Olaf Schnur · Matthias Drilling (Hrsg.) Quartiere im demografischen Umbruch
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Olaf Schnur · Matthias Drilling (Hrsg.) Quartiere im demografischen Umbruch
VS RESEARCH Quartiersforschung Herausgegeben von Dr. Olaf Schnur, Universität Potsdam Dr. Dirk Gebhardt, Eurocities, Brüssel Dr. Matthias Drilling, Hochschule für Soziale Arbeit, Basel
Das Wohn- oder Stadtquartier hat in unterschiedlichsten Bereichen der Stadtforschung einen wachsenden Stellenwert. Neue Schwerpunkte auf Quartiersebene sind sowohl in der Praxis, etwa in Stadtentwicklung und Immobilienwirtschaft, als auch in stärker theoretisch orientierten Bereichen zu finden. In der dazwischen liegenden Grauzone hat die wissenschaftliche Begleitforschung Konjunktur, die sich mit den immer vielfältigeren planungspolitischen Interventionen in Quartieren beschäftigt. Diese Reihe möchte sich den inzwischen existierenden pluralistischen, oft auch kritisch geführten Diskurslinien der Quartiersforschung mit ihren zahlreichen Überschneidungen und Widersprüchen widmen. Sie bietet Raum für Quartiersforschung im weitesten Sinn – von Arbeiten mit theoretisch-konzeptionellem Schwerpunkt über empirisch-methodisch orientierte Studien bis hin zu explizit praxisorientierten Arbeiten über Quartiers-Themen aus dem Blickwinkel verschiedener Paradigmen der Quartiersforschung. So soll ein Forum entstehen, in dem sich Interessierte aus allen Bereichen – vom Quartiersmanager bis zum Wissenschaftler – über das Themenfeld „Quartier“ auch über den eigenen Horizont hinaus informieren können. Quartiersforschung wird innerhalb dieser Reihe interdisziplinär und multidisziplinär verstanden, wobei geographische und sozialwissenschaftliche Ansätze einen Schwerpunkt darstellen.
Olaf Schnur Matthias Drilling (Hrsg.)
Quartiere im demografischen Umbruch Beiträge aus der Forschungspraxis
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit Unterstützung des Wilhelm-Weischedel-Fonds der WBG.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Britta Göhrisch-Radmacher Korrektorat: Georg Schlegel, Tübingen VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: SatzReproService GmbH Jena Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17732-8
Vorwort
Der vorliegende Band entstand als Folge einer Tagung des Arbeitskreises Quartiersforschung zum Thema „Quartiere im demografischen Umbruch“ im September 2009 auf dem Deutschen Geographentag in Wien. Ziel der Tagung war es, demografierelevante Themen auf der Quartiersebene zu analysieren und zu diskutieren – eine Debatte, die in dieser Form bislang noch zu wenig geführt wurde. Die große Resonanz auf den „Call for Papers“ bestätigte die Relevanz des Themas. Viele der Vorträge fanden in überarbeiteter Form Eingang in dieses Buch. Wir möchten den Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft danken, ihre Ideen nicht nur im Arbeitskreis mit uns zu diskutieren, sondern auch an diesem Buch mitzuwirken und damit den Band, aber auch die Reihe „Quartiersforschung“ um aktuelle Aspekte zu bereichern. Darüber hinaus danken wir dem VS-Verlag für Sozialwissenschaften und hier vor allem Frau Britta Göhrisch-Radmacher für die kompetente, geduldige und überaus freundliche Begleitung dieses Projekts. Zu ganz besonderem Dank sind wir auch dem Wilhelm-Weischedel-Fonds verpflichtet, der das Buch und sein Thema gesellschaftspolitisch für so wichtig hielt, dass er die Druckkosten übernahm. Nicht zuletzt bedanken wir uns bei Georg Schlegel für das Lektorat und Korrektorat und die tatkräftige Unterstützung bei der Endredaktion. Basel und Potsdam, im Juni 2010
Matthias Drilling und Olaf Schnur
Lesehinweise Für die sprachliche Gleichstellung von Männern und Frauen existieren bislang keine einheitlich anerkannten Regelungen. Deshalb wurde es den jeweiligen Autorinnen und Autoren dieses Bandes überlassen, ob sie ihre Texte geschlechtergerecht gestalten und welche Variante sie verwenden wollen. Für die Beiträge, die die gebräuchliche herkömmliche Schreibweise mit meist maskulinen Formulierungen verwendet haben, bedeutet das nicht, dass sie die sprachliche Gleichstellung einfach ignoriert hätten. Die Verwendung der traditionellen Schreibweise wird in der Regel damit begründet, den Lesefluss nicht durch sprachliche Stolpersteine einschränken zu wollen. Selbstverständlich sind auch in diesen Fällen stets die Angehörigen beider Geschlechter gemeint, es sei denn, es ist explizit anders vermerkt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I
Einführung
Olaf Schnur und Matthias Drilling Quartiere im demografischen Umbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II
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Quartiersentwicklungspfade im demografischen Wandel
Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow Beharrung, Wandel, Kontinuität. Auswirkungen paralleler demografischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche auf innerstädtische Quartiere . . . . . . 27 Philipp Zakrzewski In der Übergangszone: Alternde Einfamilienhausgebiete zwischen Revitalisierung, Stagnation und Schrumpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III
Quartiersinfrastrukturen – quo vadis?
Oliver Niermann Stadtumbau West – Auswirkungen des Rückbaus sozialer Infrastrukturen aus der Expertenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nico Grunze Von A wie Abriss bis Z wie Zwischennutzung – Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn . . . . . . . 85 Tatjana Fischer Wiener Stadtquartiere im demografischen Umbruch oder: Weil es nicht egal ist, wo man alt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Herbert Schubert und Katja Veil Ältere Menschen im Stadtteil – Perspektiven zur Vermittlung zwischen privater Lebensführung und öffentlicher Daseinsvorsorge . . . . . . . . . . . . . . . . 115
8 IV
Inhaltsverzeichnis
Mikrodemografien im Vergleich
Marco Schmidt Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung – ein Fallbeispiel aus Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Christoph Craviolini und André Odermatt Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch: Einfluss von baulichen Maßnahmen auf die soziodemografischen und sozioökonomischen Merkmale der betroffenen Wohnbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Katrin Großmann Von feinen Unterschieden: Die Entwicklung tschechischer Großwohnsiedlungen zwischen demografischem Wandel, Wohnungsmarkt und Stadtteilimages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V
Ausblick
Ingeborg Beer Quartiersperspektiven zwischen Schrumpfung und Temporalität, Aufwertung und Abriss Thesen zu Schrumpfung und Stadtumbau Ost in mittelgroßen Städten . . . . . . . 187
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
I Einführung
Quartiere im demografischen Umbruch Olaf Schnur und Matthias Drilling
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Megatrend „Demografischer Wandel“
Der demografische Wandel genießt als Megatrend unserer Zeit eine erhöhte Aufmerksamkeit (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2003). Während Herwig Birg die „demographische Zeitenwende“ kommen sieht (Birg 2001) und Juliane Roloff an den „demographischen Faktor“ erinnert (Roloff 2003), beschwört Frank Schirrmacher gar ein „Methusalem-Komplott“ (Schirrmacher 2005). Das Berlin-Institut skizziert medienwirksam und mit der Macht der Kartografie die „demographische Zukunft der Nation“ (Berlin-Institut [Hrsg.] 2004). Die Ausstellung „Shrinking Cities“, ein Initiativprojekt der Kulturstiftung des Bundes, war weltweit ein Publikumserfolg und brachte auch wichtige Publikationen hervor (z. B. Oswalt 2004, 2005). In Fernsehsendern laufen Themenwochen zum Thema Alterung und sogar ein utopisches Fernsehspiel mit dem vielsagenden Titel „Aufstand der Alten“ wurde produziert. Auch einflussreiche Printmedien wie „Der Spiegel“, „Die Zeit“ oder „Geo“ haben immer wieder Titelgeschichten zum Thema publiziert. Meist werden z. B. volkswirtschaftliche Schäden aufgrund über- oder fehldimensionierter Renten- und Sozialversicherungssysteme, die „Verödung und Verblödung“ ganzer Regionen (Ulf Matthiesen im Tagesspiegel, 12. 7. 2003), schrumpfende Städte und Stadtregionen, die Bewertung des „Altseins“ in einem gesellschaftlichen Kontext etc. verhandelt. Auch die Zuwanderung spielt im Demografiediskurs eine große Rolle, zumal erstens damit zu rechnen sein wird, dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund stark zunehmen wird – einfach aufgrund der Tatsache, dass sie heute die jüngsten Alterskohorten umfasst und Menschen ohne Migrationshintergrund „aussterben“. Zweitens aber auch, weil Demografen gut ausrechnen können, wie viel Zuwanderung benötigt würde, um die Alterung und Schrumpfung der Gesellschaft auszugleichen. Die Antwort lautet: sehr viel Zuwanderung, möglicherweise mehr, als überhaupt „akquirierbar“ und am Ende integrierbar wäre (vgl. Kemper & Schnur 2005). Elisabeth Niejahr beschreibt die Situation besonders plakativ: „Was der demographische Wandel für Deutschland bedeutet, lässt sich mit einem Radiergummi vorführen. Man stelle sich vor, auf einer Deutschlandkarte würde ein Ort nach dem anderen ausradiert: erst Lübeck, dann Magdeburg, schließlich Erfurt und Kassel. Ungefähr 200.000 Einwohner müssten die Städte haben, denn so stark schrumpft nach Prognosen der Vereinten Nationen pro Jahr die Bevölkerung Deutschlands. Am Ende der kleinen Vorführung wäre das Jahr 2050 erreicht. Die Landkarte hätte 47 blanke Stellen. Wo Städte eingezeichnet waren, sind jetzt nur noch weiße Flecken übrig. Man kann das Spiel auch anders spielen. Dafür müsste man auf der Deutschlandkarte nichts ausradieren, sondern die
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Fläche vom Bodensee bis zur dänischen Grenze allmählich rot schraffieren. Rot bedeutet Stadtgebiet. Pro Jahr kämen bei diesem Experiment 3,4 Millionen Zuwanderer ins Land. Auch diese Zahl stammt von den Bevölkerungsexperten der VN [Vereinte Nationen, Anm. d. Verf.]: So viele Neuankömmlinge mittleren Alters wären nötig, damit trotz der rapiden Alterung der Alteingesessenen das Durchschnittsalter nicht steigt. Am Ende, im Jahr 2050, würden in Deutschland 300 Millionen Menschen leben. Es gäbe keine unbesiedelten Gebiete mehr. Die ganze Karte wäre rot.“ (Niejahr 2003.)
