Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ Mythos Mitte
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Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ Mythos Mitte
Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
Mythos Mitte Wirkmächtigkeit, Potenzial und Grenzen der Unterscheidung ‚Zentrum/Peripherie‘
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17971-1
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................... 9 Einleitung: Mythos Mitte ............................................................................... 11 1. Teil: Territoriale Zentren und Peripherien Christine Schmid, Christine Unrau
1. Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten ........... 25 2. Zentrum und Peripherie – ein Charakteristikum von Hochkulturen? ......... 27 3. Monozentrische Reiche und polyzentrische Poliswelt ............................... 33 4. Weltsystem und Dependenz ....................................................................... 37 5. Globale Peripherien, globale Zentren? ....................................................... 45 6. Territoriale Zentren und Peripherien – Hierarchie der Räume ................... 51 Exkurs: Koloniale Umschreibung der Zentrum/Peripherie-Differenz und der Völkermord in Ruanda (Anne Härtel) ............................................ 55 2. Teil: Ideelle Zentren und Peripherien Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke
7. Von territorialen zu ideellen Zentren ......................................................... 69 8. Der Bruch mit der ‚natürlichen‘ Ordnung .................................................. 73 9. Über ideelle Zentren bei Franz Kafka ........................................................ 81
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Inhaltsverzeichnis
10. Theoretische Konturierung ideeller Zentren ............................................ 89 11. Ideelle Zentren als Ordnungsstifter in der Moderne ................................. 101 3. Teil: Das Individuum als Zentrum Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen
12. Das Individuum und der Verlust des Zentrums ........................................ 105 13. Emile Durkheim: Vom Kult des Individuums zur Vergottung des Kollektivs ................................................................................................. 107 14. Georg Simmel: Die widerspruchsvolle Individualisierung in einer versachlichten Welt .................................................................................. 111 15. Moderne Gesellschaft als Intervention ..................................................... 115 16. Die Flucht ins Normale ............................................................................ 117 4. Teil: Bürgerliche Rechte als Zentrum moderner Gesellschaften Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann
17. Bürgerliche Rechte als integrative Mitte der Gesellschaft ....................... 135 18. Zentrum und Peripherie in modernen Nationalstaaten ............................. 137 19. Émeutes in den Banlieues – der Weg ins Zentrum? ................................. 149 20. Die Émeutes als Konflikt um das Zentrum .............................................. 165 5. Teil: Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme Lukas Becht, Johannes Geng, Alexander Hirschfeld
21. Funktional differenzierte Gesellschaft als polyzentrisches Sozialsystem 171 22. Luhmanns systemspezifisches Konzept von Zentrum und Peripherie ..... 173
Inhaltsverzeichnis
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23. Zentrum und Peripherie im System der Massenmedien – Der partizipative Online-Journalismus und die Realität der Massenmedien 2.0 .................................................................................... 185 24. Zentrum und Peripherie im politischen System der Gesellschaft ............. 195 25. Die Dezentralität des Zentrums in der polyzentrischen Gesellschaft ....... 209 6. Teil: Die vergessene Peripherie: Sozialer Wandel und gesellschaftliche Marginalisierungen Lukas Becht, Alexander Hirschfeld, Mario Schulze
26. Gesellschaftliche Randlagen und sozialer Wandel ................................... 213 27. Soziale Bewegungen, sozialer Wandel und Marginalisierung im Kontext funktionaler Differenzierung ..................................................... 215 28. Die Jugendbewegung: Ein Beispiel für soziale Bewegungen und ihren Weg von der Peripherie ins Zentrum ........................................................ 221 29. EU-Flüchtlingslager in Polen: Ein Beispiel für soziale Randlagen an der Peripherie zwischen Inklusion und Exklusion .................................... 237 30. Systemübergreifende Peripherie und die Ambivalenz des Zentrums ....... 249 Schluss: Mythos Mitte revisited ..................................................................... 251
Anhang 1: Franz Kafka: Vor dem Gesetz ...................................................... 265 Anhang 2: Online-Recherche auf www.abnehmen-mit-genuss.de................. 267 Zu den Autoren .............................................................................................. 269 Abbildungsverzeichnis ................................................................................... 271 Literaturverzeichnis........................................................................................ 273
Vorwort
Dieses Buch ist dezentral entstanden. Das heißt, es hat weder in einem Autor, noch in einem Entstehungsort eine Mitte. Stattdessen zeichnet dafür ein Autorenkollektiv verantwortlich, welches sich über ganz Deutschland verteilt und aus einer soziologischen Arbeitsgruppe des 2. Geisteswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes hervorgegangen ist. Dennoch handelt es sich nicht um einen Sammelband aus einzelnen, hermetisch voneinander getrennten Aufsätzen, sondern um eine gemeinsame Abhandlung zur Leitdifferenz ‚Zentrum/Peripherie‘. Als verbindendes Moment fungierten dabei der gemeinsam während der Kollegs erschlossene Theoriefundus sowie die Fragestellung nach dem Erklärungspotenzial dieser Unterscheidung. Den Grundstein für die Überlegungen des Buches und den Zusammenhalt der Gruppe legten Alois Hahn und Hans-Georg Soeffner durch ihr immenses Wissen und die freundschaftliche Begleitung. Wir danken ihnen dafür. Zu Beginn war die Arbeitsgruppe darauf angelegt, „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ analytisch fruchtbar zu machen, und dabei auf das Oberthema des Kollegs „Von den Rändern her denken – die Peripherie und das Periphere“ hinzuarbeiten. Dank der Offenheit und Kreativität des Arbeitsprozesses war aber schnell eine Erweiterung des Blicks auf soziologische Theorie, Literatur und andere Herangehensweisen etabliert, die es uns ermöglichte, die unterschiedlichen Fächerhorizonte und Interessenschwerpunkte produktiv einzubringen. Auch diese Dezentralität wird in diesem Buch abgebildet. Nicht zuletzt der offenen Konzeption der ‚Institution Geisteswissenschaftliches Kolleg‘ und dem Einsatz von Klaus Heinrich Kohrs, Inga Scharf und Thomas Ludwig seitens der Studienstiftung des deutschen Volkes ist dies zu verdanken. Sie brachten uns für je eine Woche an Orten zusammen, die sich durch geistige und räumliche Abgeschiedenheit ausgezeichnet für die Arbeit an der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie eigneten – im November 2007 in Kröchlendorff im ost-brandenburgischen Landkreis Uckermark, im April 2008 in Eisenach, im Oktober 2008 im Kloster Schöntal, Hohenlohe, und schließlich in Bad Honnef bei Bonn. Ein Ausflug nach Prenzlau, einer Stadt auf der Suche nach einem Zentrum; eine Foto-Safari durch die Peripherien Eisenachs; der Besuch der Kunsthalle Würth, einem kulturellen Zentrum fernab der Kultur-
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hauptstädte Europas; und ein sommerliches Abendessen in einem Bad Godesberger Garten förderten auf nicht-theoretischem Wege die Gruppendynamik, die es brauchte, um unser Autorenkollektiv für dieses Buch zu integrieren. Wir danken deshalb der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius für die finanzielle Förderung des Geisteswissenschaftlichen Kollegs. Aufgrund der räumlichen Verstreutheit der Autoren und Autorinnen waren wir ganz besonders auf Anlässe und Orte des Zusammentreffens und der Kommensalität besonders angewiesen. Deshalb danken wir Erika Hahn für ihren Einsatz während eines „Wintersdorfer Suppenseminars“ zu den Frühschriften Karl Marx‘ im Juli 2008 nahe der Grenze zu Luxemburg; Annette Soeffner für die Begleitung auf einer Israel-Reise im März 2009 und die anschließende Gastfreundschaft. Die zweiwöchige Reise nach Israel wurde dankenswerterweise durch die Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD ermöglicht, wobei wir auch dem Institut für Deutsche Geschichte an der Hebrew University in Jerusalem, Moshe Zimmermann, der Universität Haifa und einer Gruppe palästinensischer Studierender danken möchten. Besonders hervorzuheben sind schließlich die Kursteilnehmer_innen, die sich nicht durch Textfragmente an diesem Buch beteiligen konnten, deren Diskussionsbeiträge sich in dem Buch aber indirekt wiederfinden: Valerie M. Wolf, Carolin Peschel, Ania Zymelka, Daniel-Pascal Zorn sowie Kathleen Piskol. Dem unermüdlichen Sebastian Brand verdanken wir überdies ein äußerst kritisches Lektorat aller Texte. Für einen Vortrag inklusive eingängiger Diskussion danken wir Jürgen Link, dessen Analyse des Normalismus im vierten Teil des Buches aufgegriffen wird. Schließlich ist dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und namentlich Dana Giesecke sowie Sonja Fücker dafür zu danken, dass wir dort zwei ungestörte Redaktionstreffen im September 2009 und April 2010 abhalten konnten, auf denen das vorliegende Buch seine Gestalt und seine thematische Mitte erhalten hat. Oktober 2010 Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
Einleitung: Mythos Mitte
„In der Mitte aller Dinge / wohne ich, der Sohn des Himmels. / Meine Frauen, meine Bäume, / Meine Tiere, meine Teiche, / Schließt die erste Mauer ein. / Drunten liegen meine Ahnen: / Aufgebauscht mit ihren Waffen, / Ihre Kronen auf den Häuptern, / Wie es einem jeden ziemt, / Wohnen sie in den Gewölben. / Bis ins Herz der Welt hinunter / Dröhnt das Schreien meiner Hoheit. / Stumm von meinen Rasenbänken, / Grünen Schemeln meiner Füße, / Gehen gleichgeteilte Ströme / Osten-, west- und süd- und nordwärts, / Meinen Garten zu bewässern, / Der die weite Erde ist. / Spiegeln hier die dunkeln Augen, / Bunten Schwingen meiner Tiere, / Spiegeln draußen bunte Städte, / Dunkle Mauern, dichte Wälder / Und Gesichter vieler Völker. / Meine Edlen, wie die Sterne, / Wohnen rings um mich, sie haben / Namen, die ich ihnen gab, / Namen nach der einen Stunden, / Da mir einer näher kam, / Frauen, die ich ihnen schenkte, / Und den Scharen ihrer Kinder; / Allen Edlen dieser Erde / Schuf ich Augen, Wuchs und Lippen, / Wie der Gärtner an den Blumen. / Aber zwischen äußern Mauern / Wohnen Völker meine Krieger, / Völker meine Ackerbauer. / Neue Mauern und dann wieder / Jene unterworfnen Völker, / Völker immer dumpfern Blutes, / Bis ans Meer, die letzte Mauer, / Die mein Reich und mich umlagert“ (Hofmannsthal 1897).
Antike Großreiche, der Durchschnittsmensch und führende Vertreter staatstragender politischer Parteien haben eines gemeinsam: Sie sehen sich in der Mitte der Gesellschaft. Hier entfaltet der Kaiser von China mit den Worten, die ihm Hugo von Hofmannsthal in den Mund gelegt hat, eine bilderreiche Beschreibung seines Reiches, das sich in konzentrischen Mauerkreisen um ihn als ‚Mitte aller Dinge‘ legt – über ihr der Himmel, unter ihr die kaiserlichen Ahnen. In den Augen des selbsternannten Himmelssohns ist die Ferne das noch zu Beschreibende, denn ringsum sind die Bezeichnungen und Namen, die Aufgaben und Identitäten bereits vergeben. Bis zu den geographischen Rändern ist das Kaiserreich bekannt. Und zwar deshalb, weil „die Grenzen dort liegen, wo das Zentrum sie sieht, unabhängig davon, wie an der Peripherie die nachbarschaftlichen Kontakte ausfransen“ (Luhmann 1997a: 668). Es sind zugleich die Gegenden, wo keine ‚Edlen‘ mehr wohnen, sondern Krieger, Bauern und jene, mit jedem der konzentrischen Kreise immer ‚dumpferen‘ Völker. Die Peripherie wird in dieser Perspektive von der Mitte her bestimmt. Sie ist weit entfernt, untergeordnet und im Vergleich zum Zentrum erscheint sie als minderwertig. So entfaltet sich der Mythos einer ‚Mitte‘, die aufgrund ihrer Ausstrahlung und Macht, aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung und ihres Glanzes etwas ganz Besonderes ist. Hier wird deutlich, dass Zentrum und Peripherie keinesD. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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wegs nur räumliche Strukturmuster sind, sondern vielmehr eine soziale Konstellation darstellen, die durch eigentümliche Austauschverhältnisse, Differenzierungen und Abhängigkeiten gekennzeichnet ist. Dafür steht Hofmannsthals Gedicht, in dem es vordergründig um die räumliche Weite des Reiches geht, im Hintergrund jedoch vom ‚Schreien der Hoheit‘, den ‚geschenkten Kindern‘ und ‚dumpfen Völkern‘ die Rede ist. Und schließlich finden sich bis in die pluralistische Gesellschaft des 21. Jahrhunderts Indizien für die Virulenz und die soziale Brisanz des scheinbar vormodernen Beschreibungsmusters ‚Zentrum/Peripherie‘: Global Cities (Sassen 1991) als kapitalistische Schaltzentralen, Entwicklungsländer als abgehängte Peripherien; zentrale Wert- und Normenkomplexe, Durchschnitts- und Mittelwerte als Orientierungskriterien, und nicht zuletzt die Vorstellung, dass sich in Staat und Politik als Zentrum der Gesellschaft sozialer Wandel, Partizipation und Wohlfahrt realisieren lassen. Dieses Buch fragt, woraus sich die Strahl- und Anziehungskraft jenes Mythos ‚Mitte‘ speist und welche Dimensionen er in Gestalt des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie annimmt. Denn das historisch anmutende Gefüge von Kaiser und Untertan, Himmelssohn und ‚dumpfen Völkern‘, von Mitte und Rand weist darauf hin, dass nur innerhalb der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie die ‚Mitte‘ ihre prägende Kraft entfalten kann. Dies gilt bis in die Wirklichkeit und das Alltagswissen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hinein, da in ihr ebenso wie in den Versuchen ihrer theoretischen Rekonstruktion im Rahmen der soziologischen Theorie, die Wirkmächtigkeit dieser Unterscheidung zum Tragen kommt. Unsere erkenntnisleitende Hypothese lautet schließlich, dass die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie in Gestalt von sechs zentralen Dimensionen ihre Wirkmächtigkeit entfaltet, nämlich territorial, ideell, am Individuum, juridisch-politisch, funktional, und in Bezug auf soziale Inklusion bzw. Exklusion. Dabei zeigen sich sowohl auf theoretischer als auch praktischer, normativ-regulativer Ebene das Potenzial und die Grenzen der Unterscheidung in Zentrum und Peripherie, Mitte und Rand: In der modernen Gesellschaft und ihrer theoretischen Beschreibung lässt sich eine Ambivalenz im Umgang mit dieser Unterscheidungsform ausmachen, die darin besteht, dass Auflösungen von Zentren bzw. Dezentralisierungen mit stabilen Konstruktionen von Zentren bzw. Zentralisierungen einhergehen. Deshalb beruht die Wirkmächtigkeit des ‚Zentrums‘ oder der ‚Mitte‘ darauf, dass diese(s) gleichsam mythisch überhöht wird, weil durch den Widerpart der Peripherie im selben Moment stets die Alternativen sichtbar werden. Mythen auf ein Charakteristikum archaischer Gesellschaften zu beschränken, ist unserer Ansicht nach ebenso fährlässig, wie sie lediglich als ideologische Legitimationsnarrative politischen Handelns (vgl. Münkler 10.8.2010: 8) zu klassifizieren oder gegen das wissenschaftliche Denken auszuspielen. Stattdes-
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sen wird hier unter Mythos im Anschluss an Malinowski in erster Linie eine „außerordentlich komplexe kulturelle Realität“ (Gulian 1981: 21) verstanden. Einerseits soll damit keineswegs das Marx’sche Basis-Überbau-Theorem auf den Kopf gestellt werden, dass etwa der Mythos die soziale Wirklichkeit vorwegnehme und zur Gänze strukturiere. Vielmehr schreibt auch die soziale Wirklichkeit den Mythos als historisches und kontextabhängiges Phänomen fort und fortwährend um (vgl. Gulian 1981: 7-17). So verfügt die rationalisierte Moderne ebenfalls über einen Fundus an mythischen Denk- und Ordnungsmustern, die – verschleiert und ‚renaturalisiert‘ von ihrer Selbstverständlichkeit und scheinbarer ‚Alternativlosigkeit‘ – nicht mehr in den Blick geraten. Dieser Verdacht löst andererseits einen wissenschaftlichen Reiz aus, vor dem aufgrund der Irrationalität und Unschärfe des Mythos gleichsam noch vor der eigentlichen Beschäftigung mit dem Thema ‚Zentrum und Peripherie‘ gewarnt werden muss: Der hier unternommene Versuch einer Diskussion verschiedener Dimensionen und Ausdeutungen des Zentrum-Peripherie-Modells ist letztlich selbst eine Fortschreibung des Mythos ‚Mitte‘. Allerdings wird anhand verschiedener Dimensionen der Wirkmächtigkeit der Zentrum-Peripherie-Unterscheidung dessen Verständnis dezentriert. Vor diesem Hintergrund sind die Leitfragen der einzelnen Kapitel insofern als wissenssoziologisch zu verstehen, als sie das Vorhandensein und die Formen des Denkmusters Zentrum und Peripherie in ihren unterschiedlichen Facetten und Ausprägungen, z.B. in territorialer oder funktionaler Hinsicht nachzeichnen. Die Trias Wirkmächtigkeit, Potentiale und Grenzen dient allen Kapiteln als übergeordnete Fragerichtung, die – je nach Fokus – unterschiedliche Perspektiven aufzeigt. Unter Wirkmächtigkeit der Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie wird auf der einen Seite die Reichweite innerhalb der soziologischen Theorie verstanden sowie die lebensweltliche Orientierungsleistung der Unterscheidung auf der anderen Seite. Es geht also um den Grad theoretischer Ausformulierung, während zugleich der Niederschlag in institutionellen und handlungsrelevanten Sinnstrukturen thematisiert wird. Zweitens geht es uns darum, die Potenziale der Theoriefigur herauszustellen, für historische wie zeitgenössische empirische Projekte bzw. Phänomene zu nutzen und durch diese zusätzliche Anschaulichkeit die Fruchtbarkeit des Denkens in den Kategorien ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ auszuloten. Drittens sollen die Grenzen unseres Vorhabens, die ‚Einsatz- und Diagnosefähigkeit‘ der Leitunterscheidung nicht unter den Tisch fallen. Die „Polyvalenz des Mythos“ (Gulian 1981: 17) verleitet zu minutiöser Begriffsarbeit, und der Versuch soziale Wirklichkeit entlang der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zu fassen, macht eben auch immer wieder auf Unzulänglichkeiten in der Beschreibung aufmerksam. Die erste und
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nächste Grenze einer Beschreibung ist in diesem Sinne immer schon das vorangegangene oder nächste Buchkapitel. Soziologisch halten wir es allerdings für nicht wirklichkeitsadäquat, diese ‚Polyvalenz‘ in einer Einstimmigkeit aufgehen zu lassen, und sind deshalb auch in der Darstellungsform und inhaltlichen Konzeption des Buches nicht am Ziel der Einheitlichkeit orientiert. Unsere Ausführungen beanspruchen vielmehr, polyvalent zu sein, und zwar im Wortsinne wirkmächtig in mehrfacher Beziehung. So, wie gemäß der medizinischen Sprache ein Serum ‚polyvalent‘ gegen verschiedene Erreger oder Giftstoffe wirkt, so untersuchen wir von vielfältigen Zugängen und Beispielen her die verschiedenen Dimensionen der Wirkmächtigkeit der Unterscheidung in ‚Zentrum/Peripherie‘. Zu einer abschließenden, einstimmigen Beantwortung der Frage nach der Gestalt der Mitte der Gesellschaft werden wir dabei nicht finden. Schließlich ist gerade der Verlust eines eindimensionalen Blickwinkels auf die soziale Mitte eine der entscheidendsten Erfahrungen der ‚Moderne‘. Wolfgang Eßbach (2009) zufolge legt der theoretische Radikalismus des 20. Jahrhunderts eindrücklich davon Zeugnis ab, dass es die ausgeglichene und neutrale Mitte zwischen den radikalen Kritiken von Rechts und Links nicht mehr gibt. Zugleich reklamiert jeder einzelne der radikalen Theoretiker für sich, die Wurzel, den Kern oder das Zentrum der modernen Gesellschaft bzw. ihres Übels erfasst zu haben. Die daraus folgende Pluralität und Polarität, in der sich jene ‚Wurzel des Übels‘, aber auch der integrative, ‚gute‘ Kern der Gesellschaft auflöst, ist Ausdruck einer tiefgreifenden Rationalitätskrise zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Es gibt keine Mitte mehr im Sinne einer gemeinsamen Rationalitätsgrundlage, und die Überzeugung, dass die Welt letztlich durch eine einheitliche Sicht bzw. Theorie zu begreifen sei, trägt nicht mehr. Das Bild, welches Eßbach infolgedessen als Kartographie der sozialen Zusammenhänge bemüht, ist nicht mehr der Wurzelbaum – jene unterirdische Spiegelung der oberirdischen Verhältnisse, bei der alles von einem Hauptstamm ausgeht. Es ist das von Gilles Deleuze und Felix Guattari (1977; 1992: 11-42) aufgegriffene „Rhizom“: eine zentrumslose, wuchernde, chaotische Vielheit. Auch wenn wir dieses Bild für unsere Gesellschaft nicht revidieren, so gehen wir doch gleichzeitig von einer anhaltenden Wirkmächtigkeit von Zentren und Zentrumsvorstellungen aus. Deshalb bietet sich bezüglich unserer Argumentation, unseres Themas und der Gesellschaft, die wir dabei vor Augen haben, der Begriff der Polyvalenz an, weil er die Ambivalenz von Zentrum und Zentrumslosigkeit gleichsam potenziert, sie aber als Mehrdimensionalität eines Sachverhaltes in sich aufnimmt. Unterschiedliche Grenzbereiche sozialen und soziologischen Wissens erschließen die einzelnen Kapitel dabei insofern, als sie auf Artefakte und Texte
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vergangener Hochkulturen, literarische Zeugnisse, historisches und empirisches Material sowie auf verschiedene Konzepte der soziologischen Theorie zurückgreifen. Dies trägt der Mehrdimensionalität vertretener und vertretbarer Standpunkte hinsichtlich der Leitunterscheidung Rechnung. Durch ihren Theorienpluralismus verhindert die Diskussion verschiedener Deutungen zudem eine neue (theoretische) ‚Zentralisierung‘. Stattdessen geht es darum, eine Debatte und weitere Ausarbeitung der Begriffe ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ zu reflektierten, analytisch gehaltvollen soziologischen Konzepten anzustoßen und voranzutreiben. Die quasi-empirischen Anwendungsbeispiele innerhalb der jeweiligen Teile des Buches dienen schließlich primär dazu, die Fruchtbarkeit und den möglichen Ertrag einer solchen theoretischen Weiterentwicklung aufzuzeigen. Die Untersuchung sozialer Wirklichkeit anhand der Leitunterscheidung von Zentrum und Peripherie hat dabei unserem Verständnis nach drei grundlegende Entscheidungen zu treffen: Erstens geht es um die Frage, welchen Status man den Forschungsobjekten zuschreibt bzw. auf welcher (erkenntnistheoretischen) Ebene man sie ansiedelt: Bezieht sich die Unterscheidung auf materielle oder ideelle Vorstellungen von Zentren? Je nachdem, wie man auf die Frage antwortet, gelangt man einmal zur Bedeutung territorialer Auffassungen und Manifestationen von Zentralität, ein anderes Mal zur Idee einer Mitte selbst, die Vorstellungen diffuser Gesellschaftlichkeit ein Ordnungsprinzip entgegenzusetzen versucht. Zweitens ist zu entscheiden, was primärer Gegenstand der Untersuchung sein soll. Zwei Analyseeinheiten haben eine herausragende Bedeutung in der gegenwärtigen Sozialforschung erlangt, und sie verhalten sich zwar nicht notwendig gegensätzlich, aber durchaus komplementär zueinander: das Individuum einerseits und das System (im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie) bzw. soziale Strukturen andererseits. Moderne Gesellschaften, wie immer man sie im Einzelnen auch verstehen möchte, sind darin sowohl durch die herausragende Stellung des Individuums gekennzeichnet als auch durch ihre hohe funktionale Differenzierung, der die einzelnen sozialen Systeme Rechnung tragen. Drittens scheint uns von weitreichender forschungspraktischer und theoretischer Bedeutung, zu klären, ob und welche Prozesse die Leitdifferenz begleiten und durch sie in Gang gesetzt werden. Auf der einen Seite finden wir hier Mechanismen der Integration in soziale Zusammenhänge, die auf einer grundlegenden Ebene durch Teilhaberechte geregelt werden, auf der anderen Seite Mechanismen des Ausschlusses und der Marginalisierung sozialer Gruppen, die beständig stabilisiert und herausgefordert, d.h. zwischen sozialen Gruppen verhandelt werden. Die von uns gewählten Zugänge zur Unterscheidung Zentrum/Peripherie ergeben sich mithin aus diesen drei basalen Entscheidungen.
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Im ersten Teil argumentieren wir dafür, dass selbst in Zeiten globaler Vernetzung und der damit gemeinhin verbundenen Schrumpfung des Raumes räumliche Differenzierungsformen wirkmächtig bleiben. Den Ausführungen liegt dabei die Annahme zugrunde, dass sowohl Zentren als auch Peripherien lokali-sierbare Einheiten sind, die auf einer Karte visualisiert werden können. Aus-gehend von Friedrich Tenbruck und seiner These, dass die Entstehung von Zentrum und Peripherie ein Merkmal von Hochkulturen sei (vgl. Tenbruck 1986: 264-268), werden im 2. Kapitel babylonische und altisraelische Texte daraufhin befragt, was sie über die räumliche Manifestation der „charismatischen Qualitäten der kosmischen Ordnung“ (Eisenstadt 1982: 103) aussagen. Diese stark auf ein Zentrum fokussierten Hochkulturen werden im dritten Kapitel mit der griechischen Poliswelt und deren räumlicher Ordnung der Kommunikation und Partizipation konfrontiert. Anschließend gehen wir zum gegenwärtigen kapitalistischen Weltsystem über, indem wir in Kapitel 4 die räumliche Dimen-sion der Zentrum/ Peripherie-Differenz um den Aspekt strukturell-ökonomischer Abhängigkeiten erweitern. Schließlich werden vor diesem Hintergrund in Ka-pitel 5 die Global Cities thematisiert, die als gegenwärtige territoriale Zentren eingestuft werden können (Sassen 1991: 3-5). Dabei zeigt sich unter anderem, dass es unmöglich ist, territoriale Zentren ohne einen (religiösen, politischen oder wirtschaftlichen) Funktionsbezug zu thematisieren. Genauso wenig lässt sich die Wirkmächtigkeit territorialer Zentren in Gestalt von Städten und räum-lichen Hierarchien im 21. Jahrhundert ignorieren. Es muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass Zentrumssetzungen (Macht-)Interessen und diskursiven Vorstellungen genügen, die umso zwingender erscheinen, als sich in ihnen politische, religiöse und normative Vorstellungen zu einem unentwirrbaren Amalgam verdichten. Die kolonialen Bemühungen Europas auf dem afrikanischen Kontinent im frühen 19. Jahrhundert legen eindrücklich Zeugnis davon ab, wie an der geographischen Peripherie derartige Vorstellungen soziales Handeln mit grausamen Folgen strukturieren können. In Form eines Exkurses, der den Übergang zum zweiten Teil des Buches bildet, möchten wir dies exemplarisch an den Deutungsmustern, die dem ruandischen Völkermord zugrundeliegen, aufzeigen. An diesem Punkt zeigt sich bereits, dass eine Deutung von Zentrum und Peripherie, die sich allein auf materiell-geographische Manifestationen derselben stützt, nicht erschöpfend ist. Im zweiten Teil des Buches wird daher der Hypothese nachgegangen, dass für Beschreibungen der modernen Welt zunehmend Formen der Differenzierung wichtiger werden, die sich eher auf einer ideellen denn auf der territorialen Ebene ansiedeln lassen. Indem zunächst in Kapitel 8 die für ‚westliche‘ Gesellschaften deutungsmächtige historiographische Diagnose eines epistemologischen Bruchs beleuchtet wird – eine ‚Epochenschwelle
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1800‘, einhergehend mit den Nachwirkungen der Französischen Revolution – stellt sich die Frage, inwiefern neue Ordnungsmuster (oder auch: ideelle Zentren) dem Zerfall der weltanschaulichen Einheit entgegen wirken. Gegenstand der Analyse sind literarische Zeugnisse wie z.B. Bonaventuras Nachtwachen oder Franz Kafkas Türhüterlegende. Denn die Literatur hat dank ihres besonders sensiblen Gespürs für soziale Umbrüche den Orientierungs- und Sinnverlust der Neuzeit am frühesten thematisiert. Auch Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz entwirft anhand ihrer Symbolik deutliche Konturen einer materiell schwer fassbaren sinnstiftenden Instanz (Kap. 9). Im Anschluss und mit direktem Bezug zur Kafka-Interpretation werden jene Konturen eines ideellen Zentrums mithilfe eines diskurstheoretischen und machtanalytischen Vokabulars weiter theoretisiert (Kap. 10). Nachgezeichnet wird einerseits, wie ideelle Zentren auf den Ebenen von Diskursen, Interaktion und materiellen Arrangements sichtbar werden, und andererseits, wie sich die Zentren in den neuen Ordnungen der bürgerlichen Welt des 18. und 19. Jahrhunderts niederschlagen (Kap. 11). Wo von sozialer Differenzierung und dem gesellschaftlichen Wandel hin zur Moderne die Rede ist, sollte vom Individuum nicht geschwiegen werden. Im dritten Teil des Buches rückt daher das Individuum als zentrale Analysekategorie moderner Gesellschaften in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es werden die Konsequenzen erkundet, die sich für das Individuum aus der Differenzierung sozialer Lebensbereiche ergeben (Kap. 12). Dabei kann auf klassische soziologische Studien von Max Weber (1864-1920), Emile Durkheim (1858-1917) und Georg Simmel (1858-1918) zurückgegriffen werden, denn ihre Analysen zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung verbinden sich traditionell mit einer Verwunderung über das Hervortreten des Individuums. Die Potenzierung individueller Eigenarten wird aber von diesen Theoretikern nicht schlichtweg konstatiert, sondern gilt zumeist als ein Problem – schließlich scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet. Denn mit der Individualität wächst auch das Bewusstsein darüber, was man selbst alles nicht ist. Es kommt die Frage auf, wie bei all den Unterschieden gesellschaftliche Integration möglich sein kann. Die Antworten auf dieses Problem sind zumeist ambivalent: Das Schwanken Durkheims zwischen dem Kult des Individuums und der Vergottung des Kollektivs ist eine der vorgestellten Antworten (Kap. 13), Simmels Hinweis auf die Zerrissenheit der Seele des modernen Menschen die andere (Kap. 14). Den Abschluss dieses Teils bildet der Versuch, in Kapitel 15 und 16 anhand der Denkfigur des Durchschnittsmenschen darzustellen, dass Gesellschaften in Folge der zunehmenden Individualisierung auch ausgefeilte Techniken entwickelt haben, einen Standard fest- und durchzusetzen, an dem sich die Individuen orientieren können: Die Mitte, welche die Integration der Gesellschaft leistet, ist hier nichts anderes als der mittlere Wert, der Durchschnitt, das Normale, welches seine Autorität aus
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der Wiedererlangung transzendentaler Sicherheit bezieht, in der jeder sofort „seine prädestinierte Lücke in der göttlichen Ordnung der Statistik“ (Link 1997: 168) zugewiesen bekommt. Während die Versicherung kollektiver Identität in den Grenzen des Normalismus eine stets fragile Teilhabe verspricht – was als normal wahrgenommen wird, unterliegt der Verteilung selbst und ihrer diskursiven Bestätigung –, haben moderne Gesellschaften auf mannigfaltige Weise versucht, der Desintegration ihrer Mitglieder entgegenzuwirken. Eine der folgenreichsten Entwicklungen stellt dabei die Organisation von Individuen in Nationalstaaten dar. Der Begriff der Gesellschaft verweist dementsprechend zumeist auf eine geographisch, ideell, aber auch staatlich begrenzte Einheit. Das ‚Gravitationszentrum‘ dieser Bestimmung stellt das Konzept der Staatsbürgerschaft dar, das die Zugehörigkeit zu und Teilhabe an politischen, legalen und sozialen Rechten kollektiv und verbindlich regelt. Diese Dimension der Zentrum/Peripherie-Differenz behandelt der vierte Teil des Buches. Im Rückgriff auf Talcott Parsons wird danach gefragt, inwieweit Staatsbürgerschaft als konstituierendes Modell einer gesellschaftlichen Mitte fungiert (Kap. 17 und 18). Dass formalrechtliche Anerkennung darin nicht notwendig mit sozialpolitischer Anerkennung zusammenfällt, die Marginalisierung/Randständigkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen gegenüber einem vorgestellten Zentrum parallel dazu verläuft, soll in Kapitel 19 zu den Pariser Vorstadtunruhen dargestellt werden. Daran zeigt sich, dass Stigmatisierungsprozesse, die auf extralegalen Ebenen verlaufen, die integrative Wirkung der Bürgerrechte nachhaltig herausfordern. Als Ausdruck dieser Dynamik interpretieren wir in Kapitel 20 die Émeutes des Jahres 2005, die von französischen Staatsbürgern ausgingen, denen die Integration in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen verwehrt geblieben ist. Die damit bereits angesprochene funktionale Differenzierung der Gesellschaft problematisieren wir schließlich im fünften Teil des Buches ausführlicher. Hier nehmen wir soziale Systeme zum Gegenstand, um zu verdeutlichen, wie in ihnen die Unterscheidung Zentrum/Peripherie analytisch fruchtbar zu machen ist. Das Ungenügen einer eindimensionalen Zuordnung der beiden Kategorien in Form der Staatsbürgerschaft verweist auf die Notwendigkeit, Zentrum und Peripherie in einer funktional differenzierten Gesellschaft vom Standpunkt der, mit Luhmann gesprochen, verschiedenen Systeme aus zu betrachten. Damit aber wird die Perspektive notwendig polyzentrisch aufgebrochen, wie Kapitel 21 argumentiert. Wir verdeutlichen diesen Perspektivenwechsel zunächst theoretisch anhand von Niklas Luhmanns Systemtheorie und deuten im selben Atemzug die Konsequenzen an, die dies für die Soziologie sowie das Funktionieren von Gesellschaft hat (Kap. 22). Anschließend wenden wir uns zwei Anwendungsbeispielen zu, die illustrieren sollen, wie auf der Ebene von einzelnen Sub-
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systemen der Gesellschaft die Unterscheidung in Zentrum und Peripherie funktional durchschlägt: In Gestalt der in jüngster Zeit immer stärker aufkommenden Konkurrenz zwischen professionellem Online-Journalismus und der partizipativen journalistischen Formate, wie Blogs, Chats, Foren und Twitter lässt sich erstens innerhalb des Systems der Massenmedien eine Unterscheidung in Zentrum und Peripherie ausmachen (Kap. 23). Für die damit verbundenen und bisher sowohl in der Soziologie als auch in den Medien- und Kommunikationswissenschaften kaum verstandenen Phänomene bietet die Systemtheorie also einen vielversprechenden analytischen Zugang an. Zweitens widmen wir uns im 24. Kapitel dem politischen System der Gesellschaft, dessen Ausdifferenzierung als Ergebnis einer Zentralisierung des sozialen Mediums Macht verstanden werden kann. Für das Zentrum/Peripherie-Verhältnis bedeutet dies, dass sich zumindest die diskursive Vorstellung von Politik bzw. Wohlfahrtsstaat als Zentrum der Gesellschaft bis heute durchgehalten hat. In einer funktional differenzierten Gesellschaft allerdings erscheint der Staat nur noch als Zentrum des politischen Systems, demgegenüber sich periphere Organisationen ausbilden und ebenfalls an der politischen Entscheidungsfindung teilhaben. Wir versuchen schließlich in Kapitel 25, die theoretischen Überlegungen, das Beispiel der Massenmedien und die angedeutete Dekonstruktion des Mythos vom Staat als ‚Mitte‘ der Gesellschaft im Sinne einer gesellschaftsweiten Dezentralisierung des Zentrums auszudeuten. Infolgedessen gehen wir davon aus, dass auch soziale Integration nicht mehr – wie im Falle der Staatsbürgerschaft – von einem Zentrum ausgehen kann. Prozesse des Ausschlusses und der sozialen Marginalisierung sowie Versuche, alternative Themen und Strukturen im Medium des sozialen Protests in die Zentren der Funktionssysteme zu tragen, verschwinden damit jedoch nicht von der Bildfläche. Sie sind vielmehr Elemente und Prozesse einer leicht vergessenen, aber dennoch nicht übersehbaren Peripherie, der wir uns am Ende des Buches im sechsten Teil zuwenden. Wir argumentieren ausgehend von zwei theoretischen Kapiteln (26 und 27), dass periphere Phänomene der sozialen Inklusion/Exklusion sowie soziale Bewegungen Verknüpfungen, Vermischungen und Überschreitungen von Systemgrenzen herstellen, die in letzter Instanz zu einer gesellschaftsweiten Peripherie führen können. Ob und inwiefern damit zwangsläufig eine Komplementärform mit entsprechender Reichweite verbunden ist, erörtern wir anhand zweier konkreter Beispiele: Erstens verfolgen wir den Weg der historischen Jugendbewegung aus der Peripherie des Erziehungssystems in andere Funktionssyteme und schließlich deren Vordringen bis ins Zentrum des totalitären Diskurses des NS-Regimes (Kap. 28). Auf den ersten Blick völlig anders gelagerte Prozesse einer eigentümlichen Kombination aus Einschluss und Ausschließung lassen sich anhand des Beispiels von EU-Flüchtlingslagern be-
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Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
obachten. Zweitens analysieren wir in Kapitel 29 das System der Flüchtlingslager auf polnischem Territorium als Beispiel dafür, dass in jenen Organisationen, in denen die Gesellschaft über die Exklusion ihrer Mitglieder aus einzelnen Subsystemen entscheidet, funktionale und lebensweltliche Grenzen unscharf und mithin gar annulliert werden. Die damit verbundenen drastischen Konsequenzen für Körper und Identität von Flüchtlingen können wir nur andeuten, da unser Fokus im letzten Kapitel auf den Konsequenzen für die Zentrum/Peripherie-Differenz und die Persistenz eines Mythos der gesamtgesellschaftlichen ‚Mitte‘ liegt. Inwiefern aber alle Kapitel sich an dieser Frage abarbeiten, fassen wir im Schlusskapitel zusammen, das aus diesem Grund ‚Mythos Mitte revisited‘ zum Titel hat. Der Schluss trägt dafür Sorge, dass die im Folgenden in der dargestellten Reihenfolge diskutierten Theorieperspektiven und Begriffsfassungen ihre Polyvalenz nicht verlieren, sondern sie in konzentrierter Form noch einmal entfalten können. Schließlich spiegelt sich darin ebenso wie im gesamten Buch die interne Differenzierung der Soziologie selbst wider. Während die Wissenschaft von der Gesellschaft zu Anfang des 20. Jahrhunderts darum bemüht war, als wissenschaftliche Disziplin einen eigenen Gegenstandsbereich und eine spezifische Methode zu etablieren, ist die Soziologie heute ein anerkanntes akademisches Fach. Einigen konnte man sich indes weder auf einen Gegenstandsbereich noch auf eine Methode. Das Grundlegende der soziologischen Erfahrung ist die Unmöglichkeit, mit einer Theorie den Gegenstandsbereich und dessen Bearbeitung für das gesamte Fach verbindlich festzulegen. Gewiss wird die Kommunikation innerhalb des Faches sowie mit anderen Disziplinen durch Theorien- und Methodenvielfalt erschwert. Auch unser Buch enthält, abgesehen von dem Bezug auf die Klassiker und etwaiger Gemeinsamkeiten, nur wenige theorieinterne Aspekte, die die unterschiedlichen Theorieschulen miteinander verbinden. Allerdings versuchen wir gerade mit der genuin abstrakten Zentrum/ Peripherie-Differenz konkurrierende Theorievorstellungen und erfahrbare Phänomene miteinander ins Gespräch zu bringen. Gemäß dem Bild des Rhizoms haben also neben der modernen Gesellschaft weder die Soziologie noch unser Buch einen einheitlichen (theoretischen) Wurzelkern, aber die verbindenden Fäden bestehen aus der Zentrum/PeripherieDifferenz, von der wir annehmen, dass sie sich in den lebensweltlichen Zusammenhängen der Gesellschaft und in den Theorien über sie wiederfindet; und die wir deshalb als eine ‚soziale Differenzierungsform von hoher kultureller Plausibilität‘ verstehen. In Anbetracht der Komplexität des soziologischen Gegenstandsbereichs erscheint der daraus hervorgehende Theorienpluralismus also nicht als Nachteil, sondern als Voraussetzung der Variierbarkeit verschiedener Begriffe und Aussagensysteme. Für uns dienen ausreichend instruktive und notwendig abstrakte
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Begriffe schließlich nicht mehr nur dazu, ein bestimmtes Phänomen zu beschreiben. Vielmehr vermögen sie, eine je spezifische Strukturiertheit verschiedener Sachverhalte hervorzuheben. Diese Strategie einer forschungs-pragmatisch vorteilhaften Verknüpfung zwischen unterschiedlichen Theorie- und Fachrichtungen scheint in Zeiten unübersichtlicher interner Differenzierung und der Möglichkeit interdisziplinärer Zusammenarbeit wichtiger denn je. Gelöst werden damit jedoch keineswegs die ‚Differenzen‘ der verschiedenen Theorietraditionen. Es ist eben sinnvoll, die Sphäre der Kultur, wie sie etwa Weber vorschwebt, und die soziale Differenzierung im Sinne der soziologischen Systemtheorie vielleicht als konträr, nicht aber als kontradiktorisch zu behandeln. Setzt die Wirklichkeitswissenschaft Soziologie ihre Erkenntnismittel ‚Gegenstandsangemessen‘ ein, lässt sich so ein ‚differenziertes‘ Bild sozialer Wirklichkeit nachzeichnen.
1. Teil: Territoriale Zentren und Peripherien Christine Schmid, Christine Unrau Exkurs: Anne Härtel
1. Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten
Babylon, Jerusalem, Delphi und New York: Sitz des Gottes Marduk, Geburtsort verschiedener Religionen, Orakelstadt, finanzielle Kommandozentrale. Was haben diese Orte gemeinsam? Sie alle spiel(t)en in verschiedenen Epochen und Regionen die Rolle von Zentren, denen komplementäre Peripherien gegenüber standen, beziehungsweise stehen. Die Einheiten, deren Zentren diese Orte waren, und die Gründe für ihre zentrale Rolle werden jedoch von verschiedenen theoretischen Konzepten unterschiedlich gedeutet. Dabei besteht die Gemeinsamkeit der in diesem Kapitel betrachteten Konzepte aus unterschiedlichen Epochen und theoretischen Kontexten darin, dass sie Zentrum und Peripherie als geographisch lokalisierbare Einheiten verstehen. Diese Einheiten definieren sich zwar über nicht-geographische Kriterien, könnten jedoch auf einer Landkarte abgebildet werden. Dieser Wesenszug aller hier aufgeführten Beispiele und theoretischen Konzepte ist gleichsam der rote Faden des Textes, an dem sich die Argumentationen aufreihen. Ein Zentrum kann kartografisch als Punkt, Linie oder Fläche dargestellt, in mannigfachen Farben gezeichnet und mit diversen Attributen belegt werden. Die Karte selbst kann unterschiedlichen Maßstabes, thematisch oder topologisch organisiert, sowie interaktiv oder historisch sein. Die hier abgebildeten Karten visualisieren Varianten territorialer Zentrum- und Peripherieverständnisse. Dabei wird die Bandbreite der Konzeptionen deutlich. Darüber hinaus können Widersprüche, Konflikte und Spannungen zwischen verschiedenen Verständnissen von Zentrum und Peripherie mithilfe der Karten aufgedeckt werden. Karten sind Medien, die keineswegs eindeutig und wahr Wirklichkeit abbilden. Sie tragen die Intentionen der Autor_innen in sich und sind demnach immer nur eine Möglichkeit der Abbildung. Durch eine knappe Gegenüberstellung und Kontextualisierung verschiedener Karten versuchen wir den Anspruch der Karten auf Deutungshoheit zu relativieren. Im Folgenden werden zunächst Beispiele vorachsenzeitlicher und achsenzeitlicher1 Zentrums- und Peripheriekonzeptionen diskutiert, in denen die Stadt 1 Karl Jaspers bezeichnet mit ‚Achsenzeit’ die Zeitspanne zwischen 800 und 200 v. Chr. Während dieser Zeit fanden in verschiedenen Weltregionen voneinander unabhängige geistige Durchbrüche
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zum Zentrum erhoben wird. In Kontrast zu diesen monozentrischen Entwürfen werden wir anschließend die antike polyzentrische Polis-Welt untersuchen. In dieser gewinnt das Fehlen eines unstrittigen politischen Machtzentrums besondere Bedeutung. Darauf folgt die Darstellung verschiedener – historischer und aktueller – Interpretationen von Zentrum und Peripherie, die sich primär auf ökonomische Strukturen beziehen und diese zur Ursache einer Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie erklären. Hierbei verschiebt sich der Bezugsrahmen der jeweiligen Beispiele von der nationalen oder regionalen hin zu einer globalen Ebene. Auf die Erörterung von Bewegungen, die sich der Auflösung der ZentrumsPeripheridifferenz verschrieben haben, folgt eine Präsentation und Problematisierung der Global Cities als neuen Zentren eines Weltmarktes. Das Motiv der Stadt als Zentrum zieht sich also durch den gesamten ersten Teil des Buches. Durch die Auswahl der betrachteten Beispiele versuchen wir der großen historischen und geographischen Reichweite von territorialen Zentrum und Peripheriekonzeptionen gerecht zu werden. Dass dabei nie umfassend analysiert, sondern immer nur angedeutet und exemplifiziert werden kann, liegt auf der Hand. Ziel dieser ersten sechs Kapitel ist es also, das Potenzial und die Grenzen der theoretischen Leitdifferenz Zentrum/Peripherie in Bezug auf ihre territoriale Dimension herauszuarbeiten.
statt, wie z.B. die Erfahrung einer Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, die Kritik am Mythos und die Entwicklung von Kriterien zur Bewertung des Status Quo. So wirkten in dieser Zeit die Philosophen und Dramatiker in Griechenland, Zarathustra im Iran, Buddha in Indien, Konfuzius und Laotse in China und die Propheten in Israel (vgl. Jaspers 1956: 14-18).
2. Zentrum und Peripherie – ein Charakteristikum von Hochkulturen?
In der territorialen Differenzierung von Zentrum und Peripherie, genauer in der Durchbrechung des Lokalitätsprinzips, sieht Friedrich Tenbruck (1986) den entscheidenden Schritt, der den Übergang von der primitiven Gesellschaft zur Hochkultur markiert. Darunter versteht er den Prozess der Ausgliederung von Funktionen wie Herrschaft, Kriegsführung, Religion und Wirtschaft aus ihren genuinen lokalen Einheiten. Wurden diese Funktionen in primitiven Gesellschaften innerhalb der noch nicht ausdifferenzierten, lokalen Einheit ausgeübt, werden sie im Zuge der Entwicklung zu einer Hochkultur aus dieser herausgelöst und auf einen übergeordneten Apparat übertragen. Die lokalen Einheiten, wie Stamm oder Dorf, verlieren somit ihre Autarkie und werden abhängig von einem Zentrum. Ausgehend vom Zentrum, in dem sich die Spitzen des Apparates versammeln, können dann Befehle an die lokalen Peripherien erteilt oder umgekehrt Nachrichten von ihnen entgegengenommen werden (vgl. Tenbruck 1986: 264-268). Es handelt sich also um eine wechselseitige – aber nicht gleichberechtigte – Abhängigkeit von Zentrum und Peripherie, was Tenbruck anhand der Funktion der Stadt verdeutlicht: „Die Stadt ist in diesem Sinne das sichtbarste Pendant zur Ausgliederung der Funktionen aus den lokalen Einheiten. Sie ist zwar äußerlich lokales Gebilde, aber doch von einer neuen Ordnung; denn strukturell ist sie das Zentrum einer Teilgesellschaft, die die nach Funktionsverlust unvollständigen lokalen Einheiten komplettiert, so wie sie auch andererseits von jenen komplettiert wird“ (Tenbruck 1986: 266).
Beispiele für Kulturen mit dieser territorialen Struktur von Zentrum und Peripherie sind Sumer, Ägypten, China, die griechischen Stadtstaaten, Rom, die europäischen Staaten der frühen Neuzeit oder die mittel- und südamerikanischen Großkulturen (vgl. Tenbruck 1986: 267). Interessanterweise kreist auch eines der ersten Zeugnisse der Hochkultur überhaupt, das ursprünglich sumerische Gilgamesch-Epos um die herausragende Bedeutung der Stadt und feiert seinen Helden als Erbauer der Mauer Uruks und des großen Tempels:
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Christine Schmid, Christine Unrau „Des wehrhaften Uruk Mauer er erbaute/ Des geweihten Eanna reines Heiligtum/ Schau seine äußere Mauer, deren Gesims wie Kupfer scheint/ Blick auf die Innenmauer, die ohnegleichen ist“ (1. Tafel, I, 9-11, zitiert nach Mumford 1979: 80).
Laut Lewis Mumford sind gerade die Mauer und der Tempel die beiden Hauptelemente der „städtischen Implosion“ (ebd.), wobei der Tempel die Verortung des Heiligen sichtbar machte, während die Mauer „den Unterschied zwischen den Menschen drinnen und denen draußen betonte – zwischen dem freien Feld, das den Heimsuchungen durch wilde Tiere, räuberische Nomaden und feindliche Truppen ausgesetzt war, und der rings umschlossenen Stadt, wo man selbst in Zeiten der Kriegsgefahr mit dem Gefühl äußerster Sicherheit arbeiten und schlafen konnte“ (Mumford 1979: 77).
Innerhalb der Stadt wurde die Konzentration von Funktionen durch die baulichen Monumente des Tempels und des Marktplatzes repräsentiert, z.B. in Athen durch Akropolis und Agora. In Rom findet sich mit dem Forum, das eine Art Kombination von Agora und Akropolis darstellt, eine noch stärkere lokale Konzentration verschiedener Tätigkeiten: Menschen fanden sich hier ein, um „einzukaufen, zu beten, oder zu plaudern oder als Zuschauer oder Redner an öffentlichen Geschäften oder privaten Prozessen teilzunehmen“ (ebd.: 261). Insofern lag auf dem Forum Romanum „der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens nicht nur der Stadt Rom, sondern des Reiches“ (ebd.). Auch Shmuel Eisenstadt benutzt in seiner Analyse von Gesellschaften unterschiedlichster Epochen und Regionen ein Konzept von Zentrum und Peripherie, das territoriale Dimensionen mit einschließt. Bei seiner Definition von Zentrum geht er zunächst von den Überlegungen Edward Shils’ aus (vgl. Eisenstadt 1982: 51). Dieser versteht unter dem Zentrum einer Gesellschaft ihr zentrales Wertsystem, genauer das Zusammenspiel der Werte, die den ökonomischen, politischen, kirchlichen Eliten einer Gesellschaft als Bewertungs- und Handlungsmaßstab dienen (vgl. Shils 1975: 3-4).2 Während Shils also keine territoriale Zentrums- und Peripheriekonzeption zugrunde legt, weist Eisenstadt darauf hin, dass die Zentrumsbildung mit der Institutionalisierung bestimmter „Orte oder Bereiche oder Symbole“ einhergeht, „die zur Steuerung des Strebens nach sozialer und kultureller Ordnung und nach Partizipation an dieser Ordnung besonders geeignet erscheinen“ (Eisenstadt 1982: 103). Äußere Manifestationen für die Kristallisation der Zentren als unabhängige und klar definierte Einheiten sieht auch Eisenstadt im Bau von Tempeln und Palästen. Er betont jedoch, dass die Errichtung solcher Gebäude nicht auf die 2
Siehe hierzu ausführlicher Kapitel 18, Abschnitt 1.
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Zentren imperialer Systeme beschränkt war. Als die entscheidenden Merkmale von Zentren in imperialen Gesellschaften nennt Eisenstadt stattdessen die Fähigkeit des Zentrums, die Peripherie zu durchdringen, die Abgrenzung der dort versammelten Eliten gegenüber den sozialen Einheiten der Peripherie und deren Fähigkeit, ihre eigenen Symbole und Kriterien der Rekrutierung und Organisation zu entwickeln (vgl. Eisenstadt 1982: 103). Auf patrimoniale Gesellschaften, zu denen Eisenstadt beispielsweise das mongolische Großreich Dschingis Khans zählt, trifft dies hingegen nur in weit geringerem Maße zu (vgl. ebd.: 109). Dem entspricht die Tatsache, dass etwa im mongolischen Reich das Zentrum immer dort lag, wo sich der Khan mit seinem umherziehenden Hoflager gerade aufhielt: „Das Zentrum mongolischer Herrschaft war das Zelt des Herrschers, in dem die zur Ausübung und Delegierung der Macht nötigen Informationen zusammenliefen“ (Conermann 1997: 63).
Eine Struktur mit beweglichen Zentren wies auch das mittelalterliche Reich seit der Frankenzeit auf, das zwar eine Vielzahl nachgeordneter Zentral-Orte, aber keine Hauptstadt besaß, sodass laut Ehlers (2007b: 17) „wenn nicht von einer Unfähigkeit, so doch wohl vom fehlenden Willen beziehungsweise der fehlenden Kraft der ostfränkischen-deutschen Könige gesprochen werden [kann], ein Zentrum zu entwickeln, das transpersonalen und überdynastischen Bestand hatte [...].“
In den zentralisierten bürokratischen Reichen hingegen lag die besondere Rolle zentraler Orte laut Eisenstadt auch darin begründet, dass sie die „charismatischen Qualitäten der kosmischen Ordnung“ verkörperten, die sich gemäß dem Weltbild dieser Kulturen in der Gesellschaft widerspiegelten (vgl. Eisenstadt 1982: 103). Ähnlich interpretiert auch Mumford die spezifische Differenz zwischen Dorf und Stadt: „Solcher heiligen Macht beraubt, hätte die antike Stadt nicht mehr sein können als ein Haufe gebrannten Lehms oder Steine ohne Gestalt, ohne Zweck und Ziel; denn ohne solche kosmische Überhöhungen konnte der einfache Mann ebenso gut oder gar besser im Dorfe leben. Sobald aber das Leben einmal religiös als eine Nachahmung der Götter vorgestellt war, wurde die Stadt des Altertums ein Abbild des Himmels und blieb dies bis in die römische Zeit hinein“ (Mumford 1979: 81).
Auch hierfür liefert die Mythologie der frühen Hochkultur Babylons ein Beispiel: Der babylonische Schöpfungsmythos Enuma Elish (Lambert 1967), der nach dem Aufstieg Babylons zur wichtigsten Stadt des Zweistromlandes entstanden ist, vermittelt ebenfalls die zentrale Rolle des Stadtgottes Marduk. Darüber hinaus schildert der Mythos, wie gleichzeitig mit der Gründung Babylons die Ordnung des Gottesdienstes unter den Menschen etabliert wird. Die Stadt reprä-
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sentiert also alle Dimensionen der kosmischen und politischen Ordnung (vgl. Leidhold 1990). Die folgende Abbildung zeigt die auf eine Tontafel eingravierte ‚babylonische Weltkarte’, möglicherweise die älteste Weltkarte überhaupt. Es handelt sich dabei um eine Kombination aus Bild und Text. Während der Text Bezüge sowohl zum Gilgamesch-Epos als auch zum Enuma Elish aufweist, zeigt die Karte die Welt aus der Vogelperspektive mit Babylon und Assyrien im Zentrum, umgeben von zwei konzentrischen Kreisen, die den Ozean aus Salzwasser darstellen. Die Stadt Babylon ist dabei besonders groß abgebildet und anhand des durch die Stadt fließenden Flusses Euphrat gekennzeichnet (vgl. Pongratz-Leisten 2001: 274-276).
Abb. 1: Babylonische Weltkarte; Quelle: British Museum, Mark Anthony Balucan (als public domain verfügbar unter URL: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Baylonianmaps.JPG).
Während Babylonien und der kosmologische Mythos Enuma Elish einer vorachsenzeitlichen Kultur angehören, ist der Wandel in der politischen und religiösen Bedeutung des Zentrums Jerusalem für das Volk Israel ein Beispiel für die Innovationen der Achsenzeit. Die Veränderungen in der Interpretation Jerusalems lassen sich anhand der Prophetenworte nachvollziehen: Die heilige Stadt verkörpert hier nicht mehr nur den Sitz der göttlichen Präsenz und der politischen Ordnung einer partikularen Einheit, sondern verweist auf Transzendenz und Universalität: Vor der Landnahme war das Zelt, in dem sich die Bundeslade befand, der Ort der Begegnung mit Gott. Nach der Landnahme und der Eroberung Jerusa-
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lems durch David wurde die Bundeslade hingegen nach Jerusalem und dann in den von Davids Nachfolger Salomon erbauten Tempel gebracht. Daraufhin setzte sich theologisch die Vorstellung vom Tempel auf dem Berg Zion als dauerhafte Wohnstätte JHWHs bei seinem Volk durch. Besonders in den Büchern Samuel und Könige kommt zum Ausdruck, dass in Jerusalem der heilige Ort wie das Volk Israel selbst „zu Ruhe gekommen ist“ (vgl. Schreiner 1963: 296-297). Bei den Propheten Jesaja und Ezechiel wird dann die Bedeutung Jerusalems als geistiges Weltzentrum und als Zentrum der Heilserwartung betont: Am Tempel wird Gottes Gerichtshandeln beginnen und hier wird sein Heilshandeln am Ende auch zum Ziel kommen (vgl. Weinfeld 1987: 254; Baltzer 1971: 29). Kritik an einer Fixierung auf die Präsenz Gottes im Jerusalemer Tempels findet sich hingegen bei Jeremia: „Vertraut nicht auf die Lügenworte: 'Der Tempel JHWHs, der Tempel JHWHs, der Tempel JHWHs ist dies!' Nun vertraut ihr auf die Lügenworte. Nicht war: Stehlen, ehebrechen, falsch schwören und dann kommt ihr und tretet vor mich hin und sagt ‚Wir sind gerettet.’ Geht doch zu meiner Stätte in Schilo und seht, was ich ihr getan habe“ (Jer 7, 4-5).
Jeremia verweist hier auf die Zerstörung des Tempels von Schilo, die im 11. Jh. v. Chr. tatsächlich stattgefunden hatte und warnt, dass das Gleiche auch mit Jerusalem geschehen könnte. Die Kritik zielt dabei auf die Bedeutung der inneren Haltung und des Verhaltens, die wichtiger ist als die Kultstätte, eine typisch achsenzeitliche Entdeckung: „Die kultische Gegenwart JHWHs wird für seine Verehrer und Verehrerinnen nur zum Segen, wenn sie dieser Gegenwart durch ihr ethisches Verhalten entsprechen. Der Akzent liegt auf der Inkompatibilität zwischen der Gegenwart JHWHs und dem Verhalten der Jerusalemer Bevölkerung, das nicht Segen, sondern nur Fluch bewirken kann“ (Keel 2007: 644).
Nach der Zerstörung des ersten Tempels beginnt die prophetische Theologie die Fixierung auf Jerusalem als Wohnstätte Gottes noch radikaler in Frage zu stellen, etwa, wenn es bei Deuterojesaja heißt: „So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Stuhl und die Erde meine Fußbank; was ist's denn für ein Haus, dass ihr mir bauen wollt, oder welches ist die Stätte, da ich ruhen soll?“ (Jes 61,1). Statt eines speziellen Ortes werden die Worte der Propheten oder die Zuwendung zu Armen und Unterdrückten zu Möglichkeiten der Begegnung mit Gott (vgl. Höffken 1998: 246). In der Geschichte des Volkes Israel sorgte also letztlich die theologische Reflexion dafür, dass die Fixierung auf Stadt und Tempel als Sitz Gottes, des Königs und der Ordnung relativiert wurde, ohne dass Jerusalem seine besondere Rolle verlor. Die Bedeutung der Stadt als Abbild des Kosmos verschwand jedoch nie völlig, sondern wurde im Laufe der Säkularisierung der Gesellschaft ergänzt
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durch die Rolle als „Sitz von Recht und Gerechtigkeit, Vernunft und Billigkeit“ (Mumford 1979: 57). Denn um gegen irrationales Brauchtum oder Gewalt Recht zu bekommen, muss man den Schutz des Gerichtshofes in der Stadt aufsuchen (vgl. ebd.).3 Verbunden mit der Funktion der Stadt als Repräsentantin der Ordnung und Abbild des Kosmos ist ihre Bedeutung als der Ort, an dem das Potential des menschlichen Lebens am besten entwickelt werden kann: „Außerdem bedeutete das Leben in der Stadt, im Anblick der Götter und ihres Königs, die Erfüllung der äußersten Möglichkeiten, die das Leben bot“ (Mumford 1979: 57).
So schwärmt bereits das Gilgamesch-Epos vom „mauerbewehrten Uruk/ Wo die Leute in festlichen Gewändern prangen, wo jeder Tag zum Festtag wird“ (1. Tafel, V, 6-8, vgl. Mumford 1979: 80). Obwohl es sich hier sicherlich um eine Übertreibung handelt, kommt doch zum Ausdruck, dass die neuen Formen des städtischen Gemeinwesens Muße und Entspannung ermöglichen oder zumindest in Aussicht stellen. Entfernt erinnert dieser Ausspruch bereits an den berühmten Satz des Aristoteles, wonach die Polis zwar um des Überlebens willen entstand, dann aber um des guten Lebens willen fortbesteht (Politik, I, 2, 1253a). Auch im hochmittelalterlichen Kaiserreich, das ja, anders als das ägyptische, babylonische oder römische Reich, keine Hauptstadt besaß, blieb der Mythos von der Stadt als Ort der Verwirklichung menschlicher Freiheit durchaus bestehen: ‚Stadtluft macht frei’ bedeutete nicht nur, dass der Unfreie in der Stadt für seinen Dienstherrn unauffindbar wurde und nach einem Jahr und einem Tag Aufenthalt auch nicht zurückgefordert werde konnte, sondern wurde zu einem bis heute gebräuchlichen Wort, das die Möglichkeiten der Stadt zum Ausdruck bringt.
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In Kapitel 9 und 10 wird anhand von Kafkas Türhüterlegende gezeigt, wie diese Hoffnung enttäuscht und ad absurdum geführt werden kann.
3. Monozentrische Reiche und polyzentrische Poliswelt
Der Ursprung der Stadt als klar von der Peripherie getrenntem Zentrum war nach Mumford (1979: 117) also religiöser Natur, und alle ihre schöpferischen Tätigkeiten waren an die Religion gebunden. Damit ging eine starke Monopolstellung der Priester einher: „Die sakralen Botschaften, die in den Sternen oder den Eingeweiden von Tieren geschrieben standen, in Träumen, Halluzinationen und Prophezeiungen, fielen in die besondere Zuständigkeit der Priester. Dieser hatten lange alle schöpferischen Kräfte monopolisiert und die Gestalt der Stadt war Ausdruck dieses Monopols“ (ebd.).
Allerdings gibt es in der Geschichte eine bedeutende Ausnahme von dieser Regel, nämlich die polyzentrische Welt der griechischen Poleis. Während Eisenstadt die Ähnlichkeit dieser „exzeptionellen Stadtstaaten“ mit den imperialen Gebilden feststellt (vgl. Eisenstadt 1982: 58), hebt etwa Christian Meier die Einzigartigkeit der griechischen Poliskultur aufgrund der fehlenden Zentralgewalt hervor: Denn gerade diese „politische Schwäche“ (Meier 1993: 58) bedeutete laut Meier die Abwesenheit einer Instanz, die in anderen Gesellschaften viele Bereiche des Lebens monopolisiert: „Dadurch fehlte den antiken Gemeinwesen ein ganz wesentliches Element, mit dem wir heute nahezu selbstverständlich rechnen: Monarchien und – für die Neuzeit: – staatliche Zentren dieser Art pflegen ja vielerlei an sich zu ziehen und zu vermitteln. Nicht nur Steuern, sondern auch Denken, Fühlen und Handeln nehmen sie in Anspruch, ziehen es in gewissem Umfang von den Einzelnen ab, um sich selbst damit anzufüllen und das Ganze von sich abhängig zu machen“ (ebd.).
So gab es beispielsweise keine Monopole auf die leicht zu erlernende Schrift oder eine Instanz, die darüber entscheiden konnte, was veröffentlicht werden durfte und was nicht (vgl. Meier 1993: 125). Positiv formuliert sorgte das Fehlen eines Machtzentrums während der Anfangsphase der griechischen Kulturbildung für einen großen Handlungsspielraum des Einzelnen, der auch genutzt wurde: „Der Beginn der intensiven Phase der griechischen Kulturbildung ist dadurch ausgezeichnet, dass in ihm die politischen Zentralgewalten, insbesondere die Monarchien, schwach waren. Die ungeheuren Handlungsmöglichkeiten, die Freiheit, viel ausrichten zu können, die enorme Ausweitung des Horizonts, der Kenntnisse, der Mittel und Spielräume – all dies wurde von re-
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Christine Schmid, Christine Unrau lativ Vielen über ganz Griechenland hin wahrgenommen, praktiziert und zum eigenen Vorteil ausgebeutet“ (Meier 1980: 61).
Eine besonders wichtige Rolle für die Besonderheit der griechischen Kultur spielte laut Meier dabei die Tatsache, dass sich in den verschiedenen Poleis eine unabhängige Intellektuellenschicht entwickeln konnte, die nicht an Königshöfe oder Tempel gebunden war: „So wurde ihr Denken nicht nur Sache dienstbarer Spezialisierung, zum Mittel, die Überlegenheit der Herrschenden und die Abhängigkeit der Beherrschten zu steigern. Sie konnten sich nicht nur an die Inhaber der Macht, mussten sich vielmehr oft genug – wie Solon – an alle Bürger der Stadt wenden“ (Meier 1993: 172).
Dafür, dass sich dieses nicht als Teil einer Machttechnik sondern zur allgemeinen Orientierung genutzte Denken zu einem Stil verfestigte, war jedoch laut Meier ein intellektuelles Ambiente notwendig, in dem Sachverstand, Kenntnis und Einsicht in die Zusammenhänge die entscheidenden Kriterien waren (vgl. Meier 1987: 110-111). Für die Entstehung eines solchen Ambientes spielte die Orakelstadt Delphi eine entscheidende Rolle, die nicht nur als Anlaufstelle für bestimmte Ratschläge, sondern vor allem auch als Treffpunkt und Kommunikationsplattform diente: „Die in Delphi vermittelte, wenngleich nicht nur an Delphi gebundene Kommunikation aber war die Vorbedingung für die Beschleunigung und Vervielfältigung der unter den Griechen erzielten Erkenntnisse, zugleich für die geistige Auseinandersetzung und die gegenseitige Vergewisserung, schließlich für die Autorität des griechischen Denkens. In ihr gewann die griechische Intelligenz ihren Rang, ihren Ort in der Gesellschaft, ihre Unabhängigkeit, sowie ihre Eigenart“ (ebd.: 111).
Delphi übernahm also für die Ägäiswelt durchaus die Funktion eines Zentrums, aber eben nicht als Sammelpunkt der Macht, sondern als „Umschlagplatz für Ideen und Probleme“ (Meier 1993: 54). Die Struktur der griechischen Poliswelt war also in zweierlei Hinsicht völlig anders als die der römischen Zivilisation und anderer imperialer Hochkulturen: Es gab dort erstens kein unumstrittenes geographisch definiertes Machtzentrum und zweitens keine Konzentration der Teilhabe am politischen Prozess auf einen minimalen Teil der Bevölkerung. Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der griechischen Poliswelt und den imperialen Kulturen in Bezug auf die Art der Zentrum/Peripherie-Beziehungen thematisiert auch der Politikwissenschaftler Wolfgang Leidhold (2002). Er betont dabei vor allem den Aspekt der Kommunikation und der Partizipationsmöglichkeiten. Zunächst stellt er fest, dass vor der Entwicklung moderner Massenmedien nur auf der lokalen Ebene intensiv, schnell und wechselseitig kommuniziert werden konnte. Diese intensive Form der Kommunikation ist aber
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– so Leidhold weiter – gerade die Art, in der Regeln ausgehandelt werden, d.h. ohne Massenmedien kann der politische Prozess nur nach dem Paradigma der Gesprächsrunde stattfinden (vgl. Leidhold 2002: 157-158). Sobald der lokale Horizont überschritten wird, wie es etwa in den frühen Großreichen der Sumerer, Babylonier oder Inkas der Fall ist, wird genau diese Form der Kommunikation hingegen unmöglich: Dann können Regeln nur noch weitergegeben werden, nachdem sie bereits getroffen wurden und die Weitergabe erfolgt in Form einer Befehlskette. Diese Situation beschreibt Leidhold folgendermaßen: „Die Regelung aber wird im Zentrum getroffen, und nicht ‚unterwegs‘ oder am Ziel. Aussendung und Sammlung geschehen nach dem Modell der Kette, wie etwa in der Boten- oder Befehlskette […]. Die älteren Kommunikationsverhältnisse ordnen sich als ein Zentrum in dem gehandelt und als eine Peripherie, welche ‚an die Kette gelegt‘ wird. An der Kette zu liegen heißt: nicht an der politischen Partizipation teilnehmen zu können“ (ebd.: 158).
In diesem Zusammenhang verweist Leidhold darauf, dass die Griechen alle Ordnungen, die ein größeres Gebiet als das der Polis umfassten, pauschal mit dem Begriff „Basileia“ bezeichneten und als unpolitisch beurteilten (vgl. ebd.: 159). Durch die Entwicklung von Massenkommunikationsmitteln und durch die Beschleunigung des Transports konnte jedoch eine großräumige Ordnung entstehen, in der die Partizipation der Peripherie möglich wurde. Den Beginn dieser Entwicklung sieht Leidhold im Buchdruck und der Verbesserung von Schifffahrt und Wegebau. Ab dem 19. Jahrhundert führt die Nutzung von Medien, die die Zeitverzögerung beseitigen, zu einem weiteren Wandlungsprozess, der zwei Phasen beinhaltet: In einer ersten Phase begünstigt die Entwicklung des Rundfunks die Wiederkehr einer starken Zentrale, die sich die Kontrolle über die Massenmedien sichert. Diese Massenmedien, die typischerweise keinen Rückkanal haben, schwächen demnach die Partizipation der Peripherie und begünstigen möglicherweise auch das Auftauchen totalitärer Herrschaftsformen. In liberalen Gesellschaften gibt es zwar kein Monopol in der Kommunikation, aber auch hier verläuft ein Bruch durch die politische Öffentlichkeit, und zwar zwischen der Gruppe jener, die die – privaten – Medien besitzen, und derer, die sie nur nutzen. Erst in einer zweiten Phase, die vor allem durch die Perfektionierung der Netzwerke im Internet charakterisiert ist, kann laut Leidhold diese Begünstigung der Zentrale wieder verschwinden (vgl. ebd.).
4. Weltsystem und Dependenz
Eine Interpretation des Zusammenhangs von Zentrum und Peripherie, die sich nicht auf Partizipation und Kommunikation, sondern auf weltweite ökonomische Strukturen bezieht, findet sich bei Immanuel Wallerstein. Sein Analysegegenstand ist das moderne Weltsystem, das nach seiner Charakterisierung größer ist als jede juridisch definierte, politische Einheit, und dessen Teile vor allem durch ökonomische Beziehungen miteinander verbunden sind (Wallerstein 1974: 15). Die historischen Anfänge dieses Weltsystems erkennt er in der fortschreitenden Angleichung von Preisen seit Beginn des sechzehnten Jahrhunderts. Im Zuge dieser Preisangleichung wuchsen mehrere zuvor getrennte Systeme – der christliche Mittelmeerraum, das flandrisch-hanseatische Handelsnetzwerk, die Gebiete östlich der Elbe und Teile der Neuen Welt – zu einem System zusammen (vgl. Wallerstein 1974: 68-74?). Dann, ab ca. 1550 konzentrierten sich laut Wallerstein die industriellen Aktivitäten, die zunächst auf einer Achse zwischen Flandern und der Toskana verteilt waren, auf Nordwesteuropa (vgl. Wallerstein 1974: 226). Gleichzeitig kristallisierte sich das moderne Weltsystem in seiner seither vorherrschenden Form heraus: „The new system was to be the one that has predominated ever since, a capitalist worldeconomy whose core-states were to be intertwined in a state of constant economic and military tension, competing for the privilege of exploiting (and weakening the state machineries of) peripheral areas, and permitting certain entities to play a specialized, intermediary role as semiperipheral powers“ (Wallerstein 1974: 196).
Wallerstein beschreibt folglich eine Form kapitalistischer Weltwirtschaft, deren Kernstaaten untereinander um das Privileg konkurrieren, die peripheren Gebiete auszubeuten und gleichzeitig ihre Staatsapparate zu schwächen. Die territoriale Ausdifferenzierung in Zentrum und Peripherie beruht dabei maßgeblich auf Arbeitsteilung: Arbeiten, die speziellere Kenntnisse und eine höhere Kapitalausstattung verlangen, werden nur in den zentralen Gebieten ausgeführt (Wallerstein 1974: 350).4 In der Peripherie werden demgegenüber Güter produziert, die nur gering qualifizierte Arbeitskräfte und wenig Kapitalausstattung erfordern: 4 Diese Produktionsweise wird heute mit dem Begriff „humankapitalintensiv“ (Kulke 2004:85) umschrieben.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Christine Schmid, Christine Unrau “The periphery of a world economy is that geographical sector of it wherein production is primarily of lower-ranking goods (that is, goods whose labour is less well rewarded) but which is an integral part of the division of labour, because the commodities involved are essential for daily use” (Wallerstein 1974: 301).
Die Bipolarität von Zentrum und Peripherie erweitert Wallerstein um die Komponente der Semiperipherie. Sie steht in vielfacher Hinsicht zwischen Kernstaaten und Peripherie, z.B. im Hinblick auf die Komplexität der ökonomischen Aktivitäten, die Stärke der Staatsmaschinerie oder die kulturelle Integrität. Strukturell kommt ihr die Aufgabe zu, den politischen Druck, der auf das Zentrum ausgeübt wird, umzulenken und so das Zentrum zu entlasten (vgl. ebd.: 349). Außerhalb der Peripherie verortet Wallerstein die Außenarena, mit der ein Weltsystem zwar Handelsbeziehungen unterhält, die aber nicht Teil des Systems ist, da die gehandelten Waren – vor allem Luxusartikel – nicht essentiell für den täglichen Gebrauch sind (Wallerstein 1974: 349). Die hohe Stabilität des modernen Weltsystems mit seiner dreifachen Differenzierung in Peripherie, Semiperipherie und Zentrum erklärt Wallerstein vor allem dadurch, dass es gerade nicht von zentralen politischen Autoritäten sondern von den Marktkräften aufrechterhalten wird: „Since a capitalist world-economy essentially rewards accumulated capital, including human capital, at a higher rate than „raw“ labour power, the geographical maldistribution of these occupational skills involves a strong trend toward self-maintenance. The forces of the marketplace reinforce them rather than undermine them. And the absence of a central political mechanism for the world-economy makes it very difficult to intrude counteracting forces to the maldistribution of rewards” (ebd.: 350).
Die ökonomische und soziale Kluft zwischen den Gebieten des Weltsystems wird laut Wallerstein daher immer größer. Allerdings verweist er darauf, dass bestimmte Regionen ihre Position innerhalb des Weltsystems entweder verbessern oder verschlechtern können, beispielsweise, wenn sie ihre Rolle als Kernstaaten verlieren und zur Semiperipherie ‚absinken’ oder durch die Expansion des Weltsystems von einem Teil der Peripherie zur Semiperipherie werden (ebd.). Ein anderer Zweig der Weltsystemtheorie, bekannt als Dependenz- oder Dependencia-Theorie, konzentriert sich auf die Gründe der aktuellen Unterentwicklung der ‚Dritten Welt’. Diese sehen die Dependenztheoretiker – wie die Bezeichnung schon nahe legt – vor allem in der Abhängigkeit der „peripheren Satelliten“, d.h. der Entwicklungsländer, von den „Metropolen“, d.h. der Industrieländer (Frank 1972a: 26). André Gunder Frank, einer der Begründer der Dependenztheorien, gibt in Kapitalismus und Unterentwicklung in Lateinamerika eine funktionale Erklärung des globalen wirtschaftlichen Ungleichgewichtes und der damit einhergehenden Aufteilung in Dritte und Erste Welt (vgl. ebd.: 10-14).
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Dabei ist, wie auch bei Wallerstein, die weltweite Dominanz kapitalistischer Strukturen der Ausgangspunkt seines Ansatzes. Laut Frank bilden materielle Faktoren und ökonomische Strukturen die Grundlage weiterführender politischer und sozialer Entwicklung. Das heißt, der politische und soziale Fortschritt folgt auf den ökonomischen und ist von diesem abhängig (vgl. Hout 1993: 55-57). Einseitig ausbeuterische Handelsbeziehungen, die laut Frank die einzig mögliche Form von Handelsbeziehung im Kapitalismus darstellen, hemmen demnach sekundär die politische, soziale und kulturelle Entwicklung eines Staates. Die dominierenden Gebiete bereichern sich auf Kosten der wirtschaftlich abhängigen. Da Wachstum innerhalb eines festgelegten Territoriums, beispielsweise eines Staates, für Frank nur eine finite Größe sein kann, verlagert sich die Ausbeutung immer weiter in periphere Gebiete (vgl. Frank 1969). Letztendlich sind es also ausbeuterische Beziehungen, die zu einer Unterentwicklung eines Staates führen und damit die Entstehung von globalen Zentren und Peripherien begründen. Offenbar konzentriert sich Frank in seiner Dependenztheorie auf den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Abhängigkeit und Entwicklung. Dieser spiegelt sich im Wohlstand wider und macht einen Nationalstaat zur Peripherie oder zum Zentrum, zum Satelliten oder zur Metropolis. Die Peripherie ist damit wesentlich durch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit, den daraus resultierenden geringen Wohlstand sowie die kulturell, sozial und politisch defizitäre Entwicklung, charakterisiert (vgl. Hout 1993: 60-64). Unterentwicklung ist laut Frank nicht der oftmals angenommene Urzustand einer Gesellschaft, der etwa von traditionellen Strukturen geprägt ist und durch Aufgabe dieser Charakteristika und Anpassung an entwickelte Länder überwunden wird. Vielmehr ist Unterentwicklung eine Folge des globalen kapitalistischen Systems. Unterentwicklung und Entwicklung sind mithin zwei antagonistische Folgen ein und desselben Prozesses: des Vormarsches des Capitalist World System (vgl. Frank 1969: 21-37). Dabei bleibt jedoch immer zu beachten, dass die Abhängigkeit sich zunächst auf wirtschaftliche Bedingungen und nicht auf politische, soziale oder kulturelle Entwicklungen bezieht. Dieser ökonomische Reduktionismus ist – neben der mangelnden Konkretheit und empirischen Überprüfbarkeit – ein häufiger Kritikpunkt an der Dependenztheorie (vgl. Sautter 1977). Er führt dazu, so die Kritik, dass die Dependenztheorie nicht erklären kann, warum unterschiedliche wirtschaftliche Situationen in Ländern auftreten können, die grundsätzlich ähnliche Ausgangsbedingungen hatten. Periphere Satellitenstaaten können ihre Situation in der Dependenztheorie zwar verändern, die Entwicklung ist jedoch immer Teil des Gesamtkontextes und wird durch das kapitalistische Weltsystem gesteuert. Nur in Zeiten einer weltweiten Krise des Systems können sich Satellitenstaaten entwickeln und teilweise
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von der Metropolis, das heißt dem Zentrum, ablösen. Entsprechend dieser Theorie, gibt das Weltsystem also vor, wie stark sich einzelne Satellitenstaaten emanzipieren können. Politische Strategien der Peripherien zur ökonomischen Entwicklung hätten der Dependenztheorie zufolge keine Relevanz. Deutlich wird in diesen Erklärungen zu der Entwicklung von Zentren und Peripherien, beziehungsweise deren Verlagerungen, dass Frank in seiner Dependenztheorie einen globalen Bezugsrahmen für seine Betrachtungen funktionaler Strukturen setzt. Das Prinzip der ökonomischen Abhängigkeit kann zwar auf die Strukturen innerhalb von Staaten angewendet werden, es ist jedoch vorrangig in der globalen Perspektive gedacht. Nationale Eliten, von Frank in Anlehnung an den Marxschen Terminus ‚Lumpenproletariat’ als ‚Lumpenbourgeoisien’ bezeichnet (Frank 1972b), dominieren nationale ökonomische Strukturen und bestimmen die Entwicklung zentraler Gebiete in der Peripherie der Satellitenstaaten. Ihre Existenz führt gleichsam eine doppelte Dependenz der peripheren Gebiete der Peripherie und eine extreme Polarisierung der Bevölkerung innerhalb des Satelliten herbei. Die am kapitalistischen Weltsystem partizipierende ‚Lumpenbourgoisie’ verhindert die Existenz einer nationalen Basis von Satellitenstaaten und damit jegliche Möglichkeit der Auflehnung gegen dieses. Globale Peripherien selbst können also wiederum in regionale Zentren und Peripherien separiert werden (Hout 1993: 58-60). Wesentlich detaillierter als Frank beschreibt Samir Amin (1976), ein weiterer prominenter Vertreter der Dependenztheorien, die Charakteristika peripherer Länder. Alle peripheren Formationen sind laut Amin durch folgende vier Merkmale gekennzeichnet: 1. die Vorherrschaft kapitalistischer Agrarwirtschaft, die die Exportabhängigkeit von Primärgütern mitbegründet, 2. die Existenz einer ‚trading Bourgoisie’, die die Verbindung zum Zentrum darstellen und von den ausbeuterischen Beziehungen profitieren, 3. die Tendenz zu einer zivilen oder militärischen dominanten Bureaukratie, die die Entwicklung des Landes in die Hand nehmen will, 4. extreme Disparitäten innerhalb des Landes, d.h. die Unterschiede der Infrastruktur, der Bezahlung etc. sind enorm (ebd.: 333-340): „The main loser in the capitalist world system is the periphery, and especially the least privileged part, the proletariat” (Hout 1993: 79). So fasst Hout die Position der peripheren Peripherie bei Samir Amin zusammen. Die Massen des Proletariats werden marginalisiert und die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in peripherer Position: ob in der Peripherie der zentralen Staaten oder der Peripherie des Peripheren. Die einzige Möglichkeit dieser Staaten sich der Dominanz durch das Zentrum zu entziehen, besteht für Amin im so genannten ‚Delinking’ vom kapitalistischen Weltsystem (Amin 1976). Die vollkommene Abgrenzung der Ökonomie des Dritte Welt-Landes ist seiner Meinung nach die einzige Möglichkeit für dieses, eine Entwicklung zu verfolgen, die
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nicht von den Interessen anderer Staaten geleitet ist. Die Ökonomie muss sich hin zu einer ‚autocentred economy’ entwickeln, das heißt eine unabhängige wirtschaftliche Entität werden, die im Gegensatz zu ‚extroverted economy’ nicht vom Export von Rohstoffen abhängig ist (ebd.: 333-340). Alle anderen Versuche die Ökonomien der peripheren Staaten zu stärken, zum Beispiel durch den Abbau von Schutzzöllen, mögen zwar positive Effekte haben, reichen aber nicht aus, um eine Umkehr des ständigen Abzuges von Wert aus den peripheren Ländern zu bewirken. Der Prozess der Ablösung vom kapitalistischen Weltsystem geht einher mit der Einführung ‚echter Demokratie’ und endet für Amin im Sozialismus (Amin 1993: 136). Eine kartografische Abbildung, die den Ansatz der Dependenztheorien visuell verdeutlicht, ist die nachfolgende thematische Weltkarte, die auf ökonomischen Faktoren aufbaut. Die Bedeutung einzelner Staaten, symbolisiert durch ihr GDI5 hängt allein vom Stand der wirtschaftlichen Entwicklung eines Landes ab. Für den Betrachter, der die gängige Mercator-Projektion im Kopf hat, wird deutlich, welchen Staaten der Erde ein wirtschaftlicher und damit für Frank und andere Dependenztheoretiker kultureller, sozialer und politischer Bedeutungsüberschuss zukommt. Es wird sichtbar, welche Staaten zu Zentren des ökonomischen Weltgeschehens werden.
