Malte Mienert Total Diffus
Malte Mienert
Total Diffus Erwachsenwerden in der jugendlichen Gesellschaft
Bibliografi...
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Malte Mienert Total Diffus
Malte Mienert
Total Diffus Erwachsenwerden in der jugendlichen Gesellschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Kea Brahms VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16093-1
Inhalt
Ein Einblick und ein Ausblick I.
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Menschen werden erwachsen, aber sie sind es nie
Ein Blick zurück auf die „Jugend von heute“
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Jugend ist nicht gleich Jugend – und was das für die Jugend selbst bedeutet
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Wann ist man eigentlich „jugendlich“? Und ab wann „erwachsen“? Früh oder spät erwachsen? Eine Frage der Perspektive Das Kriterium „Fortpflanzungsfähigkeit“ Das juristische Kriterium „Strafmündigkeit“ Das Kriterium „Gesellschaftliche Initiation“ Das Kriterium „Selbstwahrnehmung als erwachsen“
20 20 22 24 27 28
Das Konzept der Entwicklungsaufgaben Reifung, Erziehung, Selbststeuerung – die Motoren menschlicher Entwicklung Das Leben hält ständig Aufgaben parat Entwicklung als Kampf gegen Reifung und Erziehung? Die sieben zentralen Lebensthematiken Jede Kultur stellt eigene Entwicklungsaufgaben
31 31 33 34 35 37
Ein Aufwachsen mit zahlreichen Anforderungen Abstrakte Erwartung: die politische Selbstverortung Unpolitisch? Nicht nur die Jugendlichen Unter Druck: erste Intimitäten austauschen Heiß begehrt: die „feste Beziehung“ Stolperstein „unreifer Körper“ „Face to face“ und „Side by side“ Der jugendliche Egozentrismus Die Qual der Wahl Nie endgültig im richtigen Film!
39 40 41 42 43 44 44 45 46 47
5
Handeln im Kontext: Jugendliche als „aktive Gestalter“ ihrer eigenen Entwicklung Entwicklung als „Handeln im Kontext“ Eine unüberschaubare Fülle an Angeboten Ungewisse Berufsaussichten Der Sonderfall Neue Bundesländer Das Jonglieren mit den parallelen Entwicklungszielen Der Mythos vom universellen Eintritt ins Erwachsenenalter Vom Lippenbekenntnis der eingeräumten individuellen Möglichkeiten Kompetenzerwerb und neue Berechtigungen – die gesellschaftliche Entwicklungspflicht Scheindemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten
50 51 52 53 54 54 56 57 57 58
II. „Typisch jugendliches Verhalten ist ein Ausdruck des unklaren Erwachsenenstatus“ Die Reifeprüfung: Merkmale des Erwachsenseins
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Symbole des Sich-Erwachsen-Zeigens Sichtbare und eindeutige Symbole Der Führerschein, die Eintrittskarte in die Erwachsenenwelt Alternativen fehlen
65 66 67 68
Die Suche nach der eigenen Identität Der Anfängerbonus in der Erwachsenenwelt Kein Richtig oder Falsch „Ich“ ist immer etwas anderes Identität – die Verortung in den Möglichkeiten Selbsterforschung und -verpflichtung: Typische Formen der Identität Die erarbeitete Identität Das Identitätsmoratorium Die übernommene Identität Die diffuse Identität Instabile Zuordnungen Wer bin ich wirklich?
70 71 72 74 75 76 77 77 78 78 79 80
6
Ein zweites Leben: Die virtuelle Identität Ein zweites Leben – online Grenzenlose Exploration Heimliche Wünsche und offene Befragungen Das Internet kennt keine „Jugendlichen“ und „Erwachsenen“ Omnipotenz online Kollektiver Monolog Die Wirklichkeit realer Kontakte Wie aus Spiel Ernst werden kann Das Internet wird selbst erwachsen
82 82 83 84 85 86 87 89 90 92
Der Normalfall „Diffuse Identität“ Die gestörte Diffusion Die Entwicklungsdiffusion Die kulturell adaptive Diffusion Identitätssurfer – Anpassung an den schwankenden Boden „Alles total normal und egal“
93 93 94 97 97 99
III. „Die Pluralität von Lebensentwürfen heute erschwert die Identitätssuche, anstatt sie zu erleichtern, und führt zur Diffusität.“ Auswirkungen von Diffusität Geschiedene Ehen Gestörte Freundschaften Gleichgültigkeit und fehlende Zivilcourage Austauschbare Meinungen Politisches Desinteresse Bruch mit der biografischen Kontinuität Das diffuse Ich und die Gesellschaft Gefahr im Verzug Niemand protestiert Der Mensch als Individuum in einer Gemeinschaft Perspektivenübernahme fordern und fördern
103 104 105 106 106 107 108 109 110 112 113 114
Autoinitiationsversuche Ein Ritus, der Sicherheit schaffen soll Amok laufen
116 116 117 7
An Selbstmord denken Schlafende Hunde nicht wecken? Kriminell werden Nach Ersatz suchen Wieder zum Kind werden Mildere Formen der Autoinitiation Der Körper als Initiationsobjekt
119 120 121 122 123 124 124
Der Kater und der Staubsauger – oder wie schwer Übergänge sind Übergänge sind immer schmerzhaft Die Autoinitiationsversuche der Gesellschaft Der beschleunigte Kulturwandel Gesellschaftlicher Wandel ganz unpolitisch Das Ende der Lagerbildung Das Verharren im Wandel Wer kein Ziel hat, dem nützen dreitausend Wege nichts
127 127 128 129 130 131 132 133
Chancen für die Jugendlichen in der diffusen Gesellschaft
135
IV. „Ich brauch’ dich als Mutter, nicht als Freundin!“ – oder warum Jugendliche erwachsene Erwachsene brauchen Partnerschaft statt Freundschaft in der Eltern-/Kindbeziehung Die neue Macht der Kinder Liebesentzug – die schärfste Waffe Keine Zeit für Generationenkonflikte Der Abschied der Eltern vom Erwachsensein Ein Kampf mit ungleichen Mitteln Abgrenzungsschwierigkeiten bei jugendlichen Eltern Eltern können keine Freunde sein Selbsterforschung und -verpflichtung in der diffusen Familie
139 139 140 141 142 143 145 146 147
Erwachsene – ein Vorbild an erarbeiteter Identität? Die Kultur der Auseinandersetzung, nicht nur in Familien Ein anderer Blick auf den alltäglichen Familienwahnsinn Jung sein wie die Kinder selbst?
150 151 152 154
8
V. „Jugendliche antworten auf diese Herausforderungen mit Konservativität und Wertepluralismus.“ Die Tugend für die Jugend Werte – ein schillernder Begriff Sind Tugenden alltagstauglich? Respekt erwarten und erweisen Wertedebatten – ein Wortgeklingel mit Tugendbegriffen Konsens über Werte kann nie erreicht werden Der Grundwert „Gerechtigkeit“ Der Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
157 157 158 159 160 161 162 163 164
Gesellschaftspolitische Zielvorstellungen Das Verschwinden der Jugendkulturen Die individuellen Konzeptionen des Wünschenswerten Werte entstehen aus Erfahrungen mit konkreten Situationen Die wichtigsten privaten und gesellschaftlichen Werte Anders als ihr Ruf: die „Neue konservative Jugend“ Wertkonflikte und Wertekrisen Das Entwicklungsziel „Individuelle Werthaltungen“
166 167 168 168 169 172 173 174
Der Blick von Lehrern, Eltern und Freunden Das unerreichbare Idealbild vom Schüler Der zukunftsorientierte Blick der Eltern Wer kennt den Jugendlichen am besten? Werteunterricht – der Ausweg aus dem Tugenddilemma? Beziehungsarbeit mit allen Heranwachsenden
175 175 176 176 177 180
Zu guter Letzt: Ein Plädoyer für erwachsene Erwachsene
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Anmerkungen/Tipps zum Nach- und Weiterlesen
183
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Ein Einblick und ein Ausblick
Die Jugend von heute… jede neue Generation von Erwachsenen muss sich mit dieser merkwürdigen Menschengruppe auseinandersetzen, die durch ihr unkonventionelles, oft grenzüberschreitendes, nicht selten anstrengendes und nervenaufreibendes Anderssein Eltern, Pädagogen, Verwandte, Sozialarbeiter und den Rest der erwachsenen Bevölkerung in tiefe Ratlosigkeit stürzt. Für mich als Entwicklungspsychologe ist diese Altersgruppe mehr als nur eine reizvolle Stichprobe für tiefgehende wissenschaftliche Betrachtungen. Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Jugendgeneration – also der Jugend von genau heute – ermöglicht aus meiner Sicht Einblicke in den Zustand unserer Gesellschaft, und sie gibt Anlass für die Auseinandersetzung mit der eigenen Person. Wie jugendlich bin ich selbst, und welcher Teil von mir ist aus dem Jugendalter erwachsen? Was macht Jugend heute aus, und was kennzeichnet das Erwachsenenalter in einer Zeit, in der die ältere Generation jugendlicher sein will als die Jugendlichen selbst? Fünf Thesen sind es, die mich beim Schreiben meines Buchs begleitet haben und die ich Ihnen gern nahe bringen will. Wenn Sie bereits jetzt meinen fünf Thesen zustimmen, hoffe ich, Ihre Meinung durch weitere Argumente festigen zu können und freue mich, in Ihnen MitstreiterInnen und Gleichgesinnte gefunden zu haben. Sollten Ihnen jedoch die eine oder andere These von mir zu gewagt oder unglaubwürdig erscheinen, so lade ich Sie ein zu einer Auseinandersetzung mit dem Jugendlichen an sich und dem Jugendlichen in Ihnen und der diffusen Gesellschaft, die das Erwachsenwerden so schwer werden lässt. Meine fünf Thesen lauten: I. Menschen werden erwachsen, aber sie sind es wohl nie. II. Typisch jugendliches Verhalten ist ein Ausdruck des unklaren Erwachsenenstatus. III. Die Pluralität von Lebensentwürfen heute erschwert die Identitätssuche, anstatt sie zu erleichtern, und führt zur Diffusität. IV. Jugendliche brauchen erwachsene Erwachsene. V. Auf die gesellschaftlichen Veränderungen reagieren die Jugendlichen heute mit Konservativität und Wertepluralismus. 11
I. Menschen werden erwachsen, aber sie sind es nie
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Ein Blick zurück auf die „Jugend von heute“ „Die Jugend ‚verflacht’: Anstatt im wetteifernden Streben etwas leisten zu wollen, gibt sie sich oberflächlichen Vergnügungen hin, wobei der Sexualtrieb eine bestimmende Rolle spielt; sie kennt keine Zurückhaltung mehr in der Öffentlichkeit, sei es auf der Straße, sei es in Gaststätten niedrigster Art; sie erkennt keine Autorität der Erwachsenen an; sie will sich durch Geistreicheleien interessant machen.“
Dieses alte Zitat von Isokrates, einem griechischem Lehrer und Politikerberater aus der Zeit 436 bis 338 vor Christi, zeigt: Schon seit Jahrtausenden genießt die Jugend einen äußerst schlechten Ruf. Bereits Isokrates kritisierte ihre unreife Persönlichkeit, ihre trotzige Arroganz, hinter der sich pure Hilflosigkeit versteckt, ihr genusssüchtiges, verwerfliches Leben sowie den mangelnden Respekt gegenüber der Erwachsenenwelt. Auch heute noch wird kräftig über die „Jugend von heute“ geklagt, über ihren Werteverlust und ihre fehlende Zukunftsorientierung. Sie gelten als laut, von den Medien verdorben, viel zu konsum- und markenorientiert, sexbesessen, faul und verantwortungslos. Damals wie heute werden Jugendliche offensichtlich als eine merkwürdige Gruppe von Menschen angesehen, die sich von den Erwachsenen stark unterscheidet und die der Gesellschaft große Schwierigkeiten macht. „Die heutige Jugend … wird niemals so sein wie die Jugend von vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“, entrüstete sich ein babylonischer Kulturkritiker schon vor 5000 Jahren – auch dies ein zu beobachtendes Stereotyp, das sich spiralförmig zu wiederholen scheint: Immer war die Jugend von einst besser als heute – obwohl alle Erwachsenen wissen, dass sie als Jugendliche damals von den Älteren genauso negativ betrachtet wurden. Doch was veranlasst uns Erwachsene immer wieder zu solchen Äußerungen? Warum glaubt jeder Erwachsene von sich, selbst als Jugendlicher viel besser gewesen zu sein? Was verstehen wir unter Jugend überhaupt? Und warum fällt es uns heute wie damals so schwer, erwachsen zu werden? Wie lässt sich diese Lebensphase unter biologischen, rechtlichen und sozialhistorischen Kriterien nach beiden Seiten hin abgrenzen? Wie nehmen die Ju-
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gendlichen selbst sie wahr? Was kennzeichnet den Übergang vom Jugendin das Erwachsenenalter genauer? Die Erkundung dieses Übergangs führt uns zu der tiefer gehenden Fragestellung, was die typischen Reifemerkmale von Erwachsenen überhaupt sind, wie die Jugendlichen diese Merkmale bekommen können und woran sie erkennen können, dass sie sie besitzen. Festzustellen ist, dass es in unserer Gesellschaft, wie noch in archaischeren Kulturen, keine Initiationsriten mehr gibt, die die Statuspassage vom Jugendlichen zum Erwachsenen markieren. Aus diesem Grund müssen die Jugendlichen auch selbst Übergangsriten erfinden, die für sie selbst und die Gesellschaft bedrohliche Formen annehmen können. Wir heißen sie als Erwachsene nicht wirklich willkommen, und es lässt sich bezweifeln, ob unsere „jugendliche Gesellschaft“ überhaupt will, dass sie erwachsen werden. Wollen es denn die Jugendlichen? Ist Erwachsensein inzwischen nicht vollkommen „out“? Haben es nicht die Jugendlichen von heute mit einer Elterngeneration zu tun, die jugendlicher sein will, als sie selbst? Aktuelle Untersuchungen von Entwicklungspsychologen zum äußerst komplexen und vielschichtigen Vorgang des Erwachsenwerdens zeigen, dass immer mehr Heranwachsende nicht mehr die Identität ihrer Eltern oder anderer Vorbilder übernehmen oder sich, durch eine intensive Suche, bereitwillig eine eigene Identität erarbeiten. Stattdessen bestätigt sich vielmehr die Tendenz, dass sie sich inmitten des Überangebots an Möglichkeiten zu „Identitätssurfern“ entwickeln, die keine festen Überzeugungen und Werte mehr haben, ihre eigene Lebenssituation nicht selbst bestimmen, keine dauerhafte Beziehung mehr eingehen können und keinerlei gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Sind sie eine Gefahr für die zukünftige Gesellschaft? Ist die Gesellschaft nicht längst selbst schon diffus?
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Jugend ist nicht gleich Jugend – und was das für die Jugend selbst bedeutet „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ (Aristoteles, 384 - 322 v.Chr.)
Es gibt mindestens vier verschiedene Bedeutungen des Begriffs Jugend: Sie bezeichnet die individuelle Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein, bezieht sich ganz konkret auf eine bestimmte Altersgruppe der Gesellschaft, umfasst in weitem Bogen den vagen Vergleich mit vorangegangenen Generationen und verweist zudem auf die hohe Idealvorstellung von Jugendlichkeit schlechthin. Diese vielfältigen Bedeutungsebenen überlagern sich in der Alltagsprache oft und werden von den Erwachsenen nicht bewusst auseinander gehalten, wodurch sie unbewusst sehr heterogene Anforderungen an die Jugendlichen stellen. Von den Eltern müssen sie sich anhören, wie sie als Kind gewesen sind, oft mit der Forderung verbunden, doch endlich erwachsen zu werden – insbesondere wenn sie sich gerade in ihrer individuellen Lebensphase befinden, d. h. sich ihre individuellen Besonderheiten herauszuschälen beginnen. Dem Vergleich mit einem lebensfernen Idealbild müssen Jugendliche standhalten, wenn ihnen als Angehörige einer Gleichaltrigengeneration vorgehalten wird: „Deine Sitznachbarin kann das doch auch schon und die ist doch schon so vernünftig!“ Häufig sind es die Lehrerinnen und Lehrer, die diesen Vergleich anstellen. Während die Eltern die individuellen Besonderheiten des Kindes noch gut kennen und sie eher mit dem Charakter, der sich bei ihnen als Kinder gezeigt hat, konfrontieren, haben Lehrende in diesen Bereich nahezu keinen Einblick. Da es jedoch unter den vielen Jugendlichen, die sie im Zuge ihres Berufslebens kennen gelernt haben, immer idealtypische Vertreter gibt, die „alles geschafft haben, respektvoll und leistungsstark sind“, kann im Vergleich zu diesem Idealbild die Mehrheit der Jugendlichen nur schlecht abschneiden.
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Dem Vergleich mit vorangegangenen Jugendgenerationen halten die Jugendlichen schon gar nicht stand. Ein Recht auf Individualität wird ihnen hier nicht eingeräumt. Wenn Erwachsene ihre eigene Vergangenheit als Jugendliche idealisieren, finden sie die heutige Jugendgeneration immer schlechter und respektloser als zur damaligen Zeit. Das bedeutet konkret, dass sich die Jugendlichen sich an Jugendgenerationen messen lassen müssen, die unter anderen gesellschaftlichen und familiären Bedingungen auch andere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen hatten. Obwohl dieser Vergleich vollkommen an der Realität der heutigen Jugendlichen vorbeigeht, halten die Erwachsenen seit vielen Jahrtausenden an ihm fest. Und wenn Erwachsene nun von der Jugend sprechen, die sie idealisieren, der sie nachtrauern, die sie sich wünschen, haben sie kein authentisches Bild von einem wirklich existierenden Jugendlichen vor Augen. Ein Beispiel sind die unzähligen Hautcremes oder kosmetische Operationen, durch die viele Erwachsene gern wieder eine jugendliche Haut und ein straffes, faltenloses Gesicht, natürlich gänzlich ohne die alterstypische Akne, bekommen würden. Älteren Menschen hingegen erscheinen vor allem ihre eigenen Jugendtage in einem herrlichen Licht. Wenn sie sich fragen, wo ihre Jugend geblieben ist, beziehen sie sich keineswegs auf die Altersgruppe der Jugendlichen um sie herum. Dabei gäbe es viele Eigenschaften, die die ältere Generation bei den Jugendlichen für sich neu entdecken könnten. Zu diesen Eigenschaften gehören die Fähigkeit, Grenzen immer wieder neu auszutesten, geschriebene und ungeschriebene Gesetze in Frage zu stellen, nach dem Warum zu fragen, wenn Forderungen an einen herangetragen werden, in Möglichkeitsräumen zu denken, Idealen zu folgen und Dinge zu tun, die „vernünftige“ Menschen einfach nicht mehr tun würden. Aber diese Eigenschaften werden eher ausgeblendet. Denn diese Forderung wird von einer Generation von Erwachsenen an die Heranwachsenden herangetragen, die jugendlicher sein will als die Jugendlichen selbst. Dabei suchen sie sich aus dem Jugendalter nur das Beste heraus und fordern die Jugendlichen gleichzeitig dazu auf, doch endlich erwachsen zu werden – ein unauflösbarer Widerspruch, der die Jugendlichen vor eine schwierige Aufgabe stellt. Schließlich sind sie ja auf der Suche danach, was eigentlich Erwachsensein bedeutet. Doch genau dafür scheint es in unserer Gesellschaft keine Vorbilder mehr zu geben.
18
Hinzu kommt, dass Erwachsensein zudem ein Status ist, der von den Erwachsenen selbst heute abgelehnt wird. Erwachsensein wird gleichgesetzt mit „in die Jahre“ gekommen, „älter“ werden, „fertig entwickelt“ und „angekommen“ zu sein, „graue Haare“ zu haben – alles Dinge, auf die Erwachsene lieber verzichten möchten. Somit treffen zwei Bewegungen aufeinander: die der Jugendlichen in das Erwachsenalter hinein, eine Bewegung, die unumkehrbar und unaufhaltsam ist, und die Gegenbewegung der Erwachsenen, die aus diesem Status fliehen und wieder jugendlich sein wollen. Erwachsen werden in einer Gesellschaft, die jugendlicher sein will als die Jugendlichen selbst? Unter diesen Bedingungen ist es für die Jugend von heute nicht einfach, eine Erwachsenenidentität zu finden.
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Wann ist man eigentlich „jugendlich“? Und ab wann „erwachsen“? „Erwachsen bist du wenn: 1. Alle deine Pflanzen leben, und man keine einzige rauchen kann 2. Sex im Einzelbett untragbar ist 3. Im Kühlschrank mehr Essen steht als Getränke 4. Du um 6:00 Uhr morgens aufstehst und nicht erst ins Bett gehst 5. Du dein Lieblingslied bei Tengelmann hörst 6. Deine Lieblingssendungen die Wetterkarte und Koch-Shows sind 7. Deine Freunde heiraten und sich scheiden lassen, anstatt miteinander zu gehen und wieder Schluss zu machen. 8. Deine Urlaubstage sich von 12 Wochen auf 20 Tage reduzieren 9. Jeans und ein Sweatshirt nicht als „Ausgehzeug“ gelten. 10. Du die Polizei anrufst, weil diese Jugendlichen nebenan die Musik so laut haben…“ Internetbeitrag, gefunden unter: http://www.witzeforum.de/erwachsen-sind-sie-wenn-t6219.html
Zu früheren Zeiten wurden der Lebensphase Jugend an sich nur vier bis fünf Jahre eingeräumt. So wurde als Jugendphase nur der kurze Abschnitt bezeichnet, in dem die Heranwachsenden eindeutig keine Kinder mehr waren, für anfallende Arbeiten bereits herangezogen werden konnten, selbst aber noch nicht wirtschaftlich oder familiär unabhängig waren. Da durch die eigene Heirat die wirtschaftliche Unabhängigkeit durchschnittlich schon sehr früh erreicht wurde, auf der anderen Seite aber die biologische Reifung, d. h. die Fortpflanzungsfähigkeit erst sehr spät eintrat, ergab sich eine im Vergleich zu heute sehr kurze Jugendphase, die vom 14. oder 15. Lebensjahr, der Geschlechtsreife, bis zum 18. oder 19. Jahr, also der Heiratsfähigkeit, andauerte.
Früh oder spät erwachsen? Eine Frage der Perspektive Im Verlauf der letzten Jahrhunderte haben sich diese beiden Eckpfeiler des Jugendalters nun deutlich voneinander entfernt. Zum einen setzt die biologische Reifung heute deutlich früher ein. Heranwachsende sind heute schon
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mit 11 oder 12 Jahren fortpflanzungsfähig, bereits in diesem Alter bekommen sie die erste Regelblutung bzw. treten erste Samenergüsse auf. Dieser Prozess wird als säkuläre Akzeleration, also Entwicklungsbeschleunigung bezeichnet. Die Natur kümmert sich nicht darum, wie reif ein Mensch geistig ist. Ihr Bestreben ist es, die Gene möglichst früh in die nächste Generation weiterzugeben. So ist die Fortpflanzungsfähigkeit lediglich von bestimmten körperlichen Voraussetzungen aber auch Umweltbedingungen abhängig. Der Körper wartet darauf, dass endlich die Bedingungen gegeben sind, damit er mit der Fortpflanzung beginnen kann. Es handelt sich hierbei um rein physiologische Bedingungen: Eine gefestigte Konstitution, ausreichend Kraft und Energie im Körper selbst, um die Schwangerschaft zu überstehen, sowie Umweltbedingungen wie Sicherheit, ausreichende Ernährung, ein gutes gesundheitliches Immunsystem. Soweit hier Mindeststandards erfüllt sind, schaltet der Körper auf Bereitschaft zur Fortpflanzung um. Da sich in den letzten Jahrhunderten sowohl die wirtschaftliche Situation als auch die Krankheitsvorsorge verbessert haben, tritt die Fortpflanzungsfähigkeit früher ein – außer bei Jugendlichen, bei denen diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind wie z. B. bei magersüchtigen Mädchen, bei denen unter Umständen die Menstruation ganz ausbleibt. Ebenso ist zu beobachten, dass in Not- und Kriegszeiten die Fortpflanzungsfähigkeit wieder später beginnt als in besseren Zeiten. Auf der anderen Seite hat sich jedoch durch die gesellschaftliche Veränderung das Alter für die wirtschaftliche und familiäre Unabhängigkeit sehr viel weiter nach hinten verlagert. Das durchschnittliche Heiratsalter liegt heute bei 25 Jahren, während vor 60 Jahren mit 20 Jahren geheiratet wurde. Jugendliche, die nicht unmittelbar in eine Ausbildung oder Festanstellung wechseln können oder studieren, bleiben heute bis zum Alter von 30 Jahren und darüber hinaus von ihren Eltern wirtschaftlich abhängig. Die heutige Jugendzeit ist somit durchschnittlich zwischen dem 12. und dem 30. Lebensjahr angesiedelt – eine Zeitspanne von 18 Jahren, in der sich die Heranwachsenden in einem unklaren Status befinden, in dem sie „noch nicht erwachsen“ sind. Betrachtet man einzelne Lebensbereiche, in denen man erwachsen werden kann, so wird das Bild noch vielschichtiger. Während die Kinder lange Zeit wirtschaftlich von den Eltern abhängig bleiben und dort häufig erst Mitte 20 und später erwachsene Unabhängigkeit erlangen, während ihnen bestimmte gesellschaftliche Rechte bis zur Volljährigkeit und darüber hinaus vorenthalten werden, werden sie im Gegenzug in der Nut21
zung von Medien, in der Teilnahme am Konsumwarenmarkt, im Aufbau intimer Partnerschaften sehr früh sehr erwachsen. Die körperliche Entwicklung verstärkt den Eindruck von früh erwachsen gewordenen Kindern zusätzlich. Die Reifungslücke – so beschreibt Terri Moffitt1 die schmerzliche Diskrepanz zwischen körperlicher Frühreife und rechtlich sowie wirtschaftlicher Reifeverzögerung – ist in den letzten Jahrzehnten weiter aufgegangen. Entwicklungspsychologen haben sich daher in den letzten Jahrzehnten mit dieser neuen Lebensphase intensiv beschäftigt. Als Bezeichnung wird dafür häufig das sogenannte Auftauchende Erwachsenenalter („emerging adulthood“)2 gewählt. Merkmale dieser neuen Lebensphase im sozialhistorischen Vergleich sind die frühe biologische Reifung, die späte, vielleicht sogar ausbleibende eigene Familiengründung, die lange wirtschaftliche Abhängigkeit und dazu im Gegensatz die frühe ideelle oder kulturelle Ablösung von den Eltern – ein heftiger Widerspruch. Die Emanzipation vom Elternhaus kann nur in Teilbereichen stattfinden und wird selten vor dem 30. Lebensjahr erlangt. Selbst Entwicklungspsychologen haben Schwierigkeiten, die Lebensphase „Jugendalter“ nach beiden Seiten hin einzugrenzen. Wann genau beginnt das Jugendalter, und wann endet es? Das Ende erscheint dabei besonders schwierig zu fassen zu sein. Es gibt jedoch grundsätzlich vier Kriterien, an denen sich Entwicklungspsychologen orientieren. Das sind a) biologische Veränderungen, die die Fortpflanzungsfähigkeit betreffen b) juristische Kriterien, c) Umweltveränderungen oder die Erwartungen der Umwelt an einen Menschen in einem bestimmten Lebensalter und d) eigene Vorstellungen des Individuums, also eigene Entwicklungsziele, die sich ein Jugendlicher setzt.
Das Kriterium „Fortpflanzungsfähigkeit“ Aus biologischer Sicht sind die ersten Samenergüsse und erste Regelblutung die ersten Anzeichen für den Beginn der Jugendphase. Sie wurden auch historisch schon immer benutzt, um den Übergang vom Kind zur Frau bzw. zum Mann zu kennzeichnen. In vielen Kulturen dienen sie auch als Anlass für Initiationsriten.
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Da diese biologischen Kriterien so klar und eindeutig auftreten, ist der Zeitpunkt mit ihrem Einsetzen eindeutig definiert. Viele Mütter feiern die erste Menstruation ihrer Töchter oder führen kleine Rituale aus. Mädchen werden daher meist besser auf die Fortpflanzungsmöglichkeit vorbereitet als die Jungen, die von ihren ersten Samenergüssen eher überrascht werden. Schon daran zeigt sich, dass das biologische Kriterium nicht für beide Geschlechter die gleiche Erkenntnis bzw. Reife mit sich bringt und somit zu kurz greift; die körperlichen Veränderungen werden von Mädchen ganz anders erlebt als von Jungen. Die zweite Anfechtbarkeit dieses Kriteriums entsteht dadurch, dass der Zeitpunkt der ersten Menstruation bzw. Samenergusses, aber auch das Körperwachstum, der Stimmbruch, die Entwicklung der äußeren Geschlechtsorgane, der Schambehaarung, der Brust etc. sich im Zuge der Akzeleration sehr nach weit nach vorne verlagert haben. Biologische Reifung und psychosoziale Reifung haben sich somit voneinander abgekoppelt. Aus biologischer Sicht sind heute schon Kinder fortpflanzungsfähig, wohingegen wir ihnen aus psychosozialer Sicht die Elternfähigkeit noch absprechen müssen. Das war früher anders, da biologische und psychosoziale Prozesse dichter aufeinander folgten, und viele junge Menschen schon früh Eltern geworden sind, was auch heute noch in archaischeren Kulturen zu beobachten ist. Der dritte Grund, warum sich biologische Kriterien nicht so gut zur Kennzeichnung für den Übergang ins Erwachsenalter zu eignen scheinen, ist, dass die biologische Reifung bei den einzelnen Individuen selbst unterschiedlich schnell verläuft. Während sie bei einigen sehr früh einsetzt, sie auch im Körperbau schon früh erwachsen, nicht mehr kindlich wirken, gibt es andere Heranwachsende, die noch mit 15 biologisch nicht ausgereift sind, sehr kindlich wirken und daher auch eher wie Kinder behandelt werden. An dieser Stelle deutet sich auch wieder die enge Verzahnung von biologischer Reife und gesellschaftlichen Erwartungen an die Heranwachsenden an. So laufen Jugendliche, die sehr früh körperlich reif sind, Gefahr, auch schon früh von der Gesellschaft, den Eltern, den Lehrern, den Gleichaltrigen als Erwachsene angesehen und gefordert und damit häufig überfordert zu werden. Auf der anderen Seite werden Jugendliche, bei denen die Reifung sehr spät einsetzt, auch geistig meistens unterschätzt und sind häufig gezwungen, betont demonstrativ auffälliges Verhalten zu zeigen und jugendliche Rechte für sich einzufordern. Nicht umsonst sind es ausgerechnet die kleinen, un23
scheinbaren Jungs, die schnell zum Klassenclown mutieren und somit die Aufmerksamkeit einfordern, die sie sonst nicht bekämen. Gefährdet sind im Allgemeinen also eher frühreife Mädchen und spätreife Jungen. Frühreife Mädchen kommen eher mit älteren Jungen und mit Alkohol, Drogen in Kontakt oder haben früher Geschlechtsverkehr. Spätreife Jungen stehen unter dem Druck, den Entwicklungsrückstand durch Verhaltensauffälligkeiten scheinbar wettzumachen, z. T. indem sie sich devianten, schwierigen Gruppen oder Cliquen zuwenden. Es ist ja tatsächlich bei uns immer noch so, dass den Jungen häufiger zugestanden wird, das Haus zu verlassen und sich draußen aufzuhalten, während die heranwachsenden Mädchen eher in der Nähe der Familie gehalten werden. Sie dürfen nicht so lange ausgehen und sich auch nicht so weit vom Elternhaus entfernen wie die Jungen. Der Grund ist einfach: Die ungewollte Schwangerschaft hat bei Mädchen weitaus härtere Konsequenzen. Dieser evolutionär bedingte Geschlechterunterschied ist in der kulturellen Evolution durch Verhaltensstandards überformt und festgeschrieben worden. Kulturunterschiede im Umgang mit Jungen und Mädchen in den Familien, die Verschleierung von Mädchen und Frauen, die Rollenzuschreibung, dass Brüder die „Beschützer“ der Ehre von Schwestern zu sein haben, greifen diesen Mechanismus kulturell auf und schreiben ihn dauerhaft fest, ungeachtet der sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen der heutigen Zeit.
Das juristische Kriterium „Strafmündigkeit“ Juristen sind schon seit langem damit beschäftigt, Altersgrenzen noch oben und nach unten hin festzulegen, die die Übergänge vom Kind zum Jugendlichen und vom Jugendlichen zum Erwachsenen hin kennzeichnen. An diese Altersgrenzen sind unterschiedliche strafrechtliche Beurteilungen und Strafmaße geknüpft. Der § 1 des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) unterscheidet zwischen Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen. Die Strafmündigkeit nach dem Jugendstrafrecht beginnt mit dem vollendeten 14. und dauert bis zu 18. Lebensjahr. In diesem Alter ist man aus strafrechtlicher Sicht Jugendlicher. Heranwachsender ist man zwischen 18 und 21 Jahren. So eindeutig klar und verlockend diese Alterseinteilung auch sein mag, auch hier gilt wiederum: Keine Regel ohne Ausnahme. Innerhalb der Strafverfahren gegen Jugendliche oder Heranwachsende kann ungeachtet 24
dieser Altersgrenzen geprüft werden, ob der Jugendliche nicht doch schon als Heranwachsender beurteilt werden sollte oder ob nicht umgekehrt der dem Alter nach Heranwachsende seiner Persönlichkeit nach doch noch als jugendlich einzustufen ist, jeweils mit entsprechenden Konsequenzen für die Strafmündigkeit und Bestrafung. Marburger Richtlinien von 1954: noch jugendlich ungenügende Ausformung der Persönlichkeit Hilflosigkeit, hinter Trotz und Arroganz versteckt Leben im Augenblick starke Anlehnungsbedürftigkeit spielerische Einstellung zur Arbeit Neigung zu Tagträumen Hang zum abenteuerlichen Verhalten Sich-Hineinleben in selbstwerterhöhende Rollen mangelnder Anschluss an Gleichaltrige
schon heranwachsend Gewisse Lebensplanung Fähigkeit zu selbständigen Urteilen und Entscheidungen Fähigkeit zu zeitlich-überschauendem Denken Fähigkeit zum rationalen Unterbau von Gefühlsurteilen ernsthafte Einstellung zur Arbeit gewisse Eigenständigkeit zu anderen Menschen
Zur Beurteilung, ob ein junger Mensch als noch jugendlich oder schon heranwachsend be- und verurteilt werden kann, werden anhand der Marburger Richtlinien von 1954 durch die Jugendgerichtshilfe Persönlichkeitsgutachten erstellt. Die Kriterien, die hier festgelegt sind, sind weich und unscharf formuliert und heben dadurch die ursprüngliche Klarheit in den Altersbegrenzungen nahezu auf. Es wird deutlich, dass ein Jugendlicher hier als ein unfertiges, unvollkommenes Wesen betrachtet wird, und zwar durch alles, was ihm noch zum vollkommenen Menschen fehlt. Heranwachsende hingegen besitzen den Richtlinien gemäß all die Eigenschaften, die wir uns alle wünschen würden: Sie erscheinen uns als vollständig und reif. Fragen Sie sich einmal selbst, inwieweit Sie alle Kriterien des Heranwachsenden erfüllen: Haben Sie sie die Planung Ihres gegenwärtigen Lebens voll und ganz im Griff? Besitzen Sie immer die Fähigkeit, selbstständig zu urteilen und Entscheidungen zu fällen? Überschauen Sie alles zeitlich, was Ihnen gerade passiert? Behalten Sie immer die Nerven, wenn Sie eigentlich finden, 25
dass jemand Ihnen Unrecht antut oder sich unmöglich benimmt? Wie ernst nehmen Sie Ihre Arbeitspflicht, erfüllen Sie sie immer zu 100 Prozent? Sind sie ein völlig autonomer Mensch, der von niemandem anderen in irgendeiner Form abhängig ist? Dann sind Sie wahrlich erwachsen. Oder haben Sie den einen oder anderen Entwicklungsschritt doch noch vor sich? Die Marburger Richtlinien verdeutlichen jedoch darüber hinaus ein weiteres Dilemma der unklaren Trennung zwischen Jugendlich- und Erwachsensein: die Tendenz, strafbares Verhalten milder zu beurteilen, wenn es von einem „Noch-Jugendlichen“ begangen wurde. Ähnlich wie Alkoholeinfluss wird das Jugendlichsein somit zum strafmildernden Umstand, und typisch jugendliches Verhalten kann zu richterlicher Milde führen. Aus strafrechtlicher Hinsicht ergibt sich daraus ein ganz praktisches Problem: Jugendliche, die sich erwachsen verhalten, die Kriterien des Heranwachsenden also bereits erfüllen, werden unter Umständen härter bestraft als die Jugendlichen, die noch nicht so weit entwickelt sind. Dass sich daraus für jugendliche Straftäter der Gedanke ergeben könnte, dass sich ein langes Sich-jugendlichVerhalten auszahlt, liegt auf der Hand. Juristische Definitionen von Jugendlichkeit und Erwachsensein beschränken sich jedoch nicht nur auf das Jugendstrafrecht. Unsere Gesellschaft ist durch eine Vielzahl von Teilreifen gekennzeichnet, die zu bestimmten Alterszeitpunkten den Heranwachsenden gesetzlich zugestanden werden. Bernhard Schäfers und Albert Scherr3 kennzeichnen diese Schritte als Ersatz für Initiationsriten in westlichen Kulturen. Teilreifen in Deutschland: 12 Jahre Beschränkte Religionsmündigkeit 14 Jahre Veranstaltungen bis 22 Uhr, volle Religionsmündigkeit, Strafmündigkeit Jugendstrafrecht 15 Jahre Ende normale Schulpflichtzeit, Beginn Berufsschulpflicht 16 Jahre Bedingte Ehemündigkeit, Eidesfähigkeit, Personalausweispflicht, Veranstaltungen bis 24 Uhr 18 Jahre Volljährigkeit, voller Führerscheinerwerb, aktives und passives Wahlrecht auf Bundesebene 21 Jahre Ende der Möglichkeit, Jugendstrafrecht anzuwenden 24 Jahre Ende der Möglichkeit, Jugendstrafvollzug anzuwenden 25 Jahre Annahme eines Kindes möglich
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Das Kriterium „Gesellschaftliche Initiation“ Aus sozialhistorischer Sicht ist die Statuspassage „jugendlich“ zu „erwachsen“ in vielen gesellschaftlichen Kulturen durch Initiationsriten gekennzeichnet. Typisches Beispiel für Riten, die vom Kindesalter in ein Zwischenalter, d. h. das Jugendalter, führen, ist in unserer abendländischen Gesellschaft die Jugendweihe oder die Konfirmation bzw. Kommunion. Den meisten Initiationsriten ist gemein, dass sie sich an den biologischen Reifungsprozessen ausrichten, sie einen klar strukturierten Ablauf haben, dass sie mit zu bestehenden Aufgaben oder mit einer Ausbildung verbunden sind und dass nach ihrem Durchlaufen neue Rechte entstehen wie heiraten, Kinder großziehen oder Geld verdienen zu dürfen. In den sogenannten Naturvölkern führen solche Initiationsriten direkt vom Kindesalter ins Erwachsenenalter. Dort dürfen die Heranwachsenden, nachdem sie den Übergangsritus durchlaufen haben, neue gesellschaftliche Aufgaben übernehmen und erwerben zugleich Privilegien, die sie als Kind nicht hatten. Diese Form des Initiationsritus ist noch zusätzlich mit einer, wenn auch oft schmerzhaften, so doch sichtbaren Kennzeichnung verbunden. Durch die Beschneidung oder die Entfernung der Klitoris, eine Tätowierung oder das Einpflanzen von bestimmten Schmuckstücken unterscheiden sie sich nun auch äußerlich vom Kind. In den westlichen Kulturen hat die Bedeutung der Initiationsriten stark nachgelassen, in vielen Kulturen fehlen sie sogar inzwischen vollständig. Zudem finden Jugendweihe, Konfirmation und Kommunion zu früh statt. Sie markieren daher zwar den Wechsel von der Kindheit in die Jugendzeit, aber nicht den Übergang ins Erwachsenenalter. Auch sind sie nicht mit neuen Berechtigungen verbunden, d. h. am Status der Heranwachsenden ändert sich nichts. Stattdessen beschränkt ihre Bedeutung sich immer mehr auf das große Familienfest und die Geldgeschenke. Initiationsriten für solche Statuspassagen stellen für Jugendliche jedoch eine Erleichterung dar. Dort, wo sie noch stattfinden, haben die Heranwachsenden keine Schwierigkeiten, ihre Rolle zu finden. Sie wissen, wo sie stehen, sind nicht diffus, leiden nicht unter Identitätsproblemen und werden von der Gemeinschaft auch als Erwachsene anerkannt. Bei den Naturvölkern ist die Kehrseite der Medaille sogar, dass Mädchen, die sich nicht beschneiden lassen möchten, keine Chance bekommen, ihr Erwachsensein auf andere 27
Weise zu zeigen. Bis ins Erwachsenenalter hinein werden sie demonstrativ wie ein Kind behandelt, d. h. alles wird für sie entschieden, sie haben keine Rechte – dies ist auch der Grund, warum viele Mädchen heute noch diese aus unserer Sicht barbarische Prozedur über sich ergehen lassen. Dennoch, das Fehlen dieser Initiationsriten in den westlichen Kulturen belässt die Jugendlichen über eine viel zu lange Zeit in einem unklaren Status. Je nach Situation und je nach subjektiver Einschätzung werden sie wahlweise als Kind, Jugendliche oder Erwachsene angesprochen. Es werden von ihnen bestimmte Fähigkeiten erwartet, die ein Erwachsener haben soll: Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, zukunftsorientiert zu denken, moralisch zu handeln. Aber mögliche Berechtigungen, die mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben verbunden sein könnten, werden ihnen vorenthalten wie wirtschaftlich selbstständig zu handeln und gesellschaftlich mitzubestimmen. Nicht, dass wir an dieser Stelle einem Missverständnis aufsitzen: Initiationsriten wie bei den Naturvölkern sind in unserer heutigen Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Es soll an dieser Stelle keine Forderung nach schmerzhaften gesellschaftlichen Ritualen erhoben werden, die aus dem Kind eine Frau oder einen Mann machen sollen. Die Abkehr von den Initiationsritualen hat jedoch eine Lücke hinterlassen, die bisher gesellschaftlich nicht gefüllt ist. Die alten klar definierten Übergänge haben den schrittweisen Teilreifen Platz gemacht. Durch diese stark verlängerte Initiation in die erwachsene Gesellschaft hat sich die Statusunsicherheit Heranwachsender weiter erhöht. Vielleicht ist es eine Überlegung wert, initiationsähnliche Rituale, die mit echten neuen Berechtigungen verbunden sind, auch bei uns in Schulen und Familien zu etablieren. Die mit solchen „Jugendfeiern“ verbundene gesellschaftliche Anerkennung für die von Heranwachsenden erbrachten Entwicklungsleistungen könnte der Selbstdefinition Jugendlicher helfen. Der 18. Geburtstag müsste dann nicht mehr mit dem obligatorischen Besuch in einem Erotikkino oder dem Gang zur Führerscheinstelle allein markiert werden.
Das Kriterium „Selbstwahrnehmung als erwachsen“ An Untersuchungen mit Heranwachsenden, in denen fokussiert wurde, wie viele der Befragten eigentlich wirklich erwachsen werden wollen und wie 28
viele es tatsächlich schon sind, lässt sich erkennen, wie die Jugendlichen diesen schwierigen Übergang ins Erwachsenenalter empfinden. Zunächst lässt sich feststellen, dass die meisten den Übergang ins Erwachsenenalter nicht selbst definieren, denn die Kinder unserer Gesellschaft wachsen langsam und schrittweise in das Jugendalter hinein und bemerken eher anhand der äußeren Reaktion, dass sie nun Jugendliche sind – z. B. weil sie von ihren Eltern häufiger so bezeichnet werden oder Fremde sie in aller Öffentlichkeit in diese Gruppe einstufen. Es besteht in diesem Alter keinerlei Notwendigkeit, sich selbst irgendwann als Jugendlicher zu benennen. Man ist es irgendwann, ohne es explizit werden zu wollen. Selbstdefinitionskriterien werden eher für den Übergang ins Erwachsenenalter aufgestellt. Mit anderen Worten: Den Status „Jugendlicher“ hat eigentlich niemand so gern inne, im Gegenteil, alle möchten ihm so schnell wie möglich wieder entkommen. Dabei spielt der 18. Geburtstag eine wichtige Rolle. Wenn man die Jugendlichen direkt fragt, wie sie sich das eigene Erwachsenwerden und -sein vorstellen, dann wird deutlich, dass sie einen Begriff davon haben, welche Verpflichtungen und Beschränkungen auf sie zukommen werden. Sie sind sich voll und ganz darüber bewusst. In einer Zeitungsumfrage wurde zusammengetragen, was Jugendliche ab ihrem 18. Lebensjahr machen würden: Wenn ich 18 wäre …
-könnte ich endlich meinen Führerschein machen -dürfte ich mir selbst Entschuldigungen schreiben -würde ich jeden Tag Parties geben -wäre ich nicht mehr auf meine Eltern angewiesen -könnte ich an Wahlen teilnehmen -könnte ich Genussmittel auch legal erwerben -hätte ich mehr Sex -würde ich mit Aktien handeln -würde ich probieren meine Wünsche zu realisieren ABER -dann würde der Werbe-Weihnachtsmann mir nichts schenken -wäre ich voll strafmündig -wäre ich für alles selbst verantwortlich -müsste ich zur Bundeswehr -und hätte ich alles in allem viel mehr Pflichten Schüler einer 8. Klasse (aus: Tagesspiegel vom 1.2.2001, S. 12)
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„Wenn ich endlich 18 wär“ – mit diesem Satz verbinden die Jugendlichen offensichtlich große Hoffnungen, Wünsche und Befürchtungen. „Solange du noch nicht 18 bist“, lautet meist die Erwiderung der Gesellschaft auf Autonomie- und Entwicklungsbestrebungen der Heranwachsenden. Die Jugendlichen wissen, dass sie mit ihrem 18. Geburtstag neue Rechte erwerben, ihnen ist aber auch klar, dass diese neuen Rechte mit neuen Pflichten einhergehen. Damit liegen sie in ihrer eigenen Einschätzung vom Übergang ins Erwachsenenalter sehr dicht an der der Entwicklungspsychologen, die die Bewältigung von bestimmten Entwicklungsaufgaben als Eintrittskarte ins Erwachsenenalter sehen. August Flammer4, ein Schweizer Entwicklungspsychologe, bezeichnet diese Entwicklungsaufgaben sogar als Ersatz für die Initiationsriten in anderen Kulturen.
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Das Konzept der Entwicklungsaufgaben „Weißt du noch wie´s war, Kinderzeit wunderbar Die Welt ist bunt und schön, bis du irgendwann begreifst Dass nicht jeder Abschied heißt, es gibt auch ein Wiedersehen Immer vorwärts Schritt um Schritt, es gibt kein Weg zurück Was jetzt ist, wird nie mehr ungeschehen, die Zeit läuft uns davon, was getan ist getan Was jetzt ist, wird nie mehr so geschehen, es gibt kein Weg zurück“ (Wolfsheim, 2003).
Schon 1948 hat der amerikanische Entwicklungspsychologe Robert Havighurst5 ein Konzept vorgestellt, nach dem sich der Lebenslauf eines Menschen an unterschiedlichen und aufeinander folgenden Entwicklungsaufgaben beschreiben lässt, die jeder Mensch im Verlauf seines Lebens zu ganz bestimmten festgesetzten Zeitpunkten bewältigen muss. Solche Entwicklungsaufgaben sind Lernaufgaben, d. h. wir alle werden in einem bestimmten Alter mit einer bestimmten Herausforderung konfrontiert, und wir müssen für uns selbst Techniken entwickeln und Fähigkeiten erwerben, um diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern. Gelingt uns dies, stellt sich bei uns Zufriedenheit und Wohlbefinden ein. Wir bekommen das Gefühl, unser Leben gut im Griff zu haben. Gelingt uns dies nicht, so ist die Bewältigung der nachfolgenden Entwicklungsaufgabe behindert.