Diese Szenarien sind selbstverständlich unrealistisch, zeigen aber eins deutlich: Wir müssen uns auf eine Umbruchsituation einstellen. Diese muss aber keineswegs – wie bisweilen kolportiert – katastrophal verlaufen. Die Phänomene, die den demografischen (oder besser: soziodemografischen) Wandel betreffen und mit denen wir in den nächsten Jahrzehnten lernen müssen umzugehen, sind 䊏
die strukturelle Alterung der Gesellschaft, insbesondere die zunehmende Zahl hochbetagter Menschen, 䊏 eine mehr oder weniger starke Schrumpfung der Bevölkerungszahl sowie 䊏 die Heterogenisierung der Gesellschaft durch Migranten. Dieses Triple wird häufig etwas vereinfachend mit den Attributen „älter, weniger und bunter“ umschrieben (Schönig 2003). Zu den soziodemografischen Änderungen kann man noch die zunehmende Pluralisierung von Lebensstilen rechnen, deren Erforschung insbesondere bei Migranten und bei den „Alten von morgen“ noch in den Kinderschuhen steckt. Werner Schönig fasst das zusammen, was sich im Bewusstsein vieler Entscheider erst noch etablieren muss, nämlich eine „Umkehrung der Perspektive“: „Die heutige Ausnahme (demographische Schrumpfung) wird zur Regel und die heutige Regel (Stabilisierung/Wachstum) wird zur Ausnahme werden“ (Schönig 2003: 9).
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Demografie und Quartier: Wenig beachtet, enorm relevant
Was erst jüngst (und immer noch ausgesprochen zaghaft) in den Fokus des (Fach-) Interesses rückt, sind kleinräumige demografische Prozesse, insbesondere auf der Quartiersebene. Quartiere stehen zwar ohnehin seit Jahren im Fokus von sozialraumbezogenen Förderprogrammen (wie etwa „Soziale Stadt“ oder „Stadtumbau Ost/West“ in Deutschland, „nachhaltige Quartiersentwicklung“ oder „projects urbain“ in der Schweiz), haben in der Wohnungswirtschaft eine große Bedeutung als Umfeld der dort „eingebetteten“ Wohnungsbestände und stellen für Bewohnerinnen und Bewohner den (oder einen der) wichtigsten alltagsweltlichen Bezugsrahmen dar. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Ebene bislang so stiefmütterlich behandelt wurde, denn sie ist ganz besonders entscheidungsrelevant und von demografischen Änderungen direkt betroffen. Zum Thema demografischer Veränderungen, insbesondere bei Schrumpfung und Alterung, gab es auf dieser Ebene lange Zeit nur wenig wissenschaftliche Literatur.
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Vor Jahrzehnten, als es in einer Phase starken Wachstums um den Bau von New Towns und Stadterweiterungen ging, hatte man sich jedoch schon einmal mit demografischen Aspekten der Quartiersentwicklung befasst. In diesem Zusammenhang ist etwa die Studie über Ulm-Eselsberg von Franz Schaffer zu nennen, in der das Modell der „Bevölkerungswellen“ nach August Lösch zur Anwendung kam (Schaffer 1968, Peisert 1959, Lösch 1936). Beschrieben wird hier, wie demografisch relativ homogene „Ausgangsbevölkerungen“ in einem Quartier „durchaltern“. Später gab es noch Ansätze etwa von Moore und Gober (vgl. Moore 1972, Gober 1990), in denen Haushaltsveränderungen in Quartieren auf ihre Ursachen hin untersucht wurden. Anfang der 1990er-Jahre gab es außerdem in den USA den Versuch, eine „Housing Demography“ zu etablieren, die auch kleinräumig verstanden wurde, sich aber nie richtig etablieren konnte (Myers 1990). Bei näherer Betrachtung wird klar, dass das „Quartier“ als Untersuchungsobjekt seine Tücken hat: So ist es z. B. schwierig, auf der Quartiersebene reliable Daten zu beschaffen oder gar mit längerfristigen Prognosen zu arbeiten (Schnur 2009). Darüber hinaus wird Demografie auf dieser Ebene schnell zu einem Politikum, wenn Bürger ihr näheres Wohnumfeld bedroht sehen – eine Realität, mit der sich etwa ein Lokalpolitiker oder ein Vorstand einer Wohnungsgenossenschaft nicht gerne auseinandersetzt: Mit Hiobsbotschaften lässt sich im Zweifel außer akutem Ärger zumindest kurzfristig nichts gewinnen. Quartiersforschung im demografischen Kontext bedeutet also oft aufwendige Primärforschung, qualitatives Arbeiten (zumindest ergänzend), Ungewissheit, was künftige Entwicklungen angeht, und gegebenenfalls lokalpolitische oder immobilienwirtschaftliche Ressentiments. Gerade vor diesem Hintergrund wird aber deutlich, wie wichtig Quartiersforschung auf diesem Gebiet ist, und wie wichtig es ist, mit Ergebnissen dieser Forschung auch an die (Fach-)Öffentlichkeit zu gehen. 3
Demografischer Impact im Quartier? Was heißt das konkret?
Befasst man sich mit der Ebene von Wohnquartieren, muss zunächst einmal geklärt werden, was „Quartier“ überhaupt ist. Dazu wurden im Rahmen der Reihe „Quartiersforschung“, zu der auch dieser Band gehört, bereits Vorschläge unterbreitet. Wir wollen hier die folgende pragmatische Definition benutzen: „Ein Quartier ist ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Handlungen sozial konstruierter, jedoch unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer Sphären, deren Schnittmengen sich im räumlich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren Wohnumfelds abbilden“ (Schnur 2008: 40). Diese Definition impliziert ein Quartier mit unscharfer Grenzziehung, was ein hohes Maß an Reflexivität vor allem bei der Verwendung von Daten erfordert. Der demografische „Impact“ in einem Quartier lässt sich allgemein anhand verschiedener Indikatoren beschreiben, wie etwa der Veränderung der Altersstruktur, der Haushaltsstruktur, der sozialen Zusammensetzung und der ethnischen Zusammensetzung
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(Schnur 2006). Auch der viel gebrauchte, unpräzise Begriff „Schrumpfung“ lässt sich operationalisieren, etwa mit den interdependenten und zirkulär zusammenhängenden Prozessen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung, des Wanderungssaldos, der Arbeitsplatzentwicklung bzw. Arbeitslosigkeit, der Realsteuerkraft und der Kaufkraft (Gatzweiler, Meyer & Milbert 2003). Damit wird aber auch bereits angedeutet, dass sich demografische Prozesse und Wechselwirkungen niemals nur auf der Quartiersebene abspielen, ganz im Gegenteil: Man kann von einer „embeddedness“ des Quartiers sprechen, die sich auf die gesamtstädtische, stadtregionale, regionale, nationale, transnationale und sogar globale Ebene bezieht. So kann ein Quartier direkt davon betroffen sein, 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
wenn ein global agierender Investmentfonds dort (oder in anderen Quartieren) Wohnungsbestände erwirbt oder verkauft, wenn neue EU-, Bundes- oder Länderförderprogramme für die Entwicklung auf kleinräumiger Ebene aufgelegt werden und Investitionen zu greifen beginnen, wenn interregionale Binnenwanderungen in der eigenen Region entweder zu Bevölkerungszu- oder -abnahmen führen, wenn Sub- (oder Re-)Urbanisierungsprozesse in der eigenen Stadtregion dominieren oder wenn die eigene Kommune keinen (oder einen großen) Wert auf Quartiersentwicklung legt.
Dazu kommt die Erkenntnis, dass Quartiere paradoxerweise auch schrumpfen können, wenn die Stadtregion (noch) wächst. Hier wird ganz besonders die Interdependenz der Quartiers- und der Wohnungsmarktentwicklung sichtbar. Die Wohnungsnachfrage wird durch die Bevölkerungsstruktur im Quartier und in der Region bestimmt (beschreibbar z. B. durch Haushaltsstruktur, Altersstruktur, Einkommensstruktur, Wanderungs- und Umzugspräferenzen, die ethnische Struktur oder auch Lebensstile). Dagegen wird das Wohnungsangebot durch die Lage und städtebauliche Qualität des Quartiers determiniert (z. B. durch Wohnumfeldqualität, Geschichte, Image, Atmosphäre, Qualität der Bausubstanz, Wohnungsgrößen und -ausstattung, Infrastrukturqualität). Unter anderem diese Parameter determinieren letztlich die Zielgruppeneignung eines Quartiers und damit auch künftige Entwicklungspfade (vgl. BMVBS & BBR 2007). Dabei kann die Nachfrage als eher dynamisch, das Angebot als eher statisch gelten, denn die Angebotsbedingungen ändern sich nur dann gravierend, wenn größere Investitionen getätigt werden (Neubau, Abriss). Je anpassungsfähiger ein Quartier an künftige Markterfordernisse ist, desto eher werden auch demografische Umbruchsituationen bewältigt werden können. Diese Anpassungskapazität ist vom verfügbaren investiven Kapital abhängig (und damit von der Eigentümerstruktur und von der Förderlandschaft), aber auch von den bestehenden Rahmenbedingungen im Quartier, die ein flexibles Handeln mehr oder weniger gut ermöglichen. Selbstverständlich ist in diesem Zusammenhang auch das Handeln der lokalpolitischen Ebene relevant, z. B. inwieweit bereits antizipierende Planungen oder Prioritätensetzungen vorgenommen werden. Die Selbstregulierungsmechanis-
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men eines schrumpfenden Wohnungsmarkts und stadtentwicklungspolitische Zielvorstellungen werden in vielen Fällen inkompatibel sein, sodass die Kommunen gefordert sind. Entsprechend der Vorstellung segmentierter Wohnungsmärkte kann man davon ausgehen, dass in Nachfragermärkten (mit denen man in demografisch prekären Regionen mit hoher Wahrscheinlichkeit konfrontiert sein wird) eine Polarisierung der Lagen und Quartiersqualitäten erfolgen wird und sich damit bestimmte Quartiere problematisch entwickeln, deren Bestände in Anbietermärkten gegebenenfalls noch ihre Abnehmer gefunden hätten. Eines steht fest: Der demografische Wandel wird eine „kleinräumige Unübersichtlichkeit“ (Mäding 2003: 4) verursachen.
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Besonders betroffene Quartierstypen?
