GEORG KURT SCHAUER
TYPOGRAPHIE DER MITTE
SCHRIFTGIESSEREI D. STEMPEL AG
GEGENWART UND VERGANGENHEIT Wer von der Geg...
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GEORG KURT SCHAUER
TYPOGRAPHIE DER MITTE
SCHRIFTGIESSEREI D. STEMPEL AG
GEGENWART UND VERGANGENHEIT Wer von der Gegenwart sprechen will, sollte mit der Vergangenheit beginnen. Er muß versuchen, sich aus dem Heute, in das er verwickelt ist, herauszulösen, um Überblick zu gewinnen. Wer die Gegenwart angehen, erfahren will, muß weit ausholen — so weit, wie es der Raum erlaubt, der ihm zugemessen ist. Dieser Raum ist knapp, nicht größer als eine Betrachtungsstunde. Darum gilt es, die Lust an einer tiefgehenden Untermauerung des Gegenwartsbildes zu zügeln und nur das herauszuarbeiten, was das Heute vom Gestern, von der jüngst vergangenen Epoche des Schriftwesens unterscheidet. Ist es denn möglich, die Grenze des Gestern und den Eintritt in die gegenwärtige Phase zu erkennen? Stehen wir nicht etwa inmitten eines breiten Geschichtsabschnittes, dessen Anfang Jahrzehnte zurückliegt? Wird es nicht höchst bedenklich erscheinen, wenn in den folgenden Darlegungen eine Stilwelle, die uns vor kurzem noch zu tragen schien, als abgeebbt und versunken bezeichnet wird? Wo ein Neues beginnt, wird gemeinhin erst Jahrzehnte nach dem eigentlichen Geschehnis mit Sicherheit erkannt und anerkannt. Es geht uns bei der zeitlichen Einordnung jüngster Geschichtsabläufe wie mit den Jahreszeiten. Ein Schneefall im Oktober braucht keineswegs den Winteranfang zu bedeuten, und ein Knospenausbruch im Februar mag von Frostwochen überwältigt werden, die den Frühling weit hinausschieben. Die Deutung der Symptome ist schwierig. 5
Vergangenheit und Gegenwart haben eine breite Grenzzone zwischen sich, in der die Erscheinungen nicht immer mit Sicherheit zur einen oder anderen Seite gezählt werden können. Es liegt nahe, die Episode der nationalsozialistischen Fremdherrschaft mit der aus ihr hervorgehenden Kriegskatastrophe als Zeitengrenze anzusehen. Nicht immer aber fallen die politischen und die künstlerischen Umbrüche zeitlich zusammen. Der Expressionismus setzte nicht am Ende des ersten Weltkrieges ein, sondern war bei seinem Anfang schon in vollem Gang. Häufig bleibt die kulturelle Entwicklung von machtpolitischen Ereignissen fast unberührt. Die napoleonischen Kriege haben für die Entfaltung der Romantik ebenso wenig bedeutet wie die Diadochenkämpfe für die Verflechtung der griechischen und der kleinasiatischen Kulte. Es mag aussichtslos erscheinen, den Ort zu bestimmen, an dem wir uns in typographischer und buchkünstlerischer Hinsicht befinden. Das dem Menschen eingeborene Erkenntnisverlangen, das alle Gebiete des Erlebens und des Wirkens umfaßt, zwingt uns jedoch unausweichlich dazu, den Versuch zu wagen und immer wieder zu wagen. Geschichtserkenntnis ist nichts anderes als Selbsterkenntnis. Zu wissen, wo man steht, vermittelt eine Befriedigung und ein Gefühl der Sicherheit. Das Wissen an sich ist von Wert und Wichtigkeit. Ob aus der gewonnenen Kenntnis irgendein Vorteil gezogen werden kann, bleibt ungewiß, obgleich wir uns bemühen werden, den Standort zu befestigen, zu verändern oder zu verlassen, wenn er uns nicht gefällt. Eine flinke Nutzanwendung aber würde nichts bedeuten und nichts verändern. Sie käme auf ein Kurieren der Symptome hinaus. Unser Ort und unser Weg werden von den gestalterischen Kräften unserer Zeit bestimmt. Diese Wegmacher jedoch sind nur zum Teil ihre eigenen Herren, denn sie sind Organe einer umfassenderen Person, nämlich der Kultur unserer Epoche. In ihr Gesamtbild ist das schriftgestalterische und typographische Gehaben eingeordnet. Haltung und Anlage 6
unseres schriftlichen Ausdrucks sind gewiß vorwiegend ihrer eigenen Überlieferung und Entwicklung verpflichtet, können sich jedoch einer Verbindung mit den Zeitgewohnheiten auf den Gebieten der Gerätformung und Architektur oder der Plastik und Malerei nicht entziehen.
JUGENDSTIL In der Zeit um 1900 fegte eine kühne Bewegung, der Jugendstil, die Ausläufer der richtungslos und erfindungsarm gewordenen Spätromantik des 19. Jahrhunderts hinweg. Schriftwerk und Gerät wurden von einem Ornamentstil überzogen und beherrscht, der mit seinem Anspruch auf allgemein verbindliche Modernität durchdrang. Allem Historischen war diese pflanzlich wuchernde, allem Tektonischen abholde Formenwelt entgegengesetzt. Wahrscheinlich lag in der Maßlosigkeit und der Voraussetzungslosigkeit dieses Aufbruchs der Kern zu der raschen Erschöpfung der Möglichkeiten, die in ihm lagen.
