NORMAN OHLER
ROMAN ROWOHLT · BERLIN
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NORMAN OHLER
ROMAN ROWOHLT · BERLIN
1. Auflage September 2001 Copyright © 2001 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann Satz Minion PostScript, QuarkXPress 4.0 Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 87134 427 3 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
«Der Schrecken macht bei der Dämmerung aus einem Wegweiser ein Riesengespenst.» Immanuel Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes
(für Ingo, R. I. P.)
9. NOVEMBER Das Ende, das zu vermeiden ist
Jetzt laufen die kostbaren Stunden, in denen sich die Durchschnittsmonster in ihren Schwarzweißalbträumen wälzen. Jetzt ist die Stadt unter Sonderbeleuchtung. Ihre Narben, die Einschusslöcher am Hackeschen Markt: künstlich bestrahlt. Ein scharf ausgeschnittenes Rechteck begleißt die Wand seines Zimmers: Licht von der Straße. Hier gibt es Bauarbeiter, die bis zum Morgengrauen nicht schlafen. Die ganze Nacht schon schweißen sie an den Straßenbahnschienen vor dem Fenster, sitzen in quadratischen Metallkästen, die Augen hinter Kastenbrillen. Gesichter angestrahlt vom Stroboskop der Schweißgeräte. Grelles Weiß bricht von ihnen weg, befleckt den Straßenzug, die Fassaden der Häuser, die Wände in den Häusern. Licht so hoch wie Kräne. Zwei Männer sind es, kniend, schweißend, in absoluter Ruhe. Funken stieben gleichmäßig von ihnen weg, und immer wenn eine der spärlichen Nachtstraßenbahnen um die Ecke kommt, packen sie den Metallrahmen mit beiden Händen, ziehen ihn zu sich hoch wie einen steifen Rock, gehen zwei Schritte zur Seite. Warten, bis die Bahn vorüber ist, 9
steigen zurück auf die Gleise. Lassen den Kasten nach unten, kauern sich erneut in dessen Mitte und schießen wieder ihr Weiß. Aus Lautsprechern, unsichtbar und weit entfernt, sickert Musik durch Mauern und Wände, verfängt sich in seinem Gehörgang, berührt das Trommelfell, und von dort werden die Wellen in den Mittelohrraum geleitet, durchströmen den Dom der Paukenhöhle mit ihrem Hammer, dem Amboss und Steigbügel und finden den Weg hinüber zur Ohrentrompete, die eine Verbindung zur Mundhöhle schafft. Er öffnet leicht die Lippen. Er weiß, woher diese Musik kommt, die jetzt in seine Schnecke kriecht, das Treppenhaus tiefer hinein, sich im Innenohr schon befindet, tief drin, im Kern des Gebäudes, wo die Basilarmembran die Hörsinnzellen stimuliert – Doch die Musik lenkt ihn kaum, lenkt ihn viel zu wenig ab, immer wieder verschwindet sie ganz, dann bricht Stille aus. Und in dieser Stille, schräg hinter ihm, kniet Igor und setzt an, das sieht Klinger, wenn er die Pupillen in die Augenwinkel drückt. Jetzt spürt er den Beginn des Einstichs – dieses Haar von Schmerz –, schon schlüpft die 12er Nadel in eine Hautpore seines rechten Oberschenkels hinein. Blut rinnt, warm, folgt der Rundung, geht ins Laken. Klinger flüchtet, klettert nach vorne, leichenblass, und seine hellbraunen Haare fallen wirr, er robbt – ein wenig tiefer noch in die Höhle hinein, in der er liegt, in Igors Raum, im Annex, versteckt in der Mitte des Gebäudes. Heute früh, sobald die Sonne aufgeht, rückt das Baukommando an, um das Haus zu entkernen. Um etwas ganz Neues daraus zu machen. Igor sagt: Stell dich nicht so an. Bleib ruhig 10
liegen. Ich versuch’s jetzt nochmal. Wenn sie gleich kommen, dann sollen sie uns nicht kriegen. Dann schweben wir bereits, beide. Du und ich. Dann schauen wir von oben auf das Haus. Auf das Haus mitten in der Stadt, die von allen Seiten näher rückt. Sehen es ein letztes Mal, in alter Brüchigkeit, auf seiner Asphaltinsel stehen – inmitten des Tramverkehrs, von Hochspannungsleitungen gefesselt. Wir werden ja nicht wirklich sterben, sagt Igor. Aber bevor sie unseren Körpern den Raum nehmen, hauen wir ab. Werden wir zu purem Geist. Eine kleine Zeitungsnotiz – Klinger flüstert, und der Lufthauch seiner Worte lässt winzige Schweißperlen erblühen: Eine kleine Zeitungsnotiz – mehr wird ihnen das nicht wert sein, verstehst du das nicht? Wir haben unseren Plan noch lange nicht umgesetzt. Dieser Tod gehört zu unserem Plan, antwortet Igor. Du musst erst sterben, um auf frische Gedanken zu kommen. Wer wären all die Leute, widerspricht Klinger, wenn niemand ihre Geschichte aufgeschrieben hätte? Wer wäre Jesus, ohne die Bibel? Wieder spürt er den kleinen Pikser der Nadel. Doch dieses Mal gibt Igor ihm keine Chance, sondern drückt die Spritze hinein, die Flüssigkeit, die gerade noch steril verpackt in der Ampulle – jetzt – Warte!, ruft Klinger, sein Bewusstsein bereits entschwindend wie ein Hund, dessen Leine gekappt wurde: Noch kann ich mich an alles – erinnern – Morgenröte übersickert den Horizont. Frühnebel ziehen auf. Du hast selbst gesagt, flüstert Klinger und merkt, wie seine Fähigkeit zu sprechen ihn verlässt: Mach mich unsterblich. Mach mich zum Helden. Erzähle meine Geschichte. Aber dafür muss ich überleben – 11
Blödsinn, antwortet Igor: Dein Gedächtnis und deine Kommunikation, sie können nur besser werden durch diesen Schritt. Deinen Körper brauchst du nicht mehr. Er hindert dich nur, Materie verdrängt, sie ist plump: ein schlechter Datenträger – du müsstest das am allerbesten wissen. Klinger versteht nicht mehr, was Igor gerade gesagt hat. Aber er weiß: Ohne Sophia Charlotte wäre das alles nicht passiert. Sophia aus der Sophienstraße. Ohne Igors Wahn, nur über sie das Leben wieder zu spüren. Nur über sie: Erlösung zu finden. Igor? Klinger schaut sich um. Er sieht ihn nicht –
DIE NACHT NACH DER NACHT IST AUCH EINE SONNE
Erster Teil «Unsere Seele vermag ihre Bahn um die eigene Mitte zu ziehn; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten, sie hat genug anzugreifen und zu verteidigen, genug sich zu geben und von sich zu empfangen.» Michel de Montaigne, Über die Einsamkeit
4. OKTOBER Tag
Die Straßenbahn fuhr in Richtung Zentrum, ruckte um Ecken und glitt über Plätze, beschleunigte summend auf Geraden, bremste sirrend ab, wenn Haltestellen nahten, klingelte und stockte, während die schwache Innenbeleuchtung flackerte, immer wieder aussprang, und dann war kaum etwas zu sehen, die nachmittägliche Stunde von dichten Nebeln verschluckt, und Klinger nickte weg, wachte auf, blinzelte, und die Lichter wurden fahler, er schreckte hoch, niemand war sonst in der Bahn, doch – Schemen am anderen Ende, ein Summen – Das Rattern der Abflugtafeln am Flughafen heute Morgen, die andauernd sich ändernden Lettern – Dann das milchige Schaufenster eines Ladens vorhin, ein hell ausgeleuchteter Raum, Mitwohnagentur Schleicher. Klinger sah sich hineingehen, die Erinnerung wie ein Traum – Sterilbüro, weißes Krankenhauslicht, Chromstühle mit straff gespannten Ledersitzflächen. Ein wuchtiger Schreibtisch aus unterarmdickem Glas, dahinter ein nervöser Herr im Rentenalter, der säuselnd sächselte, was er zu verbergen suchte. Der Raum wie ausgestorben, die Luft kaum zu atmen, heizungsvertrocknet. Der Mann überreichte ihm eine Mappe 15
mit den Angeboten, schlecht aufgemacht in Klarsichthüllen, nix Powerpoint, kein Laptop oder Beamer, ganz still war es – Einraum, 2 ZKB, OH, Außenklo, Gas, U-Bahn-Nähe, möbliert, nicht möbliert, Raucher, Nichtraucher, Kaution, keine Kaution – und alles in Prenzlauer Berg. «Nix im Zentrum?» Der Inhaber der Mitwohnagentur schüttelte müde den Kopf, und in Gedanken stand Klinger bereits auf, nur seine rechte Hand ergriff, aus rein taktilem Interesse, noch einmal die Angebotsmappe, um jetzt, das Plastik einer Klarsichthülle spürend, ganz nach hinten zu blättern – da lehnte sich Schleicher weit aus seinem Stuhl heraus, streckte sich über den Schreibtisch hinweg, langte nach der Mappe: «Dahinten stehen nur noch die größeren Objekte. Die sind was für mehrere Person’!» Mitte. 160 qm. Altbau. Evtl. vorhandene Gegenstände dürfen nicht entfernt werden. 640.– kalt.
«Die gann ich Ihnen leida nicht empfehlen! Das ist ne Karteileiche. Das Haus wird in den nächsten Wochen entkernt und in Eigentumswohnungn verwandelt. Das ist unmöglich für Sie!» «Ich würd’s mir gern mal anschauen», sagte Klinger leise. «Ich gann Ihnen wirklich nur davon abraten!» Schleichers Atem rasselte. «Da gibt es keinerlei Rückzugsrechte für Sie! Sobald die Entkernungsmannschaft kommt, ist’s vorbei für Sie. Und das gann von heute auf morgen passiern, das weiß man nie in solchen Fälln.» «Das passt mir alles ganz gut. Viel Platz ist mir am wichtigsten. Und schön zentral.» 16
«Das Haus ist verfallen! Schäbig. Das Allerletzte! Und es gibt keinen Delefonanschluss. Und bis zur Entkernung wird es auch keinen mehr geben!» «Perfekt!» «Wennse nicht anders wollen.» Schleicher seufzte. «Dann gebense mir halt Ihre Papiere. Dann stellen wir jetzt einen Antrag.» Der Agentur-Betreiber legte Klingers Reisepass auf den Farbkopierer, der neben dem Schreibtisch stand, und drückte den Auslöser. Erst war nur ein Scharren zu hören, eine Schiene wurde entlanggefahren, dann der Blitz, vor dem die beiden Männer ihre Augen schützten, indem sie die Köpfe zur schmalen Längswand drehten, wo eine alte Karte der Stadt hing, noch mit Mauer. Langsam schälte sich die Kopie aus dem Apparat, und Schleicher verglich sie penibel mit dem fahlen, beinahe schwarzweißen Gesicht von Klinger, schaute immer wieder zwischen beiden hin und her. Dann fragte er nach Klingers Arbeitsverhältnis, doch dieser antwortete nicht. Schleicher hakte nach: «Das müssen Sie mir schon mitdeilen: Was machen Sie denn so den lieben langen Tag?» «Urlaub.» Klinger schaute aus dem Fenster. «Im Herbst in Berlin?» Schleicher blickte ihn verständnislos an und machte sich eine Notiz. «ENDHALTESTELLE. BITTE ALLE AUSSTEIGEN. Dieser Zug endet hier.» Klinger verstand nicht, sank wieder ab, sein Körper gestaucht im roten Plastikschalensitz. «Endhaltestelle. Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier.» Mit einem Seufzer kam die Tram zum Stehen. Eine Tür teilte sich in der Mitte wie ein Frack, den sein Träger auf17
reißt, um sich zu zeigen, und es sog Klinger nach draußen, in nasskalte, schmutzige Luft, in der Cafés und Geschäfte verschwommen von der anderen Straßenseite blinkten, während glimmende Zigaretten durch die Gegend schwebten, roten Bauchnabeln gleich – Klinger blinzelte. Zog den Ausdruck mit der Adresse aus der Tasche und blickte sich um. Vereinzelt zeigte sich jetzt die Sonne – dort, wo den Nebeln die Kraft ausging, wo ihr Gewebe franste und klare, spätnachmittägliche Strahlen hindurchließ. Schilder tauchten auf. Wieder blickte er auf den Zettel, schaute hoch. Da sah er es, jenseits der Schienen: aus dem Dunst nun erscheinend in all seiner Abgewracktheit und wie alleine in der Welt dastehend, von Straßenbahnschienen umgürtet: das Haus. Seine blinden, ungeputzten Scheiben glimmten im Licht und betrachteten die Straße. Klinger, einen silbernen Metallkoffer in der linken Hand, überschritt die Schienen und lief durch eine letzte Nebelwand hindurch auf eine große hölzerne Eingangstür zu und in einen Vorraum hinein, wo Briefkästen hingen, verwaist und mit offenen Türen teilweise, überquellend manche, kein einziger intakt. Süßlich-modriger Geruch sickerte aus einem Treppenhaus, dessen offener Mund auf der rechten Seite des Vorraums klaffte. Im ersten Stock drückte Klinger den Klingelknopf eines stumpfen Messingtürschildes, auf das Zoo-ologische Genossenschaft der Hauptstadt der DDR geprägt stand – der DDR war notdürftig und scheinbar unzählige Male mit schon ranzig gewordenem Leukoplast überklebt. Eine ältliche Frau öffnete und schaute ihn ausdruckslos an. Sie trug ein rauchgraues Sekretärinnenkostüm, und die bleiche, erstarrte Schminke ließ ihr Gesicht wie die Totenmaske eines aussterbenden Eingeborenenstammes wirken. 18
«Joa??» «Ich will mir die Wohnung im zweiten Stock anschauen. Ich soll mich bei Ihnen melden.» «Da zieht niemand mehr ein. Wir sind die Letzten hier, und bald ist der Ofen aus.» Sie schloss die Tür. Er klingelte erneut. Nach einer Weile ging die Tür wieder auf. Vor ihm stand die Sekretärin und schüttelte noch immer verärgert den Kopf. In der linken Hand jedoch hielt sie einen großen, rostigen Schlüssel und stieg an ihm vorbei die Treppen hoch in den zweiten Stock, wo sie eine hohe, ehemals elegante, nun mit Spanplatten ausgebesserte, von alter rostbrauner Farbe nur halbherzig befreite Holztür aufschloss und ihm mitteilte, sie warte unten auf ihn. Neben der Tür war ein verblichenes Schild angebracht: 1. April 1888. Ich bin umgezogen und zwar in ein Zimmer im dritten Stock in der Grossen Präsidentenstr. Nr. 10 (Auszug aus dem Deutschlandtagebuch von Mori Ogai)
Ein dumpfer Hitzeschwall dampfte Klinger entgegen, als er den lila gestrichenen Flur betrat. Es war dunkel. Stoffe hingen vor den vielen Fenstern. Er ging nur ein Stück weit in die Wohnung hinein, dann blieb er stehen, so still war es. Als er die Sekretärin später fragte, ob es nur diesen einen vorsintflutlichen Schlüssel gebe, um die Eingangstür zu sichern, antwortete sie müde, alles Wichtige sei sowieso schon gestohlen, er könne da ganz beruhigt sein. Als er sie auf die drohende Entkernung ansprach, winkte sie nur ab. Das war das letzte Mal, dass er sie vor ihrem Unfall sah – das letzte Mal mit ihrer Maske intakt.
5. OKTOBER Abend
Ein Wummern weckte ihn aus dem Schlaf. Ein Wummern wie der laute Herzschlag eines Menschen, der neben ihm liegt, doch da lag niemand. Ein sanftes Rucken. Nicht an seinem Bett – am gesamten Haus. Ein Dröhnen der Wände, jeder Balken vibrierte, jede Diele, jeder Stein einer jeden Mauer. Eine Straßenbahn fuhr vorbei. Was Klinger für einen Moment lang wie der Aufgang der Sonne vorgekommen war, entpuppte sich nun als deren Untergang. Der Himmel war von keiner einzigen Wolke bevölkert, keinem noch so kleinen Fetzen Grau, und so zeigte sich ihm ein perfekter, golden ausgemalter Kreis, der eine dunkelblaue Ebene durchbrach, sich deren Rand näherte, der von Silhouetten durchzackt war wie von Burgzinnen, obwohl es Wohnhäuser waren, mit stummligen Schornsteinen, fünfstöckig und alt, verraucht und verklebt. Es formierte sich die Nacht. Prostituierte fächerten an den Straßenecken auf, eine Armada, die für den Kampf im Halbdunkel in Stellung ging, und wie zwei glühende Augen funkelte das Abendrot in den Fenstern auf der anderen Seite. Klinger stand auf, lief durch den hinteren, abgewinkelten 20
Gang ins niedrige Badezimmer, in dem aufrechtes Stehen nicht möglich war. Er seifte sich ein, schaute dabei auf den nur vage reflektierenden Arzneimittelkasten, der anstelle eines Spiegels über dem mehrfach gesprungenen Waschbecken hing. Die grünen Augen leicht rötlich vom vielen Monitorschauen. Haare strähnig und ein wenig zu lang – Das Gesicht ausgewaschen, beinahe farblos, wie etwas, das häufiger mit scharfen Reinigungsmitteln in Kontakt gekommen ist. Er rasierte sich, beinahe blind. Gab Aftershave in die linke Handfläche, schlug sich auf die Wangen, zu fest. Dann nahm er das Etui, das auf dem rechten Waschbeckenrand lag, und holte eine Sonnenbrille mit eckigen, cognacfarben getönten Gläsern heraus. Eine Empfehlung seines Arztes aus London, um den Verlust seines Jobs besser zu verdauen, den Kollaps der Internet-Firma, für die er als ContentDirector tätig gewesen war – worin all seine Hoffnungen auf Glamour, auf Reichtum und Erlösung gesteckt hatten. Your content is no longer needed.
Er setzte die Brille auf und schaute nach draußen. Pissgoldener Himmel. Angedeutet hatte sich der Untergang ja schon einige Zeit vorher. Als er diesen Aussetzer gehabt, als dieser Übergriff auf einen Kunden stattgefunden hatte, im Konferenzraum, vor dessen Fenstern schwer die Themse graute: Auf diesen spätpubertären CEO eines besonders dämlichen Start-ups, der ihn zur Weißglut gebracht hatte, über Wochen hinweg, durch seine blutleere Arroganz aufgrund massiv investierten Risikokapitals, was in Kombination mit völliger Abwesenheit von Selbstironie und zu stark ausgeprägtem kon21
ventionellem Verhalten unter dem Deckmantel der New Economy irgendeinen Kippschalter in Klinger umgelegt, irgendein trojanisches Pferd in ihm zum Durchgehen gebracht hatte, und Punkt dreizehn Uhr Greenwich Time, während eines großen Tumultes im Konferenzraum, war er endlich auf seinen Kontrahenten, auf seinen B2B-Partner, losgestürzt, um ihm mit aller Entschlossenheit dessen transparente DesignerMouse in den Hintern zu schieben, ihm dabei «Click now, Asshole!» ins Ohr zu raunen, woraufhin selbst der Firmenwachdienst zunächst mit Erstaunen reagiert hatte, bevor er aktiv wurde, um Klinger von seinem Opfer, das hilflose Klagelaute von sich stieß, zu trennen. Zunächst hatte er ja noch gedacht, zu einer Art Netzheld aufsteigen zu können, dank des neuen Stils, den er eingeführt hatte, wo doch in der IT-Branche immer davon gesprochen wurde, an vorderster Front zu agieren, in einem digitalen wilden Westen sozusagen. Doch es war anders gekommen, natürlich. Großes Unbehagen in der Szene, ausgelöst durch diese Unmittelbarkeit seiner Aussage, dieses Durchbruchs an archaischem, analogem Verhalten. Eine Rüge per E-Mail, die seine Firma erteilte, gegen ihn, den großen Content-Mann um nicht ins Gerede zu kommen, um keine Kunden zu verlieren, doch war es da ohnehin längst zu spät. Viel zu häufig war es zu fehlerhaften Übertragungen gekommen, trotz horrender Gebühren, und am Ende hatten sich alle nur noch hindurchlaviert und Manipulationen angestellt, die ihnen möglichst hohe Zahlen transferierten, um möglichst lange alle Unsicherheiten und Ängste unter der Oberfläche und sanft begraben zu halten. Er ließ heißes Wasser in die Wanne. Biologisches Leben – ein Programm, das perfekt laufen könnte, doch immer wieder ab22
stürzte und Leid verursachte, welches weitervererbt wurde. Doch weshalb? War ein fehlerfreies Betriebssystem nicht denkbar? Gab es da einen Fehler, irgendwo in den Fasern des Daseins versteckt, der die Übertragungsraten verlangsamte und das Leben schwerfälliger machte als nötig? Eine ganz bestimmte Angst vielleicht? Klinger zog sich aus, schaute an sich herab. Self-Hack. Das Einzige, was noch übrig geblieben ist, auf dem blauen Planeten der Melancholie. Glitt ins Wasser. Er hatte sich erst gar nicht mehr umgesehen, nach einem neuen Job in der Branche. Sich von niemandem verabschiedet. Sie würden ihn ohnehin vergessen, seine ganzen friends. Eine Woche ohne Mail, und er war gestorben, nicht mehr existent, denn in einer Woche, was würde da nicht alles geschehen – wie viele Tera-Byte an Nullen und Einsen über die Festplatten rollen. Hatte in großer Eile die wahnwitzig überteuerte Wohnung mit Tate-Modern-Blick aufgelöst, auf seinen Bauch vertrauend, trotz Schleimhautreizung vom vielen Kaffee und den schlechten Delivery-Services südlich des Flusses. Ein Ticket gebucht, Economy, ins alte Heimatland. Jetzt lag er von Schaum bedeckt und gab Spannungen ab. Was für eine Wohltat: alleine sein. Ein Mensch ohne Telefon und Mail, in einer neuen Stadt. Das war doch etwas anderes als diese überwache Netz- und Affärenexistenz, dieses mittelviele Geld und andauernde Bereitsein für irgendwelche Anfragen und Infopakete, hochmotiviert und ständig erreichbar, ein Spielball auf den Wellen des unbehinderten Datenverkehrs, der andauernden Mitteilungen, dass neue Nachrichten eingetroffen waren. Bullshit. Wahnsinn. 23
Er tauchte unter. Warm umflutete Wasser seine Ohren. Niemanden treffen! Sich dem Diktat des Netzes vollkommen entziehen, seiner ins Pathologische gehenden, alles halb verdauenden Funktion. Denn er wusste mittlerweile, dass es fatal sein konnte, in diese schrecklich bunte Welt sich fallen zu lassen. Da konnte man ganz leicht von sich selbst fortgerissen werden und von einer Sekunde auf die andere in einer Art Schlauchboot sitzen, in einem plötzlich angetretenen Superbetriebsausflug, in dem man die Stromschnellen überhüpfte und dabei jauchzen musste und sich im falschen Bewusstsein wiegte, dazuzugehören, unglaublichen Spaß zu haben und Erfüllung zu finden, weiterfuhr, den Fluss hinunter, einem sicheren Abtörn entgegen, einem kläglichen Finale dieser Abenteuerferien, die teuer waren, letzten Endes. Selbstausbeutung bis zur Selbstaufgabe? Nevermore. Verzwirbelte Ideen, die man zu einer neuen Revolution aufbläst? Ich bitte dich. Von jeder Mühe enthoben: durch Verlust aller Hoffnungen – der großen Onlinewelt.
5. OKTOBER Nacht
Er schaute aus dem Fenster des Flurs über Innenhof und Stadt und erspähte zwischen Fernsehturm und Hinterhaus das Fragment einer Kranwerbung im Himmel: -BAUSo lief er durch die nächtliche Wohnung und taufte sie «Bau». Ein gigantisches Areal, aus dem er sich Ecken und Aufenthaltsorte heraussuchen würde, die er sauber und bewohnbar hielt. Große Holzflügeltüren mit schweren metallischen Klinken, an Landsitze irgendwo im Osten erinnernd, von den verschiedensten Parteien bewohnt, wieder verlassen, irgendwo dahinten, in seinem Rücken. Immens hohe Räume im vorderen Teil der Wohnung – zwei Löcher in der Decke: wie Einschläge von gewaltigen Fäusten. Der Boden: rau. Abgestoßenes, lückenhaftes Parkett, Baustellensand in den Ritzen, kaputte Wandleisten, hinter denen Geröll hervorquoll. Tintenflecke an den gekalkten, rauchfarbenen Wänden. Gerüche nach Vernachlässigung und Staub. Geräusche wie das Rattern schwerer Züge über brüchige Gleise. Trams: brechen von hier aus in die Gettos der Ostbezirke auf. Das Wegkarren von Menschen jeden Abend: direkt 25
zu beobachten von allen Fenstern. Er sah: Lüster an den Decken, brennende siebenarmige Leuchter auf fein gebauten Holzschränken und in Glasvitrinen – schon waren sie verschwunden, und er blickte, ohne den Schutz der Brille, die noch auf dem Badewannenrand lag, in einen gleißenden Blitz hinein, den eine Hochspannungsleitung spie – Klinger lehnte den Hinterkopf an einen Abschnitt der Wand, auf dem vage Finger- und Handballenabdrücke vorheriger Bewohner verblassten, und lauschte in die Stille hinein, wenn gerade keine Tram fuhr. Wenn es für ein, zwei Minuten ruhig wurde und das Haus ganz eingekapselt wirkte – so still war es dann, als habe die Zeit aufgehört, in Sekunden zu zerrinnen. Doch in dieser Stille nahm er plötzlich eine Art Flüstern wahr – vielstimmig und kaum zu unterscheiden von der Stille selbst, diesem Muster an sanft ineinander liegenden Wellenbergen und -tälern, das in seinen Ohren nun auseinander fiel und aufsplittert. Er merkte, wie die Wand hinter ihm transpirierte, Giftstoffe schwitzte: Content – Schreie – gedämpft wie aus einem alten Film, der im Nebenzimmer läuft. Eine Leierkastenmelodie, ganz leise, ganz weit entfernt. Polnisches Gemurmel hinter einer Wand, dann wieder ein Schrei: eine Frau – Eine aufgeregte Männerstimme in einer fremden, melodiösen Sprache: kehlig und wie von zerkratztem Schellack gespielt – ein Lied im Walzertakt, Parlez-moi d’amour – dam da dam da –, dann wurde alles von einer Straßenbahn geschluckt, und er verharrte regungslos und wartete. Vielleicht gelang es diesen Stimmen nicht, nach draußen zu entfliehen – wegen des Rings aus Hochspannungsleitungen, die mit schwarzen, gepufferten Gummiisolierungen an der Fassade befestigt wa26
ren. Vielleicht krochen diese vergangenen Geräusche, Geistern der Klangwelt gleich, über Wände und durch Atome hindurch, aber immer, wenn sie zum Rand des Gebäudes kamen, um sich der Stadt oder dem Himmel zu übergeben, standen sie einer elektromagnetischen Mauer gegenüber, den Tausenden kochenden Volt, fürchteten Elektrokution und mäanderten zurück, wurden zu gefangenen, spukhaften Konglomeraten, die nur er, der Mieter, der Träger zweier Ohren, zweier Dome, in denen geklagt werden konnte, zu hören bekam. Wieder suchte er die Taschen nach Zigaretten ab. Das ärgerte ihn, da er viel zu viel rauchte, seit er in Berlin war. Hier, wo er ruhig werden wollte – deswegen nervte ihn der beinahe unbewusst ablaufende, kaum kontrollierbare Algorithmus des Durchsuchens der Taschen. Sein unterer Rücken tat weh. Verfluchter Backbone. Er beugte den Kopf. Da war ein fingernder Schmerz hinter der linken Schläfe, und er spürte jetzt, wie er einen Satz, den das Hirn begonnen, von dem es das erste Wort, ein Ich, bereits produziert hatte, nicht zu Ende führen konnte – das Ich ging nirgendwohin, stand für einen Moment lang still – und zerstob. Er hielt sich an der Wand. Da ließ seine Sehkraft plötzlich nach, als würde ein Bildschirm langsam abgedimmt, und darin versank die gesamte Welt um ihn herum, die Wohnung und seine eigene Spiegelung in der Scheibe – sank wie ein lecker Tanker in einem schwärzer, immer zäher werdenden Meer, und schon war der Punkt erreicht, wo Klinger diesen Untergang, der ihn zunächst noch überraschte, ihm dann aber einen unfassbaren Schrecken einjagte, nur noch registrieren, nicht aber mehr aufhalten oder auch nur verstehen konnte – er sah noch ein Funkeln auf der Schwärze des Wassers, auf dem Oberflächenfilm – 27
Ihr Content wird nicht mehr gebraucht – Glitzernde Sterne, die zu Pixel verdorrten – Absturz –, das konnte er gerade noch denken, und so stand er in reinster, völlig leer gewischter Gegenwart im vorderen linken Zimmer seiner frisch bezogenen Wohnung und hatte keinerlei Ahnung, was er jetzt tun sollte, hatte keinen Empfang mehr, keine Empfindung – er war jetzt offline, dieses Wort fiel ihm ein: offline, offline – Ihre Verbindung wird getrennt – Hilflos. Nicht wie ein Kind, nicht wie ein alter Mann. Nicht wie ein Mensch. Biomasse. Fertig für den Recyclingkreislauf. du musst erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen. Er blinzelte. du kannst dich als gefickt betrachten. Er drehte sich um. Alles war still.
6. OKTOBER Nacht
Aus Lautsprechern, die weit entfernt und ziemlich groß sein mussten, drang Musik durch Mauern und Wände, verfing sich im lila gestrichenen Gang, schon hallten Klingers Schritte nach unten, um der Quelle, die ihn nicht in Ruhe ließ, näher zu kommen. Im Treppenhaus verdickte der Rhythmus zu einem Pochen, das aus der Erde zu kommen schien. Licht unter dem Türspalt der Zoo-ologischen Genossenschaft im ersten Stock. Eine gatterartige Tür eine halbe Treppe tiefer, in deren Rahmen ein verfleckter, nachtblauer Kapuzenpullover steckte. Klinger versuchte, ihn herauszuziehen, doch es gelang ihm nicht, und so winkte ein Ärmel ihm kraftlos hinterher. Im Vorraum zwischen Treppenhaus und Hof untersuchte er die Reihe ruinöser Briefkästen, um herauszufinden, welcher davon zum Bau gehörte, als ein Mann um die Ecke bog: Dreitagesstoppeln auf der Glatze, die abbröckelnde Außenwand eines Gesichts, schwarze Lederhosen, darüber ein Muskelshirt, obwohl nur knapp über null – «Briefkästn klaun, wa?! Lass bloß deine Finger davon! Von andere Leute Briefkästen bleibt man genauso weg wie von andere Leute Fraun!» 29
«Andere Leute Frauen? Sind Sie hier der Hausmeister oder so was?» Klinger hob verärgert den Kopf. «Bonz! Nenn mich einfach nur Bonz!» Der Typ schnaubte. «Und schau dich genau um: Überall, wo Bonz drauf steht, gehört mir –» Er wies auf die Namensschilder und Beschriftungen, die nur zum Teil noch zu erkennen waren, in den verschiedensten Größen und Fonts: Café Nadine / Inh: Bonz Stil- und Abbruchunternehmen BONZ privat - B.O.N.Z.
«Irgendwie kommst du mir bekannt vor.» Bonz deutete auf den Eingang ins Treppenhaus: «Kommst du von oben?» «Zweiter Stock.» «Nachbarn.» Er streckte Klinger eine stark behaarte, doch feingliedrige Hand hin. «Kein Feind. Mir gehört das Café hier im Anbau, gleich um die Ecke. He – ich weiß schon, was du jetzt sagen willst, aber das kriegen wir hin, das mit der Musik. Du kannst nicht schlafen, ich seh’s dir doch an. Ich denk drüber nach, ich versprech’s. Ich lass mir was einfallen, kein Problem. Wenn du irgendwie Stress hast, komm direkt zu mir. Ach ja, dein Kasten, das müsste der hier sein.» Er öffnete eine graue Metalltür, auf die mit schwarzem Filzstift ein großes «I» geschrieben stand. «Dein Vormieter», sagte Bonz, «Igor. Netter Typ. Aber hat sich aus dem Staub gemacht. Komm, ich geb dir einen aus.» Über dem Eingang des Café Nadine hing ein bunt lackierter Holzpinocchio hinter Glas, dessen lange Leuchtröhrennase in scheinbar unregelmäßigen Abständen rötlich blinkte. Zwei Türen: eine vergittert, die andere offen und in eine archetypische, rauchverhangene Trinkerkneipe führend, wo Taxifahrer und englische Bauarbeiter am Tresen keimten, hinter dem 30
eine brünette Schülerin im knallengen T-Shirt die tropfenden, schäumenden Hähne bediente, über ihr der gehäkelte Spruch an der Wand: Früher Arier, dann Proletarier, jetzt nur noch Prol. Neonwerbung im Fenster für Stroh’s und Schlitz – amerikanische Billigbiersorten. Die Barhocker: abgesägte, mit roten Sitzkissen gepolsterte Lenkraketen aus längst vergessenen Beständen der Roten Armee. «Das schlechteste Bier und die schlechtesten Raketen der Welt.» Bonz verschwand hinter der Gittertür, die links in einen weiteren Raum führte, der in Dunkelheit lag, nur von den Blitzen eines Stroboskops zerteilt, wodurch Menschen für Momente auf einer Tanzfläche sichtbar, dann verschluckt, dann wieder sichtbar wurden: abgehackt anmutende Posen, die noch seltsamer wirkten, als Klinger, noch bevor er hineingegangen war, erkannte, dass an der hinteren Wand dieses zweiten Raumes eine Reihe von Wäschetrocknern stand, nagelneu und mit grün leuchtenden Bereitschaftslämpchen, während auf der gegenüberliegenden Seite ein oranges Steuerungspaneel für Geldeinwurf und Trocknerauswahl montiert war, was aber selten genutzt wurde, wie Bonz ihm später erklärte, da ihm nach Ankauf der Trockner die Kohle für die Waschmaschinen ausgegangen sei, für die bereits die Sockel gegossen waren, da lagen jetzt Holzplanken drüber, das war jetzt die Tanzfläche, und nun stand ein DJ mit dem Rücken zum Steuerungspaneel, zog Regler und drehte Knöpfe, bediente gleichsam das Stroboskop «HEY!» Eine Hand kitzelte Klinger am Bauchnabel, eine sich überschlagende, gegen die Musik ankämpfende Stimme: «HALLO! Schon mal was von Eintritt gehört? Fünf Mark kost der Spaß –» Eine Frau, zierlich, nichts als Mimik und Gestik: die Türhüterin. WAR GEGEN DRUGS stand auf dem Klettlogo ihres T-Shirts über der linken Brust. 31
«Muss ich hier zahlen?» Klinger beugte sich zu ihr herunter, und sie wich einen Deut zurück. «Ich wohne hier.» «WO – wohnst du?» Ihre Stimme geschmolzenes Metall, das plötzlich erstarrt – die Augen Feuerwerkssterne, kurz vorm Verglühen. «Im Vorderhaus. Im zweiten Stock.» «Da – wohnst du?» Schatten überflogen ihr Gesicht, dunkle Vögel. Plötzlich oszillierten Tränen im Scharlach ihrer Augen, und alles Blut wich aus ihrem Gesicht. «Wieso –?» «Das geht dich nichts an. Was glaubst du wohl, wer du bist, hier einfach herzukommen und da einzuziehen?! Tut mir Leid, Eintritt ist nur für Mitglieder –» «Aber Bonz hat mich eingeladen!» «Bonz? Das hat Bonz gemacht? Dann geh rein. Nein, nein, du brauchst keinen Eintritt zu zahlen. Willkommen im Café Nadine.» Irritiert schaute Klinger sie an, betrat dann den zitternden Raum. Sofort kam Bonz auf ihn zu und leitete ihn in eine Nische, wo er ihm eine durchsichtige, rosa getönte, dildoartige Flasche reichte, in der eine Flüssigkeit milchig schimmerte. «Hab ich in meiner schöpferischen Phase entwickelt, zwischen zwei und fünf Uhr morgens.» Er keuchte: «Tee mit Kick, zwei Sorten. Um dem Bier was entgegenzusetzen – das Revolutionärste, was man in Deutschland so machen kann, findest du nicht?! Wenn die Testphase gut läuft, geh ich in Massenproduktion. Speziell gefertigte Flaschen, soll’s nur in Drogerien geben – und im Nadine. Na, was meinste wohl, wie man die aufkriegt?» «Keine Ahnung.» Klinger suchte nach einem Verschluss, aber die Flasche schien aus einem Stück hergestellt. «Abbeißen vielleicht?» 32
Mit großen, überraschten Augen schaute Bonz ihn an. «Fast getroffen! Nee, nicht abbeißen – iss zu schwierig, von wegen Genehmigungsverfahren und welches Material für die Flaschen usw. Nicht, dass sich ‘n zärtliches Jungmodel aus Weißrussland ihr Zahnfleisch bei uns schneidet. Abgebrochn werden die. Das ist Hartplastik, mit ‘ner dünnen Stelle hier am Hals. Bricht glatt weg, ohne Krümel» – klack–, «kannste direkt aus der Flasche trinken. Sag schon – was denkste?» «Und was ist drin?» «TRINKEN – nicht fragen!» Das Gesicht von Bonz spannte in alle Richtungen, Risse traten auf. Dann sprudelte er: «Der Rote ist eine Sie: Rosa Luxemburg – wie der Platz. Wodka, Apfelsaft, Früchtetee. Knallt. Trinkt sich gradeso weg. Der Braune heißt Freischütz – nicht der perfekte Name, ich weiß, aber kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich da rumüberlegt hab, um nicht zu viel rechte Scheiße reinzukriegen, wegen der Farbe. Ist mit Zucker, Kokoswasser, Roibusch-Tee, Rum. Haut rein. Aber jetzt komm mit, ich will dir was zeigen.» Bonz lief vorneweg, und sie verschwanden in einem kleinen, weiß getünchten Privatraum, dessen Eingang direkt neben dem orangen Hightech-Paneel lag, und schlossen die Tür. Das Wummern war hier angenehm gedämpft, gerade so, als befänden sie sich in einem Mutterleib. An der Längsseite standen drei weitere nagelneue Trockner, daneben ein unglaublich großer, unfassbar hässlicher grauer Panzerschrank. Bonz zeigte darauf und fragte: «Was glaubst du wohl, mit was du es hier zu tun hast?» Liebevoll klopfte er mit dem Knöchel gegen das handtellergroße Zahlenschloss. «Hier in diesem Anbau war früher die Sportförderung der Deutschen Demokratischen Republik beheimatet. In diesem Flachbau hier wurde das Gold geschmiedet. Hier gingen sie der alten Frage nach, wie Gold herzustellen ist, auf alchemistischem oder zumin33
dest chemischem Wege. Und das hier», Bonz pochte mit der linken Faust gegen die stumpf antwortende Stahltür: «Ist der Originalgiftschrank. Da bewahr ich meinen Stäsch drin auf. Musst du dir mal reinziehn, Herr Nachbar. Willkommen am Hackeschen Markt jedenfalls! Wo wir hacken, was der Markt hergibt.» Bonz beugte sich über einen der metallisch blinkenden Trocknerdeckel – hack-hack-hack-hack –, eine Linie zwischen zwei Punkten entstand, und Klinger dachte an die Bauarbeiter aus England, die Taxifahrer im Barbereich, die hier ihren Lohn verpulverten, für ein Produkt, dessen Unique Selling Point seine unschlagbar leicht zu konsumierende Unmittelbarkeit war. «Ich muss mir wirklich was einfallen lassen.» Bonz zog die Nase hoch. «Wegen der Lautstärke der Musik.» Er blickte auf und versuchte, ganz normal auszusehen, was ihm beinahe gelang, doch klebten weiße Flocken an den schwarzen Haaren seiner Nase. «Das liegt mir am Herzen», er klaubte eine Zigarette aus der Hosentasche, «dass du dort oben super schlafen kannst. Das musst du mir glauben, ehrlich. Hier gibt’s schon genügend Stress. Der Raum ist zu eng, wir sind hier wie Ratten. Werden leicht nervös, und dann gibt’s Kannibalismus, dagegen kann sich niemand wehren – deshalb Rücksicht – unbedingte Rücksicht auf den Nachbarn, zu jeder Tages- und Nachtzeit, verstehst du?» Klinger nickte. Dann sprach er die drohende Entkernung an. «Da redet niemand gerne drüber.» Bonz grinste, aber vielleicht waren es auch nur seine Mundwinkel, die unkontrollierbar nach außen strebten. «Wollen alle ihre Karten nicht auf den Tisch legen, seit Jahren. Alle, die auch nur irgendwas mit dem Ding hier anfangen wollen – umbauen, abreißen, entkernen, endlich für die Neue Mitte nutzen, egal. Es ist das 34
letzte unberührte Haus der Gegend. Und das allgemeine Zögern, das mir übrigens die Freiheit gibt, hier eine unlizenzierte Schankwirtschaft zu betreiben, hat mit dem Bett zu tun, auf dem wir ruhn, verstehst du? Dem fauligen Bett.» Bonz rauchte. «So genau weiß es niemand, aber es gibt da eine Menge Theorien, Hirngespinste auch genannt. Legenden – es geht um den Keller. Der genaue Name ist mir nicht bekannt, aber hier unter uns, im Boden, da soll es mal eine Art Etablissement gegeben haben, eine der legendärsten Kellerbars der 20er Jahre. Wirkliche Avantgarde-Säufer, durchgedrehte Physiker mit Tripper-Girls im Massenhimmelbett, Palmenmädels unter Fliegenpilzhüten, Muschi-Puschi, Veilchenauge, Es geht von Mund zu Mund, alles. Hatte angeblich nie geschlossen», Bonz nieste. «Wie das Nadine. Die kannten scheinbar auch keine Sperrstunde damals und vor allem nicht, als Ausgangssperre war. Die harten Charaktere sollen überhaupt nicht mehr nach oben gekommen sein und schon gar nicht ab 33. Schön in der Erde die Zeiten überdauern. Solange sich welche um den Nachschub kümmerten, konnte der Großteil einfach unten bleiben, um weiterzusaufen und Meskalin zu spritzen, Cocolores zu rüsseln, gabs ja alles auf Rezept. Reines MDMA, legal aus der Apotheke, Firma Merck, Darmstadt. Kokain, ebenfalls von Merck. Heroin von Bayer: Grippemittel, gern genommen bei häufig schlechtem Wetter. Die müssen da unten ihre eigene Subkultur rausgebildet haben, schätz ich mal – kleinere Augen, große Nasenflügel und Münder, robuste Haut – in diesen weiten Kellergewölben – aber dann, im Zweiten Weltkrieg – eine Lenkrakete der siegreichen Roten Armee schlägt ein – verschüttet den getarnten Eingang, und da sollen sie erst gar nicht mehr versucht haben, wieder rauszukommen, um in den Ruinen vielleicht was Neues aufzubauen. Da sind sie wohl schon zu seltsam draufgewesen, damals, als der 35
Himmel Einzug erhalten hat in der Stadt, und haben weitergefeiert, immer der Nase nach, bis alle Rationen zu Ende waren –» «Da liegen noch welche, dort unten?» Klinger lachte. «Und nicht mal in Ruhe.» «Was meinst du?» «Die Trams!» Bonz schlug mit der Faust gegen den Giftschrank. «Hast du mal überlegt, dass sich das Wummern in den Boden überträgt?! Meinst du, die können da in Frieden sein? Dauernde Erschütterungen und jetzt noch die ganzen Bauarbeiten überall?! Ich würd’s niemandem empfehlen, da runterzugehn. Ich will’s jedenfalls nicht entdecken, ist mir zu viel – und allen anderen, die sich mit dem Gebäude beschäftigen, geht’s genauso. Deshalb zögern alle, hier zu bauen. Gibt zwar Ankündigungen, aber bis jetzt ist nichts passiert. Stell dir vor, du machst die notwendigen Bodenarbeiten, und plötzlich stößt du auf was ganz und gar Unappetitliches. Das sind ja Widerstandskämpfer. Da gibt’s sofort ‘ne Debatte – das will niemand, der hier investiert. Deshalb die Idee der Entkernung – gar nicht erst ran ans Fundament, klar –» «Kommt gut, die Luxemburg.» «Hab ich doch gesagt: Rührt auf!» Tanzflächenschweiß zog aus der Tür des Nadine in die morgendliche Stadt, kühlte ab und bauschte zu Schwaden. Nebel zog auf, Passanten schemten. Beim Rausgehen tippte ihm die Türhüterin von hinten an die Jacke, ihre Stimme ein Singsang, die Lippen scheinbar nicht synchron zum gesprochenen Text, ihre Augen permanent aufgehende blaurote Blumen: «Schöne Wohnung hast du. Ich hab’s mir überlegt. Ich komm dich mal besuchen. Ich muss das nochmal sehen, die hintere Kammer.» 36
«Welche hintere Kammer?» Schon schob ihn der Pulk auf die Straße, eine Druckwelle aus Gestalten, billige Sonnenbrillen wurden aufgesetzt – das unschuldige Zwitschern der ersten Vögel – Klinger drehte sich um, doch das Nadine war kaum noch zu sehen, ging unter im thermischen Rauschen der Moleküle, und er stand auf dem Pflaster, in früher kühler Luft. ich würd’s niemandem empfehlen, da runterzugehen. ich will’s jedenfalls nicht entdecken, ist mir zu viel. Bis auf feine Negativumrahmungen der Fenster war die vierstöckige Betonfassade schnörkellos. Das Gesicht des zerfallenden Hauses – seine hechtgraue Haut, die tief liegenden Augen und die dolchigen Zähne der Taubenabwehr auf den Fensterborden der Zoo-ologischen – wirkte so schlecht gelaunt wie die unausgeschlafene Stadt, die von allen Seiten näher kam, als wolle sie sich selbst auf die Nerven fallen. Straßenbahnen schleppten sich. «I.» Wieder versuchte er, den nachtblauen Kapuzenpullover aus jener Türspalte des Treppenhauses zu ziehen, wieder misslang es. Wieder winkte der Ärmel. Der Bau roch nach Asche, nach rostigen Nägeln und Blei. Klinger durchquerte das Berliner Zimmer und lief in den hinteren, abgewinkelten Gang – rechts das dunkle, niedrige Badezimmer mit den lebensgefährlich offen liegenden Leitungen, links der Balkon, daneben eine Tür, die er bislang nicht weiter wahrgenommen hatte, hinter Brettern versteckt. Er räumte das Holz beiseite, weil er plötzlich wusste, dass sich dahinter etwas verbarg. Das Flurlicht funktionierte nicht, 37
die Tür klemmte. Er brach sie auf und schaute in einen Raum, der vom Geflacker der Schienenschweißer nur fragmentarisch beleuchtet wurde – ein gespenstisches Blitzen. Er schaute in einen Wald von Gegenständen hinein, eine Ansammlung verlassener Möbelstücke und Habseligkeiten, die ihn nicht bis zur Rückwand sehen ließ, weswegen der Raum unendlich wirkte, undurchdringlich. Ein verstellter Ort, ein grob-, aber auch feinstoffliches Gewebe von Barrieren – als hielte man die Hand in warmen Dunst – wie Spinnweben, in die er lief – und überall Kabel, überall Kartons, die jeden Weg verbauten. Klinger blieb stehen. Es war hier beinahe vollkommen still. Nur das Surren der Schweißgeräte, das hörbare Sprühen der Funken, das flackernde Licht – Er nahm einen Mondglobus in die Hand. Scheinbar belichtete Filmrollen. Disketten. Ein Buch: Das Göttliche Leben. Ein Mischpult – Kassetten, Kopfhörer, weitere Kabel wie Lianen – und Stecker, riesige Adapter, ein kastiger Atari-Monitor - Kartons voller CDs, DATs – noch ein Buch: HANDBUCH FÜR HOCHFREQUENZ- UND ELEKTROTECHNIKER, Band II – ein Feuerzeug in Form einer Handgranate mit Geigenhals. Ein helloranges, grau verschliertes Hemd, auf dem in Kellogg’s-Schrift VITAMIN K geschrieben stand, Rauchspuren am linken Ärmel. Eine Handwerkerleiter. Regale voller Schallplatten, ein Haufen bunter Tücher. Vertrocknete Rosen, von der Decke hängend, ihre ehemals weißen Blüten rostfarben, beinahe rot, die Fensterbank handdick mit Staub bedeckt. An der Stirnseite des Raumes zwei weitere Holztüren, tiefer ins Innere des Hauses führend, aber von Bergen von Gerumpel bewacht. Ein Brief auf einem Verstärker, offen –
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Du hast mir wehgetan. Du hast ein böses Spiel mit mir gespielt... Ich mag den Annex, aber irgendwie war mir komisch zumute, da drin. Du hast eine so große Liebe zu dir selbst entwickelt, dass du nicht registrierst, Wenn dir andere Menschen Zeichen geben. Nimmst du dann doch ein Zeichen an, traust du ihm nicht, suchst nach Tücke, findest sie, weil du suchst, steigerst dich in sie hinein und trittst dein Glück mit Füßen. Auch die Sache, dass du Engelsflügel gesehen hast – Warum muss es ein Todesengel gewesen sein? PS: Ich lege diesem Brief unser Tape bei. Ich kann es nicht wehr hören. Klinger nahm die Kassette und steckte sie ein. Dann suchte er nach einem Absender, doch der Brief war weder unterzeichnet noch adressiert. Vorsichtig, als solle niemand bemerken, dass er ihn gelesen hatte, legte er ihn zurück und sah jetzt, dass die Handwerkerleiter zu einer Art Einbuchtung in der Wand führte, deren Größe von unten nicht auszuloten war. Er stieg nach oben. Vor ihm lag ein nischenartiger, finsterer Raum, mit Teppich ausgekleidet, der an einer Stelle wie angekokelt war, etwa matratzengroß. Der Geruch nach altem, abgestandenem Rauch. Eine unglaubliche Erschöpfung überfiel Klinger. Er wusste nicht, woher sie kam, doch es war, wie er in diese Höhle starrte, als werde alle Energie aus ihm herausgesogen, und noch während sein Geist darüber nachdachte, ob dies der richtige Ort zum Ausruhen sei, legte sein Körper sich in das ausgedunkelte Rechteck hinein, und wollte er zunächst nur ein paar Augenblicke still liegen, nickte er weg, binnen Sekunden, die Nase nur Zentimeter von zerstörten, aschfarbenen Teppichfasern entfernt – verbrannte Chemie – schmale Felder 39
von Nebel – die Überschwemmung des Gehirns – das konnte er gerade noch denken, murmeln: angenehm. Die Fasern Augen geschlossen, die Mikrostruktur der Fasern: riesengroß. Diamantenfasern. Nadeln – Als die Sonne aufging, erwachte er schwer, verließ die hintere Kammer und lief trunken durch vordere Räume, schaute aus dem Fenster auf den Markt. Die Tramfahrpläne schalteten jetzt um, von Nachtbetrieb auf normal, ein sachtes Klicken in der Logistik, und in der Pausenbaracke für die Fahrer, links vom Haus auf einer kleinen Wiese gelegen, dampfte der Kaffee und raschelten die Boulevardblätter, während im Bordell auf der anderen Straßenseite die Nutten, die so weltraumhaft aussehen in ihren Plastik-Sex-Uniformen, glänzend rot, die Spitzenunterwäsche hinter Sichtfenstern blitzend, neonweiß oder tintenschwarz, aus den Federn schlüpften, die letzten Nachtgäste nach Hause schickten, um sich für die Morgenschicht zu restaurieren, in kleinen Gruppen schließlich über die Gleise zu steigen auf die BVG-Baracke zu, pünktlich um halb sieben, denn sie wussten, die Fahrer müssen auf die Minute genau kommen, weil drüben, auf der Rückseite des Hauses, schon wieder die Leute warteten, die einsteigen wollten, mit Laptop in der Schultertasche oder Stulle in der Alubox. Klinger schlug die Zeitung auf, die er aus einem der verwahrlosten Briefkästen genommen hatte. Stellenanzeigen. Er brauchte Geld. SICHERHEITSKRAFT FÜR GROSSES WARENHAUS AM ALEXANDERPLATZ AB SOFORT GESUCHT. Sonst war da kaum etwas annonciert: fast nur SecurityPosten. Er rauchte.