Damit stellt sich die Frage, welche Quartiere denn besondere „Abwehrkräfte“ gegen einen derartigen demografischen Impact hätten und welche diesem schutzlos ausgeliefert wären. Im Rahmen einer zweistufigen Delphi-Expertenbefragung in den Jahren 2007 und 2008 wurde versucht, hier einige Anhaltspunkte zu ermitteln (Schnur 2009). Dabei wurde auf eine Quartierstypologie zurückgegriffen, die acht unterschiedliche Kategorien umfasst:1 Typ A („Industrie“) beinhaltet typische Gründerzeitquartiere (Mietskasernen, aber auch Werkssiedlungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts), die heute oft innenstadtnah gelegen und – je nach Modernisierungsgrad – für migrantische Haushalte oder auch urban orientierte Lebensstilgruppen attraktiv sind. Typ B („Utopie“) bezeichnet das Gegenmodell zur Mietskaserne, nämlich Quartiere, die Gartenstadt- oder Reformwohnungscharakter haben (1910er- bis 1930er-Jahre) und sich heute vor allem in innenstadtnahmen Lagen bei unterschiedlichen, jedoch eher betuchten Zielgruppen großer Beliebtheit erfreuen. Mit Typ C („Aufbau“) sind Nachkriegsquartiere gemeint, die häufig in Zeilenbauweise schnell und billig erbaut wurden, um der damaligen Wohnungsnot zu begegnen. Bei Typ D („Urbanität“) handelt es sich um Großsiedlungen westdeutschen Typs, die nach dem Leitbild „Urbanität durch Dichte“ konzipiert und erbaut wurden. Typ E, „Platte Ost“, ist ein spezifisch ostdeutscher Quartierstyp, der sich aber auch in osteuropäischen Transformationsländern in praktisch allen Städten finden lässt. Typ F, genannt „Postmoderne“, trägt den postfordistischen Projektentwicklungen Rechnung, die verstärkt seit den 1990er-Jahren zu beobachten sind und auch als Quartiersentwicklung für Kapitalanleger bezeichnet werden könnten. Im Typ G („Wüstenrot“) werden Einfamilienhausquartiere zusammengefasst, die seit den 1960er-Jahren in immer neuen Wellen und in unterschiedlichen Varianten geplant und gebaut wurden. Typ H 1 Die Typologie wurde für deutsche Städte entwickelt und ist nur bedingt auf Städte anderer Länder oder auf Siedlungen im peripheren Regionen übertragbar (nähere Erläuterungen finden sich in: Schnur 2009).
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schließlich grenzt einen Typus ab, der – wie der Name „Village Revisited“ es bereits suggerieren mag – sich um alte Dorfkerne herum herausgebildet und diese überprägt hat. Es handelt sich hierbei oft um Quartiere mit verschiedensten Bautypen und heterogenen Gemengelagen. Das Delphi-Experten-Panel kam zu den in Tabelle 1 dargestellten differenzierten Bewertungen der Zukunftschancen dieser Quartierstypen. Dabei kam eine klare Polarisierung zum Vorschein: Besonders bedroht sind demnach Plattenbaugebiete und Großsiedlungen des westdeutschen Typs, die häufig am Stadtrand gelegen sind und allein durch ihre städtebauliche Formensprache oft ein Nachfrageproblem haben. Bei den Plattenbaugebieten spielt die häufig sehr homogene Altersstruktur eine erschwerende Rolle. Nicht viel weniger gefährdet erscheint den Experten der Typ „Aufbau“, der den beiden vorgenannten Quartierstypen immerhin voraus hat, dass er oftmals etwas zentraler gelegen ist. Ein bis heute ausgesprochen beliebter Quartierstyp, die Einfamilienhaussiedlung, gilt demografisch betrachtet ebenfalls als prekär, denn auch hier haben wir es oft mit homogen alternder Bevölkerung zu tun und einer drohenden demografischen Welle, die bei ihrem Eintreten die Absorptionskapazität des lokalen Wohnungsmarktes zu überfordern droht (Tabelle 1). Tabelle 1: „Demografisches Risiko“ einzelner Quartierstypen
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Quelle: Delphi-Befragung 2007/2008 (2. Welle, n = 31, MW-Bezug: 0 bis 4 Punkte), Schnur 2009
Die weiteren Quartierstypen gelten als relativ problemlos, vor allem aufgrund ihrer demografisch eher heterogenen Bewohnerstruktur, wegen ihrer Lagequalitäten, der qualitativ hochwertigen oder auch sehr flexibel nutzbaren Bausubstanz und der besonderen Qualitäten vieler Wohnumfelder in diesen Quartieren. Die Bewertung der Alterung in einem Quartier sollte jedoch nüchtern betrachtet werden. Alterung kann – zumindest vorübergehend – auf der Basis sicherer Rentenbezüge und/oder bei einer hohen Wohneigentumsquote auch zu einer Aufwertung eines Quartiers führen. Doch was passiert nach dem Ableben der wohlhabenden
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Seniorengeneration? Man muss davon ausgehen, dass homogene Kohortenalterung in einem Quartier langfristig eine Abwertung zur Folge haben kann, die sich durch zunehmende Leerstände, ausbleibende Nachfrage und infrastrukturelle Defizite kennzeichnen lässt. Dieses Vermarktungsproblem beeinträchtigt dann wiederum die Lebensbedingungen der im Quartier verbliebenen Bewohner, denn es könnte zu Stigmatisierungsprozessen („Altenquartier“) oder aufgrund ausbleibender Investitionen zu Verfallserscheinungen kommen, also zu einer Abwärtsspirale, die nach Überschreiten eines „demografischen tipping point“ irreversibel sein könnte. 5
Handlungsoptionen der Akteure
Ein demografischer Umbruch in Quartieren stellt in erster Linie auch ein Steuerungsproblem dar. Die beteiligten Akteure im Quartier, die Kommunen, die Wohnungswirtschaft, aber auch die Bewohner, haben unterschiedliche Handlungsoptionen. So beschreibt Matthias Bernt das Handlungsspektrum abrissbetroffener Mieter mit der Persistenzoption („in der Wohnung bleiben“), der Umsetzungsoption („ein Wohnungsangebot des Vermieters im selben Stadtteil annehmen“) und der Wegzugsoption („selbst Wohnungsangebot in anderer Lage suchen“). Jede Option bringt Vorund Nachteile sowie spezielle Chancen und Risiken mit sich (Bernt 2002). Anders gelagert sind etwa die Freiheitsgrade von selbstnutzenden Wohneigentümern, deren Wegzugsoption dadurch erschwert wird, dass ihre Immobilie bereits einen starken Wertverlust verzeichnet haben wird. Ein Verkauf wäre damit verlustreich, eine Vermietung unrentabel und dadurch für viele nicht finanzierbar. Eine Option wäre es, aktiv in die Quartierssteuerung einzugreifen, etwa im Rahmen von EigentümerStandortgemeinschaften (vgl. Baba, Fryczewski & Grimm 2008). Jan Glatter fasst weiterhin fünf mögliche Strategien der Wohnungsunternehmen in schrumpfenden Märkten zusammen (2003: 171): 䊏 䊏 䊏 䊏
䊏
Problembewertung und -kommunikation: Ignorieren, Leugnen, Annehmen, Ansprechen, Fordern, Abwarten, Verbergen, Handeln Marktanalysen: Bestandsanalysen, Nachfrageanalysen Marketing: Offensive Wege der Werbung, Sonderangebote bei Neuvermietungen, erweiterter Mieterservice Bestandsentwicklung: Halten, Neubau/Kauf, Umnutzung, Stilllegung, Modernisierung, Wohnungszusammenlegung, Wohnumfeldaufwertung, Teilrückbau, Abriss, Verkauf Unternehmensstruktur: Personalabbau, Rückbaugesellschaften, Fusion, Insolvenz
Daran anknüpfend kann man wiederum folgende Handlungsfelder für die Kommunen abgrenzen, wie es Jurczek und Köppen anhand ostdeutscher Städte beschreiben (2004: 42): 䊏 䊏
Kommunale Finanzen Beteiligung am Programm „Stadtumbau Ost“
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Öffentlichkeitsarbeit für einen gemeinschaftlich akzeptierten Stadtumbauprozess Qualitative und quantitative Bedarfsveränderungen der technischen und sozialen Infrastruktur (vgl. Just 2004) Nachhaltige Kinder- und Familienförderung Neue Umlage- und Organisationsformen wegen steigender Infrastrukturaufwendungen Qualität und Attraktivität der Stadtviertel sowie von Stadtgestalt und Architektur Leerstand und Wohnungswirtschaft Integrierte Stadtentwicklung unter Einbeziehung aller relevanten Akteure Interkommunale Kooperation, Stadt-Umland-Kooperation
Ein weiteres wichtiges Thema ist hier bereits angesprochen: die Förderkulisse. In Deutschland existieren zwei prominente Förderprogramme, die konkret auf den demografisch bedingten Wandel der Stadtentwicklung ausgerichtet wurden, nämlich die Programme „Stadtumbau Ost“ und „Stadtumbau West“ (BMVBS 2007). Insbesondere das Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ stellt einen massiven Eingriff in das Marktgeschehen dar. Nachdem im wiedervereinigten Deutschland in den 1990er-Jahren durch Sonderabschreibungsmöglichkeiten für private Kapitalanleger der Mietwohnungsbau stark subventioniert wurde, werden nun mit Milliardenzuschüssen andere Bestände (in der Regel in Plattenbauquartieren Ostdeutschlands) durch Abriss vom Markt genommen, um die Preise zu stabilisieren. Von der Sinnhaftigkeit solcher Politik einmal abgesehen, ist es evident, dass derartige Interventionen die Handlungsoptionen auch der lokalen Akteure sehr stark beeinflussen.