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Das Gross Domestic Income (GDI, dt.: Bruttoinlandsprodukt) bezeichnet das Gesamteinkommen, das bei der Produktion von Waren und Dienstleistungen auf einem nationalstaatlichen Territorium entsteht – unabhängig davon, von welcher Nationalität die Leistungen erbracht wurden (vgl. Kulke 2006: 168-169).
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Abb. 2: Weltkarte des Wohlstands. URL: http://www.worldmapper.org [1.8.2009]. Copyright 2006 SASI Group (University of Sheffield) and Mark Newman (University of Michigan)
Der Fokus von Dependenztheorien liegt eindeutig auf den benachteiligten, abhängigen Peripherien. Dies ist mit Sicherheit auch auf den Entstehungskontext der Theorien zurückzuführen: Zunächst in Lateinamerika entstanden, erhoben sie explizit den Anspruch, eine andere Erklärung für Armut und Unterentwicklung in der Dritten Welt zu bieten als die in den Sechzigerjahren vorherrschenden Modernisierungstheorien. Allgemein akzeptiert war damals etwa das von Walt Rostow postulierte Stufenmodell wirtschaftlichen Wachstums: „Es ist möglich, die wirtschaftliche Lage jeder Gesellschaft mit einem der fünf Wachstumsstadien zu charakterisieren: der traditionellen Gesellschaft, der Anlaufperiode, in der die Voraussetzungen für den Beginn des Wachstums gelegt werden, der Periode des wirtschaftlichen Aufstiegs, der Entwicklung zum Reifestadium, dem Zeitalter des Massenkonsums“ (Rostow 1969: 18).
Rostow (1969: 18-20) geht davon aus, dass jede Gesellschaft diese fünf Stadien des Wachstums aufeinander aufbauend durchläuft und gliedert damit DritteWelt-Länder in die Kategorie der traditionellen Gesellschaft ein, die seiner Meinung nach durch vornewtonsches Denken und Verhalten gegenüber der Welt maßgeblich bestimmt werden. Dies bedeutet auch, dass die Situation der DritteWelt-Länder nicht direkt in Zusammenhang mit der der Industrieländer steht,
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sondern zunächst nur, dass diese sich in einem Anfangsstadium der Entwicklung befinden. Die Dependenztheoretiker_innen sehen dagegen in der Herrschaft des Weltsystems und den daraus resultierenden Abhängigkeiten die Ursache der Unterentwicklung und stellen sich auf die Seite der Verlierer_innen des Kapitalismus.
5. Globale Peripherien, globale Zentren?
Der Vorwurf des Ressourcentransfers aus der Peripherie ins Zentrum, wie er von der Dependenztheorie erhoben wird, spielt nach wie vor eine wichtige Rolle für die Identität nicht nur der Dritte-Welt-Länder, sondern auch der internationalen globalisierungskritischen Bewegung. Davon zeugt die Erklärung der Versammlung der sozialen Bewegungen, die auf dem letzten Weltsozialforum 2009 in Belém, Brasilien, verabschiedet wurde: „All the measures that have been taken so far to overcome the crisis merely aim at socialising losses so as to ensure the survival of a system based on privatising strategic economic sectors, public services, natural and energy resources and on the commoditisation of life and the exploitation of labour and of nature as well as on the transfer of resources from the Periphery to the Centre and from workers to the capitalist class” (La Via Campesina 2009).
Das Weltsozialforum, das erstmalig 2001 in Porto Alegre stattfand, versteht sich als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftforum in Davos, an dem sich die politische und ökonomische Macht einmal im Jahr konzentriert. Es findet seither regelmäßig zeitgleich mit dem Weltwirtschaftsforum statt, bis 2003 in Porto Alegre, dann im indischen Mumbai, 2005 wieder in Porto Alegre, 2006 an drei Orten in Afrika, Asien und Südamerika gleichzeitig, 2007 in Nairobi, 2008 in Form eines globalen Aktionstages und schließlich 2009 wieder in Brasilien. Dabei kristallisierte sich Brasilien und besonders Porto Alegre als ein in der wirtschaftlichen Peripherie gelegenes Zentrum der Anti-Globalisierungs-Bewegung heraus. Dies kommt beispielsweise in der Formulierung ‚Porto Alegre: Capitale dei movimenti’ (Porto Alegre: Hauptstadt der Bewegungen) zum Ausdruck, mit der ein italienischer Autor und Aktivist sein Überblickswerk über das Weltsozialforums betitelt hat (Cannavò 2002). Dass das Forum nach 2003 nur noch ein Mal in Porto Alegre stattfand, lässt jedoch das Bemühen erkennen, eine organisatorische und territoriale Zentrenbildung zu verhindern. Die Sorge darüber, dass Porto Alegre im Forum eine Monopolstellung besetzt, bringt bereits 2003 die ägyptische Frauenrechtsaktivistin Nawal El Saadawi zum Ausdruck: „Neither Brazil nor any other country should be allowed to dominate the World Social Forum. It belongs to the world and not to one country. Since it started in 2001 it has been held in Porto Alegre. Why this monopoly?“ (El Saadawi 2003).
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Thomas Ponniah, Mitherausgeber des Sammelbandes Another World is Possible: Popular Alternatives to Globalization at the World Social Forum (Ponniah/ Fisher 2003a), warnt ebenfalls vor einer Zentralisierung und lobt gleichzeitig den Plan eines sich im Süden hin- und herbewegenden Forums: „Also, the process of the forum moving around different parts of the Global South is actually playing out the democratic ideal, in the sense that movements are very wary of becoming bureaucratised, centralised, sedimented. So we have to have a forum that is structured in a more fluid manner. It cannot be permanently located in one place or it would just become a new IMF or a Soviet Union” (Ponniah/Fisher 2003b).
Die Frage nach Zentrum und Peripherie wird also im Kontext des Weltsozialforums nicht nur in der Tradition der Dependenztheorie auf die wirtschaftliche Aufteilung der Welt bezogen, sondern spielt auch für die interne Entwicklung des Forums selbst eine wichtige Rolle. Einen weiteren Schritt zur Auflösung räumlicher Zentralität im Weltsozialforum unternahmen die Organisator_innen, indem sie das Forum 2006 an drei Orten gleichzeitig ausrichteten und 2008 nur einen weltweiten Aktionstag ohne jegliche örtliche Fokussierung abhielten. Die Rückkehr zum Modell des Treffens an einem Ort 2009 gibt jedoch Anlass zu der Vermutung, dass dieser Versuch einer maximalen Dezentralisierung, wie er 2006 und 2008 unternommen wurde, sich nicht als erfolgreich erwiesen hat. Ein anderer Aspekt der Differenzierung von Zentrum und Peripherie innerhalb des Weltsozialforums, der von Aktivist_innen diskutiert wird, ist die Tatsache, dass während der jährlichen Treffen einige Veranstaltungen nicht in den zentralen Räumen des Forums stattfinden können, sondern in andere, zum Teil schlecht erreichbare Stadtteile verlegt werden, was als räumliche Marginalisierung der entsprechenden Bewegungen interpretiert wird (vgl. Waterman 2002; Osterweil 2002). Die Kritik an dieser angeblichen Marginalisierung bestimmter Gruppen wird aber von anderen Teilnehmer_innen des Forums wiederum als zu kurzsichtig abgelehnt, weil sie ihrer Meinung nach die zentrale Stellung des offiziellen Forums und die mangelnde Aufmerksamkeit für die peripheren Gruppen zementiert: „Warum sind unsere Kritiken in diese Falle geraten? Ich denke, es ist wegen unserer Tendenz, die Marginalisierung des Peripheren und die Privilegierung des Zentrums zu verewigen“ (Osterweil 2002: 255).
Bei der hier aufgeworfenen Frage nach der ‚Verewigung’ und Festschreibung von Zentren und Peripherien geht es vor allem darum, wie die Kategorien Zent-
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rum und Peripherie gesellschaftliche Diskurse prägen. Sie führt daher weg von dem in diesem Teil des Buches diskutierten räumlichen Ansatz.6 Machtzentren sind für die Vertreter_innen der globalisierungskritischen Bewegung multinationale Konzerne und internationale Organisationen wie der IWF und die Weltbank. Die Soziologin Saskia Sassen dagegen lehnt diese Sichtweise als Vereinfachung ab und fokussiert stattdessen ein neues Phänomen der territorialen Konzentration: die Global Cities (Sassen 1991: 3-5). Diese dienen als Kommandozentralen für die zunehmend verstreuten weltweiten ökonomischen Tätigkeiten und als Sitze für den internationalen Finanzhandel. Damit erfüllen sie Aufgaben, die in der räumlich dispersen, aber global integrierten Organisation von ökonomischen Aktivitäten erfüllt werden müssen, und garantieren so deren Funktionsfähigkeit (vgl. ebd.). Dem Prozess der ökonomischen Globalisierung und damit auch Peripherisierung von Produktionsstandorten, steht also eine zentrale Territorialisierung in Form von Global Cities gegenüber (Sassen 2002: 161). New York, London oder Tokyo sind die Beispiele, an denen Saskia Sassen ihre These verdeutlicht. Sie alle haben seit den 1980er Jahren trotz unterschiedlichster kultureller und geschichtlicher Hintergründe parallel verlaufende stadtgeographische und sozialgeographische Transformationen erfahren. Die Akkumulation von Institutionen und Einrichtungen, die maßgeblich Kontrolle über Kapital hatten, ist eine dieser Transformationen. Während traditionelle Produktionsstätten wie Manchester oder Detroit an Bedeutung verloren, nahm die Macht einiger weniger Städte, welche die Kontrolle über Kapital bündelten, stark zu: „[T]he more globalised the economy becomes, the higher the agglomeration of central functions in relatively few sites, that is the global cities” (Sassen 1991: 5).
Sassen wendet sich gegen die verbreitete Annahme, dass moderne Kommunikation, die Beschleunigung des Transports und die Hypermobilität von Kapital die räumliche Verortung irrelevant werden lassen. Paradigmatisch für diese Annahme ist folgende, bereits 1989 gestellte Diagnose: „An die Stelle eines traditionellen Zentrums, das sich als ein örtlicher Schauplatz in den Abmessungen lebensweltlicher Erfahrbarkeit hielt, tritt nun die relative Gleichzeitigkeit medialer Sphären unterschiedlicher Durchgangsgeschwindigkeit, Durchlässigkeit und Zugänglichkeit“ (Boettner 1989: 36).
Für Sassen sind die Positionierung im Raum, und somit auch die Synergieffekte von Agglomerationen hingegen nicht ersetzbar: Hochspezialisierte Anbieter_innen von internationalen juristischen und kaufmännischen Dienstleistungen, Ma6
In späteren Kapiteln werden diese Aspekte noch ausführlich diskutiert (siehe Kap. 7-11 und 17-19).
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nagementberatung und Finanzdienstleistung beispielsweise sind in einem Großteil der Fälle zwar nicht davon abhängig räumliche Nähe zum Kunden zu haben; allerdings steht ihr Erfolg in Zusammenhang mit der Nähe zu anderen Firmen, die gemeinsame Produktionen ermöglichen (vgl. Sassen 1991: 11). Aus dieser Funktion der Global Cities ergeben sich auch Konsequenzen für deren innere Struktur, die Saskia Sassen ebenfalls analysiert: Als ein wichtiges Merkmal hebt sie die soziale Polarisierung hervor, die die Global Cities erzeugen, durch die sie jedoch zugleich auch erhalten werden: Eliten, hochspezialisierte Arbeitnehmer_innen sowie Kosmopoliten sammeln sich in Global Cities, da hier Machtpositionen zu besetzen sind (vgl. Sassen 2002: 164). Gleichzeitig und in noch stärkerem Maße, sind es jedoch die Marginalisierten, beispielsweise Migrant_innen, Frauen und Angehörige von Minderheiten, die es in die Global Cities zieht. Hier ist auch für sie Partizipation möglich, d.h. eine Plattform vorhanden, die in ländlichen Gebieten kaum vorstellbar wäre (vgl. ebd: 162). Arbeitskräfte mit sehr niedrigen Einkommen und Arbeitskräfte mit enorm hohen Gehältern, beispielsweise Broker, treffen in der Global City also aufeinander. Unterschiede in den Profitkapazitäten existieren schon lange, doch in den Global Cities erhalten diese neue, extreme Dimensionen (vgl. ebd.: 164): Luxuriöse Townhouses begegnen sozialem Wohnen. Die Global City ist also ein Ort enormer innerer Spannungen, der jedoch über nationale Grenzen hinweg einend wirkt. Die Grenzen des Nationalstaates 7 verlieren an Gewicht. Dies zeigt sich etwa darin, dass in der Global City nicht mehr der Staat, sondern die Stadt den strategischen Ausgangspunkt für politisches und ökonomisches Handeln bietet, und zwar sowohl für international denkende Führungskräfte, als auch für benachteiligte Arbeitnehmer_innen und Migrant_innen. Auch die kolonialistische Nord-Süd-Teilung ökonomischer Macht verliert an Bedeutung und ist für den internationalen Handel nicht mehr ausschlaggebend. Dementsprechend haben die Global Cities oftmals weniger Beziehungen zu ihrem nationalen Hinterland, beziehungsweise der nationalen Peripherie, als zu anderen internationalen Zentren (vgl. dazu auch Appadurai 1996: 48-50). Im Gegensatz zu traditionellen Städten, die stark mit den sie umgebenden Regionen verwurzelt waren, vereint die Global City mehr mit anderen Global Cities als mit ihrem Umland. Dies gilt sowohl in Hinblick auf die Vernetzung untereinander, als auch in Hinblick auf strukturelle Ähnlichkeiten. Die nachfolgende Karte von Kulke verbildlicht diese Vernetzung der Global Cities als Zentren globalen Geschehens. Gleichwohl hier eine Unterscheidung zwischen Global Cities zentraler Länder und Global Cities semiperipherer, be7 „Der nationalstaatliche Strukturbegriff verbindet die Idee der Solidaritätsgemeinschaft Nation mit dem Prinzip territorialer Herrschaftspolitik“ (Nohlen/Schultze 2005: 601).
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ziehungsweise peripherer Länder, getroffen wird, scheint die Unterscheidung zwischen Peripherien der Zentren und Peripherien des Peripheren unwichtig. Auf der strukturellen Ähnlichkeit und der einhergehenden Vernetzung der Global Cities untereinander liegt das Hauptaugenmerk. Die Peripherien der Global Cities sind in dieser Karte zum weißen Hintergrund degradiert.
Abb. 3: Global Cities. Aus Kulke (2004: 236, Abbildung M7-33).
Die mangelnde Verwurzelung in der Umgebung ist jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen den Global Cities und den städtischen Zentren der Antike und Neuzeit: Beispielsweise hatten auf dem oben erwähnten Forum Romanum Handel, Religion und öffentliche Debatten gleichzeitig ihren Ort. In den Global Cities, wie sie von Saskia Sassen beschrieben werden, aber auch in anderen Metropolen der Gegenwart, findet hingegen ein Prozess der Segregation verschiedener Lebensbereiche statt, der es unmöglich macht, innerhalb der Stadt das eigentliche Zentrum zu identifizieren. Gleichzeitig ist die Grenze zwischen Stadt und Land, die ehemals durch die imposante Stadtmauer eindeutig und für alle sichtbar gezogen wurde, immer schwieriger auszumachen. So konstatierte Mumford bereits in seinem 1979 erschienenen Werk „die Entstehung eines relativ undifferenzierten städtischen Gewebes [...], das in keinerlei Beziehung mehr zu einem
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innerlich zusammenhängenden Kern oder zu irgendeiner äußeren Begrenzung steht“ (vgl. Mumford 1979: 631). Zwar verfügen alle Global Cities über einen Central Business District (CBD) – die Innenstadt – in dem sich Handel, Verkehrswege und andere Einrichtungen räumlich konzentrieren.8 Dieser scheint heute das Zentrum ökonomischer Macht zu sein. Gleichwohl charakterisiert sich das CBD jedoch durch eine geringe Dichte an Wohnbevölkerung und durch große Pendlerzahlen. Das heißt, das CBD kann nicht das soziale Zentrum einer Global City sein. Vielmehr ist ein Prozess festzustellen, der oftmals als Suburbanisierung bezeichnet wird, bei dem die realräumlichen, beziehungsweise kartografischen Zentren von Großstädten verlassen werden. Bewohner, deren finanzielle Lage es zulässt, verlassen die Stadtkerne um an den ‚urban fringes’ (den Stadträndern) mehr Lebensqualitäten zu genießen.9 Damit ist das ökonomische Zentrum der Global Cities nicht notwendigerweise gleichzeitig auch Zentrum sozialer, politischer, militärischer oder anderer Macht. Das ökonomische Zentrum CBD leert sich in vielen Fällen nach Geschäftsschluss und wandelt sich durch die zentrifugalen Bewegungen der Pendler_innen zu einer Peripherie im Zentrum. Es ist demnach nicht eindeutig festzustellen, wo sich das Zentrum einer Global City befindet. Wenn Zentrum und Peripherie ununterscheidbar werden, wird von Städteplaner_innen oftmals der Versuch unternommen, die Bereiche Kultur, Freizeitgestaltung, Konsum und sogar Religion durch architektonische Großprojekte wieder zu bündeln und so eine eindeutig identifizierbare Mitte zu schaffen. Paradigmatisch ist hierfür das CentrO Oberhausen, das, nach dem Vorbild der Meadowhall im Nordosten Sheffields, auf dem Gelände einer Industriebrache errichtet und 1996 eingeweiht wurde: Es enthält nicht nur ein riesiges Einkaufszentrum, sondern gleichzeitig eine künstlich angelegte Erholungslandschaft, zahlreiche Gastronomieangebote, Kinos, einen Vergnügungspark mit Fahrgeräten, eine Konzerthalle und ein ökumenisches Kirchenzentrum (vgl. Michalak 2007: 24-28). Das CentrO wiederum ist Teil eines noch größeren städtebaulichen Projekts namens Neue Mitte Oberhausen, dessen erklärtes Ziel „die künstliche Schaffung eines Mittelpunktes städtischen Lebens“ (Basten 1998: 5-6) darstellt. Dementsprechend wirbt das CentrO für sich als „Herz der Neuen Mitte“ (ebd.: 24), also als ‚Zentrum des Zentrums’ der ansonsten zersiedelten Stadt Oberhausen und der polyzentrischen Städteformation Ruhrgebiet.
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E.W. Burgess teilt die moderne Stadt in seinem Ringmodell in Zonen verschiedener Nutzung. Der CBD ist der Hauptgeschäftsbezirk als Zone mit überwiegend tertiärer Nutzung (vgl. Heineberg 2004: 337-338). 9 Dieser Prozess wird auch als Bevölkerungssuburbanisierung bezeichnet (vgl. Kulke 1996: 253254).
6. Territoriale Zentren und Peripherien – Hierarchie der Räume
Das Potential territorialer Konzepte von Zentrum und Peripherie zeigt sich darin, dass sie auf vielfältige Art und Weise für die Beschreibung von Strukturen aller Regionen und historischen Epochen genutzt werden können. Die herausragende Bedeutung des Zentrums gegenüber der Peripherie beruht dabei auf unterschiedlichen Faktoren: Während Tenbruck und Eisenstadt die Rolle von Zentren als Träger der wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen und als Repräsentanten der kosmischen Ordnung betonen, stellt die Dependenztheorie die wirtschaftliche Abhängigkeitsbeziehung zwischen Zentrum und Peripherie in den Mittelpunkt. Allein geographische Kriterien sind demnach nicht für die Herausbildung eines territorialen Zentrums ausschlaggebend. Verschiedene Konzeptionen und Theorien bedienen sich jedoch der Karte als Instrument, um die von ihnen identifizierten relevanten Zentren abzubilden. Dies gilt sowohl für die frühen Karten der ersten Imperien, als auch für thematische Weltkarten, die die wirtschaftlichen Ungleichgewichte wiedergeben sollen, oder die Karte der Global Cities, die fast an den Plan des U-Bahnnetzes einer beliebigen Metropole erinnert. In den oben vorgestellten Theorien werden jedoch nicht nur Zentren und Peripherien lokalisiert, sondern auch Prozesse und Zusammenhänge zwischen diesen Strukturen beschrieben. So wird in verschiedenen Kontexten eine eigentümliche Wechselwirkung von territorialer Dezentralisierung und Zentralisierung festgestellt. Meier (1987: 111; 1993: 54) konstatiert beispielsweise, dass gerade die polyzentrische Welt der griechischen Poleis eines intellektuellen Zentrums bedurfte, wie es die Orakelstadt Delphi war, die zwar keine politische Macht ausübte, aber einen Umschlagplatz für Ideen und Gedanken bot. Diese Überlegung erinnert an die (umstrittene) Etablierung von Porto Alegre als einer ‚Hauptstadt der Bewegungen’. Denn hiermit verfolgten die Organisator_innen das Ziel, ebenfalls einen zentralen Ort zu installieren, der dem völlig dispersen Netzwerk globalisierungskritischer Bewegungen zum Gedankenaustausch und zur Identitätsstiftung dient. Saskia Sassen (1991; 2002) wiederum zeigt anhand des Phänomens der Global City auf, dass auch im 21. Jahrhundert die räumliche Konzentration von Humankapital und Dienstleistungen unverzichtbar ist und widerspricht so der weit verbreiteten These, dass die Beschleunigung von Warenver-
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kehr, Kapitalbewegung und Kommunikation die räumliche Verortung irrelevant werden lassen. Die territoriale Dezentrierung von bestimmten Funktionen – sei es politischer oder ökonomischer Art – zieht in jedem der vorangegangenen Beispiele eine Zentralisierung auf anderer Ebene nach sich. Die griechischen Poleis benötigten ein symbolisches Zentrum, um politisch dezentral organisiert sein zu können. Der globale Kapitalismus bei Saskia Sassen verlangt die Entstehung von Global Cities als Kommandozentralen. Gleichzeitig stoßen die Theorien, die auf einer räumlichen Vorstellung von Zentrum und Peripherie beruhen, jedoch auch an Grenzen ihres Beschreibungsund Erklärungspotentials: Im Falle der Dependenztheorien zeigt sich dies allein anhand der komplexen und untereinander verschiedenen Realitäten der Entwicklungsländer und Industrieländer, die es nicht mehr gerechtfertigt erscheinen lassen, ganze Kontinente unter dem Schlagwort ‚Peripherie vs. Metropole’ zu betrachten. Auch wenn die eindeutig wirtschaftliche Perspektive der Dependenztheorien verlassen wird, so bleibt es unmöglich, für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum ein universelles Zentrum zu definieren. Dabei ist die Identifikation der territorialen Differenz zwischen Zentrum und Peripherie heute noch schwieriger als etwa im Falle Babyloniens oder des Römischen Reiches. Rom beispielsweise war unumstrittenes politisches, kulturelles und religiöses Zentrum des Reichs, wohingegen Tokyo als Global City primär ein ökonomisches Zentrum des globalen Kapitalismus ist. Innerhalb der Städte macht die Trennung zwischen den Orten von Arbeit, Konsum, Wohnen und Freizeit es schwierig, ein Zentrum zu erkennen. Darüber hinaus breiten sich die heutigen Städte scheinbar unbegrenzt aus, wohingegen die antiken und mittelalterlichen Städte durch eine Stadtmauer architektonisch eindeutig von ihrer Umgebung abgegrenzt waren. Dessen ungeachtet besitzen die verschiedenen Vorstellungen von Zentrum und Peripherie nach wie vor große Wirkmächtigkeit und sind mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen. Die ‚Stadt’, von der bereits das Gilgamesch-Epos als dem Ort schwärmt, an dem es sich zu leben lohnt, fasziniert nach wie vor. Dies gilt besonders für internationale Metropolen und die Global Cities, die nicht nur de facto die besten Arbeitschancen – sowohl für marginalisierte Arbeitnehmer_innen als auch für hochqualifizierte Spitzenverdiener_innen – bieten, sondern auch durch ihren Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten als Magnet wirken. Der Versuch, durch städtebauliche Großprojekte wie die Neue Mitte Oberhausen künstliche Stadtzentren zu schaffen, weist ebenfalls darauf hin, dass ein territorial gebundenes ‚Zentrum’ als etwas Wünschenswertes, Positives, notfalls zu Rekonstruierendes betrachtet wird.
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Andererseits bleibt der Begriff der Peripherie mit Vorstellungen von Unterordnung, Benachteiligung, Marginalisierung behaftet. Die Dependenztheorie etwa sieht in einer monozentrischen Abhängigkeitsstruktur eine Beziehung, die nur der Peripherie Nachteile bereitet, weil sie ihr die Möglichkeit autonomer Entscheidungen nimmt. Die Aktivist_innen des Weltsozialforums scheinen einer ähnlichen Interpretation zu folgen, wenn sie versuchen, eine Differenzierung in Zentrum und Peripherie innerhalb ihrer eigenen Struktur zu verhindern, indem sie ihre Treffen an möglichst viele Orte verteilen, um nicht an Autonomie und Kreativität zu einzubüßen. ‚Zentrum zu sein’ wird in diesem Kontext von einem Anspruch, der verteidigt werden muss, zu einem Vorwurf. Dieser Vorwurf richtet sich nicht nur an territorial lokalisierbare Einheiten, sondern bezieht sich auch auf die Frage der Deutungsmacht – ein nicht-räumlicher Aspekt von Zentrum und Peripherie, der in den folgenden Kapiteln ausführlicher besprochen wird. Die Debatten um territoriale Zentren und Peripherien kreisen also um eine Hierarchie der Räume, die wahlweise aufgehoben werden soll (wie es die Aktivisten des Weltsozialforums fordern) – oder unumgänglich ist (wie Saskia Sassen es beschreibt). Als Analysekategorien ermöglichen es Zentrums- und Peripheriekonzeptionen diese Bedeutungsdifferenzen zwischen Räumen zu fassen. In der Anwendung dieser begrifflichen Instrumente wird jedoch gleichzeitig eine Opposition geschaffen, die Hierarchien nicht nur beschreibt, sondern auch produziert und verfestigt.
Exkurs: Koloniale Umschreibung der Zentrum/PeripherieDifferenz und der Völkermord in Ruanda
Das Bild, das sich entlang einer geo- bzw. kartographischen Unterscheidung von Zentrum und Peripherie zeichnen lässt, ist nicht ohne Ambivalenz. Einmal bezieht diese Unterscheidung ihre Bedeutsamkeit aus der Funktion der Organisation bzw. Hierarchisierung, die Tenbruck als für Hochkulturen und wir als für moderne Gesellschaften notwendig, konstitutiv erachten. Zugleich lässt sich die Einsetzung der Zentrums-Peripherie-Differenz nicht einfach als interessefreies Werkzeug zur Beschreibung der sozialen Realität festhalten. Die Wirkmächtigkeit von Bildern und Zahlen beruht eben gerade auf der Vorstellung, dass das, was sichtbar ist (sich also auf einer Karte zeigen lässt) und das, was messbar ist (und damit in Indikatoren wie dem BIP ausgedrückt werden kann), eine unstrittige Wirklichkeit besitzt. Indes liegt in dem naiven Umgang mit diesem Anschauungsmaterial und dem darauf aufbauenden Vokabular eine Gefahr. In der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie bzw. – in dependenztheoretischen Termini – der von entwickelten und abhängigen sozialen Einheiten steckt immer auch ein Zentrum, das sich als solches in die Mitte des Geschehens setzt. Es vertritt darin den Anspruch, Ausgangspunkt des Welt- und Selbstverständnisses auch der nunmehr zu peripheren Satelliten erklärten Regionen zu sein. Es geht mithin nicht nur um die bloße Abbildung sozialer Strukturen, sondern auch um deren machtpolitische Ausdeutung. Die Unterscheidung bzw. Unterscheidbarkeit von Zentrum und Peripherie ist darin zugleich und gleichermaßen 1. eine Organisationsdynamik, welche die funktionale Differenzierung verlangt und sie ermöglicht (wie in den vorigen Kapiteln gezeigt), 2. eine diskursive Praxis und damit 3. ein Mittel, um Macht bzw. Legitimität zu erlangen. Wie diese Momente zusammengehören und aufeinander verweisen, soll anhand der kolonialen Geschichte Afrikas, beispielhaft am Fall des zentralafrikanischen Staates Ruanda aufgezeigt werden. Die imperialistischen und kolonialistischen Bemühungen der europäischen Mächte haben vor allem auf dem afrikanischen Kontinent nachhaltig zu einem asymmetrischen Kräfteverhältnis beigetragen, das im Kern sowohl der so genannten ‚kleinen Kriege‘ als auch der genozidalen Massaker steht. Die Auswahl des Fallbeispiels ist daher nicht zufällig: Am Beispiel des ruandischen Genozids zeigen sich vielleicht am eindringlichsten die
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zerstörerischen Folgen, welche in letzter Konsequenz mit der Durchsetzung zugeschriebener Rollen und hegemonialer Deutungsmuster einhergehen können. Daneben zeigt sich, dass die Gestaltungsansprüche des Zentrums nicht uneingeschränkte Geltung besitzen; dass die exklusive Stellung, welche das Zentrum für sich reklamiert (bzw. die ihr zugeschrieben wird), nicht zuletzt ein diskursives Produkt ist; und schließlich: dass auch und gerade das Zentrum auf externe Ressourcen angewiesen ist, welche die Verfügung über die Peripherie ermöglichen und organisieren. In diesen Ordnungen der Intermediarität, der Vermittlung zwischen Zentrum und Peripherie, nimmt die Semiperipherie eine entscheidende Rolle als Mittler von Machtansprüchen des Zentrums gegenüber der Peripherie einerseits und von Wirklichkeitsproduktionen andererseits ein. Damit wird die Logik der Anhäufung, die das Zentrum kennzeichnet, zumindest auf der Ebene der Machtmittel partiell infrage gestellt. Geographische und sozialstrukturelle Bedingungen von Herrschaft und kolonialer Intervention in Ruanda Eines der augenscheinlichsten Merkmale Afrikas, das einen Vergleich mit euroamerikanischen Organisationsformen erschwert, ist seine weitgehende Staatenlosigkeit. Die im globalen Vergleich verhältnismäßig dünne Besiedlung Afrikas10 ist als einer der wichtigsten Faktoren bei der Schwierigkeit, eine Zentralgewalt – nichts anderes ist ein staatliches Gewaltmonopol – zu errichten und zu behaupten, zu sehen. Infolge der Weite des Landes war es Bevölkerungsgruppen immer auch möglich, sich übermäßigen Herrschaftsansprüchen zu entziehen (Herbst 2000: 39); für eine Staatenbildung nach europäischem Muster fehlte mithin eine wichtige Voraussetzung, nämlich effektive Sanktionsgewalt. Herrschaft war und ist in Afrika mithin, wie etwa Bayart (1993: 22) und von Trotha (2000: 275) deutlich machen, nicht primär Verfügungsgewalt über Räume, sondern über Menschen. Diese musste sich in relativer Abwesenheit eines räumlich gestützten Drohpotentials anders legitimieren: nämlich einmal charismatisch durch Verweis auf und Ausnutzung von einer transzendenten Autorität bzw. magischen Fähigkeiten und zweitens durch die Verstetigung des Charismas (vgl. Weber 1980 [1922]: 140-148) in Form des Aufbaus reziproker klientelistischer Beziehungen. 10 Für die unmittelbare Vorkolonialzeit (um 1850) wird eine Gesamtbevölkerung von 111 Mio. (verteilt auf 30 Mio. km2) angenommen, für Europa dagegen im gleichen Zeitraum 276 Mio. (verteilt auf 10 Mio. km2). Selbst wenn man die weiten Wüstengebiete Afrikas in Rechnung stellt, ergibt sich eine erheblich geringere Bevölkerungsdichte auf dem afrikanischen Kontinent, der erst zur Zeit der Dekolonialisation am allgemeinen Bevölkerungswachstum der Neuzeit teilhat (Zahlen nach United Nations 2004: 6).
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Den sich wenig zur Zentralisation eignenden Verhältnissen wurde in weiten Teilen Afrikas durch den Aufbau eines Häuptlingstums als lokalen Platzhaltern von Macht Rechnung getragen. Das zentralafrikanische Gebiet des heutigen Ruanda verfügte nicht zuletzt wegen seiner vergleichsweise geringen Größe und hohen Bevölkerungsdichte bereits deutlich vor Ankunft des europäischen Kolonialismus über zentralistische oder zumindest protostaatliche Herrschaftsstrukturen (Paul i.E.). Dennoch lässt für Ruanda mit gleichem Recht (und derselben Vereinfachung) sagen, was zuvor über die Struktur von Herrschaft auf dem afrikanischen Kontinent behauptet wurde. Nicht unähnlich den politischen Verhältnissen im feudalen Europa wurde die Verwaltung durch einen lokalen Adel getragen und durch die charismatische Herrschaft der ruandischen Könige, der sogenannten mwami gestützt, die in ihrer Herrschaftssicherung materiell und militärisch auf die Unterstützung des Adels und ideell auf den Glauben an ihre Fähigkeit, mit höheren Mächten zu kommunizieren, angewiesen waren. Ihre Verfügung über Ressourcen und die damit einhergehende Verteilungsautorität bestätigte ihre Machtposition im sozialen Gefüge. Wenngleich nicht quer zu dieser Unterscheidung in Adel/Nicht-Adel, aber doch auch nicht deckungsgleich mit ihr, lag die Differenz zwischen den sozialen Gruppen Hutu und Tutsi. Ebenso wie die Herrschaft der mwami war sie Teil der klientelistischen, das heißt auf Reziprozität gestellten Sozialstruktur Ruandas. Hutu waren darin zumeist Ackerbauern, Tutsi in der Regel Viehhüter. Genau auf diesem Besitz an Nutztieren beruhte die überlegene soziale Stellung eines Tutsi gegenüber einem Hutu. Einerseits war der Ackerbau in erster Linie Subsistenzwirtschaft – und musste es sein, weil die Ernte in hohem Maße von klimatischen Schwankungen abhängig und nicht unbegrenzt anhäufbar war –, andererseits hob der Besitz von Vieh eben diese Beschränkungen für die Tutsi auf. Der Rinderbesitz erlaubte den Tutsi, nicht unähnlich den Lehensbesitzern im feudalen Europa, durch das Zugeständnis von Verfügungsrechten selbst eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften, die nicht auf den Einsatz eigener körperlicher Arbeit angewiesen war. Zugleich blieb die Teilhabe der Hutu am Reichtum immer prekär, weil der Viehbesitz stets in den Händen von Tutsi blieb (Maquet 1970 [1961]: 139). Bei der Beziehung zwischen beiden sozialen Gruppen handelte es sich jedoch nicht um ein einseitiges Ausbeutungsverhältnis, sondern um eine wechselseitige – wenngleich hierarchisch organisierte – soziale Verpflichtung, die Schutz und Teilhabe gegen Fronarbeit und Abgaben versprach. Die prinzipiell gegebene Möglichkeit, bei übergreifenden Forderungen des Herren in das Dienstverhältnis zu einem anderen zu treten, begrenzte die Machtansprüche der Tutsi gegenüber den ihnen dienenden Hutu. ‚Kleinere‘, das heißt weniger einflussreiche Tutsi waren zudem ‚größeren‘ Tutsi unterstellt, sodass allein die mwami keiner höhe-
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ren sozialen Instanz gegenüber verpflichtet waren (ebd.: 138), sondern lediglich untereinander um Einflusssphären rangen. Theorie der Intermediarität: die Rolle der Mittler und ihre Umdeutung Vorkolonial haben wir es also mit einer stratifizierten Gesellschaftsstruktur im Sinne einer, in den Begriffen von Trothas (2000), konzentrischen Ordnung zu tun, in der sich nicht ein Zentrum als Schaltzentrale gesellschaftlicher Organisation etabliert, sondern mehrere, lokale begrenzte und bzw. oder vermittelte Herrschaftsansprüche nebeneinander bestehen. Diese Ordnung wird einmal durch die räumlichen Bedingungen gesellschaftlicher Organisation gestützt, andererseits durch den ‚Vorrang des Besonderen vor dem Allgemeinen‘ begründet, in dem primäre Beziehungen und persönliche Verpflichtungen über die Vergabe von Ämtern und das Zugeständnis von Privilegien, das Maß geschuldeter Loyalität wachen (vgl. Trotha 2000: 263-265). Die Kolonialherrschaft bricht mit dieser Form gesellschaftlicher Organisation und schreibt sie zugleich unter anderen Vorzeichen fort. Obwohl der zentralafrikanische Staat im Vergleich zu anderen Gebieten Afrikas nur relativ kurzzeitig unter dem Einfluss der imperialistischen Bewegung in Europa stand, ist die politische Relevanz dieses Zwischenspiels expansionistischer Bemühungen kaum zu überschätzen (vgl. Lemarchand 1970: 47). Das von Wallerstein (1974) benannte Problem der Kontrolle des Zentrums über die Peripherie wurde in Ruanda auf folgenschwere Weise bewältigt. Hier wie auch anderswo vertrat die Kolonie die Großmachtansprüche der europäischen Staaten. Im Zuge der Berliner Konferenz 1884/85, welche die Handelsfreiheit regelte und imperiale Ansprüche in weiten Teilen Zentralafrikas in legale Anrechte übersetzte, fiel Ruanda zunächst dem Deutschen Reich zu und wurde im Zuge des Ersten Weltkrieges von Belgien erobert und seiner Verwaltung unterstellt. In der ressourcenarmen Hügellandschaft im Binnenland beruhte der Mehrwert der Kolonie nur noch auf dem damit verbundenen nominellen Prestige, das heißt der Bezeugung und Bestätigung der Großmachtaspirationen der Kolonialmacht. Sie war damit nur unter der Bedingung attraktiv, dass möglichst geringe Kosten mit ihr verbunden waren. Eine effektive Inbesitznahme nach Maßgabe der Berliner Konferenz, so sie denn stattfand, wurde zunächst vertagt und behelfsweise durch Kundschaftermissionen ersetzt, in deren Ergebnis man es vorzog, Afrika zwar selbst zu regieren, aber von Afrikanern verwalten zu lassen. Diese Strategie der ‚indirect rule‘ wurde insbesondere im Rahmen der britischen und französischen Kolonialherrschaft praktiziert (Crowder 1964) und legitimierte sich sowohl durch ihre Anknüpfung an traditionale Formen der Herrschaft als auch durch den mit ihr ver-
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knüpften sozialdarwinistischen Diskurs. Nicht zuletzt wurde am Beispiel Afrikas die Selbstversicherung einer Kultur ausgetragen, die sich ihrer Fundamente nicht mehr gewiss war und diesen Konflikt externalisierte. Die Deutschen und die Belgier verstanden Hutu und Tutsi als verschiedene Ethnien, welche die in Europa grassierenden Rassentheorien stützen sollten. Während Europa sich am Diskurskomplex von Ethnizität, Nationalität und Rasse abarbeitete, setzten die kolonialen Politiken eine Wahrheits- und Wirklichkeitsproduktion in Gang, die eine Neuordnung Ruandas entlang des Kriteriums der Ethnizität forcierte. Diese diente dabei als Mittel, die für Kolonialherren unerklärliche Zivilisiertheit Ruandas plausibel zu machen, nämlich durch die Dominanz der hamitischen, kaukasischen Tutsi. Nach der sogenannten Hamitic hypothesis wurden Tutsi als hellhäutige Viehzüchter kaukasischen Ursprungs verstanden, die aus dem Norden Afrikas zugewandert waren und über die als minderwertig angesehene, einheimische Rasse der schwarzen Bantu herrschten (vgl. Straus 2006: 20-21).11 Die frühe Afrikaforschung, vor allem vertreten durch J. H. Speke, schrieb damit für Ruanda eine eigene Kolonialgeschichte, die als Legitimation für die intermediäre Herrschaft diente. Diese sozialen Positionierungen produzierten nicht nur handlungsrelevante Mythen von der vermeintlichen Verschiedenheit, sondern fanden gleichsam Eingang in den Aufbau der Institutionen. Die Deutung der Abstammung der Bevölkerung diente zugleich als Grundlage für die Installation einer indirekten Herrschaft, die auf vermeintlich traditionellen Machtverhältnissen aufbaute und eine sichere Basis für eine stabile koloniale Verwaltung abzugeben versprach. Soziale Deutungsmuster übersetzten sich an dieser Stelle in Hierarchien und Machtpositionen. Die in sozialdarwinistischer Manier vertretene Überlegenheit der Rasse der Hamiten (Tutsi) gegenüber den Bantu (Hutu) wurde durch administrative Entscheidungen bestätigt: Politische Ämter wurden unter zunächst deutscher und später belgischer Kolonialherrschaft bevorzugt an Vertreter der Tutsi vergeben (vgl. etwa Mamdani 2001: 88-93), was eine überproportionale Repräsentation in gesellschaftlichen Macht- und Statuspositionen zur Folge hatte und damit den faktischen Ausschluss der Angehörigen der Mehrheit der Hutu aus relevanten gesellschaftlichen, vor allem aber politischen Institutionen bedeutete. Die Beziehung zwischen Sozialstruktur und sozialer Zugehörigkeit verkehrte sich in der 11 Eine derartige Deutung wurde durch phänotypische Unterschiede gestützt, die wahrscheinlich viel eher das Ergebnis von sozialer Endogamie als zwingender Nachweis eines Zusammentreffens von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Abstammung sind. Daneben hat Domique Franche (1996) auf die Bedeutung der Lebens- und Arbeitsbedingungen hingewiesen. Selbst wenn sich ein durchschnittlicher Größenunterschied von 12cm feststellen ließe, könne daraus noch kein Rückschluss auf die tatsächliche Existenz verschiedener Ethnien gezogen werden, weil „exactly the same difference […] existed in France between a conscript and a senator in 1815“ (Franche zitiert nach Mamdani 2001: 45).
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Deutung durch die Kolonialmächte: während zuvor die Position innerhalb der Sozialstruktur über die Zuordnung zu einer der ‚Ethnien‘ entschied, war es nun die so verstandene Ethnie, die über die sozialen Teilhabechancen entschied. Darüber hinaus hatten die regionalen chiefs das Recht und die Pflicht, die Bevölkerung zur Ausübung ‚gemeinnütziger Arbeit‘ „without payment and a minimum of disruption“ (ebd.: 95) anzuhalten. Infolge dieser Regelung kam es zur Ausweitung einer Form der so genannten corvée als Privileg der Tutsi-Elite auf unbezahlte Arbeitskräfte. Diese Zwangsarbeit diente nicht nur der Ausbeutung der Ressourcen (und des Erziehungsauftrags, den die Kolonialherren gegenüber den ‚Wilden‘ für sich beanspruchten), sondern war selbst ein Erfordernis der der Kolonialherrschaft entgegen gebrachten Erwartung, dass die Kolonien, wo sie schon keinen unmittelbaren finanziellen Gewinn versprachen, zumindest sich und ihre Administration – gemäß dem Gebot der financial self sufficiency – selbst tragen sollten (vgl. Young 1994: 125-126). Die Durchdringung der Peripherie war in der Erhebung dieser und anderer Formen der Steuer fundamental auf die Vermittlungsinstanzen zentraler Herrschaftsausübung verwiesen. Die Tutsi entsprachen damit dem, was Wallerstein mit dem Begriff der ‚Lumpenbourgeoisie‘ fasst: eine nationale Elite-Gruppe, die wirtschaftliche Steuerungsfunktionen übernahm (und von ihnen profitierte, wenn auch in ungleich kleinerem Maße als die Kolonialmächte) und damit eine Mittlerrolle zwischen Metropolis und Satellit erfüllte. In einem gewissen Sinne also „setzt[e] der Kolonialismus in Afrika den Binnenkolonialismus der Afrikaner fort“ (Paul i.E.), indem er lokale Machteliten den Direktiven des imperialistischen Zentrums unterstellte, ihre zur Herrschaft prädestinierte Position institutionell bestätigte und die Gewaltausübung gegenüber der lokalen Peripherie ideologisch legitimierte. Auf diese Weise begründete der doppelte Kolonialismus, wie er von den Kolonialherren forciert und von den lokalen Machteliten in einer Art „freiwillige[r] Abhängigkeit“ (ebd.) bestätigt wurde, eine Peripherisierung der Peripherie. Die Mittler erfüllen hierin eine zweifache Funktion: Einerseits verbürgen sie die effektive Herrschaft der Kolonialherren im Medium lokal anschlussfähiger Machtausübung, andererseits bezeugen sie die Überlegenheit des Zentrums und damit ihre Legitimation zur Herrschaft über die angeschlossene Peripherie. Diese vermittelte Herrschaft ist von Bayart (2000) mit Blick auf die Beziehung Afrikas zur restlichen Welt als Extraversion und durch von Trotha (1994) innenpolitisch als intermediäre Herrschaft beschrieben worden. Unter „Extraversion“ versteht Bayart dabei eine Form der Herrschaftsausübung, die eigene Machtdefizite durch die Einsetzung fremder Autoritäten kompensiert, „mobilizing resources derived from their (possibly unequal) relationship with the external environment“ (Bayart 1993: 21-22). Während das Konzept der indirek-
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ten Herrschaft das Zentrum und seine Herrschaftsaspirationen zum Ausgangspunkt der Analyse macht, verschiebt sich diese Deutung im Konzept der Extraversion: Hier sind es gerade lokale Machteliten, die ein Außen zur Stabilisierung ihrer Herrschaft bemühen. Nicht nur der koloniale Staatsapparat war infolge seiner „Organisationsohnmacht“ (Trotha 2000: 275) auf die intermediäre Herrschaft angewiesen – ebenso hatten die lokalen Eliten ein Interesse daran, ihre bisweilen brüchig gewordene Machtbasis durch die Ausnutzung externer Ressourcen zu stabilisieren: „ȼeide [vorkolonialer und kolonialer Staat] brauchten im Kernbereich der staatlichen Verwaltung die Mittler, um den Zugang zum Lokalen sicherzustellen und die Menschen zu erreichen“ (ebd.). Die Position der Mittler ist darin ambivalent: Einerseits verfügen sie über die Kapazität zur Steuerung, andererseits ist ihre Machtausübung genau darin auf die Bemühung externer Machtquellen verwiesen. In beiden Aspekten bestimmt sich das Verhältnis der Mittler zum (nationalen) Zentrum und der (lokalen) Peripherie. Das Fallbeispiel Ruanda hält damit stellvertretend für den afrikanischen Kontinent alternative Lesarten von Zentrum und Peripherie jenseits von Dependenztheorien bereit, die einseitige Abhängigkeiten (in der Peripherie) bzw. Gestaltungsspielräume (im Zentrum) behaupten. Das Anliegen dieser Theorien, die eurozentrische Deutung einer so verstandenen ‚Unterentwicklung‘ in den Gebieten außerhalb der euro-amerikanischen Hemisphäre zumindest partiell zurückzunehmen und sich auf die Seite der Ausgebeuteten zu stellen, geschieht um den Preis einer strukturdeterministischen Verkürzung der handelnden Akteure: „Die Menschen, die aus dem Schatten heraustraten, fanden sich in den Theorien als vollständig abhängige Größe und im verdinglichten Status einer sogenannten ‚Peripherie‘ wieder, deren Wirklichkeit ganz von der vereinseitigten Wirkungsmacht der kapitalistischen ‚Zentren‘ und ‚Metropolen‘ bestimmt ist“ (Trotha 1994: 10).
Ganz im Gegensatz dazu spricht sich Bayart (2001: 218) dafür aus, im Kontext der afrikanischen (Kolonial-)Geschichte „dependence as a mode of action“ und Afrikaner nicht nur als abhängige Variablen, sondern als handelnde Subjekte ihrer eigenen Geschichte zu verstehen (vgl. Berman 2002 [1992]: 180): „Africans have been active agents in the mise en dépendance of their societies, sometimes opposing it and at other times joining in it“ (Bayart 1993: 24). Die Semiperipherie fungiert darin nicht nur als Puffer bzw. Zwischenstation zwischen Zentrum und Peripherie, sondern als der Ort, an dem der Handlungsspielraum sowohl des Zentrums als auch der Peripherie ausgehandelt wird – wenngleich dies auch nicht autonom bzw. unter asymmetrischen Bedingungen geschieht. Dieser Fokus auf die Mittler und ihren Machtgewinn ist es, der einerseits einen Schlüssel zum Verständnis der Struktur von Herrschaft und der kolonialen Geschichte Afrikas und darunter eben auch Ruandas liefert, und andererseits eine Deutung des ruan-
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dischen Völkermordes und der Rolle der kolonialen Intervention für diesen bereithält. Vermittlung und Ausschluss: Der ruandische Genozid Obwohl es falsch wäre, die Umdeutung der sozialen Ordnung durch die koloniale Herrschaft als ursächlich für den Genozid zu betrachten – sie bereitete jedoch den Boden, auf dem dieser möglich wurde. Die Reorganisation der Sozialstruktur veränderte an einem entscheidenden Punkt das auf wechselseitigen Nutzen gestellte Verhältnis zwischen Hutu und Tutsi. So steht vorkolonial im intermediären Herrschaftsverständnis „alles Handeln unter dem Primat, die Zusammenarbeit mit dem nationalen Zentrum zu sichern, die eigene Bevölkerung vor den Ansprüchen der nationalen Herrschaftszentrale zu schützen und die Rolle des Häuptlingstums als Mittler zwischen dem ‚Außen‘ und dem ‚Innen‘ in einer Weise zu sichern, dass sie den Mitgliedern im Innern und den Vertretern des Außen unverzichtbar erscheint“ (Trotha 2000: 271).
Diese Schutzfunktion, welche die Macht der Mittler und ihre Möglichkeiten der Selbstbereicherung basal legitimiert, bricht dort auf, wo die Verpflichtung zu Loyalität gegenüber dem Zentrum und zu Schutz gegenüber der Peripherie in Widerspruch zueinander geraten. Obwohl die Unterscheidung zwischen einer relativ wohlhabenden Tutsi-Elite und einer vorrangig aus Ackerbauern bestehenden Hutu-Mehrheit keine Erfindung der europäischen Kolonialherren war, „it was colonialism which racialized the groups and turned their relationship in one of mutual submission and humiliation“ (Paul 2008: 21). Während zuvor eine soziale Hierarchie bestand, in der Hutu und Tutsi in einem klientelistischen Verhältnis zueinander standen, das Patronage gegen Fronarbeit versprach (und damit beiden Seiten, wenngleich nicht im selben Maße, diente), wurde im Zuge der Kolonialpolitik aus der klientelistischen Beziehung zwischen den sozialen Gruppen Hutu und Tutsi eine rassische und rassistische Unterscheidung, welche die darin behauptete Identität der Tutsi als überlegen und die der Hutu als minderwertig institutionalisierte. Für die Tutsi bedeutete diese Zuordnung die Teilhabe an sozialen Privilegien, aber auch zunehmend den Ausschluss aus der mehrheitlich durch Hutu geprägten Gesellschaft. Sie befanden sich in der ambivalenten Position der Macht gegenüber den Hutu und der Unterordnung unter die koloniale Herrschaft. Die dauerhafte Institutionalisierung sozialer Ungleichheit trug die machtpolitische und ökonomische Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie von der Ebene des Weltsystems qua doppeltem Kolonialismus in die ruandische
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Gesellschaft hinein. Mit der Aufhebung der ursprünglich klientelistischen Beziehung zwischen Hutu und Tutsi zerbrach das soziale Band und damit die Fähigkeit, sich als Mitglieder einer Gesellschaft zu verstehen (vgl. Semélin 2007: 26). Die zunächst als – fraglos asymmetrischer – Verpflichtungszusammenhang verstandene Beziehung zwischen Klient (Hutu) und Patron (Tutsi) machte einem Verhältnis eindirektionaler Abhängigkeit Platz: „Subservience to Batutsi lordship had lost any voluntary character it might have had in the precolonial era […]. By the 1950’s, the prevailing system of ‚exploitative reciprocity‘ had become less reciprocal and more overtly exploitative“ (Hintjens 1999: 253). Die Mittler waren mithin nicht mehr Teil der (wenngleich durch soziale Ungleichheiten geprägten) Gesellschaft, sondern aus ihr herausgehoben. In der Folge begründete die Annahme, dass es sich bei den Tutsi um eine nicht-indigene, mithin fremde Bevölkerungsgruppe handele, nicht deren überlegene, zur Herrschaft prädisponierte Stellung, sondern vielmehr den Ausschluss aus den Regierungsgeschäften und weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Paul i.E.). Die Kolonialherrschaft sah sich Mitte der 1950er Jahre einerseits mit wachsenden Partizipationsansprüchen der Mehrheit der Hutu konfrontiert, andererseits verlor die Legitimität ihrer Machtausübung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und unter dem Druck der internationalen Gemeinschaft immer mehr an Boden. Aus den ersten freien Kommunalwahlen 1956 und 1960 gingen schließlich Vertreter der Hutu als Sieger hervor, und den Forderungen von internationalen und lokalen Vertretern entsprechend wurde am 01. Juli 1962 die Unabhängigkeit Ruandas verkündet. Nach dem Abzug der Kolonialherren folgte ein Umschlag der ethnisch begründeten Diskriminierung in 30 Jahre der HutuHerrschaft, in denen Tutsi systematisch ausgegrenzt und Opfer sporadischer „ethnischer Säuberungen“ wurden, denen Zehntausende zum Opfer fielen und die Hunderttausende zur Flucht in die angrenzenden Staaten bewegten (Dutton et al. 2005: 447). Die gesellschaftlichen Teilhabechancen, die unter der kolonialen Herrschaft Ungleichheiten zugunsten der Tutsi bedeuteten, verkehrten sich in weiten Teilen. Bis Anfang der 1990er Jahre waren berufliche und private Aktivitäten für Tutsi fast uneingeschränkt möglich, der Zugang zu öffentlichen und staatlichen Ämtern jedoch stark beschränkt (vgl. Hintjens 1999: 257). Obwohl eine räumliche Ausgrenzung aus der Gesellschaft (zum Beispiel durch Ghettoisierung) nie stattfand, „the Batutsi were made to feel disadvantaged, and constantly reminded that they were erstwhile exploiters, who were lucky to be left in peace to get on with their business“ (ebd.: 247). Zusammengefasst brachte der Kolonialismus zwei entscheidende Veränderungen im Verhältnis von Hutu und Tutsi: Mithilfe der Hamitentheorie machte er aus den Tutsi eine überlegene und fremde (nicht-indigene) Rasse, deren Aufgabe darin bestand, die rohen Bantu zu zivilisieren; indem er die sozialen Gruppen
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ethnisierte, ließ er diese Differenz zu einer unausweichlichen sozialen Realität werden. Die Marginalisierung der breiten Masse der Bevölkerung erfuhr mit dem Rückzug der kolonialen Verwaltung und der Umdeutung ihrer ‚Entwicklungsstrategie‘ einen Umschlag, der sich gegen die bis dahin privilegierte Bevölkerungsgruppe wandte. Die Revolution von 1959, die mit massenhaften Tötungen und Vertreibungen von Tutsi einherging, war vor allem ein Akt kollektiver Vergeltung für die Demütigungen, welche Hutu unter der von staatlicher Administration und Kirche gedeckten Vorherrschaft der Tutsi erfahren hatten (vgl. Paul 2008: 21-22). Aus der Revolution gingen Hutu und Tutsi hervor als „[t]wo nations between whom there is no intercourse and no sympathy, who are ignorant of each other’s habits, thoughts and feelings as if they were dwellers of different zones, or inhabitants of different planets“ (Mamdani 2001: 127). Etwa seit Anfang der neunziger Jahre hatten sich die Spannungen zwischen Hutu und Tutsi noch einmal erheblich verschärft. Die Feindseligkeit gegen Tutsi erfuhr in der wirtschaftlichen Krisenzeit der frühen 1990er Jahre, die durch Überbevölkerung, fallende Weltmarktpreise und Dürreperioden geprägt war, und unter den Bedingungen immer neuer Flüchtlingsströme aus dem benachbarten Burundi, in dem umgekehrt die Hutu-Minderheit Repressalien durch die Mehrheit der Tutsi ausgesetzt waren, ständig neue Nahrung (vgl. Hatzfeld 2004: 180). Die Politik der Regierung leitete die Bevölkerung dazu an, die Tutsi für diese Entwicklung verantwortlich zu zeichnen und sie aus der Gesellschaft auszugrenzen. Die massenhafte Gewalt, die sich im Völkermord realisiert, ist darin Ausdruck der Marginalisierungsängste einer historisch deprivierten Bevölkerungsgruppe, die keineswegs von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen ist, aus alten Ressentiments und neuen Existenzängsten jedoch ein gewaltsames Potential generiert. Ihr Streben ins Zentrum der Gesellschaft wurde Gegenstand einer kollektiven Gewalt, die Bertrand Russell bereits 1964, nachdem die ersten Massaker stattfanden, in einem Interview als „the most horrible and systematic extermination of a people since the Nazi’s extermination of the Jews“ (Russell zitiert nach Melvern 2000: 17) bezeichnete. Vermeintlich ethnische bzw. tribale Auseinandersetzungen waren darin „Ausdruck und Folge einer auf dem Rücken der jeweiligen Bevölkerung ausgetragenen Elitenkonkurrenz“ (Paul i.E.) und hierin primär machtpolitisch motiviert. Die Beschreibung der Moderne entlang der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie erweist sich darin als doppelbödig: zugleich eine soziale Wirklichkeit als auch ein Machtmittel, das auf Legitimitätsdiskursen aufbaut. Wenn Hannah Arendt insistiert: „Die dritte Welt ist keine Realität, sondern eine Ideologie“ (Arendt 2008 [1970]: 25), dann müsste man ergänzen: Die dritte Welt ist eine Ideologie, die Realität geworden ist. Sie verweist auf die mit der territorialen Ordnung verbundenen Diskurse, denen eine
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Vorstellung von Zentralität wesensmäßig zugehörig ist und die im Folgenden weiter thematisiert werden.
2. Teil: Ideelle Zentren und Peripherien Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke
7. Von territorialen zu ideellen Zentren
Der erste Teil des Buches legt es nahe, Zentrum und Peripherie im Hinblick auf die Möglichkeiten ihrer physischen und geographischen Auffindbarkeit und ihrer Abbildbarkeit, etwa auf Landkarten, darzustellen. Diese territoriale Differenzierung spielt in der heutigen Welt weiterhin eine wichtige Rolle. Im Folgenden erörtern wir jedoch, inwieweit die Kategorien von Zentrum und Peripherie zum Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf Ebenen beitragen können, die noch weiter von den physischen Konstellationen abstrahieren. Genau genommen mussten die territorialen Differenzierungsformen in den vorangegangenen Kapiteln schon als Mischformen charakterisiert werden, sowohl empirisch als auch der theoretischen Konzeption nach waren ihnen schon nicht-räumliche Aspekte eigen. In diesem Teil des Buches wird unter dem Oberbegriff des ideellen Zentrums11 diejenige Ebene näher betrachtet, die einerseits noch hinter einer materiellen oder territorialen Materialisierung zu vermuten ist und andererseits doch nicht ohne materielle Arrangements auftritt. Die Verquickung materieller und ideeller Aspekte führt exemplarisch das Recht vor Augen. Unabhängig davon, wie es sich konstituiert, erfüllt es seine gesellschaftsstrukturierende Funktion nur, wenn das oberste Gericht an einem bestimmten Ort sitzt, dort zugleich ein konkreter Mensch das hohe Richteramt bekleidet und diese Tatsache öffentlich bekannt ist. Offenbar tritt eine Mischform aus einem ideellen und einem territorialen Zentrum zutage und von einer ‚Reinform’ ist kaum auszugehen. Wo primär die territoriale Ausprägung gemeint ist, kann zugleich auch die Gegenwart des ideellen Zentrums behauptet werden, somit eine Art historische Omnipräsenz. Das ideelle Zentrum im Allgemeinen erscheint also ahistorisch. Eine ungefähre historische Verortung gelingt dennoch mit der Feststellung einer relativen Bedeutungsverschiebung im Bewusstsein der Gesellschaft über sich selbst, die 11 In den folgenden Kapiteln (Kap. 7-11) ist meist im Plural von den ideellen Zentren die Rede, ein Ergebnis der bis dahin erfolgten Begriffarbeit. Außer ideell wurden die Adjektive imaginär oder immateriell erwogen, doch ersteres lässt am stärksten eine gesamtgesellschaftliche Reichweite des zu beschreibenden Phänomens vermuten. Eine ‚Teilmaterialität’ wird im Gegensatz zur Rede von ‚immateriellen Zentren‘ nicht ausgeschlossen, somit bleibt der Blick auf etwaige materielle Repräsentationen offen. Der Begriff des Imaginären wiederum ist nicht mehr von der Lacan-Schule trennbar. Er verharrt dabei in einer Gegenüberstellung des Zentrums zu stark auf der Seite der Rezipient_innen, klingt zudem nach bloßer Einbildung.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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vom Primat des Territorialen Abstand nimmt und tendenziell auf das ideelle Zentrum verweist. Diese historische Verortung wird im folgenden (8.) Kapitel noch näher thematisiert und wir behaupten, dass sie sich entlang der Diagnose eines Gültigkeitsverlusts ‚natürlicher’ Ordnungsvorstellungen bewegen muss. Zuvor geben wir noch einen kurzen Überblick über das weitere Vorgehen. Eine Erschütterung sozialer Sinnhorizonte um 1800, der Zusammenbruch von Ordnungen, die bisher als göttliche Schöpfung und unantastbar galten, wird anhand der Interpretation zeitgenössischer literarische Texte kursorisch nachgezeichnet. Auf die Behauptung eines ‚Bruchs’ mit einer gern als vormodern bezeichneten Epoche am Ausgang des 18. Jahrhunderts, folgt die Feststellung, dass die soziale Welt deshalb nicht auseinanderbrach. Wir beginnen in Kapitel 9 anhand ausgewählter Texte Franz Kafkas – der für unsere Zwecke mehr als Theoretiker denn als Literat herangezogen wird – Schlaglichter auf die Verfasstheit moderner Gesellschaften zu werfen, dazu dient insbesondere die ausführliche Analyse der Parabel Vor dem Gesetz (Kafka 2002a).12 Wir binden Kafka mit dem Ziel ein, konkret auf unser Anliegen zu sprechen zu kommen, nämlich einen aussagekräftigen Begriff des ideellen Zentrums bzw. der ideellen Zentren herzuleiten. Mithilfe Kafkas Vor dem Gesetz wird also an exemplarischen Passagen herausgearbeitet, dass das Zentrum-Peripherie-Verhältnis ein Grundelement für die Struktur und die Spannung des jeweiligen Textes darstellt. Aus dieser Analyse gewinnen wir drei Dimensionen, um ideelle Zentren begrifflich sinnvoll zu fassen. Der so vorgezeichnete Begriff wird dann in Kapitel 10 mithilfe der Foucault’schen Machtanalytik ausgearbeitet. Wir gehen unserer These nach, dass mit den ideellen Zentren soziale Mechanismen in den Blick geraten, die nach dem erwähnten ‚Bruch’ dazu dienen konnten, den Sinn- und Ordnungsverlust aufzufangen. Mit Kafka und Foucault stellen wir sodann fest, dass ideelle Zentren vor allem an der Dressur und Dressiertheit der Körper ansetzen, womit die in Disziplinierungs-Prozeduren erreichte Formung von Individuen gemeint ist.13 Am Ende dieses Teils des Buches wird in Kapitel 11 noch einmal verstärkt auf den bereits vermuteten, sekun12
Vgl. auch den Anhang 1. Angesichts der hauptsächlichen Zuhilfenahme Foucaults und seiner Analyse zur Herausbildung einer am Primat der Disziplin ausgerichteten Gesellschaft soll hier doch die möglicherweise konstitutive Bedeutung des Begriffs ideeller Zentren in der Sphäre der Ideologie Erwähnung finden. Insofern als das produzierte Subjekt sich auch als ideologischer Effekt begreifen lässt, wäre dem sogar in doppelter Hinsicht nachzugehen: Erstens böte sich eine gesellschaftlich aufgespannte Psychoanalyse nach Louis Althusser an (vgl. Althusser 1977a: 108-153), um quasi die intrapsychische Seite der Disziplinen herauszuarbeiten (vgl. Charim 2002: 91-121). Des weiteren könnte eine Untersuchung mit der Ideologietheorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos zielführend sein (vgl. Horkheimer/Adorno 1988: 128-176), um die Transformation der Kategorie des Individuums durch die spätkapitalistischen Disziplinen selbst zu erfassen (vgl. Adorno 2003a: 254-287). 13
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där materiellen Charakter des ideellen Zentrums eingegangen. Schließlich fassen wir die gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf die historische Verortung ideeller Zentren sowie auf deren Merkmale und Eigenarten zusammen.
8. Der Bruch mit der ‚natürlichen’ Ordnung
Zur weiteren Begründung des begrifflichen Konzepts möchten wir die Chronologie einer deutungsmächtigen Historiographie anführen. Gemeint sind Geschichtsdarstellungen, die die Sicht unterstützen, dass die Welt einst ‚mit Gewinn’ vor der Folie territorialer Differenzierung betrachtet werden konnte, während sie unter anderem in dieser Hinsicht besonders im 16. und 18. Jahrhundert auf dem Weg zur modernen Gesellschaft zunehmend komplexer wurde. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung wird es immer schwieriger, den Prozess ohne Zuhilfenahme ideeller Gesichtspunkte zu verstehen. Der Zusammenhalt westeuropäischer Gesellschaften erscheint besonders problematisch und erklärungsbedürftig infolge jener Umbruchsphase, die in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften geläufig für die Zeit seit der Französischen Revolution bis ins 19. Jahrhundert hinein diagnostiziert wurde.14 Spätestens zu dieser Zeit sollen klassische, höfisch-ständische Herrschaftssysteme, die sich noch auf eine natürliche, traditionelle Ordnung aufgrund des göttlichen Schöpfungswillens berufen konnten, aus den Fugen geraten sein.15 Es kam beispielsweise ein neuer Begriff der Nation zur Geltung, der den Bürgerstatus nicht mehr auf eine familial begrenzte Kaste limitierte und so den Begriff des Bürgers selbst erst schuf. 16 So ist auch von einem grundlegenden Wandel der Staatlichkeit auszugehen. Der Staat, wie er heute aufgefasst wird, entstand. Die damaligen großen Veränderungen kann man für viele Bereiche zeigen und verschiedentlich zusammenfassen: Rationalisierung, Industrialisierung, Urbanisierung, Alphabetisierung und Bevölkerungswachstum sind nur einige Beispiele der entsprechenden Wortwahl. Niklas Luhmann (1997: 14 Wie verbreitet das Konzept ist, lässt sich vielleicht an der Gegenbewegung ablesen, daran, wie die einheitliche Sicht des „Modernismus“ in die Kritik geriet (vgl. Lorenz 1997: 154-157). Ein anderer Weg besteht darin, die Selbstverständlichkeit herauszustellen, mit der gut rezipierte Texte die Umbruchsphase erwähnen. So fasst z.B. Hans-Ulrich Wehler die genannte Zäsur eher beiläufig zusammen, im Zusammenhang der Forderung nach einer umfassenden Gesellschaftsgeschichte, die im Historikerstreit die Kontroverse anfeuerte. Es ist die Rede von „der Krisenzeit nach dem Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die ‚doppelte Revolution’ (Hobsbawm): die politische Frankreichs und die industrielle Großbritanniens, auf das Ordnungsgefüge Alteuropas auswirkte“ (Wehler 1973: 12). 15 In den Konsequenzen lexikonartig nachzulesen etwa bei Dallinger (2005: 16), also zugespitzt hinsichtlich der Behauptung von Allgemeingültigkeit. 16 Mit der Einschränkung, dass er z.B. Frauen noch auf lange Zeit hinaus weiterhin vorenthalten blieb.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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707-775), auf den wir im gesamten Buch häufig Bezug nehmen, beschreibt diesen gesellschaftlichen Umbruch als eine Evolution von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft. Neben Luhmann erfassen aber zweifellos noch viele andere Soziolog_innen dieses Phänomen sehr gut. In Michel Foucaults Begrifflichkeit wird dieser Wandel eher als ein Bruch unvereinbarer Epistemen verstanden. Foucault stellte die große Bedeutung des Zusammenhanges der historischen Entwicklung einer Gesellschaft und der Entwicklung ihrer Sprache heraus. Diesen Zusammenhang erfasste in besonderer Weise auch der deutsche Geschichtswissenschaftler Reinhart Koselleck. In diesem Kontext prägte er den Terminus der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972: XIV; vgl. auch Koselleck 1989a: 112-114). Gemeint ist der Übergang westeuropäischer Gesellschaften vom Denken in vormodernen zum Denken in modernen Begriffen, und zwar vom ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Folgt man der westlich-europäischen Geschichtsschreibung und nimmt diese Interpretationen des ‚Bruchs‘ als weithin gültig an, so gilt gleichzeitig die Feststellung, dass die Gesellschaft(en) mit dem Wegfall einer ‚natürlichen’ Ordnung oder einer weltanschaulichen Einheit keineswegs in sich zusammenfiel(en). Die Möglichkeit weiterer gesellschaftlicher Entwicklungen nach der ‚Sattelzeit‘ war an die Herausbildung ideeller Zentren gebunden, so unsere These. 8.1 Heinrich von Kleist als Vordenker Kafkas Wie nun schlug sich die konstatierte Auflösung der Ordnung zu jener Zeit nieder? Als Ort, dieser Frage nachzugehen, wollen wir stichprobenartig die damalige deutschsprachige Literatur heranziehen – zumal im Hinblick auf die nachfolgende Analyse des Kafka-Textes. Als Vordenker lässt sich Heinrich von Kleist anführen. Die Rezeption seines Werks war für Kafka nachweislich ein Anstoß geistiger Auseinandersetzung: Bei einem von überhaupt nur drei Vorträgen, die Kafka im Laufe seines Lebens gehalten haben soll, handelte es sich z.B. um eine Lesung aus Heinrich von Kleists Michael Kohlhaas in der Prager Toynbee-Halle (vgl. Brod 1996: 133-134). Außerdem finden sich entsprechende Notizen in Kafkas Tagebüchern: „Kafka las die Briefe Kleists mit besonderer Anteilnahme, notierte sich Stellen, die bezeugen, wie die Familie Kleist den Dichter als ‚ein ganz nichtsnutziges Glied, der menschlichen Gemeinschaft, das keiner Teilnahme mehr wert ist’ betrachtet hat“ (Brod 1996: 138).
In einer interessanten Interpretation Urs Strässles wird Heinrich von Kleists Werk zentral als mögliche Übersetzung einer „Epochenschwelle 1800“ in die Literatur diskutiert (Strässle 2002: 15). Darunter fällt die Herleitung neuer Me-
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chanismen der sozialen Welt entlang dieser „Epochenschwelle“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die radikale Veränderung von Wissensordnungen wird auf die damals zunehmende Alphabetisierung zurückgeführt, die den Lesenden eine neue Möglichkeit der Selbstbeobachtung im und durch den Text verschaffte. Davon zeuge „ein um 1800 sich neu formierender Typus von Diskurs, der den Selbstbezug des Subjekts gleichsam zur Methode der Produktion von Wissen erhebt […]. Als Focus der Welt und damit als Maß aller Dinge definiert, verdoppelt das moderne Subjekt Welt dergestalt unaufhörlich: der empirisch-vorfindlichen Welt korrespondiert mithin eine wuchernde ideelle, vom Subjekt erst synthetisierte“ (Strässle 2002: 9-10).
Das Ausgreifen einer „ideellen Welt“ materialisiere sich dann – auf Papier, in Bibliotheken und Verwaltungsapparaten – gewissermaßen „hinter dieser mehr und mehr sich verselbständigenden Zeichenwelt“ (ebd.: 10). Die Perspektive auf das Subjekt als ‚Fokus der Welt‘ übersteht die weitere Argumentation allerdings nicht: Strässle zeigt an Kleists Biographie und Werk exemplarisch auf, wie der Glaube an die Möglichkeit verfiel, im Laufe des Menschenlebens einer heiligen Ordnung und göttlichen Vorsehung auf den Grund zu kommen. Die philosophische Perspektive des selbstbewussten Subjekts wurde radikal verworfen. Aus Briefen Kleists aus dem Frühjahr 1801 gehe hervor, dass er aufgehört hat, den Lebenssinn in der Suche nach der einen, universalen Wahrheit zu sehen: „Fortan ist der Faden zwischen Immanenz und Transzendenz gerissen: Welt erscheint nicht mehr als ein teleologisch verfaßtes Sinnganzes, sondern als Gewirr von Zufällen und Notwendigkeiten; das Subjekt wandelt sich vom göttlichen Medium im Dienste eines der Schöpfung eingeschriebenen Strebens nach Perfektibilität zum ohnmächtigen Objekt an den Fäden eines dunklen, zufallsgeleiteten Geschicks“ (ebd.: 10).
Der Zweifel daran, übergeordnete Gesetzmäßigkeiten selbstbewusst erkennen zu können, habe, einmal aufgekommen, für Kleist die Hinwendung zur Dichtkunst bedeutet, weil er die Grenzen menschlichen Erkennens darauf beschränkt gesehen habe, das Geschehen im Nachhinein zu entziffern, „den Sinn eines Ereignisses oder einer Ereigniskette bloß noch rekonstruktiv aus der Position des ‚Zuspät’ zu erschließen“ (ebd.: 9). Die Hoffnung auf die Erkenntnis universeller Ordnungsmechanismen entzieht sich dem subjektiven Innenleben. Indem sie einem unbestimmbaren, tendenziell bedrohlichen Außen anheim fällt, kann eine göttlich vorherbestimmte, subjektiv einsichtige Gewissheit nicht bestehen. Die beste Möglichkeit zum Umgang mit dieser Welt liegt im Dichten, indem die unbegreiflichen Abläufe mühsam in Worte gefasst werden.
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8.2 Auflösung vormoderner Ordnung am Beispiel der Nachtwachen Ein aussagekräftiges Erzeugnis solch literarischer Arbeit aus der Umbruchszeit um 1800 sind Bonaventuras Nachtwachen. Dieser satirische Text aus der Romantik spricht in Bezug auf den Niedergang der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung für sich. Die Identität der Autor_in gewährt in diesem Fall jedoch keinen Aufschluss – sie ist Gegenstand einer eigenen „Nachtwachen-Forschung“ (Bonaventura 2003 [1805]).17 Ebenso unbekannt wie die Urheberschaft ist das exakte Erscheinungsdatum, es lässt sich jedoch mit einiger Sicherheit auf 1805 festlegen. Wiederkehrende Elemente der Erzählung bilden die sonderbaren Umstände der Geburt und des Lebensweges des Ich-Erzählers.18 Dieser weist selbst auf den bruchstückartigen Textverlauf hin, wenn er spöttisch bedauert, nicht „so recht zusammenhängend und schlechtweg erzählen zu können, wie andere ehrliche protestantische Dichter“ (ebd.: 48). Er lässt die Grenzen des Realen und des Wahnes verschwimmen; Widersprüchlichkeiten des sozialen Zusammenlebens und die allseitige Veranlagung zum Wahnsinn stehen im Zentrum: „In einem schwankenden Zeitalter scheut man alles Absolute und Selbstständige […]. Der Zeitcharakter ist zusammengeflickt und gestoppelt wie eine Narrenjacke, und was das Ärgste dabei ist – der Narr, der darin steckt, möchte ernsthaft scheinen“ (ebd: 17).
Wie bereits an Kleists Werk fällt auf, dass die Figuren als Marionetten in ihren Rollen gefangen zu sein scheinen: hier ein Mann, der ohne Anteilnahme für die Justiz funktioniert: „Jetzt wurde der unsichtbare Draht gezogen, da klapperten die Finger, ergriffen die Feder und unterzeichneten drei Papiere nacheinander; ich blickte schärfer hin – es waren Todesurteile“ (ebd.: 19). Da die Insassin einer Irrenanstalt, die die Rolle der Ophelia dem Stück gemäß bis zu ihrem Tod folgen muss. Die Suche nach einem göttlich vorherbestimmten Seinszweck verläuft ähnlich dem Abnehmen immer neuer Masken oder dem schichtweisen Vordringen zur Mitte einer Zwiebel (in wiederkehrende Motive des Buches gefasst) – und stößt auf die komplette Negation, das Nichts. Das Ende vergeblicher Sinnsu17 Bonaventura ist das Pseudonym eines/einer anonymen Autoren/Autorin. Die verwandte Ausgabe sagt die Urheberschaft dem bis dahin eher unbekannten Schriftsteller E.A.F. Klingemann nach, unter Verweis auf eine neu aufgefundene historische Quelle. Im Nachwort heißt es: „Manchmal liest sich die Geschichte der Nachtwachen-Forschung, soweit es um die Identifizierung ihres Autors geht, wie eine Kriminalgeschichte“ (Paulsen 2003: 172, vgl. außerdem 167-186). 18 Darauf spielt auch eine textinterne Vermutung an: „Du erinnerst dich noch an mein Narrenkämmerchen, wenn du anders den Faden meiner Geschichte – die sich still und verborgen, wie ein schmaler Strom, durch die Fels- und Waldstücke, die ich umher anhäufte, schlingt – nicht verloren hast“ (Bonaventura 2003 [1805]: 112; vgl. Paulsen 2003: 184).
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che wird als höhnisches Gelächter in Szene gesetzt, das eher teuflisch als göttlich zu nennen ist (vgl. Bonaventura 2003 [1805]: 6-7, 120). Die aberwitzige Annahme wird verworfen: „der Mensch selbst wäre etwas mehr, als das erste Tier darauf, ja er habe einigen Wert und könne vielleicht gar unsterblich sein“ (ebd.: 116). In Bonaventuras Nachtwachen finden sich demnach Anspielungen auf die verunsicherte Gesellschaft des beginnenden 19. Jahrhunderts, so auch im Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch: Bis heute wird Charles Darwin häufig vereinfachend dahingehend angeführt, er habe die Abstammung des Menschen vom Affen behauptet. Diese Idee konnte schon früher für irrwitzig und anstößig gelten, weil so das Dogma von der Schaffung des Menschen nach Gottes Ebenbild naturwissenschaftlich ad absurdum geführt wurde. Das zeigt der Hanswurst, indem er gegenüber dem Publikum verteidigt, dass er, ein Narr, die Vorrede des Menschen schwingt. Denn er wirft die später mit dem Namen Darwin in Verbindung gebrachte Idee auf, dass „eigentlich der Affe, der doch ohnstreitig noch läppischer ist als ein bloßer Narr, der Vorredner und Prologist des ganzen Menschengeschlechts ist, und dass meine und Ihre Gedanken und Gefühle sich nur bloß mit der Zeit etwas verfeinert und kultiviert haben, obgleich sie ihrem Ursprunge gemäß doch immer nur Gedanken und Gefühle bleiben, wie sie in dem Kopfe und Herzen eines Affen entstehen konnten“ (ebd.: 72-73).
Im Nachwort der hier verwandten Ausgabe wird dem Buch eine besondere Religiosität nachgesagt. Darin sei der „wahre Grund […] für die relative KafkaNähe“ (Paulsen 2003: 179) zu sehen, neben einer auffälligen sprachlichen Verwandtschaft. „Religiös“ sei das Buch „sozusagen wider Willen und letzten Endes – um das Paradox zu wagen: ohne Religion, denn Gott wird ja nicht etwa geleugnet, er wird nur, wie seine Welt, demaskiert“ (ebd.). Die Demaskierung wird, wie auch das Motiv der Zwiebel illustriert, als Versuch entworfen zu einem Seinskern vorzudringen, der hinter vielen Schichten verborgen bleibt und sich am ehesten noch in der Ahnung des Nicht-Bestehens zu erkennen gibt. Die Nachtwachen handeln von der Unsicherheit über die Beschaffenheit des menschlichen Wesens. Die Idee einer natürlichen Weltordnung, die von einem Schöpfer erdacht, erbaut und gepflegt wird und in der jedes Ding seinen Platz, jeder Mensch seine Bestimmung hat, wird hier insgesamt angezweifelt. Der/die Autor/in der Nachtwachen versagt dem erzählenden Ich im Text die „Naivität des Dichters“, die den romantheoretischen Überlegungen des Philosophen und Literaturtheoretikers Georg Lukács (1885-1971) zufolge schon für ihn selbst aufgrund eines Zwangs zur mehrfachen Reflexion im Schreibprozess nicht in Betracht kommen:
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Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke „Denn die Reflexion des schaffenden Individuums, die inhaltliche Ethik des Dichters, ist eine doppelte: sie geht vor allem auf die reflektierende Gestaltung des Schicksals, das dem Ideal im Leben zukommt, auf die Tatsächlichkeit dieser Schicksalsbeziehung und auf die wertende Betrachtung ihrer Realität“ (Lukács 1999: 410).