7. OKTOBER Morgen
Am Anfang war ein Erdbeben, nur wenige nahmen es wahr. Eine leichte Vibration des Bodens, die den meisten Leuten im Warenhaus unbewusst blieb, sie aber zu bestimmten Handlungen verführte, doch Klinger, ganz den Anforderungen seines neuen Jobs genügend, bekam dieses Beben deutlich mit, aufgrund seiner Gereiztheit, seines Mangels an Schlaf. Am Anfang war ein Erdbeben. Fertiggerichte fielen aus den Regalen, und er wandte seine Augen der Fischauslage zu, wo in den vergangenen Wochen kiloweise Material abhanden gekommen war: Steinbeißer, immer wieder Steinbeißer, dazu ganze Hummer: lebendig direkt aus dem Becken gegriffen. So erzählte es ihm Frau Fechter-Schmidt, die Personalchefin, beim einführenden Gang durch die Etagen, dann erklärte sie, was es mit dem Beben auf sich habe. Dass es von der U-Bahn-Linie 5 komme, die unter dem Warenhaus hindurch und in Richtung Hönow fahre – «Kennen Sie Hönow?» Sofort schüttelte auch sie den Kopf, um eine Art von Vertrautheit zu erzeugen. «Wer da so alles drinsitzt, in der U 5, das kann sich gar kein Mensch vorstellen. Die ersten Geisterzüge 41
der BVG. Keine Fahrer mehr, verstehen Sie? Alles sitzt gebannt und still, und wenn gesprochen wird, dann verhalten. Leute sind schon seit Jahren tot und fahren immer noch mit der U 5 nach Hönow, wieder zurück zum Alex, zurück nach Hönow – Osten», sagte sie, und ein merkwürdiger Geruch ging von ihr aus, wie von Blumen auf einem frischen Grab. Klinger nickte, und obwohl er davon überzeugt war, niemals nach Hönow zu gelangen, wusste er jetzt, dass dieser Stadtteil irgendwo dort draußen mit seinem Leben eng verknüpft war, denn immer wenn die U 5 unter dem großen Warenhaus am Alexanderplatz hindurchfuhr, immer bei diesen Erschütterungen, stieg die Zahl der Diebstahlversuche, und er musste seine Augen auf die Problemzonen richten. Auf die untoten, mit letzter Kraft übereinander kriechenden Hummer im Becken. Die von Walrossen ausgeschwitzten Parfüms in den überdimensionierten Verpackungen. Die teuren belgischen Pralinen mit blutbrauner Schokoladenumhüllung aus echter kongolesischer Kakaobutter und eingearbeitetem Knochenmehl, zwecks Konsistenzverbesserung. Immer wenn der Untergrund bebte, wenn ein paar Sekunden lang diese unterschwellige Konfusion herrschte – was zu Stoßzeiten alle drei bis vier Minuten der Fall war –, kam es gehäuft zu Übergriffen, das hatten Untersuchungen eindeutig ergeben, raunte Fecher-Schmidt ihm zu, um dann von einer verlangsamten, kaum merklichen Plünderung zu sprechen, während ihre Augen die Kaufhausumgebung durchschweiften, um ja nichts zu verpassen, was in ihrem Wahrnehmungsradius geschah. «Unsere Aufgabe ist es, diese Plünderung einzudämmen. Stets aufmerksam zu bleiben. Kommen Sie damit zurecht?» 42
Klinger nickte. Dabei hatte er keine Ahnung, ob er damit zurechtkommen würde, und es war ihm auch gleichgültig, da es ihm fern lag, in seinem neuen Job irgendetwas erreichen zu wollen – genau deshalb hatte er ihn ja angenommen. «Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, auf die ich besonders zu achten habe?» Fechter-Schmidt verneinte: «So einfach geht es leider nicht.» Diebe kämen aus allen möglichen Schichten der Bevölkerung. Wobei manche wesentlich einfacher auszumachen seien als andere – die Rumlungerer zum Beispiel. «Die erkennen Sie sofort.» Die ans Bezahlen überhaupt nicht dächten und nur zum Klauen anrückten. «Verlierer – leicht dingfest zu machen. Am verwahrlosten Äußeren prima auszusortieren, dann einer genaueren Beobachtung zu unterziehen. Alle tragen ja eine Uniform. Alle hier im Warenhaus: sichtbare oder unsichtbare Uniformen. Sie –», sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust, verfehlte nur knapp das Herz, «arbeiten in Zivil. Am besten kleiden Sie sich hier im Hause ein, um so wenig wie möglich aufzufallen. Sie haben unsichtbar zu sein, die Kopie einer Kopie einer Kopie», sie hustete. «Und unterschätzen Sie niemals Ihre Aufgabe! Wir haben auch Typen hier, die zu viele Filme gesehen haben. Die aus Übermut eine Fragrance mitgehen lassen und daraus gleich eine Situation auf Leben und Tod stricken – gewaltbereit. Können Sie mit so was umgehen?» Klinger nickte und dachte an die Designer-Mouse. «Und dann gibt es noch unsere Stammkunden – ein ganz sensibles Thema. Die nur ab und zu mal etwas in ihre Taschen fallen lassen, als Teil ihres Einkaufsbummels sozusagen. So wie man hin und wieder die Firma betrügt, für die man arbeitet. Da müssen Sie mit Fingerspitzengefühl agieren, das versteht sich», plauderte sie und bemerkte nicht die Verwunderung, 43
mit der ihr neuer Angestellter sie betrachtete. Dann wünschte sie ihm alles Gute und verschwand hinter einer grauen Tür, auf der KEIN ZUTRITT geschrieben stand. Klinger schaute sich um. Das gewohnte Einkaufsgeschehen kam ihm nun überhaupt nicht mehr gewöhnlich vor, und er überlegte, was er zu tun hatte, wie er so alleine zwischen den Waren und den zugreifenden Kunden stand. Schnell überkam ihn eine drückende Verlassenheit, inmitten der Dichte. Da passierte es erneut – ganz ähnlich wie im Bau –, und wieder war es, als drehe jemand einen großen Lautstärkeregler langsam, aber unaufhörlich gegen null, und das hundertstimmige Geplapper um ihn herum verebbte, das Klingeln der Kassen wurde leiser, die tappenden Kundenfuße auf Linoleum: bald so sachte wie im Traum, ein Wispern nur noch überall und lautloses Fingerzeigen, und selbst die Melodie der inneren Stimmen, über die er sich die Situation klarzumachen versuchte, war bald nicht mehr zu hören und versiegte dann ganz. Seine Augen schauten zur Decke. Schweigende Neonröhren, weit entfernt hinter einem spermigen Schleier, pulsend. So stand er zwischen einem Regal mit Schokoladennikoläusen im Superfrühangebot und Hunderten von Mandarinendosen der Marke Geisha. Ein Adventskalender fiel zu Boden, lautlos wie Schnee. Ganz in Watte gepackt stand Klinger da – wie Schiebewände glitten die Bilder zur Seite – die Personaltür schräg gegenüber öffnete sich, das Labyrinth dahinter für einen Moment lang sichtbar: Hunderte in der Bürokratie, der Bestellabteilung, im Lager, beim telefonischen Kundendienst, in der Überwachung. Frau Fechter-Schmidt kam auf ihn zu. Ihr besorgter Blick. Das Abwinken mit den Lidern, das Zucken mit dem Kopf, wie um eine Fliege loszuwerden, wie um ihr zu bedeuten, ihn jetzt auf keinen Fall bei seiner Arbeit zu stören, und er schaute angestrengt in Richtung Geflügelkost, als verfolge er etwas, irgendjeman44
den und zuckte wieder mit dem Kopf. Sie ging vorüber, sagte etwas, doch er sah nur die Bewegungen ihrer Lippen, die nach Luft zu schnappen schienen, und er dachte an Ertrinkende, dann schaute er in einen Spiegel, dessen rechten oberen Winkel ein halb abgerissenes Logo zierte, auf dem SPASSGENERATI stand, und er sah das Bild, das er der Überwachungskamera lieferte, die dahinter installiert war: die Augen dunkel, dabei rot, auf der Stirn: Schachbrett, mit unterbrochener Partie – die Bewegungen zögerlich, beinahe schuldbewusst – wie ein Dieb, einer der Verwahrlosten und Rumlungerer vielleicht –, und so verharrte er vor den Schokoladennikoläusen und schaute einem Weihnachtsmann in die Augen, der unbeeindruckt zurückblickte, wie in Ewigkeit in seinen Stellplatz hineingegossen, schweigend – während aus der Lautsprecheranlage gesprochen wurde, Worte wie feines Gas: Kasse 10 – die 9 zur 27 bitte. Er schreckte auf. Der Code! In einem Crashkurs hatte Fechter-Schmidt – welche Zahl stand für Übergriff? Wo? ich – Kasse 10 bitte – Er stutzte: An den Rändern der Ansage schwirrte eine weitere Botschaft mit, nur wenig verzerrt: hightech-welt: zweiter stock – hightech-welt – Er schlug die Augen auf, schüttelte den Kopf. Ich muss wohl kurz mal weggedöst sein. Kurz mal nicht ich selbst – er schaute sich um. Lief auf die Rolltreppen zu und reihte sich in die Schlange derer ein, die nach oben wollen – hightech-welt: zweiter stock – hightech-welt –, fuhr eine Etage höher und durchquerte die Kidz-Welt, kam langsam wieder zu sich, um – noch bevor er den Eingang zur Hightech-Welt sah – in die Damen-Welt zu flüchten, wo er sich ein wenig beruhigte, beim Flanieren durch die Dessous. Da war er auf einen Schlag plötzlich vollkommen wach. 45
Vor ihm lief eine Frau, schlank gewachsen, das bleiche Gesicht leicht verzerrt, die bei weitem nicht willens war, den vorgeschriebenen Weg zur Kasse zu gehen, Schlange zu stehen und geduldig zu warten, wie eine Ansammlung kleiner wird und das Leben währenddessen kürzer, um endlich – schuld- und pflichtbewusst – zu zahlen. Unstet scannte sie die Gegend, Klinger versteckte sich. Sie betrachtete, fühlte, nahm heraus, legte zurück, langsam, mit flatternden Händen. Spitzenkorseletts mit Strapsen. Duftige Schleier, Mieder aus Satin. Seidige Kleinigkeiten ohne Sicherheitsetikette. Schon landete etwas in ihrer schwarzen Umhängetasche. Und erneut griff sie zu – und wieder – Er hielt den Atem an. Niemals hätte er es gewagt, sie jetzt aufzuhalten. Das wäre der allergrößte Frevel gewesen. Wie in Trance agierte sie, und darin würde er sie niemals stören. Da ratschte der Klettverschluss seiner Diesel-Polyester – sie schaute auf, ganz Reh im Wald – wandte ihm ihr verschlossenes Gesicht zu, das apachenhafte Züge trug, und als er ihr in die Augen sah, für einen einzigen Moment nur, entzog sie sich ihm, zog sich unweigerlich zurück und ließ seinen Blick in die Mitte ihrer Leere, in die Schwärze ihrer Pupillen fallen, und dann ging sie, ein fremder Körper, an ihm vorbei, und er schaute ihrem Hinterkopf nach – verlor sie an die Menge, wollte ihr hinterher, doch dann hätte er vielleicht die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf sie gelenkt, und so blieb er fern, lief unruhig umher, ging in den Überwachungsraum und checkte alle Monitore, doch er sah sie nicht. Er durchquerte die Herren-Welt. Die Fitness-Welt. 46
Die Welt des Schönen und Nützlichen. Er öffnete die Augen und bemerkte, dass er zwischen den Kurzwaren stand. Fuhr mit der Rolltreppe, suchte die Diebin, doch er wusste, sie war nicht mehr da. Da brennt etwas, aber kalt. Da schwimmt was durch mein Aderbett: Bruchteile, Datenfett – Er wurde zur Seite gedrückt. Ein Jugendlicher rannte die Rolltreppe nach unten, ein Kollege in Zivil hinter ihm her. Ein Funkeln in den Augen der Leute. Er verbrachte geraume Zeit in der Genießer-Welt.
Alle Männer, alle Frauen welche Waren sich beschauen lieben das Gefühl lieben das Gefühl zu klauen! Dann kam endlich der Feierabend, und Klinger trat am uniformierten Türsteher vorbei, einem Mann mit einem Lächeln wie ein Strich im Gesicht. Er stand auf dem Alexanderplatz, enttäuscht. Da hörte er – ganz so, als hätte sie ihn aus ferner Vergangenheit die ganzen Jahre über verfolgt, um ihn jetzt hier anzutreffen, die Liebe zu preisen, direkt aus den Kindheitstagen des global village: eine peruanische Panflötengruppe in seinen Ohren röcheln.
8. OKTOBER Abend
Er wachte auf, weil es ihm so vorkam, als würde jemand in der Küche am Tisch sitzen, doch als er in den Flur ging, um nachzusehen, war da niemand. diese grazie des diebstahls – Nur Staubflocken tanzten, groß wie Augen. In die Straße senkte sich ein goldener Untergang, und es war, als würde zunächst der Asphalt von der Sonne geschluckt, dann die Sonne von der Stadt. Ein letztes Mal gleißte die Kuppel der Synagoge, dann breitete bläuliches Licht sich aus, gespeist von den Fernsehbildschirmen hinter den Fenstern, vom um sich schlagenden Warnblinken eines Krankenwagens, der sirenenlos die feierabendliche Straße entlangwankte wie ein eilender Betrunkener. Klinger versuchte, ruhig zu werden, was ihm nicht gelang. Da ihn die Lautstärke der Trams kaum schlafen ließ, wusste er nicht, wie er die kommenden Stunden überstehen sollte, diesen sich weit über den Atlantik dehnenden Raum bis kurz vor Morgenanbruch, jener blauen Stunde, wenn die letzten Verpeilten über die Schienen stocherten und wenig Tourismus herrschte – wenn es fast geschafft war und dieser kostbare, dunstige Lichtrand die Grenze zwischen Tag und Nacht be48
leuchtete, das letzte Stückchen Seidenstrumpf, das unendliche Herumwälzereien entfernt lag – und so schaute er auf das trübe rote Licht des Puffs, der gerade seine Huren auspustete, die mit künstlich verlängerten Beinen die Plätze einnahmen, dabei miteinander schwatzten, gelackte Schirme aufspannten, manche von ihnen, um noch stärker aufzufallen, sich dabei gleichsam zu schützen vor der Umgebung, der Dichte der Stadt. Verebbendes Kinderlachen vom Spielplatz am Park. Im Berliner Zimmer schaukelte der Leuchter wie auf einem Schiff, und die Sonne, die eine Nacht nie erlebt hat, warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die dunkelnden Häuser, ein eiferndes Feuer, dann ging auch sie nicht zu Bett. Das Rauschen eines Nachrichtenkanals, einer Spülung, irgendwo im Haus, hinter einer Wand. Klinger legte sich in die Wanne. Beruhigungsbad: Lavendel. Er betrachtete die niedrige Decke und bemerkte, dass sich genau darüber die Einbuchtung der Wand der hinteren Kammer befand. Die Schlafhöhle mit ihrem verkokelten Matratzenfleck – Nur Nasenlöcher und Augen, knapp über dem Wasser. Wieder sah er sie vor sich: die Diebin. Hatte wieder den Wunsch, dass sie ihn stehle – ihn sinnvoll nutze. Der Atem jetzt ruhig: ein, aus, ein, aus – Es klingelte. Es war keine Tram, sondern klang viel heller, dann war es wieder still. Klingelte -
Gibt keinen Delefonanschluss. Und wird vor der Entkernung auch keinen mehr geben – Das Telefon klingelte. 49
Seine Augen blickten zur Decke. Die kühle Abendluft – klingelte – Er sprang aus der Wanne, stand auf Stein, ohne Handtuch, lief auf den Gang hinaus, in die hintere Kammer – klingelte – aus der Ecke, wo die beiden Türen in Richtung Seitenflügel führten – seine Hände räumten Boxen weg, den Atari, einen Verstärker, an dem Kabel wie Tentakelarme schlenkerten – klingelte – er sah ein Blinken, rot: ANRUF: das Gerät sittsam wartend in seiner Ladestation dort auf dem Boden – klingelte –, er drückte die Taste, auf der ein grüner Hörer abgebildet war: «HALLO!» Eine rauchige Frauenstimme: «IGOR?!» «Nein, hier ist nicht Igor. Aber -» «Dann hab ich mich verwählt.» «Moment –» Aufgelegt. Das tote Telefon in seiner Hand.
Es musste bereits gegen Morgen sein. Irgendwo in der Nähe rutschte Beton durch das Innere einer träge rotierenden Trommel – Muschelrauschen, dazu die gelegentlichen Rufe von Arbeitern und das aggressive Fauchen, das entsteht, wenn beim Schweißen der reine Sauerstoff auf eine Schnittstelle geblasen und dadurch die Schlacke weggerissen wird. Er ging zum Fenster und beobachtete die Huren, die müde bis scherzend in kleinen Feierabendgrüppchen durch das Blau spazierten. Eine Hochspannungsleitung blitzte, eine Straßenbahn fuhr vorbei. Da erstarrte sein Blick. Glich hektisch das, was er dort sah, 50
mit den Dateien gespeicherter Bilder ab und sah erneut auf diese Person in ihrer schwarzen, nass glänzenden Kluft – schlank gewachsen, das bleiche Gesicht leicht verzerrt –, die Diebin aus dem Warenhaus, kein Zweifel: in einer martialisch glänzenden, wohl zusammengeklauten Uniform, die ihr die Umgebung vom Leib hielt, indem sie genau zu jenem einlud: So spazierte sie durch sein Blickfeld, aufrechten Ganges, die Knie durchgedrückt, den Kopf erhoben, ein Schreiten mehr als ein Gehen. Ein Auto hielt an. Sie beugte den Kopf- eine bis eben noch flüchtige, niemals wiederkehrende Erscheinung, ein Traum: vor seinem Fenster jetzt, zum Greifen nah, nein: jederzeit verfügbar, käuflich zu erwerben, was ein bedeutender Unterschied war. Sie stieg in den Wagen. Klinger wandte sich ab. Schaltete den 500-Watt-Strahler an, den er im Annex gefunden hatte, durchflutete das vordere rechte Zimmer: blendete die Straße dadurch aus. Er legte sich hin. Versuchte, nicht an sie zu denken. Nicht darüber nachzudenken, was sie jetzt vielleicht tat. Irgendwann schaltete er den alten Fernseher an. Schaute das Nachtprogramm des Offenen Kanals, die schier endlose, kaum fassbar ereignisarme Fahrt einer S-Bahn durch eine nächtliche Stadt, die allmählich grauer wurde, heller. Zwischendurch lief er immer mal wieder ans Fenster und suchte nach ihr, wartete auf das Ende ihrer Schicht, das schließlich mit dem Sonnenaufgang zusammenfiel, als er sah, wie sie ihre schwarzen Haare löste und auf seine Fenster zulief – schon verschwand sie im Eingang des Cafés, und Klinger zog sich an. Ein Schriftzug auf der Außenwand des Anbaus, KitschGraffiti unter der Längsreihe der beschlagenen Fenster: NADINE – KEEPS YOUR CLOTHING CLEAN. 51
Die Diebin saß in einer Ecke auf einer alten, am Boden festgeschraubten S-Bahn-Bank vor dem Fenster, im rosa und seetanggrünen Neonmondlicht von Stroh’s und Schlitz, das Blut blau hinter weißer Haut, die Schultern weich und rund, dagegen das Plastik der Uniform: schwarz, spitz. Sie las, während draußen eine Stadt erwachte und vorbeifuhr, beleuchtete, dahingleitende Stahlwürmer mit schläfrigen Menschen darin, die ganz erschlagen nach draußen schauten, als könnten sie es nicht fassen, all den Asphalt und Beton. «Hi – ich -» unschlüssig stand er vor ihr. «Hab dich gesehen, wie du auf mein Haus zugelaufen bist -» «Ah ja?!» Sie schaute nach oben, und in den Winkeln ihrer kieselgrünen Augen lagerten tief und dunkel bläuliche Schatten. «Klinger», er reichte ihr die Hand. «Sophia Charlotte –» Schon wanderte ihr gläserner Blick in das Buch zurück, in dem aufrichtigen Bemühen, ihr Gehirn auf die Langsamkeit des Lesens herunterzufahren, die Zeilen bis zum Ende zu verfolgen, nicht vorher schon in die nächste überzuspringen. «Was hast du gesagt?» Sie schaute hoch und an ihm vorbei, hinter den Mauern der vergangenen Stunden hervor, auf denen es keinerlei Inschriften gab, völlig glatt waren sie, ein polierter Schutzschild, der ihr einen oberflächlichen Glanz verlieh, gegen den ihr Geruch, die Melange aus warmer, müder Haut, dem Nikotin- und Benzindunst der Nacht, deutlich hervorstach. «Wie lange arbeitest du schon hier?» «Anderthalb Jahre.» Sie nippte an ihrem Cappuccino, und ihre Wangen spannten. «Seit ich zur Uni geh.» «Ich hab dich von meinem Fenster aus gesehen.» 52
«Soso», sie trank. «Einer von denen, die beobachten und Theorien anstellen.» «Ach was. Aber ich kann nicht mehr schlafen, dann schau ich raus.» «Nicht mehr schlafen?» Fahrig strich sie sich durch die Haare. «Ich hab seit Semesterbeginn so gut wie nicht mehr gepennt.» «Nimmst du was dagegen?» «Bist du verrückt?» Sie blickte nach draußen wie auf eine Uhr. «Ich muss jetzt zur Uni. Mein Job, das Studium – wann soll ich da schlafen?!» «Stell dir vor, du wachst morgens nicht auf, weil du erst gar nicht einschlafen konntest. Und bist ein anderer Mensch, aber viel zu erschöpft, um das zu bemerken.» Sie antwortete nicht. «Besuchst du mich mal?» «Ich kann dich nicht besuchen. Du siehst doch, wie ich drauf bin», sie rieb mit beiden Händen über ihren Brustkasten, was einen feinen, kaum hörbaren Riff produzierte. Dann begann sie, eine Zigarette zu drehen, wobei ihre Finger leicht zitterten, und Tabakkrümel fielen in ihre Tasse. «Für Privatleben hab ich keine Zeit, tut mir Leid.» Sie legte Geld neben ihre Tasse und stand auf.
9. OKTOBER Tag
Er sehnte sich nach nichts mehr als nach Ruhe, doch die fand er nur in der Kammer ganz hinten, die abgekapselt schien. Es war ihm allerdings nicht wohl bei dem Gedanken, sie als Schlafplatz zu nutzen, und so rutschte er unruhig vor einem Arzt im Sprechzimmer hin und her und bat um Schlaftabletten, aber der Mann, der ihn aus wasserblauen Augen anblickte, schüttelte den von krausen, rötlichen Haaren umkränzten Kopf. «Schlaflosigkeit ist nur das Symptom», sagte er mit weicher Stimme. «Finden Sie heraus, was wirklich los ist mit Ihnen. Was passiert gerade in Ihrem Leben? Hören Sie auf Ihren Körper, betäuben Sie ihn nicht.» Dann bot er Klinger NLP an, Neuro-Linguistic Programming. «Wir setzen einen Anker», sagte er. «Wir verankern jetzt eine besonders schöne Erinnerung in Ihnen, und immer wenn Sie von Ängsten gepackt werden, immer wenn Sie schlafen möchten, rufen Sie sich diese Situation ins Bewusstsein, verknüpfen sie, rein neurologisch gesehen, mit der Gegenwart, und so wird diese in die angenehme Grundsituation eingebettet und sofort besser erträglich, was unmittelbar zur Entspannung führt. Nehmen Sie sich jetzt alle Zeit, die es braucht, um diese angenehme Grundstimmung zu finden. Es sollte eine Situa54
tion sein, in der Sie sich äußerst wohl fühlten. Eine, in der Sie frei waren, ruhig, Ihrer selbst sicher, mit sich selbst im Reinen. » Klinger überlegte. Stille breitete sich im Sprechzimmer aus. Dann das Ticken einer Uhr. Er betrachtete die üblichen dekorativen Drucke an der Wand, den Bonsai auf dem Fensterbrett, die Eichen draußen. «Es klingt vielleicht seltsam», sagte er endlich. «Aber ich denke an eine Landschaft im nördlichen England – die Landstraßen dort, im September, vor Ausbruch der Seuchen. Das Licht fließt klar und blau vom Himmel, die Bäume leuchten grün und strahlen zum letzten Mal, und ich sitze in meinem Auto und habe kein bestimmtes Ziel, sondern fahre von Ortschaft zu Ortschaft und schaue mir die Schwäne in den Teichen an und fühle mich vollkommen aufgehoben dabei und sicher und –» «Dann lassen Sie uns das als Anker nehmen», unterbrach der Arzt, doch da begann Klinger zu zittern, denn plötzlich saß er in einem anderen Wagen und hockte, die Knie mit den Armen umfasst, auf der Rückbank des Familien-Kombis, den sein Vater über eine Autobahn steuerte, auf eine katholische Klinik zu, und er sah die wie zum Abschied winkenden Äste der Sträucher auf dem Mittelstreifen, schon war das Bild verschwunden, obwohl er versuchte, es festzuhalten und zu sehen, was noch passierte, doch es gelang ihm nicht, und die Praxis verschwamm – Der Arzt legte seinen Arm um Klingers Schultern: «Ich verschreibe Ihnen erst einmal was. Das geht schon in Ordnung, keine Angst.» «Sie würden es doch niemals zulassen, dass man mir eine Spritze gibt, oder?» Klinger schaute nach oben, einen gallertartigen Film über den Augen. «Versprechen Sie mir das! Versprechen Sie es mir!» 55
«Ich verstehe jetzt nicht, was Sie meinen –» «Vergessen Sie’s. Ist schon gut. Bitte: Vergessen Sie’s einfach.»
10. OKTOBER Früher Morgen
Er schluckte zwei daumennagelgroße, blaurot gestreifte Benzodiazepin, und ein rundum erneuerter, laborgefertigter Schlaf überkapselte ihn kurze Zeit später, wenige Minuten allerdings nur bevor der Wecker klingelte, der sich allein dadurch von den läutenden Trams unterschied, dass er endlich aufhörte, als Klinger ihn von der Holzkonstruktion fegte, auf der seine Matratze lag. Er zog sich an: schwarze Kampfhosen, ein im Annex gefundenes Sweatshirt mit Schriftzug Rostock Vampires. Das Treppenhaus stank nach schimmligem Holz. Im Briefkasten fand er ein schneeweißes Blatt, auf dem ein einziger Satz gedruckt stand: this is only a test. Verständnislos, noch immer in chemischen Nebel gepackt, faltete er das Papier und steckte es in die Außentasche seiner Jacke. Dann trat er in einen nassen Werktagsmorgen hinein. Mit Blick über die Alexanderplatz-Plattenbauten trank er im Büro von Fechter-Schmidt eine Tasse grünen Tee, während sie ihn umständlich fragte, wie es ihm so gefalle in der Stadt und was er am vergangenen Abend denn getan habe, im aufregenden Mitte. Es fiel ihm auf, dass sie genau das gleiche Strickkleid trug wie beim letzten Mal, nur in Mauve. 57
«Ich bin in einem Café gewesen und später zu Hause, Musik hören.» Dann sprach sie ihn auf die schwarzen, wie in die Haut gekerbten Ringe unter seinen Augen an, und er erklärte, wohl ziemlich lange in diesem Café gewesen zu sein. Sie wollte nun wissen, um welches es sich dabei gehandelt habe, rein aus Interesse, falls sie auch mal in der Gegend sei, und er antwortete, der Name sei ihm entfallen, irgend so ein Szene-Laden mit zusammengeschweißten Stahlsesseln, auf denen Touristen und Medienvertreter hockten. «Aber jetzt möchte ich einmal wissen, wie es Ihnen wirklich geht – nicht nur, was Sie erleben. Wir arbeiten zusammen, verstehen Sie?!» «Es geht mir wie immer», antwortete er und lächelte nett. «Der Schmerz hört nicht mehr auf, aber das ist okay. Außerdem bin ich sehr froh über diesen Job. Die flexible Arbeitszeit, die zwei Tage pro Woche, das ist schon recht gut.» «Welcher Schmerz?» «Nur so eine Zeile aus einem Lied.» «Leben Sie allein?» Ihre Mundwinkel zuckten irritiert. «Nein, allein, natürlich.» Fechter-Schmidt hob die dünn ziselierten Brauen. «Da wollen wir mal sehen, wie sich das weiterentwickelt mit Ihnen, hierbei uns.» Er schaute sie freundlich an, hinter einem Schleier hervor, und nickte. Beim Gang durch die Gänge versuchte er, sich die zurückliegende Nacht klar vor Augen zu führen und sich an einen Traum zu erinnern, den er im Annex gehabt hatte, doch alles blieb unwirklich, Regenschlieren auf allen Schaufensterscheiben, und wieder dachte er: Ich muss grauenhaft aussehen, im 58
Fokus der Überwachungskameras – und plötzlich, ohne dass er es sich erklären konnte, spukte ihm dieser Satz durch den Kopf, den er irgendwo gehört haben musste, in einem Refrain vielleicht, in der Medien-Welt wahrscheinlich: ich will eine maschine sein: arme zu greifen, beine zu gehen, kein schmerz, kein gedanke. ICH WILL EINE MASCHINE SEIN: ARME ZU GREIFEN, BEINE ZU GEHEN, KEIN SCHMERZ, KEIN GEDANKE. Ich will – dieser blödsinnige Satz, immer wieder, und auch die Slogans der Parfüm-Welt, in die er sich flüchtete, um auf andere Gedanken zu kommen, brachten keine Erleichterung, sondern zerstoben schillernd, wenn dieser Satz zu hämmern begann, ich will eine maschine sein – arme zu greifen – Er lief in die Betten-Welt, um sich zu entspannen, doch das war ein Fehler, weil er sofort an die vor ihm liegende Nacht denken musste. Er stand vor einem Himmelbett und zitterte. Irgendetwas stimmt hier nicht. Irgendetwas lässt mich nicht in Ruhe – und er hielt sich an den aus schwarzem Eisen gearbeiteten Stangen fest, die den Baldachin aus bleicher Seide stützten, und rüttelte jetzt daran wie an Gitterstäben, ließ dabei die von allerlei Gerät behangene Decke nicht aus den Augen, um möglichst jede Kamera zu entdecken, die ihn filmte, und noch immer hatte er keine Ahnung, was gerade mit ihm geschah. ICH WILL EINE MASCHINE SEIN: ARME ZU GREIFEN, BEINE ZU GEHEN, KEIN SCHMERZ, KEIN GEDANKE. Um sich abzulenken, beobachtete er in der Young-Welt eine bepuderte Mutter und ihren präpubertären Sohn, der missmutig an Kleidungsstücken herumzupfte, ohne etwas vom 59
Bügel zu nehmen, während sie ihn mit Vogelaugen kritisch begutachtete. «Auf den Sohn müssen Sie achten! Etwas mitgehen lassen – das einzige Abenteuer, das er aus dieser Tortur noch ziehen könnte!» Neben Klinger war Fechter-Schmidt aus dem Boden gewachsen und zischte ihm jetzt leise Instruktionen zu, wie er zu jener Monitorreihe gelangen konnte, die die Kabine abdeckte, in der der Sohn mit mehreren Hosen, Hemden und T-Shirts nun verschwand. Klinger blickte sich um. Als er sah, dass ihn niemand beachtete, ging er auf eine der grauen Türen zu und verschwand im Labyrinth des Verwaltungstrakts. Dort bog er zweimal rechts um die Ecke und schloss einen kleinen Raum auf, in dem mehrere Bildschirme standen. Er hatte nicht gewusst, dass auch die Umkleidekabinen überwacht wurden, und ein schizoides Gefühl aus Neugierde und Scham durchkroch ihn, als er den Jungen auf Monitor 3 völlig verschüchtert ein Hemd anprobieren sah, sich nur für Momente scheu im Spiegel betrachtend, und Klinger erinnerte sich jetzt: die Fahrten zu den Kaufhäusern: vor zwanzig Jahren, während der Wirren des Kalten Krieges – das Parken im Parkhaus nebst der Bemerkung, das Abstempelnlassen des Parkscheins dieses Mal nicht zu vergessen. Erinner mich dran, wenn wir zahlen! Die rotbraunen, hochgefönten Haare der Mutter, die schlanke Gestalt, das beinahe verhungerte Gesicht, weil so viel Energie für organisatorische, für sicherheitspolitische Dinge verbraucht werden musste – Wieder sah er den Jungen. Sein Gesicht war ganz feucht vor Anstrengung und Niedergeschlagenheit. Er hatte geweint, knüllte jetzt die Kleider zusammen, warf sie in eine Ecke der Kabine und ging raus. Klinger schaltete um. Hightech-Welt. Kamera 2.1, Halb60
totale. Lauernde Geräte in diffusem, schwarzweißem Licht. Dorthin wollte er jetzt, verließ den Monitorraum, lief Gänge entlang und trat zurück in das Reich der Farben, wo er in der Foto-Welt zunächst die Filme abgab, die er im Annex gefunden hatte, dann weiter in die Hightech-Welt, und sofort fand er, was ihn interessierte, ohne dass er genau wusste, weshalb: ein Verstärker der Marke Technics, der größte der ganzen Abteilung – Arme, die greifen, Beine zum Gehen – schlafwandlerisch griff er zu, hob das Gerät, hatte die Kameras genau im Blick.
Welche Lust voller Schrecken irgendetwas einzustecken nur um das Geschäft nur um das Geschäft zu necken! Lief mit seiner Beute auf den Unterarmen in Richtung Ausgang jener durch eine zusätzliche Schranke gesicherten Hightech-Welt. Schaute einem ihn streng musternden, bereits zu seinem Funkgerät greifenden Security-Typen in taubenblauer Uniform in die Augen, zeigte seinen Dienstausweis, entdeckte dabei den Computerausdruck aus dem Briefkasten und hielt ihn dem überraschten Kollegen unter die Nase: this is only a test – nickte ihm zu und zwinkerte, spazierte dann seelenruhig und schwer bepackt durch die Schranke und in die Kidz-Welt hinüber, in Richtung Rolltreppe, schon ging es nach unten, wie ein Virus durch den Organismus des Hauses, dessen Blut, die Geld- und Datenströme, von den Knotenpunkten der Kassencomputer verwaltet, pulsierte und glitzerte – schon war er im Erdgeschoss, trat am uniformierten Türsteher vorbei, keine Sirene, nirgends. 61
Auf dem S-Bahnsteig kaufte er sich, den Verstärker jetzt unter den Arm geklemmt, ein Schokocroissant bei CroBag. Der Zug fuhr ein, und er nickte dem Fahrer in dessen Führerkabine zu, weil er sich freute, dass dieser seinen Job noch besaß und es nicht nötig haben würde zu stehlen, doch der Angestellte stierte ärgerlich zurück, weil Klinger sehr nahe an der Gleiskante stand, und die Bahn wischte gegen seinen offenen Mantel, ein Flappen, ein Fledermausgefühl. Nach ein paar Tagen ohne Schlaf wird alles zur außerkörperlichen Erfahrung.
10. OKTOBER Abend
Er saß am rechten Fenster des vorderen rechten Raumes, von wo aus man am weitesten in die Straße hineinsehen konnte, doch war es noch zu früh für ihre Schicht, was er ja wusste, aber Ausschau hielt er dennoch, auch wenn er sich vornahm, dieses Interesse an ihr auf keinen Fall zu ernst zu nehmen, sondern zu scherzen und zu tändeln damit, sonst würde es sich zusammenballen und die Sicht verfinstern, schließlich herabregnen auf die Stadt – Der Sonnenuntergang: groß, dunkel, ungeheuer rot, und von der Metzgerei Annus auf der anderen Straßenseite wehte ein bittersüßer Geruch durch die Fenster. Er erinnerte sich an einen Traum. Zwei Männer waren im Gespräch absolut ruhig und entspannt nebeneinanderher spaziert, am Kanal hinter den Museen, bis sie plötzlich in einen Streit gerieten und sich wenige Augenblicke später derart heftig prügelten, dass sie sich gegenseitig in den Beton hinein und durch ihn hindurch schlugen und dann in das brackige Wasser darunter, wo sie von wütenden Aalen und Hechten binnen Momenten zerrissen wurden, zurück blieben nur die Gerippe – Klinger setzte die Sonnenbrille ab. Sofort versank alles in 63
einem Grau, selbst ein Nagel auf der Heizungsablage, in seinem Blutbad aus Rost: nur ein Fleck – Im rückwärtigen Flur knirschte und knackte es wie auf einem Schiff, während es aus den Wänden des Badezimmers eher zu knistern schien. Er betrachtete den Verstärker, der im Berliner Zimmer stand. Warum? Es kam ihm vor, als sei der Raum ein einziges Fiepen jetzt, eine ständige akustische Veränderung – all die Baustoffe in den Wänden, im Parkett, in der Decke: stöhnten ihr Lied. Erzählten von ihrer Fixierung, und jetzt war da ein Dröhnen – er schaute sich um, aber erkannte nicht, woher es kam –, als würde eine Trommel geschlagen, dann kam plötzlich, aus dem vorderen Teil der Wohnung, ein Rauschen wie von Wind in einem Wald – ein entferntes Glockenläuten dazu, vielleicht der Dom und nun noch ein scharfer, pochender Ton von unten, von der Zoo-ologischen vielleicht. Er packte den Verstärker, trug ihn umher. Es kam ihm so vor, als stünden seine Beine in einer Flüssigkeit, oberschenkeltief- als ginge er unter in einem Zeitozean von Haus, dessen tiefste Stelle er nun erreichte, die hintere Kammer, die konserviert schien, auf einem kalten, grünen Grund. Er tauchte. Es war vollkommen ruhig. Der Meeresboden aus Dingen, die er nicht aus der Wohnung entfernen durfte, wirkte stumm. Konglomerate aus Stille wiegten sich, Monster aus Schweigen. Er ließ den Verstärker sinken. Sah sich um. Irgendeine Verbindung damit herstellen vielleicht? Er wandte sich dem Atari zu, dem moosüberzogenen Dinosaurier in der Mitte des Raumes, der auf einem Stapel flusiger Decken ruhte, umhüllt von einer augengrünen Jacke, auf deren linkem Oberarm vor lila Untergrund Hammer, Zirkel und Ähren zu sehen waren, dazu die deutschen Farben sowie das Wort ZIVILVERTEIDIGUNG an der Unterseite des Emblems. Er 64
wischte die mehlige Schicht vom Bildschirm und schaltete ein. Tief im Innern des Rechners brummte es, gefolgt von einem Gleißen des Monitors, und nach endlosen Minuten und wiederholten, zunächst fruchtlosen Befehlen spuckte die Maschine in höhlenmalerischer Auflösung folgende Information auf den Schirm: M1 DATA global ch 1 1. track one 2. combisx 3. global 4. sequenz 5. all track one – Klinger versuchte, die Datei zu öffnen. Doch es war nichts zu hören. Er kontrollierte die Anschlüsse auf der Rückseite. Audio Out. Dann, mit unruhigen Händen, setzte er den Verstärker neben den Atari, ging zahllose Kabel durch, bis er die richtigen gefunden hatte – verband den Verstärker außerdem mit zwei der vielen Lautsprecher des Annex und rief track one erneut auf. Sofort füllte sich der Raum. Klinger hörte Meeresrauschen, das stark gefilterte Rufen von Möwen, das klang wie die Schreie einer Frau – eine Sprecherstimme, darüber das markerschütternde Stöhnen und Seufzen eines elektronisch verfremdeten Tieres, eines Delphins oder Wales vielleicht, aber wie hinter einem Vorhang aus Wasser oder aus hauchdünnem Glas –
heyheyheysayheyheyheyhey –
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Hören Sie – das Pochen, das ist sein Herzschlag! Achten Sie darauf, wie das Pochen niemals aufhört – es ist unglaublich. Es wird nicht langsamer, obwohl der gesamte Blutkreislauf zum Stehen gebracht ist – wie macht er das? Hören Sie –
Wie soll ich dir meine Welt erklären, wenn du sie selbst noch nie erlebt hast? Wie kann ich dir nur das Verlangen erklären, immer wieder dorthin zu gelangen – so weit wie noch nie ein Mensch zuvor? Es ist einsam, dunkel und kalt. Wie soll ich dir erklären, dass gerade dies mich anzieht? Dass dieser Zustand mir das Äußerste ist – dass ich mich dort überhaupt nicht allein gelassen fühle. Wie soll ich dir diesen Zustand – erklären? heyheyheysayheyheyheyheykey Ich werde nicht mehr wiederkommen. Das heißt, ich werde wiederkommen, aber nicht in diese Welt. Ich werde dahin gehen, wo ich abgeschirmt bin vor Ignoranz und bösem Willen. Lebe wohl. Ich vergesse dich nicht. Hab keine Angst, mir geht es gut. Dies ist meine Offenbarung. Ich lebe nur für diesen einen, letzten Augenblick. Er horchte auf. Der Klang aus den Boxen wurde von einem seltsamen Ton durchbrochen, immer wieder, kaum hörbar zunächst in seiner klagenden, schluchzenden Färbung – und nicht zu lokalisieren, wie er sich in das Musikstück einfügte. Klinger stellte die Anlage aus. Sofort verschwand auch das Klagen. Stellte sie wieder ein, nur den Verstärker, ohne irgendetwas laufen zu lassen, da tauchte es wieder auf, ein Strom in der Luft – und schien jetzt von den beiden Holztüren zu kommen, die tiefer ins Innere des Gebäudes führten, in den Sei66
tenflügel hinein, wo niemand mehr wohnte, und indem Klinger die rechte noch stärker blockierte, räumte er die linke Tür frei, die anstelle eines Schlosses ein kinderfaustgroßes Loch aufwies und ohne Klemmen oder Quietschen auf seinen Druck hin nachgab, geradeso, als werde sie jeden Tag benutzt. Er schaute in das Dunkel des Seitenflügels hinein. Ein warmer Lufthauch zog von dort in den Annex. Das Klagen war jetzt deutlich zu hören – er nahm die Zivilschutzjacke, zog sie an. Mattrot glühte ein Lichtschalter, eine fahle Beleuchtung glimmte auf: grünlich blasses Licht, das auf gekrümmte Wände traf, die von abblätternden Ornamenten verziert waren, in venösem Rot und schmutzigem Gold, von Lilienstielen mit fehlenden Blütenkronen, sternenübersäten Kissen auf leeren Thronen – blauen Astern vor kupfernem Grund, und jetzt sah er, dass er in einem Treppenhaus stand, das wie eine Röhre konstruiert war, und die Ruinen eines geschwungenen Holzgeländers spiralten in beide Richtungen davon. Seine Füße wirbelten kleine Wolken von Staub auf. Langsam ging er nach unten, in eine Ruhe und Verlassenheit hinein. Die ehemaligen Wohnungstüren: alle zugemauert oder mit schweren grauen Platten verstellt. Eine Etage tiefer kam er an einer alten Sitzbank aus schwarzem Holz vorbei, darüber das teils abgeblätterte Wandbild des Morpheus, der mit expressionistisch überzogenem Blick einen Strauß Mohnblüten hielt. Jedes Stockwerk schien tiefer in die Vergangenheit zu führen, bis er ganz unten stand, vor einer Art Steinaltar, aus dessen massivem Sockel die zeitzerstörte Fresse einer teufelsähnlichen Gestalt grinste, die Ohren zu zwei mächtigen Muscheln gewachsen – Klinger verharrte einen Moment davor, wartete, doch alles blieb ruhig. Die Pforte, die wohl in den Innenhof führte: verschlossen. Nicht nur lag ein Riegel davor, auch waren die beiden Klinken 67
derart eng mit einer Eisenkette zusammengebunden, dass man sie nicht das kleinste Stück bewegen konnte. Klinger hörte eine Melodie, weit entfernt hinter irgendeiner Wand ein naives Lied, doch wurde es immer trauriger und verwandelte sich in das Klagen zurück – war dann wieder Musik. Er drehte sich um. Rechts neben dem Treppenaufgang befand sich eine Tür, die er erst jetzt, da seine Augen sich an das Dunkel gewöhnten, bemerkte. Der Kellereingang. Ein Geruch von alter Erde strömte durch die wie schwarz lackierten Ritzen. Klinger drückte die Klinke, doch gab sie keinen Millimeter nach. Die Tür steckte bombensicher im Rahmen, der völlig verzogen war. Da warf er sich dagegen – und sie krachte auf. indes wie blasser Kinder Todesreigen im Wind sich blaue Astern neigen – Der Geruch von Finsternis. Die absolute Schwärze eines Gestanks. Ein Lied – das Klagen – Er blickte Ewigkeiten in diese Öffnung hinein. Ganz langsam lüftete sich das Schwarz. Vorsichtig bildeten sich Strukturen heraus, Helligkeiten – gleichzeitig rückte das Klagen von ihm ab, wurde leiser, als flüchte es vor ihm, und auf dem rauen, nackten Stein der Mauern zeichneten sich schemenhafte Ellipsen ab, in Schwefelgelb und Ochsenblut. Klinger stieg die ausgetretene Treppe nach unten, ging um eine Ecke und gelangte in einen Tunnel. Er hätte eine Taschenlampe gebraucht, tastete sich beinahe blind voran. Dann wurde ihm der Weg versperrt. Nach nur wenigen Metern war der Gang bis zur Decke hin mit feuchter Erde verschüttet – er stand still, atmete laut. Der Erdhügel bebte. Von oben: das Poltern einer Tram. Er tastete, um nach einem Durchschlupf zu suchen, doch es ging nicht weiter. Irgendwann besser ausgerüstet zurückkommen, dachte er und drehte um. 68
Ein schüchternes Licht schien durch die blinden Scheiben des toten Treppenhauses, als er an der Tür zum Annex vorbei weiter nach oben stieg. Ganze Segmente des Geländers waren herausgebrochen, die Türen verstellt oder zugemauert. Ein silbriger Haufen fein gelockter Glaswolle lag auf dem letzten Treppenabsatz, daneben eine Leiter aus rostigem Eisen, die zu einem Durchgang führte, in den weiten, offenen Speicher hinauf. Bar jeder trennenden Wände überspannte der Boden alle Flügel des Hauses. Durch das löchrige Ziegelwerk sickerte Stadtlicht. Klinger sah Fußspuren im handdicken Staub – wie Abdrücke auf dem Mond: die Krone von Adidas: frisch und zu einer weiteren Leiter unter einer Luke führend, dort drehten die Schuhabdrücke und gingen an mehreren Stapeln Neues Deutschland vorbei – Klinger las eine Schlagzeile über Zuchterfolge in der Tierproduktion –, da entdeckte er im Dunkel, und nur wenige Minuten später hätte er es vielleicht nicht mehr gesehen, aufgrund der Wanderung des Mondes, aufgrund der Drehung der Kräne: mehrere Leinen, in einem zimmergroßen Abschnitt aufgespannt und an ihnen hängend wie Wäsche: kleine Quadrate, transparente Papiere, die ein wenig zitterten, als er sich näherte. Ein feiner Geruch ging von ihnen aus, eine Ahnung von Nelken. Er versuchte zu lesen, was auf ihnen stand, doch war die Schrift auf den Innenseiten angebracht, schimmerte durch die dünnen Häute zwar hindurch, war aber nicht zu entziffern. Er duckte sich mit dem Kopf unter der ersten Reihe durch und schaute auf – blasse, verschlierte Zeichen, von Dunkelheit und Zeit verwischt, aber als asiatisch zu erkennen und mit dünner Kreide geschrieben, die alleine unter seinen Blicken sich zu verflüchtigen drohte. Plötzlich begannen die Papiere, ein wenig zu schaukeln. Klinger spürte einen Luftzug, 69
der zwischen Treppenhaus und Dachluke entstanden war, und im gleichen Moment hörte er ein Rucken aus den Tiefen des Treppenhauses und drehte sich um. Wieder hörte er etwas, das nur ein Mensch sein konnte. Er dachte an die Fußspuren. Lief unter den gespannten Papieren hindurch, die jetzt flatterten wie gefangene Tauben, dabei Kreide verloren, im Wind. Das Geräusch kam nicht näher. Es befand sich im toten Treppenhaus, steckte dort fest. Klinger ging zum Ausstieg und lehnte sich weit über das morsche Geländer, schaute nach unten, wo es jetzt heftig polterte, da zwei Stockwerke tiefer, gegen den schweren Widerstand einer dicken, grauen Kunststoffplatte, eine der verbarrikadierten Wohnungstüren vom Seitenflügel her aufgedrückt wurde, und heraus trat ein Mann in taubenblauer Hose und billigem Hemd, das über dem Bauch mit einem rotbraunen Bügelflicken ausgebessert war. «Ist da jemand?» Der Mann schaute in Richtung Speicher. Glupschaugen, von einer ewig dicken Brille ins Kabaretthafte verzerrt. Klinger lief nach unten, stellte sich vor. «Ach soo, Sie wohn da im Vorderhaus. Heiße Erben. Wohne hier seit 76 Jahrn. Seit ick jeboren wurde, sozusagen.» Ein kindliches Lächeln schmiegte sich in das verwahrloste Gesicht des Alten, und er streckte Klinger eine brotige Hand entgegen. «Da oben is ja öfta jemand. Aber ick dachte schon: Diesmal hört sichs anders an. Ick kenn doch die Fußtritte jenau. Kenn allet hier im Haus jenau. Also hab ick meine Hintertüre uffjemacht. Wird ja selten benutzt, so ne Hintertüre, wa?» Er kicherte. «Das letzte Mal, dass ick det jemacht habe, is bestimmtn paar Jährchen her.» «Was meinen Sie damit: da oben ist ja öfter jemand?» «Oh – det müssense jemand anders fragn –» Der Mann 70
hatte das Emblem der Zivilverteidigungsjacke bemerkt und starrte darauf. «Ick hab damit jedenfalls nüscht zu tun, überhaupt nüscht. Det wurde mir von den Herren damals erklärt, und daran halt ick mir. Ick weeß jarnich, wieso ick jetz die Tür uffjemacht habe, wohl die Langeweile, verstehen Sie –» Schweiß stand auf seiner Stirn wie Fettperlen in einer Pfanne. «Welche Herren?» «Ick will hier weg», entgegnete Erben müde. «Einfach nur noch hier raus und nüscht mehr damit zu tun haben. Kennse nich jemand, der ne Vierraumbude haben will und mir wat Kleeneret tauscht, ne Vollkomfortwohnung mit Nasszelle im Jrün vielleicht, mit U-Bahn-Anschluss? Ick beklag mir ja nich über die Rente. Unser Staat macht ne Menge für Anjehörije von Opfern des Faschismus, det will ick jarnich bestreiten. Aber ick brauch doch nich so viele Räume, det muss doch einleuchten, wa?» Erben pauste und schnaufte. «Vielleicht muss ick ma den Jang nach Canossa antretn. Zur KWV, mein ick. Hamse da nich Vitamin B vielleicht? Ick bin ja Jenosse, immer jewesen, aber der persönliche Kontakt zu den Leuten an den Formularn, der hilft doch immer, oda?» Klinger antwortete nicht. Erstaunt betrachtete er seinen Nachbarn in diesem runden Treppenhaus, das von den Zeiten vergessen das Haus durchragte, scheinbar ohne Verbindung nach draußen. Ein alter Mann mit allen Folgeschäden, unter Zuständen leidend, auf die man sich in langen Jahrzehnten eingerichtet hat. Ein Gespenst, das sich über nichts mehr wundert – die plötzlich auftauchenden, andauernd wechselnden, alles beherrschenden Werbetafeln, die haushoch über Baugerüste gespannt werden – die permanent neuen Produkte in den Läden, die neue Währung –, all dies erklärt er sich mit Reformen, die das oberste Gremium der Partei ja seit Jahren 71
schon ankündigt. Ein Mensch, der überwiegend zu Hause ist, in seiner geräumigen Wohnung, in der er langsam durchdreht, die er immer seltener verlässt – wo er mit dem Kanarienvogel redet, seine Kleidung notdürftig flickt, weil der Schneiderbetrieb einer Reste-Rampe weichen musste. Der schon lange keine Freundschaften mehr pflegt, weswegen diese tatsächlich versiegen, keinen Vorgesetzten mehr hat, niemanden mehr, mit dem er redet, nicht einmal Fernsehen mit seinen immer blödsinniger werdenden Shows. Der keine Lust mehr hat selbst auf Zeitungen, diese immer gleichen Verlautbarungsorgane. Ein Mann, der Invalidenrente bezieht, sich hin und wieder freut, wenn er tropische Früchte im Obst & Gemüse auf der anderen Straßenseite bekommt, den neuen Waschsalon im Anbau des Hauses nutzt, so ein schlampiger Betrieb mal wieder, wo immer noch nicht die Waschmaschinen beigeschafft wurden, nur die Trockner stehen schon da, und einmal schafft er’s sogar bis zum Alex, um im Zentrum Warenhaus ein neues Geschirr zu kaufen, und er sieht die Michael-Jackson-Statue auf der Saturn-Filiale und wundert sich nicht, weil er glaubt, es ist der junge Lenin «Wat starrense denn so?», fragte Erben aggressiv. «Ick hab mir nüscht vorzuwerfen! Überhaupt nüscht. Dann zeigense mir doch Ihren Ausweis, wennse zur Firma jehörn. Aber bei mir werdense nüscht finden, jarnüscht!» «Alles in Ordnung.» Klinger lächelte seinem Gegenüber zu, dessen Augen in weiter Ferne lagen, weit hinten in seinem Kopf versunken, hinter den parabolspiegelartigen Glasaufsätzen seiner Brille. «Wirklich – Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Schönen Tag noch.» «Schönen Tag», nickte Erben, dann trat er einen Schritt zurück und schloss die Tür, die sich vom Grauton her akkurat passend in die Wand des toten Treppenhauses einfügte, so72
dass sie kaum noch zu sehen war, nur eine Andeutung von Ritzen. Klinger schob die schwere Platte davor und ging eine Etage nach unten.