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Die Beiträge in diesem Band
Der Band gliedert sich in vier Themenfelder: „Quartiersentwicklungspfade im demografischen Wandel“, „Quartiersinfrastrukturen – quo vadis?“, „Mikrodemografien im Vergleich“ sowie ein thesenhafter politischer „Ausblick“. Annett Steinführer (Leipzig) leitet den ersten Themenkreis mit ihrem Beitrag „Beharrung, Wandel, Kontinuität. Wirkungen paralleler demografischer und wohnungswirtschaftlicher Umbrüche in innerstädtischen Quartieren“ über eine empirische Langzeitstudie im Leipziger Ortsteil Stötteritz ein. Stötteritz ist ein in sich sehr heterogenes, entstehungsgeschichtlich und baulich klar abgrenzbares städtisches Quartier. In der Zeit zwischen den Untersuchungen in den Jahren 1997 und 2007 hatte Leipzig ambivalente Bevölkerungsveränderungen zwischen Schrumpfungsund Reurbanisierungsprozessen sowie einen Wohnungsmarktwandel von einem Angebots- zu einem Nachfragermarkt durchlaufen. Von diesen Prozessen blieb auch Stötteritz nicht unberührt. Mit der empirischen Untersuchung konnte die Frage geklärt werden, wie sich parallel ablaufende demografische und wohnungsmarktbedingte Umbrüche kleinräumig auswirken. Drei Entwicklungslinien auf Quartiersebene konnten herausgefiltert werden: Beharrung (Persistenz), Wandel und Konti-
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nuität. Letztlich kam es in Stötteritz zu einem höheren Maß sozialräumlicher Separierung in sozial und milieumäßig differenzierten Baustrukturtypen. Daran anschließend erläutert Philipp Zakrzewski (Stuttgart) im Rahmen eines Werkstattberichts „Demografiesensitive Typisierung von Einfamilienhausgebieten“ ein Forschungsvorhaben der Wüstenrotstiftung über Ein- und ZweifamilienhausQuartiere in Westdeutschland. Ausgehend von einer quartiersbezogenen Bestandstypisierung und Szenarien zur Entwicklung der Nachfrage in quantitativer und qualitativer Hinsicht werden im Rahmen des Vorhabens konkrete Anpassungsoptionen ermittelt und bewertet. Am Ende sind Handlungsempfehlungen für den Umgang mit potenziell gefährdeten Quartieren geplant. Im ersten Schritt wurden in einem Topdown-Prozess die Regionen identifiziert, in denen sich zukünftig besondere Handlungsherausforderungen stellen. Dafür wurde eine auf Kreisen basierende Analyse der Einfamilienhausbestände nach Gebäudetyp und Baualter durchgeführt. Zur Abschätzung der zukünftigen Nachfrageentwicklung wurden bestehende Bevölkerungs- und Wohnungsmarktprognosen und eigene Analysen zur soziodemografischen Entwicklung verwendet, deren Ergebnisse hier u. a. vorgestellt werden. Im zweiten Schritt soll eine allgemeine Bestandstypisierung erarbeitet werden, die auf lage- und quartiersspezifische Bestandseigenschaften abstellt und eine Angebotund Nachfragebilanzierung auf den Ebenen inter- und intraregionaler Lagetypen, intrakommunaler Wohngebietstypen und der Gebäudetypen umfasst. Das zweite Themenfeld, „Quartiersinfrastrukturen – quo vadis?“, eröffnet Oliver Niermann (Innsbruck) mit seinem Beitrag „Der Rückbau sozialer Infrastrukturen und dessen Auswirkungen in westdeutschen Städten mit Bevölkerungsrückgang“. Vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Megatrends wie dem demografischen Wandel, dem wirtschaftlichen Strukturwandel und der gesamtwirtschaftlichen Situation wurde anhand von Fallbeispielen in Duisburg, Wilhelmshaven und Wuppertal untersucht, inwiefern auf einer stadtstrukturellen und soziodemografischen (Mikro-)Ebene Auswirkungen auf Quartierssituationen entstehen, wenn im Rahmen von städtischen Konsolidierungsprozessen soziale Infrastruktureinrichtungen (wie z. B. Schulen, Kindergärten, Freizeitangebote und Beratungseinrichtungen) geschlossen oder verlagert werden. Die Bezugsebene für die Untersuchung war das Stadtquartier bzw. der Stadtteil. Eine Besonderheit der westdeutschen Situation war vor allem das Nebeneinander von Wachstums- und Konsolidierungsprozessen sowie deren diffuse räumliche Verortung. Im Mittelpunkt der Studie Oliver Niermanns steht eine Hypothesenkette, die einen Wirkungszusammenhang zwischen der Ausstattung eines Quartiers mit entsprechender Infrastruktur und der qualitativen Entwicklung von Quartier und Gesellschaft unterstellt bzw. eine Veränderung der Quartierssituation in Abhängigkeit der Ausstattungssituation postuliert. Letztlich, so ein Fazit seines Beitrags, müssen die – meist fordistisch geprägten – Quartiersinfrastrukturen an die Ansprüche einer postmodernen Nachfrage angepasst und somit flexibel, multifunktional, differenziert und eigeninitiativ ausgestaltet werden. Nico Grunze (Berlin) berichtet in seinem Text über „Potenziale und Hemmnisse für die Entwicklung kleinteiliger Rückbauflächen ehemaliger sozialer Infrastruktur-
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einrichtungen in der Großwohnsiedlung Marzahn“ von der typischen Situation in einer ostdeutschen Großsiedlung. Durch Abwanderungen und demografische Veränderungen kam es hier zu einer Infrastrukturkrise. Nico Grunze geht hier besonders auf den Umgang mit kleinteiligen Rückbauflächen früherer Infrastruktur und die Chancen und Grenzen möglicher Zwischennutzungen ein. Auf der Basis von Kartierungen wurde u. a. eine Flächentypologie entwickelt, die von insularen „Lichtungen“ zwischen Hochhäusern, kleinteiligeren „Biotopen“ bis zu „Gärten“ reicht. Nico Grunze konstatiert in seinem Beitrag, dass die Flächennutzungsstrategie des Bezirksamts als gescheitert betrachtet werden kann, weil die Kontexte „Lage“, „Initiatoren“ und „Konsumenten/Publikum“ missachtet wurden. Diese müssten bei der künftigen Konzeption von Zwischen- oder Nachnutzungen bei Rückbauflächen viel mehr als bisher berücksichtigt werden. Tatjana Fischer (Wien) schließt daran mit ihrem Aufsatz über ein Forschungsprojekt an, das zum Thema „Stadt der kurzen Wege aus ökosozialer Sicht – Nahversorgung und Naherholung in Wien vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ durchgeführt wurde. In ihrem Beitrag „Wiener Stadtquartiere im demografischen Umbruch oder: Weil es nicht egal ist, wo man alt wird“ plädiert sie für eine intensivere Betrachtung der Zusammenhänge zwischen demografischem Wandel, Raumstrukturen und dem räumlichen Verhalten. Aufgabe des skizzierten Projekts war es auszuloten, welche Aspekte die Stadtplanung in den raumrelevanten Handlungsfeldern „Nahversorgung“ und „Naherholung“ im Hinblick auf die Personengruppe „60+“ mitzubedenken hat. Dazu wurden drei verschieden ausgeprägte Stadträume als „reale“ Belege (Beispiele) für die Untersuchung ausgewählt: „Wilhelminenberg“ als ein Wohngebiet in Stadtrandlage und Wienerwaldnähe, das durch Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet ist; „Neubau“, ein Mischnutzungsgebiet in dicht bebauter Innenstadtlage, das sich durch eine große Vielfalt an Nahversorgungseinrichtungen auszeichnet; sowie „Hirschstetten“ als ein Stadterweiterungsgebiet in Stadtrandlage nordöstlich der Donau, das sehr gut mit (privaten und öffentlichen) Grünflächen ausgestattet ist. Mithilfe eines komplexen, qualitativen und quantitativen Methodenspektrums wurden vielfältige Ergebnisse produziert. Unter anderem weist Tatjana Fischer auf die Diskrepanzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit selbstbestimmten Alterns hin. So stimmen etwa die oft PKW-orientierten mental maps der Bewohner mit den realen Situationen vor Ort häufig nicht überein. Darüber hinaus wird deutlich, dass kleinräumige Situationen oft höchst diversifiziert ausfallen und sich somit pauschalen Bewertungen entziehen. Auch die einseitige Betrachtung des Faktors „Alter“ ist demnach ein Trugschluss: Die Lebenslage der älteren Menschen ist eine mindestens ebenso wichtige Betrachtungsweise. Der zweite Themenkreis endet mit dem Beitrag von Katja Veil und Herbert Schubert (Köln) zum Thema „Aktives Altern im Stadtteil zwischen Potenzial und Idealisierung“. Quartiere gelten schon lange als ein wichtiger Bezugsrahmen für die Altenhilfe. Im Bereich der Aktivierung und Vernetzung älterer Menschen gibt es in zahlreichen Kommunen bereits modellhafte Beispiele. Viele der Initiativen haben eine bessere Vernetzung der älteren Menschen sowie eine Unterstützung der zivil-
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bürgerschaftlichen Teilhabe zum Ziel. Dennoch werden mit solchen Angeboten bisher nur aktive, finanziell besser ausgestattete Zielgruppen erreicht, während Migranten und sozial isolierte Menschen an diesen Initiativen oft nicht teilhaben. An dieser Stelle setzt ein Vorhaben der Stadt Köln an, welches das Ziel verfolgt, im Sozialraum des Wohnviertels und Stadtteils zwischen „aktivem Altern“ und Hilfsbedürftigkeit eine bessere Balance zu finden. Mit dem interaktiven Infrastrukturmodell soll vermieden werden, dass Personen unerkannt in Notsituationen geraten, und e soll sichergestellt werden, dass sie kontinuierlich Informationen und Angebote erhalten, wie sie ihre Lebenssituation erfolgreich bewältigen können. Das Vorhaben soll durch innovative Kommunikationswege und die Einbindung informeller Akteure neue Wege erschließen. Den Anfang des Themenfeldes „Mikrodemografien im Vergleich“ macht Marco Schmidt (Kiel) mit seinem Beitrag über „Analysen differenzierter demografischer Prozesse im städtischen Kontext – eine Quartiersfallstudie aus Kiel“. Am Beispiel des altersstrukturell relativ jungen, am Stadtrand gelegenen Kieler Quartiers Russee werden Aspekte mikrodemografischer Prozesse dargestellt und in den Kontext stadtentwicklungs- und stadtpolitischer Diskussionen gesetzt. Ziel des Beitrags ist es, anhand eines demografisch eher durchschnittlichen Quartiers „das Normale des demografischen Wandels zu erfassen“. Vor allem das Zusammenspiel baulicher und demografischer Prozesse, die altersselektive Nutzung von Infrastrukturen sowie altersspezifische Wohnstandortwahlen stehen im Fokus des Artikels. Dabei wird deutlich, dass gerade der lokale Kontext die Basis darstellt, auf der Haushalte ihre Wohnstandortentscheidungen treffen. Die Handlungsoptionen Zuwanderung, Fortzug, aber auch Formen des Verbleibens am Wohnstandort prägen die lokale Bevölkerungsstruktur nachhaltig und spielen eine maßgebliche Rolle im Kontext der soziodemografischen Transformation. Daraus resultieren unter anderem Fragen hinsichtlich sozialer, baulicher, infrastruktureller sowie stadtpolitischer Themenfelder. Den lokalen Akteuren attestiert Marco Schmidt ein fehlendes demografisches Problembewusstsein, das sich u. a. in einer (zu) geringen Diversifizierung des Wohnungsangebots niederschlägt. Im anschließenden Beitrag setzt sich Christoph Craviolini (Zürich) mit „Zürichs Langstrassenquartier im Kontext von Gentrification und Wohnungsmarktprozessen“ auseinander. Das innenstadtnahe Langstrassenquartier weist seit den 1990er-Jahren eine Tendenz zur Aufwertung auf, obwohl es weiterhin typische Symptome einer Zone in Transition zeigt – d. h. eine vergleichsweise hohe Kriminalitätsrate, Degradation der Bausubstanz, hoher Anteil an marginalisierten Gruppen. Diese Aufwertungstendenz hat bei gewissen Bevölkerungssegmenten Befürchtungen vor einer umfassenden Gentrifizierung des Quartiers hervorgerufen. Gleichzeitig liegt die Bautätigkeit im Quartier in der untersuchten Periode jedoch unter dem gesamtstädtischen Durchschnitt. Die vorgestellten Resultate entstammen einer Untersuchung des Einflusses der Bau- und Sanierungstätigkeit auf die soziodemografische Struktur des Zürcher Langstrassenquartiers zwischen 1990 und 2007. Die Resultate zeigen einen auf die Neubau- und Sanierungstätigkeit zurückzuführenden Verdrängungseffekt mit deutlicher Auswirkung auf die soziodemografische wie auch die