Reifung, Erziehung, Selbststeuerung – die Motoren menschlicher Entwicklung Es gibt drei unterschiedliche Ursachen für das Entstehen der Entwicklungsaufgaben: Erstens die körperlichen Veränderungen, die sich aus genetischen und biologisch-hormonellen Prozessen ergeben. Alle Einflüsse, die sich aus der biologischen, inneren Entwicklung ergeben, werden zumeist unter dem Begriff der Reifung zusammengefasst. Reifungsbedingte Anforderungen sind kaum beeinflussbar, da genetische Prozesse bisher kaum willentlich gesteuert werden können. Einen Jugendlichen als „unreif“ zu bezeichnen, heißt daher, ihn in einem unfertigen Entwicklungsstadium wahrzunehmen. 31
Das Jugendalter als Zeit der Unreife? Dann muss nur gewartet werden, bis die Zeit (und der Jugendliche) reif ist. Eine Einflussnahme durch den Jugendlichen selbst oder durch die Umwelt wäre nicht möglich. Umwelteinflüsse stellen nach Havighurst jedoch die zweite Quelle von Entwicklungsaufgaben und dadurch von menschlicher Entwicklung dar. Die normativen Erwartungen der Gesellschaft werden zumeist durch Erziehung transportiert: Die Gesellschaft hat bestimmte Vorstellungen davon, wie ein Mensch in einem bestimmten Alter zu sein hat. Diese Erwartungen werden nicht nur durch die Medien vermittelt, sondern auch direkt durch die Familie, Freunde und die Geschwister an den Einzelnen herangetragen. Die gesellschaftlichen Erwartungen wirken oftmals sehr subtil. Explizit geäußert werden sie meist erst dann, wenn ein Mensch die Entwicklungsaufgaben nicht bis zu dem dafür vorgesehenen Zeitpunkt bewältigt. So werden junge Erwachsene, die ein tolerables Mindestalter überschritten zu haben scheinen, von Freunden, Nachbarn oder den Verwandten z. B. gefragt, warum sie keine eigene Wohnung hätten, wann sie ausziehen würden, ob sie noch keine Freundin oder keinen Freund hätten etc. Und spätestens wenn die Eltern mit Äußerungen wie „Solange du deine Beine unter meinen Tisch stellst“ anfangen, stimmen die Entwicklungsziele der beiden Generationen nicht mehr überein. „Erziehung ist organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend“, so beschreibt Mark Twain den Druck, der auf Jugendlichen lastet, subtile gesellschaftliche Erwartungen erfüllen zu müssen. Neben diesen gesellschaftlichen Erwartungen und den biologischen Veränderungen stellen aber auch eigene individuelle Ziele und Wünsche Quellen von Entwicklungsaufgaben dar. Jeder Mensch hat eine eigene Vorstellung davon, wie er ist und wie er sein möchte, und formt daraus eigene Entwicklungsaufgaben. Während Kleinkinder nur begrenzt die Möglichkeit haben, ihren eigenen Entwicklungszielen ohne Einschränkung nachzugehen, bekommen die Heranwachsenden dann im Jugendalter tatsächlich die Möglichkeit, nahezu frei über die eigenen Entwicklungsaufgaben zu bestimmen, und dies ohne Hilfe und Druck von außen. Trotzdem haben sie gegen die zunehmende Unsicherheit der Erwachsenen zu kämpfen, die sich fragen, was sie falsch gemacht haben könnten, wenn die Entwicklung der Kinder nicht in ihrem Sinne verläuft.
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Das Leben hält ständig Aufgaben parat Das Konzept der Entwicklungsaufgaben gilt nicht ausschließlich für das Jugendalter. Alle Menschen haben von der Geburt bis zum Tod Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Schon unmittelbar nach der Geburt muss ein Säugling selbstständig atmen, durch Schreien Kontakt zu seinen Mitmenschen aufnehmen, Vertrauen entwickeln, Bindungen eingehen. Bei Kleinkindern ist es das Laufen- und Sprechenlernen, Schulkinder müssen die Kulturtechniken Schreiben, Lesen, Rechnen erlernen. Und schon an diesen Aufgaben wird sichtbar, dass es sich um vorhersehbare, typische Aufgaben handelt, die einem bestimmten Lebensalter zugeordnet sind. Sie werden nicht vor dessen Erreichen erwartet, und eine Verzögerung bei der Bewältigung dieser Herausforderungen gibt Anlass zur Sorge und behindert die Aufgaben, die sich im weiteren Lebensverlauf anschließen. Nach den typischen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters ist die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen. Auch Erwachsene werden immer wieder vor neue Entwicklungsaufgaben gestellt, die insbesondere mit den zentralen Lebensbereichen Beruf, Partnerschaft und Identität zusammenhängen. Man ist aufgefordert, eine Familie zu gründen, sie zu versorgen, den Haushalt zu führen, Geld zu verdienen, sich beruflich weiterzuentwickeln, eigene Kinder großzuziehen, sie zu selbstständigen Erwachsenen zu machen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Im höheren Lebensalter ergeben sich die Entwicklungsaufgaben dann aus dem Umbau der familiären und beruflichen Situation, was konkret heißt: Den Übergang in den Ruhestand zu meistern, neue gesellschaftliche Rollen, etwa als Großvater, zu übernehmen, damit leben zu lernen, dass die Kinder das Haus verlassen und man sich nun wieder auf die alte Rolle des Partners besinnen kann, die nichts mehr mit dem Mutter- oder Vatersein zu tun hat. Bei alten Menschen ergeben sich ferner neue Entwicklungsaufgaben durch die nachlassende körperliche Kraft und der damit verbundenen zunehmenden Unterstützungsbedürftigkeit. Havighurst hat diese Entwicklungsaufgabe als das Erlangen einer altersgemäßen Bequemlichkeit bezeichnet. Dazu gehört auch, sich helfen zu lassen, nicht mehr alles selbst machen zu wollen und zu können. Besonders deutlich wird dies bei Verlust des Partners und dem immer kleiner werdenden Bekannten- und Freundeskreis. Die letzte Entwicklungsaufgabe schließlich ist die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Le-
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bens, die eine Bilanz des Gewesenen und Erlebten mit sich bringt, und die Vorbereitung auf den eigenen Tod. Die Auffassung jedoch, die Entwicklung eines Menschen würde chronologisch ablaufen, dass also zuerst die biologischen Prozesse, dann die gesellschaftlichen Normen und am Ende schließlich die individuellen Ziele die Entwicklungsaufgaben bestimmen, ist überholt. Dieser Auffassung nach wurden Kinder als unreife Wesen eingestuft, die nur körperlich reifen müssen. Der Schrei eines Babys galt als rein biologischer Prozess, den man ruhig ignorieren konnte, weil er nicht als ein Zeichen einer individuellen Regung mit einer Zielsetzung angesehen wurde. Erst ab dem Schulalter wurde das Kind als gesellschaftliches Wesen betrachtet, das durch Curriculum und Lehrplan dazu gebracht werden konnte, gesellschaftliche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass schon kleine Kinder im Alter von drei bis vier Jahren neue Entwicklungsaufgaben für sich erkennen können, die mit einer individuellen Zielsetzung verbunden sind. Legt man z. B. Kindern in diesem Alter drei Bonbons auf den Tisch und verspricht, dass die Kinder, wenn sie es schaffen würden, fünf Minuten zu warten, eine ganze Tüte davon bekommen würden, können die Kinder den drei Bonbons auf dem Tisch zwar nicht widerstehen, aber sie erkennen eindeutig eine neue Entwicklungsaufgabe für sich. Diese werden sie sich für ihr weiteres Handeln einprägen, denn fragt man sie, was ein „kluges Kind“ tun würde, so antworten sie schon sehr früh: „Ein kluges Kind würde warten.“
Entwicklung als Kampf gegen Reifung und Erziehung? Viel aktueller ist die Einschätzung, dass jedes Alter von allen genannten Entwicklungsaufgaben zusammen bestimmt wird. Die biologischen Veränderungen setzen die Rahmenbedingungen: Als Kind können wir anderes leisten als in der Jugend oder im Alter. Aufgrund dieser biologischen Prozesse, die bei jedem Menschen gleich ablaufen, werden von der Umwelt bestimmte Ansprüche gestellt. Was ich mit meinen Fähigkeiten mache, wie ich diesen Rahmen nutze, wird von außen eingefordert. Umwelt und Gesellschaft sind es auch, die mir Möglichkeiten geben, mein körperliches Potenzial zu nutzen. Fähigkeiten können nur gefördert werden, wenn die Umwelt 34
sie erkennt. Auf alle Entwicklungsaufgaben nimmt zudem das Individuum beständig selbst Einfluss. Es legt für sich fest, ob es diesen Rahmen akzeptiert oder nicht, ob es die Angebote der Umwelt aufgreift und ihre Normen und Verbote annimmt oder nicht. Ein Beispiel dafür ist die genetisch festgelegte Köpergröße. Es gibt bestimmte Kulturen, die große Körpergrößen bevorzugen. In China ist es z. B. schick, groß zu sein. Eine junge Chinesin kann nun entweder akzeptieren, dass sie klein ist, oder direkt in den körperlichen Prozess eingreifen und die Genetik überlisten, indem sie sich Metallspangen in die Unterschenkel einsetzen lässt. Diese spezifische Entwicklungsaufgabe ist nicht nur rein biologisch bedingt, sondern gleichzeitig von den gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Vorstellungen mitgeprägt. So verhält es sich auch bei allen anderen Entwicklungsaufgaben. Noch bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein wurde die Entwicklung des Menschen meist nur bei Kindern beschrieben, weil man davon ausging, dass sie abgeschlossen sei, sobald wir erwachsen sind. Die Psychoanalyse z. B. führt bis heute alle im weiteren Lebensverlauf stattfindenden Prozessen und Veränderungen immer wieder auf die Erfahrungen, die wir in den ersten sechs Lebensjahren gemacht haben, zurück. Havighurst hingegen behauptete schon 1948, dass Menschen sich während ihres gesamten Lebensverlaufes weiterentwickeln – was im Nachhinein fast schon revolutionär erscheint. Er gliedert den typischen Lebenslauf ganz klar auf und legt für jeden davon konkrete Herausforderungen fest. Und da seiner Ansicht nach diese Herausforderungen auf nahezu alle Menschen zutreffen, die sich in einem gemeinsamen Kulturkreis in einem bestimmten Alter befinden, wissen sie auch, was an Entwicklungsaufgaben jeweils auf sie zukommt und können sich darauf entsprechend vorbereiten.
Die sieben zentralen Lebensthematiken Wie Havighurst hat auch Erik Erikson6 ein Konzept der lebenslangen Entwicklung vorgelegt. Erikson beschreibt jedoch eher ein krisenhaftes Geschehen. Er teilt den Lebenslauf in sieben zentrale Lebensthematiken ein, mit denen sich jeder Mensch in einem bestimmten Lebensalter auseinander setzen muss. Gelingt die Auseinandersetzung mit dieser Lebensthematik nicht oder nur teilweise, schlägt sich das in der Persönlichkeit nieder, hinterlässt längerfristig Spuren und behindert sogar die erfolgreiche Bewältigung 35
der nachfolgenden Lebenskrisen. Solche Krisen entstehen z. B. im Säuglingsalter, wenn das Neugeborene Urvertrauen entwickeln muss, im Schulalter, wenn Kinder Werksinn, d. h. ein Gespür die eigene Tüchtigkeit und Kompetenz erwerben müssen, im jungen Erwachsenenalter, wenn der Aufbau von Intimität gelernt werden muss, im mittleren Erwachsenenalter mit der Generativität, d. h. der Fähigkeit, selbst Nachwuchs zu erzeugen oder die nächste Generation als Lehrer oder Mentor zu unterstützen, und dann im fortgeschrittenen Lebensalter die Auseinandersetzung mit der Ich-Identität: Sehe ich mich und mein Leben als in sich geschlossen, kann ich nachvollziehen, dass das alles in meinem Leben so sein musste und nicht anders verlaufen konnte und dass es aus damaliger Sicht auch okay war, und habe ich das Gefühl, mein Leben gelebt zu haben und dass es gut so ist, wie es war? Für jede dieser Lebensthematiken droht auch immer ein Scheitern. Stellt sich beim Säugling das Urvertrauen nicht ein, so wird dieser Mensch später als Kind, Jugendlicher oder Erwachsener persönlichen Beziehungen gegenüber immer misstrauisch sein. Gelingt der Erwerb von Werksinn im Schulalter nicht, wird das Gefühl „Ich kann was, ich bin was, ich leiste was“ im späteren Leben ausbleiben. Wenn ich es als junger Erwachsener nicht schaffe, intime Beziehungen zu anderen aufzunehmen, werde ich mich längerfristig isolieren und so den Kontakt zu meinen Mitmenschen verlieren. Diese Isolation erschwert es mir auch, für die nächste Generation tätig zu sein (Generativität) und kann dazu führen, dass ich mich nur noch um mich selbst kreise und dadurch in meiner Persönlichkeitsentwicklung stagniere. Und wenn mir der Erwerb von Ich-Integrität im höheren Lebensalter nicht gelingt, werde ich dem eigenen Tod mit Verbitterung entgegensehen und mit dem Gefühl sterben, mein Leben nicht richtig gelebt zu haben. Die beiden beschriebenen Konzepte Entwicklungsaufgaben und Entwicklungskrisen haben viele Ähnlichkeiten, aber Erikson berührt eher zentrale Lebensthemen und die Sinnfrage, während Havighurst ganz konkrete Herausforderungen beschreibt, deren Bewältigung oder Nicht-Bewältigung konkret sichtbar wird und damit auch abrechenbar ist (z. B. wissen wir genau, dass und wann wir laufen gelernt haben). Es gibt eine lange Liste von Entwicklungsaufgaben im Leben, und jede zieht nach ihrer Bewältigung weitere nach sich.
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Anzumerken ist bei Havighurst, dass die von ihm genannten Entwicklungsaufgaben die gesellschaftlich normativen Erwartungen der damaligen Zeit wiedergeben, auch wenn er sie auf drei Quellen zurückführt. Im amerikanischen Mittelstand der 50er Jahre gab es weitaus geringere individuelle Möglichkeiten als heute, die gesellschaftlichen Erwartungen an die Jugendlichen waren stärker vordefiniert. Damals deckten sich die gesellschaftlichen Normen aber noch weitgehend mit den eigenen, individuellen Wünschen. So verwundert es nicht, dass Havighurst für die 12- bis 18-Jährigen folgende Entwicklungsaufgaben erarbeitet: Die Fähigkeit, reife Freundschaften eingehen zu können, die kulturell vordefinierte Geschlechtsrolle zu übernehmen, ferner die körperlichen Veränderungen zu akzeptieren und effektiv zu nutzen sowie sich vom Elternhaus zu lösen und sich auf Ehe und Familie vorzubereiten. Ebenso sollen sie lernen, eine eigene berufliche Tätigkeit zu ergreifen und ein ethisches Wertesystem zu erlangen, das ihnen als Richtschnur für das eigene Verhalten dient. Wir hingegen erwarten von einem jungen Menschen heute eher, dass er sich lange auf eine partnerschaftliche Beziehung vorbereitet und eine für ihn passende Form des partnerschaftlichen Zusammenlebens entwickelt, bevor er eine Familie gründet, eventuell sogar ganz ohne zu heiraten. Havighurst war neben den traditionellen Aufgaben aber auch wichtig, dass die Jugendlichen sozial verantwortliches Verhalten erwerben, wobei er sich auf das in Amerika übliche soziale organisierte Engagement (Pfadfinder, Nachbarschaftshilfe) bezieht. Der Zeitgeist hat sich verändert, es lassen sich auch kulturelle Unterschiede feststellen – solche Forderungen werden heute in Deutschland nicht mehr so massiv erhoben. Auch inhaltlich stellt sich für Jugendliche in Deutschland diese gesellschaftliche Erwartung anders dar. Die Forderung nach sozial verantwortlichem Verhalten wird hierzulande viel abstrakter formuliert und nicht exklusiv an die Jugendlichen herangetragen. Sie gilt heute nicht als Entwicklungsaufgabe und taucht in dieser Form auf den Listen gar nicht mehr auf.
Jede Kultur stellt eigene Entwicklungsaufgaben Dass jede Kultur ihre spezifischen Besonderheiten hat, führt dazu, dass manche Entwicklungsaufgaben erst gar nicht relevant werden oder sich ganz andere stellen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Partnerwahl: Aus Sicht der 37
Jugendlichen aus westlichen Kulturen ist dies eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben überhaupt. In einigen kollektivistischen Kulturen hingegen, wo Ehen von den Eltern arrangiert werden, haben die Heranwachsenden gar keine Wahl – die Frage stellt sich ihnen gar nicht und damit auch nicht die Bewältigung der damit verbundenen Aufgabe. Havighurst holte sich damals keine konkrete Rückmeldung bei der Zielgruppe ein, wodurch sein Katalog etwas starr wirkt. Dies wurde in den 80er Jahren in Deutschland insbesondere von Rolf Oerter7 und dem Münchner Forscherehepaar Eva und Michael Dreher8 nachgeholt, als sie die Jugendlichen selbst in größerem Maßstab zu den von ihnen aufgestellten Entwicklungsaufgaben befragten. Dreher und Dreher haben die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität als eine der zentralen Entwicklung des Jugendalters benannt. Auch die Zukunftsorientierung, d. h. der Erwerb der Fähigkeit, das heutige Handeln an den möglichen Konsequenzen auszurichten, für sich selbst zu planen und Vorstellungen davon zu entwickeln, wie man selbst in der Zukunft sein möchte, rückt stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Vorbereitung auf Ehe und Familie nimmt bei Dreher und Dreher einen anderen Stellenwert ein. Stattdessen wird bei ihnen der Aufbau intimer Partnerschaften als wichtige Entwicklungsaufgabe hervorgehoben. Nachdem Dreher und Dreher diesen neuen Katalog formuliert haben, wurden weitere Entwicklungsaufgaben ergänzt. So hat z. B. Klaus Hurrelmann9 den richtigen Umgang mit dem Konsumwarenmarkt als eine solche bezeichnet. Ihm zufolge müssen Jugendliche sich mit den vielfältigen Verlockungen und Angeboten auseinandersetzen und lernen, den Versuchungen zu widerstehen, sich Geld gut einzuteilen, zu sparen oder auch zu überlegen, wie man für geplante Anschaffungen an Geld kommt. Helmut Fend10 hat darüber hinaus auch den Erwerb von politischen Orientierungen als Entwicklungsaufgabe für die Jugend definiert, ebenso gehören für ihn der Schulabschluss und der Erwerb schulischer Bildung dazu. Und vom Autor des vorliegenden Buches wurden schließlich die Entwicklungsaufgaben noch um den Übergang in die Automobilität ergänzt11. Die Liste ist lang und lässt sich noch beliebig erweitern. All diesen Entwicklungsaufgaben ist jedoch gemein, dass sie innerhalb eines relativ kurzen Zeitabschnitts stattfinden, dass sie stark aufeinander bezogen sind und dass sie einem gemeinsamen Überthema zugeordnet sind – der Entwicklung der Identität.
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Ein Aufwachsen mit zahlreichen Anforderungen „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ (Aristoteles, 384 - 322 v.Chr.)
Der Sonderpädagoge Manfred Wittrock12 sagte einmal: „Jedes menschliche Verhalten ist ein subjektiv Problemlösendes.“ Menschen versuchen beständig und immer wieder, mit bestimmten Herausforderungen fertig zu werden. An jeder Entwicklungsaufgabe lässt sich genau ersehen, welche Belastungen die Jugendlichen gerade haben und wie sie versuchen, diese zu bewältigen. Jugendliche suchen in den verschiedensten Lebensbereichen nach ihrer eigenen Identität. Gesellschaftliche und politische Identität zu erringen, ist Teil dieser Suche. Sich einer radikalen Gruppierung anzuschließen ist genauso als eine Bewältigung der Entwicklungsaufgabe „politische Orientierung“ zu verstehen, wie sich völlig unpolitisch zu verhalten bzw. sich ganz aus diesem Tagesgeschäft auszuklinken. Jugendliche finden sich in Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Person, fragen sich, wer sie sind, wie sie sich sehen, wie sie von anderen gesehen werden möchten. Dies sind Entwicklungsaufgaben, die im Gegensatz zu denen des Kindes und des Erwachsenen nicht mehr eindeutig lösbar sind. Es kann keine „falsche“ Lösung einer Entwicklungsaufgabe mehr geben; jeder Jugendliche ist aufgefordert, die für sich passende Lösung zu finden. Was gleichzeitig auch bedeutet, dass keine Entwicklungsaufgabe der Jugendzeit mehr als abgeschlossen oder bewältigt erachtet werden kann. Zwar beginnen ganz bestimmte Entwicklungsaufgaben erst im Jugendalter, aber sie enden nicht einfach im Erwachsenenalter. Stattdessen kommen immer noch weitere Anforderungen hinzu, da neue Lebenssituationen jeden Menschen dazu zwingen, sich die Frage nach der eigenen Identität erneut zu stellen. Sich über seine politische Meinung bewusst zu werden, die aktuelle politische Situation einschätzen und sich über Pro und Kontra verschiedener politischer Richtungen äußern zu können sowie sich aktiv ins politische Tagesgeschäft einzubringen, all das wird von Kindern nicht erwartet.
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Abstrakte Erwartung: die politische Selbstverortung Dies ändert sich jedoch mit der Entwicklung der Fähigkeit zum abstrakten Denken, die im Jugendalter einsetzt und auch die Auseinandersetzung mit politischen Themen mit sich führt. Jugendliche erkennen, dass das gesellschaftliche Leben von bestimmten politischen Regeln bestimmt ist und erwerben zunehmend die Fähigkeit, den Einfluss von Bürgern, Politikern und Organisationen auf das gesellschaftliche Geschehen wahrzunehmen. Konkret lautet die Entwicklungsaufgabe für die Jugendlichen demnach: „Setze dich mit den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander, erwerbe für dich die Fähigkeit, politische Strömungen einzuschätzen, Ursache und Wirkungsbeziehungen in politischen geschehen zu erkennen, informiere dich über verschiedene politische Richtungen und verorte dich selbst. Überprüfe für dich, ob du selbst politisch aktiv werden willst und wie dein politisches Engagement aussehen kann.“ Die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe zeigt sich in vielfältigen Verhaltensweisen der Jugendlichen. Möglicherweise fordern einige mehr Mitbestimmung ein, zunächst in der Familie, später auch in der Schule. Sie üben sich im Verhandeln und im Kompromisse-Schließen. Sie beginnen, althergebrachte Regeln in Frage zu stellen, und wo Erwachsene sagen, das ist so, weil es immer so gewesen ist, fragen die Jugendlichen nach dem Warum. Die neue Fähigkeit der Heranwachsenden, abstrakt zu denken, heißt sich auch von den konkreten Gegebenheiten im Alltag lösen zu können, in Möglichkeitsräumen zu denken und konkrete Dinge anzuzweifeln. Sie fragen sich, wie es wohl wäre, wenn alles ganz anders wäre, und das ermöglicht ihnen, die derzeitige Welt mit einer idealen zu vergleichen. Die Vorstellungen, die die Jugendlichen dabei entwickeln, erscheinen daher den Erwachsenen meist revolutionär und unangemessen. Viele Jugendliche schließen sich in dieser Phase bestimmten gesellschaftlichen Gruppen an, die auch politische Ziele verfolgen. Einige entwickeln dabei sogar missionarischen Eifer. Andere entscheiden sich bewusst dafür, unpolitisch zu bleiben und geben als Gründe dafür an, politischen Institutionen generell zu misstrauen, geringes politisches Wissen zu haben und nur geringe Einflussmöglichkeiten auf das politische Geschehen zu sehen. Die Entwicklungsaufgabe lautet für die Jugendlichen hier also nicht, „Geh’ wählen und schließ’ dich einer politischen Partei an“, sondern sie bedeutet „Erforsche, was es für politische
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Handlungsmöglichkeiten gibt und verorte dich selbst in diesem vielfältigen Spektrum“. Und die Erwachsenen? Wie aktiv setzt sich jeder von uns mit politischen Themen auseinander? Wie engagiert prüft jede von uns politische Alternativen? Wie stark fühlt sich jeder von uns politisch gebunden? Wie sehr ist jeder von uns bereit, seine politische Weltsicht aktiv zu vertreten, für sie zu kämpfen, überhaupt irgendetwas zu tun? Auch viele Erwachsene bezeichnen sich als eher unpolitisch und sind damit nicht allein.
Unpolitisch? Nicht nur die Jugendlichen Vielen Jugendlichen wird heute der Vorwurf gemacht, unpolitisch zu sein. Im Jugendalter beginnt aber erst die Auseinandersetzung mit politischen Themen. Bei vielen Menschen endet sie mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Das idealistische revolutionäre Weltverbessertum von jungen Leuten wird von vielen Erwachsenen ironisch betrachtet. Jugendliche, die sich tatsächlich engagieren, ernten oft Misstrauen. Der Wunsch vieler Jugendlicher nach radikalen Änderungen im System, der sich aus der Unzufriedenheit mit der aktuellen Situation ergibt, wird z. T. von Eltern und Lehrern sogar massiv unterdrückt, da die Angst vor einer möglichen Radikalisierung groß ist. Neben allen Risiken, die eine solche Entwicklungsphase hat, darf jedoch nicht übersehen werden, dass längerfristiges politisches und soziales Engagement sich nur dann etabliert, wenn die Jugendlichen bemerken, dass ihre Meinung gefragt ist und ihr Einfluss tatsächlich zählt. Die größere Gefahr liegt für die Gesellschaft nicht in den sich radikalisierenden Ansichten in dieser Übergangszeit, sondern in der allgemein zunehmenden Entpolitisierung – ein Trend, der sich nicht nur bei Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen zeigt. Unser politisches System lebt von der Mitarbeit und Mitgestaltung seiner Bürger. Dafür wird der Grundstein im Jugendalter gelegt. Das Gefühl von Ohnmacht, mangelnden Einflussmöglichkeiten, fehlender Übersicht und der Austauschbarkeit aller politischen Strömungen belastet die politische Orientierungszeit stark. Mehr wissen zu wollen, sich stärker zu engagieren und seine politischen Überzeugungen immer wieder neu zu überdenken, ist eine Möglichkeit, diese Entwicklungsaufgabe zu bewältigen. Das politische 41
Engagement ganz und gar einzustellen oder sich einer ganz einfachen Weltsicht anzuschließen, ist eine andere Möglichkeit. Bevor ein Erwachsener die Jugendlichen wegen ihrer politischen Haltung kritisiert, sollte er sich selbst fragen, ob es nicht möglicherweise an der Zeit ist, die eigene Meinung noch einmal gründlich zu überdenken, nur um durch eine bewusste Position bei ihnen den Erkenntnisprozess zu fördern. Zu beachten ist dabei auch, dass die politische Orientierung nur eine der Herausforderungen darstellt, die die Jugendlichen in diesem kurzen Lebensabschnitt bewältigen müssen. Jede weitere Entwicklungsaufgabe ist mit weiteren Belastungen und Bewältigungsversuchen verbunden. Die Entwicklungsaufgaben stehen untereinander in Beziehung und erschweren sich gegenseitig. Alle Jugendlichen müssen diesen Weg gehen und jede dieser Aufgaben ist mit eigenen Belastungen verbunden. Unter Druck: erste Intimitäten austauschen Erwachsene neigen im Rückblick oft dazu, die eigenen Probleme der Jugendzeit zu verklären, da man ja irgendwie doch darüber hinweggekommen ist und es ja doch irgendwie geschafft hat. Um jugendliches Verhalten verstehen zu können, ist es trotzdem gut, sich an seine eigene Jugend zu erinnern und an die Situation, in der man diese Entwicklungsaufgabe bewältigen musste. Es hilft sogar uns selbst, und zwar genau dann, wenn wir heute wieder mit Problemen konfrontiert werden, von denen wir dachten, wir hätten sie schon im Jugendalter überwunden. Als Individuation wird ein Prozess im Jugendalter bezeichnet, in dessen Verlauf die Heranwachsenden zunehmend unabhängiger von Vorgaben, Einflüssen, Meinungen und Richtungsentscheidungen der Mitmenschen werden. Drei Schritte sind dabei von den Jugendlichen zu gehen, die sie zunehmend in die Selbstbestimmung in sozialen Beziehungen führen: Sie müssen sich aus dem Elternhaus herauslösen und dadurch emotionale Unabhängigkeit von den Eltern erlangen, im zweiten Schritt müssen sie sich in die Gruppe der Gleichaltrigen integrieren und Freundschaftsbeziehungen aufbauen. Im dritten Schritt verlieren auch die Freunde einiges ihres Einflusses auf den Heranwachsenden, wenn dieser intime Partnerschaften sucht und aufbaut. 42
Man denke nur allein an die Herausforderungen, die mit dem dritten Schritt verbunden sind: Wie nimmt man eine intime Partnerschaft auf? Jeder, der als Erwachsener in einer glücklichen Beziehung lebt, neigt dazu zu vergessen, wie schwierig es war, diese zu finden. Wie nimmt man Kontakt zum Wunschpartner auf, wie lernt man jemanden kennen? Wie fühlt sich das an, wenn man verliebt ist? Ist es wirklich ein nur durch und durch gutes Gefühl? Was erleben wir, wenn der Wunschpartner für uns nicht erreichbar ist? Wie verkraftet man Zurückweisung? Wie gewinnt man die Aufmerksamkeit des Wunschpartners? Was macht man, wenn Interesse da ist? Und zwar, ohne dass die Freunde unsere Versuche lächerlich finden? Wie erprobt man, welche Chancen man so hat? Wo findet man potenzielle Partner, in der Disko, via Internet, im Freundeskreis? Welche Risiken drohen, wenn ich meinen Freund im Freundeskreis finde? Wie unterscheidet sich dieses von dem Abenteuer, eine E-Mail-Bekanntschaft einzugehen? Und wenn gegenseitiges Interesse da ist, wie geht es dann weiter? Wie „geht man“ denn „miteinander“? Was darf man, was darf man nicht? Woran merkt man, was das Gegenüber genau will? Was darf man fragen, was nicht? Wie oft darf man sich sehen, damit die Eltern nicht misstrauisch und die Freunde nicht eifersüchtig werden? Wie gehe ich damit um, wenn meine Freunde meinen Freund/ meine Freundin nicht mögen? Und selbst wenn das alles einigermaßen zufriedenstellend verläuft, steht der größte Schritt noch bevor: Wie mache ich aus einer Partnerschaft eine intime Partnerschaft? Wann ist die beste Gelegenheit dazu? Wer ist der oder die Richtige dafür? Mädchen fragen sich, ob es weh tun wird. Und die Jungen befürchten insgeheim, zu versagen.
Heiß begehrt: die „feste Beziehung“ Die Aufnahme intimer Partnerschaften gehört zu den Entwicklungsaufgaben, die die Jugendlichen am meisten unter Druck setzt. In Befragungen haben viele Jugendliche zu diesem Punkt ganz konkrete Pläne geäußert wie: „Innerhalb des nächsten Jahres möchte ich einen festen Freund finden.“ Und als sie dann nach einem Jahr noch mal danach gefragt wurden, zeigte sich ganz deutlich, dass die, die es geschafft haben, glücklicher und selbstbewusster geworden waren, während die anderen sich deutlich schlechter fühlten in Bezug auf diese selbst gesetzte Entwicklungsaufgabe. In dieser langen Liste von Fragen, die ich oben aufgeführt habe, sind viele Themen 43
sogar noch nicht einmal angesprochen, die den Jugendlichen in diesem Zusammenhang noch so im Kopf herumschwirren. Welche Rolle spielt die Angst vor ungewollten Schwangerschaften und übertragbaren Geschlechtskrankheiten? Was fragt sich ein Jugendlicher, der über seine sexuelle Orientierung nachdenkt und sich nicht über sie im Klaren ist? Stellt er sich dieselben Fragen, wenn er sich zu seinem eigenen Geschlecht hingezogen fühlt?
Stolperstein „unreifer Körper“ Daran wird deutlich, wie eng diese Entwicklungsaufgabe mit anderen Entwicklungsaufgaben verbunden ist. Als Beispiele seien nur einmal die Schwierigkeiten genannt, die damit einhergehen, die körperlichen Veränderungen akzeptieren und die Geschlechtsrolle übernehmen zu müssen: Stellen Sie sich als Erwachsener noch einmal vor, dass Sie diese Entwicklungsaufgabe bewältigen müssten in einem Körper, der macht, was er will – wie gut würde Ihnen die Aufnahme einer intimen Partnerschaft gelingen, während Sie sich gerade mit Pickeln, Stimmbruch, Körperschweiß, fettigen Haaren, ungleich entwickelten Brüsten, zu langen Armen herumplagen – alles Begleiterscheinungen des Jugendalters. Und wir Erwachsene bekommen auch später häufig wieder dieselben Probleme und stellen uns genauso unreif an: Wir laden die Angebetete zu einem Drink ein, heucheln Interesse bei gemeinsamen Themen vor und versuchen, möglichst nichts von unseren wahren Absichten deutlich werden zu lassen. Obwohl sich die Möglichkeiten einer Partnerschaftsanbahnung deutlich liberalisiert haben, verhalten wir uns immer noch wie Teenager.
„Face to face“ und „Side by side“ Jugendliche finden also zahlreiche Lösungen, um mit diesen Belastungen fertig zu werden. Die neue Offenheit in den Medien spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle. Es stimmt nicht, dass wir besser über Liebe und Zärtlichkeit Bescheid wissen. Im Gegenteil, die neue Offenheit erhöht den Leistungsdruck auf die Jugendlichen nur. Die besten Rat- und Ideengeber sind immer noch die Gleichaltrigen. Die Eltern spielen dabei eine eher untergeordnete Rolle. Mädchen profitieren von der Offenheit im Freundeskreis 44
stärker als die Jungen. Die empfundene Tiefe und Intimität von Freundschaften ist beim weiblichen Geschlecht in diesem Alter viel größer als bei Jungen. Während die Mädchen ihre beste Freundin als den wichtigsten Menschen in ihrem Leben ansehen, mit dem sie alles teilen würden, beschreiben Jungen ihre Freundschaften viel sachlicher und nüchterner. Dabei betonen sie eher die gemeinsamen Erlebnisse und nicht so sehr den intensiven emotionalen Austausch. Ein Entwicklungspsychologe hat dazu einmal ein treffendes Bild gefunden: Mädchen bewältigen das Jugendalter von Angesicht zu Angesicht (face to face). Jungen bewältigen das Jugendalter Seite an Seite (side by side) und gucken sich dabei nicht an. Dadurch fehlt Jungen eine wichtige Möglichkeit, mit den Belastungen des Jugendalters fertig zu werden – der direkte emotionale Austausch über die eigenen Gedanken und Wünsche. Denken Sie einmal an ihre Jugendzeit zurück: Wie haben Sie diesen Dreischritt Ablösung vom Elternhaus, Integration in die Gruppe der Gleichaltrigen und Aufnahme von intimen Partnerschaften geschafft? Wie haben Sie sich von Ihren Eltern gelöst? Haben Sie die Ablösung wirklich gut hinbekommen? Wie sieht der Umbau dieser Beziehung aus? Haben Ihre Eltern ihren Einfluss auf bestimmte Lebensfragen bei Ihnen verloren? Oder haben sie in anderen Lebensbereichen große Bedeutung für Sie? Wie haben Sie es geschafft, die passenden Freunde zu finden? Und was mussten Sie dafür tun, dass Sie von Ihren Freunden akzeptiert wurden? Wie viele Kompromisse mussten Sie schließen, damit die Freunde Sie akzeptierten und Sie trotzdem den Kontakt zu den Eltern nicht verloren haben? Fragen Sie sich einmal, wie es Jugendlichen geht, die von Gleichaltrigen abgelehnt werden und denen dadurch ein ganz wichtiges Lernfeld für ihre weitere Entwicklung fehlt, weil sie sich bei Problemen mit den Eltern, bei Liebeskummer, bei schulischer Überforderung und unklaren Zukunftsaussichten keine Unterstützung und keinen Rat bei den jugendlichen Freunden holen können.
Der jugendliche Egozentrismus Da Jugendliche sich in ihrer Identitätsfindung stark mit sich selbst beschäftigen, unterliegen sie manchmal dem Trugschluss, den anderen ginge es genauso wie ihnen – sie werden zu Egozentrikern und denken, alles auf der Welt hätte ursächlich mit ihnen zu tun. Wenn Eltern moralische Erwartun45
gen an sie richten, verstehen die Jugendlichen dies meist als persönlichen Angriff nach dem Motto: „Das fordert sie nur von mir, weil sie mir eins auswischen will.“ Für die Heranwachsenden ist die Welt eine Bühne. Sie sind ständig damit beschäftigt, sich selbst zu überwachen. Sie fragen sich: Wie werde ich von den anderen gesehen, wie komme ich gerade rüber? Aus diesem Grund hat jugendliches Verhalten auch immer etwas Schauspielerisches an sich: Entweder betont gelassen, aggressiv oder witzig – immer ist es auf Außenwirkung bedacht. Es ist schwer, als egozentrisches Wesen seine noch nicht gefestigte Welt mit einem anderen Menschen zu teilen und eine intime Partnerschaft aufzubauen. Auch durch die Liberalisierung wird dies nicht leichter: Ich muss jemand anderes in meine Welt lassen und ihm zeigen, wie ich wirklich bin. Ich muss meine Scham überwinden, meine egozentrischen Bedürfnisse mit denen eines anderen Menschen abstimmen und dabei Rückschritte und Kompromisse machen. Ich muss mir überlegen, ob ich nach der ersten gebrochenen Vereinbarung, dem ersten Streit, einem Seitensprung noch mit dem ersten Partner zusammenbleiben will. Und wenn ja, wie sehe ich mich danach? Und wenn nein, wie beende ich eine Beziehung überhaupt? Schaut man sich diese ganzen Fragen genauer an, ist es fast erstaunlich, dass es überhaupt intime Partnerschaften gibt. Bei jeder anderen Entwicklungsaufgabe kommen mindestens genauso viele Fragen auf. Als Erwachsener fragt man sich, ob man das alles wirklich noch einmal durchmachen will, insbesondere dann, wenn einen das große übergeordnete Thema, die Suche nach der eigenen Identität, wieder einzuholen droht.
Die Qual der Wahl Sind nun die Entwicklungsaufgaben, wie August Flammer behauptet, wirklich eine Eintrittskarte ins Erwachsenenalter? Wenn ich mir die vielen Belastungen anschaue, die mit ihnen einhergehen, zweifele ich daran. Zwar ist die Vorstellung, da stünde jemand an der Tür eines großen Lichtspieltheaters und würde uns einfach durchwinken, sehr verlockend. Aber bei den Jugendlichen fangen die Schwierigkeiten schon im Kinofoyer an: Es läuft nicht nur ein Film, sondern zwanzig. Sie müssen sich aber für einen auf den großen Plakaten an der Wand entscheiden. Die Qual der Wahl ist ein zentrales Problem der Jugend von heute. Und die Palette der Möglichkeiten hat sich in den letzten Jahren rasant erweitert. Inzwischen wird es sogar als normal 46
empfunden, dass es unterschiedliche Lösungen für alles gibt. Das Kino der 40er Jahre von Havighurst hatte zum Thema „Aufnahme intimer Partnerschaften“ nur einen Film parat. Der Titel lautete: „Finde deinen Partner, heirate und nehme in der Hochzeitsnacht eine intime Beziehung zu ihm auf.“ Für dieses vorgeschriebene Skript konnte man als Jugendlicher ein Ticket lösen und es sich durchreißen lassen: Andere Filme waren undenkbar, verpönt oder wurden nicht gedreht. Heute sind die Lösungen, die das Kino anbietet, gesellschaftlich akzeptiert, diese Filme werden gedreht und gezeigt, das Szenario ist auch in Wirklichkeit denkbar. Ob es sich um „Das wilde Leben“ über die Berliner Kommune 1 mit 68er-Ikone und Sexsymbol Uschi Obermaier handelt, um „My Big Fat Greek Wedding – Hochzeit auf Griechisch“, um „Singles – Gemeinsam einsam“ mit Bridget Fonda und Matt Dillon oder um das Schwulendrama „Beautiful Thing“ – es gibt zu allem etwas im Angebot. Der Jugendliche steht davor und muss sich überlegen, welches dieser Lebensskripte zu ihm passt. Zudem kann er sich nacheinander an verschiedenen Schlangen anstellen, sich zwischendurch umentscheiden, kann sich über Handy oder von aus dem Kino Herausströmenden Meinungen einholen, kann in einen Film herein- und wieder herausgehen. Dieses Bild beschreibt sehr gut den Prozess, den Entwicklungspsychologen als Exploration – also die Erforschung der verschiedenen Identitätsmöglichkeiten – bezeichnen.
Nie endgültig im richtigen Film! Um die Kinokarte auch wirklich zu kaufen und einzulösen, ist allerdings noch ein zweiter Schritt notwendig. Die Heranwachsenden müssen sich entscheiden und gehen damit eine Verpflichtung sich selbst gegenüber ein. Noch dazu stehen in der Stadt nicht nur ein Lichtspieltheater, sondern viele zur Auswahl, und jedes Kino hat andere Anfangszeiten. Transponiert man diese Situation auf den Übergang ins Erwachsenenalter, wird ersichtlich, wie schwierig es ist, den passenden Lebensbereich für sich zu finden und dann auch noch in diesem zu bleiben. Wenn es aber wirklich nur einen Kinohit zur Auswahl gäbe, müssten wir alle in diesen einen Film gehen, insbesondere wenn wir nicht das ganze Leben neben dem Kino verbringen wollen.
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Das große Angebot macht es den Jugendlichen heute leicht, einfach zwischen mehreren verschiedenen Filmen hin- und herzuspringen, und zugleich schwer, wirklich in einem Kinosaal sitzen zu bleiben. Das lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen und betrifft das Finden der politischen Orientierung, der richtigen Freunde, der eigenen Geschlechtsrolle ebenso wie die Entscheidung, wie ich mit der körperlichen Veränderung, intimen Partnerschaften, eigenen Werten, der Vorstellung von der eigenen Zukunft sowie mit dem Konsumwarenmarkt umgehe und auch wie ich meinen Übergang in die Automobilität gestalte. Stellen Sie sich einmal vor, wie es ist, selbst im Kinofoyer zu stehen und nach dem passenden Film zu suchen – bleiben Sie nicht lieber einfach im Sessel sitzen, auch wenn ihnen der ausgewählte Film nicht zusagt oder nicht auf Ihre Situation passt? Warum? Weil es Ihnen wie den Jugendlichen zu anstrengend ist, sich noch mal in die Schlange zu stellen, sich vorher genau zu überlegen, welcher Film Ihnen denn nun besser gefallen könnte, für welchen Film sich die erneute Ausgabe lohnt. So ist es immer mehr Heranwachsenden völlig egal, was im Kino läuft – dabei sind sie nicht nur bequem. Sie stellen die Suche nach dem passenden Film irgendwann ein und fühlen sich in keinem der Kinosäle wirklich gut aufgehoben. Sie sind – um wiederum einen psychologischen Fachbegriff zu gebrauchen – in ihrer Identität diffus. Aber warum wird, um auf die Eingangsfrage zurückzukommen, nun die Jugendlichkeit, so diffus sie heute erscheint, trotzdem so idealisiert? Uns treibt der Neid an. Wir wollen die heutige Jugend abwerten. Weil wir merken, dass den jungen Menschen weitaus mehr Möglichkeiten offen stehen als uns damals. In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr Filme entstanden sowie Optionen für die Lebensplanung hinzugekommen und weitere werden dazukommen – wir fühlen, dass wir älter werden. Wir spüren, dass in den Köpfen der Jugendlichen schon die Filme für die nächste Generation heranreifen. Und wenn die eigenen Kinder andere Filme besuchen als wir, zwingen sie uns darüber nachzudenken, warum ausgerechnet wir in diesem Film sitzen und nicht in einem anderen. Es kommt zu einer Erschütterung unserer eigenen Werte. Das verunsichert uns. Geschichte setzt sich fort. Auch wir Erwachsenen hatten, wenn wir uns zurückerinnern, viel mehr Möglichkeiten als unsere Eltern. Und wir wussten von der nur vorübergehend gewählten Verpflichtung, dem Anfängerbonus, 48
den man jedem Jugendlichen gewährt, der einen von der lebenslangen Verantwortung und Verpflichtung des eigenen Tuns noch enthebt. Die Studentenrevolte der 1968er Jahre wurde vom Establishment damals auch als bedrohlich empfunden. Jahre später war man froh über die neuen Formen des Zusammenlebens und der Mitbestimmung. Der gesellschaftliche Wandel ist eingetreten. Heute setzt sich, bedingt durch Globalisierung und zunehmende Vernetzung, ein Trend noch viel schneller durch als früher. Wenn ein neuer Film anläuft, erreicht er sein Publikum in Sekundenschnelle. Fazit: Wer sich über die Jugend von heute beklagt, sich über bestimmte Verhaltensweisen beschwert, ihre Marotten, Musik und Mode ablehnt, muss damit rechnen, dass einiges davon in zehn Jahren, wie die Jeanshose, zum gesellschaftlichen Standard gehört.
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Handeln im Kontext: Jugendliche als „aktive Gestalter“ ihrer eigenen Entwicklung „Die Welt macht schlimme Zeiten durch. Die jungen Leute von heute denken an nichts anderes als an sich selbst. Sie haben keine Ehrfurcht vor ihren Eltern oder dem Alter. Sie sind ungeduldig und unbeherrscht. Sie reden so, als wüssten sie alles, und was wir für weise halten, empfinden sie als Torheit. Und was die Mädchen betrifft, sie sind unbescheiden und unweiblich in ihrer Ausdrucksweise, ihrem Benehmen und ihrer Kleidung.“ (Mönch Peter, um 1274)
Die „normale“ Biografie gibt es nicht mehr. Ihre Bewältigung macht nicht sichtbar glücklich, ihre Nicht-Bewältigung ist heute kein so großes Drama mehr. Der gesellschaftliche Druck auf die Jugendlichen hat sich verändert, auch verringert. Sie haben nicht nur weitaus mehr Selbstbestimmungsmöglichkeiten, auch ihr Stellenwert innerhalb der Familie, die nicht mehr kommandiert, sondern verhandelt, hat sich verändert. Sie können mehr mitbestimmen. Auch die frühere biologische Reife bringt das einfache Modell nach Havighurst ins Wanken; für die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gibt es auch hier keine so eindeutigen Lösungen mehr wie früher. Was er geschafft hat oder nicht, ist dem Jugendlichen nicht mehr am Gesicht, seiner Kleidung, an seinem Alter und seiner körperlichen Reife abzulesen. Aus diesem Grund reichen die Entwicklungsaufgaben nicht aus, um den Übergang vom Jugend- in das Erwachsenenalter zu beschreiben. Die Entwicklungsaufgaben lassen sich nicht als „Eintrittskarte“ ins Erwachsenenalter betrachten. Inzwischen haben wir heute in der Psychologie neue Vorstellungen von Entwicklungsaufgaben entwickelt, wobei insbesondere Helmut Fend zu nennen ist. Fend stellt den Jugendlichen selbst ins Zentrum. Er beschreibt Jugendliche als aktive Gestalter ihrer eigenen Entwicklung. Die Jugendlichen erkennen ganz bewusst, welche Entwicklungsaufgaben vor ihnen liegen, und entwickeln für sich selbst Lösungsversuche, wie diese zu bewältigen sind. Allerdings sind sie nicht ganz frei in der Art und Weise, wie sie dies tun. Der Kontext, der die Jugendlichen umgibt, schränkt sie auf bestimmte Handlungsmöglichkeiten ein oder legt ihnen bestimmte Bewältigungsmöglichkei50
ten nahe. Entwickeln ist Handeln im Kontext. Diese Aussage Rainer K. Silbereisens13, bedeutet für die Jugendlichen: Ich kann handeln und mich als Jugendlicher, als die Person, die ich sein möchte, selbst erschaffen, aber diese Handlungsmöglichkeiten sind durch den Kontext, der mich umgibt und in dem ich lebe, definiert, zum Teil eingeschränkt, zum Teil aber auch erweitert. Der gleiche Entwicklungskontext kann bei unterschiedlichen Jugendlichen zu unterschiedlichen Entwicklungswegen führen, je nachdem wie der Kontext von den Jugendlichen wahrgenommen wird und wie jeder Jugendliche für sich definiert, was „das Beste“ ist, was man aus den vorgegebenen Bedingungen machen kann.