11. OKTOBER Nacht
«Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?! Versprichst mir den perfekten Moment und so. Weckst diese Sehnsucht, die so schnell in Bösartigkeit umschlagen kann oder in Trauer. Seelenfänger!» was soll ich mit deiner seele? habe ich mich jemals an deiner seele vergriffen? das einzige, was mich interessiert, ist dein körper. «Was meinst du?» das ist der preis für die informationen, die ich dir zukommen lasse, dein körper. dir ist doch die ganze zeit über klar, was hier passiert. du packst es bloß irgendwohin weg. saubere arbeit, mein freund. Klinger wachte auf. Der Geruch eines brennenden Sumpfes, irgendwo im hinteren Trakt. Über Stahlplatten, die zur Ausbesserung der Straßen verwendet werden: polternde LKWs. Schwarze und weiße Kiesel hinter den hervorgebrochenen Wandleisten der vorderen Räume. Kopulationsbewegungen in allen Häusern ringsum. Tausend Donner erschallen, sind aber nicht zu hören – 74
Er lief in Richtung Bad, weil er sich die Träume abwaschen wollte, es ist ja niemand wirklich böse, aber alle sind krank, und deshalb gibt es medi – er blieb stehen. Sofort war alles still. Dann bewegte er sich wieder, das linke Bein, machte einen Schritt – niemand weiß,, wie süß und willko – er ging weiter, der Stimme hinterher, ein, zwei Meter den geknickten Gang entlang – der morgen sein kann, wer nicht unter der nacht geli – blieb stehen, und der Satz verstummte – öffnete die Tür zum Annex – es ist gut, glaubs mir – blieb stehen: alles ruhig – drehte sich um – du bist nicht verrückt – Er zündete eine Zigarette an, schüttelte den Kopf – glaubs mir: besessen zu – bewegte sich dahin, wo die Worte herzukommen schienen: dort, neben dem Eingang ins tote Treppenhaus, wo eine weitere Holztür sich befand, die er frei räumte und öffnete. Klinger blickte in eine winzige Kammer hinein. Regale an der Wand, aus denen alte, verlebte Kleider quollen. Auf dem Boden ein Kästchen aus Holz. Und wirklich war hier am allermeisten zu hören, wenn auch einzelne Sätze nicht voneinander unterschieden werden konnten – der gesamte Raum war ein Geräusch – ein gestauchtes Schreien, das sich an den Wänden brach oder, von Kleidern verschluckt, als Staub wieder ausgespuckt wurde und immer dichter sich überlagerte, sich selbst übertönte und auslöschte: unaufhörlich: eine ganz und gar brennende Stille: das beinahe sichtbare Knattern von Worten, ohne dass er sie hätte verstehen können, und Klinger drehte sich um, weil es schien, als riefe ihn jemand – und konnte gerade noch ausweichen, um nicht an ein Mikrofon zu stoßen, das erstarrt über einem Haken hing, in der Atmosphäre verankert, mit dem Kopf nach unten – besessen zu sein – und es war jetzt, als würden die Worte aus 75
einem die Kleiderkammer verlassenden und sich langsam durch den Annex bewegenden Wirbel herausgeworfen, der Sätze wie Spiralarme im Raum – der schläfer ist erwacht – verteilte – komm jetzt hoch – ein Lachen – komm – Klinger stieg die Handwerkerleiter nach oben, in nichts als Geometrien hinein. Im Licht einer vorbeifahrenden Tram war der Annex, indem die Straßenbahn-Fensterunterteilungen über ihn hinwegglitten, ein Raum aus Schatten, der einen Schatten warf, der einen Schatten warf, der einen Schatten warf – Zwei Diodenpunkte im Dunkel des hinteren Höhlenwinkels, dort strömte sein Zigarettenrauch hin. Rauschen. ich muss rauchen. Klingers Hirn fühlte sich heiß an und als schwappe es in seiner Schale hin und her. niemand weiß, dass ich – ist praktischer für mich – mein Weggang Dann war es still. Klinger wartete. – nur vorgetäuscht – Ja? Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel und suchten nach einer Quelle, einem Endlosband, das noch spielte, nach einer Übertragung irgendwelcher Art – ich habe nicht aufgegeben! ich will diese gegend wiederbeleben, stück für stü – er kletterte in die Schlafhöhle hinein, und wie er sich in deren spitz zulaufende Ecke begab, die in Richtung der Kreuzung lag, hörte er – und musste ganz still halten, um die Worte nicht sofort an ein Rauschen zu verlieren: klänge entwickeln, die unterhalb der hörbaren grenze liegen. unterhalb von 20 hertz, subsonische effekte. infrasoun – er hatte nur den 76
Kopf gedreht, sofort war die Stimme verschwunden – aber tauchte dann, als er seine Ohren wie Antennen durch den Raum bewegte, wieder auf – effekt entsteht durch unanständig unangenehme überlagerung von wellen verschiedener nichthörbarer töne – eine Tram fuhr vorbei – Wirkungen auf den Konsumenten, dem sein konsumentenverhalten gar nicht bewusst ist in diesen momenten – ein Presslufthammer irgendwo – zu ungebührlichem verhalten führen, zu erbrechen, Zusammenbrüchen – heftigen muskelkrämpfen, epileptischen anfällen. die militärs der welt erforschen dies seit langem. sie setzen es ein. von der kriegerkaste lerne – Klinger schaute zur Seite. Wieder bemerkte er, dass sein Zigarettenrauch in eine ganz bestimmte Richtung zog, in den hintersten, in völliger Dunkelheit liegenden Winkel – chreiben killer-geometrien in die luft, kommerziell verwertbar afferhöchstens in einer gesellschaft der masochist – mit gebeugtem Kopf, um nicht an die Decke zu stoßen, tastete er weiter und bemerkte vor sich die Wand – die Stadt – wird fertig gemacht! die menschen – werden fertig gemacht, wir haben eine Verantwortung für den raum, in dem wir leben, findest du nicht?! «Die Leute erklären doch, es geht ihnen ganz gut grade», dachte Klinger, wie um eine Antwort zu formulieren, und sofort kam eine Replik, leise, kaum zu hören, an den Grenzen seiner Imagination: die leute müssen an einer funktionalität teilnehmen, die sie gar nicht wollen. sie bauen sich ihr lager hier, unbewusst. wie die hummer im feinschmeckerbecken steigen sie in der mitte übereinander, in einer ewig andauernden, beklemmenden szenerie, mit ihren zusammengebundenen scheren, hier, es steht sogar in der hauptstadtpresse, in feuilletons, in kolumnen – Klinger sah einen Zeitungsausschnitt an der Kopfseite des verkokelten Matratzenflecks:« Frankfurter Allgemeine Zeitung», 1. April, Berliner Seiten: Zerstörung von Mitte: 77
Sprengung transzendierender Denkakte durch massiven Geldeinsatz. Dabei war Mitte als Überwindungs-Raum der Deutschen vorgesehen – alle spürten das, die Vorjahren hierher kamen. Doch es wird verbaut. Verelendung bricht hernieder, durch materiellen Wohlstand. Dieser Raum, den die Gerechtigkeit der Entwicklungen uns einräumte, unserer Vorstellung, die keine Grenzen kennt: wird zerstört. wird vercocktailisiert – das ist jetzt von mir das fetzte wort – doch ich habe nicht aufgegeben! ich will diese gegendwieder beleben, stück für stü – Klinger fühlte sich schwach. Er schaute runter in den Annex, wo im Dunkeln der nagelneue Technics funkelte – und glaubte, im gleichen Moment zu hören: danke fur den verstärker. produkt des Krieges, sehr schön, wird eingebaut, komplizenschaft entsteht – «Was für eine Komplizenschaft?» das haus liegt strategisch günstig, es ist da hingestellt worden für unseren zweck, drum herum tobt es und stirbt es, und die weißen flammen des brandes züngeln schon bis zu unseren knien, aber wir halten ihn besetzt, den archimedischen punkt des systems, wir spülen den infrasound von hier aus direkt in die Straßen, auf die insel und zum alex. wir transportieren den sound – daran habe ich die letzten nächte gearbeitet – über die hochspannungsleitungen der trams – wir lassen sie vibrieren: auf tieffrequenzen schwingen, wodurch sich der sound durch das gesamte Streckennetz pflanzt, wir bauen ein riesiges instrument und greifen von hier oben direkt in die stadtatmo ein. bis zum umfallen werden wir kämpfen – du hast doch keine angst? hör zu: für einen angriff bleibt noch genügend zeit – was hältst du von einem projekt namens so nie? Klinger kletterte die Leiter nach unten. In seinen Ohren dröhnte es. Er setzte sich auf den Balkon und rauchte.
13. OKTOBER Morgen
Das Haus: sein riesiger, hallender, in Treppen, Etagen und Räume unterteilter Schädel, der auf der Halskrause der versiegelten Stadtoberfläche saß, während Torso und Beine tief in der Erde steckten, drunten im Sumpfland, wo es feucht und grünblau brannte. Klinger betrachtete die entwickelten Fotos aus dem Annex, die leicht verknittert waren, weil er auf ihnen gelegen hatte: Partyszenen, tanzende Menschen in einem Flammenmeer – die üblichen Gesten und Blicke. Eine kreidebleiche Maske mit schwarzen, höhligen Augen, Atemlöchern – Frauen in knappen Kostümen, mit großformatigen Sonnenbrillen oder nackt – Wie eine Brausetablette im Glas löste die Nacht sich jetzt auf. Blaues, schäumendes Licht kam aus jedem Gegenstand, strahlte von den Häuserfassaden ab und entströmte den Körpern, die um diese Zeit die Kreuzung passierten. Klinger ging in die Küche, klöppelte Milch, drückte Kaffee durch und drehte das Radio laut. Ein Ohrwurm. Man sah ihm nichts an. Der Duft von Milchkaffee war nun sehr stark. Er tat Zucker hinein und trank, dazu rauchte er eine Zigarette und schaute dem Dunst nach, den weißgrauen Schlieren. 79
Eine Viertelstunde später saß er an der Bar im Nadine, um sich ein wenig abzulenken, bevor er zur Arbeit musste. Er trank eine Luxemburg – da hörte er und drehte sich um: «Hab ich das richtig gesehen, dass du den Hals einfach ab-
gebrochen hast?» Auf einer benachbarten Rakete saß ein Mann in schwarzer Anzughose und weißem Leinenhemd, die Haare kurz und seitengescheitelt, ein Lächeln in den hellgrünen Augen. «Einfach abbrechen», Klinger nickte. Dann erzählte er von Bonz, und sie gerieten in ein morgendliches Gespräch, das einen Bogen schlug von legalen und illegalen Drogen über Singspiele und Carl Maria von Weber zu sozialen Dramen und Hauptmann, zu Wagner und dem Fliegenden Holländer. Schließlich fragte Klinger: «Ich weiß, dass es seltsam klingt – aber glaubst du an Geister?» «Du meinst Gestorbene, die –?» «Im Gemäuer sitzen und nicht gehen wollen, auf der ständigen Suche nach Erlösung – genau.» Der Typ lächelte und gab Klinger die Hand: «Roger Bundschuh, Architekt. Das sind Fragen, mit denen ich mich ebenfalls auseinander setze, wenn ich auch andere Begriffe dafür verwende, nicht?! Ich kann dich da jedenfalls vollkommen beruhigen. Es gibt keine Geister, nur Thermik. Doch urbane Winde können mitunter recht komplex werden – hast du von Schlossspuk in Schottland gehört? Dort kommt es häufiger vor, dass Besucher alter Anlagen behaupten, Stimmen wahrzunehmen, oder leichte Berührungen vermelden, auch wenn niemand in ihrer Nähe ist. Mit Hilfe von Messgeräten wie Infrarotkameras und allem Möglichen wird dann versucht, dem Phänomen auf die Schliche zu kommen, und jedes Mal wird irgendeine rationale Erklärung entdeckt. Gespenster sind reine Klang- und Frequenzabsonderlichkeiten, nicht? Auf80
grund der Konstruktion eines Raumes kann die Luft schon mal brechen und hallen, das wird dann als Geist interpretiert – ich hätte gerne auch so eine Luxemburg. Vor allem, wenn Gebäude wenig genutzt werden, dann entsteht leicht eine stationäre Brise, die sich schon mal eine Weile lang halten kann, wenn sie aufgefrischt wird. Cheers –»
Fechter-Schmidt zeigte ihm sein heutiges Einsatzgebiet, das zu seiner Überraschung in einer neu eröffneten Filiale namens Allet watt du brauchst lag, die der Konzern ausgegliedert und in einem nahen Anbau eingerichtet hatte, schräg unter dem Turm des Forum-Hotels. «Hier befinden sich jetzt die Kurzwaren, außerdem die Leuchtmittel, Werkzeuge und Batterien. Alles Dinge, die leicht in Manteltaschen fallen. Alles Produkte, die überdurchschnittlich häufig entwendet werden, was wir mit dieser Ausgliederung zu unterbinden suchen.» Fechter-Schmidt steckte in einem tannengrünen Kostüm, das tatsächlich nach Nadelwald roch. «Wir rechnen damit, durch diese unerwartete Produktauslagerung einige unserer Stammdiebe zu überraschen und aus dem Haupthaus hierhin abzuziehen und leichter dingfest zu machen», sagte Fechter-Schmidt, während sie nebeneinander und beinahe wie Strauße im Gleichschritt einen blitzenden, unfassbar sterilen neuen Verkaufsraum betraten, in dem die Produkte überhell angeleuchtet waren und einen durchaus unberührbaren Anschein vermittelten. «Hier drin werden sich einige die langen Finger verbrennen, davon gehen wir aus», sagte sie, während der Nadelwaldgeruch unangenehme Assoziationen in Klinger weckte, ihn an seine Geburtskleinstadt er81
innerte, die zwischen mehreren Großwäldern eingekeilt lag. «Kameras haben jeden Winkel im Blick, und wir haben uns entschieden, Sie zusätzlich abzustellen, um die notwendigen Festnahmen zu vollstrecken.» Dann ließ sie ihn allein, und binnen ganz kurzer Zeit wuchs die Einsamkeit ins Monströse, da sich überhaupt kein Kunde hereinwagte, und auch die Anwesenheit des Kassierers, der ölgötzenhaft vor seinem Geldverwahrungskonglomerat verharrte, eingepackt in Warenhausuniform, einem billigen, dunkelblauen Frack über dunkelblauen Hosen, mit Warenhauskrawatte auf weißem Hemd, brachte keine Abwechslung oder Erleichterung, im Gegenteil, und Klinger entfernte sich, so weit es nur irgend ging, von seinem leise immer wieder das Telekom-Jingle pfeifenden Kollegen, um in einem hinteren Winkel des Allet watt du brauchst unterzutauchen, in einer Sektion, in der Gartenwerkzeuge feilgeboten wurden, doch auch dort kam er nicht zur Ruhe, da aus billigen Lautsprechern, die in den Zweigen eines künstlichen Baumes angebracht waren, immer wieder dieselbe, alle Klarheit übertönende Durchsage erschallte: «Das beste Gartengerät, das ich je benutzt habe, ist jetzt noch besser geworden! Die Gartenkralle Gold. Damit ersparen Sie sich nicht nur das schmerzvolle Bücken und Heben, sondern Sie sparen auch wertvolle Zeit. Und jetzt neu: Die Gartenkralle Gold kann Ihrer Körpergröße angepasst werden. Die Gartenkralle Gold! Mit 5-Jahre-Garantie. Das beste Gartengerät, das ich je benutzt habe, ist jetzt noch besser geworden. Die» – Klinger blickte nach oben und sah drei Kameras, die ihn beäugten. Er bewegte sich einen Schritt zur Seite, die Kameras gingen mit. «– sondern Sie sparen auch wertvolle Zeit. Und jetzt neu» – Er hatte keine Ahnung, wie er dies die nächsten siebeneinviertel Stunden überstehen sollte. Um sich abzulenken, wid82
mete er sich der hübschen Auswahl an MacLite-Taschenlampen, die am Rande der Gartenabteilung blitzend und in verführerischen Farben in einem Regal aufgereiht waren und suchte sich eine anthrazitfarbene heraus. «Mit 5-JahreGarantie. Das beste -» Während des gesamten Tages kamen etwa ein Dutzend Leute ins Allet watt du brauchst. Niemand kaufte etwas. Alle schlurften missmutig durch die Gänge und starrten immer wieder einen unmöglich in Grün und Orange gekleideten, einem geübten Auge sofort als Warenhausdetektiv erkennbaren Klinger an, der ständig zwischen den Lautsprechern im Gartenbereich und der erbarmungswürdigen Visage des krawattierten Kassierers hin- und herpendelte wie zwischen zwei Polkappen, die ihn gleichermaßen abstießen – ein menschliches Jo-Jo.
16. OKTOBER Tag
Er hörte, im Traum: Hilferufe – schweißgebadet wachte er auf: Will nicht: muss. WILL NICHT: MUSS!! hilfe! helft mir! helft mir doch endlich verdammt! «Kannst du nicht endlich mal die verfluchte Musik leiser drehn?!»
Vor dem Fenster ein Ratschen, als würde der Asphalt von der Straße geschürft. Als würde ein gigantischer Schorf einfach von einer Wunde gerissen. Die Kunden der Metzgerei Annus liefen zu den Fenstern. Der hintere Wagen einer Straßenbahn war nach links in die Abstellschlaufe eingebogen, aufgrund eines Weichenfehlers vielleicht, und wurde mit aller Kraft von der in Richtung Synagoge strebenden Lok aus der Spur gezogen – sodass er entgleiste – und herumschnellte, um seinem Vorderteil noch hinterherzukommen, dabei eine Abkürzung nahm, über ein kleines Dreieck zwischen Abstellschlaufe und Straße kratzte, wo verloren die Sekretärin der Zoo-ologischen Genossenschaft stand und, anstatt die Schienen zu überqueren, völlig fassungslos das ihr entgegenpeitschende, fünfund84
zwanzigtausend Kilogramm schwere Monstrum anstarrte, in ihrer Einkaufstasche Tomaten, rote Paprika, Orangen – ein Schrei, das Aufschlagen ihres Kopfes auf Asphalt: KLACK – die Tasche entleerte sich, ein blutender Teich sofort, während das Klingeln der zum Stillstand gebremsten Tram überhaupt nicht mehr aufhören wollte, sich an den Häuserwänden brach, sich selbst überkletterte und nach wenigen Momenten wie rasendes Glockengeläut klang, während der Fahrer aus seiner Kabine sprang und zu der Verletzten rannte, um ihr irgendwie zu helfen – ratlos die Hände über dem Kopf zusammenschlug und wieder zum Führerstand lief und zurück zur Frau, dann endlich löste er die Blockierung der Türen, die Passagiere strömten nach draußen, bewegten sich auf die regungslos Liegende zu, manche von ihnen schreckten zurück, Handys wurden gezückt, während aus dem ersten Stock des Hauses ein rötlicher Schimmer strahlte – bald war eine Sirene zu hören, doch mehrere Minuten dauerte es noch, bis der Operationswagen der Feuerwehr durch den sich weithin stauenden Verkehr gedrungen war, mehrere Minuten lang nur die nervenaufreibende Sirene in den Gassen, dann hielt der Wagen ruckend und so nahe es ging, ein Sichtschutz aus hellgrünen Tüchern wurde aufgespannt, hinter dem man Silhouetten jetzt hantieren sah, die auf offener Straße am offenen Schädel operierten, während der Straßenbahnfahrer noch immer hin und her lief, bis er von einem Helfer auf eine Bahre gelegt und neben den Schienen abgestellt wurde, anästhesiert –, und nun wurde die Dame in die Höhe gehoben, vorsichtig, die Bewegungen der Sanitäter äußerst behutsam, um ja keine zusätzlichen Verletzungen zu provozieren – wurde sie unendlich langsam in den Wagen getragen, die Türen schlossen unhörbar, und tastend fuhr der Kasten davon. Ein Feuerwehrmann blieb zurück. Entriegelte einen im V-Ausschnitt der 85
Straßenecke stehenden Container, entnahm eine Schaufel und schippte die zurückgebliebene Lache leicht mit Sand zu, der das Rot notdürftig band. Dazu die Arbeit eines Hebekrans im Hintergrund, das umgefallene Hinterteil der gelben Tram: sachte hob er es an – keine rückzugsrechte – keinerlei rückzugsrechte. du musst erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen – Es klingelte an der Wohnungstür. Klinger lief ins Badezimmer, weil ihm übel war. Es klingelte. Er hangelte sich zum Arzneimittelschrank, sah sich nicht in der vagen Spiegelung und öffnete das Röhrchen mit den Meprobamat, die nur für Notfälle vorgesehen waren. Ließ sich drei, dann vier davon in die Hände purzeln, schluckte – Klingelte – Vor ihm stand ein Handwerker in einem blauen, mit dem Wort WUSTRACK beschrifteten Overall, einen stählernen Werkzeugkasten in der rechten Hand. «Komm von der Hausverwaltung. Soll det Schloss anbringn.» Er hielt Klinger ein blitzendes Bügelschloss unter die Nase. « Für die Abstellkammer.» «Welche Abstellkammer?» «Soll niemand mehr dran, an irgendwelche Sachen. Hat man mir gesagt. Keine Ahnung – ist mir egal.» Klinger trat einen Schritt zurück. Fest entschlossen, den Annex zu verteidigen. «Wo?» Der Handwerker stand vor der Schwelle des vorderen rechten Raumes und ließ seinen Kasten zu Boden. «Hier hinten, ich zeig’s Ihnen, kommen Sie mit -» Klinger lief den lila gestrichenen Flur entlang. Dann deutete er auf die ehemalige Speisekammer, einen winzigen Raum zwischen 86
Küche und Berliner Zimmer, gerade mal einen guten Meter hoch, darin verstaut: zwei Kokosnüsse, ein halber Sack Reis, leere Kartuschen und Flaschen. «Alles klar, das kriegt hinterher keiner mehr so schnell auf. Das machen wir dicht.»
Sophia saß auf dem Beifahrersitz eines silbern blitzenden TTs mit Kennzeichen SE-NF, der einen Skisarg auf dem Dach trug. Sie gestikulierte wild. Klinger stand am Fenster und betrachtete sie bei ihrem Einsatz in äußerster Grenznähe, was sicher nur deshalb funktionieren konnte, weil sie einen Schutz aufgebaut hatte, gegen allzu gedrängte Nähe, einen Schutz vor der wahren Penetration, vor dem Kunden, dessen Begierde nichts anderes war, als in genau diese Zone, diese Sphäre, ihre unstrukturierte Mitte vorzustoßen, wo er zuvor nicht sein durfte – und bei diesen Überlegungen prallten auf Klingers Netzhaut tatsächlich die beiden Hälften der Stadt aufeinander, um sich in einem Geschäft, einer Kommunikation zu vereinen – wobei die Geldhaftigkeit der Beziehung sicher eine Distanz zwischen Nutzer und Hure schob und die Liebe gleichsam beiseite drückte, so hoffte er, und in dieser Distanz, die er imaginierte, konnte er Sophia so dunkelgolden strahlen sehen: so seelenhaft, dabei in der Triebhaftigkeit, der Weltlichkeit verankert, was ihr gut stand, und er bemerkte ganz ohne Verwunderung die völlige Abwesenheit von Eifersucht gegenüber jenem beanzugten Audi-Fahrer, der sich rege mit ihr unterhielt, während sie den schwarzen Plastikschutz vor dem Sichtfenster auf ihren Bauchnabel hochklappte, eine kleine Vorschau bot, um sich dabei eine Zigarette zu drehen. 87
jede nacht reißt uns auseinander, aber jede nacht bringt uns auch näher zusammen, weil das, wonach wir uns wirklich sehnen, noch immer nicht eingetreten ist.
17. OKTOBER Später Nachmittag
«Kommen Sie herein, im Hausflur wird es zu kalt. Gussow, mein Name, Professor Gussow.» Die Glatze des Mannes zeigte einen pulsierenden Adernbaum, als Klinger vor der geöffneten Tür der Zoo-ologischen stand, um Kondolenz zu erweisen. Sie liefen einen tafelgrünen Linoleumflur entlang, links eine verwaiste Garderobe, rechts ein verkrusteter Wasserhahn ohne Becken, dann betraten sie ein farbloses Büro, das genau unter dem linken vorderen Zimmer des Baus lag. Aschfarbene, kunstlederüberzogene Sessel. Auf dem Furniertisch stand eine Schreibmaschine der Marke KOSMOSMOTOR. Wimpel verschiedener Betriebe hinter einer zugeschlierten Glasvitrine – und durch die Fenster zeigte sich ein ähnlicher Blick wie vom zweiten Stock, doch war alles verschleiert von fadenscheinigen Gardinen, die so dünn waren, dass sie in Momenten, in denen eine höhere Dosis Licht von draußen hereinfiel, beinahe verschwanden, um dann, wenn eine Wolke sich vor die Sonne schob, wieder aufzutauchen und eine Szenerie unter Ausblendung allen Glanzes durchzulassen: die Auslage des Obst & Gemüse fade und kahl, die Möhren, der Sellerie, die Gurken aus dem Umland – bleichgesichtige Menschen in engen Anoraks mit schlaffen Stoffein89
kaufstaschen, Kohlehaufen vor den Hauseingängen, dazu die schlechte Schallisolierung der Fenster und ein überlautes Rattern der Bahnen – gehäkelte Deckchen auf dem Konferenztisch. Gussow wirkte nervös. In seinen Augen ein irrer, dabei matter Blick, und ganz schleichend war im Raum eine Art Verhörsituation entstanden, wobei völlig unklar blieb, wer hier wen verhörte, und um irgend etwas zu sagen, fragte Klinger, wie es seinem Gegenüber so gehe am heutigen Tag. «Ich bin müde», antwortete der Professor und goss sparsam Mineralwasser in zwei zu kurz geratene Gläser. «Der Verlust ist sehr groß. Meine Sekretärin war die einzige Person, die über meine Arbeit unterrichtet war. Der einzige Mensch, mit dem ich –» «Was ist denn Ihre Arbeit?» Klingers Gliedmaßen füllten den unbequemen Sessel vollkommen aus, während er durch die halb offenen Holzflügeltüren in das Berliner Zimmer der Zoo-ologischen schaute, wo eine Art raumausfüllende Batterie aufgebaut war, zusammengesetzt aus quadratischen Segmenten enger Drahtgitterstrukturen. «Was sind das für Käfige?» «Ach so, ja, ich» – Gussow hustete – «züchte Spinnen, kubanische Giftspinnen: Phormictopus cancerides. Ein alter Forschungsauftrag, den ich noch nicht zu Ende geführt habe.» «Wie sind Sie denn dazu gekommen?» Klinger lachte verwundert. «Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für die Exotik von – wie sagte man bei uns – Weltall, Erde, Mensch.» Gussow öffnete eine Schublade und nahm einige Unterlagen heraus. «Und da geraten Sie an Spinnen?» «Mein erstes größeres Projekt lag in der Kultivierung von Mangos», antwortete Gussow. «Damit begann ich in den 70er 90
Jahren, aus reinem Idealismus. Blumenduftmangos. Das gab es damals nicht einmal in den Warenhäusern des Westens. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, mich dadurch in Widerspruch zur allgemein zu befürwortenden Schlichtheit der sozialistischen Umgebung zu setzen. Ich war blauäugig, sicher.» Gussow verzog das Gesicht, der Adernbaum trat hervor. «Sie bekamen Schwierigkeiten wegen Mangos?» «Bereits in der Frühphase meiner ordnungsgemäß angemeldeten Arbeiten richtete die Staatssicherheit auf dem Dachboden dieses Hauses ein Fahnenlager ein. Ich bekam deutliche Zeichen und spürte die drohende Westabschiebung. Dann wurden mir die Phormictopus nahe gelegt, und ich willigte ein.» «Gefährlich?» Klinger nickte in Richtung Berliner Zimmer. «Sicher», Gussow führte sein Glas an die Lippen und befeuchtete sie. «Und Sie erforschen die immer noch?» Klinger bemerkte, wie sich ein Moskito auf seinen Unterarm setzte, und schlug danach – eine rote, fremde Spur, verklebt auf seiner Haut. «Ja, ja», Gussow lächelte verträumt. «Ich bin tief eingetaucht. Ich hatte ja von Anfang an meine eigene, ganz spezielle Idee und fiebere seither jenem Tag entgegen, an dem deutlich zu sehen sein wird, was ich zu verwirklichen suche. Jeden Tag überprüfe ich die rötlich braunen Rücken meiner Kreaturen, wo sich mehr und mehr helle Punkte und Striche abzeichnen, die mit jeder Generation deutlicher Hammer und Sichel zeigen, auch wenn die Maserung noch nicht vollkommen, noch nicht richtig zu erkennen ist.» Gussow räusperte sich. «Wobei ich den Kampf gegen die Uhr leider verloren habe, denn früher war es mein Ziel, die Spinnen zur Infiltration bestimmter Zielobjekte zu verwenden: westlicher Geheimdienstzen91
tralen, kapitalistischer Medien-Konzerne und Ähnliches. Im ganzen Haus hier wollte ich Terrarien aufstellen, in jedem Raum, auf jeder Etage, unter hoher Spannung gesichert – um sie irgendwann freilassen zu können, meinen Sack voller tödlicher Informationen: mein MASTERPLAN», Gussow strahlte: «Sie überziehen von diesem Haus aus das Nervenzentrum der IMPERIALISTISCHEN BRD, impfen es mit ihrer Botschaft – denn überall, wo man hinschaut: meine Spinnen!» Klinger entgegnete nichts und suchte nach Zigaretten. «Jetzt will ich nur noch das Hammer-und-Sichel-Zeichen perfektionieren. Auf ein anderes Symbol umsteigen, das geht nicht mehr. Ich hatte fünf Jahre veranschlagt, doch es dauert länger, wesentlich länger. Aber sagen Sie mir bitte: Woher ist diese Jacke, die Sie da tragen?» «Hab ich im Zimmer meines Vormieters gefunden. Kannten Sie ihn?» «Ja, ja», Gussow nickte.« Seine Musik war immer sehr laut. Ich war mir nicht sicher, welche Auswirkungen das auf das Wachstum meiner Spinnen haben würde. Aber ihm war das egal.» «Haben Sie sich mit ihm gestritten?» «Des Öfteren», antwortete Gussow. «Er war ein unberechenbarer Mensch. Dass er Drogen genommen hat, das wissen Sie?» «Drogen?» Klinger schaute auf die Käfigbatterie im Nebenzimmer, die leise summte. «Was für Drogen?» «Er hat Drogen genommen, bis zum Schluss. Drogen, verstehen Sie nicht?!»
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Ein feiner weißer Schleier kroch die Straße entlang und auf den Markt zu. Als er das Haus erreichte, breitete er sich um die Grundmauern herum aus, stieg nach oben und verschluckte die Etage der Zoo-ologischen. Die Passanten verschwammen, die Huren aber blieben deutlich zu erkennen an ihren Silhouetten, die wie aus Karton geschnitten wirkten. das haus wächst mir immer mehr übers herz. Drogen – irgendetwas hatte er gesehen letztens, irgendein Bild, dem er nicht weiter nachgegangen war. Er versuchte sich zu erinnern, doch war er selbst auf starken Mitteln: die Nebel der Schlaftabletten, darin spazierte er durch das Berliner Zimmer, unter ihm die Spinnen der Genossenschaft, beinahe fühlte er sie krabbeln, immer wieder gegen Käfigwände stoßen – er ging in den Annex, schaute sich um, und plötzlich wusste er wieder – öffnete die Tür der Kleiderkammer und leuchtete hinein. es ist ja niemand wirklich böse. aber alle sind krank, und deshalb gibt es medizin. Auf dem Boden stand ein Kästchen aus Holz, der Deckel mit floralen Mustern verziert, das Innere ausgeschlagen mit schwarzem Samt. Drei, vier, sechs, acht – vierzehn – achtzehn Ampullen mit hübschem, kleinem, von Linien in den Farben des Regenbogens umrandetem Etikett: KETANEST. 50 mg/ml. Wirkstoff: Ketamin-HCl. Nicht verbrauchter Inhalt ist zu verwerfen. was mir gehört, gehört auch dir. hast du lust? Klinger drehte sich um, starrte zur Schlafhöhle hin. was für eine unglaubliche chance: zerstört zu werden – um sich zu finden – Er stieg die Leiter nach oben. Zwei Diodenpunkte leuchteten im Dunkel des hinteren Höhlenwinkels, wieder strömte 93
dort sein Zigarettenrauch hin. Und plötzlich glaubte er, dass es Augen seien, unfassbar rot und in einem Gesicht, das sich vom Hintergrund kaum unterschied, gleich wieder eins wurde mit ihm, sich dann wieder abhob: Augen in einem dunkellila Gesicht, die schwarze Öffnung eines Mundes, kaum belippt, der Schädel kahl – lust auf ein gift? «Wer bist du?» ein möbel aus dem 20. Jahrhundert, dein mitbewohner. «Igor?» bin nie ausgezogen, nur zum schein. war nie woanders – nur untergetaucht, ist praktischer für mich, kann ich meine ziele besser verfolgen. perfekt, dieser raum – wieder verschwand das Gesicht vollkommen im Dunkel, und Klinger hörte nur eine Stimme, deren Klang fast in ein Singen überging, dann wieder dröhnte, übersteuert und klamm – perfekta musiiikraum, das alte dienstmädchenzimmer. exverimentiiierzelle. mittendrin im haus gelegen, ahsolut zentral, dahei völlig für sich, wieso würd ich hier jemals wieder ausziehen? aber keine angst wegen der vorderen räääume. dass ich dich dort belästige – wirklich – «Du kannst doch nicht einfach hier –» wie eingeschlichen und doch ältere rechte, was?! Klinger spürte ein Grinsen, dass es immer wieder die Vergangenheit gibt, die uns die einsamkeit stiehlt – erstaunlich. und du willst doch sicher nicht versuchen, mich rauszuwerfen, oder? davon rate ich dir leichten herzens nur ab. ich will mich vernetzen, weiter nichts, fühl dich wie zu hause, hast du Zigaretten? «Hab ich. Aber ich fühl mich auch ohne dich hier zu Hause.» das glaube ich kaum, bedenke: man trifft sich immer aus einem ganz bestimmten grund. um sich gegenseitig zu ver94
nickten oder ein stück weiter zu bringen – oder ein zuhause zu finden, je nachdem, befruchten – das werden wir uns. das weiß ich bereits, weif mir klar ist, dass du so denkst wie ich. ich hab dich belauscht, du sprichst im schlaf – Klinger antwortete nicht. Er fühlte sich elend, die Schlafmittel, er wollte nichts mehr hören, sich nur stärker betäuben, irgendwie. «Was ist das für ein Zeug?» PHAR-MA-KON – die Stimme sprach das Wort wie einen Schlachtruf aus, einen alten Indianerruf, ein geschenk, ein gift, ein medizinisches produkt. wird in Krankenhäusern und zahnkliniken dem narkosemittel bei Operationen beigemischt, zur besseren verträglichkeit der anstehenden prozeduren. in wesentlich höheren dosierungen übrigens, als wir es verwenden, meist bei babys und kleinkindern im einsatz, aber auch in notoperationen bei Verkehrsunfällen oder Katastrophen, und die inder benutzen es, um elefanten zu betäuben, kein scherz, nur das edelste für den elefanten – deshalb haben die so ein gutes gedächtnis mittlerweile. «Was passiert auf Ketamin?» Klinger nahm eine Plastikampulle aus der Verpackung und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie wirkte wie eine Getränkeflasche für Puppen – wie für eine andere, verspieltere Welt. schwer zu sagen, weif man sich hinterher so schlecht erinnern kann, ein bungeejump in den tod, vielleicht. ganz kurz dippst du ein, wirst dann aber nicht zurückgezogen, sondern fliegst einmal hindurch und kommst auf diese weise zurück, ein möbiusband – und immer dort, wo’s eng und unglaublich dicht ist, liegt der tod – da gehst du hindurch, die seele trennt sich dabei vom körper, das muss dir klar sein – sobald der sprung losgeht. und es ist die seele, die springt, der körper liegt nur regungslos da und wartet auf die rück95
kehr der seele, die macht urlaub. eine sterbesimulation, weiter nichts, und genau deshalb: der ultimative kick, hast du lust? «Ich bin mir nicht sicher –» Sicherheit gibt es nicht, es kommt mir ohnehin so vor, als hingest du viel zu sehr an deinem körperlichen leben, scheinbar betrachtest du es als deinen kostbarsten besitz. aber du bist nicht die dinge, die du besitzt, du bist deine erinnerungen. du bist noch gefangen – Das Fundament des Hauses bebte. Eine Straßenbahn fuhr vorbei. du solltest es mal versuchen, es ist nicht schlimm. eine neue erfahrung, was sonst, du darfst nur nicht glauben an das, was du erlebst. sonst wird es ein bisschen heftig. Ein Lachen. das leben ist nur eine von vielen gewohnheiten – mach dich frei davon, sei kein wicht, der sich voll anspannung an die tarnkappe der existenz klammert – bleibe eine spur, das reicht, man muss erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen, findest du nicht? na: lust auf eine spritze? ist nicht mehr lange zeit! du hast angst vor dem tod, oder? das ist eine kranke angst, glaubs mir. das ist krankheit schlechthin: angst vor dem tod. das ist es doch, was dich am ticken hält wie eine bombe: angst vor dem tod. allein aus dieser angst heraus werden die meisten deiner gedanken entwickelt. aber es sind zum sterben verurteilte gedanken. es ist nicht die wahre, höchste, dem menschen gerade noch mögliche kunst – und an jene willst du doch heran, mit deinem Leben, bei dieser suche nach deinem Inhalt – «Ich hasse Spritzen. Sie schaden meiner Gesundheit.» es geht um eine höhere gesundheit, und die muss erst erworben werden, der körper ist dein vater – mach dich frei davon! 96
«Ich liebe meinen Körper. Hast du mal auf einer Düne gesessen, als die Sonne unterging? Trug dich der Sand? Bist du die Düne hinuntergerollt?» leib und leid sind nahe verwandte, wie tod und gott. spürst du diese Hintergrundmusik die ganze zeit? ist sie nicht träumerisch? call no man happy until he’s dead Klinger schüttelte den Kopf, dann das Ketamin, während die Stimme nun irgendetwas über Frauen wissen wollte und wie es mit denen vorangehe – Klinger unterbrach: «Was weißt du von meinem Interesse an Frauen?» dass du dich in träumereien flüchtest, du bist noch verwolkt – aber das kriegen wir hin. «Was meinst du?» nur die liebe befriedigt deine suche, aber die liebe ist schwierig, du musst sie riskieren, sonst findet sie nicht statt, deshalb geht es darum, eine Strategie zu verfolgen, sonst kommst du zu nichts und starrst nur darauf, von oben, von deinem fenster. es ist an der zeit, techniken anzuwenden, alles liegt bereit für die freisetzung des unbekannten, das hinabtauchen zur quelle, wo irgendein stein ja querliegt, wie du glaubst. also: weshalb zögerst du noch? fehlt es an entschlossenheit oder an Überzeugung? bist du so weit gekommen, um jetzt nein zu sagen? Schweiß auf Klingers Stirn. Er wusste nicht, ob sein Grad an Wachheit ausreichte, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Die Ampulle zwischen den Spitzen seiner Finger: er drehte sie. Die Gefahr, den Überblick zu verlieren. Es schien unmöglich, sich zu wehren gegen diese Situation, in die er hineingelaufen war, die er intuitiv als entscheidend erkannte, um mehr über sich herauszufinden – um das Potenzial des Hauses voll zu nutzen, dessen dichte Chiffrierung – auch 97
wenn er die möglichen Auswirkungen bei weitem nicht erfasste – diese Situation, die deshalb stärker schien als er selbst, und so trieb er in der Atmosphäre auf eine Nadelspitze zu und hörte das Gezeter der Stimmen, die in ihm stritten, als er in die träge klare Flüssigkeit schaute, die ein wenig schwerer wirkte als Wasser. es könnte sogar gefährlich sein, in einer kranken zeit keine drogen zu nehmen. «Die Zeit ist krank?» das war doch deine ausgangsposition. deshalb ist es doch gestorben, dein so genanntes normales leben, die zeit ist eine schwäche des wahrnehmungsapparats, ja, und gar nicht so leicht zu kurieren deshalb. hier – steril verpackt, keinerlei stress – das vordere Halsstück der Ampulle brach ab, ein glatter Bruch – klack. und vergiss deinen abscheu vor nadeln, die ist bloß antrainiert, vertrau mir. ich sage ja nicht intravenös, arschbacke – das reicht, das sitzt du locker aus. macht sogar spaß, der stich, wed er so kurz ist. wenn du anfängst, ihn zu merken, lässt er schon nach, und du vermisst ihn bereits. Da musst du aufpassen: danach kannst du süchtig werden, nach der kürze dieses Stichs – mit einem Ratsch riss die Verpackung einer STERICAN-Injektionskanüle auf. ah – er hielt die Nadel vors Auge, sah deutlich, wie die winzige Öffnung auf einer Seite vorne in einer Spitze auslief ist doch gut, dass wir alle in der schule waren, wegen den muskeln. dort haben wir sie trainiert, jetzt gebrauchen wir sie. und welcher ist der allerstärkste?! was haben wir immer gesagt: dass wir jeden tag unseren muskel trainieren, jahre- und jahrzehntelang – die Stimme triumphierte, während die Spritzenspitze aus der Kinder-Ampulle trank, hosen runter! du zuerst, dann ich. «Kann man dabei sterben?» 98
so nahe wirst du dem tod während deines gesamten lebens nicht mehr sein, doch wer mit dem tod kommuniziert, bleibt den dämonen ein übermächtiger gegner. mit interesse in die andere welt, darum geht es doch, möchtest du nicht hin und wieder diesen planeten verlassen? wenn der engel des todes naht, wirkt er zuerst einmaf schrecklich. wenn er dich erreicht hat, ist er glückseligkeit. this is only a test – Klinger hörte noch seine eigene Stimme, wie sie «Moment» flüsterte – eine Reaktion auf ein Klingeln, das zur gleichen Zeit erfolgte wie der Einstich der Spritze, ein erneutes Klingeln an der Wohnungstür, so glaubte er und flüsterte: «Moment, ich bin gleich da.» Die Spritze wirkte schneller, als er für möglich gehalten hätte. Irgendwann ertönten verschwommen Warnrufe, eine Sirene, aber er reagierte nicht darauf. Es kam ihm vor, als würde das Haus in einem großen grauen Meer ertrinken – ein letztes Zischen, als die Starkstromkabel die rauen, wogenden, von Regentropfen durchlöcherten Fluten berührten, und die Trams taumelten als riesige Walrosse in Richtung Oberfläche, in Richtung Himmel weg. Es kam ihm bekannt vor, er hatte all dies schon einmal erlebt, aber wann? Das war eine Weile her, in einer anderen Zeit vielleicht, die nebenan, irgendwo dort hinter einer besonders dicken Wand verlief, in einem anderen Rhythmus und von anderen Charakteren bevölkert. Er hatte schon einmal eine solche Spritze bekommen, daran erinnerte er sich jetzt: als Kind, und er hatte im Bett eines katholischen Krankenhauses gelegen – und sich der Spritze nicht beugen wollen, die da ohne sein Verständnis und Einverständnis von einer Nonne im kukluxklanartigen Gewand in ihn hineingepumpt wurde, damit Fremde an seinem Körper herumschneiden – nein! – im rollenden Krankenhausbett den Linoleum99
flur entlang, links ein Wasserhahn ohne Becken, dort hinten der Aufzug, und im Aufzug fallen bereits die Augen zu, obwohl er dies unter allen Umständen verhindern wollte – eine Reise, der er sich nicht mehr widersetzen kann – das darf nicht sein – der gesamte Raum so geräuschlos, obwohl die Leute hinter ihren Masken: ihre Augen grinsen – Ich sehe Igor. Ich weiß: Das ist Igor. Er sitzt entspannt in einem Sessel mit Armlehne, das Sitzkissen wird dadurch nicht eingedellt. Es geht ein Friede, eine Schönheit von ihm aus, und der Sessel befindet sich auf der anderen Seite eines Grabens, über den keine Brücke führt, nur ein Sprung. Dort sitzt er und raucht, stützt den Kopf in der linken Hand ab, und er kommt mir frei vor, doch gleichsam gefesselt, da er den Blick starr auf mich gerichtet hält, als könne er sonst nirgendwo hinschauen. Von einer leichten, wie ein Geruch funktionierenden Melancholie getränkt, ziehen schwanenförmige Schwaden von Seite zu Seite, oszillieren leicht, wenn sie den Graben passieren, werden aufgeladen, von der Statik des Übergangs. Da ich nicht weiß, ob ich auch wieder zurückkann, scheue ich mich, auf Igor zuzugehen, obwohl er zwinkert, aber vielleicht hat er auch die Augen zu, und ich zwinkere. Wie schwerwiegend jetzt ein Gedanke sein könnte, der sich sofort in die Tat umsetzt. Da erhebt sich Igor aus seinem Sessel und tritt auf mich zu, und wirklich: Er bewegt sich ganz natürlich und läuft auf mich zu wie auf einen Ausgang und tritt in mich ein – amüsier dich – du hast es schon immer aeahnt. es ist wesentfich besser hier, es ist schöner. 100
du kannst nicht verstehen, was ich empfinde, aber das muss so sein, meine schmerzen sind nicht deine schmerzen, und das tut mir weh. unsere unwissenheit, das sind meine schmerzen – nein! nein! Er saß in einem Meer, ohne den Grund zu berühren. Die Konsistenz trug ihn, er schwebte, sitzend. Er konnte sich sogar aufstellen – immer noch schwebte er. Es gab keinen Boden, aber es gab auch kein Fallen. So fühlte er sich vollkommen aufgehoben, und er war abhängig von nichts. Das Dasein selbst hielt ihn stabil. Die Illusion war vollkommen: Er glaubte daran, und sie gerann zur Realität. Doch sie verschwieg diese zeitliche Begrenztheit, der sein Körper noch immer unterlag, der nach einigen Minuten nach der Rückkehr des Geistes schrie, wenn ihn auch zunächst niemand hörte. Die Droge ließ nach. Unendliches Leben ohne vollkommene Erinnerung – es funktioniert nicht, dachte er noch. Klinger kam zurück in einen halbdunklen Raum, irgendwann zwischen Samstagnachmittag und Montagmorgen, irgendwann mitten in der Nacht vielleicht, den Lichtverhältnissen nach zu urteilen, aber es hätte auch ein diesiger Spätnachmittag sein können, verdunkelt vom garstigen Kohlenstaub. Ich kenne keinen Tag mehr und auch keine Nacht. Ich weiß nicht, welches Datum wir haben. Er öffnete die Augen, blinzelte. Versuchte sofort, sich an alles zu erinnern. Wie nach einem Urlaub, den man zu schnell vergisst – Seelenferien, am Toten Meer. Entspannt. Ein Vorgang, völlig frei von Furcht, weil jener Teil, der Furcht überhaupt entwickeln kann – der ständig vom Zerfall bedrohte Leib – 101
nicht mitgekommen war, während der nichtstoffliche Aspekt diese bizarre, kinderleichte Reise angetreten, heimische Gefilde betreten hatte – ohne auch nur imstande zu sein, die Idee eines Problems zu formulieren. Klinger stand auf, lief ein paar Schritte. Da kam plötzlich eine erste Angst zurück, ein Unterton – das Gefühl, als zahle er gerade einen Preis, der ihm allerdings noch nicht genannt worden war – oder vielmehr: Als zahle er diesen Preis schon immer, doch jetzt spürte er ihn – wir wecken erinnerungen an die ketamin-einsätze in christlichen krankenhäusern der 6oer, 70er und 80er jahre: die größten hits – millionen von ops – Er lief durch die Wohnung. Alle Gegenstände starrten ihn an, ein wenig erschöpft, aber nicht böse. Die Materie aller Aufbauten – der Wände, Leisten, Rahmen, des Stucks – blickte ihn an. Da schlug der Dom. Er spazierte zum schachthohen, zitronengelb gestrichenen Toilettenraum, schaltete das Licht an, ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Ein merkwürdiges Summen drang aus den Wänden. Er blickte nach unten und erschrak. Es gab einen Stich in seinem Herzen, als er die fünf Kondome im Wasser schwimmen sah, und er wollte sich abwenden, doch er pisste bereits, irreversibel, mal auf dieses, dann auf jenes, ewig lang und ohne aufhören zu können, wobei er versuchte, sie wegzuspülen, unter die Biegung zu drücken, um sie nicht mehr zu sehen, diese sich windenden Fragezeichen aus Latex, doch sie kamen zurück, immer wieder, und auch als er spülte: Immer wieder tauchten sie auf, bis kein Wasser mehr kam, sodass er gezwungen war, sie herauszufischen und in die Küche zu tragen, angewidert in den Müll zu geben, in seinem Kopf immer noch das Brausen der Spülung – 102
Blaubeere. Mandarine. Smaragd. Smaragd. Jasmin.