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sozioökonomische Struktur der Bewohnerschaft der betroffenen Gebäude. Die bauliche Aufwertung war in der Untersuchungsperiode räumlich auf einige Aufwertungsinseln limitiert. Allerdings war der Einfluss der Sanierungs- und Neubautätigkeit auf die Bewohnerstruktur im Langstrassenquartier auf der Ebene der betroffenen Gebäude wesentlich ausgeprägter als in der Gesamtstadt. Der überdurchschnittliche Effekt der Bautätigkeit auf die Bewohnerstruktur dürfte auf den verhältnismäßig alten Gebäudebestand mit vergleichsweise kleinen Wohnungen, das Fehlen von substanziellen Baulücken und den durch die erwartete Cityerweiterung bedingten Sanierungsstau zurückzuführen sein. Die Absenz von großflächigen Gentrifizierungsprozessen weist laut Christoph Craviolini auf die bedeutende Rolle des Schweizerischen Wohnungsmarktes und Mietrechts im Zusammenhang mit der Aufwertung von innenstädtischen Bestandsquartieren hin. Im letzten Beitrag befasst sich Katrin Großmann (Leipzig) mit „[…] feinen Unterschieden: Tschechische Großwohnsiedlungen im demografischen Wandel“. Der Beitrag wendet den Blick geografisch ein wenig ostwärts auf Großwohnsiedlungen in der zweitgrößten tschechischen Stadt Brno. Auch Brno ist eine Stadt im demografischen Wandel: Der Altersindex steigt, die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt zu, die Fertilitätsraten liegen seit Jahrzehnten unterhalb des Reproduktionsniveaus. Die Prognosen sagen der Tschechischen Republik deutlich sinkende Einwohnerzahlen voraus und laut amtlicher Statistik hat Brno in den 1990er-Jahren und zu Beginn dieses Jahrhunderts deutlich an Einwohnern verloren. Was passiert nun in den Großwohnsiedlungen? Auch hier zogen zur Entstehungszeit tendenziell jüngere Haushalte ein, die nun großteils im Quartier älter werden. Auch die Anlage der Siedlungen ist teilweise zum verwechseln ähnlich. Doch der Kontext der Siedlungen in Brno ist anders und trotz ähnlicher Phänomene des demografischen Wandels erleben sie derzeit völlig unterschiedliche Schicksale. Der Vortrag zeigt die entscheidenden feinen Unterschiede auf und wirft so den Blick zurück auf die Bedingungen der Entwicklung (ost-)deutscher Großwohnsiedlungen. In einem Ausblick berichtet Ingeborg Beer (Berlin) aus der kommunalen Beratungspraxis. In ihrem Beitrag „Fragmentierte Städte – temporäre Quartiere: Thesen zu Schrumpfung und Stadtumbau Ost in mittelgroßen Städten“ geht es um eine Neubewertung unseres Umgangs mit Schrumpfung. Zwar, so Ingeborg Beer, hat das deutsche Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ einiges bewirkt, langfristig jedoch greift das „Leitbild Schrumpfung“ zu kurz. Qualitative und integrierte Perspektiven müssen mehr als bisher in den Vordergrund rücken. Kritisiert wird u. a. eine fehlende „Willkommenskultur“ in schrumpfenden Kommunen. Darüber hinaus müsse man sich intensiver um den neu entstehenden Typus des „temporären Quartiers“ kümmern, weil hier resignative soziale „Gemütszustände“ entstehen, die eine Weiterentwicklung erschweren. Ingeborg Beer betont, dass über Förderprogramme und Schrumpfungs-Leitbilder hinaus vor allem eine Kooperationskultur, eine zivilgesellschaftliche Einbettung der Quartierspolitik und die Nutzung des sozialen Kapitals vor Ort wichtige Elemente einer künftigen Quartiersentwicklungsstrategie im demografischen Umbruch darstellen.
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II Quartiersentwicklungspfade im demografischen Wandel
Beharrung, Wandel, Kontinuität. Auswirkungen paralleler demografischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche auf innerstädtische Quartiere Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow
Darüber, was demografischen Wandel auf der Quartiersebene ausmacht, lässt sich trefflich streiten. Jenseits eines „weniger, älter, bunter“ stellt sich die Frage, inwiefern soziodemografische Austauschprozesse als zyklische Veränderungen in vielen großstädtischen Quartieren anhand ihrer „demografischen“ Dimension angemessen zu beschreiben und zu erklären sind. In jedem Falle, so der Ausgangspunkt dieses Beitrags, sind daneben sozioökonomische Faktoren auf dieser kleinteiligen Ebene und der Einfluss konkreter Wohnungsmarktkonstellationen zu berücksichtigen. Im Folgenden werden Ergebnisse einer Wiederholungsstudie über den Leipziger Ortsteil Stötteritz vorgestellt, der erstmals 1997 aus dem Blickwinkel der damals noch nicht allzu vorangeschrittenen sozialräumlichen Differenzierung im Zuge der postsozialistischen Transformation untersucht wurde (Kabisch, Bamberg 1998). 2007 wurde erneut eine empirische Untersuchung durchgeführt, um zu überprüfen, inwieweit die veränderten Rahmenbedingungen des Nachfrageüberhangs auf dem Wohnungsmarkt und der Attraktivitätsgewinn innerstädtischen Wohnens zu einer soziodemografischen Umstrukturierung von Stötteritz geführt haben (Zierow 2009). Im vorliegenden Beitrag wird zunächst das Anliegen der Untersuchung erläutert und dargestellt, welcher Erkenntnisgewinn von der gewählten räumlichen Bezugsebene erwartet wurde. Das Untersuchungsgebiet Leipzig-Stötteritz mit seinen soziodemografischen und baustrukturellen Besonderheiten steht im Mittelpunkt des nachfolgenden Abschnitts, in dem auch die Notwendigkeit einer kleinräumigen Betrachtung auf der Ebene der Baustrukturtypen erörtert wird. Daran anschließend wird das methodische Design der Wiederholungsstudie vorgestellt, bevor die Ergebnisse der ersten Erhebung, Gründe für eine erneute Untersuchung und schließlich die Befunde der zweiten Studie diskutiert werden. Abschließend erfolgt eine vergleichende Zusammenfassung der Ergebnisse. Es wird eine Charakterisierung von drei Quartierstypen vorgeschlagen, welche sich als Quartiere der Beharrung, des Wandels und der Kontinuität bezeichnen lassen. Auf dieser Basis werden kleinteilige Entwicklungstrends für Stötteritz abgeleitet.
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Forschungsinteresse
Sozialräumliche Ungleichheit in Bezug auf Wohnstandorte (residentielle Segregation) lässt sich auf unterschiedlichen Skalen untersuchen. Häufig werden basierend auf Daten der amtlichen Statistik Analysen auf gesamtstädtischer Ebene durchgeführt und zur Darstellung der Verteilung der Bevölkerung im Raum Dissimilaritätsund Segregationsindizes berechnet (vgl. Blasius 1988). Oft handelt es sich um einmalige Momentaufnahmen, nur selten werden in einer Längsschnittperspektive Aussagen über Veränderungen des Segregationsniveaus bestimmter sozialer Gruppen getroffen (als Ausnahme vgl. Friedrichs 2000: 186–190 am Beispiel ethnischer Segregation). Auch auf der Ebene von Stadtteilen und Quartieren lässt sich sozialräumliche Segregation untersuchen. Hier kommen eher holistische, in der Tradition der community studies stehende Zugänge als quantitative Indexanalysen zum Einsatz. Auffällig ist für diesen Forschungszweig, dass er sich vorwiegend auf „extreme“ Wohngebiete, das heißt auf solche an den Polen der U-Kurve der Segregation, meist sogar nur auf benachteiligte Quartiere bezieht (vgl. z. B. Froessler et al. 1994; Friedrichs, Blasius 2000). Darüber hinaus sind auf kleinräumiger Ebene Langzeit- und Wiederholungsuntersuchungen besonders rar. Dies liegt vor allem an der nur durch aufwendige eigene Erhebungen zu schließenden Datenlücke seitens der amtlichen Statistik. Als eines der wenigen Beispiele einer solchen Langzeitstudie kann die seit 1979 durchgeführte Studie zu Leipzig-Grünau, bei welcher bisher neun Erhebungen (zuletzt 2009) durchgeführt wurden, genannt werden (Kahl 2003; Kabisch, Großmann 2010). Eine zentrale Hypothese der Segregationsforschung besteht darin, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Bau- und Sozialstrukturen gibt. Erstmals wurde dieser von Vertretern der Chicagoer Schule formuliert, als sie die physische Distanz zwischen den Wohnstandorten von Individuen als Indikator sozialer Distanz postulierten (Park 1926/1967: 40). Auch ein knappes Jahrhundert später ist die Frage danach, inwieweit unterschiedliche Raum- und Gebäudeausstattungen im Zusammenspiel mit sozialer Ungleichheit zu einer ungleichen Verteilung der Bevölkerung hinsichtlich sozioökonomischer und demografischer Merkmale führen, nicht obsolet. Mit dem demografischen Wandel der Gesellschaft, aber auch aufgrund traditioneller lebenszyklischer Wanderungsprozesse in den Stadtregionen, die über Jahrzehnte zu einer Abwanderung von Familien aus der Kernstadt oder zur Zuwanderung sogenannter „neuer Haushalte“ in innenstadtnahe Wohngebiete geführt haben, stellt sich die Frage nach der Bedeutung demografischer Faktoren für die Quartiersentwicklung. Die bisherige Forschung dazu ist widersprüchlich: Einerseits hat sich ein Konzept der „demografischen Segregation“ (so z. B. bei Lichtenberger 1998: 248ff. oder Gewand et al. 1999) nie in der Stadtforschung etablieren können. Andererseits aber ist seit den frühesten (quantitativen) Segregationsanalysen neben der sozioökonomischen und der ethnischen Dimension immer die demografische Di-
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mension als raumprägend herausgearbeitet worden. Im Kontext einer ostdeutschen Stadt ist in diesem Zusammenhang außerdem darauf zu verweisen, dass demografische Faktoren (wie Alter, familiäre Situation oder Stellung im Lebenszyklus) für sozialräumliche Sortierungsprozesse in realsozialistischen Großstädten von größerer Bedeutung waren als sozioökonomische Aspekte (Rink, Kabisch 1997). Die vergleichsweise schwach segregierte und vor allem demografisch differenzierte Stadt in Ostdeutschland war dann auch Ausgangspunkt detaillierter Segregationsstudien in den 1990er-Jahren (Kabisch et al. 1997; Harth et al. 1998). Stadtforscher fanden hier nahezu laborhafte Bedingungen vor, um – so die Annahme – Entstehung, Logik und Folgen verstärkter sozialräumlicher Differenzierungsprozesse innerhalb kürzester Zeit zu beobachten. Doch verliefen die ersten Transformationsjahre eher ruhig. Noch 1996 konstatierten Annette Harth und Kollegen: „Es gibt zur Zeit mehr Vermutungen als Belege. Eines aber scheint sicher: Der Segregationsprozeß ist zwar in Gang gekommen, aber noch lange nicht so weit fortgeschritten, wie erwartet wurde“ (Harth et al. 1996: 40). Die Suburbanisierung der Folgejahre entwickelte eine starke Dynamik im sozialräumlichen Geschehen auf stadtregionaler Ebene. Sie führte ab Ende der 1990er-Jahre in vielen ostdeutschen Städten zu hohem Wohnungsleerstand und trug damit weiter zu einer nicht intendierten und überraschenden Wohnmobilität und zu Segregationsprozessen bei. In den Folgejahren verzeichneten viele ostdeutsche Großstädte, insbesondere die Hochschulstandorte, stärkere Zuzüge, gesunkene Abwanderungen und höhere Geburtenraten, sodass vielerorts die Einwohnerzahlen wieder stiegen und von einer Reurbanisierung der Städte gesprochen wurde (Herfert 2002). Von dieser Entwicklung profitierten insbesondere innenstadtnahe Quartiere – wie beispielsweise Leipzig-Stötteritz, für das somit im Zuge all dieser Prozesse ebenfalls erhebliche Veränderungen zu erwarten waren.