Lukács Theorie zur geschichtsphilosophischen Bedingtheit und Bedeutung des Romans handelt insbesondere von der Beziehung zwischen Idee und Wirklichkeit im Roman. Die Nachtwachen lassen sich hauptsächlich als dichterischer Zweifel an ebendieser Beziehung lesen.19 Die Idee, die keinen Widerhall mehr in der Welt findet, ist die einer göttlichen Seinsordnung. Lukács’ Charakterisierung des Romans scheint ausgerechnet für die Nachtwachen hervorragend zuzutreffen und enthält zudem einen wichtigen Hinweis auf die Bedeutung des geschichtsphilosophischen Kontexts; in unserem Fall also einen Hinweis auf den oben erwähnten ‚Bruch’ und der von Urs Strässle für Kleist herausgearbeiteten Hinwendung zur Dichtkunst, also der ‚Wortarbeit’: „Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt; die Psychologie des Romanhelden ist das Dämonische; die Objektivität des Romans die männlich reife Einsicht, daß der Sinn die Wirklichkeit niemals ganz zu durchdringen vermag, daß aber diese ohne ihn ins Nichts der Wesenlosigkeit zerfallen würde: alles dies besagt eins und dasselbe. Es bezeichnet die produktiven, von innen gezogenen Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten des Romans und weist auf den geschichtsphilosophischen Augenblick hin, in dem große Romane möglich sind, in dem sie zum Sinnbild des Wesentlichen, was zu sagen ist, erwachsen“ (ebd.: 411).
Die Vermutung einer gottverlassenen Welt bildet ein Thema, das Lukács – durchaus ‚kafkaesk’ – noch ausschmückt: „[…] was früher als das Festeste erschien, zerfällt wie vertrockneter Lehm […] und eine leere Durchsichtigkeit, hinter der lockende Landschaften sichtbar waren, wird auf einmal zur Glaswand, an der man sich vergeblich und verständnislos – wie die Biene am Fenster – abquält, ohne durchbrechen zu können, ohne selbst zur Erkenntnis gelangen zu können, daß es hier keinen Weg gibt“ (ebd.: 414).
Als Antwort auf die Frage nach der Auflösung vormoderner Ordnungsbegriffe lässt sich am Beispiel Kleists und Bonaventuras zusammenfassen, was in Anbetracht der ‚Epochenschwelle 1800‘ dichterischen Ausdruck fand: Der Glaube an ein vorgegebenes Sinnganzes, mit dem alles seine Ordnung hat, – die letztendlich religiöse Bestrebung – wird subjektiv enttäuscht. Die Suche nach letzten Gründen fördert allenfalls Chaos und Leere zutage. Die Nachtwachen vor allem spielen mit dem Gedanken an die Apokalypse. Diese trat nicht ein – wie histo19
Die Frage allerdings, ob die Nachtwachen angesichts der zusammenhangslosen Textstruktur überhaupt als Roman gelten können, ist ein Streitpunkt der „Nachtwachen-Forschung“ (vgl. im Nachwort zu Bonaventura 2003 [1805]; Paulsen 2003: 179).
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risch zweifelsfrei festzustellen ist. Ein Jahrhundert später, zur Schaffenszeit Franz Kafkas, schlägt sich die Auseinandersetzung des Poeten mit seiner Situiertheit in einer sozial geregelten Welt auf ein Neues in Wortbildern nieder. Als wichtigste Figur lässt sich dabei das ideelle Zentrum identifizieren.
9. Über ideelle Zentren bei Franz Kafka
Franz Kafka, so lautet die Grundannahme dieses Kapitels, kann als Theoretiker des ideellen Zentrums begriffen werden. Mit Hilfe seines literarischen Werkes hoffen wir, den Zugang zu diesen Zentren plastisch machen zu können. Die Annäherung erfolgt in zwei Schritten. Zunächst möchten wir einen allgemeinen Zugang zu Kafka finden, um ihn selbst dann im nächsten Schritt zum Sprechen zu bringen. Dies soll dahingehend geschehen, dass der allgemeine Begriff des ideellen Zentrums mithilfe einer Analyse von Vor dem Gesetz und anderer Texte des Autors konkrete Gestalt annimmt. 9.1 Franz Kafka – ein Literat unter den Theoretiker_innen? Dass Kafka gemeinhin zu den Literat_innen gerechnet und als solcher diskutiert wird, ist vor dem Hintergrund seiner Zugehörigkeit zum Kanon der deutschsprachigen Literatur, seiner Vorbildwirkung auf andere Literat_innen und der vorwiegenden Beachtung durch die Literaturwissenschaft nur allzu verständlich. An dieser Stelle möchten wir ihn jedoch als Theoretiker ernst nehmen – ihn also weder interpretieren noch literaturwissenschaftlich bearbeiten, sondern seine Erkenntnisse in eine sozialwissenschaftliche Theoriesprache übersetzen. Es sei ausdrücklich betont, dass wir ihn nicht im Sinne ‚schöner Literatur’ heranziehen, um das ansonsten theoretisch Ausgebreitete zu illustrieren. Die ausgewählten Texte sind als integrale Bestandteile dieser Untersuchung über ideelle Zentren zu verstehen. Die Theoreme, welche sie zum Sprechen bringen, haben für uns die Stellung von Leitmotiven – das gilt somit auch für die Texte Kafkas selbst. Der Widerspruch zur gängigen Rezeption Kafkas allein als Literaten lässt sich hier nicht auflösen. Er kann jedoch in unserem Zusammenhang als unproduktiv verworfen werden. Für die Legitimität eines Verfahrens, Theorie aus der Literatur zu generieren und damit die Literatur als Theorie zu behandeln, spricht Theodor W. Adornos Auslegung. Er schrieb, man dürfe Kafka nicht interpretieren, denn „jeder Satz steht buchstäblich, und jeder bedeutet“ (Adorno 2003a: 255). Auch Gilles Deleuze und Félix Guattari nehmen Kafka recht wörtlich und betonen mit dem Etikett der „kleinen Literatur“ die politische Relevanz und die einzigartige Dichte der Texte (vgl. Deleuze/Guattari 2004: 24-28). D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9.2 Franz Kafka – der Theoretiker des ideellen Zentrums In Kafkas Werk spielen Figuren von Zentrum und Peripherie eine große Rolle. Als erstes Beispiel mag hier der Umstand dienen, dass es Joseph K. im Proceß immer nur mit den niedrigsten Beamten zu tun hat und die ihn betreffenden Gerichtshandlungen stets in Dachkammern und Hinterzimmern (peripheren Räumen) stattfinden. Der Prozess selbst hingegen organisiert sich um ein Zentrum – genauer als Gesetz zu bezeichnen –, welches jedoch niemals explizit auftaucht (die Leser_innen erfahren nichts über das hohe Gericht und das Recht, worüber dieses waltet) (vgl. Kafka 2003b). Die kaiserliche Botschaft birgt eine ähnliche Figur, denn die Botschaft kommt nicht an (vgl. Kafka 2002c): Es findet keinerlei Kontakt zwischen dem Zentrum und der Peripherie statt. Und selbst wenn es jemals jenseits des niedergeschriebenen Textes zu Kontakten kommen sollte, so wäre das emittierende Zentrum mit dem sterbenden Kaiser ja bereits erloschen. Der Text des Proceß selbst entfaltet durch diese Differenz seine Spannung (vgl. Kafka 2003b). Ganz ähnlich verhält es sich im Roman Das Schloß (Kafka 2003a). Auch hier erreicht der Protagonist K. niemals das Schloss und den ominösen Grafen Westwest selbst. Vielmehr hält sich K. die ganze erzählte Zeit über ausschließlich in den äußersten Randbereichen des Schlosses auf, die als unendlich ausgedehnt dargestellt werden. Zudem hat er ausschließlich mit den Randgestalten der Schlossbürokratie zu tun: den Gehilfen, den Menschen im Gasthaus, dem untersten Kastellan und seinen Bediensteten. Auf eine sehr ähnliche Weise erreicht auch die Gestalt des Hungerkünstlers ihre Spannkraft, indem sie zunächst in der Manege, d.h. im Zentrum, steht (vgl. Kafka 2002b). Allerdings wird die dabei zur Schau gestellte ‚Tätigkeit’, das Hungern – zumindest westlichen Maßstäben nach – eher den äußersten Randbereichen der Gesellschaft zugeordnet. Entsprechend führt es dann auch zur vollständigen Peripherisierung des Hungerkünstlers: Er wird schließlich, im Zuge der erfolgreichen Ausübung seines Handwerks, zu einem „Hindernis auf dem Weg zu den Ställen“ (ebd.: 271). Schlussendlich verhungert er im Stroh. Dennoch enthält die Geschichte eine Pointe: Er hungerte weil er „nicht die Speise finden konnte, die [ihm] schmeckt“ (ebd.: 273). Nicht essen zu wollen und das Essen auf ein individuelles Geschmacksmoment zu reduzieren, bedeutet auch den Versuch, sich dem gemeinsamen Mahl als gesellschaftlich-kulturell universellem Grund zu entziehen. Es eröffnen sich in unserem Kontext zwei Möglichkeiten, die Peripherisierungsgeschichte des Hungerkünstlers aufzufassen. Einerseits kann, wie eben vorgeschlagen, die Organisation des Textes um ein nicht präsentes, aber wirksames Zentrum (in diesem Falle das Essen) herum gelesen werden. Das Hungern erschiene dann als die äußerste, gerade noch zur Peripherie des Essens gehörende Möglichkeit der Existenz unter den Essenden. Das (gemeinsame) Mahl kann
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dabei als Kern der Kultur verstanden werden. Andererseits, und dies ist der vielleicht ergiebigere Weg, kann die Peripherisierungsgeschichte des Hungerkünstlers auch als Beispiel für Selbstexklusion, also die Verweigerung der Orientierung am (ideellen) Zentrum stehen. Seine Geschichte als die eines Schauobjektes, welches seine Attraktivität bis hin zur Vernichtung einbüßt, wäre dann eine Geschichte der Wirkungen der Zentralinstanz. Diese Skizzen mögen als Andeutungen für die tragende Rolle der ZentrumPeripherie-Differenz im Werk Franz Kafkas, genauer der gegenseitigen Verwiesenheit der beiden Kategorien aufeinander, fürs erste ausreichend sein. Kaum einer seiner Texte kommt ohne ihre kategorische Einbeziehung aus. Etwas zugespitzt ließe sich formulieren: Der Zentrum-Peripherie-Differenz kommt in vielen Texten Franz Kafkas eine Struktur gebende Funktion zu. Die Texte sind unserer These zu Folge an genau dieser Differenz ausgerichtet. Sie gewinnen daraus ihre besondere Spannung und bilden schließlich mit ihrer Hilfe das Leben selbst ab. Diese These möchten wir im Folgenden anhand des Textes Vor dem Gesetz20 (Kafka 2002a) noch einmal verdeutlichen. Daraufhin werden wir das im Text erkennbare Zentrum-Peripherie-Verhältnis analysieren und so seine Spezifik erkennbar machen. Wir möchten die verborgene Relation gewissermaßen selbst aus dem Text heraus sprechen lassen und nennen sie das ideelle Zentrum. Als dessen Theoretiker tritt daher Franz Kafka hervor. Vor dem Gesetz eignet sich zur Analyse besonders wegen seiner Prägnanz, seiner Konzentration auf die Zentrum-Peripherie-Thematik sowie aufgrund seines hohen Bekanntheitsgrades. 9.3 Vor dem Gesetz – Chiffre für das ideelle Zentrum Die Betrachtung der Topographie der im Text dargestellten Szenerie offenbart sogleich, dass es sich um ein Verhältnis von Zentrum und Peripherie handelt: Es kommt ein Mann „vom Lande“ (ebd.), aus einem Bereich also, der den Schauplatz in endlosen Weiten umgibt. Das Attribut vom Lande kann als eine Beschreibung der in endloses Nichts verlaufenden Peripherie verstanden werden, insofern als der um das Gesetz herum aufgespannte Raum im Text allein durch dieses Bild charakterisiert wird. Der Mann vom Lande trifft in der Szenerie auf den oder einen „untersten Türhüter“ (ebd.). Es kann davon ausgegangen werden, da ein Tor per definitionem immer von einer Mauer eingefasst ist, dass dies auch für das vom Torhüter gehütete Tor gilt. Davor also befinden sich die beiden Figuren und einige mitgebrachte Gepäckstücke. Der so charakterisierte Raum ist 20 Die ungekürzte Originalfassung findet sich im Anhang. Alle Zitate aus Vor dem Gesetz im Folgenden nach dieser Fassung aus: Kafka 2002a.
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ein Bereich des Zusammentreffens. Er ist der Schnittpunkt von Zentralinstanz und Peripherie und kann damit als Interaktionsbereich – als der Bereich, in dem Zentrum und Peripherie miteinander in Wechselwirkung treten – bezeichnet werden. Obwohl der/die Leser_in letztlich darüber im Unklaren gelassen wird, scheint der Bereich hinter dem Tor aus einer schier endlosen Reihe derselben Anordnung zu bestehen: Tore, Türhüter, Mauern. Immer dasselbe „von Saal zu Saal“. Am Ende der Säle, im Zentrum der (für den/die Leser_in und die Figuren nicht sichtbaren aber angedeuteten) geschilderten Gesamttopographie, und damit im Zentrum der generierten Struktur, befindet sich das „Gesetz“. Ohne eine Deutung darüber zu erheben, was das Gesetz denn sei und wofür es stehe, lässt sich hier feststellen: Es befindet sich im Zentrum, stellt das Zentrum dar, ist es selbst oder fällt immerhin mit ihm zusammen. Der beschriebene Bereich ist einer von Wechselwirkungen im dreifachen Sinne: Er ist zunächst der Bereich des Zusammentreffens der im Folgenden genauer zu erörternden Strukturen von Zentrum und Peripherie. Deren jeweilige Endlosigkeit schrumpft an diesem Ort auf eine sehr überschaubare Lokalität, fast schon auf Punktgröße zusammen. Der Wechselwirkung dieser Strukturen nach erscheint es nur logisch, dass er – zweitens – auch ein Ort der Interaktion der Figuren ist. 21 Damit ist das Wirkungsfeld, drittens, als der einzig mögliche Ort des gesellschaftlichen Lebens selbst bestimmt.22 Aus der ‚Vogelperspektive’ betrachtet handelt der Text also von einem Zentrum, umgeben von einer unermesslichen Reihe von Vorräumen der Zentralinstanz und einer endlos ausgedehnten aber vollkommen leeren Peripherie. Über die tatsächliche Existenz und Beschaffenheit der Zentralinstanz wie auch der Peripherie erfahren die Leser_innen nichts. Die Handlung selbst findet ausschließlich am Berührungspunkt von Zentralinstanz und Peripherie statt: vor der äußersten Mauer.23 Die beiden Figuren können demnach als Repräsentationen der jeweiligen Räume aufgefasst werden: Der Mann vom Lande kommt aus der entlegenen Peripherie, während der Türhüter das Zentrum repräsentiert und mit ihm auch als dieses selbst erscheint. Schließlich stellt jener dem Mann eine Reihe „teilnahmslose[r] Fragen, wie sie große Herren stellen“ (Kafka 2002a). Diese 21
Diese stehen dabei freilich in einem engem, noch genauer zu bestimmenden Repräsentationsverhältnis zu den Strukturen. 22 Es mag eingewendet werden, dass der Mann vom Lande ja auch schon vorher in der leeren Peripherie gelebt hat. Aber das einzige, was die Leser_innen über dieses Leben erfahren, ist, dass in dem Mann scheinbar alles darauf hinwirkt, die Peripherie zu verlassen und zum Gesetz zu kommen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob angesichts der schieren Leere der Peripherie das Leben als gesellschaftliches erst im Interaktionsbereich beginnt. 23 Dieser Ort ist schon dahingehend besonders herausgehoben, als dass er der materialisierte Schnittpunkt zweier Endlosigkeiten ist: Der leeren Peripherie auf der einen und der endlosen Reihung der Mauern auf der anderen Seite.
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Relation funktioniert, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass der „unterste Türhüter“ (ebd.) mit dem Zentrum selbst nur am Rande etwas zu tun hat. Im Text stehen die Kategorien von Zentrum und Peripherie, also die mit ihnen assoziierten Räume, Figuren und Konstellationen jedoch nicht statisch nebeneinander. Vielmehr stehen sie in einem Wechselverhältnis zueinander. Erst dadurch werden die Kategorien von Zentrum und Peripherie als solche konstituiert. Sie gewinnen ihr Leben, ihre Dynamik und ihre Relevanz aus dieser wechselseitigen Interaktion. So beschreibt der Text, dessen Handlungsschauplatz ja den Ort der Interaktion von Zentrum und Peripherie darstellt, die gegenseitige Abhängigkeit der beiden Kategorien, ihr ständiges Aufeinander-Verwiesen-Sein. Zunächst werden die beiden endlosen Räume als miteinander verbunden charakterisiert: Die Mauern haben Tore. Und die „Tore zum Gesetz stehen offen wie immer“ (ebd.). Weiterhin ist es ja gerade das Streben (die Lust, das Verlangen, das Begehren)24 des Mannes nach dem Gesetz, also sein Bestreben, ins Zentrum zu gelangen, welches die Szenerie erst entstehen lässt (er bewegt sich in der Vorgeschichte vom Lande zum Tor). Trotz der offensichtlichen Möglichkeit, dieses Unterfangen in die Tat umzusetzen – die Tore stehen ja offen –, bleibt der Mann vor dem äußersten Tor stehen. Vom Durchschreiten des Tores hält ihn scheinbar das verbale „Verbot“ (ebd.) des Türhüters ab. Dennoch kehrt der Mann nicht um. In seinem Leben existiert einzig der Wunsch nach Einlass in das Gesetz. Dies offenbart den Charakter der Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Denn der Mann „wartet Tage und Jahre“ (ebd.), schließlich verwartet er sein ganzes Leben vor dem Tor. Die beiden Kategorien werden somit als ewig getrennte und gleichsam verbundene präsentiert, an deren einzigem Berührungspunkt sich Alles, das ganze Leben des Protagonisten, das als Sinnbild für das Leben in der Moderne überhaupt stehen kann, abspielt. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie arbeitet hier zwar auch mit territorialen und räumlichen Mitteln, diese verlieren in der schieren Endlosigkeit der Anordnung jedoch ihren materiellen Gehalt und zeigen so ihren ideellen Charakter auf. Deshalb lässt sich die Zentrum-Peripherie-Differenzierung, die der Text widerspiegelt, als eine primär ideelle beschreiben. Dementsprechend ist auch die Beziehung der beiden Kategorien vorwiegend ideell organisiert. Der Versuch einer materiellen Beziehung, etwa das Eintreten des Mannes, die Überwindung konkreter materieller Hindernisse, findet nicht statt. Betrachtet man nun die soziale Beziehung zwischen dem Mann vom Lande und dem Türhüter, so lässt sie sich zunächst als ein einseitig vorangetriebener Transfer beschreiben: Der Mann stellt dem Türhüter eine Unzahl von Fragen, 24 Ein eben solches psychoanalytisches Erklärungsschema legen auch Deleuze und Guattari (2004:78) nahe, wenn sie von der Lust, ein Teil des Räderwerkes zu sein, sprechen.
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worauf er jedoch keine einzige Antwort erhält. Zudem verwendet er „alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, sagt aber dabei: ‚Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‘“ (Kafka 2002a). Eine Reihe materieller und immaterieller Dinge wechselt den Besitzer. Dabei gibt der Mann jedoch schließlich alles her, was er besitzt, ohne im Gegenzug etwas dafür zu erhalten. Die Dinge wandern also einfach vom Mann als Repräsentanten der Peripherie an den Türhüter als untersten Repräsentanten des Zentrums. Da sich die Szene am einzig möglichen Berührungspunkt von Zentrum und Peripherie abspielt, kann man behaupten, die Dinge und Informationen über den Mann vom Lande wanderten von der Peripherie in das Zentrum. Im Zuge dieses Prozesses entleert sich die Peripherie auf einer materiellen Ebene betrachtet sukzessive. Sie wird dadurch ärmer und – insofern möglich – noch peripherer. Zwar macht das Wissen, welches über den Mann im Zentrum angereichert wird, ihn nicht ärmer, doch zeigt sich an seiner Sichtbarkeit und Ausgesetztheit seine Machtlosigkeit. Was vorher also nicht peripher war, wird es durch diesen Vorgang der Peripherisierung. Sie zeichnet sich auch auf dem Körper des Mannes vom Lande ab. So verliert er im Laufe der Zeit sein Gehör, sein „Augenlicht wird schwach“, sein Körper „erstarrt“ (ebd.). Schließlich hat sich auch noch der „Größenunterschied [gegenüber dem Türhüter] sehr zu Ungunsten des Mannes verändert“ (ebd.). Dieser Prozess endet unerbittlich mit seinem Tod. Die Macht der Zentralinstanz erscheint demgegenüber ohne erkennbare Kraftanstrengung ihrerseits unermesslich. Nach der Analyse der Interaktion von Zentrum und Peripherie stellt sich nun die Frage nach dem Charakter des Zentrums im Text: Wie ist es beschaffen? Wie ‚wirkt‘ es in und auf die Szenerie und ihre Protagonisten? Es kann zunächst festgestellt werden, dass das mit dem Wort ‚Gesetz‘ bezeichnete Zentrum die auf einer materiellen Ebene konstituierte Szenerie bestimmt. Es ist ihr Motor, denn der Mann strebt ja nach dem Gesetz, während der Türhüter ihn von der Erfüllung seines Wunsches abhält. Das ‚Gesetz‘ selbst ist jedoch abwesend, sein Charakter unklar, es befindet sich in weiter Ferne („schon den Anblick des Dritten Türhüters kann nicht einmal ich mehr ertragen“ (ebd.)) und der Mann kommt ihm, zumindest physisch betrachtet, im Verlauf der Erzählung kein Stück näher. Gleichzeitig ist das Zentrum jedoch in der materiellen Beschaffenheit der Szenerie präsent. Allerdings handelt es sich dabei nicht um direkte, sondern um repräsentierte Präsenz. Das Zentrum wird durch den „untersten Türhüter“, die Türe selbst und durch einen „Glanz“, der „unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht“ (ebd.), in der Szenerie repräsentiert. Das ‚Gesetz‘ tritt also nur in vermittelter Form in Erscheinung – über seine wirkliche, konkrete Existenz erfahren die Leser_innen nichts.
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Diese Ambivalenz von Anwesenheit und Abwesenheit des Zentrums, die der Szenerie auch ihre Struktur gibt, findet ihre genaue Entsprechung in der Charakterisierung der Dimensionen von Universalität und Partikularität: So wird über das Gesetz bekannt, dass es „doch jedem und immer zugänglich sein soll“ und weiter heißt es: „Alle Streben doch nach dem Gesetz“ (ebd.) – es ist also universellen und allgemeinen Charakters und zeitgleich das gesellschaftliche Ziel des individuellen Lebens. Auf der anderen Seite ist der Mann vom Lande sehr einsam. Denn er ist der Einzige weit und breit, der nach dem Gesetz strebt. Das Gesetz scheint damit also einen individuellen und partikularen Charakter zu haben. Es ist für alle da aber gleichzeitig ist es für jeden Einzelnen. Es wirkt nicht auf die Massen, auf die Bevölkerungen, sondern auf die einzelnen Individuen direkt und singulär. Angesichts dieses Widerspruches fragt der Mann: „Wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Im Text wird dieser Widerspruch mit den rätselhaften Worten aufgelöst: „Denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn“ (ebd.). Das Allgemeine, Universelle wird damit durch seine Absenz und Nicht-Greifbarkeit in das Besondere, Individuelle und Partikulare hinein vermittelt: Gerade dadurch, dass das Gesetz abwesend ist, strukturiert es das Leben des Mannes. Die strukturierende Macht des Zentrums fußt auf dessen Abwesenheit. Damit ist es jeglicher Zeitlichkeit enthoben und überall zugleich (der Mann ‚stirbt‘ während der Glanz ‚unverlöschlich‘ ist), während es in Wirklichkeit doch nirgendwo verortet werden kann. Die Folge dieses Strukturverhältnisses ist ein komplettes Versinken der Individuen in der konkreten Situation – ihr Leben verschmilzt zur Gänze mit dem Interaktionspunkt. Demnach erfahren die Leser_innen auch über den Mann vom Lande: „Er vergisst die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz“ (ebd.).
10. Theoretische Konturierung ideeller Zentren
Mit einer Engelsgeduld harrt der Mann vom Lande vor dem Gesetz seines Schicksals. Auch Joseph K. partizipiert am Prozess ganz vorbildlich. Angesichts der Strapazen und Zumutungen, die sie in Kauf nehmen, ist es verwunderlich, dass sie sich so wenig widerstrebend, freiwillig, zum Teil sogar mit Hingabe dirigieren lassen, wie sie sich schließlich selbst dirigieren und in ihrer ganzen Subjektivität, ähnlich wie der Mann vom Lande in der Parabel Vor dem Gesetz, in den entsprechenden Szenerien aufgehen. Im vorliegenden Kapitel wird das Ziel einer theoretischen Konturierung ideeller Zentren zweigleisig verfolgt. Im Anschluss an die in Kapitel 8 formulierte Diagnose moderner Verhältnisse wird erstens erörtert, inwiefern es ideelle Zentren sind, die es in einer multiperspektivischen Welt vermögen, Individuen in die gesellschaftlichen Verhältnisse zu integrieren. Es gilt dabei auch zu erörtern, mit welchen Kosten das verbunden ist. Peter Wagner kommt in Bezug auf die modernen Verhältnisse zu einem paradoxen Befund; er spricht von zwei Portraits der Moderne, wobei das eine aufklärerische Befreiungsdiskurse und die Autonomie der Individuen offenbar werden lässt, während das andere Disziplinierungsdiskurse abbildet (vgl. Wagner 1995: 26-30). Einerseits lässt sich demnach in Anlehnung an Sartre von einer Verdammnis zur Freiheit ausgehen sowie andererseits von der Unfähigkeit, alles selbst bestimmen zu können. Der Begriff des ideellen Zentrums bzw. der ideellen Zentren erscheint uns prädestiniert, um die Ausformungen disziplinierender Praktiken wie auch ihre Verstetigung in den Subjektivitäten der Menschen begrifflich zu erfassen. Für eine weitere theoretische Begriffsbestimmung wird zweitens auf die in der bisherigen Kafka-Analyse gewonnenen konkreten Anhaltspunkte für die Verfasstheit ideeller Zentren zurückgegriffen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei dem Glanz und der Abwesenheit des Gesetzes, der Peripherisierung des Mannes vom Lande und schließlich dem sekundär materiellen Charakter ideeller Zentren gewidmet. Als Schlaglichter eher denn als Klassifikationen werden in der Folge einige Begriffe aus der soziologischen Theorie bemüht, um ideelle Zentren historisch weiter zu verorten und stärker theoretisch zu konturieren. Insbesondere bietet sich dazu ein Foucault’sches Begriffsinstrumentarium an, da es der großen Erzählung der Emanzipation des Subjekts die Geschichte seiner
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Disziplinierung entgegensetzt.25 Es verwebt diese mit jener und gibt somit Auskunft über die ‚dunklen Seiten‘ und Funktionsweisen der Freiheit, welche letztere in den modernen Gesellschaften für den einzelnen Menschen mit sich bringt. Zwar entfallen im Vergleich zur vormodernen Gesellschaft einige soziale Einschränkungen wie z.B. die der Standeszugehörigkeit. Doch werden die neuen Freiheiten von neuen Zwängen begleitet und gewissermaßen dadurch erst eröffnet. So gilt etwa die Heirat in der modernen Gesellschaft als Liebesangelegenheit, weniger als Sache wirtschaftlicher Erwägungen. Allerdings wird ‚passionierte’ Liebe damit zu einem neuen kulturellen Imperativ.26 Diese paradoxe Konstellation aus ‚Anforderung und Möglichkeit’ ist zudem im Begriff des Subjekts selbst verankert: Das Subjekt ist das Unterwerfende (subiacere) und gleichzeitig das Unterworfene (subiectum) (vgl. Reckwitz 2006: 9-10). Foucaults Interesse an Disziplinierungen der Subjekte ist eng mit dem Thema der Macht verbunden (vgl. Foucault 2008b: 240-241). Wir argumentieren im Folgenden, dass es vorwiegend spezifische Machtwirkungen sind, die in Form von Prägung der Körper und Dressur ideelle Zentren ermöglichen und gleichzeitig um diese Zentren gruppiert sind. Gegenüber anderen Macht- und Herrschaftsbegriffen schärft Foucault zudem den Blick für Machtverhältnisse, die jenseits von Repression, Verbot und Gewalt konzipiert werden. Macht ist aus dieser Perspektive zum einen produktiv, sie „produziert Wirkliches“ (Foucault 1977: 250) und „das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (ebd.). Dieser Gedanke der Subjektwerdung oder Subjektivierung, dem noch unter dem Stichwort der Disziplinartechniken nachzugehen sein wird, fand sich bereits in Kafkas Parabel Vor dem Gesetz: Der „Mann vom Lande“ wird in seiner Rolle, Position, Subjektivität und schließlich im gesamten Leben erst in der Szenerie zu dem, was er ist. Zum anderen ist Macht in Foucaults Verständnis in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen – was deutliche Parallelen zum Kafka’schen Denken aufweist (vgl. Hiebel 1989: 15, 90, 134). Allegorisch ausgedrückt: Landmasse verband Zentrum und Peripherie im Territorialen, für das Verständnis des Begriffes des ideellen Zentrums übernimmt der Machtbegriff diese Funktion. Ohne die Metapher über Gebühr strapazieren zu wollen: Die grundlegende Idee ist, dass es primär Machtverhältnisse sind, die dem ideellen Zentrum und seiner Peripherie eine charakteristische Gestalt geben. Andere Begriffsapparate, wie etwa von Max Weber oder Niklas Luhmann, versprechen hingegen kaum fundamentalen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf 25 Hier wird vor allem auf Überwachen und Strafen (1975), Der Wille zum Wissen (1976) und die Geschichte der Gouvernementalität (1977-1979) rekurriert. 26 Der Body-Maß-Index kann ebenfalls ein solcher kultureller Richtwert angesehen werden. Siehe dazu Kapitel 16.
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die Verhaltensweisen des Mannes vom Lande. Zunächst zu Weber: Obgleich das Verhältnis zwischen dem Mann vom Lande und dem Türhüter in erster Linie nicht als ein Herrschaftsverhältnis im klassischen Sinne zu verstehen ist, vermittelt die kafkaeske Stimmung eine deutlich asymmetrische Konstellation. Allerdings fällt dabei auf, dass der Türhüter keine Verhaltensanweisungen erteilt, sondern lediglich das „Verbot“ einzutreten ausspricht. Er verbindet das zwar mit einer unverhohlenen Drohung: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig“ (Kafka 2002a: 211). Über deren konkrete Konsequenzen lässt er den Mann vom Lande aber im Unklaren. Kurz: Es ist offensichtlich, dass in dieser Szenerie kein klassisches Herrschaftsverhältnis von Befehl und Gehorsam im Sinne Webers vorliegt. Läge dieses vor, könnte das Ausharren des Mannes vom Lande als Gehorsam verstanden werden, welcher auf der Anerkennung der Legitimität von Institution und Amt fußt (vgl. Weber 1980 [1922]: 122). Kafkas Erzählung jedoch verläuft anders, wie in den vorangegangenen Abschnitten, beschrieben wurde. Es ist zwar offensichtlich eine Art Gehorsam gegeben, dieser beruht jedoch nicht auf dem Befehl bzw. einer diesen Befehl notfalls sanktionierenden Gewalt. Der Gehorsam ist ‚mehr‘ und gleichzeitig ‚anders‘. Der Eigentümlichkeit des Gehorsams bleiben wir auf der Spur. Auch mit Luhmanns Ausführungen zum Machtbegriff lässt sich kein grundlegend anderes Verständnis der Szenerie in Vor dem Gesetz gewinnen (vgl. Luhmann 2003). Er konzipiert Macht wie Geld und Liebe als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, welches zur Annahme einer Kommunikationsofferte motivieren soll. Voraussetzung für Machtkommunikation ist aber, dass prinzipiell andere Handlungsmöglichkeiten bestehen, ansonsten handelt es sich um Zwang (vgl. ebd.: 8-9). Bei einer Machtkommunikation müssen sich die Handlungsoptionen auf beiden Seiten (mindestens) verdoppeln. Der/die Absender_in kann entweder zurücknehmen, was er/sie verlangt, oder bestrafen; sei es durch Gewalt oder mit dem Vorenthalten einer Beförderung. Der/die Adressat_in kann seinerseits (bzw. ihrerseits) die Kommunikation annehmen oder ablehnen. Beide Seiten sind in der Regel nicht auf die Bestrafung aus, am wenigsten noch der/die Adressat_in, falls zum Beispiel über seine/ihre Karriere entschieden wird. Nun sieht Luhmann die ‚zwanglose’ Übernahme der Machtkommunikation in die eigene Verhaltenserwartung des/der Adressat_innen als den eigentlichen Charakter der Macht an. Allerdings müsste er/sie sich über Handlungsalternativen im Klaren sein und auswählen können, was er/sie in die Tat umsetzt. Wenn hinsichtlich der Szenerie in Kafkas Erzählung überhaupt von Handlungsalternativen gesprochen werden kann, führen diese nicht dazu, dass der Mann vom Lande vom Gesetz ablässt. Er sucht keine Alternativen für sein Ansinnen. Stattdessen hockt er wie gebannt „vor dem Gesetz“ und richtet sein ganzes Leben
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daraufhin aus. Dem Luhmann’schen Machtbegriff entgehen einerseits eine Art ‚vorgängiger Handlungsalternativenreduktion’ und andererseits die eigentümliche, da alternativlose Stellung in und zu der Welt des Mannes vom Lande. Foucaults umfassender und auf Produktivität abzielender Machtbegriff erfasst jenes schwer zu deutende ‚Mehr‘ und ‚Anders‘ besser. Dies wollen wir nun an ausgewählten Begriffen zeigen, wie dem Diskurs oder dem Macht-WissensKomplex. Auf Grundlage der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Kafka gliedern wir die Konturierung ideeller Zentren in drei Analysedimensionen: Erstens erscheint es so, dass das Gesetz sehr vom Glanz – dem Anschein ungebrochener Repräsentanz bei gleichzeitiger Abwesenheit – profitiert. So wird beim Mann vom Lande noch im letzten Moment der Eindruck erweckt, am rechten Ort zu sein. Zweitens ist die Figur des Türhüters zu berücksichtigen, dessen Position unumgänglich zur Interaktion verpflichtet, die die Szenerie wesentlich strukturiert. Als Arm des Gesetzes erfährt der Türhüter in beiläufigen Unterhaltungen, wer der Mann vom Lande ist. Letzterer gibt ganz zwanglos alles von sich Preis, seien es Informationen über seine Herkunft, seien es wertvolle Dinge. Drittens verweist die Tür architektonisch über sich hinaus, etwa auf eine Mauer und ein ganzes Gebäude. Somit ist die Szenerie durch ein lokales, materielles Arrangement gekennzeichnet. Die lineare Darstellung der Dimensionen sollte unterdessen nicht die Verzahnung der Analysedimensionen verdecken; das heißt wir gehen davon aus, dass erst das Ineinandergreifen der drei Dimensionen ergibt, was ideelle Zentren ausmacht. 10.1 Der Glanz Im Hinblick auf die erste Analysedimension ideeller Zentren, für die in der ‚Türhüterlegende’ der ‚Glanz‘ steht, bietet sich der Diskursbegriff an, über den sich der mögliche Entstehungszusammenhang einer Reduktion von Handlungsalternativen erläutern lässt. Den Diskurs siedeln wir daher zunächst auf der Ebene des ‚gesetzlichen’ Glanzes an, da wir annehmen, dass er dessen verborgene Quelle bildet. Ausgehend vom Konzept des Diskurses kann darüber hinaus die historische Verortung ideeller Zentren wiederaufgenommen werden. Denn die Humanwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert wie die Medizin oder die Psychologie ziehen neue Grenzen zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen bürgerlicher und peripherer Sexualität sowie zwischen botmäßigem’ Verhalten und Kriminalität. Im Zuge dessen, so unsere These, etablieren sich ideelle Zentren.
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In Abgrenzung zu den verschiedenen Varianten des Diskursbegriffes gehen wir davon aus, dass der Diskurs, wie ihn Foucault auffasst, kein bloß öffentliches, privates oder bekennendes Sprechen meint, sondern ein Regelsystem, nach dem an ganz verschiedenen Orten verschiedene Aussagen gebildet werden. Aus einer konstruktivistischen Perspektive sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1997: 74). Ein solcher Ansatz kann als Versuch gewertet werden, die Behauptung von Dichotomien im Sinne einer einfachen Repräsentations- oder Abbildungsfunktion zwischen den Dingen und der Sprache zu unterlaufen, was eine Überprüfung der Sprache an der Wirklichkeit ausschließt. Interessant für den eingangs erwähnten historischen Wandel ist, dass in der Moderne „die Sprache […] ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen“ (Foucault 1971: 81) zerbreche. An die Stelle alter Gewissheiten treten für Foucault Diskurse, verstanden als Aussagesysteme von Denk- und Sagbarem, die neben neuen Semantiken insbesondere vielfältige erzieherische und wissenschaftliche Techniken der Registrierung und Regierung27 von Menschen entwerfen. Diskurse und (nicht-diskursive) Praxis sind also nicht separat zu betrachten. Anders als die Habermas’sche Diskursethik argumentiert, verbreiten Diskurse im foucaultschen Verständnis nicht beredt den zwanglosen Zwang besserer Argumente. Vielmehr werden in ihrem Auftrag mittels Erziehungstechniken, der Befragung und der Sichtbarmachung fügsame und gelehrige Körper dem Anspruch nach maschinell produziert, die die Disziplinargesellschaft nicht aus den Augen lässt. Wiederum war es Kafka, der in seinem Text In der Strafkolonie (Kafka 2002d) eine instruktive Metapher für das Verhältnis von Diskurs und Subjekten schuf. In Analogie zur Funktionsweise des Strafapparates, der mit vielen „eggenartig“ (ebd.) angeordneten Nadeln das Diktum in den Rücken der Delinquenten zeichnet, schreibt sich der Diskurs in die Subjekte ein, er durchdringt sie, wird gleichsam inkorporiert. Etwa zu Anbruch des 17. Jahrhunderts fertigt diese Produktion im Fahrwasser psychologischer, medizinischer und pädagogischer (fortan: humanwissenschaftlicher) Diskurse den Menschen nach dem Muster eines „Bekenntnistiers“, das allenthalben Wissen über sich preisgibt, oft gezwungenermaßen oder beiläufig, was ihn steuerbar macht (vgl. Hahn 1986: 222). Dieses Moment findet sich auch in der ‚Türhüterlegende’, da der Mann vom Lande Fragen über seine Heimat und vieles andere zu beantworten hat, wie für die zweite Analysedimension weiter thematisiert wird. Verschiedene Formen der Überwachung führten insbesondere in Gefängnissen, Psychiatrien und Kliniken dazu, „daß der Überwachte 27
Den Begriff der Regierung oder der Führung benutzt Foucault weniger im Sinne von staatlicher Exekutive, bezieht ihn vielmehr auf die Lenkung und Leitung von Handlungen durch Handlungen (vgl. Foucault 2008c: 255-263).
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die Perspektive des Überwachenden übernimmt“ (ebd.). Dieser Sachverhalt enthält einen Hinweis auf eine mögliche Reduktion von Handlungsalternativen, denn „jene Kontrolle, die man selbst vornimmt, um der Fremdkontrolle zu entgehen, ist nichts anderes als deren Vorwegnahme ins eigene Innere“ (Hahn 1986: 223). Die Disziplinarmacht zeigt sich demnach einerseits an der ‚automatisierten Erwartungsübernahme’, während Handlungsalternativen gar nicht erst auftauchen oder aber von Vornherein abgebaut werden sollen. Andererseits muss angesichts des Glanzes nicht mehr begründet werden, warum der Mann vom Lande zu warten hat. Für den Mann vom Lande bezeugt und garantiert der Glanz die ‚Rechtmäßigkeit’ des ganzen Arrangements sowie derjenigen Schritte, die der Türhüter ergreift oder eben nicht ergreift. Oft wird Foucault dahingehend verstanden, dass sein Begriff der Disziplin als Machttypus alles umfasse und zu regeln auf sich nehme. Diese Interpretation lässt eine Lektüre von Überwachen und Strafen (Foucault 1977) zuweilen durchaus zu. Kritik und Widerstand bleiben dennoch möglich. Denn einerseits ist der Macht immer Widerstand inhärent. Ansonsten ginge der Machtbegriff im Begriff des Zwanges nahtlos auf (vgl. Göhler/Höppner/De La Rosa 2009: 30-34). Darauf aufbauend gilt andererseits, dass dort, wo es oberhalb einer bestimmten Disziplinarindividualität keine Wahlmöglichkeiten mehr gibt, Gewalt und Zwang am Werk sind (vgl. Foucault 2008b: 244-245; 256-257). Dem/der Kritiker_in muss nicht gleich die Einweisung in die Psychiatrie widerfahren; Peripherisierungen finden bereits dort statt, wo ein wenig vom Treiben der Masse abgewichen wird. Wie weiter oben angedeutet ist Kafkas Hungerkünstler in diesem Sinne ‚anders als die Anderen’. Er hungert, wo andere essen oder auf Diät sind. Ihn allein lassen die Speisen so kalt, dass er für sich nie eine essbare Speise finden kann. Obwohl sein Hungern anfänglich eine Attraktion darstellte, marginalisiert ihn die Ablehnung der Mahlzeit vollständig.28 Für die theoretische Konturierung ideeller Zentren vor dem Hintergrund der Foucault’schen Machtanalytik bietet sich ein weiterer Aspekt bezüglich humanwissenschaftlicher Diskurse an: Er beleuchtet zum einen den oben genannten Bruch vor der Moderne und löst zum anderen den am Gesetz hergeleiteten Begriff ideeller Zentren vom Kontext des Rechtssystems. Mangels weltanschaulicher Einheit waren es vor allem die humanwissenschaftlichen Diskurse des 17. und 18. Jahrhunderts, die neue Grenzen zwischen normalem und abweichendem Verhalten durch eine Art gesellschaftlicher Bestandaufnahme etablierten, die bei Foucault auch als politische Anatomie bezeichnet wird. Anders formuliert, aus 28 Der Hungerkünstler sieht sich also mehr und mehr auf die Ebene von Tieren gerückt. Diesen ‚Ausweg’ aus der herrschenden Ordnung, das Tier-Werden, beschreibt Kafka wiederholt und wohl am deutlichsten in Die Verwandlung. (vgl. Deleuze/Guattari 2004: 49-50). Der Affe Rotpeter dient als Gegenbeispiel: Er wird dadurch zum Menschen, dass er dessen Rollenzwänge auf sich nimmt.
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den humanwissenschaftlichen Diskursen gehen Soll- und Richtwerte hervor, wie man ‚normal’ zu sein und sich zu betragen habe. Mit den Diskursen dieser Zeit bietet sich ein kaleidoskopartiger Einblick in die Devianz: „Die Macht funktioniert wie eine Sirene, die die Fremdheiten, über denen sie wacht, heranlockt und zum Appell ruft“ (Foucault 1983: 49). Umstrukturierungen von Krankenhäusern, Gefängnissen und Psychiatrien erfolgten im Hinblick auf die Anforderungen bestmöglicher Kontrolle und Überwachung. Foucaults Einsicht, dass Machtentfaltung eng mit der Anreicherung von Wissen verbunden ist, beleuchtet zudem die Peripherisierung des Mannes vom Lande. Neben Gegenständen, die er dem Türhüter zukommen lässt, gibt er in einer Verhör-ähnlichen Situation Informationen über sich preis und geriert sich so im Sinne eines Bekenntnistiers als intakter Kontrollkörper. Als ein wichtiger Bereich, den humanwissenschaftliche Diskurse einer Neuordnung unterziehen oder überhaupt erst ‚erzeugen’, ist der der Sexualität zu nennen (vgl. Foucault 1983). Auf Grundlage der humanwissenschaftlichen Erkenntnisse über die Sexualität werden der bürgerlichen Ehe periphere Sexualitäten entgegengestellt (vgl. ebd.: 45-53).29 Analog dazu ließe sich eine solche Konstellation darüber hinaus für die Delinquenz und den Wahnsinn konstatieren. Den Diskursen gemeinsam ist nämlich, dass mit dem Aufkommen der zu verwerfenden Sexualität, der Delinquenz und des Wahnsinns jeweils positive, gewünschte und – vor dem Hintergrund des hier vorgeschlagenen Begriffgebrauchs – ideelle Pendants korrelieren. Diese Korrelation von normalem und abweichendem Verhalten bietet neuen Halt in der Moderne, denn sie scheint‚ objektiv richtig’ zu sein und durch die hergestellte Ausrichtung an der Norm verdeckt sie Kontingenz. Während periphere Sexualitäten der ‚normalen’ Regelung abträglich erscheinen und von großem humanwissenschaftlichen Interesse sind, wird der Ehe nicht nachgespürt. Sie genießt Diskretion. Als solche ideellen Pendants finden sich bei Foucault u.a. die bürgerliche Ehe und die Arbeit, die zugleich jeweils als ein Kristallisationspunkt eines ideellen Zentrums zu begreifen sind. Denn an die Arbeit schließt sich ein enormer Anforderungs- und Disziplinierungskatalog für die Erziehung zu einer guten Lebensführung an. Diesen Umstand erfasst Marie Jahoda (1983) in ihrer Studie Wie viel Arbeit braucht der Mensch? pointiert. Da sie zwischen manifesten Funktionen von Erwerbsarbeit, die dem Gelderwerb und der Existenzsicherung dienen, und latenten, immateriellen Funktionen unterscheidet, gilt für die Arbeitenden aus ihrer Sicht:
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Als ‚periphere Sexualitäten‘ bezeichnet Foucault u.a. die ‚Laster’ der Kinder und die Homosexualität in der Eigenschaft, jeweils von der ‚normal’ geregelten Sexualität der bürgerlichen Ehe abzuweichen.
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Justus Heck, Sebastian Neubauer, Svenja Reinke „Sie müssen ihren Tag strukturieren; sie brauchen umfassende soziale Erfahrungen; sie müssen sich an kollektiven Zielen beteiligen […]; sie müssen wissen, wo sie, verglichen mit anderen, in der Gesellschaft stehen, um ihre persönliche Identität erkennen zu können; und sie brauchen regelmäßige Aktivitäten“ (Jahoda 1983: 137).
Die Strukturierung des Tages bedarf einer Ausrichtung nach der Uhr, nach Tagesplanung und Planbefolgung. Soziale Erfahrungen und die Beteiligung an kollektiven Zielen formen das Individuum so, wie es die je konkrete Arbeitswelt erfordert. Darüber hinaus nimmt das ideelle Zentrum ‚Arbeit’ schon vor der eigentlichen Arbeit weitreichenden Einfluss auf den gesamten Lebenslauf. So entsteht beispielsweise eine dreigeteilte ‚Normalerwerbsbiographie‘: ‚Normal’ ist es, nach der Schule berufstätig zu werden und danach in Ruhestand zu gehen (vgl. Kohli 1985).30 10.2 Die Interaktion In der vorherigen Analyse zum ‚Glanz‘ fand bereits die Interaktion zwischen dem Türhüter und dem Mann Erwähnung. Sie bildet den Ausgangspunkt für die zweite Analysedimension ideeller Zentren. Foucault sieht jede Interaktion von den „Feldlinien der Macht“ durchsetzt und so analysiert er die „Mikrophysik der Macht“ als „Netz von ständig gespannten und tätigen Beziehungen“ (Foucault 1977: 38; vgl. dazu auch Foucault 2008b). Sowohl bei Kafka als auch bei Foucault fällt die Prüfung oder das Verhör als besonderer Typus der Interaktion ins Auge (vgl. Foucault 1977: 238-250). Während einer derartigen Interaktion ist die eine Instanz befugt eine ihr ‚ausgesetzte’ auf Herz und Nieren zu prüfen, zu analysieren, zu klassifizieren und Vergleichen zu unterziehen. Es gilt die Identität preiszugeben: Wer bist du? Woher kommst du? Was willst du? Letztere Frage braucht der Türhüter in Vor dem Gesetz gar nicht erst zu stellen, vermittelt er doch den Eindruck, die Antwort sehr genau zu kennen. Der Türhüter macht in seiner teilnahmslosen Art Fragen zu stellen einen Eindruck wie es „große Herren“ tun, während der Befragte klein und immer kleiner erscheint. Letzterer wird durch das ‚Interesse’ keinesfalls aufgewertet. Im Gegenteil, während der Mann vom Lande noch der Hoffnung nachhängt, man kümmere sich nur um Herrn von Range derart individuell und ausführlich, geht es doch „nicht mehr um ein Monument für ein künftiges Gedächtnis, sondern um ein Dokument für eine fallweise Auswertung“ (ebd.: 246). Die wirklich großen Herren indes genießen das Privileg der ‚Unsichtbarkeit’. 30 Als weitere Beispiele für ideelle Zentren könnten auch Konsum oder Gesundheit diskutiert werden, allerdings besteht die Gefahr einer ‚inflationären’ Begriffsverwendung.
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Das Individuum wird für Foucault vor dem Gesetz, in der Verwaltung oder Schule nicht etwa transparent oder ganzheitlich erfasst, vielmehr wird es nur zu einem Fall. Der Fall spannt das Subjekt mithilfe der Kategorien, die beispielsweise Pädagogen_innen oder Psychologen_innen für relevant halten, in ein epistemisches Raster ein. In diesem Maße entsteht Transparenz, Sichtbarkeit, Klassifizierbarkeit und Vergleichbarkeit. Mehr zu wissen, mehr zu ermitteln hieße, die Effizienz zu schmälern. Als ein prominenter Vertreter einer reformjuristischen Position seiner Zeit analysierte Jeremy Bentham in den „moralischen und legislativen Prinzipien“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Gesetz und das Problem der Strafbarkeit nach ökonomischen Prinzipen (vgl. Bentham 1789). Es ist lohnenswert, sich eine komprimierte Darstellung eines auf diese Weise reformierten Strafrechtssystems vor Augen zu führen: „Das Gesetz ist die billigste Lösung, um die Menschen richtig zu bestrafen und um diese Bestrafung wirkungsvoll zu machen. Erstens wird man das Verbrechen als Verletzung eines formulierten Gesetzes definieren; es gibt also niemals ein Verbrechen […], solange es kein Gesetz gibt. Zweitens müssen die Strafen bestimmt werden, und zwar ein für allemal durch das Gesetz“ (Foucault 2006b: 344).
Schließlich könne sich das Strafgericht auf eine einzige Tätigkeit beschränken, „nämlich auf das festgestellte und erwiesene Verbrechen ein Gesetz anzuwenden“ (ebd.) Daraus ergibt sich folgendes Bild in Bezug auf den vorenthaltenen Eintritt des Mannes vom Lande in das Gesetz: Längst erfasst, erreicht er – im Gegensatz zu Josef K. im Proceß – doch nie den Punkt, als Kläger oder gar als Angeklagter vor Gericht zu landen. Um ihn an ‚seinem Platz’ zu halten, sein Verhalten und seine Position in dieser Welt zu bestimmen, ihn also im Sinne des Gesetzes zu subjektivieren, sind die bloße Annahme der Existenz des ‚Gesetzes‘ und einige vieldeutige, in einem materiell-sprachlichen Arrangement aufscheinende Zeichen bereits ausreichend. Einer zusätzlichen Umsorgung bedarf es nicht. Die Verhörsituation bleibt latent, sie wird dem Mann vom Land nicht als solche bewusst. Er verharrt friedfertig im Warteraum des Gesetzes. Dieses interaktiv-materielle Arrangement wird schließlich zu seinem ganzen Leben. Ein wenig irritiert und unsicher hinsichtlich dessen, was in Zukunft wohl geschehen mag, vermutet er sich doch am rechten Platz. Unterdessen steht er schon durch sein Zugegen-Sein bereits im Visier von Disziplinartechniken. Diese Einsicht scheint in Bezug auf ideelle Zentren wichtig zu sein: Die Praxis der Überwachung und Kontrolle hat längst eingesetzt, obwohl die Existenz des Gesetzes nicht bewiesen ist und es selber nicht in Aktion tritt. Entsprechend bezeichnen Deleuze und Guattari Kafkas Schilderung des Gesetzes als „reine Leerform […]:
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Es erscheint nur als Urteilsspruch, und dieser wird nur in einer Strafe erkennbar“ (Deleuze/Guattari 2004: 60). Neben der Eigenart des Gesetzes als ‚Leerform‘ wird damit insbesondere das Augenmerk auf die Rechtspraxis gelenkt. Auch Josef K. wird kooperativ angesichts der Ungewissheit des Ausgangs eines Verfahrens. Es lässt sich in dieser Ungewissheit sogar der Motor der Rechtspraxis bzw. des Verfahrens vermuten (vgl. Luhmann 1969: 116). Es wäre naiv anzunehmen, dass sich die Wahrheit leicht als solche erkennen ließe sobald jemand während des Prozesses die Wahrheit sage. Im Gegenteil scheint ‚die Falle’ durch eine einigermaßen kooperative Prozessteilnahme der Angeklagten erst zuzuschnappen. Sie fesseln sich sozusagen persönlich im Laufe des Verfahrens an ihre Selbstdarstellungen (vgl. ebd.: 87). Kooperationsbereitschaft und die Ungewissheit über den Verfahrensverlauf fördern darüber hinaus eine gewisse Distanzierung gegenüber seinem Ausgang. Zerstrittene Parteien müssen „‚andere Möglichkeiten’ im Blick behalten“ (ebd.: 105), sich als lernfähig darstellen und werden so darauf vorbereitet, eventuell nicht Recht zu bekommen. Am Ende des Prozesses stehen die Angeklagten isoliert da, insofern als der Streitgegenstand und der Verfahrenshergang nach der faktisch und gesetzlich fundierten Entscheidung in der Regel niemanden mehr interessieren (vgl. ebd.: 115-116, 121). Dementsprechend kann zuletzt die Exekution Josef K.s vor den Toren der Stadt, und zwar ohne viel Aufheben stattfinden.31 10.3 Das materielle Arrangement Mehrfach klangen bereits Verweise auf die materielle Verfasstheit ideeller Zentren an. Die Strukturierung des Raumes ist zwar nicht der ausschlaggebende Punkt dieser Betrachtung, sollte aber auch nicht vergessen werden. In der dritten Analysedimension können zwei Thesen wieder aufgenommen werden, nämlich die der ‚Mischform’ und die der ‚Peripherisierung’. Mit der Mischform war in Kapitel 8 die Unablösbarkeit ideeller Zentren von materiellen Arrangements gemeint. ‚Peripherisierung’ steht für den macht-gestützten Prozess, der durch das Heranziehen von Wissen und Objekten die Gestalt einer Regierungstechnik über die Individuen annimmt. Auf diese Weise flankiert der Prozess das Zentrum oder 31 Die Argumentation wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. Generell ließen sich Verfahren als Mechanismen (ideeller Zentren) beschreiben, die aus einem kontingenten Sachgemenge zu einer eindeutigen Sachlage gelangen, die dann nicht mehr auf individuelle Anerkennung der Legitimität (hier des Mannes vom Lande) angewiesen ist. Luhmanns Analyse von Verfahren erstreckt sich selbst schon auf „vier Verfahrensarten […]: auf die politische Wahl, die Gesetzgebung, die Entscheidungsprozesse der Verwaltung und die Gerichtsverfahren“ (Luhmann 1969: 243).
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begründet es sogar. Beide Thesen finden in der disziplinarischen Architektur der Moderne – wie Foucault sie beschreibt – ihren Kulminationspunkt. Ohne einen festen Ort zu haben, kann sich die Szenerie vor dem Gesetz nicht entfalten. Aber Räume und Gebäude sind dennoch nicht willkürlich eingerichtet und ausgestattet. Foucault zufolge dient die moderne Architektur als „Instrument zur Transformation der Individuen […]: die auf diejenigen, welche sie verwahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflussbar macht, die Wirkungen der Macht bis zu ihnen vordringen lässt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert“ (Foucault 1977: 222).
Also wird zum einen die Gestaltung der Institutionen ausgenutzt, um materielle Strukturen der Überwachung und Kontrolle zu etablieren und so die Dressur der Körper und die Wissensanreicherung zu befördern. Zum anderen verläuft auch die Stadtplanung nach entsprechenden Maximen. Insbesondere wäre hier die Zirkulation zu nennen, die nach dem Modell des Blutkreislaufs wichtige Funktionen z.B. die Hygiene einer Stadt organisieren soll, um zu verhindern, dass in den beengten Vierteln Krankheiten entstehen (vgl. Foucault 2006a: 33-38). Im Rahmen eines ökonomischen Gebots gilt diejenige als perfekte institutionelle Struktur, die „es einem Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen“ (Foucault 1977: 224). Mit dem sogenannten Panoptikon entwickelt Jeremy Bentham ein Gefängnis, welches diese Anforderung perfekt erfüllt (vgl. ebd.: 256-263). Während die Insass_innen nicht sehen, ob sie aktuell überwacht werden, können Wärter_innen die entsprechend gebauten Zellen jederzeit gut einsehen. Solche Überwachungsarrangements prägen neben Gefängnissen auch Krankenhäuser und Schulen. Jede/r, die/der in den modernen Institutionen ‚Platz nimmt’, wird damit ad hoc zur Zielscheibe von Überwachungs- und Kontrolltechniken. Das materielle Arrangement der Szene Vor dem Gesetz trägt ganz deutlich die Züge eines solchen Überwachungsverhältnisses. Die materielle Verfasstheit letzterer und die Positionierung der beiden Figuren erlauben schließlich die Überwachung, Kontrolle und Disziplinierung des Mannes vom Lande, was er als ‚Bekenntnistier’ bereits internalisiert hat. Simultan zur Wirkung der Foucault’schen Architektur der Institutionen ermöglicht erst dieses Arrangement den Beginn jener Prozesse, die den Mann vom Lande schließlich für sich selbst und vor der Welt zu dem werden lassen, was er am Ende ist. Neben der diskursiven Verankerung des Glanzes und der rollenmäßig gesicherten Interaktion erscheinen sie somit auch architektonisch gleichermaßen gesetzt wie gesichert.
11. Ideelle Zentren als Ordnungsstifter in der Moderne
Ausgangspunkt unserer Argumentation war die territoriale Zentrum-PeripherieDifferenz und die Feststellung, dass schon sie nicht rein territorial zu begreifen ist. Mit dem ideellen Zentrum sollte hier ein Begriff eingeführt werden, der sich primär unter diskursiven und lokal-materiellen Gesichtspunkten sowie deren Zusammenspiel analysieren lässt. Zudem galt es, einen relativen Bedeutungsgewinn ideeller Zentren historisch nachzuzeichnen. Als gängige Annahme wurde angeführt, dass ihr Einfluss mit dem Ende einer als Vormoderne bezeichneten Phase anwuchs, dies vor allem infolge des Aufkommens humanwissenschaftlicher Diskurse. Im Zuge dessen wurden für die Folgezeit ihre Wirkungen auf Individuen aufgezeigt. Dies geschah in drei Schritten. Zuerst ging es darum, dass der Sinnverlust durch eine Epochenschwelle, die um 1800 eintrat, auf die Schultern Einzelner geladen wurde. Die Bezugnahme auf Interpretationen des Werkes Heinrich von Kleists und der Nachtwachen diente dazu, den Niederschlag und die Verarbeitungen des unmittelbaren Sinn- und Ordnungsverlusts zu diagnostizieren. Insofern als damalige apokalyptische Szenarien bloße Schreckensvorstellungen blieben, müssen neue, Kontingenz schließende, für Ordnung sorgende Mechanismen feststellbar sein. Unser Begriff des ideellen Zentrums setzt genau hier an. Für die Theoretisierung stand Franz Kafka Pate. Hauptsächlich anhand der Analyse von Vor dem Gesetz versuchten wir deutlich zu machen, was für mehrere seiner Texte zutrifft: Die Zentrum-Peripherie-Relation strukturiert die Darstellung und ist ausschlaggebend für ihre besondere Spannkraft. Schließlich wurde die Foucault’sche Machtanalytik zur Hilfe genommen, um weiter herauszustellen, inwiefern sich der Begriff des ideellen Zentrums, bezogen auf Techniken der Disziplinierung und Ausrichtung der Individuen, eignet, die Schließung von Kontingenz nach dem epistemischen Bruch der „Sattelzeit“ (Koselleck 1972: XIV; vgl. auch Koselleck 1989a: 112-114) zu begründen. Im Zuge dieser Überlegungen wurden bestimmte Eigenarten ideeller Zentren herausgestellt, die wir nun noch einmal Revue passieren lassen. Ein wichtiger und geradezu paradoxer Befund lautet: Ideelle Zentren sind schon in einer Art Nicht-Vollzug wirksam und zeitigen trotz ihrer Abwesenheit und Unbegreiflichkeit eine signifikante Wirkung. Was, wenn der Protagonist in Vor dem Gesetz – gewissermaßen als ungläubiger Thomas – versucht hätte nachzuforschen, wie es um die Verfasstheit des Gesetz wirklich bestellt sei? Die Arme des Gesetzes D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hätten ihre Muskeln spannen und andere ‚Argumente’ für sein Ausharren finden müssen, steht zu vermuten. Dass aber ideelle Zentren sich gerade nicht verausgaben, dass sie den Individuen solche Zumutungen aufhalsen und sie schließlich dazu bringen können, letztere selbst zu tragen, darin sehen wir eine konstitutive Bedingung für die ‚effiziente’ Wirksamkeit im Nicht-Vollzug. Im Hinblick auf das in diesem Buch verfolgte Anliegen, verschiedene Zentrum-Peripherie-Verhältnisse zu skizzieren, weisen wir besonders auf die Peripherisierung als Prozess am Individuum hin. Sowohl Dinge als auch Informationen fließen vom Individuum in Richtung des Zentrums. Das Zentrum behauptet sich auf diese Weise und schafft gleichzeitig die Grundlage um (weiter) zu bestehen. Mit dem ersten Schritt in diese Struktur setzt der Peripherisierungsprozess ein, sei es vor dem Gesetz oder als Insasse_Insassin im Panoptikon. Sicherlich müssen Gefängnisse oder Gerichte materiell verortbar sein, doch die Wirkmächtigkeit ideeller Zentren macht nicht primär der Ort aus, sondern der Prozess, der Individuum und ideelles Zentrum miteinander in Beziehung setzt. Am reibungslosen Ablauf des Prozesses hat nicht zuletzt der Türhüter Anteil, er allein steht allerdings noch nicht für das ‚Gesetz’. Für sich genommen ist keine der drei Analysedimensionen (Glanz, Interaktion, materielles Arrangement) in der Lage, sich als ideelles Zentrum einzusetzen. Erst zusammen ergeben sie eine wirkmächtige Konstellation, die das zu leisten im Stande ist, was über die Aspekte des Nicht-Vollzugs, der Abwesenheit und der Peripherisierung begründet wurde. Besondere Aufmerksamkeit verdient, abgesehen von der Verwobenheit ideeller Zentren mit unterschiedlichen materiellen und territorialen Komponenten, die diskursive Ebene, die nicht nur hinter der modernen Architektur aufscheint, sondern die als Instanz der Disziplinierung alle drei Analysedimensionen verbindet. So ist zwar die territoriale Ausprägung der ZentrumPeripherie-Differenz nicht wegzudenken, doch in modern verfassten Gesellschaften sind Materialisierungen primär diskursiv strukturiert. Um die Eigenart moderner Arrangements besser zu verstehen, ist die ideelle Komponente also immer zu berücksichtigen.
3. Teil: Das Individuum als Zentrum Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen
12. Das Individuum und der Verlust des Zentrums
Die Denkfigur ‚Zentrum und Peripherie‘ begegnet uns seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr nur auf der räumlichen Ebene – wie sie etwa Shmuel Eisenstadt für die Entwicklungsgeschichte der westlich-kapitalistischen Gesellschaften rekonstruiert –, sondern auch als Metapher für die innere Beschaffenheit der sich nun als ‚modern‘ beschreibenden Gesellschaften. Was ist die ‚Mitte‘ einer Gesellschaft, um welchen Kern vergesellschaften sich die Menschen in einer Zeit erodierender traditionaler Strukturen? Auf theoretischer Ebene haben wir schon herausgearbeitet, dass ideelle Komponenten diesen Kern ausmachen. Häufig entziehen sie sich, so wie Kafkas Mann vom Lande, der unmittelbaren Sichtbarkeit, wenngleich materielle Arrangements ihre Anwesenheit und Macht verdeutlichen. Allerdings bedeutet die scheinbar nachlassende Strahlkraft eindeutig sichtbarer Zentren und Wertvorstellungen auch eine Dezentrierung der Gesellschaft: Bewegt sich das Individuum nicht immer mehr an den ‚Rand‘, wenn die (bindenden) kollektiven Überzeugungen schwinden? Diese Frage haben die vorherigen Kapitel schon erörtert, allerdings nur abstrakt auf die in diesem Teil des Buches leitende Frage zugespitzt: Wie ist Gesellschaft überhaupt möglich, wenn jeder einzelne Mensch Zentrum seines eigenen Lebens wird? Diese drei Leitfragen sollen in den folgenden Kapiteln aufgespannt und erörtert werden. Sie schließen insofern an den vorangegangenen Teil an, als der in Kapitel 8 diagnostizierte Übergang zur modernen Gesellschaft auch für die Freisetzung des Individuums aus traditionalen Bindungen und Ordnungen den Hintergrund bildet. Auch die kafkaeske Spannung zwischen einem normativen, sich entziehenden Zentrum und einer disziplinierten Figur an der Peripherie wird hier konkretisiert: Ziel des folgenden Kapitels ist es jedoch, den Beschreibungen und Erklärungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft anhand von Emile Durkheim und Georg Simmel nachzugehen. Dabei wird eine Ambivalenz dieser Entwicklung sichtbar, die die Schwierigkeit der Kategorisierung in ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ für die Gesellschaften seit dem Anbruch der Moderne offenbart. Folglich wenden wir uns erneut von literarischen Weltbeschreibungen ab, um uns soziologischen Durchdringungen des – um an die Machtanalytik aus Kapitel 10 zu erinnern – von Kontrolle und Disziplinierung geprägten Wechselspiels zwischen Individuum und Kollektiv zu widmen. Die im Zusammenhang mit Kafkas Erzählungen herausgearbeiteten Merkmale ideeller Zentren kehren D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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hierbei in konkreter und zugespitzter Form wieder: Die ordnungsstiftende Rolle in der Folge des modernen Orientierungsverlustes übernehmen Normalitätsmaßstäbe. Die Vorstellung eines Durchschnittsmenschen ist das Beispiel, an dem wir diese Dynamik vergegenwärtigen. Einmal wissenschaftlich etabliert, entfaltet sie ihren ‚Glanz‘ im Sinne eines diskursiven Prismas: verschiedene Diskurse vom Gesundheits- über den Schönheits- bis hin zum Leistungsdiskurs laufen im Durchschnittsmenschen zusammen, kreuzen und brechen sich darin. Die damit verbundenen besonderen Interaktionsformen und materiellen Arrangements sind Gegenstand der empirischen Analyse in den Kapiteln 15 und 16: So wollen wir schließlich anhand empirischer Beispiele32 aus unserer Zeit die beiden Folgen einer Gesellschaft ohne Zentrum verdeutlichen: Atomisierung und Disziplinierung.
32 „Empirische Beispiele“ ist hier wörtlich zu nehmen. Wir werden versuchen durch kurze Analysen sozialer Phänomene unserer Zeit ‚Bilder‘ für die theoretischen Kategorien der Autoren zu finden.
13. Émile Durkheim: Vom Kult des Individuums zur Vergottung des Kollektivs
Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist seit jeher und bis heute eines der Kernthemen der Soziologie. Seit den 1980er Jahren hat sich im deutschen Diskurs – vornehmlich durch Ulrich Beck – dazu der Begriff ‚Individualisierung‘ etabliert.33 Theorien, die unter diesem Schlagwort zusammengefasst werden, konstatieren üblicherweise eine Radikalisierung und Universalisierung jenes Prozesses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; ‚Individualisierung‘ soll uns hier aber auch zur Beschreibung der Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft dienen, bei dem eine erweiterte Arbeitsteilung gleichzeitig mit einer Schwächung sozialer Bindungen einhergeht. Emile Durkheims 1893 erschienene Dissertation Über soziale Arbeitsteilung widmet sich dieser Frage: Welche Form der Solidarität kann es in funktional differenzierten Gesellschaften (noch) geben? Er diagnostiziert dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine Veränderung der Beziehung von Individuum und Gesellschaft durch die schwindende Bedeutung von kollektiven Überzeugungen und vor allem der – nach ihm ursprünglichen Form sozialen Lebens – Religion: „Dieser Rückgang [...] ist […] an die Grundbedingungen der Entwicklung der Gesellschaften gebunden und bezeugt auf diese Weise, dass es immer weniger kollektive Glaubensüberzeugungen und Gefühle gibt, die sowohl gemeinsam als auch stark genug sind, um einen religiösen Charakter anzunehmen. Das heißt, dass seinerseits die durchschnittliche Intensität des Kollektivbewusstseins schwächer wird” (Durkheim 1988 [1893]: 224-225).
Durkheim befindet sich damit in einem theoretischen Dilemma: Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist gebunden an das Kollektivbewusstsein, dessen Basis in der funktional differenzierten Gesellschaft aber schwindet. Mit Blick auf seine Ausgangsfrage müsste er attestieren, dass moderne Gesellschaften sich selbst aufzulösen drohen. Der einzige – aber durchaus problematische – Ausweg, modernen Gesellschaften überhaupt eine Form von kollektiv geteiltem Zentrum zuzugestehen, ist die Anerkennung von Individualität als Grundlage von Kollektivbewusstsein: 33 Thomas Kron behauptet gar, die deutschsprachige Soziologie sei aktuell die einzige, deren Zeitdiagnosen mit einem (dialektischen) Individualisierungstheorem arbeiten (vgl. Kron 2002: 259).
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Andreas Bischof, Mario Schulze, Hanna Steffen „In dem Maß, in dem alle anderen Überzeugungen und Praktiken einen immer weniger religiösen Charakter annehmen, wird das Individuum der Gegenstand einer Art Religion“ (Durkheim 1988 [1912]: 227).
Dieser Ausweg ist deswegen problematisch, weil der Kult des Individuums durchaus gemeinsam geteilt wird, sein Objekt aber individuell ist und somit die ‚Gläubigen‘ nicht an die Gesellschaft zurück bindet, „[…] folglich bildet er kein echtes soziales Band“ (Durkheim 1988 [1893]: 222). Die Individualisierung ist damit als Komplementärprozess zur zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft eine soziale Tatsache (fait-sociaux) und gleichzeitig potentielle Ursache für aufkommende soziale Probleme. Die Gesellschaft muss nun größere Anstrengungen aufwenden, um die Individuen zu sozialem Verhalten zu motivieren. Individualisierung kann andernfalls in anomische Krisenzustände führen und die soziale Ordnung bedrohen. Durkheim erzählt mit seiner Theorie der Modernisierung allerdings keine Verfallsgeschichte, sondern ist durchaus optimistisch, mithilfe der Soziologie solch anomischen Entwicklungen entgegenwirken zu können (Schroer 2001: 329). Durkheims Lösung liegt in der Vergottung des Kollektivs. Während einer Vorlesung in Bordeaux verdeutlicht er erstmals eine Wandlung seiner Einschätzung des Verschwindens der Religion hin zu der berühmten These, dass Religion als moralische Macht unerlässlich sei. Eine Macht, die die Gesellschaft im Kern repräsentiert, wie Durkheim es in Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1981 [1912]) entfaltet. Religion wird hier allerdings nicht als Institution oder Sinnprovinz begriffen, sondern als das, was für den Einzelnen als moralischer Zwang, als kollektive Macht und kollektives Gefühl erfahrbar wird: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören“ (Durkheim 1981 [1912]: 75).
Über den ‚Umweg‘ einer Untersuchung zum australischen Totemismus entwickelt Durkheim so eine funktionalistische Theorie der Religion als Repräsentation von Gesellschaft. Demnach hat Religion ihren Ursprung im Sozialleben der einfachsten Gesellschaftsformen: Im Wechsel von Alltäglichem und Außeralltäglichem (z.B. durch rituelle Handlungen) werden die Regeln und Tabus des Clans geheiligt und schließlich auf das Totem (das bildliche Zeichen des Clans) übertragen.
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Im Zustand kollektiver Efferveszenz34 ist der Einzelne Teil eines Ganzen, das über das Erleben des Alltags hinausgeht. Dadurch besitzt es die Kraft, als Gefühl auch im Alltag zu überdauern und das Individuum an den Clan zurück zu binden. Symbole, die im Zentrum der Efferveszenz stehen, werden zu Repräsentanten dieses sozialen Geschehens. Durkheim argumentiert, dass soziales Leben auch in seiner Zeit diesen Symbolismus braucht. Ein Kollektivgefühl kann allerdings nur dann entstehen, wenn es sich auf ein materielles Objekt überträgt: „Weil der Teil für das Ganze steht, ruft er auch die Gefühle hervor, die das Ganze hervorruft. Das einfache Stück einer Fahne steht für das Vaterland wie die Fahne selber: es ist also genauso und im gleichen Grad heilig“ (Durkheim 1981 [1912]: 314).
In solchen Symbolen objektiviert sich das Gefühl, das der einzelne während der Phase sozialer Erregung hatte: dass er es mit etwas zu tun hat, das außerhalb seiner selbst existiert und ihn umfasst. Gesellschaft besteht nach Durkheim also nicht nur aus einer Masse von Individuen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht. Durkheim fragt also – im Gegensatz zu Max Weber – aus der Perspektive der Gesellschaft, wie die Individuen am besten an die Erfordernisse des Ganzen angebunden werden können; wie sie zu einem sinnvollen Beitrag zum Bestehen und zur Aufrechterhaltung einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft motiviert werden können (Schroer 2001: 330). Die Individualisierung beschreibt er als vorgängigen, typisch modernen Prozess und wertet diesen auch positiv, einzig eine gesellschaftssprengende Überindividualisierung gilt es zu verhindern. Obwohl im Begriffsgebäude des späteren Durkheim durchaus ein Wechselverhältnis von Gesellschaft und Individuum – nämlich die emotional-symbolische Verankerung des Kollektivs im Einzelnen – angelegt ist, bleibt dieses Wechselverhältnis doch einseitig. Denn die gesellschaftliche Ermöglichung der Individualität spielt für Durkheim eine eher untergeordnete Rolle. Dabei wird die Loslösung der Individuen von traditionalen Strukturen ja erst in der funktional differenzierten Gesellschaft möglich: Gesellschaft ließe sich so als ein reziprokes Verhältnis von Individuum und Kollektiv beschreiben. Individualität und konstitutive kollektive Zugehörigkeit sind in diesem Verständnis gleichursprünglich (Goos 2004: 41). Die Autonomie des Individuums, also sein (scheinbar) unabhängiges Bewusstsein, ist darin Ergebnis sozialen Handelns und findet als Entscheidung für X oder gegen X ausschließlich im Kontext der vom Kollektiv gesetzten Regeln statt (vgl. Goos 2004: 40). Das Individuum ist folglich selbst nur im Regelgeleit der Gesellschaft möglich. 34 Ein ‚Überschäumen‘, eine außeralltägliche Ausnahmesituation, in der die Mitglieder der Gesellschaft zusammenkommen und alltägliche Regeln teilweise außer Kraft gesetzt sind.
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Diese Ambivalenz der Individualisierung – ein modernes Phänomen, das ‚autonome‘ Individuen produziert, dies aber nur durch das Regelgeleit der funktional differenzierten Gesellschaft ermöglicht – ist zuerst von Georg Simmel beschrieben worden. Individualisierung wird nach Simmel möglich, wenn der Einzelne sich in verschiedenen sozialen Kreisen unabhängig von Geburt und Klasse bewegen kann (vgl. Schroer 2001: 284-327). Je vielfältiger diese sozialen Kreise sind, desto größer ist der Handlungsspielraum. Das gibt jedem Einzelnen im aufklärerischen Sinne die Möglichkeit, seine Persönlichkeit frei zu entwickeln. Mit zunehmender Individualisierung steigt allerdings auch das Bedürfnis nach Orientierung, nach Angleichung mit entfernten Individuen. Simmel vertritt hier also ein ‚Sowohl-als-auch‘. Individualisierung bedeutet sowohl Atomisierung als auch Standardisierung.
14. Georg Simmel: Die widerspruchsvolle Individualisierung in einer versachlichten Welt
Georg Simmels Gesamtwerk enthält eine Vielzahl von Abhandlungen über das Individuum, den Individualisierungsprozess, das damit verbundene soziale Konfliktpotenzial sowie über die eben beschriebene Ambivalenz von Individualität. Diese Arbeiten Simmels fügen sich im weitesten Sinne als „Philosophie der Individualität“ in den Umkreis seiner frühen Arbeiten zur Sozialphilosophie ein (vgl. Köhnke 1996: 321). Den Begriff ‚Sozialphilosophie’ hatte Simmel Mitte der 1890er Jahre selbst ins Spiel gebracht. Er verstand ihn einerseits als kritischen Wink auf Kant und seine Kritik der Vernunft – in dieser suchte man Sozialphilosophie vergebens. Andererseits haben wir mit dem Überbegriff Sozialphilosophie eine aus heutiger Sicht sinnvolle Etikettierung, die Simmel in seinen frühen Arbeiten der 1890er Jahre noch nicht bemüht hatte. Bildete sich doch zu diesem Zeitpunkt erst sukzessive der Umkreis sozialphilosophischen Denkens heraus, in welchen Simmel dann über ein Jahrzehnt später, 1913/14, seine Einleitung in die Moralwissenschaft (1892/93) gestellt sehen wollte. Das gilt letztlich für sämtliche seiner das Individuum betreffenden Schriften. All diese zeichnen sich durch eine für Simmel symptomatische Aufwertung organologischen Denkens aus, das in Simmels Augen für die gesamte sichtbare Welt greift. Die Gesellschaft zeigt sich als vielgliedriger, lebendiger Organismus, in jedem einzelnen Teil die Totalität des Daseins. Besonders in Simmels kleineren kunsttheoretischen Aufsätzen sind vielfältige Referenzen zum Organismuskonzept der Romantik (im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild) bis hin zu Goethes harmonikalem Bild organischer Welteinheit (vgl. Simmels Text Goethe von 1918). Goethe gehört zu den ‚figures populaires’ im Werk Georg Simmels. Neben dem Zeugnis, das Simmel vor allem über seine ästhetische Erziehung abgelegt hat, ist Goethe auch als Hilfsfigur innerhalb seiner kulturkritischen Texte zu verstehen. Seine Vorstellung von einem organischen Verhältnis zwischen Prozess und Inhalt entspricht Simmels intendiertem Akt der Beseelung der Objekte, die die Subjekte hervorbringen. Zugleich füttert sie Simmels vehemente Abgrenzung zum analytischen Denken, zur Zerstreuung in lauter Einzelheiten. Denn die Einzelwesen streben danach, ein Ganzes zu sein. Das ist die Keimzelle für Sozialisation, für die Erweiterung der sozialen Kreise, für die Ausbildung von Individualität und zugleich der Auslöser der von Simmel konstatierten fundamentalen D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Tragödie des Geistes überhaupt: Sie zeigt sich in der Beharrlichkeit des einzelnen Teils auf sein Eigenrecht gegenüber dem Ganzen, aus dem es entwachsen ist. Dieser Gedanke findet sich in all seinen Schriften, besonders schön in seiner Philosophie der Landschaft beschrieben: „Daß der Teil eines Ganzen zu einem selbständigen Ganzen wird, jenem entwachsend und ein Eigenrecht ihm gegenüber beanspruchend – das ist vielleicht die fundamentale Tragödie des Geistes überhaupt, die in der Neuzeit zu vollem Auswirken gelangt ist und die Führung des Kulturprozesse an sich gerissen hat. Aus der Vielfachheit der Beziehungen […] starrt uns allenthalben der Dualismus entgegen, daß das Einzelne ein Ganzes zu sein begehrt und daß seine Zugehörigkeit zu größeren Ganzen ihm nur die Rolle des Gliedes einräumen will. […] Während sich […] unzählige Kämpfe und Zerrissenheiten im Sozialen und im Technischen, im Geistigen und im Sittlichen ergehen, schafft die gleiche Form der Natur gegenüber den versöhnten Reichtum der Landschaft, die ein Individuelles, Geschlossenes, In-sich-Befriedigtes ist, und dabei widerspruchslos dem Ganzen der Natur und seiner Einheit verhaftet bleibt“ (Simmel 1913: 637-638).