19. OKTOBER Abend
Die Wolken: ein Röntgenbild – ein Brustkasten, ein Schulterblatt warf Schatten über die Stadt. Jetzt regnete es – irgendeinen Knochen ab. Die zitternden Lachen. Eine Passantin, die auf offener Straße ihren Schirm zusammenklappte – die verflossene Nacht wie lichtdurchlässiges Wachs, erstarrt um sein Gehirn herum, der großen Walnuss über den Augen, der welkenden Materie, die faul wird, im Herbst – In dem kleinen Dreieck, in dem die Sekretärin gestanden hatte, stand jetzt ein Mann und fotografierte mit Seelenruhe und scheinbarer Professionalität, wobei seine Kamera einzig auf das Haus, auf die Fenster im zweiten Stock gerichtet war. Als er Klinger dort oben bemerkte, packte er seine Ausrüstung ein, verstaute alles in einem komplizierten, schwarzen Nylontaschenwerk, lief über die Gleise auf das Gebäude zu und verschwand im Eingang, wo die Briefkästen hingen. Wenige Momente später klopfte es an der Tür. Klinger öffnete, und vor ihm stand ein etwa 40 Jahre alter Japaner in einem gut geschnittenen grauen Anzug, mit schwarzer Hornbrille vor den Augen: «Dr. Takeda» – er verbeugte sich leicht. Dann bat er Klinger mit einer Geste ins Treppenhaus und zeigte auf die Inschrift neben der Tür: 104
1. April 1888. Ich bin umgezogen und zwar in ein Zimmer im dritten Stock in der Grossen Präsidentenstr. Nr. 10 (Auszug aus dem Deutschlandtagebuch von Mori Ogai)
«Mori Ogai!» Ganz kehlig sprach der Mann den Namen aus. «Goetthe von Jappan. Kennen Sie?» Klinger schüttelte den Kopf. «Hat hier Herberge gefunden», sagte Takeda, wobei er berge betonte. «Über ein Jahr in Berlin. Geschrieben. Wissen Sie nicht?» Er kramte in seinen Taschen und zog ein schmales Suhrkamp-Bändchen heraus. Die Tänzerin. «Kennt in Jappan jedes Kind. Wie Werther! Darf ich treten?» «Bitte.» Klinger bat seinen Besuch herein. «Aber hier ist doch gar nicht der dritte Stock.» «In Jappan parterre wird mitgezählt», sagte Takeda und lachte. Vorsichtig kam er näher, wobei er größten Wert darauf legte, seine Füße zu beobachten, wie sie das löchrige Parkett des Baus berührten. Dann schaute er sich gewissenhaft in den vorderen Räumen um, aber schüttelte bald den Kopf. «Wo bitte – Dienstmädchenzimmer?» «Wieso?» «Da hat Ogai gewohnt. In Mitte von Haus.» «Sind Sie sicher?» «Ogai-Experte, bitte sehr.» Der Japaner grinste, und so zeigte ihm Klinger den Weg. Sie durchquerten das Berliner Zimmer, dessen Größe Takeda sichtlich beeindruckte, liefen den hinteren, geknickten Flur entlang und standen vor dem Eingang in den Annex: «Das Dienstmädchenzimmer –» Vorsichtig öffnete Takeda die dunkelrot gestrichene Holztür, die noch immer ein wenig schief in den Angeln hing, und schaute in den Raum hinein, der in ein trübes, rauchfarbenes Licht getaucht war. Sofort packte er seine Kamera aus, um voller Ergriffenheit die Ansammlung verlassener Gegenstände 105
zu fotografieren, obwohl er sich im Klaren sein musste, dass es sich dabei keineswegs um die Hinterlassenschaften seines Forschungsobjektes handeln konnte, doch vielleicht machte die Verlassenheit des Raumes, sein alter Atem, genug Eindruck auf ihn, sodass er einen ganzen Film verschoss, während Klinger, immer wenn der Blitz in eine Ecke leuchtete, unwillkürlich nach Igor Ausschau hielt. «Wohin?» Takeda, die Stirn vor Aufregung glänzend, zeigte auf die Tür ins tote Treppenhaus. «Dienstmädchenaufgang.» «Oh, ich möchte sehen – wenn möglich?» Klinger nickte und öffnete die Tür, die wieder so leicht ging, als werde sie jeden Tag benutzt, und sie betraten das runde Treppenhaus, dessen architektonische Eleganz dem Japaner ein anerkennendes Nicken entlockte, wenn ihn auch ein Geruch, der von unten kam, sichtlich irritierte, und so stieg er nach einem fragenden Blick in Richtung Speicher, vorbei an Erbens Hintertür, dann erreichten sie den Dachstuhl. Die transparenten Papiere, die dort wie aufgespannte Wäsche hingen, raschelten im Luftzug, der vom toten Treppenhaus her den Boden durchzog, um durch das gesplitterte Glas der Dachluke ins Freie zu gelangen. «Ich habe gewusst –» Entzückt lief Takeda auf die Papiere zu und sank davor auf die Knie. «Ich habe gewusst», murmelte er immer wieder, dann erklärte er: «Gab Hinweise. Notiz in Tagebuch, deutsch: In Berlin – noch etwas zu finden von mir Ogai» – Takeda stand auf und näherte sich der Hängung, bückte sich, hielt dabei den Kopf nach oben und lief in dieser verbeugenden, gleichsam aufschauenden Haltung unter den Papieren hindurch, um sie zu entziffern. «Signatur – hier!», rief er endlich und war an einer der Ecken angelangt. Triumphierend las er vor, zunächst auf Japa106
nisch, dann übersetzte er: « Ogai hat mich gemacht, und ich bin noch da, wenn Ogai nicht mehr da ist.» «Und was heißt das Ganze?» «Bin mir nicht sicher», antwortete Takeda. «Ist ein Satz, ein Gedanke.» Wieder bückte er sich und inspizierte. «Ah, ich kann lesen: SHA.» Takeda tauschte seine Brille gegen eine andere aus und ging ganz nahe an das Papier heran. «SHO ZE – nein, ich mache Fehler», er kam unter der Hängung hervor und stellte sich neben Klinger. «Ist altes buddhistisches Japanisch. Ist Gefühl. Muss richtig gelesen werden. Ist Bewegung. So: Mann kommt aus Treppenhaus und will durch Luke – zu Himmel.» Er zeigte auf die Eisenleiter, bückte sich erneut, lief darauf zu, Klinger dicht hinter ihm, unter den Papieren hindurch, die zu schaukeln begannen, und der Japaner flüsterte leise: «HON – SHA – ZE – SHO – NEN!» Sie waren auf der anderen Seite angelangt, Takeda strahlte wie ein Kind. «Was heißt das?» «Übersetzen – schwierig. Hon Sha Ze Sho Nen! Schimmernde – Hauptsache, nein: Essenz – Nähert sich – Dem Ziel!» «Die schimmernde Essenz nähert sich dem Ziel?» «So könnte man übersetzen.» «Was hat er damit gemeint?» «Schimmernde Essenz nähert sich dem Ziel«, antwortete Takeda und lachte. «Okay.» «Man muss laut sprechen, funktioniert über Ohr!» Takeda atmete durch. Dann intonierte er: «Hon Sha Ze Sho Nen! Hon Sha Ze Sho Nen! Hon Sha Ze Sho Nen! Hon Sha Ze Sho Nen -», und wiederholte dies immer wieder, atmete dabei die Luft tief in den Bauch: «Gesund! Hon Sha Ze Sho Nen – Hon 107
Sha Ze Sho Nen!» Er strahlte jetzt und schien voller Energie, kurz vor der Hyperventilation, wie Klinger dachte, auf dessen Schulter er jetzt schlug: «Jaa! Unsterblichkeit – jaa! Hier, Berlin – ein harte Stadt – jaaa. Respekt. Ich respektiere. Hier hat Ogai Herz verloren, das wissen Sie nicht. Hier hat er geliebt, junge Tänzerin –» Takedas Augen leuchteten. «Mein Herz» – scheinbar rezitierte er jetzt – «war gleich Blatt der Mimose. Zieht sich bei jeder Berührung zusammen. Mein Herz – war wie junges Mädchen – jaaa», wieder klopfte er auf Klinger herum und rief: «Auch wenn in Jappan begraben liegt, Ogai hier ist Herz. Hier wohnt Mori Ogai – größter Dichter Jappan! Ich habe gewusst: Mitte dieser schönen Stadt – Ogai! Poesie! Visitenkarte – hier. Ich komme zurück. Man muss Gedenkstätte hier errichten, wenn Sie ziehen.» Takeda verbeugte sich leicht und strahlte. «Ich zieh hier nicht aus», Klinger schlug ihm nun ebenfalls auf die Schulter. «Hier zieht man doch nicht wieder aus, oder?» «Aus heilige Haus?» Wieder ließ Takeda seine Augen leuchten, und sie liefen das tote Treppenhaus nach unten, zurück in den Annex. «Nur wenn sterben. Dann ziehen aus. Vielen Dank, vielen Dank – ach ja, hier – habe vorhin vor Tür zur Wohnung gefunden, habe fast vergessen.» Der Japaner griff in seine Anzugsjacke und holte ein rechteckig geschnittenes Stück Stoff mit Velcro-Beschichtung hervor. WAR GEGEN DRUGS. Klinger hielt es in den Händen und bedankte sich konsterniert. Dann verabschiedete sich der Japaner und verschwand.
Blaubeere. Mandarine. Smaragd. 108
Smaragd. Jasmin.
Er warf die augengrüne Jacke über, lief die Treppe nach unten, kam an einer stummen Zoo-ologischen, einem hämisch grüßenden Pullover vorbei. Ein gequältes Lächeln umspannte die Mundwinkel der Türhüterin, als er sich ihr näherte. «Kannst du mir was erklären?», fragte er und reichte ihr das Logo, doch sie sah ihn nur missbilligend an, wobei er merkte, dass es in ihr zitterte – eine Mimose, die sich zurückzog, während er vor ihr stand und nicht wusste, wie er sich adäquat zu verhalten hatte, da ihm Informationen fehlten, um die Situation zu verstehen. «Ich geh jetzt was trinken. Vielleicht können wir später reden», sagte er, als sie noch immer nicht sprach, seine Zunge trocken wie Holz, und er verschwand in einem durchblitzten Nebenraum, in lauter Musik. Überall standen Typen in schweren Jacken herum, die jeden anderen und auch ihn misstrauisch beäugten – was passiert in der nacht, wenn die Ordnung aufgehoben sein könnte? puppenhafte Bewegungen am rande einer fläche, die keine mitte mehr hat. die Zukunft hat nichts gebracht und ist schon vorbei, nun ein loch: entsprechend der grube, die das Zentrum einst war. jetzt ist die grube im bauch und im kopf: reingefallen, es ist vorbei. «Hab gesehen, wie du letztens in ‘ne Tram eingebrochen bist.» Bonz kam im Barbereich, wohin Klinger sich flüchtete, 109
weil er die Tanzaggression nicht mehr aushalten konnte, auf ihn zu und grinste. «Coole Nummer, wie du’s gebracht hast – aber warum?» Klinger blickte ihn verständnislos an. Er hörte ein Geräusch wie von Staubsaugern, die näher kamen, hob den Kopf – «Jetzt gar nicht drüber nachdenken, wenn du keine Ahnung hast, wovon ich rede», sagte Bonz. «Die Unklarheit stehen lassen. Weißt du, was ich meine?» «Ich bin mir nicht sicher.» «Ab einem bestimmten Punkt darfst du erst gar nicht mehr weiter nach dem Sinn fragen, sonst dreht’s ab. Sieh dir das zum Beispiel mal an.» Mit einem Ruck zog sich Bonz Pullover und Unterhemd über den Kopf. Auf seiner Brust, die sauber rasiert war, prangte ein unregelmäßig gestochener Berliner Bär. «Rummelsburg, 1967, Sechstagekrieg», grunzte Bonz. «Krasse Geschichte, da wollt ich Farbe bekennen. Da hat mir mein Genosse – Zellengenosse wohlgemerkt – die Berliner Zeitung angelegt, die hatten damals diesen Bären hier im Logo. Dass er deshalb seitenverkehrt bei mir drauf ist, hab ich erst später gemerkt. Das hab ich dann geschluckt, auch als der Krieg ziemlich schnell wieder vorbei war. Ich hab dann drauf verzichtet, das Schicksal weiter zu befragen, was das bedeutet, verstehst du?» Klinger brach den Hals einer Luxemburg. «Wie war mein Vormieter eigentlich so drauf?» es ist vorbei – «Igor? War’n Supertyp», antwortete Bonz. «Völlig kaputt halt. Viel zu sensibel. Was der alles gehört hat – das Lied der Nachtigall – hat der gehört. Was keiner gedacht hätte. Aber man hat’s gespürt, in seiner Musik. Wenn der bei mir aufgelegt hat: Die Leute sind ab – oder rausgegangen, weil sie’s nicht ausgehalten haben. Weil’s in ihnen geätzt hat. Der war drauf – 110
viel zu hart für die Leute. Wollte ja auch immer seinen eigenen Laden haben, im Parterre nebenan, unter der Zoo-ologischen, wo jetzt alles dicht ist. Aber den hat er nicht gekriegt. Den haben andere gemacht, das hat er nie verwunden. Für die hat er dann aufgelegt, aber das konnte nicht gut gehen, von Anfang an nicht. Die sind jetzt ausgezogen, paar Tage bevor du gekommen bist – wegen der Entkernung halt. Sind den Empfehlungen der Hausverwaltung gefolgt. Das hätte Igor nie getan. Bis zum Schluss hätte er Party gefeiert. Bis sie ihn rausgetragen hätten –» «Warst du mal bei ihm, im zweiten Stock?» «In seiner Resonanzkammer? Paar Mal.» «Und?» «Weltuntergang, aber diskret», antwortete Bonz. «Und nur für ihn und die gerade Anwesenden, in der völlig dichten Luft, die alles erstickt hat bei ihm. Der hat sich eingegraben dort oben, in seinem kuscheligen Raum. Die Lautstärke, die er da gespielt hat: unglaublich. Kraftvollste Schwingungsfelder. Die Leute konnten auf der Straße tanzen, wenn er die Anlage eingeschaltet hat. Ich hab nur dagesessen und gewusst, ich kann nicht mehr gehen, weil mein Körper das nicht aushält, wenn’s auf einmal wieder leiser wird. Ist auf Magie abgefahren am Ende, das war vielleicht sein Problem. Der hatte so ‘ne Pyramide zum Beispiel, wo maßstabsgetreu an der Königskammerstelle so ein Fach war, und dort hat er seine Nadeln aufbewahrt, für die Plattenspieler. Da würden die nicht abstumpfen, hat er gesagt. Genau an der Stelle würde alles seine Form behalten, die Atome im Metall der Nadeln straff ausgerichtet bleiben, also kein Alterungsprozess, immer alles zielgerichtet und unter Kontrolle, und genauso hat er ja auch versucht zu leben: kein Alterungsprozess, alles unter Kontrolle, immer. » 111
«Hat er Freunde gehabt?» «Der ist immer an allen vorbeigelaufen», antwortete Bonz. «Immer auf Durchreise. Hat kaum jemanden angeschaut. Aber wenn er in einen Raum reinkam, haben die Leute angefangen, mit ihm zu reden, auch wenn er abweisend war oder unverständlich. Auch wenn er sich verstellt hat, was oft ganz offensichtlich war. Wenn er nur so getan hat, als würd er sich für jemand interessieren, dabei war er bloß am Momente- und Ideensammeln, das war seine Beute, die hat er dann mit nach hinten genommen, in sein Kabuff. Dort hat er alles zerlegt und zerhackt und in seine Maschinen gefüttert, auf seiner permanenten Suche. Der war ständig in Unruhe, nie zufrieden, und immer ging’s um seine Musik.» «Was hat er denn gesucht?» «Klänge, die klar machen», Bonz hackte. «Töne als Drogen – die wollt er komponieren. Gezielt einsetzbar. Durch simplen Druck auf den richtigen Knopf erklingt ein Sound – hergestellt nach langen Beobachtungen am Menschen. Jedes Gefühl lässt sich auf eine Kombination aus Zahlen zurückführen, daran hat er geglaubt. Und die Zahlen stehen für Töne und Intervalle.» Bonz putzte sich die Nase. «Der hat eine Wissenschaft draus gemacht: den sterblichen Körper verbessern mittels Musik.» «Hat er das auch auf andere angewandt?» «Willst du wissen, ob er andere manipuliert hat? Nee, der war schon okay. War super drauf, teilweise. Wollte im Grunde ja nur seine Ruhe haben. Seine Musik machen. Hat sich selbst ständig angetrieben, war’n bisschen zu manisch vielleicht. Aber die Entwicklung hier hat ihn fertig gemacht, das iss seltsam. Damit hat er nicht gerechnet: dass ihn das so fertig macht. Mir persönlich ist es ja völlig egal. Dass so viele Leute so seltsam abgehen. Aber er hat das viel deutlicher gesehen, 112
auf seinem Ketamin. Das hat ihn sensibilisiert. Und so was ist nicht gesund in unserer Zeit. Ich würd das Zeug nie nehmen, in ‘ner kranken Gegend wie hier. Da hat er mitgekriegt, wie die Masse in die Stadt strömt und mit seinem Weltverbesserungszeug natürlich nix anfangen kann. Die irgendeinen MaterieFilm erst mal durchleben muss, das hat ihn fertig gemacht. Zu schwach, um das normale Leben aushalten zu können. Friede seiner Seele.» Bonz nickte zur Decke und trank. «Was?» «Was schaust du denn so?» «Was hast du eben gesagt?» Klinger blickte nervös aus dem Fenster und spürte diesen Sand in beiden Augenwinkeln: wie der an ihm rieb und er jetzt andauernd blinzeln musste. «Ich hab gesagt, dass Igor irgendwann den Weg verloren hat», sagte Bonz. «Und du bist ganz knapp davor. Aber sorge dich nicht. Es ist wichtig, den Weg zu verlieren. Es ist die einzige Möglichkeit ab einem bestimmten Punkt.» «Was ist mit ihm passiert?» «He – wieso zitterst du so?» Bonz wischte sich bräunlichen Schaum von den Lippen. «Er hat sich sein Zeug reingezogen, wie immer. Ist aus seinem Körper raus, doch als er zurückwollte, war der Körper nicht mehr da. Verbrannt.» Alles Blut war aus Klingers Gesicht gewichen, und er hielt sich an der Kante einer Lenkrakete fest. «Ein Unfall? Was hast du davon mitgekriegt?» «Ich war dabei, als die Feuerwehr die Tür oben aufgebrochen hat, weil sich auf lautes, wirklich sehr lautes Klopfen niemand gemeldet hat, außerdem schwarze, stark riechende Rauchschwaden aus dem Kabuff hinten rausgequollen sind. Die ganze Kreuzung war ja verraucht», antwortete Bonz. «Ich bin dann hoch und hab noch gesehen, wie sie seinen Körper rausgeholt haben und rechts vorne ins Zimmer getra113
gen, was gar nicht so leicht war, wegen der unglaublichen Hitze des Körpers. Die mussten ihn schleifen. Ich hab gerufen: Lebt er noch? Noch, haben sie gesagt. Haben dann versucht, ihn vorne wieder zu beleben, aber da war kein Funke mehr drin. Das war wie der Versuch, eine menschengroße Puppe wieder zum Leben zu erwecken, eine ziemlich scheußliche noch dazu.» Klinger stand auf, die Rakete kippelte leicht. «Ich muss jetzt gehn.» Er nickte Bonz zu und drängte an Hunderten von Jacken und Köpfen vorbei, nach draußen, wo ihn die Türhüterin empfing und am Bauchnabel kitzelte, was sich anfühlte, als berühre sie ihn durch einen dicken, schweren Vorhangstoff hindurch. «Tut mir Leid wegen vorhin», sagte sie: «Ich komm später mal wieder oben vorbei» – Klinger schaute sie verständnislos an und schüttelte mechanisch den Kopf: «Nein, nein! Komm nicht. Es ist keiner da!»
Diese Gegend ist auf uraltem Sumpfland gebaut – Ein Fernsehapparat, der von irgendwoher alle Mauern durchkroch. Eine Vorspannmelodie. Dann die Sirene eines Krankenwagens, gegen dessen milchige Rückscheibe die Silhouette einer aufsteigenden Hand zu sehen ist, die verzweifelt ans Glas schlägt – das Heulen der Sirene – es ist vorbei – ein Rauschen – so soll es sein – und Brummen in den Adern des Ohrs, dieser ungeschützten, weichsten aller Öffnungen, durch die ganze Städte sich zwängten. Er blinzelte heftig. Hinausgehen wäre jetzt nicht gut. Dann hörte das Blinzeln auf, seine Augen blickten zur Decke, und er ratschte ein Streichholz an. 114
Irgendetwas war umgeschaltet worden, irgendein Sender oder Programm – diese gewissheit jetzt – es ist vorbei – juckende füße, juckendes lächeln, dort hinten im gang – Die Luft roch anders als sonst. Alles ein wenig grünlicher, fernsehflaschengrün, ich halte es für äußerst schwierig, mit dieser dro – Klinger lief einige Schritte, blinzelte – ge umzu – blieb stehen – du spielst eine merkwürdige rolle, aber ich brauche dich, vertrau – Er schaute in die Spiegelung des Kastens im Bad. Ein starrer, ruhiger Kopf, der keinerlei Anzeichen einer Kultivierung oder Epoche zeigte, mit einem Film von Haaren, vielleicht war es aber auch nur ein Film von Schweiß – rosagelbe Gesichtshaut, ein wenig Spucke am linken Lippenrand. Das Gesicht grinste, und Klinger konnte dieses Grinsen nicht nur sehen, sondern hörte es auch. Er lief in den Flur und schüttelte den nach unten geneigten Kopf, als schüttele er Erinnerungen heraus, du musst erst sterben, um auf fri – lief ins Berliner Zimmer, wo in einer Ecke Schallschutzkopfhörer lagen, gelbe Bauarbeiterkopfhörer, die er im Annex gefunden hatte – die setzte er auf. Er bewegte sich wie durch Watte, durch einen Film ohne Ton. Doch dann kam das Grinsen zurück. Er hatte es befürchtet und nahm die nutzlosen Kopfhörer wieder ab. Es war nicht einmal das kleinste Lachen, nicht einmal ein Flüstern, nur ein fremdes, aufgrund der Stille allmächtiges Grinsen in seinem Kopf. Er ging ins Bad. Vermied es, auf Arzneimittelkasten, Kacheln oder Armaturen zu schauen, aber blickte ins Waschbecken und sah sich dort mit einem Seil um den Hals, wenn du jetzt angst bekommst, zieht es sich zu. Da war ein stechender Atemzug in seinem rechten Ohr. Dieses Atmen eines anderen – ein fremdes Schmieden auf 115
seinem Amboss – fremder Reiter im Steigbügel – ein sachtes Hämmern es ist gut, glaub’s mir: besessen zu sei – Und er traf eine Entscheidung, so wie man den Lauf eines Pferdes durch den Gebrauch der Zügel lenkt, und öffnete den Kasten, nahm eine Rasierklinge heraus, sowie drei Kapseln Roche. Er trat auf den Balkon, der wie ein Nest zwischen Vorderhausrückseite und Seitenflügel klebte. Müllcontainer qualmten im Innenhof. Er war sich des Wahnsinns seiner Entscheidung bewusst, das machte es nur umso schlimmer. es ist vorbei – diese gewissheit jetzt – Klinger beugte sich nach unten. Das Grinsen, das er immer noch hörte, versuchte, auch von seinem Mund Besitz zu ergreifen, doch er presste die Lippen zusammen, um es in den Ohren zu halten, die dumm und friedlich wie Schafe auf den Weiden der Schläfen grasten, bloßen Verstärkern gleich. Er versuchte, ganz still zu halten. Aber er zitterte. Dann setzte er die Rasierklinge an, und mühsam, eine aus dem Ei schlüpfende Schlange, wand sich ein Faden dunkelroten Bluts vom Anwuchs seines rechten Ohrläppchens und rann in die Tiefe, fiel lange durch Luft und tropfte spürbar auf den Asphalt. Augenblicklich stellte eine tiefe Ruhe sich ein. Er atmete durch. Spürte den Schmerz wie aus der Ferne. Als würde ihm der Schmerz von einem Hügel aus zugerufen, und er schmeckte das in den Hof rinnende Blut auf der Zungenspitze, wenn er diese nur mit der Luft in Verbindung brachte: säuerlich, feurig, überdicht. Er war jetzt bereit für den entscheidenden Schnitt. Doch als er die Klinge tiefer führte, an Stellen, wo sein Blut hellorange pulsierte – um sich endgültig von jenem ersten Tor zu 116
trennen, jenem Filter, der nicht funktionierte, kam mit dem nicht mehr zu leugnenden, immer näher rückenden Schmerz, mit diesem Ruf, der aus dem Kern seines Wesens gesendet wurde, auch seine eigene Stimme zurück – war vom Sturmgeläute des Schmerzes geweckt worden, irgendwo in ihrem Bett, wie von einem Wecker, stand grollend auf, und er setzte die Klinge ab.
DIE SCHIMMERNDE ESSENZ NÄHERT SICH DEM ZIEL
Zweiter Teil Wir haben raffinierte Pseudonyme verteilt, um Unkenntlichkeit zu erzeugen. Jede Frequenz, die man einst aussendete, kommt nun zurück und will einen aus der fragilen Mitte-Position werfen. Notiz, gefunden im Annex
21. OKTOBER Tag
Zwischen den engschultrig stehenden Häusern drückte sich eine Kolonne von Senioren-Touristenbussen hindurch, eine ungeduldige Tram im Nacken. Die Insassen der Busse saßen hochgebockt, ihre Köpfe – schlaff wie welke Blumen – schauten in die Spiegel der Schaufensterscheiben, auf denen sie schemenhaft vorüberglitten, behütet hinter Doppelglas, einem vom Band kommenden Tour-Guide lauschend, der die alte Hauptstadt in gemütliche Begriffe packte, um die täglich weniger werdenden Schussverletzungen der Fassaden verdaubar zu machen. Ein Schild auf einer neu errichteten Baustellenzufahrt gegenüber: DER AUFENTHALT IM SCHWENKBEREICH DES TORES IST VERBOTEN.
Klinger betastete die Wunde. Das Ohr: Vorzimmer zur Seele. In seinen Augen brannte es. Er hatte die London-Kleider abgelegt, das Warenhauszeug, die Sachen aus dem Annex und trug jetzt einen roten Arbeits-Overall, den er am Morgen in einem «Fachgeschäft für professionelle Kleidung» in der Mulackstraße erstanden hatte. Zum ersten Mal seit seiner Abreise aus London holte er 121
seinen Laptop heraus und begann, sich ein paar Notizen zu machen. Er kam sehr langsam dabei voran, denn er achtete bei jedem Satz auf dessen Klang, bevor er ihn festhielt, und nur die wenigsten überlebten das.
Muss ich, in kleinen Dosierungen, den Tod einnehmen, um am Leben zu bleiben? Liegt darin der Sinn des Wohnens in dieser Stadt? Tod in Mitte – Später stand er im Annex, sprang an einem abgesetzten Querbalken hoch und zog sich nach oben, bis sein Scheitel die Decke berührte. Ließ sich sinken, zog sich wieder nach oben, wie aus Wasser heraus – sprang ab, kletterte in die Höhle hinauf, trug die schwiemelige Bettdecke zum Buntglasfenster und warf sie in den Hof – räumte auf und hielt dabei Ausschau nach Igor, überall in der Wohnung, im Haus, auf den Treppenstiegen, dem Boden. Stellte Kerzen und Lampen in den Annex, den 500-Watt-Strahler hoch in die Höhle, um alles auszuleuchten, und immer wieder, wenn er eine Ecke gesäubert hatte, von Spinnweben befreit, die wie lang gezogene Gerippe die Räume durchhingen, hörte er es aufbranden irgendwo, wie im Protest und nur ellenweit entfernt: den Beginn eines Satzes: wir sind noch lange nicht da, wo wir hinwo – den Polylog und Wirrwarr, doch so genau er auch lauschte, es kam ihm nicht näher, sondern wischte um – kaum einmal am anfang – Ecken wie eine Schlange, lief einen Korridor entlang und verschwand dann ganz. Später ging er nach unten und näherte sich dem Eingang des Cafés. Auf einem Barhocker saß die Türhüterin, ihre Augen schmal, die Hände ineinander verkrampft. 122
«Alles okay bei dir?» Blaubeere. Mandarine. Smaragd. Smaragd. Jasmin – «Ich überleg halt, an was für einen Gestörten ich dieses Mal geraten bin», antwortete sie. «Offenbar zieh ich so etwas an.» «Was meinst du?» «Du warst krass drauf, als ich bei dir war.» Ihr linker Mundwinkel zuckte. «Was war denn so krass?» «Ich will jetzt nicht darüber reden, nicht hier draußen.» «Ich würd’s aber gerne wissen. Ich war völlig bedröhnt – die Schlaftabletten, die ich nehm – es tut mir Leid. Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern.» Er hob die Schultern. «Arschloch.» «Hab ich dir was getan?» «Du warst genau wie er.» «Wie Igor?» Klinger blinzelte nervös. «Vielleicht färbt das ab – die Räume. Du hast mich an ihn erinnert.» «Inwiefern?» Er suchte seine Hosentaschen nach Zigaretten ab. «Es war wie an seinem letzten Abend.» Die Türhüterin schaute an Klinger vorbei, auf die Rückseite des Gebäudes. «Du hast mir die Hand gegeben.»
«Was?» «In der Nacht, in der er gestorben ist, war ich vor dem Café und hab mit Bonz geredet. Plötzlich ist Igor aus dem Haus rausgekommen und direkt in unser Gespräch rein, und ich 123
sollte sofort mit ihm nach oben. Wir sind dann in sein Zimmer, und er hat mich gefragt, ob ich mich für ihn auszieh – ich hab’s gemacht. Ich stand rum, mir war kühl, aber er hat mich nicht warm gehalten. Er war kein warmer Mensch. Entweder kalt oder ganz heiß, gleich zum Verbrennen. Er hat Musik gemacht, und ich hab mich dazu bewegt, langsam, ich war ja auch völlig drauf. Er hat mich angeschaut, und dann hat er rumgebastelt an seinen Maschinen.» «Hat er Musik gemacht?» «Er hat keinen Ton gesprochen, mich nur immer wieder angeschaut, als wollte er irgendwas von mir ablesen, um es einzufüttern. Als war ich deshalb nackt, damit er meine Einzelheiten besser sieht und mich zerlegen kann und die Teile für sich nutzen. Aber ich wusste nicht für was, und er hat’s mir nicht gesagt, als ich versucht hab, mit ihm zu reden. Er hat überhaupt nicht auf mich reagiert. Er war völlig für sich, und ich war außen, aber trotzdem in seinem Raum gefangen, irgendwie. Ich war hin und her gerissen und wollt schon gehen, da hat er gesagt, er will jetzt nicht mehr gestört werden, und er hat mir die Hand gegeben, verstehst du das? Er hat mir die Hand geschüttelt, was völlig seltsam war – er hat sich lustig über mich gemacht: dass ich keine Ahnung hätte, wo er hinwollte – und dann hat er mich rausgeschickt.» Das Gesicht der Türhüterin war matt und blass. «Mich hat noch nie jemand so behandelt. Deshalb hab ich so heftig reagiert, als es letztens wieder passiert ist, als ich dich besucht habe.» Sie nahm seinen Unterarm und strich ihm über die Hand. «Es tut mir wirklich Leid», sagte Klinger leise. «Aber ich war nicht ich selbst, verstehst du?» «Nein», die Türhüterin schüttelte den Kopf. «Das versteh ich nicht. Geh jetzt mal rein, ich muss hier arbeiten. Und dröhn dich nicht so zu, das bricht dir das Genick.» 124
Klinger lief in das Café hinein. «Kennst du Trotzki?» Bonz reichte ihm eine Luxemburg. «Revolution jeden Tag.» Er wischte ein Glas ab. «Und jede Nacht – das hat er vergessen. Es geht um Igor, oder? Sollen wir in den kleinen Waschraum gehen?» «Ist schon okay.» «Ich will dir was erzählen», Bonz räusperte sich. «Wir schreiben das Jahr 2050. Virtualität allerorten. Aber immer noch eine Leistungsgesellschaft. Weil, es gibt unterschiedlich guten Zugang zu den Daten. Die Massen müssen besondere Telefonzellen dafür benutzen. Die ziehen so einen Anzug über, so ein Mittelding aus Armani und Taucheranzug – und schließen sich damit an den Strom an, abgebucht wird je nach Zugriff. Aber dann gibt’s die VIPs. Die genießen vollen direkten Zugang, vollkommene Verschmelzung – und zwar nicht über die Telefonzelle, denn sie haben so Kupferlitze auf der Haut. Damit empfangen sie das Netz direkt, rund um die Uhr, überall auf der Welt. Die brauchen keine Geräte mehr – die brauchen nichts mehr. Und dann gibt es welche, die können sich nicht mal die Telefonzelle leisten. Die leben in Infoslums, an den Rändern», er sprach die Silbe wie slöms aus.« Dort darben sie, und auf Hacken steht der Tod. Doch es gibt einen, der das ganze System auf den Kopf stellen will. Hinter dem sind sie her. Sie kommen ihm immer näher, über seinen Körper, weil, im Netz kriegt ihn niemand zu fassen, er ist ja der Beste. Nur seinen Körper orten sie, an seinen Körper kommen sie ran und nehmen den mit. Aber der Körper ist bewusstlos, weil, der Mann ist längst raus, der ist untergetaucht, im Netz. Also packen sie den Körper in eine Zelle und beobachten – warten drauf, bis der Typ zurückkehrt.» «Was willst du damit sagen?» «Alles eine Maschine», antwortete Bonz. «Alles hängt von 125
der Arbeit ab, also welche Funktion du in der großen Maschine erfüllst. Arbeit macht frei – daran glauben noch immer viel zu viele. Aber was wird eigentlich hergestellt, gegen alle Widerstände und Missverständnisse und falschen Ansätze? Das weiß kaum jemand. Unsterblichkeit! Daran basteln wir, wie verrückt. Gentechnik, Computernetzwerke, Verbesserung der Kommunikation: ist alles diesem Ziel untergeordnet. Unsterblichkeit. Das letzte Produkt, das im Regal noch fehlt. Gott endgültig zu vertreiben von diesem Planeten – anhand einer Maschine, die wir konstruieren – verstehst du mich?!» «Und welche Rolle spiele ich?» Klinger nahm einen Schluck von seiner Luxemburg, die übergoren schmeckte, säuerlich und alt. «Du bringst Teile des Systems zum Laufen», antwortete Bonz. «Du weckst Erinnerungen an das eigentliche Ziel. Ich hab das gemerkt, als ich dich zum ersten Mal gerochen habe, damals an den Briefkästen. Noch bevor ich um die Ecke kam und obwohl meine Nasenschleimhäute ganz schön hinüber sind. Du wirst die Geschichte hier weitertragen, niemand sonst.» Bonz schlug ihm sanft auf den Rücken. «Und jetzt riech ich so ‘ne Art Lammfleischmix von Richtung S-Bahnhof. Ich geh da mal rüber, macht man ja selten. Kommst du mit? Siehst abgemagert aus. Lass uns was riskieren. Lass uns der Sterblichkeit frönen. Lass uns essen!»
Huren stehen vor der Imbissbude neben dem Haus, direkt am Fleischberg positioniert, dessen Maserung der ihrer Frot-
teebodys gleicht. High Energy – your love will set me free strömt aus dem Radio des Betreibers, und sie singen mit, zu dritt, wackeln walkürengleich mit den Hintern, plappern: 126
Gestern stand meine Mutter vor mir, auf der Oranienburger. Ist ja auch kein Wunder, halb Westdeutschland treibt sich da rum. Hab gewusst, dass das irgendwann passiert. Jeder Touri endet auf der Oranienburger. Dort kommen sie dann wirklich in Berlin an: wo die Nutten mit den großen Schirmen stehen – sie lachte. Da war meine Mutter ganz tief in die Wirklichkeit eingetaucht plötzlich. Sie war ja mit so ‘ner beknackten Freundin unterwegs, auch so ein Wrack. Die hat mich zuerst gesehn. Ich hätt sie fragen sollen, was sie in dem Moment zu meiner Mutter gesagt hat, als sie mich erkannt hat. Aber zu längeren Gesprächen ist es nicht gekommen. Ich hab so wenig wie möglich geredet und versucht, meine Mutter zu beruhigen. Wie sah sie denn aus? Immer noch so aufgeschwemmt? Überhaupt nicht, obwohl. Sie hat wohl grade irgendeine Schlankheitskur überstanden. Aber die Haut ist geblieben, vom Volumen her. Das hing so an ihr runter. Ich hätt sie am liebsten genommen und ausgewrungen, damit das ganze schwarze Zeug rausläuft. Sie hat mir ein bisschen Leid getan. Sie hat ja geheult. Sie hätte doch ihr ganzes Leben lang versucht, mich gut zu erziehen. Sie – das könnte sie nie – mit fremden Männern – jetzt lachten alle drei. Ich hab ihr erklärt, dass die Fremdheit schnell verschwindet, aber das fand sie nur umso schlimmer. Ekelst du dich nicht?, hat sie gefragt. Ich hab sie angeschaut und mich gefragt, ob ich mich ekel. Nein, habe ich dann gedacht, und sie hat mir wieder Leid getan. Sie kann’s einfach nicht verstehen, was in meinem Leben so abgeht. Da ist wohl ein Zug an ihr vorbeigefahren, ein Flugzeug über sie hinweggeflogen, eine Musik wurde gespielt, aber sie hat sie nicht gehört. Ihre Freundin musste sie die ganze Zeit stützen und hat mir kein einziges Mal in die Augen geschaut. Ich kam mir vor wie eine Löwin, in meinem roten Latex, die 127
blonde Mähne bis zum Arsch. Ich stand vor den beiden, als würden wir verschiedenen Spezies angehören. Wie Comicfiguren – wir beide. Es war das Zweiweltensyndrom, aber verschärft. So, ich muss mich jetzt mal wieder um die Herren kümmern, die krank sind vom vielen Geld. Weil ich Geld brauche. Sonst werd ich krank. «Kommst du mit?» «Hinter denen her?» Bonz wischte sich den Mund. «Kann ich nicht. Die spazieren nach gegenüber. Ich hab dort Hausverbot. Kleine regionale Fehde, vergiss es. Aber geh nur, der Laden ist okay.» Von einem eigenen kleinen Urwald aus Gestrüpp, Bauschutt und Bäumen umgeben, führte eine Auffahrt zu einem frisch gepflasterten Vorhof, wo unter einer Überdachung und von Heizlaternen bestrahlt auf weißen Plastikstühlen die Huren saßen. Über dem Eingang schrieben rote Lämpchen den Namen «Club No. 2» in die Luft. Klinger ging auf die kleine Gruppe zu, setzte sich an einen freien Campingtisch, um auf Sophia zu warten. Er legte den Kopf auf die linke Schulter, und wenige Minuten später schon nickte er weg, wachte irgendwann auf, hörte mit halbem Ohr zu, sank wieder weg –
Also seit ick mir die Nickelbrille anjeschafft hab und mir die Haare zum Pferdeschwanz bind, drehn die Typen vollkommen ab – Na wie stehen die Aktien? Stehen? Wirklich? Ach, wenn du dienstleistet, bist du doch der Arsch. Dann wirst du doch in dieser Gesellschaft überhaupt nicht für voll genommen. Die Leute wollen doch immer mit irgend’ner Story den Preis 128
irgendwie drücken, am besten gegen null, und dann werden dir Liebesgeschichten aufgetischt. Lügengeschichten – Weil man doch so glücklich sein müsste, mit ihnen. Das ist die Schweinerei, das macht den meisten Ärger. Und das haben alle im Dienstleistungsbereich. Das ist Prostitution im wirklichen Sinne. Immer auf der Suche nach dem Billiganbieter, was? Immer schleimen. So ein Scheißgefühl. Rechnungen müssen gezahlt werden, aber sofort. Nicht dieses Geldbunkerspiel. Respekt! Es geht nicht um die hundert Mark, die erst beim nächsten Mal gezahlt werden. Es geht um den Respekt, der fehlt. Es müssen nur fünfzig Pfennig sein, die er mir morgen garantiert noch vorbeibringt: Scheiße! Zustimmendes Nicken – man investiert quasi in eine fiktion: die gunst der stunde – Klinger schlug die Augen auf. Aus dem «Club No. 2» kam eine übermüdete Frau in schwarzer Plastikuniform. Sie bemerkte ihn nicht, verabschiedete sich kaum von ihren Kolleginnen und ging rasch in Richtung Ausgang.
22. OKTOBER Früher Morgen
Der eiskalte steinerne Himmel, die Wolkengebäude, die Jetstrahlstraßen. Die blaue Stunde: Schönheit, die aus einer Form in die andere trat, aufgefächert zur Museumsinsel, verdichtet zu Gebäuden in kaum sichtbarer Bewegung, aber kontinuierlich sich verändernd unter dem gigantischen Fast-forwardKnopf eines Unesco-Förderprogramms. Eine Hure in einem geparkten dunklen Bus, auf dessen Seitentüren «VIP-Car» geschrieben stand – tief beugte sie sich über den Fahrer und saugte ihn aus. hier schlägt ein herz, unter all dem riffraff – ein herz – Er hatte Sophia eingeholt, war dann neben ihr herspaziert, bot ihr eine Zigarette an und wünschte ihr einen guten Morgen. Sie ließ es geschehen, konnte sich kaum an ihn erinnern, war müde und hatte noch drei Stunden Zeit vor einer Klausur über «Bild und Tod» am kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität, wie sie ihm erzählte, tote Haut wie Raureif auf den Lippen, während er das leicht Roboterhafte an ihrem Gang bemerkte, der erschöpft wirkte, dennoch den Willen ausdrückte, weiter zu funktionieren, und so liefen sie eine Weile nebeneinanderher und kamen an den winkenden Bäumen des Parks vorbei, wo es so still war, dass man das 130
Knarren der eigenen Gedanken hören konnte oder das Schaben der Speiche in der Pfanne ihres Ellenbogens, wenn Sophia beim Gehen die Arme bewegte, und sie begann nun, ihre SexUniform abzubauen, erst die Schulterverstärker, dann die Brustwölbung, schließlich das Sichtfenster vor ihrem Nabel, der wie ein Auge blickte – steckte alles in ihre große schwarze Umhängetasche aus dem Warenhaus, und jetzt bemerkte er erst, wie sehr schlank sie war, wie komprimiert – als packe der Druck der Atmosphäre sie so eng zusammen wie möglich, um sie auf diese Weise vor dem Einsturz zu bewahren, vielleicht. «Setz die mal auf –» «Gruselig!» Sophia behielt die orange Sonnenbrille nur einen Moment lang vor den Augen. «Damit sieht alles aus wie auf einem alten Stich. Seuchen überall, hier –» «Um was geht’s denn bei Bild und Tod?« «Wie verschiedene Kulturen den Tod bildlich darstellen, um was denn sonst?!» «Und wie macht das unsere?» «So gut wie gar nicht. Weil sie an ein Bewusstsein nach dem Hirntod nicht mehr glaubt.» «Glaubst du dran?» «Das studier ich grade», antwortete sie. «Was gibt’s da für Möglichkeiten – wo könnte man hingelangen, wenn man stirbt?» «Kommt drauf an, wo und wie man gestorben ist. Und was man für ein Leben geführt hat, angeblich.» «Und wenn man in Deutschland stirbt, mitten in Berlin?» «Auf dem Schlachtfeld?» Sophia grinste. «Dann gehst du in das Totenreich der Germanen ein.» «Das gibt’s?» «Ist ein unterdrücktes Totenreich. Verdrängt vom Christentum.» 131
«Und wie sieht’s da aus?» «Ziemlich farbenprächtig, wenn auch schlechtes Wetter und seltsame Sitten, wie Aufstieg nur kollektiv», antwortete sie. «Aber genau bin ich da nicht informiert. Das germanische Totenbuch ist so gut wie verschollen.» «Gibt’s da einen Himmel?» «Der heißt dort Hel», wieder grinste sie. «Aber um reinzukommen, musst du nicht nur auf dem Schlachtfeld sterben, sondern daran auch noch Gefallen finden. Ein problematischer Opfergedanke, auf jeden Fall.» «Hel?» «Große Halle. Met und Eberfleisch: Wahnsinn. Volksfestcharakter, man kennt das ja. Viele Männer, die immer wieder den falschen Heldentod sterben – aber niemals diesen Hall des Kriegslärms aus den Ohren bekommen und somit niemals erlöst werden, von diesem lärmenden Met-Zelt, wo die Rauflust siegt und bald der Harndrang – an schweren Bänken: meterlang, und das bis in alle Ewigkeit, das ist die Hölle, wobei die Musik, die dort gespielt wird, noch erschwerend hinzukommt, denn aus schlechter Musik erwachsen bekanntlich schlechte Umgangsformen – halt mal kurz –» Sie drückte ihm ihre Brustpanzerung in die Hand, während sie über die Friedrichsbrücke auf die Museumsinsel spazierten. Der Platz vor dem Dom lag verlassen, doch drang lautes Starengeschrei aus den Kastanienbäumen vor dem Kanal. «Wie gefällt dir das Ding?» Klinger zeigte auf den Dom. «An einem schönen helllichten Touristentag, die ganzen knipsenden Leute davor, die hin und her zoomen, aber nie einen Ausschnitt finden, der ihnen gefällt – das gefällt mir.» «Komm, wir gehen mal rein. Die haben doch eine Gruft. Gute Vorbereitung für deine Klausur.» «Okay», Sophia nickte, «vielleicht wird mir da warm.» 132
Durch ein Portal, das in seiner überbordenden Verzierungsfülle nach Aufmerksamkeit geradezu zu schreien schien, betraten sie den Dom, der vollkommen leer wirkte, da es wohl niemandem einfiel, um diese Uhrzeit hierher zu kommen. Beide Seitenschiffe durchlaufend, trafen sie auf niemanden, der betete, einzig sahen sie eine nordische Touristin, die, eingehüllt in ein warmes Tuch, vor dem links vom Altar liegenden Grabmal des Kurfürsten Johann Cicero stand und es zeichnete. Sie folgten einem Wegweiser durch den Mittelgang und in Richtung der Toiletten, wo eine Stiege nach unten führte, in die Hohenzollern-Gruft. «Aha, hier also liegen unsere Leichen im Keller.» Sophia ging voran, die Tasche, worin die Plastikteile ihrer Uniform klapperten, schlenkerte ihr um den Arm. Vor ihnen erstreckte sich eine kreuzförmig angelegte Gruft. Sie stand voller klobiger Zinksärge und sarkophagähnlicher, barock bis militärisch verzierter Behältnisse. Viele davon waren mit Pickelhauben ausgestattet, die an die Kuppel des Doms erinnerten, und alle waren geschützt durch gartenzaunartige Eisengitter. Zu dem Geruch von Reinigungsmittel gesellte sich hier ein Hauch von Leichenmoder hinzu. Sophia deutete auf zwei schwarz angelaufene Zinksärge, deren Deckel ein Abbild vom justierten Jesus schmückte. «Kommt mir von der Arbeit her bekannt vor», sagte Sophia. Schon bog sie im Kreuzgang rechts ab, lief bis zum Ende und dort wieder rechts, in eine kleine Kapelle hinein, wo sie stehen blieb. Königin Sophie Charlotte *30.10.1668 †1.2.1705 «Sechsunddreißig. Das schaff ich auch.» «Fühlst du eine spezielle Verbindung?» 133
«Hält sich in Grenzen», antwortete Sophia. «Wenn ich mir das Profilrelief an der Wand anschaue.» Sie strich sich die Haare zurück. «Ich hasse dicke Backen, und vor allem hasse ich Tränensäcke. Die seh ich bei meinen Freiern mehr als genug.» Sie liefen dahin zurück, wo die Wege sich teilten, und gingen zur Rückseite der Gruft, wo an der Wand ein Gipsnachguss des Auferstehungsengels prangte, darunter die Schrift: ER IST NICHT HIER. ER IST AUFERSTANDEN.
aber ich bin noch hier. «Was hast du gesagt?» Sophia schaute ihn fragend an. «Gar nichts», antwortete Klinger konzentriert und leise, da er glaubte, eine Bewegung im südlichen Gang wahrzunehmen, genau dort, wo dieser zu einer Nische verdickte. Er hielt Sophia am Arm und lief mit ihr einige Schritte in das Dunkel hinein – schon sahen sie vier vorsichtig hantierende Männer in schwarzen Kitteln und mit schwarzen Chirurgenmasken vor einem Sarg von nicht mal einem Meter Länge, einem Baby- oder Kindersarg. In diesem Moment schälte sich neben Klinger eine massige weibliche Aufsichtsperson aus dem Marmor hervor und zischelte: «Wie sind Sie hier hereingekommen?! Die Gruft ist erst ab zehn Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet!» «Die Tür stand auf. Was wird hier gemacht?» Die schwarz gewandeten Gestalten, die sich nur über Handzeichen, Augen und Kopfbewegungen verständigten, bewegten sich kaum. «Restaurierungsarbeiten», flüsterte die Wärterin böse. «Hier in der Gruft?!» «Man kann den Sarg nicht bewegen. Der Inhalt würde sofort zerfallen.» «Wer liegt denn drin?» 134
«Nummer 63», wisperte sie scharf. «Ein namenloser Prinz. Um die Identifizierung geht es ja.» «Wie funktioniert das?» «Sie sollten jetzt gehen, aus gesundheitlichen Gründen. Aber nun muss der Ausgang verschlossen bleiben. Damit kein Lufthauch entsteht. Der Sarg wird in wenigen Momenten geöffnet. Bleiben Sie ganz ruhig und sprechen Sie um Himmels willen nicht!» war ja nicht so das inspirierte Königshaus, die ollen zollern, olla? Die Museumsfrau stutzte. Als habe sie etwas nicht ganz verstanden, beugte sie sich in den Raum – viel zoll zahlen, wa? Fassungslos blickte sie in Klingers vollkommen ausdrucksloses Gesicht. Er zuckte mit den Schultern und lächelte. Die Restaurateure, die ihren Beobachtern keinerlei Aufmerksamkeit schenkten, setzten an allen vier Ecken des Sarges zwei Hebel an. Dann schauten sie sich gegenseitig auf die Masken und nickten. Nun hoben sie an – unendlich vorsichtig, um ja keine Erschütterung zu provozieren – und der zunächst haarfeine Spalt, dessen Entstehen ein langes, gequältes Ächzen begleitete, weitete sich – schließlich hatten sie den nicht sehr großen Deckel von seinem Unterbau gelöst und blickten hinein. blasiert blasen blaublütige nasen – Ein Luftzug – ein rauchiger Husten wie ein Worthauch, den keiner verstand, der aber vom Gang zum Sarg hin strömte und ganze Arbeit leistete – innerhalb von Sekunden, das war an den Gesichtern der Restaurateure zu sehen, die entsetzt schauten hinter ihren Masken. «Gehen Sie!» Die aufgeregten Arme der Wärterin wiesen in Richtung Ausgang. Sie war völlig außer sich, da sie vermutete, ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen zu sein, ohne 135
jedoch zu verstehen, was gerade passiert war. «Und wenn Sie noch einmal die herrschaftliche Familie beleidigen, erteile ich Ihnen Gruftverbot!» auf lebenszeit? Sophia und Klinger liefen auf den Ausgang zu. Hinter ihnen polterte der Deckel auf den Sarg zurück. Ein brauner Dunst, überall in der Gruft. «Atmen wir jetzt namenlosen Prinzen?» «Vielleicht törnts.» «Hast du auch diese Stimme gehört?» «Was meinst du?» Klinger las einen Wegweiser, sie stiegen nach oben. Zur kaiserlichen Treppe. «Da war etwas», sagte Sophia, und sie liefen vorbei an Wänden, die Kreise aus blutendem Marmor zeigten. «Du hast es doch auch gehört!» GOTT IST EIN GEIST/UND DIE IHN ANBETEN/DIE MÜSSEN IHN IM GEIST/UND IN DER WAHRHEIT ANBETEN –
eine Inschrift über dem ersten Treppenabsatz. Sie erreichten die Empore der kaiserlichen Treppe, wo zwei neunarmige Leuchter von der Decke brannten. DER MENSCH LEBT NICHT VOM BROT ALLEIN –
wozu auch, wo’s doch ketamin gibt. Sophia setzte sich auf eine mit Brokat ausgeschlagene Bank. «Was hast du eben gesagt?» jeder spricht seine eigene sprache und hat seinen eigenen zungenschlag. und dennoch verstehen sich alle, dafür sorgt schon: der heilige geist. «Ich bin abgespannt.» Sie streckte die Beine. «Ich muss mich ausruhen, sonst pack ich die Prüfung nicht. Und ich brauch den Schein – unbedingt.» «Ruh dich aus», sagte er. «Ich bin auch ganz müde. Mein Kopf tut fürchterlich weh.» 136
«Ich hab Bilder von deiner Wohnung vor Augen», sagte Sophia leise, unter geschlossenen Lidern hervor. «Ein kleiner Raum voller Gegenstände, eine Leiter, die –» «Geh da nicht hoch.» küss mich. «Dort kann ich mich ausruhen, für ein paar Minuten nur», sagte sie, murmelte noch: «Küssen geht sowieso nicht –», doch Klinger packte sie am Oberarm, und sie schlug die Augen wieder auf. Ganz verwundert schaute sie ihm ins Gesicht und konnte bald ihren Blick nicht mehr abwenden, irgendetwas fesselte sie dort. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände. Dann schlossen sich ihre Lider und auch die seinen, geradeso, als würden Jalousien heruntergeklappt, gegen die durch ein kaiserliches Buntglasfenster hereinfallende Sonne, und sie drehte seinen Kopf in den Farben, die wie durch ein Kaleidoskop rhythmisch gemustert waren. «Ich will dir was sagen.» Sie näherte sich, er hörte ihr Züngeln an seinem Ohr, das Eindringen der Zungenspitze in den Vorhof der Muschel hörte er, fühlte den Schmerz der Kruste, doch schnell fand Sophia den Weg zum Trommelfell – ein Glockenschlagen, das den Dom der Paukenhöhle durchschlug, und er öffnete leicht die Lippen - da hatte sie gefunden, wonach sie suchte, räumte es beiseite, wie Gerumpel von einer Tür, und zurück blieb eine Perle von ihrem Speichel, weiter nichts. «Da war etwas», flüsterte sie. «Das hab ich rausgeholt.» «Was denn?» «Warte, verdammt, es liegt mir auf der Zunge.» Ihre Augen blitzten, da vernahm er – sein Gehör jetzt überhellwach –, wie eine Etage tiefer ein großer Schlüssel im Zylinder sich drehte. «Ich muss zur Uni!» Sophia sprang auf. Sie stiegen die kaiserliche Treppe hinab. Niemand war in dem riesigen Gebäude, das nach dem Abmarsch der Restaura137
teure noch einmal für eine Stunde geschlossen wurde, bevor der Morgengottesdienst begann. Erst drückte er, dann warf sich Klinger gegen das Portal und es krachte auf. Lichtüberfluteter Lustgarten. Das Geschrei der Stare: läutende Glocken.