GEHALT UND GESTALT Schon unmittelbar nach 1900, während der Jugendstil in die Breite ging, zeichnete sich ein neues Gestaltungsprinzip im graphischen Bereich ab, eine Hinwendung zum Individuellen und ein neues, vom 19. Jahrhundert gänzlich verschiedenes Begreifen des geschichtlichen Formenschatzes. Die klassischromantischen Schrift- und Schmuckelemente von 1800, Barock und Humanismus, schließlich die ganze Schreibkunst des Mittelalters wurden in ihrem Wesen erkannt und als Anregung zu einem persönlichen, aber traditionsgesättigten Schriftausdruck verwendet. Hier war das Geschichtliche nicht eine modische Kostümierung wie so oft im 19. Jahrhundert, sondern nacherlebt, einverleibt und wiedergeboren. Seine überlieferungsgerecht weiterentwickelten Formelemente dienten dazu, jeder Aufgabe 7
im graphischen Bereich nach ihrer Besonderheit gerecht zu werden. Das ideale Ziel war die völlige Übereinstimmung von Gehalt und Gestalt. Jedes Schriftwerk sollte unter Beihilfe von Ornament und Illustration zu einem Eigenwesen werden oder wenigstens zum unverwechselbaren Ausdruck seines Sachgehalts, seiner Stimmung und Bedeutung. Der umwandelnden und erneuernden Phantasie einer vielseitig begabten, gestaltungsstarken Generation von Malern und Architekten, die zu Schrift- und Buchgestaltern wurden, waren die Tore geöffnet, und viele Jahrhunderte der Schreib- und Satzkunst wurden als Formenquellen erkannt. Der geschichtliche Bestand an Druckschriften wurde als etwas Gegenwärtiges empfunden und in seiner ganzen Ursprünglichkeit angewandt. Die neuen Schriftgestalter setzten im Gefühl der ebenbürtigen Nachfolge die im 19. Jahrhundert oder schon vorher abgebrochenen Entwicklungsreihen fort. Die individuelle Form wird freilich im graphischen Bereich auch bei äußerstem Bemühen nur annähernd erreicht. Druckschriften und Schmuck aus Satzmaterial dienen ja nicht nur einer einzelnen Aufgabe, und es bedeutet schon viel, wenn z. B. bei Pressenunternehmen eine Schrift nur für eine eng begrenzte Gruppe von Drucken verwendet wird. Sogar der Individualisierung geschriebener und gezeichneter Schrift sind Grenzen gesetzt, weil die Lesbarkeit eingehalten und die geläufigen Grundformen der Buchstaben nur mäßig abgewandelt werden dürfen. Eigenwillige Schriftbilder, die in der Zeit des Jugendstils über diese Grenze hinausschossen, wurden selbst in jener Zeit der Traditionsfeindschaft abgelehnt. Der aus propagandistischen Gründen zeichnerisch oder malerisch gestaltete Schrift- und Bildumschlag des Buches ist eine Erfindung des frühen 20. Jahrhunderts. Vor allem die Künstler der um die Jahrhundertwende aufblühenden Zeitschriften Simplizissimus und Jugend versahen die Romane von Albert Langen und S. Fischer mit illustrativen Umschlägen, deren Beschriftung 8
meist ins Bild hineingearbeitet wurde und mit der Typographie des Buchinnern so gut wie nichts zu tun hatte. Emil Rudolf Weiß dagegen entwickelte seine Umschlagbilder aus der Einbandbeschriftung und unterstellte, wo immer er konnte, alle Teile des Buches einer einheitlichen Schriftidee. Eine Skala von Ausprägungen dieser Idee stufte sich aus dem Text über den Einband zum Umschlag hinauf, eine Skala, gerichtet auf den individuellen Ausdruck des Buchinhalts. Im dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts trat neben die von Weiß, Ehmcke, Preetorius, Meid, Schneidler und vielen anderen so glanzvoll vertretene Methode eine noch stärkere Individualisierung des Umschlags. Georg Salter und seine Artverwandten machten den Umschlag zum Plakat oder Bühnenbild und lösten den Bild- und Schriftumschlag bewußt vom Buchkörper ab. Nicht weniger bemerkenswert als die Beschäftigung mit dem individualisierenden Buchumschlag war die Hinwendung zu den Quellen der Druckschrift, nämlich zum Schreiben. Man eignete sich die Technik der alten Schreibmeister an, man erlernte und lehrte den Umgang mit den alten Schreibwerkzeugen und bahnte sich so den Weg zu einem echten Verständnis der Schriften des Mittelalters und den Methoden der geistlichen und weltlichen Kanzleien. Der lange Weg von den mittelalterlichen Schriftformen über die humanistische und barocke Kalligraphie wurde in einer hingebungsvollen Handwerksübung nachgeschritten. In England waren William Morris und Edward Johnston die Bahnbrecher gewesen. In Wien lehrte Rudolf von Larisch. In Deutschland ist es vor allem F. H. Ehmcke und Rudolf Koch zu danken, daß das Schreiben zur Grundlage für jede Beschäftigung mit Typographie sowie Buch- und Werbegestaltung wurde. Nicht nur dem tiefen Verständnis für die Gestalter der alten Druckschriften war dieses Nacherleben des alten Schreiberhandwerks dienlich, sondern es schuf auch die Voraussetzung für jene Fortsetzung der Überlieferung, die uns in den höchst persönlichen Schriftgestaltungen von Rudolf 9
Koch sowie in den phantasievollen Bereicherungen des Typenbestandes durch Ehmcke und Schneidler, Tiemann und Weiß entgegentreten.