Entwicklung als „Handeln im Kontext“ Der Begriff des Kontextes ist sehr weit gefasst und bezieht sich nicht nur auf die Umwelt des Jugendlichen, sondern auch auf innere Bedingungen, die im Jugendlichen selbst zu finden sind. Zu den kontextuellen Vorgaben, die seine Handlungsmöglichkeiten einschränken oder erweitern, gehören u. a. auch sozialhistorische und aktuelle gesellschaftliche Bedingungen: Wenn sich in Deutschland eine Jugendliche dazu entscheidet, nicht nur von zu Hause wegzugehen, sondern gleich einen anderen Kulturkreis zu erkunden, hat sie die Möglichkeit, eine oder mehrere Sprachen zu studieren und bekommt durch dieses Studium eine plausible Begründung für ihren Wunsch, längere Zeit in einem anderen Land zu leben. Die Familie wird positiv darauf reagieren und für den Sprachaufenthalt aufkommen, wenn sie nicht sogar ein Stipendium an der Auslandsuniversität bekommt. Die Chancen, diesen Wunsch in unserer Gesellschaft durchzusetzen, stehen gut, zumal dadurch auch Leistungswille und Zukunftsorientierung demonstriert werden. In anderen Ländern wie dem Iran oder Indien wird eine solch selbstständige Entscheidung von einer Heranwachsenden unter Umständen gar nicht begrüßt werden. Zu diesen kontextuellen Vorgaben gehören darüber hinaus auch interne biologische sowie genetische Rahmenbedingungen (Körpergröße und -form, zum Teil auch der Intellekt und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften des Jugendlichen). Aber man muss sich gleichzeitig die anderen Entwicklungsaufgaben zu diesen internen Bedingungen denken sowie das Alter mit einbeziehen. Darüber hinaus gehören auch bestimmte soziodemographische 51
Merkmale, also die Gruppenzugehörigkeit, mit dazu. Es gibt Entwicklungsverläufe, die bei allen Jugendlichen gleich sind, das ist aber die absolute Ausnahme. Eine universelle Entwicklung des Jugendlichen an sich gibt es nahezu nicht mehr – es ist zu differenzieren nach Geschlechtsunterschieden, Herkunft aus Stadt oder Land, ob er In- oder Ausländer ist. Auch bestimmte ontogenetische Abläufe gehören noch dazu: Die Vorerfahrungen aus der Kindheit, bestimmte benachbarte Entwicklungsaufgaben, die schon bewältigt oder nicht bewältigt wurden, sowie zukünftige Ereignisse, auf die das Individuum hinarbeiten muss. Die Ontogenese zeigt auf, wie der aktuelle Lebensabschnitt in den gesamten biografischen Verlauf einzuordnen ist. Welche Filme wurden schon als Kind gesehen? Welche wird dieser junge Mensch sich in Zukunft anschauen? Was braucht er heute für Filme, damit er die zukünftigen Filme, die er gern sehen will, auch verstehen kann? Es wird deutlich, dass das Handeln stark vom Kontext mitbestimmt wird. Jugendliche sind nicht frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihre Entwicklungsaufgaben bewältigen. Sie sind aber diesem Kontext nicht hilflos ausgeliefert, denn sie können ihn auch verändern, indem sie erkennen, welchen Einschränkungen sie erliegen und sich einen anderen Kontext suchen. Die zentrale Größe bleibt immer das Individuum selbst. Dieser Ansatz unterscheidet sich ganz deutlich von Havighurst, der als zentrale Größe die Gesellschaft genannt hat.
Eine unüberschaubare Fülle an Angeboten Um dieses Konzept von Entwicklung als Handeln im Kontext besser verstehen zu können, eignet sich als Beispiel der Übergang in den Beruf. Die Entscheidung, welcher Beruf als richtig erachtet, wo die Ausbildung gemacht oder welches Studium ergriffen wird und womit letztendlich das Geld verdient wird, treffen die Jugendlichen meist selbst. Um zu dieser Entscheidung zu kommen, ist aktives Handeln erforderlich. Die Jugendlichen müssen sich mit der Vielfalt an möglichen Alternativen auseinandersetzen, sich Informationen über die Arbeitsmarktsituation und unterschiedliche berufliche Perspektiven beschaffen. Dabei können sie sich Rat einholen bei Eltern, Freunden oder der Berufsberatung. Dieses Handeln vollzieht sich aber in einem Kontext – und gerade bei dieser Entwicklungsaufgabe hat sich der Kontext für die Jugendlichen von heute deutlich verändert. Während zu 52
früheren Zeiten, auch noch im 18. Jahrhundert, die Optionen der Lebensplanung der beruflichen Zukunft für Jungen vorausbestimmt und bei Mädchen sozusagen nicht vorhanden war – bei heranwachsenden Söhnen war dies etwa die Übernahme des Hofes oder eine Fabrikarbeit, den heranwachsenden Töchtern bot sich nur die Heirat oder ein Tanten- bzw. Dienstbotendasein – gibt es heute scheinbar eine unüberschaubare Fülle an Angeboten zur beruflichen Bildung.
Ungewisse Berufsaussichten Dies ist die große Chance der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung. Gleichzeitig ist den Jugendlichen aber auch bewusst, dass unter den aktuellen Bedingungen die Zukunftsaussichten für sie ungewiss sind. Stärker als jemals zuvor müssen die Jugendlichen auch Arbeitsmarktchancen, Arbeitslosenquote im gewünschten Beruf und Zukunftssicherheit der gewählten Option berücksichtigen, wobei die aktuelle gesellschaftliche Situation nur schwer eine Vorhersage der Zukunftschancen ermöglicht. Herrscht heute gerade Arbeitskräftemangel im Gesundheitsbereich, im Metallgewerbe oder im Bäcker-, Konditoren- oder Fleischerhandwerk, so bleibt das Risiko, dass genau diese Qualifikationen nicht mehr gefragt sind, wenn die Ausbildung nach ein paar Jahren abgeschlossen ist. Zum aktuellen gesellschaftlichen Kontext, in dem die Jugendlichen diese Entwicklungsaufgabe bewältigen müssen, gehört auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit. In einigen Regionen Deutschlands ist die Jugendarbeitslosigkeit inzwischen so hoch, dass den Jugendlichen Geld angeboten wird, damit sie ihr Bundesland verlassen, um woanders eine Ausbildung zu machen. So wird ihnen schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt verdeutlicht, dass sie in ihrer Heimat eigentlich nicht gebraucht werden. Dass dies nicht nur die Möglichkeiten reduziert, sondern auch die Motivation der Jugendlichen, überhaupt irgendetwas zu tun, schwächt, liegt auf der Hand. Erwachsene, die sich über die mangelnde Motivation bei Jugendlichen ärgern und die Null-Bock-Stimmung beklagen, sollten sich fragen, wie die gesellschaftlichen Bedingungen bei ihnen selbst gewesen sind und ob sie selbst damals auch so viel Angst haben mussten, ob sie mit ihrem erlernten Beruf jemals eine Stelle finden würden.
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Der Sonderfall Neue Bundesländer An dieser Stelle gehen auch die aktuelle Situation und bestimmte soziodemographische Faktoren eine unheilvolle Allianz miteinander ein. So sind Jugendliche in Ostdeutschland einem höheren Risiko ausgesetzt, keinen Ausbildungsplatz und erst recht keine Arbeitsstelle zu finden als ihre Altersgenossen in Westdeutschland. Das ist auch insofern bemerkenswert, weil diese Jugendlichen in einem sozialen Umfeld aufwachsen, in dem es bis vor einigen Jahren kein akutes Risiko gab, in die Arbeitslosigkeit zu rutschen: In der DDR war zumindest auf dem Papier Vollbeschäftigung garantiert. Werden heute Jugendliche im ehemaligen Ostdeutschland von Arbeitslosigkeit bedroht, finden sie daher kaum Unterstützung von der Erwachsenengeneration, da ihre Eltern und Lehrer selbst keine Erfahrung mit diesem Phänomen sammeln konnten und ihm heute hilflos gegenüberstehen. In der DDR war es üblich, dass schon im Klassenbuch vermerkt war, wer für welchen Beruf vorgesehen war. Für bestimmte Berufe, insbesondere Offiziere, war pro Klasse eine Quote derer festgelegt, die sich verpflichten mussten. Bestimmte Jugendliche waren auch aus bestimmten Berufsgruppen ausgeschlossen. Die Heranwachsenden wurden planvoll und systematisch in die vorgesehene Laufbahn eingeführt. Solange die Heranwachsenden bei dieser vorbestimmten Berufsoption blieben, war ein Scheitern (also die Arbeitslosigkeit) nahezu ausgeschlossen. Die Kinder dieser Generation werden heute von Pädagogen betreut, die ihnen die vom Westen geforderte Flexibilität, Eigenverantwortung und Kreativität kaum vermitteln können, da sie selbst unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen aufgewachsen sind.
Das Jonglieren mit den parallelen Entwicklungszielen Der Übergang in den Beruf ist auch durch interne Bedingungen bestimmt: Welche Möglichkeiten sieht der Jugendliche für sich persönlich? Welche körperlichen und intellektuellen Voraussetzungen bringt er mit? Die gesundheitliche und körperliche Verfassung öffnet und verschließt viele Berufswege. Ebenso sieht es bei den intellektuellen Voraussetzungen aus. Wie sind die intellektuellen Fähigkeiten mit den eigenen Wünschen in Einklang zu bringen, wo sind Kompromisse möglich? Auch Persönlichkeitsmerkmale und Temperament sowie die aktuelle Motivationslage gehören dazu. 54
Wer auf äußere Belohnung Wert legt, wird eher Betriebswirtschaft studieren, wer eine innere Befriedigung aus seiner Profession ziehen will, wird sich zum Entwicklungshelfer ausbilden lassen. Zu den internen Rahmenbedingungen gehören auch die anderen Entwicklungsaufgaben, mit denen der Heranwachsende sich gerade auseinander setzt. Während er sich auf den Beruf vorbereitet, baut er gleichzeitig seine sozialen Beziehungen um (Ablösung vom Elternhaus, von der Gleichaltrigengruppe, von einer intimen Partnerschaft). Die Entwicklung einer Identität und einer politischen Orientierung läuft parallel zum Erwerb der schulischen Bildung und des Schulabschlusses sowie zur Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsrolle und dem eigenen Körper. Dies alles muss mit allen anderen Entwicklungszielen in Einklang gebracht werden. Wenn eine junge Frau sich dazu entschließt, Entwicklungshelferin zu werden, muss sie gleichzeitig überlegen, wie sie das mit ihren Plänen für Familie und Partnerschaft in Einklang bringen kann oder auch nicht. Wer Psychologe werden will, muss darüber nachdenken, ob die eigenen Freunde nicht anfangen werden danach zu fragen, ob sich da etwa Probleme angestaut haben. Entscheidet sich ein Jugendlicher zu einem Studium, muss er damit rechnen, sich auf längere Sicht hin erstmal nicht vom Elternhaus unabhängig machen zu können. Ein Mädchen, das Automechanikerin werden will, muss sich intensiv mit ihrer Geschlechtsrolle auseinander setzen etc. Wie bekommt die Jugend von heute das alles hin? Die Vorerfahrungen, die in der Kindheit in ähnlichen Situationen gesammelt wurden, erleichtern das Handeln. Allerdings schränken diese Vorerfahrungen auch ein. Wer sich schon immer mit einem bestimmten Themenfeld beschäftigt hat, wird sich auch in Zukunft beruflich in diese Richtung entwickeln. Wer sich schon immer gern mit anderen Menschen beschäftigt hat, wird einen sozialen Beruf wählen. Und ein Technikbegeisterter wird einen technischen Beruf ergreifen. Hat jemand anderseits schon als Kind gemerkt, dass er bei bestimmten Anforderungen und Entwicklungsaufgaben Schwierigkeiten bekommt, wird er seine beruflichen Weg so wählen und planen, dass er gänzlich darum herumkommt. Bei einer Lese-Rechtschreibschwäche wird ein Heranwachsender erstmal nicht in Erwägung ziehen, Schriftsteller zu werden – obwohl dies durch die Rechtschreibprogramme heute auch schon erleichtert wird. Was für die Vergangenheit gegolten hat, ist auch für die Zukunft gültig. 55
Auch bestimmt die Vorstellung davon, wie sie in zehn Jahren sein und leben möchten, welche Ziele sie bis dahin erreichen wollen, das Handeln der Jugendlichen heute in Bezug auf die Berufsvorbereitung. Am Kontext lässt sich ersehen, wie schwierig und komplex die Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe ist, und alles wird für die Jugendlichen noch schlimmer, wenn man sie auch noch mit der Jugend von damals vergleicht, mit der eigenen, glorifizierten, die unter gänzlich anderen Bedingungen stattgefunden hat.
Der Mythos vom universellen Eintritt ins Erwachsenenalter Wenn wir Jugendliche als die Jugend von heute beschreiben und nachvollziehen wollen, wie so eine Entwicklung verläuft, neigen wir dazu, einen universellen Jugendlichen vor Augen zu haben, der einen universellen Entwicklungsweg geht. Der Gedanke, dass es die Jugend von heute gibt, ist jedoch absurd. Die Jugend von heute besteht aus höchst unterschiedlichen Individuen, die ganz unterschiedliche Entwicklungswege einschlagen. Selbst wenn man versucht, soziodemographische Merkmale heranzuziehen, um differentielle Wege erklär- oder erkennbar zu machen, stößt man schnell an Grenzen. Wir wissen, dass Mädchen und Jungen jeweils anders mit der Entwicklungsaufgabe „Vorbereitung auf den Beruf“ umgehen und unterschiedliche Wege für sich sehen. Wir wissen aber gleichzeitig auch, dass das „Geschlechts-Kriterium“ zur Beschreibung der Vielfalt der Entwicklungswege der Jugendlichen nicht ausreicht. Nicht nur für Jungen und Mädchen stellen sich die Kontexte der Berufsfindung unterschiedlich dar, sondern auch die Faktoren Stadt und Land, Bildungsnähe und -ferne, religiöser Hintergrund, deutscher oder Migrationshintergrund, Scheidung miterlebt oder nicht, Geschwister oder nicht etc. spielen eine entscheidende Rolle für den eigenen Werdegang. Die Aufzählung dieser Merkmale macht deutlich, wie individuell die Anforderungen sind und wie vielfältig die Wege sind, die die Jugendlichen beschreiten. Von „der Jugend von heute“ allgemein zu sprechen, verbietet sich also nicht nur bei der Entwicklungsaufgabe „Berufsvorbereitung“. Und trotzdem gibt es bei Jugendlichen bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgabe, die ähnliche soziodemographische Merkmale vorzuweisen haben, gewisse Übereinstimmungen bei der Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben. Jugendliche aus ärmeren Elternhäusern machen seltener einen Hoch56
schulabschluss. Es gibt bestimmte Berufe, die fast ausschließlich Jungen bzw. Mädchen vorbehalten sind. Der sozioökonomische Status von Familien auf dem Land ist anders als der in der Stadt, was wiederum auch Auswirkung auf die Berufsorientierung hat. Jugendliche vom Land sind stärker darauf angewiesen, mobil zu sein und damit auch den Führerschein zu machen etc.
Vom Lippenbekenntnis der eingeräumten individuellen Möglichkeiten Haben die Jugendlichen wirklich die Möglichkeit, einfach Eintrittskarten zu lösen und erwachsen zu werden, nur durch die chronologische Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben? Das ist nahezu in keinem Lebensbereich abschließend möglich. Die zweite Frage ist, ob die Gesellschaft wirklich will, dass die Jugendlichen erwachsen werden. August Flammer weist darauf hin, dass wir ihnen auch die entsprechenden Möglichkeiten dazu einräumen müssen. Von ihm stammt der Begriff „gesellschaftliche Entwicklungspflicht“. Er versteht darunter die Kontrolle, die die Gesellschaft über die Jugendlichen ausübt. Seiner Meinung nach überprüft die Gesellschaft sehr genau, ob Entwicklungsaufgaben von den Jugendlichen zur richtigen Zeit bewältigt werden. Dahinter steckt die Vorstellung, dass durch diese Entwicklungsaufgaben von ihnen die notwendigen Erwachsenenfähigkeiten erworben werden, damit die Gesellschaft sie als erwachsen anerkennt.
Kompetenzerwerb und neue Berechtigungen – die gesellschaftliche Entwicklungspflicht Flammer stellt verschiedene Kompetenzen vor, die durch die Entwicklungsaufgaben von den Jugendlichen erworben werden können: F-Kompetenzen (Fähigkeiten) und B-Kompetenzen (Berechtigungen). Die B-Kompetenzen bekommen sie als Belohung zugeschrieben, wenn sie entsprechende FKompetenzen erworben haben. Wer also die Fahrschule besucht und den Führerschein gemacht hat, darf hinterher Auto fahren. Wer abstraktes Denkvermögen entwickelt und sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander gesetzt, also F-Kompetenzen erworben hat, darf wählen gehen 57
und sich wählen lassen, was wiederum B-Kompetenzen sind. Auch im Konzept der Teilkompetenzen wird dies sichtbar – die Heranwachsenden bekommen schrittweise neue Berechtigungen zugeteilt. Gerade am Beispiel „Beruf und Berufsvorbereitung“ wird aber auch deutlich, dass die Jugendlichen diese F-Kompetenzen zwar erwerben, aber die BKompetenzen, also die Berechtigungen, trotzdem ausbleiben, d. h. sie bereiten sich auf den Beruf vor, machen eine Ausbildung und bekommen dann doch nicht die Möglichkeit, ihre Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Deswegen möchte ich das Konzept vom Flammer ergänzen um die M-Kompetenz (Möglichkeit). Zwar erwerben die Jugendlichen die entsprechenden Fähigkeiten, auch verleiht ihnen die Gesellschaft der Erwachsenen die Berechtigung, den gelernten Beruf auszuüben, lässt aber nach wie vor die Möglichkeit offen, diese Kompetenz auch nutzen zu können. Wenn man also davon ausgeht, dass das Konzept der Entwicklungsaufgaben den Übergang in das Erwachsenenalter beschreibt, würde ich sagen: Es sind nicht die Berechtigungen, anhand derer dieser Übergang beschrieben werden kann, sondern vielmehr die eingeräumten Möglichkeiten, diese Berechtigungen auch in der Praxis einzusetzen. Diese These kann man für jede Entwicklungsaufgabe einzeln aufschlüsseln. Nicht jede Wahlberechtigung, sondern die tatsächliche wahrgenommene oder eingeräumte Möglichkeit, politisch mitzubestimmen, bedeutet den Eintritt ins Erwachsenenalter, denn sie ist eine reale gesellschaftliche Aufgabe (und nicht nur eine Scheinberechtigung wie z. B. eine Schülerkonferenz).
Scheindemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten Wenn man Lehrer erzählen lässt, wie sie ihren Schülern dabei helfen, erwachsen zu werden, sagen sie immer: „Wir lassen sie Verantwortung übernehmen.“ Und wenn man sie fragt, was sie am meisten bei ihnen vermissen und kritisieren, ist es genau dieser Punkt: „Sie sind nicht ausreichend verantwortungsbewusst.“ Aber was ist das für eine Art von Verantwortung, die sie übernehmen können? Und inwieweit wird Jugendlichen überhaupt zugetraut, selbstverantwortlich entscheiden zu können? Wollen wir wirklich, dass sie erwachsen werden, oder ist dies nur ein Lippenbekenntnis? Heranwachsende lange jugendlich zu halten, ermöglicht eben auch, sie lange aus der Verantwortung herauszuhalten, sie nicht mitreden und alles in Frage 58
stellen zu lassen. Andererseits geben wir ihnen so keine Möglichkeit, Verantwortungsübernahme zu üben, und enthalten ihnen die Erfahrung vor, wie es ist, Verantwortung zu tragen. Das ist längerfristig gesehen ein Teufelskreis. Jahrzehntelang wurde der kreative Jugendliche herangezogen, jetzt wird nach dem funktionierenden Jugendlichen gesucht – was die Gefahr einer Rückkehr zum Obrigkeitsdenken birgt. „Kuschen statt kuscheln“, so die Sendung Monitor, sei der neue Trend. Erinnern wir nur an Bernhard Bueb, der zu den alten Erziehungswerten Pflicht und Gehorsam zurückkehren will, oder die Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, die sich in ihrem Buch „Das Eva-Prinzip“, in dem sie die „Lebenslüge Selbstverwirklichung“ entlarven und den „geleugneten Unterschied“ zwischen Adam und Eva aufdecken will – ein konservativer Abgesang auf die Errungenschaften des Feminismus. Doch die Jugendlichen selbst haben ihre eigenen Tricks und Kniffe entwickelt, mit unklarem Status und veränderten gesellschaftlichen Bedingungen umzugehen.
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II. „Typisch jugendliches Verhalten ist ein Ausdruck des unklaren Erwachsenenstatus“
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Die Reifeprüfung: Merkmale des Erwachsenseins „Die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering. Überhaupt, die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf, in Wort und Tat.“ (Platon, 427-347 v.Chr.)
Hinter dem Begriff der Reifemerkmale von Erwachsenen verbirgt sich ein Konzept von Frederic Hudson14, einem amerikanischen Entwicklungspsychologen. Für ihn drücken nicht so sehr die Entwicklungsaufgaben, sondern bestimmte Persönlichkeitsmerkmale das Erwachsensein aus – ein Ansatz, der entfernt an die Marburger Richtlinien erinnert. Hudson sagt, erwachsen zu sein, heißt Selbstvertrauen zu haben, selbstbewusst zu sein, fähig zum Gefühlsausdruck zu sein, Dankbarkeit zeigen sowie interessiert und objektiv zuhören zu können etc. „Werdet endlich erwachsen!“ heißt bei ihm demnach: „Bewältigt die Entwicklungsaufgabe, erwerbt damit Erwachsenenfähigkeiten und eine Erwachsenenpersönlichkeit.“ Diesem Anspruch steht die jugendliche Unsicherheit gegenüber, die sich in der sie verwirrenden Frage zusammenfassen lässt: „Wann bin ich denn erwachsen?“ Die Gesellschaft gibt kein Zeichen, wann der Prozess abgeschlossen ist. Ein Leben lang werden uns die Entwicklungsaufgaben begleiten. Die Persönlichkeitsstruktur, die die Gesellschaft von uns und den Jugendlichen einfordert, besitzen selbst wir Erwachsenen nicht. Sie setzt ein hohes intellektuelles Leistungsvermögen voraus. Selbst den Jugendlichen, die nach besten Wissen und Gewissen hart daran arbeiten, sich der gesellschaftlichen Entwicklungspflicht nicht zu verweigern und versuchen, diese ihren Möglichkeiten und ihrem Vermögen nach, jeweils in ihrem Kontext, zu erfüllen, und die selbst in der Persönlichkeit schon sehr reif und erwachsen wirken, wird dies nicht attestiert. Die Gesellschaft bestraft zwar, wenn jemand sich dem Übergang in das Erwachsenenalter verweigert, aber sie belohnt nicht, wenn er vollzogen wird. So ist es nicht üblich zu feiern, dass jemand die Ablösung vom Elternhaus oder die berufliche Ausbildung geschafft hat. In den Kulturen, wo Initiationsriten stattfinden, bekommen die Jugendlichen die Berechtigungen feierlich verliehen. Es sind nach außen hin sichtbare Zeichen des Erwachsenseins.
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Solche Riten gab es früher bei uns auch. So hatte z. B. der Geselle früher ein Käppi auf, während der Meister hingegen einen Zylinder trug – die gesellschaftliche Position ließ sich an der Kleidung ablesen. Da die Jugendlichen heutzutage aufgrund ihrer biologischen Entwicklung und ihrer Kleidung schon früh erwachsen aussehen, fragen sie sich, wie sie auf andere Weise zeigen können, dass sie wirklich schon erwachsen sind, zumindest schon in Teilgebieten, denn wir alle werden ja nur schrittweise erwachsen. Sich nach außen hin als erwachsen darstellen zu können, ist aber wichtig für die Jugendlichen, weil nur dies ihnen die Möglichkeit verschafft, die Rechte der Erwachsenen einzufordern. Schließlich ist es doch ein angenehmes Gefühl, an der Kinokasse nicht mehr nach dem Ausweis gefragt zu werden, wenn man sich einen Film anschauen will, dessen Zutritt erst ab 16 Jahren freigegeben ist.
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Symbole des Sich-Erwachsen-Zeigens „...auf ihrem Höhepunkt kennt die Jugend nur die Verschwendung, ist leidenschaftlich dem Tanze ergeben und bedarf somit wirklich eines Zügels. Wer nicht dieses Alter nachdrücklich unter seiner Aufsicht hält, gibt unmerklich der Torheit die beste Gelegenheit zu bösen Streichen...«, zu denen gehören »Unmäßigkeit im Essen, sich vergreifen am Geld des Vaters, Würfelspiel, Schmausereien, Saufgelage, Liebeshändel mit jungen Mädchen, Schändung verheirateter Frauen.« Als Erziehungsmaßnahmen empfehlen sich »Hoffnung auf Ehre und Furcht vor Strafe.. .. Diejenigen aber, die ... gegen alle tadelnden Vorstellungen taub sind, muss man durch das Joch der Ehe zu fesseln versuchen.“ (Plutarch, 45-125)
Wir haben bisher zwei Verhaltensweisen bei Jugendlichen beobachtet, wie sie mit dem Dilemma des unklaren Erwachsenenstatus umgehen. Die einen erfüllen ihre Pflicht, die anderen wollen eben nicht erwachsen werden, sie verweigern sich der Pflicht und müssen mit der Kritik leben, dass die Gesellschaft sich dann eben über sie lustig macht wie in den inzwischen unzähligen Talkshows im Fernsehen. Es gibt es noch ein drittes Verhalten, das sehr trickreich ist. Es nennt sich symbolische Selbstergänzung. Die Jugendlichen sollen ja in einen Status wechseln, der nach außen hin nicht beweisbar ist und der möglicherweise heute gar nicht mehr existiert. Sie können also, selbst wenn sie ihn erreicht haben sollten, diesen Status nicht beweisen. Menschen, denen dies unmöglich gemacht wird, greifen auf das bloße Symbol des gewünschten Status zurück. Sie tun so, als ob (sie ihn erreicht hätten), versuchen also nach außen hin, diesen Eindruck zu erwecken und hoffen, dass die anderen ihnen das glauben. Mit viel Mühe schafft es vielleicht tatsächlich jeder, ein guter Sportler, eine hervorragende Ehefrau, ein erfolgreicher Geschäftsmann zu sein. Wenn ich jedoch ausgerechnet ein Weltklassesportler werden will, aber schon 31 Jahre alt bin und noch nie trainiert habe, tickt meine biologische Uhr, die körperlichen Voraussetzungen bringe ich nicht mehr mit. Daher muss ich doppelt so viel üben. Der Ausgang ist ungewiss. Vielleicht ist keine Zeit zum Üben da, weil ich zum Gelderwerb viel arbeiten muss. Zumindest kann ich anfangen, so zu tun, als ob ich ein guter Sportler wäre. Ich gehe also zu Sportveranstaltungen, rede klug daher, engagiere mich als Preisrichter, erteile kluge Ratschläge, fälsche Urkunden, ersteigere Medaillen bei ebay. Wenn ich das lange genug gemacht habe, glau65
ben mir die Leute irgendwann, dass ich ein hervorragender Sportler bin – eine Technik, die gut funktioniert. Irgendwann glaube ich selbst an meinen eigenen Erfolg und kann damit auch vor den Augen der anderen besser bestehen.
Sichtbare und eindeutige Symbole Gute Symbole für einen gewünschten Status müssen zwei Merkmale haben: Sie müssen eindeutig dem Status entsprechen. Je eindeutiger man erkennt, dass ein Symbol dem angestrebten Status entspricht, desto besser (was dem Prinzip der Exklusivität entspricht). Und sie müssen auch nach außen hin gut sichtbar sein. Ein solches Symbol entspräche bei dem Spitzensportler z. B. einer Urkunde, die seine Spitzenleistung bescheinigt: Kein anderer kann ihr Besitzer sein. Oder wer etwa den Drang haben sollte, sich als weltberühmter Musiker auszugeben, besucht Veranstaltungen, zieht wallende Gewänder an, erzählt Geschichten und Anekdoten aus der Musikwelt und kann zwei Stücke auf dem Klavier aus dem Handgelenk klimpern. Dabei geht es nicht ums reine Betrügen. Das eigene Können genügt dem Selbstausdruck noch nicht. Das Bemühen, einen solchen Mangel auszugleichen, kennzeichnet menschliches Verhalten tagtäglich. Alle Menschen sind auf symbolische Selbstergänzung angewiesen, um einen bestimmten Eindruck von sich für sich selbst und für die Umwelt hervorzurufen. Kleidung, Schmuck, Redeweisen, Hobbys, Stil und Partnerwahl, all dies ist mit symbolischen Wirkungen verbunden, die uns die Selbstdefinition in einem gewünschten Status erleichtern. Prekär erscheint jedoch die Situation von Jugendlichen, die nicht oder noch nicht in der Lage sind, die feinsinnigen und unklar definierten neuen Reifemerkmale von Erwachsenen zu erfüllen. Sie sind auf die Symbole des Erwachsenseins angewiesen, da ihnen ein tatsächliches, echtes Erwachsensein kaum möglich ist. Viele Jugendliche schmücken sich mit solchen Symbolen. Was sind das für Symbole, auf die sie typischerweise zurückgreifen? Wenn Sie Jugendliche in ihrem Alltag beobachten, werden Sie viele Verhaltensweisen finden, die auch als Symbole des Erwachsenenalters verstanden werden können. Manche dieser Symbole sind sehr subtil. Das können durchaus schon die Tageszeitung und eine gewählte Sprache sein. Andere gewählte Symbole sind da weit eindeutiger bei den Erwachsenen abgeschaut, imitiert und in die eigene 66
Selbstdarstellung integriert: Die Teilnahme am Warenkonsum, das Trinken von Alkohol, das Rauchen von Zigaretten, das demonstrative Sich-Zeigen mit Intimpartnerinnen und -partnern, das Aufstellen und Brechen von Regeln, das Beharren auf eigenen Grundsätzen und Entscheidungen – all dies sind typische Erwachsenenverhaltensweisen, die die Jugendlichen nicht erfunden haben, sondern zum ersten Mal für sich auf ihre Außenwirkung hin ausprobieren. Nicht alle dieser Symbole sind gleichermaßen gut zur Selbstpräsentation des gewünschten Erwachsenenstatus geeignet: So weisen zum Beispiel Zigaretten den Nachteil auf, dass sie zwar gut sichtbar, aber nicht besonders exklusiv sind – auch Kinder könnten rauchen. Die Einführung der EC-Kartenbezahlung an Zigarettenautomaten wird diese Exklusivität und damit auch die Symbolwirkung noch verstärken. Sie könnte sogar zu verstärktem Zigarettenkonsum führen. Beim Alkohol verhält es sich genauso. Da den Jugendlichen das Bier zu bitter ist im Geschmack, hat die Industrie für sie die die alkoholischen Mischgetränke Alkopops erfunden und versieht Alkohol generell mit dem Attribut „Erwachsensein“ – wir kennen alle die Bilder von den „Männern auf dem Boot in Freiheit“. Aber auch Bier ist nicht so exklusiv. Es gibt andere Symbole. Sie sind dem Erwachsenensein sogar exklusiv zugeordnet, erregen dafür aber keine große Aufmerksamkeit: Die Wahlberechtigung z. B. erwirbt man erst ab dem 18. Lebensjahr – ein Erwachsenenstatus, den man nicht sieht. Es gibt hingegen andere, weithin sichtbare, aber den eigenen Lebenslauf möglicherweise gefährdende Symbole. So sind z. B. frühe Schwangerschaften häufig bei jungen Mädchen zu beobachten, die einen niedrigen sozialen Status besitzen und Schwierigkeiten haben, die diffizilen Reifemerkmale des Erwachsenen nachzuweisen. Durch ihren Schwangerenbauch erlangen sie Aufmerksamkeit und Geltung, die ihnen zuvor versagt geblieben war. Auch das schon beschriebene jugendliche Gesetze-Brechen lässt sich diesen Symbolen zuordnen. Dass man nach dem 18. Geburtstag den Status wechselt und damit auch voll strafmündig wird, ist äußerlich nicht erkennbar. Aber wenn ein 18-Jähriger die Gesetze bricht, wird er als Erwachsener dafür zur Verantwortung herangezogen.
Der Führerschein, die Eintrittskarte in die Erwachsenenwelt Der Führerschein ist immer noch das zentrale Symbol des Erwachsenseins: Sein Besitz erfüllt Merkmale eines jeden guten Symbols. Er ist exklusiv mit 67
dem Alter verbunden – wenn ich hinter dem Steuer sitze und eigenhändig ein Auto steuere, kann jeder sehen, dass ich der Erwachsenengemeinschaft angehöre. Ich kann diese Sichtbarkeit noch verstärken, indem ich ein tiefer gelegtes Auto fahre, die Scheiben offen lasse und laute Musik ertönen lasse – dies ist jugendliches Imponiergehabe, eine reine Statusdemonstration. Und es werden gezielt die Verkehrsregeln verletzt, die mit sichtbarem erwachsenen Verhalten assoziiert werden. Hier geht es nicht um kleine Parksünden, sondern darum, mit erhöhter Geschwindigkeit zu dicht aufzufahren und riskante Überholmanöver zu wagen. Mit diesem Fahrverhalten zeigen Jugendliche, dass diese Regeln für sie zwar theoretisch gelten, weil sie erwachsen sind, das aber in der Praxis keiner bemerkt, solange sie sich an die Regeln halten – sie werden nicht für ihre Einhaltung belohnt, sondern nur für Nichteinhaltung bestraft, indem die Gesellschaft sich über sie mockiert. Der Regelverstoß führt zur Wahrnehmung, dass das Regelwerk für die Person gilt – Kinder selbst könnten keine Autoverkehrsregeln brechen, da sie an diesem Reglement selbst noch nicht teilhaben. Sichtbar erwachsen ist man als Heranwachsender erst durch die spielerisch-lässige Handhabung der Regeln – übrigens ein Verhalten, dass uns von allen Erwachsenen im Straßenverkehr allzu vertraut erscheint. Das Vorbild für die Symbole des Erwachsenenalters sind wir selbst.
Alternativen fehlen Symbole sind eine Möglichkeit, mit dem Dilemma des unklaren Erwachsenenstatus fertig zu werden – die Jugendlichen wenden über sie einen Trick an: Sie zeigen sich mit ihnen scheinbar erwachsen, nehmen sich selbst mit ihnen als erwachsener wahr und hoffen, dass wir sie ebenso wahrnehmen. Problematisch ist nur, dass viele Symbole, die gewählt werden, gleichzeitig auch ein Risikoverhalten darstellen wie Tattoos, Piercings, Mutproben. Manche stürzen sich in eine frühe Elternschaft, andere ziehen sich lediglich einen Anzug an und klemmen sich eine Aktentasche unter den Arm. Wir Erwachsene tun dies als „typisch jugendlich“ ab und versuchen, dieses Verhalten zu unterdrücken – gegen das Rauchen und Alkoholmissbrauch geht die Gesellschaft z. B. massiv vor. Auf der anderen müssen wir uns fragen, was wir den Jugendlichen für Alternativen anbieten – denn gibt einfach keine anderen Symbole, um Erwachsensein zu demonstrieren. Stattdessen amüsie68
ren wir uns eher darüber, wenn sie sich so erwachsen geben und es noch gar nicht sind. Wenn z. B. ein Mädchen nach Hause kommt und freudig erzählt, sie habe den Mann fürs Leben gefunden, würden wir sie in ihrem Enthusiasmus beschwichtigen. Auch über die Jugendlichen, die sich politisch orientiert haben, wird oft gelächelt, wenn sie Wahlplakate an die Wände kleben – es kommt uns aufgesetzt vor. Unsere gesellschaftliche Verantwortung den Jugendlichen gegenüber beginnt genau hier. Jugendlichen zu signalisieren, dass sie erwachsen werden können ohne auf potenziell gefährliche Symbole zurückgreifen zu müssen, ist eine schwierige, gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Bestimmte Risikoverhaltensweisen zu verbieten oder lächerlich zu machen, verschiebt das Problem höchstens, ohne es zu beseitigen. Jugendliche benötigen auch dann unsere Unterstützung, wenn sie risikoreiche Symbole wählen. Ihnen Vorwürfe zu machen, reicht nicht aus. Sich lustig zu machen, macht sie auch nicht erwachsener. Besser wäre es, ihnen wirkliche Verantwortung zuzutrauen und ihnen auch die Möglichkeiten dazu zu geben. Wir stehen vor einem gesamtgesellschaftlichen Problem, und wir Erwachsenen sind in der Verantwortung. Symbolische Ergänzung ist als ein Versuch zu sehen, das Problem zu lösen, in einer Gesellschaft erwachsen zu werden, der das Erwachsensein abhanden gekommen ist.
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Die Suche nach der eigenen Identität „Jugend ist wie ein Most. Der lässt sich nicht halten. Er muss vergären und überlaufen.“ (Martin Luther, 1483-1546)
Die Jugendlichen werden in eine Gesellschaft hineingeboren, in der die Erwachsenen nicht erwachsen sein wollen. Wir leben stattdessen in einer juvenilen, teilweise infantilen Gesellschaft, in der das Erwachsensein keine gesellschaftliche Norm mehr darstellt. Sogar die Eltern, die Vorbild sein sollten, wollen jugendlicher sein als die Jugendlichen selbst. Wie also sollten Letztere den Status, den sie sich wünschen, nach außen hin beweisen, wenn es diesen Status sozusagen gar nicht mehr gibt? Wie gehen die Jugendlichen mit dem Widerspruch um, die gesellschaftliche Forderung „Werde endlich erwachsen!“ zu hören und gleichzeitig keine Antwort auf die Fragen „Wann habe ich es denn geschafft? Wann bin ich denn erwachsen?“ zu erhalten? Ein Jugendlicher mit entsprechenden intellektuellen Fähigkeiten, der in einem guten Entwicklungskontext aufwächst, auch seine anderen Entwicklungsaufgaben gut bewältigt und nicht zu den gefährdeten Randgruppen gehört, zudem genetisch gut ausgestattet ist, erfüllt seine Entwicklungspflicht, wird erwachsen, hat die Ausgangsmöglichkeiten, sich eine reife Erwachsenenpersönlichkeit zuzulegen. Er beweist sein Erwachsensein durch seine Haltung und sein tägliches Tun. Um das zu können, muss man gesellschaftlich gut gestellt sein. In Bezug auf die drei Ursachen der Entwicklungsaufgaben bedeutet dies: Hier gibt es günstige biologische Voraussetzungen und Umweltbedingungen sowie eine gute Motivationsstruktur – er ist wahrscheinlich ehrgeizig und engagiert und kümmert sich auch nicht um die gesellschaftliche Anerkennung. Er ist einfach erwachsen und antwortet auf die Forderung: „Werde endlich erwachsen!“ mit der Erwiderung: „Okay, mach’ ich.“ Ein großer Teil der Jugendlichen aber bleibt auf der Strecke und bekommt nicht die Möglichkeit, alle Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Es gibt viele junge Menschen, die keinen Beruf finden, Schwierigkeiten haben, eine Familie zu gründen, nicht den unterstützenden Freundeskreis haben, nicht sozial integriert sind, nicht gelernt haben, mit der Konsumwelt umzugehen, 70
wirtschaftlich nicht unabhängig sind, den Schulabschluss nicht geschafft haben, keine politische Orientierung aufbauen konnten. Dies zeigt sich häufig bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund: Sie haben per se in unserer Gesellschaft Schwierigkeiten, all diese Entwicklungsaufgaben zu erfüllen und gelten zu Recht als Problemfall. Hier versagt die jugendliche Gesellschaft. Zudem existiert eine große Gruppe von Jugendlichen, die gar nicht erwachsen werden will – sind ihnen die Möglichkeiten versperrt, verweigern sie sich einfach. Viele Jugendliche berichten daher, erwachsen zu sein, heißt, alt zu sein. Da es ein Risiko ist, auf eigenen Füßen zu stehen, bleiben sie sicherheitshalber lieber lange jugendlich. Und so kommt es, dass viele Eltern beklagen, ihre Kinder würden keine Ausbildung suchen, nicht im Haushalt helfen, sich nicht für einen guten Schulabschluss interessieren und lieber die Nächte durchmachen. Viele lieben das Hotel Mama und bleiben lange zu Hause wohnen. Die gesellschaftliche Forderung bleibt aber bestehen – und zwar von Seiten der Jugendlichen selbst.
Der Anfängerbonus in der Erwachsenenwelt Die Gesellschaft räumt den Jugendlichen durchaus einen Anfängerbonus ein. Sie haben Novizenstatus, dürfen Fehler machen, eine Ausbildung abbrechen, müssen nicht bei der ersten Liebe bleiben. Jedem ist klar, dass sie eben noch nicht erwachsen sind, noch viele kindliche Züge in sich tragen und eine enge, noch kindhafte Bindung an die Eltern haben – was für viele Jugendliche wiederum eher eine Entlastung bedeutet. Alle um sie herum wissen, dass sie die Fähigkeit, sich wie ein Erwachsener zu verhalten, noch erwerben und üben müssen. In der individuellen Lebensphase dürfen die Jugendlichen sich also als Erwachsene ausprobieren, gleichzeitig wird aber auch damit gerechnet, dass ihnen noch nicht alles gelingt, ihnen noch Fehler passieren und kindliche Verhaltensweisen durchscheinen. Aber wir achten trotzdem darauf, dass die Stufen nach oben führen, womit wir wieder bei der gesellschaftlichen Entwicklungspflicht sind. Und die erste Stufe kann schon in der Familie genommen werden. Wenn ich die Jugendlichen in meinen Vorlesungen frage, wann sich das erste Mal bei ihnen das Gefühl eingestellt hat, erwachsen zu sein, wie das bei ihnen war, wie sie es bemerkt haben, dann bekomme ich häufig zu hören: „Als ich für meine Geschwister 71
Verantwortung übernommen habe.“ Das ist die erste Stufe der Entwicklungspflicht, und sie kann in der Familie erklommen werden. Wie erwachsen sind wir selbst? Wir müssen uns das immer wieder fragen und den Jugendlichen ein Vorbild sein. Wir Erwachsenen haben die Rechte und Möglichkeiten – wir können uns für das Erwachsensein entscheiden. Wir können selbst bestimmen, auf welcher Stufe der Leiter wir stehen: Ob wir die Leiter ganz hinabsteigen und abends Party machen, bevor wir uns am nächsten Tag in der Firma zu einem Meeting treffen, um Projekte zu entscheiden, wobei wir dann die Stufen der Leiter bis ganz nach oben wieder hochsteigen. Besonders deutlich wird dies, wenn man eigene Kinder hat, weil man als Erziehender in ihren Augen ganz oben steht. Genauso verhält es sich, wenn man anfängt, eigenes Wissen und Erfahrung an die nächste Generation weiterzugeben. So gibt es durchaus nicht wenige Erwachsene, die eine Mentorenfunktion übernehmen. Zahlreiche Jugendliche können einen Erwachsenen benennen, der ihnen viel beigebracht und sie unterstützt hat. Das ist eine Vorbildfunktion. Und „Werdet endlich erwachsen!“ heißt ja auch nicht, „Benehmt euch immer und überall vernünftig!“, sondern „Baut euch weiterhin Stufen nach oben!“
Kein Richtig oder Falsch „Ich weiß nicht genau, was ich will, das Leben gibt so viel her, wo fang ich an? Das Rad in mir steht niemals still, ich treibe durchs Häusermeer. Ich such mich, um weiterzukommen. Ich such mich und lauf mir davon. Wer bin ich wirklich? Und wer bist du? Mein Herz kennt den Weg nicht, es kommt nicht zur Ruh. Wenn ich mich zweifelnd verrenn, mich selber nicht kenn, sag wofür liebst du mich dann? Wer bin ich wirklich für dich?“ (Annette Louisan, 2006)
Das Typische für die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters ist, dass es kein eindeutiges Richtig oder Falsch gibt. Die Jugendlichen, nicht die Gesellschaft, stellen sich die Frage, welche in den verschiedenen Lebensbereichen jeweils für sie wohl die richtige Lösung sein mag. Das bedeutet, dass sie selbst die Möglichkeiten prüfen und eine davon als eine für sie passende erkennen müssen. Sie sind diffus und suchen nach ihrer Identität. Annett 72
Louisan beschreibt in ihrem Song „Wer bin ich wirklich?“ diesen Vorgang sehr eindrucksvoll. Jugendliche selbst beurteilen das eigene Erleben in dieser Zeit ähnlich wie sie: Ich muss mich erst selbst finden
Wir Jugendliche haben es schon schwer! Einerseits sehen wir die Erwachsenenwelt vor uns, die uns so fremd erscheint. Die Erwachsenen haben ihren Weg gemacht, sie verdienen Geld, stehen auf eigenen Füßen, wissen, wie man eine Steuererklärung abgibt – sagen sie jedenfalls. Ich betrachte das alles noch wie durch ein Fenster, und es sind noch so viele Meilen, so viele irreführende Wege zwischen dieser Welt und mir. Ich muss mich selbst erst finden, um den richtigen Weg gehen zu können … Der Weg zum Erwachsenensein zeichnet sich aus durch Krisen, Gefühlsschwankungen, zu Bruch gegangene Beziehungen und die Angst, einmal auf eigenen Beinen stehen zu müssen. Tanja G., 10. Klasse (aus: Tagesspiegel, 1.2.2001, S. 12)
Dieser Liedtext – und das Selbstportrait der Schülerin Tanja G. – beschreiben zwei wichtige Aspekte von Identität: Zum einen den Blick auf sich selbst (Ich schau auf mich) und zum anderen den Blick der anderen auf mich (Wie siehst du mich?). Es ist schwer, Identität einheitlich zu definieren. Dennoch lassen sich diese beiden Aspekte in allen Definitionen von Identität wiederfinden. Identität ist als Konzept nicht sehr klar definierbar. Sie soll etwas darüber aussagen, was den Menschen durch seine soziale Umgebung und durch das Individuum selbst so „einmalig und unverwechselbar“ erscheinen lässt. Um zu verstehen, was die eigene Identität ausmacht, ist es unabdingbar, auf die eigene Lebensgeschichte zurückzuschauen. Wir haben in der Vergangenheit in verschiedenen Orten und partnerschaftlichen Konstellationen gelebt, verschiedene Freunde gehabt, unterschiedliche Berufe ergriffen, und sogar unsere Weltanschauungen haben sich möglicherweise verändert. Sicher würden wir die zentrale Lebensfrage heute anders beantworten als früher. Und trotzdem erkennen wir uns wieder. Wir wissen, dass wir das gewesen sind und warum wir damals so gedacht und gelebt haben, es ist für uns typisch. Wir wissen auch, dass die anderen von damals uns wieder erkennen. Identität ist also das, was über die Zeit kontinuierlich aufscheint, zu allen Momenten gleich ist, was dafür sorgt, dass wir uns immer wiedererkennen können. Wir wissen, was uns die ganze Zeit über begleitet hat. Identität ist unsere Antwort auf die Frage „Wer bin ich wirklich?“. Diese biografische Kontinuität unserer selbst gibt uns Sicherheit und Selbstvertrauen auch in schwierigen aktuellen Zeiten und Krisensituationen. 73
„Ich“ ist immer etwas anderes Schon Kleinkinder merken, dass sie von der Umwelt abgelöste Wesen sind, womit bereits die Identitätsfindung beginnt. Sie entwickeln eine Vorstellung vom eigenen Ich (Ich-Konzept), sie wissen, und schon im Alter von 18 Monaten wissen sie, dass sie eine einzelne Person sind. Kleine Kinder zählen meist die Sachen auf, die sie besitzen, wenn man sie fragt, wer sie sind und was typisch für sie ist. Sie sagen z. B. „Ich habe eine Carrera-Bahn“, oder „Ich spiele mit der Playstation“. Im Schulalter kommen die Kinder dann auf ihre Fähigkeiten zu sprechen („Ich kann schnell laufen“, „Ich bin gut in Mathe“), und es wird zum ersten Mal auch ein sozialer Vergleich angestellt („Ich bin der beste Fußballspieler der Klasse“). Richtig intensives Nachdenken über die eigene Identität findet aber erst ab dem Jugendalter statt. Dieses intensivere Nachdenken geht einher mit der Möglichkeit, abstrakt in Möglichkeitsräumen denken zu können. Die Jugendlichen nehmen ihre Identität zum ersten Mal auch vergangenheits- und zukunftsorientiert wahr. Sie wägen ab, wie sie früher gewesen sind und wie sie zukünftig sein wollen, beschreiben auf eine solche Frage also nicht nur den gegenwärtigen Zustand. Sie reflektieren auch, wie sie sein könnten, wenn die Bedingungen anders wären: „Wenn ich jetzt nicht auf dem Land leben würde, sondern in der Stadt, könnte ich vielleicht doch studieren.“ Die Jugendlichen überlegen auch, was sie tun müssten, um eine bestimmte Identität zu bekommen: „Will ich wirklich Arzt werden, muss ich in Biologie besser werden“ (innere Bedingungen). Sie nehmen auch Widersprüche an sich wahr und integrieren diese – das ist beim Kind noch anders. Jugendliche erkennen, dass sie sich in unterschiedlichen Lebensbereichen auch anders verhalten (nach dem Motto: toller Freund, furchtbarer Sohn), und dass sie auch in sich Persönlichkeitsmerkmale haben, die sich widersprechen, auch innerhalb eines Lebensbereiches. „Obwohl mir der Schulabschluss wichtig ist, mache ich nicht genug dafür“, wäre eine typische Überlegung. Es gibt sie nicht, die einzig wahre Identität, und Jugendliche erkennen das sehr genau. Jeder von uns trägt viele Identitäten in sich, die sich den zentralen Lebensbereichen des Menschen zuordnen lassen. Diese Lebensbereiche sind unter anderem Familie, Politik, Beruf, Religion/Weltanschauung, Geschlechtsrolle, Freizeit, Freundschaften.