23. OKTOBER Tag
«Was klaut der Berliner am liebsten?» Fechter-Schmidt zog eine Liste aus der Tasche ihres beinfarbenen Rocks: «Hier, die Top-Ten der Ladendiebe: 1. Kosmetikartikel 2. Textilien 3. Elektroartikel 4. Zigaretten 5. Schmuck und Uhren 6. Lebensmittel 7. Drogerieartikel 8. CDs 9. Spielwaren 10. Sportartikel Wussten Sie eigentlich, dass alle 13 Minuten ein Dieb in Berliner Geschäften entdeckt wird? Über 43000-mal in zwölf Monaten! An jedem Verkaufstag räumen Diebe Waren im Wert von 500000 D-Mark aus den Regalen!» Ihre Füße scharrten. «Der Verlust beläuft sich auf rund 185 Millionen pro Jahr. Wir kommen mit dem Eindämmen kaum hinterher. Doch allein im letzten Berechnungszeitraum haben wir über dreißigtausend Warendiebe geschnappt. Beinahe die Hälfte 139
war jünger als 21 Jahre. Jeder hatte durchschnittlich Diebesgut für 154 Mark in der Tasche. Das sind extreme Verluste, und eins ist wohl klar: Letztlich schlägt sich das in den Preisen nieder. Ich möchte mit Ihnen reden, Herr Klinger!»
Oder welches Wonnebeben – Was Gefundnes aufzuheben und es dann nicht und es dann nicht abzugeben! «Gibt’s Stress?» «Ich will nicht sagen, dass ich Druck von oben bekommen habe, denn oben haben sie überhaupt keinen Durchblick, was wir auf unserer Ebene wirklich tun, welchen Belastungen wir ausgesetzt sind. Außerdem halte ich schützend meine Hand über Sie. Weil ich Sie mag, aus keinem anderen Grund. Aber Bedenken kommen in letzter Zeit immer wieder auf, wegen Ihrer Quote.» «Ich bin doch keine Maschine –» «Ich bitte Sie: Schauen Sie genauer hin. Und wenn Sie einen Dieb sehen, lassen Sie ihn auf alle Fälle bis zum Ende sein Handwerk betreiben, damit sich die Streitsumme erhöht. Erst im letzten Moment, wenn er sich davonstehlen will, dann schlagen Sie zu, verstehen wir uns?»
«Ich hab seit gestern so einen komischen Geschmack im Mund.» «Nach was?» «Asche. Oder Metall.» 140
«Wie war die Klausur?» «Verkrampft», antwortete Sophia und nahm in der Küche des Baus ein Glas Orangensaft an. «Moskitos!» Sie schlug auf ihren linken Oberschenkel, wo die Uniform einen Streifen nackter Haut frei ließ. «Ende Oktober!» «Die brüten eine Etage tiefer, dort ist es feucht.» «Ich hab eine magische Anziehungskraft auf Ungeziefer aller Art –» Unruhig blickte Sophia umher und kam nur langsam zur Ruhe in ihrer babylonischen Tracht, während Klinger sie beobachtete und versuchte, hinter all das Plastik und Leder zu schauen, wo eine recht junge Person noch steckte, stark verschattet in all den Bauten der Uniform. «Süßes Blut wahrscheinlich.» Er nahm eine halbe Zitrone vom Fensterbrett, träufelte ein paar Tropfen in ihr Glas. «Das jagt sie davon.» «Danke.» Geräuschvoll stieß sie Rauch aus und trank. Schaute dabei durch das Fenster der Küche über den kleinen Balkon hinweg nach hinten zum Annex. «Der Boden vibriert!» «Nur eine Tram.» «Ich würd krank werden, wenn das dauernd so unruhig ist.» «Dafür ist die Lage schön zentral.» Er atmete aus. «Man ist superschnell im Warenhaus, im Dom, im Puff –» «Geht die Wohnung noch weit?» Sie deutete mit dem Kopf in Richtung hinterer Trakt, der sich in einem Labyrinth aus Scheibenspiegelungen verlor. «Dort ist es ruhiger, oder?» Sie stand auf, und noch bevor er reagieren konnte, war sie aus der Küche verschwunden, lief schlafwandlerisch durch den dunkellila gestrichenen Flur und zielstrebig nach hinten in den Annex, woher leise Musik erklang.
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Sophia blieb Ewigkeiten verschwunden. Zunächst hatte er noch geglaubt, sie wolle sich nur kurz einmal umsehen, um dann zu ihm zurückzukommen, doch offensichtlich hatte sie es sich anders überlegt. Es war nun ganz still. Irgendwann wurde er unruhig und stand auf. Sie saß auf dem Boden vor der Kleiderkammer, die schwarzen Haare umflossen einen schwarzen Kopfhörer, vorsichtig nahm er ihn ab: «Was hörst du da?» «Was hast du gesagt?» Ihre Haut war wie Kalk und aus den Lippen alle Röte verschwunden. «Was ist das für eine Musik?» «Keine Ahnung. Irgendwas Seltsames gerade passiert?» «Mir ist hundekalt geworden auf einmal», sie umfasste ihre Knie. «Als würde mir jemand die ganze Wärme wegnehmen.» Sie beugte ihren Kopf zu den Füßen. Zum ersten Mal beachtete er ihre Schuhe, die so gar nicht zu der martialischen Uniform passen wollten. Keine eleganten Kampfstiefel, die die Straßenhuren meistens trugen und die auch als Waffe einsetzbar waren mit ihren spitzen Absätzen, sondern ein flacher, schwarzer Lederschuh, der nur leicht über ihre Knöchel strich. Klinger betrachtete die Stadt im Hintergrund, auf der anderen Seite des Fensters, die verletzliche Haut der Fassaden, eingerüstet, narbenversehen – dann wieder ihre Lippen, die sich leicht bewegten, als wollten sie etwas sagen: dass sie spürte, wie sie sich tatsächlich näher kamen vielleicht, und sie betrachtete sein Gesicht in der Spiegelung der Scheibe, bewegte sich darauf zu, und er drehte langsam den Kopf, wolfsartig, um ihr wieder in die Augen zu schauen, doch seine Lider hingen jetzt, und er bleckte die Zähne zu einem Lächeln – sie schreckte auf – und wo sich eben noch seine Augen in der Fensterscheibe gespiegelt hatten, sah sie jetzt einen knochigen Schädel, der grinsend ihre Gedanken zu lesen schien – «Was 142
ist hier los?», flüsterte sie, doch Klinger gab keine Antwort, hielt seine Hände von ihr fern, die bereits flatterten, während Sophia in der Spiegelung sah, dass sich all die intensiven Gefühle zu Schatten verdichteten, und wie ein Schwarm Vögel ließen sie sich auf den Annex herab, um ein Becken zu finden – sie stand auf.
24. OKTOBER Früher Morgen
Hinter den großen Fenstern fuhren Kirchen um Ecken, die Passagiere im stillen Gebet, auf Ankunft vertrauend. Klinger drückte eine Zigarette aus, sein Arm gebeugt, Kopf schräg auf der Hand, die nach Nikotin roch – er spürte die Kruste des Schnitts und wusste nicht, ob das Brausen im Ohr der Straßenkrach war oder sein Blutkreislauf, der Lärm seiner Lebenslinie vielleicht, dieser Puls eines frühmorgendlichen Verkehrs, und in den vorderen rechten Raum ragten die Hälse der Laternen hinein und nickten wie Halme im Wind – nach vorne, dann wieder Rückschlag, nach vorne, zurück. Sophia schminkte sich im Außenspiegel eines parkenden Autos. Ware, die sich selbst betrachtete, um immer verführerischer zu werden, sich den Hackeschen Marktbedingungen anzupassen: kalte Intelligenz. Ein Schutzmann in grünem Leder kam auf sie zu, die unförmige Pistolentasche schlug ihm gegen den Schritt. Er sprach sie an, holte einen Straßenplan aus seiner Hose, entfaltete ihn und deutete. Sie schaute auf, kramte Tabak aus ihrer Geldkatze, die Augen auf den stockenden Verkehr gerichtet, dann senkte sie ihre Lider, zuckte mit den Schultern und nickte – 144
drehte sich um und lief maschinenhaft die Straße nach oben, verschwand aus dem Sichtfeld des Baus.
Klinger saß an der Bar. Schreckte herum, weil ihn jemand berührte. Vor ihm stand Sophia, lächelnd, zeigte die Zähne, die eine schneeweiße «Gründerkrach»-Pille hielten. Reinstes MDMA, das ihr ein Kunde vorhin als Trinkgeld gegeben hatte, ein Fahnder des Berliner RD. Sie schaute fragend, er hob die Schultern, also küsste sie ihn und zerbiss das Weiß, zwinkerte ihm zu und verschwand im Nebenraum des Cafés, wo sie auf die Tanzfläche glitt und binnen Minuten in ihre eigene private Ekstase hinein, ihren wohlverdienten Urlaub, den sie brauchte nach dieser Schicht – unbeeindruckt von Klingers Blicken, der sie immer wieder mit Augen suchte, von der Pille auf seine Rakete genagelt, und als die Wirkung voll einsetzte, fühlte es sich bei Sophia so an, als sitze ihr eine Faust im Bauch, die sich allmählich öffnete, um sie zu kitzeln: eine mächtige Rosenknospe, die sich zur Blüte entfaltete, langsam und nicht zu leugnen, und sie hörte ein Rauschen – die Säfte, die zischten und flössen, oder stockten, bis die Dämme brachen – sie schloss die Augen und tanzte. Eine Party. Doch war dies nicht mehr der Nebenraum des Nadine unter ihren Lidern, sondern ein stark vergrößertes Zimmer mit löchrigem Parkett, wo sie sich plötzlich befand, mit Fenstern, die aus dem zweiten oder dritten Stock in eine Stadt hinein sahen, die verändert schien, ein paar Jahre jünger vielleicht – Zahnlücken, wo eigentlich Neubauten zu sein hatten, die große Plakatwand gegenüber nicht da, der lange Arm eines Baukrans, der dort nicht hätte stehen dürfen, zog mit der Uhr seinen majestätischen Kreis, und die Straßenbahn, die 145
jetzt vorbeifuhr, war orange. Sophia wandte sich vom Fenster ab und schaute in die beiden vorderen Räume hinein, die zusammenflossen zu einer großen, weiten, bis zum Bersten gefüllten Fläche – sie tanzte mit geschlossenen Augen, Klinger las aus ihrem zugedeckten Blick – nie hat sie so viele Leute in einem geschlossenen Raum gesehen – nein, die Räume sind nicht geschlossen, alles ist offen, überall Schwaden von Nebel, in denen die Leute verschwinden, um woanders wieder aufzutauchen: Der Rauch kratzt ihr im Hals, und alles verwischt vor den Augen in einem schweren, fetten Dunst, in dem die Bewegungen Schlieren hinterlassen, silberne Effekte, und so versucht jeder, besonders schöne Bewegungen zu machen – Rauch, immer mehr Rauch, und in dieser Himmelhaftigkeit ist alles weichgezeichnet, dazu die Musik, in der sie sich bewegt, ein wenig verloren, aber völlig gelassen – nie sind die grenzen so geflo – THIS IS AN ANNOUNCEMENT: WE HAVE DETECTED AN UNIDENTIFIED FREQUENCY THAT MAY PROVE DANGEROUS TO YOUR BODY AND MIND. THEREFORE WE ARE CONDUCTING A TROUBLE SHOOT TEST – sie sucht nach dem DJ, während sie tanzt, und sieht jetzt sein Licht, die Silhouette über den beleuchteten Decks, die Maske mit den Augen- und Atemlöchern, weit hinten an einer Außenwand und mit dem Rücken zum Markt, kaum erkennbar, so viele Leute dazwischen, ganz weit weg, aber präsent, in jeder Bewegung eines jeden Tanzenden, weil, er macht die Musik und lässt jeden Moment etwas anderes passieren als das, was Sophia erwartet - die noch nie so hingerissen getanzt hat, für ihn und dennoch frei, in diesem Film, auf den der DJ sie schickt, seine Radikalität tausendfach verstärkt – sie spürt ihre Knochen, ihr Gerüst, das sie schüttelt: Lust, wie es da klappert, doch langsam löst sie sich auf, gleich gibt es keine Trennung mehr zwi146
sehen ihr und dieser Musik – WE REPEAT: THIS IS ONLY A TEST – sie fließt ihm entgegen, nur er und sie noch zu sehen, alle anderen hat er weggeschickt – sie gerät in seinen Zeitloop hinein, die Schlaufen seiner Musik – nur sie beide existieren jetzt, und du bist nah, denkt sie: Du bist die Luft, in der ich atme, und doch ist er weit weg, am anderen Ende des endlosen Raums und erhöht vor seinen Decks, und immer noch tanzt sie für ihn, er lenkt den Augenblick mit seiner Musik, macht Musik nur für Sophia, die bedient wird, umschmeichelt, endlich einmal, sie tanzt durch die Räume und dreht sich, für ihn – und er fordert sie auf, ganz bei ihm zu sein in der Nacht – die dann niemals mehr aufhört, niemals mehr stoppt, die dann niemals mehr – THE FATHER. THE SON. THE HOLY SPIRIT. THE PAST. THE PRESENT. THE FUTURE. THE YING. THE YANG. THE YUMM. I REPEAT: THIS IS ONLY A TEST – Wie sie seine Hand akzeptiert – Weil das Diesseits ihren Vorstellungen von einem wahrhaft intensiven Dasein so sehr hinterherhinkt – Er möchte ihr etwas zeigen. Die Kapuze tief übers Gesicht gezogen, ein leise klimperndes Kettenhemd über dem nackten Torso – sie geht hinterher, weil sie ihm vertraut und so neugierig ist –, er führt sie und fasst sie an der Hand und damit überall: Will sie mitnehmen, hat eine Zigarette im Mund, einen glühenden Punkt, dem sie folgt, noch immer am Tanzen, das völlig selbstverständlich geworden ist, und es kommt ihr so vor, als öffneten sich die Poren ihrer Haut, alle auf einmal, und Klänge schlüpften hinein. Als seien alle Wendeltreppen in allen Zellen begehbar, und dort liefen die Töne nach oben und wieder nach unten oder in Räume hinein, die verschlossen waren, von schweren grauen Platten verstellt – 147
Sie ist allein mit ihm. Sie kennt den Raum. Doch sieht er anders aus, noch zugestellter, die Technik zusammengeschlossen zu einer unüberschaubaren Batterie. Sie stehen nebeneinander, ein Verstärker glimmt, ein Summen, dann ein Rauschen wie vom Meer – Von einer Sekunde zur nächsten liegt er oben, in jener Vertiefung der Wand. Streckt sich aus auf einer knisternden Tatami und bläst Rauch, der zu Samt wird, wo das Licht durch das Buntglas fällt, sich in Wellen wiegender Samt, der ihren Blick sachte fesselt – Überschwemmung des Gehirns – angenehm – sie steigt die Leiter hoch und liegt neben ihm – die Fasern des Teppichs: riesengroß, die Halme aus künstlichem Stoff – der Plattenspieler neben der Tatami: in einem endlosen Loop: die Diamantenfasern der Nadel – Nadel des Plattenspielers im Hirn – seine Augen: komm, wir beide gehören zusammen, ich bin sonst allein, schon immer zusammen, komm – und Igor wird Rhythmus, geht immer mehr über in vibrierende Luft, in die Sophia den Duft ihres Leibes verströmt, als sie sich entkleidet, weil es so heiß ist, und nie hat sie etwas derart Starkes erlebt, war nie von einem Gefühl mehr beeindruckt – da entsteht ein Sog, der Erfüllung verheißt und alles an sich reißt, und ihre Begierde erwacht, sie schaut ihn an – es kommt ihr vor, als würde er winken, doch seine Hände sind dünne Fahnen aus Rauch, die langsam in Richtung einer kreisrunden Öffnung ziehen, Nebel über der Tanzfläche: er bläst die Kerze aus, die neben dem Plattenspieler steht – ich habe platz in mir geschaffen, du kannst nun in mich hinein. Alles ist ruhig. Er rührt sich kaum, nur diese kleinen Bewegungen der Finger: Feuerzeug aus der Hosentasche, zwei Zigaretten aus der Schachtel, anzünden, ziehen, ausatmen, weitergeben, noch einmal – doch um all diese Ruhe herum tobt es, da 148
rast sein Geist – WE REPEAT: THIS IS ONLY A TEST – und er raucht, nimmt einen Zug nach dem anderen, streckt seinen Arm nach ihr aus, lädt sie zum Mitkommen ein – es ist der Tod. Rasiermesserscharf – dieses Wort in ihrem Kopf – Igor zieht, so stark, als sei es zum letzten Mal, und lässt die Hand auf den Teppich sinken – flüstert, legt eine staubige Schallplatte auf, die Nadel blitzt, und Sophia kann sich nur noch hingeben jetzt – sie weiß nicht, ob das Ungeheure, das sie verspürt, nur die Lust ihres Körpers ist, oder eine viel größere, eine Überlust, an die er sie anschloss, und war noch gestern, draußen, die Furcht vor der Unmöglichkeit aller Liebe in ihr lebendig, ist sie auf einmal jenseits jedes Schreckens, jeder Angst – wieder ein Flüstern, aber kalt – vollkommene vereinigung – komm – und der aufgeregte, beinahe rosige Teint des Gesichtes neben ihr wird fahl, Brauen wellen sich, der zuvor noch so volle, wenn auch harte Mund öffnet sich zu einem großen Loch – Igor richtet sich auf. Beugt sich über sie. Sie liegt auf dem Rücken, Arme an der Seite. Er zeichnet eine große Gabelung über ihren Körper, die von den Spitzen der Schulterblätter kommt, sich über dem Herzen trifft und in einer Linie auf ihren Schritt zuläuft – ein Ypsilon auf ihrem Leib, den er dadurch trennt von ihr, die letzten Fäden zerschneidend, zwischen ihr, dem wahren Kern ihres Wesens, und dieser vorübergehenden, wertlosen Existenz – Igor zieht, ein weiteres letztes Mal, und lässt die Hand auf den Teppich sinken – der Untergrund der Tatami schwelt, und binnen Sekunden ersteht ein ganzes Universum aus Hitze und Nebel, Musik und Rauch: Nie wieder Tagwelt! Es funktioniert – so kurz stehen sie beide davor, ein Tor öffnet sich, blank, silbern, gleitet in der Mitte auseinander: in einem hauchdünnen Moment gehen wir, und nie wird jemand verstehen – der Rauch beginnt eine Entführung, verschleiert, es fällt leicht, mit diesem Rauch mitzugehen, es ist 149
schön – eine Hitze, als würde alles in Atome zerblasen – Sophia schwebt, und er greift nach ihr, nur noch im Geist – weist ihr den Weg, und der gesamte Bau senkt sich unter seinen Schritten, sodass er nach unten läuft, in eine vom Heck des Annex her kenternde Wohnung hinab – die Räume vorne ragen bereits weit in den Himmel – und immer den Gang entlang, einen Gang in sich selbst hinein: wo es immer größer wird, aber auch immer enger, und es schließt ihn ein, das letzte Stück spitzt sich zu, doch dort liegt die Kammer hinter der Kammer: Dort erklingt der erlösende Ton, nach dem er sucht, das muss so sein. Das Portal wird offen stehen, und er hätte es geschafft: sein letzter, allumfassender Wunsch: die Gegenwart, den Schmerz, der nie stillsteht, zu überwinden in einem großen, ewigen, nichtoxidierenden Moment – um in der dichtesten, reinsten Ansammlung von Unsterblichkeit aufzugehen – er dreht sich um: Sophia! Er spürt: Sie zögert, also geht er alleine, weil man hier nicht zögern darf – aber dreht wieder um, weil er sie bei sich haben will, läuft zurück in den Bau, weil sie mitkommen soll, doch ist sie nicht sicher, und Igor preist den Tod, dessen ultimative Radikalität, die zu zweit noch viel besser ist – und zeigt sein Unverständnis über ihr Zögern, öffnet den Mund, schwarze Striche strömen hinein, in wachsender Geschwindigkeit, wie Schlangen in ihre Grube bei Gefahr, und für einen Moment lang wimmelt es hektisch, er reicht ihr die Hand, sie nimmt an, sie gehen ein Stück, dippen hinein, ihre Augen zwinkern unter geschlossenen Lidern – doch da ruft in die fernen Träume von Sophia, in die glühende Verlorenheit ihres Rausches ein letztes Mal das Leben hinein, mit unverkennbarer Stimme: eine Berührung des Körpers, der irgendwo unter ihr liegt – zart und versprengt erreicht sie dieser Druck auf ihrem fremden, heißen Weg, auf dem sie mit Igor vorwärts wandelt und der in den Schatten, in die Kühle und in den 150
Frieden hineinführt, so erklärt er ihr – doch sie horcht auf, ein allerletztes Mal – vernimmt diese flüchtige, gleichsam bestimmte, durchaus fordernde Mahnung zur Rückkehr und dreht noch einmal um, auf diesem Gang, der wegführt von allem – und Sophia zuckt zusammen, vor Furcht und Abneigung bei dieser Entscheidung, aber die Berührung funktioniert wie ein Erinnern, ein Schub frischer Energie, und egal, wie weit sie auf dem fremden, zunehmend unübersichtlichen Pfad schon gekommen ist, jetzt kehrt sie um – «Alles klar?» Klingers Hand auf ihrem Arm, und sie nickte, schlug die Augen auf, schüttelte den Kopf. Er führte sie zur Bar, etwas Wasser, dann nach draußen: abkühlen, in frischer Luft. Sie spazierten über die Wiese des Parkabschnitts direkt am Kanal. Sophia rauchte eine Selbstgedrehte nach der anderen, Abschnitte mit spürbarem Anfang und Ende. «Du hast mich berührt», sagte sie leise, ihr Gesicht wie ausgeblutet, die Augen zerbrechlich und groß. «Und sofort hab ich den Kontakt zu ihm verloren. Ich hab das Ende verpasst, es war knapp. Wenn du mich nicht berührt hättest – ich wäre mit ihm gegangen. Nie hätte jemand verstanden, was passiert ist. Kreislaufkollaps. Drogentod –» Sie blies Rauch in die Luft. «Was ist in deiner Wohnung passiert?» «Mein Vormieter – Bewusstsein noch vorhanden, trotz Hirntod. Du bist in seine letzte Nacht hineingeraten.» «Was meinst du?» «Seine Todesnacht. Die spielt sich in meiner Wohnung immer wieder ab, wie eine Platte, die hängt», antwortete Klinger. Dann erzählte er ihr alles, was er über Igor wusste. «Das ist verrückt», sagte Sophia nach einer Weile. «Ich bin da jetzt drin, in dieser Geschichte.» 151
«Und du solltest schnell wieder raus.» «Aber sie interessiert mich», erwiderte sie. «Was ist das Letzte gewesen, was du vorhin gesehen hast?» «Da war ein Gang.» Sie rauchte bei geschlossenen Augen. «Da war ich schon nicht mehr bei ihm, da war er allein. Und je weiter er den Gang entlanglief, desto enger ist es geworden. Ich will jetzt nicht mehr gestört werden – das hat er noch gesagt und mir die Hand gegeben, das war seltsam. Weil, kurz darauf kam er zurück und hat mir wieder die Hand gegeben, dabei aber versucht, mich mit ihm zu ziehen, doch als ich dann mitgehen wollte, kamst du. Und die ganze Zeit über lag sein Körper in dieser Vertiefung der Wand, wo alles verqualmt war. Der Körper erstickte, aber der Geist hatte sich schon befreit. Und dann hat er sich fallen lassen, ein letzter Rettungsversuch. Der orientierungslose Körper, der sich durch den Annex schleppt, den hab ich noch gesehn –» Sophias Stimme klang brüchig. «Und dann» – beinahe brannte der Stummel einer Selbstgedrehten in die Haut ihres linken Zeigefingers, und sie warf die Reste ins Gras –, «hatte er zwei Türen zur Auswahl – und ist in die rechte hinein, in so eine stickige Kammer, und schloss noch die Tür hinter sich, und dann war er weg.» «Er ist in die Kleiderkammer?» «Kannst du dir vorstellen, wie sich ein Körper anfühlt, während er stirbt? Diese letzten Momente? Diese Schreie: als ob jede Zelle schreit.» Sophia richtete sich auf. «Der Körper, ohne Bewusstsein, das längst woanders ist. Dem die Luft ausgeht, die Lungen voll mit Qualm, der ins Blut geht und überallhin getragen wird – der beißende schwarze Qualm im Gehirn, der blanke Schmerz, Schmerz in Reinform, dem Gehirn geht der Sauerstoff aus, es erstickt – wie fühlt sich das an? Und was denkt der Geist, wenn er zurückkommt und seine Behausung ist nicht mehr da?» 152
«Meinst du, es war ein Unfall?» «Ich bin mir nicht sicher», antwortete Sophia. «Ich hab noch nicht alles gesehen.» «Ich will nicht, dass du dich darin verstrickst.» «Du hast mich doch in deine Wohnung gebeten! Hast du nicht erkannt, wie durchlässig ich bin? Aber es ist gut, dass ich es gesehen habe. Ich bin jetzt Zeugin. Ich habe seinen Mut gesehen, seinen Wahnsinn. Es war ihm zu wenig, was sich auf dieser Seite abgespielt hat, auch wenn er noch daran hing, an manchem jedenfalls. Er wollte was mitnehmen, mich. Das hat ihn zerteilt. Es war kostbar, was ich mit ihm erlebt habe.» «Kostbar?» Klinger sprach leise. «Als er dir klargemacht hat, dass du mit in den Tod musst, wie zum Beweis deiner Liebe?» «Nein, du verstehst nicht.» Sophia schüttelte den Kopf. «Du kannst ihm keine Vorwürfe machen. Er hat es immer weiter getrieben, es gab für ihn keinen Halt. Er ist über jede Barriere hinweggegangen – nicht nur im Kopf, sondern mit Haut und Haaren. Das achte ich. Er ist Musik geworden, ein extremes Stück. Er ist zum eigenen Requiem mutiert, weil er seinen seltsamen Weg immer weiter gegangen ist, bis zur äußersten Grenze, und auch dort ist er hinüber. Ich will den Kontakt mit ihm nicht verlieren.» Geräuschvoll atmete sie aus. «Ich werde ihn suchen.» Sie stand auf. «Bleib noch einen Moment.» «Was meinst du wohl, was ein Gefühl so intensiv macht?» Sie schaute abwesend zum Fluss. «Der Geist facht es an, wie der Wind ein Feuer.»
25. OKTOBER Abend
Eifersucht wuchs wie Korallenstaub in einer Wunde, die sich immer wieder schloss, in den herkömmlichen Verrichtungen, den Kontrollgängen durch das Warenhaus, dem Besorgen von Nahrung, dem alltäglichen Schlaf, doch unter der Kruste war ein ideales Lebensumfeld für die Stäubchen, die dort nisteten, an irgendeinem Knochen vielleicht, in einem Organ oder einer Lymphbahn, um ein schillernd buntes Drama erblühen zu lassen, eine Oper beinahe, und so genau er auch hineinhörte in sich, um diesem Wachsen zu lauschen, so war es doch nicht einfach, den genauen Ort zu lokalisieren, wo es stattfand, in dieser Situation, in der der Rivale nicht mehr am Leben war. «Wir sind kurz davor, den gordischen Knoten zu durchschlagen!» «Was meinst du?», fragte die Türhüterin, misstrauisch bis ins Mark. «Ach, nur so ein Satz, der mir im Kopf rumspukt.» «Wie bitte?» «Ich red von Igor und seinem Verhältnis zu Frauen.» «Der ganze Typ war ein gordischer Knoten», entgegnete sie gereizt. «Den wirst du nie durchhauen, glaub’s mir, dafür ist er viel zu schwer zu fassen.» 154
«Du wolltest mir noch von seinem letzten Abend erzählen.» «Da gibt’s nichts mehr zu erzählen», sagte sie. «Das war wie immer. Ich hab dir ja gesagt: Er hat sich an mir festgeklammert, und dann hat er den Glauben an mich verloren und mich weggeschickt.» «Um wie viel Uhr war das?» «Uhr? Ich kann mich an seine sanften braunen Augen erinnern, aber nicht an eine Uhr.» Sie fertigte ein wartendes Touristenpärchen ab, indem sie ihnen erklärte, sie könnten jetzt nicht hinein, das wäre viel zu schrecklich für sie, aber natürlich wäre hier draußen noch ein Platz, und sie wies auf eine verwaiste Holzbank, die vor Kälte triefte. Das Pärchen beratschlagte in fränkischem Dialekt, dann setzte es sich. «Ich sei der letzte Fels in der Brandung seines Lebens, hat er noch gesagt.» Sie wandte sich wieder Klinger zu. «Und dann hat er gelacht, der Arsch. Weil, ich war nie ein Fels für ihn, höchstens ein Stein, immer wieder überspült.» «Hast du ihn geliebt?» «Geliebt?» Sie wurde still, und eine Brigade angetrunkener Bauarbeiter drückte sich an ihr vorbei, unter den empörten Augen des Pärchens aus Franken, «‘türlich habe ich ihn geliebt», antwortete sie. «Diesen letzten Vertreter einer vom Aussterben bedrohten Rasse – einen der letzten Männer – wirklich – stark zwar, mutig und schön, doch dann müssen sie weichen, einer gewaltigen, korrupten, mit allen Mitteln agierenden Übermacht, die das Land überschwemmt – ja, die Frau liebt ihn dafür, natürlich –» «Machst du dich jetzt lustig über ihn?» «Und wie er immer erzählt, solche Sehnsucht zu empfinden. Sehnsucht nach Reinheit und so ein Quatsch. Da werden wir Frauen ganz gerührt und versprechen uns dies und jenes 155
oder sagen am besten gar nichts, denn wir wollen ihn ja nicht mit unseren eigenen kleinen Problemen belasten, da sein Lebenssaft ohnehin kurz vor dem Versiegen ist, weggeätzt durch die Drogen und ersetzt allerhöchstem von dem wohlig warmen Strom eines Musikflusses, den er mit seinen Fingern schafft, immerhin – der sie wegträgt, die liebende Frau, ganz weit weg jedes Mal, vor allem, wenn man noch gut was geraucht hatte, und manchmal machte ihn doch tatsächlich seine eigene Musik noch einmal geil, und dann zauberte er ein letztes Mal einen liebevollen Übergang, der völlig unvorbereitet in einem harten Rhythmus mündete – und endlich war er mal wieder groß, nach all den verpulverten Nächten, und er wollte überhaupt keine Zeit verlieren, in seiner Gier, endlich mal wieder abspritzen zu können – vielleicht sogar Schlaf danach, wer weiß, und er hat losgehämmert, sein Gesicht ganz nah über meinem, hat sich aufgegeilt an meinen Schreien, obwohl ich gar nicht mehr da war für ihn, kein Platz mehr für mich – nur er und der Beat: und dann ist es passiert – was wohl – er rutschte ab – aus mir heraus, gleichzeitig Ende eines Tracks, verstummter Grundschlag, der sich unter dem gehobenen Arm des Plattenspielers dreht, dann Stille, und dann sagte er: hilf mir. ich bin gefangen. auf dem scheitelpunkt. all die musik – weißt du, wie mir zumute ist? «Was hast du da zu ihm gesagt?» «Hör auf mit den Scheißdrogen, hab ich gesagt. Du bist zu drüber. Du verlierst dich und ich dich auch, ja, für dich will ich aufhören, hat er dann gesagt. Und dann war er wieder weg, verschwunden, nächtelang. Dann kam er zurück: tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, aber mir gings ziemlich schlecht. ich mach jetzt pause, drogenentzug. ich hab an dich gedacht, es war hart, aber jetzt bin ich drüber. Doch in der 156
letzten Nacht – da hat er mich einfach weggeschickt. Da hat er nicht dran geglaubt, dass ich die Richtige bin, um bei ihm zu bleiben, um mit ihm zu gehen oder er mit mir. Da ist seine ganze Enttäuschung ausgebrochen. Hat sich alles entzündet an mir. Das hat mich so verletzt. Und dann ist er nochmal raus, sich betrinken. Und dann hat er nochmal aufgelegt, aber nur für ein paar Minuten, in dem Club unter der Zoo-ologischen.» «Er hat in seiner letzten Nacht noch aufgelegt?» «Ja, an dem Abend hatte er einen Gig, wie jeden Freitag. Aber irgendwas ist wieder schief gelaufen. Streit. Doch da darfst du mich nicht fragen. Da misch ich mich nicht ein.» «Wo ist der Club jetzt?» «In den Höfen. Kannst du nicht verfehlen. Red mal mit Schaffhausen. Und frag ihn, wie’s seiner Freundin so geht.» «Danke.» «Nichts zu danken, wirklich nicht.» Am Oxymoron-Club vorbei lief Klinger in den zweiten Hackeschen Hinterhof. Er hatte diese Gegend vom ersten Spaziergang an gehasst, doch jetzt schien ihm die Atmosphäre noch drückender geworden zu sein – schon sah er den kunstvoll gearbeiteten Schriftzug aus angerostetem Eisen: UNDERCLUB. Er trat ein, vom livrierten Türsteher kryptisch beäugt, ging zur Bar und fragte sich durch. Dann stieg er eine steile Holztreppe nach oben, um in ein Büro zu gelangen, in dem man nur gebückt stehen konnte, um nicht an die niedrige, von allerlei Rohren und Rohrinstallationen überwachsene Betondecke zu stoßen. An einem völlig zugemüllten Schreibtisch saß eine Gestalt mit kurz geschnittenen, voll gegelten, schwarzen Haaren, in einem weißen Frotteemantel mit schlaffer Kapuze. Sie kehrte Klinger den Rücken zu, dann drehte sie sich 157
um, wobei sie ein blutgetränktes Taschentuch ans linke Nasenloch hielt: «Sachmal, hast du irgendwas mit Little Louis Vega zu tun, dem drittteuersten DJ der Welt, der 15000 Dollar verlangt und sowieso furchtbar sauer ist, weil der Flug aus New York acht Stunden dauert, seit der Scheiße mit der Concorde? Wenn du nämlich nicht zu Herrn Vega gehörst, muss ich dich bitten, sofort wieder zu gehen, weil ich gerade ein kompliziertes, logistisches Problem zu lösen habe und überhaupt nicht mit dir s-ssprechen kann.» «Um was geht’s denn?» «Die H&M-Party, verdammt.» «Hackescher Markt?» «Hitler und Mussolini. Sag mal, was willst du eigentlich von mir?» Schaffhausen hielt eine Schere in der linken Hand und schnitt ein kleines Quadrat aus seinem Taschentuch, knüllte es zusammen und pfropfte es in das blutende Loch. «Ich will wissen, was in Igors letzter Nacht in deinem Club drüben vorgefallen ist.» «Igor?» Schaffhausen erbleichte, was Klinger nur sehen konnte, weil er die apokalyptische Brille trug. Einem unausgerüsteten Auge wäre das Changieren dieser ohnehin starken Blässe kaum aufgefallen – während Schaffhausen an all die Drogen dachte, die seine Mitarbeiter und er in diesem Büro aufbewahrten, kaum versteckt vor zielgerichteten Blicken. «In welcher letzten Nacht?», fragte er ruhig, doch die Spitzen der Schere zitterten. «Als du den Streit mit ihm hattest.» «Den Streit? Den heftigen Streit der letzten Nacht – meinst du den?» Schaffhausen schaute zur Decke, einem Rohr hinterher, das im Beton verschwand. «Das war im Grunde ein normaler Streit. Nichts Besonderes. Nur weil’s halt der letzte war –» 158
«Um was ging’s denn?» «Wer bist du überhaupt?» «Ein Freund.» «Ach, nur ein Freund.» Schaffhausen räusperte sich. «Na, es ging um Musik, wie immer. Ich hab ihm gesagt: Drum & Bass, sonst läuft hier nix. Das war halt damals so, das war neu. Aber er: noch immer auf der Suche nach dem technoziden Klangdurchbruch, nach dem Ausdruck wahrer, gewaltiger, hämmernder Liebe – das konnte doch kein zahlender Mensch mehr hören.» Schaffhausen brach in Schweiß aus. Es war nun schon über eine Dreiviertelstunde her, dass er sich zum letzten Mal aufgefrischt hatte. «Ja, ja, der Igor.» Er wischte sich die Stirn an seinem Bademantelärmel ab und schaute auf sein silbernes Motorola, ob eine Nachricht eingegangen war. «Schon ein Wahnsinnstyp, war mir auch völlig sympathisch – ich war ja – sein bester Freund, nicht?! Diese Visionen, die er hatte, das war klasse, natürlich, das haben wir alle gebraucht, nur Geschäftssinn hat ihm gefehlt, keine Frage. Seine Radikalität, die im Kommerz ertrank – das ist schon ein bisschen traurig, aber he: Wo leben wir? Immer noch in Deutschland, oder? Diese Ekstasewut» – Schaffhausens Hände fuhren über die Schreibfläche des Tisches, untersuchten den Staub –, «schon ein bisschen altmodisch, das hab ich ihm immer gesagt. Und so toll war’s jetzt auch nicht, was er da zusammengebraut hat, wenn man ihn denn gelassen hat. Klangwelten aus Lichtmusik – ich bitte dich. Aufs gute Mixen kommt’s an. Den Leuten nicht auf die Nerven fallen, sondern sie leicht zum Tänzeln bringen. Sie in Bewegung halten, dass sie im Laden zirkulieren, immer mal wieder an der Bar vorbeikommen, um bisschen rumzuloungen. Ein gepflegter Flirt hier und da – Herauskitzeln von Hedonismus ohne großen Content-Müll, das ist mein Konzept. Das ganze Technozeug ist doch völlige Scheiße: Keiner 159
redet, keiner trinkt, alle haben ihren eigenen Film am Laufen das ist Autismus, das ist doch kein Feiern. Weißt du zum Beispiel, wann für Igor das Ende von Mitte eingeläutet wurde: als sie die Synagoge renoviert haben. Als die Kuppel der Synagoge blitzblank in den Himmel lachte – der ist doch krank gewesen, der Typ, Diese Renovierung war für ihn der erste Schritt in den Untergang, das wäre doch nur für Touristen und nur, um irgendein Gewissen zu besänftigen, aber nicht für die Juden, die beten wollten, damit hat er das abgetan, bisschen eindimensional, findest du nicht? Dabei ging’s ihm einfach darum, dass alle völlig draufkommen sollen wegen seiner, der kompromisslosen Musik, seinem hochgepitschten, schrill gescratschten, die Hälfte seiner Platten in den Tod schickenden Geheul. Nur leider hat er den Dauer-Fun-Stress nicht ausgehalten. Die Spaßgesellschaft frisst ihre Kinder – kann ich was dafür? Folge nie deinen Visionen, nie!» «Die Türsteherin vom Nadine meinte, ich soll dir einen schönen Gruß für deine Freundin ausrichten und dich fragen, wie’s ihr so geht.» «Ich hasse es, wenn mein Privatleben Gegenstand halböffentlicher Kommunikationsvorgänge wird», schnaubte Schaffhausen, und eine Blutblase, venusorange, zerbrechlich wie eine Murmel, stieg aus seinem linken Nasenloch, was er nicht bemerkte. «Sie war Igors Geliebte, wenn du’s genau wissen willst. Na und? Wir leben polygam, seit Jahren, ist doch überhaupt kein Problem. Ja, meine Freundin, die in ihm die Radikalität sah, die sie in sich selbst ebenfalls verspürte, oh ja, enge Verbindung, da komme ich, der außerdem noch die Croissants auf den Tisch bringen muss, natürlich nicht mit, klar, weil, ich habe Kompromisse zu schließen, um alle Beteiligten zufrieden und den Geldfluss irgendwie befriedigend zu halten. Ja, sie hat ihn geliebt, so hat sie’s mir mitgeteilt – aber natürlich liebe sie alle, 160
mit denen sie ins Bett geht. Ganz Gottes gerechte, entfesselte Wut, unser Igor, und sie hat ihm seinen Red-Bullshit wohl geglaubt, vom alles – ich zitiere – verschlingenden Sumpf der Gleichschalterei und dem unendlichen Ozean der Ausweglosigkeit, wo nur er als Insel der Kreativität hier in Mitte einen netten Anlegeplatz bereit hielt.» Schaffhausen klickte im Speicher seines Telefons herum, wählte eine Nummer, lauschte für einige Momente, legte dann auf. «Ich hab ihm jedenfalls an jenem Abend, seinem letzten, gesagt, dass er’s vergessen kann, jemals wieder aufzulegen, in meinem Laden, weil ich wenig Lust hatte zu sehen, wie er meine Freundin durch seine Sounds aufzugeilen versucht, aber das restliche Publikum ihm am Arsch vorbeigeht, was dieses natürlich mitkriegt und ergo verschwindet. Da ist dann Igor verschwunden, in jener letzten Nacht, und es geht mir schon nahe, dass wir uns da so gestritten haben, weil, jetzt hängt das ein bisschen in der Luft, weil – ich hätte das ja gerne geklärt – ich – war völlig schockiert, als ich das gehört habe, und wie mir jemand erzählt hat, dass er bis in den frühen Morgen hinein noch um Hilfe gerufen hat, da aus seinem komischen Zimmer heraus in dem Haus –» «Er hat um Hilfe gerufen?» «Ja, angeblich stundenlang. Aber niemand will ihn gehört haben, nur so ein alter Knacker, der da irgendwie nebenan wohnt, im Hinterhaus oder was weiß ich. Der hat’s dann irgendwann zu Protokoll gegeben oder so was, ist auch schon ne Weile her, da ging’s für ein paar Tage drunter und drüber, als das passiert ist. Hat auch keiner damit gerechnet, mit so einem SOS-Ruf von ihm. Ist einfach nicht mehr angekommen, diese Botschaft – ich hab jedenfalls nichts gehört, damit das klar ist. Ich war in meinem Club und hab Party gefeiert, und da war die Musik laut genug, das kann ich dir versprechen.» 161
«Igor hat um Hilfe gerufen?» «Kann man sich bei dem gar nicht vorstellen, was? Er, der nie etwas von anderen brauchte, der nie um Hilfe bitten würde, der alles im Griff hatte, ganz autark – hat um Hilfe gerufen, als es um sein Leben ging, und alle haben es ignoriert oder einfach nicht verstanden, so wie er auch oft die Anfragen an ihn, die Musik leiser zu stellen, ignoriert hat –» Schaffhausen glaubte, gleich sterben zu müssen, wenn es ihm nicht gelang, innerhalb der nächsten paar Minuten seine Nase zu füttern. «Es war wirklich sehr interessant, mit dir zu sprechen», sagte Klinger und verabschiedete sich knapp.