DREI ZONEN DER INDIVIDUALISIERUNG Eine Epoche, die den Individualismus auf ihre Fahne geschrieben hat, ist der Gefahr der Zersplitterung ausgesetzt. Wer eine Menge Bücher, Zeitschriften, Anzeigen oder Werbedrucksachen etwa aus dem Jahre 1930 vor sich liegen hat, steht vor einer schier unübersehbaren Wirrnis, obwohl das Einzelne bei weitem sinnvoller und reizvoller ist als all das Überladene und Gekünstelte des späten 19. Jahrhunderts. Wir bemerken extreme Verschiedenheiten, wie sie in anderen Zeiträumen kaum vorkommen. Der Grundsatz, der Gehalt schaffe sich die Gestalt, hält wie ein weit umgrenzender Gürtel die auseinanderstrebenden Einzelerscheinungen zusammen. Mit Mühe erkennt der auf Ordnung bedachte Historiker drei Zonen von verschiedener Dichte. Er weiß, daß diese Dreiteilung nur eine derbe Einteilung darstellt. Die in der Gestaltungsweise von E . R . Weiß durchgeformten Drucke und Buchwerke sind Eigenwesen von hoher Ausdruckskraft. In ihnen ist das individualistische Prinzip mit einem hohen Grad von Folgerichtigkeit verwirklicht. Der S. Fischer Verlag, der fast alle bekannten Buchkünstler der Zeit zu seinen Mitarbeitern zählte, und der Verlag Eugen Diederichs, dessen Gesicht in seinen Hauptzügen von Ehmcke und Schneidler bestimmt worden ist, haben sich lebhaft zu dem individualistischen Ausstattungsgrundsatz bekannt. Für die zweite Zone ist der entscheidend von Walter Tiemann beeinflußte Stil des Insel-Verlags bezeichnend. Einbände, Satzbilder und Umschläge dieses Verlags sind gewiß auf den Inhalt abgestimmt und lassen kein Mißverständnis über die Art und Haltung des Autors zu. Aber die Individualisierung bleibt — offenbar aus Scheu vor der Zerreißung der Gemeinschaft — auf 10
halbem Weg stehen. Schriften und Ausstattungen gelten jeweils für eine Gruppe oder das Gesamtwerk eines Autors. So bildet sich ein charakterisierender Ausstattungstyp heraus, der die Eigenart bewußt maßvoll und zurückhaltend zur Schau stellt. In der dritten Zone bemerken wir eine weitere und erheblichere Verdünnung des Persönlichkeitsgrundsatzes. Beispielhaft dafür ist das typographische Werk Jakob Hegners. Er und seine Nachfolger kennen keine Besonderung von Werk- und Autorengruppen. Beim Einband steht einheitlich die Beschriftung am Kopf des Rückens, wo irgend möglich auf einem Titelschildchen. Wenige Antiquaschriften, vornehmlich vom Renaissancecharakter, sind für die Satzbilder zugelassen. Gezeichnete Schriften kommen praktisch nirgends vor. Aus solchen Gestaltungsregeln hat Hegner einen typisierenden Stil von erlesener Kargheit entwickelt. Fast könnte es scheinen, als hätten wir die Grenze des individualistischen Grundgesetzes überschritten. Ohne Zweifel befinden wir uns in einem Grenzbezirk, und dennoch haben wir Grund genug, auf Hegners Art den Leitsatz von der Gestaltung aus dem Inhalt heraus anzuwenden. Seine ausstatterische Haltung ist typisch für eine bestimmte Art von Inhalten. Sein Buchstil ist der des katholischen Intellektuellen. Eine bestimmte Art von Geistigkeit verkörpert sich mit unaufdringlicher aber unverwechselbarer Eigenart. Typisierend und einem anderen Grenzbereich zugehörig ist die vom Weimarer Bauhaus ausgegangene sogenannte elementare Typographie. Hätte sich der Anspruch, mit dem dieser Stil auftrat, durchgesetzt, so wäre der Rahmen unseres Bereichs gesprengt worden und die nächste Phase des Schriftwesens hätte im Zeichen einer serifenlosen Antiqua ohne wechselnde Strichstärke gestanden. Die herkömmliche typographische Mittelachsenordnung wäre überall einem asymmetrisch orientierten spannungsreichen System von hellen und dunklen Räumen gewichen. Dieser Anlauf zu einem völlig traditionslosen, allumfassenden Konstruktionsstil erreichte sein Ziel nicht und be11
schränkte sich bald auf Themen, die aus dem Bauhaus und seiner Nachfolge hervorgingen. Damit wurde auch diese Stilrichtung zum Gesinnungsausdruck und zur typischen Form einer bestimmten Lebensauffassung. Sie stellt eines der Extreme dar, die jener ersten Jahrhunderthälfte das Gepräge geben. Erscheinungen aus allen drei Zonen werden wir als Quellgebiete ansehen, in denen bedeutsame Ströme aufgebrochen sind. Sie gehören zwei Zeitaltern an, ebenso sicher jener Epoche, der ein individualistisches Ideal vorgeschwebt hat, wie einer neuen Phase, einem stilgeschichtlichen Zeitabschnitt, dessen Kennwort wir noch nicht wissen, möglicherweise aber ahnen und in den folgenden Darlegungen einzukreisen suchen.
STILWENDE Viele Bedenken sind vorausgeschickt. Wir sind uns der Kühnheit des Unterfangens bewußt, wenn wir es nun wagen, mit fragmentarischen Indizien unseren Standort zu bestimmen und die Marschrichtung unseres Stilschicksals anzudeuten. Wir dürfen nicht erschrecken, wenn wir Verluste bemerken, wenn wir Kahlflächen betreten und im Geröll versickerter Flußläufe stolpernd voranzukommen trachten. Wir haben hier fürs erste nichts anderes zu tun als den Bestand der Erscheinungen ringsum ins Auge zu fassen. Der Überblick ist unzulänglich. Die Gefahr des Überschätzens und des Unterschätzens ist groß. Jedem Bewußtwerden geht ein unsicheres Tasten voraus. Mag es uns dabei ein Trost sein, daß die Geschichte keine Sprünge macht und daß wir die Großen der Vergangenheit als Nothelfer in der Erinnerung haben. Am Stand der Gestirne aber werden wir bemerken, daß die Stunde vorgerückt und daß die Erde sich ein wenig gedreht hat. Sie hat nie still gestanden und wird nicht ruhen, wenn wir ihr auch noch so beschwörend unser »Verweile doch« zurufen. Wenden wir uns unter solchem Schicksalszwang und mit solchen Vorbehalten den Erschei12
nungen zu, die unsere Gegenwart kennzeichnen und an denen eine Stilwende abgelesen werden mag!