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Forschungsfeld Leipzig-Stötteritz
Stötteritz ist ein im Südosten Leipzigs gelegener Ortsteil mit knapp 15.000 Einwohnern (2008). Er stellt für Fragen kleinräumiger residentieller Segregation ein ausgesprochen geeignetes Untersuchungsgebiet dar, weil es sich um einen in sich sehr heterogenen, durch entstehungsgeschichtlich und baulich klar abgrenzbare Quartiere charakterisierten städtischen Teilraum handelt. Auch wurde Stötteritz für eine kleinteilige Analyse ausgewählt, weil es sich weder um ein von deutlichen Aufwertungstendenzen geprägtes noch um ein destabilisiertes Gebiet handelt. Es ist ein Ortsteil, der sich eben nicht an den Polen der U-Kurve der Segregation befindet. Weder Mitte der 1990er-Jahre noch nach der Jahrtausendwende gab es Anzeichen für eine „extreme“ Entwicklung in die eine oder andere Richtung. Kurzum, Stötteritz ist ein „ganz normaler“ Leipziger Ortsteil. Die oben formulierte Hypothese, dass es einen Zusammenhang zwischen Bau- und Sozialstrukturen gibt, dass sich verschiedene soziale Gruppen also nicht zufällig auf bestimmte Baustrukturen mit typischen
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Merkmalen verteilen, ist hier kleinräumig auf unterschiedliche Typen anwendbar und überprüfbar. Im „Sozialatlas der Stadt Leipzig“, der ersten gesamtstädtischen Segregationsstudie einer ostdeutschen Stadt nach 1989, waren 1997 neun „Typen sozialer Räume“ identifiziert worden (Kabisch et al. 1997). Stötteritz wurde darin als ein „Gründerzeitliches Kleinbürgerviertel mit gemischter Wohnbebauung“ klassifiziert. Diese Bezeichnung spiegelt jedoch nicht die bestehenden kleinräumigen Differenzierungen auf baulicher Ebene wider. Vielmehr lassen sich in Stötteritz fünf Baustrukturtypen1 unterscheiden: 䊏 䊏
Typ I: Mietwohnungsbau der Kaiserzeit (ca. 1871 bis 1918) Typ II: Repräsentative Villen und Stadthäuser der Kaiser- und Zwischenkriegszeit (ca. 1871 bis 1935)2 䊏 Typ III: Ein- und Zweifamilienhaussiedlungen der 1920er- und 1930er-Jahre 䊏 Typ IV: Mietwohnungsbau der 1920er- und 1930er-Jahre 䊏 Typ V: Mietwohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre („Altneubauten“) Diese Typen konzentrieren sich räumlich (vgl. Abbildung 1), weshalb im Folgenden für diese Cluster auch von Quartieren die Rede sein wird – bei aller Problematik, die ein solch nicht-lebensweltlicher, baulich-deterministischer Begriff mit sich bringt.3 Wie die meisten innerstädtischen Altbauquartiere in Leipzig, so hat auch Stötteritz einen jahrzehntelangen Schrumpfungsprozess hinter sich. Zwischen 1981 und 1995 ging die Bevölkerung um knapp ein Drittel zurück (von 18.500 auf 12.800 Einwohner; Kabisch, Bamberg 1998: 20). Die Zunahme der Einwohnerzahlen (+2.000 oder 17%) zwischen 1997 und 2008 spricht auf den ersten Blick für eine Stabilisierung des Ortsteils als Wohnstandort. Tabelle 1 zeigt jedoch große Unterschiede der Bevölkerungsdynamik zwischen den einzelnen Baustrukturtypen auf. So ist die Einwohnerzahl im Typ I im Vergleich zu 1997 um ein Drittel und damit stärker als in allen anderen Baustrukturtypen angestiegen. Das ist zu einem Großteil mit den getätigten Sanierungen zu erklären, welche den Altbaubestand für viele Bewohner, trotz bestehender Defizite im Wohnumfeld, wieder attraktiv gemacht haben. Träger dieses Bevölkerungsanstieges sind – wie in Leipzig insgesamt – vor allem junge Wohnungsnachfrager unter 35 Jahren (Haase et al. 2010). Dass Leipzig in die Phase der Reurbanisierung, verstanden als die Stärkung der Wohnfunktion in der inneren Stadt bei gleichzeitiger Verjüngung der Bewohnerschaft (Kabisch 2007), eingetreten 1 Baustrukturtypen werden verstanden als „Gebäudeeinheiten, die sich hinsichtlich ihrer Art der Anordnung und Dichte, der Bauhöhen, des Grades der baulich bedingten Denaturierung und der typischen Freiraumkonfiguration“ (Kabisch, Bamberg 1998: 3) ähneln. 2 In diesen Typ wurden auch die wenigen Stadthäuser aufgenommen, die erst nach 1990 entstanden. 3 Doch legte die Untersuchung 1997 großen Wert auf Eigendefinitionen der einzelnen Teilbereiche und bestätigte kleinteilige Wir-Sie-Unterschiede (Kabisch/Bamberg 1998: 63f., 69–72, 90).
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Mietwohnungsbau der Kaiserzeit (Typ I) (5.587 Wohnungen) Villen und Stadthäuser der Kaiser- und Zwischenkriegszeit (Typ II) (360 Wohnungen) Siedlungen der 1920er- und 1930er-Jahre (Typ III) (536 Wohnungen) Mietwohnungsbau der 1920er- und 1930er-Jahre (Typ IV) (1.286 Wohnungen) Mietwohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre (Typ V) (987 Wohnungen) Grün- und sonstige Flächen
Abbildung 1: Räumliche Verteilung der fünf Baustrukturtypen in Leipzig-Stötteritz Quelle: eigene Darstellung.
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ist, zeigt sich in Stötteritz also vor allem im kaiserzeitlichen Mietwohnungsbau. Doch auch im Typ II, den Villen und Stadthäusern der Kaiser- und Zwischenkriegszeit, ist es zu einem deutlichen Wachstum der Einwohnerzahlen gekommen, während vor allem die standardisierten Mietwohnungen der 1950/60er-Jahre von deutlichen Bevölkerungsrückgängen geprägt sind. Tabelle 1: Einwohnerzahl in Leipzig-Stötteritz 1997 und 2008 im Vergleich, nach Baustrukturtypen4
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Quelle: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen (persönliche Auskunft 1997 und 2008), eigene Berechnungen.
Der Einwohnerzuwachs ist nur die eine Seite der Medaille – und für Wohnungsmarktentwicklungen oft nicht die wichtigere. Doch auch die Zahl der Haushalte hat in Stötteritz in den Jahren der Zuzüge zugenommen. Waren es 1997 noch 6.020 Haushalte, so stieg ihre Zahl bis Ende 2007 auf 8.150 (+35%). Typisch verlief auch die Entwicklung der Einpersonenhaushalte, deren Anteil im gleichen Zeitraum von 45% auf 52% stieg (Daten nach Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig). Hinsichtlich der Altersstruktur (Tabelle 2) sind seit 1997 einige Veränderungen festzustellen. Besonders starke Zuwächse gab es in der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen und bei den Senioren über 65 Jahre. Beim Vergleich mit den Zahlen für die Gesamtstadt Leipzig wird deutlich, dass der Anteil der Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahren leicht über dem Durchschnitt liegt, ebenso wie der Anteil der Bewohner zwischen 25 und 34 Jahren. Dies spricht zum einen für die Attraktivität des Ortsteils für Studierende oder Menschen in Ausbildung sowie Berufseinsteiger. Zum anderen sprechen die Zahlen für die Bewohner im Alter von über 75 Jahren und ihr Wachstum seit 1997 für starke Alterungstendenzen in einzelnen Quartieren des Ortsteils. Die Ursachen für die unterdurchschnittliche Repräsentierung der 45- bis 4 Hierfür wurden die Einwohnerdaten auf Ebene der statistischen Blöcke für die Jahre 1997 und 2008, welche vom Amt für Statistik und Wahlen zur Verfügung gestellt wurden, über ein Geoinformationssystem den Baustrukturtypen zugeordnet. Die Werte sind jedoch nur eine Annäherung, da es, obwohl die Typen räumlich relativ deutlich voneinander abgrenzbar sind, auch innerhalb eines statistischen Blocks Gebäude mehrerer Baustrukturtypen geben kann.
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Tabelle 2: Alterstruktur der Bewohner von Stötteritz und Leipzig 1997 und 2007 im Vergleich
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Quellen: Kabisch/Bamberg 1998: 21; Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2008, eigene Berechnungen.
65-Jährigen lassen sich in der Altersselektivität der Suburbanisierung ins Leipziger Umland und in der arbeitsplatzbedingten Abwanderung in andere Regionen vermuten. Ausländische Einwohner gibt es in Leipzig-Stötteritz nur wenige: Mit 5% (2008) liegt der Anteil noch unter dem Leipziger Durchschnitt von 6%.