25. OKTOBER Nachts
Er stand im Annex, vor den beiden Türen in den Seitenflügel, und nahm die linke, stieg das runde Treppenhaus eine verstaubte Etage nach oben und pochte laut gegen rauchgrauen Kunststoff. Lange passierte nichts, doch auf sein wiederholtes Klopfzeichen hin zeigte sich endlich eine Spur von Leben auf der anderen Seite – «-as -ollense von mir?» Erbens Stimme aus der Tiefe des Seitenflügels wie aus dem Innern eines gesunkenen U-Boots. «In der Nacht, in der mein Vormieter gestorben ist: Haben Sie da etwas gehört?» «-ass?» «HABEN SIE GEHÖRT, DASS JEMAND UM HILFE RIEF ? HILFE! helft mir! helft mir doch endlich, verdammt –» Drinnen drehte sich ein Schloss, eine Tür öffnete sich, die schwere Verbarrikadierung rückte einen Spalt zur Seite, und Erbens erloschene Braunkohleaugen schauten hindurch. 163
«Ick hab ma nüscht zuschulden komm lassen!», sprach er aufgebracht. «Det hab ick doch schon zu Protokoll jejehm. Der hat ja jeschrien wie am Spieß. Ick hab nich jedacht, ick muss da wat tun. Det haste im janzen Haus jehört. Ick hab ma jewundert, wieso det so lange dauert, bis die Feuerwehr kommt. Normalerweise jeht so wat doch schneller, oda?» «Wie lange waren die Rufe zu hören?» « Och, det jing üba Stunden.» Hinter Erbens dicken Brillengläsern schwammen die Regenbogenhäute wie Fische, die ständig vergaßen, was sie gerade erlebt hatten, weswegen nichts wirklich bedeutend erschien. «Ick bin immer wieder wach jeworden, aber ick hab ja keen Telefon, det jehmse ma nüscht, wegen meim Status. Ick hab mir einfach jedacht, da wird schon jemand komm, und bin wieder einjeschlafen. Ick schlafe sehr jut, eijentlich. Jede Nacht vierzehn Stun’. Det war unanjenehm, dauernd so uffzewachen, aber am nächsten Morjen war et ja in Ordnung, oda?» «Ja», sagte Klinger. «Entschuldigen Sie die Störung. Ich wünsche eine angenehme Ruhe.» «Ja, iss auch Zeit jetz», sagte Erben, schaute auf seine Armbanduhr, die von innen ganz wassertröpfchenbeschlagen war, nickte wie zu sich selbst und verschwand. Im Treppenhaus war es ganz still. du musst erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen. Klinger fuhr herum. Die Tür in den Annex, die er hatte offen stehen lassen, war nur noch angelehnt. Er spürte, dass Igor zu Hause war. Er bemerkte ihn deutlich: diesen veränderten Raum – und sah ein Licht, das aus der Schlafhöhle strömte, doch war es nicht wirklich ein Licht, denn es schien dunkler als Dunkelheit selbst und war genau deshalb zu sehen – 164
«Die Leute sagen, du lebst nicht mehr.» wer lebt denn schon? die leute? «Bonz sagt, er hat deine Leiche gesehen.» ach bonz. der war mal wieder drauf, aber kann schon sein, ich bin in einer anderen welt, keine frage, doch den ereignishorizont, von dem aus keine nachricht mehr sendbar ist, hab ich noch lange nicht überschritten, was soll das überhaupt heißen: tot? was ist das für ein schwammiger begriff?!, gibt es berge? sicher, aber wo fangen sie an? wie weit reichen ihre ausläufer? immer bis zum nächsten meer, oder? Berge sind relativ, wie der tod. was soll das überhaupt heißen: tot? was ist das für ein schwaniger – Klinger veränderte seine Position, die Stimme verzerrte sanft, lief dann irgendwo an ihm vorbei. Er stieg die Baustellenleiter nach oben, um die Höhle voll einsehen zu können, doch war es zu finster, und er musste warten, bis eine beleuchtete Tram vorbeikam und den Annex in verzogene Rechtecke unterteilte, die in einer gleitenden Bewegung den Raum durchflackerten, als sei eine sehr große Kerze angezündet, dann wieder ausgeblasen worden, irgendwo draußen, um wieder anzugehen, wieder aus, wieder an, und während der Phasen von Helligkeit sah er Schatten an der rissigen Wand der Schlafhöhle, eine überdimensionierte, schwarze, zitternde Zunge – dann den Halbmond einer Schallplatte, die spitze Nadel des Fernsehturms – «Warum haust du nicht ab?» Klinger zündete sich eine Zigarette an. «Ist das so schwierig?» keine antwort – Klinger blies Rauch aus, der von der Rückwand der Schlafhöhle angesogen wurde, sich dort verdichtete und im Dunkel verschwand. «Du kannst rauchen?» das hast du doch früher schon bemerkt, was glaubst du, weshalb die münder so am qualmen sind weltweit? weil sie 165
dazu animiert werden, es gibt millionen von uns: süchtige geister. sie stellen ihre forderungen, sie brauchen nahrung. die indianer haben das gewusst. «Ich versuche wirklich herauszufinden, was du bist.» ein hirngespinst, wie alle phänomene. aber wie so oft im leben: wenn einem etwas sehr ähnlich ist, kann oder will man es nicht verstehen, mach dir um mich einfach keine gedanken. denn genau wie du bin ich nichts weiter als ein sich erregender und wieder beruhigender, ein heißlaufender und wieder abkühlender bewusstseinsapparat. ein grenzfall in der thermodynamik der informationsübertragung – ein weites feld, weiter nichts – nichts weiter als ein von allem sinn entblößtes programm, das sich alleine vermöge einer sprache aufrechterhält – und erst durch entgrenzung wahrhaft konstituiert. «Entgrenzung?» Klinger drückte die Zigarette auf der obersten Leiterstufe aus. «Halt dich einfach aus meinem Leben raus, das reicht.» man kann sich aus dem leben anderer nicht heraushalten, du glaubst, du siehst und erkennst mich, in all meiner unzulänglichkeit, aber das tust du nicht, der fall ist komplexer, aber gleichzeitig scheint es unüberbrückbare verständigungsprobleme zu geben zwischen uns, deswegen glaube ich nicht, dass wir unsere differenzen aus dem weg räumen können, lass uns einfach weniger reden, dafür mehr praktisches tun. «Was denn tun?» so nie! die quadratur des hochspannungskreises. ein neues betriebssystem zum re-design der sonischen reafität – hast du unseren vertrag schon vergessen? die bereitstellung von ködertracks? habe ich dir nicht eine diebin ins haus gelockt? ich weiß, was du erwidern willst, aber solche kleinigkeiten müssen jetzt außen vor bleiben. du kennst doch deine rolle, oder? «Ich kann mich an keine Abmachung erinnern.» 166
wirklich nicht? dann musst du mal in dich gehen, denn dann ist sie in dich hineingestürzt, und das könnte ungesund sein, wenn sie liegen bleibt, dort unten, dabei ist deine aufgabe durchaus eine angenehme, und mit der zeit wirst du immer mehr zusammenhänge entdecken und bald ehrfürchtig staunen darüber, wie das immerwährende lied der Stadt in diesem pfropf von haus ergingt. «Du willst dich rächen, weiter nichts. Ich hab mich nach deiner letzten Nacht erkundigt. Mir wurde von Hilferufen erzählt. » rache ist ein viel zu kleiner begriff. «Du wolltest nicht sterben, oder? Du hast kokettiert mit dem Tod, aber dann ist dein Spiel aus dem Ruder gelaufen. Es hat dich überrascht, wie sehr du an dieser armseligen Existenz noch hängst, an den Frauen, stimmt das nicht?» du bist krank. Igor lachte. ich habe mich im prozess meiner Verwirklichung verschwinden lassen – meinst du, mir war nicht klar, was ich tue, wenn ich im letzten moment den arm mit der brennenden Zigarette sinken lasse? «Hat es dich verletzt, dass niemand gekommen ist?» es hat mich beseitigt – und bestätigt, das leben ist ein arg in die länge gezogener orgasmus. ich bin halt gekommen, während du dich noch abmühst: um einem partner zu gefallen – doch wer ist das? Klinger antwortete nicht. Plötzlich saß er wieder in diesem Familien-Kombi und fuhr auf das Krankenhaus zu. Dann stand er in einem Wald, dann einem Warenhaus, mit seiner Mutter. Er zündete sich eine neue Zigarette an. Er war nervös geworden auf einmal und wusste nicht, weshalb. Er hörte seinen Herzschlag: laut wie das Ticken einer Uhr, ein Mechanismus, der vor Urzeiten in Gang gekommen war und in genau jene Richtung führte, deren Auflösung Igor erreicht hatte – wo 167
Igor vor ihm angekommen war: in einer bis zum Ende nachgespürten Intensität des Seins – und jetzt flackerte in Klinger ein Feuer auf, das die ganze Zeit über schon geschwelt hatte, und sein Verlangen wurde stärker, nach Igors finalem Rausch – jenem endlich kommen – ich weiß, du möchtest wieder ketamin nehmen, das ist der wahre grund, warum du mich aufgesucht hast, hab ich recht? hier, ich hab immer was oben: 100 milligramm traum – das ist viel, da fällst du tief, das ist leicht, da fliegst du weit – Klinger schüttelte den Kopf. Doch er sah diese abfallende Ebene, die er unweigerlich entlangrutschte, und jetzt, wie auf Zuruf, kamen sie alle zum Vorschein: die Sehnsüchte nach jener zugespitzten Form, sich den Abend zu gestalten – sich in dieses Meer zu begeben – Seelenferien: hinabtauchen ins eigene Gewebe, ein paar Zentimeter tiefer noch – du bist ein geldschein gottes in der spielhölle auf erden, löse dein antlitz vom trägermaterial! vergiss Lebensversicherung für eine weile, vergiss es – Der Blitz einer Tram erhellte den Raum. Als würde eine Kopie der Vorgänge im Annex hergestellt. durch dich hindurch feiert das wahrhaft seiende seine erlösung im schein, nur indem wir leben, sabotieren wir die großen ideen, zu denen wir wirklich fähig sind, die jenseits der grenzen liegen, die das leben, diese süße behinderung, behauptet, andauernd versucht man, die träume des geistes in die möglichkeiten des körpers zu übersetzen, aber die sind begrenzt, und genau aus dieser begrenzung zieht der körper seinen spaß – Igor hustete. denn dort, wo es wirklich interessant wird, kommen die meisten erst gar nicht mehr hin. sie sind vorher, mit ihrem leid, bereits zufrieden, die gattung mitsamt ihrem gattungsspezifischen käfig verlassen, das ist entscheidend – die übereinkunft kündigen, der moment dieses über168
gangs ist ein salto mortale. eistauchen macht erst dann spaß, wenn es anfängt, spaß zu machen, vorher nicht, was verharrst du noch? hier in der höhle findest du alles. entkomme dem grauen alltag – und stirb für ein stündchen, du willst doch ein anderer werden, oder? das leben ist eine wartehalle – fahr endlich los. wir machen auch vorher alle kerzen aus und rauchen keine zigaretten, dann bist du okay und kommst sicher zurück, du interessierst dich für den tod – jetzt kannst du deine forschungen vertiefen, im feld, und zum unbekannten hinübergelangen – wohin alle immer kommen wollen, die ganze geistesgeschichte hoch und runter, wahrnehmen, was noch keiner wahrnahm’, die Strickmuster des menschlichen pullovers betrachten, bis hin zur innersten Schicht der existenz, der letzten hauchdünnen zwiebelhaut, durch die man eine andere welt hindurchschimmern sieht – du musst erst sterben, um auf frische gedanken zu kommen, findest du nicht? Die Nadeln in der kleinen Pyramide neben dem verschwiemelten Kopfkissen, im Königskammerfach: steril verpackt. du bist gleich der fliegende teppich. Das Pochen eines Zeigefingerknöchels gegen eine Plastikampulle. Das Schütteln der Ampulle in der Luft. Der Halsbruch: klack. Das Aufziehen der Spritze – es gibt nur eine einzige wahl: entweder du bist taucher, oder du strandest, mitten auf dem meer sind wir alle – ein salz, das sind wir sowieso, doch liegen wir festgetreten am strand? oder lösen wir uns auf und nähren das wasser? Wieder das Gefühl der Nadel, wenn sie den Zellverband penetriert. jetzt hast du noch fünfzehn Sekunden. Und so wie ein alarmierter Rettungswagen eine geschäftige Straße entlang schreit, um sich Platz zu schaffen, rauschte die 169
Chemie in Klingers Blutstrom – während vor dem Haus ein lindgrüner Kombi hielt: der Vortrupp der Entkerner –
Ein taumelnder, tanzender, singender Igor-Derwisch auf dem Alexanderplatz: blendet sich perfekt ins Leben ein, weil er gleichsam darüber steht – keiner sieht, niemand hört ihn, er bewegt sich wie Luft, an jeder Security vorbei, und wo er einen Schlüssel braucht, zieht er den von Klinger aus der Tasche wo er einen Code benötigt, gibt er Klingers Code ein, in später Nacht. Er beeilt sich, strömt durch das Gewirr der anonymen Gänge des Traktes, folgt einem Plan an der Wand: zur Steuerungszentrale, wo ebenfalls sein Hausschlüssel passt, natürlich, wo er die Kassette «Sonderangebote, 43. Woche» aus der Anlage nimmt und ein eigenes Tape einlegt, das morgen früh, sobald die Tore des Warenhauses aufgehen, per unschuldigem Play-Befehl eines nichts ahnenden Angestellten aktiviert wird. Igor schaut nach oben, in die Linse einer Kamera hinein – ich spreche zu den massen –, und dann verpisst er sich, nimmt eine Tram zum Markt, läuft die Straße bis zur Synagoge hoch, weil er Lust hat plötzlich, sich gerne bewegt und spaziert, und er will sich noch jemanden einladen jetzt und scannt die Gegend, auf der Suche nach einem bestimmten, in schwarzes Plastik und Leder gekleideten Reiz, der ihn aufschließt wie ein Schlüssel, der jetzt passt, noch für ein halbes Stündchen vielleicht –
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Ein Dip in den Tod, dann ein Durchtritt, sanft, sprühend, hell, eine Längsdrehung, ein strahlendes Band: ununterbrochener Strom, Wellen aussendend aus seiner Mitte, die ans Ufer plätscherten, wo sein Körper lag – und diese Wellen war er ebenfalls, und so plätscherte er gegen seinen eigenen Körper, der in sanfter Brandung schaukelte, und er hörte, wie ein einziges Wort gestöhnt wurde: sein Name, ganz aus der Nähe – KLINGGG – aah – langsam ließ die Ketamin-Wirkung nach, schon sah er durch die Membran des Aufwachens hindurch – GEERRR – ihre Stimme, ohne Zweifel, in diesen ersten Momenten zurück an Land, noch benommen, durch hautdünne Wände hindurch – aah – KLINGG – dann war es still, nur ihr Züngeln an seinem Ohr, und noch einmal driftete er weg und spazierte wie im Traum, durch einen Traumbau, sah seinen Körper auf sich zuspazieren, schlug irgendwann die Augen auf – war endlich wach. Er glitt die Leiter hinab in den wartenden Annex hinein, stand auf Weltraumbeinen in einem System mit ungewohnter Schwerkraft – Lief durch das Berliner Zimmer in den vorderen Trakt. Er konnte es nicht fassen, was er da sah. Sophia saß auf seinem Bett im rechten Zimmer. Mädchenhaft baumelten ihre Beine über den Rand der Holzkonstruktion. Sie trug nichts als BH, einen Slip, dazu Strumpfhalter, alles in glänzendem Rot, und in ihrem Gesicht blühte ein Lächeln aus einem ganz frischen Mund. Klinger war nicht klar, wie sie in seine Wohnung hatte gelangen können – wieso sie ausgezogen dasaß. Wie ein Toter stand er vor ihr, ohne ein Wort, während sie ihn betrachtete, warm ausdünstend und zufrieden, Kobolde im Blick, schon legte sie ihren Arm um seine unsicheren Hüften. «Wieder fit?» 171
Er trat einen Schritt zurück. «Noch nicht?» Sie schlüpfte in ihre Schuhe, spielte mit seiner Hand. «Du hast ihn wieder getroffen.» Seine Stimme klang rau, er blätterte ihre Finger von sich ab und schaute nach draußen, wo eine Straßenbahn fuhr, in der ein Mädchen saß, das Gesicht platt gegen die Scheibe gedrückt. «Was soll der Quatsch?» Sie streichelte ihn. «Wieso bist du sonst hier oben bei mir?» «Warum wohl –» Straßenlicht floss blau durch die breiten, hohen Fenster. «So wie du hat’s mir noch keiner gemacht.» «Das hätte er nicht wagen sollen. In meinem Zimmer –» «Du hast heftige Probleme, weißt du das?!» Sie stieß ihm mit beiden Händen vor die Brust, wie um ihn aufzuwecken. «Geh jetzt», sagte er. «Bist du verrückt?» In ihrem Blick sammelten sich Schatten – «Hau einfach ab.» «Darauf kannst du Gift nehmen –» Sie lief zum Bett und zog sich an, ihre Kleider, die Uniform. «Du bist das Schlimmste, was mir je passiert ist!» Sie verstaute ihre Kleinigkeiten in der schwarzen Tasche. «Wir kennen uns erst so kurz» – sie wusste, sie war den Tränen nahe –, «aber ich hab dir vertraut. Ich weiß nicht, wieso. Ich bin zu leichtgläubig. Das ist mein Albtraum, was jetzt passiert –» Ihre Brust regte sich schnell. «Bei dir kann ich nur verlieren, oder? Du hast keine Ahnung, wie schwer es für mich ist, jemandem nahe zu sein. Weil ich immer Angst habe – wenn ich mich öffne, wie vorhin passiert –» «Ich bin furchtbar müde», sagte Klinger und lehnte seinen Kopf gegen die Wand.«Ich muss gleich zur Arbeit. Ich bin spät dran.»
26. OKTOBER Tag
Das Warenhaus wirkte leerer als gewöhnlich zu Beginn seiner Schicht. Frau Fechter-Schmidts Strickkleid in Eierschalenfarbe heute, passend zur Gesichtshaut, die porös wirkte, irgendetwas erregte sie stark, brütete in ihr, wollte heraus, aber durfte noch nicht. «Kommen Sie mit!» Sie führte ihn durch Gänge hinter Wänden, immer wieder kamen sie an Gucklöchern vorbei, die von außen wie Spiegel aussahen oder Dekorationselemente – sie öffnete die Tür zum Überwachungsraum II und ließ ihn Platz nehmen vor einer Monitor-Batterie. «Ich spiele Ihnen jetzt verschiedene Szenen vor, die sich heute Morgen kurz nach Ladenöffnung hier zugetragen haben. Bitte achten Sie wie immer auf die Details: Monitor 8: 9 Uhr 00 – Die Eingangstüren Richtung Bahnhof Alexanderplatz öffnen sich, Kunden kleckern herein. Alles scheint normal. Und jetzt: Monitor 3: 9 Uhr 02 – In der Genießer-Welt zeigen sich erste Unregelmäßigkeiten –» Sie zoomte auf einen Mann im Trenchcoat, der sich so unauffällig wie möglich in eine Tiefkühltruhe übergab. «Und schauen Sie jetzt auf Monitor 1: 9 Uhr 07 –» Eine Frau war dort zu sehen, die in der Medien-Welt eine CD be173
zahlen wollte, sich plötzlich ans Ohr fasste, dann ihre Hand betrachtete: alles voller Blut. «Jetzt Monitor 13 bitte: 9 Uhr 11 –» Vor dem Ausgang Alexanderplatz drängte sich eine Traube von Menschen, drückte beinahe die Glastüren weg, quoll auf den Platz, die Gesichter von unverstandenem Abscheu erfüllt, viele stürzten zum Brunnen und kotzten hinein, andere sammelten sich wie Tauben auf dem grauen Asphalt und gluckten, voller Beschwerden. «Und jetzt schauen Sie sich das hier an: Monitor 5: 5 Uhr 49 heute Morgen –» Klinger sah den Rücken eines Mannes, der sich in der Steuerungszentrale an der Interkom zu schaffen machte, die Kassette entfernte und eine neue aus der Tasche seines dunklen Kapuzenpullovers nahm. Dann drehte er sich um und zeigte ein Grinsen – «Können Sie mir das bitte erklären.» Fechter-Schmidt benutzte den Zoom, fuhr an Klingers blaugraues Gesicht heran, bis man seinen wölfischen Blick sehen konnte, das irre Glitzern in den Augen – den Blick eines Amokläufers: Igors Blick. Klinger stützte sich am Resopaltisch ab, der die Monitore trug, sie gerieten ins Schlingern. Er fasste sich: «Bin überrascht. Ich hab – ich hab so etwas fast geahnt, nein. Selbst der Überwachungsraum wird überwacht. Ich – bin positiv überrascht, wirklich. Wo ist sie denn?» Er blickte sich um. «Das geht Sie überhaupt nichts an. Ich verlange eine Erklärung, das wissen Sie.» «Ich – hab nur mal geschaut, wie sicher alles ist. Ein interner Hack, mehr nicht. Natürlich wird so etwas vorher nicht angekündigt, das nehme ich auf meine Kappe, das war meine Initiative», Klinger geriet in einen stockenden Rhythmus, «und ich habe auch in Zukunft – vor, mich auf eigenverantwortliche Weise für das Unternehmen einzusetzen, selbst mit174
zudenken und aktiv zu werden. So bin ich das – gewohnt, aus der New Economy.» «Was hat Ihr nächtliches Vorgehen mit den Ereignissen heute Morgen zu tun?» «Ich sehe da keinen Zusammenhang.» Er schaute auf das Standbild von Monitor 13, schüttelte fassungslos den Kopf. «Dann lassen Sie uns doch die Kassette untersuchen, die Sie da eingelegt haben. Sie wurde heute Morgen auf allen Etagen gespielt.» «Das brauchen wir nicht, da ist nichts drauf.» Fechter-Schmidt drückte auf PLAY. this is only a test. Nur dieser Satz, ein einziges Mal, dann Stille. Doch Klinger spürte, dass die Stille angefüllt war mit Chaos, das ihm in die Magengegend zog und den Mund ganz säuerlich machte, ein unangenehmes Ziehen, als wüchsen ihm Kiemen – er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und drückte auf STOP. «Nur ein Test, weiter nichts», sagte er lapidar, dann fragte er, wobei die Besorgnis in seiner Stimme durchaus echt klang, denn Frau Fechter-Schmidt sah alles andere als gut aus – als sei das Leben in ihr gerade vertrieben worden und sie nur noch die poröse Kalkhülle um ein leeres Nichts herum: «Geht es Ihnen nicht gut? Vielleicht liegt das am Biowetter. Ich habe mich ganz schwach gefühlt, als ich vorhin hierher gelaufen bin. Es ist der kämpfende Herbst, der uns zu schaffen macht. Weil klar ist, dass er wieder verliert, wie jedes Jahr – so was schafft Missvergnügen, ganz klar.» Er legte seinen Arm um ihre Schultern: «Aber wir müssen auf jeden Fall die Sicherheitsvorkehrungen verstärken, hier im Warenhaus. Wir bieten eine sehr große Angriffsfläche, dessen sind wir uns bewusst –» 175
«Ich vertraue Ihnen», sagte Fechter-Schmidt schwach. «Ich habe doch von Anfang an zu Ihnen gehalten – bitte – enttäuschen Sie mich nicht.» «So soll es sein.» Er streichelte ihren Unterarm. «Ich mache jetzt meinen täglichen Rundgang, und Sie ruhen sich ein bisschen aus. Bleiben Sie hier oben, schauen Sie fern, prüfen Sie Ihr Heer. Das beruhigt. Vielleicht schaff ich ja heute meinen ersten Fang, mal sehen, ich hab’s im Blut. Ich bin auf der Jagd, ich bin hungrig – also, bis dann.»
Sirenen zum Alarm anblasen Wenn die Kleptomanen rasen Wenn die Kleptomanen rasen! Er trat auf den Gang hinaus, ein paar Schritte, schlug mit der flachen Hand gegen die Wand – Hab gesehn, wie du letztens in ne Tram eingebrochen bist. Coole Nummer, wie du’s gebracht hast – aber warum? Die fünf Kondome im Klo – Sophias Stöhnen. so gut hat’s mir noch keiner gemacht – Hektisch durchquerte er die Zuhause-Welt. Vor den Fenstern: Schichten von Wolken, graue Möwen darin, ein Gekreisch. Die ersten Kunden – kamen langsam zurück. Doch Klinger sah nichts, nur diese Wolken überall, die Abwesenheit von Licht, den feindlichen Geist. Da hörte er: ein neuer basslautsprecher war ganz okay, schau doch mal in die hightech-welt, wenns grade passt. ich melde mich dann. Verpiss dich. 176
Klinger fuhr mit der Rolltreppe nach unten, seine Augen unterlaufen von Blut. Drängte sich auf dem Alexanderplatz an aufgeregten Kamerateams diverser Regional- und Internetsender vorbei, die mit Sanitätern, Polizisten und WarenhausOpfern hantierten, und nahm die S-Bahn in Richtung Westen, eine Station.
Igors Geräte waren alle angeschaltet, kleine Leuchttupfer in kühlem Indigo, Sonnengelb, Blutorange und Grün – dann ein kratzendes Geräusch, ein Räuspern, das Schaben der Nadel über die Rille einer Platte vielleicht – «Du hast meinen Körper benutzt.» du hast mich doch eingeladen, erinnerst du dich nicht? vip-pass, aber vom feinsten, ich komme nie, wenn ich nicht gerufen werde, aber war auch zu schade: wenn du auf ketamin bist und mit deinem geist auf und davon, das gute, dann ja leer stehende stück gänzlich unbenutzt zu fassen, findest du nicht? also wird besetzt, die gunst der stunde genutzt, ist doch gar kein problem. ich war doch auch jedes mal draußen, wenn du zurückkamst – «Optimal.» hab sogar auf die uhr geschaut, ehrlich. «Verschwinde.» sei nicht so hart, was ist denn der mensch? ein gastfreundliches empfangszentrum, das haben schon die griechen gelehrt. lies homer, verdammt, verschiedene masken sind wir, weiter nichts, aber du legst scheinbar wert auf tragödie. «Ich bin nicht dein Ersatzteillager.» bild dir ja nicht so viel auf deinen bescheuerten leib ein. ort der mutationen, weiter nichts, maschinelle Verkettung ohne 177
sich selbst überwindendes ziel, in reiner Promiskuität unterwegs. «Du hast Sophia damit gefickt!» meine fresse, wie die hat noch keine mit mir geredet, aber was wäre die wollust ohne Überschreitung? «Lass deine Finger von ihr. Du hast keine Ahnung, worum es ihr geht.» es waren doch deine finger! auch wenn ich die ganze arbeit hatte, dich hat sie gefickt, nicht mich – dir hat sie das hirn umformatiert, den kleinen tod beigebracht – bemerkst du nicht: die frische deiner gedanken? sie hatte ganz schön zu tun mit uns beiden, glaub’s mir. lass uns zusammenarbeiten, ich mein’s ernst, lass uns das öfter machen, versteh doch, wie’s mir geht – was das für mich bedeutet –, und solange wir alle drei glücklich und befriedigt sind: sie, du, der unheilige geist – «Vergiss es.» eine liebe muss steile klippen umschiffen, um wirklich auf hohe see zu gelangen! «Ich glaube nicht, dass du von Liebe reden kannst.» ach komm, lass die sophistereien, dafür haben wir zu wenig zeit, reibung – darum geht es, und die ist vorhanden. steigerung der geschwindigkeit: hitze – das brauchen wir in einer erkaftenden stadt, vöffige überwindung von grenzen solcher willkürlichkeiten wie, personen, findest du nicht? «Wenn wir etwas brauchen, dann Achtung vor der anderen Identität.» identität? wie kann davon im zeitalter der polyphrenie überhaupt noch gesprochen werden? nur in ausnahmefällen gehörst du dir selbst, für ein paar minuten jeden tag, allerhöchstens – schon pflanzt eine Werbung sich in dir fort, die 178
du irgendwo aufschnappen musstest: ein pollen, ein virus, ein klopfen hinter irgendeiner wand, du kannst dich nicht davor schützen, also wähle deine verbündeten weise, vertrau mir doch, ich bin geist, wie du. ich nutze hin und wieder einen körper, genau wie du. selbst die tatsache, dass wir denselben gebrauchen, ist nichts allzu ungewöhnliches, das kommt hunderttausendfach vor, glaub’s mir, das ist vorkommen auf der höhe der zeit, abschottung funktioniert nicht, niemals: ständig kommen stimmen durchs portal, das ich ist eine geisteskrankheit des menschen, eine erfindung des 19. Jahrhunderts, der industrialisierung: damit klar ist, wer die lohntüte bekommt – oder wer stempeln gehen muss, aber wir erleben gerade eine revolution: mentaler art. jetzt, wo kalter krieg und mauer vorbei sind, verlagert sich der konflikt ins innere hinein, das individuum ist ein Staat, den es zu reformieren gilt, multiple persönlichkeit – das ist ganz normal, schizo reicht nicht mal mehr, polyphrenie, polygamie, quadrosound – wir treten über die ufer – der neue spaß: Überwindung von entfernung, ständig, jetzt – «Ich lass mich nicht gerne entfernen.» Klinger zündete sich eine Zigarette an. «All dein Gerede ändert nichts daran, dass wir es hier mit einer klassischen Auseinandersetzung um Raum zu tun haben, und ich möchte, dass du aus meinem verschwindest. Hier kann es nur einen geben, und das bin ich. Archaische Reflexe regieren, immer noch –» ach komm, reg dich nicht so auf. ist doch gar kein problem, wenn du darauf bestehst, bauen wir halt eine mauer, direkt durchs berliner zimmer hindurch, das unsere trakte verknüpft, auf höhe des hinterhofbalkons, der wie ein nest, nein: wie eine brücke Vorderhaus und Seitenflügel verbindet. «Du benutzt meine Worte.» tue ich das? vielleicht denken wir hin und wieder einfach 179
nur genau das gleiche, aber ich seh schon: wir bauen am besten zwei mauern, mit kleinem zwischenraum, schallisoliert, dann muss ich auch dein radiogedudel am morgen nicht mehr ertragen, zwischen den mauern liegt dann ein niemandsland. so wäre es nicht eine gemeinsame mauer, die uns trennt, sondern ein ideelles Vakuum, was ein erstaunlicher unterschied ist, das haben auch viele Staaten erkannt, die teilen ihre grenze nicht mit dem nachharn, sondern zwacken lieher ein stück ihres eigenen territoriums ah, um die gewünschte distanz entstehen zu lassen, ah – hörst du diese musik? ist sie nicht träumerisch? aher eins rate ich dir: üherleg dir genau, auf welche weise du von mir auch profitierst – und denke daran: ein haus, geteilt gegen sich selbst, kann nicht stehen, was ist denn dein leben? die sätze, die du denkst, und über tage und wochen hinweg hast du die meinen benutzt, um nicht unterzugehen in einem meer der floskeln da draußen, du warst eine hülle, als wir uns kennen lernten, mehr nicht, aber jetzt ist in dir die lust zu kämpfen erwacht, weil du dich an mir reibst – ich gehe dir stoff, mehr als genug, du bist der glückliche besitzer einer besessenheit, und du fährst nicht schlecht damit – du hast mich abonniert, und die lieferung stimmt. «Ich will Sophia nicht mit dir teilen.» du hast angst, dass du’s deinem weib nicht richtig besorgen kannst – weil du weißt, was für ein kaltes feuer in ihr brennt, du wolltest doch an deine schwachstellen heran, als du hier eingezogen bist, nicht? jetzt kannst du trainieren, aber vom feinsten, eifersucht ist die bombe, die es zu entschärfen gilt, der misstraut werden muss, denn sie ist bloß ein abfallprodukt einer welt, die auf trennung besteht, die den gedanken an gemeinsamkeit verloren hat. dieses konstrukt der eifersucht muss auseinander genommen werden, ohne explosion, seinem 180
bauplan, der anordnung von mantel, verdrahtung, sprengstoff und zünder muss nachgegangen, sie muss bis ins letzte detail verstanden werden, um das richtige, nicht das falsche kabel zu kappen. um danach die teile zu etwas anderem, friedlichem zu konvertieren. «Eifersucht ist dem Menschen immanent.» aber wir kreieren ja gerade die beta-version. Es schrillte hässlich an der Tür. wir hahen besuch, compañero. mach mal eben auf. Einem Deoroller nicht unähnlich ragte der penibel geschorene Kopf des Mittdreißigers aus einem schwarzen Anzug heraus, die Gläser seiner Sonnenbrille blassblau, abschließend und rund, den Brillen der Schweißer verwandt, darüber rabenhafte Brauen und im Ohr einen Knopf. «Wallputzerstein», er lächelte, «Gebäude-Consulting. Meine Holding hat das Objekt hier erworben. Über die uns bevorstehende Entkernung wissen Sie Bescheid?» Klinger zündete sich eine Zigarette an. «Keiner kriegt mich hier lebend raus.» «Wenn das für Sie in Ordnung ist, möchte ich gerne einen Rundgang durch die Räume unternehmen, das würde mir sehr helfen, denn über diese Kamera hier» – Wallputzerstein zeigte auf ein pisslochartiges Auge, das in Herzhöhe an seinem Jackett befestigt war – «bin ich mit einem potenziellen Kunden verlinkt, der mal einen Blick auf die Sache werfen möchte. Würde Sie das stören?» «Ich kann für nichts garantieren.» «Das macht gar nichts», sagte der Besucher und nickte freundlich. «HALLO! Hören – Sie – mich?» Er sprach jetzt in das Kameraauge hinein und hielt dabei seinen Schädel wie einen Kippschalter nach unten geklappt: «Steht die Verbin181
dung? Ja?! Ich befinde mich jetzt im Objekt Große Präsidentenstraße. Preise und Maße finden Sie in Ihrer Mailbox. Ich bewege mich auf ein schmales Seitenfenster im vorderen rechten Zimmer zu. Können Sie sehen? Blick auf die Rosenthaler Straße, ganz wunderbar, nicht? Nach Ansicht Ihres Portfolios könnte ich mir vorstellen, dass es keine bessere Lage für Ihre Interessen gibt in dieser Stadt. Sie haben die Szenekneipen beinahe im Blick, die ganzen coolen Underground-Sachen, die sich in letzter Zeit etabliert haben. Sie und Ihre Angestellten können hier im Handumdrehen zu waschechten BerlinMitte-Boys werden, gar kein Problem.» Er ruckte an seinem Ohrknopf herum. «Internet? Haben Sie eben nach Internet gefragt?» Wallputzerstein lachte. «Anschluss in jedem der Räume, das ist doch selbstverständlich! Welcher Boden? Birnbaumparkett – das ist bei uns Standard. Dieser Straßenlärm? Das wird tripleverglast, supersilent, das wird tipptopp, da regnet’s nirgends durch», wieder lachte er. «Baustellenisoliert, absolut, natürlich, dafür verbürge ich mich –» Er zwinkerte Klinger zu, der gewohnheitsmäßig hinter eine der herausgebrochenen Wandleisten aschte, während Wallputzerstein den lilafarbenen Flur entlangspazierte, langsam das Berliner Zimmer durchquerte, wobei er mit seinem Brustauge Klingers fahles, starrendes Gesicht vermied, dafür schmuckvolle Details anvisierte, den Stuck an der Decke, die schönen alten Rahmen der Fenster «Ob es Einschusslöcher an der Fassade gibt? Das muss ich überprüfen – weiß ich im Moment nicht, aber keine Angst, wenn dies der Fall sein sollte, kleben wir Steinchen rein, die farblich möglichst genau – ach so – Sie bestehen auf Einschusslöchern – na mal sehen, was sich da machen lässt, eine kleine Militärübung vielleicht, das regeln wir schon – so, jetzt befinden wir uns im hinteren Bereich des Objekts.» Wallputzer182
stein stand an der Schwelle zum Annex, seinen Kopf wieder sachte nach unten geklappt: «Diesen Teil machen wir vollkommen neu. Das kann auch abgerissen werden, wenn Sie möchten. Hier stellen wir etwas Innovatives hin, schwebt Ihnen da bereits etwas vor? Ein Glaskasten mit High-Speed-Zugang? Einen Meeting-Room – eine Loonsch? Was zum Chillen, das könnte ich mir gut vorstellen, das würde hier gut reinpassen – Wie? Abhörsicher?– Bestimmt, da kann man was machen. Für ein Informationsunternehmen, das sich mit UMTS beschäftigt, unabdingbar heutzutage? Ich verstehe Sie sehr gut. Was? Adlon-style? Nein, nein, also das geht überhaupt nicht.» Zum ersten Mal schüttelte Wallputzerstein den Kopf. «Das hier ist ein anderer Groove, vertrauen Sie mir da. Hackescher Markt! Ehemaliges Juden- und Verbrecherviertel. Franz Biberkopf. Huren- und Freakgegend – das tickt anders als Adlon. Sie müssen mal vorbeikommen, das müssen Sie spüren, diese Atmosphäre. Das müssen Sie riechen, diese alten Geschichten, die man hier – bitte? nein, nein, absolut geruchsneutral bei Übergabe. Das versteht sich doch von selbst. Ja, die alten Grundrisse müssen bleiben, sonst steigt uns das Bauamt aufs Dach, aber ansonsten: alles tipptopp!» «Ich möchte Ihnen jetzt noch das Badezimmer zeigen», sagte Klinger und führte Wallputzerstein in den finsteren Raum, wo aufrechtes Stehen kaum möglich war. das hier ist meine barschelwanne. optimal für ein fuck-up. Wallputzerstein stutzte. In seinem Ohrknopf dröhnte es, und er rief: «Nein, nein, Sie haben sich da verhört. Hier hat niemand Barschelwanne gesagt. WIE? Sie würden jetzt immer dieses Bild im Kopf haben, wenn Sie sich hier – Aber nein, das ist doch völliger Blödsinn, das wird neu verwannt, das ist überhaupt kein Problem. Barschelwanne – wie kommen Sie darauf, da muss es einen Übertragungsfehler gegeben haben. Wie? Ob die 183
Gegend stark elektrosmogbelastet ist? Sie haben die Pläne vor sich – ob man die Trams nicht umleiten? Ich muss mal sehen, was wir da machen können. Aber das Bad wird neu verwannt, das ist gar kein Problem.»
27. OKTOBER Nachts
niemand kann glücklich sein in den eigenen vier wänden, hör dich mal um. die angst vor gespenstern, die angst vor dem haus ist die furcht der sesshaft gewordenen, für die das heim ein unglück, ein grab geworden ist. Was? Eine Tram fuhr vorbei. Klinger schaute aus den Fensteraugen der kichernden Mumie des Baus. Auf der Straße strich Sophia auf und ab, in ihrem rückeroberten Terrain. Neben ihr lief ein Weltraumschiff von Hure, eine abgestürzte Russin vielleicht, sie hatte ihren blonden Kopf geneigt und erzählte etwas, worüber Sophia in ein kindisch boshaftes Lachen ausbrach, wie eine Hofnärrin wirkend in ihrem karnevalesken Outfit, mit dem schelmenhaften Gesicht, das sie senkte, um in ein vorbeischwebendes Auto zu schauen – schon löste sie sich von der Russin und lief einige Meter alleine, blieb stehen und ließ ihren Körper auf dem vorgestellten Standbein ruhen, wippte dann im Schritt. Endlich sah sie nach oben – wo sie ihn die ganze Zeit über schon am Fenster bemerkt haben musste: ein kurzer, ablehnender Blick, der sich nicht beeindrucken ließ von Klingers Winken – der sie hoch in den Bau zu rufen versuchte, um ihr 185
alles zu erklären, doch sie wandte sich ab, voller Desinteresse an sterbenden Geschichten, die sie viel zu sehr an die schlechtesten ihrer Freier erinnerten – jene, die gegen Ende des Höhepunkts bereits zusammenpackten, weil es ihnen peinlich war, weil sie Ekel vor sich selbst empfanden und den Abspann nicht aushalten konnten, der für Sophia so wichtig war: die Credits, die Transparenz des Aufbaus – und so dachte sie jetzt an den Geist, der allein dazu in der Lage schien, ihr ungebremste Leidenschaft zu vermitteln – und blendete Klinger, oben am Fenster, dadurch aus.
Klinger träumte: «Das muss korrekt abgeglichen werden, wir sind in Deutschland! Die Zahl der Btm-Portionen mit der Zahl der Behandlungen, verstehst du? Das ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst, aber ich hab da eine Idee.» «Joooa?» Igor lag in einen Zahnarztstuhl geschnallt. Sprechen fiel ihm schwer, mit einem Mund voller Geräte, war aber die einzige Möglichkeit, die ihm blieb, da Ketamin auf dem Schwarzmarkt nur als Pulver und nicht in Ampullen zu bekommen war. «Hypnose.» «Hyppnoase?» «Schon sparen wir uns die Spritze, und der Patient bekommt das Material mit nach Hause. Keine Angst, ich hab einen Hypnose-Kurs besucht, in meiner wilden Zeit als Student –» Der Zahnarzt lachte völlig unbeschwert. «Und Mario und der Zauberer gelesen, in einem Zug durch.» «Oakey –» Die üblichen kryptischen Abkürzungen wurden genannt. 186
Die vermummte Helferin nickte. Augenkontakt mit dem Arzt, festgeschnallt im Hightech-Stuhl, der leise summte – Vertrauen, ja. Ich weiß genau, was ich tue, und du reagierst auf mich, ja. du hörst, was ich sage – der Zahnarzt sprach dies nicht, sondern drückte es allein durch seine warmen, dunklen Augen aus, deren Regenbogenhäute sich gegen die Uhr um die Pupillen zu drehen schienen, langsam – du hörst, was ich meine, und stimmst mir zu. Ich habe die Verantwortung übernommen. Ich agiere, und du reagierst. Du liest mich – und nickst, ja, nickst – und wirst müde – Eine seltsame Lust stieg in Igor auf – derart justiert zu sein. und gleich darfst du ein bisschen träumen, das ist das Schönste. Während ich hier arbeiten muss, aber das ist okay. Ich mach das gerne für dich – Wieder nickte der Arzt seiner Helferin zu, dann machte er sich an die Weisheitszähne ran, nach denen er gierte, auch wenn sie vollkommen in Ordnung – dazu weiter sein überintensiver Blick, in dessen Spiralen Igor sich verliert – nein, die ihn in einen hypersensiblen Zwischenzustand versetzen, wo er alles nur viel deutlicher spürt – der Arzt hobelt, legt sein ganzes Gewicht hinein – Igor will schreien vor Schmerz, aber er hat den Mund viel zu voll, schon fällt er in Ohnmacht, kollabiert – und erst später wird der Schleier gelüftet: «Weisheitszähne – die sind jetzt weg. Hab ich dir das vorher nicht gesagt? Aber wieso sonst die OP?» Igor sitzt in der Tram, auf dem Nachhauseweg in den Bau, hält sich die Wangen. Eine Plastiktüte baumelt um sein Handgelenk. Heiß ersehnter Stoff.
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28. OKTOBER Abend
Er schaute aus der Dachluke auf die Hochspannungsleitungen der Trams, das feste Spinnengewebe: ein Netz aus Stahl, woran die Infopakete der Bahnen hingen, hin- und hergleitend zwischen Server-Haltestellen, wo Passagiere sich einloggten oder auch nicht. Er hatte während der letzten paar Stunden immer wieder versucht, Sophia zu treffen, um Nachrichten mit ihr zu tauschen, doch sie entzog sich ihm, und die Entfernung zwischen ihnen wuchs wie die Gerüste und Häuser ringsum – wie die Stadt, die sich um seinen Hals immer dichter zog, und er schaute in den Innenhof hinab, aus dem laute Rufe ertönten Männer stapften auf und ab, in glänzend schwarzen Jacken, deren Rückseiten mit ENTKERNUNG beflockt waren. Sie gaben sich Zeichen und hantierten mit Messgeräten, trugen Gerümpel heraus, das sich dort angesammelt hatte, über die Jahrhunderte hinweg. uns bleibt nicht mehr viel zeit, wir müssen schöpferisch tätig werden, sonst verlieren wir uns. Was willst du tun? das haupt heben, in der hauptstadt. sand sein an dem ort, der auf sand gebaut ist. 188
Schlag was vor. wir legen unsere streitigkeiten beiseite und ziehen an einem schienenstrang – ficken den öffentlichen verkehr, ich erklär dir gleich wie. dafür brauchen wir bessere ausrüstung, es ist ein mehrgleisiges projekt, wir bauen einen superannex. ich will hier nur noch technische bausteine sehen, wir müssen zunächst in die forschung: klänge, zwei töne gehen immer eine beziehung ein, bilden immer interferenz. und die wirkt mit den interferenzen im hirn, unserem großen musikinstrument wenn es uns gelingt, tonkombinationen zu emittieren, die bei passagieren garantierte effekte provozieren, können wir eingreifen und unsere Stimmungs-updates durch die Stadt wandern lassen, komm, an die arbeit: die entkerner stehen bereits vor den toren. wir haben die Zugbrücke zwar hochgeklappt, doch in ihren gürteln hängen seile, warte – ich fühl mich grade nicht so gut. hast du ne Zigarette? kennst du brentano? bruno? kennst du brahms?
29. OKTOBER Tag
konzentriere dich auf dein werk, so wie du bist, hist du nicht zufrieden, also tust du etwas, dieser drang ist dein treibstoff. deshalb: keine rücksicht auf dieses warenhaus! vergiss nicht: nur das verbrechen lässt im menschlichen herzen sämtliche leidenschaften entstehen, es allein entzündet sie und schürt deren glut. es allein ist uns förderlich jetzt, und je frevelreicher es sich gebürdet, umso größer ist unsere lust. Frau Fechter-Schmidt war ganz in Aubergine heute, es musste ein Donnerstag sein. Gemeinsam fuhren sie mit den Rolltreppen nach oben, wo sie ihm die Zukunfts-Welt zeigte, eine neue Abteilung im Geschoss unterm Dach, die, wie sie sagte, «neue Strategien präsentiert, um die Verbraucher enger an das Angebot zu binden und das Kaufhaus zur Erlebnislandschaft umzugestalten», weswegen Klinger längerfristig, so er denn die Absicht habe, dem Unternehmen treu zu bleiben, vom Detektiv zum Animateur umrüsten, «eine Art ContentProvider» – sie benutzte tatsächlich dieses Wort – werden müsste, was sein Berufsbild deutlich aufwertete, wie er sicherlich fand. «Wir werden das Verhältnis zwischen Kunde und Ware völ190
lig umgestalten», plauderte sie. «Bislang handelt es sich da um eine Einbahnstraße. Die Ware sitzt passiv im Regal und zeigt ihren Preis, der Nutzer entscheidet. Doch in Zukunft wird eine Schnittstelle eingerichtet, die direkte Kommunikation in beide Richtungen möglich macht. Die Waren müssen noch besser zeigen, dass man sie braucht, da sie sonst ja überhaupt nicht hier wären, weil es sich dann, für alle Beteiligten, nicht rentieren würde – eine Glaubensfrage, verstehen Sie? Über handliche Barcode-Handys, die jeder Besucher der Zukunfts-Welt erhält, wird die Verbindung zwischen Abnehmer und Abzunehmendem problemlos aufgebaut. Jedes Produkt kommuniziert dann mit dem Interessenten über einen etwaigen Kauf-, Mietoder Leasingpreis, wobei das Produkt, über den Code des Kunden, dessen gemeinsame Geschichte mit unserem Haus vermittelt bekommt und darauf eingehen kann. Stammkunden beispielsweise könnten durchaus einen Rabatt erhalten, vor allem, wenn das Produkt einer entspannten Angebotslage entspringt. Oder aber der Preis erhöht sich, weil der Stammkunde ja ohnehin zugreifen wird. Soziale Härtefälle oder eben das genaue Gegenteil – solange einwandfrei nachprüfbar – können ebenfalls berücksichtigt werden. Wer mehr hat, soll auch mehr zahlen, am besten, ohne es zu bemerken, finden Sie nicht? Oder der Endkunde gibt einfach den Preis ein, den er zu entrichten bereit ist, und das Produkt entscheidet, ob sich diese Transaktion lohnt, da es seine Herstellungs-, Vertriebsund Werbekosten sowie seinen gegenwärtigen Marktwert, auch im Vergleich zu anderen Anbietern, mit denen es in Funkkontakt steht, eindeutig zu bestimmen weiß. Nur wegen der festen Preismauern kommen ja so viele Diebstähle und Übertretungen vor. In Zukunft werden Produkte übrigens anfangen zu schreien, wenn sie unautorisiert entwendet werden. Das müsste besonders Ihnen die Arbeit ungemein erleich191
tern, meinen Sie nicht?» Fechter-Schmidt lächelte. «Und hier: Wie gefällt Ihnen unsere Sitzecke für die Herren?» Sie wies auf eine großzügige Ledercouchgarnitur vor niedrigem Glastisch, auf dem allerlei Karaffen standen, blitzende Gläser, ein Eiskübel sowie ein Fächer für Sport- und Männermode-Magazine. «Untersuchungen haben ergeben, dass die Herren, im Vergleich zu den Damen, wahre Warenhausmuffel sind. Sie stören den Ablauf, und am traditionellen Flanieren durch die Gänge liegt ihnen nichts. Deshalb schaffen wir hier ein attraktives Beiprogramm für sie, mit Video-Einspielungen, freiem Internet-Zugang und kostenlosem Entfernen von Nasenhaaren durch unseren türkische Barbier – während die Damen ungestört ihren Lüsten in den verschiedenen Welten nachgehen können. Hier vor Ort benötigen wir unbedingt einen einfühlsamen Mitarbeiter. Sie können sich gerne überlegen, ob Sie dafür geeignet sind.»
Wir haben einen kleinen Stich: Wir stehlen wie die Raben trotzdem wir es ja eigentlich gar nicht nötig haben Uns treibt nicht finanzielle Not nein, es ist ein andrer Grund Wir tuns aus sexueller Not Aber sonst Aber sonst fühlen wir uns ganz gesund Klinger lief durch die Gänge und beobachtete. Brabbelnde Menschen, in Selbstgespräche verstrickt, im Zwiegespräch mit ihren Dämonen, während andere in die kaum sichtbaren 192
Headsets ihrer Mobiltelefone redeten. Er betrachtete die Angebote eines Straßschmucksonderstandes. Dann beobachtete er einen Mann, der ratlos vor einem Regal für Unterwäsche stand, plötzlich seinen Oberkörper drehte, den oberen Saum seiner Unterhose ergriff, sie ein Stück hervorzog und den Hals verrenkte, bis er das Etikett entzifferte und seine eigene Größe erkannte – während Klinger aus den Augenwinkeln bereits prüfte, wie Kundinnen über einem benachbarten Sonderangebotshaufen für Tischdecken beteten, Christinnen und Musliminnen vereint, in ökonomischer Ökumene. Er zog seinen Zettel aus der Tasche, auf dem notiert stand, was für den Superannex noch fehlte, und ging langsam und auf Umwegen in Richtung Hightech-Welt. Compaq 900 19" Monitor Vobis 17" Monitor Aopen AX 6Bplus Mainboard SCSI BravoBaby Mainboard Creamware Pulsar digital I/O DSP-Card Creamware Syncplate Soundblaster Live Soundcard Grafik Elsa Erazor X², DDR-Ram AGP
Er schaute nach oben. Die Lautsprecher: schwarze Todessterne. Die Kameras: Raumflotten. Er glaubte, durch ein Objektiv hindurchzusehen, und erkannte sich selbst, drüben, winzig klein: sich betrachtend, aufzeichnend, zweifelnd. Er wusste nicht mehr, auf welcher Seite er stand, und ging weiter und überlegte, wie jetzt am besten vorzugehen – wo was zu deponieren war. Es sollte nicht allzu schwierig für ihn sein, zumindest kannte er seine Kollegen, nur auf die Kameras musste er achten: Arme zu greifen, Beine zu gehen – 193
Alarmsystem von Sensomatic. Dreizehn Ausgänge. Wieder spürte er das Pulsieren des Wechselstroms der Deckenlampen, das jedes zarte Gefühl störte. Wie plausibel und schön wäre es jetzt, mit Sophia unter freiem Himmel zu spazieren, im Monbijou-Park vielleicht – und er sendete eine Anfrage in ihre Richtung und hoffte, sie würde sie empfangen und zurückschicken an ihn, und er würde ihr erneut antworten und sie postwendend zurück – und das so hin und her, bis die Regel-Schleifenverstärkung jenen Wert erreichte, der in der Wechselstromtheorie Schwingbedingung und in Klingers Kopf telepathische Verbindung, nein: Liebe hieß – doch Sophia blieb still. So betrat er die Hightech-Welt.