Ganz so widerspruchslos mag sich das moderne Individuum mit dem großen Ganzen nicht mehr verbunden fühlen. Denn ihm stehen unzählige Objektivationen des menschlichen Geistes zunächst als etwas Äußeres gegenüber und bleiben es solange, bis sie zu einer, der menschlichen Seele gemäßen Form gebracht, verinnerlicht sind – in eins werden. Das ist zumindest eine Annahme von Simmel, der die Folgen des Dualismus, d.h. den Neurosenherd Großstadt, nicht nur beobachtet und zu Papier bringt, sondern täglich erlebt. Als kritische Stimme gegenüber dem naiven Fortschrittsglauben der Jahrhundertwende, angesichts der zunehmenden Technisierung und Arbeitsteilung, sieht er gleichermaßen das Auseinanderdriften von objektiver und subjektiver Kultur, parallel zur immer härteren sozialen Taktung. Denn die Einzelwesen produzieren immer Spezielleres, das sie sich nicht mehr aneignen können. „Wie unser äußeres Leben von immer mehr Gegenständen umgeben wird, deren objektiven, in ihrem Produktionsprozeß aufgewandten Geist wir nicht entfernt ausdenken, so ist unser geistiges Innen- und Verkehrsleben […] von symbolisch gewordenen Gebilden erfüllt, in denen eine umfassende Geistigkeit aufgespeichert ist – während der individuelle Geist davon nur ein Minimum auszunutzen pflegt“ (Simmel 2000 [1900]: 621).
Simmels Beobachtung einer nachhaltigen zivilisatorischen Entfremdung kulminiert also bereits in seiner Philosophie des Geldes zur Jahrhundertwende: „Täglich und von allen Seiten her wird der Schatz der Sachkultur vermehrt, aber nur wie aus weiter Entfernung ihr folgend und in einer nur wenig zu steigernden Beschleunigung kann der individuelle Geist die Formen und Inhalte seiner Bildung erweitern“ (ebd.: 621-622).
Von diesem Zeitpunkt an ist für die Schriften Simmels maßgeblich, dass er den Individualisierungsprozess zwar kultiviert, doch nicht etwa als schlichtweg gut
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(im Sinne von gelungen), sondern als schlecht (im Sinne von gescheitert) beschreibt. Hier liegt einer der großen Unterschiede zu den Überlegungen Durkheims, der im Individualisierungsprozess das nötige Komplement und damit die Lösung für den Umgang mit der steigenden Ausdifferenzierung und Atomisierung zu erkennen glaubt, wenn auch über den Weg der aktiven Motivation zur Teilhabe am sozialen Leben. Bei Simmel ist dieses optimistische Moment gekappt. Die Geschichte der Individualität seit der Goethezeit stellt für Simmel eine Verfallsgeschichte dar, die uns als mehr oder minder schrullige Einzelwesen ausweist. Wir füttern, kultivieren vielleicht unsere Spleens, sammeln Paninialben und Milchzähne, tragen aber damit nichts mehr zum Gesamten bei – trotz des ungebrochenen Drangs nach Einheit und Zugehörigkeit. Lebendiges Anschauungsmaterial findet Simmel seinerzeit auf den pulsierenden Straßen der Großstädte, wo Bargeld im Gegensatz zu anderen Besitzobjekten als das beweglichste unter allen Gütern (vgl. Simmel 2000 [1900]: 481) der vermeintlichen Befreiung des Individuums von allen vereinheitlichten Verbindungen dient, und allenthalben das Bedürfnis nach Orientierung nur steigert. Auch der noch so blasierte Großstadtmensch kann sich durch die Versachlichung der Beziehungen und seiner gesamten Lebenswelt nicht vollständig seiner ursächlichen Bedürfnisse entziehen. Es mangelt ihm an Sinn, die Freiheit seines versachtlichten Lebens zu gestalten. Simmel differenziert in diesem Zusammenhang zwischen einem ‚quantitativen‘ und einem ‚qualitativen‘ Individualisierungsprozess. Die beiden Prozesse opponieren jedoch nicht, sondern stehen in einem engen Abfolgeverhältnis innerhalb quasi urwüchsiger und kulturell bedingter Individualisierungsbestrebungen. Bedeutsam ist vor allem Simmels Definition der qualitativen Individualisierung, die er als sukzessiv entwickeltes Selbstverständnis des einzelnen Menschen beschreibt. Er meint die Eigenschaft bzw. Fähigkeit des Menschen, sich als einzigartiges Wesen unter vielen zu begreifen – immer an den Glauben geknüpft, dass diese Einzigartigkeit resp. Andersartigkeit einen positiven Sinn und Wert für sein Leben besitze. Dieses das Kollektiv einende Vertrauen in die Unhintergehbarkeit unserer Selbstbeschreibung als autonome Menschen steht in unmittelbarer theoretischer Nähe zu den Ausführungen Durkheims zur Religion des Individuums. Bei Simmel zwar als Streben nach Authentizität beschrieben, lässt es sich dennoch nahezu bruchlos in die Entwicklungskette nach dem Streben nach Autonomie (das bei Simmel dem quantitativen Individualisierungsprozess entspricht) einordnen. Durkheim selbst greift auf das Unterscheidungsmodell quantitativer und qualitativer Differenzierung in Bezug auf die Individualisierung zurück. Eine weitere Nähe zu Durkheims Überlegungen zeigt sich in Simmels nunmehr klassischen Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung von 1908, in denen er einen wertvollen Beitrag im Hinblick auf die sachliche Dimen-
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sion der Erweiterung sozialer Kreise im Individualisierungsprozess lieferte. An den Schnittpunkten sozialer Kreise (vgl. Simmel 1908: 305-344) erwachse das Individualisierungspotential des Menschen in seiner ganzen Vielfalt. Bereits in seinem ersten Werk Über sociale Differenzierung finden wir das Modell wachsender Differenzierung und der damit verbundenen Ausbildung von Individualität beim Einzelnen. Wie viel an diesem Individualisierungsprozess gesellschaftlich erzeugt ist, wird durch den Grad sozialer Wechselwirkungen indiziert, die proportional zum Differenzierungsprozess stetig wachsen. Durkheims Vorstellung eines ‚natürlichen‘, im Sinne eines normalen, sozialen Entwicklungsvorgangs, steht hier Pate. Die Lockerung der sozialen Bande an die Familie, die Heimat und die überkommenen Traditionen sind untrennbare Teile des evolutionären Fortschreitens: „Der Mensch wird beweglicher, wechselt leichter sein Milieu, verläßt die Seinen, um anderswo ein autonomeres Leben zu führen, und entfaltet immer mehr eigene Ideen und eigene Gefühle“ (Durkheim 1988 [1893]: 470).
Je größer und weiter entfernt also die sozialen Kreise liegen, in denen sich der Mensch bewegt und in denen er lebt, umso mehr Aktions- und Entwicklungsraum gewinnt er für seine Individualität. Die Kulturkritik Simmels ist insofern keinesfalls als pessimistisch zu deuten, als dass er doch in der Moderne, bei aller Nüchternheit, ein großes Individualisierungspotential allein durch die Dichte und Vielschichtigkeit von sozialen Kreisen sieht. Doch damit steigen freilich auch die Abhängigkeiten des Individuums. Es sieht sich noch stärker „soziale[n] Sollensforderungen oder Erwartungen [ausgesetzt, die] an den einzelnen herantreten und doch […] nur im Innern der Persönlichkeit stattfinde[n]“ (Köhnke 1996: 322).
15. Moderne Gesellschaft als Intervention
Wir können hier einen Bruch attestieren. Während das Individuum aus der organologischen Sichtweise (z.B. bei Goethe) als Ganzes verstanden wurde, beschreibt Simmel die Folgen der Modernisierung als diesem Ziel widersprüchlich: Zwar erhöhe die Zahl der sozialen Kreise die Möglichkeiten des Individuums, seiner Individualität Ausdruck zu verleihen, gleichzeitig führe die gegenseitige Abhängigkeit zu sozialen Forderungen an das Innerste des Individuums. Diese Widersprüchlichkeit soll im Folgenden programmatisch sein. Gewissermaßen auf der Rückseite der These von der Individualisierung in modernen Gesellschaften treten dem Individuum nun ‚Sollensanforderungen‘ entgegen – die nicht selten mehr als bloße Anforderungen sind. Denn verschiedene soziale Prozesse und Akteure verlangen teils direkten Zugriff auf das Individuum. Einige Autoren wie Foucault (1975) haben gar die aufklärerische ‚Befreiung‘ des Individuums z.B. durch staatliche Bildung vom ersten Moment an als ein Beherrschen, ein Normieren und Disziplinieren interpretiert.35 Am deutlichsten wird diese neue Qualität der Interventionen wohl in der Auflösung der Einheit von Körper und Geist. Durch diesen Bruch mit der transzendentalen Einheit des Individuums, die höchstens der Tod zu scheiden vermochte, gerät der Körper als bestimm- und veränderbare Einheit ins Blickfeld. Wie wir schon bei Durkheim gesehen haben, besitzt der Körper in seiner Theorie der Ver-Kollektivierung über Efferveszenz eine doppelte Rolle: Er ist einerseits der Ort, auf dem das Totem prangt, er wird zum Ausdruck des Kollektivgefühls, wenn er mit dem heiligen Symbol des Clans bemalt und somit Teil der Vergottung wird. Andererseits ist der Körper als empfindendes und sinnliches System zwingender Bestandteil der kollektiven Efferveszenz – erst in der Sinnesüberwältigung erlebt der Einzelne die außeralltägliche Qualität der Gruppe. Letzterer Punkt, die sinnliche Qualität des Körpers, ist den Interventionen, die wir im Folgenden in den Blick nehmen wollen höchstens sekundär. Vielmehr wird die erstgenannte Qualität, das Über-Sich-Hinausweisen betont. Ein Körper existiert nun in verschiedenen Kontexten: Er ist ein (nicht-)funktionierendes System in der Medizin, er ist eine Kampfeinheit im Militär, er ist eine Arbeits35
Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 10.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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einheit in der Wirtschaft. Er ist quantifizierbar in Größe, Gewicht, Umfang, Leistung und Alter. Diese Herauslösung des Körpers vom selbstverständlichen Teil des ganzen Menschen hin zu einer Einheit differenzierter gesellschaftlicher Kontexte soll im folgenden Kapitel im Hinblick auf Normalisierung und Normierung des Körpergewichts Thema sein.
16. Die Flucht ins Normale
Der Durchschnittsmensch tritt im 19. Jahrhundert auf die Bühne der Wissenschaften und findet wenig später Eingang in die sozialen Diskurse. Adolphe Quetelet versuchte in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts verschiedene Eigenschaften des Menschen statistisch zu untersuchen. Zunächst beschränkte er sich auf physikalisch messbare Körpermaße. So gelangte er über das Edinburgh Medical Journal von 1817 zu Zahlen über die Körpergröße und den Brustumfang von 5000 schottischen Soldaten (vgl. Hacking 1990: 109). Bei der Auswertung erhielt er eine Normalverteilung – wahrscheinlich mithilfe einiger Manipulationen (vgl. Tort 1974: 96). Dies bedeutet zunächst schlicht: Es gibt eben wenige mit einer sehr schmalen oder sehr breiten Brust und viele mit einem mittleren Brustumfang. Die Normalverteilung sollte Quetelet aber weiter beschäftigen. Er stellte Studien an, die vor allem auch Persönlichkeitsmerkmale betrafen. Er untersuchte verschiedenste menschliche Eigenschaften von der Lebenserwartung bis zu charakterlichen Eigenschaften, wie die Neigung zur Schriftstellerei und kriminellem Verhalten. In vielen Bereichen fand er dabei eine Normalverteilung wieder. Bemerkenswert ist hier vor allem die Interpretation der Ergebnisse durch Quetelet: die Häufung um den Durchschnitt war für ihn ein Ausdruck von Schönheit. Der von ihm daraufhin konstatierte homme moyen (mittlere Mensch), der alle Eigenschaften im Durchschnitt vereint, sollte ein Idealtyp des Menschen abbilden – im politischen wie auch ästhetischen Bereich (Quetelet 1838: 558589). Quetelet versuchte eine neue, man kann sagen, positivistische Wissenschaft vom Menschen zu etablieren. Diese Physik des Menschen sollte nicht nur Erkenntnisse generieren, die es ermöglichen, die durchschnittliche Schuhgröße der Menschen zu bestimmen, sondern auch in einem sozialtechnologischen Sinne Optimierungsmöglichkeiten des Menschen aufzeigen. Seine soziale Physik ist von einem Fortschrittsglauben getragen, welcher der damaligen Zeit im Allgemeinen und mitunter den französischen Sozialwissenschaften im Besonderen eigen war. So hoffte Quetelet zum Beispiel, die Kriminalitätsraten in einigen Ländern mithilfe geeigneter Politik einem statistisch errechneten Normalmaß anzunähern – wobei es sich viel eher um ein nicht zu überschreitenden Minimalwert, denn um einen Durchschnittswert handelte. Francois Ewald und Ian Hacking haben dem Leben und Wirken Quetelets in ihren Studien zu Normalisierungsphänomenen viel Platz eingeräumt (Ewald 1993; Hacking 1990). Uns D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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geht es hier vorrangig um die Idee und Ideologie des mittleren Menschen. Der Durchschnittsmensch steht für eine historisch neue Form der Ordnung von Individuen – die Ordnung um das Normale herum. Das Normale gilt dann gleichzeitig als das Zentrum, dass es zu erreichen gilt. Das Normale ermöglicht so die Zentrierung menschlicher Maße auf ein Ideal hin. Diese Vorstellung vom Durchschnittsmenschen findet sich zwar bei Quetelet nicht zum ersten Mal, wird bei ihm aber zum ersten Mal zu einem gesellschaftlichen Idealbild (vgl. Link 1997: 205). Woher kommt dieser Durchschnittsmensch? Foucault konstatierte, dass vom Menschen im wissenschaftlichen Sinne erst seit dem späten 18. Jh. gesprochen wird.36 Ein halbes Jahrhundert später taucht der mittlere Mensch auf. Es scheint, als sei der mittlere Mensch eine Orientierungsgröße, die das Individuum in der Moderne, als vielfach bedrängtes Individuum, entlasten soll. Der Durchschnittsmensch steht – so die These – für ein Verhältnis von Individualisierung und Disziplinierung, wie es in den vorherigen Kapiteln schon anhand der Konzepte von Durkheim und Simmel herausgearbeitet wurde. Wie der Durchschnittsmensch in dieses Schema passt, soll im Folgenden näher erläutert werden (16.1). Dafür soll ein im medizinisch-gesundheitlichen Kontext weit verbreiteter Gewicht-Körpergrößen- Quotient betrachtet werden, der Body-Mass-Index (BMI), eine Maßzahl für die Bewertung des Körpergewichts eines Menschen (16.2). Anhand dieses Indexes lassen sich drei unterschiedliche Formen und Theorien zur Disziplinierung des Körpers idealtypisch aufzeigen. Denn der BMI ist mit klassischen medizinischen Disziplinierungsversuchen verbunden, um dessen Analyse sich vor allem die Frühwerke von Foucault bemühen (16.3). Er steht aber zweitens auch für den Versuch verschiedener Gesundheitsorganisationen, die Kosten eines übergewichtigen Menschen für die Bevölkerung zu bestimmen und die Individuen kostensenkend umzuerziehen (16.4.). Die Bevölkerungsregulierung lässt sich mit Hilfe verschiedener Ideen zur Regulierung und Normalisierung beschreiben, wie sie im Spätwerk Foucaults, vor allem auch auch bei Deleuzes Analysen der Kontrollgesellschaft vorkommen. Drittens wird die Klassifizierung des BMI nach Normal-, Über- und Untergewicht auch im Schönheitsdiskurs gebraucht. Dort ist allerdings eine zunehmende Flexibilisierung des Schönheitsideals zu bemerken (16.5.), die nach Link (1997) aber dennoch eine Normalisierung darstellt.
36 Foucault behauptet dies an verschiedenen Stellen, z. B. in Die Ordnung der Dinge (1971: 373): „Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch nicht.“
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16.1 Der Durchschnittsmensch als individualisierter Mensch Wieso wird es plötzlich möglich von einem Durchschnittsmenschen zu sprechen? Sicherlich musste sich erst die mathematische Statistik entwickeln. Aber nur die Kenntnis der Methoden führt noch lange nicht zur deren Anwendung auf den Menschen. Zunächst musste eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft existieren, bevor ebenjene Gesellschaft auf diese Weise untersucht und berechnet werden konnte. Die Gesellschaft muss als Masse von Individuen verstanden werden, bevor die Rede vom Durchschnittsmenschen überhaupt Sinn macht. Die Gesellschaft besteht nach dieser Vorstellung aus Einzelnen, aus Menschen, die ihre je eigene Kombination von Eigenschaften aufweisen, aus Menschen, die ihre Eigenheiten deswegen haben, weil sie nicht mehr die vorhersehbare Biographie besitzen und nicht mehr in ihrem von der Geburt bestimmten sozialen Umfeld verharren. Zuspitzend lässt sich also formulieren: Die Individualisierung ist die Voraussetzung für den Durchschnittsmenschen (Ewald 1993: 159).37 Der von Quetelet erfundene Durchschnittsmensch kann als eine historisch vorgängige Reaktion auf den in Kapitel 13 vorgestellten Gedanken Durkheims gewertet werden. Quetelet setzt der zunehmenden Ausdifferenzierung der menschlichen Eigenschaften eine Orientierung am Durchschnitt entgegen, die den Einzelnen von seinen unsicheren Krisenzuständen befreit. Auf eine ambivalente Weise ist die Idee vom homme moyen damit ein Produkt der Individualisierung und gleichzeitig eine kritische Reaktion darauf – fast eine Leugnung. Um die Menschen einer Gesellschaft statistisch vergleichen zu können, müssen sie einerseits als Einzelne mit Eigenheiten, als Individuen verstanden werden. Andererseits ist der Vergleich der Individuen auch gleichzeitig der Versuch, menschlichen Eigenheiten ihr Eigenes zu nehmen und damit die erhoffte Lösung für das Problem der zunehmenden Orientierungslosigkeit der individualisierten Menschen. Die Orientierung am Durchschnitt stellt sicher, dass die Gesellschaft zusammengehalten wird und sorgt für die Integration der Menschen in den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Durchschnittsmensch verdeutlicht damit nicht nur die Ängste Durkheims, sondern bringt ein widersprüchliches Bild der Individualisierung zum Ausdruck, wie wir es Simmel zugeschrieben haben. Individualisierung bedeutet für Simmel ja sowohl Atomisierung als auch Standardisierung. Der Durchschnittsmensch verbildlicht genau dieses Doppelgesicht, er steht für den atomisierten Standard. Die aufklärerische Idee ist jedoch in ihm nur noch schwach zu erkennen. Das freie, schöne Individuum ist nicht das, welches sich in vielen 37
Nicht umsonst erhält die Physik des Sozialen gerade in den letzten zwei Jahrzehnten wieder Auftrieb – dies aber nahezu ausschließlich unter der Perspektive eines methodologischen Individualismus (Stauffer et al. 2006).
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sozialen Kreisen bewegt und dabei seine Persönlichkeit gestaltet, sondern einfach das Durchschnittliche. Das Idealbild des Menschen ist demnach nicht mehr mit Freiheit und eigens ergriffener Identität verbunden, sondern mit einem Standard, der sich an den anderen orientiert. Das Gesellschaftsbild, das hier zum Ausdruck kommt, entspricht somit nicht nur dem Wechselspiel von Individualisierung und zunehmender Differenzierung, sondern vor allem auch einer Vorstellung von einigen wenigen Individuen, die sich in einem durch den Durchschnitt definierten Zentrum der Gesellschaft aufhalten, und anderen, die anormal, also nur peripher für die Gesellschaft sind. Durch die Postulation eines Durchschnitts wird die Gesellschaft in ein Kontinuum eingeteilt, welches von randständigen Individuen, weit vom Durchschnitt entfernten, bis zu den Bewohnern des Zentrums, nahe am Mittelwert, reicht. Diese Vorstellung ist eine Reaktion auf die Ängste um die Solidarität zwischen den Menschen in der Moderne. Wenn man ein Zentrum postuliert, kann man die Menschen, die nicht dem gesellschaftlichen Konsens entsprechen, als Periphere stigmatisieren und von ihnen die Orientierung am Zentrum, am Normalen einfordern. Die Integration der Gesellschaft läuft über die Idealisierung des Durchschnitts, der Mitte. Die Gesellschaft wird nach Zentrum und Peripherie unterteilt, nachdem sie im Zuge der Individualisierung/Atomisierung ihr Zentrum verloren hat. Der Zusammenhalt steht in Frage; und gerade deswegen muss ein gesellschaftliches Zentrum mit zunehmender Vehemenz konstruiert werden. Diese Gesellschaft findet ihr Bild in der Glockenkurve. Ebenjene Form der Ordnung des Menschen lässt sich als Ansatzpunkt für eine neue Form der gesellschaftlichen Integrations- oder Disziplinierungstechnik begreifen. Jürgen Link hat diese Technik als Normalismus bezeichnet: Wenn der Zusammenhalt in Frage steht, muss integriert, reguliert, kontrolliert, diszipliniert oder eben normalisiert werden. Das Normale ist die möglichkeitsreduzierende Antwort auf das Erlebnis der Kontingenz in der Moderne (vgl. Hark 1999: 66). 16.2 Der Durchschnittsmensch als disziplinierter und normalisierter Mensch Inwieweit kann der Durchschnittsmensch eine disziplinierende Kraft darstellen? Für diese Frage lohnt es sich, eine spezifische Idee von Quetelet zu betrachten, die die disziplinierenden Implikationen seiner Idealvorstellung vom Durchschnittsmenschen verdeutlicht. Er hat eine Körpermaßzahl entworfen, die noch heute mit besonderer Selbstverständlichkeit gebraucht wird: den Body-MassIndex der eben auch als Quetelet-Index bezeichnet werden kann (vgl. Quetelet 1838: 370-373). Da Übergewicht seit dem frühen 20. Jahrhundert als medizinisches Problem gewertet wird, wird die Körpermassenzahl vor allem dazu ver-
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wendet, eine diesbezügliche Gefährdung zu identifizieren. Der BMI setzt das Körpergewicht zur Körpergröße ins Verhältnis und ermöglicht so eine Klassifikation der Bevölkerung von Magersüchtigen bis zu verschiedenen Ausprägungen der Adipositas.38 Ein BMI von 18,5 kg/m² bis 25 kg/m² bedeutet Normalgewicht. Der BMI ist somit eine Art Derivat der Vorstellung vom Durchschnittsmensch – aber zudem mit einer explizit medizinischen Konnotation versehen. Auch der BMI konstruiert einen Idealbereich und einen peripheren, anormalen Bereich, der in Extremen die Grenze zwischen gesund und krank festlegt. Damit ermöglicht der BMI einen Vergleich von Individuen. Das war schon für die Statistiker des 19. Jahrhunderts interessant, die dadurch verschiedene Bevölkerungsgruppen – arm und reich, dick und dünn oder Deutsche und Franzosen – miteinander vergleichen konnten; was wiederum als Argument in der Sozialen Frage oder beim Nachweis nationaler Stärke von Bedeutung war (vgl. Spiekermann 2008). Der BMI setzte sich jedoch erst aufgrund des Einsatzes bei amerikanischen Lebensversicherern durch. Diese nutzten ihn als einfache Einstufung zur Prämienberechnung. Der BMI entwickelte sich also von einer zunächst bloß deskriptiven Vergleichsgröße zu einem direkten Indikator des Ernährungs- und Gesundheitszustandes. Im BMI verbinden sich folglich verschiedene Diskurse zu einem Normalisierungsdiskurs. Die vorher getrennt laufenden Diskurse wirken aber gemeinsam besonders – wenn auch auf je verschiedene Weise – disziplinierend und normalisierend auf das Individuum ein. Als ‚disziplinierend‘ soll hier zunächst in allgemeinster, d.h. modaltheoretischer, Formulierung alles das gelten, was den Handlungsspielraum des Einzelnen einschränkt – also Kontingenz reduziert (Luhmann 1997b). Das Normalgewicht wird in den Diskursen für den Einzelnen zur relevanten Orientierungsgröße; Ein Abweichen davon muss in allen gesellschaftlichen Kontexten begründet werden: Du bist dick: willst du früher sterben? Du bist dick: willst du mehr Versicherungsbeiträge zahlen? Du bist dick: willst du dich nicht anders ernähren? Du bist dick: willst du nicht mal eine/n schöne/n Partner_in finden? Usw. Im Folgenden sollen die disziplinierenden Diskurse, die mit dem BMI verbunden sind, ausführlicher beschrieben werden. Jeder Diskurs wirkt dabei aber auf eine bestimmte Art disziplinierend und normalisierend, worin sich gleichzeitig unterschiedliche theoretische Zugänge zur Disziplinierung spiegeln. Dabei ist zu beachten, dass die Diskurse nur analytisch trennbar sind, in der Realität aber natürlich nie getrennt voneinander vorkommen. Zuerst wenden wir uns dem mit dem BMI ver38
Vgl. für die Ausführungen zum BMI (WHO 2000) und die Adipositas-Leitlinie 2007 (Deutsche Adipositas-Gesellschaft et al. 2007). Bei der Adipositas bzw. Fettleibigkeit oder Fettsucht handelt es sich um ein starkes Übergewicht. Eine Adipositas liegt, nach WHO-Definition, ab einem BMI von 30 kg/m² vor, wobei drei Schweregrade unterschieden werden, zu deren Abgrenzung ebenfalls der BMI herangezogen wird.
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knüpften medizinischen Diskurs über den gesunden oder kranken Körper zu. Darin spiegelt sich die klassische Disziplinierungstheorie in der Tradition von Foucault. Anschließend geht es um den Diskurs über das übergewichtige Individuum als Kostenfaktor für die Gesellschaft und im Besonderen für die Versicherungssysteme. Darin kommen vor allem neue Regulierungstechniken der Bevölkerung zum Ausdruck. Drittens schließlich soll der Diskurs über die ästhetisch anzustrebenden Proportionen des Menschen dazu dienen, über die Möglichkeit einer flexiblen, offeneren Form des Normalismus nachzudenken. Diese Diskurse zeichnen dabei jeweils ihr eigenes Bild vom Zentrum-Peripherie-Verhältnis der Gesellschaft. 16.3 Das gesunde Individuum/Dicke und Dünne in die Klinik Medizinische Diskurse sind immer auch Disziplinierungsdiskurse. Die Medizin ist ein Feld der Herstellung von gesellschaftlich gewünschtem und gefordertem Verhalten und entsprechender Habitusformen, dabei kommen klassische Disziplinierungsinstitutionen zum Einsatz – Krankenhäuser oder psychosomatische Kliniken. Für Foucault (1969; 1977) waren es diese Institutionen, die der neuen anonymen ‚Machttechnologie‘ der Disziplin zur Geburt verholfen haben. Für den medizinischen Diskurs in Bezug auf die Normalisierung durch den BMI steht das Krankheitsbild der Adipositas (vgl. für dies und folgendes Deutsche Adipositas-Gesellschaft 2007). Es handelt sich dabei um eine medizinischgesundheitliche Disziplinierung, bei der die Unterscheidung von gesund und krank zentral ist. Die Gesellschaft wird in diese beiden Kategorien unterteilt. Wer krankheitsverdächtig ist, mit dem werden eine Reihe von Untersuchungen durchgeführt (Körpergröße und -gewicht, Taillenumfang; Klinische Untersuchung; Nüchternblutzucker; Cholesterin, Triglyzeride; Harnsäure; Kreatinin; TSH, Dexamethason; Albumin/Kreatinin-Ratio; EKG; vgl. Deutsche AdipositasGesellschaft 2007), daraufhin wird eine Therapie entworfen und die Behandlung solange durchgeführt, bis der/die Patient_in gesund ist. Diese Behandlung zieht unterschiedlich weit ausgreifende Eingriffe in das Leben der Patienten nach sich. Wenn es nötig ist, findet diese Behandlung in einem von der Gesellschaft abgeschlossenen Raum statt, in der die Patient_innen wie Insass_innen leben. Dabei wird „über das tägliche Verhalten der Insassen […] ohne Unterlaß ein Wissen erworben, werden pausenlos Schätzungen angestellt“ (Foucault 1977: 380). Der medizinische Diskurs ist ein klassischer Wissensdiskurs. Das Wissen wird dazu gebraucht, um die Devianzgrenzen, die Grenzen zwischen gesund und krank innerhalb der Gesellschaft festzulegen. Von diesem Wissen sind die Patient_innen dann zumeist abgeschnitten. Das Krankenblatt der Klinik steht für
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diese Informationsdifferenz. Es enthält alle wichtigen Informationen, ist jedoch nur den Halbgöttern in Weiß verständlich oder auch zugänglich. Das Individuum wird mehr oder minder zu einem Objekt des Gesundheitswissens und damit auch zu einer Macht, die ihm selbst als unkontrollierbare und äußerliche Macht gegenübersteht. Die Fälle Klinik oder Krankenhaus sind Extremfälle – auch innerhalb des Gesundheitsdiskurses. Für das Phänomen des Übergewichts ist nur selten mit derart rigiden medizinischen Maßnahmen zu rechnen (auch wenn es natürlich Einrichtungen wie Abmagerungskliniken gibt oder es durchaus zu chirurgischen Eingriffen kommen kann). Allerdings zeigt die Zuspitzung auf extreme Eingriffe mit welcher Art Disziplinierung ein Vergleichsindex wie der BMI direkt verknüpft sein kann. Die statistische Erfassung durch den BMI dient hier der Disziplinierung nur als Identifikationsmittel, der BMI selbst ist dabei zunächst noch nicht Teil der Disziplinierung. Die Disziplinierung wird vielmehr an der mit naturwissenschaftlichen Methoden konstruierten Norm von Krankheit durchgesetzt. Mit Normalisierungen anhand von Durchschnitten hat diese Form der Disziplinierung allerdings noch nicht allzu viel zu tun. Es geht hier – um die Worte Links (1997: 133) zu gebrauchen – viel eher um Normierung, also um eine Vereinheitlichung entsprechend einem präfixierten Maßstab. Man muss jedoch davon ausgehen, dass der hier postulierte Unterschied zwischen Normalisierung und Normierung ein idealtypischer ist, der in der Empirie meist weniger klar zum Ausdruck kommt, als hier dargestellt. Auch Foucault hat auf den Unterschied zwischen Normalisierung und Normierung aufmerksam gemacht und spricht in der Folge von Überwachen und Strafen explizit von der Normalisierungsgesellschaft, die über eine bloße normierend-disziplinierende Gesellschaft hinausweist und sich durch „das doppelte Spiel der Disziplinartechnologien einerseits und der Regulierungstechnologien andererseits auszeichnet“ (vgl. 1983: 171-172). Foucaults These, dass sich der disziplinierende Rückkopplungsprozess von Individuum und Macht/Wissen nicht nur innerhalb der Anstaltsmauern vollzieht, sondern dass sich die moderne Gesellschaft im Allgemeinen zur Anstalt entwickelt, hängt also vor allem an den Regulierungstechnologien. Diese anderen Formen der Disziplinierung, seien sie nun als Regulierungen oder als Normalisierungen bezeichnet, werden wir im folgenden Abschnitt genauer herausarbeiten.39
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Das Begriffswirrwarr zwischen Normalisierung, Disziplinierung und Regulierung, welches wir hier kurz dargelegt haben, ist den unterschiedlichen Theorielinien geschuldet, die sich um den Normalisierungsbegriff bemüht haben. Wir halten es trotzdem für sinnvoll, die Verwirrung hier nicht gänzlich zu nivellieren, erstens um die Breite der theoretischen Ansätze zu verdeutlichen und zweitens um die Nähe dieser verschiedenen Zugängen doch aufzuzeigen. Daher haben wir hier nochmals
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Festzuhalten bleibt, dass das primäre Ziel der Disziplinierung im Falle der Normalisierung ein anderes ist. Damit verschieben sich auch die Wirkrichtungen: Während der Gesundheitsdiskurs zunächst nur auf die Disziplinierung des Körpers gerichtet ist – und somit die Bevölkerung erst in einem zweiten Schritt mitreguliert wird, verhält es sich bei der Normalisierung genau umgekehrt: Die Normalisierungen sind zunächst auf die Bevölkerung gerichtet was eine Mitdisziplinierung der Körper nach sich zieht (vgl. Mehrtens: 46). Der BMI wird genau für derartige Normalisierungen der Bevölkerung gebraucht. 16.4 Das übergewichtige Individuum als Kostenfaktor/ Tun Sie was für sich und ihr Gewicht Alle deutschen Krankenkassen bieten ihren Mitgliedern derzeit Kurse zum Abnehmen, zu Diäten oder Ernährungsberatungen an. Auf der Website der AOK wird man zum Beispiel auf acht AOK-Programme verwiesen. Sechs von diesen drehen sich um Ernährung und/oder Sport. Allein das ist ein Befund, der die Inflation von Körpergewichtsregulierungen in unserer Gesellschaft andeutet. Wie genau der BMI bevölkerungsregulierend wirkt, zeigt das Programm Abnehmen mit Genuss:
die Begriffe Foucaults aufgeführt, auch wenn wir uns, so zumindest in diesem Teil des Buches, vornehmlich an den Termini von Link orientieren.
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Abb. 4: Abnehmen mit Genuss. Quelle: AOK. URL: http://www.abnehmen-mitgenuss.de/content/startseite - rote Umrandung ist eigene Hervorhebung [10.09.2009]
Der BMI lässt sich gleich auf der Startseite des Programms berechnen. Je nach Eingabedaten werden daraufhin verschiedene Empfehlungen für die Teilnahme am Programm gegeben. Eine kleine Onlinerecherche für eine Person mit einer Größe von 1,75 m ergab für ein Gewicht von 65 kg folgenden Text:40 „Ihr BMI: 21,22. Um Ihr Gewicht würden Sie viele beneiden! Für Ihre Gesundheit ist es ideal, daher sollten Sie es beibehalten. Eine Gewichtsabnahme empfehlen wir Ihnen nicht: Sie würden sehr schnell in den Bereich des Untergewichts kommen, was schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann. Bei ‚Abnehmen mit Genuss‘ können Sie daher nicht mitmachen. Bleiben Sie einfach, wie Sie sind!“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Klarer kann die Festlegung eines Ideals kaum formuliert sein. Die weitere Auswertung zeigt, dass die Krankenkassen auf inhaltlicher Ebene nicht einfach den medizinischen Diskurs wiedergeben. Es geht nicht mehr um die schlichte Trennung zwischen gesund und krank, sondern um eine Annäherung ein proklamiertes Normal-, oder gar: Idealgewicht. Von Adipositas spricht man ab einem BMI 40 Die gesammelten Ergebnisse dieser Onlinerecherche sind in einer Tabelle im Anhang zu finden, siehe Anhang 2.
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von 30. Eine Teilnahme am Programm Abnehmen mit Genuss wird aber schon bei einem Gewicht empfohlen, was von der WHO-Klassifizierung als medizinisch vollkommen unbedenklich eingestuft wird. So heißt es bei einem Körpergewicht von 75 kg und damit einem BMI von 24,49: „Aus gesundheitlicher Sicht brauchen Sie nicht abzunehmen. Wenn Sie dennoch gern ein paar Pfunde verlieren würden, sind Sie bei ‚Abnehmen mit Genuss‘ richtig. Übertreiben sollten Sie es nicht – setzen Sie sich ein realistisches Ziel! Satt essen, Fettfallen vermeiden und mehr Bewegung: Damit werden Sie sich garantiert noch wohler fühlen. Melden Sie sich an – Sie sind herzlich willkommen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Es wird ein Kontinuum verschiedener Gewichtsklassen erstellt und alle müssen sich an ihrer Entfernung zum Idealgewicht messen lassen. Bei 85 kg heißt es schon: „Ihrer Gesundheit täten einige Pfund weniger auf jeden Fall gut. ‚Abnehmen mit Genuss‘ ist hier genau das Richtige für Sie.“
Bei 95 kg und einem adipösen BMI von 31 wird schließlich aus den Empfehlungen ein Imperativ, der noch dazu an das schlechte Gewissen der potentiellen Kursteilnehmer appelliert, welches mit bemerkenswerter Selbstverständlichkeit unterstellt wird: „Sie wissen es sicher selbst – Sie sollten abnehmen, Ihrer Gesundheit und Ihrem Wohlbefinden zuliebe. ‚Abnehmen mit Genuss‘ kann Ihnen dabei helfen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Aber nicht nur das obere Ende der Skala wird mit eindeutigen Normalisierungsempfehlungen konfrontiert, auch ein Gewicht von 55 kg wird von einem Risikohinweis begleitet. Vor allem aber wird explizit ein falsches Schönheitsideal angeprangert: „Sie sind bereits untergewichtig. Von einem weiteren Gewichtsverlust raten wir Ihnen dringend ab! Überdenken Sie noch einmal Ihre Vorstellungen von einer ‚idealen Figur‘, sprechen Sie darüber mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Sie können sich auch bei der Ernährungsberatung Ihrer AOK Rat holen“ (Hervorhebung durch die Autor_innen).
Diese Bevölkerungsregulierung funktioniert, wie schon angedeutet, nach dem Zentrum-Peripherie-Schema. Je weiter weg vom Zentrum der Normalvorstellung, desto eher muss sich der Einzelne für sein Gewicht rechtfertigen („Ihrer Gesundheit täten einige Pfund weniger auf jeden Fall gut.“). Die Vorstellung beruht auf einer angestrebten Normalverteilung, die sich nun über die Bevölkerung, über die Masse der Körper legen lässt. Das Ziel ist das Normalgewicht oder in noch weiterer Zuspitzung das Idealgewicht, das meist am unteren Rand des Normalgewichts angesiedelt wird. Die Normalisierung findet hier jedoch
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nicht in Kliniken statt, in denen Ärzte zwischen erlaubt und verboten unterscheiden. Der Prozess der Normalisierung bedient sich hier anderer Techniken, um die Unterscheidung zwischen normal/abweichend etablieren oder wirksam machen zu können. Es handelt sich viel eher um Kontrolltechniken denn um Disziplinartechniken: So werden durch statistische Verfahren Risikogruppen erzeugt, die zumindest implizit eine Handlungsaufforderung enthalten. Wenn man zur Risikogruppe der Übergewichtigen zählt, dann wird man statistisch gesehen häufiger krank und stirbt früher (vgl. Bender u.a. 1998 oder Düsseldorfer Obesity-Mortality-Study (DOMS) und Robert Koch-Institut 2003). Diese Informationen werden stets und so häufig wie möglich an die Individuen weitergeleitet: „Checken Sie ihr Gewicht!“ heißt es auf der Startseite von „Abnehmen mit Genuss“. Der/die Einzelne muss darauf diese Informationen für einen optimierenden Umgang mit ihrem/seinem Körper einsetzen, was dann immer heißt, Zeit und Geld in die Produktion des eigenen Idealgewichts zu stecken. Mit der Angabe eines Normalwertes allein wird schließlich noch niemand stigmatisiert. Nur weil ich fett bin, darf ich weiterhin Eis kaufen und die Mitgliedschaft in einem Sportverein verweigern. Die Kontrolle verbietet die Verhaltensweisen, die Fettleibigkeit unterstützen, nicht einfach. Aber sie verwendet Techniken, die das Subjekt selbst aktivieren sollen, d.h. es so verändern, dass es sich aus Selbsteinsicht einschränkt. Der oder die Fettleibige soll wissen, dass Sport und LightProdukte zu Selbstverständlichkeiten werden sollten. Das Individuum selbst ist damit zu der Instanz geworden, die disziplinierend wirkt oder die Disziplinierung durchführen muss: „Sie wissen es sicher selbst“. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass den Individuen Anreize zur Selbstdisziplinierung gegeben sind. Wenn sie sich aus der Risikogruppe des Übergewichts befreien, dann haben sie bessere Chancen im Beruf, mehr Freiheiten in der Freizeitgestaltung und bekommen leichter eine/n Partner_in. Zumindest wird ihnen dieses Bild vermittelt („Damit werden Sie sich garantiert noch wohler fühlen.“) Gilles Deleuze hat in einem kleinen und zugegebenermaßen teilweise etwas kryptischen Essay von 1990 mit dem Titel Postskriptum zur Kontrollgesellschaft diese Formen der Selbstdisziplinierung mit der Metapher des Unternehmers oder der Unternehmerin in Verbindung gebracht. Das Unternehmen sei die neue Disziplinarinstitution schlechthin, die das Gefängnis ablöst, indem es in alle gesellschaftliche Bereiche als leitende Organisationsform hineindiffundiert. Der/die Unternehmer_in steht dabei für eine auf statistischen Daten und ständiger Kontrolle beruhenden Optimierung des Selbst. Auch wenn die theoretischen Überlegungen Deleuzes nicht immer nachvollziehbar erscheinen, so sind doch die Phänomene, die er in seinem Text anspricht, aus unserer Sicht außerordentlich einleuchtend. So zeigt sich die von ihm postulierte neue Machttechnik der Kontrolle auch in Veränderungen der klassischen Disziplinarinstitutionen: Ärzt_innen braucht es zunehmend dafür,
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geeignete Informationen an den/die Patient_innen weiterzuleiten, so dass der/die Patient_in sich selbst noch gesünder machen kann. Die Unterscheidung krank/ gesund wird ersetzt durch die Differenz ‚der Gesundheit zuträglich‘ oder ‚der Gesundheit abträglich‘ (vgl. Eirmbter/Hahn/Jacob 1999: 91). Daher kann ein Großteil der medizinischen Behandlung in Tageskliniken oder auch die häusliche Krankenpflege ausgelagert werden. Normalisierung häufig jedoch nicht mehr in medizinischen Institutionen statt. Viel eher wird sie über Massenmedien sowie die Informationen und Kontrollen verschiedener Gesundheitsinstitutionen – wie auch das hier gewählte Beispiel der Krankenversicherungen zeigt – in die Wege geleitet. So kann der/die Einzelne durch verschiedenste Institutionen unterstützt werden, ein ‚Gewichtsmanagement‘ zu entwickeln, also ein Selbstmanagement, welches ständig den eigenen BMI berechnet und das Ziel Idealgewicht in alle Lebenssituationen hineinträgt (vgl. Institut für Sporternährung 1999 oder Langer 1996). Im Falle einer unzureichenden Bereitschaft, diesem medizinischen Ideal nahezukommen, droht die gesellschaftliche Sanktion. Auf die Gesamtgesellschaft bezogen wird die Sanktionsbereitschaft mit quantifizierten Daten begründet, die ein Risiko für die Bevölkerung nachweisen (sollen). So gibt es immer wieder Studien zu den volkswirtschaftlichen Kosten des Übergewichts, die sich je nach Rechnung auf bis zu 5% der Gesamtkosten des Gesundheitssystems belaufen.41 Auf diese Weise lässt sich eine Verbindung zur Bevölkerungsregulierung herstellen, wie sie schon in der Tradition Foucaults angesprochen wurde. Die hier skizzenhaft dargestellten und gesamtgesellschaftlich ausgerichteten Thesen zur Kontrollgesellschaft, zum Wandel des Gesundheitssystems, zur unternehmerischen Selbstdisziplinierung und zur Bevölkerungsregulierung verdienten jeweils noch eine deutlich intensivere Beschreibung. Im vorliegenden Kontext sollte es primär darum gehen, welche Diskurse der BMI repräsentiert und welche Disziplinierungsformen er damit zusammenführt. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Normalismus ist eine entscheidende gesellschaftliche Taktik der Kontrolle. Der BMI dient mithilfe seiner Quantifizierung des Gewichts der normalistischen Kontrolle des Körpers und der statistischen Erfassung der Bevölkerung, inklusive der Aufforderung die Körper und die Bevölkerung im Ganzen einem gewissen Idealmaß anzunähern. Beim Körpergewicht als Abbild der Gesundheit und körperlichen Fitness lässt sich ein eindeutiges, präfixiertes Ideal ausmachen, das durch scharfe Grenzen von Normalitätsabweichungen unterschieden werden kann. Dieser Normalismus mit präfixiertem Ideal wird von 41 Robert Koch Institut Gesundheitsberichterstattung 2003: „Schätzungen der direkten und indirekten Krankheitskosten der Adipositas und der Folge bzw. Begleiterkrankungen für 1995 ergeben je nach Modellvariante zwischen 7,75 und 13,55 Milliarden €, das sind 3,1% bis 5,5% der Gesamtkosten.“ Diese Kostenschätzung entspricht in etwa denen in internationalen Studien.“ Siehe dafür auch: Schneider 1996.
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Link als Protonormalismus bezeichnet. Wenn man das Körpergewicht im Verhältnis zum Schönheitsideal untersucht, so ergibt sich eine Form des Normalismus, die nicht mehr an einem solch eindeutigen Ideal hängt. Es handelt sich viel eher um einen Diskurs, dessen Ideal zunehmend verschwimmt und dynamisch wird, dessen Wirkung aber nichtsdestotrotz normalisierend ist. 16.5 Das schöne Individuum/ Ob dick, ob schlank, Hauptsache bekennend Das gängige moderne Schönheitsideal ist ein schlanker Körper – unzweifelhaft. Daneben gibt es aber andere Schönheitsideale. Nicht nur schlank oder sogar mager, sondern auch dick oder sogar fett werden mit Worten für die Beschreibung körperlicher Attraktivität wie ‚sexy‘ oder ‚erotisch‘ umschrieben. Die Werbung ist geprägt von Models, die den Maßen der Barby bedrohlich nahe kommen. Aber es gibt auch Werbung, die gerade diese Werbefiguren konterkariert. Man denke an XXL-Models oder an verschiedene Werbekampagnen, die eine ‚Natürlichkeit‘ fordern, wie die Dove-Werbekampagne „Keine Models aber straffe Kurven“.42 Auch ein Blick auf den Buchmarkt zeigt, dass die Literatur zum Abnehmen und zum schlanken Schönheitsideal überwiegt, aber sich ohne Probleme auch Publikationen finden lassen, die das Übergewicht auf den Thron des Schönheitsideals heben wollen: Dick ist sexy. Das Anti-Diät-Buch von 1985; Schöne fette Welt: Eat fat oder ein Lob der Fülle von 1997 oder auch Dünn sein war gestern!: wie runde Frauen das volle Leben genießen von 2004. Nicht zuletzt hat sich ein Markt für Übergrößen ausgebildet, auf dem die Verkäufer offensiv für die Ästhetik von Dicken werben. Das Schönheitsideal hat sich flexibilisiert. Welche Folgen aber haben diese Phänomene für den Normalismus? Kurz gesagt: Auch dieser flexibilisiert sich. Bei der Schönheit geht es zunächst und zumeist nicht um Gesundheit, wie in den oben vorgestellten Diskursen – auch wenn es natürlich wieder zahlreiche koppelnde Argumentationen gibt, die das Gesunde mit dem Schönen verbinden. Es gibt demnach auch keine Versuche eindeutige Devianzgrenzen festzulegen, wie sie bei der Unterscheidung krank/gesund wiederholt und mit wechselndem Erfolg postuliert werden. Schönheit liegt im Auge des
42 So wirbt Dove/Unilever noch immer mit verschiedenen Slogans, die dem gängigen Schlankheitsideal eine Absage erteilen: „In einer Welt von Stereotypen zeigt Dove erfrischende Alternativen für Frauen, die erkannt haben, dass Schönheit keine Frage von 90-60-90 ist“ (URL: http://www.unilever.de/ourbrands/personalcare/dove.asp [14.09.2009]).
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Betrachters. Aber die Augen der Betrachter sind doch an den gleichen Konventionen geschult. Auch Schönheit eröffnet ein Normalfeld. 43 Das Schönheitsideal orientiert sich am Normalgewicht. Ein schöner Körper sollte nicht zu dünn, aber vor allem nicht zu dick sein. Aber wie anhand von Einzelbeispielen gezeigt, wird dieses Ideal in den letzten Jahrzehnten wiederholt aufgebrochen – und dies sowohl hinsichtlich der Übergewichtigen als auch hinsichtlich der Untergewichtigen. Hier liegt also der Fall vor, dass der Bereich der Normalität zunehmend erweitert wird. Der Bereich des Normalen zerfließt vielmehr, so dass vieles als normal gelten kann. In diesem Normalfeld werden zunehmend verschiedene Körperproportionen inkludiert. Jürgen Link hat diese Form des Normalismus als „flexibel-normalistische Strategie“ bezeichnet (Link 1997: 75) und versucht, die historischen Wurzeln und Traditionslinien dieser Strategie auszumachen. Dabei ist er für den Fall Deutschlands vor allem auf die 68er-Generation gestoßen, die eine ganze Reihe von Normalitätsfeldern aufgebrochen haben. Aber inwieweit ist diese Flexiblisierung überhaupt noch als Normalisierung und damit auch Disziplinierung interpretierbar? Die Normalitätszone hat sich erweitert, damit hat sich schließlich auch der Freiheitsgrad der Handlungen des Einzelnen erweitert. Aber damit ist der Normalismus keineswegs überwunden. Die Festlegung auf eine Normalität, auch wenn diese mehr einschließt, bleibt bestehen. Der menschliche Körper wird entsprechend eines Vergleichskriteriums in ein Kontinuum eingeordnet, in dem jede/r Einzelne seinen/ihren Körper verorten muss. Im flexiblen Normalismus herrscht eine Dynamik der gegenwärtig als normal eingeschätzten Bereiche, aber gerade diese Dynamik verlangt dem Individuum eine ständige Selbst-Adjustierung ab, um die eigens zugeschriebene Identität als dick, dünn, mager oder füllig beizubehalten. Im Normalismus mit einem präfixierten Ideal war es möglich sich als Anormaler zu verstecken und damit devianten Praktiken heimlich zu frönen. Im flexiblen Normalismus erhöht sich die Auflösung des Spektrums, so dass sich zwar viele Individuen innerhalb 43
Es wird an dieser Stelle Schönheit nur in Bezug auf Körpergewicht untersucht. Schönheit ist ein abstrakter Begriff, der sich auf alle möglichen Aspekte des menschlichen Daseins und damit auch des Körpers anwenden lässt. Es gibt auch in anderen Dimensionen der körperlichen Schönheit erstaunlich eindeutige Normalitätsfelder und Normalisierungsdiskurse. So wurden in einer Studie zur Attraktivität an der Universität Regensburg verschiedene Kennzahlen für Attraktivität erstellt, die sich an einer Normalverteilung orientieren (vgl. Braun/Gründl/Marberger/Scherber 2001). Dort wird zum Beispiel ein sogenannter Beauty-Quotient eingeführt, der sich explizit am Intelligenz-Quotienten orientiert. Eine durchschnittliche Frau (und nur für Frauen wurde dieser BQ zunächst erfunden) erhält den Wert 100, „außerordentlich“ schöne Frauen den Wert 130 usw. Bei der wissenschaftlichen Bestimmung der Schönheit von Gesichtern ist ein Aufsatz von Langlois und Roggman (1990) mit dem Titel Attraktive Gesichter sind bloß Durchschnitt besonders bekannt geworden. Ihre These war, dass Gesichter umso schöner bewertet werden, je mehr sie dem mathematischen Durchschnitt vieler menschlicher Gesichter entsprechen.
Das Individuum als Zentrum
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des Normalitätssektors bewegen können, aber eben auch ihren Ort darin sichtbar machen müssen. Es entsteht ein ausdifferenzierter Bekenntniszwang: „Ich bin dick und sexy und schäme mich dessen nicht“, so XXL-Model Sophie Dall im Spiegel-Reporter 2001 (zitiert nach Wilk 2002). Auch hier kann das Begriffsinstrumentarium Zentrum und Peripherie bei der Analyse weiterhelfen: Die Gesellschaft wird auch im flexiblen Normalismus entlang eines Kriteriums unterteilt. Dieses Kriterium ist dann meist noch mit statistischen Daten angefüllt. 5% der Bevölkerung neigen genetisch zu Fettleibigkeit. Wenn man also dick ist, muss man sich wohl oder übel zu diesen 5% rechnen, andernfalls wäre man ja an der eigenen Fettleibigkeit Schuld. Aber es bleibt der Befund, dass sich die zentralen Bereiche vervielfältigen und die peripheren Bereiche immer mehr aufgelöst werden. Diese Situation kann dem einzelnen Individuum wie ein Verlust des Zentrums erscheinen. Das führt zu Denormalisierungsängsten, die jederzeit wieder für ein Umschlagen in protonormalistische Strategien sorgen können – also zu Normalisierungen, die an einem eindeutigen Ideal orientiert sind. Niemand kann sicher sein, normal zu sein, sich im Zentrum der Gesellschaft zu befinden. Das erfordert Strategien, die dem Einzelnen seine Normalität versichern. Der einzelne Bürger situiert sich demnach selbst innerhalb der Gesellschaft, ohne die Kriterien beurteilen zu können, nach denen seine Zugehörigkeit zu ihr bestimmt wird, indem er „normalistische symbolische Landschaften“ entwirft (Link 1997: 337). Um selbst nicht in Devianz abzurutschen, vergleicht er dabei seine Position stets mit der der anderen und versucht der imaginierten Normalität durch ständigen Abgleich mit einem Sollwert näher zu kommen. Diese Thesen zur disziplinierenden Kraft eines flexiblen Normalismus sind sicherlich von den drei vorgestellten Disziplinierungsdiskursen die unschärfsten. Zunächst bleibt festzuhalten, dass eine Flexibilisierung der Normalitätszonen eine Erweiterung der Freiheitsgrade des modernen Individuums darstellt. Es bleibt aber auch hier nach den versteckten Normalisierungsaufforderungen zu suchen, mit der der Einzelne durch eine solche Flexibilisierung konfrontiert wird. „Ein Individuum, das in sich zu einer bestimmten Zeit alle Eigenschaften des Durchschnittsmenschen vereint, würde zugleich alles Große, Schöne und Außergewöhnliche repräsentieren […]. In dieser Weise ist es ein großer Mann, ein großer Dichter, ein großer Künstler“ (Quetelet 1838).
Mit dem Durchschnittsmenschen verband Quetelet eine Hoffnung auf Emanzipation, auf Optimierung. Der Durchschnittsmensch versprach einen Fortschritt der Menschheit. Im vorliegenden Abschnitt haben wir versucht zu zeigen, dass der Durchschnittsmensch eine Reaktion auf die Individualisierung darstellt, die seit dem 19. Jahrhundert vermehrt – wenn auch mit anderen Begrifflichkeiten – konstatiert wurde. Der Durchschnittsmensch sollte eine Orientierung sein, in einer
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Zeit, in der die klaren Zentren verloren zu gehen scheinen. Der Durchschnittsmensch sollte aber vor allem auch als Disziplinierungsinstrument zu geschichtlichem Wirken gelangen. Dies wird besonders deutlich, indem man die Idee von Quetelet zum BMI auf ihre Implikationen hin untersucht. Es zeigt sich: Der Durchschnitt ist eine normalisierende Annahme, die dem einzelnen Individuum als objektives Kontrollbild entgegentritt, an dem es sich freiwillig aber dennoch akribisch selbst anzugleichen versucht. Der Durchschnitt dient der Kontrolle, nicht der Emanzipation. Und so stellt sich auch hier die Frage: Wäre ein anderes Denkmuster als das in den Kategorien von Zentrum und Peripherie, und nichts anderes als deren Derivate sind der Durchschnitt, das Normale und Anormale, möglich?
4. Teil: Bürgerliche Rechte als Zentrum moderner Gesellschaften Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann
17. Bürgerliche Rechte als integrative Mitte der Gesellschaft
Trotz einer Vielzahl kultureller und struktureller Unterschiede haben moderne Nationalstaaten einen wichtigen Aspekt gemein: Sie regeln die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder durch das Konzept der Staatsbürgerschaft. Den Bürger_innen eines jeweiligen Landes werden aufgrund ihrer Mitgliedschaft innerhalb der national verfassten Einheit unterschiedliche legale, politische und soziale Rechte garantiert (vgl. Marshall 1964). Seit der Französischen Revolution hat sich die Staatsbürgerschaft auf nationaler Ebene zunehmend durchgesetzt. Für die einzelnen Bürger_innen ergeben sich daraus bestimmte Rechte und Pflichten, die ihnen eine formalrechtliche Identität verleihen (vgl. Mackert/Müller 2007: 10-13). Gleichzeitig haben Bürgerrechte aber auch eine symbolische Bedeutung, die auf gemeinsam geteilte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster verweist (vgl. Parsons 1971: 22; Joppke 1999: 6). Die formalrechtliche Achtung des Anderen transportiert also teilweise auch dessen soziale Anerkennung mit. Diese Vorstellung erinnert an Durkheims Konzept der mechanischen Solidarität, die im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierung entsteht. Das intensive und eindeutige Kollektivbewusstsein innerhalb kleiner undifferenzierter Gruppen wird ersetzt durch ein neues abstraktes Gefühl der Zugehörigkeit. In diesem Zusammenhang stellt Durkheim vor allem die Expansion des Rechts und die wachsende Bedeutung von individuellen Verträgen als besonders wichtig heraus. Durch die Sicherung individueller Rechte sowie durch die gesellschaftliche Akzeptanz formaler Regeln – also einer Art Vertragsmoral – wird zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen vermittelt (vgl. Durkheim 1988 [1893]). Bereits Durkheim identifizierte dabei die Anerkennung der individuellen Autonomie als Kern des Wertsystems moderner Gesellschaften (vgl. Durkheim 1986). Dieser Gedanke bildete in den vorigen Kapiteln den Ausgangspunkt, um Formen dezentralisierter Orientierungs- und Norm(alitäts)vorstellungen zu analysieren, deren Dynamik ebenfalls stärker auf ideellen Komponenten denn auf geographisch-materiellen Faktoren beruhte. Dabei ging es auch stets um den Verlust eindeutiger, gesamtgesellschaftlich wirkmächtiger Zentren. Mit der Staatsbürgerschaft, immerhin einer Erfindung der modernen Gesellschaft, existiert jedoch offensichtlich ein integrativer Mechanismus von äußerst großer Reichweite, der auf eigentümliche Art und Weise ideell-normative mit territorialen Aspekten verbindet. In diesem Teil des Buches geht es nun aber D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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weniger darum, einen Beitrag zur theoretischen Debatte des Konzepts der Staatsbürgerschaft zu liefern. Stattdessen wird dieses Modell als eine Möglichkeit diskutiert, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie auf die nationalstaatliche Ebene zu übertragen. In modernen Nationalstaaten, so die Hauptthese dieses Kapitels, können individuelle Bürgerrechte als Zentrum der Gesellschaft interpretiert werden. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens entscheidet die formale Anerkennung eines Menschen als Staatsbürger_in über deren/dessen Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Dies ist nicht auf die rechtliche Teilhabe beschränkt, sondern ermöglicht gewisse Partizipationschancen in allen sozialen Teilbereichen. Zweitens durchdringt das Konzept der Staatsbürgerschaft auch die Alltagsrealität der Beteiligten. Es erzeugt Erwartungen und Pflichten, die die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsstrategien der Akteur_ innen maßgeblich beeinflussen. Mit Rückgriff auf Talcott Parsons’ Konzept der gesellschaftlichen Gemeinschaft wird im Folgenden ein Modell von Zentrum und Peripherie entwickelt, welches die Staatsbürgerschaft als Gravitationspunkt der Gesellschaft herausarbeitet (vgl. Parsons 1966; 1969a; 1971; 2007). Diese theoretische Diskussion wird durch eine empirische Betrachtung der Unruhen (Émeutes) in den Banlieues französischer Großstädte aus dem Jahr 2005 ergänzt. Die mangelnde Teilnahme an gesellschaftlichen Netzwerken, die starke Benachteiligung im Bildungssystem sowie unterschiedliche Mechanismen der Stigmatisierung drängen die Bewohner_innen der Banlieues trotz ihrer formalrechtlichen Anerkennung in die Peripherie der französischen Gesellschaft. Als Ursache für die wachsende Unzufriedenheit dieser Gruppe, erkennbar etwa in den gewaltsamen Unruhen im Jahr 2005, wird eine steigende Diskrepanz zwischen den gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen und der aktuellen Situation identifiziert. Durch die formale Akzeptanz als französische Staatsbürger_innen, so der Leitgedanke, fühlen sich die Bewohner_innen der Banlieues als Teil der französischen Gesellschaft, wodurch hohe Erwartungen erzeugt werden. Diese werden jedoch nur teilweise realisiert, was Unzufriedenheiten und Spannungen erzeugt, die sich immer wieder in gewaltsamen Protesten entladen. Dies unterstützt die Annahme, dass Bürgerrechte als neue gesellschaftliche Mitte gedacht werden können.
18. Zentrum und Peripherie in modernen Nationalstaaten
In den vorangegangenen Kapiteln wurde dargelegt, wie im Zuge der fortschreitenden funktionalen Differenzierung und Individualisierung allumfassende lokale Zentren an Relevanz verlieren. Die regionale Konzentration unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionen nimmt im Zuge der Modernisierung tendenziell ab. In diesem Zusammenhang wurde auf die besondere Bedeutung ideeller Zentren hingewiesen, die nach dem Zusammenbruch traditioneller Ordnungssysteme entstanden und in unterschiedlicher Weise diskursiv verankert sind. Im Anschluss daran wurde die Bedeutung des Individuums als neues ideelles Zentrum herausgearbeitet. Das Individuum als Zentrum moderner Gesellschaften zu denken, stellt die soziologische Theorie vor neue Herausforderungen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich individuelle Freiheiten und Interessen institutionell absichern und gleichzeitig mit einer neuen Form von Solidarität verbinden lassen. Diese Thematik wurde mit der Diskussion Durkheims im vorangegangenen Teil bereits angeschnitten und wird in diesem Kapitel fortgeführt und ausgeweitet. Auf Basis von Parsons’ Modell der gesellschaftlichen Gemeinschaft wird dargestellt, wie und warum staatsbürgerliche Rechte sinnvoll als Zentrum der Gesellschaft gedacht werden können. Dabei wird Parsons’ Konzept der gesellschaftlichen Gemeinschaft im Rahmen seiner allgemeinen theoretischen Überlegungen hergeleitet, um die damit verbundenen Annahmen und Schlussfolgerungen besser einordnen zu können. 18.1 Der Wert- und Normenkomplex Die Analyse funktional differenzierter Gesellschaften ist ein zentrales Anliegen Talcott Parsons’. Ausgangspunkt seines Ansatzes ist die so genannte voluntaristische Handlungstheorie, in der er versucht, positivistische und idealistische Erklärungsmodelle miteinander zu verbinden (vgl. Parsons 1968: 43-86; Münch 1988: 233-252; 2004: 43-55). Für Parsons ist soziales Handeln maßgeblich durch eine Vermittlung zwischen Werten/Normen und unterschiedlichen situativen Bedingungen gekennzeichnet. Der/Die Akteur_in orientiert sich an allgemeinen Prinzipien und bezieht gleichzeitig die situativen Gegebenheiten, in Form ständig veränderbarer Interessen und anderer Umweltbedingungen, mit ein. Normen D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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und Werte sind daher die stabilen und dauerhaften Aspekte der Handlung, während die Situation die veränderbare und dynamische Komponente darstellt. Diese Unterscheidung findet sich in Parsons Systemtheorie in Form der Achse ‚intern/extern’ wieder. ‚Intern’ sind diejenigen Funktionssysteme, die sich auf das Arrangieren und Organisieren von Leistungen im Hinblick auf die Stabilisierung des Gesamtsystems konzentrieren. Systeme, die mit der Regulierung der Außenbeziehungen zu tun haben, werden der Kategorie ‚extern’ zugeordnet (vgl. Parsons 1971: 10-11; Luhmann 2008: 22). Innerhalb des Sozialsystems erhalten das sozial kulturelle System sowie die gesellschaftliche Gemeinschaft die Ausprägung ‚intern’. Das sozial kulturelle System enthält die institutionalisierten kulturellen Muster, die einen allgemeinen symbolischen Bezugsrahmen abstecken, wodurch die Funktion des Erhalts latenter Strukturen erfüllt wird (L). In der gesellschaftlichen Gemeinschaft sind konkrete Normen und Regeln institutionalisiert, die das weitgehend reibungslose Zusammenleben unterschiedlicher Mitglieder der Gesellschaft ermöglichen, weshalb dort die Funktion der Integration (I) im Vordergrund steht. Die Politik erhält die Funktion der Zielerreichung (G), da hier unterschiedliche Interessen in kollektiv bindende Entscheidungen transformiert werden. In der Wirtschaft geht es um die Allokation knapper Güter, was eine starke Anpassung (A) an die situativen Bedingungen der Umwelt erforderlich macht. Diese vier Funktionen sind Teil der so genannten Bedingungs-Steuerungshierarchie (AGIL). An einem Ende der Skala (L) herrscht ein hohes Maß an Kontrolle und Erwartungssicherheit, weshalb von hier aus eine symbolische Steuerung des Gesamtsystems geleistet wird. Das andere Ende der Skala (A) ist durch die Dynamik ständig veränderbarer Bedingungskonstellationen gekennzeichnet, an die sich das Gesamtsystem anpassen muss, um seine Stabilität zu bewahren (vgl. Parsons 1976: 171-177; Münch 2004: 70-91). Es findet also eine Zweiteilung des Gesamtsystems Gesellschaft statt. Einem Teil fällt die interne Steuerung und Kontrolle zu, während der andere Teil die Beziehungen zur Umwelt ermöglicht. Symbolische und rechtliche Rahmenbedingungen formen somit den stabilen und dauerhaften Kern der Gesellschaft, der gegenüber schnellen und tiefgreifenden Wandlungsprozessen sehr widerstandsfähig ist. Werte und Normen können daher vorerst als diejenigen strukturellen Elemente interpretiert werden, die in Parsons’ Ansatz das Zentrum der Gesellschaft bilden. Diese Strukturen manifestieren sich in Prozessen sozialen Handelns, beispielsweise in einer Interaktion zwischen Lehrer und Schüler. Die Akteur_innen orientieren sich dabei an institutionalisierten Rollen, wie etwa der Autoritätsposition des Lehrers, die einen allgemeinen Deutungs- und Handlungsrahmen absteckt. Die Analyse der Reproduktionsprozesse gesellschaftlicher Strukturmuster durch Handlungen, die sich
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innerhalb dieser Strukturen ereignen, ist ein zentrales Charakteristikum funktionalistischer Erklärungen. Für Parsons ist die funktionalistische Analyse daher immer zuerst eine Analyse der Struktur. Er definiert Werte, Normen, Kollektive und Rollen als die zentralen Elemente dieser Struktur. Diese vier Komponenten lassen sich grob auf die Funktionen des AGIL-Schemas übertragen. Die Reihenfolge der vier Aspekte deutet auf die zunehmende Spezifikation allgemeiner Werte sowie auf deren symbolische Steuerungsfunktion hin. Normen sind Spezifikationen allgemeiner Prinzipien und geben konkrete Regeln vor. Diese Regeln werden innerhalb unterschiedlicher Kollektive oder Organisationen abhängig von deren jeweiligen Ziel weiter konkretisiert. Rollen sind normativ gesteuerte Verhaltenskomplexe, die sich aufgrund der Mitgliedschaft in unterschiedlichen Organisationen ergeben und die Beziehungen zwischen Interaktionspartner_innen, wie etwa zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen, steuern. Da Akteur_innen aufgrund der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Gruppen verschiedene Rollen innehaben, erfüllen diese vor allem die Funktion der situativen Anpassung (vgl. Parsons 1966: 18-21; 1976: 171-177). Edward Shils (1961), ein Schüler von Parsons, hat die eben dargestellten Überlegungen explizit in das Konzept von Zentrum und Peripherie eingebettet. Shils definiert das Zentrum der Gesellschaft wie folgt: „The centre, or the central zone, is a phenomenon of the realm of values and beliefs. It is the centre of the order of symbols, of values and beliefs, which govern the society. It is the centre because it is the ultimate and irreducible; and it is felt to be such by many who cannot give explicit articulation to its irreducibility. The central zone partakes of the nature of the sacred” (ebd.: 117).
Das geteilte Deutungs- und Wertesystem wird hier als symbolisches Zentrum interpretiert, dem eine steuernde Funktion zukommt. Es handelt sich dabei um allgemeine Prinzipien, die nicht auf bestimmte Situationen reduzierbar sind. Das Zentrum wird unbewusst anerkannt, gilt als unhinterfragbar und heilig im Sinne Durkheims (vgl. Durkheim 1981 [1912]). Neben diesem Modell kommt jedoch bei Shils noch eine andere Vorstellung von Zentrum und Peripherie zum Tragen. Er weist darauf hin, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsysteme aus einem Netzwerk von Organisationen bestehen. Innerhalb dieser Organisationen gibt es jeweils bestimmte Eliten, die auf Basis systemspezifischer Standards Entscheidungen treffen.44 Diese Standards interpretiert Shils (1961: 118) in An44 Somit lässt sich sagen, dass die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie bei Shils im Ansatz bereits auf Funktionssysteme übertragen wird, wenngleich der Aspekt der systemübergreifenden Unterscheidung klar im Vordergrund steht. Die Differenzierung von Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme wird im nächsten Teil des Buches genauer dargestellt.
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lehnung an Parsons als eine Konkretisierung allgemeiner systemübergreifender Werte. Sie werden also nicht als autonome systemspezifische Codes verstanden. Stattdessen existieren allgemeine Prinzipien, die die unterschiedlichen Operationsmodi miteinander verbinden. Während das Zentrum oder die Zentren, im Sinne der unterschiedlichen Eliten innerhalb der jeweiligen Funktionssysteme, die Kontrolle bestimmter Funktionen innehaben, ist die Peripherie der Teil der Gesellschaft, über den diese Kontrolle ausgeübt wird. Shils (ebd.: 124) geht daher davon aus, dass die Verinnerlichung des Wertmusters und der damit einhergehende Konsens im Zentrum am größten sind und in Richtung Peripherie sukzessive abnehmen. Dies zeigt, dass mit der Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie auch ein Moment der hierarchischen sozialen Differenzierung mitschwingt. Die unterschiedlichen Eliten sind in die Spezifikation normativer Prinzipien eingebunden. Dadurch spiegeln konkrete Regeln tendenziell die Interessen und Vorstellungen dieser Gruppen stärker wider als die der peripheren Akteur_innen. Die fortschreitende Modernisierung, vor allem der Prozess der Demokratisierung, ermöglicht jedoch eine immer weiter reichende Partizipation aller Bevölkerungsschichten innerhalb der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche. Dies hat zur Konsequenz, dass immer größere Teile der Bevölkerung die zentralen Wertmuster verinnerlichen und an der kollektiven Willensbildung beteiligt sind. Dadurch werden normative Prinzipien aber auch immer häufiger in Frage gestellt (vgl. ebd.: 125). Das Maß kritischer Reflexion nimmt sukzessive zu und der Anteil des Unhinterfragbaren schrumpft zunehmend. Symbolische Zentren scheinen sich also gerade dann zu verflüchtigen, wenn sie ihre Wirkmächtigkeit für große Bevölkerungsgruppen gewinnen. Dies ist, wie bereits angedeutet, mit dem Prozess der Modernisierung verbunden – vor allem mit der fortschreitenden funktionalen Differenzierung, der sozialkulturellen Pluralisierung und Individualisierung. Der Aspekt der funktionalen Differenzierung verweist auf die zunehmende Bedeutung der Eigenlogik unterschiedlicher Teilsysteme und ist am schärfsten von Luhmann (1997a: 595775) herausgearbeitet worden. Durch diesen Prozess werden Individuen aus dem Zwang einzelner sozialer Gruppen befreit und genießen neue Freiheiten im Schnittpunkt sozialer Kreise (vgl. Simmel 1908: 305-344). Mit sozialkultureller Pluralisierung ist die Entstehung einer Vielzahl neuer Deutungsmuster und Lebensstile gemeint, die sich aufgrund des Zusammenbruchs traditioneller Ordnungs- und Sinnsysteme sowie der neu gewonnen Freiheit des Individuums entwickeln können. Jürgen Habermas (1981) hat diese drei Aspekte aufgenommen und theoretisch verarbeitet. Laut Habermas kommt es im Zuge der gesellschaftlichen Rationalisierung zu einer Versprachlichung des Sakralen (vgl. ebd.: 118-141). Unter
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Rückgriff auf Durkheim zeigt er, wie sich die sakrale Moral im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr verflüssigt. Die Autorität des heiligen normativen Kerns verliert zunehmend ihre Bindung und geht schrittweise in einen Prozess der demokratischen Konsensfindung über. Moralische Grundlagen werden dabei immer abstrakter, wobei als Endstadium eine Art Legitimation durch Verfahren gesetzt wird, in der vor allem dem Recht eine besondere Bedeutung zukommt. Für Habermas sind es der herrschaftsfreie Diskurs sowie die Demokratie als Staatsform, die das neue Fundament der moralischen Ordnung bilden. Aus einer Glaubensgemeinschaft, die eine Art totale Institution darstellt, entsteht eine Kommunikationsgemeinschaft, in der traditionelle Normen zunehmend problematisiert werden können. Die wichtigsten Veränderungen, die mit diesem Prozess verbunden sind, lassen sich in drei Punkten zusammenfassen: erstens die Verdrängung des sakralen Wissens, also eine zunehmend rationale, reflexive Einstellung gegenüber der Tradition; zweitens die Trennung zwischen Legalität und Moralität, was bedeutet, dass Werte und Normen immer universeller und abstrakter werden und somit von den Interaktionsteilnehmer_innen selbst spezifiziert werden müssen. Traditionelle Wertsysteme werden durch formale Rechtssätze ersetzt, wodurch das Recht zum zentralen Mechanismus sozialer Integration avanciert. Drittens kommt es zur Ausbreitung des für die Moderne typischen Individualismus, durch den das autonome Subjekt und dessen Selbstverwirklichung stärker in den Vordergrund rücken (vgl. ebd.: 164). Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit treten auseinander und entwickeln sich zu eigenen Teilbereichen. Dies zeigt sich z.B. im Verhältnis zwischen Kultur und Gesellschaft durch die Trennung von Staat und Kirche. In diesem Kontext kommt es zur Entkopplung von System und Lebenswelt. Die Rationalisierung und interne Differenzierung der Lebenswelt dient dabei quasi als Ausgangspunkt der fortschreitenden funktionalen Differenzierung.45 Bei der Entstehung von funktionalen Teilsystemen ist vor allem die Institutionalisierung spezifischer Kommunikationsmedien von entscheidender Bedeutung. In den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären wird nun nicht mehr mittels Sprache, sondern mittels systemeigener Medien kommuniziert. Die Lebenswelt ist somit der einzige Ort verständigungsorientierten Handelns geworden, während die Systeme dieser als weitgehend normfreie Bereiche gegenüberstehen (vgl. ebd.: 229-257). Der Begriff der Entkopplung oder Differenzierung bringt zum Ausdruck, dass in modernen Gesellschaften die Lebenswelt nur noch einen Teilbereich darstellt, während sie in früheren Entwicklungsstufen die ganze Gesellschaft um45 Genauer müsste man wohl von einer Wechselwirkung zwischen lebensweltlicher Rationalisierung und Entkopplung von System und Lebenswelt sprechen.
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spannt. Denkt man dieses Argument konsequent zu Ende, scheint es problematisch, noch von einer gesamtgesellschaftlichen Mitte zu sprechen, selbst wenn es sich dabei um ein diskursives Verfahren handelt. Habermas (1981: 489-547) verdeutlicht die besondere Schärfe dieses Problems, wenn er auf die Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systeme hinweist. Die funktionalen Teilsysteme werden nicht nur nicht mehr durch die Lebenswelt gesteuert, sondern beherrschen diese teilweise nach jeweils spezifischen Imperativen. Habermas’ Entkopplungs- sowie seine Kolonialisierungsthese können als überspitzte Darstellung der Probleme der funktionalen Differenzierung und Rationalisierung interpretiert werden. In diesem Kapitel nehmen wir jedoch an, dass kulturelle Wertvorstellungen und vor allem das Recht nach wie vor als systemübergreifende Deutungs- und Ordnungsmodelle dienen und die unterschiedlichen sozialen Felder durchdringen. Auch Habermas weist auf die besondere Qualität des Rechts als Vermittlungsinstanz zwischen System und Lebenswelt hin: „Mit den über Steuerungsmedien ausdifferenzierten Subsystemen schafften sich die systemischen Mechanismen ihre eigenen, normfreien, über die Lebenswelt hinausreichenden Sozialstrukturen. Diese bleiben freilich über die Basisinstitution des bürgerlichen Rechts mit der kommunikativen Alltagspraxis rückgekoppelt“ (ebd.: 275).
Insgesamt verweist Habermas vor allem auf die besondere Bedeutung des demokratischen Staates, des Rechts und der Autonomie des Individuums in modernen Gesellschaften. Durch den Diskurs orientiert an kommunikativer Rationalität sollen rechtliche Grundlagen moralisch rückgebunden sein. Der normative Kern wird also durch einen Prozess ersetzt, der sich im Idealfall durch gleiche Partizipationschancen aller auszeichnet. 18.2 Staatsbürgerschaft als Zentrum moderner Nationalstaaten Auch Parsons erkannte die eben beschriebenen Veränderungsprozesse, verknüpfte sie jedoch durch ein weniger abstraktes und idealisiertes Modell mit dem Problem der sozialen Integration. Im Anschluss an Durkheim weist Parsons (1971: 26-27) darauf hin, dass es im Zuge der fortschreitenden Modernisierung nicht zu einer Erosion allgemeiner normativer Prinzipien, sondern vielmehr zu einer Wertegeneralisierung kommt. Dies ermöglicht es, allgemeine Werte auf spezifische Situationen sowie auf unterschiedliche soziale Teilsysteme zu übertragen. Auf der anderen Seite können diese kaum mehr als wirkmächtige symbolische Zentren gedacht werden. In der Alltagsrealität blitzen Grundideen, wie etwa die formale Gleichheit, zwar immer wieder auf, sie geben den Menschen jedoch kaum mehr konkrete Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle
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vor. Das Gleiche gilt für unterschiedliche soziale Felder, die sich im Zuge der wachsenden Bedeutung formaler Organisationen und professioneller Berufsgruppen mehr und mehr nach systeminternen Logiken entwickeln. Wie bereits angedeutet, postulieren wir in diesem Abschnitt sowohl eine gesamtgesellschaftliche als auch die individuelle Bedeutung der ‚Mitte der Gesellschaft‘. Auf der Makroebene müssen funktionale Teilsysteme sowie unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in ein integriertes Ganzes transformiert werden. Auf der Akteursebene besteht das Problem darin, eine Gesellschaft von Fremden (vgl. Simmel 1908: 509-512) in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Es wird daher angenommen, dass es einen zentralen Mechanismus gibt, der hinsichtlich der Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle aller Mitglieder eine besondere Rolle spielt. In Parsons’ Theorie werden die eben geschilderten Aufgaben innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft gelöst (vgl. Parsons 1966; 1969a; 1971; 2007). Mit diesem Modell lehnt sich Parsons an ein traditionelles Begriffspaar der soziologischen Theorie an, das von Ferdinand Tönnies (1963) entwickelt wurde. Letzterer wies dabei auf die steigende Bedeutung ideeller Zentren im Übergang von der Gemeinschafts- zur Gesellschaftsordnung hin. Aus der Gemeinschaft des Blutes wird Schritt für Schritt eine Gemeinschaft des Geistes, die sich von festgeschriebenen verwandtschaftlichen Beziehungen löst (vgl. ebd.: 14-16). Auch Helmut Plessner (2001), der in Grenzen der Gemeinschaft die besondere Bedeutung der Gesellschaft für die Entfaltung der individuellen Autonomie hervorhebt, betont die Notwendigkeit einer Sachgemeinschaft des Geistes (vgl. ebd.: 92). Diese drückt sich laut Plessner durch ein geteiltes Wert- und Normsystem aus, das in Form des Rechts institutionalisiert ist. Im Vergleich zu traditionellen Sozialordnungen zeichnet sich die Sachgemeinschaft laut Plessner vor allem durch ihren universalistischen Charakter aus. Die Frage, die sich dabei jedoch stellt, ist, wie sich im Kontext der sozialen sowie funktionalen Differenzierung und Individualisierung noch ein gesamtgesellschaftliches Kollektivbewusstsein herstellen lässt. Durkheim (1988 [1893]) verdeutlichte bereits in seiner Studie zur Arbeitsteilung, dass die Gesellschaft als Kollektiv zu weit vom Individuum entfernt ist, um es normativ integrieren zu können. Gleichzeitig bringt er jedoch die Hoffnung zum Ausdruck, dass Berufsgruppen, also Organisationen, diesen integrativen Part zumindest teilweise übernehmen können (vgl. ebd.: 41-75). Im Unterschied zu Durkheim sieht Parsons die Lösung des Problems nicht in den Berufsgruppen. In modernen Gesellschaften stehen sich aufgrund der Vielzahl von Mitgliedschaften in Organisationen unterschiedliche konkurrierende Loyalitäten gegenüber. Um auf gesamtgesellschaftlicher Ebene für Integration zu sorgen, muss die Gesellschaft daher nach wie vor als ein einziges Kollektiv organisiert sein. Dieses Kollektiv, das sich laut Parsons im Nationalstaat mani-
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festiert, erhält den Namen ‚gesellschaftliche Gemeinschaft’ und wird von ihm selbst als Zentrum der Gesellschaft bezeichnet (vgl. Parsons 1966: 10; 1971: 1112). Die gesellschaftliche Gemeinschaft erfüllt die Funktion der normativen Integration und basiert wie jedes andere Kollektiv auf Mitgliedschaft. Das Recht fungiert als Repräsentant der sozialen Ordnung und ist über die Verfassung an das allgemeine Wertesystem gekoppelt. Wie in jeder anderen Gruppe müssen die Akteur_innen zur Partizipation innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft motiviert werden. Dies geschieht durch die Zuweisung des Mitgliedsstatus in Form der Staatsbürgerschaft, mit dem bestimmte Rechte und Pflichten verbunden sind. So entstehen Erwartungen sowie Verpflichtungen, die direkt an die Alltagsrealität der Akteur_innen anknüpfen. Die Staatsbürgerschaft ist Basis einer neuen Form der sozialen Identität und Solidarität. Gleichzeitig ermöglichen universelle Rechtssätze die Spezifikation des Rechts auf unterschiedliche Felder und Gruppen (vgl. Parsons 1966: 9-18; 1971: 8-26; Joppke 1999: 6; Sciortino 2005: 111-116). Um den Aspekt der Mitgliedschaft schärfer herauszuarbeiten, greift Parsons auf Thomas H. Marshalls (1964) Konzept der Staatsbürgerschaft zurück. Staatsbürgerschaft beinhaltet demnach drei Komponenten: bürgerliche, politische und soziale Rechte. Das erste Element betrifft die Definition sowie die Garantie allgemeiner Rechte, etwa der Freiheitsrechte oder des Eigentumsrechts. Die politische Kategorie beinhaltet die Möglichkeit, sich an der kollektiven Entscheidungsfindung zu beteiligen. Der soziale Aspekt ist als eine Art Recht auf Wohlfahrtsleistungen zu verstehen (vgl. Parsons 1969a: 258-261). Das erste Element verweist auf die Anerkennung des/der Anderen als Rechtsperson. Der Aspekt der aktiven politischen Partizipation deutet darauf hin, dass Legitimation nun nicht mehr per se besteht, sondern immer nur dann vorhanden ist, wenn kollektive Entscheidungen im Rahmen eines spezifischen Verfahrens stattfinden. Das Modell der Staatsbürgerschaft trägt also der Wertegeneralisierung, der Legitimation durch Verfahren sowie der individuellen Autonomie Rechnung. Soziale Rechte in Form von Wohlfahrtsleistungen sollen dafür sorgen, dass grobe strukturelle Benachteiligungen aufgehoben werden und somit jede/r Bürger_in Gebrauch von ihren/seinen Rechten machen kann. Zusätzlich zu diesen drei Komponenten betont Parsons, dass kulturelle Rechte, vor allem das Recht auf Bildung, für die gesellschaftliche Integration von besonderer Bedeutung sind (vgl. Parsons/Platt 1973; Mackert/Müller 2007: 13). Durch den Fokus auf individuelle Bürgerrechte werden verwandtschaftlich geregelte Solidaritätsbeziehungen zunehmend von vertraglichen Beziehungen verdrängt. Dies führt zur Entstehung einer neuen Form der Solidarität, die primär auf der freiwilligen Mitgliedschaft in unterschiedlichen Organisationen beruht
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(vgl. Parsons 1969a: 258). Soziales Kapital 46 ist nicht länger eine konstante Größe innerhalb geschlossener Gruppen, sondern wird verallgemeinert und für alle Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft zugänglich. Generalisiertes Vertrauen wird dadurch zur Schlüsselvariablen der sozialen Integration. Diese Form des Vertrauens wird durch die gruppenübergreifende Mitgliedschaft in freiwilligen Vereinigungen produziert und erneuert (vgl. Hearn 1997: 97-134; Wenzel 2005). Die abstrakte Solidarität gegenüber dem Nationalstaat wird somit durch die soziale Einbindung in eine Vielzahl von freiwilligen Vereinigungen ergänzt. Parsons passt also Durkheims Hoffnung auf die Berufsgruppen an den amerikanischen Kontext an, in dem lokale Organisationen schon immer eine besondere Rolle hinsichtlich der sozialen Integration gespielt haben (Tocqueville 1985: 78100; Münch 1993: 383-389). Zusammen bilden bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte den Kern moderner Nationalstaaten. Hinter diesem Konzept verbirgt sich die Idee der Chancengleichheit als universalistischer Mechanismus sozialer Integration. Soziale und kulturelle Rechte dienen dabei vor allem dazu, die Bedingungen der Chancengleichheit herzustellen. Individuelle Bürgerrechte, so die These, durchdringen alle gesellschaftlichen Teilbereiche, wie die Politik, die Wirtschaft sowie das Bildungssystem. In jedem dieser Felder müssen die Partizipationsmöglichkeiten aller Mitglieder nach dem Prinzip der Chancengleichheit garantiert werden, um die nötige Akzeptanz oder Legitimität zu erhalten. Individuelle Bürgerrechte lassen sich daher als gesamtgesellschaftliches Zentrum denken, das die Peripherie, in Form der unterschiedlichen sozialen Felder, mit Konsensanforderungen konfrontiert. Gleichzeitig bildet die Staatsbürgerschaft den Kern einer gesellschaftlichen Gemeinschaft, die neben der formalrechtlichen Identität auch den Moment der sozialen Identifikation und Zugehörigkeit beinhaltet. Individuelle Bürgerrechte lassen sich hier als rechtliches und symbolisches Zentrum denken, welches für die Peripherie, also für die einzelnen Staatsbürger_innen, als wichtige Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsorientierung dient. Dabei herrscht im Idealfall ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis. Personen innerhalb des national verfassten Territoriums werden unter bestimmten Vorraussetzungen als Staatsbürger_innen anerkannt und akzeptieren gleichzeitig die damit verbundenen Anforderungen.