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Methodisches Design
Für die Analyse kam in beiden Erhebungen ein Methodenmix zur Anwendung. Die Hauptmethode war eine standardisierte Befragung. Sie wurde durch eine Sekundäranalyse von Daten, Dokumenten und amtlichen Statistiken, Begehungen, Kartierungen und Fotodokumentationen ergänzt. Die erste Erhebung im Jahr 1997 wurde am Umweltforschungszentrum (UFZ; heute Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung) im Rahmen des Forschungsfeldes „Sozialräumliche Differenzierung und stadtökologischer Strukturwandel“ durchgeführt und mündete in eine Magisterarbeit (Bamberg 1997) und einen Forschungsbericht (Kabisch/Bamberg 1998). 2007 wurde im Rahmen eines Projektseminars am Institut für Geografie an der Universität Leipzig die zweite Erhebung durchgeführt, welche sich inhaltlich und methodisch an der ersten Untersuchung orientierte. In einer Diplomarbeit erfolgte eine Teilauswertung (Zierow 2009). Die zentrale Datengrundlage stellte wie schon 1997 eine standardisierte Befragung dar. Für beide Erhebungen wurde ein methodisches Vorgehen gewählt, das sich bereits bei anderen Befragungen am UFZ bewährt hat (Steinführer et al. 2008). Zunächst wurden die Stötteritzer durch Mitteilungen in der lokalen Presse über die jeweilige Befragung informiert. Kurz vor Befragungsbeginn wurde an den Hauseingängen ein Informationsblatt angebracht, welches über
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Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow
den Ablauf und den Inhalt der Befragung Auskunft gab. Die Befragung selbst lief so ab, dass in vorab ausgewählten Häusern an jeder bewohnten Wohnungstür geklingelt wurde. Nach einer kurzen Vorstellung wurde ein Fragebogen mit der Bitte übergeben, dass eine erwachsene Person aus dem Haushalt ihn bis zu einem gemeinsam vereinbarten Abholtermin (in der Regel nach einer Woche) ausfüllt. Konnte niemand in der Wohnung erreicht werden, dann wurde sie noch ein- bis zweimal angelaufen. Bei einer Verweigerung der Teilnahme wurden von den Mitarbeitern die Gründe dafür erfasst. In der ersten Erhebung 1997 konnten 391 Fragebögen verteilt und 301 auswertbare eingesammelt werden (Rücklaufquote 77%). Bei der zweiten Erhebung 2007 wurden insgesamt 760 Fragebögen verteilt, von denen 613 auswertbar zurückkamen (Rücklaufquote 81%). Die Verteilung von wesentlich mehr Fragebögen 2007 war durch die erheblich umfangreicheren Personalressourcen möglich. Alle Adressen von 1997 wurden wieder in die Erhebung einbezogen und durch benachbarte Adressen in den fünf Baustrukturtypen ergänzt. Dabei wurde das statistische Verhältnis zwischen Bewohnerzahl der einzelnen Typen und Anteil an der Stichprobe beibehalten.
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Ergebnisse 1997
Neben der Abgrenzung durch bauliche und entstehungsgeschichtliche Merkmale ließen sich die fünf Baustrukturtypen 1997 zusätzlich durch die Sozialstruktur ihrer Bewohner und ihre Wohnumfeldmerkmale unterscheiden. Auch stellten die wahrgenommenen Umweltbedingungen und der Sanierungsstand differenzierende Faktoren für die Wohnzufriedenheit in den einzelnen Quartieren dar und begünstigten einsetzende Auf- und Abwertungstendenzen. Zugleich wurde 1997 konstatiert, dass – obwohl der Ortsteil insgesamt eine Reihe von Gunstfaktoren aufwies – Sanierungsdefizite zu einer kleinräumigen Attraktivitätsabstufung führten. Insbesondere der Typ I stach hervor. 1997 war dieser Teil von Stötteritz ein Sanierungsgebiet, in dem die Veränderungen gerade in Gang gekommen waren. Er war durch zahlreiche Missstände und einen hohen Wohnungsleerstand im unsanierten Altbau charakterisiert. Deshalb wurden dort perspektivisch soziale Erosionstendenzen befürchtet, bedingt auch durch hohe Mobilitätsraten junger Haushalte, die hier nur eine „Zwischenstation“ machten, und den Stabilisierungsbestrebungen entgegenwirkten. Die Bewohner des Typs III unterschieden sich in vielen Merkmalen, aber auch in ihrer Selbstwahrnehmung von allen anderen Stötteritzer Quartieren (Kabisch/Bamberg 1998: 89–92). Insgesamt wurde 1997 ein geringes Niveau residentieller Segregation konstatiert. Dies war nicht zuletzt der geringen Wohnmobilität geschuldet – die Hälfte der Stichprobe lebte damals entweder schon immer oder länger als 18 Jahre in Stötteritz (ebd.: 65). Und tatsächlich ließen sich die untersuchten Quartiere besser demografisch als sozial voneinander abgrenzen. Folgende typenspezifische Ergebnisse und Erwartungen wurden herausgearbeitet:
Auswirkungen paralleler demographischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche 䊏 䊏 䊏 䊏
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Typ I (kaiserzeitlicher Mietwohnungsbau): soziale Mischung mit hohem Veränderungspotenzial aufgrund sanierungsbedingter Weg- und Zuzüge. Typ II (repräsentative Villen und Stadthäuser): Persistenz eines höheren sozialen Status und weiterer Aufwertungstendenz. Typ III (Siedlungsgebiete): Persistenz eines höheren sozialen Status und geringer Veränderungstendenz. Typ IV (Mietwohnungsbau der Zwischenkriegszeit): soziale Mischung mittlerer Schichten und geringem Veränderungspotenzial (mit Ausnahme eines kleinen Privatisierungssegments). Typ V (Mietwohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre): soziale Homogenität mit starker Alterssegregation, aufgrund derer nachfolgend Veränderungen erwartet wurden.
Für das Untersuchungsgebiet Leipzig-Stötteritz insgesamt konnte 1997 von einer sozialen Mischung gesprochen werden. Kleinräumig waren hinsichtlich der Altersstruktur und des sozioökonomischen Status neben gemischten auch homogene Gebiete zu unterscheiden.
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1997–2007: Veränderung der Rahmenbedingungen
In den 1990er-Jahren vollzogen sich in Leipzig ambivalente Bevölkerungsveränderungen, die bis zum Ende des ersten Transformationsjahrzehnts zu einem massiven Schrumpfungsprozess auf der Makroebene der Gesamtstadt und zu einem großen Wohnungsüberangebot führten (Kabisch 2002). Ab Mitte der 1990er-Jahre war daInnerstädtische Umzüge pro tausend Einwohner
Main
Hamburg
Abbildung 2: Umzugsmobilität in ausgewählten Großstädten, 1995–2006 Quelle: Statistisches Jahrbuch deutscher Gemeinden, Jahrgänge 1997–2008.
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Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow
durch eine anhaltend hohe Wohnmobilität möglich, die sowohl durch innerstädtische Umzüge als auch, ab Ende der 1990er-Jahre, durch Zuwanderer von außen getragen wurde. Die ganze Stadt schien um die Jahrtausendwende herum auf den Beinen und mit den Füßen bzw. dem Möbelwagen abzustimmen. Begriffe wie „Mieterhopping“ oder „Umzugstourismus“ machten die Runde. Leipzig lag in seinem Mobilitätsniveau weit über anderen deutschen Großstädten (Steinführer 2004: 58 und Abbildung 2). Aus der Beobachterperspektive ließ sich annehmen, dass mit der Zunahme der Wohnmobilität auch der Segregationsprozess dynamischer verlaufen würde. Harth et al. (1998: 170) formulierten: „Segregationsneutrales Umzugsverhalten wird [...] abnehmen.“ Für Stötteritz bedeutete dies, dass nach der großen „Umzugswelle“ ein höheres Maß sozialräumlicher Separierung (d. h. klarere sozioökonomische und -demografische Profile der Baustrukturtypen) zu erwarten war, lassen sich doch auf Wohnungsmärkten mit Nachfrageüberhang Präferenzen in stärkerem Maße verwirklichen als unter Knappheitsbedingungen.
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Ergebnisse 2007
Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse zur Alters- und Sozialstruktur sowie zur Wohnsituation in Leipzig-Stötteritz 2007 vorgestellt (vgl. auch Zierow 2009). 6.1
Alters- und Haushaltsstruktur
Die Befunde zur Alters- und Haushaltsstruktur der Bewohner des Ortsteils Stötteritz sind vielschichtig und variieren stark zwischen den einzelnen Baustrukturtypen. Mit Blick auf demografische Merkmale der Bewohner sind die Ergebnisse für den Typ I und den Typ V besonders auffällig. Während die Bewohner im Kaiserzeitgebiet (Typ I) mit durchschnittlich 37 Jahren am jüngsten sind und die Verjüngung seit 1997 vorangeschritten ist, entwickelt sich die Situation in den Mietwohnungen der 1950erund 1960er-Jahre (Typ V) gegensätzlich. Hier verfestigten sich Alterungstendenzen. Knapp drei Viertel aller Befragten sind Rentner, wobei der Altersdurchschnitt von 58 Jahren (1997) auf nunmehr 65 Jahre angestiegen ist (Tabelle 3). In gleichem Maße hat sich der Anstieg des Durchschnittsalters im Mietwohnungsbau der Zwischenkriegszeit (Typ IV) vollzogen. Aber auch in den Typen II und III hat sich das Durchschnittsalter erhöht. Künftig ist von weiteren demografischen Verschiebungen hin zu mehr älteren Bewohnern auszugehen, weil die Baustrukturtypen II–V nur bedingt über Wohnbedingungen verfügen, die jüngere Bewohnergruppen nachfragen. Auch mit Blick auf die Haushaltsgrößen und Haushaltstypen wird die große Heterogenität des Ortsteils deutlich. Im Kaiserzeitgebiet (Typ I) tritt besonders deutlich zutage, dass Prozesse der Reurbanisierung nicht nur mit einer Verjüngung der Bewohnerschaft, sondern auch mit einem Wandel der Haushaltstypen zusammenfallen. So stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte im Typ I von 22% auf 30%. Be-
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Auswirkungen paralleler demographischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche
sonders drastisch fiel der Anstieg der Einpersonenhaushalte jedoch im von Rentnerhaushalten geprägten Typ V, den Mietwohnungen der 1950er- und 1960er-Jahre, aus. Der Auszug jüngerer Haushalte und altersbedingte Gründe (Umzug eines Partners in ein Altenheim oder Sterbefälle) können dafür als Erklärung dienen. Tabelle 3: Alters- und Haushaltsstruktur in Leipzig-Stötteritz 1997 und 2007, nach Baustrukturtypen
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* 2 Befragte waren keinem konkreten Baustrukturtyp zuzuordnen. Quelle: eigene Erhebungen 1997 und 2007.