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Identität – die Verortung in den Möglichkeiten Da sich die Lebensbereiche, in denen die Jugendlichen ihre Identität suchen, den Entwicklungsaufgaben zuordnen lassen, die sie zu bewältigen haben, trifft sich hier das Konzept der Entwicklungsaufgaben mit dem der Identität. Anders ausgedrückt: Die Entwicklungsaufgaben des Jugendalters zu meistern, heißt nichts anderes, als in zahlreichen Lebensbereichen nach der eigenen Identität zu suchen. Erikson hat gesagt, das Finden der eigenen Identität sei die entscheidende Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung des Erwachsenenalters. Nur wer sich selbst gefunden hat und weiß, wer er ist, kann dann auch intime Partnerschaften eingehen, soziale Beziehungen pflegen, für die nächste Generation sorgen (Generativität) und dann im höheren Lebensalter Ich-Integrität erwerben. Die genannten Lebensbereiche werden in Interviews zur Identität immer wieder mit erfragt. Es gibt aber auch Erweiterungen wie z. B. sexuelle Identität, kulturelle Identität, Inländer/Ausländer etc. Insofern ist die Vorstellung von einer einzigen Identität hinfällig. Stattdessen müssen die verschiedenen Identitäten in den einzelnen Lebensbereichen erst gefunden werden. Das ist der erste Schritt. Danach müssen diese Identitäten miteinander abgestimmt werden – sie passen manchmal nicht zusammen. Es muss vor meinen eigenen Augen, aber auch denen meiner Mitmenschen, ein kohärentes Gesamtbild von mir entstehen. Konflikte zwischen einzelnen Identitäten sind auch bei Erwachsenen häufig. Das bekannteste Beispiel für einen Identitätskonflikt ist die Doppelbelastung von Familie und Berufsleben bei berufstätigen Müttern. Für die Jugendlichen ist das konfliktreichste Thema die Auseinandersetzung zwischen ihrer Identität in der Familie und der unter Freunden. Aus aktueller gesellschaftlicher Sicht ist insbesondere die politische und berufliche Identität schwer zu finden. Die Suche nach der religiösen Identität schien in der letzten Zeit unter den Jugendlichen nachgelassen zu haben. Aber auch hier ist mit verstärkter Selbsterforschung und -verpflichtung zu rechnen, wenn die gesellschaftliche Unsicherheit weiter zunimmt.
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Selbsterforschung und -verpflichtung: Typische Formen der Identität In jedem der sieben Lebensbereiche kann es wiederum vier Formen von Identität (Identitätsstadien) geben, da jeder Mensch bei seiner Identitätsfindung zwei unterschiedliche Prozesse oder Phasen durchlaufen muss, aus denen sich je nach Bewältigung eine andere Identitätsform ergibt. Um die Frage „Wer bin ich?“ in einem Lebensbereich beantworten zu können, z. B. in Bezug auf die Geschlechtsrolle, geraten die Jugendlichen zunächst in eine Phase der Exploration. Explorieren bedeutet das Herumexperimentieren mit verschiedenen Identitätsmöglichkeiten. Die Heranwachsenden suchen und probieren Unterschiedliches aus. Dabei orientieren sie sich zum Teil an Vorbildern, ahmen diese nach, stülpen sie sich wie eine Identitätshülse über und schauen, ob diese Hülse auch zu ihnen passt. Wenn ein Mädchen sich betont weiblich oder burschikos gibt, probiert es seine Wirkung auf beide Geschlechter aus. Es erforscht, welche Frauenrollen andere vor ihr gewählt haben, ob zum Beispiel die Mutter eine Karrierefrau geworden oder ein Hausmütterchen geblieben ist. Junge Mädchen diskutieren auch untereinander viel mit ihren Freundinnen über die sich verändernden körperlichen Bedingungen. Viele verbergen ihre körperliche Veränderung durch sackartige Kleidung, andere zeigen sich ganz figurbetont. Die Geschlechtsrolle ist ein lebenslanges Thema. Aber im Jugendalter ist zu beobachten, dass viele junge Machos und Vamps sich so männlich oder weiblich geben, wie nie später im Leben: Sie übersteigern ihre Erscheinung zum Teil bis ins Groteske – als Teil des Sich-Ausprobierens und Explorierens. Die zweite Phase ist die Verpflichtung. Die Heranwachsenden legen sich nun auf eine gewählte Alternative fest, weil sie diese als passend und der eigenen Identität entsprechend empfinden. Den Alternativen messen sie dann weniger Bedeutung bei oder lehnen sie ab und sind bereit, diese Identität nach außen hin zu vertreten. Wenn ein Mädchen sich entscheidet, eine KFZ-Lehre zu machen, so geht diesem Entschluss eine längere Phase des Abwägens und Suchens nach einer Alternative voraus – es ist ja nicht leicht, als Frau einen Männerberuf zu ergreifen und fortan mit Klischees konfrontiert und unter Druck gesetzt zu werden. Sich zu diesem gewählten Beruf zu verpflichten, heißt auch, diese Wahl zu verteidigen und zu begründen, sich nicht einschüchtern zu lassen und auch erläutern zu können, warum andere 76
Alternativen nicht zu einem gepasst haben. Bei vielen Jugendlichen ist im Zuge der Verpflichtung auch ein missionarischer Eifer zu bemerken. Sie versuchen, auch die anderen von der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu überzeugen. Sie kritisieren andere Vorstellungen sehr stark und empfinden die eigene Entscheidung als absolut richtig getroffene Wahl. Das tun sie nicht, um die anderen zu bekehren, sondern um Selbstzweifel zu minimieren und damit die eigene, noch ungefestigte Identität zu untermauern.
Die erarbeitete Identität Diese beiden Prozesse, also Exploration und Verpflichtung, werden in allen Lebensbereichen durchlaufen: in Politik, Familie, Religion, Freizeitstil, kultureller Identität etc. Aus diesen beiden Prozessen ergeben sich die vier Formen von Identität, die jeder Mensch in einem Lebensbereich haben kann. Denn nicht alle Menschen durchlaufen diese beiden Prozesse gleichermaßen. Manche suchen nicht, andere verpflichten sich nicht. Am Ende eines jeden Prozesses steht das, was wir als die erarbeitete Identität bezeichnen. Sie ist das Ergebnis einer intensiven Suche und der Bereitschaft, sich dem Ergebnis auch verpflichtet zu fühlen, für die eigene Identität nach außen einzustehen, Verantwortung zu übernehmen, sich zur eigenen Identität zu bekennen.
Das Identitätsmoratorium Wenn der Heranwachsende nur nach Alternativen sucht, sich aber nicht verpflichten kann, dann sprechen wir von einer Identitätsform, die als Moratorium bezeichnet wird. Ihre Merkmale sind das hohe Ausmaß an Alternativen, aber das noch fehlende Gefühl, das Passende gefunden zu haben. Das Wort Moratorium deutet an, dass es sich um ein Übergangsstadium handelt, an das sich die erarbeitete Identität anschließen müsste. Dies geschieht jedoch nicht automatisch. Viele Menschen bleiben in einzelnen Lebensbereichen über lange Zeit in diesem Stadium stecken.
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Die übernommene Identität Dem steht eine Gruppe von Menschen gegenüber, die sich ihrer Identitätsform sehr stark verpflichtet fühlen, auch ohne dass sie vorher Alternativen geprüft hätten. Bei ihnen ist der Grad an Verpflichtung hoch, aber sie explorieren kaum. Diese Heranwachsenden haben zumeist von Vorbildern, von den Eltern oder auch von Freunden ein Identitätsangebot übernommen und empfinden es als so passend für sich, dass sich aus ihrer Sicht die Suche nach Alternativen erübrigt. „Mein Großvater war Bäcker, mein Vater auch, für mich ist es selbstverständlich, dass ich den elterlichen Betrieb übernehme“, hören wir solche Jugendliche sagen, oder: „Meine Oma war in der SPD, meine Mutter ebenso, auch ich werde die sozialdemokratische Tradition fortführen.“ Demzufolge wird dieser Identitätstyp auch übernommene Identität genannt. Übernommene Identitäten sind keine Identitätshülsen. Im Gegensatz zu Identitätshülsen, die Menschen sich überstreifen, sind übernommene Identitäten mit innerer Verpflichtung verbunden. Insofern ist bei jedem Menschen genau hinzuschauen, ob er die nach außen hin demonstrierte Identität wie eine Hülse übergestreift hat, um der Mühe eigener Identitätsfindung zu entgehen, oder ob seine auf den ersten Blick hülsenartig wirkende Identität nicht doch mit echter innerer Verpflichtung einhergeht. Dies ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal hin zum vierten Identitätstyp, der diffusen Identität.
Die diffuse Identität Der vierte Identitätstyp ist dadurch gekennzeichnet, dass gar nicht nach Alternativen gesucht wird, keine Möglichkeiten exploriert werden und gleichzeitig auch keine Verpflichtung eingegangen wird. Dieser Mensch bleibt in dem entsprechenden Lebensbereich diffus, eine eindeutige Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ kann er hier nicht geben, mehr noch: Er fragt sich nicht einmal. Eine Erkennbarkeit einer Identität in diesem Lebensbereich ist für ihn und andere nicht gegeben. Dieser Identitätstyp wird daher auch als diffuse Identität bezeichnet. Diffuse Identität bedeutet nicht, keine Identität zu haben, sondern keine klare Identität zu entwickeln und somit keinen typischen Wiedererkennungseffekt zu haben. Menschen mit diffuser 78
Identität haben keine festen Überzeugungen, was zum Teil eine Folge davon ist, dass sie mit der Identitätsfindung überfordert sind. Typischerweise tragen sie aber auch nicht aktiv dazu bei, ihre eigene Lebenssituation zu bestimmen. Sie sind gerade in den zentralen Lebensbereichen wenig engagiert. Erik Erikson stellte ursprünglich diese diffuse Identität als das Gegenstück zur erarbeiteten Identität dar. Nach Eriksons Vorstellung hatte man entweder seine Identität gefunden oder blieb als Person diffus. Erst der amerikanische Entwicklungspsychologe James Marcia15 hat die beiden Prozesse Exploration und Verpflichtung beschrieben und daraus die beiden weiteren Identitätstypen „Moratorium“ und „Übernommene Identität“ abgeleitet. Die Arbeit an der eigenen Identität kann ein krisenhaftes Geschehen sein, muss es aber nicht. Nicht immer ist die Suche nach der eigenen Identität mit Belastungen verbunden. In vielen Untersuchungen ist man der Frage nachgegangen, welcher Identitätstyp die Menschen am zufriedensten und glücklichsten macht. Lange Zeit dominierte dabei die Vorstellung, dass insbesondere die diffuse Identität das Wohlbefinden senkt, dass die Menschen unglücklicher sind, wenn sie diffus sind. Die erarbeitete Identität galt demgegenüber als Garant für Glück und Wohlbefinden. Neuere Studien weisen jedoch eher darauf hin, dass eine übernommene Identität ebenso glücklich machen kann, da die kritische Auseinandersetzung und die Suche nach Alternativen entfällt. Sie führt folglich schnell dazu, eine gefestigte Position einnehmen zu können. So kommt es vor, dass ein musikalischer und in den Naturwissenschaften sehr begabter Abiturient sich durchaus ohne Bedauern dafür entscheiden kann, direkt nach dem Zivildienst beim elterlichen Malerbetrieb einzusteigen – und wird möglicherweise nie über das nicht angetretene Studium klagen. Am unzufriedensten und unglücklichsten beschreiben sich Menschen, die sich im Zustand des Identitätsmoratoriums befinden. Die intensive Suche nach Alternativen zur derzeitigen Lebenssituation, ohne dabei das Gefühl zu haben, der passenden Möglichkeit für sich näher gekommen zu sein, stellt eine große Belastung dar.
Instabile Zuordnungen Die Zuordnung zu einem der vier Identitätsformen ist keine starre, längerfristig stabile Zuordnung. In jedem Lebensbereich kann jeder Mensch jede 79
Identitätsform durchleben. Die Identität ändert sich immer dann, wenn ein kritisches Lebensereignis jemanden dazu zwingt, seine derzeitige Identität in Frage zu stellen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Wende in Ostdeutschland. Sie brachte vielen Arbeitslosigkeit, Scheidungen, den Umzug in eine andere Stadt oder ein anderes Land. Änderungen sind auch immer dann erforderlich, wenn sich Identitäten in den unterschiedlichen Lebensbereichen gegenseitig ausschließen. Eine feste Position in einem Lebensbereich sowie in einer erarbeiteten Identität kann dazu zwingen, in einem anderen Lebensbereich eher diffus zu bleiben und keine Verpflichtung einzugehen. Dies findet sich häufig bei Frauen, die sich zwischen Kindern oder Karriere entscheiden müssen. Leben sie ihren Traumberuf aus, leidet eventuell das Familienleben, oder es werden keine Kinder geboren. Ebenso ist die Vorstellung überholt, dass der Weg zur erarbeiteten Identität in einem eindeutigen und unumkehrbaren Prozess von der übernommenen über die diffuse und dem Moratorium erfolgt. Der Prozess der Identitätsfindung ist auch im Erwachsenenalter noch lange nicht abgeschlossen. Auch Erwachsene werden immer wieder durch neue Lebensereignisse zur Reflexion ihrer eigenen Identität gezwungen. Der Beginn ist aber eindeutig dem Jugendalter zuzuordnen.
Wer bin ich wirklich? Die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Person und der Frage „Wer bin ich wirklich?“ ist an vielen jugendtypischen Verhaltensweisen zu erkennen. Dazu gehören die intensiven Gespräche mit den Freundinnen und Freunden, das ständige Ausprobieren der eigenen Wirkung auf andere und das Experimentieren mit verschiedenen Rollen, auch die Tendenz, sich bestimmten Gruppen anzuschließen und deren Kleidervorschriften und Wertvorstellungen zu übernehmen. Viele Jugendliche grübeln und ziehen sich räumlich zurück und schreiben Tagebuch. Das Schwärmen für bestimmte Stars, die als Identitätsvorbilder dienen, die Wahl von Freunden, die nicht immer den Eltern gefällt, dann der jugendliche Egozentrismus, der Glaube, dass alles, was in der Welt passiert, ursächlich mit dem Jugendlichen selbst zu tun hat („Du weißt genau, dass ich mit meiner Freundin verabredet bin. Dass ich den Müll raustragen soll, machst Du nur, um mich zu ärgern.“) – all dies, insbesondere Letzteres stellt die Beziehung zu den Erwachsenen oftmals auf eine harte Probe: „Alle sind gegen mich, keiner versteht mich. 80
Alle haben sich gegen mich verschworen.“ Ein Tunnelblick offenbart sich, der dem Trugschluss unterliegt, alle anderen würden sich auch so intensiv mit seinem Ich beschäftigen wie er selbst. Zur selben Zeit erproben diese egozentrischen Jugendlichen aber auch ihre soziale Rolle, denn sie müssen mit Gleichaltrigen Kompromisse schließen und Konflikte aushalten. In der Gruppe der Gleichaltrigen kann man sich über die Erwachsenen ausheulen. Daher sind die Freunde auch so wichtig: Freunde bieten das zentrale Feld für ein Probehandeln, für das Ausprobieren verschiedener Identitätsmöglichkeiten und für eine neutrale Rückmeldung. Nur die besten Freunde können einen richtig verstehen. Das können Eltern und Lehrer nicht leisten. Wie ist das bei Ihnen? Wie setzen Sie sich mit den zentralen Lebensthemen auseinander? Haben Sie in all diesen Lebensbereichen eine unverwechselbare, eindeutige Position, die Sie auch nach außen vertreten? Wenn ja, wie sind Sie zu dieser Position gekommen? Wie intensiv haben Sie Alternativen geprüft? Welche Wege sind Sie gegangen, in welche Sackgassen sind Sie geraten? Können Sie Ihre Auffassungen jeweils gut begründen? Oder ist es leicht, Sie zu verführen und Ihnen andere Alternativen schmackhaft zu machen? Wieso wehren Sie sich gegen Alternativen?
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Ein zweites Leben: Die virtuelle Identität
Mit dem Internet eröffnen sich durch die Virtualität nun ganz neue Möglichkeiten für die Identitätsfindung, die es vorher nie gegeben hat. Da dieser Bereich völlig neu und unerforscht ist, müssen wir abwarten, was hier passiert und welche Konsequenzen sich für das gesellschaftliche Zusammenleben daraus ergeben werden. Neben der Identität, die wir uns tagtäglich im Leben neu erarbeiten und für die wir auch einstehen müssen, gibt es nun die Möglichkeit, sich in kürzester Zeit im Internet eine neue Identität aufzubauen und diese auch vollständig und ohne äußeren Druck nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Im Internet kann sich jeder ganz anders präsentieren als im wirklichen Leben. In jeder Partnerbörse kann man sich als männlich, weiblich, blond, groß oder klein ausgeben – alles ist möglich, es gibt keine äußere Kontrolle. Dieser Vorgang setzt sich fort über die Chaträume, wo die Teilnehmer nicht nur ein Bild nach außen hin zeigen, sondern auch mit der neuen Identität direkt mit anderen kommunizieren. Manche schaffen sich inzwischen sogar ein virtuelles Alter Ego an.
Ein zweites Leben – online Aktuelle Beispiele sind www.secondlife.com und www.schuelervz.de. Dort leben die User in einem virtuellen Raum mit einer selbst gewählten Identität mit anderen falschen Identitäten in einer Phantasiewelt zusammen – eine Entwicklung, die uns als Erwachsene noch gar nicht so stark erfasst hat. Das Besondere an diesem Forum ist, dass jeder, der mit den anderen kommuniziert, genau weiß, dass diese Identität völlig frei erfunden ist und sie nicht stimmt. Und trotzdem lassen sich alle wie selbstverständlich auf diese falsche Identität ein. Wir reden nicht mehr mit einer authentischen Person, sondern mit einem selbst gewählten Scheinbild von ihr. Auch wir selbst sprechen nicht durch uns, sondern durch die Person, die wir vorgeben zu sein. Zwar schummeln wir sowieso alle gern einmal – jeder Erwachsene, der sich in Kontaktbörsen aufhält, gibt nicht gleich seine wahren Daten preis, sei es, um unerkannt zu bleiben, sei es, um sich schöner, jünger, cooler zu machen. Er kehrt aber danach auch wieder in seine alte Identität zurück. 82
Für Jugendliche, die erst gerade mit der Identitätsarbeit begonnen haben, ergeben sich dadurch ungeahnte Möglichkeiten. Ob das schlecht oder gut ist, wissen wir noch nicht: Sie versetzen sich durch den Eintritt in die Onlinewelt bei secondlife und schuelervz in die Lage, jegliche Art von Identität einfach einmal auszuprobieren. Sie können als schüchterner Mensch ganz besonders forsch auftreten, vorgeben, ein Mann oder Junge oder eben ein Mädchen zu sein, sie können Wahrheiten über sich preisgeben, die sie im wahren Leben nie ausgesprochen hätten. Es gibt auch ältere Menschen, die in sehr fest gefügten Verhältnissen leben und über das Internet und die Virtualität Schritte gehen, die sie sich sonst nie getraut hätten vorzunehmen. Aber in der älteren Generation wird im Gegensatz zur jüngeren meist noch die Möglichkeit zum realen Kontakt gesucht und auch genutzt. Bei den jungen Leuten ist die Absicht, sich wirklich zu treffen, nicht vorhanden. Wenn man sich im wirklichen Leben treffen will, kann man seine Identität nicht so sehr verdrehen. Die Absicht, ein Date zu vereinbaren, schränkt die Möglichkeiten der Identitätsveränderung stark ein. Unter Jugendlichen ist daher dieser Wunsch gar nicht so verbreitet. Sie tauschen sich zwar durchaus auch über profane Dinge wie Musik, Hobbys etc. aus, aber in erster Linie geht es ihnen darum, sich über diese Plattform ihre eigene Identität im Spiegel einer anderen Person zu erarbeiten, etwas Neues auszuprobieren und eine direkte Rückmeldung zu bekommen, wie dieses neue Outfit und Verhalten bei den anderen ankommt.
Grenzenlose Exploration Diese Foren bieten also eine Möglichkeit der Exploration, die es vorher so nie gegeben hat. Nie war es Menschen möglich, sich so unmittelbar erforschen zu können. In den meisten Fällen bleibt die virtuelle Identität diffus. Sie wird spielerisch erkundet und kann im Sekundentakt geändert werden. Obwohl die Exploration hoch ist, kann man nicht von einem Moratorium sprechen. Hier ist nur das Ausprobieren selbst das Ziel. Es wird keine Identität gesucht. Für Jugendliche eröffnet sich noch eine zweite Chance aus der virtuellen Identität. Sie können in einem solchem Forum auf Augenhöhe mit Erwachsenen kommunizieren. Die für uns so zentrale Grenze Kind/Jugendlicher/ Erwachsener gibt es im Internet nicht. Dies wird insbesondere im Umgang 83
mit Sexualität deutlich. Viele der virtuellen Identitäten und vieles im virtuellen Austausch hat auch eine sexuelle Konnotation. Der Grund hierfür ist, dass es sich hier, trotz aller Liberalisierung, immer noch um ein Tabu handelt, über das man nicht spricht. Aber in seinem virtuellen Raum fühlt sich jeder sicher und kann Schamgrenzen leicht überschreiten. Sobald der Kontakt zu prekär zu werden droht, kann der Computer ausgeschaltet werden – für die Exploration von Tabubereichen also bestens geeignet. Man kann sich blocken oder einfach eine neue Identität aufbauen und neu anfangen. Wenn wir im Internet kommunizieren, wissen wir nicht, wie alt unser Gegenüber ist, welche Erfahrungen es hat, wie real die Wünsche sind, die geäußert werden.
Heimliche Wünsche und offene Befragungen Vieles von dem, was im Internet geäußert wird, sind Phantasien, die gar nicht umgesetzt werden sollen oder können. Für Jugendliche, die sich zum ersten Mal mit Sexualität auseinandersetzen, ist das eine große Chance und vielleicht auch eine Gefahr. Es gibt erste wissenschaftliche Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass es erwachsene Männer gibt, die die Chaträume aufsuchen, um dort bewusst den Kontakt zu Jugendlichen herzustellen, vielleicht mit dem Ziel, sich tatsächlich mit ihnen zu treffen. Sie sind in der Lage manipulatorisch aus ihnen herauskitzeln, was sie sonst nicht preisgegeben hätten. Denn sie treffen ja auf Menschen, die nach Sex gefragt werden möchten und die mit diesem Gedanken im Geheimen spielen oder der sie zumindest beschäftigt. Diese Wünsche und Phantasien sind ja da, sie werden auch nicht verschwinden. Es ist nur schwer zu sagen, ob die Grenzen dann möglicherweise überschritten werden oder nicht. Im Internet benehmen sich die Jugendlichen erwachsener, als sie im realen Leben derzeit sein könnten. Im Internet muss man auch nicht erwachsen werden. Es gibt dort keine Generationengrenze. Was im realen Leben deutlich im juristischen Sinne festgelegt ist, scheint hier noch nicht zu existieren. Im virtuellen Raum bekommt niemand Schwierigkeiten, wenn er nicht erwachsen wird. Auch kann man sich einfach sein Erwachsenendasein selbst erschaffen – so wie ein junges schüchternes Mädchen, das ich kenne. Es machte sich im Internet kurzerhand zu einem Bushido-Girl, um sich durch
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den „Staatsfeind Nr. 1 und Deutschlands einzigem echten Gangsta Rapper“ einen Hauch von Verwegenheit und Rebellion zu geben.
Das Internet kennt keine „Jugendlichen“ und „Erwachsenen“ Die Grenze zwischen jugendlich und erwachsen gibt es in ihrer klassischen Form im Internet nicht. Trotzdem gibt es auch im Internet Abgrenzung, allerdings eher altersunabhängig zwischen denen, die es nutzen, und denen, die es nicht tun oder nicht können. Diese Grenze existiert auch innerhalb der realen Jugendschicht, wobei diese rasend schnell verschwindet, weil es kaum noch welche unter ihnen gibt, die keine Internet-User sind. Zu vermuten, dass die Jugendlichen durch das World Wide Web das Gefühl bekommen, die Erwachsenenwelt könne ihnen nichts Neues mehr bieten, geschweige denn, dass mit ihm individuelle Entwicklungsschritte verloren gingen, die nötig sind, um ins Erwachsenenalter zugelangen, ist vielleicht nicht richtig. Inwieweit das Internet Auswirkungen auf das reale Leben der Jugendlichen hat, bleibt abzuwarten. Wie bereits erwähnt ist die symbolische Selbstergänzung eine Möglichkeit, eine Identität anzudeuten, eine, die man gar nicht hat und niemals haben könnte. Um sie zu erlangen, bedarf es im realen Leben immer noch echter Anstrengungen, weil man an die entsprechenden Symbole auch wirklich herankommen muss. Virtuelle Identitäten bedienen sich ebenso bestimmter Symbole, aber sie haben trotzdem keinen Symbolcharakter, da die Empfänger dieser Identitätsbotschaft wissen, dass sie nicht echt sind. Wähle ich als Jugendlicher das Auto zur Symbolisierung des gewünschten Erwachsenenstatus, funktioniert dieses Anliegen im realen Leben nur, wenn ich investiere: Ich muss den Führerschein machen und an ein Auto herankommen. Diese Investitionen sind mit Restriktionen verquickt: Der entsprechenden Geldsumme und dem Alter. Insofern ist schon das Erarbeiten dieses Symbols eine Leistung, die ich erbringen muss, und entspricht auch dem Erarbeiten bestimmter erwachsener Kompetenzen. Es ist kein reines So-tun-alsOb mehr. Von dem Moment an, ab dem ich Auto fahren kann, habe ich auch einen Entwicklungsschritt geleistet und mich verändert, bin erwachsener geworden.
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Omnipotenz online In der virtuellen Identität ist das nicht notwendig. Ich muss nicht Auto fahren können, ich brauche nur zu behaupten ich, könnte es. Das genügt als Ausgestaltung meiner virtuellen Identität. Ich muss nicht persönlich am Steuer sitzen und Auto fahren. Ich kann einfach erzählen, dass ich es getan habe. Und zudem darf es auch noch ein Auto sein, von dem ich immer geträumt habe. Problemlos kann ich ein Foto von mir und „meinem Auto“ herzeigen – nie war symbolische Selbstergänzung so einfach wie in der virtuellen Identität. Es wird auch gar nicht überprüft, ob die Symbole bei den anderen tatsächlich so wirken, wie gewollt – kein Selbstergänzer wird sich, ob virtuell oder in der Realität, je bei den anderen vergewissern, ob die Rolex nun auch wirklich den eigenen Status bei ihnen erhöht. Trotzdem fühlt er sich sehr viel sicherer. Der Schein ist gewahrt. Das genügt. Daher bleiben viele dabei, auch wenn andere darüber lachen. Gerade im Internet hat die symbolische Selbstergänzung eine besondere Relevanz, denn es gibt ja sowieso kein konkretes Gegenüber, das mir die Wirkung absprechen könnte. Oder ich suche mir eben genau die Rückmeldung aus, die ich hören will, und ignoriere alle anderen. Das betrifft nicht nur Sex, sondern auch alle anderen Tabuthemen, die von realen Erwachsenen misstrauisch beäugt werden. Der Austausch über intimste, privateste, tabuisierteste Gedanken wie z. B. Selbstmord, nationalsozialistisches Gedankengut, Kannibalismus, Anorexie, Bulimie ist kein wirklicher Austausch, sondern Selbstpräsentation vor anderen. Die jungen Menschen stellen sozusagen etwas ins Schaufenster, zeigen sich in aller Öffentlichkeit und wollen gesehen werden. Aber sie können sehr gezielt Einfluss darauf nehmen, wen sie in ihren virtuellen Raum einlassen und wen nicht. Das ist typisch für die virtuelle Identität und betrifft die Nutzung aller neuen Kommunikationsformen, auch das Handy und den Computer: Das Gefühl von globaler Vernetzung, überall erreichbar zu sein, jederzeit in Kontakt treten zu können. In all diesen Kommunikationsformen sind die Jugendlichen den Erwachsenen so weit voraus, dass es hier für sie kein erwachsenes Identitätsziel mehr geben kann – das würde einen Rückschritt bedeuten, weil Erwachsene diese Geräte gar nicht mehr so richtig bedienen können. Dies ist wiederum ein typisches Beispiel dafür, dass nicht die Jugendlichen erwachsener, sondern die Erwachsenen jugendlicher werden sollten. Wer 86
lernt hier von wem, welcher Erwachsene bringt den Jugendlichen auf diesem Gebiet schon noch etwas bei? Auch wenn viele sich darüber beklagen, dass SMS die Kommunikationskultur verschlechtere, weil keine ganzen Sätze mehr geschrieben würden – die Wichtigkeit, die E-Mail-Verkehr inzwischen auch im geschäftlichen Bereich angenommen hat, weil die Kommunikation auf diese Weise viel bequemer und schneller zu bewerkstelligen ist, zeigt, dass ein Generationentransfer bereits im Gange ist. Und welche Entwicklungsschritte sollte ein Jugendlicher auf diesem Gebiet noch gehen müssen, um in die Erwachsenenidentität kommen zu können? In der Außenwahrnehmung bleiben jedoch sie die Jugendlichen, weil sie sich wie selbstverständlich dieser jugendlichen Technik bedienen. Erst auf den zweiten Blick merkt man, dass sie viel „erwachsener“ sind als die Erwachsenen, d. h. fortgeschrittener in der Entwicklung. In diesem Lebensbereich macht ihnen keiner etwas vor. Also bleibt ihnen eigentlich nur noch die Einforderung von Rechten, die ihnen aufgrund ihres Alters weiterhin vorenthalten werden. Für viele der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter stellen diese neuen Arten der Kommunikation zudem eine echte Bereicherung dar. Sie befördern die Integration in die Gleichaltrigengruppe, schaffen Nähe zu den Freunden, erleichtern auch die Ablösung vom Elternhaus sowie die Aufnahme intimer Partnerschaften und vermitteln das sichere Gefühl, an die Außenwelt angebunden zu sein, auch wenn sie einmal allein in einem Café sitzen sollten. Letzteres hat übrigens ebenso den Charakter einer symbolischen Selbstergänzung, da hier versucht wird, die eigene Attraktivität für die im Café real Anwesenden durch die demonstrierte eigene Beliebtheit zu steigern etc. Und auch diese Entwicklung wird uns alle einholen: In zehn Jahren werden wir alle genau das machen, was heute als typisch jugendlich gilt. Klagen über das unsägliche Simsen, die sowieso nur von denjenigen kommen, die selbst keine schreiben können, sind also zwecklos. Schon in ein paar Jahren wird die Nutzung von Internet und mobiler Telefonie eine Kulturtechnik sein wie Lesen, Schreiben und Rechnen.
Kollektiver Monolog Auch Blogs sind eine Form der virtuellen Selbstdarstellung nach eigenen Richtlinien und Formen. Das heißt, sie werden nicht wirklich geschrieben, 87
um gelesen zu werden – sie entstehen zur schriftlichen Ausgestaltung der eigenen Identität. Ihr Zugang ist zwar öffentlich, aber es handelt sich hier um eine Scheinöffentlichkeit. Ich bin fest davon überzeugt, dass es mehr Blogschreiber als Blogleser gibt. Das Private öffentlich zu machen – dieser Wunsch herrschte bei den Menschen schon immer vor. Das Internet bietet nun die technischen Möglichkeiten dafür. Früher wurden mit Vorliebe Graffitis an die Häuserwände gesprüht, Liebesbotschaften in Bäume oder in Fensterscheiben hineingeritzt, sehr beliebt waren auch Botschaften an Toilettentüren. Doch es blieben anonyme Botschaften, weil über die wahre Identität nach wie vor nichts bekannt gegeben wurde. Im Internet nun gibt es die Selbstdarsteller und die Konsumenten dieser ja auch eher anonymisierten Selbstdarstellungen. Beide Gruppen sind eine merkwürdige Symbiose eingegangen. Die Selbstdarsteller wissen, dass sie sich so darstellen können, wie sie sein wollen und nicht so, wie sie wirklich sind. Auch die Konsumenten wissen das. Sie erheben keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, und sind niemandem Rechenschaft schuldig. Blogs sind nicht nur wie eine neue Kunstform. Virtuelle Identität ist mehr denn je gefragt, diese Form der Selbstdarstellung fällt auf fruchtbaren Boden, da es wirklich einen Bedarf für sie zu geben scheint. Warum findet sie einen so großen Markt? Die einzige Antwort, die ich geben kann, lautet: Weil die echte Identitätsarbeit in unserem heutigen Leben unter den hiesigen Bedingungen so schwer geworden ist. Sich selbst im Leben so zu präsentieren, wie man gerne einmal sein möchte (aber nicht wirklich will, weil man weiß, dass man so nie sein könnte), ist unendlich schwer, im Internet dagegen ein Kinderspiel. Der Wunsch, aus den starren Konventionen auszubrechen, ist bei allen Menschen vorhanden und das Internet macht es möglich. Es ist ein wenig wie Dampf ablassen: Man kann sich hinterher mit dem weitaus braveren Leben wieder besser arrangieren. Ich glaube, dass dies Jugendlichen bei ihrer Suche im realen Leben dabei hilft, sich auszuprobieren. Die einzige wirkliche Bedrohung, die ich sehe, entsteht in dem Moment, wo Jugendliche das Gefühl bekommen, dass sie diese virtuelle Realität tatsächlich umsetzen müssten oder könnten. Belassen sie also den Austausch intimster Gedanken im virtuellen Raum, droht keine Gefahr. Möchten sie diese aber in der Realität ausleben, wird es gefährlich.
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Die Wirklichkeit realer Kontakte Der pädagogische Auftrag lautet hier: Es kann nicht Ziel sein die Jugendlichen vom Internet fernzuhalten. Ziel muss sein, mit den Jugendlichen darüber zu reden, was das virtuelle Leben mit dem realen Leben zu tun haben könnte und worin der Unterschied zwischen Realität und virtueller Welt besteht. Es ist wichtig, sie zu fragen, welche Ziele sie mit dem virtuellen Leben verfolgen und welche ihr virtueller Kommunikationspartner hat. Sie sollten überprüfen lernen, inwieweit Druck auf sie ausgeübt wird, inwieweit sie sich selbst unter Druck setzen und ob sie ihre realen Daten im virtuellen Raum auch ausreichend schützen. Sie müssen erkennen, dass sie für ihr eigenes Kopfkino selbst verantwortlich sind und auf das Kopfkino ihres Gegenübers nur begrenzt Einfluss haben. Im virtuellen Raum ist es möglich, den Kontakt abzubrechen. Sobald der Kontakt real geworden ist, wird ein Abbruch schwierig. Im virtuellen Raum muss man sich seiner virtuellen Identität nicht verpflichten. Im realen Kontakt kann man auf das, was man gesagt hat, auch tatsächlich verpflichtet werden. Da kann es sein, dass der reale Kommunikationspartner plötzlich all die vielleicht sogar erotischen Handlungen von einem verlangt, die zwar als Wunsch geäußert wurden, aber nicht wirklich mit der Absicht, sie auch durchführen zu wollen. Dass die Jugendlichen mit diesem Druck angemessen und verantwortungsvoll umgehen lernen, ist das eigentliche Ziel der pädagogischen Arbeit. Wenn man sich über das Internet austauscht und dort sehr intensiven Kontakt mit einem Kommunikationspartner hat, entsteht schnell ein falsches Bild. Man bildet sich ein, dass der andere so ist, wie man ihn gerne hätte, alle anderen Informationen werden ausgeblendet. Auf dieser Basis wird der reale Kontakt immer als Enttäuschung enden. Aus diesem Grund ziehen viele daraus für sich die Konsequenz, sich auf kein reales Date einzulassen. Und alle, die trotzdem ein Treffen vereinbaren, müssen sich vorher überlegen, wie sie dann mit der realen Person hinter der virtuellen Realität umgehen wollen, was dann wieder eine ganz klassische Entwicklungsaufgabe ist, die mit dem Internet nichts zu tun hat und die Havighurst 1948 mit den Worten „Partnerwahl und mit dem Partner leben lernen“ umriss. Bei Computerspielen hingegen ist zu beobachten, dass sich die Jugendlichen in Simulationsspiele hineinsteigern. Merkwürdigerweise übernehmen sie hier extrem viel Verantwortung für das, was da unter ihren Augen entsteht, weil 89
die Simulation den Eindruck erweckt, sie hätten tatsächlich Einfluss darauf – einen Einfluss, den sie im realen Leben gar nicht haben können. Auch in Zivilisationssimulationen entsteht das Gefühl von Kontrolle nach dem Motto: Ich habe das im Griff, kann es meinen Vorstellungen entsprechend gestalten, auch wenn Schwierigkeiten eingebaut sind. Das Erleben von Kontrolle ist virtuell viel drastischer und unmittelbarer als in der Wirklichkeit. So kann man sich Gegebenheiten schaffen, für die man im realen Leben Jahrzehnte bräuchte. Allmachtsphantasien hat es zwar immer gegeben, aber jetzt haben sie ihren technischen Ausdruck gefunden: Gib’ den Menschen die Möglichkeit, fies, gemein und mächtig zu sein, und sie werden es tun! Früher versuchte man mit den beschränkten Mitteln der Zauberei, Magie und durch Aberglauben die Umwelt zu manipulieren. Heute sind die Möglichkeiten unbegrenzt. Auch die virtuelle Identität ist bislang noch total diffus, weil wir in diesem Medium nicht erwachsen werden müssen – es werden hier keine Generationsgrenzen gezogen. Wir können uns dem realen Leben sogar entziehen, indem wir uns in die virtuelle Situation begeben. Für den Einzelnen kann damit schon das Problem des Erwachsenwerdens gelöst sein, weil es für ihn nicht mehr existiert. Für die Gesellschaft, die auf reale Erwachsene angewiesen ist, die in allen sozialen Beziehungen tagtäglich Verantwortung übernehmen, sind diese jungen Menschen erstmal verloren: Sie haben eher ihr virtuelles Leben im Griff als das reale. Sie pflegen ihre virtuellen Kontakte und vernachlässigen die sozialen. Für ein virtuelles Projekt investieren sie Tage, ihre reale Diplomarbeit haben sie immer noch nicht zu Ende geschrieben. Das ist ein Phänomen, das sich ausbreitet: Viele weichen den realen Schwierigkeiten aus, wollen sich ihnen nicht stellen und sehen auch nicht ein, warum. Der Ausgang dieser Entwicklung ist ungewiss. Kurzfristig werden gesellschaftliche Prozesse also weiterhin von der Nicht-Internet-Generation vorangetrieben werden. Gestalten nun die Älteren die Gesellschaft von morgen, weil die Jüngeren sich ihrer Mitgestaltung entziehen?
Wie aus Spiel Ernst werden kann Es wäre zu fragen wie sich die Produktivität und Energie dieser Simulationskünstler vielleicht besser nutzen ließe. Vorstellbar wäre eine Gesell90
schaft, die die Simulation zur Wirklichkeit werden lassen kann. Vielleicht ist es in naher Zukunft technisch möglich, per Internet afrikanische Dörfer in der Savanne zu bauen, und zwar so, wie sie bereits virtuell entstanden sind. Reale und virtuelle Wirklichkeit würden dann immer mehr miteinander verschmelzen, was letztlich darauf hinauslaufen würde, dass auch die Identität im Internet erwachsen werden muss und man langfristig auch hier zwischen den nicht-erwachsenen und den erwachsenen Identitäten trennen müsste. Wenn aus dem Spiel Ernst werden kann, bedeutet das, dass ich auch für meine virtuelle Identität Verpflichtung übernehmen muss. Das heißt aber auch, dass die Identität, die man im Internet findet, nicht längerfristig diffus bleiben darf und die Erarbeitung einer virtuellen Identität zu einer neuen Entwicklungsaufgabe werden wird. So wie wir uns heute eine reale Identität erarbeiten, müssen wir uns in Zukunft wahrscheinlich eine virtuelle Identität erarbeiten. Zu den bisher betrachteten Lebensbereichen, in denen sich jeder eine Identität aufbaut, also Politik, Familie, Freizeit, Lebensstil, Freunde, Beruf, gesellt sich also ein neuer Lebensbereich, in dem ebenfalls die Erarbeitung einer eigenen Identität notwendig wird. Und auch für die virtuelle Identität gelten prinzipiell dieselben Gesetze wie für alle anderen Lebensbereiche. Es muss zu Exploration und Verpflichtung kommen sowie die vier Identitätsstadien Übernommene Identität, Diffuse Identität, Moratorium und Erarbeitete Identität durchlaufen werden. Es ist bereits zu beobachten, dass die Kontrolle über das Internet, auch die gesellschaftliche, zunimmt. Was zunächst ein rechtsfreier Raum war, ist durch Selbstkontrolle wie die Netiquette eingeschränkt worden: Die Internetgemeinschaft hat sich selbstorganisiert eigene Regeln gegeben. Und auch die gesellschaftliche Kontrolle nimmt immer mehr zu, der rechtsfreie Raum wird juristisch durchforstet. Neben Kreditkartennachverfolgung, Bestrafung von Raubkopierern und Verbot von Markenlogoklau u. a. gibt es nun auch Bestimmungen, die neuerdings die Angaben der Betreiber von Webseiten im Impressum vorschreiben. Unzulängliche Angaben können nicht nur einen Bußgeldbescheid nach sich ziehen, es drohen außerdem Abmahnungen durch Konkurrenten etc.
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Das Internet wird selbst erwachsen Das Internet wird also langsam von der Realität eingeholt und in sie hineingezerrt. Wenn man früher für die Vorspiegelung falscher Tatsachen höchstens beschimpft wurde, kann man dafür zukünftig bestraft werden. Verleumdung, Beleidigung, falsche Fotos – dies alles ist inzwischen genauso verboten wie in anderen Medien und in der Realität. Wie wir vom Kind, das in einem rechtsfreien Raum aufwächst, über das Jugendalter in den streng reglementierten Status des Erwachsenen überwechseln, so entwickelt sich auch das Internet in technischer Hinsicht parallel. Zunächst war es auch nur ein kindlicher Spielplatz, auf dem alles möglich war. Es herrschte Anarchie. Derzeit befindet es sich sozusagen im Jugendalter, hat einen Novizenstatus, darf sich ausprobieren, grobe Auswüchse seiner User werden aber von der Gemeinschaft bereits bestraft. Und nun wird es sich in den Erwachsenenstatus hineinbewegen, wo sämtliche Rechte und Pflichten genauso gelten wie sonst auch. Das Internet wird erwachsen.
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Der Normalfall „Diffuse Identität“ „Hab alles verloren und weiß nicht wohin in den kommenden Jahren. Ob Zweifel ob Zorn, es macht keinen Sinn, die Freunde, die keine waren. Und draußen, da wehen die Fähnchen im Wind, doch andere werden sie hissen. Ich sitze im Zug mit Mutter und Kind, alleine mit meinem Gewissen.“ (Blumfeld – Ghettowelt, 1991)
Die diffuse Identität ist Standard geworden. Die meisten Menschen entwickeln in den zentralen Lebensbereichen keine eindeutige Identität mehr. Diese Entwicklung fing in den 80er Jahren an. In Untersuchungen zur Identität von Heranwachsenden wurde bereits in den letzten Jahren des alten Jahrhunderts ein Anstieg des Anteils diffuser Identitäten von 20 auf 40 Prozent berichtet. Zwar sind die anderen Identitätsformen nicht verschwunden, aber ein solch immenser Anstieg von Menschen mit diffuser Identität kann kein Zufall mehr sein. Die Gleichung, dass Jugendlichsein mit einer diffusen und Erwachsensein mit einer erarbeiteten Identität gleichzusetzen ist, geht also nicht mehr auf. Diffuse Identitäten sind heute ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Wir müssen uns die Frage stellen, woher diese Diffusität kommt und welche Folgen sie für die weitere gesellschaftliche Entwicklung hat. Diese Veränderung betrifft also keineswegs nur die Jugendlichen allein, und diffuse Identität bedeutet ja, dass in den zentralen Lebensbereichen Politik, Beruf, Familie etc. keine längerfristigen Verpflichtungen eingegangen werden und auch nicht nach dem gesucht wird, was als eigene Position diesen Lebensbereich ausmacht. In der Entwicklungspsychologie werden drei Arten von diffuser Identität beschrieben: die gestörte Diffusion, die Entwicklungsdiffusion und die kulturell adaptive Diffusion.
Die gestörte Diffusion Ein kleiner Prozentsatz derer, die eine diffuse Identität aufweisen, kann sich aufgrund der aktuellen und biografischen Lebenssituation, aus gesundheitlichen Gründen oder anderen Krisen und Belastungen nicht mit Identitäts-
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fragen auseinander setzen. In so einem Fall handelt es sich um gestörte Diffusion. Für jemanden, der täglich um sein Überleben kämpft und nicht weiß, wie er den nächsten Tag überstehen soll, ist die Arbeit an der eigenen Identität ein Luxus, den er sich nicht leisten kann. Sich mit der eigenen Identität beschäftigen kann man nur, wenn die äußeren Rahmenbedingungen einigermaßen akzeptabel sind. Menschen, die unter starken psychischen Belastungen leiden, setzen sich kaum mit der eigenen Identität auseinander und hinterfragen die eigene Position in den zentralen Lebensbereichen nur selten. Insofern findet bei ihnen auch keine Identitätsentwicklung im Sinne eines aktiven Handelns statt. Sie bleiben in ihrer Identität diffus. Erst mit einer Verbesserung der aktuellen Lebenssituation kann die aktive Identitätsarbeit beginnen.