ORNAMENT Lassen wir den Blick an den Jahrhunderten entlang gleiten bis ins frühe Mittelalter hinab. Immer werden wir neben dem geschriebenen oder dann gedruckten Buchstaben Zierat und Ornament finden, verstreute oder periodisch gereihte Bildelemente — Eingangsfanfaren und Apotheosen, Zwischenspiele und Rahmungen. Die ersten zwei oder drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts waren schmuckreich. Gerahmte Anzeigen gab es, Guirlanden über den Kapitelanfängen, vignettengeschmückte Titel und ausdrucksvolle Einbandstempel, Bildinitialen und ornamentbesetzte Buchrücken. Jetzt ist das Ornament fast ganz verschwunden. Wo es noch auftritt, ist es — von wenigen traditionsechten Fällen abgesehen—gleichgültig und ausdruckslos geworden. Die Rahmung ist eine belanglose Einzäunung, im Material so bedeutungslos wie ein Maschendraht an eisernen Pfählen. Auf den Buchrücken stehen noch dann und wann ein paar Linien, glatt oder wie mit der Brennschere leicht gekräuselt, entlegenste Erinnerung an schmuckbetonte Bünde. So verlegen und scheu in ihrem falschen Gold tauchen sie auf, wenn der grelle Umschlag verschlissen ist, als schämten sie sich ihrer Existenz, und wir bedauern, daß den Ausstattern noch nicht einmal eingefallen ist, man könnte solche Art Schmuck auch weglassen. An sich gibt es keine Zeit ohne ein ihr zugehöriges Ornament. Jede Epoche hat das Bedürfnis, sich bildlich und formelhaft über die Schrift hinaus zu bekennen. Ansätze dazu sind auch heute da, selbst wenn man alle gedankenlos, verlegen oder gewohnheitsmäßig angebrachten Ornamentreste beiseite schiebt. Wohl nur von modischer, also kurzfristiger Bedeutung ist der für eine Gruppe von Typographen obligate Stern, der nichts 13
mit dem alten Heilszeichen oder dem Drudenfuß zu tun hat, sondern die Funktion einer Verkehrslampe hat, die sich Aufmerksamkeit erzwingt. Bedeutsamer sind die strahligen, hyperbolisch gekrümmten oder kreisenden Linien, desgleichen die Bevorzugung von Präsentierflächen mit unruhigen, teigigen Konturen. Dabei wird klar, daß eine wirklichkeitsleere, alles Tatsächliche aufweichende und zerfasernde Richtung der modernen Kunst Eingang in den graphischen Bereich gefunden hat. Angesichts dieser Armut und Unsicherheit liegt die Frage nahe, wie es denn früher mit dem Verhältnis zwischen Stil und Ornament stand. In der jüngst vergangenen Phase war der Schmuck ein Bestandteil des graphischen Ausdrucks. Die geschichtlich bedingten Schriften waren von mehr oder weniger frei abgewandelten Schmuckelementen begleitet. Im Jugendstil legte das Ornament die geistigen Wurzeln der Bewegung frei: Wasserpflanzen, Tange, Blätter und Rankenwerk, weiche Kurven überall wie in der höchst bezeichnenden Eckmann-Schrift — nirgends etwas Hölzernes und Hartes, nirgends ein rechter Winkel zwischen Last und Stütze — so manifestiert sich eine Stilgesinnung im Ornament. Das Wuchern und Strömen, das Dynamische schlechthin, ist das Wesen des Jugendstils. Je weiter wir über die allegorischen Bildsprachen der Romantik und des Barocks, der Renaissance und der Spätgotik ins Mittelalter hinabsteigen, bemerken wir eine wachsende Verdichtung des Symbolgehaltes der Bildornamentik. Hinter dem leichten Spiel des allegorischen Bildes wird die Magie, die im Glauben ruhende Kraft des Symbols, immer deutlicher spürbar. Im ornamental angebrachten Rosengerank wirkte die Macht der göttlichen Liebeskönigin Maria. In jedem Traubengehänge manifestierte sich die Labe des Gottesworts. Heute gibt es kaum ein kraftgeladenes Symbol außer dem Kreuz, während im Altertum und noch an der Schwelle der Neuzeit jedes Gestirn, jede Pflanze von magischer Bedeutung war und sich im Rhythmus des Ornaments, fast jedem verständlich, auszusprechen 14
vermochte. Diese Fähigkeit, Wirklichkeit seelischer Art im Bild zu erkennen, scheint dem modernen Menschen zu fehlen. Vielleicht aber verführt uns nur der Rationalismus, der sich als gesunkenes Herrengut des 18. Jahrhunderts auf der Oberfläche breit macht, dazu, dies zu glauben. Wie unklar und verworren auch immer die Vorstellungen von außervernünftigen Dingen sich im Okkultismus und in Neigungen zur Astrologie ausdrücken — bedeutungslos sind solche Erscheinungen nicht. Eine Welle der Wirklichkeitsdarstellung in der bildenden Kunst und der Literatur, die sich als Reaktion auf den Expressionismus nach dem ersten Weltkrieg erhoben hat, ist nicht mit Unrecht »magischer Realismus« genannt worden. Alles Gewesene kehrt wieder, aber niemals in gleicher Gestalt. So mag auch eine neue Ornamentik heraufkommen. Es ist eher wahrscheinlich, daß darin die Rhythmik abstrakter Liniengefüge vorherrscht als das vereinfachte Naturabbild. Von einem Gesetz, einer Spielregel, wird die Bewegung beherrscht sein genau wie der Tanz. Er unterliegt ja denselben Bedingungen wie das primitive, völlig abstrakte Ornament aus Linien und Flächen, Bändern und einfachsten geometrischen Körpern. Hinter dem unbesieglichen Schmuckbedürfnis, einer Bewußtseinstatsache, verbirgt sich Bedeutung im Unterbewußten. Man tanzt aus Lust am Tanzen. Nicht jeder braucht zu wissen warum.