46 Mit sozialem Kapital sind nicht nur soziale Netwerke gemeint, sondern vor allem die damit verbundene Möglichkeit, Vertrauen und Kooperation innerhalb einer Gemeinschaft zu erzeugen und zu erneuern. Dieses Verständnis sozialen Kapitals ist vor allem in den USA sehr geläufig. Das Ausmaß bürgerschaftlichen Engagements wird hier häufig als Gradmesser sozialer Integration verwendet (vgl. Putnam 1995a; 1995b; 2000; Bennett 1998).
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Auf Basis dieser Unterscheidung lassen sich auch gesellschaftliche Gruppen hinsichtlich ihrer staatsbürgerschaftlichen Partizipationschancen nach dem Modell von Zentrum und Peripherie unterscheiden.47 Der integrierte Kern der Gesellschaft zeichnet sich durch eine starke Identifikation mit den staatsbürgerschaftlichen Pflichten sowie durch ein hohes Maß an Rechtskonformität aus. Gleichzeitig verfügt er über alle staatsbürgerlichen Rechte und genießt ausreichende Partizipationschancen, um diese auch tatsächlich wahrnehmen zu können. Der rechtlich und sozial anerkannten Kerngruppe steht die marginalisierte Peripherie gegenüber. Doch auch für sie bildet die Idee der Staatsbürgerschaft ein wirkmächtiges symbolisches Zentrum. Die Ideale der Chancengleichheit und universellen Integration wecken Erwartungen, mit denen randständige Gruppen das Zentrum konfrontieren (vgl. Mackert/Müller 2007: 13-14). In diesem Zusammenhang hebt Parsons (1971: 16) die Bedeutung der Gerichte sowie der rechtlichen Berufsgruppe hervor. Das Rechtssystem sowie kulturelle Institutionen und Organisationen (z.B. Schulen und Universitäten) können von ausgegrenzten Gruppen genutzt werden, um von der Peripherie ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken. Aus diesem Grund bewegen sich gesellschaftliche Konflikte tendenziell von der wirtschaftlichen und politischen Dimension in Richtung der rechtlichen und kulturellen Sphäre (vgl. Parsons 1971: 14; Alexander 2005: 99). Parsons (1969a) analysiert diesen Prozess für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Hier arbeitet er das universalistische Inklusionsversprechen und die faktische Exklusion von Afroamerikaner_innen als zentrale Ursache des Konflikts heraus. Er schreibt: „Such movements tend to gather strength as strains or conflicts between normative requirement of inclusion and the factual limitation on it are translated into pressure to act. […] The ultimate social grounding of the demand for inclusion lies in the commitment to the values that legitimize it” (ebd.: 264).
Die Bürgerrechtsbewegung in den USA erzwang die Durchsetzung gleicher bürgerlicher Rechte durch parlamentarische Rechtsklagen, die vor allem ab den 50er-Jahren zu großen Erfolgen führten. Daraufhin veränderte sich schrittweise die öffentliche Meinung und es kam zu einer Reihe von politischen Reformen, die vor allem der Durchsetzung der neuen Rechtssetzung dienten. Dabei wurde unter anderem das Recht der politischen Partizipation für Afroamerikaner_innen gesichert. Anschließend wurden soziale und kulturelle Rechte in Form der so genannten ‚Affirmative Action’-Programme initiiert, um strukturelle Ungleich47 Wir schließen im letzten Teil des Buches an diese Überlegungen an, wenn es um die Marginalisierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in der Europäischen Union geht. Siehe Kapitel 29.
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heiten zu beseitigen (Münch 1993: 439-451; Wilson/Dilulio 2006: 124-149). Der universelle Anspruch der vollen Staatsbürgerschaft war der zentrale Orientierungsrahmen dieser Bewegung. Durch den Verweis auf dieses Grundprinzip erhielt die Bewegung ihre Legitimität und breite Unterstützung innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft der USA. 18.3 Analytischer Gehalt des Modells Bisher wurden bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte als gesamtgesellschaftliches Zentrum moderner Nationalstaaten herausgearbeitet. Bürgerliche und politische Rechte bringen dabei das Prinzip der Chancengleichheit zum Ausdruck, soziale und kulturelle Rechte dienen der Herstellung und Wiederherstellung der Chancengleichheit bei starken strukturellen Ungleichheiten. Der universelle Charakter individueller Bürgerrechte ermöglicht die Entstehung grenzübergreifender Netwerke freiwilliger Vereinigungen, wodurch Vertrauen und Solidarität in der täglichen Interaktion erzeugt und reproduziert werden kann. Dadurch entwickelt sich eine gesellschaftliche Gemeinschaft jenseits partikularer Loyalitäten. Da die Mitgliedschaft innerhalb der Gesellschaft durch die Staatsbürgerschaft geregelt wird, ist es sinnvoll, die damit verbundenen Rechte als Zentrum der Gesellschaft zu interpretieren. Diese Rechte verbinden unterschiedliche soziale Felder und durchdringen die Alltagsrealität aller Mitglieder. Das Beispiel der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zeigt, dass sich die hier dargestellte Vorstellung von Zentrum und Peripherie sehr gut für die Analyse gesellschaftlicher Konflikte und sozialen Wandels eignet. Im Folgenden wird ein aktueller Konflikt, nämlich die Unruhen in den französischen Vororten unterschiedlicher Städte, den so genannten Banlieues, unter Verwendung dieses Konzepts untersucht. Am Beispiel der französischen Banlieues werden wir verdeutlichen, dass das Modell der Staatsbürgerschaft als wirkmächtiges symbolisches Zentrum interpretiert werden kann. Dabei dient das von Robert K. Merton (1996a) ausgearbeitete Modell der strukturellen Spannungen als zusätzliche Erklärungshilfe. Laut Merton sind strukturelle Spannungen eine wichtige Ursache abweichenden Verhaltens. Er weist darauf hin, dass nicht nur die absolute Unzufriedenheit, sondern auch die Relation zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und der tatsächlichen Situation berücksichtig werden muss. Die Diskrepanz zwischen gesellschaftlich institutionalisierten Zielen und der Realisation dieser Ziele erzeugt Unzufriedenheit und einen enormen Handlungsdruck. Dieser äußert sich häufig in abweichendem Verhalten, vor allem dann, wenn legitime Mittel der Zielerreichung nicht zugänglich sind.
19. Émeutes in den Banlieues – der Weg ins Zentrum ?
Im Oktober und November 2005 kam es in den Vororten von Frankreichs Großstädten wie Paris, Toulouse, Lyon zu gewalttätigen Ausschreitungen von Jugendlichen (Émeutes48) von beträchtlichem Ausmaß. Jugendunruhen sind in Frankreichs Banlieues49 kein neues Phänomen. Bereits in den 1980er und 1990erJahren fanden – vorwiegend in den Regionen um Lyon und Paris – größere Unruhen und Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und Gruppen von Jugendlichen statt (vgl. Lagrange 2006). Die Émeutes im Herbst 2005 können aber aufgrund ihrer Intensität und der anhaltenden nationalen und internationalen Aufmerksamkeit, die sie generierten, als symptomatisch für tiefgreifende soziale Spannungen in den Banlieues gedeutet werden. Auslöser war der Unfalltod zweier Jugendlicher mit Migrationshintergrund, die sich am 27. Oktober 2005 in ein Transformatorengebäude flüchteten, um einer Identitätskontrolle durch die Polizei zu entkommen, und dort einen tödlichen Stromschlag erlitten (vgl. Eckardt 2007: 32-33).50 In Reaktion auf dieses Ereignis zündeten Jugendliche aus dem Ort Clichy-sous-Bois, in dem die beiden Verstorbenen gelebt hatten, bereits am selben Abend mehrere Fahrzeuge an. Trotz eines friedlichen Schweigemarsches als Mahnung und Demonstration gegen willkürliche Polizeikontrollen am 29. Oktober in Clichy hielten die nächt48
Im Folgenden wird überwiegend der französische Begriff Émeutes für die Geschehnisse von 2005 verwendet, da dieser die deutschen Bezeichnungen Aufruhr, Ausschreitung, Krawall, Unruhe und Tumult vereint und somit größeren Interpretationsspielraum bietet. 49 Der Begriff Banlieue stammt ursprünglich aus dem Altfranzösischen und kann wortwörtlich mit dem deutschen Wort Bannmeile übersetzt werden (le ban = der Bann; la lieue = die Meile). Der Begriff entstand im 17. Jahrhundert als Bezeichnung für die im damaligen feudal-monarchischem System entstandenen Gebiete rings um eine Stadt (von einer Meile Durchmesser), die noch innerhalb des städtischen Herrschaftsbereichs lagen (vgl. Schmid 2004: o.A.). Heute wird mit Banlieue die Gesamtheit der Vororte einer Großstadt in Frankreich bezeichnet (z.B. la banlieue parisienne). Dieser Interpretation folgen wir in diesem Buch, wobei wir den Plural des Wortes für die Gesamtheit der Vororte verschiedener französischer Großstädte verwenden. 50 Nicht ohne Bedeutung für die darauf folgenden Reaktionen war die medial geführte Auseinandersetzung zwischen dem damaligen Innenminister Nicolas Sarkozy und Bewohner_innen der Banlieue. Im Juni 2005 besuchte Sarkozy die Pariser Vorstadt La Courneuve und drohte, „die verlorenen Territorien der Republik“ (Zitzmann 2005: o.A.) mittels eines „Hochdruckreinigers“ zu säubern (vgl. Wiegel 2008: o.A.). Bei einem weiteren Besuch der Banlieue kurz nach dem Ausbruch der Unruhen bezeichnete er die Jugendlichen als „Gesindel“ (vgl. Eckardt 2007: 33).
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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lichen Unruhen an und breiteten sich innerhalb weniger Tage auf Nachbarbezirke und andere Pariser Vororte aus. 51 Ab dem 3. November erreichten die Émeutes nationale Dimensionen und griffen auf Städte wie Lille, Toulouse, Straßburg und Bordeaux über (Mucchielli 2006: 15). Ziele der nächtlichen Gewalt stellten vor allem Autos, öffentliche Gebäude wie Schulen und Kindergärten sowie soziale Einrichtungen dar. Dabei kam es immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und den Protestteilnehmern, bei denen es sich zumeist um Gruppen männlicher jugendlicher Banlieue-Bewohner mit Migrationshintergrund handelte (Becker 2006). Die Ankündigung politischer Maßnahmen – ein so genanntes Sofort- und Notprogramm der Regierung Villepins sowie die Zusicherung von staatlichen Wiederaufbauhilfen in den betroffenen Gebieten – blieben wirkungslos. Die Ausschreitungen intensivierten sich stetig. Der Tod eines Außenstehenden am 7. November führte schließlich zur Reaktivierung des Notstandsgesetzes durch das Parlament. Dieses wurde zum letzten Mal 1955 im Zuge des Algerienkriegs verhängt. In der darauffolgenden Nacht erreichten die Unruhen sowohl hinsichtlich der materiellen Zerstörung als auch in Bezug auf die Präsenz der Jugendgruppen auf Frankreichs Straßen ihren Höhepunkt. Für die Stadtgebiete von Paris und Lyon wurde im Rahmen der Notstandsgesetze ein Versammlungsverbot ausgesprochen; dies führte jedoch kein Ende der Proteste herbei. Am 17. November, drei Tage nachdem Jacques Chirac in einer Rede an das französische Volk eine Rückbesinnung auf die Werte der Republik anmahnt und den Notstand um drei Monate verlängert hatte, verkündete das Innenministerium die ‚Wiederherstellung der Normalität‘. Insgesamt wurden in der Zeit vom 29. Oktober bis zum 17. November 126 Polizist_innen verletzt, 9.267 Autos zerstört und 2.832 Festnahmen durchgeführt (vgl. Eckardt 2007). Bereits wenige Tage nach dem Beginn der Émeutes begann man auf mehreren Ebenen mit der Ursachenerforschung Diese hat sich inzwischen in verschiedenen Aufsätzen und Abhandlungen niedergeschlagen (vgl. z.B. Hartung 2005; Wieviorka 2005; Becker 2006; Piriot/Majchrzak 2006; Lagrange/Oberti 2006; Wacquant 2004; Mucchielli 2006; Hartmann 2008; Castel 2009). Einige Male taucht dabei der in diesem Buch leittragende Gedanke einer Zentrum-PeripherieKonstellation auf. So äußert z.B. Robert Castel (2009: 104): „Die Peripherie, in Frankreich die Banlieue, stellt damit gleichsam eine Verdichtung von Rassenfrage und sozialer Frage dar, weil die von der einen wie von der anderen am stärksten Betroffenen dort in großer Zahl leben müssen. Dass sich diese Fragen besonders akut an der Peripherie stellen, bedeutet aber nicht, dass es sich um ein peripheres Problem handelt, im Gegenteil. Die in der Banlieue aktuell zu beobachtende Zusammenballung von Formen der Rassen-
51 Zu beachten ist dabei die Tatsache, dass das Innenministerium die entsprechenden Beamten sofort von jeglicher Schuld frei gesprochen hatte.
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diskriminierung und gravierendsten Faktoren sozialer Auflösung bewirkt, dass über der gesamten Gesellschaft die Gefahr der Spaltung schwebt.“
Loïc Wacquant (2004: 156) greift bereits in einem früheren Aufsatz über die Unruhen in Frankreichs Vorstädten auf eine periphere Semantik zurück, wenn er erklärt: „Die verbale Gewalt dieser Jugendlichen wie auch ihr Vandalismus müssen als Antwort auf die sozioökonomische und symbolische Gewalt verstanden werden, der sie sich infolge der Verbannung an einen diffamierten Ort ausgesetzt fühlen.“
Im Anschluss an die vorherigen theoretischen Überlegungen gilt es hier einen Erklärungsansatz für die gewaltsamen Unruhen in den Banlieues zu entwickeln. Paris sowie weitere französische Großstädte werden als Abstraktum und Symbol für ein Zentrum betrachtet, nämlich das der gesellschaftlichen Gemeinschaft, an dem sich die Jugendlichen orientieren und zu dem sie hinstreben. Einem Großteil von ihnen bleibt die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft verwehrt – trotz ihrer rechtlichen Anerkennung als französische Staatsbürger_innen. Wir nehmen an, dass die Diskrepanz zwischen den formalen Bürgerrechten und der tatsächlichen Situation zu strukturellen Spannungen führte, die sich 2005 in Form der beschriebenen gewaltsamen Proteste entluden. Dabei wird die lokale Konzentration sozioökonomischer sowie ethnischer Unterschiede als Hauptursache der gesellschaftlichen Marginalisierung der Bewohner_innen in den Banlieues identifiziert. 19.1 Ursachen für die Émeutes: ein Blick in die Banlieues Die öffentliche Auseinandersetzung mit den immer wieder aufflammenden Émeutes weist ein breites Meinungsspektrum hinsichtlich der Ursachen auf. Einerseits lassen sich groteske monokausale Argumentationen finden, wonach z.B. die, obwohl gesetzlich untersagte, in Frankreich praktizierte PolygamieTradition der Einwanderer_innen aus Westafrika zur Kriminalität der Migrantenkinder geführt habe. Dabei wird erklärend hinzugefügt, dass die Jugendlichen aufgrund des mangelnden (Wohn-)raumes in den Hochhaussiedlungen die meiste Zeit auf der Straße verbrächten und sich dort kriminellen Praktiken zuwenden würden. Der Schriftsteller und Philosoph Alain Finkelkraut wiederum deutet die Unruhen als ethnisch-religiöse Revolten und antirepublikanische Pogrome (vgl. Müller 2006: 47). Auch die Medien tragen zu derartigen Interpretationen bei. Insbesondere die Berichterstattung in Fernsehen, Internet und Zeitungen während und den Herbstunruhen 2005 produzierte bzw. verstärkte diverse Schreckbilder in den Köpfen der Menschen, wie das einer „französischen Vorstadtintifa-
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da“ (ebd.). Diesen und ähnlichen Erklärungsversuchen liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Bewohner_innen der Banlieues ein Werte- und Normensystem vertreten, das nicht zu dem in Frankreich institutionalisierten Modell passt. Dadurch werden sie als nicht-integrierbare moralische Außenseiter_innen deklariert. Andererseits existieren differenzierte soziologische Ursachenergründungen, die Phänomene wie Armut, soziale Unsicherheit, sozioökonomische Diskriminierung und soziale Ausgrenzungserfahrungen als Hauptantriebe für die Émeutes beinhalten (vgl. z.B. Wacquant 2004; Lagrange/Oberti 2006; Mucchielli 2006; Castel 2009). Auf diese unterschiedlichen Analysen wird im Folgenden Bezug genommen, um ein möglichst umfassendes Bild der ‚Banlieue-Situation‘ zu zeichnen. Dabei erfolgt zunächst ein historischer Abriss über die Entstehung der Banlieues bzw. der letztlich bedeutsamen so genannten zones urbaines sensibles (sensible Stadtviertel). Im Anschluss daran wird die Situation der Bewohner bzw. der Jugendlichen in diesen Bezirken in Bezug auf folgende Punkte untersucht: Bildungs- und Beschäftigungssituation, Verhältnis zwischen Jugendlichen und Polizei, politisches Engagement sowie sozialräumliche Situation. Abschließend wird die Bedeutung der medialen Berichterstattung über die Banlieues hinsichtlich der Unruhen untersucht. Entstehungsgeschichte der Banlieues Die Vorstädte, die heute als heruntergekommene Wohnsiedlungen und soziale Brennpunkte wahrgenommen werden, wurden einst als Innovation betrachtet; als Zeichen der modernen städtischen Wohn- und Lebensform. Im Wesentlichen legten drei Architekten den gedanklichen Grundstein für die Hochhaussiedlungen am Rande der französischen Großstädte: Le Corbusier versuchte Städte in getrennte Bereiche wie Wohnen, Arbeiten und Freiraum zu gliedern. Tony Garnier schuf die Ideen der cité industrielle sowie der Zoneneinteilung und Henri Porst führte mit dem modernen Stadtzentrum in Rabat das erste groß angelegte Stadtplanungsprogramm durch. Umgesetzt wurden diese neuen Formen des Urbanismus allerdings erst nach dem zweiten Weltkrieg, als in Frankreich aufgrund von Kriegsschäden und zerfallender Bausubstanz eine große Wohnungsnot aufkam. Die seit Ende der 1950er-Jahre errichteten Hochhaussiedlungen, grand ensembles genannt, galten als ideale Lösung für das Problem. Sie boten bei geringen Kosten größtmöglichen Komfort und waren sowohl unter den Zuzügler_innen aus der Provinz wie auch unter repatriierten Algerienfranzösinnen und -franzosen, aufstiegsorientierten jungen Angestellten bzw. Beamt_innen und unter Vertreter_innen der integrierten Arbeiterklassen sehr begehrt. Von 1958 bis
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1973 entstanden 193 derartiger zones à urbaniser en priorité (ZUP – Stadtentwicklungsgebiete) mit circa zwei Millionen Mietwohnungen (vgl. Castel 2009: 18-20). Bereits zu Beginn der 1960er-Jahre begannen die Bewohner_innen diese Form von Lebensraum, ohne Straßen, ohne Räume für Geselligkeit und Austausch in den gebauten „Schlafstädten“ (ebd.) zu kritisieren. Diese ersten Unzufriedenheitsbekundungen können heute als eine Art Frühwarnsystem der Probleme in den Banlieues gedeutet werden. Die lokale Ausgrenzung ist unproblematisch, solange sie nicht mit dauerhaften strukturellen Benachteiligungen korreliert. Nach und nach setzten jedoch Ethnisierungs- und Verarmungsprozesse in den Hochhaussiedlungen ein, die ihnen den Namen quartiers sensibles (sensible Viertel) einbrachten (vgl. ebd.: 21). Ersteres Phänomen ist auf die veränderte Einwanderungspolitik zurückzuführen: Die seit den 1950er-Jahren erfolgende Arbeitsmigration, vor allem von alleinstehenden Männern aus der Maghreb-Region, wandelte sich Mitte der 1970er-Jahre in eine Migration, die hauptsächlich dem Zweck der Familienzusammenführung diente. Für diese Familien bildeten die Hochhaussiedlungen aufgrund ihres günstigen Preis-Leistungsverhältnisses die bevorzugte Auffangstation. Der Verarmungsprozess wurde durch das Ende der Vollbeschäftigung Mitte der 1970er-Jahre hervorgerufen, der zuallererst die Arbeitsmigrant_innen und das einheimische Arbeitermilieu betraf. Diese Personenkreise verblieben daher in den Siedlungen, die darüber hinaus einen Zuzug von Gruppen ohne Zugang zum privaten Wohnungsmarkt aufgrund dessen extrem hoher Mieten erfuhren. Gleichzeitig zogen besserverdienende Bewohner_innen ins mittelstädtische Umland bzw. in die Innenstädte (vgl. Müller 2006: 44; Eckardt 2007): „So wurden die Großsiedlungen zu Orten sozialen Abstiegs. Parallel zur Flucht der Bessergestellten gab es eine Sedimentierung der in die Armut abrutschenden Schichten. Die ‚soziale Mischung‘ wird zu einem Mischmasch von Bevölkerungsgruppen, bei denen sich alle Benachteiligungen häufen, sowohl in Bezug auf die wirtschaftlichen Ressourcen wie auch auf die Arbeitsmarktposition oder die Fähigkeit, auf eigenen Füßen zu stehen“ (Castel 2009: 23).
Anfang der 1990er-Jahre erschien eine umfassende Studie zu den französischen Vorstädten, durchgeführt von den Soziologen Didier Lapeyronnie und Francois Dubet, in der auf den bereits begonnenen Zerfall dieser „peripheren Arbeiterviertel“ (Wacquant 2004: 151) und die Entstehung eines „Randgruppenmilieus“ hingewiesen wird (Dubet/Lapeyronnie 1994). Ab 1995 werden die Großraumsiedlungen als zones urbaines sensibles (ZUS – städtische Problemgebiete) deklariert. Insgesamt existieren derzeit 751 dieser ZUS, wobei als Hauptkriterien für eine Einstufung als städtisches Problemgebiet eine hohe Arbeitslosigkeit und ein geringes Bildungsniveau der Bewohner_innen gelten (vgl. Eckardt 2007: 34).
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Nach dem Stand von 2009 leben 4,46 Millionen Menschen in den ZUS, das sind circa 8 % der französischen Bevölkerung. Innerhalb der Banlieues findet also eine starke Konzentration und Verfestigung struktureller Ungleichheiten statt. Die einstigen städtebaulichen Innovationen wurden zu Problemgebieten deklariert, was ihre periphere Lage symbolisch unterstreicht. Bereits in 1980er-Jahren wurde eine Sozialpolitik speziell für diese Zonen entwickelt, die Politik der sozialen Stadteinteilung (dévelopement social des quartiers – DSQ). Diese wird seit 1990 als sozialintegrative Stadtpolitik (politique de la ville) weitergeführt und soll mit Hilfe von städtebaulichen Veränderungen wie Abrissen oder Sanierungen den stadtgesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen (vgl. Frey 2007). Von 1994 bis 2001 wurden insgesamt 29,1 Milliarden Euro in diese Politik investiert (vgl. Eckardt 2007: 36, nach Simon/Lévy 2005: 83-92). Dieses Projekt kann als ein Versuch verstanden werden, der lokalen sowie der symbolischen Randlage der Banlieues entgegenzuwirken. Kritiker_innen werfen der Politik jedoch vor, versagt zu haben, da sektorale Maßnahmen das ihrer Meinung nach eigentliche Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen können. Zudem wird an der politique de la ville kritisiert, lediglich auf städtebauliche Problematiken und nicht auf soziale Aspekte ausgerichtet zu sein (vgl. Castel 2009: 29; Giroud 2005: 49-58). Im Anschluss an die hier dargestellten theoretischen Überlegungen muss man jedoch festhalten, dass diese Programme durchaus an einem Punkt ansetzen, der für Integration innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft von Bedeutung ist. Wechselseitige Anerkennung und Solidarität gegenüber Mitgliedern wird in der täglichen Interaktion sowie durch die Teilnahme in lokalen Vereinigungen produziert und erneuert. Die räumliche Trennung zwischen den Banlieues und den jeweiligen Städten steht diesem Prozess im Weg und fördert gesellschaftliche Polarisierungs- und Marginalisierungstendenzen. Die sozialintegrative Stadtpolitik versucht räumliche Grenzen zu überwinden und somit den wechselseitigen Kontakt unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zu fördern. Dies ermöglicht die Entstehung von gruppenübergreifenden Netzwerken und Organisationen, die als Basis gesellschaftlicher Solidarität dienen. Zudem wird der Zugang zum gesellschaftlichen Zentrum durch die Nähe zu kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einrichtungen (z.B. Schulen, Universitäten, Museen, Kaufhäuser, Ämter) erleichtert. Erst dadurch können staatsbürgerliche Rechte für einen immer größeren Teil der Bevölkerung realisiert werden.
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Die Situation in der Banlieue In verschiedenen Studien und Debatten über die Banlieue, die ZUS sowie deren Bewohner_innen wird häufig angeführt, dass sich die jugendlichen Akteur_innen der Unruhen als Bürger_innen zweiter Klasse fühlen, da die von ihnen erlebte Welt durch Ausgrenzung, Diskriminierung und Haltlosigkeit gekennzeichnet ist (vgl. u.a. Mucchielli 2006: 23; Wacquant 2004: 192; Veit 2006). Demgegenüber spricht sich Castel (2009) kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffs ‚Ausgrenzung‘ aus. Nach seinem Verständnis von Ausgrenzung als Exklusion aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang aufgrund des Fehlens der notwendigen Rechte zur Teilhabe an der Gesellschaft, träfe dieses Phänomen auf die Jugendlichen der Banlieue nicht zu, da die meisten über die französische Staatsbürgerschaft verfügen (vgl. ebd.: 32-33). Er fügt jedoch an, dass die Jugendlichen sich „auch nicht innerhalb der Gesellschaft [befinden], weil sie darin keine anerkannte Stellung einnehmen und viele von ihnen offenbar nicht in der Lage sind, sich eine solche Position zu verschaffen“ (ebd.: 36; Hervorhebung im Original). Statt hier das Begriffspaar von Inklusion und Exklusion zu verwenden, scheint es also sinnvoll, mit dem Modell von Zentrum und Peripherie zu arbeiten. Wie alle anderen französischen Bürger_innen besitzen die Bewohner_innen der Banlieues bürgerliche, politische, soziale und kulturelle Rechte und können sich somit formal zur Kerngruppe der gesellschaftlichen Gemeinschaft zählen. Gleichzeitig scheinen sowohl die soziale Anerkennung und Identität dieser Gruppe als auch deren tatsächliche Partizipationschancen stark von den formalrechtlichen Bedingungen abzuweichen, wodurch sie in die Peripherie gedrängt werden. a) Bildungssituation Es fällt auf, dass Bildungseinrichtungen wie Schulen in besonderem Maße im Mittelpunkt der zerstörerischen Aufmerksamkeit der Jugendlichen standen. Als Begründung der Wut gegenüber diesen staatlichen Institutionen wird von Mucchielli (2006), Wieviorka (2006) und Castel (2009: 46-47) angeführt, dass die dort vermittelten republikanischen Werte, wie liberté, egalité, fraternité (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) Erwartungen bei den Jugendlichen schüren, die in der Realität nicht erfüllt werden: „It is at this point that injured dignity serves a purpose, in maintaining the legitimacy of a reward system that cannot deliver its promises“ (Sennett/Cobb 1972: 155).
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Dies bestätigt die These, dass die Staatsbürgerschaft als zentraler Wahrnehmungs-, Deutungs-, und Handlungsrahmen innerhalb nationalstaatlich verfasster Gesellschaften dient. Die formale Anerkennung als Staatsbürger_innen erzeugt Erwartungen, die vor allem für viele Jugendliche in den Banlieues nicht erfüllt werden. Die Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlicher Situation führt zu Spannungen, die sich in gewaltsamen Protesten entladen können. Eine sozio-demographische Statistik, die über die aufgegriffenen Unruhestifter_innen in der Banlieue Saint-Denis erstellt wurde, verdeutlicht dies: So war jede/jeder vierte aufgegriffene Jugendliche vorzeitig von der Schule abgegangen und nur 44% aller aufgegriffenen noch im Bildungssystem integriert (vgl. Eckardt 2007: 33). Castel (2009: 44-45) führt darüber hinaus Daten an, wonach männliche Schüler mit afrikanischem Migrationshintergrund die größte Verlierergruppe im Bildungssystem darstellen. Im Jahr 1998 z.B. waren 43 Prozent derjenigen männlichen Jugendlichen, die die Schule ohne Bildungsabschluss verließen, maghrebinischer Herkunft und 51 Prozent schwarzafrikanischer Herkunft gegenüber nur 17 Prozent einheimischer männlicher Jugendlicher. Die Ballung sozial-struktureller Ungleichheiten innerhalb der Banlieues hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. So kam es unter anderem zu einem ansteigenden Wegzug finanziell besser gestellter bzw. aufsteigender Familien aus den sensiblen Zonen. Dies wird nicht zuletzt auf das 1963 eingeführte System der carte scolaire (Schülerverteilungsplan) zurückgeführt, in der festgeschrieben ist, dass Jugendliche eine Schule in der Nähe ihres Wohnortes besuchen müssen. Eltern, die mit der sozialen Zusammensetzung ihres Wohnortes unzufrieden sind, schulen ihre Kinder daher häufig in Privatschulen ein oder wechseln ihren Wohnort. Dies bedeutet einen Verlust an Heterogenität und die Verfestigung eines niedrigen sozialen Status und Bildungsniveaus in den Schulen der ZUS (vgl. Oberti 2006). Zudem ist in Frankreich der Erfolg im Bildungssystem nach wie vor stark an die Schichtzugehörigkeit der Eltern gekoppelt (vgl. Ott 2006: 122). Die strukturelle Randlage der Banlieues wird also reproduziert und durch den Wegzug aufsteigender Schichten zusätzlich verschärft. Bereits zu Beginn dieser Entwicklung initiierte die französische Regierung im Jahr 1982 im Rahmen der politique de la ville eine Sonderpolitik der Zones d’education prioritaire (ZEP – bildungspolitische Prioritätsgebiete). Ziel dieser Politik ist es, das Schulversagen in den problematischen Gebieten durch Projekte im Bereich der Bildungs- und Erziehungsarbeit unter Mitwirkung lokaler Akteur_innen zu bekämpfen (vgl. Lauer 2003: 14-15). Schulen und andere Träger dieser Gebietsprojekte erhalten hierfür zusätzliche finanzielle und materielle bzw. personelle Mittel. Eine erste Evaluation des Programms im Jahr 1998 konnte jedoch keinen übermäßigen Erfolg der Maßnahmen feststellen. Als Hauptprobleme wurden eine instabile Lehrerschaft und ein Überschuss an jungen,
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unerfahrenen Lehrer_innen in den ZEP ermittelt. Aktuellere Evaluationen (2002) messen dem Programm ebenfalls weitestgehende Erfolglosigkeit zu, wobei die „ungünstige […] soziale […] Zusammensetzung der Schülerbevölkerung“ (ebd.: 15) als Erklärung herangezogen wird. Der Staat versuchte also durch unterschiedliche Programme soziale und kulturelle Rechte in den Problemgebieten durchzusetzen. Der mangelnde Erfolg scheint dabei auf die tiefgreifenden und stark lokal konzentrierten strukturellen Ungleichheiten zurückzuführen zu sein. So fehlt es z.B. an Akteur_innen, die als Vermittler zwischen Zentrum und Peripherie auftreten können. b) Beschäftigungssituation Die eben beschriebenen Problematiken im Bereich der Bildung von Jugendlichen (mit Migrationshintergrund) aus den ZUS setzen sich im ökonomischen Feld fort. Nach Informationen von Frank Eckardt (2007: 34) war die Arbeitslosenquote in den ZUS im Jahr 2004 mit 20,7 Prozent doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Andere Quellen geben den Anteil der Bezieher_innen von RMI (Revenu minimum d’insertion – Sozialhilfe) in den Banlieues sogar als drei Mal so hoch wie im nationalen Durchschnitt an (vgl. Castel 2009: 23; Sapoval 2006). Die Arbeitslosenrate für Jugendliche unter 25 Jahren lag im Jahr 2004 sogar bei 36 Prozent (vgl. Eckardt 2007: 34). Eine Betrachtung ausgewählter Unruhe-Orte bestätigt die Annahme, dass Émeutes vor allem in den ZUS ausbrechen, in denen Jugendliche von einer prekären Arbeitssituation betroffen sind (vgl. Castel 2009: 41). Weiterhin finden laut Jean-Louis Dubois-Chabert (2005) auch Akademiker_innen aus den ZUS nur sehr schwer eine Arbeit, die ihren Qualifikationen auch entspricht. Soziale Haltlosigkeit aufgrund einer unsicheren Zukunft auf dem Arbeitsmarkt trifft somit nicht nur Jugendliche ohne Qualifikation, sondern auch Jugendliche mit höheren Bildungsabschlüssen. Auch eine Betrachtung der Einkommensverhältnisse bestätigt die oben dargestellten Ungleichgewichte zwischen den ZUS und dem nationalen Durchschnitt. So liegt nach Angaben Eckardts aus dem Jahr 2007 das durchschnittliche Einkommen eines Banlieue-Haushalts bei 10.540 Euro gegenüber dem nationalen Durchschnitt von 17.184 Euro pro Haushalt (vgl. Eckardt 2007: 34). Ferner lebt jeder fünfte Haushalt einer ZUS unterhalb der nationalen Armutsgrenze – im nationalen Durchschnitt jeder zehnte – wobei sich diese Unterschiede innerhalb eines Viertels bzw. einer ZUS noch verstärken (vgl. Sapoval 2006). Stephane Beaud und Michel Pialoux (2006: 23) argumentieren in diesem Zusammenhang, dass das daraus resultierende Gefühl der Hilflosigkeit und des Missmutes über die soziale Situation auch auf jüngere Familienmitglieder übertragen wird, da die
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jungen Menschen als Arbeitssuchende oft bei ihren Eltern und somit in ihrem Viertel bleiben. Als Erklärung für die eben dargestellte Beschäftigungsschieflage zwischen der französischen Durchschnittsbevölkerung und den Bewohner_innen der Banlieues weisen zahlreiche Autor_innen auf eine Diskriminierung aufgrund von ethnischen Faktoren oder sozialräumlichen Umständen hin (vgl. Castel 2009: 42; s. auch Amadieu 2004; Wacquant 2004; Cediey/Foroni 2007). Die Ergebnisse verschiedener empirischer Studien auf diesem Gebiet sowie die Emeutés 2005 erzeugten politischen Handlungsdruck, was im März 2006 zur Verabschiedung des Gesetzes für die Chancengleichheit (loi pour l’egalité des chances) führte. Das Gesetzespaket beinhaltet unter anderem den anonymen Lebenslauf bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter_innen für Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeiter_innen. Somit dürfen weder Foto, noch Namen oder Auskunft über Herkunft, Geschlecht oder die Adresse in den Bewerbungsunterlagen enthalten sein. Außerdem soll auf Grundlage des Gesetzes eine Agence nationale pour la cohésion sociale et l’égalité des chances (ANCSEC – Behörde für sozialen Zusammenhalt und Chancengleichheit) eingerichtet werden und es sollen weitere Maßnahmen zur Förderung von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen für Jugendliche aus sozial schwierigen Milieus ergriffen werden (vgl. Engler 2007: 6). Diese Maßnahmen können als besonders radikaler Versuch der politischen Durchsetzung des Prinzips der Chancengleichheit interpretiert werden, die der Anerkennung aller Franzosen als volle Staatsbürger dienen soll. Die eben beschriebenen sozialen Probleme in den ZUS haben sich stark verfestigt und werden daher von vielen Betroffenen als unveränderbar empfunden: „Wir haben einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt, wo es keine andere Lösung gibt, als das gesamte Ding zu zerstören. […] Wenn du dich innerlich nicht gut fühlst, wenn du dich äußerlich nicht gut fühlst, du keine Arbeit hast, nichts gut für dich läuft, dann fängst du an, Sachen kaputt zu machen, so ist es. Den Scheiß, den sie machen, die Müllkippe und den Eingang des Korridors zu reparieren, die Farbe, das hat keinen Zweck: es wird sofort wieder abgerissen. Es ist ein Abfallhaufen. Das ganze Ding ist ein Problem… du mußt das ganze Ding zerstören“ (Wacquant 2004: 156, zitiert nach Euvremer/Euvremer 1985: 8-9).
Der Zugang zum Zentrum der gesellschaftlichen Gemeinschaft scheint also für viele Bewohner_innen der Banlieues verschlossen, obwohl sie diesem rein formal, auf Grund ihrer staatsbürgerlichen Rechte, angehören müssten. Die daraus resultierenden gewaltsamen Ausschreitungen können daher als ein Protest gegen das Zentrum interpretiert werden, das seine Legitimität in der Peripherie teilweise eingebüßt hat. Dies führt zu einer Zunahme öffentlicher Unsicherheit sowie zu einer steigenden Sicherheitsobsession der französischen Gesellschaft. Die politische Antwort auf derartige Zustände besteht, neben den beschriebenen sozialen Programmen, auch in einer Erhöhung der Polizeipräsenz in den ZUS und repres-
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siver Maßnahmen gegen die Jugendlichen (vgl. Wacquant 2004: 166-168; Castel 2009: 66). Dadurch werden die eben beschriebenen Verhältnisse verfestigt und ein gesamtgesellschaftlicher Polarisierungsprozess vorangetrieben, der Frankreich in Bürger_innen erster und zweiter Klasse zu spalten droht. c) Verhältnis zwischen Jugendlichen und Polizei Die Vielfalt und die hohe Präsenz polizeilicher Spezialeinheiten in den ZUS werden von den Bewohner_innen der Banlieues im Allgemeinen und den Jugendlichen im Besonderen als Provokation aufgefasst. Sie erleben die Polizeibeamt_innen vorwiegend als Hersteller_innen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit anstatt als Beschützer_innen und/oder Ansprechpartner_innen in Not (vgl. Mohammed/Mucchielli 2006: 58-66). Das teilweise harte Vorgehen der Polizei gegen Unruhestifter_innen oder der Umgang mit verdächtigten jungen ZUS-Bewohner_innen in Form von Leibesvisiten, Ausweiskontrollen und Befragungen mit nicht selten rassistischem Unterton verstärken bestehende Ressentiments auf Seiten der Jugendlichen – und bei entsprechender Reaktion auch bei den Polizist_innen: „Die Herkunft aus der cité löst reflexartig den Verdacht von Devianz aus, wenn nicht sogar von sofortartiger Schuld“ (Wacquant 2004: 158). Konfrontative Begegnungen bleiben nicht zuletzt bestehen, da Vermittler zwischen Jugendlichen und Polizei fehlen und es bisher auch an präventiver Arbeit mangelt (vgl. Weber-Lamberdière 2006). Der polizeiliche Umgang mit den jugendlichen Bewohner_innen der ZUS ist also stark durch Ausgrenzungsrituale gekennzeichnet, die die periphere Lage der Banlieues, also deren geringe soziale Anerkennung und Partizipationschancen innerhalb der französischen Gesellschaft, zusätzlich verstärken. Das Verhalten der Polizei verdeutlicht den Jugendlichen, dass sie keine vollwertigen Mitglieder der gesellschaftlichen Gemeinschaft sind, sondern ein Dasein am Rande der Gesellschaft fristen. Dies führt zu einer geringen Identifikation mit den politischen und kulturellen Einrichtungen, wie z.B. der Polizei oder dem Schulsystem. Dass sich diese Unzufriedenheit dann in gewaltsamen Protesten niederschlägt, hängt unter anderem mit der geringen Chance auf politische Partizipation der Banlieues zusammen. d) Politisches Engagement Obwohl zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2007 eine hohe Wahlbeteiligung unter den Banlieue-Bewohner_innen verzeichnet wurde, ist die politische Aktivität in den Banlieues im Allgemeinen sehr gering. Auch die Jugendlichen der Émeutes stammen aus Bevölkerungskreisen ohne tatsächlichen Zugang zu legi-
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timen Vertretungsorganen wie z.B. linksregierten Kommunen oder Parteien, „deren Aufgabe es gewesen wäre, solche Jugendliche, die heute einen bedeutenden Teil der neuen classes populaires ausmachen, aufzunehmen und auszubilden“ (Castel 2009: 55, nach Masclet 2003; Hervorhebung bei Castel). Wacquant (2004: 156) argumentiert, dass die Bewohner_innen der Banlieues politischen Institutionen und Lokalpolitiker_innen in ihrer Fähigkeit bzw. Bereitschaft, Probleme zu lösen, misstrauen und sich daher im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr von diesen abgewandt haben. Seit Beginn der 1980er-Jahre organisieren sich die Bürger_innen der Banlieues stattdessen unabhängig von bestehenden linken Parteien in sozialen Bewegungen, um ihre Handlungsfähigkeit zurück zu gewinnen. Dieser Selbstorganisations-Anspruch würde jedoch, so Eckardt (2007: 37), in der nationalen Politik negiert. Die daraus folgende Entmutigung der Banlieue-Bürger_innen fördere wiederum die Entfremdung von jeglicher politischer Beteiligung. Als eine Folge dieser politischen und gesellschaftlichen Entfremdung sieht Eckardt (2007: 37-38) den Prozess der zunehmenden Kulturalisierung, also die Entstehung von Gruppen, die sich verstärkt ethnisch bzw. religiös definieren und sich durch die Verwendung von Begriffen wie ‚Schwarze‘ oder ‚Eingeborene der Republik‘ (les indigènes de la République) auf konzeptualisierte Identitäten (wie das ‚Schwarzsein‘) berufen. Von diesen Gruppen wird ein Stigma aufgegriffen und zur Abgrenzung von der französischen Gesellschaft genutzt (vgl. Castel 2009: 52; Glasze/Thielemann/Meyer 2007). Der französischen Identität auf Basis der Staatsbürgerschaft werden somit neue Identitäten entgegengesetzt. Die gewalttätigen Ausschreitungen können, zumindest teilweise als Folge der unzureichenden politischen Ausdrucksmöglichkeit von Bürger_innen (hier Jugendlichen) der Banlieues interpretiert werden (vgl. Hartmann 2008: 512). Durch den gewaltsamen Protest werden bestehende Missstände angegriffen sowie soziale Ungerechtigkeiten publik gemacht, wodurch vermutlich ein Handlungsdruck auf Seiten der Regierung ausgeübt werden soll. Da der legitime Weg ins Zentrum verschlossen scheint, bedient man sich alternativer Handlungsmöglichkeiten, um Aufmerksamkeit für die Situation in der Peripherie zu erzeugen. Man protestiert gegen die Repräsentationsorgane des Zentrums, wie etwa die Polizei oder unterschiedliche Bildungseinrichtungen. e) Sozialräumliche Ausgrenzung Die beschriebenen strukturellen Probleme erhalten ihre Brisanz u.a. dadurch, dass sie in den Banlieues räumlich konzentriert sind. Die gesellschaftliche Marginalisierung der Bewohner_innen spiegelt sich in der geographischen Randlage dieser Gebiete wider: Die meisten ZUS sind räumlich ausgegrenzt, d.h. sie liegen
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am Rande einer Stadt oder zumindest weit außerhalb des Stadtzentrums. Obwohl inzwischen u.a. durch die politique de la ville für eine verbesserte Verkehrsanbindung der Banlieues an ihr jeweiliges Stadtzentrum gesorgt wurde, bleiben viele dieser abgelegenen Stadtviertel ZUS, d.h. Orte, in denen sich die sozialen Unterschichten häufen. Es kommt in ihnen also zur sogenannten ‚sozialräumlichen Segregation‘ (vgl. Häußermann/Kronauer/Siebel 2004; Dangschat 2000). In der Öffentlichkeit ist in diesem Zusammenhang oft von „Ghettoquartieren“ (Müller 2006: 45) die Rede, was auf Parallelen zu bestimmten amerikanischen Stadtvierteln hinweist, in denen Personen als Ghetto-Bewohner_innen stigmatisiert werden (vgl. Wacquant 2004).52 Laut Wacquant (2004, 2005) und Castel (2009) ist dem jedoch entgegenzusetzen, dass die Banlieues sowie die ZUS multiethnisch zusammengesetzt sind. Während in amerikanischen Ghettos räumliches und rassisches Stigma nicht voneinander zu trennen sind, bezieht sich das Stigma der ZUS-Bewohner_innen ausschließlich auf den Wohnort.53 Sie tragen im Gegensatz zu den farbigen Bewohner_innen der amerikanischen Ghettos kein auffälliges äußeres (physisches) Kennzeichen, das sie als Bewohner_innen dieser Gebiete brandmarkt. Sie können zudem, wenn sie in andere Bezirke der Metropolen fahren, ihr Stigma vorübergehend ablegen, d.h. verbergen: „Deshalb gehen Jugendliche aus den armen Pariser banlieues regelmäßig in die besser angesehenen Gegenden der Hauptstadt und ‚hängen dort ab‘, um ihrem Viertel zu entfliehen. Indem sie Räume durchqueren, die das Leben der höheren Klassen symbolisieren und beinhalten, können sie für ein paar Stunden die Vorstellung von sozialer Inklusion erleben und teilhaben“ (Wacquant 2004: 16; Hervorhebung im Original).54
Auch hier ist es sinnvoll mit dem Begriffspaar von Zentrum und Peripherie zu arbeiten. Die Jugendlichen sind weder Teil der gesellschaftlichen Gemeinschaft, noch befinden sie sich außerhalb dieser Gruppe. Sie nehmen eine Randlage ein, 52 Bezüglich der Ghetto-Debatte in Frankreich siehe z.B. Touraine (1991a; 1991b), Best/Gebhardt (2001) bzw. eine Zusammenfassung bei Wacquant (1995). 53 Wacquant (2004: 154) ermittelte in seinen Interviews diesbezüglich, dass die Banlieues als Orte „wild wuchernde[r] Delinquenz, Immigration und Unsicherheit“ und als Gebiete „‘arabischer‘ Armut und Unordnung“ deklariert werden, „die symptomatisch für die einsetzende ‚Ethnisierung‘ städtischer Räume in Frankreich seien“. 54 Ebenfalls interessant ist das von Wacquant (2004: 164-165) beobachtete Phänomen der Aufwertung der eigenen Person durch Praktiken sozialer Differenzierung innerhalb der Banlieue. Die bessergestellten Bewohner_innen einer ZUS denunzieren diejenigen, die am unteren Ende der sozialen Schichtung stehen und distanzieren sich von diesen ‚eigentlichen‘ Problemfällen, zumeist Ausländer_innen, sozial schwächsten Familien, alleinerziehenden Müttern oder Drogenhändler_innen, um die eigene Person aufzuwerten. So stellte Wacquant für das Beispiel La Courneuve fest, dass die Bewohner_innen des nördlichen Bereichs von La Courneuve die des südlichen als racaille oder caillera bezeichnen, was so viel bedeutet wie ‚Rowdys‘. Dieses Phänomen führt wiederum oft zur Validierung der negativen Außenwahrnehmung im Sinne einer self-fulfilling prophecy.
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orientieren sich am Zentrum, werden aber nur zeitweise als vollwertige Mitglieder anerkannt. Diese Halbintegration, so die These, sorgt für ein hohes Maß an Unzufriedenheit und Frustration. Versprechen und Erwartungen auf der einen Seite und stabile Peripherisierungs-Mechanismen auf der anderen Seite erzeugen einen besonders hohen Problemdruck, der sich in Form gewaltsamer Unruhen entlädt. Castel (2009: 30-31) weist in seiner Kritik am Bild einer sozialräumlichen Aufteilung in wohlhabende Stadt- und verarmte sowie sozial ausgegrenzte Banlieue-Bewohner_innen jedoch auf die differenzierte und komplexe Sozialstruktur in den französischen bzw. europäischen Städten hin. So sind altindustrielle Kleinstädte häufig in ähnlichem oder höherem Ausmaß von Arbeitslosigkeit, Armut und Bildungsschwäche betroffen. Da sie jedoch gegenüber den Banlieues wesentlich weniger mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden die dortigen Probleme seltener wahrgenommen und kaum politisiert. Die Medien fungieren hier also als wichtiger Resonanzverstärker sozialer Probleme, indem sie z.B. darüber mitentscheiden, welche Themen aufgegriffen werden und Gehör finden.55 f) Rolle der Medien „Veränderungen bei Individuen und in der Gesellschaft, die durch Aussagen der Massenkommunikation oder durch die Existenz von Massenmedien entstehen“ werden von Maletzke (1981: 5) als die Wirkung von Medien bezeichnet. Im vorliegenden Fall sind mindestens zwei wesentliche Wirkungsebenen der Medien zu berücksichtigen.56 Einerseits beeinflusst die Art der Berichterstattung über die Banlieue und deren Bewohner_innen die Wahrnehmung dieser durch die Gesellschaft. Die mediale Konstruktion bzw. Verbreitung von Begriffen wie „Trabantenstädte“, „zones urbanes sensibles“ (Schmid 2005) oder boulevard périphérique (Bezeichnung des Autobahnringes, der Paris von den Vororten trennt) führt zur Erzeugung räumlicher Zentrums-Peripherie-Semantiken. Dadurch wird die durch die staatliche politique de la ville und deren Definition problematischer Zonen hervorgerufene Stigmatisierung der Vororte und deren Bewohner zusätz55 Siehe hierzu auch die Ausführungen zur Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb des Systems der Massenmedien in Kapitel 23. 56 Besonders deutlich wurde die Wirkungsmacht der Medien bei den Aufständen im Iran seit den Präsidentschaftswahlen im Juni 2009. Hier nutzte die junge Protestbevölkerung vor allem Mobiltelefone und die verschiedenen digitalen Möglichkeiten (Twitter, Blogs, Youtube) als Kommunikationsmittel, da klassische internationale Medien aufgrund einer rigiden Zensur des Regimes ihre Aussagekraft verloren hatten. Auf diese Weise konnte eine Gegenöffentlichkeit zu den staatlichen Medien gebildet und weltweite Solidarität generiert werden (vgl. Friedrichs 2009: o.A.; Schwenk 2009).
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lich verstärkt.57 Andererseits sorgte die mediale Beteiligung während der Émeutes im Jahr 2005 für Multiplikationseffekte. Die detaillierte tägliche Aufzählung brennender Autos und Gebäude sowie das Auflisten der nächtlichen Unruheorte stiftete, verschiedenen Autoren zufolge, die Jugendlichen immer wieder zu neuen Rekorden im territorialen Wettstreit an (vgl. Rötzer 2005a; Hehn 2005; Carvajal 2005): „Wenn man im Fernsehen sieht, was die anderen machen, dann versucht man mit denen auf gleicher Höhe zu sein“ (Carzon 2005: 6). Ähnliche Bedeutung wurden auch den Fotos und Videos, die täglich aufs Neue lodernde Feuer, ausgebrannte Autos, abgebrannte Schulen, Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei und heruntergekommene Banlieues zeigten, zugeschrieben (vgl. Carvajal 2005). Schließlich wirkten die Medien auch durch ihre Präsenz an den Orten des Geschehens. Hier konnten sie von den revoltierenden Jugendlichen, den übrigen Anwohner_innen der ZUS und den Beobachter_innen wahrgenommen und dazu genutzt werden, um individuelle Interessen zu artikulieren, Gegenpositionen zu erklären und Meinungsanhänger_innen zu rekrutieren. In diesem Sinne versuchten sie, „sich selbst zu einer regionalen oder auch globalen Öffentlichkeit und Prominenz zu verhelfen“ (Rötzer 2005b: o.A.). So zitiert z.B. Schmid (2005: o.A.) einen jugendlichen Banlieue-Bewohner, der den „in diesen Tagen in großer Zahl heranrückenden neugierigen Journalisten in die Mikrophone [ruft]: ‚Wir machen so lange weiter, bis Sarkozy zurücktritt‘.“ Diese Art der anhaltenden medialen Aufarbeitung der Émeutes durch Zahlen, Bilder, Interviews und Schlagzeilen bewirkte „eine kollektive, nicht mehr nur nationale, sondern internationale Aufmerksamkeit, das dem Abenteuer, mit dem sich nun Nacht für Nacht ein aufregender Sinn des Lebens und für die Wirklichkeit finden lässt, eine Grundlage von Bedeutung und auch Leistung verschafft“ (Rötzer 2005a: o.A.). Es kann vermutet werden, dass das fortwährende mediale Interesse am Geschehen den Jugendlichen das Gefühl gibt, einen Schritt von der Peripherie – verstanden als Mangel an Partizipationschancen in der Wirtschaft, der Politik, der gesellschaftlichen Gemeinschaft sowie des Bildungssystems – ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu gelangen (vgl. Schubert 2005). Das Mediensystem bietet die Möglichkeit, die strukturelle Marginalisierung kurzzeitig zu überwinden. Die Orientierung an den ‚Taten’ anderer Jugendlicher kann dabei auch als ein entstehendes Gemeinschaftsgefühl unter den randalierenden Jugendlichen gewertet werden, die sich als Teil eines gemeinsamen Kampfes begreifen und dadurch zusätzlich motiviert werden. Auch den Medienvertreter_innen, z.B. Reporter_innen der TV-Stationen France 2 und France 3 wurde 57
Zur Medienkonstruktion in den Banlieues siehe z.B. Bachmann und Baiser (1989).
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bewusst, wie sehr sie auf das Geschehen wirkten, indem sie z.B. einen Wettbewerb unter jugendlichen Brandstifter_innen erzeugten. Sie stellten daher das Senden der Bilder und Bilanzen von den Unruhenächten eine Woche nach Ausbruch der Unruhen ein (vgl. Carvajal 2005). Nach dem Motto: „Was es nicht in den Medien gibt, das existiert nicht“ (Rötzer 2005b: o.A.), könnte man die nachlassenden Gewaltausbrüche als Zeichen der besonderen Rolle der Medien in diesem Konflikt interpretieren. Die losen unorganisierten Proteste in den ZUS erhalten also erst durch die mediale Berichterstattung ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz. Gleichzeitig entsteht innerhalb der Protestgruppe das Bewusstsein für gemeinsame Probleme und Ziele, also eine Art geteilte Ideologie. Die Medien ermöglichen es einer strukturell benachteiligten Gruppe in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, von der diese ansonsten weitgehend ausgeschlossen ist.
20. Die Émeutes als Konflikt um das Zentrum
Émeutes sind in der französischen Geschichte keine Seltenheit. Auch Unruhen, in denen Jugendliche die Hauptakteur_innen darstellen, sind wiederholt aufgetreten. Die Umstände und Ursachen für die ‚Krawall-Freudigkeit‘ der jungen Menschen sind vielfältig. Der Fokus der vorangegangenen Kapitel lag auf den Émeutes im Oktober und November 2005. Im engeren Sinne wurden das Leben in der Banlieue (oder in den ZUS) aus wirtschaftlicher, politischer, sozialer und sozialgeographischer Perspektive beleuchtet und somit Erklärungsmöglichkeiten für die Unruhen eröffnet. Stellvertreter_innen für eine Seite des gesellschaftlichen Übels und derzeit Hauptleittragende sind die Jugendlichen in den ZUS. Das Ziel ihres Aufbegehrens, so die Annahme, ist der Weg aus der Peripherie ins Zentrum der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Es geht um die Möglichkeit der gleichberechtigten Teilhabe innerhalb der französischen Gesellschaft, die vielen Jugendlichen aus den Banlieues trotz der Staatsbürgerschaft als Hauptinklusionsmechanismus verwehrt wird. Gleichzeitig haben sie aber bereits Erfahrungen mit ‚dem anderen möglichen Leben‘ gemacht. Sie besitzen somit eine Vergleichsmöglichkeit von verschiedenen Graden gesellschaftlicher Teilhabe. Ihre kulturelle, soziale, politische und wirtschaftliche Peripherisierung ist ihnen bewusst; sie löst Unzufriedenheit, Hilflosigkeit und Wut aus. Daher drängen sie – in letzter Instanz mit Gewalt – ins Zentrum. Die Jugendlichen in den ZUS sind nicht primär als Ausgegrenzte, in Ghettos lebende Gruppen, zu betrachten. Die meisten von ihnen besitzen theoretisch sämtliche formalen Rechte eines französischen Bürgers/einer französischen Bürgerin. Die Jugendlichen sind ebenfalls nicht völlig aus der Dominanzkultur ausgeschlossen. Sie teilen die Interessen und Bestrebungen ihrer Altersgruppe, d.h. den Geschmack am Konsum, das Interesse an Geld, das Streben nach Familiengründung und einem erfolgreichen Leben in gutsituierten Verhältnissen.58 Sie vertreten damit die Werte und Ziele der französischen Gesellschaft, d.h. zumindest der breiten Bevölkerung. Sie sind in staatlichen Institutionen sozialisiert und wohnen auf französischem Staatsgebiet. 58 Erhebungen aus dem Jahr 1992 unter Jugendlichen mit algerischem Migrationshintergrund sagen aus, dass 87 Prozent der Befragten Französisch als ihre Muttersprache sehen und sich 68 Prozent zudem als ‚Laizist_innen‘ erklären, gegenüber 70 Prozent der Jugendlichen französischer Herkunft (vgl. Castel 2009: 34, nach Blanc-Chaléard 2001: 106).
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_21, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Alexander Hirschfeld, Uta Lehmann „Das Problem dieser Jugendlichen ist also nicht, dass sie außerhalb der Gesellschaft stehen. Das ist weder in Bezug auf den von ihnen bewohnten Raum der Fall (Vorstadtsiedlung ist kein Ghetto) noch in Bezug auf ihren Status (viele sind französische Bürger und keine Ausländer). Sie befinden sich aber auch nicht innerhalb der Gesellschaft, weil sie darin keine anerkannte Stellung einnehmen und viele von ihnen offenbar nicht in der Lage sind, sich eine solche Position zu verschaffen. Wenn es eine Revolte der Verzweiflung gegeben hat, dann in der Überzeugung, keine Zukunft zu haben, der notwendigen Mittel beraubt zu sein, um als vollwertige Gesellschaftsmitglieder zu gelten. Ihr Exil ist ein inneres, das sie dazu führt, ihr Verhältnis zu den Möglichkeiten und Werten, die die französische Gesellschaft für sie verkörpert, negativ, in Form von unerfüllten Erwartungen zu leben“ (Castel 2009: 36; Hervorhebung im Original).59
Die Jugendlichen in den ZUS repräsentieren also den Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb der französischen Gesellschaft, der sich im Innenleben der Betroffenen widerspiegelt. Die formale Zugehörigkeit zum Zentrum, in Form der Anerkennung als Staatsbürger_innen, und die faktische Verbannung aus dem Zentrum erzeugen einen enormen Handlungsdruck, der sich aufgrund der fehlenden Möglichkeiten das Zentrum auf konventionellem Weg zu erreichen, in gewaltsamen Protesten manifestiert. Wie im Text immer wieder deutlich wurde, ist diese These in vielerlei Hinsicht an die bestehende Literatur zu den Banlieues bzw. den Emeutés anschlussfähig. Unterschiedliche Autor_innen betonen immer wieder die Halbintegration und die daraus resultierende Frustration, v.a. unter jugendlichen Banlieu-Bewohner_innen. Das Modell von Zentrum und Peripherie auf Basis staatsbürgerlicher Rechte ermöglicht es uns, diesen Konflikt theoretisch zu fassen und eine allgemeine Interpretationshilfe zu liefern. Auf Basis der hier dargestellten theoretischen Überlegungen erscheint vor allem die lokale Isolation der Banlieues als problematisch, da deren Bewohner_innen aus den sozialen Netzwerken der gesellschaftlichen Gemeinschaft ausgeschlossen sind und Integration daher kaum in alltäglicher Praxis gelebt werden kann. Außerdem fehlt es an grundlegenden Voraussetzungen – wie etwa einer gebildeten Elite – um den Weg von der Peripherie ins Zentrum zu beschreiten. An diesem Punkt stößt man auch an die Grenzen des hier vorgestellten Ansatzes. Die Vorstellung der Bürgerrechte als symbolisches und normatives Zentrum hilft, die gewaltsamen Unruhen zu verstehen und zu interpretieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass in der französischen Gesellschaft eine Reihe von Ausschlussmechanismen existiert, die über die Aspekte der Bürgerrechte und der Integration in grenzübergreifende Netzwerke hinausgehen. Parsons Modell der gesellschaftlichen Gemeinschaft vernachlässigt tief verwurzelte strukturelle Ungleichheiten auf deren Basis neue Arten der sozialen Marginalisierung entstehen 59 Hier greift die von Wacquant (2004: 153) herausgearbeitete Dimension der „organisatorischen Dichte und Vielfalt“, d.h. dem Zusammenhang zwischen der Erfüllung der Grundbedürfnisse und Erwartungen der Bewohner und ihrem Gefühl der gesellschaftlichen Teilhabe/Inklusion oder aber Exklusion von der übrigen Gesellschaft.
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können. So werden beispielsweise alte Formen der Stigmatisierung aufgegriffen und fortwährend neue produziert, die die Staatsbürgerschaft überlagern und teilweise unterlaufen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in diesem Teil des Buches nur unzureichend berücksichtigt wurde, ist die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. In ihrem Zusammenhang erscheint die Dominanz eines zentralen Integrationsmechanismus (wie der Staatsbürgerschaft) der sozialen Realität nicht ausreichend gerecht zu werden. Deshalb eröffnen die folgenden Kapitel eine Perspektive auf die polyzentrische Struktur der modernen Gesellschaft. In deren Kontext verflüchtigen sich allerdings Marginalisierungen sozialer Gruppen keineswegs. Auf die hier behandelte Thematik kommen wir anhand weiterer empirischer Beispiele im letzten Teil des Buches noch einmal zurück. Dies geschieht dann jedoch vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung, welche im Folgenden auf die Begriffe Zentrum und Peripherie hin untersucht wird.
5. Teil: Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme Lukas Becht, Johannes Geng, Alexander Hirschfeld
21. Funktional differenzierte Gesellschaft als polyzentrisches Sozialsystem
Im vorherigen Kapitel wurde versucht, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie auf die Ebene des Nationalstaates zu übertragen. Demnach können hier das Recht, vor allem individuelle Bürgerrechte, als Zentrum der Gesellschaft gedacht werden. Die rechtliche Verankerung der individuellen Chancengleichheit in allen sozialen Feldern bindet unterschiedliche Subsysteme an den normativen Kern. Gleichzeitig produzieren individuelle Bürgerrechte Rechte und Pflichten für die Mitglieder eines Staates, wodurch sich normative Prinzipien direkt in die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmodelle der Akteur _innen einschreiben. Diese Vorstellung weist jedoch eine Reihe blinder Flecken auf. Eines der wichtigsten Defizite stellt die mangelnde Berücksichtigung der funktionalen Differenzierung dar. In modernen Gesellschaften entwickeln sich Politik, Recht, Wirtschaft sowie andere Subsysteme nach jeweils spezifischen Operations-Mechanismen. Im Bereich der Wirtschaft sind staatsbürgerliche Rechte primär in Bezug auf den wirtschaftlichen Erfolg relevant, im Rechtssystem geht es meist lediglich um die formale Frage nach Recht und Unrecht. Beide Systeme sind dem Anspruch gesellschaftlicher Solidarität und Integration gegenüber weitgehend indifferent. Nimmt man diese radikale Position funktionaler Differenzierung ein, hat es keinen Sinn mehr, noch von einem gesamtgesellschaftlichen Zentrum zu sprechen. Stattdessen scheint es angemessener, nach einer Vielzahl unterschiedlicher Zentren und Peripherien Ausschau zu halten. Betrachtet man etwa das Rechtsystem, so fällt auf, dass es vor allem die Gerichte sind, die hier die wichtigsten Funktionen monopolisieren und entlang des Codes ‚Recht/Unrecht’ Entscheidungen treffen. Im Bereich der Politik ist es der Staat, der diese Leitfunktion erfüllt. Nur innerhalb der Staatsorganisation und durch das jeweils amtierende Parlament können kollektiv bindende Entscheidungen getroffen werden. Im Bereich der Wirtschaft kommt den Banken die eben beschriebene Rolle zu. Niklas Luhmann hat die besondere Bedeutung dieser Organisationen erkannt und sie zum Ausgangspunkt einer internen Differenzierung von Funktionssystemen in Zentrum und Peripherie gemacht. Bestimmte Organisationen und Professionen befinden sich demnach im Zentrum der unterschiedlichen sozialen Subsysteme, da sie sich klar an den je spezifischen Leitdifferenzen (z.B. Recht/Unrecht) und D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_22, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Programmen (z.B. formale Rechtssätze) orientieren und Entscheidungen entlang dieser Richtlinien treffen müssen. Die Peripherie der unterschiedlichen Teilsysteme ist demgegenüber durch weniger klare Strukturen gekennzeichnet. Hier herrscht kein Entscheidungszwang entlang systemspezifischer Kriterien, weshalb ganz unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden können (vgl. Luhmann 1993: 320-337; Hahn 2008: 416-420). Die interne Differenzierung nach Zentrum und Peripherie ermöglicht es sozialen Systemen, ihre strukturellen Grenzen zu reproduzieren und gleichzeitig flexibel auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren zu können. Darüber hinaus bietet dieses Modell viele weitere wichtige Einsichten, beispielsweise hinsichtlich der systemtheoretischen Analyse sozialen Wandels.60 Daher werden wir in diesem Teil des Buches die Differenzierungsform von Zentrum und Periphere aus systemtheoretischer Perspektive genauer darstellen, weiter ausarbeiten und an zwei Beispielen exemplifizieren.61 Im nächsten Kapitel wird das Konzept von Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme im Rahmen Luhmanns allgemeiner Systemtheorie hergeleitet (Kap. 22). Danach nutzen wir das Modell für eine Analyse der Massenmedien. Dabei werden die Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen partizipativem und professionellem Onlinejournalismus herausgearbeitet (Kap. 23). Abschließend werden wir das politische System genauer beleuchten. Hier wird deutlich, dass die Vorstellung des Staates als gesamtgesellschaftliches Zentrum (wie ansatzweise auch in den vorigen Kapiteln postuliert) aufgrund der fortschreitenden funktionalen Differenzierung nur noch bedingt tragfähig ist. Aufgrund der zunehmenden formalen Organisation des Staates erscheint es stattdessen sinnvoll, innerhalb des politischen Systems nach Zentrum und Peripherie zu unterscheiden (Kap. 24). Sofern dies auch für die anderen Teilsysteme des Sozialsystems gilt, erweist sich die Gesellschaft aus der Sicht funktionaler Differenzierung als polyzentrisch. Für die Staatstheorie hat Helmut Willke (1992) diese Konsequenz ebenfalls genutzt, allerdings nicht in einer Ausarbeitung der Zentrum-Peripherie-Differenz auf Ebene der Teilsysteme analytisch fruchtbar gemacht. Diesem Vorhaben widmen sich die folgenden drei Kapitel.
60
Dies wird im Anschluss an diesen Teil aufgegriffen, siehe die Kapitel 27 und 28. Alois Hahn hat diesen Unterschied aufgegriffen, theoretisch weiter ausgearbeitet und in unterschiedlichen Untersuchungen genutzt (Hahn 1999; 2002; 2008). An diesem Punkt wird hier angeknüpft. 61
22. Luhmanns systemspezifisches Konzept von Zentrum und Peripherie
„Das Schema Ganzes/Teil entstammt der alteuropäischen Tradition und würde, hier angewandt, den entscheidenden Punkt verfehlen. Systemdifferenzierung heißt gerade nicht, daß das Ganze in Teile zerlegt wird und, auf dieser Ebene gesehen, aus den Teilen und den >>Beziehungen<< zwischen den Teilen besteht. Vielmehr rekonstruiert jedes Teilsystem das allumfassende System, dem es angehört und das es mitvollzieht, durch eine eigene (teilsystemspezifische) Differenz von System und Umwelt“ (Luhmann 1997a: 598; Hervorhebung im Original).
Wie kaum ein anderer Theoretiker hat Niklas Luhmann die funktionale Differenzierung als wichtigstes Grundmuster moderner Gesellschaften hervorgehoben. Die Vorstellung der Gesellschaft als einem integrierten Ganzen ersetzt er durch eine Systemtheorie, in der die internen Mechanismen der einzelnen sozialen Systeme die zentralen gesellschaftlichen Strukturen darstellen. Die Gesellschaft wird in operativ geschlossene Funktionssysteme aufgeteilt, die primär ihren eigenen Logiken folgen. Aufgrund der Dominanz funktionaler Differenzierung, so der Leitgedanke dieses Teils des Buches, lässt sich die Gesellschaft nicht mehr länger durch ein einziges Zentrum beschreiben. Die gesamtgesellschaftliche Steuerungsfunktion kann weder durch das Rechtssystem noch durch die Politik geleistet werden. Denn Ereignisse werden in jenen lediglich nach den systemeigenen Codes (Recht/Unrecht oder Macht-Überlegenheit/Macht-Unterlegenheit) verarbeitet und bieten keinen übergreifenden Ordnungsrahmen. Im Zuge der fortschreitenden Modernisierung bilden sich innerhalb unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilbereiche spezifische organisatorische Zentren heraus. Diese Zentren sorgen für die Reproduktion des Systems nach den jeweiligen internen Mechanismen und werden durch die institutionellen Muster der formalen Organisation und Professionalisierung abgesichert. Die Peripherie der unterschiedlichen Teilsysteme hingegen weist einen wesentlich niedrigeren Organisationsgrad auf und lässt sich als Kontaktzone zu anderen sozialen Systemen interpretieren (vgl. Luhmann 1993: 320-337; Hahn 2008). Diese Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie innerhalb sozialer Subsysteme ist gut geeignet, um das Modell der funktionalen Differenzierung zu ergänzen. Es ermöglicht, allgemeine Strukturen zu erkennen, die unterschiedliche Funktionssysteme gemein haben. Gleichzeitig kann die Systemtheorie hinsichtlich der Untersuchung von Stabilität und sozialem Wandel angereichert D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_23, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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werden. Dies betrifft vor allem die Kopplungen zwischen Funktionssystemen sowie den Einfluss peripherer Phänomene, wie etwa sozialer Bewegungen. 22.1 Zentrum und Peripherie innerhalb sozialer Systeme Luhmanns theoretischer Ausgangspunkt ist der Bruch mit der alteuropäischen Substanzontologie. Dies betrifft unter anderem den Begriff des Systems, verstanden als eine aus unterschiedlichen Teilen bestehende Ganzheit (vgl. Luhmann 1984: 20-21). Diese Vorstellung ist bei Parsons, sowohl in seiner Handlungs- als auch in der Systemtheorie, deutlich sichtbar. In diesem Zusammenhang wurde in Kapitel 18 herausgearbeitet, wie auf Basis dieser Vorstellungen das Werte- und Normensystem als gesamtgesellschaftliches Zentrum gedacht werden kann. Luhmanns Abkehr von dieser Vorstellung wird in folgendem Zitat besonders deutlich: „Das Gesellschaftssystem wird demnach nicht durch ein bestimmtes >>Wesen<<, geschweige denn durch eine bestimmte Moral (Verbreitung von Glück, Solidarität, Angleichung von Lebensverhältnissen, vernünftig-konsensuelle Integration usw.) charakterisiert, sondern allein durch die Operation, die Gesellschaft produziert und reproduziert. Das ist Kommunikation“ (Luhmann 1997a: 70).
An die Stelle eines substantiellen normativen Kerns tritt also ein Prozess, nämlich die Operation der Kommunikation. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist die Differenzierung zwischen System und Umwelt anhand des Formbegriffs von George Spencer Brown (1979). Durch das Setzen einer Form in einen leeren Grund, wird innerhalb dieses Grundes eine Unterscheidung getroffen zwischen Hinter- und Vordergrund, in Spencer Browns Begriffen zwischen einem ‚markierten’ und einem ‚unmarkierten’ Teil. System und Umwelt werden also durch spezifische Operationen oder Beobachtungsmodi produziert und reproduziert, im Falle des sozialen Systems durch Kommunikation (vgl. Luhmann 1997a: 60-64; 2008: 66-91). Dadurch wird entschieden, was innerhalb des Systems berücksichtigt und in welcher Art und Weise es anschließend verarbeitet wird. Soziale Systeme sind deshalb als operativ geschlossen konzipiert, weil die bestehenden Strukturen vom System selbst durch eigene Beobachtungsmodi (in sozialen Systemen durch Kommunikation) hervorgebracht und reproduziert werden. Dies bringt Luhmann mit den Begriffen der Selbstorganisation und Autopoiesis zum Ausdruck (vgl. Luhmann 1997a: 64-65, 92-99; 2008: 100-118). Das klassische Verständnis von Struktur als einer Art dauerhafte Relation zwischen unterschiedlichen Elementen lehnt Luhmann ab, da sich die jeweiligen Elemente ständig ändern und es deshalb keinen klaren Anhaltspunkt gibt, ab
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wann von Struktur gesprochen werden soll. Für ihn sind Strukturen stattdessen allgemeine Selektionsschemata, die hinsichtlich der im System zugelassenen Elemente gewisse Einschränkungen vornehmen (vgl. Luhmann 1984: 383-384; 1997a: 94). Strukturen haben also keine klare Substanz und legen lediglich fest, was und wie etwas vom System berücksichtigt wird. Prozesse in Form bestimmter Operationen (z.B. Kommunikation) produzieren und reproduzieren diese Strukturen. Um dies zu verdeutlichen, kann man sich beispielsweise ein soziales System bestehend aus zwei Arbeitskolleg_innen vorstellen. Die beiden arbeiten seit einiger Zeit zusammen und teilen somit eine gemeinsame kommunikative Geschichte. Die daraus entstandene Themen- und Sinnstruktur entscheidet darüber, was innerhalb des Systems als relevant wahrgenommen und wie es verarbeitet wird. Einer der beiden kann z.B. ständig irgendwelche Dinge sagen, ohne dass der/die Kolleg_in darauf reagiert. Aufgrund der gemeinsamen kommunikativen Geschichte werden bestimmte verbale Zeichen gar nicht als Aufforderung zur Kommunikation, sondern als Monologe wahrgenommen. Eine bestimmte Tonlage oder eine Form der Anrede signalisiert dem/der Kolleg_in, dass er/sie Adressat_in der Kommunikation ist. Die kommunikative Geschichte gibt auch den thematischen Rahmen vor, an den sich weitere Unterhaltungen anschließen. Sind beispielsweise die Gespräche auf berufliche Aspekte beschränkt, werden auch Folgekommunikationen mit großer Wahrscheinlichkeit hier anknüpfen. Gleiches gilt für die Sinnstruktur. Angenommen einer der Angestellten berichtet ständig über seine beruflichen Erfolge und Errungenschaften, während sich der/die andere eher skeptisch über die persönlichen Fähigkeiten und seine Motivation äußert: Dadurch entsteht und verfestigt sich ein semantischer Kontext unterschiedlicher Arbeitseinstellungen und Expertise, an den beide Personen immer wieder kommunikativ anschließen. In diesem Kontext ist Kultur nicht länger ein eigenes System, sondern Sinn wird zum allgemeinen Medium innerhalb sozialer Systeme (vgl. Hahn 2004). Jedes soziale System bildet eigene Sinnstrukturen, auf deren Basis sich Anschlussmöglichkeiten und Grenzen für weitere Kommunikation ergeben. Kommunikation ist dabei nicht als Informationsübertragung, sondern als selbstreferenzieller Prozess zu verstehen. Vorherige Kommunikation bildet immer die Grundstruktur, auf die sich alles Folgende beziehen muss, um im System relevant zu werden. Beispielsweise kann der/die erfolgreiche Kolleg_in nicht plötzlich eine völlig neue Selbstdarstellung kreieren. Stellt er/sie etwa eines Tages seine/ihre bisherigen Leistungen sowie seine/ihre allgemeinen Fähigkeiten in Frage, dann wird der/die andere mit großer Wahrscheinlichkeit die Kommunikation wieder in bekannte Bahnen lenken. Er/Sie könnte seinen Kollegen/seine
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Kollegin an die von ihm/ihr erbrachten Leistungen erinnern und darauf hinweisen, dass gelegentliche Zweifel ein normaler Nebeneffekt sein können. Vor dem Hintergrund dieses Kommunikationsbegriffs ist die Entstehung eines gemeinsamen normativen Bewusstseins – im engeren Sinne eines geteilten normativen Kerns – nicht mehr möglich (vgl. Luhmann 1997a: 82). Dies gilt vor allem auch deshalb, weil das Bewusstsein selbst als autopoietisches System verstanden wird. Auf unser Beispiel übertragen bedeutet dies, dass die Gedanken und Gefühle von keinem der beiden Angestellten in ihrer ursprünglichen Form auf der Ebene des sozialen Systems repräsentiert sind. Gleichzeitig unterscheidet sich auch die Wahrnehmung des Gesprochenen bei beiden Personen. Sobald Gedanken in Sprache überführt werden, bewegt man sich auf eine neue Systemebene, die durch eine eigene Operation (nämlich Kommunikation) gekennzeichnet ist. Die Schilderung persönlicher Erfolge könnte beispielsweise im Extremfall auch ein Resultat von tiefem Selbstzweifel sein. Ein dauerhaftes und stabiles Ordnungssystem ähnlich Parsons’ gesellschaftlicher Gemeinschaft gibt es bei Luhmann daher nicht. Hier sind es die unterschiedlichen funktionalen Teilsysteme, die für Stabilität und Kontinuität sorgen. Dies bedeutet natürlich nicht, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären völlig unabhängig von ihrer Umwelt sind. Sie sind durch so genannte strukturelle Kopplungen miteinander verbunden (Luhmann 1997a: 100-120; 2008: 118-140). Durch strukturelle Kopplungen werden systemfremde Reize in systeminterne Informationen umgewandelt. So ermöglicht es beispielsweise die Sprache, Bewusstseinsprozesse in eine für das soziale System zu verarbeitende Form zu bringen. Eine Vielzahl ähnliche Kopplungen finden sich auch auf der Ebene unterschiedlicher Funktionssysteme. So ist beispielsweise das Wirtschaftssystem durch Eigentumsrechte und Verträge an das Rechtssystem gekoppelt. Die Gleichzeitigkeit von operativer Schließung und struktureller Kopplung ermöglicht es dem System sehr viele verschiedene Aspekte der Umwelt wahrzunehmen, da diese jeweils nur nach ganz bestimmten Kriterien berücksichtigt werden. Das eben beschriebene paradoxe Verhältnis zwischen System und Umwelt bietet einen wichtigen Anknüpfungspunkt für das Konzept von Zentrum und Peripherie. Die Unterscheidung zwischen System und Umwelt ist innerhalb des Systems in Form des Beobachtungsmodus enthalten. Diese lässt sich am Beispiel der Kommunikation anhand der Unterscheidung zwischen Mitteilung und Information gut verdeutlichen. Information als „überraschende Selektion aus mehreren Möglichkeiten“ (Luhmann 1997a: 71) ermöglicht dem System eine gewisse Offenheit gegenüber der Umwelt. Die strukturellen Vorrausetzungen der Mitteilung, also bestimmte sprachliche Regeln sowie die aus vorheriger Kommunikation entstandene Sinnstruktur, sorgen dagegen für operative Geschlossenheit.