Die Entwicklungsdiffusion Die zweite Gruppe von Menschen mit diffuser Identität wird als entwicklungsdiffus beschrieben. Diese Entwicklungsdiffusion stellt einen ganz natürlichen Zwischenstatus dar. Sie findet sich bei Jugendlichen oder aber auch noch bei Erwachsenen, die sich mit ihrer eigenen Identität auseinander setzen, aber derzeit durch eine Explorationsphase, die alle Lebensbereiche durchzieht, oft überfordert sind. Die Vielzahl an Identitätsalternativen und der Anspruch, sich auf eine dieser Möglichkeiten festlegen zu müssen, verwirrt und überfordert diese Menschen so, dass sie sich gar nicht entschließen und daher in bestimmten Lebensbereichen diffus bleiben. Es ist zu erwarten, dass bei diesen Menschen die Auseinandersetzung um die eigene Position und Identität auch wieder beginnen wird, wenn in den anderen Lebensbereichen mehr Ruhe eingekehrt ist und die Positionen in anderen Lebensbereichen gefestigt wurden. Unterstützung für Menschen in der Entwicklungsdiffusion besteht daher darin, Strukturierungshilfe zu geben, zur erneuten Reflexion aufzufordern, sich als Gesprächspartner anzubieten oder Entwicklungs- bzw. Identitätsmodell zu sein. Entwicklungsdiffusion ist insbesondere bei Jugendlichen zu beobachten. Die Vielzahl an aktuellen Entwicklungsaufgaben, die dazu führen, in vielen Lebensbereichen eigene Positionen zu entwickeln und sich gleichzeitig in vielen Lebensbereichen an einer Stelle selbst zu verorten – und das alles in einer relativ kurzen Zeit – überfordert viele Jugendliche. Viele konzentrieren 94
sich daher auf einzelne Lebensbereiche und schieben die kritische Auseinandersetzung mit den anderen erstmal auf die lange Bank. Hier sind Eltern und Lehrer pädagogisch gefordert. Treffen diese Jugendlichen auf erwachsene Vorbilder, die selbst diffus sind, so bleibt bei den Jugendlichen das Gefühl aus, sich mit diesem Lebensbereich beschäftigen zu müssen. Dann ist die Gefahr groß, dass aus der Entwicklungsdiffusion, die ein natürliches Übergangsstadium ist, ein chronischer Zustand wird. Beispielhaft hierfür ist der Lebensbereich Religion und Weltanschauung. Bei vielen Jugendlichen spielt die Auseinandersetzung mit religiösen und weltanschaulichen Fragen zunächst eine untergeordnete Rolle. Die aktuellen konkreten Lebensthemen Partnerschaft, Beruf und Schule sind vordergründiger, hier müssen sie sich rascher positionieren. Von außen betrachtet erscheinen diese Jugendlichen daher in religiösen und weltanschaulichen Dingen unkritisch, unreflektiert und wenig engagiert. Das können sie später immer noch in Angriff nehmen, diese Bereiche werden also in der Entwicklungsdiffusion gehalten. Junge Menschen orientieren sich in den Fragen „Woran soll ich glauben?“ und „Wie sind diese politischen Ereignisse jetzt einzuschätzen?“ vorwiegend an den Eltern. Sie sind es also, die hier wichtige Anregungen geben können. Aber setzen die Eltern hier ihre Kompetenz auch wirklich bewusst ein? Sie sollten es tun, um den Draht zu ihren Kindern zu bewahren, denn das sind die wenigen Themen, bei denen sie überhaupt noch gefragt sind. Wenn Sie weltanschauliche Fragen mit Heranwachsenden diskutieren, werden Sie sehr schnell merken, wie groß ihr Interesse daran ist, ganz im Gegenteil zu der in den Medien häufig vorgetragenen Beschwerde, dass Jugendliche in diesen Punkten zu oberflächlich seien. Bei den Eltern und Lehrerinnen und Lehrern selbst liegt diese Auseinandersetzung schon viele Jahre zurück – sie fand im Jugendalter statt und wurde dann irgendwann nicht mehr fortgesetzt. Es ist wichtig, sich gemeinsam mit den Kindern auf die Suche zu begeben und sich nach dem Sinn des Lebens zu fragen, den Stellenwert von Religion zu ergründen, anstatt sich so wie die Jugendlichen dafür zu entscheiden, in diesen Bereichen diffus zu bleiben. Wann haben Sie sich das letzte Mal mit ihrer religiösen Orientierung auseinander gesetzt? Wann haben das letzte Mal über den Sinn des Lebens und über die Endlichkeit des Lebens nachgedacht? Woher kommen die Positionen, die Sie in diesem Lebensbereich haben? Wann haben Sie das letzte Mal 95
mit Heranwachsenden darüber gesprochen? Sind Sie in Ihren Positionen erkennbar, wissen Ihre Kinder, was Sie denken? Wissen Sie, was Ihr Nachwuchs über Religion und das Weltgeschehen denkt? Aktuelle Ereignisse können dafür einen guten Anlass bieten. Der Tod eines nahen Angehörigen z. B. zwingt dazu, sich über Gott und seine Gleichgültigkeit zu erzürnen. Erlebt eine 13-Jährige, wie ihr Vater stirbt, erscheinen ihr die Probleme der Gleichaltrigen geradezu lächerlich. Das ist ein Thema, das Jugendliche nicht mit anderen Heranwachsenden besprechen können. Hierzu brauchen Sie das den verbliebenen Elternteil. An dieser Stelle wissen die Gleichaltrigen keine Antworten zu geben, ihre Hilfsangebote bleiben zu flach, trösten nicht. Die Jugendlichen, die sich in einer Entwicklungsdiffusion befinden, haben tausend Vorbilder, tausend Hülsen, die sie sich überstülpen können: Werte, Stars, Freunde, gesellschaftliche Gruppierungen. Ausgerechnet die Lehrer verschenken diese Identitätsmöglichkeit als Vorbilder und geben ihre Position nicht zu erkennen. Tatsächlich beobachte ich bei vielen Lehrerinnen und Lehrern die Tendenz, dass sie nicht bereit sind ihre Positionen preiszugeben. Wenn sie sich auf den Standpunkt stellen, nur ihr Fach unterrichten zu wollen, bieten sie den Jugendlichen keine Reibungsfläche mehr, und es besteht die Gefahr, dass sie diffus bleiben. Es wäre sinnvoll, dass die Lehrenden den Schülerinnen und Schülern im Unterricht erläutern, wie sie zu ihren Positionen gekommen sind und umgekehrt. Das ist keine Indoktrination, sondern Wertereflexion, die sogar die eigene Position in Frage stellen kann. Für Jugendliche sind wir Erwachsenen auch in den anderen Lebensbereichen nur ein Identitätsangebot unter vielen. Wir können sie nicht dazu zwingen, unserem Vorbild nachzueifern. Selbst wenn wir einen ganz intensiven Werteaustausch betreiben, können wir nicht verhindern, dass sie sich für ein ganz anderes Wertesystem entscheiden. Jeder Jugendliche baut sich seine Identität selbst auf. Aber wir müssen es zumindest probieren. Denn wenn wir es nicht tun, suchen sich die Jugendlichen ihre Vorbilder woanders und uns bleibt nur noch, über den Werteverlust der Jugend zu klagen oder darüber, dass sich die Kinder die falschen Freunde aussuchen. Die jahrtausende alten Klagen über die Jugend von heute sind somit auch Klagen darüber, dass man selbst in seinem Lebensstil nicht mehr als Vorbild von den Jugendlichen wahrgenommen wird. 96
Die kulturell adaptive Diffusion Während die bisher beschriebenen Diffusionsarten eher als individuelle Phänomene zu betrachten sind und daher auch individuelle Arbeit mit den Heranwachsenden erfordern, hat die dritte Art der Diffusion, die als kulturell adaptiv bezeichnet wird, weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen. Dieses Phänomen wurde von den Sozialpsychologen Wolfgang Kraus und Beate Mitzscherlich16 aus der Münchner Arbeitsgruppe von Heiner Keupp17 beschrieben. Kraus und Mitzscherlich haben junge Leute befragt, die ihre Berufsausbildung abgebrochen hatten und als Konsequenz an Umorientierungsmaßnahmen des Arbeitsamtes teilnahmen. Diese Gruppe von Jugendlichen galt als eine Risikogruppe für die Identitätsentwicklung. Zudem wurden junge Frauen und Männer befragt, die ihre Berufsausbildung regulär abgeschlossen hatten und bereits im Berufsleben standen, vorwiegend in den klassischen Angestelltenberufen (bei einer Versicherung, dem Finanzamt, einer Bank). In den Untersuchungen von Kraus und Mitzscherlich stellte sich zunächst heraus, dass Phänomene wie die gestörte Diffusion und die Entwicklungsdiffusion nach wie vor eine Rolle spielten und weiterhin vorhanden waren. Es zeigte sich jedoch noch ein weiteres Phänomen, das sich mit den bisherigen Begriffen nicht fassen ließ. Die Interviews der Befragten wiesen darauf hin, dass ihre berufliche Identität durchaus als diffus zu betrachten war. Da bei ihnen jedoch keinerlei Anzeichen von Belastung zu bemerken waren, wurden sie erst auf den zweiten Blick als Heranwachsende mit diffuser Identität wahrgenommen. Dabei schälten sich zwei Typen heraus: die sogenannten Identitätssurfer und die Alles-normal-und-egal-Gruppe.
Identitätssurfer – Anpassung an den schwankenden Boden Zur Gruppe der Identitätssurfer gehörten eher junge Männer aus Ballungsräumen, die bisher kaum längere Beschäftigungsverhältnisse hatten und keine klaren Auskünfte über ihre berufliche Zukunftsvorstellungen geben konnten oder wollten. In ihren Interviews waren Aussagen zu finden wie „Ich finde schon irgendwas“, „Ich mach mir deswegen keinen Stress, irgendwie bin ich immer durchgekommen“, „Es ist Quatsch, sich längerfristig zu binden, Berufsausbildung ist out“. Diese jungen Leute, die sich selbst 97
vielleicht als Lebenskünstler beschreiben würden, orientieren sich stark an den aktuellen Trends, sind leicht für neue Ideen zu begeistern, von denen sie aber auch schnell wieder ablassen, schließen sich schnell wechselnden Gruppen an, ohne sich ihnen innerlich verbunden zu fühlen, berichten von wechselnden Partnerschaften. Eine klare Orientierung haben sie nicht. Der von Kraus und Mitzscherlich geprägte Begriff „Identitätssurfer“ beschreibt den Trend, sich in schneller Folge Identitätsangebote überzustülpen, ohne dass diese Angebote als verbindlich oder verpflichtend angesehen würden. Gerade letzteres Merkmal deutet darauf hin, dass sich diese Jugendlichen nicht im Identitätsmoratorium befinden. Sie wechseln ihre Identität, aber sie befinden sich nicht auf der Suche nach einer Identität, der sie sich dauerhaft verpflichten. Der Begriff Identitätssurfer beschreibt aber gleichzeitig auch die Ursache, die Kraus und Mitzscherlich für dieses Phänomen ausmachen. Die Situation der Identitätssurfer entspricht einem schwankenden Untergrund, dem sie sich durch geschicktes Ausweichen auf andere Identitätsangebote immer wieder neu und flexibel anpassen können. Dieser schwankende Untergrund ist die aktuelle gesellschaftliche Situation, in der diese Jugendlichen, wie auch alle anderen, derzeit leben. Die sich rapide ändernden gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. die Beschleunigung des gesellschaftlichen Wandels in den letzten Jahrzehnten, macht es allen Heranwachsenden schwer, längerfristige Verpflichtungen einzugehen. Besonders in der beruflichen Situation wird dies deutlich. Jugendliche haben Schwierigkeiten, Ausbildungs- und Arbeitsplätze zu finden, die Ausbildungen, die sie machen, versprechen nur selten längerfristige Arbeitsangebote. Sie übernehmen Kurzzeitjobs, die ihnen den Lebensunterhalt sichern können, ihnen aber keine innerliche Verbundenheit ermöglichen. Partnerschaftliche Beziehungen, politische und weltanschauliche Orientierung, Freundschaften – in all diesen Bereichen ist bei Identitätssurfern ebenfalls ein schneller Wechsel zu beobachten, da die aktuellen Bedingungen sich ändern, längerfristige Verpflichtungen möglicherweise mit Enttäuschungen enden können.
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„Alles total normal und egal“ Die zweite Gruppe unterschied sich von den Identitätssurfern durch ihre kontinuierlich verlaufene Berufsbiografie. Die hervorstechenden Merkmale von Identitätsdiffusion, d. h. Ruhelosigkeit, die schnellen Wechsel und Brüche, fehlten bei dieser Gruppe vollständig. Insbesondere junge Frauen waren in dieser Gruppe zu finden, die als Alles-normal-und-egal-Gruppe bezeichnet wurde. Interviewaussagen dieser Gruppe klangen wie folgt: „Nach meinem Schulabschluss hab’ ich mir einen Ausbildungsplatz gesucht. Mir wurde eine Banklehre angeboten, und die hab’ ich dann halt gemacht. Na ja, ist nicht gerade mein Traumberuf, aber ein sicherer Arbeitsplatz, und ich verdiene mein Geld damit. Da habe ich auch den Peter kennen gelernt, wir sind zusammen ausgegangen. Irgendwann haben wir dann geheiratet. Bald war das erste Kind unterwegs. Er ist nicht gerade meine große Liebe gewesen. Aber wir kommen ganz gut miteinander aus. Mein Sohn ist jetzt drei Jahre alt und geht in den Kindergarten. Das Muttersein ist zwar nicht ideal, aber es läuft schon irgendwie.“ Diese fiktive Interviewsequenz verdeutlicht das Bestreben dieser Heranwachsenden, ein ganz und gar normales Leben zu führen. Erst auf den zweiten Blick ist erkennbar, dass innere Bindung und Verpflichtung zu den gewählten Lebensentwürfen fehlen und kaum alternative Lebensformen exploriert wurden und werden. Im Unterschied zu Heranwachsenden mit übernommener Identität fehlt dieser Gruppe die innere Verpflichtung zu dem, was sie tun. Die Suche nach Alternativen zum aktuellen Lebensentwurf fehlt ganz, wodurch sie sich deutlich von den Heranwachsenden im Moratorium unterscheiden. Eins haben sie mit den Identitätssurfern gemeinsam. Sie fürchten Leute, die sich eine Identität erarbeitet haben, weil dies eine Bedrohung für den eigenen diffusen Lebenslauf darstellt. Schnell neigen sie dazu, sich über Leute mit erarbeiteter Identität lustig zu machen, sie als Spinner zu bezeichnen und diese zu fragen, warum sie sich das antun. „Das hätte eh nicht zu mir gepasst, diese Möglichkeit hätte ich sowieso nicht gehabt, das ist was für Leute aus Großstädten oder das mach’ ich alles später mal“, lauten ihre Ausflüchte. Beide Gruppen lassen sich unter den Begriff der kulturell adaptiven Identitätsdiffusion subsumieren. Er verdeutlicht, dass die Ursache dafür nicht in individuellen Entwicklungsbesonderheiten, sondern in der aktuellen gesellschaftlichen Situation zu suchen ist. Diesen Heranwachsenden ist es gelungen, sich an die aktuelle gesellschaftliche Situation sehr gut anzupassen. Für 99
die schwankenden gesellschaftlichen Bedingungen haben sie eine geschickte Lösung gefunden: Die Identitätssurfer verpflichten sich nicht mehr, wandeln sich genauso schnell, wie die Gesellschaft sich wandelt. Die Totalnormal-und-egal-Gruppe sucht sich ihre Nische und schottet sich vom gesellschaftlichen Wandel ab, ohne ihn auch überhaupt nur zu reflektieren. Aus der Sicht von Leuten, die sich mit ihrer eigenen Identität sehr intensiv beschäftigen und die auch schmerzliche Brüche und Widersprüche an und in sich wahrnehmen, erscheint diese kulturell adaptive Identitätsdiffusion beneidenswert. Sowohl die Identitätssurfer als auch die Alles-normal-undegal-Gruppe beargwöhnen sich gegenseitig. Beide haben Wege gefunden, sich aktiv mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinander zu setzen oder auf ihm zu reiten, ohne ihn selbst mitzugestalten.
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III. „Die Pluralität von Lebensentwürfen heute erschwert die Identitätssuche, anstatt sie zu erleichtern, und führt zur Diffusität.“
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Auswirkungen von Diffusität „O Jugend! Eine furchtbare Zeit. (...) heraus kommen unbekümmerte, nutzlose, rücksichtslose und verantwortungslose kleine Bälge!“ (Shakespeare, 1564-1616)
Eine Gesellschaft, die sich ständig wandelt, fördert Identitätsdiffusion. Nur wenige halten es durch, sich trotz wechselnder Bedingungen immer wieder eine neue Identität zu erarbeiten. Andererseits sind es ja Individuen, die diesen Wandel vollziehen. Eine „diffuse Gesellschaft“ ist eine Gemeinschaft von vielen konkreten Menschen mit diffusen Positionen und Haltungen. Der Fingerzeig auf die Gesellschaft ist somit immer ein Fingerzeig auf sich selbst als Teil dieser Gruppe. Je mehr Menschen in ihrer Identität diffus sind, desto kurzlebiger sind auch die Trends und umso seltener werden längerfristige gesellschaftliche Entwicklungsprozesse in Gang gesetzt. Menschen mit diffuser Identität haben nicht nur Schwierigkeiten, dauerhafte Beziehungen mit einem Partner einzugehen, sondern auch im beruflichen Bereich mit Kollegen und Kunden. Die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der vergangenen Zeiten haben längerfristige, dauerhafte, auf Untrennbarkeit bezogene Beziehungen nahe gelegt. Heute erscheint uns als sehr konservativ und starr, dass eine Partnerschaft ein Leben lang halten soll. Früher hatten Partnerschaften auch eine andere Funktion als heute. Die Ehe war eine längerfristige Versorgungseinrichtung, die auch zum Schutz der Partner angelegt war, insbesondere der Frauen und Kinder. Was aus heutiger Sicht reaktionär erscheint, war von den kirchlichen Institutionen so eingeführt worden, weil Geburtenkontrolle noch nicht möglich war und Frauen in den seltensten Fällen unabhängig gewesen sind. Die Ehe sollte auch die Männer davon abhalten, ihre Familie im Stich zu lassen und sich eine neue Partnerin zu suchen, ohne die entsprechende wirtschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Dass Frauen die Ehe oftmals als Last empfunden haben, lag nicht an der Ehe an sich, sondern daran, dass es wegen ihrer wirtschaftlichen Abhängigkeit keine Alternativen für sie gab. Im Zuge der Emanzipation und des gesellschaftlichen Wandels haben Frauen zunehmend wirtschaftliche Unabhängigkeit erreicht und konnten damit auch auf die wirtschaftliche Versorgung des Mannes verzichten und ohne ihn leben. Damit ist für 103
die Frauen eine Lebensalternative entstanden. Das hat auch für die Männer die Situation verbessert, da für sie jetzt auch alternative Lebensentwürfe denkbar geworden sind. Damit ist allerdings auch eine Gefahr verbunden: Die Gefahr, die partnerschaftliche Einbindung überhaupt zu verlieren. Single zu bleiben, hat seinen Reiz, zieht aber durch die große Anzahl von unterschiedlichen Lebensentwürfen, die mit jeder neuen möglichen Beziehung wechseln, erneut viel Exploration nach sich und macht es schwer, sich längerfristig zu binden.
Geschiedene Ehen „Bis dass der Tod euch scheidet“, dieser kirchliche Schwur galt gestern, heute sprechen wir eher von Lebensabschnittspartnerschaften. So werden die Partnerschaften nicht aus wirtschaftlichen Erwägungen eingegangen, sondern potenzielle Partnerinnen und Partner werden dahingehend überprüft, ob sie dem eigenen aktuellen Lebensentwurf dienlich oder hinderlich sind. Wird festgestellt, dass der Nutzen der Person dem eigenen Lebensentwurf gerade entgegensteht, ist es leicht, sich wieder zu trennen und eine neue Partnerschaft einzugehen oder auch alleine zu leben. Auch das ist ein Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels in den Lebensentwürfen, und auch das befördert Identitätsdiffusion. Wir suchen nicht nach dem, was auf uns passen könnte, und die Verpflichtungen, die wir eingehen, sind kurz und am aktuellen Selbstzweck orientiert. Das reicht von der rein sexuellen Beziehung über reine Zweck-Wohngemeinschaften bis hin zur klassischen Vorstellung, dass die Partnerschaft dem Kinderkriegen und -erziehen sowie der Arbeitsteilung dient. Die alternativen Lebensmodelle locken immer, sie sind greifbar nahe zu jeder Zeit. Dadurch stellen sie die derzeit gewählte partnerschaftliche Konstellation permanent in Frage. „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch noch was besseres findet“ – ein Ausdruck der derzeitigen gesellschaftlichen Realität. Viele verlieren also auch in diesem Bereich die gesellschaftliche Einbindung, können keine tiefen emotionalen Bindungen zu anderen Menschen aufbauen, beurteilen aktuelle Partner nur nach der aktuellen Nützlichkeit und trennen sich schnell wieder von ihnen, sobald Probleme auftauchen. All dies sind klassische Merkmale einer diffusen Identität. Für das Jugendalter jedoch stellt auch dies wiederum lediglich eine typische Entwicklungsdiffusion 104
dar und ist in dieser Lebensphase ein ganz normales Selbstfindungsphänomen. Sie kann aber unter den heutigen Bedingungen im weiteren Lebensverlauf schnell chronisch werden, da sie so perfekt zu den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen zu passen scheint, also kulturell adaptiv ist.
Gestörte Freundschaften Zwar sieht es in den Großstädten noch einmal anders als in den Kleinstädten, aber insgesamt vollzieht sich ein Wandel in ganz Deutschland. Es gibt zudem zunehmend kleiner werdende Geschlechterunterschiede, obwohl die Last des Kinderkriegens und -erziehens immer noch hauptsächlich bei den Frauen liegt und damit auch die quälende Frage „Beruf oder Karriere?“ weiterhin von ihnen beantwortet werden muss. Freundschaftsbeziehungen sind genauso betroffen. Menschen mit diffuser Identität haben oft Schwierigkeiten, längerfristig dauerhafte Freundschaftsbeziehungen einzugehen, da sie für ihre potenziellen Freunde unvorhersehbar und unberechenbar sind, viele Gesichter aufweisen. Um die typischen Merkmale einer Freundschaftsbeziehung noch einmal zu vergegenwärtigen: Es handelt sich um eine freiwillige Beziehung, die auf Gegenseitigkeit und gemeinsamen Interessen beruht, die zukunftsorientiert und auf Dauerhaftigkeit angelegt sowie von gegenseitigem Vertrauen geprägt ist. Das Element Sexualität steht nicht im Vordergrund. Wenn man diese Merkmal betrachtet, wird deutlich, warum Menschen mit diffuser Identität zu wahren Freundschaften kaum in der Lage sind. Ihnen fehlt die Fähigkeit zur gegenseitigen Interessenabstimmung, sie fühlen sich den Freunden gegenüber nicht verpflichtet. Ihnen fehlt die Fähigkeit, Vertrauen zu anderen zu entwickeln. Freundschaften von Menschen mit diffuser Identität untereinander sind zumeist kurze, zweckorientierte Kameradschaften oder Kumpaneien, die auch schnell ohne gegenseitiges Bedauern aufgelöst werden. Man erkennt Freunde mit diffuser Identität insbesondere daran, dass sie selbstbezogen sind, notorisch unzuverlässig und unpünktlich, dass sie eingegangene Verpflichtungen nicht einhalten und auf das Ende von Freundschaften nur kurzfristig emotional betroffen reagieren. Wenn nun Heranwachsende keine echten Freundschaften entwickeln, fehlen ihnen auch grundlegende Entwicklungsbedingungen. Sie haben keine Gruppe, bei der sie Rückhalt finden, in der sie bedingungslos akzeptiert werden, in der sie sich ausprobieren. Und ihnen fehlt eine Gruppe, mit der 105
man Spaß haben und etwas erleben kann. Somit stellt eine diffuse Identität in gesellschaftlicher Beziehung ein echtes Entwicklungsrisiko für Heranwachsende dar.
Gleichgültigkeit und fehlende Zivilcourage Das Gleiche gilt für Beziehungen zu Kollegen, Kunden und Nachbarn – auch hier hat die gegenseitige Verpflichtung nachgelassen, wie oft wurde im letzten Jahr allein publik gemacht, dass kleine Kinder misshandelt werden können, ohne dass die Nachbarn etwas bemerken oder gar auf die Idee kommen zu reagieren – das rechte Maß, Zivilcourage zu beweisen, wird nicht mehr gesucht, obwohl viele Experten-Tipps zu diesem Thema im Internet zu finden sind. Hier wirkt möglicherweise auch das Phänomen der Verantwortungsdiffusion: Je mehr Leute eine Straftat beobachten, desto geringer ist die Chance, dass jemand eingreift, weil alle denken, dies könnte ja jemand anderes tun. Auch ist das Gefühl von Hausgemeinschaft bei vielen verschwunden. Früher feierte man noch Silvester oder ging zusammen in den Subbotnik, zu Deutsch: Arbeitseinsatz im Haus, heute werden kaum noch Plätzchen zu Weihnachten vor die Tür gelegt, aus Angst vor zu viel sozialer Kontrolle. Ein solch gleichgültiges Verhalten breitet sich in sehr vielen Alltagsbereichen aus, in der Schule, in Krankenhäusern, überall wo Menschen sehr intensiv miteinander arbeiten und zusammenleben, wird dieses Phänomen, diese „Ist mir doch egal, ich kümmere mich nicht um den anderen“-Haltung überdeutlich. In einer Callcenter-Fortbildung habe ich einmal beobachtet, wie einer meiner Teilnehmer eine Kundin am Telefon ganz schnell und unfreundlich abfertigte. Der Grund: Sie brachte ihm laut Vertrag nur 20 Cent Gewinn ein, ein intensives Gespräch wäre somit nicht lukrativ gewesen. Eine soziale Verpflichtung gegenüber der Kundin als Mensch hat der Teilnehmer nicht empfunden.
Austauschbare Meinungen Persönlichkeiten mit diffuser Identität sind unangenehm, weil man sich mit ihnen nicht streiten kann. Sie bewegen sich nicht mit anderen zusammen auf 106
ein gemeinsames Ziel zu und machen keine Kompromisse. Sie besitzen keine Verhaltensweisen, die Beziehungen zusammenhalten. Sie vertreten keine klaren Positionen, an denen man sich reiben kann. „Da sitzt die CDU mit am Tisch“, spottete die PDS-nahe Oma eines Bekannten beim täglichen Abendessen immer gern über ihre erwachsene Tochter, die sich politisch einfach nicht entscheiden konnte. Sie hing entweder ihr Fähnchen in den Wind oder zuckte einfach nur mit den Schultern, wenn ihre Meinung gefragt war. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor?
Politisches Desinteresse Im Bereich der politischen Orientierung hat die kulturell adaptive Diffusion bereits erschreckende Ausmaße angenommen. Das Erleben der Bürger ist, dass politische Richtungen austauschbar geworden sind, dass Entscheidungen nicht mehr längerfristig vorbereitet und vorgetragen werden, dass das politische System nicht mehr aktiv und vorausschauend agiert, sondern nur noch passiv auf bestimmte Situationen reagiert und Phänomene wie die Globalisierung es unmöglich machen, tatsächlich noch vor Ort mitzugestalten. Die gefühlte Ohnmacht, dass niemand mehr auf drängende gesellschaftliche Fragen gute Antworten geben kann, das Erleben, dass bestimmte politische Entscheidungen herausgezögert werden, weil Lobbyinteressen bedient werden müssen, bewirkt, dass viele Bürger heute in ihrer politischen Identität diffus geworden sind. Sie setzen sich nicht mehr mit aktuellen politischen Fragen auseinander, prüfen die unterschiedlichen Ansichten nicht mehr und fühlen sich zu keinen eigenen politischen Anschauungen verpflichtet. Die sichtbarsten Symptome dafür sind der Mitgliederschwund in den Parteien, die große Zahl der Wechselwähler und die wachsende Zahl der NichtWähler. Eine Aussage, die häufig zu hören ist, lautet: „Ich interessiere mich nicht für Politik. Die Politiker machen doch eh, was sie wollen.“ Wie ist das bei Ihnen, haben Sie sich ihre politische Orientierung in einem langen Prozess erarbeitet? Und sich auch mit alternativen politischen Ideen beschäftigt? Können Sie Ihre politische Identität eindeutig benennen? Sind Sie auch bereit, für diese Orientierung einzutreten? Sie zu verteidigen, sich aktiv für sie zu engagieren? Haben Sie Alternativen ausprobiert und fühlen Sie sich Ihrer derzeitigen Wahl verpflichtet? Wenn Sie die letzten beiden 107
Fragen mit nein beantworten, haben Sie im Bereich Politik eine diffuse Identität. Sie sind damit in „guter“ Gesellschaft. Die politische Diffusität von Menschen birgt jedoch neben dem Unpolitisch werden noch eine weitere, schleichende Gefahr: Politisch diffuse Menschen ohne Selbsterforschung und Selbstverpflichtung sind anfällig für jede Art politischer Radikalität. Identitätsangebote, wie sie von extremen Rechten oder extremen Linken offeriert werden, erscheinen verlockend, weil sie in sich so geschlossen erscheinen, dass es leicht ist, sie einfach zu übernehmen. Wenn die einzige politische Überzeugung das Dagegensein ist, haben Radikale ein leichtes Spiel. Die Erarbeitung einer politischen Identität ist somit immer eine Schutzimpfung gegen Einflüsterungen radikaler Gruppierungen, Parteien und Sekten – denn jemand, der exploriert und hinterfragt hat, wird in ideologischen Fertighäusern kein Zuhause mehr empfinden können.
Bruch mit der biografischen Kontinuität Die Funktion der biografischen Kontinuität besteht darin, die eigene Identität für sich selbst und andere wiedererkennbar und unverwechselbar zu machen. In ihr erkenne ich mich wieder, obwohl sich meine Lebensumstände, Auffassungen, Einstellungen, Ziele und Lebensentwürfe im Verlauf meines Lebens über Jahrzehnte hinweg geändert haben. Brüche in meiner eigenen Identität erklären sich mir aus meiner Biografie heraus: Ich weiß, warum ich damals so gehandelt und gedacht habe, selbst wenn ich heute anders denke und handele, das war ich damals, trotz allem, was ich inzwischen denke uns wie ich mich wahrnehme. Sich zu unterschiedlichen Lebenszeitpunkten seine eigene Identität immer wieder zu erarbeiten, sich selbst und die eigenen Positionen immer wieder neu zu überprüfen, die eigenen Auffassungen auch einmal zu ändern und neue Verpflichtungen einzugehen, bedeutet – im Nachhinein betrachtet – auch immer wieder Fehler gemacht zu haben. Biografische Kontinuität bedeutet dann, die begangenen Irrtümer erkennen zu können und trotzdem zu wissen, warum man sie begangen hat, sie also weiterhin als etwas Eigenes anzusehen und für die eigene Biografie Verantwortung zu übernehmen. Mit den zentralen Lebensthematiken, wie Erik Erikson sie formuliert hat, habe ich schon die Ich-Integrität als die letzte zu meisternde Herausforde108
rung vorgestellt. Die Arbeit an der Ich-Integrität beschränkt sich aber nicht nur auf das höhere Lebensalter, sondern ist täglich neu zu leisten. Sobald ich als Heranwachsender beginne, mich mit meiner Identität auseinander zu setzen, beginnt auch die Auseinandersetzung mit der Ich-Integrität, d. h. ich frage mich, ob die unterschiedlichen Identitäten, die ich in unterschiedlichen Lebensbereichen entwickelt habe, zueinander passen, und ob ich mir auch in der Rückschau erklären kann, warum ich in welchem Alter und in welchem Lebensbereich jeweils welche Identität, Auffassung und Position gehabt habe.
Das diffuse Ich und die Gesellschaft Das Gefährliche an einer diffusen Identität ist, dass auch die Ich-Integrität diffus bleiben kann. Es mischt sich diffuse Auffassung in einem diffusen Gesamtbild. Es ist der widerstandsärmste Weg: Ich frage mich nicht, warum ich so gewesen bin, warum einzelne Lebensbereiche in meiner Identität widersprüchlich erscheinen – ich ignoriere dies alles. Sie kann aber auch dazu führen, dass mir meine eigene Biografie im Nachhinein unverständlich bleibt, ich mir also mein eigenes Handeln später nicht mehr erklären kann. Laut Erikson ist das Pendant zur Ich-Integrität die Verzweiflung. Wenn es mir nicht gelingt, mir mein Leben als etwas zu erklären, was genau so und nicht anders hat sein sollen, wenn ich die vielen Widersprüche nicht auflösen und in einem kohärenten Bild zusammenführen kann, so wird in meinem Leben das Gefühl überwiegen, dass etwas mit mir nicht stimmt, dass ich meinen Weg nicht gemacht habe, dass mir die Zeit davonrennt, ich bestimmte Dinge nicht nachholen kann. Es entsteht das Gefühl, dass alles viel zu normal und unreflektiert abgelaufen ist und ich irgendwann verpasst habe mich nach dem Sinn meines Lebens zu fragen. Wir brauchen uns nur die vielen alten verbitterten Menschen zu betrachten, denen man die Unzufriedenheit über ihr eigenes Leben auch ansehen kann. Sie zweifeln schon lange an sich, und ich bin mir sicher, dass sie auch verzweifelt sterben werden. Diese latente Unzufriedenheit beobachten wir bereits in der typischen Midlife-Crisis oder auch schon bei jüngeren Menschen. Da eine erarbeitete Identität diesem Bruch mit der eigenen Vergangenheit durch viele durchleb109
te Krisen vorbeugt, stellt sie gegen diese Art der Verzweiflung ein Schutzschild dar – weil ich immer weiß, dass es richtig war, wie ich gelebt habe, und all diese Widersprüche zu mir gepasst haben, zu allen Zeiten meines Lebens. Eine erarbeitete Identität ermöglicht es mir, mit Diskontinuitäten umzugehen und sie trotzdem als etwas Normales anzusehen. Auch wenn ich in eine Lebenskrise gerate, so weiß ich, dass es in meiner Vergangenheit kritische Situationen gegeben hat und dass es mir auch in der Vergangenheit gelungen ist, durch aktive Identitätsarbeit, also durch eine Suche nach Alternativen und neuen Verpflichtungen, vielleicht sogar gestärkt aus diesen Lebenskrisen hervorzugehen. Ich erkenne mich selbst in meiner Vergangenheit wieder und kann mir dadurch mein aktuelles Denken und Handeln besser erklären und auch aktiver und selbstbestimmter mit meiner Zukunft umgehen. Ich empfinde mich als jemand, der mein Leben selbst gestaltet und nicht vom Zufall regiert wird. Und dieses Gefühl von Kontrolle über das eigene Leben fehlt den Menschen mit einer diffusen Identität, die sich ihre eigene Identität nicht erarbeitet und sich selbst gegenüber nicht verpflichtet haben. Das Problem der Diffusion zieht sich durch alle Lebensbereiche. Das Phänomen der kulturell adaptiven Diffusion ist also nicht nur in Beruf und Politik, sondern auch in familiären Orientierungen und Freundschafts- und Freizeitbeziehungen, bei der Geschlechtsrolle, im religiösen und weltanschaulichen Bereich und in den Lebensstilen zu beobachten. Damit ist das Phänomen der diffusen Identität nicht auf die Gruppe der Jugendlichen beschränkt. Das Fehlen von Exploration und Verpflichtung zieht sich durch alle Altersgruppen. Dadurch beschleunigt sich der gesellschaftliche Wandel noch mehr, und dieser wird die Diffusion immer weiter vorantreiben. Wir gleiten langsam aber sicher in ein neues Zeitalter: das der diffusen Gesellschaft.
Gefahr im Verzug Was ist so schlimm daran? Die vorangehenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die kulturell adaptive Diffusion ein sehr geschicktes Vorgehen ist, um mit sich selbst und der Gesellschaft fertig zu werden. Identitätsdiffusion schützt vor inneren Widersprüchen und den damit verbundenen Belastungen, und sie hilft uns, sehr schnell mit neuen Lebenssituationen 110
fertig zu werden. Warum also klagen? Die Gefahren der diffusen Identitäten liegen klar auf der Hand: Der Verlust der gesellschaftlichen Einbindung, die Schwierigkeit der biografischen Kontinuität, die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen mit Mitmenschen einzugehen, das Fehlen von individueller gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme, die Förderung risikoreicher Verhaltensweisen und psychischer Probleme und das erwähnte Phänomen der Transgenerativität, der Weitergabe der eigenen diffusen Identität an die nächste Generation. Wenn das Individuum sich nicht mehr gesellschaftlich einbinden lässt, stellt dies aus gesellschaftlicher Perspektive einen herben Verlust dar: Menschen mit diffuser Identität sind für die gesellschaftlichen Gestaltungs- und Veränderungsprozesse verloren. Sie werden nicht mehr aktiv mitgestalten, sondern nur noch passiv im gesellschaftlichen Strom mitschwimmen. Schon heute ist zu beobachten, dass die Zahl der Aktiven in Parteien oder Gewerkschaften kontinuierlich abnimmt. Es findet auch kein kritisches Nachfragen oder Entwickeln von Alternativen statt. Damit liegt die Last der gesellschaftlichen Verantwortung in den Händen einer immer kleiner werdenden Gruppe. Zusätzlich erscheint dabei problematisch, dass diese gesellschaftliche Gruppe, die die öffentliche Meinung dominiert und gesellschaftliche Entwicklung gestaltet, auch nicht ausschließlich aus Menschen mit erarbeiteter Identität besteht. Es gibt auch viele, die sich im Moratorium befinden oder eine übernommene Identität aufweisen. Konkret bedeutet dies, dass gesellschaftliche Prozesse nicht nur von Menschen gestaltet werden, die sich ihre eigene Überzeugung und Anschauung erarbeitet haben, sondern auch von Leuten, die ihre eigene Überzeugung unkritisch von anderen übernommen haben oder selbst noch auf der Suche nach eigenen Überzeugungen sind. Das ist gesellschaftliche Realität, so muss sie auch anerkannt werden. Zu befürchten ist nur, dass diesen Gruppen eine immer größer werdende Gruppe von Leuten gegenübersteht, die sich dem gesellschaftlichen Diskurs ganz entzogen haben. Fehlende aktive Mitbestimmung ist schon bei Schülerinnen und Schülern zu beobachten. Die Zahl derer, die sich aktiv ins schulische Geschehen einzubringen versucht, ist relativ gering. Lehrer beschreiben das als Null-Bock-Phänomen und sehen keine Motivation. Das beschränkt sich allerdings nicht auf diese Altersgruppe, sondern setzt sich in den späteren Lebensbereichen fort. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, wie viele 111
Menschen sich heute noch in Bürgerbewegungen oder Parteien engagieren, nach wie vor gewerkschaftlich organisiert sind oder sich an Demonstrationen beteiligen – es werden immer weniger.
Niemand protestiert Ist es nicht erstaunlich, dass die großen Massenproteste ausgeblieben sind, nach all den Änderungen in den Sozialgesetzen und angesichts der Schere, die sich angesichts der Verarmung in weiten Teilen der Gesellschaft, den hohen Arbeitslosenzahlen auf der einen Seite und der florierenden Wirtschaft und hohen Wirtschaftsgewinnen auf der anderen Seite auftut? Massenbewegungen wie der erfolgreiche Aufstand der Jugendlichen in Frankreich gegen die Änderung der Erstanstellungsgesetze oder auch die Bauernund Rentnerproteste sind in Deutschland nahezu ausgeblieben. Auch der „weiße Marsch“ in Brüssel, ein Protest gegen die Unfähigkeit der Justiz bei der Verfolgung von Kindsmördern und Kinderpornohändlern, die Verstrickung von Beamten und Politikern in kriminelle Machenschaften rund um den Fall des ermordeten Sozialistenchefs André Cools, verwandelte Hundertausende belgische Normalbürger in couragierte Kämpfer. Man beachte: In der BRD hingegen hat die kürzlich geplante Neubelebung der zu DDRZeiten legendären Montagsdemonstrationen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden! Dahinter steckt die kulturell adaptive Identität unserer Gesellschaft: Die Deutschen ziehen sich in ihr Privatleben zurück und verfolgen die gesellschaftliche Auseinandersetzung, wenn überhaupt, nur noch am Fernsehgerät mit. Eine erarbeitete Identität hingegen zwingt die Menschen zur Parteinahme – und das wollen viele nicht mehr. Die gesellschaftliche Einbindung geht nicht nur im politischen und weltanschaulichen Bereich verloren. Ihr Verlust lässt sich an ganz vielen kleinen Alltagsproblemen konstatieren. Stadteile verwahrlosen, Menschen werfen achtlos ihren Sondermüll unter die Brücken oder in verwilderte Gärten, im Straßenverkehr wird rücksichtslos gedrängelt und geschimpft, das Steuersystem wird mit Leichtigkeit hintergangen, Versicherungen ohne Gewissensbisse betrogen. Manche Eltern nehmen im Umgang mit ihren Kindern eine Laissez-faire-Haltung ein und lassen sie machen, was sie wollen. Lehrer verhalten sich ihren Schülern gegenüber indifferent. In den Altenheimen werden die Menschen im Sekundentakt abgefertigt. Das Brisante daran ist: Es 112
handelt sich hier nicht mehr um ein Phänomen des Jugendalters, das als Entwicklungsdiffusion eine typische Phase dieses Lebensabschnittes darstellt. Dieses Verhalten, das als kulturell adaptive Diffusion aufgefasst werden kann, zeigt sich inzwischen genauso bei den Erwachsenen und ist hier inzwischen – unter anderem als so genanntes Kavaliersdelikt – sogar zum Standard geworden. Aber wir brauchen zum Fortbestand unserer Gesellschaft in allen Berufsgruppen eine bestimmte Anzahl von Bürgern, die sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, ebenso in Familie, Freundschaften, Freizeit und Lebensstil. Der Diffuse aber übernimmt keine Verantwortung für das, was er tut. Er entzieht sich dem gesellschaftlichen Gestaltungsprozess – was langfristig eine große Gefahr bedeutet.
Der Mensch als Individuum in einer Gemeinschaft Um dieser Diffusität entgegenzuwirken, ist es wichtig, dass Eltern und Lehrer den Jugendlichen verdeutlichen, dass sie soziale Wesen sind und ihr Handeln sich nicht im luftleeren Raum vollzieht, sondern auch immer Konsequenzen für die Mitmenschen hat. Aus diesem Grund sollten sie stärker in gesellschaftliche Prozesse eingebunden werden. Es ist wichtig, dass man sie auch Verantwortung übernehmen lässt. Das Jugendalter ist genau der richtige Zeitpunkt dafür, denn jetzt erst entwickelt sich die Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme. Ihre Entwicklung bedarf jedoch einer aktiven Anregung von außen, sonst bleibt sie aus. Erst im Jugendalter entsteht die Fähigkeit, tatsächlich aus der Position einer dritten Person auf sich selbst und auf sein Gegenüber zu schauen. Erst ein Jugendlicher ist in der Lage, die Frage zu reflektieren, was wohl ein Außenstehender über ihn und sein Gegenüber in dieser Situation über die unterschiedlichen Positionen, die hier vertreten werden, sagen würde. Der letzte Entwicklungsschritt im Hinblick auf die soziale Perspektivenübernahme, sich auch von der Position dieser dritten Person lösen und aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive auf die Situation schauen zu können, wird selbst von vielen Erwachsenen nicht erreicht. Gerade diese Entwicklung stellt die Voraussetzung dafür dar, sich aktiv an gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu beteiligen und dabei auch das Allgemeinwohl über individuelle Einzelinteressen stellen zu können. Gesellschaftliches Engagement bei Menschen, denen diese Fähigkeit zur Perspektivenübernahme 113
fehlt, wird immer vom Eigeninteresse dominiert sein. Menschen, denen diese gesellschaftliche Perspektive fehlt, werden sich immer fragen, was es ihnen nützt oder schadet. Sie werden sich nur dann an gesellschaftlichen Gestaltungsprozessen beteiligen, wenn damit ein konkreter Nutzen für sie selbst verbunden ist. Bleibt dieser konkrete Nutzen aus, stellen sie das gesellschaftliche Engagement ein.
Perspektivenübernahme fordern und fördern Diffuse Identität und das Fehlen der gesellschaftlichen Perspektive sind eng miteinander verwandt. Die kritische Reflexion der eigenen Position ist immer auch mit einem Abwägen der Positionen anderer verbunden. Sich eigene Positionen erarbeitet zu haben und sich ihnen auch verpflichtet zu fühlen, bedeutet immer auch zugleich, die Bedingungen zu kennen, die zu diesen eigenen Positionen geführt haben und sich dessen bewusst zu sein, dass eine Änderung dieser Bedingungen auch zur Neuanpassung der eigenen Position an die neue Situation zwingen wird. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist somit auch eine erarbeitete Identität instabil – eine Gemeinsamkeit, die eine erarbeitete Identität mit der eines Identitätssurfers hat. Die Identität eines Identitätssurfers ist ebenso mit häufigen Schwankungen verbunden. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Menschen mit diffuser Identität wenig dazu beitragen, die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern. Die Förderung der sozialen Perspektivenübernahme stellt somit eine Möglichkeit dar, diffusen Identitäten bei Heranwachsenden vorzubeugen. Jugendliche sollten immer dazu angehalten werden, die eigene Position zu verdeutlichen, die Position des Gegenübers zu erkennen, zu erläutern und dann schildern zu können, wie ein Dritter die aktuellen Positionen beurteilen würde und was die eigene Position und die des Gegenübers im gesamtgesellschaftlichen Kontext bedeutet. In diesen Diskussionen sollten sie angeregt werden, Positionsvorschläge zu entwickeln, durch die die eigene Position nicht unterlaufen wird und gleichzeitig im Einklang mit den Interessen anderer zu bleiben. Erst dadurch wird ermöglicht, dass Jugendliche durch ihre eigene Position längerfristig gesellschaftliche Verantwortung übernehmen können. Sie müssen also das Gefühl vermittelt bekommen, selbst gesellschaftliche Prozesse beeinflussen zu können, ein Teil der Gesellschaft zu sein. Es ist die Erkenntnis, eines von den vielen Gesichtern zu sein, die sie 114
tagtäglich auf der Straße und im Fernsehen sehen, dass die Gesellschaft keine anonyme Masse ist, sondern ganz konkrete Menschen wie sie auch. Wir müssen wie jeder andere selbst aktiv werden und uns ändern, wenn wir gesellschaftlich etwas ändern wollen. Ansonsten bleibt uns nur, auf die gesellschaftlichen Änderungen zu reagieren und uns anzupassen – und eine kulturell adaptive Identität zu entwickeln.
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Autoinitiationsversuche
Durch die diffuse Gesellschaft können beim Individuum risikoreiche Verhaltensweisen bis hin zu psychischen Störungen entstehen. Weil gesellschaftlich definierte Initiationsriten ins Erwachsenenalter hinein fehlen, versuchen orientierungslose und innerseelisch instabile Jugendliche für sich selbst eigene Techniken zu entwickeln, diesen Übergang zu strukturieren. Sie entwickeln ihre eigenen Strategien und starten sogenannte Autoinitiationsversuche. Das heißt, sie denken sich in ihren Cliquen eigene Rituale aus, die sie sich gegenseitig auferlegen, damit sie Teil einer vordefinierten Gemeinschaft werden können. Dazu gehören bestimmte Mutproben, mit denen sie ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Status beweisen können, wie z. B. riskantes Fahrverhalten, die Einnahme gefährlicher oder verbotener Substanzen, Alkohol, Drogen, Flatrateparties. Auch Tätowierungen und Piercings haben einen ähnlichen Zweck. Sie verdeutlichen, dass ihre Träger einen schmerzhaften Ritus durchstanden haben und somit erwachsene Züge tragen. Die gesellschaftliche Anerkennung dieser Autoinitiationsversuche ist unterschiedlich. Dem eigentlichen Ziel, nämlich in der Gemeinschaft Akzeptanz zu finden, dienen sie nur begrenzt. Zumeist reduziert sich diese Anerkennung auf spezifische, eingeschränkte gesellschaftliche Gruppierungen. Aufnahmerituale, wie sie z. B. in der Bundeswehr oder in Gefängnissen oder in schlagenden Studentenverbindungen üblich sind, zeigen, welch hohen Preis Heranwachsende zahlen, um zumindest in einer recht kleinen gesellschaftlichen Gruppe den Status eines vollwertigen Gruppenmitglieds zu erlangen. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene jedoch verfehlt diese fraglich erscheinende Reputation vollkommen ihre Wirkung.
Ein Ritus, der Sicherheit schaffen soll Dieter Bürgin18 hat diese Autoinitiationsversuche als Folge einer diffusen Identität genau untersucht. Er zeigt auf, dass in den Verhaltensweisen der Jugendlichen die typischen Merkmale eines Initiationsritus erfüllt sind. Der
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Initiationsritus wird hier als pathologisches Verhalten gedeutet. Autoinitiationsversuche geben laut Bürgin psychisch instabilen und psychisch diffusen Menschen das Gefühl, sich eine Identität erarbeiten zu können. Typische Phasen eines Initiationsversuches sind eine Trennungsphase, hinter der der Wunsch oder das Ziel steht, sich von einem früheren Ort oder Zustand abzulösen: Ich entscheide mich, dass mein Leben nicht mehr so weitergeht wie bisher. Nach dieser ersten Phase folgt die Umwandlungsphase, bei der der neue Status erarbeitet wird: Ich bin nicht mehr im alten, aber auch noch nicht im neuen Status – dies ist die typische Übergangsphase. In der Angliederungsphase schließlich wird die Anpassung an den neuen Zustand, Ort oder die neue Rolle vollzogen: Ich gehöre dazu, ich bin jemand anderer. Mit dem Abschluss dieser Phase ist der Identitätswechsel vollzogen. Man kann die einzelnen Phasen sowohl bei Individuen als auch bei Gruppen beobachten. Es handelt sich um einen relativ bewussten Prozess, der mit dem Ziel geführt wird, aus einem bisher unbefriedigenden diffusen Status in einen sichereren Status zu wechseln. Für den Einzelnen heißt das positiv ausgedrückt: Ich schaffe mir meine eigenen Sicherheiten. Betrachten wir die einzelnen Prozesse der Autoinitiation im Folgenden einmal genauer: Es gibt das Ausagieren, die Suche nach Ersatz, die Regression, die jeweils krankhafte Züge annehmen können, sowie einige weitere, mildere Formen der Autoinitiation.
Amok laufen „Wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr Glücklich werden kann, und sich von Tag zu Tag die Gründe dafür häufen, dann bleibt einem nichts anderes übrig als aus diesem Leben zu verschwinden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute die hätten weiter gemacht, hätten sich gedacht „das wird schon“, aber das wird es nicht. (…) Ich habe in den 18 Jahren meines Lebens erfahren müssen, das man nur Glücklich werden kann, wenn man sich der Masse fügt, der Gesellschaft anpasst. Aber das konnte und wollte ich nicht. Ich bin frei! Niemand darf in mein Leben eingreifen, und tut er es doch hat er die Konsequenzen zu tragen! Kein Politiker hat das Recht Gesetze zu erlassen, die mir Dinge verbieten, Kein Bulle hat das Recht mir meine Waffe wegzunehmen, schon gar nicht während er seine am Gürtel trägt. (…) Nazis, HipHoper, Türken, Staat, Staatsdiener, Gläubige... Einfach alle sind zum kotzen und müssen vernichtet werden! (Den begriff „Türken“ benutze ich für alle HipHop-
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Muchels und Kleingangster; Sie kommen nach Deutschland weil die Bedingungen bei ihnen zu hause zu schlecht sind, weil Krieg ist... und dann kommen Sie nach Deutschland, dem Sozialamt der Welt, und lassen hier die Sau raus. Sie sollten alle vergast werden! Keine Juden, keine Neger, keine Holländer, aber Muchels! ICH BIN KEIN SCHEISS NAZI) Ich hasse euch und eure Art! Ihr müsst alle sterben! Seit meinem 6. Lebensjahr wurde ich von euch allen verarscht! Nun müsst ihr dafür bezahlen! (…) Ich bin weg...“ (Der Abschiedsbrief von Bastian B., dem Amokläufer von Emsdetten, 2006)
Der Amoklauf könnte als typisches Ausagieren bezeichnet werden. Der Fall in Emsdetten ist bekannt: Ein junger Mann war mit seinem bisherigen Leben unzufrieden, kam sich unterdrückt vor und hat sich über längere Zeit systematisch auf den Statuswechsel vorbereitet. Es fand eine Übergangsphase statt, in der er eine neue Identität entwickelte, die er dann ausprobierte und mit ihr herumexperimentierte. Er erfand für sich eine Identitätsvorstellung, die für ihn verpflichtenden Charakter bekam, d. h. er bewegte sich aus seiner diffusen Identität heraus in eine erarbeitete Identität hinein. In dem Moment, als er sich für eine der Identitätsformen entschieden hatte, nahm diese für ihn einen selbstverpflichtenden Charakter an. Er musste sich nun selbst beweisen, dass er Recht damit hatte, diese Umwandlung zum Abschluss bringen zu müssen. Nur das Töten war für ihn der Beweis, dass er diese Identität wirklich besaß. Er konnte nicht anders, er wäre sich selbst untreu geworden. Für mich ist das ein ganz typisches Beispiel von einem Heranwachsenden, der sich in einem diffusen Identitätsstatus befindet und sich zielgerichtet durch einen Autoinitiationsversuch aus ihm herausarbeitet – mit fatalen Folgen. Wenig überraschend ist, dass solche Taten von betont unscheinbaren Jugendlichen begangen werden, weil gerade ihnen die nötigen Reflexionsmöglichkeiten fehlen: Freunde, Familie, Geschwister, die Clique. Als stille Schüler bekommen sie nicht viel Aufmerksamkeit vom Lehrer, die eigene Identität wird zu schwach oder gar nicht gespiegelt. Gesellschaftliches Versagen zeigt sich auch hier – im Nichtstun, wo aktive Aufmerksamkeit notwendig gewesen wäre.