PRIMAT DER ANTIQUA Unmerklich und kampflos ist vorerst das Ornament fast völlig aus der Buchgestaltung verschwunden. Nicht weniger lautlos traten die gebrochenen Schriften — Textura, Gotisch, Schwabacher und Fraktur — in den Hintergrund. Der Primat der Antiqua ist eine unverkennbare Tatsache. Die Rücksicht auf das Ausland wird gemeinhin als Hauptgrund angegeben, obwohl kein Ausländer ohne Frakturkenntnis auskommt, wenn er sich nicht auf die Literatur der letzten paar Jahre beschrän15
ken will. Als ein Führerdekret während des zweiten Weltkriegs die gebrochenen Schriften aus dem nämlichen Grunde mit einem Federzug verbieten wollte, wurden die Gegengründe auf das lebhafteste vorgebracht. Sie haben bis heute an Gewicht nichts verloren. Die Hinweise auf die stärkere Ausdruckskraft der gebrochenen Schriften bei der Wiedergabe der Volks- und Dichtungssprache, auf die kräftige Charakteristik des deutschen Wortbildes, auf die Vermeidung von Leseirrtümern und die Raumersparnis — all diese Argumente sind nicht ernstlich widerlegt worden. Schließlich ist es eindrucksvoll genug, daß sich fast ein halbes Jahrtausend hindurch im deutschen Bereich eine besondere Schreibweise für die heimatliche Sprache neben der Gelehrtenschrift erhalten hat. Unbeirrt von den beschwörenden Zurufen zahlreicher Schriftkenner, man möge den Formenreichtum unserer Zweischriftigkeit nicht aufgeben, nimmt die Antiqua den weitaus breitesten Raum in unserem heurigen Schriftgebrauch ein. Wie ist das zu erklären? Der Hinweis auf Export und ausländische Leser ist unzulänglich. Seit der Ernennung der Antiqua zur »Normalschrift« durch den Führererlaß von 1941 wurden die Bestände der gebrochenen Schriften — auch unter kriegsbedingten Vorwänden — systematisch ausgerottet, und die Zerstörung der Stempel und Gießformen in den Schriftgießereien durch Bombenangriffe vervollständigten dieses Vernichtungswerk. Dennoch reichen Erklärungen aus diesen Gründen nicht aus. Wenige Jahre nach dem Kriegsende begannen die Erneuerungen und Ergänzungen der Matrizen, gerieten aber bald ins Stocken. Es zeigte sich, daß der Bedarf geringfügig war und daß die Druckereien mit einem Minimum an Bruchschriften auskamen. Versuchen wir, der Erklärung festere Fundamente zu beschaffen! Unsere Bildungswelt reicht mit einer ihrer kräftigsten Wurzeln bis in den aristotelischen Realismus hinab. Daß wir der Antiqua den Vorrang geben, bedeutet eine verstärkte Hinwendung zu den klassischen und übernationalen 16
Bestandteilen unserer Bildung. Unseren Denkformen ist das Organische und Übersichtliche, das Rationale und Geometrische der Antiquabuchstaben willkommener als das Charakteristische und Ausdrucksstarke der gebrochenen Schriften. Unsere Begriffsbildung und Namengebung bedient sich nach internationalem Brauch der klassischen Sprachen Latein und Griechisch. In den Bereichen der Philosophie und der Psychologie sind die rationalen Züge vorherrschend. Dichtung und Tagessprache, Weltbetrachtung und Kunstübung sind von Vorstellungen erfüllt, für die unsere gebrochenen Schriften nicht mehr als passend empfunden werden, obwohl die gleichen Inhalte früher völlig überzeugend in diesen Schriftarten wiedergegeben wurden. Rationale Begründungen versagen vor den Erscheinungen der Stilwandlung fast immer, ein Rest bleibt ungeklärt. Genaue Beobachtungen der Marktlage ergeben zwar grundlegende Gewichtsverschiebungen in der deutschen Zweischriftigkeit, aber keineswegs den Eindruck, daß die gebrochenen Schriften im Todeskampf liegen. Es dürfte vielmehr eine Verschiebung der Aufgabenstellung vorliegen. Als Auszeichnungsschrift — auch im Werksatz — sind Schriften mit gebrochener Strichführung, die gerade in der deutschen Sprache so eindrucksvolle Wortbilder ergeben, willkommen und als Kontrast zu gerundeten Typen begehrt. Kleine Werkdrucke von individuellem Gepräge sowie einzelne große Aufgaben, die der Tradition besonders verpflichtet sind (z. B. evangelische Bibeldrucke) machen auch weiterhin wohlbegründeten Gebrauch von gebrochenen Schriftcharakteren.