30. OKTOBER Abend
Die Sonne, zermürbt von ihrer gewaltigen Arbeit, die Stadt den gesamten Tag über zu erhellen, sank kraftlos in die Häuserflut und platzte auf, spülte ihren orangen Rest über den Asphalt der Straßen: Reinigung. Die Räder einer Tram sangen über den bis zur Brüchigkeit geschwächten Stahl, ihre Bügel schleiften knisternd. Das Pflaster war weich heute Abend, der Boden gab nach, die Bahn wackelte einen vagen Tanz, beschrieb einen Halbkreis um das Haus, der aus vagen Halbkreisen zusammengesetzt war. Die glänzenden Gleise am Ende des Sichtfeldes, wo die Nacht jetzt begann, wirkten wie eine eiserne Netzmasche, deren schmale Strähne sich im fernen Punkt der abschließenden T-Kreuzung zusammenzog, woher die Huren angelaufen kamen, gestiefelte Katzen. Nur Sophia konnte er nicht sehen, dafür die eigenen Augen in der Scheibe, überblendet von den Rücklichtern der Autos, dazu das leise Plappern ihrer Gummireifen über Asphalt, die Stille des Haltens – jetzt erkannte er sie – wie sie sich vorbeugte, um in ein Wageninneres zu sehen – doch wurde er schon wieder abgelenkt, fokussierte bloß die Spiegelungen in der Scheibe, sah den hinteren Trakt der Woh195
nung, den Zigarettenrauch, der sich in Richtung Berliner Zimmer verzog, in Richtung des Aufmerksamkeitsstrudels Annex, dieser Suchtburg inmitten der Festung Er sah Sophia durch die Spiegelungen des Diebesguts laufen, durch haushohe Transistoren – sah die unzähligen Leute auf der Straße, die sicher alle zu Igors Zielgruppe zählten, zu seiner Feindgruppe, sofern sie in Boutiquen verkehrten oder in Cocktailbars: Style-Lämmer, Szene-Affen, die er zum Bluten bringen wollte durch seinen Infrasound, um die Monstrosität sichtbar zu machen – während Klinger eher Mitleid empfand, und er glaubte, dass dieser Wunsch nach Aggression einzig dem Status von Igor entsprang, der den Überblick verloren hatte und mit dunklen Kräften hantierte, ohne sie wirklich zu beherrschen, und so überlegte er, was er tun konnte, um Igors Rolle zu entschärfen, ihn aus seiner Schlaufe herauszulösen – und lief durch den abendlichen Bau, den vorderen Teil der Wohnung, der wie leer geklaut wirkte, wie vom Annex bestohlen, der vor Gerätschaften überquoll – ging nach hinten und schaute sich um: schwarz verkohlte, raue Dielen, als hätte das Holz seine Poren geöffnet, schnappte nach Luft eine bleibende Gänsehaut aufgrund der Hitze jener letzten Nacht Igor? Keine Antwort. Klinger sah sich im Buntglasfenster. Sein linkes Augenlid zitterte, vor Kälte vielleicht. Er lief ins Bad und ließ eine überheiße Wanne ein – dampf stieg aus hundert kesseln und hüllte die gegend in ewigen nebel – hängte den Overall an einen Haken, legte die Sonnenbrille ab, und langsam sank er – rutschte eine hohe, sanfte Düne hinab – ein beinahe betäubendes Gefühl – schlief Minuten später in der Badewanne ein und sah, genau wie er es ge196
plant hatte, bald auch schon Igor über sich liegen, in einer Schlafhöhle, deren Boden transparent geworden war: sah dessen eingefallene Wangen in einem Gesicht, das nur noch aus Linien zu bestehen schien, die vom Schädel über die Stirn hinabliefen und um die Höhlen der Augen herum, den schmalen Nasenrücken entlang und links und rechts vorbei am Mund, in dem die Zähne aufeinander mahlten, und Klinger verstand: Igor hatte die neue Balance und Mitte nicht gefunden, sondern sich verstrickt in seinen Experimenten, zu viele Sterne in Eigenregie konstruiert, zu viele Sonnen – und warf nun mehrere Schatten auf einmal, was ihn komplett und ewig durcheinander brachte – ausgelöst durch seine eigene Musik, die ihn in den Untergang trieb, ihn algorithmisch verfluchte, da er die Träume, in denen er sich verausgabte, alle selbst komponierte, da er es sonst niemandem zutraute, weil nur er so weit ging, sich permanent zu synthetisieren aus den kaleidoskopischen Flocken und Flusen jenes überwältigenden Annex-Gestöbers, in dem er sein Lebensglück verloren hatte. Klinger, ganz eingehüllt in Schlaf, begriff jetzt, warum er Igor entschärfen, warum er ihm helfen wollte: nicht nur aus Mitleid, sondern auch aus einem Respekt heraus, vor diesem verzweifelten Versuch, der unbarmherzigen Konventionalisierung unter dem Deckmantel der Freiheit etwas entgegenzusetzen. Doch helfen war gar nicht so einfach, denn zwischen ihm und Igor schien ein flüssiger Film gespannt, eine Spiegelfläche, über die Schaumwolken trieben, und es kam ihm so vor, als sei der Annex eingetaucht, in einem wirklich toten Meer, das Igor nicht weiter untergehen ließ, sondern konservierte, ohne ihm die Chance zu geben, wieder herauszukommen – und wie er da lag, dauermüde, aber ohne Angst, wehte ihn ständig das Wissen um sein Schicksal an wie ein Schmerz, 197
und er spürte das Salz vergessener, aber nie vergossener Tränen auf den Lippen und konnte nicht umhin, immer wieder davon zu kosten, um so an die Schmach erinnert zu werden, dass ihm nicht geholfen wurde in seiner letzten Nacht, in der er um Hilfe bat – an diesen Blick der Umgebung in die andere Richtung, das Verschließen der Ohren vor seiner Musik – und er empfindet das allgemeine Akzeptieren der Entwicklung als Angriff, die unterlassene Freundschaft, die er ständig neu erlebt, als Attacke auf sein Leben – und schlägt zurück, weil er nie etwas anderes kannte als Schlag und Rückschlag, Schlager und Rückkopplung, in einer Gesellschaft zwischen Musik und Lärm – Lärm kann auch ganz leise sein, eine Anweisung, ein Kommentar im Fernsehen, der Glaubens-Gong vor den Nachrichten – und Igor hatte sich für die Musik entschieden, doch sie sollte nicht mehr gespielt werden: zu merkwürdig, zum Tanzen zu kompliziert – wir müssen wach bleiben, jetzt, nächtelang. wir müssen uns selbst im innersten stören und auf grund schlagen, unsere haut muss bleich werden und bar jeder erinnerung an den wunsch nack regeneration. bist du bereit für einen test? Klinger wachte auf, als ihm Blut durch die Nasengänge in den Rachen lief. Er öffnete die Augen und lag in eiskaltem Wasser wie in einem Grab – dunkle Schlieren auf der Oberfläche: böse Gedanken, und sein Hirn spielte ihm nun Szenen eines Endes vor, die ihm bekannt vorkamen, weil sie ganz zu Anfang bereits erklungen waren, und er wusste, Igor würde ihn in den Tod hineinziehen, wenn er sich nicht wehrte dagegen – wenn es ihm nicht gelang, diesen Datengau zu vermeiden, diese Zeitblase zu zerstechen, die sich im Annex gebildet hatte, als Zerrspiegel der Verformung der Stadt, jenem Pro198
zess, der das ganze Gemeinwesen durchschüttelte – der in die Knochen kriechenden Kälte der Hauptstadtgeburt. Er sehnte sich nach Sophia. Wünschte, dass er nur hinübergehen müsste, um den Arm um sie zu legen – ein paar Meter nur, das wäre gesund, doch der Raum war voll gestellt und hatte sich verwirrt, war schwer geworden und sank ab, es drückte auf seinen Gaumen, was ihn schlucken ließ: Blut. Er stand auf, zitterte jetzt.
«Wie wird es enden?» «Auf kurz oder lang?» «Beides.» «Auf lang werden wir alle sterben», antwortete Bonz. «Dann verrotten unsere Körper. Keine Überraschung. Und auf kurz werden wir mehr oder weniger glücklich sein, bis an unser Lebensende.» Sie standen vor dem Eingang des Café Nadine. Wie verabredet und auf die Minute pünktlich stieg Bundschuh aus einer Tram. «Es geht um das Geisterhaus?» «Lust auf eine Objektbesichtigung?» «Wenn’s nachher eine Luxemburg gibt.» «Geht dann aufs Haus.» Bonz lief ins Café. «Erinnert mich an Marlene Dietrich.» Bundschuh blickte nach oben. «Betonfassade, 20er Jahre – sehr elegant: die eingelassenen Fensterumrahmungen zum Beispiel. Das Gebäude ist ja älter, sicher neunzehntes Jahrhundert. Hatte wahrscheinlich eine sehr üppige Vorderfront, dann aber neues Make-up, nach dem Ersten Weltkrieg – Schlichtheit und Eleganz – durchaus gelungen, würd ich sagen.» 199
Sie gingen durch den Vorraum mit den Briefkästen und hinaus in den Innenhof, wo zwei Entkerner über Pläne gebeugt standen und sogar einen Grundriss enthüllten, als Bundschuh sich als der Architekt der durchzuführenden Renovierung ausgab. «Wo könnte hier Thermik entstehen?» «Dafür müsst ich mir einige Stellen mal genauer unter die Lupe nehmen.» Bundschuh zeigte mit dem Finger über den Plan. «Sind die Stiegen hier von unten zugänglich?» «Kein Problem» – einer der Entkernerjungs begleitete sie, probierte ein paar rostige Schlüssel, dann öffnete er die Seitenflügeltür. «Ein rundes Treppenhaus.» Bundschuh schaute nach oben. «Seltenheit. Besondere Thermik, auf jeden Fall. Vielleicht finden wir hier die Ursache für deinen Geist. Lass uns mal in Richtung Fundament bewegen.» Sie liefen die ausgetretenen Kellerstufen nach unten, in eine feuchte, kalte Schwärze hinein. Dann bogen sie um eine Ecke. «Was zum Teufel ist das?» Bundschuh blieb stehen, und Klinger ließ den Lichtkegel der MacLite über eine von Rissen übersäte Mauer wandern, die analog zur Treppe abfiel, und in diesen Rissen, beinahe spinnennetzartig arrangiert, lagen Kabel, die inmitten der Mauer in einem kleinen schwarzen Kasten sich trafen. «Sieht mir aus wie eine Sprengvorrichtung.» Bundschuh hob die Brauen. «Aber Dynamit kann ich nirgends entdecken. » «Könnte es auch ein Lautsprecher sein?» «Mit einer Wand als Membran?» Bundschuh lachte. «Schon möglich. Aber mit Entkernung hätte das nichts zu tun –» 200
«Wieso wolltest du dir grade diese Stelle hier ansehn?» «Genau hier liegt eine statische Schwachstelle der Konstruktion.» Bundschuh deutete auf den Plan, dann auf die verkabelte Mauer: «Jedes Gebäude hat solche neuralgischen Punkte. Schnittstellen zwischen geometrischen Eindeutigkeiten. Das Treppenhaus ist in einer Spirale angelegt, die in sich stabil und schlüssig ist. Auch die ersten Stufen hinunter in den Keller führen diese Struktur fort. Aber hier, wo es um die Ecke geht, wechselt es zum quadratischen Prinzip. Dieser Übergang ist eine kipplige Sache. Vor allem, weil diese kleine Mauer hier», er klopfte an den dunkel antwortenden Stein, «das gesamte Treppenhaus trägt. Würde man sie umstürzen oder zum Zerbrechen bringen, wäre es so, als trete man einem Menschen das Schienbein weg. Deswegen wundert es mich nicht, genau hier diesen Aufbau zu sehen – gesetzt den Fall, es handelt sich wirklich um eine Sprengvorrichtung, ob akustisch oder konventionell. Scheinbar möchte jemand die Möglichkeit erlangen, per Knopfdruck Risse zu erzeugen, und wenn es etwas gibt, das sich schneller fortpflanzt als der Mensch, dann sind es Risse – nicht?!»
31. OKTOBER Abend
was deine frage nach den architektonischen speziallautsprechern anbelangt, so darf ich wohl sagen, dass ich nicht ganz unvorbereitet darauf bin, weil, ich habe dich gesehen, bei deinem gang durchs gemäuer, mit diesem architekten der neuen mitte. ob ich das haus zerbröseln möchte? nur wenn so nie nicht gelingt – wenn wir scheitern, denn bevor mein zuhause entkernt, bevor es ausgeblasen wird wie ein ei, lass ich es lieber zerplatzen – das ist mein exit-knopf und du hast ihn entdeckt. «Was macht meine Sonnenbrille hier?» ich habe hindurchgeschaut, um die sache etwas anders zu sehen, aber es hat nichts genützt, die propaganda wird immer feiner, während die verzweiflung im innern wächst, deine arbeit im warenhaus entwickelt sich übrigens prächtig, vielen dank für die letzten bausteine. nun sind wir in der poleposition für das entscheidende rennen, leider muss ich dir aber auch von einem rückschfag berichten, die versuche, die stromleitungen der Straßenbahnen in kontrollierbare vibration zu versetzen, sind allesamt fehlgeschfagen. die kabel haben sich als zu dick erwiesen, doch das macht kaum etwas, misslingt ein angriff an dieser stelle, reüssieren wir an einer anderen. 202
ich konzentriere mich jetzt auf die motoren der trams, außerdem arbeite ich an slogans für die bordlautsprecher. lass uns eine zeile entwickeln, die in möglichst viele köpfe hineinpasst. nein: deren klang bis in keimzellen runterreicht, lass sie uns alle penetrieren. die sexuelle freude, die aus verbaler kommunikation erwachsen kann – bislang habe ich sie unterschätzt, ich selbst hätte das nie gedacht – gerade ich nicht, immer nur an musik rumgebastelt. aber wir erfinden sätze mit widerhaken, die aus hirnen nicht mehr rausgehen – kostprobe gefällig? lieber nicht? kein ficken von fakten zur fiktion? was? du glaubst noch immer, ich würde dich manipulieren? bitte – versteh mich nicht falsch. ich bin bloß ein service, den du bestellt hast, für den du bezahlst, und der preis ist okay, sonst hättest du sicher ein anderes produkt gewählt. ich bin nur dein interaktives wissenssystem, weiter nichts, du hast zugang – eine verbindung so lang wie das leben – eine standleitung, ich wiederhole: eine freundschaft. der mensch benötigt filtersysteme, um der informationsflut herr zu werden, und dazu muss eine mediensouveränität entwickelt werden, das kannst du an mir üben. Ein Grinsen. gleichzeitig kriege ich mit, wie du meine einschleichungen auf allen ebenen skeptisch beurteilst – und das ist auch gut so. nur mich hinauswerfen, von diesem vorhaben solltest du wirklich ablassen, es ist an der zeit, dass wir vollkommen ehrlich miteinander umgehen, die machtspiele der vergangenheit haben ein ende, was jetzt angesagt ist: flurbereinigung. denn vor uns liegt großes, das geht nur vereint, ich weiß, dass du wegen so nie in ethische konflikte geraten bist, das spüre ich, in meiner unendlichen dünnhäutigkeit, aber sollen wir die störversuche einstellen, bevor wir richtig damit begonnen haben? du kennst doch das prinzip der befreiung durch hören?! und befreiung 203
ist mit schmerzen verbunden, immer, daran kommen weder wir noch die passanten dort draußen herum, denn verschonen können wir niemanden, wir wollen mit unserer antifiktion in möglichst alle hinein – ein mammutprojekt, sicher, aber das sind wir doch: mammuts, vom aussterben bedroht. okay, vielleicht hast du ja recht, vielleicht sollten wir auf komische effekte wie blutende ohren schlichtweg verzichten, aber wir müssen hoch dosieren, das auf jeden fall. die leute haben eine dicke haut, da müssen wir hindurch, durch die abgestorbene, verschorfte, käsige haut, durch die pelle hindurch – also: was ist unser nächster schritt? komm, wir gehen nach vorne und schauen uns das zielgebiet an. und werfen bei der gelegenheit gleich die eifersüchteleien aus dem fenster, hast du lust? mein herz ist ein berliner zimmer in mitte im lichte der Schienenschweißer. empfindliche energie: lauter e und i. siehst du das freiheitsvirus da draußen? «Was meinst du?» es ist nicht mehr wegzukriegen, es geht nicht mehr raus, nie wieder, und daran wird jeder propagandakörper zugrunde gehen, jede starrheit, kannst du’s nicht sehen, in manchen der blicke und in lustigen arten zugehen? das freiheitsgefühl, das jeder einzelne da auf der straße im bauch hat, sei mal ganz leise – ja, jetzt ist es angenehm – ein Flüstern. hörst du – dieses immerwährende lied der stadt, das murmeln und sanfte rauschen? beinahe hält es dich davon ab, über dich selbst nachzusinnen, aber du kannst es als background benutzen, dann ist es okay, dann säuselt es dir sachte ins ohr: nichts steht jemals lange genug, als dass man seine gesamte liebe daran knüpfen sollte, das ist der takt, der von allen seiten kommt und auf ewig vorantreibt: keine romantische stadt, das sicher nicht, 204
aber dem leben in all seiner wut durchaus raum zugestehend, immer wieder, das auf jeden fall. «Worauf willst du hinaus?» es wird kämpfe geben, enorme auseinandersetzungen um die fiktion. es ist der dritte weltkrieg – ein reiner propagandakrieg, ein soft war. man merkt ihn kaum, dabei ist die mobilisierung total. es geht um die musik in deinem kopf. dein hirnkonzert. die sinne werden entscheiden – sobald sie erwachen, sie sind ja ertrunken, doch langsam kommen sie wieder nach oben, dann tun sie sich um, und unter ihrem wirken mutiert die stadt, das, was du jetzt hier siehst, was viele als die fertige, die endversion ansehen, ist nur ihre dummestizierung. um den wohlstandsbauch in Sicherheit zu wiegen, bei netter musik und in hochmodernen bars, die gummizellen nachempfunden sind, pervertierte heimat – das braucht der mensch ab und zu. aber das hält nicht ewig, und dann zeigt die Stadt wieder ihr wahres gesicht, nach dieser interims-phase, in der sie sich konzentriert, um ihre kräfte zu sammeln. denn bald wird sie sich wieder gehen fassen, dann wird das feuer im boden wieder brennen, die tore sich öffnen, und was dann verraucht, wird starker tobak sein, harte schule, wie im letzten jahrhundert und in all der wolfszeit davor, denn auf dem plan steht nichts anderes als dauernder wandel, genau wie schon immer in dieser sandigen gegend und ohne erbarmen, und nichts anderes ist auch gefragt, denn so weitergehen wie im moment kann es sicher nicht, schau dich doch um. schau sie dir an, die freier in ihren autos, auf der ständigen suche nach einem platz, der sie anhalten lässt, um ein weiteres loch zu kaufen und zuzuschütten – in der andauernden suche nach der braut, auf deren leibchen das wor ERLÖSUNG gedruckt steht. diese erwartungshaltung, das heil komme von außerhalb, deswegen durchmaschinisierung und durcherotisierung der 205
gesellschaft. doch es wird nicht erlösung hergestellt, sondern ein riesiger mangel. ein neuer computer, der nie abstürzt und mit nie da gewesen schneller verbindung – das wär’s doch, dann könnt ich endlich all das, was ich mir schon immer – der geilste fick aller zeiten vielleicht, so gut, dass hinterher ruhe ist, ich versprech’s – das wär’s doch – sie fliegen ihr ja tausende von kilometern entgegen, dieser braut namens erlösung. oder ziehen nächtelang durch den ausgeh-kiez und um die häuser, um irgendwann das große los zugeteilt zu bekommen: hier bitte, das ist sie! von nun an brauchst du dich nicht mehr zu mühen, du hast genug getan! hier, deine erste million! dein leben geht nun in erfüllung. ja, genau: eine, die im hintergrund agiert – eine hintergründige, die nur ab und zu leichte stöße verabreicht, aber genau zur richtigen zeit, die für dich da ist, aber dich auch in ruhe lässt, genau in den richtigen momenten. die ihr eigenes leben hat – klar. Auf der anderen Straßenseite, neben der Metzgerei Annus: Werbung für H&M. Little Louis Vega kommt in den Store, am Wochenende, danach Party im Underclub. Junge Mädchen in gittrigen Netzhemden auf dem Plakat, nette Gesichter, Lächeln – die Zähne: weitere Gitter, dahinter verborgen: das Eigentliche, das immer in einem faradayschen Käfig stattfindet, an dem der Blitz des Blickes abgleiten muss. eine materiell ausgerichtete spezies muss notwendigerweise vor die hunde gehen. Leute an der Kasse im Annus. Rohes Fleisch bezahlen, das bewahrt davor, selber schlachten zu müssen, so einfach machen wir beide es uns aber nicht, menschliches leben ist halt nur was für Spezialisten, wenn du zur masse gehörst, kannst du’s vergessen, mir ist es ernst mit dem infrasound, meine 206
selbstrepräsentation. damit gehe ich in die geschichte ein. und ich will, dass du sie weitererzählst – wo schon mein haus zerfällt. kannst du das für mich machen? dann verschwinde ich auch, weil, so wie im moment – bin ich doch bloß ein unvoffendetes werk. «Hab ich da eben richtig gehört?» ich will dir was zeigen, ich will, dass du mich verstehst, wir gehen gleich mal nach draußen.
1. NOVEMBER 0:01
Partyvolk auf der Straße, in Mummenschanzkostümen. Eine Frau im schwarzen Kleid, darauf gezeichnet: ein Gerippe, untergehakt bei einem Mann, der einen Kürbiskopf trägt, der von innen erloschen scheint. Die Türhüterin mit dunkelrotem Brokatumhang auf ihrem Schemel vor dem Nadine. Das Gedränge leerer Tramwagen auf drei Spuren in der Gleisschlaufe vor dem Haus: Ganz harmlos stehen sie da. Hilflos– allet watt du brauchst – der neue featherman reicht vöffig aus. «Was hast du jetzt vor?» motoren tunen. ist ganz ähnlich wie gitarre stimmen oder ein klavier. so wie in Kraftwerken die turbinen adjustiert werden, damit sie einen ganz bestimmten singer von sich geben, so machen wir’s mit den motoren der trams, ich erklär dir gleich weshalb. hier – halt mal die stimmgabel, damit taxieren wir aus: 126,22 hertz, ein schöner ton, findest du nicht? Klinger schlug die Gabel gegen den Türgriff und lauschte der Vibration. wenn dipolkomplexe singen 208
weil sie im magnetfeld schwingen «Klingt okay.» okay? das ist der sonnenton, auch gravitätische länge genannt – ein sphärenklang. schau mal nach oben, siehst du die noten auf großer leiter? «Wieso Sonnenton?» nimm einen planeten, der sich um die mitte der sonne dreht, und zwar so nahe um die sonne herum wie nur irgend möglich, aber ohne in sie hineinzustürzen, das funktioniert bei lichtgeschwindigkeit und ohne masse, dieser abstand zur mitte der sonne heißt gravitätische länge, würde unser gedachter planet auch nur einen deut näher ans Zentrum heranrücken, würde er unweigerlich hineingesogen, die ikarusentfernung. die hauchdünne scheide zwischen expansion und Kontraktion – jene, die ich einst überschritt, die sonische repräsentation der grenze zwischen dieser und einer anderen welt, die oktavierst du nun achtfach und kommst auf 126,22 hertz, das ist der todeston – er führt zu einem zustand jenseits von gut oder böse, aktion oder ruhe, zu einem zustand ohne namen. den fassen wir die trammotoren die nächsten tage über spielen, mal sehen, ob’s die masse kritisch macht – unser beitrag zu halloween, der nacht, in der die toten seelen der erde am nächsten sind, die realisierung unseres wahns ist elektrisch: trick or treat?! auf erkannten feind: feuerfrei!
2. NOVEMBER Allerseelen
Ein Schild auf der anderen Straßenseite: TOREINFAHRT TÄGLICH FREIHALTEN. AUCH SA + SO + FEIERTAGE.
Lange Rauchfinger abbrennender Zigaretten wanden sich über den Markt. Sophia saß im Nadine und nippte an einem Kaffee. Auf den ersten Blick wirkte sie locker und gut gelaunt, doch war dies nur eine Grimasse, denn in ihrem Innern wütete ein Brand, der nicht mehr zu löschen war, schon gar nicht mit Nüchternheit oder dem normalen, vor ihr liegenden Tagesablauf, der vom Studium der Schriften Dalis bestimmt sein würde, über dessen Theorie der «Kritischen Paranoia» sie in den kommenden Wochen eine Hausarbeit anzufertigen hatte. Sie war müde. Ausgelaugt von der Intensitätsschleuse ihres Berufs, der es verbot, auch nur einen Moment lang unaufmerksam zu sein, gleichsam aber keinerlei Perspektive zeigte, wie sich dieses Hauthinhalten jemals zu einem Besseren wenden könnte – reizvolle Aufstiegschancen Fehlanzeige. Sophia spürte die Mauern, die sich um sie herum errichtet hatten. Sie waren gewachsen in der letzten Zeit, und sie konnte sie nicht so einfach in die Ecke stellen wie die Panzerungen ihrer Uni210
form. Das Umziehen im Kopf war komplizierter und dauerte in etwa so lange wie der Tag selbst, und so verpuffte es, denn in der Nacht mussten die Mauern erneut errichtet werden. Also schenkte sie sich den Abbau, ließ nur noch selten etwas hindurch, da sie im Innern so verletzlich war, so weich, genau wie jeder andere Mensch, und so sehnte sie sich danach, zum riesigen Gehirn zu werden, das nur noch seine eigenen Gedanken denkt und darin Ruhe findet, während ihr Körper unsichtbar würde. Bibliothekarin könnt ich mir vorstellen. Alleine in einem kühlen Raum und entspannen – Scheiße, wie viel Uhr ist es denn? Sie packte ihre Tasche und ging zur Bar. Erst jetzt bemerkte sie, dass Klinger dort auf einer Lenkrakete saß. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und rauchte stumm. Sie wusste nicht, ob er sie gesehen hatte – doch auch wenn dem so wäre, da war sie sicher: Er hätte sich nicht umgedreht, dafür achtete er ihren Raum mittlerweile zu sehr. Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Ihr letzter Besuch im Bau war eine Weile nun her. Sie wusste, sie hatte noch eine Rolle zu spielen dort, und war sogar willens, dies zu tun, wenn auch – Sie ging noch näher an seinen Rücken heran. Ihr war ganz heiß um den Bauch. «Wie geht’s dir?», fragte sie leise. «Was?» Er drehte sich um und betrachtete sie voller Verwunderung. «Ganz okay. Und dir?» Sie legte ihre Hand auf seinen Schenkel. «Ich muss dir was erklären», sagte er. «Brauchst du nicht», antwortete sie. «Weißt du, wie oft ich denke, ich halte es nicht mehr aus?» «Kann ich dir helfen?» «Warum zeigst du so wenig von dir? Als sollte deine Mitte leer bleiben – aber wo bleibt dann das Herz? Ich bin so un211
ruhig in letzter Zeit. Deswegen hab ich mich fern gehalten von dir und der Wohnung. Irgendetwas passiert.» «Igor?» Sie nickte. «Hattest du Kontakt mit ihm?» «Er tut das nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen.» «Was ist passiert?» «Er hat sich wieder gemeldet. Ich spüre ihn dann überall. Er kann nicht anders, er hängt jetzt an mir. Und er kennt meine Lage genau: dass ich mich so schlecht wehren kann. Ich bin müde.» «Halt dich von ihm fern.» «Er hat mir eine Tür geöffnet beim letzten Mal. Jetzt will ich was zurückgeben. Er braucht Hilfe. Aber dann komm ich zu dir, ich versprech’s.» Klinger stand auf. «Ich suche ihn. Warte so lange, ja?» «Keine Ahnung, was ich so tue», antwortete Sophia und wandte sich ab.
3. NOVEMBER Tag
«Lassen Sie mich durch! Es gibt da ein Problem!» Gussows Glatze war von Schweiß überglitzert: «Tamara ist verschwunden! Stromausfall, haben Sie’s bemerkt? Das hat es früher nicht gegeben! Da ist die Sicherung rausgeflogen, das hat ihr gereicht, die paar Momente! Darf ich?» Im verfleckt weißen Kittel kam er zur Tür herein, lief ins vordere rechte Zimmer, suchte hektisch den Boden ab, die Wände, schaute zur Decke, ging dann auf allen vieren, um die Ritzen zu untersuchen, wo die Gasleitung für die Heizkörper aus dem Boden kam. «Wir haben ein Problem!», rief er wieder, kniete vor dem Brett des geöffneten Fensters, stand auf und lief in den Gang, durchquerte das Berliner Zimmer: «So viele Möglichkeiten hier, so viele Winkel! Aber machen Sie sich keine Gedanken. Tamara ist bestimmt noch unten bei uns. Hinter den Aktenschränken ist seit dem Tod meiner Sekretärin nicht mehr sauber gemacht worden. So etwas lieben die Tiere. Da nisten sie gern.» «Bei mir gibt’s auch ein paar Ecken, wo länger nicht sauber gemacht worden ist.» Klinger zündete sich eine Zigarette an. Gussow stand vor der Tür zu Igors Raum. 213
der mensch: ein zoo-on politicon – «Nur zu.» Gussow öffnete. Sofort nahm er die Hände über den Kopf: «Das ist ja grauenhaft! So ein Chaos!» Er drehte sich um, seine Schultern zuckten nervös: «Vermeiden Sie abrupte Bewegungen! Das reizt die Tiere. Es wird Ihnen nichts passieren, keine Angst. Es darf überhaupt nichts passieren. Haben Sie Kokoswasser im Haus?» «Wieso?» «Das Gegengift», antwortete der Professor: «Das klare Wasser einer Kokosnuss.»
die unglaubliche chance, zerstört zu werden: erkennen. du steuerst die maschine, aber ich stehe im cockpit und halte dir die knarre an den kopf. Das Befreiungskommando ist bereits auf seinem Posten. dann wird es tote gehen, ich warne dich.
4. NOVEMBER Tag
«Ich will einen kleinen Ausflug machen, kommst du mit?» «Wohin soll’s denn gehen?», fragte Sophia. «Hönow.» «Wieso denn nach Hönow? Willst du zusammengeschlagen werden?» «Halb so wild. Völlig zahm. Dort ruhen die Leut.» «Ich hab keine Zeit für solche Eskapaden, das weißt du doch.» «Du musst dich mal entspannen.» Klinger zwinkerte ihr zu. «Siehst aus wie Papier. Bisschen frische Luft – ist sicher eine gute Investition für dich.» «Die Männer stehen auf meinen Teint. Erinnert sie an Porzellan.» «Warum bist du immer so schroff?» «Weil ich schon lange nicht mehr in der Natur war. Außerdem haben sich meine Eltern an dem Tag getrennt, an dem ich geboren wurde. Das hat mich von Anfang an vernichten wollen.» «Lass uns die U 5 nehmen, das wollt ich immer schon mal.» «Was ist denn das Besondere an der U 5?» «An der braunen Linie? Wart’s ab.» 215
«Okay. Lass uns mal raus hier.» Sie fuhren mit der Tram zum Alex und stiegen die Treppen in eine Art grün gekachelte Hölle hinab. Standen auf dem Bahnsteig, der Zug fuhr ein, ein gelenkiger Glaswurm, die Führerkabine gut einsehbar. «Siehst du die Fahrerin?» «Seh ich», antwortete Sophia. «Blondine mit Nasenpiercing, na und?» «Schau nochmal genauer hin. Die ist nicht echt –» Sie stiegen ein und setzten sich in die Mitte der Bahn, die ein einziger, endloser Wagen war, ein beweglicher Flur, seine Enden links und rechts nicht zu sehen, da es dauernd um irgendwelche Kurven ging. «Jetzt vibriert das Warenhaus. Jetzt klauen sie gerade.» «Was?» «Vergiss es.» Drei Männer saßen ihnen gegenüber. Sie unterhielten sich darüber, was besser ist: jemandem zwischen die Beine zu treten oder auf den Mund zu schlagen. «Eier treten!» «Fresse polieren! Aber kommt drauf an, was für einen Wumms du so draufhast.» «Nee – du musst dich vor den stellen, mit dem Rücken zu dem, und dann hackst du mit deinem Hinterkopf zu. Damit rechnet der nicht.» «Blödsinn. Hab ich schon probiert. Hab nicht richtig getroffen. Dann war’s Scheiße.» Nächster Halt: Lichtenberg, singsangte eine weibliche Computerstimme vom Band. «Nicht gerade der deutsche Idealismus hier.» Der Zug verließ nach einer Weile den Untergrund und fuhr an einem randstädtischen Wäldchen vorbei. 216
«Ist es das schon?» «Nein, das ist der Friedhof von Wuhletal.» Ein Werbeplakat neben den Gleisen: Guten MOHRgen. Wir kommen mit Tipps in Ihr Ohr! Sie durchquerten Hellersdorf. Plattenbauten über weite Wiesen verstreut. «Wenn man vom Flugzeug aus schaut, funktionieren die Häuser als Buchstaben und schreiben HIER NICHT.» AmOHRe mio. Wir kommen mit Hits in Ihr Herz. Hönow. Dieser Zug endet hier. Sie spazierten in Richtung Ausgang. Klinger drehte sich noch einmal um und betrachtete die gepiercte Pappfigur in blauer Uniform mit Ostberliner Blondinen-Dauerwelle, den Mund zu einem sauren Dauerservice-Lächeln verstellt. «Hat durchaus seine Berechtigung, auch geographisch gesehen.» Sophia deutete auf den geschlossenen «Euro-AsiaImbiss» neben dem Ausgang des Bahnhofs. «Spürst du, wie all der Berlin-Stress von dir abfällt?» «So schnell geht das nicht bei mir. Außerdem muss ich in drei Stunden zurück an die Uni!» «Schau dir doch erst mal den Hechtsee da drüben an, die Thälmannstraße hier links, die Alleebäume – sind das Buchen?» «Nicht befestigte Gehwege», bemerkte Sophia. «Sehr Fontane.» «Weißt du, dass die Seele immer zu Fuß unterwegs ist, auch wenn der Körper technische Hilfsmittel benutzt? Wir sind jetzt ohne Seele hier, die ist noch irgendwo in Friedrichshain und sucht nach dem Weg. Das allein nimmt doch eine Menge Druck weg, so ganz ohne Seele –» «Kann schon sein.» 217
«Ob unsere Seelen nebeneinanderher spazieren?» «Hmm, vielleicht.» Sie liefen an einer Bushaltestelle vorbei. Ein Mann sprach in ein Mobiltelefon: «Det war keene Drohung. Sonst kriegste watt aufs Maul – sonst passiert dir was – det war doch keene Drohung!» «Nettes Völkchen hier draußen.» «Das nimmt sich nicht viel. Ich find das gigantisch: über Erde laufen. Und die vielen Bäume hier! Ja, riech doch mal: dieses Laub –» «Ja, es ist schön», sagte Sophia. «Ich bin froh, dass ich mitgekommen bin. Lass uns auch mal im Sommer herfahren. Zum Hechtsee und so. Aber ich muss jetzt zurück. Ich komm später mal bei dir vorbei, nach meinem Tutorial.»
4. NOVEMBER Abend
Der Schlabber hing ihm sonst wo, die Stirn gerötet und voller Pusteln, die Augen glasig, das Gesicht so bleich, jenseits von Weiß und schon wieder ins Dunkle changierend – die eingefallenen Wangen, der hohle Blick: viel am Fein-Tuning gearbeitet, die vergangenen Nächte – seiner eigenen, nicht hörbaren Musik gelauscht, ein wenig zu oft vielleicht, und dabei beobachtet, wie sie den Raum des Annex veränderte, die Pflanze am Fenster zum Beispiel, eine stolze Monstera mit einem Geflecht aus Luftwurzeln: hyperlange, um unsichtbare Ecken gespreizte Finger – mit fleischigen, gezackten Blättern: große grüne Hände, die sich zu Fäusten ballten, alle Blattkanten nach innen rollend, um dem Infrasound weniger Angriffsfläche zu bieten wie ein Schiff mit gerefften Segeln ankerte sie bald im windstillen Annex und ging erst langsam wieder auf. Igor betrachtete den Markt. Und ohne zu wissen, ob die Szenerie live, eine Erinnerung oder Halluzination war, beobachtete er, wie ein Schweißer, während er vornübergebeugt stand, seine Brille verlor, die ihm einfach vom Kopf fiel, in die fauchende Schweißnaht hinein, und das Licht hatte auf diesen Moment nur gewartet, diesen perfekten Augenblick, und sprang wie ein Wolf in ihn hinein – 219
Die Sirene einer Feuerwehr von Richtung Rosenthaler Platz – Er drehte sich um. Einen Moment lang hatte er geglaubt, es stünde jemand hinter ihm, aber dem war nicht so, und er lief nach vorne, noch immer die Abdrücke des sich krümmenden Schweißers auf der Haut, auf den Brandmauern des Baus. Er schaute hinaus. Uraltes Sumpfland. Herbstwind aus dem Norden, der die Eicheln stahl – Sophia gegen ein parkendes Auto gelehnt –, und Igor zoomte, bis er ihr Gesicht, ein grünes Auge, dann ihre Hände sah, die alles andere als langgliedrig waren, eher Pfoten ähnelten, dabei rührend und vorne ein wenig verdickt, als müssten ihr Schwimmhäute wachsen, die Nägel recht kurz, aber voller Dreck. Sophia Charlotte – vor der sich alle so fürchteten, weil niemand sie einschätzen, keiner ihre Anziehungskraft einordnen konnte, ohne ihr zu erliegen – war ein halbes Kind noch: unsicher, ängstlich, verspielt – voller kleiner innerer Monster, die ihre Grenzen bewachten und mit ihren haarigen Widerborsten jedes wahre Eindringen verhinderten, weswegen ihre Freier, die nach ihrer unberührten Mitte gierten, nie zufrieden waren, aber bis aufs Äußerste gereizt, da so viel mehr, so viel mögliche Entwicklung ständig spürbar war, doch verweigert wurde, sodass sich Sophia in einer andauernden Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt befand, die sie auslaugte und in ihr tatsächlich jenen Gedanken hochkommen ließ, den Igor ihr wünschte: aufzuhören mit diesem Krampf und sich endlich hinzugeben – das Tor zu durchschreiten, das sie schon gesehen hatte, während der Party bei ihm. Er lief in den Annex und spielte Musik. Dann fiel sein Blick in die Höhle, wo alles bereit schon lag: Spritzenkörper, Ampulle und Nadel, neben dem Bett. Nur nach oben locken musste er sie noch.
7. NOVEMBER Früher Abend
das letzte unrenovierte haus am hackeschen markt soll entkernt werden, doch dagegen wehren sich die bewohner. so etwa würde es in der zeitung stehen. Unruhige Augen auf der Suche nach Zigaretten, einem Haltegriff in der diesseitigen Welt, wenn es auch ein abbrennender war, und schon inhalierte er, ohne Verschämtheit, wenn auch mit sichtlich großem Bedürfnis, dann steckte er sich am Stummel gleich eine neue an, während man im Radio von einem kommenden Herbstorkan berichtete, einer Nacht, die stürmisch zu werden versprach. Sie saßen im Annex, belauerten sich gegenseitig, bewusst. Beide spürten: Der Zug fuhr auf den Bahnhof zu – nur wie der Bahnhof aussehen würde, beim Endhalt, das war überhaupt nicht klar. Er tut das nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Er hängt jetzt an mir – «Komm, wir spazieren ein bisschen, solange das Wetter noch okay ist», sagte Klinger, um Igor aus dem Haus zu locken, in die Unruhe der Stadt hinein, wo er verwundbarer war. gute idee, dann siehst du nochmal, wie furchtbar es ist. lass uns gehen, sofort. 221
Klinger zog sich an. «Wieso klemmt denn die gottverdammte Tür?» lass einfach auf. vielleicht ist besuch da, wenn wir zurückkommen. Sie gingen hinaus. Hightech-Baustellen ringsum, einkesselung. Vergrößerung des Schienenkreises. Renovierungen wie Operationen – gehäutete, verarztete, unter allerlei Aufwand am Leben gehaltene Gebäude sowie das Hochziehen neuer Häuser in unmittelbarer Nachbarschaft: nackte Spannbetonkonstruktionen, ein Luxushotel, pressmarmorverkleidete Restauranteingänge, Agenturen-Lofts – Werbung für massenproduzierte Düfte, die die Individualität betonen. Schuhgeschäfte, die wie die spermien aus den hoden – eine reflektierende Scheibe, dahinter in Reih und Glied die bunten Uniformen – Massenbewegungen in den Boutiquen ringsum: alle dieselben Verrenkungen vor Spiegeln, beim Betriebssport, zum Feierabend, in einer riesigen Firma, die von der Stadt schon nicht mehr zu unterscheiden ist – come home to work! Aber was wird eigentlich hergestellt? Keine Ahnung. Was fehltn noch im Angebot? Sie spazierten in Richtung Sonnenuntergang, umbrandet vom Rheumakrachen der Knochen der Bewohner des smarten Seniorenheims auf der anderen Seite, und zunächst schien Klingers Plan noch aufzugehen: Igor einfach nach draußen zu tragen, um ihn weit hinter den feindlichen Linien abzusetzen, denn bereits in den ersten Minuten drohte sein Mitbewohner abhanden zu kommen und in der Kakophonie der Straßen zu verschwinden, die seine dünnwandigen Filter mit Leichtigkeit 222
überspülte: Tausend Mobilfunkgespräche liefen durch Igor hindurch, zerrten an seinen Nerven, und er wandelte im Elektrosmog wie in Nebel – da war ein unfassbares Gewimmel, das ihn verwirrte und glauben ließ, an ihm krabbelten Schwärme von Insekten, Spinnen – Leute in den verschiedensten Aufzügen und aus den unterschiedlichsten Epochen um ihn herum – zwei Rosse, Ritter und Faustkämpfer, und für Minuten schlafwandelte er über ein Schlachtfeld, in sich verteilende Schwarzpulverschwaden, durch eine Leere und über ein Moor hinweg, doch als sie in eine Seitenstraße bogen, flaute es ab, da er sich jetzt im Windschatten von Klinger befand, aber dennoch erschrak, wenn nur ein gefallenes Blatt rattig über das Katzenkopfpflaster raschelte – Die Bürgersteige: überbevölkert. Kaleidoskopische Verdichtungen katalogfarbener Touristen, die auseinander strebten, dann wieder gluckten. Rechter Hand ein Mahnmal für Ermordungen, früher war hier ein Friedhof gewesen. Unnötiges Blitzgelichter automatischer Kameras zur späten, dennoch leuchtenden Sonne. die ganzen gestalten, die hier noch – in den gassen – Die Feuerwehr fuhr vorbei. Ein altmodischer Leiterwagen, auf dem drei Hüllen an offenen Türen standen und winkten, Löschschaum vor dem Mund. Ein Stau am Ausfluss der Krausnick- in die Oranienburger Straße. PKWs, faul im Abendlicht, die Motoren unter ihren Hauben tuckernd, und Klinger, in seiner unendlichen Geräuschempfindlichkeit, hatte das Gefühl, die Motoren justieren zu können, allein aufgrund der emittierten Geräusche, nur durch Optimierung des Sounds. Er wäre jetzt gerne ein paar Schritte neben Sophia herspaziert, und eigentlich hätte sie hier sein müssen, an dieser Kreuzung, doch er sah sie nicht. In einer vorbeifahrenden Tram 223
schlief eine schwarzhaarige Frau, wobei ihr Kopf immer wieder gegen die Scheibe schlug, doch sie wachte davon nicht auf. eng gedrängt liegen sie im hummerbecken in reihen übereinander, wedeln nur hin und wieder mit dem fühler oder reißen ein schreckliches auge auf. nur manchmal gelingt es einem von ihnen, aus seiner reihe auszubrechen, dann klettert er manisch über andere hinweg, die dann halb eingeschüchtert, halb verärgert ihre extremitäten in Sicherheit bringen – aber immer mal wieder kommt es vor, dass ein zacken auch bricht. und manchmal drehen einige in den unteren reihen durch und versuchen, mit aller gewalt, nach oben zu kommen, wo sie ein wenig mehr bewegungsfreiheit hätten – allerdings denken die oberen nicht daran, ihren platz freizugeben, und halten dicht und die anderen unten, so gut es geht. und so werden sie alle nervös und kämpfen, und dann schmecken sie nicht mehr so gut. Auf dem Trottoir standen Tische, voll besetzt, da Heizlampen ihren Dienst taten, vor einem Restaurant, dessen Tagesgericht – Streifen vom Schwein an roter Langustensauce – an einer alten Schultafel angeschrieben stand. Die Besucher der Lokalität schienen sich über die golden gelackten Tische hinweg zu kennen. Neben der Eingangstür saß eine Frau mit sehr langen braunen Haaren und einem kühlen, italienisch geschnittenen Gesicht vor einer gigantischen Harfe, auf der sie «Dans la nuit» von Carlos Salzedo zupfte. – Man ist kein Genie, man hat es. Haben statt sein. Zugang haben. Eine Inflation an Genie, bald. Doch was kommt dann? – In einer wahrhaft liberalen Gesellschaft kann ein Konsummittel nur dann verboten werden, wenn seine Gefahren eindeutig 224
blabla. Das müsstest du als Jungliberaler, der doch so gerne Kontakt mit den Szenemultiplikatoren hält, mittlerweile verinnerlicht haben. Das ist die Chance deiner Partei. Die andern haben es alle verpennt. Wenn wir weiterhin kreativ arbeiten wollen in diesem Land, ist der Fall der chemischen Mauer unumgänglich. Bis hierhin und nicht weiter! So was geht doch nicht – Ein Typ in schwarzem T-Shirt, auf das ein rosa Haftbefehl wegen Geschwindigkeitsübertretung gedruckt war, näherte sich. «Du siehst so nachdenklich aus. Du bist wohl nicht von hier?» «London.» «Ah, wo der Kapitalismus sein wahres Antlitz zeigt. Wo die Leute bereits merken, in welche Falle sie getappt sind. Da muss dir Berlin wie ein Kurort vorkommen. Künster, mein Name. Frank Künster.» «Klinger. Der Erholungseffekt hat sich leider noch nicht so eingestellt.» «Das Erholungsprogramm kann ziemlich anstrengend sein.» Künster zündete sich eine Gitane an. «Die Stadt packt dich, auch wenn sie gar nicht so packend ist, und schon wirst du von einer Veranstaltung zur nächsten geschleift, darüber vergisst du dann das Wesentliche und bist ständig unterwegs. Denn irgendwo muss das große Berlin-Versprechen doch eingelöst werden, so hoffen jedenfalls immer noch einige hier.» «Und?» «Heraus kommt so gut wie gar nichts. Oder hast du in den letzten paar Jahren einen guten Kinofilm aus Berlin gesehen? Aber immerhin: bedeutend mehr los auf der Straße als irgendwo sonst in diesem Land.» Sie mussten ein wenig zur Seite treten, um einer vorbeiziehenden, niederrheinisch lärmenden Reisegruppe Platz zu machen. 225
«Mehr los? Du meinst die Touris?» «Damit hab ich meinen Frieden gemacht.» Künster grinste. «Ohne sie würde mir der Spiegel fehlen – wenn ich ihre Visagen nicht ab und zu in den Schaufensterscheiben aufblitzen seh. Und dass sie uns hier bei unserer Lebensweise betrachten und es irgendwie toll und begehrenswert finden, ist doch angenehm, findest du nicht? Willst du mit aufs Bild?» «Was für ein Bild?» «Nur ein Shooting für GQ, das wir grade hier machen. Irgendjemand muss das Büffet doch zahlen. Als Bildunterschrift
nehmen sie dann: Haben wir von den Untergrundgrößen der Stadt ein Foto geradeso erheischt. Wir verhalten uns ganz normal und führen ohne Kompromisse und Zugeständnisse unser seit Jahren eingespieltes hedonistisches Leben und werden dafür bestaunt und gefüttert, ist doch okay.» Am Nebentisch wurde kaum gesprochen, dafür umso intensiver dem Gespräch zwischen Klinger und Künster gelauscht. «Start-up-Praktikanten.» Künster lächelte ihnen zu. «Sitzen ihre gesamte Karriere über am Nebentisch und sperren die Ohren auf. Das ist ihr Job, dafür bekommen sie ihre läppischen Optionen. Weil, sie könnten ja was aufschnappen, das Geld wert ist, irgendwelche Sprüche, Werbegags, irgendeinen gottverdammten Content vielleicht.» Künster brach in schallendes Gelächter aus. «Früher ist man ja aus Verzweiflung in diese Stadt gezogen und hat als Müßiggänger die Cafés und Clubs bevölkert. Heute passiert das aus Opportunismus und Gruppenzwang, was soll’s. Ist Verzweiflung vielleicht besser? Was ist eigentlich mit deiner Mimik los? Die hast du nicht unter Kontrolle, oder?» «Das ist die subtile Verzweiflung darüber, wie sich unsere so-called reiche Gesellschaft entwickelt. Außerdem – fühl ich 226
mich nie allein, ich hör Stimmen und werde beobachtet, das stresst» – abrupt drehte Klinger sich um, er spürte einen Pikser im rechten Bein, wie einen Stich, schon war es vorbei. Da schlug der Dom. «Mach’s dir nicht so einfach.» Künster klopfte ihm auf die Schulter. «Das mit der gespaltenen Persönlichkeit, das hofft hier mittlerweile jeder Zweite von sich. Aus rein praktischen Gründen ist so was nicht schlecht. Wenn die eine Identität aufgrund widriger Umstände mal ausfällt, ist gleich die andere am Start. Geradezu notwendig heutzutage, so was in petto zu haben, wo man sich gesellschaftliche Ausfälle überhaupt nicht mehr leisten kann. Wer geht denn morgens in die Agentur oder spätnachts noch in die Bar? Der wahre Mensch oder ein Soldat, der gar nicht bemerkt, wie er eingespannt wird, von sich selbst? Was in Wahrheit passiert, ist ganz simpel. Durch unglaubliche Ausschweifungen züchten wir uns zu Monstern heran, gab’s früher schon, ist nix Neues, lies Victor Hugo. Freakzüchtung fürs Regierungsviertel, das schon überall ist. Bei offiziellen Feiern – und bald sind alle Feiern offiziell – treten dann überall und ständig Zwerge auf, was anderes lässt die Leistungsgesellschaft bald nicht mehr zu – HALLO – KÖNNEN WIR JETZT ALLE BITTE ZUM GRUPPENFOTO?!» Künster wandte sich ab. Wieder fühlte Klinger diesen Pikser im rechten Bein.