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An Selbstmord denken Zu diesen Formen des Ausagierens gehört, wie auch in diesem Fall, ebenso der (versuchte) Selbstmord. Auch bei diesem Verhaltensmuster sind die klassischen Merkmale eines Initiationsritus erfüllt. Zuerst kommt die Ablösung vom bisherigen Zustand: „Ich will nicht mehr so leben wie bisher.“ Dann folgt die Suche danach, wie es sein soll: „Soll ich mit allem Schluss machen?“, und nach dieser Übergangsphase dann die Entscheidung: „Ich bringe mich um.“ In der Übergangsphase ist es immer noch möglich, aus dem suizidalen Zustand herauszukommen. Deswegen wird sie auch als Erwägungs- und Abwägungsphase bezeichnet. Der Gedanke an Selbstmord kommt zum ersten Mal auf und wird mit anderen Möglichkeiten und Zuständen abgewogen. In dieser Phase geben die Jugendlichen auch deutliche Zeichen wie über den Tod nachdenken, kleine schwarze Kreuze ins Hausaufgabenheft malen, Medikamente sammeln. In dieser Abwägungsphase tauschen sich die Heranwachsenden auch gern mit Gleichgesinnten aus – es sind richtige Foren im Internet zu diesem Thema entstanden. Bis zu diesem Zeitpunkt kann man dieses Verhalten noch als ein normales Phänomen der Entwicklungsdiffusion betrachten, d. h. als ein typisches Entwicklungsphänomen, das bei Einzelnen in dieser extremen Form auftauchen kann. Ein gesellschaftliches, kulturell adaptives Entwicklungsproblem wird erst später daraus. In der Phase der Abwägung kommt es vor allem darauf an, wie die Gesellschaft auf diese Jugendlichen und ihre Gedanken reagiert. Sie stehen dann bereits kurz vor der Entschlussphase, das ist auch die Phase, die der dritten Phase des Initiationsritus entspricht – dem selbstverpflichtenden Charakter des eigenen Identitätsziels. Nur in der Abwägungsphase kann man die Jugendlichen noch aus ihren Selbstmordgedanken reißen, in der Entschlussphase ist es schon nahezu unmöglich, denn in dem Moment, wo die Entscheidung für Selbstmord gefallen ist, werden alle anderen Lösungsmöglichkeiten ausgeblendet. Es entsteht ein Tunnelblick, Alternativen zum getroffenen Entschluss werden nicht mehr wahrgenommen.
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Schlafende Hunde nicht wecken? Wie reagiert die Gesellschaft auf suizidale Jugendliche? Nimmt sie überhaupt wahr, dass der Einzelne ein Problem hat? Schon daran scheitert es. Oft bekommen die Bekannten, die Eltern, die Lehrer gar nichts von den Warnzeichen mit, weil sie nicht genau hinsehen. Wenn es so ist, zeichnet sich für den Jugendlichen der weitere Verlauf ab. Ebenso häufig ist zu beobachten, dass die Gesellschaft zwar etwas mitbekommt, aber die betroffenen Personen sich dafür entscheiden, lieber nicht zu reagieren. „Nur nicht erst darüber reden, erst gar nicht auf den Gedanken bringen“, lautet der Impuls, der dahinter steckt. Er führt zu einem abwiegelnden, ablenkenden und ignoranten Verhalten gegenüber Äußerungen dieser Art. Wenn Sie Menschen fragen, was sie in so einem Fall machen würden, geben sie sehr oft genau diese Antwort – ein fataler Irrtum! So kann man den Jugendlichen nicht umstimmen, denn er trägt den Gedanken schon in sich. Wir wecken keine schlafenden Hunde! Viel besser ist es, ihn direkt darauf anzusprechen und zu fragen, ob er sich wirklich schon Selbstmordgedanken gemacht habe. Jugendliche, die daran keinen Gedanken verschwenden, werden durch gezieltes Nachfragen auch nicht auf diese Idee gebracht. Aber ein suizidgefährdeter Jugendlicher wird das Gesprächsangebot dankbar aufgreifen. Solange er noch in der Phase des Abwägens ist, möchte er noch darüber reden, und wir haben noch eine Chance, ihn davon abzubringen. Jetzt muss das Gespräch mit diesem Jugendlichen gesucht werden. Wenn das nicht gelingt, fällt der Entschluss, und wenn dieser Entschluss gefallen ist, zeigt sich ein ganz fataler und irreführender Nebeneffekt: Der Jugendliche wirkt auf einmal total entspannt, gelassen und fröhlich. Dieser Effekt tritt bei allen Menschen auf, die sich eine Identität erarbeitet haben. Der Initiationsritus erreicht also hier seine dritte Phase und erfüllt seinen Zweck: „Ich bin angekommen.“ Doch innerlich überlegen sich die Jugendlichen nur noch, wie sie es tun werden. Und deshalb gilt bei allen Fachleuten, die sich mit suizidalen Jugendlichen oder Erwachsenen beschäftigen, diese fröhliche Gelassenheit als höchstes Warnsignal. Wenn diese sich zeigt, geht es nur noch darum, Leben zu retten: Einliefern, 24 Stunden am Tag beobachten. Laien wissen das nicht und schätzen die Situation falsch ein, glauben, der Jugendliche sei darüber hinweg – ein verheerender Fehler.
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Der Selbstmord zählt zu einer anderen Form des Ausagierens: der Anwendung von Gewalt. Bei Menschen, die einsam sind, richtet sich die Gewalt eher gegen sich selbst. Gerade viele Frauen neigen dazu, sich Gedanken um die eigene Person zu machen, und ihre Aggression drückt sich in Selbstverletzung, Selbstverstümmelung oder sogar einem Selbstmordversuch aus. Die Zahl der Selbstmordversuche ist bei ihnen größer als bei Männern, die Anzahl der Suizide ist jedoch gleich, wobei Männer eher zu Waffen greifen oder sich vor den Zug werfen, was größeres Aufsehen erregt und leider dazu geführt hat, dass die vielen „Selbstmordversuche“ nicht ernst genug genommen werden – dies wirft ein bezeichnendes Licht auf die Tatsache, wie Frauen von der Gesellschaft wahrgenommen werden und sie sich selbst wahrnehmen. Selbst wenn es „nur“ ein appellativer Selbstmordversuch gewesen ist, droht die Gefahr, dass er wiederholt wird und er wirklich gelingt. Diese Formen des Ausagierens scheinen für sie die einzigen Möglichkeiten zu sein, mit der inneren Anspannung und dem Sich-Ausgeschlossen-Fühlen fertig zu werden.
Kriminell werden Das Empfinden, nicht dazuzugehören, führt bei einzelnen Jugendlichen auch dazu, sich devianten Gruppen anzuschließen. Die dritte Form des Ausagieren ist also kriminelles Verhalten, wiederum als ein Initiationsversuch zu werten. Auch hier sind alle drei Phasen zu erkennen. Der Jugendliche sagt sich: „Ich möchte nicht mehr so brav und angepasst leben wie bisher und begebe mich auf die Suche nach dem, wie ich eigentlich leben möchte. Ich greife dabei Angebote von Gruppen auf, die eben nicht so brav und angepasst sind und denen ich erst beweisen muss, dass ich so bin wie sie.“ Der initiatorische Akt, der hier von ihm abverlangt wird, ist ein krimineller: Er gehört erst dann dazu, wenn er einen Beweis wie z. B. einen Ladendiebstahl oder Gewalt gegen Sachen oder Personen erbracht hat – was gesellschaftlich wie gewollt auf Ablehnung stößt, innerhalb der Gruppe aber Zustimmung erzeugt. Und so schließt sich der Regelkreis. Der Jugendliche erwirkt die Ablehnung derer, zu denen er sowieso nicht gehören möchte (damit ist die erste Phase des Initiationsritus erfüllt) und bekommt Anerkennung von denen, zu denen er zugehören will. Durch jede bissige Bemerkung seitens
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der Eltern und Lehrer fühlt er sich noch mehr in seiner neuen Rolle bestätigt. Diffuse Identitäten bieten einen idealen Nährboden für strafrechtlich relevante Handlungen. Da es sich um individuelle Phänomene handelt, können wir sie oft nicht vorhersehen, es sei denn, wir würden die Jugendlichen ständig begleiten. Insbesondere die braven, hochangepassten Heranwachsenden bilden eine Hochrisikogruppe. Macht ihnen endlich jemand einmal ein Identitätsangebot, greifen sie oft zu, sind leicht zu verführen. Und es ist auch kein Zufall, dass die Problemjugendlichen häufig aus braven, gutbürgerlichen Familien kommen, in denen keine Konflikte ausgetragen werden und der Jugendliche somit sich selbst überlassen wird. Konflikte fehlen nur dort, wo – vielleicht aus einer zu großen Selbstsicherheit heraus oder wegen Zeitmangels seitens der Eltern – zu viel Gleichgültigkeit herrscht. Selbstbewusste, laute, offensive Jugendliche, die immer ihre Meinung sagen und auch unbequeme Ansichten vertreten, sind aus pädagogischer Sicht zwar unangenehme Quertreiber, aber sie sind aus psychologischer Sicht gegen Autoinitiationsversuche perfekt geschützt, weil sie diese fehlende Spiegelfläche von der Gesellschaft einfordern und ihre eigene Position in Auseinandersetzung mit den anderen entwickeln. Anstatt uns über sie zu beschweren, sollten wir dankbar sein, dass sie sich ausgerechnet an uns wenden und uns ihre Fragen stellen. Alle Jugendlichen sind auf der Suche nach ihrer Identität. Nur dass die Leisen ihre Identität im Stillen entwickeln. Setzen wir uns nicht mit ihnen auseinander, verlieren wir den Draht zu ihnen und haben keinerlei Einflussmöglichkeiten mehr. So müssen Schule und das Elternhaus auch den Diskurs fördern, immer Stellung beziehen, Grenzen setzen. Grundsätzlich ist alles gut, was den Jugendlichen zeigt, dass es einem nicht egal ist, was sie denken.
Nach Ersatz suchen Die zweite Form von Autoinitiationsversuchen ist die Suche nach Ersatz. Darunter fallen Drogenmissbrauch und -abhängigkeit. Es ist nicht die Suche nach einem echten Zielzustand. Hier weiß der Jugendliche nicht, worauf er hinarbeiten will, und weil ihn das belastet, lenkt er sich von der Zielsuche 122
ab. Immer wenn ihm der Gedanke kommt, er müsse doch ein Ziel in diesem Leben haben, und er sich fragt, was seine Berufung darstellt, wofür er auf der Welt ist, wo er hingehört, wie er sein und gesehen werden möchte, dann lenkt er sich einfach von diesen belastenden Gedanken ab und trinkt ein Glas Alkohol, dreht sich einen Joint, wirft Ecstasy ein oder schnupft Kokain. Und auf einmal sieht alles nicht mehr so dramatisch aus. Dieses Verhalten führt nur leider zu einer Abhängigkeit, sodass die Drogen auch dann noch genommen werden, wenn es keine Identitätssuche mehr gibt. Daher ist diese Suche nach Ersatz ist kein wirklicher Initiationsritus. Sie ist eher der Versuch, sich dem Problem des Übergangs zu entziehen. Ein weiteres Problem ergibt sich dadurch, dass der Heranwachsende in Kreise gerät, die sich ebenfalls die Suche nach Ersatz zu ihrem Lebensziel gemacht haben. Wenn keine anderen Möglichkeiten mehr gesehen werden und es zu einer Abhängigkeit kommt, die Drogeneinnahme zum Selbstzweck wird, ist es meist schon zu spät, um die Jugendlichen wieder in die Realität zurückzuholen.
Wieder zum Kind werden Die dritte Form der Initiationsversuche ist die Regression. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Heranwachsende sich nicht mehr auf einen neuen Status zu bewegt, sondern sich zum Altbewährten zurückarbeitet. Während die Jugendlichen aus Gruppe 1 durch Ausagieren einen neuen Zustand entwickeln, und die Jugendlichen aus Gruppe 2 sich durch Ersatz davon ablenken, einen neuen Zustand suchen zu müssen, geht Gruppe 3 mit der Regression einen anderen Weg: Diese Jugendlichen lassen sich einfach in einen Zustand zurückfallen, in dem sie sich schon einmal befunden hatten und der sich gut bewährt hat. Wenn ihnen also der aktuelle Zustand zu anstrengend ist, dann wählen sie lieber einen, bei dem sie diese Anstrengung nicht gespürt haben: Sie werden wieder zu Kindern. Sie wirken jungen- oder mädchenhaft, ziehen einen Schmollmund, lassen sich verwöhnen. Möglicherweise freuen sich die Eltern sogar: „Ist doch schön, wenn die noch so klein sind und noch versorgt werden müssen.“ Dass sich diese jungen Menschen der Erwachsenenverantwortung somit entziehen können, wird dabei schnell übersehen. Jeder Mensch neigt bei Problemen dazu, zu altbewährten Mustern zurückzukehren. Ein bisschen regrediert jeder von uns, wenn man zu Besuch bei 123
seinen Eltern ist. Zu Hause wird man automatisch wieder zum Kind. Aber das ist völlig normal. Problematisch bis krankhaft wird es aber dann, wenn diese Regression tatsächlich zum eigentlich erstrebten Zielzustand wird. Wer also als Erwachsener wieder zu der Mutter zieht, sich von ihr das Badewasser einlaufen lässt, Frauen sich technischen Dingen verweigern oder bei jeder Belastung gleich anfangen zu weinen, also bei Verlust der inneren Distanz zu diesem Verhalten, wird es bedenklich. Hier sind Eltern, Lehrer und die Gesellschaft gefragt, diesen Autoinitiator tatsächlich mit den altbekannten Worten „Werde endlich erwachsen!“ an die gesellschaftliche Entwicklungspflicht zu erinnern.
Mildere Formen der Autoinitiation Ausagieren, Suche nach Ersatz und Regression sind die extremsten Formen der Autoinitiationsversuche, weil sie Risiken für die psychische Gesundheit und das Leben darstellen. Sie sind aber auch gleichzeitig die individuellsten Formen von Autoinitiation, von den Heranwachsenden ohne viel Einfluss von außen selbst ausgedacht. Es gibt auch mildere Formen der Autoinitiation, die den Übergang vom Jugendalter ins Erwachsensein beschreiben können und die diesen Prozess ebenso unterstützen und befördern. Aber sie begleiten ihn nur, stellen ihn nicht in Frage. Zu einem Problem werden sie jedoch, wenn sie zur zentralen Lebensthematik auszuarten drohen. Beispiele dafür sind Tätowierungen und Piercings. Sie erfüllen alle Merkmale eines Initiationsversuchs: Als Jugendlicher verabschiede ich mich auch äußerlich von den Merkmalen des bisherigen Zustands, ich durchlaufe im wahrsten Sinne des Wortes eine Umwandlungsphase und kann danach nach außen meinen neuen Zustand dokumentieren. Ich verfüge also selbst über meinen Körper, gestalte meine Identität selbst und überstehe eine schmerzhafte körperliche Prozedur wie eine Prüfung.
Der Körper als Initiationsobjekt Tätowierungen und Piercings können diesen Status nach außen also demonstrieren und sind in dieser Übergangsphase durchaus hilfreich. Sie werden erst dann gefährlich, wenn sie der einzig ausgeübte Übergangsritus blei124
ben und damit zur zentralen Lebensthematik mutieren: Dieser Ritus bekommt dann eine Eigendynamik; die Jugendlichen können nicht mehr aufhören und sind übersäht mit Bildern, Ringen und Nadeln. Jegliche Form der körperlichen Modifizierung kann so verlaufen, diese Dynamik kann z. B. auch bei einer Diät auftreten, was insbesondere bei Mädchen zur Magersucht oder Bulimie führen kann. Jungen betreiben eher Sport und Muskelaufbau, um den neuen Status „stark und groß“ zu erlangen. Der Grund für die Abnormität ist die Ausrichtung des Verhaltens auf ein vermeintliches Ziel. Da aber die körperliche Modifikation unendlich fortgesetzt werden kann, ist sie also nie abgeschlossen. Somit setzt sich der Jugendliche ein Ziel, bei dem er nicht weiß, wann er es eigentlich erreicht hat. Hier zeigt sich eine Analogie zu den Entwicklungsaufgaben – der Jugendliche fängt an sich damit zu beschäftigen, weiß aber nicht, wann er damit wieder aufhören soll. Wenn junge Mädchen einem Diätwahn verfallen, haben sie sich nicht klar genug definiert, wann sie das Ziel erreicht haben. Dadurch kommen sie aus der Umwandlungsphase einfach nicht mehr heraus. Auch die gesellschaftliche Reaktion spielt eine große Rolle – zum einen wenn diese quasi ausbleibt, also keiner darauf achtet oder magersüchtige Mädchen darauf anspricht, dass ihr Hungern schon groteske Formen angenommen hat; zum anderen wenn die Jugendlichen durch ihr Verhalten tatsächlich an Gleichgesinnte geraten, die genau das gleiche Problem haben. Magersüchtige frequentieren eifrig, wie oben schon erwähnt, eigene Internetforen, wo sie wieder aufgerichtet werden, wenn sie einmal „schwach geworden“ sind und doch ein Stück Kuchen gegessen haben. Sie finden dort Unterstützung. Auch zwischen den sich bodybuildenden jungen Männern herrscht im Fitnessstudio intime Nähe, ja fast Zärtlichkeit. Autoinitiationsriten sind Möglichkeiten, wie Jugendliche mit der Schwierigkeit, heute erwachsen zu werden, also einen Statuswechsel zu vollziehen, umgehen können. Es ist nicht einfach, der Devise „Werdet endlich was! Werdet wer!“ zu folgen, wenn man sich fragen muss: „Aber wann bin ich was? Und wann bin ich wer?“ Wer in unserer Gesellschaft also jemand sein möchte, benutzt dazu selbstverständlich Statussymbole. Aber auch in Partnerschaften ist das zu beobachten. Es herrscht immer noch oft der Wunsch vor, sich durch den richtigen Partner zu vervollständigen, mehr zu werden durch ihn. Und auch hier begeben sich viele in eine Abhängigkeit und können sich nicht lösen, klam125
mern, sagen sich, ich muss mich einfach nur mehr anstrengen, dann wird das wieder werden, meine Probleme mit dem Partner werden sich lösen. Das Ziel eines jeden Initiationsversuchs ist es, aus einem alten in einen neuen, selbst gewählten anderen Zustand zu wechseln. Und ich würde mir wünschen, dass die Menschen dazu verschiedenste Möglichkeiten ausprobieren, explorieren und sich danach wirklich zu dem verpflichten, was – im Sinne einer erarbeiteten Identität – zu ihnen passt. Wenn aber diese Explorationsphase fehlt, d. h. gar nicht wirklich danach gesucht wird und damit auch die gewählte Alternative als die einzig wahre empfunden wird, dann bleiben Autoinitiationsversuche problematisch. Wenn bei einem Mann ein Hobby plötzlich zum Lebensinhalt wird und er sein ganzes Geld z. B. in seinen Porsche steckt und er sich nur noch mit anderen Porschefahrern trifft, vernachlässigt er möglicherweise seinen Job und seine Familie und häuft im schlimmsten Fall sogar Schulden an. Bei Frauen werden häufig die Partnerschaft und Kinder zu ihrem ganzen Lebensinhalt. Sie suchen sich keine anderen Beschäftigungen mehr, putzen jeden Tag von oben bis unten das Haus oder die Wohnung. Auch die Sendung „Deutschland sucht den Superstar“ ist geradezu ein Paradebeispiel für diese Problematik. Die jungen Kandidatinnen und Kandidaten, die sich bei Dieter Bohlen und Co. vorstellen, glauben nach einer Niederlage oft, sie hätten sich einfach nicht genug angestrengt. Sie sagen sich: „Ich bin auf dem richtigen Weg“, bewerben sich immer wieder, bemerken jedoch nicht, dass sie den Kontakt zur Realität verlieren. So tut Dieter Bohlen letztendlich, was die Gesellschaft unterlässt, indem er knallhart sagt: „Nimm einfach Deine Stimme und geh.“ Wenn sie darauf nicht hören, grenzen sie sich mehr und mehr aus.
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Der Kater und der Staubsauger – oder wie schwer Übergänge sind
Es ist mir wichtig nachvollziehbar zu machen, dass die Wiederholung ursprünglich eine gute Technik war, um Probleme zu bewältigen. Jetzt aber wird die Technik der Problembewältigung sozusagen selbst zum Problem. Da ich durch mein wiederholendes Verhalten der Katastrophe von vornherein vorbeugen will, bemerke ich vielleicht gar nicht, dass sie sich schon lange gar nicht mehr einstellt. Als Beispiel dazu fällt mir mein Kater ein: Er versteckte sich immer unter dem Schrank, wenn er den Staubsauger nur von weitem sah. Irgendwann hatte ihn sein Vorbesitzer mit dem Staubsauger geärgert. Heute würde ihm nichts mehr passieren. Aber die Erfahrung, dass vom Staubsauger keine Gefahr mehr ausgeht, kann der Kater nicht mehr machen, da er sich selbst von dieser Erfahrung fernhält. Was ihn einst geschützt hat, schränkt ihn heute in seinen Möglichkeiten an. Typisch für dieses wiederholende Verhalten ist auch die Unfähigkeit sich eingestehen zu können, dass es nicht in der eigenen Macht liegt, die Situation zu ändern. Was früher einmal gut funktioniert hat, ist jetzt grotesk und funktioniert nicht mehr. Bei Amokläufern z. B. steigert sich dieses Verhalten so weit, dass sie den Draht zur Außenwelt verlieren. Sie entwickeln die extremste Form des Verfolgungswahns und ziehen sich völlig in sich selbst zurück.
Übergänge sind immer schmerzhaft Autoinitiationsversuche ähneln immer neurotischen Verhaltensweisen, denn es gibt nahezu keinen Übergang, der nicht mit Verlusten und Ängsten, mit dem Abschied von liebgewordenen Verhaltensweisen und der gewohnten Ordnung verbunden wäre. Keiner weiß, wohin ihn dieser Weg führen wird. Der Zielzustand ist unbekannt. Und das neue Ziel muss erst noch erarbeitet werden. Es ist auch keinesfalls möglich, für immer im Zustand des Übergangs zu verharren. Diesen Schmerz, der bei Initiationsriten entsteht, bilden die Naturvölker auch ab. Er gehört zu allen Riten dazu, und wer durch ihn hindurchgegangen ist, weiß, dass er eine weitere Stufe der Leiter erklommen hat. Sie sind im neuen erwünschten Zustand angekommen. Auch die Initia127
tionsrituale, die es in unserer Gesellschaft noch gibt bzw. die sich bestimmte Gruppen selbst als Eintrittshürde in die Gemeinschaft auferlegt haben, enthalten einen schmerzhaften Anteil: Man denke nur an die Erniedrigungen oder Mutproben, die junge Männer bei ihrem Eintritt in die Armee oder schlagende Verbindungen über sich ergehen lassen oder bestehen müssen. Dies ist ein Bestandteil der menschlichen Entwicklung, und wenn die Gesellschaft das Individuum nicht mehr vor solche Herausforderungen stellt, sucht es sich eben selbst welche. Jugendliche müssen leiden, sonst glauben sie nicht, dass sie im neuen Zustand des Erwachsenseins angekommen sind. Dass jeder Übergang mit einem Schmerz verbunden ist, wissen wir aus Erfahrung: Der Eintritt in den Kindergarten, in die Schule, ein Umzug oder Wohnortwechsel, all dies bedeutete schon früh Verlust und Angst und genau dies wird in den Initiationsriten reaktiviert. Und das Fatale ist: Wenn nach dem Schmerz die Erleichterung oder Befriedigung ausbleibt, muss der Betreffende es noch mal versuchen, solange, bis es funktioniert und er im neuen Zustand – dem Sich-erwachsen-Fühlen – angekommen ist.
Die Autoinitiationsversuche der Gesellschaft Dieser Vorgang lässt sich ebenso auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übertragen. Deutschland heute bildet eine jugendlich diffuse Übergangsgesellschaft, die nicht weiß, wo sie herkommt und erst recht nicht, wo sie überhaupt hin will. Das beste Stichwort dafür liefert die große Koalition: Sie verwaltet nur ein Übergangshandeln. Sie weiß nicht, worauf sie hinarbeitet, und auch die Wähler wissen nicht, wohin es überhaupt gehen soll und kann. Es fehlt der Mut zum Handeln, es gibt keine Visionen mehr, wie die zukünftigen Probleme, die durch den demografischen und auch den Klimawandel entstehen werden, konsequent in Angriff genommen werden können. Wenn sich eine Gesellschaft derzeit in einem Übergangszustand befindet, die sich also aus einem alten Verhältnis herauslösen muss und auf der Suche danach ist, wie die neuen Verhältnisse aussehen könnten (Umwandlungsphase), dann bedarf es immer auch anderer Gesellschaften, Kulturen und Ländern, denen es nicht egal ist, was da gerade passiert und wo dieser Umwandlungsprozess hinführt. Auch bei Gesellschaften sind drei Wege denkbar, sich dissozial auszuagieren. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn die Alliierten nicht eingegriffen hätten? Als sich die Deutschen von der alten 128
Gesellschaft getrennt haben, wurden ihnen zum Glück Auflagen gemacht und durch klare Vorgaben Grenzen gesetzt, und sie wurden dabei sehr genau beobachtet. Das haben viele als Last empfunden, aber letztendlich wäre es nicht anders gegangen. Auch nach der Wende stellte sich wiederum die Frage: Wie wird sich Deutschland entwickeln? Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Es ist bei vielen Deutschen zu beobachten, dass sie sich in einem Übergangsstatus befinden und noch nicht in der neuen Gesellschaft angekommen, diffus geblieben sind. Sie empfinden das System, in dem sie leben, immer noch als fremd und aufoktroyiert. Ein Beispiel für das Ausagieren findet sich im Jugoslawien-Konflikt im Kosovo – hier haben wir die Chance verpasst hinzuschauen. Albaner und Serben haben sich vor unseren Augen ausagiert. Sie entwickelten mit einem höchst dissozialen Verhalten eigene nationalistische Zielvorstellungen – den Massenmord. Ein gutes Beispiel für die Suche nach Ersatz ist der Iran. Als Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad in einer Kundgebung am 14. Dezember 2005 den Holocaust als „Mythos“ bezeichnete und den Europäern vorwarf, sie hätten dies als Vorwand genutzt, um mitten in der islamischen Welt einen jüdischen Staat zu errichten, lenkte er gezielt von innenpolitischen Problemen ab, die ihn eigentlich dazu zwingen müssten, sich mit seinem eigenen Land und seinen Zielen zu beschäftigen. Ein Beispiel für regressive Prozesse wiederum liefert Russland: Dieser Staat verfällt in alte feudalistische und zentralistische Strukturen und frönt dem Postkommunismus.
Der beschleunigte Kulturwandel Die diffuse Gesellschaft hat durchaus auch ihre positiven Auswirkungen. Sie fordert von den Jugendlichen eine Anpassungsfähigkeit wie nie zuvor – auch das hält sie jung. Erdheim19 hat einmal gesagt, je schneller sich der Wandel innerhalb einer Kultur vollziehe, desto länger dauere dort auch die Jugendzeit an. Und die Umkehrung lautet: Je länger die Jugendzeit andauert, umso schneller verläuft auch der kulturelle Wandel. In unserer heutigen Gesellschaft dauert nicht nur die Jugendzeit sehr lange an, sondern wir erleben in ihr auch einen äußerst beschleunigten Kulturwandel. Anders ausgedrückt: Eine Identität wird immer nur dann diffus, wenn dem Individuum
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ein Ziel fehlt. Kein Ziel zu haben, heißt nicht zu wissen, wonach man gerade sucht und wozu man sich verpflichten soll. Typischerweise werden die Menschen immer dann diffus, wenn das, was die Kultur bisher als gängige Ziele verordnete, von der neuen Generation nicht mehr als verbindlich erachtet wird. Im Generationenvergleich bedeutet dies, dass die alte Generation ihre Identitätsangebote zwar unterbreitet, die neue Generation diese aber nicht akzeptiert, etwas anderes will, weil das Angebot nicht zu ihr passt, die Ziele nicht mit den eigenen übereinstimmen. Gesellschaftlich gesehen sind wir dann in einer Pattsituation. Beide Seiten versuchen diese Situation aufzulösen. Die ältere Generation versucht mehr Druck auszuüben, was bei den Jüngeren dazu führt, dass sie sich noch stärker abgrenzen. Das Vakuum, das zwischen beiden Fronten entsteht, will von der neuen Generation mit neuen Identitätsmöglichkeiten gefüllt werden. Und in dieser Übergangszeit kann die alte Generation sich diesen neuen Angeboten nicht verpflichten, was wiederum die neue Generation dazu zwingt, weitere Angebote zu entwickeln, ohne sich selbst den eigenen Angeboten schon verpflichten zu können. Das ist kultureller gesellschaftlicher Wandel. Der Wandel hört erst dann auf, wenn eine von beiden Seiten nachgibt, d. h. sich ein Gleichgewicht einstellt. Das kann auf zwei Wegen erreicht werden: Entweder die alte Generation fügt sich und übernimmt die neuen Ziele, oder die neue Generation fügt sich und übernimmt die Angebote der alten Generation. Bis dieser Gleichgewichtszustand erreicht ist, kann sehr viel Zeit vergehen. In dieser Zwischenzeit herrscht Diffusion. Diffusion heißt, wir kennzeichnen einen bestimmten Übergangsstatus einer Gesellschaft, bevor sie die gewählte Zielsetzung erreicht.
Gesellschaftlicher Wandel ganz unpolitisch Im Unterschied zu den 68er Jahren vollzieht sich der heutige kulturelle Wandel nicht so sehr im politischen Bereich, sondern konzentriert sich stärker auf Beruf, Lebensstil und Freizeit. Und auch hier gilt: Die ältere Generation macht bestimmte Angebote, die die jüngere nicht als verbindlich erachtet. In rascher Folge produziert die jüngere Generation neue Angebote, ohne sich ihnen längerfristig verpflichten zu können. Zugleich sind jedoch 130
die Generationenunterschiede und Lagergrenzen verschwunden, was die derzeitige Situation so prekär macht, da wir uns wahrscheinlich längere Zeit in einem Zwischenstadium, also einem diffusen Zustand mit verschiedenen kulturellen Identitäten, aufhalten werden. Es gibt heutzutage keine eindeutig auszumachende ältere Generation mehr, die Althergebrachtes verteidigen würde. Es gibt auch keine eindeutige jüngere Generation, die wirklich neue Ideen liefern würde. Wir wissen nicht mehr, wer heute eigentlich den gesellschaftlichen Trend bestimmt. Wir bemerken nur, dass das alte Feindbild jung gegen alt, konservativ gegen progressiv oder Erwachsene gegen Jugendliche nicht mehr existiert. Damit können die Konservativen nicht mehr ausmachen, wo ihre Bündnispartner sind oder was sie konservieren wollen, und den Progressiven ist die Gruppe verloren gegangen, für die sie Alternativen entwickeln wollten. Wer heute noch rebellieren will, weiß gar nicht mehr so recht, wogegen eigentlich. Die zukünftige Front könnte vielleicht noch zwischen arm und reich verlaufen, weil hier die Kluft immer größer wird. Aber auch hier ist alles nicht mehr, wie es einmal war: Zwar sind die Reichen meist noch unter den Konservativen zu verorten, weil sie Besitzstandswahrung betreiben, aber wir erleben die Armen nicht als progressiv. Es gehen bisher keine gesellschaftlichen Impulse von den Ärmeren aus, ihr Widerstand bleibt schwach.
Das Ende der Lagerbildung Alle anderen Lager sind verschwunden und haben einer breiten Gleichgültigkeit Platz gemacht. Das alte Lager, das noch zwischen rechts und links verlief, ist seit der großen Koalition auch verschwunden. Die Unterschiede in den gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen sind inzwischen so marginal geworden, dass man als Außenstehender nicht mehr nachvollziehen kann, wer für was steht oder gegen was er sich richtet. Auch sind die traditionellen Zielvorstellungen der beiden Lager, die Bewahrung der kapitalistischen Ordnung bzw. der gesellschaftliche Umbau zur sozialistischen Ordnung, durch den Zusammenbruch des Sozialismus in Europa aufgehoben worden. Damit verfolgen beide Lager keine längerfristigen Ziele mehr. Das rechte Lager sieht sich auf der Siegerseite, das linke Lager ist in Erklärungs-
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not geraten und darf, kann und will nicht nach einem gesellschaftlichen Wandel rufen. Und schon fehlt wieder eine gesellschaftliche Reibungsfläche, in der neue Identitäten und Zielvorstellungen entwickelt werden könnten. Das politische System bleibt diffus. Das setzt sich in der Familie fort: Auch zwischen konservativen und traditionellen Familienmodellen lösen sich die alten Lager auf. Ob Ehe und Familie nun bewahrt werden oder die Ehe als Institution abgeschafft werden soll – dieses „Entweder-Oder“ hat einem „Istdoch-eigentlich-Egal“ Platz gemacht und spielt in Deutschland nur noch am Rande eine Rolle, anders als in den USA: Hier sind das konservative Lager und die christlichen Werte, die sich dahinter verbergen, immer noch sehr virulent.
Das Verharren im Wandel Wenn wir uns die drei Phasen des Wandlungsprozesses noch einmal genauer betrachten – Trennung, Wandlung, Angliederung – dann hat es sich unsere Gesellschaft in der mittleren Phase, der Wandlung, bequem eingerichtet. Diese Phase ist selbst keine Wandlung mehr, sondern eine diffuse Jetztmachen-wir-erstmal-nichts-Phase. Wir leben nur noch im Hier und Jetzt. Es finden keine Diskussionen mehr über unsere Wurzeln bzw. Herkunft und unsere Ziele statt. Wir sitzen, so wie sehr lange Jahre Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, unsere Probleme einfach aus. Auch zwischen Männern und Frauen finden keine Auseinandersetzungen mehr statt. Der Geschlechterkampf ist abgesagt. Beide Parteien haben sich wunderbar in die vorhandenen Strukturen hineinbegeben. Auch das Arbeitgeber-/Arbeitnehmerlager ist in seiner Wirkkraft aufgehoben, die Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung gleichen sich durch die digitalen Medien, Land- oder Stadtflucht, Pendlerpauschale, Globalisierung oder einfach durch schnellere Fortbewegungsmittel immer mehr aus. Es gibt auch keine spektakulären Reibereien mehr zwischen Arbeitern und Beamten oder Umweltschützern und Umweltverschmutzern, die Bürgerinnen und Bürger dieser Bundesrepublik arbeiten nicht mehr an Zielen. Und so greifen klassischen soziologischen Eingruppierungskriterien schon lange nicht mehr.
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Es ist kein Zufall, dass die rechtsextremen Parteien dort stark sind, wo erarbeitete Positionen eher schwach sind, also gesellschaftliche Diffusion herrscht. Wenn es schwer fällt, sich eine gesellschaftliche Identität zu erarbeiten, z. B. über den Beruf, weil große Arbeitslosigkeit herrscht, wenn es quasi unmöglich geworden ist, sich über Religion, Familie, Freizeit oder Geschlechtsrolle zu definieren, dann ist die Verlockung groß, auf einfache und klare Identitätsangebote zurückzugreifen. In Ostdeutschland z. B., wo es einerseits eine hohe Arbeitslosigkeit gibt, die berufliche Zukunftsvorstellungen zur Mangelware werden lässt, und wo es anderseits keine politischen Identitäten gibt, herrscht Hochkonjunktur von neonazistischem Ideengut. Wollen wir das? Gibt es Alternativen? Die Ratlosigkeit überwiegt.
Wer kein Ziel hat, dem nützen dreitausend Wege nichts Auch nach Krisen, wie z.B. Kriegen, hat es immer Diffusion gegeben, aber nach einer gewissen Zeit sind immer neue Zielvorstellungen entstanden. Wahrscheinlich haben wir zu lange keinen Einbruch mehr erlebt. Wir hangeln uns nur noch von Reform zu Reform, aber es ändert sich nichts Grundsätzliches mehr. Obwohl große Probleme durch den demografischen Wandel, die Nord-Süd-Problematik, die Dritte Welt und den Flüchtlingsstrom, das Anwachsen des Terrorismus verstärkt auf uns zukommen werden, betreibt die Politik lediglich Flickwerk. Daher sollten wir versuchen, Jugendliche mit extremen Ansichten mit anderen Augen zu sehen. Immerhin bieten sie uns eine Reibungsfläche, sodass wir noch mit ihnen streiten und an sie herankommen können – diese Phase erweist sich überdies meist als Übergangsphase. Denn der Wunsch dahinter ist immer: „Ich möchte wer sein!“ Es muss uns nur gelingen, ihnen die Alternativen schmackhaft zu machen. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, wird uns die progressive Kraft in diesem Land nach und nach verloren gehen, weil es kaum noch Jugendliche geben wird, die selbst auf progressive Ideen kommen und sich ihnen auch verpflichten. Insofern ist eine Entwicklung hinein in eine diffuse Identität heute in der Gesellschaft nahezu normal. Sie passt zu unserer diffusen Gesellschaft. Und umso erstaunlicher ist es, dass einige Jugendliche trotzdem nicht diffus werden. Sie suchen sich neue gesellschaftliche Beschäftigungsfelder, die von den Erwachsenen noch nicht so besetzt sind. Dies ist z. B. zu beobachten bei 133
den Globalisierungsgegnern – die meisten Erwachsenen kennen die Massenorganisation ATTAC nicht einmal und sehen die Globalisierung auch nicht als sozialpolitisches Problem an.
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Chancen für die Jugendlichen in der diffusen Gesellschaft „Grad erst geboren, aber schon nicht mehr jung, Liebe geschworen, aber immer auf dem Sprung Niemals vorne gehen, aber immer so vorlaut, Nie was gesehen aber alles schon durchschaut Kein Zeichen an der Mütze aber immer auf der Hut, Nur ja nicht in die Pfütze und auch ja nicht in die Glut Wo wir sind ist vorn, Und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn Zum Streiten viel zu feige und zum Lügen viel zu müd, Gestern noch frühreif, aber heute schon verblüht Niemals um was bitten und auch nie etwas verschenkt, In der Nacht richtig ausflippen und am Tag ferngelenkt Immer gehetzt und den Mantel im Wind, Immer nur Sex aber ja nur kein Kind Wo wir sind ist vorn, Und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn Nie was verlieren, aber nie richtig reich, Zu klug fürs Marschieren, zum Regieren zu weich…“ (Silly, 1996)
Aus heutiger Sicht geht es den Jugendlichen eigentlich ausgezeichnet. Ihnen stehen tatsächlich alle Wege offen. Und egal, welche Identität sie für sich als richtig und wichtig erachten, prinzipiell ist alles machbar. Aber dies ist nur eine scheinbare Freiheit. Wo sie sich nahezu unbegrenzt zeigt, insbesondere im Bereich Freunde und Lebensstil, herrscht auch die größte Diffusität. Trotz der relativ großen Wahlmöglichkeiten gibt es auch in den Bereichen Geschlechtsrolle und Familie starke Einschränkungen: Theoretisch wären alle Formen des Zusammenlebens möglich, aber in der Praxis schlägt jeder Abweichung von der Norm eine starke, regulierende Ablehnung entgegen. Trotzdem können sich die Jugendlichen heute in ihre Nischen zurückziehen und ihren eigenen Interessen nachgehen, ohne dass die Gesellschaft sie reglementiert. Auch das wird an einem historischen Vergleich deutlich. In der Bundesrepublik waren die Jugendproteste so groß, weil der gesellschaftliche Arm nach ihnen gegriffen hat und sie in eine bestimmte Richtung zerren wollte. In der DDR gab es keine so starken Jugendrebellionen wie in der Bundesrepublik. Sie hat sich auf einige Subgruppen beschränkt. Die gesell-
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schaftliche Situation war ähnlich: Es gab eine reglementierende Institution, die versucht hat, Vorschriften zu machen. Die einen rebellierten, die anderen nicht oder erst sehr spät. Es ist zu vermuten, dass dies an der stärkeren gesellschaftspolitischen Einbindung lag, z. B. durch die Jungen Pioniere und die FDJ. Der Zugriff auf die Jugendlichen war viel direkter als in der BRD. Zum anderen herrschte in der BRD eine Erwachsenengeneration, die aus Sicht der Jugendlichen in der Vergangenheit versagt hatte, während in der DDR die antifaschistische Tradition betont wurde, was also ein fortschrittliches Angebot war, und die BRD als reaktionär bezeichnet wurde. Eigentlich fand die Durchschnittsbevölkerung die DDR-Idee nicht schlecht, man attestierte ihr lediglich Kinderkrankheiten – das hat die Rebellion (gegen eine angebliche Progression) erschwert. Unter den jungen Leuten in der DDR besaßen alle Arbeit und Kindergeld, scheinbar hatten alle es gut. Die diffuse Gesellschaft bietet den Jugendlichen nur scheinbar die Chance, sich ganz und gar frei verwirklichen zu können. Und gerade dadurch, dass die diffuse Gesellschaft ihnen prinzipiell alle Möglichkeiten offen hält, sind sie sie auch so veränderungsresistent: Sie wollen nicht wieder zurück zur Unfreiheit. Sie reagieren empfindlich darauf, wenn jemand eine radikale Meinung äußert, weil sie dahinter vermuten, dass er ihre Freiheit wieder einschränken will. Die gesellschaftliche Lagerbildung hat immer auch eine Tendenz zur Diskriminierung. Jede Positionierung einer Idee hat die Abwertung einer anderen Idee zur Folge. Das wollen sie nicht, daher bleiben sie lieber diffus. Diese Diffusion setzt sich fort in den gesellschaftlichen Rollen – man weiß nicht mehr so genau, wer oben und unten, wer erwachsen oder jugendlich ist, auch Hierarchie- und Machtunterschiede sind scheinbar verschwunden. Dies ist an den Schulen zu beobachten, wo ein nahezu kumpelhaftes Verhalten zwischen Lehrern und Schülern entstanden ist, und in den Familien, wo nicht mehr einfach nur herumkommandiert wird und eher flache Hierarchien herrschen – eine Entwicklung, die von der Jugend eher irritiert denn dankbar betrachtet wird.
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IV. „Ich brauch’ dich als Mutter, nicht als Freundin!“ – oder warum Jugendliche erwachsene Erwachsene brauchen
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Partnerschaft statt Freundschaft in der Eltern-/Kindbeziehung „Ich habe keine Hoffnung mehr für die Zukunft unseres Volkes, wenn sie von der frivolen Jugend von heute abhängig sein soll. Denn die Jugend ist ohne Zweifel unerhört rücksichtslos und frühreif. Als ich noch jünger war, lehrte man uns gutes Benehmen und Respekt vor unseren Eltern. Aber die Jugend von heute will alles besser wissen und ist immer mit dem Mund vorweg.“ (Hesiod, 800 v.Chr.)
Der Wandel, der sich in der Gesellschaft vollzieht, hat auch ihre kleinste Zelle erreicht. Eltern beobachten heute, dass sich das Zusammenleben mit ihren eigenen jugendlichen Kindern anders gestaltet als damals, als sie selbst jugendliche Kinder waren. Interessant dabei ist, dass das, was die Eltern in ihrer Kindheit als negativ und belastend erfahren haben, genau das ist, was sie sich heute wünschen für den Umgang mit den eigenen Kindern. Die klare Vormachtstellung, die Eltern früher gegenüber ihren Kindern gehabt haben, also die alles gebietende Autorität, ist heute verloren gegangen. Der Wechsel von der Kommando- zur Verhandlungsfamilie hat für die Jugendlichen neue Freiheiten gebracht. Obwohl sich die Eltern diese damals für sich selbst gewünscht hätten, empfinden sie sie heute durchaus als eine Belastung. Was würden sie dafür geben, so manch langwierige Diskussion mit einem klaren Kommando abkürzen zu können!
Die neue Macht der Kinder Ursachen für diesen Wandel in den Familien sind der veränderte Stellenwert von Kindern und die veränderten Machtverhältnisse in der Familie. Der Stellenwert hat sich dadurch geändert, dass Kinder heute nicht mehr regulärer Bestandteil einer normal verlaufenden Biografie sind. Es ist inzwischen nicht mehr selbstverständlich, Kinder zu bekommen. Wer heute welche bekommt, tut dies aus bestimmten selbstbezogenen Erwartungen heraus. Eltern versprechen sich etwas davon: eine sinnvolle Ergänzung in der eigenen Biografie, emotionales Wohlbefinden, Zufriedenheit. Das ist neu und war früher nicht der Fall. 139
Dieses Gefühl von Zufriedenheit kann sich bei Eltern nur einstellen, wenn sie von ihren Kindern auch gemocht werden. Aus diesem Grund können sie sich über deren Bedürfnisse nicht einfach hinwegsetzen, wodurch sie sich sehr viel stärker in einer emotionalen Abhängigkeit von ihren Kindern befinden, die – sobald sie dies bemerken – auch mehr Druck auf sie ausüben wollen und können. Kinder sind also heute in der Lage, den Eltern emotionale Zuwendung zu entziehen und sie damit zu bestrafen. Eine derartige emotionale Abhängigkeit von den Eltern gab es früher nicht in diesem Maße. Ob die Kinder die Eltern mochten oder nicht, spielte keine große Rolle. Heute ersetzen viele Erziehungsberechtigte das autoritäre Verhalten ihrer eigenen Eltern durch ein partnerschaftliches oder sogar freundschaftliches Verhältnis und versprechen sich davon einen emotionalen Zugewinn statt wie früher Alterssicherung. Damit wächst auch der Druck auf die Kinder und Jugendlichen. Kinder sind noch sehr stark auf die emotionale Zuwendung der Eltern angewiesen und geben ihnen daher auch viel zurück. Sobald sie sich aber aus der Familie herausorientieren und sich zunehmend auf Freunde oder intime Partner fokussieren, wird das, was sie sich von ihnen versprochen haben, zu einem immer knapperen Gut, und der Druck wächst.
Liebesentzug – die schärfste Waffe In Verhandlungen zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern wird die Androhung von Liebesentzug daher auch gegenseitig zur stärksten Waffe. Das sieht man an der Art der Sanktionen, die Eltern gegenüber ihren Kindern wählen. Körperliche Bestrafungen, die ohnehin verboten sind, verlieren immer mehr an Bedeutung, wenn die Kinder älter werden, da selbstverständlich die Angst der Eltern wächst, der Stärke der Kinder nicht mehr gewachsen zu sein. Eltern drohen zwar auch oft mit materiellem Entzug, aber das ist auch verboten. Viel häufiger ziehen sie emotionale Konsequenzen – und so ist Nichtbeachtung eine der am weitesten verbreiteten und auch schlimmsten Erfahrungen, über die Jugendliche berichten. Eine weitere Waffe in dieser Auseinandersetzung ist der Entzug von Privilegien, dass sie z. B. abends nicht mehr ausgehen oder einen bestimmten Umgang nicht mehr pflegen dürfen. Das Problem dabei ist, dass diese Art von Bestrafung den Prozess der Ablösung eher sogar noch beschleunigt und sich damit kontraproduktiv auswirkt auf das eigentliche Anliegen, die Kinder 140
noch enger an sich zu binden. Die Kinder hingegen verlegen sich vorzugsweise auf Provokation und den Ausschluss der Eltern aus dem eigenen Leben. Provokation heißt, den Eltern gegenüber Grenzen aufzuzeigen und ihnen bei bestimmten Themen ihren eigenen Willen aufzuzwingen. Es sind Themen, von denen sie wissen, dass sie von den Eltern besonders stark emotional besetzt sind. Dies gelingt den Jugendlichen relativ leicht, weil sie die Eltern und ihre Geschichte gut kennen und somit auch genau wissen, wo die wunden Punkte liegen, an denen man rühren muss. Das Familienleben mit jugendlichen Kindern besteht aus angedrohtem Liebesentzug, permanenter Provokation und Grenzüberschreitung. Eltern bemerken, dass sie zunehmend die Kontrolle über ihre Kinder verlieren. In ihren Bemühungen, die Kontrolle zu behalten, überschreiten sie willentlich oder unwillentlich wiederum auch bestimmte Grenzen bei den Kindern, worauf diese mit erneuten Provokationen reagieren, was die Eltern zu stärkerer Kontrolle zwingt – ein Teufelskreis, für den insbesondere der fehlende Austausch über die eigentlichen Interessen von Eltern und Jugendlichen charakteristisch ist. Aber es geht auch anders.
