wenn es eine verbrecherische ist, ist das Volk selbst schuld, wenn es sie nicht abschafft.« »Und genau das hat es getan«, hatte Steiner bedacht geantwortet. »Es liegt nun an ihm, darüber zu wachen, daß das alte System sich nicht wieder restauriert und erneut an Macht gewinnt, wie es in vielen anderen Staaten bereits einmal geschehen ist.« Hauptmann Anders winkte Steiner und Judith zu und rief: »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, wenn wir drüben heil angekommen sind. Es war mir ein außerordentliches Vergnügen, festzustellen, daß auch Schreibtischpiloten zu vernünftigen Gedankengängen in der Lage sind!« Steiner lachte. »Bis dann!« Das Zeitfeld blitzte auf. Die Luft begann vor ihren Augen zu flimmern, als sich die erste Gruppe in Bewegung setzte. Die Männer traten in den auf den Boden gezeichneten Kreis und durchstießen das Tor zwischen den Zeiträumen. Die Luft waberte hinter ihren Rücken, dann waren sie verschwunden. »Gruppe zwei!« schrie der Techniker aus Louisiana. Steiner
machte sich bereit. Um ihn standen Perez, Clement, Willis, Cartier und all die anderen alten Freunde, mit denen er zusammengearbeitet hatte und bald wiedersehen würde. »Gib mir einen Abschiedskuß«, sagte Judith Hardy plötzlich. Steiner sah verwirrt zu ihr hinunter. Sie hielt sich meisterhaft, aber er erkannte, daß sie den Tränen nahe war. War es möglich, daß sie sich in den wenigen Tagen, in denen sie wie Menschen miteinander gesprochen hatten, in ihn verliebt hatte? Er küßte sie sanft. »Wir werden uns bald wiedersehen«, sagte er heiser. Und während er auf das flackernde Zeitfeld zuschritt, hatte er plötzlich das Gefühl, daß sein Urlaub nicht länger als einen Tag währen würde...
-ENDEIn 14 Tagen an Ihrem Kiosk: Ein Planet wird versteigert von W. A. Travers Im bekannten Universum gibt es keine Welt mehr, die sich zur Besiedlung eignet, und die Kolonien der Erde sind bereits übervölkert. Da findet der Wissenschaftler Fendsal ein Verfahren, mit dem die giftige Atmosphäre des Planeten NESTOL atembar gemacht werden kann. Aber die Umwandlung würde astronomische Summen verschlingen. Zwei skrupellose Geschäftemacher kommen der zögernden Regierung zuvor. Sie setzen durch, daß NESTOL verkauft wird. Jedermann darf für teures Geld sein eigenes Stück des Planeten erwerben und später bewohnen. Von dem Erlös des Verkaufs wird nicht nur die Umwandlung bezahlt, sondern die beiden Initiatoren vervielfachen dabei ihr gigantisches Vermögen, indem sie die Situation rücksichtslos ausnutzen. Radikale Gruppierungen tauchen auf, überall gärt es, es kommt zu Unruhen. Die meisten Käufer haben sich an den Rand des finanziellen Ruins manövriert und sehen sich betrogen, als eine Panne die andere jagt...