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Durch die Unterscheidung zwischen Information und Mitteilung wird also die Differenz zwischen System und Umwelt ins System hineinprojiziert. Über die Information reflektiert das System die Umwelt (Fremdreferenz), während es sich durch die Form der Mitteilung auf sich selbst bezieht (Selbstreferenz) (vgl. ebd.: 77, 97-98). Die Fremdreferenz, also der Verweis auf die vom System ausgeschlossene Umwelt, wird also immer mitgeführt. Dennoch ist auch die Information ein systemeigenes Produkt, was sich am Beispiel der strukturellen Kopplung gut verdeutlichen lässt. Strukturelle Kopplungen ermöglichen es dem System, äußere Reize wahrzunehmen und zu verarbeiten. Der Aspekt ‚strukturell’ weist darauf hin, dass die Umwelt dabei nur im Rahmen der strukturellen Bedingungen des Systems berücksichtigt wird (Luhmann 2008: 120). Systeme sind daher operativ geschlossen und gleichzeitig hinsichtlich der Information offen, da im Rahmen der bestehenden Strukturen unterschiedliche Aspekte für das System relevant werden können. Dies macht Luhmann besonders eindrucksvoll am Beispiel der Sprache deutlich. Die Sprache dient der strukturellen Kopplung zwischen Bewusstsein und sozialem System. Durch sie werden gleichzeitig nebeneinander ablaufende Bewusstseinsprozesse in aufeinanderfolgende Worte, also in eine Operation des sozialen Systems, transformiert. Die bestehende Vielfalt an Kombinationsmöglichkeiten sprachlicher Zeichen bleibt jedoch erhalten und ermöglicht eine strukturell eingeschränkte Form der Offenheit (Luhmann 1997a: 101). Die Begriffe Zentrum und Peripherie lassen sich also mit den Unterscheidungen zwischen System und Umwelt, Geschlossenheit und Offenheit, Selbstund Fremdreferenz sowie Mitteilung und Information verknüpfen: Das Zentrum eines jeden Systems ist durch eine bestimmte Struktur gekennzeichnet, die durch Operationen produziert und reproduziert wird und somit für die Geschlossenheit des Systems sorgt. In diesem Zusammenhang lässt sich die alltägliche kommunikative Anwendung dieser strukturellen Voraussetzungen als Peripherie des Systems interpretieren.62 In der Peripherie entstehen außerdem, in Form struktureller Kopplungen, recht stabile Kontakte zu anderen Systemen. Dabei muss man das theoretische Postulat der operativen Geschlossenheit nicht aufgeben. Es lässt sich nämlich Kommunikation denken, die mehr oder weniger klar an die bestehende thematische und sprachliche Struktur anknüpft und dennoch immer nur im Rahmen systemeigener Strukturen berücksichtigt wird. Man stelle sich zum Beispiel einen Soziologiekurs mit dem Titel ’Einführung in die Systemtheorie Niklas Luhmanns’ vor.63 Alle Beiträge der Studenten, die sich in irgendeiner Weise an das Thema anschließen lassen, werden vom 62 Um die Argumentationslinie beizubehalten, werden hier einige theoretische Annahmen Luhmanns eingebracht, die erst im nächsten Abschnitt genauer dargestellt werden. 63 Das Beispiel der Seminardiskussion ist angelehnt an Münch (2004: 193-202).
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System als relevant erachtet und tragen zu dessen Reproduktion bei. Der Grad der Anschlussfähigkeit kann jedoch durchaus unterschiedlich sein. Wenn sich zum Beispiel jemand meldet und behauptet, dass manche Autoren eine ganz andere Vorstellung vom Begriff der Autopoiesis haben als Luhmann, könnten sich hinsichtlich der Verarbeitung dieses Beitrags doch einige Probleme ergeben. Da das Ziel einer Einführungsveranstaltung meist darin besteht, die allgemeinen Elemente der Theorie zu erlernen, ist eine begriffliche Spezialdiskussion wie der eben genannte beispielhafte Beitrag nur bedingt anschlussfähig. Der Professor wird wohl zuerst einmal etwas erstaunt darüber sein, so eine Frage in einer Einführungsveranstaltung zu hören. Dann wird er sich womöglich schnell wieder sammeln, dem Studenten eine kurze Erklärung liefern und darauf hinweisen, dass derart spezifische Probleme nicht Inhalt dieses Seminars sind. Die periphere Kommunikation wird vom Zentrum aufgenommen und dort nach der jeweils eigenen Sinnstruktur (zum Thema gehörend vs. nicht zum Thema gehörend) verarbeitet. Dies führt zur systemeigenen Irritation und der operativen Schließung durch den Verweis auf die Grenzen des Themas. Wenn sich aber ein Student meldet, um einen Kommentar zum gestrigen Fußballspiel abzugeben, wird ihn die Kursleitung mit großer Wahrscheinlichkeit darauf hinweisen, dass dies nicht zum Thema gehöre. Doch auch hier wird deutlich, dass der Beitrag des Studenten aufgrund seiner verbalen und formalen Anschlussfähigkeit (er hat ja immerhin in einer für alle verständlichen Sprache gesprochen) zumindest berücksichtigt wurde. Das Bild des Seminars wurde bewusst gewählt, da sich hier bereits eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen Zentrum und Peripherie andeuten lassen, die im folgenden Abschnitt auf der Ebene funktionaler Teilsysteme genauer dargestellt werden. Das Zentrum unterscheidet sich von der Peripherie durch eine stärkere formale Organisation. Das Thema sowie die spezifischen Anforderungen an die Kursteilnehmer sind im Rahmen des Kursplans vorgegeben. Die Leitung der Veranstaltung obliegt dem Professor und ist durch ein System professioneller Berufsrollen geregelt. Es lässt sich also sagen, dass der Begriff Zentrum im Zusammenhang mit systemeigenen Strukturen und Operationen sinnvoll erscheint. Anstelle eines normativen Kerns tritt also ein formal strukturiertes Verfahren. Nähe und Distanz zu diesem Verfahren dienen als Unterscheidungskriterium nach Zentrum und Peripherie. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Peripherie als eine Art Kontaktzone zur Umwelt gedacht werden kann. Hier kann viel mehr zum Thema werden und es herrscht eine wesentlich höhere Dynamik. Um innerhalb des Systems berücksichtigt zu werden, muss sich die Peripherie an den vom Zentrum vorgegebenen Strukturen orientieren. Gleichzeitig ist aber denkbar, dass sich aufgrund unterschiedlicher Impulse aus der Peripherie im Zentrum etwas verändert. So können zum Beispiel die Beiträge der Stu-
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dent_innen dazu führen, dass sich das Thema des Seminars innerhalb des allgemeinen Rahmens in eine ganz bestimmte Richtung bewegt. 22.2 Zentrum und Peripherie in Funktionssystemen Funktional differenzierte Gesellschaften lassen sich nach Luhmann (vgl. 1997a: 743-788) also primär als operativ geschlossene, (aber) strukturell gekoppelte Teilsysteme charakterisieren, die jeweils bestimmte gesellschaftliche Funktionen monopolisieren. Die Herausbildung spezifischer Funktionssysteme ist dabei als eine schrittweise Verfestigung von Erwartungsstrukturen zu verstehen. 64 In diesem Prozess der Verfestigung ist vor allem die Entstehung sogenannter ‚symbolischer Kommunikationsmedien’ von entscheidender Bedeutung (vgl. Parsons 1980). Die symbolischen Kommunikationsmedien lassen sich als festgeronnene Sinnstrukturen deuten. Sie bilden den Kern eines jeden Systems, an denen die binären Codes, wie etwa die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht im Falle des Rechtssystems, unmittelbar anschließen. Der Code dient der Spezifikation der Funktion des Systems. Durch diese Leitdifferenz erkennt das System was zu ihm und was zur Umwelt gehört. Sie gibt an, was jeweils berücksichtigt wird, lässt jedoch die Frage offen, wie dies geschieht. In diesem Zusammenhang dienen Programme als Entscheidungsregel zur Zuordnung bestimmter Ereignisse zu den jeweiligen Codes. Zusammen strukturieren Codes und Programme die Operation des Funktionssystems (vgl. ebd.: 748-751) und lassen sich daher als Zentrum des jeweiligen Systems denken. Da Codes direkt an der Funktion des Systems ansetzen, sind sie sehr stabil. Programme hingegen sind irritationsfähig und können sich schrittweise verändern. So ist etwa das Rechtssystem dauerhaft durch die Leitdifferenz ‚rechtmäßig/unrechtmäßig’ strukturiert, wohingegen die spezifischen Rechtssätze zeitlichen Veränderungen unterworfen sind. Die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie lässt sich also auf unterschiedliche gesellschaftliche Teilsysteme anwenden. Da Luhmann dieses Modell besonders detailliert für das Rechtssystem ausgearbeitet hat, soll es als Basis der folgenden Überlegungen dienen (vgl. Luhmann 1993: 320-337). Luhmann beschreibt das Zentrum als operativen Kern des Systems und weist den Gerichten diese Stellung im Falle des Rechtssystems zu. Da es keine allgemeinen Kriterien bezüglich Recht und Unrecht gibt, müssen Gerichte auf Basis bestehender Rechtsgrundlagen über alle eingehenden Klagen entscheiden. Die anderen Elemente des Rechtssystems, wie etwa Vertragsschlüsse und die Ge64 Eine genauere Darstellung der Herausbildung der Politik als eigenes Funktionssystem folgt in Kapitel 24.
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setzgebung, gehören zur Peripherie des Systems. Auch hier verläuft die Unterscheidung gemäß dem Code ‚rechtmäßig/unrechtmäßig’, es herrscht jedoch kein Entscheidungszwang – weshalb eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen berücksichtigt werden kann (vgl. Luhmann 1993: 320-322). Aus diesem Grund stellt die Peripherie eine Art Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen dar und ermöglicht gleichzeitig deren Reproduktion. In der Peripherie finden systemfremde Reize Eingang in das System, während andere gesellschaftliche Teilbereiche durch das Rechtssystem irritiert werden. Da Gerichte auch im Falle fehlenden Konsenses Entscheidungen treffen müssen, wird die Konsensanforderung in die Peripherie verschoben (vgl. ebd.: 322-325). Vor dem Hintergrund der allgemeinen Gültigkeit des Rechts trägt hier die periphere Kommunikation zur alltäglichen Reproduktion des Systems bei (Hahn 2008: 413). Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie ermöglicht es dem System somit, die Paradoxie gleichzeitiger Offenheit und Geschlossenheit zu entfalten. Die Peripherie als Kontaktzone zur Umwelt sorgt für die Offenheit des Systems, wohingegen das Zentrum sicherstellt, dass die damit verbundenen Irritationen im Rahmen der bestehenden Leitdifferenz und des jeweiligen Programms verarbeitet werden. Die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie lässt sich daher als ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis beschreiben. Die Peripherie erlaubt eine Anpassung an unterschiedliche Situationen und die Einbeziehung systemfremder Einflussfaktoren. Ohne diese Flexibilität könnte das Rechtssystem gar nicht mit den komplexen Umweltanforderungen (z.B. wirtschaftlichen Interessen, politischen Imperativen) fertig werden und würde zusammenbrechen. Gleichzeitig muss es jedoch irgendeine Instanz geben, die das System immer wieder ‚auf Kurs‘ bringt und deren Grenzen reproduziert. Diese Funktion wird vom Zentrum, im Falle des Rechtssystems von den Gerichten, erfüllt. Insgesamt hebt Luhmann drei Aspekte als charakteristische Merkmale der Gerichte als Zentrum des Rechtssystems hervor: 1.) Unabhängigkeit, 2.) Rechtsabhängigkeit sowie 3.) das Verbot der Justizverweigerung (vgl. Luhmann 1993: 330). Etwas allgemeiner formuliert könnte man sagen, dass sich das Zentrum durch seinen Entscheidungs- oder Operationszwang auszeichnet und sich dabei streng an Code und Programm des Systems ausrichtet. Diese beiden Kriterien sorgen für ein hohes Maß an Autonomie gegenüber anderen Teilsystemen. Gerichte müssen über alle eingehenden Fälle entscheiden, tun dies auf Basis der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht und orientieren sich dabei an den gültigen Rechtssätzen. Diese Eigenschaften des Zentrums müssen durch bestimmte institutionelle Muster abgesichert werden. In Luhmanns Konzept wird dies durch Organisationen und Professionen geleistet. Organisationen ersetzen ‚reine’ Interaktionen,
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sobald es um eine langfristige Synchronisation von Erwartungen geht. Die Basisoperationen von Organisationen sind dabei immer Entscheidungen, die sukzessiv an vorherige Entscheidungen anknüpfen (vgl. Luhmann 1997a: 812-865). Bereits Shils (1964) machte auf die besondere Bedeutung von Organisationen und Eliten aufmerksam, die als Zentrum der unterschiedlichen Subsysteme auftreten. Bei Shils waren jedoch Organisationen und Eliten über ein zentrales Werte- und Normensystem miteinander verbunden. Luhmann ersetzt diesen normativen Kern durch einen formalen Prozess, der nach den jeweils spezifischen Strukturen eines Funktionssystems abläuft. In den Zentren befinden sich bestimmte Organisationen, die verbindliche Entscheidungen hinsichtlich des jeweiligen Codes monopolisieren. Im Falle des Rechtssystems können in letzter Instanz nur Gerichte verbindliche Entscheidungen über Recht und Unrecht treffen. Spezifische Professionen treten dabei als Träger dieser Entscheidungen auf. Sie orientieren sich primär an der systemeigenen Leitdifferenz und weniger an einer allgemeinen Moral. Dies ist möglich sobald Regeln und Aufgaben der Juristen als Vertreter des Zentrums klar spezifiziert sind. Jedes Mitglied muss beispielsweise ein gewisses Arbeitspensum ableisten, bestimmte Termine einhalten und sich speziellen Verhaltensregeln unterwerfen. Zudem herrscht eine klare hierarchische Differenzierung nach unterschiedlichen Positionen und damit verbundenen Karrieren. Weiterhin übernimmt die Organisation und nicht der Richter die Verantwortung für die Folgen von Entscheidungen, die innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens getroffen werden. Die Entstehung einer eigenständigen juristischen Profession und das damit verbundene Expertenprestige ermöglicht es dem Juristen, selektiv im Rahmen der formalrechtlichen Relevanz zu entscheiden und andere Aspekte auszuklammern. Zusätzlich erlaubt die Professionalisierung einen formalen, objektiven Umgang der Juristen miteinander, unabhängig von rechtlichen Streitfragen (vgl. Luhmann 1993: 329-332). Durch die eben beschriebenen Merkmale wird die Bindung der Organisationen und Professionen an die systemeigenen Mechanismen gesichert und verstärkt. Daraus ergibt sich eine hohe personale (Mitgliedschaft), zeitliche (Orientierung an der Vergangenheit) und sachliche (systeminterne Beobachtung und Bewertung der eigenen Entscheidungen) Autonomie (vgl. ebd.: 325-328). Organisation und Profession ermöglichen es dem Zentrum somit gegenüber seiner Umwelt, d.h. vor allem gegenüber anderen sozialen System und den beteiligten Personen, ein hohes Maß an Unabhängigkeit zu wahren. Dadurch wird es beispielsweise Interessenvertreter_innen oder politischen Machthaber_innen erschwert, Einfluss auf den systemeigenen Prozess zu nehmen. Dies sieht bei Vertragsschlüssen und auch im Bereich der Gesetzgebung ganz anders aus, woran deutlich wird, dass die Peripherie des Systems weniger stark von der Umwelt abgeschottet ist. Im Anschluss daran lässt sich die Peripherie als Gegenpol zum
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Zentrum darstellen. Hier herrscht ein geringeres Maß an Autonomie, es gibt keinen Entscheidungszwang und auch die institutionellen Kriterien von Organisation und Profession sind kaum ausgeprägt. Aus diesem Grund können hier sehr unterschiedliche Interessen berücksichtigt werden, ohne direkt zu einer Entscheidung zwischen Recht und Unrecht gezwungen zu sein. In den Zentren werden Entscheidungen getroffen und von weiten Teilen der Peripherie anerkannt. Jeder Kaufvertrag etwa orientiert sich am Recht und agiert vor dem Hintergrund dessen allgemeiner Gültigkeit. Da die formalen Rechtssätze jedoch in einer Vielzahl unterschiedlicher Kontexte angewendet werden, ergibt sich gerade in der Peripherie ein besonders hohes Abweichungspotential. Dieses Abweichungspotential der Peripherie und deren Fähigkeit, sozialen Wandel zu initiieren, hat Luhmann in seiner Analyse sozialer Bewegungen berücksichtigt (vgl. Luhmann 1997a: 847-865).65 Solange sich diese Abweichung innerhalb eines gewissen Rahmens bewegt, scheint es aber sinnvoll, weiterhin von einem Konsens hinsichtlich der allgemeinen Gültigkeit der Rechtssätze auszugehen. Wird der Konsens, wie etwa im Falle des Betrugs, durchbrochen, so schalten sich die systemeigenen Zentren, also die juristische Profession und schließlich die Gerichte, ein. 22.3 Theoretischer und empirischer Gehalt des Modells Das eben dargestellte Konzept lässt sich auf unterschiedliche Funktionssysteme anwenden. Luhmann (vgl. 1993: 334-337) deutet dies für das Wirtschafts- und Politiksystem an, in deren Zentren er die Banken bzw. den Staat verortet. Dabei steht die Eigendynamik der jeweiligen Teilsysteme klar im Vordergrund, weshalb erst einmal kein Platz für eine gesamtgesellschaftliche Differenzierung nach Zentrum und Peripherie ist.66 Stattdessen wird das Modell auf die unterschiedlichen Teilsysteme übertragen und impliziert somit eine polyzentrische Gesellschaftsdifferenzierung. Im Zentrum werden verbindliche Entscheidungen hinsichtlich des jeweiligen Codes monopolisiert. Dies wird durch die Merkmale der Organisation und Professionalisierung institutionell abgesichert. Es dominieren eindeutige Regeln, Hierarchien sowie formale Verfahren, was ein hohes Maß an Autonomie sowie einen starken Selbstbezug des Systems ermöglicht. Die Peripherie hingegen ist weniger klar strukturiert. Sie bezieht sich auf die im Zentrum getroffenen Entscheidungen, entweder durch deren Anerkennung (Konsens) oder 65
Im nächsten Teil, in den Kapiteln 27 und 28 wird dieser Aspekt genauer aufgearbeitet. Ebenfalls im nächsten Teil, in den Kapiteln 27 und 29, wird Luhmanns Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion aufgegriffen und mit dem Modell von Zentrum und Peripherie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene in Verbindung gebracht. 66
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durch unterschiedliche Arten des Protests bzw. der Abweichung. In der Peripherie findet somit die alltägliche Reproduktion des Systems statt, gleichzeitig ist sie aber auch Ausgangspunkt gesellschaftlichen Wandels. Das Modell von Zentrum und Peripherie ermöglicht es, prinzipiell konträr erscheinende soziale Phänomen besser verstehen und erklären zu können. Auf diese Weise kann beispielsweise gesellschaftlicher Wandel und gleichzeitige Stabilität institutioneller Gefüge gut dargestellt und analysiert werden. Nicht allgemeine Werte und Normen, sondern funktionale Zentren, bestehend aus Organisationen und Professionen, verkörpern die Leitdifferenzen und Richtlinien, vor deren Hintergrund sich gesellschaftliche Veränderungen ereignen. Außerdem ermöglicht dieses Konzept, die Eigenlogik von Systemen und deren Beziehungen zu anderen Teilsystemen gleichzeitig zu berücksichtigen. Das Zentrum als operativer Kern sorgt für die Geschlossenheit des Systems, während die Peripherie als Kontaktzone zu anderen Systemen dient. Dabei ist die Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie von besonderer Bedeutung. Fragen der Legitimität im Bereich des Rechts oder der Politik lassen sich als Akzeptanz oder Nichtakzeptanz der Zentrumsorganisationen und ihrer Programme verstehen. Sozialer Wandel kann in diesem Zusammenhang als Weg von der Peripherie ins Zentrum der Funktionssysteme dargestellt werden. 67 Es lohnt sich also, das Konzept von Zentrum und Peripherie weiter auszuarbeiten und auf unterschiedliche Teilsysteme anzuwenden.68 Am Anfang steht dabei immer die Frage, wie sich ein System sinnvoll nach Zentrum und Peripherie unterteilen lässt. Dabei können die beschrieben Kriterien als Orientierung dienen. Anschließend kann man diese Differenzierung für unterschiedliche empirische Fragestellungen nutzen. Bei der Anwendung des Modells auf andere Teilsysteme ist es wichtig, deren unterschiedliche Funktionen zu berücksichtigen. Je nach Aufgabe des Systems bilden sich nämlich unterschiedliche Formen von Zentrum und Peripherie heraus (vgl. Hahn 2008: 429). Das lässt sich am Beispiel der Wissenschaft gut verdeutlichen. Auf den ersten Blick scheint das Zentrum der Wissenschaft relativ klar durch die Kriterien der Profession und Organisation abgrenzbar zu sein. Auf der anderen Seite gibt es hier jedoch keine Organisationsform, die, vergleichbar mit dem Gericht im Falle des Rechtssystems, ein eindeutiges Entscheidungsmonopol entlang des Codes ‚wahr/unwahr’ besitzt. Dezentralität ist hier bis zu einem gewissen Grad institutionalisiert, was mit der spezifischen Funktion des Systems zusammenhängt. An dieser Stelle sei zum Beispiel an Mertons Postulat des organisierten Skeptizismus erinnert, das Dezentralität quasi zur idealen Organisationsform der Wissenschaft erhebt (vgl. 67
Vgl. dazu die Kap. 27 und 28. Alois Hahn hat diese Unterscheidung auf das Sport- und das Gesundheitssystems angewendet (vgl. Hahn 1999; 2002; 2008: 421-428). 68
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Merton 1996b). Die hier dargestellten Kriterien sind daher nicht als starre Schablone zu verstehen, sondern müssen an den jeweiligen Anwendungsbereich angepasst werden. Einige der beschriebenen Elemente, allen voran die Kriterien der Organisation und Professionalisierung, scheinen jedoch allgemein genug zu sein, um sie auf unterschiedlichste Teilsysteme systematisch anwenden zu können. Dies wird anhand der beiden folgenden Kapitel beispielhaft verdeutlicht.
23. Zentrum und Peripherie im System der Massenmedien – Der partizipative Online-Journalismus und die Realität der Massenmedien 2.0
Die Massenmedien schienen Niklas Luhmann lange Zeit, im wahrsten Sinne des Wortes, nur am Rande interessiert zu haben.69 So sprach Luhmann den Massenmedien erst in der 1995 veröffentlichten Monographie Die Realität der Massenmedien den Status eines eigenständigen Funktionssystems zu. Luhmann versteht unter Massenmedien nunmehr alle Einrichtungen einer Gesellschaft, welche der technischen, massenhaften Verbreitung von Kommunikation dienen (vgl. Luhmann 2004: 10). Da er nicht die Inhalte, sondern die technisch bedingte Interaktionsunterbrechung als entscheidendes Kriterium für das operativ geschlossene Funktionssystem bestimmt, kann er unter den Massenmedien die verschiedenen Programmbereiche Journalismus, Unterhaltung sowie Werbung unisono subsumieren. Eine Unterscheidung der Massenmedien in Zentrum und Peripherie kann demnach weder an den publizierten Inhalten noch an deren medialem Kontext oder an einem spezifischen Medium ansetzen. Die Massenmedien orientieren sich nach Luhmanns Verständnis in ihren Operationen an der systemtypischen Leitdifferenz von Information und NichtInformation (vgl. Luhmann 2004: 32). Die Komplexität des Medienangebots ist mit Luhmann auf die elementare journalistische Selektionsentscheidung zurück zu führen, eine Information zu veröffentlichen oder eben nicht massenmedial 69 Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass sich Luhmann nicht schon frühzeitig mit Medien beschäftigt hätte. Allerdings waren dabei nicht die Massenmedien im Sinne der Presse und des Rundfunks gemeint. Vielmehr ist darunter Luhmanns Unterscheidung von Verbreitungsmedien und symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu verstehen: Verbreitungsmedien, wie beispielsweise die Sprache, Schrift, Bild oder die Druckpresse, bestimmen und erweitern für Luhmann den Empfängerkreis von Kommunikation. Dabei ist die Medienevolution unhintergehbar an die Kommunikationsevolution der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft gekoppelt: Während in einfachen Sozialsystemen Kommunikation lediglich unter Anwesenden möglich war, führte die Einführung der Schrift zu einer zeitlichen und interaktionalen Unterbrechung. Dies wiederum bedingt das Herausbilden eines neues Typus von Medien: den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, die Luhmann als Erfolgsmedien kennzeichnet. Ihre Aufgabe ist es, das an sich Unwahrscheinliche des Gelingens der Kommunikation (in Form der Ablehnung) in eine Erfolgswahrscheinlichkeit (in Form der Annahme) zu überführen. Hierdurch ist die im Folgenden zu klärende Frage aufgeworfen, ob die Massenmedien lediglich Verbreitungsmedien oder gleichsam Erfolgsmedien sind (Luhmann 1997a: 202-412).
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zugänglich zu machen. Da die Massenmedien in ihrer Gesamtheit auf jener dualistischen Publikationsentscheidung fußen, die für das gesamte System gleich und daher gleich bindend ist, ist eine Zentrum-Peripherie-Unterscheidung auch an diesem Punkt nicht möglich. Massenmedien konstruieren Realität – so der Kern von Luhmanns systemtheoretischer Betrachtung der Massenmedien. Doch steht hinter dieser holzschnittartigen Formel ein weitaus differenzierteres Verständnis. Die Realität der Massenmedien bedeutet für Luhmann zweierlei: Zum einen die Realität der eigenen Operationen, also das konkrete Drucken einer Zeitung oder das Ausstrahlen einer Rundfunksendung; zum anderen die (Medien)-Realität, die die Massenmedien durch ihre Operationen (erste Realität) erzeugen, also „was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint“ (Luhmann 2004: 14; Hervorhebung im Original). Aus der Perspektive der Umwelt, wie sie beispielsweise die Wissenschaft einnimmt, sind Unterschiede zwischen den massenmedialen Realitätskonstruktionen evident. Im Gegensatz zu den vorangegangen Ansätzen ist an dieser Stelle die Zentrum-Peripherie-Unterscheidung zumindest nicht grundlegend ausgeschlossen. So ist am Beispiel von Medien-Hypes zu beobachten, wie ein Thema durch eine alles überdeckende Berichterstattung schlagartig in das Zentrum der massenmedialen Öffentlichkeit gestellt wird, das zuvor und danach allenfalls in der Peripherie zu finden ist. Alternativ zu Luhmann schlägt Frank Marcinkowski (1993) in seiner systemtheoretischen Betrachtung der Massenmedien Publizität als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium vor, das das per se unwahrscheinliche Gelingen öffentlicher Kommunikation durch die Massenmedien wahrscheinlicher macht. Hierbei wird Publizität nicht im klassischen kommunikationswissenschaftlichen Sinne verstanden, sondern als „potentielle Informiertheit über Ereignisse, Sachverhalte und Handlungen in der (Welt-)Gemeinschaft durch die Zuwendung von bewußter [sic] Aufmerksamkeit“ (ebd. 1993: 56) definiert. Um auf den zuvor erörterten Punkt bei Luhmann zurückzukommen, ist an dieser Stelle davon auszugehen, dass Publizität im System der Massenmedien nicht homogen verteilt sein kann: Zum einen sind manche Themen von sich aus wichtiger als andere – oder werden nach journalistischen Maßstäben dazu gemacht – so dass sie zeitweise die gesamte Publizität auf sich ziehen. Zum anderen gibt es Themen, die – egal ob berechtigt oder unberechtigt – nur wenige Menschen erreichen. In diesem Zusammenhang spricht Marcinkowski (1993: 64) von „regelrechten Konjunkturen, Prozessen, der Inflation und Deflation“ der Publizität, für deren Ungleichverteilung er als Beispiel die Offenen Kanäle anführt. An dieser Stelle lässt sich die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie anschließen, die bei Luhmann selbst so nicht gegeben ist. Demnach gilt es zunächst zentrale Publizität von peripherer Publizität abzugrenzen. In einem weiteren Schritt
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ließe sich das Zentrum der Massenmedien durch seine hohe Publizität bestimmen, die im Zusammenspiel mit weiteren Strukturen wie (unterstellter) Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Resonanz das allgemeine Bekanntsein von Themen gewährleistet. Dagegen ist die Peripherie durch ihre verstreute, lose gekoppelte Publizität gekennzeichnet. Die Unterscheidung der Massenmedien hinsichtlich ungleich verteilter Publizität in Zentrum und Peripherie bietet zudem ein theoretisches Erklärungsmodell für ein neuartiges Phänomen, das die Kommunikationswissenschaft bisher noch nicht zu fassen vermochte: den partizipativen Online-Journalismus. Unter Heranziehung eines Unterscheidungskatalogs, der von Hahn (2008) vorgelegt wurde und auf den vorhergehenden theoretischen Überlegungen zu Luhmann basiert, wird im Folgenden der partizipative Online-Journalismus als Peripherie, der professionelle Online-Journalismus als Zentrum des Funktionssystems der Massenmedien verstanden. Dabei werden Unterschiede hinsichtlich der Kriterien des Entscheidungszwangs, der Kontrolle, des Potentials zur Abweichung, der Akteur_innen sowie der technisch-organisatorischen Struktur genutzt, um die Differenzierung nach Zentrum und Peripherie darzustellen. Die aus dieser Analyse resultierenden Erkenntnisse sind nicht auf den Onlinejournalismus beschränkt, sondern bis zu einem gewissen Grad auf das System der Massemedien als solches übertragbar. Der Versuch, den partizipativen Online-Journalismus zu definieren, droht bereits daran zu scheitern, dass in dem diffusen Schlagwort Partizipation die verschiedensten Subtexte zusammenfließen. So überrascht es kaum, dass bezeichnenderweise Tim O'Reilly in seiner Programmschrift über das abermals diffusere Schlagwort Web 2.0 gerade Partizipation als ein wesentliches Charakteristikum für jenes vermeintlich neue WWW anführt (vgl. O'Reilly 2005). Die klassische Kommunikationswissenschaft steht zudem vor dem Problem, dass ein Großteil ihrer etablierten Beschreibungstermini und Analyseinstrumente für diese neuartige Form des Publizierens im Internet kaum mehr greifen (vgl. Neuberger 2007: 252). Um diesem Problem zu begegnen und eine zumindest vorläufige Definition des partizipativen Online-Journalismus zu erarbeiten, wählt Engesser (2008a) die Methode einer Begriffsexemplifikation. Nach Engesser umfasst der partizipative Journalismus drei semantische Felder (Prozess, Profession, Partizipation), aus denen er folgende Definition ableitet: „Partizipativer Journalismus beteiligt die Nutzer zumindest am Prozess der Inhaltsproduktion, wird außerhalb der Berufstätigkeit ausgeübt und ermöglicht die aktive Teilnahme an der Medienöffentlichkeit“ (Engesser 2008a: 66).
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23.1 Entscheidungszwang Worin unterscheiden sich nun der professionelle und der partizipative Journalismus, die sich im Internet mit ihren Angeboten gegenüberstehen? Eine erste Antwort hierauf zeigt sich bei einer Gegenüberstellung hinsichtlich des Entscheidungszwangs, der im Zentrum hoch, in der Peripherie gering ist. Der hier abstrakt formulierte Zwang zu Entscheidungen findet seine Entsprechung in Bezug auf die Medien in der Frage, nach welchen Regeln Nachrichten ausgewählt werden. Vergleicht man unter diesem Aspekt den professionellen mit dem partizipativen Journalismus, so stellt man fest, dass für den professionellen On lineJournalismus das ‚klassische’ Konzept des/der Journalist_in als Gatekeeper zutrifft. Diese Forschungstradition der Kommunikationswissenschaft sieht den/die journalistische/n Akteur_in (z.B. den/die einzelne/n Journalist_in oder die Medienorganisation) als Pförtner_in, der/die darüber entscheidet, welche Nachrichten öffentlich kommuniziert werden und welche nicht (vgl. Kunczik/Zipfel 2005: 241-245). In Anlehnung daran und zugleich in Abgrenzung hiervon wird für den partizipativen Online-Journalismus das Prinzip des so genannten Gatewatchings formuliert, wonach sich der Fokus von der Bewachung hin zur Beobachtung des journalistischen Schleusentores verschiebt. So entscheiden die kollaborativ arbeitenden Nutzer auf der Eingangs-, Ausgangs- und der Antwortstufe, was die wesentlichen Informationen aus dem verfügbaren Material sind (vgl. Bruns 2009: 113). 23.2 Kontrolle Ein weiteres zentrales Charakteristikum des partizipativen Online-Journalismus besteht in der Art und Weise, wie Kontrolle über Meinungen und Informationen ausgeübt wird. Während im professionellen Journalismus die Qualitätsprüfung innerhalb der Profession, beispielsweise in der Redaktion, und somit vor der Veröffentlichung erfolgt, geschieht dies im partizipativen Online-Journalismus erst danach. Dabei sind es in diesem Fall die Nutzer_innen, die nicht nur die Inhalte erstellen, sondern sich im wechselseitigen Austausch selbst regulieren. So konstatiert Brian McNair unabhängig von dem hier erörterten ZentrumPeripherie-Ansatz: „The control of the centre [hier ebenfalls im Sinne der klassischen Massenmedien; Anmerkung der Autor_innen] (and the central political authorities too) is undermined“ (McNair 2009: 348). Dem professionellen Journalismus mit seinem so genannten „Top-Down“-Prinzip der Kontrolle, wird das
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„Bottom-Up“-Prinzip des partizipativen Online-Journalismus gegenübergestellt (vgl. Bowman/Willis 2003). 23.3 Abweichungspotential In unmittelbarem Zusammenhang mit den unterschiedlichen Kontrollprinzipien steht das Abweichungspotential, das im Zentrum gering, in der Peripherie dagegen hoch ist. Das größere Abweichungspotential der Peripherie zeigt sich beim partizipativen Online-Journalismus im Besonderen bei der Themenselektion und -bewertung: Welche Themen es auf die Agenda der Massenmedien schaffen, wird im professionellen Online- wie auch Offline-Journalismus durch allgemein anerkannte Regeln bestimmt, wie es beispielsweise Nachrichtenfaktoren sind. Extreme Meinungen, wie sie z.B. von extremistischen politischen Parteien vertreten werden, finden unkommentiert kaum Eingang in die Berichterstattung des professionellen Journalismus. Der partizipative Online-Journalismus ist hingegen durch weitaus größere Freiräume zur Abweichung gekennzeichnet: Im Rahmen des partizipativen Online-Journalismus kann über Themen mit ausschließlich persönlicher Relevanz berichtet werden, die nach professionellen Maßstäben keine Chance auf Publizität gehabt hätten. So geht aus einer Befragung über die Selbsteinschätzung von Bloggern hervor, dass am meisten „Berichte, Episoden, Anekdoten aus [dem] Privatleben“ (Schmidt/Wilbers 2006) veröffentlicht werden, denen lediglich eine persönliche, selbstbezogene Relevanzbegründung zu Grunde liegt. 23.4 Akteure Werden der professionelle und der partizipative Online-Journalismus hinsichtlich ihrer Akteur_innen einander gegenüber gestellt, so zeigen sich bei der Frage nach der Mitgliedschaft weitere grundlegende Unterschiede: Aus der letzten repräsentativen Journalisten-Befragung Journalismus in Deutschland geht hervor, dass der Zugang zum professionellen Journalismus durch Studium und anschließender berufspraktischer Ausbildung (z.B. Volontariat, Journalistenschule) strikt limitiert und somit einer kleinen gesellschaftlichen Gruppe vorbehalten ist (vgl. Weischenberg et al. 2006: 353). Demgegenüber steht der partizipative Online-Journalismus als Teil jenes so genannten „Mitmachnetz[es]“ (Gscheidle/ Fisch 2007: 393-394), das die (technischen) Hürden senkt, im Internet eigene Inhalte aller Art zu publizieren. Während im professionellen Online-Journalismus ausgewiesene Expert_innen arbeiten, gründet sich der partizipative Onli-
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ne-Journalismus in seinem Selbstverständnis gerade darin, dass auch Laien, wenn auch nicht nach journalistischen Standards, Öffentlichkeit herstellen können. Grundsätzlich entspricht dieser Unterschied in den Zugangsvoraussetzungen der Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie, wonach sich im Zentrum Experten mit professioneller Ausbildung, in der Peripherie dagegen Laien ohne die ausgewiesene Expertise einer journalistischen Berufsausbildung sammeln. Interessanterweise rückt im partizipativen Online-Journalismus wiederum der/die Akteur_in in den Vordergrund, um den/die sich gleichsam ein „Cult of Personality“ (Thurman 2008: 146) legt. Die so durch die Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie beschriebenen, unterschiedlichen Fremd- und Selbstbilder der Akteur_innen decken sich zudem mit den empirischen Befunden verschiedener Studien, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: „Subjektivität und Meinungsfreude werden Weblogs zugeschrieben, Richtigkeit, Relevanz und Neutralität dem professionellen Journalismus“ (Neuberger et al. 2007: 110). 23.5 Technische und organisatorische Struktur Abschließend gilt es die unterschiedlichen Produktionsstrukturen des professionellen und des partizipativen Online-Journalismus durch die soziologische Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie zu erfassen. Diese Unterschiede, die sich wechselseitig bedingen, sind sowohl auf technischer als auch auf organisatorischer Ebene der Produktion von Inhalten zu lokalisieren. Hinsichtlich der technischen Struktur ist der professionelle Online-Journalismus durch eine Linearität der Produktion gekennzeichnet, die ihre Entsprechung auch in der Organisationsform findet: Informationen werden recherchiert, nach formal-professionellen Standards und mittels hoch entwickelter Technologie aufbereitet und schließlich kontinuierlich verbreitet; die Aufgliederung in Sender (Journalismus) und Empfänger (disperses Massenpublikum) bleibt ohne einen direkten Rückkopplungskanal asymmetrisch – so besagt es die für die Kommunikationswissenschaft grundlegende Definition von Massenkommunikation, die ebenfalls eine technische sowie eine organisatorische Komponente umfasst (vgl. Maletzke 1963: 32-34). Der partizipative Online-Journalismus hingegen erweitert die professionelle, konsequent lineare Logik des Produktions- und Vermittlungsprozesses von Medieninhalten durch die Inklusion des ‚aktiven Publikums’. Die technischen Möglichkeiten des partizipativen Online-Journalismus zielen, wie es der Neologismus des „produsers“ (Harrison/Barthel 2009: 161) ausdrückt, auf die Verschmelzung der Produzenten- (producer) und der Konsumentenrolle (user). Wie bereits für die Kontrollmechanismen und den Entscheidungszwang aufgezeigt, ergibt sich hieraus die Möglichkeit eines kolla-
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borativen Journalismus, der Rückkopplungen innerhalb des Produktions- als auch des Vermittlungsprozesses zulässt. Wohingegen der professionelle OnlineJournalismus notwendigerweise mit festen, klar abzugrenzenden Redaktionen arbeitet, bricht der partizipative Online-Journalismus mit dieser starren Struktur. Dies entspricht dem Zentrum-Peripherie-Konzept, wonach das Zentrum in klare Hierarchien, die Peripherie in dezentrale, lose Verbindungen untergliedert ist. 23.6 Die Semiperipherie: Zwischen professionellem und partizipativem Online-Journalismus Nach der Kontrastierung des partizipativen mit dem professionellen OnlineJournalismus, wird im Folgenden die so genannte Semiperipherie dargestellt, in der sich professionelle und partizipative Elemente vermischen. Nach der Logik der Differenzierungsform von Zentrum und Peripherie, wie sie von Hahn (2008) vorgeschlagen wurde, ergibt sich die Semiperipherie aus der Anwendung der Unterscheidung auf sich selbst. Die abstrakt hergeleitete Semiperipherie entspricht in Bezug auf den Online-Journalismus jenen professionell-partizipativen Nachrichtensites, die Engesser definiert als „eine Hybridform aus professionell-redaktionellen und partizipativen Formaten. Bei ihnen findet die Nutzerbeteiligung auf Beitragsebene statt. Sie beziehen ihre Inhalte teilweise oder vollständig von Nutzern und verfügen gleichzeitig über eine professionelle Redaktion, die die eingesandten Beiträge selektiert, kontrolliert oder redigiert“ (Engesser 2008b: 115).
Bei einer weiterführenden Untersuchung mittels der für das Zentrum bzw. die Peripherie kennzeichnenden Kriterien zeigt sich die Semiperipherie inkonsistent gegenüber jenem Unterscheidungskatalog, der eine trennscharfe Differenzierung von professionellem und partizipativem Online-Journalismus geleistet hat: In ihrer technischen Struktur entspricht die Semiperipherie klar der Charakterisierung der Peripherie, wonach sich die (aktive) Produzent_innen- und die (passive) Konsument_innen- bzw. Rezipient_innenrolle vermischen und es zu Rückkopplungseffekten im kollaborativen Arbeitsprozess kommen kann. Hinsichtlich ihrer Organisation unterliegt die Semiperipherie zum einen professionellen Machtund Kontrollstrukturen, zum anderen arbeitet sie nach Maßstäben der dezentral organisierten ‘Blogosphäre‘, die gemeinhin als die ideelle Gesamtheit aller Weblogs verstanden wird. Engesser spricht in diesem Zusammenhang von einer Vereinigung von professionell-redaktioneller und partizipativer Vermittlung öffentlicher Kommunikation.
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Entscheidend ist für professionell-partizipative Nachrichtensites, die sich abstrahiert als Semiperipherie verstehen lassen, dass unter publizistischen und ökonomischen Gesichtpunkten die Kontrolle über die Partizipation letztlich der Profession, also dem Zentrum obliegt. Somit stellen professionell-partizipative Nachrichtensites für den professionellen Online-Journalismus eine Möglichkeit dar, der wirtschaftlichen Herausforderung durch die Peripherie zu begegnen. 23.7 Gegenöffentlichkeiten Die Frage nach dem kritischen, gar subversiven Potential, die in Bezug auf den partizipativen Online-Journalismus vielerorts gestellt wird, kann ebenfalls durch das Zentrum-Peripherie-Konzept erfasst werden. Wie Gegenöffentlichkeiten sich als Teilöffentlichkeiten von der hegemonialen Öffentlichkeit abgrenzen (vgl. Krotz 1998: 653), so grenzt sich der partizipative vom professionellen OnlineJournalismus, die Peripherie vom Zentrum ab. Diese Überlegung wird im Folgenden mit Hilfe des dargestellten theoretischen Rahmens sowie anhand empirischen Materials aufgearbeitet. Aus der Gesamtkonstellation der Merkmale des partizipativen OnlineJournalismus ergeben sich jene Freiräume, aus denen Gegenöffentlichkeiten entstehen können. Allerdings kann hierbei nicht von einer homogenen Gegenöffentlichkeit gesprochen werden, die die Peripherie gleichartig ausfüllt. Vielmehr ist es eine Vielzahl von Gegenöffentlichkeiten, die der lose strukturierte partizipative Online-Journalismus herzustellen vermag. Die Ergebnisse einer qualitativen Analyse exemplarischer Online-Angebote des partizipativen Journalismus bestätigen die aus dem Zentrum-PeripherieKonzept abgeleitete Argumentation empirisch: Engesser und Wimmer (2009) setzen mit einer graduellen Abstufung von Aktivität an, indem sie drei verschiedene Formen von Gegenöffentlichkeiten unterscheiden (Beitragselemente in professionellen Medienformaten, Beiträge in professionellen Medienformaten, Partizipative Medienformate). Diesen drei Phänomenen wird jeweils eine spezifische Form des partizipativen Journalismus zugeordnet: So kann erstens im Rahmen des professionellen Journalismus auf der Ebene der Beitragselemente durch Hinweise oder Ergänzungen (z.B. Kommentare) zumindest potentiell Gegenöffentlichkeit erzeugt werden. Als Beispiel hierfür werden die so genannten Leserreporter der Bild-Zeitung angeführt, die dem Boulevard-Blatt quasiprivates Bildmaterial zusenden, das nach professioneller Kontrolle abgedruckt wird. Zweitens führen Engesser und Wimmer professionell-partizipative Nachrichtensites wie beispielsweise das südkoreanische Web-Format OhmyNews an, die den partizipierenden Nutzer_innen die Möglichkeit bieten, eigenständige
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Beiträge zu publizieren. Allerdings unterliegt auch diese Form der (quasi-)journalistischen Partizipation einer professionellen Kontrolle. Auf der dritten Ebene sind Medienformate wie individuelle Weblogs (z.B. Bildblog) als auch Kollektivformate (z.B. Indymedia, Channel2) anzusiedeln, die in ihrer Gesamtheit als Foren für Gegenöffentlichkeit fungieren. Wenngleich auf allen drei Ebenen zumindest Potentiale der Gegenöffentlichkeit vorhanden sind, so sind die Unterschiede zwischen den partizipativjournalistischen Formaten keinesfalls zu vernachlässigen. Ungeachtet der großen Reichweite wirken der Realisierung von Gegenöffentlichkeit durch Beitragselemente in der professionellen Berichterstattung die strikten Vorgaben der Profession entgegen. Eine mittlere Qualität und eine mittlere Reichweite der Gegenöffentlichkeit attestieren die Autoren dagegen partizipativen Beiträgen, die in professionellen Medienformaten veröffentlicht werden. Allerdings wirken auch hier produktionsspezifische Vorgaben und Einflussnahmen der Profession. Das kommunikationstheoretische Ideal der Gegenöffentlichkeit wird am stärksten bei partizipativen Medienformaten als verwirklicht angesehen, da diese eine relativ große inhaltliche wie auch ökonomische Unabhängigkeit genießen. Allerdings steht dem die geringe Verbreitung gegenüber, die eine Breitenwirkung auf die professionelle Medienberichterstattung verhindert. Zusammenfassend konstatieren die Autoren, dass es angesichts der untersuchten Bandbreite von partizipativen Formaten sinnvoll ist, von „Gegenöffentlichkeiten im Plural“ zu sprechen, um dadurch auf deren „verschiedene Qualitäten und Reichweiten“ hinzuweisen (Engesser/Wimmer 2009: 60). Abschließend lässt sich daher festhalten, dass die Realisierung von Gegenöffentlichkeiten innerhalb der Peripherie tendenziell mit einer geringeren Breitenwirkung einhergeht. 23.8 Partizipation und Peripherie im System der Massenmedien Der Erkenntnisgewinn der hier vorgeschlagenen Anwendung der ZentrumPeripherie-Unterscheidung auf das soziale System der Massenmedien ist ein doppelter: Zum einen konnten Luhmanns systemtheoretische Ausführungen über die Massenmedien um einen wesentlichen, bis dato unbeachteten, Aspekt erweitert werden. Zum anderen ermöglicht sie eine umfassende Analyse des partizipativen Online-Journalismus, der von der Kommunikationswissenschaft bislang nur partiell erfasst wurde. Das Zentrum-Peripherie-Konzept bietet die Möglichkeit, die bestehenden empirischen Erkenntnisse zusammenzuführen und mittels Luhmanns Systemtheorie zu fundieren. Hieraus ergibt sich eine Makroperspektive auf den partizipativen Online-Journalismus, von der ausgehend professionell-
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partizipative Nachrichtensites wie auch der Zusammenhang von Partizipation und Gegenöffentlichkeit erfasst werden können. Aus der Gegenüberstellung des professionellen und des partizipativen Online-Journalismus wurde deutlich, dass sich das Zentrum des Systems der Massenmedien durch Kriterien der Profession sowie der Organisation und der damit einhergehenden klaren Trennung zwischen Produzent_in und Publikum darstellen lässt. Die vergleichsweise geringen Möglichkeiten der Abweichung gehen mit großen Reichweiten einher. Diese beiden zusammenhängenden Charakteristika sind wesentliche Voraussetzungen für die Reproduktion des sozialen Systems der Massenmedien. Im Gegensatz zum Zentrum sind die Professionalitäts- und Organisationsstrukturen der Peripherie weitaus schwächer ausgeprägt. Sie ermöglichen, die für die Massenmedien konstitutive strikte Trennung von Produzenten- und Rezipientenrolle zu dynamisieren. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass das Diktum von Brechts Radiotheorie, wonach jeder (Rundfunk-)Empfänger auch ein Sender sei, in der Peripherie tatsächlich realisiert wird (vgl. Brecht 1932: 259-263). Die Möglichkeit, von der vorherrschenden Berichterstattung des Zentrums abzuweichen, leistet die Peripherie durch die Bildung von heterogenen Gegenöffentlichkeiten. Aus systemtheoretischer Perspektive erweist sich die Peripherie zudem als eine Kontaktzone zur Umwelt, die es auch nicht-journalistischen Akteur_innen ermöglicht, Informationen öffentlich zugänglich zu machen. Neben der inhaltlichen Vielfalt der Peripherie und deren Fähigkeit, sozialen Wandel zu initiieren, muss jedoch auch ihre begrenzte Reichweite beachtet werden. Die vorliegende Analyse hat den evidenten Einfluss des Zentrums der Massenmedien auf die Peripherie herausgestellt, der sich beispielsweise bei professionell-partizipativen Nachrichtensites zeigt. Auch die Peripherie orientiert sich meist klar am spezifischen Code des Mediensystems und trägt damit ebenfalls zu dessen Reproduktion bei. Gleichzeitig ist sie jedoch weitaus diffuser und heterogener strukturiert, weshalb es sinnvoll erscheint, diskursive Wandlungsprozesse als einen Weg von der Peripherie ins Zentrum des Mediensystems zu beschreiben. Dorthin, d.h. ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit, stoßen insbesondere politische Kommunikationen in der modernen Gesellschaft schnell und wirksam vor. Inwiefern sich dies aus Sicht der Evolution und Funktion des politischen Systems erklären lässt, zeigt das folgende Kapitel.
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Zentralisierung und damit die Konstruktion einer gesellschaftlichen Mitte ist in der modernen Gesellschaft mitunter eine politische Angelegenheit. An der Schwelle zur politischen Moderne wird die Konzentration von Gewalt in einem Souverän, verkörpert durch den so genannten Leviathan, ideengeschichtlich angesetzt (vgl. Hobbes 1966: 134).70 Auch rein sprachlich lassen zahlreiche Schlüsselbegriffe politischer Praxis und Theorie implizite Bezüge auf ZentrumPeripherie-Relationen – oder zumindest auf Zentralität – erkennen: ‚Zentralstaat‘, ‚Zentralgewalt‘, ‚Macht‘, ‚Regierung‘ und ihr ‚Sitz‘, ‚staatliche Steuerung‘. In der Verfassungsgeschichte Europas gilt die Zentralisierung von zuvor diffus feudal verteilter, und privater Machtressourcen als Voraussetzung für die Entstehung von Zentralstaaten (vgl. Reinhard 2000: 141-182). Soziologisch betrachtet kristallisiert Herrschaft im Sinne der Weberschen Definition um charismatische Führer, traditionelle Ordnungen oder formell-rationale Bürokratien (vgl. Weber 1956a: 99-110). Und selbst in kybernetisch inspirierten Modellen impliziert systemischer Output oder ‚staatliche Steuerung‘ eine zentrale Organisationseinheit, die politische Programme implementiert (vgl. Easton 1965; Mayntz 1980a: 237). Die Wirkmächtigkeit von Zentralismen in der Semantik des politischen Denkens ist damit unübersehbar – und wie sich zeigen lässt, korrespondiert dies mit funktionalen Gegebenheiten. Umso mehr verwundert es, dass man in der politischen Theorie beinahe vergeblich nach einer systematischen Verwendung des Begriffspaares ‚ZentrumPeripherie’ sucht. Allein die Entwicklungstheorien kennen in Bezug auf die internationalen Wirtschaftsbeziehungen ein „Zentrum-Peripherie-Modell“ (Nohlen 1999: 316). Gemeint sind hiermit politisch-ökonomische Abhängigkeiten zwischen Staaten bzw. Produktionsgebieten auf der Ebene der Weltgesellschaft – wir bewegen uns im Kontext der früher schon angesprochenen Dependenztheorien (siehe Kapitel 3). Auch im kleineren Maßstab finden sich entsprechend räumliche Zentralitätskonzepte, wenn in Bezug auf die Landstriche an Staats70
Diese durchaus umstrittene ideengeschichtliche Strategie des Identifizierens von Schwellen, Übergängen und Bruchstellen wird im hier genannten Sinne verfolgt von Leo Strauss (1965: 13-14, 108125 und 153; Bluhm 2002: 102).
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_25, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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grenzen von Peripherien gesprochen wird, oder aber regionale und kommunale Gebietskörperschaften in ihrer Abhängigkeit von einer nationalen Zentralgewalt beschrieben werden. Es ist dieser räumliche Aspekt, den die Demokratietheorie um den Gedanken der organisatorischen Verwaltungsgliederung erweitert, wenn der Zentrumsbegriff im Kontext von Zentralismus, Unitarismus und Föderalismus auftaucht. Wenn „[l]ocal governments perform a series of important functions, but they are the creatures of the central government“ (Lijphardt 1999: 17), die lokalen Regierungskörperschaften also innerhalb eines Staates von der Zentralgewalt konstitutionell abhängig sind, dann ist dies ein typisches Merkmal ‚majoritärer‘ Demokratietypen. Mit anderen Worten sind zentralistische staatliche Strukturen meistens Teil einer Demokratieform, deren Entscheidungsprinzip die Mehrheitsregel ist. Föderale Staaten, die somit die kommunale oder gliedstaatliche Peripherie durch verfassungsmäßig garantierte Kompetenzen teilweise autonom stellen, tendieren danach stärker zu konsensueller Entscheidungsfindung (vgl. Lijphardt 1999: 38). Das demokratietheoretische Argument im Hintergrund lautet, dass sich lokale Autonomien „aus dem Mißtrauen gegenüber der Zentralmacht [ergeben] und […] daher ein Ausdruck der Freiheit vom zentralisierten Staat [sind]“ (Sartori 1997: 313). Somit wird die Differenz von Zentrum und Peripherie in die Diskussion des demokratietheoretischen Freiheitsbegriffes eingeführt. Der Zentralstaat soll zur Verwirklichung institutioneller Autonomie und Freiheit in seiner Macht begrenzt werden, um eine „polyzentrische […] Verteilung der politischen Macht“ (Sartori 1997: 313) zu schaffen. Letzteres gilt dann zugleich als Schutzvorkehrung und Abgrenzung gegenüber autoritären Herrschaftsformen. Demokratie in diesem Sinne ist kein Verlust der Zentralmacht, sondern nur deren Einhegung in Form vieler kleiner Zentren, die als Gegengewicht wirken.71 Diese Beobachtung zweiter Ordnung lässt einen Zusammenhang von Demokratie und der Auflösung eines gesellschaftlichen wie politischen Zentrums vermuten. Sie macht aber auch deutlich, wie wenig die Differenz von Zentrum und Peripherie bisher von der politischen Theorie systematisch ausgearbeitet worden ist. Um die Hypothese eines wirkmächtigen, aber unter funktionalen Gesichtspunkten nicht mehr gesellschaftsweit relevanten Zentrums in demokratischen Gesellschaften nachvollziehen zu können, bietet es sich an, auf Luhmanns Einführung des Konzepts ‚Zentrum/Peripherie’ in die Beschreibung des politischen Systems zurückzugreifen. So lässt sich zeigen, dass die Evolution eines politischen Systems bis hin zur demokratischen Regierungsform nicht ohne Zentrumsbildung bzw. Zentralisierung auskommen konnte. Im Zuge der Ent71 Von seiner normativen Struktur her wird uns dieses Argument später bei Luhmann (siehe Abs. 24.3) wieder begegnen.
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wicklung von Demokratien westlich-europäischer Prägung entsteht jedoch eine organisatorische Binnendifferenzierung des politischen Systems. Diese lässt sich mit den Begriffen Zentrum und Peripherie beschreiben, woran sich die Frage nach den – empirischen und theoretischen – Potenzialen und normativen Implikationen dieses systemtheoretischen Beschreibungsmodus anschließt. Es zeigt sich, dass die Einführung der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie in das politische System dazu führt, den Fokus stärker auf die Peripherie zu richten – weg vom Staat, der unter den Bedingungen funktionaler Differenzierung kein gesellschaftliches Zentrum mehr ist. 24.1 Die Ausdifferenzierung der Politik und der Staat als Zentrum der Gesellschaft Die grundlegende und eingangs schon angedeutete Frage nach den Zentralisierungstendenzen im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung eines politischen Systems lässt sich im Anschluss an Luhmanns Systemtheorie erfassen. Im Unterschied zu älteren Differenzierungstheorien, in denen „politics as a system of behaviour“ (Easton 1965: x) aufgefasst, oder als „polity […] composed of the ways in which the relevant components of the total system are organized with reference to one of its principal functions“ (Parsons 1967a: 300) gedacht wird, geht Luhmann nicht von einer dekompositorischen Logik aus, die den Teilsystemen bestimmte Funktionen in Bezug auf das Gesamtsystem zuschreibt. 72 Stattdessen ist Luhmanns Soziologie des politischen Systems vom Grundgedanken der Emergenz geprägt, sodass von einer kompositorischen Logik gesprochen werden kann, die Zentralisierungstendenzen in den Blick zu nehmen vermag. „Der Übergang von (relativem Chaos) zu (relativer) Ordnung braucht keine ordnende Hand, er wird gleichsam lokal, durch emergierende Einheiten ausgelöst, die für sich und ihre Umwelt Beschränkungen in den Anpassungsmöglichkeiten erzeugen“ (Luhmann 2002: 69-70).
Bezüglich der Ausdifferenzierung eines politischen Systems bedeutet dies, dass lokale Machtbündelungen in Gestalt von Über- und Unterlegenheiten entstehen
72 ‚Dekompositorisch‘ agiert das strukturell-funktionalistische Programm der Systemtheorie im Sinne Parsons und Eastons: Ausgehend von einer globalen Struktur wird nach den internen funktionalen Leistungen gefragt, die den Systemerhalt gewährleisten. Es handelt sich also um eine Zerlegung (‚Dekomposition‘) des Ganzen in seine funktionalen Teile. Anders bei Luhmann (1970a: 122), der annimmt, dass sich Strukturen erst aufgrund funktionaler Lösungen für soziale Probleme bilden, und zwar durch Generalisierung von Verhaltenserwartungen. Zu der mittlerweile in der Politikwissenschaft kanonischen Systemtheorie-Trias Easton-Parsons-Luhmann siehe den Artikel von Richard Münch (1995: 625-635).
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und so nach und nach diese Form der Macht-Kommunikation generalisieren.73 Die so entstehenden lokalen, intern hierarchisch gegliederten Segmente stehen ähnlichen Strukturen in ihrer gesellschaftlichen Umwelt gegenüber – kommt es zu Kontakten, mag sich eine übergeordnete Vermittlungsinstanz bilden. Hiermit entstehen erste Kristallisationskerne einer Zentralisierung von Macht, die sich mit zunehmender Komplexität der Beziehungen unter den einzelnen Segmenten als evolutionäre Errungenschaft erweist. Macht bzw. Überlegenheit wird so für einen größeren Kreis von Untergebenen identifizierbar – zugleich aber auch gezielter benenn- und angreifbar. Damit geht eine symbolische Generalisierung des Mediums Macht einher, sodass Kommunikationen, die mit der Unterscheidung ‚Überlegene/Unterlegene’ operieren, an die Ungleichgewichte der stratifizierten Gesellschaft anschließen können: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ ruft Büchner (1945: 39) den hessischen Bauern zu. Für diese zunehmende operative Schließung eines politischen Systems wird Macht durch eine formale Ämterordnung auf Dauer gestellt, welche sich zum souveränen Nationalstaat weiterentwickelt. Dieser schließt, wie man an den Beschreibungen durch die Staatstheoretiker der frühen Neuzeit ablesen kann, die Monopolisierung von Macht als Kommunikationsmedium innerhalb des politischen Systems vorerst ab. Damit korrespondiert, dass infolge der Religionskriege Politik die säkulare Repräsentation der Einheit der Gesellschaft in der Gesellschaft übernimmt (vgl. Willke 1992: 25). Die zentralisierte, souveräne Staatsgewalt wird eingesetzt, „um Gewalttätigkeiten anderer Provenienz zu unterbinden“ (Luhmann 2002: 192) – der Staat gilt als Machtzentrum und Politik als Mitte der Gesellschaft. Dies ist in der evolutiven Logik von Luhmanns Systemtheorie eine notwendige Entwicklung: Nur im Zuge der Monopolisierung und Zentralisierung von Macht konnte sich ein autopoietisches System der Politik überhaupt erst ausdifferenzieren – parallel zur Umstellung der Gesamtgesellschaft auf funktionale Differenzierung. In dieser Form können sich Staat und Politik als Mitte der Gesellschaft jedoch nur solange halten, wie sie durch die Spitze der gesellschaftlichen Stratifikation, die Adelsschicht, monopolartig getragen werden. Wie Luhmann (2002: 206) anmerkt, dient der absolute Staat der Verteidigung der sozialen Stratifikation gegen die zunehmend funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Aber „[a]n 700 000 Menschen schwitzen, stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird es [das Volk; Hinzufügung der Autor_innen] erpresst, die Presser berufen sich auf die Regierung, und die Regierung sagt, das sei nötig, um die Ordnung im Staat zu erhalten“ (Büchner 1945: 40). Auch in diesem Zitat ist es
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Vgl. dazu und im Folgenden soweit nicht anders angemerkt Luhmann (2002: 70-77).
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die Staatssemantik, die als der Kern einer (realitätswidrigen bzw. schreiend ungerechten) Beschreibung des politischen Systems als Einheit aufgezeigt wird.74 Gleichermaßen sind sich Luhmann und Willke darin einig, dass der Wohlfahrtsstaat die finale Ausprägung der Tendenz des politischen Systems ist, sich selbst als Zentrum der Gesellschaft zu beschreiben.75 Durch die Gewährung sozialer Bürgerrechte und wohlfahrtsstaatlicher Leistungen tritt der Staat die Aufgabe einer Inklusion der Gesamtbevölkerung in das politische System an und macht sich somit zwangsläufig zum Adressaten weitreichender (nicht selten miteinander unvereinbarer) Ansprüche und Forderungen (vgl. Luhmann 2002: 423). Entsprechend bildet sich eine gesellschaftliche Sprachregel aus, die vom Wohlfahrtsstaat verlangt, er solle durch die Lösung des Verteilungsproblems „die hierarchische Spitze und das Zentrum der Gesellschaft repräsentieren“ (Willke 1992: 22; vgl. auch Lessenich 2003a: 9). Zugleich soll er die selbstorganisatorischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft nicht stören, d.h. er soll sich nicht in die autonomen Logiken anderer funktionaler Subsysteme der Gesellschaft einmischen und etwa dem arbeitslosen Familienvater vorschreiben, welches Mittagessen er seiner Tochter bereitet. Auf dieses Dilemma hin haben sich allerdings, entgegen der meist auf ‚den Sozialstaat‘ abzielenden Kritik Luhmanns,76 unterschiedliche sozialstaatliche Architekturen herausgebildet, in denen das Verhältnis von Staat (politischem System), Markt (Wirtschaft) und Familie unterschiedlich geregelt ist – man denke etwa an Esping-Andersens viel diskutierte Unterscheidung von drei idealtypischen Welten des Wohlfahrtskapitalismus (Esping-Andersen 1990). Da innerhalb dieser Typologie die Rolle des Staates stark variiert, wäre schließlich zu hinterfragen, ob tatsächlich auch in der Semantik der angelsächsisch-liberalen politischen Kultur der Wohlfahrtsstaat die ‚Spitze‘ der Gesellschaft bildet. Und auch innerhalb der deutschen, klassischerweise an einem zentralistisch-konservativen Modell orientierten Sozialstaatsarchitektur werden zunehmend Reformen angestrengt, die semantisch dann nicht mehr mithilfe der traditionellen ZentrumPeripherie-Logik eingeholt werden können – sodass schließlich gar von einer hybriden Form des „manageriellen Staates“ (Rüb 2003) die Rede ist.
74 Der Hessische Landbote wird deshalb nach 1945 als Auftakt zu einer Publikationsreihe deklariert, die den Staat „in seiner nackten Realität aufzeigen soll“ (Büchner 1945: 5). 75 Dasselbe bemerkt Werner Schirmer (2008: 167) in Bezug auf das Kollektivgut der ‚Sicherheit‘ der Bürger. 76 Vgl. seinen Vergleich des Wohlfahrtsstaates mit „dem Versuch, die Kühe aufzublasen, um mehr Milch zu bekommen. Das fundierende Paradox erscheint jetzt in neuer Gestalt: die zur Lösung anstehenden Probleme sind unlösbare Probleme […]“ (Luhmann 2002: 215).
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24.2 Demokratie und die Staatsorganisation als Zentrum des politischen Systems Hier interessiert uns vor allem die Ursache für den Befund einer tragischen Ironie des Staates (Willke 1992), der Zentrum einer Gesellschaft sein will, die sich jedoch aufgrund ihrer Ausdifferenzierung nicht mehr von einem Zentrum aus beschreiben lässt. Grund ist die schon eingeführte funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft in operativ geschlossene Teilsysteme. Parallel dazu hat sich mit der Monopolisierung des Mediums Macht im politischen System eine entsprechende Form der Differenzierung ausgeprägt – um die These Luhmanns aufzunehmen: Die Demokratie ist „nichts anderes als die Vollendung der Ausdifferenzierung eines politischen Systems“ (Luhmann 2002: 104-105). So erfüllt das politische System – und nur dieses – die Funktion, zu kollektiv bindenden Entscheidungen zu ermächtigen, indem dazu die Machtkapazitäten bereitgestellt werden (vgl. ebd.: 84). Das geschieht durch eine Ämter- und Kompetenzordnung, aus der heraus Autorität zu Entscheidungen erwächst – und durch die wiederum Entscheidungen nach dem binären Code ‚Macht-Überlegenheit/Macht-Unterlegenheit’ beobachtbar bzw. beschreibbar sind. So kann das System seine eigenen Operationen erkennen. Ebenso kann weitere Kommunikation nach demselben Schema an sie anschließen. Die Besetzung von Ämtern ist darüber hinaus mit dem Aufkommen der Leitsemantik der Demokratie im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Ansatzpunkt für eine „Recodierung der politischen Macht“ (ebd.: 97; Hervorhebung im Original) nach dem Schema ‚Regierung/Opposition’ geworden, indem das Prinzip der Wahl als Modus der Besetzung von Ämtern ausgeweitet wurde und sich schließlich durchsetzen konnte (vgl. ebd.: 85-96). Das funktional Entscheidende an der demokratischen Wahl besteht darin, dass innerhalb des politischen Systems mittels einer Kommunikation auf das Demokratieschema ‚Regierung/Opposition’ hin darüber entschieden wird, wer fortan entscheidet. In diesem Modus der Machtvergabe handelt es sich funktional gesehen also um eine Rückkopplung des Systems mit sich selbst, denn systeminterne Operationen ermöglichen andere systeminterne Operationen – das System ist mit anderen Worten operativ geschlossen. Die Institutionalisierung des Wechsel von Regierung und Opposition bedingt zugleich, dass sich das System für die Zukunft alternative Operationen und Anschlussmöglichkeiten offenhält (vgl. ebd.: 131). Nur innerhalb einer nach Funktionsbereichen differenzierten Gesellschaft ist diese Form der Offenheit bei gleichzeitiger operativer Geschlossenheit des politischen Systems denkbar. Politik verliert zwar durch diese rein politische Logik des Machtwechsels die Möglichkeit, die Gesamtgesellschaft zu repräsentieren, kann andererseits jedoch flexibler auf Anforderungen der gesellschaftli-
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chen Umwelt reagieren. Für die Frage nach einer Mitte der Gesellschaft ist diese Konsequenz essenziell, denn sie macht es unmöglich, der Politik die alte Zentralitätsfunktion zuzuschreiben. Stattdessen wird das Beobachtungsschema ‚Zentrum/Peripherie‘ für das politische System selbst relevant. Im Kontext der operativen Schließung des politischen Systems ist nämlich eine Antwort auf den demokratischer Politik inhärenten Grundkonflikt zwischen effektiver Entscheidungsfindung und partizipatorischer Inklusion der Bevölkerung gefordert. Letztere wird immer größer und damit komplexer, wenn Kriterien wie Stand und Ansehen (Adel) nicht mehr über politische Rechte entscheiden. U. a. aufgrund dieser Komplexitätszunahme entstehen in den demokratischen politischen Systemen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts Interessenorganisationen, wie Parteien, Gewerkschaften, Verbände und andere politische Organisationen, die ihre Forderungen an den Staat herantragen. Letzterer übernimmt gegenüber diesen – im nächsten Abschnitt als Peripherie charakterisierten – Organisationen schließlich die Aufgabe, Entscheidungskapazitäten in Form von Kompetenz-, Verhandlungs- und Implementationsstrukturen bereit zu halten, um die gesellschaftlich aggregierten Interessen in politische Entscheidungen zu überführen. Diese organisatorische Binnendifferenzierung gewährleistet – in der systemtheoretischen Sprache Luhmanns – die Aufrechterhaltung der Funktion des politischen Systems bei erhöhter interner Komplexität und Umweltsensibilität: „Die politikinterne Differenzierung nach dem Muster Zentrum/Peripherie hat die Funktion, Einheit und Komplexität des Systems zugleich zu ermöglichen“ (Luhmann 2002: 245). Es ist also die Staatsorganisation, die zentral ist für die Funktion des politischen Systems. Hier muss letztlich über die systemeigenen Medien entschieden werden – ähnlich wie in den Gerichten des Rechtssystems oder den Banken des Wirtschaftssystems (vgl. Luhmann 1993: 320-337). Dennoch sieht Luhmann die Staatsorganisation als beständig überfordert durch disparate Ansprüche von Interessenorganisationen, worauf mit „Darüberreden“ (Luhmann 2002: 247) reagiert werde – eine gewisse Verachtung parlamentarischer Deliberation ist hierbei nicht zu überhören. Mag diese für die bloße Erfüllung der Funktion kollektiv bindenden Entscheidens nicht von Bedeutung sein, so ist trotzdem innerhalb der Staatsorganisation der diskursive Brennpunkt des demokratischen Konflikts zwischen Regierung und Opposition anzusiedeln. Nur mittels der Austragung dieses Konfliktes sichert das politische System seine interne Legitimität ab. Im Sinne Luhmanns (2005a: 132) liegt es nämlich nahe, „unter Demokratie die Spaltung der Spitze […] des ausdifferenzierten politischen Systems durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition [zu verstehen]“. Bezieht man diese Definition auf die Binnendifferenzierung des politischen Systems, so ergibt sich für die demokratische Staatsorganisation eine interne Spaltung in Regierung
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und Opposition. Im Zentrum des politischen Systems wird dem Entscheidungszwang folglich durch die Organisation und Professionalisierung dieser Unterscheidung Rechnung getragen. Wie schon theoretisch allgemein herausgearbeitet, gewinnt das Zentrum dadurch eine hohe zeitliche, sachliche und personale Autonomie.77 Es entstehen Berufspolitiker_innen, politische Verwaltung professionalisiert sich und formalisiert ihre hierarchischen Abläufe – wobei je nach Regierungs- und Oppositionsstatus bestimmte Organisationsformen zur Verfügung stehen: Ministerien, Kommissionen, Ausschüsse, Arbeitskreise und Klubs. Es setzen sich miteinander koordinierte Ministerien und parlamentarische Ausschüsse für Sachfragen durch, sodass politische Entscheidungsfragen sachlich eingeordnet werden können. Innerhalb dieses organisatorischen Gefüges ist die Zuordnung von Kompetenzen und Verantwortung für Entscheidungen allerdings nicht immer eindeutig ersichtlich. Von großer Bedeutung für die Demokratie ist schließlich die zeitlich Autonomie des Zentrums, die sich in Form sensibler institutioneller Zeitstrukturen manifestiert: parlamentarische Sitzungsperioden, der Wechsel aus exakt getimter Rede und Gegenrede, und nicht zuletzt der Rhythmus der Wahlperioden (vgl. Riescher 1994). Die Staatsorganisation im Zentrum des politischen Systems gibt somit eine Eigenzeit des politischen Systems vor, an die sich Interessenorganisationen in der Peripherie des Systems nicht zu halten brauchen. Zugleich wird jedoch das demokratisch entlang der Unterscheidung von Regierung und Opposition organisierte Zentrum des politischen Systems „labilisiert“ (Luhmann 2005a: 134) und für Umweltereignisse sensibilisiert. Politik ist dann durch eigene Organisation beständig mit einer unbekannten Zukunft konfrontiert (Luhmann 2005a: 131; 2002: 95-99): Herrschaft wird nur auf Zeit vergeben, in regelmäßigen Wahlperioden, an deren Ende die Opposition zur Regierung werden kann (vgl. Riescher 1994: 230). Zugleich werden Strukturen nur durch explizite Entscheidungen veränderbar; diese eigentümliche Dialektik von Starrheit und Flexibilität fasst Luhmann (2005a: 135) in die Begriffe „Selbstdespontaneifikation“ und „Rechaotisierung“. Wir haben es also mit einem in sich labilen Zentrum zu tun, das durch formelle Entscheidungsverfahren und hierarchische Organisation gekennzeichnet ist; und das auf die Konflikte zwischen Regierung und Opposition in einem relativ starren institutionellen Rahmen angewiesen ist, um für externe Forderungen und allerlei gesellschaftlichen Dissens sensibel zu bleiben. Dennoch müssen politisch codierte Probleme letztlich entschieden und verantwortet werden, wofür es effektive Verfahren geben muss. So wird durch Mehrheitsvoten Entscheidungen Legitimität verliehen, auch wenn kein Konsens besteht (vgl. Luhmann 1969: 25-27). 77
Siehe Kapitel 22.
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Mit welchem Anspruch die Entscheidungen als Kommunikationen der Organisation Staat dann auch wieder auftreten, auf die Logiken anderer Funktionssysteme können sie im Rahmen funktionaler Differenzierung keinen Einfluss mehr nehmen. Entgegen aller Wohlfahrtsstaatsrhetorik handelt es sich bei der Staatsorganisation funktional gesehen also ‚nur‘ noch um die Mitte des (demokratischen) politischen Systems. 24.3 Organisierte Interessen als Peripherie des politischen Systems Luhmanns weiter Politikbegriff deutet schließlich auf die andere Seite der Unterscheidung, auf die Peripherie, hin. Nur innerhalb des gerade geschilderten demokratischen Regierungssystems macht es Sinn, als Politik „jede Kommunikation [zu] bezeichnen, die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten“ (Luhmann 2002: 254). Innerhalb dieser Logik ist schließlich nicht nur der Staat als Entscheidungsort für die Funktion des politischen Systems relevant, sondern alle strukturellen Arrangements und Kommunikationen, die Interessen aggregieren, politische Forderungen kommunizieren, (Teil-)Übereinkünfte schmieden und Probleme formulieren. Bemerkenswerterweise scheint diese Erweiterung des Politikbegriffs inklusive ihrer Konsequenz für die Binnendifferenzierung des politischen Systems bei Luhmann kaum wahrgenommen worden zu sein. Richard Münch (1995: 633) kennt im einschlägigen Lexikon-Beitrag nur die Differenzierung in Staat und Publikum. Walter Reese-Schäfer (2007: 83) nimmt die Zentrum-Peripherie-Differenzierung in seine Darstellung der „abschließende[n] Gestalt“ der politischen Systemtheorie erst gar nicht auf. Dabei ist Luhmann relativ deutlich, wenn er dem demokratischen politischen System das Publikum der Wähler_innen gegenüberstellt, innerhalb der Politik jedoch eine Differenzierung in den Staat als hierarchisch organisiertes Zentrum und einer segmentär gegliederten Peripherie vornimmt (vgl. Luhmann 2002: 116).78 Anders als innerhalb der Staatsorganisation geht es in der Peripherie des politischen Systems nicht um das Fällen von (und die Verantwortung für) kollektiv bindende(n) Entscheidungen, sondern eben um das ‚Verdichten von Konsenschancen‘. Die Peripherie bilden deshalb jegliche Formen organisierter Interessen: Parteien, Verbände, Interessengruppen, Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs), Bürgerinitiativen und die politischen Medien. Zu dieser Differenzie78
Der frühe Luhmann hat in seiner politischen Soziologie von 1961 (2010) diese Differenzierung jedoch in der Tat noch nicht gekannt. Sein „analytisches Modell des politischen Systems“ (2010: 130-138) differenziert in die Rollensysteme Politik, Verwaltung und Publikum.
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rung kommt es angesichts der Herausforderungen großflächiger moderner Demokratien, in denen ständige individuelle Willensäußerungen politisch nicht verarbeitet werden können.79 Dennoch müssen Interessen effektiv kommuniziert werden, um Positionen zu politischen Themen zu formulieren und um ihre Berücksichtigung im Entscheidungsprozess zu erreichen. Das gelingt nur über ihre organisatorische Bündelung, weil dann nach außen im Namen der Organisation gesprochen werden kann (vgl. Luhmann 2002: 240). Damit erfüllt die Peripherie eine Zubringerfunktion, indem sie Themen und politisches Personal auf die im Zentrum des politischen Systems zu treffenden Sach- und Personalentscheidungen hin selektiert. Innerhalb dieser Peripherie herrscht folglich eine – je nach Kontext verschieden – hohe Unkoordiniertheit und Komplexität im Vergleich zur hierarchisch gegliederten Staatsorganisation. Neu aufkommende Themen werden von Organisationen in der Peripherie aufgenommen, oder: Sie geben Anlass zur Bildung von Organisationen, die dann nicht selten als soziale Bewegung starten und ins Zentrum des politischen Systems vordringen, wobei sie auf diesem Wege immer festere Formen der Organisation annehmen (vgl. Luhmann 2002: 315). 80 Wir werden auf ein solches Beispiel später (in Kapitel 27 und 28) zurückkommen. Hier zeigt sich eben auch ein Charakteristikum der Peripherie, die im Austausch mit dem Zentrum steht – personell und in Gestalt der zur Entscheidung zu bringenden Sachthemen. Je engere Verflechtungen periphere Organisationen mit staatlichen Strukturen eingehen, desto stärker scheinen sie auf starre Organisationsformen angewiesen zu sein. Im politischen System der Bundesrepublik spielt darüber hinaus der Parteienartikel 21a des Grundgesetzes eine entscheidende Rolle: Parteien wird verfassungsmäßig ein privilegierter Zugang zu den Ämtern innerhalb der Staatsorganisation zugebilligt. Aber parallel zu dieser funktionalen Hervorhebung einer spezifischen Organisationsform aus der Peripherie des politischen Systems, werden Parteien auf ein bestimmtes internes Organisationsprinzip verpflichtet – nämlich demokratischen Grundsätzen zu entsprechen. Für die Peripherie-Konzeption impliziert dies die theoretische Option einer weitergehenden Differenzierung in enger an den staatlichen Kern gekoppelte Segmente und loser gekoppelte, dafür wiederum flexibler organisierbare Interessengruppen mit größerer Offenheit für neue Themen. Man hört dann vom kritischen Publikum, dass ‚Macht konservativ macht‘; was vor diesem Hintergrund nur bedeuten kann, dass die Aufmerksamkeit für neue Themen in der inneren Peripherie abnimmt und die Beteiligungschancen für Neueinsteiger geringer werden. Es kommt dann an der Schnittstelle von Staat und Parteien mitunter zu Inklusionshierarchien in 79
Selbst innerhalb des direktdemokratischen schweizerischen Systems haben sich Parteien und Verbände aus diesem Grunde ausbilden müssen. 80 Man denke im bundesdeutschen Kontext nur an den Weg der Grünen.
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Gestalt von besonders mächtigen ‚Zirkeln‘, zu ‚Hinterzimmerpolitik‘ und informellem Regieren (vgl. Rudzio 2008). Die interorganisationelle Kommunikation, auf die die Differenzierungsform Zentrum/Peripherie angewiesen ist (vgl. Luhmann 2002: 246), wird darüber hinaus durch zwei weitere Charakteristika der politischen Peripherie geprägt. Zum einen sind Organisationen innerhalb dieses Funktionsbereiches der Verantwortung für die Entscheidungen des Gesamtsystems enthoben und können folglich weitreichende Forderungen stellen. Angesichts der schieren Menge solcher Partikularinteressen sieht Luhmann (2002: 247) eine Tendenz zur Überfrachtung der Staatsorganisation „mit einer Fülle von inkonsistenten Entscheidungsanforderungen […].“ Zum anderen entlastet die Peripherie das Zentrum: Systemexterne Ereignisse können zunächst durch periphere Organisationen aufgegriffen werden und zu politisch entscheidbaren Problemen umfunktioniert werden. Die Peripherie ist quasi umweltsensibler als das Zentrum, das mit den Anforderungen nur im Modus der Entscheidung und hierarchischer Weisung reagieren kann. Außerdem lassen sich in der Peripherie Konflikte austragen, die den Entscheidungsprozess innerhalb der Staatsorganisation überfordern würden. Hierin liegt die komplexitätsreduzierende Leistung der Peripherie als Kontaktzone zur gesellschaftlichen Umwelt (vgl. ebd.: 246). Somit lässt sich festhalten, dass für das Funktionieren des politischen Systems sowohl Zentrum als auch Peripherie gleichermaßen relevant sind und Luhmann darauf besteht, hier keine hierarchischasymmetrische Unterscheidung zu treffen. Das Wachstum der Peripherie steht evolutionär gar im Zusammenhang mit der Entwicklung demokratischer Politik: „[J]e ‚demokratischer‘ das System […], desto mehr Organisationen braucht die Peripherie, um Themen aufzugreifen […]“ (ebd.). 24.4 Perspektiven und Potenziale des Zentrum-Peripherie-Konzepts In diesem Steigerungszusammenhang von Demokratie und peripherer Komplexität sehen manche Autor_innen die normative Stoßrichtung der Theorie Luhmanns, die die Forderung nach Komplexität im Sinne einer möglichst bunt differenzierten Peripherie und Kontingenz im Sinne von Zukunftsoffenheit impliziere (Hellmann/Fischer 2003: 13). Damit wird die Systemtheorie über ihr ZentrumPeripherie-Modell gar anschlussfähig an normativ-politische Überlegungen, insbesondere an demokratietheoretische Debatten. Man denke nur an das viel diskutierte europäische ‚Demokratiedefizit‘.81 Ließe es sich als ein Defizit an peripheren Mechanismen zur Interessenartikulation sowie an zentralen Struktu81
Für einen systematischen Problemaufriss siehe Fritz W. Scharpf (1998: 153).