Keine Zeit für Generationenkonflikte Der sprichwörtliche Generationenkonflikt ist eigentlich ein Scheinkonflikt, weil er sich zwar lautstark an täglichen Reibereien und Auseinandersetzungen zeigt, aber die zentralen Grundfragen des Lebens in der Regel unberührt lässt. Bei Letzteren überwiegt zwischen Jugendlichen und Eltern jedoch die Ähnlichkeit. Das ist ein deutlicher Unterschied zu früheren Zeiten, wo hier noch auf beiden Fronten ein echter Generationenkonflikt stattgefunden hat. Es besteht also offensichtlich die Chance, sich miteinander zu arrangieren. Die Kluft zwischen Eltern und Jugendlichen ist überwindbar. Die Initiative zur Überwindung dieser Kluft muss dabei von den Eltern ausgehen. Im Alltag sind es sowieso immer die Eltern, die sich auf die Jugendlichen zu bewegen müssen. An dieser Stelle wird ein großes Dilemma deutlich, in dem die Eltern heute stecken: Sie wollen den emotionalen Zugewinn und die Nähe ihrer Kinder weiterhin nicht missen, und merken trotzdem, wie sie ihnen langsam entgleiten. Sobald die Kinder ihren Freundeskreis erweitern, länger von zu Hause wegbleiben, nichts mehr von sich erzählen, aber stundenlang mit ihren 141
Freundinnen und Freunden telefonieren und selbstständig Entscheidungen treffen, schrillen bei den Eltern die Alarmglocken. Sie versuchen dann massiv, den bisherigen Status und damit die früher empfundene Nähe zum Kind, als man sich noch so gut verstand, es noch gemacht hat, was die Eltern wollten, ohne ihre Worte anzuzweifeln, es zu ihnen aufgesehen hat und beide Elternteile für das Kind Vorbilder und Helden waren, aufrecht zu erhalten. Da es über die Autoritätsschiene nun nicht mehr klappt, ist heute der Trend zu beobachten, dass Eltern sich zu Freunden ihrer Kinder machen wollen, damit ihnen ähnliche Privilegien zuteil werden wie den gleichaltrigen Freunden der Kinder. „Ich möchte gern auf ewig dein Freund oder deine Freundin sein“, „Ich möchte auch Freizeit mit dir verbringen, in deine Geheimnisse eingeweiht werden, die gleichen Interessen und Hobbys wie du haben, deine Wünsche kennen, dich trösten, wenn es dir schlecht geht“, „Ich möchte, dass du mich emotional brauchst, weil ich dich emotional brauche“, lauten die Absichten, die hinter einem solchen Verhalten stehen. Und so teilen die Eltern z. B. die Musikvorlieben ihrer Kinder und gehen mit ihnen in Konzerte oder ziehen sich ähnlich an. Sie würden gern ganz hip zusammen mit ihnen ausgehen und die Freunde kennen lernen. Und was gibt es Schöneres, als für die Schwester der Tochter gehalten zu werden? Manchmal kommt es sogar zu Eifersüchteleien wegen anderer Freundinnen und Freunde. Das alles sind Versuche, mit der drohenden Ablösung der Kinder umzugehen, sie aufzuhalten, das Rad zurückzudrehen, und die hat es früher in dieser Form so nicht gegeben. Auf die Idee, Eltern als Freunde oder Partnerersatz zu sehen, wären Jugendliche früher nie gekommen. Die Unklarheit des Erwachsenenstatus in unserer Gesellschaft ist nicht die Ursache dieses Phänomens, sondern seine Folge. Es sind die Eltern selbst, die den Erwachsenenstatus aufgeben, sich von erwachsenen Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensweisen verabschieden, um ihren jugendlichen Kindern nahe zu sein.
Der Abschied der Eltern vom Erwachsensein Welche Konsequenzen hat dieser Abschied der Eltern vom Erwachsensein für die Jugendlichen von heute? Kurzfristig werden sie es sogar durchaus begrüßen. Denn sie können sich weitaus mehr erlauben und finden das über einen kurzen Zeitraum cool. Aber wenig später taucht bei ihnen erstmals ein 142
Gefühl der Peinlichkeit auf. Die Jugendlichen nehmen die Bemühungen ihrer Eltern durchaus wahr und verstehen als soziale Wesen auch ihr Anliegen. Aber mit der Zeit nehmen sie es ihnen immer weniger ab. Es erscheint ihnen nicht glaubwürdig, und mit steigender Unglaubwürdigkeit wächst auch das Peinlichkeitsgefühl. Wenn eine Mutter wirklich ein absoluter Tokyo-Hotel-Fan ist, merken die jugendlichen Kinder das. Aber wenn sie nur so tut, als wäre sie es, um ihnen nahe zu sein, ist es vorbei. Diese Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung, was wahrhaftig ist oder ihnen nur glauben gemacht werden soll, bedeutet auch den ersten Riss in der heilen Welt der Eltern-Kind-Beziehung.
Ein Kampf mit ungleichen Mitteln Die Glaubwürdigkeit der Eltern leidet aber auch an anderen Stellen. Die heraufbeschworene emotionale Nähe zwischen Eltern und Kindern, die propagierte Partnerschaftlichkeit und Gleichberechtigung steht im starken Kontrast zur nach wie vor materiellen Abhängigkeit und auch zu den tatsächlich bestehenden Hierarchiebedingungen zwischen den Generationen. Jugendliche bemerken, dass die Eltern zwar ganz freundschaftlich tun, aber in entscheidenden wirtschaftlichen und juristischen Belangen dann doch wieder am längeren Hebel sitzen. Eltern haben nach wie vor das Aufenthaltsbestimmungsrecht über ihre Kinder. Bis zum 18. Lebensjahr haben sie das elterliche Sorgerecht, die Erziehungsverantwortung und die Pflicht zu ihrer materiellen Versorgung. All diese Hierarchieunterschiede zwischen Eltern und Kindern stehen im Kontrast zur behaupteten emotionalen Gleichberechtigung. Jugendliche bemerken zunehmend, dass die Eltern auch in Streit- und Konfliktsituationen sofort wieder diese Hebel in Bewegung setzen, um die Kinder entsprechend ihrer Wunschvorstellungen zur Räson zu bringen. Wer mit seinen Kindern befreundet sein will, muss auf Anwendung sämtlicher Machtmittel verzichten – und das tun Eltern nicht. Es ist ein ungleicher Kampf. Die Eltern verfügen zwar über die stärkeren Waffen, aber sie werden diesen Kampf trotzdem verlieren. Was bedeutet dieser Zustand längerfristig für die Jugendlichen? Auf lange Sicht hin ist die Trennung von den Eltern unausweichlich. Sie wird in den verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich schnell erfolgen. Die Jugendlichen wissen, dass sie in wirtschaftlicher Hinsicht noch einige Zeit 143
abhängig sein werden. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus der Arbeitsmarktsituation – durch längere Ausbildungszeiten, anfallende Kosten für das Studium etc. Daher wissen sie auch, dass sie nicht alle Brücken abbrechen können. Es ist für die Jugendlichen von heute nahezu unmöglich, mit 18 auszuziehen und etwa zu verlautbaren: „Ich ziehe jetzt mein eigenes Ding durch. Mit euch will ich nichts mehr zu tun haben.“ Umgekehrt können auch die Eltern die Kinder bei unerträglichen Spannungen nicht einfach vor die Tür setzen und ihnen wirtschaftliche Unterstützung verweigern – bei der Einforderung des Unterhalts bekommen die Kinder sogar Unterstützung vom Staat. Noch länger als die wirtschaftliche bleibt die Abhängigkeit innerhalb der Familie bestehen, die sich aus dem Verhältnis Eltern/Kind ergibt. Jugendliche bleiben die Kinder ihrer Eltern. Und die sich daraus ergebenden Eigenarten, die besondere Nähe, die gemeinsame Geschichte, die Erinnerungen, die man miteinander teilt, die typischen Familienrituale, die gemeinsamen Bekannten und Verwandten, auch die Übereinstimmung in Lebenswelt, Anschauung, Religion, also dem soziokulturellen Kontext, und die von der Geburt an existierende emotionale Bindung, die auch nach dem Jugendalter und einer eventuellen Trennung nicht aufhört, sind doch in allen Entscheidungen präsent. Hier gibt es eine Nähe, die nicht nur durch die Erziehung entstanden ist. Sie beruht auch auf genetischer Ähnlichkeit und natürlich auch darauf, dass die Jugendlichen umgekehrt ebenso ihre Eltern erzogen haben. Insofern wird es eine echte Ablösung im Sinne einer vollständigen Trennung selbst dann nicht geben, wenn die wirtschaftliche Unabhängigkeit gegeben ist. Auch das wissen die Jugendlichen. Eine Ablösung vom Elternhaus ist demzufolge aus familiärer Sicht nie und aus wirtschaftlicher Sicht noch lange nicht möglich. Die Autonomiebestrebungen der Jugendlichen müssen sich also auf andere Lebensbereiche erstrecken. Gestaltungsspielraum besteht dabei z. B. im Erschließen eines Freundeskreises, dem Aufbau einer intimen Partnerschaft, im Meinungsbild zu Politik und Religion, im Lebensstil und im Freizeitverhalten sowie in gewissem Umfang auch bei der Berufswahl. Wenn der Heranwachsende sich also von seinen Eltern ablösen will, muss er sich innerhalb dieser Bereiche von ihnen abgrenzen. Wenn ihm das nicht gelingt, wird er auf ewig das Kind in der Familie bleiben.
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Abgrenzungsschwierigkeiten bei jugendlichen Eltern Schaut man sich die einzelnen Lebensbereiche näher an, kann man graduelle Unterschiede ausmachen. Es ist relativ schwer, sich den Bereich Beruf zu erobern, weil er sehr eng verknüpft ist mit dem wirtschaftlichen Bereich der Eltern. Hier reden die Eltern ein gewichtiges Wort mit, sowohl bei der Berufswahl als auch in der Absicherung der Entscheidung. Hier müssen die Entscheidungen also mit den Interessen der Eltern in Einklang gebracht werden. Sich hier von den elterlichen Wünschen abzugrenzen, ist nicht unmöglich, aber sehr schwer. In den Lebensbereichen Politik und Religion ist es ebenfalls schwierig, sich von den Eltern zu lösen, da sich die Eltern und die Jugendlichen hier aufgrund ihres gemeinsamen soziokulturellen Hintergrunds ohnehin sehr ähnlich sind. Die Religion wird quasi schon mit der Geburt festgelegt und selten in Frage gestellt, weil sie auch religiöse Herkunft bedeutet und Teil der Geschichte und Identität der Eltern ist. Im Lebensbereich Politik konnten sich die Jugendlichen lange Zeit leicht abgrenzen, indem sie konträre Positionen eingenommen haben. Aber das ist heute kaum noch möglich aufgrund der großen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung bei den zentralen politischen Hauptströmungen. Um sich politisch von den Eltern abzugrenzen, einen Kontrast zu erzeugen und sie zu provozieren, müssen Jugendliche Extrempositionen einnehmen, was ein Großteil der Jugendlichen aber scheut, auch weil es nicht garantieren würde, dass die Eltern diese Position wirklich konträr zu ihren eigenen Vorstellungen einstufen würden. Sie neigen eher dazu, die Abgrenzungsversuche ihrer Kinder nicht wahrnehmen zu wollen und tun jegliche Äußerungen extremer Art als eine „Phase“ ab, die schon vorübergehen wird – damit unterminieren sie die wirkliche Abgrenzungsabsicht und überdecken das Streben nach Unabhängigkeit. Sie nehmen ihre Kinder nicht ernst. Die anderen Lebensbereiche, die bleiben, um sich von den Eltern abzugrenzen, sind Freundschaften, Partnerschaft und Lebensstil/Freizeit. Aber was passiert, wenn die Mutter die beste Freundin sein will? Sie nimmt den Jugendlichen die letzte Ablösungsmöglichkeit. Wenn die Mutter den Lebensstil und das Freizeitverhalten ihres jugendlichen Kindes kopiert, sie also seine beste Freundin sein will oder gute Tipps bei der Partnerwahl gibt, dann ist dieser Bereich für eine Abgrenzung verloren. Fest steht, der Kampf 145
um die Unabhängigkeit von den Eltern und die eigene Identität kann von den Jugendlichen heute nur noch auf diesen vier Feldern geführt werden. Jedoch: Je mehr dieser Felder die Eltern besetzen, umso weniger kann den Jugendlichen der Übergang in das Erwachsenenalter oder in die eigenständig erarbeitete erwachsene Identität gelingen.
Eltern können keine Freunde sein Jugendliche brauchen keine Eltern, die ihre Freunde sind. Sie haben genug eigene Freunde. Die Freundschaftsbeziehungen der Jugendlichen, unterscheiden sich grundsätzlich in allen Merkmalen von der Beziehung, die sie mit den Eltern haben können. Eltern können niemals Freunde ihrer Kinder sein: Freundschaftsbeziehungen sind immer selbstgewählt. Sie werden freiwillig eingegangen und freiwillig wieder aufgelöst. Beides trifft auf die Eltern-/ Kind-Beziehung nicht zu. Freundschaften werden auch immer in Hinblick auf gemeinsame Ziele und Interessen geschlossen. Dadurch sind Freundschaftsbeziehungen immer zukunftsorientiert und enden Freundschaften in dem Moment, wo die gemeinsame Zukunftsperspektive verloren geht. Die Eltern-/Kind-Beziehung ist jedoch immer vergangenheitsorientiert, sie lebt von der gemeinsamen Geschichte. Freundschaften sind nicht hierarchisch aufgebaut. Man trifft sich auf gleicher Augenhöhe. So sehr sich die Eltern auch bemühen, die Eltern-/Kind-Beziehung ist immer hierarchisch angeordnet, und dies ist juristisch reglementiert. Freundschaften bedürfen der kontinuierlichen Pflege. Die Eltern-/Kind-Beziehung besteht weiter, auch wenn sie nicht gepflegt wird. Freundschaften beruhen auf dem Empfinden von persönlicher Nähe. Diese existiert in der Eltern-/Kind-Beziehung auch, ist aber eine andere. Die Nähe in Freundschaften ist selbstgewählt, ich entscheide mich selbst, warum ich mich wem wie nahe fühle. Das Gefühl von Nähe in der Eltern-/Kind-Beziehung beruht auf der persönlichen Bindung, und sie ist ein evolutionäres Phänomen, sie geht über die Nähe in Freundschaften weit hinaus. Eltern empfinden körperlichen Schmerz, wenn es ihren Kindern schlecht geht. Sie fühlen sich wie von der Natur beauftragt, für ihre Kinder da zu sein, und können sich nicht dagegen wehren. Kinder sind emotional abhängig von ihren Eltern, auch wenn sie es schlecht behandeln – es wird immer wieder zu ihnen gehen. Wenn es sich schlecht fühlt, Schutz braucht, wird es diese Sicherheit immer wieder bei seinen El146
tern suchen. Niemand kann ein Kind so gut trösten wie seine Eltern. Diese Funktion der Eltern in der Eltern-/Kind-Beziehung übernehmen nach und nach dann die Partner. Selbst als Jugendlicher suche ich schon Schutz und Unterstützung und emotionale Nähe bei meiner Partnerin/meinem Partner. Ein deutlicher Unterschied besteht auch im Bereich Intimität und Sexualität. In Freundschaftsbeziehungen ist dieser Bereich nicht vordergründig, kann aber auch eine Rolle spielen und sogar zu einer Partnerschaft führen. Dieser Unterschied wird insbesondere deutlich im Grad der Körperlichkeit der Beziehungen. Die Eltern-/Kind-Beziehung ist zunehmend körperdistanzierend, der intensive körperliche Kontakt nimmt immer mehr ab, während Freundschaften durchaus auf eine Steigerung der körperlichen Nähe und Intimität aus sind: Je enger man befreundet ist, desto näher kommt man sich auch körperlich. Es gibt auch unterschiedliche Möglichkeiten der Bestrafung: Freunde bestrafen anders als die Familie. Die drohende Bestrafung in Freundschaftsbeziehungen ist der soziale Ausschluss, die soziale Ächtung. Diese Möglichkeit der Bestrafung gibt es in der Eltern-/Kind-Beziehung fast nicht, man kann die Familienbeziehungen nicht einfach aufkündigen. Die Hauptbestrafung von Elternseite aus ist wie oben beschrieben der Entzug von Privilegien. Das wichtigste Bestrafungsmittel dabei ist Erpressung und Bestechung – eine Technik, der sich Freunde fast gar nicht bedienen können, weil dies nahezu unweigerlich zur Auflösung der Freundschaftsbeziehung führt.
Selbsterforschung und -verpflichtung in der diffusen Familie Das allgemeine Problem der ansteigenden Diffusität in der Gesellschaft ist bereits in den Familien angelangt. Auch hier wird die Rollenverteilung immer diffuser. Eine erarbeitete Identität zu haben heißt, für sich selbst und für andere in seinen Positionen klar erkennbar zu sein und damit auch eine Reibungsfläche zu bieten bzw. Platz für Auseinandersetzung und Gegenpositionen. Jugendliche, die gerade dabei sind, sich ihre Identität zu erarbeiten, benötigen diese klaren Positionen, damit sie sich selbst besser einschätzen können. Sie müssen wissen, welche Positionen es überhaupt gäbe im Zuge ihrer Exploration. Und dafür brauchen sie klare Modelle, bei denen Positionen erkennbar sind. Dies betrifft auch den zweiten Prozess der Identitätsfindung: die Verpflichtung. Um sich seinen selbst gewählten Identitätsopti147
onen verpflichten zu können, muss man von Vorgängern lernen, also Vorbildern, die genau das auch getan haben, die sich auch verpflichtet und mit dieser Verpflichtung Verantwortung übernommen haben. Identitätsfindung durch Exploration und Verpflichtung sind keine genetisch generierten Prozesse, sondern Identität muss erworben werden. Wenn ich als Erwachsener möchte, dass Jugendliche ihre Identität explorieren und erarbeiten, muss ich ihnen genau das auch so vormachen. Insofern ist das Zusammenleben mit jugendlichen Kindern in der eigenen Familie ein Prozess, der ebenso eigene Identitätsarbeit bedeutet. Das heißt, ich muss mich an dem, wie die Jugendlichen sich verhalten, welche Einstellungen und Werte sie äußern, als Erwachsener reiben und an ihnen meine eigenen Einstellungen und Werte neu überprüfen. Alle, die mit Jugendlichen zu tun haben, insbesondere die Eltern, aber auch die Lehrer, sollten überprüfen: „Möchte ich, dass meine Kinder meine Identität übernehmen (im Sinne einer übernommenen Identität), dann müsste ich ein leuchtendes Vorbild sein und gleichzeitig ausschließen, dass die Jugendlichen Kontakt zu anderen Vorbildern bekommen.“ Heutzutage ist das nicht ausgeschlossen, aber nahezu unmöglich angesichts der großen Anzahl an unterschiedlichen Modellen. Oder „Möchte ich, dass sie im Identitätsmoratorium verbleiben? Dann müsste ich ihnen eine große Palette an unterschiedlichen Möglichkeiten aufzeigen und gleichzeitig ausschließen oder verhindern, dass sich die Kinder zu einer dieser Identitätsmöglichkeiten verpflichten und damit auch Verantwortung übernehmen.“ Das passiert durchaus in den Familien und ist nicht selten, insbesondere dann, wenn Eltern und Lehrer Doppelbotschaften senden nach dem Motto: „Eigentlich steht dir die Welt offen, alles ist möglich!“ und gleichzeitig aber Zweifel äußern, sobald die Jugendlichen dann wirklich irgendwelche Möglichkeiten erwägen. Besonders deutlich zu bemerken sind diese Doppelbotschaften in Bezug auf die gewählten Freunde und Partnerschaften der Jugendlichen. Einerseits halten Eltern die Kinder an, sich viele Freunde zu suchen, sie einzuladen und finden das begrüßenswert. Aber dann geraten sie in Panik und äußern unterschwellig Kritik, wenn einer der Kontakte enger zu werden droht. Insbesondere Väter nehmen gegenüber den Töchtern eine besonders kritische Haltung ein. Das hält die Jugendlichen lange im Moratorium der Identitätsfindung.
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Wer sich tatsächlich diffuse Kinder heranziehen will, muss nur einfach vormachen, wie es ist, keine eigene Identität zu haben und in seinen Positionen unklar zu bleiben. Oder die Kinder einfach in ihrer Identität surfen lassen, egal was passiert. Wenn sich die Erwachsenen ganz selbstkritisch in ihren eigenen Positionen überprüfen und sich fragen, was für eine Art Modell oder Vorbild sie für ihre Kinder in den zentralen Lebensbereichen sind, so sollte an dieser Stelle in diesem Buch schon deutlich geworden sein, dass die meisten Erwachsenen selbst diffus sind, keine eigenen klaren Positionen haben, nicht genau wissen, wo die eigenen Positionen herkommen, diese je nach Tagesform wechseln und auch keine Verantwortung für sie übernehmen, also sich nicht klar bekennen. Auch die Jugendlichen selbst können dazu beitragen, dass der Erwachsene in seiner Haltung zu schwanken beginnt. Dies passiert insbesondere dann, wenn Eltern versuchen, für ihre jugendlichen Kinder die besten Freunde zu sein und alle Trends aufgreifen zu wollen, die von ihnen in die Familie hineingetragen werden. Sobald ich mich den Interessen, Vorstelllungen und Einstellungen meiner Kinder anschließe, um meinen Kindern möglichst nahe zu sein und zu bleiben, verliere ich meine eigene Position und werde selbst zum Identitätssurfer. Was für die Jugendlichen wiederum bedeutet, dass sie in ihrer Identität auch diffus bleiben werden – ein Teufelskreis. Wenn man das Erwachsenwerden als die Erarbeitung einer eigenen Identität definiert, dann stellt sich aktuell in den Familien die Frage, wer eigentlich der Jugendliche ist und wer die Aufgabe hat, tatsächlich erwachsen zu werden? Wir fordern von den Jugendlichen, dass sie endlich erwachsen werden sollen, aber diese Forderung bleibt halbherzig, solange wir nicht selbst, die Eltern, aber auch die Lehrer, eine erarbeitete Identität in allen Lebensbereichen besitzen.
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Erwachsene – ein Vorbild an erarbeiteter Identität?
Was gilt es also zu tun? Erstens: Einerseits sind Eltern Identitätsfiguren für ihre Kinder, selbst wenn sie sich dagegen wehren. Jugendliche richten, auch wenn sie das selbst nie zugeben würden, das eigene Verhalten nach wie vor an ihren Eltern aus – auch wenn sie sich völlig gegen die Positionen der Eltern stellen. Ein Wert- oder Identitätsmaßstab für die Kinder zu sein, muss nicht heißen, dass sie diese übernehmen müssen. Diese Rolle als Identitätsfigur darf von den Eltern nicht einfach negiert werden. Es muss sogar eine ganz bewusste Auseinandersetzung mit ihr erfolgen, damit die nötige Verantwortung für die Erziehung des heranwachsenden Menschen übernommen werden kann, der seine eigene Identität gerade erst findet. Jugendliche erwachsen werden zu lassen, bedeutet demzufolge, sich selbst als Identitätsfigur zur Verfügung zu stellen und bewusst auf eine Konfrontation zu warten. Dies geht nur, wenn der Erwachsene selbst klare Positionen einnimmt. Dabei genügt es aber nicht, nur so zu tun als ob. Die neu erarbeiteten Positionen sollten echt und nach außen hin auch erkennbar sein. Damit bin ich bereits beim zweiten Punkt angelangt: Eltern müssen Angriffsfläche bieten. Dies tun sie nur, wenn sie ihren Positionen auch treu bleiben, selbst wenn ihre Kinder eine andere Meinung vertreten. Hier sehe ich einen zentralen Unterschied der Eltern zu allen anderen Personen, die Jugendliche umgeben. Diese – also die Freunde, aber auch mediale Vorbilder – sind in ihren Äußerungen klar erkennbar und bieten somit auch Identitätsmöglichkeiten an, die aber reine Angebote und Hülsen bleiben, die die Jugendlichen sich überstülpen können, weil sie frei gewählt sind und ohne große Probleme schnell gewechselt werden können. Hier fehlt also die Reibungsfläche. Der Jugendliche kann, wenn ihm bestimmte Freunde und Vorbilder nicht passen, sich einfach andere suchen. Das geht bei seinen Eltern nicht. Hier steckt eine große Chance für die Eltern – sie sind es, die sich real mit ihren jugendlichen Kindern auseinander setzen und ihnen damit überhaupt eine Möglichkeit bieten können, sich ihre eigenen Positionen zu erarbeiten und sie einer Feuerprobe zu unterziehen. Das ist für die Jugendlichen von ganz zentraler Wichtigkeit für die Entwicklung ihrer eigenen Identität. Diese Reibungsfläche bieten die Eltern aber nicht, wenn sie sich zu Freunden ihrer eigenen Kinder machen. 150
Jugendliche brauchen Mütter und Väter, nicht beste Freundinnen und Freunde! Sie vertun diese große Chance allerdings auch, wenn sie sich den Kindern gegenüber autoritär verhalten und ihre eigenen Positionen als unumstößliche Gesetze darstellen. Jugendliche bei der Suche nach ihrer Identität und damit beim Erwachsenwerden zu unterstützen, bedeutet, ihnen auch die Möglichkeit dazu einzuräumen. Sie müssen explorieren und sich verpflichten können, ohne dass ihnen andere Positionen aufgezwungen werden, was dann im besten Fall eher zu einer übernommenen Identität führt. Am häufigsten bewirkt ein solcher Druck auf die Jugendlichen nur, dass die Eltern ihre Rolle als Identifikationsfigur einbüßen. Diese Gratwanderung ist nicht leicht. Die Empfehlung kann daher nur lauten, dass in den Familien eine Form des Diskurses oder der familiären Auseinandersetzung entstehen muss, bei der beide Seiten ihre Ansichten darstellen und sich gegenseitig ganz neutral ihre Weltsicht erläutern können, ohne den anderen überzeugen zu wollen. Diese Form des Diskurses ist möglich, aber es bedarf einiger Vorarbeit, um ein solches Gesprächs- und Familienklima schaffen zu können. Diese Gesprächskultur, beschrieben in Thomas Gordons20 „Familienkonferenzen“, muss schon im Kindesalter beginnen, denn danach ist es meistens schon zu spät: Jugendliche sind und bleiben ausgesprochen schwierige Gesprächspartner.
Die Kultur der Auseinandersetzung, nicht nur in Familien Mit Jugendlichen gut zusammenleben zu wollen funktioniert nur, wenn es gelingt, eine Kultur der Auseinandersetzung zu etablieren. Diese Kultur des Zusammenlebens betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, in denen Erwachsene auf Heranwachsende treffen, seien es Schulen, Jugendtreffs, Ausbildungseinrichtungen, Vereine und Organisationen. Bei diesen Diskursen zwischen Jugendlichen und Heranwachsenden muss deutlich werden, dass beide Seiten ihre Positionen darlegen können, dass beide Seiten sich auch wirklich für die Positionen des anderen interessieren und nachfragen und sie sich erläutern lassen dürfen. Es ist sehr wichtig, sich gegenseitig die eigene die Sicht der Dinge zu erklären. So lernen beide Seiten, mit der konträren Position der anderen zu leben, sie zu akzeptieren, ohne dass eine der Parteien auch nur im Ansatz versucht, der anderen die eigene Sichtweise aufzudrängen. Auch für die Erwachsenen ist dies ein schmerzhafter Prozess. Es 151
ist nicht leicht, lernen zu müssen, den Kindern ihre Positionen zuzugestehen, wenn diese den eigenen entgegenstehen. Gleichzeitig ist es wichtig, die Jugendlichen nicht sich selbst zu überlassen, also die Augen vor einer möglicherweise „negativen“ Entwicklung zu verschließen, ihr gegenüber gleichgültig zu bleiben. Es darf den Erwachsenen nicht egal sein, was die Heranwachsenden denken und womit sie sich tagtäglich beschäftigen. Aus meiner Sicht bricht die Brücke zwischen beiden Parteien ab, sobald Erwachsene Jugendlichen zu verstehen geben, dass sie machen können, was sie wollen. Vielmehr sollte ein neues Verständnis von Partnerschaftlichkeit die Beziehung zwischen Erwachsenen und Jugendlichen kennzeichnen. Eine Partnerschaft kann ich auch mit Menschen eingehen, die ich möglicherweise unsympathisch finde. Eine Partnerschaft ist immer durch ein gemeinsames Ziel gekennzeichnet. Und mit dem Blick auf dieses gemeinsame Ziel gerichtet, gehören harmonische Zeiten genauso dazu wie konfliktreiche Zeiten, Streit genauso wie Versöhnung, Verhandlung und Vereinbarung ebenso wie totales Unverständnis. Das gemeinsame Ziel lautet, die Jugendlichen in das Erwachsenenalter hineinzuführen, ein Ziel, dass sowohl die Erwachsenen als auch die Jugendlichen gemeinsam verfolgen sollten. Daher müssen Erwachsene sich immer wieder selbst fragen, ob sie dieses Ziel auch tatsächlich verfolgen, ob sie wirklich wollen, dass die Kinder selbstbewusste, selbstständige, auch von ihnen unabhängige Erwachsene werden. Sobald die Kinder ins Jugendalter hineingeraten, ist es ratsam, die eigenen Erziehungsziele neu zu überdenken. Erwachsene sollten sich fragen, wie sie ihre Kinder haben wollen, wie sie in ihren Augen sein sollten. Das Ziel der Kinder ist klar: Sie wollen die Unabhängigkeit von den Älteren und ein eigenständiges Leben als Erwachsene erreichen. Erst wenn die Erwachsenengeneration feststellt, dass ihre Ziele mit diesem übereinstimmen, entsteht die Basis für eine partnerschaftliche Beziehung.
Ein anderer Blick auf den alltäglichen Familienwahnsinn Für mich ergibt sich aus dieser Erkenntnis auch ein neuer Blick auf die durchaus häufig lautstarken und massiven Konflikte, die sich alltäglich in Familien mit jugendlichen Kindern abspielen. Häufig sind es schlimme Streitigkeiten, die bis unter die Gürtellinie gehen. Zwar leiden auch die Jugendlichen unter dieser Tatsache, aber noch schlimmer geht es den Eltern 152
dabei. Viele von ihnen wünschen sich, dass ihr Leben viel harmonischer abläuft und die Konflikte nicht in solch grundsätzliche Konflikte ausarten. Besser ist es, wenn die Eltern diese Streitereien als ein Zeichen der engen Verbundenheit erkennen, die nur zwischen ihnen und ihren Kindern besteht. Eigentlich sind sie ein gutes Zeichen: Sich so massiv mit jemandem auseinander zu setzen, bedeutet ja auch, dass einem nicht egal ist, wie der andere denkt. Niemand fängt einen solchen Streit an, wenn ihm das Gegenüber völlig gleichgültig ist. Insofern wäre es sogar gefährlich, wenn diese Auseinandersetzungen ganz ausblieben. Zum anderen sind sie auch ein Vertrauensbeweis, denn jeder Streit birgt auch immer die Gefahr eines Gesichtsverlustes in sich. Ich zeige meine dunkle Seite, lasse meine Fassade fallen und offenbare mich mit meinen inneren Gefühlen. Dieses Risiko gehe ich nur bei Menschen ein, die mir wichtig sind. Ich muss auch darauf vertrauen, dass mich die anderen danach immer noch mögen und mich danach nicht aufgeben. Im Alltag ärgern wir uns häufig über andere, sagen es aber nicht direkt. Dann bekommt oft der Partner den ganzen Zorn ab. Wir bewahren also unsere Fassade und lassen uns erst fallen, wenn wir bei jemandem sind, von dem wir wissen, dass er es auffängt und uns nicht lange übel nimmt. Ein solches Sich-gehen-Lassen ist den Jugendlichen nicht einmal ihren Freunden gegenüber möglich, weil dort die Gefahr des sozialen Ausschlusses droht – die Freundschaft kann abgebrochen werden. Einen richtig massiven Streit zu provozieren und dabei gemein zu werden, ist eine Entdeckungstour für die Jugendlichen, die, solange sie noch keine eigenen Partner und eigene Kinder haben, nur mit den Eltern unternommen werden kann. Solange Kinder sich mit ihren Eltern abgeben, ist die Welt noch in Ordnung. Es ist zwar furchtbar, abgrundtief gekränkt zu werden. Aber das heißt auch, dass die Beziehung noch sehr lebendig ist. Diese Konflikte werden so intensiv erlebt, weil man sich sehr gut kennt und genau weiß, wo die wunden Stellen sind. Auch das macht die intrafamiliären Konflikte so tief. Die einzige Strategie, die die Jugendlichen anwenden können, um der wirtschaftlichen und juristischen Übermacht der Eltern zu begegnen, ist ihre emotionale Macht auszuspielen und an den Stellen zu bohren, an denen es richtig wehtut. Für Eltern ist es wichtig, aushalten zu lernen und nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen, nicht von den eigenen Positionen abzurücken, und das ist 153
schwer. Sie müssen lernen, den Kontakt zu halten, im Diskurs zu bleiben, immer wieder neu zu streiten und die eigene Position immer wieder neu deutlich zu machen, ohne sie den Kindern aufzudrängen – das ist die große Entwicklungsaufgabe der Eltern, wenn die Kinder heranwachsen. Das heißt nichts anderes, als selbst erwachsen zu bleiben. Wie ist das bei Ihnen? Überprüfen Sie ständig, wie erwachsen Sie eigentlich sind? Sind Sie sich der eigenen Verantwortung bewusst, die Sie haben, weil Ihre Kinder gerade erwachsen werden? Haben Sie für sich selbst geklärt, ob Sie Ihre Kinder tatsächlich ins Erwachsenenalter führen wollen?
Jung sein wie die Kinder selbst? In vielen Ratgeberbüchern steht: Seien Sie so jung wie Ihre Kinder. Das schadet jedoch mehr, als es nützt. Werden Sie lieber gemeinsam alt mit Ihren Kindern – oder eben erwachsen. Nutzen Sie die Chance, Ihre eigene Identität als Erwachsener, Ihre eigene Position erneut zu reflektieren. Sie haben es selbst als Jugendlicher getan, und irgendwann haben Sie damit aufgehört. Die jugendlichen Kinder haben gerade erst damit begonnen, über ihre eigene Identität als Erwachsene nachzudenken. Für die Erwachsenen ist das eine gute Gelegenheit, sich in der Mitte des Lebens zum zweiten Mal selbst neu zu entdecken und so der zunehmenden Diffusität in unserer Gesellschaft entgegenzuhalten. Und auch an die Lehrerinnen und Lehrer geht dieser Appell – auch in der Schule muss man sich ständig neu erfinden und zusammen erwachsen verhalten.
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V. „Jugendliche antworten auf diese Herausforderungen mit Konservativität und Wertepluralismus.“
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Die Tugend für die Jugend „Was diese Jugend braucht, ist eine neue Verständigung über gemeinsame Grundwerte. Dabei geht es um eine Wertekommunikation, nicht allein um eine bloße Wertevermittlung. Diese Jugend braucht die Chance, über eine solche Verständigung selbstfähig, beziehungsfähig, hoffnungsfähig und sinn-, ja gottfähig zu werden, damit sich die Gesellschaft nicht aufgelöst in unzählige Milieus oder zerrissen von divergierenden Einzelund Gruppeninteressen untergeht. Die Jugend – und wir alle – brauchen alle Anstrengung, die aus Masse und Individuum Person und Gemeinschaft macht.“ (Bischof Dr. Franz-Josef Bode, 2002)
Dies äußerte Bischof Bode 2002 auf einer CDU-Zukunftskonferenz, und er steht damit in guter historischer Tradition. Die Klagen über die Jugend von heute und über ihren Werteverfall sind, wie wir oben schon festgestellt haben, sehr alt. Historisch gesehen ist das erstaunlich, denn wenn die heutige Jugend keine Werte hat, so impliziert das, das die gestrige Jugend welche hatte, aber über deren Werteverlust hatte sich ja schon die vorherige Generation beschwert etc. Diese ganze Diskussion beruht auf einem Missverständnis in Bezug auf die Werte an sich und was sie bedeuten. Und deshalb erscheint es sinnvoll, sich zunächst darüber zu verständigen, was Werte eigentlich sind, dann darüber, welche Werte die Jugend von heute hat und in einem dritten Schritt, ob und inwiefern sich die heutigen Werthaltungen tatsächlich von den gestrigen unterscheiden.
Werte – ein schillernder Begriff Wenn auch alle über die verloren gegangenen Werte klagen, so wurde der Begriff bisher wenig geklärt. Er gehört zur unreflektierten Alltagssprache – und so verwendete ihn vermutlich auch Bischof Bode – genauso wie die Begriffe Jugend, Gesellschaft, Entwicklung. Prinzipiell lassen sich drei unterschiedliche Blickrichtungen auf Werte unterscheiden: Erstens der alltagssprachliche Blick, zweitens der soziologische Blick und drittens der psychologische Blick. Fragen Sie sich ruhig einmal selbst: Was sind für Sie Werte? Welche vertreten Sie? Was ist Ihnen im Leben wichtig? Woher haben Sie Ihre Werte bezogen? Häufig werden im Alltag Ehrlichkeit, Tüchtigkeit,
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Treue, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit und Aufrichtigkeit genannt. Darunter werden die Eigenschaften verstanden, die den Menschen von Gut und Böse unterscheiden bzw. die den idealen Menschentypus kennzeichnen. Werte sind demzufolge abstrakte Verhaltenserwartungen. Diese Erwartungen haben zwar Einzug in die Alltagssprache gefunden, bleiben aber ohne Inhalt.
Sind Tugenden alltagstauglich? Sobald man im Alltag jemanden auffordert, die genannten Tugenden einmal konkret zu beschreiben, scheiden sich die Geister. „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ lautet ein bekannter moralischer Spruch. Die Frage ist nur: Was ist eigentlich edel? Wann ist ein Mensch hilfreich, wann gut? Abstrakte Verhaltenserwartungen an Jugendliche zu richten, bedeutet somit zur gleichen Zeit, sie mit einer Anforderung zu konfrontieren, die niemals wirklich einlösbar oder erfüllbar ist, weil einmal mehr das Ziel unklar ist. „Unsere Jugend liebt den Luxus, hat schlechte Manieren, missachtet die Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht auf, wenn ein älterer Mann das Zimmer betritt, sie widersprechen den Eltern, sie schätzen die Gesellschaft anderer, schlürfen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer.“ (Sokrates, 470 bis 399 v. Chr.)
Dieses nicht unumstrittene Zitat (bisher gibt es noch keine Sicherheit darüber, ob es tatsächlich von Sokrates stammt, obgleich es populär häufig zitiert wird) mag der Veranschaulichung unkonkreter Verhaltenserwartungen dienen. Unklare Verhaltenserwartungen – wie sie Werte in der Alltagsdiskussion häufig darstellen – sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich eines gängigen Oberbegriffs bedienen, der nur scheinbar in seiner Bedeutung von allen Individuen geteilt wird. Ein Beispiel: Was ist eigentlich Respekt? Welche konkreten Verhaltensweisen kennzeichnen einen Menschen, der anderen gegenüber Respekt erweist, und welche erwarte ich von einem Menschen, wenn ich an ihn die Forderung erhebe, mir respektvoll zu begegnen? Oder noch konkreter ausgedrückt: Wenn mir als Jugendlicher vorgeworfen wird, ich sei respektlos, was konkret wird an mir kritisiert und was konkret soll ich ändern?
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Respekt erwarten und erweisen Für manche ist Respekt die Anerkennung vor Autoritäten. Daher ist Respekt für viele auch angstbesetzt. Eltern, Pfarrer, Lehrer, Polizisten sind solche Respektpersonen. Sie üben eine Macht aus, der ich mich unterwerfen muss. Möchte ich, dass Jugendliche Angst vor mir haben, wenn ich Respekt vor mir fordere? Sollen sie die Macht anerkennen, die ich auf sie ausübe, und sich ihr unterordnen? Wenn das die Bedeutung ist, die ich mit dem Wort Respekt verbinde, wäre meine Forderung an die Jugendlichen: „Ordne dich unter!“, und ich sollte ihnen auch offen und ehrlich sagen, was ich unter Respekt verstehe. Die zweite Bedeutung steckt im Abstand, den man zum Gegenüber halten soll. Das wird z. B. deutlich, wenn jemand sagt, er bleibe lieber in respektvoller Distanz stehen. Doch auch dann muss gefragt werden: Wann konkret tritt mir jemand zu nahe, wie viele Zentimeter misst der Abstand, den ich von dem anderen fordere? Welche Personen dürfen in diesen Schutzkreis hinein, welche müssen draußen bleiben und bleibt dieser Abstand immer gleich, egal in welcher Lebenslage ich mich befinde? Oder fordere ich ihn immer nur dann, wenn ich kurz davor bin, einen Quasi-Nahkampf zu verlieren? Und schließlich auch: Handelt es sich um einen horizontalen oder vertikalen Abstand? Respekt birgt drittens auch die Bedeutung „Achtung“ in sich. Achtung bringt man Menschen für eine bestimmte Leistung entgegen. Ich achte einen Menschen, weil er etwas getan hat, was mich beeindruckt. Wenn das meine Bedeutung von Respekt ist, und ich Jugendlichen Respektlosigkeit vorwerfe, dann würde dies heißen, ich fordere von ihnen, dass sie mich für eine meiner Leistungen achten. Doch an diese Bedeutung schließen sich viele Fragen an. Was sind das für Leistungen, für die ich geachtet werden möchte? Was habe ich konkret getan, das Ehrfurcht verdient? Wie viel muss ein Jugendlicher leisten, bis er sich meinen Respekt verdient hat? Und sind diese Leistungskriterien vorher klar? Kann ich Respekt erwarten und auch anderen erweisen, wenn ich selbst nichts geleistet habe oder wenn nichts geleistet wurde? Die nächste Bedeutungsebene wäre die Toleranz. Sich respektvoll zu verhalten hieße dann, das Gegenüber zu akzeptieren, egal wie dieser Mensch ist und was er gerade macht. Der Begriff der Toleranz ist ebenso schillernd wie 159
der des Respekts. Er gehört auch zu den Tugenden, für die es keine Erfüllungskriterien gibt: Wir wissen nicht wirklich genau, wann wir tolerant sind oder nicht.
Wertedebatten – ein Wortgeklingel mit Tugendbegriffen Schon an dieser Aufzählung der unterschiedlichen Bedeutungen des Wortes Respekt, die sich noch fortsetzen ließe, wird zweierlei deutlich: Wenn ich auf der einen Seite ein tugendhaftes Verhalten von einem anderen Menschen erwarte, muss ich zuvor für mich selbst klären, was ich selbst unter diesem Verhalten überhaupt verstehe. Wenn ich möchte, dass Jugendliche diese Tugenden entwickeln, so muss ich ihnen gleichzeitig auch ein Erfüllungskriterium nennen, wann sie es tatsächlich geschafft haben, auf mich tugendhaft zu wirken. Das ist in der Wertedebatte so gut wie nie der Fall. Die Wertedebatte, so wie sie heute geführt wird, ist nichts anderes als ein Wortgeklingel mit Tugendbegriffen, deren inhaltliche Beschreibung unklar bleibt und deren praktische Umsetzung unwahrscheinlich, deren Verbreitung noch dazu bei den Erwachsenen selbst nicht häufiger anzutreffen ist als bei Jugendlichen. Es wird oft gefragt, ob Werte wieder in den Schulunterricht gehören, und einige Bundesländer haben diesen Wertunterricht auch eingeführt. Hier gilt das Gleiche: Wenn Lehrerinnen und Lehrer unter Werten gleichzeitig bestimmte Tugenden verstehe, dann müssen sie den Schülerinnen und Schülern auch darüber Auskunft geben, wie sie ihnen diese Tugenden in einer Unterrichtsstunde beibringen möchten. Und hier frage ich Sie: Wie soll ein Unterricht aussehen, der den Jugendlichen den Wert Respekt nahe bringt? Meiner Meinung nach wird hier eine Scheindebatte geführt, weil sie zu Tugenden antreibt, die der Mensch gar nicht erfüllen kann. Darin spiegelt sich eine weitere Problematik. Denn entgegen der Aussage von Bischof Bode gibt es in unserer Gesellschaft überhaupt keinen Konsens darüber, was die Grundwerte eigentlich ausmachen. Bevor er die Schule dazu auffordert, die Jugend müsse wieder an sie herangeführt werden, sollte er sie zunächst einmal konkret benennen. Ich fürchte aber, wenn er dies täte, würden wir nur seine eigenen Wertvorstellungen zu hören bekommen, und Herr Bode würde sich zum Maßstab für die gesamte Gesellschaft erheben, was zu Recht fraglich ist. 160
Jeder Mensch bringt aus seiner eigenen Biografie seine eigenen Vorstellungen darüber mit, wie Menschen sein sollten. Eine allgemeingültige Verständigung darüber, die Ableitung dessen, wie alle Menschen sein müssen, ist selbst auf philosophischer Ebene nicht zu leisten. Auch bei den christlichen Werten, die bei Herrn Bode anklingen, ist das nur scheinbar eindeutig. Jeder auch nicht christlich erzogene Mensch würde für sich unterschreiben, dass er nach den zehn Geboten lebt. Jeder Mensch würde zugleich durch seine eigene Biografie und eigenen Erfahrungen aus ihnen jeweils etwas anderes herauslesen. Die zehn Gebote sind ein starrer Forderungskatalog, bei dem man sich fragt: Kann man das überhaupt leisten, ist das möglich, weiß ich, dass das geht, kann ich das überschauen?
Konsens über Werte kann nie erreicht werden Eine Grundwertedebatte über die Tugenden zu führen, geht am eigentlichen Problem vorbei. Selbst wenn es uns gelingen würde, einen Konsens zu erlangen, was ich für nahezu ausgeschlossen halte, so würde sich das konkrete Verhalten von konkreten Menschen in konkreten Situationen davon überhaupt nicht beeinflussen lassen. Es gibt einen grundsätzlichen, unauflösbaren Widerspruch zwischen der Erwartung, wie ein idealer Mensch auszusehen habe, und der Tatsache, wie die Menschen wirklich sind. Eine der Ursachen für den distanzierten und respektlosen Blick von Jugendlichen auf Erwachsene resultiert aus der intensiven Auseinandersetzung mit sich selbst und aus der Suche nach der eigenen Identität. Aus diesem Grund schauen die Jugendlichen sehr genau auf das Verhalten von anderen und stellen Vergleiche an zwischen dem, was Erwachsene z. B. über das penible Einhalten der Verkehrsregeln, des in §1 verankerten Grundwerts „Rücksichtnahme“ sagen und dem, was sie tun. Da dies nahezu nie übereinstimmt, empfinden viele Jugendliche die Wirklichkeit so, als würden Werte, Normen, Regeln, Tugenden selbst von den Erwachsenen ständig unterlaufen. Was für sie wiederum heißt: „Wenn ich erwachsen sein will, muss ich wie die Erwachsenen Regeln brechen.“ Wie sieht es bei Ihnen aus: Bewahren Sie auf der Autobahn immer den richtigen Abstand, drängeln Sie nie, geben Sie bei Überholmanövern immer bereitwillig nach und fahren zügig auf die rechte Spur?