DAS TYPISCHE UND DAS INDIVIDUELLE Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Schriftrichtungen ist nicht neu. Wir erinnern uns der Bemühungen Ungers um das Jahr 1800, aus denen eine Art Synthese von gebrochenen und gerundeten Schriftelementen hervorgegangen ist, wie wir 17
sie an der Jean-Paul-Fraktur und der Unger-Fraktur erkennen. Erneut erhob sich diese Harmonisierungsabsicht um 1909, als E. R. Weiß auf Ungers Spuren die Weiß-Fraktur für die Tempelklassiker gestaltete. Auch heute fehlt es nicht an geistigen Voraussetzungen für eine Annäherung klassischer und romantischer Formgedanken. Die analysierende und spezialisierende Denkweise der Naturwissenschaften hat mächtige Gegner, die ganzheitliches Denken, Intuition und eine magische Form des Realismus vertreten. Das psychologisch geschulte Werbewesen und die Zeitungen können sich eines gewissen Unbehagens bei ihrer Umstellung auf reinen Antiquasatz nicht erwehren. Nur so ist das unverminderte, vielleicht sogar wachsende Bedürfnis nach charakteristischen oder gar bizarren Auszeichnungsschriften zu erklären. Zwar gehen solche Schriften dann von Antiquaformen aus, meist von deren Kursiv-Abwandlung, aber sie vermeiden sorgfältig fast alles, was die Antiqua kennzeichnet, nämlich die klare Einzelheit und die Ausgeglichenheit in der Reihung. Es ist offensichtlich, daß eine Spaltung in der Methode der Satzgestaltung eingetreten ist. Wer unmittelbar, im Augenblick, ohne Rücksicht auf Zusammenhänge wirken will — der benutzt Schriften von Handschriftcharakter. Das Persönliche ist ihm wichtiger als die Harmonie mit der typographischen Nachbarschaft. Er will sich unterscheiden, durch besondere Heftigkeit oder auffallende Stille, durch kraftvolles Gebaren oder einschmeichelnde Zartheit. Er ist ein extremer Individualist. Darum kommt kein Anzeigenwerber, kein Plakatgestalter auf den Gedanken, sich auf wenige Typen zu beschränken. Er sucht ja das Außerordentliche und findet nur Geschmack an Vereinheitlichungen, wenn er — wie bei der Kleinanzeige — keine Aussicht hat, sich aus der Fülle der Gleichstrebenden abzuheben. Er wechselt dann vom Persönlichen zum Typischen hinüber, weil er dabei mehr gewinnen kann als bei dem Versuch, sich gegenüber denen durchzusetzen, die alle das gleiche wollen wie er. Die Anzeigenteile unserer 18
Tageszeitungen sind die Schauplätze dieser Auseinandersetzung zwischen dem individualistischen Geltungsbedürfnis und dem Bedürfnis nach Ausgleich. Während im Akzidenzbereich (das Wort kennzeichnet die Sache deutlich) das Individuelle vorherrscht, sucht der Hersteller von Büchern, Zeitschriften und Katalogen — oft auch der Texttypograph der Zeitungen — das Typische, bei dem die Person hinter der Sache zurücktritt. Er geht auf dauerhafte Einwirkung aus, er will durch sachliche Zurückhaltung Vertrauen erwecken. Darum wendet er nur behutsam die Charakterisierungsmittel an, die in den Schriftarten liegen. Die ausgedehnte Beschäftigung mit der Antiqua hat das Gefühl für die Feinheiten in der Entwicklung dieses Teiles der Tradition geschärft, was unter anderem in der Suche nach einer neuen Einteilung und Benennung der Antiqua-Schriften seinen Ausdruck findet. Die verschiedenen Versuche aus jüngerer und jüngster Zeit (u. a. Renner, Tschichold, Arpe, Zapf) haben manche Klärungen herbeigeführt und die Hoffnung auf eine wirklich einleuchtende, lehrbare und lernbare Methode der Druckschrifteneinteilung erweckt, obwohl die Namengebung wie auch die Zusammenordnung weder einheitlich ist noch den Systematiker befriedigt. Gemeingut ist wohl schon die Aufteilung in gerundete und gebrochene Schriften. Das Wort »Mediaeval« für die Antiquaschriften der Renaissance ist in Verruf gekommen. Für die Bezeichnung »Grotesk« ist leider noch kein Ersatz gefunden, der handlich genug wäre. Umstritten ist die Dreiteilung der Antiquaschriften vor 1800 in Renaissance-Antiqua, Vorklassizistische und Klassizistische Antiqua. Damit sind nur einzelne der zahlreichen Probleme aufgezählt, denen sich die an einer Ordnung Interessierten gegenüber sehen. Für unsere Betrachtung sind drei Feststellungen von Bedeutung. Die serifenlosen Schriften von einheitlicher Strichstärke, die beim Aufkommen der elementaren Typographie den Anspruch erhoben, die Schrift der Zukunft 19
zu sein, sind bisher auf wenige Funktionen beschränkt geblieben, nämlich auf Kombinationen mit dem Photobild, auf die technisch-naturwissenschaftliche Werbung und auf bestimmte Richtung der bildenden Kunst und der Literatur, die das Suchen nach einer »absoluten« Schrift noch nicht aufgegeben haben. Den weitaus breitesten Raum nehmen die alten Schriften aus der Renaissance, dem Barock und dem Klassizismus ein — eine Auswahl von Formen, die sich von schreiberischer Bewegtheit bis zur statischen Festigkeit abstuft. Ähnlich beliebt und an Zahl wachsend sind Neugestaltungen, die sich als nächste Verwandte ausweisen, während die Weiterbildungen der Tradition mit stark individuellen Zügen, die wir in den ersten drei Jahrzehnten unseres Jahrhunderts erscheinen sahen, auffallend zurückgetreten sind. Das Leitwort von der individuellen Schriftwahl, das den Anfangsjahrzehnten unseres Jahrhunderts die Richtung gegeben hat, ist, wie schon erwähnt, in einer Umdeutung begriffen. Das Angemessene, das Passende, das Sinnvolle, die rechte Wahl des Bautyps — das ist es, was den Typographen der Drucke von Dauerwert und den Gestalter betont sachlicher Satzgruppen vor allem beschäftigt. Wir nähern uns in diesem Bereich einer neuen typographischen Konvention, einem Brauch, einer Verabredung darüber, was richtig und geschmackvoll ist. Es bilden sich Grundregeln heraus. Sie stehen keineswegs im Gegensatz zu den Meistern der letzten Phase, wohl aber stellen sie eine Wendung dar, weil sich die Wahl und die Bewertung der Mittel verändert haben.