«Igor?» Er merkte plötzlich: Er war allein. «He du, kommst du ma her?» Eine Weltraumhure winkte. Er drehte den Kopf. «Wieso?» «Komm doch ma her. Ich will dir was erzähln.» «Was denn?», fragte Klinger unwillig zurück, da er es plötzlich eilig hatte und unbedingt schnell zum Haus zurück wollte, um im Nadine nach Sophia zu sehen. 227
«Kost nur 120 Mark – sei ma spontan. Lass dich ma verwöhn. Zimmer ist gleich hier um die Ecke, nehm wa Kurzstrecke, geht schnell.» «Ich hab überhaupt keine Zeit –» «Sei doch ma spontan. Lass dich verwöhn! Drinks sind inklusive, außerdem Bodymassage, französisch, Verkehr. Gönn dir mal was!» Klinger schüttelte den Kopf. Er schaute der Frau in die Augen, und eine unglaubliche Traurigkeit machte sich in ihm breit. «Ich will mich nicht verwöhnen lassen», sagte er und dachte an Sophia, ihre verstörende Art, schaute sich um, aber er sah sie nicht. «Was ist daran so schlimm? Sei doch ma spontan!» Klinger schaute zum Himmel: tintenblaue Wolken. Wieder scannte er die Straße ab. «Kennst du Sophia Charlotte? Arbeitet die heute nicht?» «Die ist vorhin da runter», antwortete die Hure und zeigte in Richtung Markt. «Aber du musst nicht immer zur selben gehen, probier ma was anderes aus, sei ma spontan –» «Wie geht’s dir so?» Bonz hantierte mit einer Joint-Drehmaschine, als Klinger zur Tür hereinkam. «Ich weiß nicht, war spazieren. Wollte mich befreien: bisschen laufen, mit Sophia reden. Aber ich hab sie nicht gesehn. War sie hier?» «Wieso?» Bonz runzelte die Stirn. Aus dem Nebenzimmer kamen eisweißer Nebel und eine Detonation. «Ist doch vor ner halben Stunde in deine Wohnung hoch. Hat dich doch besucht, oder? Lust auf den Waschraum, mal kurz?» Draußen vor dem Café bearbeiteten Dutzende von Männern die Gleise. Sie rückten der Weiche mächtig zu Leibe, hat228
ten ihr Herzstück bereits gelockert, und die Straße lag ausgenommen da, mit bloßen, freischwebenden Schienen, ihrem Gedärm aus Metall, und jetzt steckte ein Arbeiter einen riesigen Schlüssel hinein, drehte um, der Strang rutschte nach links, schon wurde der Gummibalg einer Hupe gedrückt, und alle Männer standen auf, wie ertappt, und bewegten sich von den Gleisen, da eine Tram heranschwebte, und beinahe im gleichen Moment trat Klinger vor das Café und sah seine Sonnenbrille auf den Schienen liegen, da war die Bahn bereits zu nahe, und unter einem Knirschen, das nur er allein hörte, zerdrückten eiserne Vorderräder einen hauchdünnen Bügel, der zwei bernsteinfarbene Gläser fasste, und sie zerplatzten zu nichts – Er rannte nach oben. Die Wohnung schien merkwürdig verändert, wie eine Kirche beinahe. Im Berliner Zimmer brannten Kerzen, und im Annex spielte leise Musik. Da roch er sie bereits: die Melange aus Tabak und Straße, den dunklen Duft ihrer nachtweißen Haut. Er stieg die Baustellenleiter nach oben. In der Schlafhöhle lag Sophia, ihr regungsloser Körper. Die Spritze steckte ihr noch im Bein, und vorsichtig, wie in Zeitlupe, zog Klinger sie heraus. Ein Regenprasseln, als tippten Menschen im Akkord. Die Scheibe auf den Innenhofbalkon: wie von einer Armee von Spinnen berannt – das aufgeregte, leise Tappen ihrer Beine –, dann ein Trappeln, als galoppierten Pferde über den Markt. Das Schlagen von Sophias Herz: wie an eine Tür, doch es war niemand mehr da. Erschöpft ruhten seine Gedanken für ein paar Sekunden aus – Es gab nur eine Möglichkeit, sie zu finden, mit ihr in Kontakt zu treten, jetzt. 229
Er brach den Hals einer Ampulle: klack – Der Einstich: Moskitostich. Instinktiv versuchte er, ihn zu verscheuchen, aber das ging nicht mehr, und der Stich raubte ihm schnell den Verstand, nur eine Schicht blieb übrig: sein Wille – ein Gewebe, gerade so dünn wie die Sätze, die er in jenen Momenten bildete, und er bemerkte, dass er an Sophia Charlotte nur zu denken brauchte, um sich sofort in ihre Richtung zu bewegen. Es überraschte ihn, wie schnell der Kontakt zustande kam. Erst spürte er sie nur, dann sah er sie schon, verschwommen, mehr ein Umriss – nein – es war nur eine Erinnerung an sie, und er merkte, wie er vom Weg abkam – schon blinkte sie erneut auf, aber noch immer nicht real, nur eine Hoffnung, und er versuchte, ruhig zu werden, doch plötzlich – die Wirkung hatte nach etwas weniger als einer Minute einen weiteren kritischen Punkt erreicht – vergaß er, wo er sich befand, sein gesamtes Erinnerungsvermögen zerstob, löste sich in nichts auf, und nur Momente später hatte er von sich selbst keinerlei Begriff mehr, und das Gewebe war noch dünner geworden: eine schiere Bewegung und viel feiner als Gedanken oder ein Satz. Da kam es ihm so vor, als verändere sich die Konsistenz um ihn herum. Dies geschah auf eine Weise, die er im Grunde nicht begreifen konnte, denn alles wurde leichter und offener, und die Reibung nahm ab, gleichzeitig füllte sich die Atmosphäre mit einem schillernden Weiß, das kein Gas war und keine Flüssigkeit, sondern weniger, obwohl es dichter schien und Aufmerksamkeit zwar nicht verlangte, aber doch provozierte, denn dieses Weiß war durch und durch lebendig, und er bewegte sich frei darin, es schienen keinerlei Hindernisse in dieser Umgebung zu existieren, dann bemerkte er, dass er Teil des Stoffes geworden war – 230
Natürlich war er nicht allein. Es gab da ein Rauschen, das waren andere, doch sie störten ihn nicht. Und plötzlich gelang es ihm, Kontakt aufzunehmen, und ohne es vermeiden zu wollen, dachte er an Igor. Zum ersten Mal war die Verbindung zu ihm perfekt. Keinerlei Störgeräusche trübten die Kommunikation, als dieser ihn begrüßte, und sie tauschten sich zunächst über die Konsistenz des Raumes aus, die Igor, ohne diesen Begriff auszusprechen, seelenmuttermilch nannte und als intelligente Energie beschrieb, als fast materiell, aber doch nicht ganz. Urfeinstoff, aber mit Grenzen bereits, mit Haltbarkeitsdatum: milch vom urrind – Igor grinste – nebst hirschgehörnwasser – formen diese seltsame dimension. Was tun wir hier? du hast es vergessen? das ist gut. dann trägst du keinen ballast von draußen mit dir herum, keinen rucksack, dann kannst du ganz weit raus, das wird dir gefallen, weil, leben ist eine verhüllung der wahrheit, die ganz am ende erst herauskommt. Ich erinnere mich jetzt – wie du so vor mir stehst. Klinger grinste ebenfalls. Ich suche Sophia. gib dir nicht zu viel mühe. sie hat sich anders entschieden, es ist zu spät, aber tröste dich: love never dies. Ich werde sie finden. ich rate dir eins: erzähle deiner geliebten einen witz und versuche nicht andauernd, sie zu erretten, kennst du einen? Willst du sie töten? aufstieg nur kollektiv möglich, das weißt du doch, aber nicht ich bin es, der sie tötet – das besorgt sie schon selbst. genau wie du. denn hier kommst du nicht mehr lebend raus, das weißt du, doch das ist halb so schlimm. meinen satz hast du bestimmt nicht vergessen: du musst erst sterben, um 231
auf frische gedanken zu kommen, dein unausgesprochener wunsch – er wird nun wahr. bald gibt es frische ideen in hülle und fülle. ein gedicht über den tod – das bist du gleich, ein – wahrer poet – den seine geschichte vertilgt – ganz kurz vor dem ziel selbst wenn du hinterher noch glaubst, am leben zu sein. Klinger schaute sich um. Sophia Charlotte. Ich will mich dir zeigen, mehr nicht. die fahrt im krankenhausbett – den langen gang hinunter, der aufzug. metalltüren gehen auf: schwarz, hineingesogen – Igor spielte ihm eine Erinnerung zu – 70er jahre, dekade der operationen – Ich bin mal unters Messer gekommen – da war ich fünf. Ich hatte, bis ich dich traf, so viele Jahre lang überhaupt nicht mehr daran gedacht. Igor lachte, wie war’s denn? Ich bin eingeschlafen. Dabei wollte ich unbedingt wach bleiben. Aber die Spritze war stärker. Diese Nonne, das Letzte, was ich gesehen habe: ihr bleiches Gesicht. Wenn’s einen Todesmond gibt, das war dieses Gesicht. Ihr fahles Lächeln. Schon rollte mein Bett. du wolltest bei bewusstsein bleiben? Ich wollte alles miterleben. Man hatte mich ja vorher nicht informiert. Ich war zu klein. Klinger hatte keine Ahnung, wieso er auf Igors Fragen antwortete, und bemerkte, wie schwierig es war, den Faden zu behalten – Sophia! der körper muss verschwinden, sonst wird er rekrutiert, um all die produkte zu vernichten, was ist dann passiert? nach der fahrt mit dem aufzug nach unten? Was? heim in die heia? 232
Ich versteh dich so schlecht. Sie haben dann, als ich in Ohnmacht lag, mit Skalpellen an mir herumgeschnitten. Aufgrund einer Diagnose, die ich nicht kannte und später nicht anerkannte. Als ich den verantwortlichen Chefarzt ein paar Jahre danach im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem Sofa sitzen sah, bin ich ihm fast an die Gurgel. Sophia! heute nacht sind 24 huren bei mir gewesen! heute nacht sind 24 huren bei mir gewesen! heute nacht – Igor lachte schallend. hast du dich anormal verhalten – als kind? Ich war gewalttätig, antwortete Klinger. Ich hab die anderen verprügelt. wieso? Ich wollte nicht dazugehören. Ich hab sicher geglaubt, ich bin was Besseres, sagte er und wusste bereits nicht mehr, ob er es war, der sprach, oder Igor. Vielleicht hab ich das geerbt – du musst jetzt gehen. Natürlich muss ich gehen, aber ich entscheide selbst, wann. niemand entscheidet wann. Klinger spürte, wie seine Kräfte ihn verließen. Wie der Zusammenhang nur mehr an einem silbrigen Faden hing: dem Ruf nach ihrem Namen viellei – stell dir einfach vor: die erde ist im himmel, was sie ja ist, wenn man vom mond aus schaut oder vom mars. willkommen bei der weiterentwicklung des menschen: vom wasser ans land und vom land in die luft. raus aus dem trott. Er durfte es nicht als einen Ruf nach Rettung ansehen, wenn er an sie dachte oder sie rief. Es durfte nicht so klingen, als brauchte er sie. Sophia!! du verfolgst etwas, und die gefahr beginnt in genau dem augenblick, wo du es erreichst, während der jagd, da warst du noch okay – 233
Da empfing er sie. Eine Antwort. Als habe sein Ruf die Adressatin gefunden und würde von dieser erwidert – Kling – Eine kurz vor dem Zusammenbruch stehende Verbindung – Sophi – Gleichzeitig begann das Ketamin, in seiner Wirkung ein wenig nachzulassen, bei ihnen beiden, nicht aber bei Igor, weswegen dieser wütend zu werden schien, aber gleichsam entfernter wirkte, und bald konnte Klinger ihn kaum mehr verstehen, da war nur ein undeutliches Unwohlsein, irgendwo in seiner Nähe, irgendetwas schrie und schlug gegen eine Wand, ein Herz vielleicht, doch die Rufe wurden schwächer, die Abstraktion des Raumes ließ nach – Gegenstände, die nicht verrückt werden durften, pixelten auf, und eine Silhouette wurde deutlich, jene einer schlafenden Frau: in einem Nebel, der sich am Morgen langsam verzog – Klinger spürte jetzt: die Banalität des Nachlassens von Ketamin, die Zunahme von Normalität: eine Erleichterung – weg von der Konvention des Rausches – und er bemerkte, wie Sophia ihm auf ganz einfachem, ganz biochemischem Wege: in die Arme trieb –
Man will Aussöhnung, nur noch Aussöhnung, aber so viele Stimmen stecken im Äther. Sie landeten in einem Annex mit ungewohnter Schwerkraft. Sophia kam sich alt vor, Äonen mussten vergangen sein seit dem Moment, wo Sperma zu Ei gefunden hatte – so viel geerbt –, während sie langsam erwachte und nach draußen schaute auf das Blinken des Turms. Sie stand auf und ging hinüber zum Fenster. Unten ließ ein Schweißer den Press234
druck vom stromführenden Spannbacken steigen, erhöhte an der Stoßstelle den Widerstand und machte sie heiß. «Ich kann ihn noch spüren», sagte Sophia und drehte sich um. «Wütet hinter einer dicken Wand.» Klinger öffnete die Augen. «Wir sind jetzt so kurz davor, ihn für alle Zeiten –» «Ich kann ihn nicht erlösen, und du kannst es auch nicht», unterbrach Klinger und suchte nach Zigaretten. «Wir verweigern ihm die Kommunikation, dann versiegt er und trocknet aus.» «Der kann warten.» Sophia fühlte sich kalt. «Der versiegt nicht. Wir werden weg sein und schon lange nicht mehr an ihn denken, da wird er immer noch hier an sich selbst verzweifeln und andere zur Verzweiflung bringen. Wie alle tyrannisch Veranlagten trägt er seine eigenen Probleme auf einer äußeren Bühne aus, da er feige ist und bequem. Das sollten wir stoppen.» «Wenn sie das Haus entkernen, verschwindet er sowieso.» «Das wird ihn nur noch wütender machen, weiter nichts. Er wird in schallendes Gelächter ausbrechen, getarnt im Baustellenlärm. In Staubwolken wird sein Gesicht auszumachen sein, das dann in alle Ritzen des Hauses zieht, das sie um ihn herum bauen, mit einer Menge neuer Opfer drin, Mieter genannt, und er wird noch verdrehter sein, noch heimtückischer und ungesünder für seine Umgebung als jetzt. Dann wird es über ihn kommen, aber richtig. Ohne es selbst verhindern zu können, wird er Leute malträtieren, auf die schlimmste Art. Er wird in ihre Köpfe reingehen, ohne dass sie es mitbekommen, und er wird Träume umschreiben. Er wird an den Ängsten drehen und Regler verschieben, als programmiere er Sound –» «Dann lass ihn uns beseitigen.» 235
«Hast du eine Idee?» «Er hat gesagt, ich soll seine Geschichte aufschreiben, dann haut er ab.» «Und – hast du schon angefangen?» «Er lässt mir ja keine Zeit.» «Wir müssen drastischer vorgehen.» Sophia schaute ins Leere, als versuche sie, sich an etwas zu erinnern. «Sein Tod ist wie eine Wunde, die er nicht beachten will. Aber immer wieder stößt er sich dran, oder sie nässt und reißt auf. Eine chronische Wunde. Eine Arznei müssen wir finden, für unseren Geist.» Sie schaute auf die Uhr, schüttelte den Kopf: «Ich muss jetzt los. Muss zur Uni, tut mir Leid.» «Jetzt?»
8. NOVEMBER Nacht
Es klingelte an der Tür. Sophia stand vor ihm in ihrer Sex-Uniform, doch hatte sie diese leicht abgewandelt, die Sichtfenster auf die Haut waren verschwunden, dazu trug sie ein Cape, und ihr Gesicht wirkte noch bleicher als sonst. «Hast du heute Nacht schon was vor?» «Wieso?» «Bin mit profundem Wissen ausgestattet. Akademisch abgesichert.» Sie grinste. «Bild und Tod. Ich schlage vor, dass wir etwas sehr Schmutziges, dabei absolut Notwendiges und eigentlich sehr Schönes tun.» «Kein Problem.» «Es geht um seinen Körper», sagte Sophia, und ihre Finger trommelten gegen den Panzer über ihrer Brust.
«Igors Körper?» «Er hängt noch dran. Das ist ihm klar geworden, auf seinem letzten Trip. Leider ein bisschen zu spät. Ein paar Minuten vielleicht nur. Er hat ja oft genug geprobt für seinen Abgang, aber als es dann passiert ist, war klar: Er hat den Tod unterschätzt. Er hat versucht, die Inszenierung abzubrechen, aber da war es zu spät. Da war sein Körper schon weg. Seitdem sehnt er sich danach – hast du eine Ahnung, wo er begraben liegt?» 237
Klinger schüttelte den Kopf. «Bonz könnte es wissen. Wieso?» «Das Problem ist auf dem Friedhof verbuddelt und fault. Aber es besteht noch. Igor ist daran gebunden wie an eine schwarze Nabelschnur. Er hört das Rauschen seines eigenen Leichnams im Grab.» «Versteh ich nicht.» «Die Menschen zeichnen sich vor den Tieren dadurch aus, dass sie ihre Toten rituell bestatten», sagte Sophia. «Das Ritual dient dazu, den Geist vom verwesenden Fleisch endgültig zu trennen. In dieser Hinsicht ist unsere Kultur vollkommen degeneriert. Die Friedhöfe sind in katastrophalem Zustand: von Restleben verseucht. Ich will mir das mal anschauen.» «Meinst du das im Ernst?» «Dabei habe ich dir noch gar nicht erzählt, was ich wirklich vorhabe», antwortete Sophia.
«Gekämpft, riskiert und doch verloren, das soll auf meinem Grabstein stehen.» Bonz reichte ihnen etwas zu trinken. «Wie geht eigentlich die 2050-Geschichte aus?» «Überhaupt nicht», er lachte. «Der Hacker kommt nämlich nicht zurück. Er taucht vollkommen unter und arbeitet weiter. Sein einziges Problem: Er wird müde. Äußerst müde wird er, und weil er nicht zu seinem Körper darf, auf den sie immer noch aufpassen, kann er nicht schlafen. Er kann nur noch eins: sein. Hacken. Nach neuen Kicks suchen.» Bonz stieß mit ihnen an. «Wer dieses Jahr stirbt, ist für das nächste Jahr quitt!» Sie spazierten zur Straßenbahnhaltestelle. Klinger wandte noch einmal den Kopf. Es war ihm, als habe er ein lautes Geräusch aus dem Annex gehört, dessen Buntglasscheiben zit238
terten, doch hatte dies vielleicht die Tram verursacht, die jetzt vor ihnen hielt, und sie stiegen hinein. «Jeder, der in diese Wohnung eingezogen wäre, hätte eine Geschichte mit Igor erlebt. Aber die meisten hätten’s gar nicht gemerkt, und dann wird’s richtig seltsam», sagte Sophia, während draußen eine Stadt vorbeiglitt. «In jedem dieser Häuser, in den allermeisten dieser alten Wohnungen, sind Leute gestorben. Und sauber durchkommen ist gar nicht so einfach, man kann sich schnell verheddern. Es gibt Millionen von ihnen – zu Datenschlaufen erstarrtes Sein.» «Was hast du vor?» «Die Geschichte zu einem Ende zu bringen.» «An Igors Grab?» «Der Tod ist relativ. Er hat verschiedene Stadien», antwortete Sophia. «Man kann in seinen Prozess eingreifen, ihn heilen. Daran haben die Menschen von allem Anfang an geglaubt. Damit haben sie gearbeitet – um Frieden zu halten. In vielen Ländern wird das heute noch praktiziert, es gibt die unterschiedlichsten Vorlagen und Anleitungen, überall. Die so genannte aufgeklärte Gesellschaft kann damit natürlich wenig anfangen. Doch auch bei uns gab es Ansätze für einen Umgang mit dem Tod. Im neunzehnten Jahrhundert hat man in Deutschland angefangen, Totenhäuser zu betreiben, für ein paar Jahre nur, aber immerhin. Dort wurden die Toten während der ersten paar Wochen nach ihrem Ableben beobachtet. Es wurde geschaut, auf welche Weise sie sich noch weiter veränderten: Studien des Verfalls, bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Fäulnis einsetzt, dann hat man sie verbrannt. Vor etwa einhundert Jahren aber schloss man diese Häuser und begann mit der Anonymisierung des Todes. Das ging mit der Industrialisierung Hand in Hand. Kleine lokale Friedhöfe, oft um Kirchen herum angelegt, wurden aufgelöst und die Leichen in 239
große Zentralfriedhöfe am Stadtrand verbannt. Gleichzeitig entstand der Ersatzkult der Kriegerdenkmäler. Der individuelle Tote wird seitdem verachtet. Wir haben keine Schreine für die Ahnen, keine Mythologie, nichts. Der Tod ist kein Meister – er ist krank.» Ihnen schräg gegenüber saß eine alte Frau mit Haarnetz, es hing ihr über das halbe Gesicht. Verbiestert presste sie die Handtasche an ihren filzigen Mantel, obwohl weit und breit niemand zu sehen war, der sie ihr hätte wegnehmen können. Sie hatte den Kopf seitlich verdreht, um in das vorbeigleitende Dunkel hinter ihr zu schauen. Die Scheibe neben ihrem Mund: von Ängsten überhaucht. «Igor hat mit seinem Friedhof noch Glück gehabt», sagte Sophia. «Der St.-Marien-Nikolai ist einer der schönsten der Stadt. Ich war dort ein paar Mal im Sommer, zum Lesen: malerisch, mit kleinen Kapellen überall –»
Ausstieg Mollstraße. Es war Viertel nach zwölf, als sie über die Backsteinmauer des Friedhofs stiegen, der in der farblosen Nacht wie aus einer vergangenen, selbst bereits abgestorbenen Zeit vor ihnen lag. Nur gelegentlich drangen Mondstrahlen durch die kaum aufgerissene Wolkendecke. Erlen wuchsen an den Rändern der Pfade wie Schlote. Wacholderbüsche begrenzten die Wege, wuchernde, jetzt kahle, stacheldrahtige, eingefrorene Brombeersträucher, dicke Bäume auf alten Gräbern, die Wurzeln durch mehrere Stätten hindurch. SEID GETROST. ICH HABE DIE WELT ÜBERWUNDEN.
Klinger hatte keine Ahnung, wie sie das Grab, nur mit der MacLite ausgestattet, jemals finden sollten, doch Sophia zögerte kaum. Innerlich eingestimmt auf Igors Befinden – so glaubte sie –, spürte sie dessen Abwehrreaktionen, wenn sie sich auf dem richtigen Weg befanden, und folgte diesem dann. 240
Die Silhouette der asbestbrütenden Burg der ehemaligen SED-Zentrale: vage im Hintergrund – Grabmal der Familie Ende, 1828 – Verrostete Eisenspiralen, blau bepinselte Eisenblüten, ein schmiedeeisernes Illuminatenauge am Kopfende eines Grabes, das aussah wie ein Bett. Erbbegräbnis der Familie Dionysius – eine gotische Kapellenfassade, ohne Eingang. Ein Schild: Anonymes Grabfeld – ein breiter Streifen Erde, längs einer Mauer. NIEMAND HAT GRÖSSERE LIEBE DENN DIE, DASS ER SEIN LEBEN LÄSSET FÜR SEINE FREUNDE.
«Da ist es!» Ein simples Beet, keine Blumen, ein verdorrter Heidestrauch, ein Stein, der Name. «Weder Geburts- noch Sterbedatum. Als war das Leben nur eine Auszeit, die es zu vernachlässigen gilt. Was machen wir jetzt?» «Wir brauchen Spaten.» «Du willst es wirklich durchziehen –» «Ich kann es kaum erwarten», sagte Sophia. «Ich schau mal in dem Schuppen dahinten nach.» Familie Albert Deutschmann. Unvergesslich. Unersetzlich. Das beste Gartengerät ist jetzt noch besser gewor – Sophia kam mit zwei Spaten und einem leeren Metallkasten zurück. «Sieh dir den überwuchernden Friedhof an und dahinter diese Plattenbauten. Ordnung des Lebens, Chaos im Tod. Muss die Hölle für einige sein, hier unter dieser wildwüchsigen Natur zu liegen. Komm, wir fangen an –» SELIG SIND DIE TOTEN, DIE IN DEM HERREN RUHEN!
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Sie führte den Spaten auf den Boden und trat ihn mit dem Fuß in den knochenharten Grund, der knirschend nachgab. «Nachtarbeit.» Sophia griente, schon flog Erde auf den gewundenen Weg. Klinger blickte sich um. Als ob, all die steinernen Engel, die überall auf Sockeln standen und in Nischen, ihnen verstohlen zuschauten, die Stämme und Blätter der Bäume ebenso, die versammelte Nacht: Augen, überall. Irgendwo fauchte eine Katze, dann war es still. «Mach schon, wir haben einiges vor uns.» Sophia schwitzte bereits, doch ließ sie nicht nach. Auf einmal war es bitterkalt. Klinger ergriff das Werkzeug. Ihn fröstelte, und er hoffte, ein wenig wärmer zu werden, durch das Schaufeln. Die ersten Minuten vergingen. Sein Kopf leerte sich und er versuchte erst gar nicht, rational zu ergründen, was sie hier eigentlich taten. So blieb es still, sie sprachen nicht, nur das Einstecken der Schippen, das Fallen der nassen Erde auf Erde – und überall Haufen, die wuchsen, eine zunehmende Unordnung, die entstand – Metallisch klangen die Schaufeln gegen Steine, die im Weg lagen. Wurzelstränge, in denen sie sich verhedderten – «Wenn ich mir vorstelle, in was für ein Umfeld wir vorstoßen.» Klinger keuchte. «Diese ganzen Leute – gleich aus zwei Jahrhunderten hier vereint.» Schließlich stießen sie auf einen Sarg, was Klinger überraschte, denn je länger sie geschaufelt hatten, desto abstrakter war ihm ihr Vorhaben vorgekommen, so unwirklich wie der Friedhof selbst, doch nun lag der Sarg vor ihnen, Igors Sarg – schlicht und aus braunem Holz und scheinbar vollkommen intakt. 242
«Wir müssen die Verklammerungen lösen.» «Vielleicht zerfällt er ja wie Namenloser Prinz.» «Schmink’s dir ab.» Mit beiden Beinen standen sie nun im Grab, in feuchter Erde, die die Verklammerungen verklebte und deren Geruch Klinger an seine Kindheit erinnerte, den nahen Wald, in dessen Boden, während der Sonntagsspaziergänge, er immer Leichen vermutet hatte: Opfer nie aufgedeckter Morde, Gefallene. «Komm, hast du’s auf?» Sophia, gebückt, schaute ihn über den Sarg hinweg an. «Warte.» Seine Finger rutschten ab, dann hatte er die letzte der Verklammerungen gelöst. Langsam hoben sie den Deckel und legten ihn zur Seite. die wahrheit gar nicht sehen wollen – die erotik, die immer auf – täuschung besteht – weil nur im getäuschtwerden die – wahrheit entsteht – «Der blühende Tod», flüsterte Sophia. Klinger blieb stumm. Es war ihm beinahe peinlich, das zu sehen, und er dachte: Wirklich, es lebt. Das ist das Furchtbare. Eine wimmelnde Verlorenheit – derart entblößt. Hoffnungslos verloren, schutzlos gegen Blicke – darin lag das Peinliche und über und über mit Schimmelblumen bedeckt. «Der Mazerationsprozess in vollem Gange.» Sophia nickte schwer. «Von Fried kann wahrhaft keine Rede sein. Davon befreien wir ihn jetzt.» «Wie willst du das tun? Wie willst du hier irgendwas tun?» «Warte – gleich –» Tief atmete sie durch, sog das Todesgift ein. Ein Regentropfen fiel auf ihren linken Spann und berührte die Haut, ein einziger, dann war es still. Dann eine Sirene, hinter der Mauer. Klinger schaute auf. 243
Sah zwischen Baumkronen wieder die Partei-Burg brüten, schwitzend im schwefligen Gelb des Straßenlichts. NUN BIST DU DAHEIM, IM ECHTEN LAND, DEM HEIMATLAND – AUF EIG’NER WEID, IN EIG’NER WONNE, IM SCHEIN DER ALTEN SONNE.
«Du musst jetzt vergeben.» Sophia sprach in das Grab hinein. Sie sprach mit Igor – mit jenem Aspekt von ihm, der im Grab sich befand und verzweifelt durcheinander kroch. Sprach mit der Leiche, die in ihrer Entrücktheit und wie sie starr zum Himmel schaute, pervers lebendig wirkte, als beobachte sie etwas, als blicke sie jemandem, der sie ebenfalls betrachtete, ins Gesicht. «Auch wenn du es nicht verstehst und es sich seltsam anhört: Du musst vergeben. Allen, die in deinen Tod verwickelt waren und vor allem dir selbst – weil du es zugelassen hast.» Sie nahm getrockneten Thymian aus ihrer Tasche, zündete ihn an und blies den Rauch über das Grab. «Du hast genug getan. Wir sind gekommen, um dir Freiheit zu schenken. Und dies tun wir», sie sprach leise, «indem wir die Wahrheit sprechen über diesen Tod – und ich, Sophia Charlotte, bezeuge vor aller Welt, dass diese Gegend dereinst hat Igor krepieren lassen, einen aus ihren Reihen.» Erneut griff sie in ihre Tasche und läutete eine kleine Glocke – wie an Weihnachten, wenn man endlich ins geschmückte Zimmer darf. Dann war es still. Die Leiche starrte noch immer voller Verwunderung und Entrüstung nach oben. «Das war’s?» Auf der Prenzlauer Allee fuhr ein Mannschaftswagen in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz. «Jetzt müssen wir ihn nur noch reinigen», antwortete So244
phia. «Und damit sollten wir sofort anfangen, um bis zum Morgen fertig zu sein – bevor jemand kommt.» «Was willst du denn hier noch reinigen?» Klinger betrachtete sie argwöhnisch. «Jetzt wenden wir meine akademischen Kenntnisse in der Praxis an. Hier nimm –» Sie holte fahlgrüne OP-Handschuhe aus ihrer Tasche und reichte sie ihm über das offene Grab. «Befreiung der Knochen vom mazerierenden Fleisch. Alter polynesischer Brauch. Aber globalisierbar, ganz bestimmt. Wir stellen das lachende Gerippe her. Den glücklichen Tod.» «Wie soll das gehen?» «Du darfst vor allem nicht zögern, während du das Fleisch von den Knochen entfernst», antwortete sie. «Du musst es leichten Herzens tun. Was liest du eigentlich so? Auch die Franzosen? Willst du ein Gedicht hören – hast du Lust?» la rue assourdissante autour de moi hurlait longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse, une femme passa, d’une main fastueuse soulevant, balancant le feston et l’ourlet – Klinger war mehrmals der Ohnmacht, der vollkommenen Erschöpfung nahe, aber er konnte nicht aufhören damit – nur bei der Entfernung eines völlig zugeteerten Lungenlappens übergab er sich beinahe in das offene Grab. Die Arbeit dauerte Stunden. Er hörte Sophias leisen Singsang oder bildete sich ihn irgendwann ein, dann die ersten Vögel. Dann ein verfaulendes Kleinhirn in seinen Fingern – und Minuten später Igors grinsender Schädel auf seinem Handteller. Der vorstehende Kiefer sah aus, als sei er just in dem Moment versteinert, als er etwas zu erzählen begann. Plötzlich raschelte es stark in den Bäumen. Ein Wind kam auf 245
wie eine Musik. Der Schädel, den er mit den Fingerspitzen an den Schläfen hielt, wog kaum etwas und schien jetzt sogar noch leichter zu werden – als blase die Brise alle Erinnerungen heraus, und nach wenigen Momenten starrte der Schädel mit leerem Blick auf einen Punkt im Nichts, als habe er sich fortgeschrieben, in die Luft, in Klinger und alle interessierten Trägermaterialien – als sei er aus sich selbst heraus. «Der Geist ist ein Knochen, sagt Hegel.» Sophia reinigte einen Oberschenkelschaft, dann ein Schienbein, während Klinger noch immer den Schädel hielt, tief in die dunklen Augenlöcher schaute, die sehnsüchtig brannten, zwei schwarze Sonnen – während neben dem Sarg ein übler Haufen an Organik wuchs. Schließlich nickte Sophia, kippte Spiritus darüber und zündete ihn an: ein kaltes Feuer, ein nekrophiles Blau, saphir-kühl. Klinger sah: ein Ausspeien von letzter Kraft. Die letzte Trennung und das Zerbritzeln der Masse, diese Funken: die Freisetzung von Geist. Wieder war es still. Vor ihnen lag das Skelett, mit offenen Armen, auf dem Rücken, den Kopf leicht in den Nacken gestreckt. «Jetzt polieren wir noch die Knochen, dann ist die befreite Form des Toten herausgestellt. Die sammeln wir ein und tun sie in die Kiste, denn hier lassen wir sie nicht.» «Meinst du, es funktioniert?» «Das sehen wir, wenn wir am Markt sind.»
Das Gebäude ragte merkwürdig windschief in den frühen Himmel, als die Tram dem Hackeschen Markt sich näherte. Die Flotte der Entkerner-Kombis stand in der Parkbucht vor dem Eingang zum Haus. 246
«Ich brauch jetzt einen Kaffee.» Sophia ging in Richtung Nadine, während Klingers Augen noch immer auf das Gebäude gerichtet waren, das im Wind, der in Stößen von hinten kam, zu schwanken schien, genau wie sein Körper, der müde war von der Arbeit der Nacht – in dem tausend Beerdigungen gerade stattfanden, ganze Städte aus Kartenhäusern krachten zusammen, aber dauernd blühte etwas Neues auch auf. «Zutritt nur für Mitglieder.» Ein Türsteher in roter Nylonjacke, auf die SILENT RAVE SECURITY geschrieben stand, versperrte ihnen den Weg. «Ich leg hier auf.» Klinger zeigte auf die Knochenkiste, und sie gingen hinein. «Was wollt ihr trinken – Champagner?» Bonz kam auf sie zu, beäugte die Kiste, auf die Sophia ein großes «I» geschrieben hatte. «Gib gleich her. Da stell ich eine Box drauf, dann bleibt er im Fluss.» «Was ist eigentlich mit der Kellerbar, von der du mir erzählt hast?» Sophia drehte sich eine Zigarette. «Sollen wir da nicht mal nachsehen – jetzt wo wir gerade dabei sind?» ich würd’s niemandem empfehlen, da runterzugehen. ich will’s jedenfalls nicht entdecken, ist mir zu viel. Bonz schaute sie mit großen Augen an. Dann schüttelte er seinen kahl rasierten Kopf.
9. NOVEMBER Früher Morgen
Jetzt laufen die kostbaren Stunden, in denen sich die Durchschnittsmonster in ihren Schwarzweißalbträumen wälzen. Jetzt ist die Stadt unter Sonderbeleuchtung. Ihre Narben, die Einschusslöcher am Hackeschen Markt: künstlich bestrahlt. Ein scharf ausgeschnittenes Rechteck aus flimmerndem Licht begleißt die Wand des Gebäudes: Licht von der Straße. Hier gibt es Bauarbeiter, die bis zum Morgengrauen nicht schlafen. Die ganze Nacht schon schweißen sie an den Straßenbahnschienen, sitzen in quadratischen Metallkästen, die Augen hinter Kastenbrillen. Gesichter angestrahlt vom Stroboskop der Schweißgeräte. Grelles Weiß bricht von ihnen weg, befleckt den Straßenzug, die Fassaden der Häuser, die Wände in den Häusern. Licht so hoch wie Kräne. Zwei Männer sind es, kniend, schweißend, in absoluter Ruhe und Entspanntheit. Funken stieben gleichmäßig von ihnen weg, und immer, wenn eine der spärlichen Nachtstraßenbahnen um die Ecke kommt, packen sie den Metallrahmen mit beiden Händen, ziehen ihn zu sich hoch wie einen steifen Rock, gehen zwei Schritte zur Seite. Warten, bis die Bahn vorüber ist, steigen zurück auf die Gleise. Lassen den Kasten 248
nach unten, kauern sich erneut in dessen Mitte und schießen wieder ihr Weiß. Morgenröte übersickerte den Horizont. Frühnebel zogen auf. «Wir können direkt vom Innenhof rein.» Wieder kam es ihm vor, als schwanke das Gebäude, als er die Stufen in Richtung Kellerbar nach unten stieg, gleichzeitig dachte er: Es sind zu viele – und wollte Sophia etwas zurufen, um sie zur Umkehr zu bewegen, doch da war sie bereits an jener Mauer vorbei, die mit Drähten durchzogen – ein Wummern – Der tanzende Lichtkegel der MacLite – es wird ihnen nichts passieren, keine angst, es darf überhaupt nichts passieren. Ein Heulen – so etwas hatte er schon einmal gehört –, eine Alliierten-Bombe kracht in den Innenhof, alle Scheiben brechen in schallendes Gelächter aus. Ein Wummern, immer noch, dann der Erdwall, mit schmalem Spalt an der Seite, Sophia drückte sich daran vorbei, verhedderte sich: ihre Haare in der dunklen Erde – war vorbei, lief in die Weiten des Kellers, Klinger ebenfalls am Erdwall, auf dem es zu krabbeln schien, weiße, fingernagelgroße haarige Nester – plötzlich hörte er einen Schrei – in Bergen und Tälern, Berg und Tal, und suchte mit der MacLite – wieder ein Berg, lang gezogen, dann wieder ruhig – der Raum weitete sich, Klinger lief, schon sah er sie liegen: die schwarzen Haare um ihren Kopf herum, der Körper ruhig, leblos, die Augen halb offen: fragend – «Sophia –» Einen Augenblick lang war es ganz still. Dann ein Rascheln, unter ihrem Kopf. Ein feiner Laut, für einen Menschen kaum wahrnehmbar, doch beide hörten ihn, und beider Augen suchten, während er sachte ihren Kopf in die Hände 249
nahm, den zerbrechlichen Kopf mit den nun wieder geschlossenen Lidern, und wie er ihn ein wenig anhob, krabbelte darunter in rasendem Tempo etwas hervor und verschwand in einer Mauerritze in Richtung Innenhof. Nur für den Bruchteil einer Sekunde zu sehen: die rötliche Zeichnung auf einem bräunlich schwarzen Rücken – « Tamara!» Sophia lag da, weiß und bleich, ihre Tusche eine pechene Naht. Klinger kauerte neben ihr, wild, Kerben und Furchen in seinem Gesicht, wieder diese schwarzen Ränder, komplett um seine Augen herum. Ich habe geschlafen, das war mein Leben, und jetzt bin ich tot: ein Traum, ich hob es gewollt, aber Klinger – gib mir einen Kuss, Klinger, ich bin verloren, ich muss – Klinger, gib mir einen Kuss – Sie atmete schwer – und sah nicht Klinger, als sie die Augen aufschlug, sondern Gestalten, alles voll, hörte fünfzig seltsame Gespräche auf einmal. Da war ein Leben in den Gewölben, ein Mann in blauer Jacke kam auf sie zu, betrachtete sie eine Weile, schüttelte den Kopf und glitt davon. Kokoswasser. Wo gibt’s hier Kokoswasser?! Das schwarze Todesgift: in ihr, vom Nacken aus nach oben und unten sickernd. Die Adern im Hals: von Blau über Violett bis hin zu Schwarz – die Haut gemustert: eine Wand mit Rissen. Sie stürzte ein, der Ellenbogen, auf den sie sich zu stützen versuchte, gab nach, sie knickte weg. Alles klar, das kriegt hinterher keiner mehr so schnell auf, das machen wir dicht. «Bin gleich wieder bei dir!» Klinger flüsterte, sprang auf, lief am Erdwall vorbei, an der Wand als Membran, die dunkel wummerte, bereits bröckelte – wir werden ja nicht wirklich sterben, aber bevor sie unseren körpern den raum nehmen – erster Stock, zweiter Stock – die Tür in den Annex stand offen, 250
aus dem Annex drang laute Musik – Kokoswasser, wo gibt’s hier Kokoswasser – er lief durch Igors Raum – ein Spalt in der Wand, der sich fortpflanzte, einem anderen weitererzählte, und eine Gabelung entstand – suchte nach einem Werkzeug, warf Gegenstände durch die Luft, schaute in Ecken, in der Kleiderkammer, der Schlafhöhle oben – und lief mit einem Bolzenschneider, den er hinter einem Stapel Platten entdeckt hatte, nach vorne, zur fachgerecht verschlossenen Tür des kleinen Vorratsraumes zwischen Küche und Berliner Zimmer. Ein Sack Reis – Leere Flaschen und Kartuschen – Zwei Kokosnüsse. «Igor –» Hilflos lag Sophia auf dem kalten Steinboden des Kellers. Flüsterte. «Igor!» Und sie hörte eine Antwort: ein einziges Wort, ein Loop: freischütz – ein einziges Wort, sie hörte es, wusste nicht – freischütz – immer wieder – Sie wachte auf. Blinzelte, freischütz. Erhob sich wie im Traum, mit letzten Resten ihrer Kraft – freischütz – schaute sich um, suchte und lief langsam, schlafwandlerisch zum Ausgang der Kellerbar und die Treppe hinan, durch die Tür hinaus in den Innenhof und raus auf die Straße, die so hell war wie Gift – Bonz kam auf Sophia zu und nahm sie in Empfang. Als Letzter hatte er das Nadine verlassen, das im Rahmen der Entkernung geräumt werden musste. «Alles klar?» «Freischütz.» «Trifft sich gut.» Er nickte, griff unter sich in einen Kasten und brach einen Hals. «So was gelingt mir nie wieder.» Er hielt ihr die Flasche an die Lippen, schaute auf sein verwaistes Café, dann hinauf zum Haus. «Die gehen ganz schön ran, die Ent251
kerner. Hab gedacht, das zieht sich über Wochen hinweg. Hab gedacht, das ist ein sanfter Prozess.» Das Haus bröckelte, Putz fiel ab – ein Krachen – «Kannst du schon wieder laufen? Lass uns auf die Kreuzung gehen. Nicht, dass uns das Ding noch um die Ohren fliegt.» Das machen wir dicht. Das kriegt hinterher keiner mehr so schnell auf! Risse rasten die Seitenwände des Berliner Zimmers entlang. Klinger gelang es nicht, die Speisekammer zu öffnen. Verschwitzt lief er in den Annex, zur Tür ins tote Treppenhaus – dessen Stiegen unter ihm mehrere Meter weit weggebrochen waren – «Sophiaaa!» Er schüttelte entmutigt den Kopf, drehte um. Der Annex kam ihm entgegen. Er drängte sich an der Wand entlang, erreichte den hinteren, geknickten Gang. Wo ist das Kästchen? Da sein Streben nach diesseitiger Vereinigung scheiterte, beschloss er – um Sophia auf der anderen Seite zu treffen vielleicht – und lief nach vorne, suchte in seinem Schlafzimmer, fand und brach eine letzte Ampulle – klack. wenn der engel des todes naht, ist er schrecklich, wenn er dich erreicht, ist es glückseligkeit. Packte die Kanüle aus. gibt es vollkommene momente? ja. massenhaft, denn in jedem einzelnen moment liegt eine kleine perle vollkommenheit, du musst nur deine wahrnehmung entschleunigen, bis ganz auf null. Die Spritzenspitze trank. Er schaute aus dem Fenster. Regenschlieren auf den Scheiben seines Blicks, während wummernde Musik durch Mauern und Wände sickerte, sich in seinem Gehörgang verfing – 252
Der rechte Oberschenkel – Moskitostich – dieses Haar von Schmerz, und schon schlüpfte die 12er Nadel in eine Hautpore hinein, war aber viel zu dick und zerstörte sie. Blut rann, warm, und Klinger sah die entsetzten Gesichter von Gussow und Erben, die nebeneinander auf der Verkehrsinsel standen und ihn im Fenster erblickten, ihm zuwinkten in nichtsynchronen Zeitlupen, jeder für sich, und er konnte kaum noch den Arm heben, sein Winkelement, um die Grüße zu erwidern. Wie gerne hätte er nun seine Sonnenbrille aufgesetzt – Jetzt laufen die kostbaren Sekunden – Balken zerrten, Laufmaschen in allen Wänden – Es war, als atme das Haus ein letztes Mal aus, blase alle Geschichten aus sich heraus – das Neue Deutschland, Ogais Gedicht: flatternd, aus der Dachluke heraus – Hintergrund: gütiger Himmel. Geh ins Blitzlichtgewitter. Geh ins Licht der Schweißer. Geh in den Rauch – Die Musik aus dem Annex war nun sehr laut. Das Haus, in einem Seufzen, ließ sich gehen. Die Trägheit der Materie behauptete sich noch einen Moment, letzte Stimmen wurden ausgeschwitzt – Orkan aus Nacht, der Tag bloß ein Auge – das blinzelte, jetzt – der Klang von Schädeltamburinen irgendwo, und Klinger glaubte noch am Fenster zu stehen und betrachtete die wie eingefrorenen Gesichter der Passanten, die mit Telleraugen das Gebäude bestarrten, einige hielten sich die Ohren zu – hörten sie etwas Unerhörtes? Bluteten sie, manche von ihnen? Ein unglaublicher Sound. Ein Bass, der sich viel umfangreicher im Körper manifestierte als nur im Kopf. Der Klinger an tausend Stellen gleichzeitig traf, die Sonne ging auf, dies war ein neuer Tag, und die Fassade des Hauses sprang in immer größeren Stücken in die Stadt zurück – 253
Kennen Sie Hönow? Leute sind schon seit Jahren tot und fahren immer noch mit der U 5 nach Hönow, wieder zurück zum Alex, zurück nach Hönow – Das muss jetzt der Film meines Lebens sein. Mein personalisierter Inhalt. Die gesamte Geschichte, die von vorne beginnt – der Kreis aus Hochspannungsleitungen, das Überschreiten der Gleise: die schimmernde Essenz – Er schaute nach unten. Da erstarrte sein Blick. Sophia?! Sie kehrte ihm den Rücken zu, schaute Bonz hinterher, der ein Taxi bestieg. Sophia! Er versuchte zu rufen, doch seine Zunge war so schwer. stell dir einfach vor: die erde ist im himmel, was sie ja ist – Sein Verstand verließ ihn: Hunde, deren Leinen gekappt: Sophia?! Mühsam wandte er sich vom Fenster ab. Schwankte vorsichtig, wie auf schwimmenden Planken, durch einen vorderen, unter ihm wegbrechenden Raum KLINNG – da zögerte er, hatte etwas gehört, und auch wenn er mit diesem Namen kaum mehr etwas anfangen konnte in diesen Momenten, in denen das Vitamin seine Wirkung entfaltete, unerbittlich und in rasend anschwellender Kraft – reagierte immerhin sein Körper darauf und versuchte, sich in Richtung der Wohnungstür zu bewegen – GEEER –, um der Quelle, die ihn rief, näher zu kommen, während sein Geist gerade vergaß und kaum noch etwas wusste von der ganzen Geschichte, nur diese eine Erinnerung vielleicht, an die er sich klammerte wie an einen Halm: den Körper niemals vernachlässigen, dem Körper folgen – der nun zombie-style, monsterhaft – KLINNG – im lila gestrichenen Gang verharrte – so viele Türen überall! – eine davon öffnete – die Küche – wieder 254
schloss – der vordere rechte Raum – beinahe nach hinten lief ins Berliner Zimmer, sich dann aber eines Besseren besann, obwohl ein lautes Krachen nun schon zu hören war – und das alte modrig-dumpfe Treppenhaus nach unten stocherte, während um ihn herum die Risse ein perfektes Netz bildeten, eine Negatiwerschnürung des Gebäudes, die sich enger zog, um Hals und alle lebensnotwendigen Organe herum – ERRR – links die offene Tür der Zoo-ologischen: Hämmer und Sicheln schwärmten heraus – eine halbe Treppe tiefer zog er mit schlafwandlerischer Leichtigkeit den Kapuzenpullover aus der Gattertür und streifte ihn über, denn ihm war kalt – KLINNG –, und seine Augen schauten durch die Scheiben auf den Innenhof und in einen Schoß von Himmel hinein, der farblos war und klar, und die Strahlen der Sonne mit Widerhaken ausgestattet, die ihn nach oben zu ziehen versuchten, damit er das Haus aus der Luft sehen konnte, das Licht, das auf den Schienen reflektierte, den Engel auf der Brüstung der Domkuppel: wie er seine Schenkelknochentrompete blies, ein schriller, unhörbarer Ton – Fahnen aus Häuten von offiziellen Gebäuden, ein Dunst wie Weihrauch, wie von Menschenfett, während sein Körper noch immer zu entkommen versuchte, obwohl die Brandmauer zum Markt hin nun nachgab – Schwaden traten aus – eine flusige Wolke gegen die Sonne, die den First des Seitenflügels überstieg – da näherte er sich den Briefkästen, aus denen Nachrichten quollen, kein einziger intakt, und plötzlich spürte er jemanden und schaute sich um – Igor? Jemand öffnete die hölzerne Eingangstür, die sich in der Mitte teilte wie ein Frack – und es sog Klinger nach draußen, in eine klare, bereits winterliche Luft. du musst erst leben, um auf frische gedanken zu kommen.
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danke: frau dr. rose götte, ehemal, kultusministerin von rheinlandpfalz, für das geld, das sie mir bei unserem letzten treffen in einem verschlossenen umschlag überreichte, dem senat der hauptstadt für seine kulturförderung. der mori-ogai-galerie. julia hecht für geistige unterstützung dieses projekts. susanne steines für wichtige anregungen. sarah elmer, die mir ihre aufzeichnungen zur verfügung stellte, dank allen gestalten, die in den frühen 90er jahren oder noch früher nach mitte gekommen sind: bernd ziegenhard, peter willmeroth, mike hermann, dan trattler, pete missing, dida zende und auch thomas findeiss. dank an sci-rom für frequenztechnische auskünfte, simon schäfer und jörg «terrible» henning für sayheykey.de, der serviceoffensive berlin für technische unterstützung, alan good und sabina daley für bereitstellung ihrer wohnung zum redigieren – und allen, die mir auf die vielfältigsten weisen geholfen haben.
norman ohler, berlin 2001