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ren für eine Zuordnung von Verantwortlichkeit für Entscheidungen beschreiben, so wären es (näher zu bestimmende) Differenzierungsprobleme, die gelöst werden müssten, um überhaupt erst zu ermöglichen, was Habermas (2006: 35) als empirische Voraussetzung einer europäischen Identität bezeichnet: „the emergence of a European civil society, […] a European public sphere; and […] a political culture that can be shared by all European citizens“. Aber auch in empirisch-analytischer Hinsicht lässt sich die politische Binnendifferenzierung von Zentrum und Peripherie fruchtbar machen. So wäre zu untersuchen, welche Konsequenzen für das Funktionieren von Politik der Wandel des Parteiensystems hätte, wenn man ihn als strukturellen Wandel der Peripherie des politischen Systems analysiert.82 In Westeuropa wird seit Jahrzehnten schon der Verlust der Bindekraft von Volksparteien diagnostiziert, der damit einher geht, dass sich flüchtigere, stärker an Personen orientierte Formen der Interessenorganisation etablieren (vgl. Kirchheimer 1965). Es wäre zu untersuchen, wie sich dadurch die Formen des Austauschs zwischen Parteien (Peripherie) und Staat (Zentrum) wandeln. Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, welche Grade und Formen interner Differenzierung ein Parteiensystem als Peripherie des politischen Systems erreichen kann – insbesondere, wie weit das traditionelle Links/Rechts-Schema heute noch taugt, um Parteien ideologisch einzuordnen. Außerdem ließe sich das Konzept in die Policy-Forschung einführen, indem man es auf das Phasenmodell des Politikzyklus abbildet (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 64). Die Karrieren von ‚Policies’ ließen sich dann von der Problemformulierung über das Agenda-Setting, die Politikformulierung, Implementation bis hin zur Evaluation und Re-Formulierung anhand der funktionalen Unterscheidung von Zentrum und Peripherie verfolgen. Dabei spielt die Peripherie als Kontaktzone zu anderen Funktionssystemen der Gesellschaft eine herausragende Rolle im Bereich der politisch anschlussfähigen (Re-)Formulierung eines sozialen Problems. Häufig sind es soziale Bewegungen oder Parteien, die Themen aufgreifen und ins Zentrum des politischen Systems tragen.83 Den Blick für die Problematik von Gesetzgebungsprozessen, deren Problemhorizont und Dringlichkeit dagegen primär im Zentrum des politischen Systems, d.h. von den staatlichen Organen selbst definiert werden, schärft das Zentrum-Peripherie-Konzept ebenfalls.84 Hinsichtlich der einzelnen Phasen des Policy-Prozesses erscheint 82
Luhmann (2002: 266-273) deutet dieses Problem nur an. Beispielhaft ist an den Verlauf des Policy-Prozesses zur Schwangerschaftsabbruchsregelung nach § 218 StGB in der Bundesrepublik zu denken, der durch Frauenrechtsorganisationen angestoßen wurde und sich ins Zentrum des politischen Systems vorarbeitete (vgl. Gindulis 2003: 114-127). 84 Hier wäre an das Terrorismusbekämpfungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung zu denken, das innerhalb von drei Monaten das Parlament passierte und dessen Entwurf weitgehend unter Aus83
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überdies die Betrachtung der interorganisationellen Kommunikation zwischen Zentrum und Peripherie von entscheidender Bedeutung für das Politikergebnis. Dazu ist es jedoch notwendig, die Unterscheidung weiter auszuarbeiten – den Staat als Organisationssystem konkreter zu fassen und die Peripherie als segmentären Bereich organisierter Interessen im Einzelnen zu untersuchen. Funktional ist das Differenzkriterium deutlich geworden: Die Verantwortung für die Funktion des politischen Systems – kollektiv bindendes Entscheiden – ist in der Staatsorganisation konzentriert. Daneben sorgt ohne Entscheidungszwang „[e]ine Vielzahl anderer politischer Organisationen […] für ein unkoordinierbares Wirrwarr von Impulsen, die Reaktionen herausfordern“ (Luhmann 2002: 143). Offen bleibt dagegen bislang, wie sich die funktionale Binnendifferenzierung des politischen Systems (auf nationaler Ebene) mit der segmentären Differenzierung des weltpolitischen Systems in Staaten verträgt (vgl. Holz 2003: 40). Insbesondere im Hinblick auf die Problematik der Vereinbarkeit von demokratischer Politik mit Formen supranationalen Regierens liegt hierin womöglich der entscheidende Hebel für eine weiterführende Antwort (vgl. Albert/Schmalz-Bruns 2009). Denn wie in Kapitel 22 bereits angedeutet, lassen sich unterschiedliche Formen der Ausgestaltung der für die Funktion der Subsysteme zentralen Organisationen denken. Schließlich hat Luhmann zwei weitere Anschlussstellen selbst angedeutet: Die Karriere sozialer Bewegungen an der Peripherie verschiedener Funktionssysteme der modernen Gesellschaft und die Rückkehr des ‚nackten Menschen‘ an den Rand der Politik. Beides stellt die Zentralität des politischen Systems in Frage, da aus der Peripherie alternative Lebensentwürfe und menschliche Körper ins gesellschaftliche Bewusstsein drängen, sobald sie sich selbst als politisch beschreiben (vgl. Luhmann 1996a: 75-78; 1996b). 24.5 Politik, Staat und der Verlust der Mitte In Bezug auf die Politik kann jedoch an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Zentralisierung von Macht im politischen System zwar zu einer Vorstellung von Politik als ‚Mitte der Gesellschaft‘ geführt hat. Aber mit der demokratischen Binnendifferenzierung zwischen der Staatsorganisation und einer Peripherie organisierter Interessen ist verbunden, dass Politik sich nur noch unter enormem rhetorischem Aufwand als Mitte der Gesellschaft beschreiben kann. Der Mythos von Politik als Zentrum wirkt in Gestalt des Wohlfahrtsstaates fort, funktional
schluss der Öffentlichkeit vom Bundesinnenministerium erarbeitet wurde (vgl. Middel 2007: 214320; Denninger 2002: 22-30).
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gesehen hat die Politik allerdings schon lange nicht mehr diese Stellung. 85 Parteien und Interessengruppen in der Peripherie des politischen Systems leisten zwar Zulieferdienste für den Staat hinsichtlich der zu verhandelnden Themen und legitimierender Konsensbildung. Aber obwohl dies zu einer Staatsfixierung gesellschaftlicher Problemdiskurse und Forderungen verleitet, bleibt die Peripherie in Luhmanns funktionalem Konzept auch stets ein Ort konkurrierender Beobachtungen zweiter Ordnung. Dort muss sich der Staat, muss sich Politik schon längst nicht mehr als ‚Mitte der Gesellschaft‘ anfühlen. Politische Theorie – auch im Anschluss an Luhmann – hätte sich von ihrer zentrumsorientierten Staatsfixiertheit erst noch zu lösen – auch wenn hier und dort schon vom ÜberholtSein des Staatsbegriffes die Rede ist (vgl. Reese-Schäfer 2007: 116). Das Zentrum-Peripherie-Konzept böte Potenzial, um dies zu realisieren.
85
Damit korrespondiert Hartmut Rosas Diagnose einer „Zeitkrise des Politischen“, nach der Staat und Politik auch in temporaler Hinsicht nicht mehr die Einheit der Gesellschaft repräsentieren können (vgl. Rosa 2005: 403-416).
25. Die Dezentralität des Zentrums in der polyzentrischen Gesellschaft
Tritt man an dieser Stelle für einen zusammenfassenden Blick auf die vorangegangenen Kapitel einen Schritt zurück, so erkennt man mit Luhmanns Systemtheorie eine signifikante Reformulierung des Zentrum-Peripherie-Konzepts. Das Zentrum verliert seinen normativen Status. Stattdessen lässt sich die Frage nach dem Zentrum mit Luhmann auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme, wie etwa das Recht, die Politik oder die Medien, übertragen. Hierbei tritt ein allgemeines Wesensmerkmal der Moderne hervor, das sich in einem scheinbaren Oxymoron ausdrücken lässt: Die Dezentralität des Zentrums. Die moderne Gesellschaft ist nicht mehr um ein einziges Zentrum der Macht oder der Werte strukturiert. Territoriale, ideelle sowie integrative Konzepte wie die Staatsbürgerschaft oder der Nationalstaat verlieren an Bedeutung, sobald die funktionalen Logiken einzelner Funktionssysteme zum primären Differenzierungsschema der Gesellschaft werden. Wie die hier geleisteten Analysen zeigen, muss im Kontext einer so differenzierten Gesellschaft die Unterscheidung nach Zentrum und Peripherie für die jeweiligen Funktionssysteme spezifisch getroffen werden. Abstrakt gesprochen, monopolisieren bestimmte Organisationen die zur Erhaltung des Systems relevanten Operationen und bilden so subsystemspezifische Zentren mit hohem Formalisierungs- und Professionalisierungsgrad: Im Wirtschaftssystem sind dies die Banken, im Rechtssystem die Gerichte, in der Politik die Staatsorganisation, in den webbasierten Massenmedien der professionelle Online-Journalismus. Ihnen steht eine weniger formalisierte, relativ heterogene Peripherie gegenüber – mitunter bestehend aus einzelnen Wirtschaftssubjekten, Geldverleihern und Beratern; aus Rechtsmediatoren, Streitschlichtern und universitären Rechtsauslegern; aus Parteien, Verbänden und politischen Aktivisten; aus Bloggern, Kommentatoren und selbsternannten Online-Reportern. In der Peripherie, die zugleich eine Kontaktzone zu anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen bildet, ist also ‚ein Wirrwar unterschiedlicher Impulse‘ ohne systemrelevanten Entscheidungszwang erlaubt. Hier wird Dissens ausgetragen ohne aufgelöst werden zu müssen und teilhaben kann potentiell jeder. Das gilt insbesondere für das System der Massenmedien und die oben problematisierte Differenz von professionellem und partizipativem Online-Journalismus. Auch D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_26, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zum politischen System, das noch immer mit dem Anspruch auftritt, die Gesamtgesellschaft zu repräsentieren und sich deshalb als deren Zentrum zu beschreiben, gehören eine Reihe mehr oder minder ‚partizipativer Formate‘: Parteien, Interessengruppen, Verbände und nicht zuletzt soziale Bewegungen, die alle keinesfalls mit dem Anspruch auftreten, für die gesamte Gesellschaft zu sprechen. Funktional gesehen, erfüllen sie jedoch eine relevante Aufgabe für das politische System: Sie testen Konsenschancen und führen Problemlagen ins System ein, die in ihrer Komplexität von einem Staat, der festgeschriebenen Abläufen und Verwaltungsstrukturen verpflichtet ist, nicht wahrgenommen werden könnten. Mit der Dezentralität des Zentrums ist also gemeint, dass Zentren und Zentrumsvorstellungen in der modernen Gesellschaft durchaus wirkmächtig sind, sich aber unter funktionalen Gesichtspunkten auffächern. Als polyzentrisch lässt sich dies im topographischen Jargon charakterisieren. Allerdings fußen die im Kontext funktionaler Differenzierung offen gelegten Ausgestaltungen von Zentrum und Peripherie auf der Ebene einzelner Funktionssysteme nicht auf einem geographischen Verständnis der Konzepte. Stattdessen zeigen sie, dass Zentrum und Peripherie durch spezifische Formen der Kommunikation bestimmt sind. Diese bilden mit zunehmender Formalisierung und Bindung an professionelle Rollen – wie Journalisten, Parlamentarier oder Staatsbeamten – funktionale Zentren. Aber Kommunikation ist immer auch dezentral, sie wuchert mit anderen Worten auch ohne Presseausweis, Amt oder Mandat und dringt trotzdem in die Funktionssysteme vor. Insofern ist die Peripherie einzelner Funktionssysteme auch der Kommunikationsraum, in dem sich soziale Randlagen sowie andere Deutungsvorstellungen konzentrieren. Selbst eine rein funktionale Differenzierung in Zentrum und Peripherie wirft somit die Frage nach der Rolle alternativer Gesellschaftsentwürfe und politischer Bewegungen, nach menschlichen Schicksalen, Körpern und Identitäten auf. Die zentrale Bedeutung der funktionalen Differenzierung in modernen Gesellschaften darf also nicht über relativ stabile Marginalisierungstendenzen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und die Dynamik gesellschaftlichen Wandels hinwegtäuschen. Systemübergreifende Mechanismen der Inklusion und Exklusion sind nach wie vor vorhanden und sollen im folgenden, letzten Teil des Buches mit dem Konzept von Zentrum und Peripherie in Verbindung gebracht werden.
6. Teil: Die vergessene Peripherie: Sozialer Wandel und gesellschaftliche Marginalisierungen Lukas Becht, Alexander Hirschfeld, Mario Schulze
26. Gesellschaftliche Randlagen und sozialer Wandel
In den vorangegangenen Kapiteln wurde die Peripherie etwas vernachlässigt. Vor allem der Verweis auf die dorthin verschobene Konsensanforderung verdeckt deren Fähigkeit, Ausgangspunkt sozialen Wandels zu sein. Wie bereits mehrfach erwähnt, soll der Begriff ‚Konsensanforderung‘ gerade nicht implizieren, dass in der Peripherie zwangsläufig die Vorgaben des Zentrums anerkannt und genau angewendet werden. Stattdessen deutet er darauf hin, dass hier ständig um Konsens gerungen wird. Während im Zentrum formale Verfahren dominieren, die nach institutionalisierten Mustern oder Programmen ablaufen, ergeben sich in der Peripherie eine Vielzahl von Möglichkeiten, Alternativen zu konstruieren. Diese werden beispielsweise durch soziale Bewegungen genutzt, die versuchen, bisher nicht berücksichtigte Themen und Probleme in die Zentren der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche zu tragen. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass trotz der Dominanz funktionaler Differenzierung stabile soziale Randlagen unterschiedlicher Personengruppen existieren. Hier entstehen neue Formen der Primärdifferenzierung, die die funktionale Differenzierung überlagern und teilweise unterlaufen. Dieser letzte Teil des Buches dient dazu, die bisherige Diskussion von Zentrum und Peripherie um eine genauere Analyse sozialen Wandels und gesellschaftlicher Marginalisierungstendenzen zu erweitern. Dabei stellen einige Überlegungen zu sozialen Bewegungen sowie die von Luhmann vorgenommene Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion die theoretischen Anknüpfungspunkte dar (Kapitel 27). Danach behandeln wir die deutsche Jugendbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts als ein Beispiel für den Weg von der Peripherie ins gesellschaftliche Zentrum (Kapitel 28). Abschließend wird am Beispiel der EU und Polens gezeigt, wie Flüchtlingslager eine Ordnung der Inklusion bzw. Exklusion etablieren, die danach verlangt, der Dichotomie von Innen und Außen um ein Kontinuum bzw. Gefälle zwischen einem vollständig inkludierten Zentrum und einer marginalisierten Peripherie zu ergänzen (Kapitel 29). Beide Beispiele zielen darauf ab, das Wechselspiel von Infragestellung und Stabilisierung gesellschaftlich zentraler Wert- und Wirklichkeitsvorstellungen durch soziale Randlagen besser zu verstehen (Kapitel 30). Gerade im Kontext funktionaler Differenzierung erweisen sich nämlich sowohl soziale Bewegungen in ihrem Streben nach sozialem Wandel, als auch D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_27, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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soziale Randlagen in ihrer Bedingtheit durch gesellschaftliche Exklusion/Inklusion als Phänomene, die Systemgrenzen – handelnd und erleidend – aufheben bzw. überschreiten. Durch ihre systemübergreifend periphere Lage bringen sie folglich die Notion eines gesamtgesellschaftlichen Zentrums (nicht nur theoretisch) wieder ins Spiel. Der Ambivalenz des ‚Mythos Mitte‘, seiner sich entziehenden Hartnäckigkeit, seiner zerstreuten Einheit, und seiner dezentralen Zentralität wird damit bis zum Schluss des Buches Rechnung getragen.
27. Soziale Bewegungen, sozialer Wandel und Marginalisierung im Kontext funktionaler Differenzierung
27.1 Soziale Bewegungen als Peripheriephänomen Die Zentren der Funktionssysteme, wie etwa Gerichte im Falle des Rechts, treffen Entscheidungen entlang formal vorgegebener Richtlinien. Hier gibt es nur wenig Raum für Abweichungen. In der Peripherie werden diese Vorgaben in verschiedener Weise angewandt, was zwangsläufig auch zu Konflikten führt. Rechtliche Regeln geben beispielsweise den Rahmen an Möglichkeiten der Partizipation von Verdächtigen und Opfern in Strafverfahren klar vor. Im Gerichtssaal werden diese Regeln meist eindeutig befolgt und Missachtungen scharf sanktioniert. Ein Konsens über die Angemessenheit des jeweiligen Vorgehens ist dabei nicht notwendig, da formale Verfahren und Regeln existieren, nach deren Maßstäben entschieden wird. In der Peripherie hingegen werden auch systemfremde Einflussfaktoren, wie etwa die Gefühle der betroffenen Personen sowie Moralvorstellung der Beteiligten berücksichtigt. So sind in den letzten Jahrzehnten, vor allem in den USA, eine Vielzahl von Programmen, Initiativen und Organisationen gegründet worden, die eine Aufwertung des Status von Verbrechensopfern fordern und diese teilweise auch durchsetzen konnten (vgl. Weed 1995; Strang 2001). Charakteristische Merkmale sozialer Bewegungen sind die Herausbildung informeller Netzwerke sowie die Erzeugung von commitment und einer gemeinsamen Identität. Diese dient als Ausgangspunkt kollektiven Handelns, das auf den Wandel bestehender Strukturen abzielt oder versucht, bestimmten Veränderungen entgegenzuwirken (vgl. Della Porta/Diani 2006: 20-29). Für Luhmann sind soziale Bewegungen eigenständige autopoietische Systeme. Sie sind maßgeblich durch den Protest, also den Versuch, auf anderem Wege Einfluss zu nehmen, sowie durch das jeweilige Protestthema strukturiert (vgl. Luhmann 1997a: 854-857). In diesem Zusammenhang ist es nicht überraschend, dass Luhmann Protestbewegungen als typisches Peripheriephänomen begreift. Die Peripherie protestiert und will, dass die Systemzentren diesem Protest Rechnung tragen und darauf reagieren (vgl. ebd.: 853). Gerade weil die Systemzentren Entscheidungen primär auf Basis formaler Verfahren und Richtlinien treffen, wird die KonsensD. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_28, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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anforderung in die Peripherie verschoben, wodurch ein enormes Konfliktpotential entsteht, das wiederum einen idealen Nährboden für soziale Bewegungen darstellt. Protestbewegungen sind Teil der unterschiedlichen Funktionssysteme, gleichzeitig jedoch auch eigene soziale Systeme, die sich weder auf Interaktion (Anwesenheit) noch auf Organisation (Mitgliedschaft) reduzieren lassen. Organisationen treffen Entscheidungen, während soziale Bewegungen primär Motive und commitment bündeln. Zudem haben Protestbewegungen einen Sinn außerhalb des Interaktionszusammenhangs, indem sie sich innerhalb der Gesellschaft gegen diese richten (vgl. ebd.: 850-851). Sie greifen Folgen der Entscheidungen von Funktionszentren auf, spitzen diese hinsichtlich bestimmter Problemlagen zu und konstruieren potentielle Alternativszenarien. Die Ursache der Entstehung von Protestbewegungen sieht Luhmann vor allem in der zunehmenden funktionalen Differenzierung und der damit einhergehenden Wertegeneralisierung und Individualisierung. Die aus kollektiven Zwängen freigesetzten Personen erweisen sich im Rahmen ihrer individuellen Sinnsuche als gute ‚Rekrutierungsbasis’ (vgl. ebd.: 848-852). Protestbewegungen, oder ‚neue soziale Bewegungen’,86 können demnach als eine Reaktion auf die zunehmende Dominanz funktionaler Differenzierung interpretiert werden. Sie vertreten dabei häufig Themen rund um das Problemfeld der individuellen Autonomie und Selbstbehauptung, die den systemischen Imperativen entgegengesetzt werden (Rucht 1994: 151; Kern 2008: 55-56). Dabei orientieren sie sich an symbolischen Skripts, die innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen Kontextes anschlussfähig sind. In diesem Zusammenhang treten vor allem die Massenmedien als wichtige Verbündete der Protestbewegungen auf (vgl. Luhmann 1997a: 857863). Der Protest der Peripherie bleibt innerhalb des Zentrums nicht ohne Reaktion. Die funktionalen Zentren, allen voran der Staat, sind in der Lage, Protestthemen zu absorbieren und in das System zu integrieren.87 Luhmann nennt eine Fülle von Merkmalen, die Protestbewegungen als Peripheriephänomen beschreiben und es somit ermöglichen, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie genauer herauszuarbeiten. Protestbewegungen zeichnen sich durch einen unendlichen Personalbedarf aus und sind offen für jede Art von Mitgliedern. Innerhalb der Bewegung ist keine Form der Selbstbe86 Mit dem Label ‚Neue soziale Bewegung’ wird im Allgemeinen auf die Besonderheit sozialer Bewegungen hingewiesen, die sich im Zuge der Entstehung des modernen Wohlfahrtsstaates entwickelten. Demnach lösten im Zuge der abnehmenden Bedeutung materieller Ungleichheiten ‚Neue sozialen Bewegungen’ die Arbeiterbewegung als dominanten Typen ab (vgl. Raschke 1985; Rucht 1994; Kern 2008). 87 Als klassisches Beispiel lässt sich hier die Entstehung der Partei Die Grünen als Reaktion auf die Umweltbewegung anführen.
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obachtung institutionalisiert, was ihr eine relativ große Offenheit hinsichtlich potentieller Einflussfaktoren ermöglicht. Außerdem herrschen keine klaren Vorgaben bezüglich der legitimen Mittel des Protests, weshalb es häufig zum Einsatz drastischer Maßnahmen kommen kann, bei denen nicht Personen, sondern die schiere Ansammlung von Körpern eine zentrale Rolle spielen. Zusätzlich bilden Protestbewegungen im Zusammenhang mit den jeweiligen Themen eine stark ideologische Komponente aus (vgl. ebd.: 847-865). Dem stehen die geschlossene Mitgliedsstruktur, der Entscheidungszwang, die institutionalisierte Selbstbeobachtung sowie klare formale Regeln innerhalb des Zentrums gegenüber. Protestbewegungen sind also ein typisches Peripheriephänomen und ein gutes Beispiel dafür, wie sich sozialer Wandel als Weg ins Zentrum von Funktionssystemen beschreiben lässt. Dennoch darf man die Peripherie natürlich nicht auf soziale Bewegungen reduzieren. Sie ist vielmehr als Bereich zu verstehen, in dem sich aufgrund des höheren Abweichungspotentials und der geringeren Kontrolle durch das Zentrum soziale Bewegungen bilden können. 27.2 Soziale Randlagen und funktionale Differenzierung In modernen Gesellschaften sind sehr unterschiedliche Differenzierungsformen gleichzeitig zu finden. Wie im vorherigen Kapitel gezeigt wurde, scheint die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb funktionaler Teilsysteme eine wichtige Begleiterscheinung gesellschaftlicher Entwicklung zu sein. Bei der Darstellung normativer oder rechtlicher Zentren auf Ebene des Nationalstaates88 wurde jedoch deutlich, dass sich das Modell von Zentrum und Peripherie auch als gesamtgesellschaftliche Unterscheidungsform denken lässt. Hier wurde die Variable ‚Integration‘ verwendet, um Personengruppen nach ihrer jeweiligen Zentrumsnähe zu unterteilen. Diese Option kommt für Luhmann nicht in Frage, da bei ihm die funktionale Differenzierung eindeutig im Vordergrund steht. Dennoch findet sich in Luhmanns Theorie eine interessante Möglichkeit, die Differenzierung von Zentrum und Peripherie in einem systemübergreifenden Sinne weiter auszubauen: die Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion (vgl. Luhmann 1995a). Der Begriff Inklusion weist darauf hin, dass eine Person innerhalb eines bestimmten Teilsystems kommunikativ berücksichtigt wird, während Exklusion das Gegenteil zum Ausdruck bringt. In funktional differenzierten Gesellschaften wird über Inklusion und Exklusion primär auf der Ebene von Funktionssystemen 88
Siehe Kapitel 18.
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entschieden (vgl. ebd.: 231-232). Exklusion gilt als legitim, solange sie zeitlich bedingt und auf das jeweilige Subsystem beschränkt ist (vgl. Luhmann 1995a: 234-235). Luhmann stellt fest, dass in modernen Gesellschaften deutliche Tendenzen bestehen, die funktionale Differenzierung durch informelle Netzwerke zu unterwandern. Diese Netzwerke ermöglichen den Beteiligten, sich über die Funktionssysteme hinweg bestimmte Vorteile zu sichern, während andere trotz Erfüllung aller formalen Bedingungen nicht in gleichem Maße berücksichtigt werden. Informelle Netzwerke treten somit teilweise als funktionale Alternative auf, wobei sie auch offizielle Organisationen im Rahmen ihrer Ziele nutzen. Dadurch verlieren die funktionseigenen Organisationen an Legitimität, wodurch die Bedeutung informeller Netzwerke weiter verstärkt wird (vgl. ebd.: 235-241). Auch im Falle der eben beschriebenen Unterstützungsnetzwerke setzen sich Personen über die reine Konformitätsanforderung der subsystemspezifischen Zentren hinweg. Dies geschieht jedoch nicht in Form des Protests gegen das Zentrum, sondern dadurch, dass alternative Kommunikationssysteme geschaffen und genutzt werden, um systemeigene Mechanismen zu unterwandern. Zusätzlich stellt Luhmann fest, dass die Funktionssysteme hinsichtlich ihrer Exklusionsmechanismen stark aneinander gekoppelt sind: Der Ausschluss aus einem Funktionssystem zieht häufig unmittelbar den Ausschluss aus anderen Funktionssystemen nach sich. So kann etwa wirtschaftliche Not zu einer hohen Indifferenz gegenüber Rechtssätzen führen oder die Möglichkeit, am Gesundheitssystem teilzunehmen, einschränken. Bestimmte Bevölkerungsgruppen sind somit auf verhältnismäßig stabile Art und Weise dauerhaft von einer Vielzahl unterschiedlicher Systeme ausgeschlossen. Ähnlich wie im Falle der Protestbewegungen gewinnen auch im Exklusionsbereich räumliche Strukturen und der Körper der Exkludierten wieder an Relevanz (vgl. ebd.: 241-244). Luhmann weist jedoch darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen Inklusion und Exklusion empirisch oft nicht eindeutig gegeben ist und es gewisse Grenzfälle gibt (vgl. ebd.: 245). In diesem Zusammenhang lassen sich Personengruppen, die systemübergreifend eingeschränkte Kommunikationschancen besitzen, mit dem Begriff der Peripherie recht treffend beschreiben. Vor allem informelle Netzwerke und die Kopplung der Exklusionsmechanismen sozialer Systeme können also zur Etablierung einer relativ stabilen Unterscheidung zwischen Innen und Außen führen, wobei sich die Peripherie als dazwischen liegender Randbereich oder Grenzzone denken lässt. Funktionale Differenzierung scheint dabei sogar in vielen Fällen eine „Supercodierung“ von Inklusion und Exklusion zu fördern (Luhmann 1995: 260). Dies steht in völligem Widerspruch zur dominanten Logik der unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereiche. Innerhalb des Rechtssystems wird bei-
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spielsweise nach der Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht operiert. Gleichzeitig bleibt jedoch bestimmten Personengruppen aufgrund der Kopplung des Exklusionsbereichs und der mangelnden Integration in informelle Netzwerke der Zugang verwehrt, während andere besonders günstige Voraussetzungen vorfinden. In diesem Zusammenhang scheint es plausibel, anzunehmen, dass die eben beschriebenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen stark mit Stigmatisierungsformen korreliert sind. Daher müssen unterschiedliche Arten der sozialen Primärdifferenzierung berücksichtigt werden, die die funktionale Differenzierung natürlich nicht ersetzen, sie aber häufig stark überlagern. Die Differenzierung zwischen Zentrum und Peripherie ermöglicht es dabei, die Unterscheidung zwischen Innen (Inklusion) und Außen (Exklusion) durch ein Kontinuum zu ergänzen und somit empirisch häufig auftretende Marginalisierungstendenzen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen zu erfassen, bei denen es sich weder um vollständigen Ausschluss noch um gleichberechtigte Inklusionschancen handelt. Einen weiteren Ansatzpunkt für eine gesamtgesellschaftliche Differenzierung nach Zentrum und Peripherie bieten die bereits behandelten sozialen Bewegungen. Wie beschrieben, befinden sich Protestbewegungen in der Peripherie der Funktionssysteme und beeinflussen von dort aus die jeweiligen Zentren. Dabei fällt auf, dass der Protest nicht auf ein Funktionssystem beschränkt sein muss, sondern an unterschiedlichen Teilsystemen ansetzen kann. Außerdem entstehen Netzwerke gegenseitiger Sympathie und Unterstützung zwischen Gleichgesinnten verschiedener Bewegungen, weshalb häufig auch die Lager gewechselt werden (vgl. Luhmann 1997a: 861-862). Somit stellt sich die Frage, ob sich sowohl soziale Bewegungen als auch Marginalisierungen als eine Art ‚systemübergreifende Peripherie’ denken lassen. Dies wäre zum Beispiel im Falle der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung sinnvoll. Ausgangspunkt dieser Bewegung war der Protest einer benachteiligten Personengruppe, die in verschiedenen Subsystemen in die Peripherie gedrängt wurde. Die Protestbewegung erfasste weite Teile der marginalisierten Bevölkerung und richtete sich an unterschiedliche Funktionszentren, vor allem an die Gerichte und den Staat (vgl. Karst 1989). In diesem Fall lässt sich jedoch entgegenhalten, dass die funktionale Differenzierung im Amerika der 1950er- und 1960er-Jahre noch stark vom askriptiven Kriterium der Hautfarbe überlagert war. Im Zuge der fortschreitenden funktionalen Differenzierung verlieren askriptive Kriterien (Ethnizität, Religionszugehörigkeit, etc.) jedoch tendenziell an Bedeutung. In diesem Zusammenhang lassen sich vor allem die in den 70er-Jahren entstandenen ‚neuen sozialen Bewegungen’ als subsystemübergreifendes Peripheriephänomen deuten (vgl. Hellmann/Koopmans 1998; Kern 2008: 52-63). Wie bereits erwähnt, spielt dabei die zunehmende funktionale Differenzierung selbst
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oft eine entscheidende Rolle, da sich der Protest häufig gegen unterschiedliche Systemzentren richtet. Gerade die besonderen Merkmale neuer sozialer Bewegungen, wie etwa deren Präferenz für lokale, dezentrale Organisationsformen, die Ablehnung von Hierarchien, die Suche nach alternativen Einflussmöglichkeiten sowie die Konzentration auf Fragen der individuellen und gemeinschaftlichen Identität (vgl. Kern 2008: 52-60), lassen sie als einen typischen Gegenentwurf zur modernen funktional differenzierten Gesellschaft erscheinen. Die eben dargestellte Vorstellung von Zentrum und Peripherie im Kontext sozialer Bewegungen bietet sich zwar besonders für jüngere Phänomene an, kann jedoch auch auf ältere Bewegungsformen angewendet werden. So wird im folgenden Kapitel gezeigt, wie die Ausdifferenzierung des Erziehungssystems gegen Ende des 19. Jahrhunderts die längst überwundene Primärdifferenzierung nach dem Lebensalter wieder in den Vordergrund rückte. Die temporäre Exklusion von Jugendlichen im Bildungssystem ermöglichte dadurch die Entstehung der Jugendbewegung als gesamtgesellschaftliches Peripheriephänomen, das Stück für Stück ins Zentrum drängte.
28. Die Jugendbewegung: Ein Beispiel für soziale Bewegungen und ihren Weg von der Peripherie ins Zentrum
Im Folgenden möchten wir anhand einer spezifischen sozialen Bewegung, der historischen Jugendbewegung, die herausgearbeiteten Merkmale einer Unterteilung der Gesellschaft nach Zentrum und Peripherie nochmals empirisch veranschaulichen. Formelhaft heißt das: Soziale Bewegungen entstehen aufgrund funktionaler Differenzierung, profitieren von der Individualisierung, können Gesamtverantwortung negieren und neigen zu Ideologisierungen. Die Jugendbewegung verdeutlicht dies und ist ein Beispiel für den Weg von der Peripherie ins Zentrum des Themas und der Differenzierungsform ‚Jugend‘. Im Jahr 2007 lief eine denkwürdige Nachricht durch die deutschen Medien: „Ultraschall gegen Teenies Eine Erfindung aus England, die verhindert, dass Jugendliche sich an bestimmten Orten zusammenrotten, wird jetzt auch in NRW eingesetzt. Mosquito heißt das Gerät. Es lässt einen hohen Dauerton zwischen 16- und 18tausend Hertz erschallen. Für Erwachsene ab 25 ist dieser Ton wegen des altersbedingten Verfalls der Gehörzellen nicht mehr wahrnehmbar“ (WDR 04.10.2007).
Jugend wird in unserer Gesellschaft gesondert behandelt. Alternativen haben in der Gesellschaft Gehör – wie die Jugend ein besonders empfindliches hat. Jugend wird häufig mit Gefahr, Veränderung und Protest in Verbindung gebracht. Die Sonderbehandlung der Jugend ist allerdings ein Phänomen, das historisch geworden ist. Zur Problematisierung der Jugend und ihrer gesellschaftlichen Rolle zwischen Peripherie und Zentrum bietet die Ende des 19. Jahrhunderts entstandene Jugendbewegung ein hervorragendes Untersuchungsobjekt. Sie lässt sich als eine Bewegung beschreiben, die als diffuses Phänomen in der Peripherie des Erziehungssystems beginnt, um daraus eine gesamtgesellschaftliche, also subsystemübergreifende, vor allem aber politische Protestbewegung zu werden, die letztendlich an ihrem Erfolg im Einfluss auf die politische Semantik scheitern sollte. Ein kurzer geschichtlicher Überblick zur Jugendbewegung soll zunächst das Phänomen umreißen, bevor im darauffolgenden Abschnitt theoretisch fundierte Überlegungen folgen, die uns die Frage nach der Stellung sozialer Bewegungen in der modernen Gesellschaft stellen lassen.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_29, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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28.1 Historischer Überblick Ende des 19. Jahrhunderts bildet sich in Deutschland eine von Gymnasiasten 89 getragene soziale Bewegung, für die ihr Jugendlich-Sein selbst den Bewegungsimpuls gibt. Die bürgerlichen Jugendlichen wollen auf gemeinsamen Fahrten und Wanderungen dem modernen Alltagsleben, das für sie durch einengende Autoritäten und Großstadtkultur geprägt ist, entfliehen und in der Gruppe die Natur erleben. Überall entstehen kleine Gruppen und Vereine, die Freizeit von Jugendlichen für Jugendliche gestalten wollen. Die bekannteste Vereinigung und idealtypische Verkörperung dieser Entwicklung ist der 1901 gegründete Wandervogel, der aus einer Steglitzer Schülergruppe hervorgegangen ist. Trotz ständiger Abspaltungen und Wiedervereinigungen kann sich der Wandervogel schnell in fast allen Groß- und Universitätsstädten des Reiches etablieren und bis zum ersten Weltkrieg zahlreiche Mitglieder hinzugewinnen – auch wenn er nie zu einer Massenbewegung aufsteigt.90 Der Name ist dabei Programm. Die Jugendlichen wollen die für sie positiv besetzten Werte Gemeinschaft, Einfachheit und Vitalität in ihrer Freizeit ausleben. Darin zeigt sich ein ausgeprägter Antimodernismus, der sich vornehmlich gegen die Industrialisierung richtet (Raschke 1985: 47). Ihren Höhepunkt hat diese erste Phase der deutschen Jugendbewegung mit dem Ersten Freideutschen Jugendtag im Jahre 1913 auf dem Hohen Meißner bei Kassel. Der erste Weltkrieg läutet dann jedoch eine neue, die so genannte ‚bündische Phase’ der Jugendbewegung ein. Die Jugendbünde, die sich in dieser Zeit gründen, grenzen sich von den Idealen des Wandervogels zunehmend ab. Entsprechend der allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung radikalisieren und politisieren sie ihre Aktionen. Die Ausrichtung an politischen Strömungen der Zeit geht mit einer breiten Ausdifferenzierung einher. Dennoch besteht vor allem bei den Bünden jenseits der Parteijugenden eine nationalistische, antisemitische und rassistische Orientierung. Auch die Binnenorganisation der Vereinigungen wird nun eher von Disziplin und Konformität bestimmt und ist deutlich sichtbar durch Erwachsene geprägt. Allgemein ist die Anziehungskraft der Jugendbünde aber schon zu Beginn der 30er Jahre weitgehend erschöpft. Von 1933 an schließen sich die Bünde mehr oder minder freiwillig der Hitlerjugend an oder werden verboten.91 Die Hitlerjugend inszeniert sich schließlich als Nachfolgeorganisation und Vertretung der gesamten Jugend des deutschen Volkes. Von einer Ju89 Auf das sonst übliche Gender-Gap wird hier bewusst verzichtet, da die Bewegung sich fast ausschließlich aus männlichen Jugendlichen rekrutierte. 90 Die Mitgliederzahl des Wandervogels betrug zu Hochzeiten ca. 60 000. 91 Eine ausführliche Darstellung der Zusammenhänge von Jugendbünden und HJ findet sich bei Klönne (1982: 93-118).
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gendbewegung nach 1945 in der Bundesrepublik kann man unserer Meinung nach nicht mehr sprechen. Auch wenn es vereinzelt marginalisierte Gruppierungen gibt, die sich in die Tradition der Bünde oder des Wandervogels stellen (z.B. der Ring junger Bünde oder der Nerother Wandervogel). Das soll jedoch nicht heißen, dass die Jugend nach 1945 nicht mehr in sozialen Bewegungen aktiv war. Das war sie. Es stand jedoch dabei nicht ihre Jugendlichkeit im Vordergrund. Sie protestierte und protestiert nicht als Jugend, sondern als Atomkraftgegner_innen, intellektuelles Proletariat, als Antifaschist_innen oder Ausländerfeinde. 28.2 Zur Vergleichbarkeit der Jugendformationen In diesem Unterabschnitt soll es um die theoriegeleitete Reformulierung dieser historischen so eben präsentierten Meistererzählung gehen. Diese konzentriert sich nur am Rande auf die Ziele oder die spezifische sozialstrukturelle Trägergruppe der Bewegung. Die Abstraktion von der Vielgestaltigkeit der historischen Jugendbewegung soll eine fruchtbare Analyse zu Wege bringen, anhand derer eine Vergleichbarkeit verschiedener Bewegungen und verschiedener Jugendformationen hergestellt wird. Abstraktion ist hier das Zauberwort, welches Zuspitzung und damit Erkenntnisanreicherung ermöglicht. Eine zentrale Unterscheidung soll hier in den Mittelpunkt gestellt werden, anhand derer sich Bewegungen beschreiben lassen: Wir und die Anderen.92 Und in diesem Fall spezifisch: Die Jugend und die Erwachsenen. Eine Seite wird markiert, die uns beschäftigen soll: die Jugend. Während die Jugend für die Zukunft steht, ist die Gegenwart durch die Erwachsenen repräsentiert. Diese Unterscheidung ist das Identifikationskriterium für Jugendbewegungen. Der Gedanke dieses Abschnittes ist, dass sich daran die für dieses Buch essenzielle Unterscheidung von Zentrum und Peripherie ankoppeln lässt. Die Jugend ist die Periphere und die Erwachsenen sitzen im Zentrum. Das Ziel der Jugend ist der Weg ins Zentrum. Diesen Weg gilt es anhand der historischen Formen der Jugendbewegungen nachzuvollziehen: Ausgehend von der Formierung der ersten Wandervogelgruppen, über die Ausdifferenzierung, Politisierung und Radikalisierung zur Zeit der Bündischen Jugend bis zur Gleichschaltung dieser Bewegungen im Nationalsozialismus. Der Lebenszyklus einer Bewegung bildet demnach die Folie, vor der sich die begrifflichen Unterscheidungen bewähren müssen. Anhand welcher Unterscheidung entsteht eine soziale Bewegung, und was macht die Aufrechterhaltung 92 Damit schließen wir an die Überlegungen Luhmanns zu sozialen Bewegungen an, wie er sie an verschiedenen Stellen ausgeführt hat. Siehe dazu das vorherige Kapitel, sowie Hellmann (1996) und die Zusammenstellung in Luhmann (1996d).
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der Bewegung unmöglich? Wie wandert eine Bewegung von der Peripherie ins Zentrum einer Gesellschaft und was macht diese Wanderung mit der Bewegung? Das zu Erklärende sind dabei die Diskurse, die die verschiedenen Ausprägungen der Jugendbewegung begleiten. Anders formuliert: Wie kann es dazu kommen, dass Rudolf Heß in einer Rede von 1934 zur Hitlerjugend in das Mikrophon schreit (zitiert nach Schmidt-Sasse 1985: 128): „Der Führer ist immer der Jüngste!“? 28.3 Jugend wird zur Protestformel und Bewegung – Der junge Wandervogel Jugend ist ein soziales Konstrukt. Sie bezeichnete nicht schon immer den biographisch und soziologisch definierten Lebensbereich, den wir heute mit diesem Begriff verbinden. Ebendiese Jugendphase entsteht erst am Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung. Es entwickelt sich zunächst eine getrennte soziale Sphäre, eine eigene Lebenswelt für das transitorische Lebensalter, das wir heute Jugend nennen: Verantwortlich dafür ist vornehmlich der Ausbau des Schulwesens. Die Verlängerung der Qualifikationsphase wurde aufgrund der zunehmenden Funktionsspezialisierung in den zu dieser Zeit sich etablierenden Professionen – Anwälte, Ärzte, Beamte, Ingenieure – notwendig. Zusätzlich waren die Ressourcen für einen solchen Ausstieg aus den alltäglichen Produktionsprozessen in der Familie erstmals zu dieser Zeit für größere Bevölkerungsschichten gegeben. Es wird ein Moratorium möglich, das vornehmlich der Ausbildung dient. Auf diese Weise entwickelt sich das Phänomen Jugend nicht mehr nur als Begriff für eine bestimmte Altersspanne, sondern als gesellschaftliche Generalisierung. Ausgehend vom Ende des 18. Jahrhunderts bei den gehobenen Schichten, diffundiert das Phänomen bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in die Arbeiterschicht – und gar bis in die ländlichen Gebiete hinein. Die Ausbildung eines eigenlogischen Erziehungssystems ist Ursache aber eben auch Folge dieser Entwicklung. Daraus kann man auf die institutionelle Verfassung des Jugendlebens zur damaligen Zeit schließen (vgl. Dudek 1997: 53): Die Schule manifestiert eine Trennung von Arbeit und Lernen bei zunehmender Universalisierung des schulischen Lebens; gleichzeitig bietet die Institution Schule keinen vorgegebenen Lebenssinn – wie das die Ausbildung in einem Handwerksberuf leisten konnte; das Freizeitleben wird zunehmend kontrolliert und verrechtlicht; die Jugend ist mit einer Psychologie der Abhängigkeit verbunden. Mit diesen Voraussetzungen wird es möglich, von Jugend zu sprechen. Über Jugend reden, das ist meist mit einer moralischen Aufwertung verbunden, die in der Tradition der Aufklärung auf die moralisch-religiöse Höherentwick-
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lung des Menschen rekurriert und die Vision einer gelingenden Identitätsfindung präsentiert. Jugend ist ein Zukunftsprojekt. Über sie wird die eigene Zeitlichkeit, sowie die Zeitlichkeit der Nation und der Gesellschaft thematisierbar – die epochalen Probleme und deren gleichzeitige Überwindung durch ebenjene kommende Generation. Es treten Bildmythen hinzu. Vielschichtige Stereotype bilden sich, Abbreviaturen zum Verständnis einer stets zu komplexen Welt. Drei immer wiederkehrende Diskursmodelle zur Kennzeichnung der Jugend und der Jugendlichen sind dabei auszumachen (vgl. Hafenegger 1995: 61): 1. 2. 3.
Zerstörer: Jugend zerstört alt Hergebrachtes und Bierflaschen in der Innenstadt. Opfer: Die Jugend muss unsere Renten tragen. Heilsgestalt: Die tapfere Jugend wird an der Flak sterben, aber letztendlich den Sieg für uns holen.
Die Funktionen dieser semantischen Figuren scheinen klar: Sie geben als Verschränkung von Selbst-, Fremd- und Weltbildern ein Glücksversprechen, sind surrogathafter Jungbrunnen, aber auch Narkosemittel zur Angstbewältigung und sie können – und das ist der entscheidende Punkt – vor allem in Krisenzeiten, bei Problemen von Kontinuität und Diskontinuität, politisch instrumentalisiert werden (vgl. Hafenegger 1995: 63). So wird Erziehung Ende des 19. Jahrhunderts zum Medium der Zukunftsgestaltung, wobei in der öffentlichen Debatte die Themenspannweite von der „Hoffnung auf Jugend“ bis zu den „Grenzen der Erziehung“ reicht (vgl. Langewiesche 1989: 17). Die pädagogische Arbeit wird zu einem legitimen Mittel, die Gesellschaft zu steuern, zu ändern und gegen die innerstaatlichen Feinde zu einen. Des Weiteren entsteht die wissenschaftliche Reflexion über das Thema, die Jugendforschung, in der ganz ernsthaft eine angeblich grundlegend psychopathologische Störung der Jugend diskutiert wird: das „Jugendirresein“ (Dudek 1997: 55). Es bleibt jedoch zumeist ein Monolog der Erwachsenen über die Jugend – die eben mal als Hoffnungsformel, mal als Depressionsformel benutzt wird. 93 Die Jugendlichen sind vom Diskurs nahezu exkludiert und sollen in ihrer durch das Bildungssystem gewonnenen Autonomie mittels pädagogischer Eingriffe beschnitten werden. Darauf reagieren sie mit dem Weg in die räumlich-soziale Peripherie, in die Natur.94 Sie wählen den Widerspruch gegen die Erwachsenen, obwohl stets klar ist, dass eine neue Generation kommen wird und jede Jugend 93 Hier bestehen Ähnlichkeiten zur Foucaultschen Analyse des Monologs der Vernunft über den Wahnsinn. Bei ihm geht es jedoch um das Ganz-Andere der Vernunft, das durch den Diskurs ausgeschlossen (oder zumindest exkludierend inkludiert) wird und das es eigentlich zu erhalten gilt, als utopisches Prinzip. Es geht um die Rettung des Dionysischen gegen die Allmachtsphantasien des Apollinischen (Foucault 1969). 94 In der beginnenden Jugendbewegung spielt das Motiv der Naturverbundenheit eine entscheidende ideologische Rolle. Man gibt sich als Feind der industrialisierten Moderne aus.
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irgendwann einmal vorbei ist, also selbst gezwungen sein wird, die Rolle der Erwachsenen zu übernehmen und sich als Jugend somit selbst zu vernichten. Es ist daher eher eine abgeschwächte Selbstexklusion, mit der die Jugend auf die Autonomieeingriffe antwortet, so dass es mir hier sinnvoller erscheint, von ‚Peripherisierung’ denn von ‚Exklusion’ zu sprechen. Das heißt, die Jugend bleibt immer in Sichtweite. Trotzdem ist so eine Zwei-Seiten-Form etabliert, welche die Bedingungen für die Form des Protestes (vgl. Luhmann 1997a: 852) und damit auch für eine soziale Bewegung bildet. Wir und die Anderen, die Griechen und die Barbaren, die Jugend und die Erwachsenen – und dies ohne die Reflexion darauf, dass die anderen auch nicht alle an der gegenwärtigen Zukunft beteiligt sind. Noch dazu bezieht sich diese Unterscheidung auf das Ganze, d.h. auf die Gesellschaft im Ganzen, die immer und vollständig in Jugend und Erwachsene aufgeteilt werden kann, und bietet damit eine besondere Attraktivität bei der Anklage von übergreifenden Weltproblemen. Der Jugendmythos ermöglicht eine einheitliche Repräsentation der Gesellschaft in der Gesellschaft, der zukünftigen in der gegenwärtigen. Bei der Etablierung der Jugend in der funktional differenzierten Gesellschaft entstehen aufgrund der Professionalisierung Konkurrenzbeziehungen zwischen verschiedenen Sozialisationsinstanzen wie beispielsweise Sozialmilieus, Medien, Familie und Schule. Alle wollen sich den Zugriff auf die Lebenswelt der Adoleszenten erhalten. Die vorher determinierte Entwicklung während der Jugendzeit wird kontingent. Es gibt keine Normalbiographie mehr. Dies kann im Individuum als Paradox erfahren werden und führt daraufhin zur Abgrenzung in eine gesonderte Identität, die sich von den einzelnen Institutionen lossagt. Darauf kann ein Vergemeinschaftungsprozess einsetzen, der Individuen in der gleichen, subjektiv als unbefriedigend empfundenen Lage einigt. Denn wie können die Individuen in der von Irritationen geprägten Moderne Sicherheit gewinnen – vielleicht mit einer freiwilligen Einbindung des Individuums in eine soziale Agglomeration. Die entstehenden Gemeinschaften, eben die Jugendbewegungen, sind heterarchische, d.h. netzwerkförmig organisierte Jugendgruppen, die die Freizeit von Jugendlichen gestalten und schließlich – dazu kommen wir später – politisch situieren. Es handelt sich also nicht um ein einheitliches Phänomen und keineswegs um einheitliche Bewegungen, wie dies häufig suggeriert und behandelt wird.95 So gibt es z.B. in der Zeit der Weimarer Republik: Die bürgerlichen Jugendbewegungen, worunter der Wandervogel, das Freideutschtum und die Jugendbünde zu zählen sind; die verschiedenen Parteijugenden, von den Kommu95 Dieses Kapitel ist ja auch ein Beispiel dafür, dass die Jugendbewegungen meist als Einheit betrachtet werden. Allerdings ist das angesichts des hier angesetzten Abstraktionsniveaus eben auch sinnvoll.
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nisten bis zu den Deutsch-Nationalen; und die konfessionellen Jugenden. Trotzdem scheint eine einheitliche Problemlage zu Grunde zu liegen, was auch an den unzähligen Einheitsbestrebungen – vor allem in den bürgerlichen Jugendbewegungen – zu sehen ist, und diese gilt es entsprechend der obigen Andeutungen zur Dichotomie von Erwachsenen und Jugendlichen herauszuarbeiten. Am Beginn der Jugendbewegung, die unweigerlich mit dem Wandervogel verbunden ist, deren Vorläufer bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren sind, wird die von der Romantik geprägte Rückkehr zur Natur als Abgrenzung zur entfremdeten hochindustrialisierten Welt und der Scheinheiligkeit des wilhelminischen Obrigkeitsstaat propagiert.96 Soziale Bewegungen reagieren häufig auf eine derartige Unsicherheitszunahme. Dies äußert sich auch und gerade in den nach Geborgenheit und Sicherheit dürstenden symbolischen Formen der Jugendbewegung: die Naturverbundenheit, das immer wiederkehrende Motiv ‚Zurück zur Natur’, die Suche nach Heil in geschichtsenthobenen Regionen, der Landschaftsromantizismus und die Abkehr von den als kalt beschriebenen Großstädten. Zunächst bleibt jedoch festzuhalten, dass es sich um eine unpolitische Bewegung handelt. Die Jugendbewegungen gewinnen ihre Stellung vornehmlich aus der Revolte von Bürgersöhnen, die neue Lebensformen durchsetzen, die etwas Eigenständiges etablieren wollen, das sich der Kontrolle der Erwachsenenwelt entzieht. Daran zeigt sich, dass soziale Bewegungen ein ‚Hase-Igel-Spiel’ mit der Gesellschaft spielen. Sie konfrontieren sie mit Folgeproblemen derzeit realisierter Problemlösungsstrategien, machen also auf funktionale Äquivalente aufmerksam. Beispielsweise löst Windkraft zwar Luftverschmutzungs- und Klimaprobleme, verschandelt aber unser Land und gefährdet Tierarten, worauf dann wiederum Initiativgruppen aufmerksam machen. Jugendbewegungen sind derweil die Reaktion auf das sich ausweitende Erziehungssystem und das dadurch entstehende gesellschaftlich unterstützte Moratorium. Die gewonnene Freizeit (auch ein Begriff, der zeitgleich mit der Jugend entsteht) muss gefüllt werden. Das Erziehungssystem entlässt einen veränderten Menschen, im Vergleich zu dem, den es aufgenommen hat. Damit muss zum Beispiel die Familie zurechtkommen.97 96 Hier lassen sich wie immer Parallelen zum gesellschaftlichen Zeitgeist entdecken. Für die Jugendbewegungen könnte dabei der Jugendstil ein gutes Vergleichsmoment darstellen. 97 Man kann die Folgeprobleme funktionaler Differenzierung und damit die Impulse für einen Konflikt, der eine Bewegung hervorrufen kann, noch weitergehend differenzieren und auf Jugendbewegungen – wie folgt – übertragen: 1. Funktionale Differenzierung führt zu Autonomie und Indifferenz jedes einzelnen Funktionssystems; auf die Jugend bezogen, ist die Folge die kognitive Selbstisolation des Erziehungssystems. Daran anschließend ist 2. der Integrationsbedarf funktionaler Differenzierung eventuell problematisch, in Bezug auf Jugend also die Aufnahmefähigkeit der im Bildungssystem gleichsam ‚erzeugten’ Jugendlichen für andere Systeme wie die Wirtschaft oder Wissenschaft; und 3.
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Zur Zeit des Wandervogels – also vor dem ersten Weltkrieg, bedient sich die Jugendbewegung noch einer Protestform, die vornehmlich gegen das Funktionssystem opponiert, das sie produziert hat – meist als Freizeitbeschäftigung jenseits der pädagogischen Kontrollbereiche der Erwachsenen. „Die Probleme der Welt blieben unbedeutend“ (vgl. Trefz 1999: 27). Gleichzeitig entwickelt sich jedoch ein Element zur Universalisierung des Protestes zu einem gesamtgesellschaftlichen Konflikt. Man kann also schon in der Konstituierungsphase der Bewegung klassische Phänomene sozialer Bewegungen entdecken: Zentrum und Peripherie in der Gesellschaft werden in den sozialen Bewegungen über Entscheider_innen und Betroffene thematisiert. Die Alten stellen die Weichen für die Zukunft der Jugend und entscheiden damit über die bloß betroffene, aber machtlose Jugend. Diese Diskursfigur erscheint bis heute immer wieder: die Aufzucht von Schweinen mit Antibiotika macht uns immun. Die Luftverschmutzung von heute verursacht die Allergien von morgen. Die Deregulierung auf den Finanzmärkten verursachen die Heuschrecken von morgen und die Finanzkrise von übermorgen, usw. Die Folgen sind ein ‚sich-für-besser-Halten’ der Betroffenen als die Entscheider_innen, als die Anderen, als die Erwachsenen, die an der gegenwärtigen Misere schuld sind (vgl. Luhmann 1997a: 848). Man hantiert mit Schuldzuweisungen, nimmt die Beeinträchtigungen der selbstbestimmten Lebensführung nicht hin und wird Teil einer Bewegung. Zeit fungiert demnach bei sozialen Bewegungen als Multiplikator von Widersprüchen. Jugendbewegungen stellen nahezu ausschließlich darauf ab: Die gegenwärtige Zukunft, also die Konstruktion der Zukunft in der Gegenwart, konfrontiert die Jugend mit unlösbaren Problemen, wenn die Erwachsenen nicht abgelöst werden oder sich ändern. Die Schuldzuweisungen sind klar: Es sind die Erwachsenen. Damit ist die Form des Protestes vorprogrammiert. Als Lösung dient die Konstruktion künftiger Gegenwarten, von Utopien, die sich mit der Jugend verbinden: Und so können die Jugendlichen dann singen: „Mit uns zieht die neue Zeit“ (Koebner 1995). 28.4 Jugendprotest wird politisch – Politisierung der Jugend in den Bünden Protest wird aufgrund dieser zeitlich konstruierten Grunddifferenzierung formulierbar. Protest als Form, als Ziehen einer Grenze in einer Einheit: Wir und die Anderen, die Jugend und die Erwachsenen. Jugend, als Motor des Wandels, wird zum Oppositionsbegriff an dem sich diffuse Vorstellungen von alternativen sind die Folgen der fremdbestimmten Inklusion in verschiedene Funktionssysteme für das sich als selbstbestimmt beschreibende Individuum abzusehen – welche für das Phänomen Jugend vor allem in der Provokation des pädagogischen Ausgriffs auf die Lebenswelt der Jugendlichen zum Ausdruck kommt (vgl. Hellmann 1996: 60-61).
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Daseins-Formen binden. Sei es eine bessere Welt oder gar der ‚neue Mensch’. Die sich etablierende Protestform macht aus der Lebenslage Jugend eine Bewegung, wie es die anderen sozialen Bewegungen im 19. Jahrhundert vorgemacht haben. Man protestiert gegen das Bestehende, aber nicht gegen sich selbst. Die Jugendbewegungen müssen dafür jedoch kein spezifisches Thema haben, wie die sonstigen sozialen Bewegungen, die sich über ihr Thema definieren und darüber Commitment regulieren, weil die Form ihres Protests gleichzeitig ihre Trägergruppe definiert. Dabei negiert der in gewissem Sinne stille Protest der Jugendbewegungen die Gesamtverantwortung – und das mit System, eben weil man ja noch Jugend ist und Entwicklungszeit braucht. Nur deswegen können die Angeklagten, die Erwachsenen, diesen Vorwurf akzeptieren und müssen darauf mit pädagogischen Maßnahmen reagieren. Die Provokation für die Jugend besteht aber gerade in diesem Ausgriff der Erwachsenen auf ihre Lebenswelt, ohne eine Repräsentation bei diesen Entscheidungen. Dass ihnen ständig ihre Eigenverantwortung als Jugend abgesprochen wird, ist aber gerade ihr Problem. Dies wird auch bei der auf dem Ersten Freideutschen Jugendtag geprägten ‚Meißnerformel’ deutlich, in der sich die versammelten Jugendgruppen, die sich vornehmlich aus dem Wandervogel rekrutieren, für Selbstbestimmung aussprechen: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und nikotinfrei.“
Man kann sagen, dass eine stabile, weil zirkuläre Protestform, bestehend aus den zwei Seiten Jugend und Erwachsene, entstanden ist. Aber es steht die Frage, ob Protest bei der Jugend wirklich Selbstzweck ist. Brauchen sie nicht doch ein politisches Thema, für das sie sich darüber hinaus einsetzen? Eine Jugendbewegung kann im politischen Bereich aktiv werden, wenn resonanzfähige Scripts hinzutreten, wenn die Jugendbewegung ein Programm findet, das die vorherrschende Gesellschaft als schlecht bestehende und unbedingt zu überwindende Welt kennzeichnet. Auch daher kommt es zur Gründung von Parteijugenden, vornehmlich während der politisch aufgeladenen Weimarer Republik (vgl. Krabbe 2000). Jugendbewegungen brauchen ein Stichwort, das ihnen den Weg zu geschichtlichem Wirken weisen kann. Ab dem Ersten Weltkrieg war die Jugendbewegung, als deren wichtigster Träger der Wandervogel gilt, so kraftvoll, dass Institutionen wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften und landsmannschaftliche Vereine ihre eigene Jugend neu zu formieren versuchten, indem sie sich einerseits am äußeren Stil des Wandervogels ausrichteten, andererseits aber inhaltlich die Ziele des Parteiprogramms
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oder die konfessionellen Grundhaltungen übernahmen. Eine Politisierung und – später auch – Radikalisierung ist jedoch auch jenseits der Parteijugenden zu beobachten. Nach dem ersten Weltkrieg wandelt sich das Leitbild vom fahrenden Schüler zum kriegerischen Ritter und Soldaten. Es entsteht die Bündische Jugend – oder besser gesagt: viele verschiedene Jugendbünde, die das Frontsoldatenerlebnis und die Erfahrung des Schützengrabens verherrlichen. Die semantische Verschiebung hin zum Bund verrät viel über den neuen ideologischen Überbau der Jugendbewegung. Es finden sich Formen des Führerprinzips und die Forderung der Unterordnung der individuellen Autonomie und Freiheit unter den Bund mit dem Ziel einer gesellschaftlichen und politischen Neuordnung von Volk und Staat. Man kehrt sich vom Ideal des weltentrückten Lebens ab, hin zur harten Realität. Es entwickelt sich das Selbstverständnis, eine Keimzelle für eine neue Volksgemeinschaft zu sein. Daraufhin entstand die, für unsere Abstraktionsthese von der dichotomischen Protestform symptomatische ‚Älterenfrage‘. Darf die Verbindung zum Bund auch in der Erwachsenenwelt fortbestehen? Die daran entzündeten Streitigkeiten führten zu zahlreichen Abspaltungen und Neugründungen. Es wird deutlich wie das Thema, das sie verfolgen, langsam die ursprüngliche Protestform der Jugend verdrängt. Man operiert anders gesagt zunehmend mit der Inklusion/Exklusion-Differenz ‚Volk-/Nicht-Volk‘, im Gegensatz zur vorher gewählten Zentrum-Peripherie-Unterscheidung Jugend/Erwachsene. Eine vordergründig kleine Differenz, die aber entscheidende Wirkungen hat. Die Jugendbewegung verlor ihre Unbestimmtheit und gewann eine Anfälligkeit für politische Parolen. Es soll im Folgenden nicht um eine Rekonstruktion der Ursachen gehen, die zur nationalsozialistischen Ideologie führten, auch wenn man natürlich Kontinuitätslinien ziehen kann. Uns geht es viel eher um die Belastbarkeit der Zwei-Seiten-Form des Jugendprotestes und den semantischen Figuren, die diese begleiten. Es geht weiterhin um eine theoretische Analyse, die Vergleichbarkeit ermöglicht. 28.5 Jugend wird ewig – fataler Erfolg einer Bewegung Die Jugendbünde haben in weiten Teilen Ideologie, Sozialformen (Fahrten, Lager, Gemeinschaftserlebnisse durch Musik, Abhärtung, Sport) und Semantiken entwickelt, die der Nationalsozialismus für seine Jugendbewegung fast nur zu übernehmen brauchte, zumindest in Terminologie und Ausrichtung: Volk, Rasse, Deutschtum, Lager, Soldat, Militanz, Germanentum, Modernitätskritik, Intellektuellenfeindlichkeit, auch und vor allem ex negativo: Anti-bürgerlich, antidemokratisch, anti-rationalistisch und antisemitisch. Nichtsdestotrotz liegt der
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entscheidende semantische Umschwung innerhalb der Protestform Jugend bei den Nationalsozialisten und diese Umdeutung ist in der Bewegungsgeschichte des Nationalsozialismus selbst begründet. Der Nationalsozialismus – der in seiner Bewegungsphase (bis 1933) tatsächlich eine verhältnismäßig junge Bewegung ist98 – inszeniert sich auf der einen Seite eines politisierten Generationenkonfliktes. Die Jugend wird zu einer ausschließlichen Hoffnungsformel und eindringlich als Teil der Bewegung beschwört. Der Nationalsozialismus will das Bild des politischen Lebens ‚verjugendlichen’ – spricht von der „volksbiologischen Erneuerungspotenz“ (Peukert zitiert nach Dudek 1987). Die nationalsozialistische Bewegung sei der organisierte Jugendwille und dies wird machtvoll inszeniert und symbolisiert – so zum Beispiel mit der Ornamentik der Masse und der ästhetisierenden Feier der Jugend. Nebenbei sei bemerkt, dass der Jugendmythos in nahezu allen autoritären Regimes vorkommt. Dabei wird mit Jugend im Faschismus jedoch explizit Krieg, Mannhaftigkeit, Gewalt verbunden und er wird als Gegenbegriff zur Trägheit und zur reichen Bequemlichkeit gesetzt.99 In der Bewegungsphase gelang es dem Nationalsozialismus den Jugendmythos für sich in Anspruch zu nehmen und ihn mit agitatorischer Flexibilität voranzutreiben (vgl. Dudek 1987: 190). Er übernimmt die revolutionäre Phraseologie der Jugendbünde. Aber was passiert, wenn die Revolution gelungen ist, wenn die Revolutionäre ihren Weg in das Zentrum der Gesellschaft gefunden haben? Die Grundunterscheidung Entscheider_in und Betroffene_r fiele dann zusammen. Die Form des Protestes selbst muss überwunden werden, weil man Erfolg gehabt hat. Kann man sich trotzdem noch als Jugendbewegung inszenieren? Das ist natürlich eine Suggestivfrage. Umdeutungen sind erforderlich und bereits angedeutet: Was passiert, wenn der Staat sich selbst als Bewegung verkauft, wenn Zentrum und Peripherie zusammenfallen? Einen erneuten Umweg über das Erziehungssystem soll den Weg zur Beantwortung dieser Fragen weisen: Im Nationalsozialismus sollte ein entgrenzter Erziehungsraum entstehen, der mit gleichzeitiger Bildungsbegrenzung zugunsten der verstaatlichten, gleichgeschalteten Jugendbewegung, der HJ, vereinbar sein sollte. So wurden alle Jugendbewegungen nacheinander entsprechend ihrer Nähe zur Ideologie verboten oder in die HJ aufgenommen. Der nationalsozialistische Staat sollte ein Erziehungsstaat sein: „Und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben,“ lautet zum Beispiel ein bekanntes Hitler-Zitat (Langewiesche 1989: 2021). Die Freizeit wurde zu einem pädagogisch definierten Bereich. Man griff 98 Dies zeigt sowohl die Mitgliederstruktur der zentralen Organisationen SA und HJ, als auch die Altersstruktur der Wähler des Nationalsozialismus (vgl. Dudek 1987: 188). 99 Vgl. dafür die Schriften des faschistischen italienischen Dichters Gabriele D’Annunzio (* 12. März 1863 in Pescara; † 1. März 1938 in Gardone).
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noch mehr auf die Lebenswelt aus. Es sollte ein schrankenloser Subjektzugriff möglich sein.100 Die Hitlerjugend bildet ein Mix aus modernsten pädagogischen Methoden und einer antimodernen Ideologie.101 Im Grunde müsste dieser Ausgriff auf die Lebenswelt der Jugend als Provokation zum Protest und Kampf der Jugend um ihre Autonomie gesehen werden. Der Versuch des NS-Staates liegt nun darin, sich selbst als Bewegung zu inszenieren. Der Staat ist eine Jugendbewegung und kann daher auch eine eigene Jugendbewegung gründen. In der Ideologie wird dies durch einen Januskopf umgesetzt: Verheißung und Zwang werden verschränkt, genauso wie kollektive Perspektiven mit Nahund Fernzielen. Ein paar Belege aus dem reichen propagandistischen Fundus des Nationalsozialismus sollen verdeutlichen, wie die Zweiseitenform Jugend umgedeutet wird: „Die Nationalsozialistische Bewegung war, ist und bleibt eine Bewegung der Jugend, nicht nur in jenem äußerlichen Sinne, dass eine an Jahren junge Generation – wie bei allen Revolutionen – im wesentlichen Träger des Umsturzes, der Wandlung ist, sondern in jenem tiefern Sinn, dass unser Volk als Ganzes sich seiner Jugend, seiner ewigen Jugend bewusst wird. [...] [H]inabgestiegen zu den Müttern und dort wiedergeboren zu seinem eigensten Wesen!“ (Vesper (1934): X, zitiert nach Mogge 1988: 66).
Und der deutlichste Beleg für eine vollkommene Umdeutung des Jugendprotestes: „Der Führer ist immer der Jüngste“ (Aus einer Rede von Rudolf Heß, zitiert nach Schmidt-Sasse 1985: 128). Auffallend an diesen Worten sind die Betonung der Einheit der Jugend als völkische Kategorie und vor allem die Verewigung der Jugend. Während die Betonung der Einheit an die Tradition der Jugendbewegungen seit dem Wandervogel und besonders deutlich seit Verkündung der Meißnerformel bindet, ist die Verewigung der Jugend ein neues Element, das einhergeht mit dem Geschichtsbild des tausendjährigen Reiches (samt Ende der Geschichte nach der gelungenen faschistischen Revolution), wie es in allen Repräsentationen der NS-Zeit deutlich wird – man denke an Architektur, Denkmäler und die Inszenierung von Kundgebungen. Die Zukunft, für welche die Jugend steht, ist das ewige Jetzt und der Führer, weil er für den ewigen Staat steht, schließlich der Jüngste. Dass dies natürlich vollkommen absurde Zeitkonstruktionen sind, fällt im ersten Moment auf. Die Umdeutungsleistungen, die hier im semantischen Bereich erbracht werden müssen, sind also enorm und zeigen das Pharisäertum einer sozialen Bewegung, die nun regieren muss.
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Hier kann man im Übrigen Konstanten in der Entwicklungsgeschichte des ausgreifenden Erziehungssystems sehen – eine ‚pathologische Struktur der Moderne‘, die im Faschismus ihren Höhepunkt findet. 101 Siehe zu diesem Gegensatz bei fundamentalistischen Bewegungen auch Eisenstadt (1998).
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Ein weiterer Beleg ist das Fahnenlied der Hitlerjugend aus der Feder ihres Führers Baldur von Schirach: „Unsre Fahne flattert uns voran. In die Zukunft ziehen wir Mann für Mann. Wir marschieren für Hitler durch Nacht und Not Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot. Unsre Fahne flattert uns voran. Unsre Fahne ist die neue Zeit. Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!“ (Aus: Michaud 1997: 366; Hervorhebungen der Autor_innen)102
Man findet auch hier semantische Figuren, welche die Ewigkeit und die Verbindung der Jugend mit Tod und Kampf betonen. Bei allen Propaganda-Belegen wird, zumindest implizit, die Negierung der freiheitlichen Komponenten des Jugendmythos, der auch immer Offenheit, Kreativität und eben Erneuerung beinhaltete, deutlich. Zwar kommt im Fahnenlied das Wort Freiheit noch vor, aber es steht in einer Reihe mit dem Marsch für Hitler durch die Not. Bei einer derartig todessehnsüchtigen Verewigung der Jugend kann man wohl nicht mehr von einer stabilen Protestform sprechen. Es fehlt die Gegenseite, gegen die protestiert wird. Es geht vielleicht noch im weitesten Sinne um Jugend, allerdings nicht mehr um Bewegung. Sie wandern zwar noch, aber Soziales bewegen sie nicht mehr. Diese Eindämmung jedes auch nur denkbaren Protestes war gerade die Strategie des Nationalsozialismus. Das Perfide an seiner Ideologie ist dabei, dass er dies nicht ausschließlich mit einem schlichten Verbot sozialer Bewegungen leistete, sondern zum großen Teil mit deren Eingliederung in seinen totalitären Machtapparat. Die Jugendbewegungen werden nicht verboten, sondern von seiner eigenen Jugendbewegung, die dann aber keine Bewegung mit dem Anspruch des sozialen Wandels mehr ist, überboten. Damit wird ein Grundelement der nationalsozialistischen Herrschaft deutlich. Auch die Forderungen der Arbeiter_innen nach Verteilungsgerechtigkeit werden beispielsweise nicht einfach zurückgewiesen, sondern gehen in die Ideologie als national gewendeter Sozialismus ein. Nach diesen Andeutungen zum Ende einer sozialen Bewegung muss natürlich noch auf den Fortbestand der Jugendbewegungen im Widerstand hingewiesen werden. Die Edelweißpiraten oder auch die Weiße Rose nahmen in ihren Aktionen gegen die nationalsozialistische Herrschaft teilweise explizit auf die Jugend und ihre Tradition als erneuerndes Element der Gesellschaft Bezug.
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Das Lied ist auch bekannt unter dem Titel: „Vorwärts! Vorwärts! schmettern die hellen Fanfaren“. Es war ein Marschlied, das auch in Filmen als propagandistischen Mittel eingesetzt wurde.
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28.6 Einordnung der historischen Jugendbewegung Die Abstraktion auf den semantischen Kern der Jugendbewegungen hat es ermöglicht, die Hitlerjugend, die Jugendbünde und den Wandervogel unter einem gemeinsamen Gesichtspunkt zu vergleichen. Anhand der zentralen Unterscheidung von Jugend/Erwachsene, die sich aus der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft ergeben hat, spiegeln sich die politischen Verhältnisse und die kontingenten Formationen einer Bewegung. Dabei hat sich das ZentrumPeripherie-Schema als ein Analyseraster erwiesen, das den Vergleich verschiedener sozialer Bewegungen ermöglichen kann. Soziale Bewegungen reagieren auf die gesellschaftliche Differenzierung in Zentrum und Peripherie mit der Bewegung von der Peripherie ins Zentrum. Doch warum versandet nach 1945 dieses Drängen der Jugend ins gesellschaftliche Zentrum? Vielleicht kann die Besinnung auf die Bedingungen des Protests einige Hinweise darauf liefern. Zunächst muss man konstatieren, dass Jugendliche zwar viel protestieren, aber nicht mehr, weil sie jugendlich sind. Woher kommt diese Unmöglichkeit, die Jugend gegen die Erwachsenen in der postindustriellen Gesellschaft auszuspielen? Einige Spekulationen wollen wir uns abschließend erlauben: Ablehnende Haltungen gehören mittlerweile zur Sprache der herrschenden Ordnung; Kritik ist die Sprache des Establishments. „Die Rhetorik des Warnens, Mahnens und Forderns hat die Seite gewechselt. Sie zielt nicht mehr im Interesse der Ordnung gegen den Sünder, sondern begünstigt den Protest“ (Luhmann 1997a: 858). Dadurch wird der Bedarf an neuen Themen, die noch ein kritisches Potential enthalten und nicht schon auf Seiten der Herrschaft adaptiert wurden, akut. Für die Jugendbewegungen, die zunächst auf die Unterscheidung Jugend/Erwachsene rekurrieren und damit themenlos agieren, bedeutet dies den Zusammenbruch. Die Form des Protestes verliert ihre Bedeutung, wenn sie ständig von der Gegenseite gekreuzt wird, wenn die Erwachsenen rebellischer sind als ihre Kinder. Diese Frage lässt sich besonders für unsere Generation stellen. Wie lebt es sich als Kind von Kommunemitgliedern, als Kind von Joschka Fischer? Die Möglichkeiten dagegen zu sein, sind zu klein und zu vielfältig. Die Jugend als gemeinschaftsstiftende Kategorie ist dafür zu unbeweglich. Temporäre Identitäten bilden die Basis des heutigen Protests, ohne dass eine Festlegung auf biographische, natürliche Gemeinsamkeiten notwendig oder gar praktikabel wären. Beim DGS-Kongress 2008 in Jena herrschte in der Sektion Jugendsoziologie die einhellige Meinung, die Ulrike Popp so ausgedrückt hat: „Das soziale Leitbild von Jugend als Trendsetter und Hoffnungsträger ist längst obsolet. Zu vermuten ist, dass Jugendliche und junge Erwachsene immer weniger bereit sein werden, in unsicheren Zeiten für gesellschaftlich produzierte Unsicherheiten
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Verantwortung zu übernehmen. Forschungsbefunde legen nahe, dass sich Jugendliche mit 'ihrer' Freundesgruppe in Nischen zurückziehen und sich nicht nur von Angehörigen anderer Generationen, sondern zunehmend auch von anders, oder vermeintlich anders orientierten Altersgleichen abgrenzen.“103 Auch hier scheinen Argumentationslinien zusammenzulaufen, die bestätigen, dass es keine übergreifende Jugendkultur mehr gibt, dass die Protestform Jugend für Zeiten der temporären, konsumorientierten oder posttraditionalen Vergemeinschaftung nicht stabil ist. Das Merkmal Jugend eignet sich nicht mehr für Protest. Das enthebt jeden Einzelnen aber nicht davon, die Sonden der Ungerechtigkeiten in die Gesellschaft einzuführen und sie damit zu konfrontieren. Die Forderung, die die sozialen Bewegungen nach ausreichender theoretischer Reflexion an das moderne Individuum stellen, bleibt: „Beweg dich!“
103 Aus dem Abstract zum Vortrag von Ulrike Popp (7.10.2008), gehalten in der Sektion „Jugendsoziologie“ auf dem DGS-Kongress am 7. Oktober 2008 in Jena.
29. EU-Flüchtlingslager in Polen: Ein Beispiel für soziale Randlagen an der Peripherie zwischen Inklusion und Exklusion
Sich bewegen, im Sinne von etwas verändern, kann allerdings nur, wer überhaupt Teil der Gesellschaft ist. Soziale Inklusion bedeutet, dass man in verschiedenen Funktionssystemen überhaupt die entsprechenden Kommunikationschancen für eine Teilhabe an diesen besitzt. Wie oben bereits ausgeführt, wird aufgrund der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft darüber von jedem Funktionssystem selbstständig entschieden:104 Eine Operation im Religionssystem impliziert nicht zugleich politische Kommunikation – der Eintritt in die Kirche ist keine Garantie des Wahlrechts. Sozialen Bewegungen gelingt es wie im Falle der Jugendbewegung vermittels des Protests die Grenzen mehrerer Funktionssysteme zu überschreiten und durch die Verknüpfung von Systemlogiken ins Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und ihrer Diskurse vorzudringen. Anderen Personengruppen bleiben dieser Protestmodus und die Bewegungsrichtung von der Peripherie ins Zentrum verwehrt. Sie sind von der Exklusionsdynamik der modernen Gesellschaft betroffen. Bewohner von Slums und Ghettos kommen hier in den Sinn, und Niklas Luhmann hat die brasilianischen Favelas vor Augen, wenn er (1996f: 227) durchaus selbstkritisch feststellt, dass es „[z]ur Überraschung aller Wohlgesinnten […] doch Exklusionen gibt, und zwar massenhaft […].“105 Auf die große Zahl Exkludierter weisen aber auch die mehr als 224 Lager für Flüchtlinge und Asylsuchende hin, welche das Gebiet der Europäischen Union und ihrer Nachbarstaaten überziehen.106 Sie wurden im Zuge des Schengener Abkommens von 1995 und im Kontext des 1998 ausgerufenen Zieles eines „Eu104
Siehe Kap. 27. Siehe Kap. 19 für das Beispiel der jugendlichen Émeutes in den französischen Vorstädten. Dort gelingt den Exkludierten über das System der Massenmedien jedoch das Vordringen ins gesellschaftliche Bewusstsein. 106 Siehe dazu die Karte auf http://www.migreurop.org/IMG/pdf/L_Europe_des_camps_2009.pdf [ 13.7.2010]. Die Bilder überfüllter Boote, mit denen meist afrikanische Flüchtlinge das Mittelmeer zu überqueren suchen, sind allseits bekannt. Wesentlich mehr Menschen immigrieren jedoch auf dem Luft- oder Landweg in die EU. Die Orte, an denen sich all jene Menschen aufhalten, rücken dabei nur sporadisch ins Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit, sind aber in allen Mitgliedsstaaten zahlreich lokalisiert. 105
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_30, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ropäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ nach und nach errichtet (vgl. Gusy/Schewe 2004: 343-345; Dietrich 2004: 50). Mit der Schaffung eines europäischen Binnenraums der Freizügigkeit hat sich die Kontrolle von Immigration zur supranationalen, d.h. zu einer auf der Ebene von überstaatlichen Organisationen und Rechtsnormen geregelten, Aufgabe entwickelt, sodass die Asylpolitik zunehmend auf EU-Ebene harmonisiert und integriert worden ist. Die Bedeutung der Außengrenze als Selektionsprozessor der Unterscheidung „Hereinlassen/Ausschließen“ hat damit zugenommen und schon vor dem EUBeitritt der mittel- und osteuropäischen Länder wurde eine stärkere polizeilichjustizielle Kooperation und strikte Grenzsicherung mittels der neu gegründeten Grenzagentur Frontex mit Sitz in Warschau beschlossen (vgl. Hailbronner 2005: 104; Kaufmann 2006: 32-33). Auf polnischem Territorium wurden überdies schon vor dem EU-Beitritt des Landes im Jahre 2004 zahlreiche Auffanglager für Migranten errichtet. Sie lassen sich als „Korrespondenzorte zur Grenze“ (Pfau 2008: 24) verstehen, die eine sicherheitsrelevante Selektionsleistung nach dem Schema Inklusion/Exklusion erbringen. In knapp 40 solcher ‚Zentren für Ausländer‘ – so der regierungsamtliche Sprachgebrauch – werden Asylsuchende, illegale Migranten und andere ‚Grenzverletzer‘ interniert, bewacht und bis zu ihrer Abschiebung verwahrt.107 Folglich hat sich hier eine Ordnung der Exklusion etabliert, die auf Mechanismen der Inklusion zurückgreift: Ausschluss durch Internierung. Am Beispiel des polnischen EU-Flüchtlingslagersystems soll im Folgenden der in Kapitel 27 bereits eingeführte Gedanke aufgegriffen werden, dass sich die Dichotomie der Unterscheidung von Inklusion/Exklusion mithilfe eines einfachen ZentrumPeripherie-Modells durch ein Kontinuum ergänzen lässt. Sofern man nämlich mit Luhmann die Inklusions-Exklusions-Differenz als ‚Supercodierung des Gesellschaftssystems‘ (Luhmann 2008: 260) oder als „Leitdifferenz des nächsten [21.] Jahrhunderts“ (Luhmann 1996f: 228; Hinzufügung der Autor_innen) bezeichnet, erlaubt es das Zentrum-Peripherie-Konzept, die Konsequenzen funktionaler Differenzierung trotzdem mit zu berücksichtigen. Das konstruierte Zentrum der ‚Supercodierung‘ liegt schließlich über den Codes der einzelnen Funktionssysteme, innerhalb derer dezentral über Inklusion entschieden wird. Die Flüchtlingslager sind ein Beispiel dafür, wie diese dezentralen Inklusionsmechanismen auf der Exklusionsseite eine subsystemübergreifende Peripherie schaf107 Von offizieller Seite wird die Bezeichnung cudzoziemiec (Ausländer, engl. foreigner) dem Begriff uchodĨca (Flüchtling), der einen bestimmten völkerrechtlichen Status impliziert, vorgezogen. Die Zahl der Lager variiert je nach Quelle: Die zuständige Regierungsstelle listet 20 Zentren: siehe http://www.udsc.gov.pl/THE,LIST,OF,CENTRES,FOR,FOREIGNERS,677.html [13.7.2010]. Die bereits erwähnte Karte der EU verzeichnet in Polen doppelt so viele Lager und der Bericht einer EUDelegation nennt 39 ‚Zentren‘ (vgl. Kreissl-Dörfler 2008: 4-6).