TYPOGRAPHISCHE MERKMALE DER STILWENDE Die Mittelachse erhebt keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Sie ist jedoch traditionsmäßig eng mit den im Vordergrund stehenden alten Schriften verbunden. Genau so wie diese als Bekenntnis zur Stetigkeit unseres Bildungsflusses verwendet 20
werden, gilt die symmetrische Anordnung als Zeichen der Ausgeglichenheit und Dauerhaftigkeit. Im Anzeigenstil, in Werbeschriften und im Verband mit dem Bild würde sie, wie wir gesehen haben, häufig als Zwang empfunden werden, weswegen hier asymmetrische Anlagen vorgezogen werden. Lesbarkeit und Übersichtlichkeit sind auf dem Gesamtgebiet der neuen Typographie Grundvoraussetzungen. Es kommt auf das psychologisch Richtige an. Man weiß, daß Groß und Klein relative Begriffe sind und daß die Wirkung jedes Grades und jeder Schriftstärke von der Nachbarschaft abhängig ist. Die Typographie ist zu einer psychologischen Kalkulation geworden, zu einem rational geordneten Bau, an dem aber das Spielmoment und die Stimmungswerte sorgsam berücksichtigt werden. Bei den Überschriftungen sollen Auge und Verstand einträchtig zusammen wirken. Das schließt übertreibende Differenzierungen bei der Stufung der Überschriften aus. Die Antiqua bedarf der festen Linienführung. Daher müssen die Zeilen eng ausgeschlossen und die Durchschüsse nicht zu knapp sein. Die Akzente im Satzbild werden sparsam aber kräftig gesetzt. Dazu gehört die Zurückhaltung beim Wechsel der Schriftgrade in den Titeleien. Schriftmischungen sind nur möglich, wenn die Partner auch bei Gegensätzlichkeit in der Stärke oder der Richtung des Striches stilistisch verwandt sind. Während die Buchherstellung an der rechteckig geschlossenen Kolumne festhält, u. a. damit die Prosa nicht mit Gedichtsatz verwechselt wird, schätzt das Anzeigenwesen den sogenannten Flattersatz, um seinen Werbespruch sinnvoll aufgeteilt vorzubringen. Frei auslaufende Zeilen sind auch bei schmalen Kolumnen in Büchern anzutreffen, besonders in Registern zur Vermeidung weiter und unregelmäßiger Ausschlüsse. Das Nebeneinander verschiedener Typen und Anlageregeln ist weder zufällig noch sinnlos. Die psychologisch fundierte Typographie ist differenziert nach den Funktionen, die den einzelnen Druckwerken aufgetragen sind. Damit greift die neue Typographie auf eine 21
alte Gepflogenheit zurück. In der Frühzeit des Druckwesens wie auch in der alten Kanzleipraxis wurde die Wahl der Schrift von der Art der gestellten Aufgabe abhängig gemacht. Es gab Typen, die für liturgische Zwecke bestimmt waren und solche für Texte in der Volkssprache, es gab Gelehrtenschriften und Briefschriften für Verträge und Maueranschläge.
EINBANDGESTALTUNG Die Scheu vor dem Ornament hat auf dem Gebiet des Bucheinbands ein Vakuum geschaffen. Der sinnvoll ornamentierte und vor allem der ornamentlose Einband ertastet sich seine Form. Es ist aber wahrscheinlich, daß durchdachte Rückenbeschriftung aus gesetzten oder geschriebenen Typen — mit oder ohne Rückenschild, nach angelsächsischer Manier oder in der Art von Jakob Hegner, bei schmalen Bänden von unten nach oben laufend — allgemeiner Verwendung finden. Diese Form liegt in der Richtung der im Typographischen zu beobachtenden Typisierung. Das ganze Einbandwesen krankt an der Überschätzung des Werbeumschlags und an der Unterschätzung der Dauerwirkung des Verlagseinbandes. Noch ist kein Anzeichen dafür zu bemerken, daß die Aufdrucke aus Goldfolie in nennenswertem Ausmaß dem Echtgoldaufdruck weichen müssen. In den Kalkulationen werden zu wenig Mittel für die Bindearbeit eingesetzt.
DER WERBEUMSCHLAG Der Schutzumschlag hat sich vom Buchkörper gelöst. Die hauptsächlich von Georg Salter in Gang gesetzte Verselbständigung des Buchumschlags ist zur vollen Entfaltung gelangt. Der Schutzumschlag wird so gestaltet, daß er seine gleichsam heroische Funktion, den Kaufentschluß des Beschauers herbeizuführen, erfüllen kann. Das wird auf sehr verschiedene Weise 22
angestrebt, entweder durch ein bildliches Reizmittel oder durch bewußte Zurückhaltung im typographischen Anruf oder durch die Eigenart eines gezeichneten Titels. Besonders der belletristische und der populärwissenschaftliche Umschlag richten sich nach den Individualisierungsgewohnheiten des Plakats und der Großanzeige. So steht der Umschlag in einem Spannungsverhältnis zum Buchkörper. Erfreulich oft ist zu bemerken, daß diese Spannung nicht zur Fremdheit ausartet. Noch immer wirkt die früher übliche gemeinsame Konzeption von Umschlag und Buchgestaltung.
TYPOGRAPHIE DER MITTE Während des ersten halben Jahrhunderts hat die wissenschaftliche Typographie und vornehmlich das technisch-naturwissenschaftliche Buch an den Satzgewohnheiten des 19. Jahrhunderts festgehalten. Es blieb — im ganzen gesehen — von der großen Erneuerungsbewegung unberührt. Es verharrte bei jenem dritten Aufguß klassizistischer Typenbildung, mit dem das späte 19. Jahrhundert umging, und wimmelte von heftigen Auszeichnungen und Sperrungen, die in ihrer Massenhaftigkeit wirkungslos wurden. Erst jetzt bahnt sich ein Wandel an, wobei das angelsächsische und schweizerische Beispiel recht hilfreich ist. Das wissenschaftliche Buch beginnt sich einer Typographie zu bedienen, die zweckmäßig und lebendig ist, also psychologischen Erfordernissen entspricht. Andererseits wird das belletristische Buch zurückhaltender im Vortrag. Schrift und Titelei unterscheiden sich schon jetzt wenig von wissenschaftlichen Fachwerken aller Art. Es ist weniger auf Ausdruck und Aufführung bedacht. Die Annäherung der typographischen Extreme wird durch eine Vervollkommnung der Maschinensatztechnik gefördert. Den typographischen Gepflogenheiten, die ihren Anstoß vom Pressendruck erhielten und in einer Gruppe von vorbildlichen Werkdruckereien gefestigt wurden, 23
mußten die Setzmaschinensysteme Rechnung tragen, denn auf sie ging fast die ganze Verantwortung für den Werksatz über. Durch großen Figurenreichtum, Einrichtungen für komplizierten Satz und gute Ausschlußvorrichtungen näherten sie ihre Leistung dem besten Handsatz an. Der auf Bestand und sachliche Geltung ausgehende Werksatz, möge er nun das Dichterische oder das Wissenschaftliche zum Gegenstand haben, scheint im Begriff zu sein, ein einheitliches, allen Extremen abholdes Regelgebäude einzurichten. Die Unterscheidung nach Typen entsprechend den Satzaufgaben ist vorwiegend eine Frage der Schriftwahl, und nicht eine Frage der Schriftanordnung.