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Der Grundwert „Gerechtigkeit“ Dieser Widerspruch ist ein gesellschaftliches Grundproblem und auch der Grund dafür, warum den Jugendlichen schon, seit Jahrtausenden Werteverfall vorgeworfen wird. Die gesellschaftliche Diskrepanz zwischen dem, was gepredigt wird, und dem, wie sich die Leute tatsächlich verhalten, besteht sicherlich auch schon seit es menschliche Zivilisationen gibt. Im Kern geht es bei allen Tugenden um ein Grundprinzip: Gerechtigkeit. Alle Tugenden lassen sich immer auf den Begriff der Gerechtigkeit zurückführen. Somit dreht sich die Debatte um Grundwerte und Tugenden der Gesellschaft immer darum, was einem gerecht und was einem ungerecht erscheint. Es gibt eine Theorie von Lawrence Kohlberg21, die besagt, dass das Gerechtigkeitsempfinden die Antwort auf genau diese Frage gibt – und zwar auf der untersten Stufe über die Höhe der Strafe bei einem Verstoß oder Fehler. Das ist insbesondere bei Kindern zu beobachten. Hier gilt das Gehorsamsprinzip: „Ich muss gehorsam sein.“ Ein Vergehen wird allein anhand der Ausmaße der Konsequenzen beurteilt. Sind sie schlimm, ist auch das Vergehen schlimm. Auf die Frage „Warum darfst du nicht lügen?“ würden Kinder antworten: „Weil ich sonst bestraft werde.“ In einer ersten Stufe sagt sich das Kind: „Ich möchte nicht bestraft werden, deshalb verhalte ich mich ‚richtig’.“ Das egozentrische Wesen der Kinder geht davon aus, dass die eigene Position, die eigene Sicht auf die Welt genau der Sichtweise aller anderen Menschen entspricht. Erst im Schulalter entwickelt sich langsam die Fähigkeit, die Perspektive einer konkreten zweiten Person einzunehmen, d. h. kurz die eigene Position zu verlassen und zu sehen, welche Position das Gegenüber gerade hat. Auf der zweiten Stufe kommen schon andere Personen mit ins Spiel. Auf dieser Stufe wird das als richtig und gerecht beurteilt, was dem Kind persönlich den größten Nutzen bringt. Es kann auf dieser Stufe allerdings schon berücksichtigen, dass sein Nutzen sogar noch größer wird, wenn es auch seinem Gegenüber in gewisser Weise entgegenkommt. Aber die meisten Kinder werden in den Anfangszeiten dieses Wissen immer noch hauptsächlich dazu nutzen, die eigene Position durchzusetzen. Beispiele dafür sind die unter Kindern so beliebten Tauschhandelsgeschäfte. Sie überlegen sich, was sie anzubieten haben und wie sie es hinbekommen, genau das zu kriegen, was sie dafür haben wollen. Hier zeigt sich, dass die Perspektivenübernahme zwar ansatzweise schon vorhanden ist, aber dass die Kinder sie nur anwenden, um eigene Interessen durchzusetzen. Gerechtig162
keit wird zu einem Tauschhandel, der so geschickt geführt wird, dass der eigene Nutzen maximal wird. Das dahinter stehende Prinzip lautet: „Wie du mir, so ich dir. Jeder ist sich selbst der nächste.“
Der Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen Diese beiden Stufen werden nach Kohlberg als präkonventionelle Moral beschrieben, was bedeutet, dass gesellschaftliche Übereinkünfte auf diesen beiden Stufen noch keine Rolle spielen. Ein Kind oder Jugendlicher in diesen beiden Stufen würde sich noch keine Gedanken darüber machen können, warum aus gesellschaftlicher Sicht möglicherweise Regeln und Normen notwendig sein könnten, an die sich alle halten sollten. Stufe 3 ist dadurch gekennzeichnet, dass der junge Mensch sein eigenes Verhalten daran misst, wie es von ihm nahe stehenden Personen eingeschätzt wird. Der Maßstab für richtig oder falsch spiegelt also die Vorstellungen der Eltern, Freunde oder Bekannten wider. In Stufe 4 wird dieser Blick auf die gesamte Gesellschaft erweitert. Der Jugendliche orientiert sich an dem, was die Gesellschaft an Normen und Regeln festgelegt hat. Richtig ist das, was mit den Gesetzen in Einklang steht, und falsch ist das Verhalten, das den Gesetzen zuwiderläuft. Gesetze werden als etwas anerkannt, was für alle Menschen verbindlich ist, weil nur durch diese Gesetze das Zusammenleben der Menschen reibungsarm gestaltet werden kann. Stufe 3 und 4 werden als konventionelle Moralvorstellungen bezeichnet, da sie an persönlichen oder gesellschaftlichen Konventionen orientiert sind. Erst in Stufe 5 werden auch die Gesetze eines Landes als Vereinbarungen erkannt, die von Menschen gemacht wurden und die nicht unfehlbar sind. Menschen können sich in dieser Stufe von den aktuellen gesellschaftlichen Konventionen lösen und höhere Prinzipien wie die Menschenrechte als übergeordnete Leitmaßstäbe für das eigene Verhalten erkennen. So steht z. B. das Recht auf Leben über allen Gesetzen und Konventionen. Ein Gesetz, das diesem Recht zuwiderläuft, muss daher gebrochen werden. Stufe 6 ist ein universalistisches Prinzip. Hier zählen eigene Maßstäbe nicht mehr für das eigene Verhalten. Der Mensch wird als Bestandteil eines universalen
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Prinzips angesehen. Diese Stufe ist bisher nur theoretisch beschrieben und wird von Menschen im aktuellen moralischen Urteil nahezu nie erreicht. Jugendliche müssen sich dabei mehr und mehr von der eigenen Perspektive lösen und eine gesellschaftliche oder gar universelle Sichtweise auf Regeln, Normen und Gesetze entwickeln. Es geht darum, sich selbst als Teil einer größeren Gemeinschaft zu begreifen und zu lernen, dass Gesetze nicht dazu da sind, dem Einzelnen zu nutzen, sondern dazu, von der gesamten Gesellschaft durch allgemein verbindliche Regelungen Schaden abzuwenden. Jugendliche selbst sind egozentrische Wesen. Zwischen den eigenen Wünschen und Zielen und dem, was aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive richtig oder nützlich wäre, zu unterscheiden, fällt Jugendlichen ebenso schwer wie jedem Erwachsenen. Stufe 4 ist das erreichte moralische Durchschnittsniveau im Alltag. Es beschränkt sich leider allein auf die Forderung, dass Gesetze einzuhalten und für alle verbindlich seien.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit Dass Gesetze trotzdem gebrochen werden, wenn es den eigenen Interessen nutzt, wissen wir alle nur zu gut. Der Ruf nach Einhaltung der Gesetze ertönt sogar meist dann besonders laut, wenn es den eigenen Interessen nützt, genauso wie Gesetze gebrochen werden, wenn sie den unmittelbaren eigenen Interessen zuwiderlaufen. Jugendliche sollen anerkennen, dass Gesetze für alle gelten, beobachten aber ständig, wie sie von den Erwachsenen gebrochen werden. Sie müssen einsehen lernen, dass Gesetze manchmal auch ungerecht sein können. Bevor Jugendliche die Erkenntnis gewinnen, dass Gesetze nur von Menschenhand gemacht und nichts anderes als Hilfsmittel sind, die das Zusammenleben einigermaßen regeln sollen, bevor sie erkennen, dass es so etwas wie höhere Prinzipien gibt, die als ethische Leitmotive über den Gesetzen stehen, bevor sie also den Übergang von Stufe 4 zu 5 vollziehen können, fallen sie oftmals auf Stufe 2 zurück. Das wurde in zahlreichen entwicklungspsychologischen Untersuchungen beschrieben. Jugendliche, die eben noch Recht und Gesetz als verbindlich und allgemeingültig anerkannt haben, argumentieren kurze Zeit später wiederum ganz und gar am Eigennutz orientiert. „Ich mache einfach, was ich will. Was gehen mich die anderen an! Was kümmert’s mich, ob’s den anderen passt! Hauptsache, ich habe meinen Spaß.“ Genau dieses Verhalten, das Erwach164
sene an Jugendlichen auch kritisieren, stellt eigentlich einen ganz natürlichen Entwicklungsschritt dar, der sich aus der Auseinandersetzung zwischen dem, was gesellschaftliche Forderung ist (die Gesetze), und dem, wie die Gesellschaft mit diesen Forderungen selbst umgeht (Nichteinhaltung der Gesetze) ergibt. Wenn man die Jugendlichen dabei beobachtet, wie sie auf Stufe 2 zurückfallen, dann kann man sich als Erwachsener beruhigt zurücklehnen, weil diese Jugendlichen bald einen großen Fortschritt machen werden. Sie nähern sich rasant der Stufe 5, der Erkenntnis, dass es eben allgemeine Leitprinzipien gibt, die in den Gesetzen gar nicht so festgeschrieben sind. Aber auch das bedarf der Anregung von außen durch eine Debatte über Normen, Regeln, höhere Prinzipien und was sie ausmacht. Tugenden tatsächlich zu entwickeln, heißt, sich über die eigene Vorstellung von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit Gedanken zu machen. Die Tugenddebatte kann man sich dann sparen, vielmehr geht es darum danach zu fragen, was Gerechtigkeit ausmacht, wie jeder Einzelne sie einfordert und was wiederum jeder Einzelne für gerecht hält. Damit würde den alltagssprachlichen Werten schon Genüge getan. Es reicht aber keineswegs nur zu fordern: „Sei gerecht, verhalte dich tugendhaft!“, weil diese Forderung als von außen aufgedrückt empfunden wird und die schwierige Auseinandersetzung über das, was die Heranwachsenden selbst als gerecht und ungerecht empfinden, nicht internalisiert wird und für sie verbindlich aufgenommen wird. Nach diesem Supernanny-Prinzip funktionieren Tugendtrainings, in denen man ihnen mit Belohnung und Bestrafung Benimmregeln beibringen möchte. So lernen die Kinder und Jugendlichen zwar, was von ihnen erwartet wird und welches Verhalten den Tugenden als abstrakte Erwartung entspricht, aber sie verstehen nicht, warum dieses Verhalten von ihnen erwartet wird. Der Nachteil daran ist, dass diese Regeln von außen oktroyierte Maßstäbe bleiben, die nicht verinnerlicht werden, weil sie nicht die eigenen sind. Hier heißt es, pädagogisch abzuwägen: Was möchte ich als Pädagoge, Erziehender, Lehrer, Elternteil erreichen? Möchte ich, dass sie ein bestimmtes Verhalten zeigen, das meinen Vorstellungen von richtig oder falsch entspricht, oder will ich, dass sie tatsächlich auch verstehen, warum sie sich so verhalten – auch auf die Gefahr hin, dass die Jugendlichen dann sagen, dass das nicht ihre Vorstellung von tugendhaftem Verhalten sei? Dieser zweite Prozess ist schwieriger und unvorhersehbarer, aber er lohnt sich.
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Gesellschaftspolitische Zielvorstellungen
Aus soziologischer Sicht sind Werte gesellschaftspolitische Zielvorstellungen, die kennzeichnende Merkmale einzelner gesellschaftlicher Gruppierungen sind. Durch diese Werte, die sich in den Zielen zeigen, kann die eine Gruppe von der anderen deutlich unterschieden werden. Wenn ich nun als einzelner Mensch ein bestimmtes Ziel verfolge, so fühle ich mich durch dieses Ziel einer bestimmten Gruppe zugehörig und versuche auch, mich dadurch von anderen Gruppierungen abzugrenzen. Gesellschaftspolitische Zielvorstellungen als kennzeichnendes Merkmal gesellschaftlicher Gruppierungen haben in den letzten Jahrzehnten jedoch an Bedeutung verloren: Die gesellschaftliche Lagerbildung gibt es nicht mehr. Somit sind die gesellschaftlichen Gruppierungen aus soziologischer Sicht auch kaum noch zu unterscheiden. Die klassischen soziografischen Merkmale, die früher als Unterscheidungsmerkmale gegolten haben, können also heute kaum noch herangezogen werden. Eine von unserer Forschergruppe kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass sich bestimmte Gruppen von anderen nach außen hin zwar noch stark unterscheiden – da gibt es die Konservativen, die Progressiven, die Liberalen etc. Aber es handelt sich bei diesen Gruppen nicht um homogene Einheiten, die sich eindeutig bestimmten Personentypen zuordnen ließen. Auch die klassischen Kriterien, die man früher gern herangezogen hat, wie Alter, Geschlecht, Bildungsstand, regionale Herkunft (Stadt oder Land), Religionszugehörigkeit, eventueller Migrationshintergrund, können die Unterschiede zwischen den Menschen in ihren Werthaltungen nicht erklären. Die Untersuchungsergebnisse lauteten eher: Männer haben ähnliche Wertvorstellungen wie Frauen, Inländer ähnliche wie Ausländer etc. – was bestätigt, dass die klaren gesellschaftlichen Gruppierungen sich aufgelöst haben. Sie stehen sich im Durchschnitt nicht mehr konträr gegenüber.
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Das Verschwinden der Jugendkulturen Auch aus Alltagsbeobachtungen ist dieser Prozess herauszulesen: Die klassischen Jugendkulturen verschwinden zusehends und verlieren mehr und mehr an Bedeutung. In den 70er und 80er Jahren waren Punks, Popper, Skinheads und Rocker und ihre gegenseitige Feindseligkeit noch ein ganz großes Thema. In den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts hat das stark nachgelassen. Zwar gehören einzelne Jugendliche diesen Bewegungen noch an, aber es ist nicht mehr an ein politisches Zugehörigkeitsgefühl gebunden. Eher handelt es sich heute um ein reines Lifestyle-Bekenntnis. Diese Lifestyle-Jugendkulturen unterscheiden sich – aus soziologischer Sicht – in ihren gesellschaftspolitischen Wertvorstellungen nahezu nicht mehr. Welche Kleiderordnung in einer Gruppe herrscht, wie die Haarmode aussieht, welche Musik gehört wird oder an welchen Orten man sich bevorzugt trifft, – all diese Kriterien sind keine soziopolitischen Werturteile mehr. Innerhalb dieser Jugendkulturen ist die Heterogenität inzwischen sogar noch viel größer als zwischen den verschiedenen Gruppierungen gesamtgesellschaftlich betrachtet. Auch das kann man wiederum am Beispiel eines ganz klassischen soziodemografischen Merkmals vorführen. Die Spannbreite der individuellen Werthaltung, die große Variabilität, die es dabei gibt, ist zwischen Frauen viel größer als zwischen Männern und Frauen, d. h. innerhalb eines Geschlechts viel größer als zwischen den Geschlechtergruppen. Das betrifft auch die klassischen Werte, die man eher Frauen oder eher Männern zuordnen würde. So würde man landläufig vermuten, dass Frauen den Wert Familie für bedeutender halten als Männer, und Männer eher den Beruf wichtiger nehmen als Frauen. Die aktuellen Untersuchungen bestätigen, dass sich diese Unterschiede nivelliert haben. Es sind auch keine mittleren Unterschiede zwischen Deutschen und Migranten auszumachen. Und auch die religiöse Orientierung unterscheidet die Gruppen nicht voneinander, es sind keine Wertunterschiede zu konstatieren. Wertorientierungen sind in den Religionen grundsätzlich sehr ähnlich ausgeprägt, was wiederum zeigt, dass die Debatte um die christlich-abendländischen Werte eine Scheindebatte ist.
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Die individuellen Konzeptionen des Wünschenswerten Gerade aus diesem Grund ist in diesem Kontext auch die psychologische Definition der Werthaltungen besonders hilfreich. Denn aus psychologischer Sicht werden Werte als individuelle Konzeption des Wünschenswerten verstanden, die sich aus konkreten Einstellungen zu konkreten Personen, Objekten oder Situationen ergeben. Ein individueller Wert ist das, was als eine Gemeinsamkeit in meinen Einschätzungen von bestimmten konkreten Sachverhalten oder Personen auszumachen ist. Ein gutes Beispiel ist der Wert Leistung. Die Einschätzung, ob mir Leistung wichtig ist oder nicht, kann ich nicht anhand des abstrakten Begriffs Leistung treffen. Ich kann dies nur, wenn ich an konkrete Situationen denke und mir überlege, ob ich in diesen Situationen konkret zu bestimmten Leistungen bereit gewesen wäre oder auch nicht. Jemand, der z. B. im Büro gern auch länger arbeitet und dem es wichtig ist, von anderen Lob und Anerkennung für seine Arbeit zu bekommen, der erst dann mit der Arbeit aufhört, wenn er ein für sich und andere zufrieden stellendes Ergebnis abgeliefert hat oder für die Ergebnisse auch private Interessen zurückstellt, kann davon ausgehen, dass ihm Leistung sehr wichtig ist und er dies anderen auch zeigen möchte.
Werte entstehen aus Erfahrungen mit konkreten Situationen An dieser Stelle wird der Unterschied zur alltagssprachlichen und soziologischen Definition des Begriffs besonders deutlich. Werte sind hier nur etwas Abstraktes, das von außen an mich herangetragen wird. Ich kann es als verbindlich ansehen oder aber auch nicht. Demgegenüber ist der Wert aus psychologischer Sicht ein individuelles Konzept, dass sich aus meinen eigenen individuellen Erfahrungen mit konkreten Personen, Dingen, Sachverhalten, Situationen ableitet. Was ich als persönlich als für mich als wichtig erachte, ist meine ganz individuelle Einschätzung, die ein Außenstehender so für mich gar nicht treffen kann. Zusammengefasst heißt das: Werte sind die Antwort auf die Frage, was mir wichtig ist und was nicht. In der Psychologie werden Werte völlig wertungsfrei definiert. Ich kann für mich Konzepte als wichtig erachten, die von anderen als negativ empfunden oder sogar abgelehnt werden. Ich kann z. B. Macht wichtig finden und muss nicht gleichzeitig abwägen, ob ich denn Macht überhaupt wichtig finden darf. 168
Die wichtigsten privaten und gesellschaftlichen Werte Bei unserer großangelegten Untersuchung aus dem Jahr 2006 mit 900 Befragten zum Thema „Werthaltungen“ beriefen wir uns auf diesen wertfreien Wertebegriff22. Die traditionellen Tugenden wurden nicht abgefragt, denn deren Bewertung wäre ohnehin kaum erfassbar, einerseits weil nicht klar wäre, was der Einzelne jeweils darunter versteht, und andererseits, weil auch nicht sicher wäre, ob die Befragten wirklich angeben würden, wie ihre Vorstellung konkret aussieht, oder ob sie nicht eher das sagen, was sie glauben sagen zu müssen, um ein „positives“ Bild abzugeben. Stattdessen haben wir neun private und zwei gesellschaftliche Werte erfasst. Die Befragten wurden einerseits gefragt, was für ihr persönliches Leben wichtig ist, und andererseits, was sie in Hinblick auf unsere Gesellschaft wichtig finden. Diese gesellschaftlichen Werte entsprechen durchaus den soziopolitischen Zielvorstellungen der Soziologen. Die Probanden waren Menschen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren. Erfasst wurden die folgende Werte: Leistung in Schule, Ausbildung und Beruf (Wie wichtig ist es Ihnen, in der Schule oder Ausbildung oder im Beruf gut mitzukommen? Ganz unwichtig bis sehr wichtig), individuelle Macht (Wie wichtig ist es Ihnen, Ihren Einfluss auf andere zu genießen?), Unterstützung von Mitmenschen (Wie wichtig ist es Ihnen, für andere nützlich zu sein?), Familie (Wie wichtig ist es Ihnen, bei Problemen Verständnis in der Familie zu finden?), Macht durch einflussreiche Bekannte (Wie wichtig ist es Ihnen, einen starken und einflussreichen Bekanntenkreis zu haben?), Tradition (Wie wichtig ist es Ihnen, sich den Sitten und Gebräuchen Ihrer Kulturgemeinschaft verbunden zu fühlen?), Risiko und Stimulation (Wie wichtig ist es Ihnen, beim Handeln auch mal ein Risiko einzugehen?), Freunde (Wie wichtig ist es Ihnen, bei wichtigen Fragen Rat bei Freunden zu finden?) und schließlich persönliche Freiheit (Wie wichtig ist es Ihnen, Wünsche frei und unbeschwert ausleben zu können?). Dies sind die neun privaten Werte. Zwei gesellschaftliche Werte behandeln das humanistische Menschenbild und starker Staat/politische Macht (Wie wichtig ist Ihnen solidarisches Handeln in der Gesellschaft? Wie wichtig ist es Ihnen, dass das Land, in dem Sie leben, stark und einflussreich ist?). Die Ergebnisse der Studie sind im Überblick in Abbildung 1 dargestellt. Alle Werte sind nahezu unabhängig voneinander vorhanden, d. h. sie treten in 169
allen Kombinationen mit unterschiedlichen Wichtigkeiten bei allen Menschen auf. Die privaten Werte korrelieren nicht miteinander. Ebenso verhält es sich mit den beiden gesellschaftlichen Werten, d. h. es gibt Menschen, die nur das humanistische Menschenbild wichtig finden, den starken Staat aber nicht befürworten, oder umgekehrt. Gleichzeitig gibt es auch Menschen, die beides für wichtig halten oder beides unwichtig finden. Dass das eine das andere ausschließt, ist nicht zu beobachten. Persönliche Freiheit
Freunde
Leistung in Schule/Ausbildung/Beruf
16-25 Jahre 26-35 Jahre
Unterstützung für Mitmenschen
36-45 Jahre 46-55 Jahre 56-65 Jahre
Familie
Risiko/Stimulation
Tradition
Macht durch einflussreiche Bekannte
Individuelle Macht
Humanistische Gesellschaft
Politische Macht/Starker Staat 1
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Die Hitliste ist bei allen Gruppen gleich. Es gibt kaum Altersunterschiede in der Wichtigkeit und Unwichtigkeit der abgefragten Werte. Die bedeutendsten Werte sind „Freunde“, „persönliche Freiheit“, „Leistung in Schule, Ausbildung und Beruf“, wobei diese von allen übereinstimmend als sehr wichtig beurteilt wurde. Im Mittel etwas weniger wichtig sind „Unterstützung durch 170
Freunde und Familie“. Mittlere Wichtigkeit haben „Risiko“, „Stimulation“, „Tradition“ und „Macht durch einflussreiche Bekannte“ sowie „individuelle Macht“ – diese Werte erhielten im Mittel die Einschätzung „am unwichtigsten“, den Befragten erscheint das humanistische Menschenbild wichtiger. Der Wert „starker Staat/politische Macht“ hebt sich im Mittel auf, bekommt also eine mittelhohe Wichtigkeit: Viele sehen ihn als wichtig an, viele auch als unwichtig. An der Spitze der Wertehierarchie stehen somit drei sehr unterschiedliche Werte, die als gleichermaßen wichtig genannt werden und die sich gegenseitig fast auszuschließen scheinen. Denn Freunde als wichtig zu erachten, kann durchaus auch Einschränkungen in der persönlichen Freiheit bedeuten. Man muss Kompromisse schließen und sich auf die anderen einstellen. Und die Freunde und die persönliche Freiheit können durchaus mit der Leistung in Schule, Ausbildung und Beruf kollidieren. In der klassischen Wertedefinition würde man den Wert Leistung in Schule, Ausbildung und Beruf als einen traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwert bezeichnen. In den traditionellen Vorstellungen standen sie in direktem Widerspruch zu den Hedonismuswerten, zu denen wiederum persönliche Freiheit gehören würde. Für die Jugend von heute müssen wir also konstatieren, dass sie versuchen, Werte miteinander zu vereinen, die früher als unvereinbar galten. Werte, die früher gegeneinander abgewogen wurden, werden heute als gleichermaßen wichtig eingeschätzt. Im Generationsvergleich wird deutlich, dass die Jugendlichen im Mittel keine anderen Wertvorstellungen haben als die älteren Menschen. Von einem Werteverfall kann bei den Jugendlichen daher nicht die Rede sein. Man muss eher von einem Wertepluralismus sprechen, der für einen schwierigen Spagat steht, den Jugendliche und auch Erwachsene hinbekommen müssen: Bei unterschiedlichsten Anforderungen auch ihren Werthaltungen gerecht zu werden. In Schule, Ausbildung und Beruf gute Leistung zu erbringen, gleichzeitig für die Freunde da zu sein und trotzdem die eigene Freiheit zu genießen, ist ein Balanceakt, der viel Energie kostet. Hier wird auch wieder deutlich, dass es die vielfältigen gesellschaftlichen Anforderungen sind, die zum Identitätssurfen verleiten: Jeder will es allen recht machen, keiner will in einem Gebiet zurückstecken. Bemerkenswert ist, dass die Machtwerte im Mittel die unwichtigsten Werte darstellen. An der Stelle ist aber nicht erkennbar, ob es sich dabei um Resignation oder Ohnmachtsgefühle handelt, oder ob Macht und ihre Ausübung 171
generell abgelehnt wird. Ausschließen kann man jedoch, dass diese Werte nur deshalb als unwichtig eingeschätzt wurden, weil Zustimmung zu diesen Werten als sozial nicht wünschenswert angesehen werden würde und somit als sozial unerwünschtes Verhalten gilt (die Zuverlässigkeit der Aussagen wurde in dieser Untersuchung mit erhoben).
Anders als ihr Ruf: die „Neue konservative Jugend“ Bei ähnlichen Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Jugendlichen traditionelle Werte wie Leistung im Beruf und Familie wichtiger nehmen als ihre Elterngeneration. Sie entwickeln eher konservative Haltungen. Der Grund ist einfach: Der Prozess der Abgrenzung ist nicht nur durch rechtsoder linksextremes Verhalten möglich, sondern auch durch starken Konservatismus. Den bisherigen Jugendgenerationen war es bisher immer vergönnt gewesen, sich durch Rebellion von ihren Eltern abzugrenzen. Da die heutige Erwachsenengeneration aber so verständnisvoll auf alle Arten von Rebellion reagiert, wechseln die Jüngeren auf die Gegenseite. Konservativität ist die Rebellion der Jugend von heute. Wenn es nichts mehr gibt, wogegen man rebellieren könnte, ist Anpassung die ideale Lebensstrategie. Eine diffuse Identität zeichnet sich auch dadurch aus, dass alles als gleich wichtig erachtet wird – also nicht nur durch eine generell ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Festlegung. In ihrer Diffusität sind die Jugendlichen nicht allein. Allen anderen Generationen geht es genauso, wie die Untersuchung zeigt. Einen klassischen Wertetransfer von der älteren zur jüngeren Generation scheint es nicht zu geben. Aus den wenigen Untersuchungen, die es dazu gibt, wissen wir, dass zumindest das Gerechtigkeitsempfinden zwischen den Generationen vermittelt wird. Ebenso können wir erkennen, dass sich Eltern und ihre jugendlichen Kinder in ihren zentralen weltanschaulichen religiösen und politischen Anschauungen sehr ähnlich sind. Aber schon hier müssen wir uns fragen, wer von wem gelernt hat. Die klassischen Vorstellungen gehen davon aus, dass die Jugendlichen diese von ihren Eltern übernehmen. Es gibt aber auch gute Gründe anzunehmen, dass es sich umgekehrt verhält, dass die Jugendlichen die Eltern mit neuen Ideen und Anschauungen konfrontieren, die dann letztendlich von den Eltern übernommen werden. Wenn es nicht so wäre, dann hätte es die 68er-Generation es
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nicht geschafft, längerfristig die Gesellschaft zu verändern. Auch Computer und Handys hätten sich im Alltag nicht durchgesetzt. Insgesamt zeichnet sich ein Bild von einer im Mittel eher konservativen, sozial orientierten und fleißigen Jugend ab, die sich nicht von ihrer Elterngeneration unterscheidet, die ähnlich wie sie Tradition eher ablehnt und dem Einsatz von Machtmitteln zur Durchsetzung eigener Interessen kritisch gegenübersteht. Damit unterscheiden sich die Werthaltungen der Jugendlichen von heute deutlich von ihrem Ruf: Ein genereller Trend zur Rebellion, zum Egoismus oder eine generelle Null-Bock-Stimmung lassen sich in diesen Untersuchungen nicht erkennen.
Wertkonflikte und Wertekrisen Die Berichte über die Werthaltungen bei den Heranwachsenden und den Eltern sind allerdings Mittelwerte. Diese verdecken die großen individuellen Unterschiede, die es zwischen den einzelnen Befragten in dieser Untersuchung gegeben hat. Auch wenn im Mittel individuelle Macht abgelehnt wird, so gibt es dennoch eine gewisse Anzahl von Befragten, die individuelle Macht für sich persönlich als sehr wichtig einschätzt. Gleiches trifft auch nahezu auf alle anderen Werte zu. Hinter dem Mittelwert der Antworten verbirgt sich eine große Spannbreite. Nur in der Einschätzung der drei wichtigsten Werte Freunde, Freiheit und Leistung waren die Übereinstimmungen in den Urteilen bei allen Befragten sehr hoch. Diese großen Unterschiede in den Werturteilen lassen sich nicht mehr durch die klassischen soziodemografischen Merkmale wie z. B. Geschlecht, Herkunft aus Stadt oder Land, Alter oder Religion erklären. Man kann lediglich Vermutungen anstellen, woher die großen Unterschiede in den individuellen Werthaltungen stammen. Wir wissen bisher nur, dass die Werte sich im Jugendalter herausbilden und dass diese Werte im Lebenslauf sehr stabil bleiben, d. h. wenn sie einmal herausgebildet sind, sich kaum noch ändern. Im höheren Lebensalter sind Änderungen nur noch dann möglich, wenn bestimmte kritische Lebensereignisse eintreten, die den Einzelnen dazu zwingen, sein gesamtes Wertesystem in Frage zu stellen, z. B. durch die Wende in Ostdeutschland, durch Arbeitsplatzverlust oder die Geburt eines Kindes, das man nicht wollte, sowie den Tod eines nahen Angehörigen. Des Weiteren kann es aber auch sein, dass Dinge für gleich wichtig gehalten werden, die eigentlich un173
vereinbar sind. Auch das kann zu Wertkonflikten führen, die längerfristig dazu zwingen könnten, den einen Wert abzuwerten, damit dieser Widerspruch aufgelöst werden kann, z. B. wenn ein Mann eine berufliche Karrierechance im Ausland nicht ergreift, um sein harmonisches Familienglück nicht zu gefährden.
Das Entwicklungsziel „Individuelle Werthaltungen“ Die Entwicklung von individuellen Werthaltungen ist eine der zentralen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters. Wie alle anderen ist auch sie eng mit der Herausbildung der eigenen Identität verknüpft. Die Werte charakterisieren die Identität und die Identität gibt den Werten ihr Gepräge. Dass es sich dabei um eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters handelt, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzung mit den eigenen Wertvorstellungen uns ein Leben lang begleiten wird. Der Prozess beginnt im Jugendalter, aber er ist nie abgeschlossen. Voraussetzung dafür, dass individuelle Werte sich herausbilden können, ist – wie die psychologische Wertediskussion schon gezeigt hat – die Fähigkeit, konkrete Erfahrungen einschätzen zu können und diese auf abstrakte Konzepte übertragen zu können. Diese Abstraktionsfähigkeit entsteht wie oben bereits ausgeführt erst im Jugendalter.
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Der Blick von Lehrern, Eltern und Freunden
Wie kommt er denn nun eigentlich zustande, der schlechte Ruf der Jugendlichen? Eine Erklärung dafür liefert unsere Neigung, von konkreten einzelnen Jugendlichen auszugehen, die sich durch bestimmte problematische Verhaltensweisen und Einstellungen so sehr in unsere Wahrnehmung drängen, dass wir generalisieren und von ihnen sofort auf Allgemeinheit schließen. Dabei vergessen wir all die anderen Jugendlichen, die sich rechts und links von ihnen befinden und eigentlich versuchen, trotz aller Schwierigkeiten so gut wie möglich durchzukommen, nicht zu viele Probleme zu machen, allen Anforderungen gerecht zu werden und nicht aufzufallen. Bei Lehrern ist dies häufig zu beobachten. Sie sitzen ungefähr 20 Jugendlichen gegenüber und lassen sich dennoch vor allem von einzelnen Problemfällen in ihrer allgemeinen Beurteilung der Jugend leiten, weil diese die meiste Energie abziehen. Ein zweites Problem von Lehrern ist, dass sie Pädagogen sind. Ein „neutraler“ Blick ist Lehrern nahezu unmöglich, weil sie den Zustand, wie der Jugendliche gerade ist, immer damit vergleichen, wie der Jugendliche aus erzieherischer Sicht zu sein hätte. Pädagogisches Handeln ist immer zielorientiert und das Ziel ist immer an einem Idealbild orientiert. Bei einem Ist-/Sollvergleich schneidet jeder schlecht ab, weil keiner dem Ideal entspricht.
Das unerreichbare Idealbild vom Schüler Lehrer erleben den Jugendlichen nur in einer spezifischen Situation – der Leistungssituation in der Schule. Sie wissen nicht, ob der Jugendliche in anderen sozialen Kontexten – Familie, Freunde, Sportverein – sich möglicherweise ganz anders verhält. Von den vielen privaten und gesellschaftlichen Werten, die ein Jugendlicher so hat, wird von den Lehrern nur der Wert Leistung überprüft. Und genau an dieser Stelle zeigt sich die Problematik, dass dieser Wert nicht ausdrückt, wie leistungsstark Jugendliche sind, sondern nur, wie wichtig ihnen Leistung ist. So kann es sein, dass ein Schüler durchaus gute Leistung bringt, sie ihm aber nicht so wichtig ist, weil ihm alles zufliegt. Hingegen ist es sehr wohl möglich, dass ein schlechter Schüler 175
Leistung sehr hochhält, ohne dies jedoch auch so dokumentieren zu können. Es wäre den Lehrern daher angeraten, die Jugendlichen stärker in ihren individuellen Werthaltungen wahrzunehmen – und zwar nicht nur im Bereich Leistung –, anstatt sie immer wieder nur an abstrakten Tugenden zu messen.
Der zukunftsorientierte Blick der Eltern Der Blick der Eltern ist schon etwas neutraler, da sie ihre Kinder in mehr Lebenssituationen erleben. Trotzdem ist auch zwischen den Eltern und den Jugendlichen Leistung das vorherrschende Thema, weil sie Angst um die Zukunft ihrer Kinder haben. Sie wollen, dass es ihren Kindern gut geht, sie empfinden Druck, der angesichts der ungewissen Zukunfts- und Berufschancen der Jugendlichen mehr als berechtigt ist. Das realistischste Bild von den Jugendlichen zeichnen die Freunde. Freunde, und das ist der große Vorteil, konfrontieren den Jugendlichen nicht mit abstrakten Verhaltenserwartungen, sondern nehmen ihn einfach so, wie er ist. Freunde kennen den Jugendlichen aus unterschiedlichsten Zusammenhängen, nicht nur durch die Schule, erleben ihn auch in der Freizeit, stecken in einer ähnlichen Lebenssituation. Und sie kennen die Zwänge, die die vielfältigen sich häufig widersprechenden Verpflichtungen in dieser Lebensphase mit sich bringen.
Wer kennt den Jugendlichen am besten? Wenn ich also wissen will, wie ein Jugendlicher wirklich ist, dann würde ich auf keinen Fall die Lehrerinnen und Lehrer und nur eingeschränkt die Eltern befragen. Die schlechteste Auskunft ist jedoch von dem auf sein Selbstbild bezogenen egozentrischen Jugendlichen selbst zu erwarten. Viel eher würde ich auf die Freunde zugehen. Der jugendliche Egozentrismus verhindert ein realistisches Bild von sich selbst. Dazu gibt es Untersuchungen von Susan Harter und Ann Monsour 23, die der Identität von Jugendlichen durch Fragen nach ihrem Verhalten in unterschiedlichen Kontexten auf die Spur kommen wollten. Sie fragten, wie die Heranwachsenden unter Freunden, in der Freizeit, in der Familie und in der Schule jeweils auftreten. Dabei wurde deutlich, dass die Einschätzungen der Jugendlichen mit zu176
nehmenden Alter immer realistischer werden, ab 17/18 Jahren sind sie schon sehr differenziert. Ab diesem Alter versuchen sie, die Widersprüche in sich tatsächlich auch in ein übergreifendes Gesamtbild zu integrieren.
Werteunterricht – der Ausweg aus dem Tugenddilemma? Was heißt das für den Wertunterricht? Für die Werteerziehung allgemein? Tugendunterricht wird von den meisten Lehrern befürwortet. Sie möchten den Schülern Benehmen beibringen. Dabei gehen sie davon aus, dass sie selbst die richtige Vorstellung von einem guten Benehmen haben. Sie möchten den jungen Menschen das richtige Verhalten beibringen. Wenn man aber vom psychologischen Konzept der individuellen Werte eines jeden Einzelnen ausgeht, hieße das, die Jugendlichen in dem konkreten Prozess zu begleiten, in dem sie sich im Moment befinden. Denn die Jugendlichen sind gerade dabei, individuelle Werthaltungen herauszubilden. Die Lehrer könnten also die individuellen Werthaltungen bei den Jugendlichen aufgreifen und in den Unterricht einbringen, diesem Entwicklungsprozess Rechnung tragen. Werte entstehen, indem der Mensch konkrete Sachverhalte reflektiert und daraus für sich selbst Einstellungen zu abstrakten Konzepten wie Familie, Leistung, Freundschaft, Macht verdichtet. Werteentwicklung bedeutet auch, sich mit anderen Wertvorstellungen auseinander zu setzen und für sich selbst Begründungen zu entwickeln, warum das eine wichtig ist und das andere nicht. Werteentwicklung bedeutet, sich längerfristig seinen eigenen Werten zu verpflichten, d. h. neue Situationen oder Personen entsprechend eigener Werthaltungen und in Übereinstimmung mit persönlichen Überzeugungen zu bewerten und sich selbst somit treu zu bleiben. Ein Beispiel: Wenn sich die bisherigen Erfahrungen einer Jugendlichen bisher auf den schulischen Bereich beschränken, hat sie in vielen konkreten Leistungssituationen in der Schule sich selbst und andere einschätzen gelernt. Dabei hat sie erfahren, wie sie persönlich das abstrakte Konzept Leistung für sich bewertet. Wenn sie Leistung als etwas Wichtiges in ihrem Leben ansieht und sich ihr verpflichtet fühlt, dann ist zu erwarten, dass sie eine neue Situation, die sie bisher noch nicht kannte, auch entsprechend beurteilt, sobald sie die Ähnlichkeit zur Schulsituation erkennt (z. B. bei einer Ausbildung). Hat sich
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während der Schulzeit der Wert Leistung festgesetzt, ist davon auszugehen, dass die Jugendliche generell eine große Leistungsbereitschaft besitzt. Wertunterricht kann nicht das Ziel haben, Werte des Lehrers auf die Schüler zu transferieren. Wertunterricht muss den Jugendlichen helfen, ihre eigenen Einstellungen zu reflektieren und in diesen Einstellungen die Gemeinsamkeiten zu erkennen und damit seine eigene Werthaltung klären bzw. herausbilden zu können. Eine Einstellung ist immer die Einschätzung einer konkreten Sache, ein Wert ist die Einschätzung einer abstrakten Vorstellung. Der Lehrer kann sich in diesem Wertunterricht als Modell zur Verfügung stellen, indem er seine eigenen Werthaltungen zu erkennen gibt, indem er über seine Einstellungen zu bestimmten Sachverhalten berichtet. Wertunterricht in diesem Sinne ist also ein Diskurs. Und in diesem Diskurs befinden sich zwei zentrale Mechanismen der Identitätsbildung: Exploration und Verpflichtung. Der Diskurs muss also verschiedenste Auffassungen aufgreifen, sichtbar machen, zur Diskussion stellen, sodass der Jugendliche auch erkennt, welche verschiedenen Auffassungen es gibt und warum. Der Wertunterricht muss dem Heranwachsenden gleichzeitig auch die Möglichkeit geben, seine eigenen Positionen zu festigen, indem er lernt, diese zu begründen und verteidigen, und zwar auch dann, wenn ihm etwas anderes suggeriert wird. Es kann nicht Ziel des Wertunterrichts sein, eine bestimmte Idealvorstellung bei allen Schülern entstehen zu lassen. Das ist illusorisch. Dann könnte man auch nicht mehr von individueller Werthaltung sprechen, sondern nur noch von einer Einheitshaltung, wie beispielsweise zu DDR-Zeiten propagiert. Der Unterricht in der DDR zielte darauf ab, allen die gleichen Werte nahe zu bringen. Das hat nicht funktioniert. Erst wenn sich individuelle Werthaltungen herausgebildet haben und als verpflichtend wahrgenommen werden, sind die Jugendlichen auch fähig, sie auf neue Situationen übertragen zu können. Das heißt, sie müssen mit neuen Situationen konfrontiert werden und dazu aufgefordert werden auszusprechen, wie sie aufgrund ihrer neuen individuellen Werthaltung diese Situation einschätzen. Sie müssen gleichzeitig noch darüber reflektieren lernen, was in ihrem Leben passieren müsste, damit sie ihre Werthaltung ändern. Es wären Fragen zu beantworten wie: Woher kommen meine Werte, was bedeuten sie? Das größte Problem für die Lehrer besteht darin, die eigenen Positionen offen zu legen. Und das liegt nicht nur daran, dass sie Angst haben das 178
Neutralitätsgebot zu verletzen: Viel größer erscheint die Angst, erkennen zu müssen, dass die eigenen Positionen selbst nicht reflektiert sind. Auch sie müssten erneut diesen Wertklärungsprozess durchlaufen, damit sie kompetente Ansprechpartner in Hinblick auf die Werte sind. Was bisher über das gesamtgesellschaftliche Ausmaß an Diffusion gesagt wurde, trifft genauso auch auf die Lehrerschaft zu. Auch hier gibt es viele mit einer übernommenen Identität, die unreflektiert und unkritisch die Werthaltungen anderer übernommen haben und sich dadurch immer der Gefahr aussetzen, dass andere diese leicht ins Wanken bringen können. Es gibt auch unter den Lehrerinnen und Lehrern viele, die sich im Moratorium befinden, sich stark mit ihren Vorstellungen auseinander setzen und noch nicht wissen, wo sie sich im Leben befinden. Es gibt auch viele mit erarbeiteten Positionen, die wissen, wofür sie stehen und warum. Und eine zahlenmäßig große Gruppe bleibt, wie in der Gesamtgesellschaft, diffus und kann nicht sagen, wofür sie steht und macht sich auch keine Gedanken darüber. Oft wird mir auch von Lehrern gesagt, das sei ihnen alles egal, sie würden Mathematik unterrichten, das sei alles. Doch jeder Unterricht ist Wertunterricht. Aus meiner Sicht ist es am besten, wenn Lehrer erkennen, dass sie sich in derselben Lage befinden wie ihre Schüler und sie ihre Werte auch immer wieder hinterfragen müssen. Diese neu zu überdenken, ein Leben lang, oder zumindest solange sie an der Schule tätig sind, gemeinsam und partnerschaftlich mit ihren Schülern – ohne jedwede Position des Schülers automatisch gut zu finden, nur weil der Schüler überhaupt eine Position hat – zu diskutieren und sich gegenseitig die Weltsicht zu erläutern, ist eine der wichtigsten Aufgaben von Schule in der diffusen Gesellschaft. Der Wertunterricht soll keine Einheitsmeinung heraufbeschwören, keinen Konsens erzielen. Er kann lediglich als Spiegelfläche dienen. Wenn ein Lehrer den Schülern scheinbar „falsche“ Wertvorstellungen austreiben will, ist der Unterricht von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Schüler lassen sich keine fremde Meinung oktroyieren, sie werden sich wehren. Trotzdem heißt das auch für die Lehrer: Es ist erlaubt, total konträr zu allem aufzutreten, eine Meinung gegen die andere zu setzen, einen Schlagabtausch ohne Urteil zu führen. Auch einem Neonazi kann man nur seine Meinung anbieten, aber ob er diese übernehmen wird, ist unvorhersehbar. Fatal ist nur, auf diesen Diskurs ganz und gar zu verzichten.
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Beziehungsarbeit mit allen Heranwachsenden Beziehungsarbeit heißt, den anderen anzuhören, ohne ihn gleich ändern zu wollen. Ein Lehrer muss sich schon etwas anderes ausdenken als „Skinheads finde ich nicht gut!“. Da er immer auch in einer Verantwortung steht und ein pädagogisches Ziel verfolgt, kann das Verhältnis nur eingeschränkt partnerschaftlich sein. Es sollte aber nicht nur darauf ausgerichtet sein, den Lehrstoff zu transportieren, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung vorantreiben. Das bestreiten Lehrer gern, da sie glauben, dies sei eine Aufgabe der Eltern, was zu der häufigen Klage führt, sie würden „die Erziehungsverantwortung an der Schultür“ abgeben. Das Gegenteil ist der Fall: In jedem Bundesland werden zu den Rahmenplänen für den Unterricht auch gleichzeitig pädagogische Leitlinien herausgegeben, mit denen festgelegt ist, wie sich in den verschiedenen Schulstufen die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler entwickeln soll, darunter sind Begriffe wie Werthaltungen, Teamfähigkeit und Selbstbewusstsein zu finden. Neben fachlichen und didaktischen Kompetenzen ist auch soziale Kompetenz gefragt. Merrill Harmin24, eine amerikanische Pädagogin, hat einmal gesagt: „Wenn sich die Schulen die Zeit nehmen ... und die richtigen Methoden anwenden, dann scheint das angeborene Gute in den jungen Leuten nur darauf zu warten, hervorzubrechen und hell zu erstrahlen.“ Aber ganz so einfach ist es leider nicht: Es ist ein mühevoller, nervenaufreibender Prozess, bei dem jeder Lehrer erkennt, wo seine Grenzen liegen und an welcher Stelle er bei den jungen Menschen nicht weiterkommt. Wenn dies auch nicht bei allen gelingen mag, so doch vielleicht bei Einigen. Erst die Chance, sich immer und überall eine eigene Position erarbeiten zu können, lässt sie zu mündigen Bürgern werden, zu Jugendlichen, die keine diffuse Identität entwickeln und somit der wachsenden Diffusität der Gesellschaft ein kleines Stück entgegenwirken.
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Zu guter Letzt: Ein Plädoyer für erwachsene Erwachsene „Süßer Vogel, Jugend, Komm wir tanzen Komm wir wiegen uns im Takt der Nacht, Wir brechen ein Tabu, Wir werden älter Süßer Vogel, Jugend, Sieh uns wachsen und gedeihen, Sieh uns hinterher Wir werden weiterziehen, Der Sonne entgegen“ (Mia „Sonne“, 2004)
Wann sind Sie selbst erwachsen geworden? Wie spricht sich dieses Empfinden für Sie persönlich aus? Erwachsen sein? Im Unterschied zu allen Heranwachsenden haben wir Erwachsenen eine große Chance – wir können jugendlich sein und trotzdem erwachsen bleiben. Diese Möglichkeit, zwischen den Status zu wechseln, haben nur wir, da wir beide Status – das Jugendlichsein und das Erwachsensein – bereits erarbeitet haben. Jugendliche selbst haben diese Möglichkeit nicht. Das Beste aus beiden Welten für sich zu nutzen, sich unverkrampft über alle Konventionen hinwegsetzen zu können und gleichzeitig Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, diese Chance und Herausforderung muss von ihnen erst erarbeitet werden, mit allen Fehlschlägen, Missverständnissen, Grenzüberschreitungen und Irrtümern, die damit verbunden sein können. Beneiden wir die Jugendlichen nicht um ihre Jugend, sondern bieten wir uns als Modelle an, an denen sich Heranwachsende reiben können auf dem Weg zur eigenen Identität. Niemand benötigt Erwachsene, die jugendlicher sind als die Jugendlichen selbst. Der zunehmenden Diffusität in unserer Gesellschaft können nur diejenigen etwas entgegensetzen, die ihre erarbeiteten Positionen nach außen hin verdeutlichen und somit zum kritischen Diskurs anbieten. Sich hinterfragen, Werte erarbeiten, miteinander diskutieren, sich für die Meinung des anderen interessieren – an dieser Art von Erwachsensein ist nichts Altmodisches. Heute erwachsen zu werden, mag schwierig sein aufgrund der Schnelllebigkeit unserer Kultur. Es birgt aber auch die große Chance, etwas Einzigarti-
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ges zu erschaffen – sich selbst als unverwechselbare und aus sich selbst erwachsende Persönlichkeit.
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Anmerkungen/Tipps zum Nach- und Weiterlesen
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18 Bürgin, D. (1991). Autoinitiationsversuche – Mangelgeburten aus der Not. In G. Klosinski (Hrsg.), Pubertätsriten. Äquivalente und Defizite in unserer Gesellschaft (S. 165–175). Bern: Hans Huber. 19 Erdheim, M. (1991). Zur Entritualisierung der Adoleszenz bei beschleunigtem Kulturwandel. In G. Klosinski (Hrsg.), Pubertätsriten. Äquivalente und Defizite in unserer Gesellschaft (S.79-88). Bern: Hans Huber. 20 Gordon, T. (1994). Die neue Familienkonferenz: Kinder erziehen ohne zu strafen. München: Heyne. 21 Kohlberg, L. (1996). Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 22 Helmken, K. & Mienert, M. (2007). Individuelle Werte Jugendlicher. Konsequenzen für die sozialpädagogische Arbeit. Zeitschrift für Sozialpädagogik, 5 (4), 391-403. 23 Harter, S., & Monsour, A. (1992). Developmental analysis of conflict caused by opposing attributes in the adolescent self-portrait. Developmental Psychology, 28, 251260. 24 Harmin, M. (1990). How to Plan a Program for Moral Education. Association for Supervision and Curriculum Development, Alexandria, Virginia.
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