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fen, die von kommunikativer Teilhabe an Gesellschaft, Aufmerksamkeit, sowie u.a. von politischen und wirtschaftlichen Partizipationschancen weit entfernt ist. Überdies schlägt in Bezug auf das Rechtssystem mit den Worten Stefan Kaufmanns „[i]n der Topographie des Lager-Systems ein Zentrum-Peripherie-Gefälle juridisch durch“ (Kaufmann 2006: 47). In den Lagern zeigt sich somit die Tendenz der funktional differenzierten Gesellschaft, über Inklusion/Exklusion dezentral, in Organisationen am Rande der einzelnen Funktionssysteme zu entscheiden – ein Punkt, den Luhmann nur angedeutet, aber nicht ausformuliert hat (vgl. Luhmann 1996f: 224). Da aber die Exklusionsseite der binären Form hochgradig integriert ist, zieht dies den Ausschluss auch in Bezug auf andere Funktionssysteme nach sich. Die Flüchtlingslager tragen der juristischen Logik Rechnung, dass auch die Asylsuchenden (völker-)rechtsförmig behandelt werden müssen. Damit sind ihre Insassen zwar (eingeschränkt) in das Rechtssystem inkludiert, werden jedoch durch das innerhalb des Rechtssystems bereits periphere Arrangement der Lager von der Beteiligung an anderen Funktionssystemen (Politik – wo allerhöchstens andere über sie reden und entscheiden; Wirtschaft; Familie; Bildung und Wissenschaft) ebenfalls ausgeschlossen bzw. dort peripherisiert. Es liegt auf der Hand, dass hier die dialektische Figur der ‚eingeschlossenen Ausschließung‘ bzw. ‚ausschließenden Einschließung‘, wie sie aus dem Kontext von Irrenanstalten, Arbeitshäusern, Gefängnissen und Besserungsanstalten bekannt ist, zum Tragen kommt (vgl. dazu Foucault 1969: 29; Agamben 2002: 31-35). Dadurch kann die Gesellschaft ihre Kollektivsemantik der Allinklusion wahren, gleichzeitig aber auf der Ebene der Funktionssysteme Exklusion anwenden (vgl. Luhmann 1996f: 224; 1996b: 187). Im europäischen Kontext fungiert dabei effektives Grenz- und Migrationsmanagement als Formel für das Problem, Exklusion mit dem integrierenden Leitbild des bereits erwähnten Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts zu vereinbaren.108 Migration erscheint (spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York) als Sicherheitsrisiko (vgl. Bigo 2002: 215). Manche Autoren diagnostizieren bezüglich dieser veränderten gesellschaftlichen Bewertung von Migration gar eine „strategische Verknüpfung der Topoi Kriminalität und Migration“ (Pfau 2008: 27; vgl. auch Bort 2002: 191) zur Legitimation grenzpolizeilichen Vorgehens gegen völker- und asylrechtlich geschützte Subjekte. Wie sich dies innerhalb des polnischen Lagersystems konkret ausgestaltet, soll im Folgenden in zwei Schritten dargestellt werden: Zunächst wird die systemische Ebene der Lager als Organisationen rechtlichen Charakters im Hinblick 108
Siehe dazu auch den European Pact on Immigration and Asylum, der unter der französischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2008 ausgearbeitet wurde – einsehbar unter URL: http://www.immigration.gouv.fr/IMG/pdf/Plaquette_EN.pdf [15.07.2010].
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auf die Inklusions-/Exklusionstopographie untersucht. Anschließend wird auf die lebensweltlichen Konsequenzen dieser Architektur eingegangen, wobei sich theoretische Bezüge zu Giorgio Agambens (2002) Konzept des ‚nackten Lebens‘ sowie Erving Goffmans „totaler Institution“ (1972a) ergeben. Allerdings wird zugunsten einer Aufnahme empirischen Materials darauf verzichtet, dem Bisherigen neue theoretische Konzeptionen anzufügen. Ziel und Abschluss dieses Abschnittes ist es schließlich, anhand der Flüchtlingslagerthematik die Konstellation von Zentrum und Peripherie als Ergänzung der starren systemtheoretischen Differenz von Inklusion/Exklusion um den Gedanken eines Kontinuums vorzuschlagen. 29.1 Das Lagersystem: Organisation inkludierender Exklusion Das System polnischer Flüchtlingslager ist durch eine interne Hierarchie gekennzeichnet, in der gut 20 so genannte „Auffang- und Empfangszentren“ (so der Sprachgebrauch seitens der offiziellen Regierungsstellen; vgl. auch KreisslDörfler 2008; Caritas Poland 2007) als erste Anlauf- und Durchgangsstationen für Asylsuchende dienen, während weitere 19 so genannte „Verwahr- und Inhaftierungszentren“ für illegale Immigranten bereit stehen. Letztere werden noch einmal in 5 „bewachte Zentren für Ausländer“ und gut 14 Lager zur Vollstreckung der Abschiebehaft differenziert. Insofern also die Flüchtlingslager dem offiziellen Zweck dienen, Migrant_innen während ihres Asylverfahrens zu verwahren bzw. illegale Flüchtlinge bis zu ihrer Abschiebung zu verwahren, können sie als Organisationen verstanden werden, die Exklusion vermittels einer Einschließung durchsetzen. Organisationen formalisieren bestimmte Verhaltenserwartungen zu Mitgliedschaftsrollen und sind deshalb in der Lage, über Zugehörigkeit/Nicht-Zugehörigkeit zu entscheiden (vgl. Luhmann 1964: 36). Vor dem Hintergrund von Luhmanns These, dass die Gesellschaft als Ganze nicht mehr über Inklusionen bzw. Exklusionen entscheidet, kommen somit Organisationen in den Blick, wenn es darum geht, in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft die Unterscheidung ‚Inklusion/Exklusion‘ anzuwenden (vgl. Luhmann 2002: 231-232). Im Kontext der Flüchtlingslager impliziert die Mitgliedschaft in der Rolle des bzw. der Internierten (im Gegensatz zum Wachpersonal)109 die Exklusion aus wesentlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Rechtlich sind die Personen integriert, während in der gesetzlichen Grundlage als Zweck „the state security and defence as well as […] public security and poli109
Diesem Gegensatz und seinen lebensweltlichen Konsequenzen hat sich ausführlich Goffman (1972a: 24-94) gewidmet.
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cy“110 angegeben werden. Der Schutz der Gemeinschaft vor potenziellen Gefahren legitimiert die Beschränkung des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt und die damit einhergehende Aufhebung der Trennung von Lebensbereichen. Aus diesem Grund spricht Goffman von „totalen Institutionen“, deren zentrales Merkmal „[d]ie Handhabung einer Reihe von menschlichen Bedürfnissen durch die bürokratische Organisation ganzer Gruppen von Menschen […] ist“ (Goffman 1972a: 18). Zwecks Überwachung eingerichtet, bilden diese Institutionen die Punkte, an denen sich das schon von Luhmann gesehene Verschwimmen der Systemlogiken im Exklusionbereich kristallisiert. Entgegen der Kritik mancher Autoren (vgl. insbesondere Dietrich 2004: 50) hat die Errichtung von Flüchtlingslagern an den neuen östlichen Außengrenzen der EU jedoch keineswegs zu exzessiven Exklusionspraktiken unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die polnische Regierung sieht sich seit dem EUBeitritt zu Transparenz verpflichtet, hat eine Liste mit den Adressen und Trägern aller Lager veröffentlicht, gesetzliche Grundlagen geliefert und einer Delegation des EU-Parlaments im April 2008 Zugang zu einigen Lagern verschafft. Deren Eindruck war „surprised positively“ (Kreissl-Dörfler 2008), wenngleich die Parlamentarier_innen stets von Aufsehern herumgeführt und nur in wenige ausgewählte Lager eingelassen wurden. Hauptziel war das knapp 40 Kilometer südlich von Warschau gelegene Lesznowola, welches Caritas Polen im Rahmen einer von diversen NGOs europaweit durchgeführten Studie im Blick hat, wenn sie konstatiert, dass „apart from the Lesznowola Guarded Centre for Aliens, all detention camps are prison-like“ (Caritas Poland 2007: 93).111 Es bestehen also innerhalb des Lagersystems Unterschiede, die sich vor allem anhand des Verwendungszwecks der einzelnen ‚Zentren‘ rekonstruieren lassen. Das empirische Material liefern dabei die beiden genannten Studien (Kreissl-Dörfler 2008; Caritas Poland 2007). In den ‚Auffang- und Empfangszentren‘ sammeln sich legal eingereiste Asylsuchende. Die Zentren sind unbewacht und nach außen offen, d.h. die Bewohner_innen dürfen nirgendwo anders wohnen, aber abgesehen davon ist ihre Bewegungsfreiheit gegeben. Durch Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse, Freizeitaktivitäten, sowie die Möglichkeit eines regulären Schulbesuchs für Kinder sind diese ‚Zentren‘ relativ nahe an den kommunikativen Inklusionschancen der einheimischen Bevölkerung gelegen. Politische Mitsprache ist zwar ohne den 110
So im „Gesetz zum Schutze Fremder auf dem Territorium der Republik Polen vom 13. Juni 2003” (Ustawa z dnia 13 czerwca 2003 r. o udzielaniu cudzoziemcom ochrony na terytorium Rzeczypospolitej Polskiej). URL: http://www.udsc.gov.pl/files/prawo/ACT%20of%20June%2013%202003%20(3).doc [15.7.2010]. 111 Die wenigen online auffindbaren Fotos bestätigen dies, siehe http://www.flickr.com/photos/clarecita1/sets/72157603249793381/ [15.7.2010].
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Bürgerstatus nicht möglich, und auch das Nachgehen einer regulären Beschäftigung ist unzulässig. Religionsausübung, familiäre Gemeinschaft und Bildung werden jedoch gewährt. Glaubt man den Zahlen, welche der EU-Delegation vorgelegt wurden, so sind diese Zentren stark überfüllt, obwohl ihre Kapazitäten bei durchschnittlich 200 Personen liegen. Geographisch über das gesamte Land verstreut, befinden sich die Auffanglager meist an den Rändern von Städten und gleichen in ihrer Architektur üblichen Wohnheimen (vgl. Kreissl-Dörfler 2008: 6; 18-20). Die Tragweite der Exklusion verschärft sich im Kontext des zweiten Einrichtungstyps – der so genannten ‚Verwahr- bzw. Inhaftierungszentren‘ für illegale Einwanderer. Sie sind nach außen abgeriegelt, werden stetig bewacht und ziehen deshalb die Charakterisierung als gefängnisähnliche Orte auf sich. Die meisten Lager befinden sich in ehemaligen Gefängnissen oder abgetrennten Teilen regulär genutzter Gefängnisbauten. Für Bewegung unter freiem Himmel stehen in den meisten Fällen kleine, vollständig betonierte und käfigartig umzäunte Flächen zur Verfügung. Selten gibt es hinter dem Stacheldraht oder den hohen Mauern, die die Lager umgrenzen, Spielplätze für Kinder – oder, wie aus dem Lager in Szczecin (Stettin) berichtet wird, ein Volleyballfeld (vgl. Caritas Poland 2007: 98). Dabei werden die Insassen ohne strafrechtlich relevante Gründe inhaftiert: „the fact, that the majority of detainees are not criminals seems to have been overlooked; the centres are prison-like places“ (ebd.: 90). Aber auch innerhalb dieses Einrichtungstyps setzt sich ein weiteres Exklusionsgefälle durch: 5 ‚bewachte Zentren für Ausländer‘ werden von 14 ‚Abschiebehaftzentren‘ unterschieden, in denen diejenigen interniert werden, bei denen der bloße Verdacht besteht, sie könnten sich dem Abschiebebeschluss entziehen oder den Hausregeln in den bewachten Zentren widersetzen. Die Abschiebelager haben dabei die geringsten Kapazitäten. Sie reichen von 56 Plätzen in Krosno OdrzaĔskie nahe der ukrainischen und slowakischen Grenze bis zu 3 Plätzen im südschlesischen Káodzko. Nicht zuletzt aufgrund der Streuung relativ weniger Personen auf zahlenmäßig mehr ‚bewachte‘ als ‚offene‘ Zentren bilden die Abschiebelager das untere Ende der Exklusionshierarchie innerhalb des Lagersystems: Geographisch dezentral über den ländlichen und kleinstädtischen Raum verteilt, ist der Zugang zur gesellschaftlichen Kommunikation überdies dadurch beschnitten, dass kein Freigang gewährt, der Besitz von Mobiltelefonen untersagt und der Gebrauch von Internet und Fernsehen auf wenige Stunden am Tag begrenzt ist. Allein der Besuch durch Mitarbeiter von NGOs bildet eine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Außenwelt, zumal in Polen kein öffentliches System der Rechtsbeihilfe für Asylsuchende existiert. Durch die Abgelegenheit der Lager wird jedoch selbst deren Arbeit erschwert.
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Mit dieser geographisch ebenso wie bezüglich der sozialen Kommunikationsund Aufmerksamkeitsressourcen peripheren Lage korrespondiert die Schärfe des polizeilichen Zugriffs auf die Inhaftierten. Das gesamte Lagersystem unterliegt administrativ der Zuständigkeit des Innenministeriums und dessen Unterabteilung, des Büros für Ausländer-Angelegenheiten112. Während die ‚offenen Zentren‘ von diesem auch beaufsichtigt werden, obliegen der Betrieb und die Überwachung der ‚geschlossenen Zentren‘ entweder der Polizei oder dem Grenzschutz. Je weiter ein Migrant also innerhalb dieses organisatorischen Gefälles abrutscht, „desto stärker unterliegt er (grenz-)polizeilicher Willkür“ (Kaufmann 2006: 47). Auf Basis des Gesetzes über Fremde vom 13. Juni 2003113 wird der aufsichtshabenden Behörde die Möglichkeit eingeräumt, ohne weitere rechtliche Begründungen bzw. Absicherungen eigens spezifische Lagerordnungen zu etablieren (Art. 117, 2). Die Flüchtlingslager sind also Orte einer Ausnahmerechtsordnung außerhalb der normalerweise geltenden Normen. Dies bestätigen auch die Inhaftierungsgründe: der unerlaubte Versuch des Grenzübertritts, ein illegaler Aufenthalt auf dem Territorium der Republik Polen oder aber die anstehende Abschiebung. Sie werden durch eine rechtliche Ausnahmeregelung legitimiert, indem das oben bereits zitierte ‚Gesetz zum Schutz von Ausländern‘ den asylsuchenden Immigranten auf polnischem Territorium ‚Schutz‘ nur im Sinne von Internierung gewährt: Dort heißt es, dass der Aufenthalt eines inhaftierten ‚Fremden‘ dann legal ist, wenn über ihn „the ban to leave the Republic of Poland“ (Art. 110) verhängt worden ist; oder aber wenn er mittels rechtlicher Instrumente seiner Freiheiten beraubt worden ist. Die Eigentümlichkeit dieser Rechtsfigur liegt in der ‚eingeschlossenen Ausschließung‘, dem ‚Bann‘, die polnische Republik zu verlassen: Der legale Aufenthalt von Immigrant_innen wird nur außerhalb der normalen Rechtsordnung geduldet. Diese Rechtsfigur hat Giorgio Agamben (vgl. 2002: 81-84) juristisch-dogmengeschichtlich mit dem Status des homo sacer verglichen, einem tötbaren, aber nicht opferbaren Verbannten im Sinne des römischen Rechts. In den Flüchtlingslagern wird jedoch definitiv nicht getötet. Agamben (2002: 175-183) also darüber hinaus zu folgen und aufgrund dieser Rechtsfigur die nationalsozialistischen Konzentrationslagern mit gegenwärtigen Flüchtlingslagern in eins zusetzen, schießt unseres Erachtens im vorliegenden Falle jedoch über das Ziel hinaus. Die Entscheidungen über eine Internierung müssen von einem Gericht getroffen bzw. bestätigt werden, und dürfen dann nicht ausgeführt werden, wenn eine ernsthafte Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des/der 112
Urząd do Spraw Cudzoziemców, siehe URL: http://www.udsc.gov.pl [14.7.2010]. Ustawa z dnia 13 czerwca 2003 r. o cudzoziemcach, nachzulesen in englischer Sprache unter URL: http://www.udsc.gov.pl/files/old_file/44e9bdd07d1b8_1-44043372d9359_cudzoziemcy.pdf [17.7.2010]. 113
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Fremden besteht (Gesetz über Fremde: Art. 103). Innerhalb von sieben Tagen kann die Entscheidung angefochten werden, und die Flüchtlinge müssen in einer ihnen verständlichen Sprache über ihren Rechtsstatus informiert werden. Mithin ist eine Inhaftierung für maximal 90 Tage vorgesehen, kann jedoch auf ein Jahr verlängert werden (ebd.: Art. 106, 1-4). Außerdem sollen zivilgesellschaftliche Organisationen jederzeit Zugang zu den Lagern erhalten und Petitionen bei den (grenz-)polizeilich zuständigen Stellen einreichen können (ebd.: Art. 117, 1 § 13). Es handelt sich insofern nicht um einen völlig rechtsfreien Raum, jedoch gleichsam um eine gewollte Ausnahme, eine „Schwelle“ (Agamben 2002: 180) der Ununterscheidbarkeit zwischen Norm/Recht und Ausnahme/reiner Faktizität zwischen Inklusion und Exklusion. Somit agieren die zuständigen Grenzpolizeien in den europäischen wie polnischen Flüchtlingslagern als „Regulator[en] der Einschreibung des Lebens in die Ordnung“ (Agamben 2002: 184). Die Gesetzesdokumente und Lagerordnungen greifen bis ins Detail auf das biologische Leben der Insassen zu. Beim Eintritt ist die Abgabe aller Identitätsdokumente Pflicht, und vom Moment der Inhaftierung werden Hygiene, Tagesabläufe, geschlechterspezifische und körperliche Bedürfnisse strikt geregelt: Es existieren genaue Regeln über die Benutzung eigener oder gestellter Kleidung, wobei als explizites Recht garantiert werden muss, „[t]o use sanitary devices as well as toilet articles“ (Gesetz über Fremde: Art. 117, 1 § 6). Medizinische Zwangsuntersuchungen sind angeordnet und die Geschlechter werden – außer in dem Lager in Lesznowola – räumlich getrennt gehalten (vgl. Caritas Poland 2007: 101-102; Kreissl-Dörfler 2008: 15). Die Deprivation, Demoralisierung und genaueste Regelung alltäglicher Bedürfnisse im Sinne einer ‚totalen Institution‘ (vgl. Goffman 1972: 21-22) verschärfen enge Zimmer (3 m² für Männer, 4 m² für Frauen) mit wenig Lichteinfall und vergitterten Fenstern, die in der Regel mangels einer Kantine auch zum Essen genutzt werden müssen, während die Tagesabläufe, Schlaf- und Essenszeiten strikt geregelt sind: „Lights out at 8pm“ wird eine Lagerordnung zitiert (Caritas Poland 2007: 97). Schließlich existieren innerhalb der Lager – so wird von Caritas Polen berichtet – keinerlei formale Streitschlichtungs- und Beschwerdemechanismen, sodass die Willkür der Lageraufsicht das letzte Wort behält (vgl. ebd.: 95). Man kann also bezüglich der politisch-juridischen Struktur der Flüchtlingslager durchaus von einer eingeschlossenen Ausschließung sprechen, wie sie Agamben systematisiert hat (vgl. Agamben 2002: 175-177). Es handelt sich also nicht um absolute Exklusion, wie sie in der modernen Gesellschaft kaum möglich erscheint. Dem funktionalen Imperativ des (Asyl- und Völker-)Rechts wird durch die rechtliche Etablierung des Lagersystems und seine juridische Legitimation vermittels eines Verteidigungs- bzw. Ausnahmezustandes Rechnung getragen. In
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den ‚offenen Zentren‘ ist darüber hinaus die Inklusion in einige gesellschaftliche Funktionsbereiche gegeben. Die ‚bewachten Zentren‘ befinden sich jedoch in einer Zone nahezu vollständiger Exklusion von allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen, medialer Aufmerksamkeit und rechtlicher Freiheitsgarantien. Da es sich jedoch selbst bei den Abschiebelagern um rechtlich etablierte Organisationsstrukturen handelt, bilden sie innerhalb der Dichotomie von Inklusion und Exklusion gerade nicht das gesellschaftliche Außen. Vielmehr ist die Peripherie der Ort, an dem die Lager theoretisch lokalisiert werden müssen. 29.2 Die Lebenswelt in den Flüchtlingslagern: ‚aufs Körperliche reduzierte Existenzen‘ Um die lebensweltlichen Konsequenzen dieser sozialen Randlage darzustellen, lohnt es sich, näher auf den Alltag der Lagerinsassen einzugehen, auf ihre Lebensumstände und Lebensformen.114 Bei den Flüchtlingen handelt es sich auf polnischem Territorium zumeist um Menschen aus Tschetschenien, Weißrussland, Armenien, der Mongolei und anderen ehemaligen GUS-Staaten sowie um Südostasiat_innen aus Vietnam, China und Sri Lanka. Sie werden in den Lagern nach kulturell-sprachlichen Gemeinsamkeiten und ihrem Geschlecht gruppiert und untergebracht. Schwangere, besonders Traumatisierte und Minderjährige werden separat und nur in besser ausgestatteten Zentren interniert. Von einer speziellen medizinisch-psychologischen Betreuung wird jedoch nicht berichtet (vgl. Caritas Poland 2007: 94). Gebetsräume, spärlich ausgestattete Bibliotheken und kleine Aufenthaltsräume mit TV-Geräten stehen zwar in den meisten Fällen zur Verfügung, werden jedoch meistens nicht genutzt – in der Regel, da die Internierten nicht von ihrer Existenz wissen (vgl. Caritas Poland 2007: 102). Dafür mögen nicht zuletzt die regulierten Tagesabläufe und die Art der Unterbringung verantwortlich sein, über die Caritas Polen exemplarisch aus Lublin berichtet: „Dormitories are small and shabby, with a lack of light, the windows are barred and access to fresh air is very limited. People eat and sleep in the same place […]. Detainees are allowed out in the open air once a day for one hour“ (Caritas Poland 2007: 100).
Während in dem genannten Lubliner Abschiebelager den Insassen infolge eines Hungerstreiks erlaubt worden ist, sich tagsüber innerhalb der Einrichtung frei zu bewegen, sieht die Praxis in den anderen Lagern eine Einsperrung der männli-
114
Siehe dazu auch das Interview mit einer mongolischen Immigrantin (ĩytnicki 24.12.2007).
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chen Insassen in ihren engen Zimmer vor. Bewegung unter freiem Himmel gibt es für eine festgesetzte Stunde am Tag. Diese Planung menschlicher Bedürfnisse greift bis in die hygienischen Standards aus. Hier wird die Benutzung von Seife, Handtüchern etc. vorgeschrieben, während die sanitären Anlagen in marodem Zustand sind: kaum Belüftung, übler Gestank, Enge, und vor allem mangelnde Privatsphäre, da Männer und Frauen dieselben Anlagen benutzen und Sichtschutz oder ähnliches fehlt (vgl. Caritas Poland 2007: 100-101). Hiervon unterscheiden sich die ‚offenen‘ Auffanglager, die Freizeitmöglichkeiten, psychologische Betreuung, Bildungsangebote und Bewegungsfreiheit kennen (vgl. Kreissl-Dörfler 2008: 18-19). Insofern setzt sich die Geringschätzung des Lebens der Immigranten innerhalb des Lagerhiersystems als Gefälle zwischen diesen beiden Einrichtungstypen fort. Die Folgen eines wie oben dargestellt normierenden Zugriffs auf das alltägliche und sogar biologische Leben der Insassen lassen sich im Anschluss an Giorgio Agamben durchaus als Formen des „nackten Lebens“ charakterisieren, welches auf seine biologischen Möglichkeiten reduziert und so der souveränen politischen Gewalt ausgesetzt ist (vgl. Agamben 2002: 180).115 Es ginge aber zu weit, mit Agamben anzunehmen, dass dieses Leben im Falle der Flüchtlingslagerinsassen „getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf“ (ebd.: 18). Wesentlich differenzierter lassen sich mit Goffman Prozesse der Diskulturation aufgrund der hygienischen und sprachlichen Isolation als Demütigungen mit der Konsequenz eines Identitäts- und Rollenverlusts ausmachen (vgl. Goffman 1972a: 25). Das Selbst der Insassen wird durch die Konfiskation persönlicher Gegenstände und die Eliminierung ihrer Privatsphäre erniedrigt und kann dann durch Bestrafung von Protest- oder Abwehrreaktionen vollständig entwertet werden (vgl. ebd.: 39-45). Sanktionsmechanismen sind deshalb in den Lagerordnungen bewusst offen gelassen.116 Das Innenleben der EU-Flüchtlingslager in Polen deutet auf die für Exklusionsphänomene typische Relevanz von Körpern und biologischem Leben hin. In den Organisationen der Exklusion vermischen sich die Lebensbereiche, sodass funktionale Differenzierung der Gesellschaft in den Hintergrund tritt.
115 Agamben sieht schon in der Figur des Flüchtlings ein „beunruhigendes Element“ (Agamben 2002: 140-141) für den Nationalstaat, das sich der Exklusion als nicht mehr staatsbürgerlich fundiertes Leben anempfiehlt. Hier wird jedoch bewusst nicht an die Kapitel 17 und 18 angeknüpft, die ‚nur‘ die staatsbürgerlichen Rechte im integrativen Zentrum der Gesellschaft verortet haben. 116 Die Aufzählung dieser Konsequenzen einer Internierung ließe sich noch fortsetzen. Gewinnbringender wäre es jedoch, hier mit detaillierteren empirischen Untersuchungen anzusetzen.
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29.3 Die Peripherie zwischen Inklusion und Exklusion Für den Zusammenhang von sozialer Marginalisierung und der Zentrum/Peripherie-Differenz ist relevant, dass sich die Flüchtlingslager als Beispiel dafür interpretieren lassen, wie die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft Exklusion innerhalb ihrer Grenzen durch Organisationen anwendet. Während Inklusion nur subsystemspezifisch gedacht werden kann, ergeben sich innerhalb solcher Organisationen für die Exklusionsseite vielseitige Vermischungen von Lebens- und Funktionsbereichen. Der Ausschluss aus dem politischen System (und von nationalstaatlichen Beteiligungs- und Bürgerrechten) innerhalb der Flüchtlingslager zieht ökonomische, edukative und gar familiäre Exklusion nach sich, da Familien und Geschlechter meist getrennt untergebracht werden. Aber auch was die mediale Aufmerksamkeit angeht, befinden sich die Lager nicht im Zentrum des Systems der Massenmedien: Thematisiert werden sie nahezu ausschließlich von selbst peripheren Akteuren – NGOs und politische Aktivisten. Bilder, Problemberichte und Reportagen sind ebenfalls häufiger im Netz und auf partizipativen Plattformen zu finden. Diese offensichtliche Irrelevanz von Systemgrenzen in der Peripherie hat überdies lebensweltliche Konsequenzen, die Luhmann in seinem abstrakten Paradigma nur mit dem Hinweis auf die ‚Ansammlung von Körpern‘ der Exkludierten andeutet. Es lassen sich jedoch mit der Perspektive auf die Lager als ‚totaler Institutionen‘ einschneidende Diskulturationsprozesse vermuten, Zerstörungen des Selbst und der in der Außenwelt gepflegten Identität. Entsprechend Luhmanns Schlussfolgerungen aus dem Inklusions/Exklusions-Schema kann also festgehalten werden, dass hier, allen funktionalen Imperativen entkoppelt, der geographische Raum und das nackte Leben wieder zu den bestimmenden Größen werden: „Man findet eine in der Selbst- und Fremdwahrnehmung aufs Körperliche reduzierte Existenz, die den nächsten Tag zu erreichen sucht“ (Luhmann 1996f: 227-228). Es handelt sich aber keineswegs um ein völlig exkludiertes Außen der Gesellschaft. Die Flüchtlingslager und andere Organisationen der Exklusion sind Teil der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Anstelle der Dichotomie von Inklusion/Exklusion bietet sich deshalb die Zentrum/Peripherie-Differenz an. Sie trägt dem kontinuierlichen Gefälle Rechnung, das zwischen vollständiger Inklusion und zunehmender Exklusion aus Funktionsbereichen der Gesellschaft besteht. Die in diesem Kapitel dargestellte Hierarchie verschiedener ‚Zentren‘ bzw. Lagertypen innerhalb des polnischen Hoheitsbereiches – von offenen Zentren, bis hin zu geschlossenen Abschiebelagern – bildet dieses Gefälle gleichsam ab – ein Phänomen, welches eine binäre Unterscheidung nicht zu beschreiben vermag. Letztere erlaubt es kaum, soziale Randlagen in ihrer Zugehörigkeit und Funktion für die Gesellschaft theoretisch einzubeziehen.
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Vor dem Hintergrund des ‚Europäischen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts‘ und der Kontrolle illegaler Immigration erfüllen die Flüchtlingslager schließlich eine konstitutive Funktion für die europäische Sicherheitsidentität. Insofern scheint die Persistenz sozialer Randlagen dazu zu dienen, die soziale Wirklichkeit und den Glauben an die Funktionstüchtigkeit gesellschaftlicher Institutionen unter den normal inkludierten Mitgliedern der Gesellschaft abzusichern. Mit anderen Worten: Dadurch, dass sich auf der Exklusionsseite die strikte Differenzierung von Funktionslogiken auflöst, entsteht in Gestalt der zahlreichen Organisationen, die die Unterscheidung Inklusion/Exklusion prozessieren, eine subsystemübergreifende Peripherie. Diese wäre dann auf ein Zentrum bezogen, welches sich funktional zwar auf die einzelnen Subsysteme verteilen mag, lebenspraktisch aber nur den Inkludierten zur Verfügung steht. Denjenigen in der ‚Mitte der Gesellschaft‘. Im Gegensatz zu denjenigen am Rande, im Lager, im Asylheim, im Ghetto, im Slum, in der Anstalt. Dies schien Luhmann angedeutet zu haben, wenn er – wie oben zitiert – von der ‚Supercodierung des Gesellschaftssystems‘ sprach.
30. Systemübergreifende Peripherie und die Ambivalenz des Zentrums
Nachdem wir im vierten Teil des Buches unter dem Gesichtspunkt der Staatsbürgerschaft als normativ integrierendem Zentrum der Gesellschaft auf Marginalisierungs- und Protestphänomene zu sprechen gekommen sind, haben wir uns nun ähnlichen Problemen vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung noch einmal zugewandt. Unter diesen theoretischen Voraussetzungen erscheint die Rede von einem gesellschaftlichen Zentrum zumindest problematisch, wenn nicht gar überholt. Das im Anschluss an Luhmann fruchtbar gemachte Konzept einer polyzentrischen Gesellschaft mit jeweils funktionssystemspezifischen Zentren lässt es nicht mehr zu, von einem gesellschaftlichen Zentrum und einer gesellschaftlichen Peripherie auszugehen. Die letzten Kapitel legen allerdings gleichzeitig die Schlussfolgerung nahe, dass diese polyzentrale Gesellschaft mit der Hartnäckigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Zentrums konfrontiert werden muss. Soziale Bewegungen und ihre Formen des Protests entstehen meist an der Peripherie eines gesellschaftlichen Teilsystems. Die Jugendbewegung kam am Rande des neu ausdifferenzierten Erziehungssystems Ende des 19. Jahrhunderts auf. Mit zunehmendem Erfolg der Bewegung greifen die Kommunikations- und Protestformen jedoch auf andere Teilsysteme und deren Peripherien aus. Die Bewegung wird politisch, initiiert sozialen Wandel und dringt schließlich in die Zentren der Funktionssysteme vor. Ähnlich stellen sich soziale Randlagen im Hinblick auf die Zentrum/Peripherie-Differenz dar. Die Marginalisierung innerhalb eines Funktionssystems drängt Personengruppen an den Rand der Exklusion – oder darüber hinaus. Die EU-Flüchtlingslager, deren polnische Ausprägungen wir in Kapitel 29 analysiert haben, etablieren im Rechtssystem periphere Organisationen, die über die Inklusion bzw. Exklusion von Asylsuchenden und illegalen Immigrant_innen entscheiden sollen. Die Randlage im juristischen Sinne zieht jedoch auch eine Exklusion aus dem politischen System sowie der Wirtschaft nach sich und führt zu allenfalls peripherer Teilhabe an Bildung, Religion, Familie und öffentlicher Aufmerksamkeit. Wir könnten diese Situation gewiss im Anschluss an Teil 4 des Buches als Folge einer Vorenthaltung der Staatsbürgerschaft interpretieren. Damit werden D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9_31, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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jedoch weder die Tragweite noch die Gemeinsamkeiten von sozialen Randlagen und sozialen Bewegungen deutlich, die sich erst vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierung ergeben. Die Jugendbewegung agierte ja durchaus auf dem Boden voller Zugehörigkeit zum deutschen Staat, und die Sprache ihres Protestes nahm auf Zentrum und Peripherie gerade nicht in staatsrechtlichen Termini Bezug. Eher konstruierten sie selbst durch ihr zunehmendes Verbinden von subsystemspezifischen Peripherien eine gesellschaftliche Mitte, von der sie sich zunächst abgrenzten – gegen die Erwachsenen, den Fortschritt, die Technik –, der sie später – von den Nationalsozialisten beeinflusst – aber unter neuen Vorzeichen zustrebten.117 Als Gemeinsamkeit sozialer Randlagen und sozialer Bewegungen lässt sich daher gerade die Vermischung, das Überschreiten und Verwischen von Systemgrenzen an der Peripherie der Funktionssysteme festhalten. Die analysierten Organisationen der Exklusion, ‚neue soziale Bewegungen‘, aber auch clandestine und korrupte Netzwerke kommunizieren über funktionale Differenzierung hinweg und heben die saubere Trennung von Systemlogiken auf. Sie etablieren somit gleichsam eine subsystemübergreifende Peripherie, in der Körperlichkeit, Raum, Ethnie, Nationalität und Biographie wieder (system-)relevant werden. Was Luhmann (1995a: 241-244) für die Exklusion konstatiert, namentlich die hochgradige Integration der Funktionssysteme auf der Exklusionsseite, gilt offenbar auch für die Peripherien der einzelnen Systeme. Da Peripherie immer nur im Unterschied zu bzw. in Verbindung mit einem Zentrum denkbar ist, stellt sich die Frage, wie dieses Zentrum unter den Voraussetzungen funktionaler Differenzierung beschaffen sein kann. Zwei theoretische Optionen bieten sich hier an: Entweder die systemübergreifenden Peripherien korrespondieren mit vielen subsystemspezifischen Zentralorganisationen. Oder aber Phänomene des Protests und der Ausschließung geben durch ihr Agieren bzw. Erleiden in einer systemübergreifenden Peripherie Anlass für die Wirkmächtigkeit und Persistenz der Notion einer gesellschaftlichen ‚Mitte‘. Obwohl man dieses Phänomen zwar mit dem Label der ‚Supercodierung‘ beschreiben könnte, deutet gleichzeitig vieles auf die Ambivalenz und Wirkmächtigkeit eines gesellschaftlichen Zentrums hin: Es wird durch Protest, Alternative, (moralische) Delegitimation und sein Gegenteil – die Peripherie – gleichzeitig untergraben und gefestigt.
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Im heutigen Kontext wäre ein weiteres Beispiel der Weg der Grünen, der als im politischen System periphere Protestbewegung begann, und die einstige Abgrenzung vom ‚Establishment‘ schließlich zugunsten von Parlamentsmandaten und Regierungsbeteiligungen zurücknahm. Nachhaltigkeit, ökologische Verantwortung und Umweltschutz sind denn auch als Themen mittlerweile nicht nur politisch – sondern auch ökonomisch, wissenschaftlich und spirituell – en vogue.
Schluss: Mythos Mitte revisited
Mit diesem Buch haben wir die Mitte und die Zentren der Gesellschaft gesucht und das Großreich, die Stadt, das Normale, die Bürgerrechte und den Glanz des Gesetzes gefunden. Wir haben den Rändern nachgespürt und dabei die Banlieues, die Blogger, die Flüchtlingslager und die Jugend beleuchtet. Dennoch sind ‚Zentrum‘, ‚Mitte‘, ‚Peripherie‘ und ‚Rand‘ die wohl meistgebrauchten Substantive in diesem Buch. Dies sind zwar nicht unbedingt diejenigen Begriffe, mit denen die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Akteure selbst ihre Zentralitäten beschreiben. Auch die Soziologie verwendet vorwiegend andere Begriffe für Differenzierungen nach dem Muster von Zentrum und Peripherie, welches deswegen aber keineswegs selten in unseren Gesellschaften vorkommt. Im Gegenteil: Überall werden Zentren wie Mitten der Gesellschaft oder ihrer Teilbereiche konstruiert. Sie sollen dem modernen Menschen in den einzelnen Lebensbereichen Orientierung bieten – oder nehmen diese Funktion zumindest für sich in Anspruch. Doch sie verstecken und verkleiden sich, sodass sie in einer Vielzahl unterschiedlicher Dimensionen ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Im Entbergen und Erkennen ebendieser Konstruktionen, die an sich als gesellschaftliche Tatsachen wirksam sind, liegt die Herausforderung, der sich dieses Buch gestellt hat. Der leitenden Fragestellung, welche Gestalt dem Mythos einer gesellschaftlichen ‚Mitte‘ anhand unterschiedlicher Ausprägungen der Unterscheidung von Zentrum/Peripherie gegeben wird bzw. gegeben werden kann, lag die Prämisse zugrunde, dass Zentrum/Peripherie ein Deutungsmuster von mythischer Qualität ist. Es ordnet die Welt in eine Erzählung ein, die den Anspruch auf Geltung und Deutungshoheit erhebt, die den Horizont des Menschen absteckt und die Weltwissen in verkürzender Weise bindet. Die verschiedenen Zentrumsvorstellungen sind in diesem Sinne relativ unabhängig von ihrem unmittelbaren Inhalt, bezeichnen aber etwas Wiederkehrendes: eine Konstellation, die sich durch alle Zeiten hindurch und über verschiedene gesellschaftliche Teilbereiche hinweg immer wieder auffinden lässt. Der Mythos Mitte besitzt – so die zentrale These dieses Buches – eine polyvalente, aber zeitlose Wirkmächtigkeit. Die Zentrumsvorstellung fließt unserer monotheistischen Welt im Blut. Die Menschen schaffen sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Zusammenhängen stets D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“
Ordnungsmuster, bei denen das Eine (All-umfassende), der Eine (Gott, Vater), die Eine (Mutter, Gesellschaft) sie leiten. Diese mögen in vielen Fällen irrational sein. Sie bilden aber nichtsdestotrotz ein allgemeingültiges Schema der Ordnung unserer Welt, oder bilden dieses ab. Damit stehen sie auch in Zusammenhängen der Herrschaft. Die antiken Mythen, die mittelalterlichen Weltbilder und die Ideologien der frühen Moderne scheinen in der Gegenwart ihre Bedeutung verloren zu haben. Ebenso scheint es, dass auch die Differenz von Zentrum und Peripherie aus dem Symbolvorrat der Moderne Schritt für Schritt vertrieben worden ist. Beide Diagnosen erweisen sich jedoch als etwas voreilig. Der Schrei nach einem göttlichen Eingreifen in die Welt, wie es noch der antike Mythos propagierte, ist freilich in weiten Teilen der Welt verstummt. Sein zivilisatorischer Kern jedoch, der Ruf nach Erzählungen, die den Menschen den Umgang mit existenziellen Grunderfahrungen ermöglichen, ist präsent wie eh und je. Dies hat etwa Ernst Cassirer (1946) in seinem Werk Vom Mythus des Staates oder auch Hans Blumenberg (1979) mit seiner Arbeit am Mythos dokumentiert. Korrespondierend dazu haben zwar alternative Differenzierungsvorstellungen der Gesellschaft jenseits des Zentrum/Peripherie-Schemas eine enorme Verbreitung gefunden, sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Theoriebildung, als auch in der Alltagspraxis der Menschen selbst. Dies zeigt sich etwa an der Konsensfähigkeit des Konzepts der funktional differenzierten Gesellschaft oder auch an der Entstehung zentrumsloser postmoderner Metropolen, für die Los Angeles beispielhaft steht. Dennoch endet auch dabei nicht die Suche nach dem Zentrum. Sie scheint viel mehr im Schatten der aktuellen Differenzierungsformen neue Blüten zu treiben. Die Zentrum/Peripherie-Unterscheidung ist – so hoffen wir, mit diesem Buch deutlich gemacht zu haben – kein Überbleibsel des europäischen Anthropozentrismus, kein Relikt des 19. Jahrhunderts, kein überkommenes Ordnungsmuster, das man nur noch auf historische Weltkarten oder hierarchisch stratifizierte Gesellschaften projizieren kann. Vielmehr sind wir der Überzeugung, dass es sich bei dieser Leitdifferenz um eine Ordnungsmuster handelt, das auch auf den Landkarten der Gegenwart und in den Geographien der Moderne aufzufinden wie gleichermaßen zu verzeichnen ist. Auch in der globalisierten Welt ist die Zentrum/Peripherie-Unterscheidung eines der distinguiertesten Narrative im Ringen um Übersicht. Dennoch steht sie oftmals im Hintergrund, findet sich erst in der Metastruktur der Dinge. Die Schwierigkeit bei der wissenschaftlichen Erfassung dieser Differenzierung lag und liegt also auch darin, das Denken und Sein von Zentrum und Peripherie in der Vielgestaltigkeit und Mehrdimensionalität der modernen Ordnungsmuster kenntlich zu machen und aufzudecken. Auf einfachster Ebene ist in der Gesellschaft wie in der Wissenschaft von der Gesellschaft zum Beispiel die Rede von Funktionszentren. Schon schwieriger zu erken-
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nen sind die zentralen Rollen innerhalb gesellschaftlicher Teilsysteme, wie zum Beispiel die professionellen Journalist_innen, welche die Mitte des Mediensystems bilden und die peripheren Zuschauer_innen mit Nachrichten versorgen. Am schwierigsten zu erkennen sind schließlich die Wertmuster und Ideale, die eine Gesellschaft als zentral oder normal kennzeichnet, um die einzelnen Menschen zu integrieren. Mit dem vorliegenden Buch haben wir versucht, diese polyvalente Topographie der Zentrum-Peripherie Differenzierung für die Gegenwart zu Erkunden. Das Produkt ist ein ebenso polyvalenter Querschnitt durch die Gesellschaft anhand von sechs Dimensionen, die zugleich zu den Schlüsselbegriffen der Soziologie gezählt werden können: A. Territorium und soziale Differenzierung B. Ideen, Diskurse und Macht C. Individuum und (kollektive) Normalität D. Bürgerrechte und Integration E. Funktionale Differenzierung und System F. Sozialer Wandel und Inklusion/Exklusion Dieser Querschnitt folgt damit ganz bewusst keiner ‚kompositorischen‘ Logik, die aus den einzelnen Elementen ein kohärentes Bild des Ganzen hätte entstehen lassen. Der erste Teil, in dem wir uns der territorialen Dimension angenommen haben, konnte das Ordnungsmuster von Zentrum und Peripherie bereits als zumindest problematisch ausweisen. Denn obwohl Karten seit langer Zeit das Instrument par excellence für die Abbildung territorialer Zentren darstellen, ist durch sie kein Kriterium für die Herausbildung und die Entwicklung ebenjener Zentren gegeben. Friedrich Tenbruck, Shmuel Eisenstadt sowie verschiedene Vertreter der Dependenztheorie – sie alle erschöpfen sich nicht in der bloßen Lokalisierung der Leitdifferenz, sondern weisen auf die vielfältigen Zusammenhänge und Prozesse zwischen den Strukturen hin: Im Falle der in den ersten drei Kapiteln behandelten antiken Hochkulturen sind dies gegenseitige Abhängigkeiten funktionaler, kultischer, bürokratischer und mythischer Natur zwischen der Tempel- oder Königsstadt und dem Reich. Dies unterstreicht den prozessualen Charakter der Strukturen. Zentrum und Peripherie sind nicht in Stein gemeißelt. Es existieren vielmehr je eigene, manchmal eigentümliche, scheinbar gegenläufige Entwicklungen territorialer Zentralisierung und Dezentralisierung. Die polyzentrisch organisierte Welt der griechischen Poleis bot sich uns in Kapitel 4 als historisches Beispiel für das Phänomen dezentraler Organisation bei gleichzeitigem Bedürfnis nach einem intellektuellen, symbolischen Zentrum,
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wie es etwa die Orakelstadt Delphi war. Hier fungierte das Zentrum als Umschlagplatz für Ideen und als potentielles Gegengewicht zur politischen und ökonomischen Macht. Für diesen Aspekt steht heute im Kontext der politisch-ökonomischen Abhängigkeiten innerhalb des globalen Kapitalismus die brasilianische Stadt Porto Alegre, in welcher das Weltsozialforum als Gegenveranstaltung zum jährlichen Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos stattfindet. Porto Alegre ist zum symbolischen Ort für Identitätsstiftung geworden. Wir haben an diesem Beispiel in Kapitel 4 gezeigt, dass die Notwendigkeit räumlicher Verortung als auch die Hierarchie der Räume im Zuge der sukzessiven Beschleunigung des Warenverkehrs, der Kapitalbewegungen und der Kommunikation zwar überblendet, aber deshalb nicht im Geringsten obsolet werden. Die Vielschichtigkeit der Lebensbereiche macht es allerdings schwer, für die Gegenwart von einem Zentrum im Sinne eines Zusammenfalls der Orte der Arbeit, des Wohnens und der Freizeit zu sprechen. Auch die nahezu unbegrenzte horizontale wie vertikale Ausdehnung der heutigen Städte (und insbesondere der sogenannten Global Cities) widerspricht dem Konzept sichtbarer architektonischer Abgrenzung von Zentren. Dennoch behält auch die moderne Stadt ihre Rolle als Zentrum bei; immer häufiger wird versucht, in den Städten ‚neue Mitten‘ zu etablieren.118 Ein entscheidender Punkt deutete sich somit schon in den Kapiteln 5 und 6 an: Obwohl wir die Wirkmächtigkeit des Ordnungsmusters Zentrum/Peripherie in der territorialen Dimension ein Stück weit entkräften konnten, behält das Zentrum an sich, besonders in seiner imaginierten Form, schon aufgrund seiner Konservierung in geschichtlicher, mythischer Darreichungsform eine große Wirkmächtigkeit für die einzelnen Menschen. Dies sollte auch unser Exkurs zu den Transformationen der Gesellschaft Ruandas im Zuge des Kolonialismus verdeutlichen. Für den grausamen Genozid seit Mitte des 20. Jahrhunderts bereitete eine mithilfe des Zentrum/PeripherieModells beschreibbare Veränderung in der Beziehung zwischen den beiden Volksgruppen der Hutu/Tutsi: Die vorkolonialen Herrschaftsstrukturen waren durch die Differenz Adel/Nicht-Adel geprägt, also von einem statusbezogen stratifikatorischen Zentrum-Peripherie-Verhältnis, zu der die ethnische Differenz 118
Vgl. dazu neben dem bereits in Kapitel 6 zitierten Beispiel Oberhausens auch die Umgestaltung der den Stadtkern durchziehenden Neuen Straße in Ulm: „‚Stadtqualität zurückgewinnen‘ stand als Leitbild über den Planungen. Städtebaulich ging es um entscheidende Funktionen für die Zentralität einer Stadt. Neben Wohnen sind dies Handel, Dienstleistungen und Kultur. Ähnlich wie das Stadthaus verlangen auch die Bauten auf der Neuen Straße nach neuen Perspektiven, nach einer Öffnung des Blickes. Die ‚Neue Mitte‘ dokumentiert den Mut der Stadt, neue Wege zu beschreiten, um dadurch ihre Zukunft zu gestalten.“ (URL: http://www.ulm.de/ulm_neue_mitte.21575.3076,.htm [20.4.2010]) Eine Übersicht in bewegten Bildern bietet URL: http://www.youtube.com/watch?v=Vc85Yv_7SCg [20.4.2010].
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der Huti und Tutsi quer verlief. Deren hierarchische und zugleich auf gegenseitiger Abhängigkeit basierende Beziehung wurde dadurch verändert, dass die einst nur aufgrund ihrer Viehzucht privilegierten Tutsi durch eine Hamitentheorie zur überlegenen, zur Herrschaft bestimmten Rasse deklariert wurden. Für die Kolonialmächte gerieten die Tutsi somit zu Mittlern, die die Hutu zu zivilisieren, beherrschen und das Land zu verwalten hatten. Die so zur Realität gewordene ethnische Differenz reproduzierte quasi in der Peripherie die Ausbeutungsverhältnisse zwischen imperialem Zentrum und unterentwickelter Peripherie. Sie ließ deshalb nach dem Ende der Kolonialherrschaft eine Beziehung zwischen Huti und Tutsi zurück, welche sich in der genozidalen Umkehrung der Dominanzverhältnisse und der blutigen Rache durch die lange Zeit unterdrückten Hutu entlud. Gerade hierin zeigt sich, dass die territoriale Differenzierung von Zentrum und Peripherie weiterhin große Bedeutung hat, allerdings durch diskursive bzw. ideell konstruierte Eigenschaften erst ihre immense Wirkmächtigkeit entfaltet. Im Anschluss daran haben wir im zweiten Teil versucht, den Oberbegriff des ideellen Zentrums zu entwickeln. Seine Gegenwart kann auch dort behauptet werden, wo primär die territoriale Ausprägung eines Zentrums gemeint ist. Wir sind in der Analyse davon ausgegangen, dass die Gesellschaft zu einem gewissen Zeitpunkt Abstand von territorial gebundenen Zentren nahm und stattdessen fortan auf ideelle Zentren verwies. Zuvor herrschende, ‚natürliche’ Ordnungsvorstellungen waren erschüttert worden und hatten ihre allgemeine Gültigkeit verloren. Den neuralgischen Zeitpunkt setzen wir um die Jahrhundertwende 1800 an, als klassische, höfisch-ständische Herrschaftssysteme nachhaltig aus den Fugen gerieten, weil sie sich nicht mehr bloß auf den göttlichen Schöpfungswillen berufen konnten. Den gesellschaftlichen Strukturwandel dieser Zeit bilden Rationalisierung, Industrialisierung, Alphabetisierung und Bevölkerungswachstum ab; ein Prozess, den Niklas Luhmann mit der Evolution von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft begrifflich fasst. Bei Foucault, der die gesellschaftliche Entwicklung in enger Verquickung mit der Entwicklung ihrer Sprache sieht, ist es analog dazu der Bruch unvereinbarer Episteme. Koselleck (1989a) wiederum spricht von der „Sattelzeit“, dem Übergang westeuropäischer Gesellschaften zum Denken in modernen Begriffen. In der Literatur, der Prosa wie der Lyrik, findet sich hierfür reichhaltiges Anschauungsmaterial. Anhand literarischer Werke haben wir die strukturgebende Funktion der Zentrum-Peripherie-Differenzierung aufzuzeigen versucht. So dienten die Kleist-Interpretationen und Bonaventuras Nachtwachen dazu, den Ordnungs- und Sinnverlust der Gesellschaft zu diagnostizieren. Im Anschluss daran haben wir Franz Kafka und seine literarische Verarbeitung wie Sichtbarmachung der Zentrum-Peripherie-Struktur für die Überlegungen des zweiten
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Buchteils fruchtbar gemacht. Die Parabel Vor dem Gesetz lässt sich als Chiffre für das ideelle Zentrum überhaupt verstehen, in der die Kategorien von Zentrum und Peripherie sowie die mit ihr assoziierten Räume, Figuren und Konstellationen in einem Wechselverhältnis stehen und dadurch erst belebt werden. Der Wunsch des Protagonisten in der Parabel, ins Zentrum zu gelangen, erfüllt sich nicht. Er behält bis zum Schluss seine Position in der unendlichen Leere der Randständigkeit, immer in der Hoffnung harrend, in das Zentrum eintreten zu können, respektive dem Gesetz näher zu kommen. Dieses ist gleichermaßen anwesend wie abwesend, es ist universell und hat allgemeinen Charakter während es gleichzeitig partikular ist und Individuationseffekte zeitigt. Die theoretische Nähe zu Foucaults Begriff und Vorstellung von Macht ist hier offensichtlich, weshalb wir dessen Machtbegriff in Kapitel 10 als verbindendes Element zwischen Zentrum und Peripherie verstanden haben, gleichsam als Analogon zur Funktion der Landmasse in der Beschreibung territorialer Differenzierungen. Das Paradox von ‚Anforderung und Möglichkeit’ ist im Subjekt selbst verankert. Es liegt nicht fern, anzunehmen, dass spezifische Wirkungen von Macht vermittels Disziplinierung und Prägung der Körper ideelle Zentren erst ermöglichen. Macht haben wir im Anschluss an Foucault (2007: 250) nicht bewertet, sondern als produktiv verstanden: Das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktionen. In drei großen Analysedimensionen ideeller Zentren (Diskursbegriff, Interaktion und materielle Verfasstheit) sind wir zu dem Ergebnis gelangt, dass ideelle Zentren trotz ihrer Abwesenheit und Unbegreiflichkeit eine signifikante Wirkmächtigkeit besitzen. Die Peripherisierung wiederum zeigt sich dabei als Prozess im und am Individuum selbst. Das ideelle Zentrum behält stets seine Wirkmächtigkeit – sei es nun vor dem Gesetz oder als Insasse/Insassin in Foucaults Panoptikum. Dieser gleichermaßen sich entziehende wie disziplinierende Glanz ideeller Zentren gewinnt in den modernen Gesellschaften vielfältig konkrete Gestalt – wenn auch nicht in erster Linie territorial bzw. materiell, so doch am Körper und in der Subjektivität des Individuums. Im dritten Teil des Buches fragten wir uns im Anschluss daran, ob das Individuum im Zuge der Erosion traditionaler Strukturen immer mehr an die Ränder der Gesellschaft gedrängt wird, wenn die kollektiven Überzeugungen und ihre Bindungskraft ins Wanken geraten. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft beschäftigt die Soziologie seit jeher. Die Schwierigkeiten und die Ambivalenz, die Leitdifferenz Zentrum/ Peripherie auf die moderne Gesellschaft zu übertragen, haben wir mithilfe der Überlegungen Emile Durkheims und Georg Simmels gezeigt, um dann abschließend mit einem empirischen Beispiel aus unserer Zeit zwei Konsequenzen dieser Entwicklung zu skizzieren: Zum einen die bereits im zweiten Teil angesprochene Disziplinierung und zum anderen die Atomisierung der Individuen.
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Schon Durkheim sah sich vor ein theoretisches Dilemma gestellt: Der gesellschaftliche Zusammenhalt basiert auf dem Kollektivbewusstsein, das in Zeiten sich funktional ausdifferenzierender Gesellschaften zu schwinden droht. Nur über die Anerkennung von Individualität als Grundlage des Kollektivbewusstseins lässt sich modernen Gesellschaften ein kollektiv geteiltes Zentrum überhaupt zugestehen. Unglücklicherweise bildet dieser Kult des Individuums aber kein echtes soziales Band, weil das Objekt eben nur individuell an das Ganze rückgebunden ist. Individualisierung wird damit auch zur Ursache aufkommender sozialer Probleme, die Durkheim in der Vergötterung des Kollektivs zu lösen suchte. Religion, nicht etwa als Institution oder Sinnprovinz, sondern als moralischer Zwang sei dabei unerlässlich, um den Einzelnen an das Ganze zurückzubinden. Auch Simmel attestierte dem Individualisierungsprozess eine grundsätzliche Ambivalenz. Die Keimzelle der Zivilisation sah er darin, dass das Einzelwesen nach Einheit und Zugehörigkeit strebt. Gestört wird dieser ungebrochene Drang durch die zivilisatorische Entfremdung, den Prozess der Arbeitsteilung und die umgreifende funktionale Ausdifferenzierung. Das Individuum – am besten repräsentiert durch den modernen Großstadtmenschen – ist gezwungen, immer schneller immer Spezielleres zu produzieren, was es sich in einem nächsten Schritt nicht mehr aneignen kann. Simmel beschreibt diesen Prozess als Auseinanderdriften subjektiver und objektiver Kultur und konstatiert dabei die Versachlichung der Beziehungen insgesamt. Eine Form der Rückbindung des Individuums an die Gesellschaft mittels Disziplinierung, Normalisierung sowie Normierung haben wir in Kapitel 16 anhand des empirischen Beispiels quantifizierbarer Körper gezeigt. Den historischen Vorläufer für den heutigen Body-Mass-Index haben wir im frühen 19. Jahrhundert gefunden: Adolphe Quetelet erschuf über eine statistische Untersuchung von Körpermaßen den homme moyen, den Durchschnittsmenschen, der als Idealtypus des Menschen verstanden werden konnte. Hintergrund der Konstruktion einer Normalverteilung sämtlicher Körpermaße war, dass Individuum durch mittlere Orientierungsgrößen zu entlasten. In gewisser Weise repräsentiert der Durchschnittsmensch ebenjene Doppelgesichtigkeit, die Simmel dem Individualisierungsprozess mit der Atomisierung und gleichzeitigen Standardisierung attestiert. Das schöne Individuum ist nicht dasjenige, welches seine Persönlichkeit frei entwickelt, sondern einfach das Durchschnittliche. Das Zentrum definiert sich dabei als Durchschnitt, das zur eigenen Selbsterhaltung randständige Gesellschaftsmitglieder, die sich weit vom Durchschnitt (so eben z.B. vom BMI) entfernt haben, stigmatisiert. Von ihnen kann die Orientierung am ‚Normalen’ eingefordert werden.
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Die damit verbundene Disziplinierung haben wir in Anlehnung an Luhmann zunächst als all das verstanden, was den Handlungsspielraum des Einzelnen einschränkt und dadurch Kontingenz reduziert (Luhmann 1997b). So wird das obere und das untere Ende der Körpergewichts-Skala, etwa in dem AOK-Programm Abnehmen mit Genuss, mit eindeutigen Normalisierungsempfehlungen versehen – vor dem Hintergrund, die Kosten der Krankenkasse zu senken. Dabei reguliert sich die Normalisierung durch Kontrolltechniken, die dazu auffordern, immer mehr Zeit und Geld in die Optimierung des eigenen Körpers, genauer in die Produktion des eigenen Idealgewichts zu investieren. Doch wir konnten auch gegenläufige Entwicklungen feststellen: So lässt sich in Bezug auf die DoveXXL-Models und Anti-Diät-Bewegungen von Flexibilisierung sprechen. Das Ideal vom nicht zu dünnen und nicht zu dicken Körper wurde in den letzten Jahren überhaupt immer wieder aufgebrochen, wodurch der Bereich der Normalität sich, so unsere These, ständig erweitert hat. Dieser flexible Normalismus wiederum hat in das, was als Zentrum der Gesellschaft, als Durchschnitt gelten kann, einen größeren Kreis von Menschen eingeschlossen. Im Zuge dieses Prozesses wurde allerdings auch der Ausschluss und die Peripherisierung weiterhin Randständiger auf gewisse Weise verschärft. Wer nicht einmal jetzt bereit oder in der Lage ist, sich im Rahmen des Normalen zu bewegen, der/die muss wirklich nicht normal, anders, asozial sein. Die ernüchternde Antwort auf das gesellschaftlich bindende Potential solcher Zentralisierung von Wertvorstellungen durch Normalisierung bleibt, dass der Durchschnitt auch unter der Annahme seiner Flexibilisierung vornehmlich der Kontrolle und der Stabilisierung des gesellschaftlichen Zentrums dient und keinesfalls der Emanzipation des Individuums. Eine ähnliche Dialektik von individueller bzw. gruppenspezifischer Emanzipation und disziplinierender Integration lag dem vierten Teil des Buches zugrunde, in dem wir eine Übertragung des Zentrum-Peripherie-Modells auf die nationalstaatliche Ebene versucht haben. Im Rückgriff auf Parsons’ Konzept gesellschaftlicher Gemeinschaft ließen sich die Staatsbürgerschaft und die individuellen Bürgerrechte als Gravitationspunkt und Zentrum der Gesellschaft darstellen. Im Anschluss an den dritten Buchteil, welcher das Individuum selbst als das neue ideelle Zentrum moderner Gesellschaften dargestellt hat, erfragten wir in einem nächsten Schritt, wie sich die individuellen Freiheiten und Interessen institutionell absichern lassen. Das Modell von Parsons’ gab uns die notwendige Antwort darauf: Werte und Normen lassen sich als die strukturellen Elemente interpretieren, die das Zentrum der Gesellschaft bilden und sich im Prozess sozialen Handelns fortlaufend manifestieren. Das Deutungs- und Wertesystem wird von Parsons als symbolisches Zentrum verstanden, das im nahezu Durkheim’schen Sinne als heilig gelten kann (vgl. Durkheim 1981[1912]). Es handelt
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sich bei diesem zentralen Komplex jedoch um ein spezifisches, herausgehobenes Konglomerat aus Werten und Normen, denn in modernen Gesellschaften stehen sich konkurrierende Loyalitäten gegenüber: Um gesamtgesellschaftliche Integration herzustellen, bedarf es der Organisation in einem Kollektiv, das für Parsons durch den Nationalstaat repräsentiert wird. Hinter dem Konzept der Staatsbürgerschaft, bei dem Parsons auf Marshall zurückgreift, und der damit verbundenen bürgerlichen, politischen und sozialen Rechte steht die Idee der Chancengleichheit als universalistischer Mechanismus sozialer Integration. Dass die Staatsbürgerschaft ein wirkmächtiges symbolisches Zentrum darstellt, zeigte schließlich auch unsere empirische Betrachtung der Unruhen (Émeutes) in den französischen Banlieues aus dem Jahre 2005, die den theoretischen Ansatz der Kapitel 17 und 18 ergänzte. Die Bewohner_innen der Banlieues mit Migrationshintergrund werden trotz ihrer rechtlichen Anerkennung als französische Staatsbürger durch mangelnde Teilhabe an sozialen Netzwerken und starker Benachteiligungen im Bildungssystem an den Rand der französischen Gesellschaft gedrängt. Als Ziel ihres Aufbegehrens zeigte sich in unserer Analyse der Kampf um die soziale Teilhabe – mit anderen Worten: Der Weg ins Zentrum der gesellschaftlichen Gemeinschaft. Die Situation der Banlieues ist insofern besonders, als die Jugendlichen in gewisser Weise bereits am Zentrum teilhaben – sie teilen neben der Staatsangehörigkeit auch die Interessen ihrer Altersgruppe, auch derjenigen, die zur Dominanzkultur gehören. Sie vertreten Ziele und Fähigkeiten der gesamtfranzösischen Gesellschaft. Dennoch erleben sie sich in vielfacher Hinsicht als marginalisierte. Der Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie ist schließlich in das Innenleben der Jugendlichen verlagert, wo durch das Changieren zwischen formaler Anerkennung und faktischer Ausgrenzung ein enormer Handlungsdruck bei den Jugendlichen erzeugt wird. Dieser entlud sich in den gewaltsamen Émeutes als Konflikt ums Zentrum, wie wir in Kapitel 20 hervorgehoben haben. Aber eben jenes Changieren als Folge der teils flexiblen Ausgrenzung der Jugendlichen in den Banlieues ist Ausdruck einer zumindest ideellen Aufweichung festgefügter und einheitlicher Vorstellungen der Leitdifferenz von Zentrum/Peripherie, wie sie innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft kaum plausibel erscheinen. Im fünften Teil des Buches sind wir deshalb davon ausgegangen, dass es, wird die Position funktionaler Differenzierung im Sinne Luhmanns eingenommen, kaum noch Sinn ergibt, überhaupt von einem gesamtgesellschaftlichen Zentrum zu sprechen. Angemessener erscheint es dann, den Blick auf eine Vielzahl von funktionsspezifischen Zentren und Peripherien zu richten. Diese Situation bezeichneten wir mit dem Begriff der ‚polyzentrischen Gesellschaft‘. So sind es im Rechtssystem die Gerichte, die die wichtigsten Funktionen mono-
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polisieren, im Bereich der Politik übernimmt der Staat diesen Part, und im Bereich der Wirtschaft kommt den Banken diese Rolle zu. Sie alle folgen primär ihrer eigenen Logik – es gibt keinen übergreifenden bzw. integrierenden Ordnungsrahmen. Doch gerade die interne Differenzierung nach Zentrum und Peripherie ermöglicht es sozialen Systemen, ihre strukturellen Grenzen zu reproduzieren und flexibel auf unterschiedliche Umwelteinflüsse reagieren zu können. Die Peripherie umfasst dabei jene systemrelevanten Kommunikationen, die sich ohne Entscheidungszwang am Code des jeweiligen Funktionssystems orientieren. So können Probleme aus der gesellschaftlichen Umwelt aufgenommen und auf das Operationsschema des Systems hin verdichtet werden – durch Konsensbeschaffung, Diskussion, Protest und alternative Formulierungen. Im Zentrum der Funktionssysteme muss dagegen über die Verteilung der systemeigenen Medien entschieden werden. Gerichte müssen (auf Anfrage hin) Recht sprechen, der Staat bzw. die Verwaltung muss kollektiv bindende Entscheidungen treffen, Wissenschaftler müssen sich dem Diktum der Wahrheit unterwerfen, etc... In den Zentren der Funktionssysteme setzen sich dazu – im Unterschied zur relativ unstrukturierten Peripherie – Organisation und Professionalisierung als dominierende Strukturprinzipien durch. Sie sollen die effiziente und von der Komplexität der Umwelt durch die Kontaktzone der Peripherie abgeschirmte Abwicklung der Systemoperationen gewährleisten. Die funktionale Differenzierung in Zentrum und Peripherie innerhalb sozialer Systeme trägt durch die Erhöhung der Eigenkomplexität des Systems erhöhten Komplexitätsanforderungen vonseiten der Umwelt Rechnung. Das Modell bietet sich an, um die allgemeinen Strukturen funktionaler Differenzierung – bis hin zur Binnendifferenzierung der Subsysteme – zu beschreiben. Jener Blick auf allgemeine Strukturen in unterschiedlichen Funktionssystemen im Zuge systemtheoretischer Überlegungen führte auch dazu, dass wir in den Kapiteln 27 und 28 die Systemtheorie mit der Untersuchung des sozialen Wandels anreichern konnten, der sich aus der Kopplung verschiedener Funktionssysteme, aber auch durch den Einfluss verschiedener peripherer Phänomene ergibt. Zunächst jedoch versuchten wir, die Zentrum/Peripherie-Differenzierung auf zwei Funktionssysteme konkret anzuwenden: auf die Massenmedien und die Politik. Das Zentrum des Systems der Massenmedien zeichnet sich durch Kriterien der Profession sowie die konstitutive Trennung zwischen Produzent_innen und Publikum aus. Unser Beispiel bildete der Online-Journalismus, der sich in einen professionellen und einen partizipativen Bereich gliedern lässt und damit exakt die charakteristischen Eigenschaften an den Tag legt, die es erlauben, von einer funktionalen Differenzierung in Zentrum und Peripherie zu sprechen. In der Peripherie und der sich dort ereignenden Berichterstattung spalten sich Gegenöffentlichkeiten als Teilöffentlichkeiten von der hegemonialen Gesellschaft ab.
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In häufig subjektiv gefärbten Beiträgen werden anhand entsprechender Relevanzkriterien ausgewählte Themen angesprochen, die im unkoordinierten Chaos der so genannten Blogosphäre Publizität genießen. Demgegenüber entscheidet beim professionellen Online-Journalismus die Zugehörigkeit zur Profession über die Möglichkeit zur Kontrolle der Nachrichtenagenda, erlaubt jedoch nur ein geringes Abweichungspotenzial von Meinungen und Interessen des MainstreamPublikums. Wie es für die zentralen Organisationen einzelner Funktionssysteme charakteristisch ist, besitzen professionelle Formate dennoch die größte Reichweite. In besonderer Weise trifft dies für das politische System der Gesellschaft zu. In Kapitel 24 haben wir im Anschluss an Luhmanns politische Soziologie und Demokratietheorie nachgezeichnet, wie sich die Vorstellung des Staates als gesamtgesellschaftlichem Zentrum etablieren konnte und warum sie in der funktional differenzierten Gesellschaft nur noch bedingt tragfähig ist. Wir stellten heraus, dass sich die Staatsorganisation selbst nur unter einem enormen rhetorischen Aufwand als Mitte der Gesellschaft beschreiben. Die mythische Qualität von Politik wirkt als Vorstellung und in der Gestalt des Wohlfahrtsstaates fort. In funktionaler Hinsicht hat der Staat diese gesamtgesellschaftliche Reichweite aber schon längst verloren. Er bildet nunmehr die zentrale Organisation innerhalb des politischen Systems und übernimmt für die Gesamtgesellschaft nur noch die Rolle eines Adressaten für Forderungen und Ansprüche – kein funktionales Primat. Die Zulieferdienste, welche die Peripherie durch legitimierende Konsensbildung, Themenselektion und die Austragung des politischen Wettbewerbs erbringt, haben wir auch als Ort konkurrierender Beobachtungen ausgemacht. Im Kontext der Dezentralität des Zentrums, welche für uns die polyzentrischen modernen Gesellschaften charakterisiert, erscheinen diese peripheren Kommunikationen stets als konkurrierende ‚Beobachtungen zweiter Ordnung’. Dies nahmen wir gewissermaßen zum Ausgangspunkt, um uns im letzten und sechsten Teil des Buches der Peripherie des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Marginalisierung zuzuwenden, was vor dem theoretischen Hintergrund funktionaler Differenzierung, der systemtheoretischen Perzeption sozialer Bewegungen wie auch der Inklusions-/Exklusions-Problematik geschah. Beide Phänomene spielen sich am Rand einzelner Funktionssysteme ab, kennzeichnen sich jedoch durch die eigentümliche Dynamik einer Überwindung bzw. Verschmelzung unterschiedlicher Funktionslogiken. Am Beispiel der historischen Jugendbewegung konnten wir verdeutlichen, wie sich eine soziale Bewegung aus der Peripherie des Erziehungssystems allmählich auch auf die Peripherie anderer Funktionssysteme ausgreift, und dadurch sozialen Wandel initiiert. Dass schließlich Rudolf Heß in einer Rede aus-
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sprach, „Der Führer ist immer der jüngste!“ (zitiert nach Schmidt-Sasse 1985: 128), stellten wir als Endpunkt einer Bewegung des Themas ‚Jugend‘ von der subsystemübergreifenden Peripherie ins Zentrum der gleichgeschalteten Gesellschaft des dritten Reiches dar. Die Bewegungsrichtung aus der Peripherie ins Zentrum bzw. in die Zentren der polyzentrischen Gesellschaft bleibt den Insass_innen der EU-Flüchtlingslager verwehrt. Am Beispiel der Flüchtlingslager auf polnischem Territorium haben wir aufgezeigt, wie die moderne Gesellschaft Exklusion innerhalb ihrer Grenzen durch periphere Organisationen anwendet. Für die Exklusion ergeben sich dabei im Gegensatz zur Inklusion, die nur subsystemspezifisch gedacht werden kann, vielseitige und durch die Betroffenen häufig kaum kontrollierbare Verbindungen von Funktionslogiken: Der Ausschluss etwa von der Beteiligung am politischen System, durch nationalstaatliche Beteiligungs- und Bürgerrechte, zieht im Falle der rechtlich zwar inkludierten Flüchtlinge und Asylsuchenden zu eingeschränkten oder gar gänzlich verwehrten Teilhabechancen am wirtschaftlichen, religiösen und familiären Leben sowie am Bildungssystem. Schärfster Ausdruck dieser Exklusionsdynamik ist die Verwischung der Grenzen zwischen einzelnen Lebensbereichen, wenn die Lagerinsass_innen ihrer Privatsphäre und kulturellen Identität beraubt sind und ihr Alltag bis ins kleinste Detail der körperlichen Bedürfnisse reglementiert wird. Wir haben versucht zu zeigen, dass sich solche Flüchtlingslager und andere Organisationen der Exklusion aber nicht dem Außen der Gesellschaft zuweisen lassen, sondern als Teile der Gesellschaft verstanden werden müssen. Gerade das Ordnungsmuster von Zentrum und Peripherie bot sich auf besondere Weise dazu an, dem Gefälle von Inklusion und Exklusion Rechnung zu tragen, weil es soziale Randlagen in ihrer Zugehörigkeit und Funktion für die Gesellschaft zumindest theoretisch einbezieht, auch wenn sich an der sozialen Tatsache der Randständigkeit faktisch nichts ändert. Aber gerade deshalb weist diese faktische Peripherie eine – für die funktional differenzierte Gesellschaft häufig übersehene – subsystemübergreifende Qualität auf, die folglich dazu dient, dass sich die Vorstellung und Wirklichkeit einer Mitte der Gesellschaft auf dieser Grundlage reproduziert und stabilisiert. Gesellschaftliche Randlagen und Protestbewegungen haben ihren sozialen Ort und ihre unumstößliche, soziale Wirklichkeit. Auch die partielle Teilhabe an gesellschaftlichen Subsystemen (etwa dem Recht), wie auch das empirische Beispiel der Unruhen in den Banlieues bewies, rückt die Marginalisierten noch nicht zwingend näher an das immaterielle und/oder materielle Zentrum heran. Trotz dieser Verfestigung von Zentralität konfrontiert die Peripherie den Mythos einer sozialen Mitte jedoch beständig mit seinen Schattenseiten und Alternativen.
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Die besondere Pointe unserer Erkundung des ‚Mythos Mitte‘ liegt somit in einer Wendung des Blickes hin zu den Marginalisierten, zu den Außenseiter_innen der Gesellschaft – seien es die bloß Dicken, die Blogger_innen, die Bewohner_innen der Vorstadt oder die Opfer von Genoziden. Im Zuge der wissenschaftlichen Suche nach dem Zentrum geraten auch diejenigen in den Blick, die vom Zentrum systematisch getrennt sind. Die Peripherie und der Rand erwiesen sich als der eigentliche Fokus unserer Arbeit. Auf dieser Basis – so hoffen wir – lässt sich wiederum die Frage stellen, ob die gesellschaftlichen Randlagen ein (un-)überwindbares Problem darstellen. Ist die Inklusion der Exkludierten in die durch Zentren strukturierten gesellschaftlichen Teilbereiche denkbar oder sind die Exklusionen im Gegenteil nicht viel mehr selbst bloß ein Produkt der stetigen Unterscheidung in Zentrum und Peripherie und damit bloß Resultate eines Denkens, dass sich vom Mythos Mitte nicht lösen kann? In dieser Konsequenz hätte sich das Ordnungsmuster Zentrum/Peripherie selbst als problematisch erwiesen.
Anhang 1 Franz Kafka: Vor dem Gesetzi
Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. „Es ist möglich“, sagt der Türhüter, „jetzt aber nicht.“ Da das Tor zum Gesetz offen steht wie immer und der Türhüter beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehen. Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich mehr ertragen.“ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles, und sei es noch so wertvoll, um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt dabei: „Ich nehme es nur an, damit du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.“ Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen. Er vergisst die anderen Türhüter und dieser erste erscheint ihm das einzige Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen Zufall, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Er wird kindisch, und, da er in dem jahrelangen Studium des Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die Flöhe, ihm zu i
Quelle: Kafka 2002a: 211-212.
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein Augenlicht schwach und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange. Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit zu einer Frage, die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn der Größenunterschied hat sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. „Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz“, sagt der Mann, „wieso kommt es dann, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
Anhang 2 Online-Recherche auf www.abnehmen-mit-genuss.de
Die Ergebnisse einer Onlinerecherche auf der Website des AOK Programms „Abnehmen mit Genuss“ vom 09.09.2009. Die folgende Tabelle zeigt die Empfehlungen zur Teilnahme am Programm der AOK, die die je nach BMI gegeben werden. Die Empfehlungen werden automatisch gegeben, wenn man den BMIRechner auf der Startseite des Programms benutzt. Bei diesem gibt man sein Körpergewicht und seine Körpergröße an. Die Daten beziehen sich auf eine Person mit 1,75m Körpergröße.
Körpergewicht in kg
BMI bei Körpergröße 1,75m
Text der AOK-Website
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17,96
Sie sind bereits untergewichtig. Von einem weiteren Gewichtsverlust raten wir Ihnen dringend ab! Überdenken Sie noch einmal Ihre Vorstellungen von einer „idealen Figur“, sprechen Sie darüber mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Sie können sich auch bei der Ernährungsberatung Ihrer AOK Rat holen. Gesund essen ist sehr wichtig für Sie – aber abnehmen dürfen Sie auf keinen Fall, im Gegenteil: Ein paar Pfund mehr könnten nicht schaden. Deshalb können Sie bei „Abnehmen mit Genuss“ leider nicht teilnehmen!
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Um Ihr Gewicht würden Sie viele beneiden! Für Ihre Gesundheit ist es ideal, daher sollten Sie es beibehalten. Eine Gewichtsabnahme empfehlen wir Ihnen nicht: Sie würden sehr schnell in den Bereich des Untergewichts kommen, was schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben kann. Bei „Abnehmen
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Anhang 2
mit Genuss“ können Sie daher nicht mitmachen. Bleiben Sie einfach, wie Sie sind! 75
24,49
Aus gesundheitlicher Sicht brauchen Sie nicht abzunehmen. Wenn Sie dennoch gern ein paar Pfunde verlieren würden, sind Sie bei „Abnehmen mit Genuss“ richtig. Übertreiben sollten Sie es nicht – setzen Sie sich ein realistisches Ziel! Satt essen, Fettfallen vermeiden und mehr Bewegung: Damit werden Sie sich garantiert noch wohler fühlen. Melden Sie sich an – Sie sind herzlich willkommen.
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Ihrer Gesundheit täten einige Pfund weniger auf jeden Fall gut. „Abnehmen mit Genuss“ ist hier genau das Richtige für Sie. Keine Hungergefühle und trotzdem abnehmen: Meiden Sie Fettfallen und bringen Sie Bewegung in Ihren Alltag. Sie werden sich garantiert viel wohler fühlen. Melden Sie sich an – am besten jetzt gleich!
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Sie wissen es sicher selbst – Sie sollten abnehmen, Ihrer Gesundheit und Ihrem Wohlbefinden zuliebe. „Abnehmen mit Genuss“ kann Ihnen dabei helfen. Etwas Geduld und Durchhaltevermögen werden Sie brauchen – aber wir lassen Sie nicht allein: Sie werden während der ganzen Zeit von unserem Expertenteam begleitet und betreut. Fangen Sie heute noch an – es lohnt sich!
Quelle: AOK. URL: http://www.abnehmen-mit-genuss.de/content/startseite [10.09.2009]
Zu den Autoren
Die Arbeitsgruppe „Zentrum und Peripherie in soziologischen Differenzierungstheorien“ war Teil des 2. Geisteswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung des deutschen Volkes unter dem Rahmenthema „Von den Rändern her denken – Die Peripherie und das Periphere“. Seit November 2007 traf sich die Gruppe regelmäßig unter der Leitung von Alois Hahn (Professor für Soziologie, Universität Trier) und Hans-Georg Soeffner (Professor für Kultursoziologie, Universität Konstanz). Zum aus der Gruppenarbeit hervorgegangenen Autorenkollektiv gehören (in alphabetischer Reihenfolge): Lukas Becht studiert Wissenschaftliche Politik, Philosophie und Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Andreas Bischof studiert Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig, Johannes Geng studiert Publizistik und Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Anne Härtel studiert Soziologie, Wissenschaftliche Politik, Philosophie und Mathematik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Justus Heck studiert Soziologie an der Universität Bielefeld, Alexander Hirschfeld promoviert im Fach Soziologie an der Universität Bamberg, Uta Lehmann promoviert am Institut für Geographie an der Universität Osnabrück, Sebastian Neubauer studiert Politikwissenschaft an der Freien Universität zu Berlin, Svenja Reinke studiert Volkskunde/ Kulturanthropologie, Politikwissenschaft und Osteuropa-Studien an der Universität Hamburg, D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zu den Autoren
Christine Schmid studiert Europäische Ethnologie und Geographie an der Humboldt-Universität Berlin, Mario Schulze studiert Kulturwissenschaften, Soziologie und Philosophie an der Universität Leipzig, Hanna Steffen hat Kulturwissenschaften und Germanistik an der Universität Leipzig studiert, Christine Unrau promoviert am Institut für Politische Wissenschaft der Universität zu Köln.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Babylonische Weltkarte ..................................................................... S. 30 Abb. 2: Weltkarte des Wohlstands .................................................................. S. 42 Abb. 3: Global Cities....................................................................................... S. 49 Abb. 4: Abnehmen mit Genuss .................................................................... S. 125
D. Koch (Hrsg.), Mythos Mitte, DOI 10.1007/978-3-531-93003-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Literaturverzeichnis
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