STETIGKEIT UND WANDLUNG Angesichts der Einebnung und Rationalisierung der Typographie, die wir in einer bewußt vereinfachenden Skizze betrachtet haben, wird der Kenner aus der älteren Generation beunruhigt und bedauernd fragen, ob denn so wenig aus einem ungeheuer bewegten, begabungsreichen Zeitalter in unsere Nachkriegsjahre herübergerettet worden sei. Die Schrift- und Buchgeschichte ist weniger als andere Stilgebiete geneigt, sich rasch und heftig zu wandeln. Sie ist auf Stetigkeit angewiesen. Bücher haben Jahrhunderte überstanden, und selbst unser kurzlebiges Gegenwartsbuch vermag Generationen miteinander zu verbinden. So bleibt mindestens das Werk jener Pioniere und Wegbereiter gegenwärtig, und einige ihrer bedeutendsten, wie Ehmcke, Renner, Schneidler und Preetorius, dürfen wir hoffentlich noch recht lang zu den Mitlebenden zählen. Wie schon erwähnt, sind wesentliche Erscheinungen der ersten Jahrhunderthälfte unmittelbar befruchtend wirksam, unter anderem der Schutzumschlag als Werber fürs Buch, die charakterisierenden Ausstattungsanlagen im Insel-Verlags-Stil, die von Jakob Hegner angebahnte Vereinigung des geisteswissenschaftlichen und dichterischen Buches und die elementare Typographie als 24
Bahnbrecherin des Bildbuches. Damit nicht genug. Was immer an Leistung und Lehre damals geschah, dient auf die vielfältigste Weise, eingebettet in Schüler und Liebhaber, dem Schauenden sichtbar, dem Lauschenden vernehmbar.
GESTERN UND HEUTE Fassen wir das in der Betrachtung Erfahrene zusammen! Die ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts waren von einem Wirbel scheinbar gegensätzlicher Erscheinungen erfüllt. Das Leitmotiv des Gestaltens aus dem Gehalt heraus hat meisterhafte Leistungen herauf geführt und der Entfaltung außerordentlicher Gestalter gedient. In weitem Ausmaß erlangten die handwerklich und geistig tief fundierten Schriften und Druckwerke Anerkennung bei den Liebhabern und in der Breite des graphischen Fachs. Und dennoch war die Wirkung nicht so durchschlagend und umfassend wie die des so viel kürzer einwirkenden Jugendstils. In wenigen Jahren brachte er seinen Begriff des Modernen bis in die letzte Kleinwohnung zur Geltung, während seine ideell und ästhetisch viel reichere Nachfolge keinen allgemein verbindlichen Formbegriff durchsetzte. Neben den Hochburgen des Geschmacks nisteten in Massen die Freibeuter des Individualismus, die den Geschmack der Bücherfreunde verstörten und verdarben. Die nach 1933 rasch anwachsende Störung der. Kulturbeziehungen zum Ausland, die Vertreibung wertvoller Gestaltungskräfte, die Vernichtung der graphischen Betriebe, die Zerreißung Deutschlands, die demoralisierenden Mangeljahre — daraus ergibt sich das Bild einer Katastrophe, die nicht auf das Materielle beschränkt war. Vielleicht hat sie die Stilwende herbeigeführt. Wahrscheinlicher aber ist es, daß sie eine schon latent vorhandene Veränderung ausgelöst und in Gang gesetzt hat. Keiner, der eine schwere Krankheit durchgemacht hat, geht unverändert aus der Krise hervor. Es gibt keine Wiederherstellung. Der Genesene ist ein anderer geworden. 25
Der machtpolitische Einschnitt in der Jahrhundertmitte ist zugleich eine kulturelle Krise, und die nächsten Jahre werden zeigen, ob wir dieser Krise Herr geworden sind. Eine Typographie der Extreme, die alle Bereiche der Satzgestaltung zu durchdringen und das Prinzip der Individualität zur Geltung zu bringen suchte, wird, wie es scheint, von einer Typographie der Mitte abgelöst. Die Satzgestaltungen, die sachliche Gültigkeit beanspruchen oder überzeitlichen Zwecken dienen, unterstehen in wachsendem Ausmaß einheitlichen Regeln. Um diesen Kern schlingt sich das Rankenwerk individueller Formgebilde, die dem Augenblick und der persönlichen Einwirkung dienen. Daraus entsteht eine spannungsreiche Zweiheit. Vom Gleichgewicht dieser Gestaltungsmittel, vom fruchtbaren Gegensatz und dem Bewußtsein echter Zusammengehörigkeit hängt es ab, ob der Stil unserer Zeit vor dem Urteil der Geschichte der Typographie bestehen wird. Nach einer vom Glück und von der Tragik des Individualismus gezeichneten Epoche sammelt sich eine schwer getroffene Kultur auf der Basis einer rationalen Mitte, besorgt um das funktionell Richtige, wenig geneigt zu Wagnissen, dennoch bemüht, das Zweckmäßige ins Sinnvolle zu steigern.
Gedruckt in der Hausdruckerei der Schriftgießerei D. Stempel AG, Frankfurt am Main 1954