Die Verjüngungsprozesse im Typ I sind jedoch nicht mit einem Anstieg der Haushalte mit Kindern verbunden. Vielmehr ist deren Anteil binnen eines Jahrzehnts von 30% auf nunmehr 20% gesunken. Dies könnte damit erklärt werden, dass junge Familien in Leipzig eine Vielzahl an Wahlmöglichkeiten haben und aufgrund der teilweise ungünstigen Wohnumfeldbedingungen im Stötteritzer Kaiserzeitgebiet andere Gebiete in Leipzig präferieren. Auch in den Typen III und IV haben die Familienhaushalte abgenommen – in Ersterem aufgrund von Alterung, in Letzterem wahrscheinlich im Zuge der Suburbanisierung der späten 1990er-Jahre. Die Villen und Stadthäuser (Typ II) sind durch große Haushalte mit Kindern charakterisiert. Deren Anteil ist im Zeitverlauf im Unterschied zu allen anderen Stadtstrukturtypen gestiegen. 1997 lebten in 38% der befragten Haushalte Kinder, 2007 wird fast die Hälfte von Haushalten mit Kindern gebildet. Offensichtlich bietet gerade dieser Baustrukturtyp gute Voraussetzungen, um hier mit Kindern zu wohnen.
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Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow
Hinzu kommt die Tatsache, dass es sich bei den Bewohnern im Typ II um die einkommensstärkste Gruppe handelt, die sich diese Wohnform auch leisten kann. Dieses Thema wird im nächsten Abschnitt weiter ausgeführt. 6.2
Sozioökonomischer Status
Nicht nur hinsichtlich des Durchschnittsalters der Bewohner sind deutliche Unterschiede zwischen den Baustrukturtypen festzustellen, sondern auch im Hinblick auf deren sozioökonomischen Status. Als Indikator hierfür wurde u. a. das Nettoäquivalenzeinkommen untersucht. Dieses berücksichtigt im Unterschied zum Haushaltseinkommen die Anzahl der Personen pro Haushalt.5 Für Stötteritz wurde insgesamt ein durchschnittliches Nettoäquivalenzeinkommen von rund 1.200 Euro ermittelt (Tabelle 4). Das durchschnittliche Einkommen der Bewohner des Kaiserzeitgebiets liegt mit etwa 1.050 Euro deutlich niedriger. Diese Unterschiede sind zu einem gewissen Teil damit zu erklären, dass knapp jeder Fünfte seine Ausbildung noch nicht beendet hat und somit kein Erwerbseinkommen bezieht. Im Baustrukturtyp I leben insgesamt 70% der Gesamtstichprobe, die sich in Ausbildung befinden, und drei Viertel aller befragten Studierenden. Die Tatsache, dass zwar ein hoher Anteil an Studierenden im Kaiserzeitgebiet lebt, jedoch der Akademikeranteil mit 12% sehr gering ist, kann als Hinweis dafür gesehen werden, dass die jungen Leute nach Beendigung ihrer universitären Ausbildung das Wohngebiet (bzw. die Stadt insgesamt) wieder verlassen. Demgegenüber werden die Villen und Stadthäuser (Typ II) hauptsächlich von Akademikern bewohnt. Deren Anteil liegt mit 64% deutlich über dem Durchschnittswert für Stötteritz insgesamt (25%). Entsprechend hoch ist auch das Nettoäquivalenzeinkommen der Bewohner des Typs II. Aber auch die Befragten im Typ III weisen ein überdurchschnittlich hohes Einkommen auf. Hier haben sich bestehende Tendenzen sozialräumlicher Differenzierung seit 1997 weiter verstärkt. Das Äquivalenzeinkommen der Bewohner der Mietwohnungen der 1920er- und 1930er-Jahre hingegen liegt genau beim Durchschnittswert von 1.180 Euro für Stötteritz, und es gibt kaum „Ausreißer“ nach oben oder nach unten. In den Neubauten der 1950er- und 1960er-Jahre sind die Einkommen am gleichmäßigsten verteilt, die mittleren Einkommensklassen überwiegen. Drei Viertel aller Befragten im Typ V beziehen eine Rente. Lediglich jeder Fünfte bezieht 5 Als gängige Skala für diese Gewichtung gilt die neue OECD-Skala. Hiernach errechnet sich das Nettoäquivalenzeinkommen eines Dreipersonenhaushalts (zwei Erwachsene und ein Kind unter 15 Jahre) mit einem Haushaltseinkommen von 2.000 Euro wie folgt: 2.000/(1+0,5+0,3) = 1.111. Als problematisch für diese Vorgehensweise erwies sich die Tatsache, dass das Haushaltseinkommen nach Klassen erfragt wurde und nur gefragt wurde, ob Kinder unter 18 Jahren im Haushalt leben. Daher wurde für die jeweilige Einkommensklasse ein Mittelwert gebildet und dieser für die Verwendung des Äquivalenzeinkommens verwendet, und es wurde den Kindern unter 18 und nicht unter 15 Jahren die Gewichtung von 0,3 zugewiesen (vgl. Burzan 2008: 30).
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Auswirkungen paralleler demographischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche
sein Einkommen aus beruflicher Tätigkeit, und nur eine arbeitslose Person wurde hier befragt. Die Gesamtzahl der befragten Arbeitslosen in Stötteritz ist mit nur 27 Personen (5%) generell sehr gering. Die meisten davon leben im Typ I (8%) und im Typ IV (7%). Tabelle 4: Indikatoren des sozioökonomischen Status in Leipzig-Stötteritz 2007, nach Baustrukturtypen
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Quelle: eigene Erhebung 2007.
Insgesamt zeigen sich auf der kleinräumigen Ebene der Baustrukturtypen deutliche Unterschiede hinsichtlich des sozioökonomischen Status der Bewohner. Besonders augenscheinlich sind diese zwischen dem Kaiserzeitgebiet und den Villen und Stadthäusern. Während Typ I geprägt ist von jungen, sich noch in Ausbildung befindlichen Bewohnern mit geringem Einkommen, sind die Bewohner des Typs II zumeist Akademiker bzw. haben das Abitur und haben das vergleichsweise höchste Einkommen zur Verfügung. Die im Vergleich zum Typ II etwas geringeren Einkommen der Bewohner der Typen III, IV und V gehen auf den geringeren Anteil an Akademikern und einen gewissen Anteil an Arbeitslosen zurück. Die Extreme innerhalb von Stötteritz werden demnach einerseits vom Typ I und andererseits vom Typ II repräsentiert. 6.3
Wohndauer und Wohnsituation
Wie oben bereits ausgeführt, haben sich die Rahmenbedingungen auf dem Leipziger Wohnungsmarkt zwischen den beiden Untersuchungen 1997 und 2007 erheblich
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verändert. Waren zum Zeitpunkt der ersten Erhebung noch Wohnungsknappheit und viele unsanierte Gebäude bestimmend, so haben sich die Rahmenbedingungen bis 2007 grundlegend gewandelt. Fast alle Gebäude in Stötteritz sind saniert, von einer Wohnungsknappheit wie 1997 kann keine Rede mehr sein. Hinsichtlich der Wohnbedingungen (hier gemessen an der Wohnfläche pro Person und den Eigentumsverhältnissen) sind deutliche Unterschiede zwischen den Baustrukturtypen festzustellen (Tabelle 5). Tabelle 5: Indikatoren der Wohnsituation in Leipzig-Stötteritz 2007, nach Baustrukturtypen
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Die Wohnungen im Typ II und im Typ III sind mit Abstand am größten. Hier konzentrieren sich die Eigentümer, die ein eigenes Haus bzw. eine eigene Wohnung besitzen. Im Ortsteil Stötteritz beträgt die Eigentümerquote der Befragten 23%. Sie liegt damit über dem Wert für ganz Leipzig (13%; Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen 2007: 87). Während im Typ III (Siedlungen) neun von zehn Befragten Eigentümer ihres Hauses sind, wohnen im Typ I und Typ V alle Befragten zur Miete. Hier ist auch der pro Person zur Verfügung stehende Wohnraum am geringsten. Wird nun die Umzugsmobilität genauer betrachtet (Tabelle 6), dann zeigt sich, dass es seit 1997 zu einem bemerkenswerten Wanderungsverhalten unter den Stötteritzern gekommen ist. Die Sanierungen der Wohngebäude und Wohnungen sowie die Verbesserungen im Wohnumfeld haben dazu geführt, dass mehr als die Hälfte aller Bewohner innerhalb der letzten zehn Jahre umgezogen ist. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Baustrukturtypen sind sehr groß: Im Kaiserzeitgebiet (Typ I) sind seit 1990 nur 6% der Befragten nicht umgezogen. Der geringen lokalen Verankerung der jungen Bewohner dieses Quartiers steht eine sehr hohe lokale Bindung der Bewohner des Typs V und des Typs III gegenüber. In den Mietwohnungen der 1950er- und 1960er-Jahre ist die Hälfte der Befragten seit ihrem Einzug zwischen 1959 und 1963, dem Zeitraum der Errichtung der Gebäude, nicht wieder aus der Wohnung ausgezogen. Die Bewohner sind in und mit ihrer Wohnung alt geworden Dieses Phänomen der demografischen Wellen in Abhängigkeit vom Baualter der Gebäude konnte auch in anderen Studien festgestellt werden (vgl. für Weißwasser Kabisch et al. 2004, S. 81ff. sowie für den Baustrukturtyp allgemein Knabe 2008). Die Überlagerung von hohem Durchschnittsalter der Bewohner, funktionierenden
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Auswirkungen paralleler demographischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche
sozialen Netzwerken, einer hohen Verbundenheit mit dem Gebiet und dem Status als Genossenschafter und damit Quasi-Eigentümer erklärt die hohe Sesshaftigkeit der Bewohner in diesem Baustrukturtyp. Die Bewohner der Ein- und Zweifamilienhäuser in den Siedlungen (Typ III) weisen ebenfalls eine hohe Sesshaftigkeit auf. 60% sind seit 1990 kein einziges Mal umgezogen. Hier wirkt neben dem höheren Durchschnittsalter (47% Rentner, vgl. oben Tabelle 4) das Grundstücks- und Hauseigentum (Tabelle 5) als stark bindender Faktor. Tabelle 6: Umzugsmobilität und Wohndauer in Leipzig-Stötteritz 2007, nach Baustrukturtypen
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Im Gegensatz hierzu sind die Umbrüche auf dem Leipziger Wohnungsmarkt im Kaiserzeitquartier (Typ I) besonders deutlich zutage getreten. Dieses Gebiet ist gegenwärtig aufgrund seiner vergleichsweise jungen Bewohnerschaft einem kontinuierlichen Wandel unterworfen. Dies wird auch deutlich bei der Erkundung von Mobilitätsabsichten in absehbarer Zeit (Tabelle 6). Es sind vor allem die Bewohner der kaiserzeitlichen Mietwohnungen, die umziehen möchten und welche die jetzige Wohnung vermutlich nur für einen bestimmten Lebensabschnitt, z. B. während der Ausbildung oder während des Studiums, bewohnen. So ist die Gruppe der in Ausbildung Befindlichen auch im Kaiserzeitgebiet in Stötteritz am mobilsten. Fast die Hälfte aller Bewohner, die sich derzeit in Ausbildung einschließlich Studium befinden, plant demnächst einen Umzug. Welche Konsequenzen ergeben sich durch die aufgezeigten Befunde für den Ortsteil Stötteritz?
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Diskussion
2007 ließ sich auf der Grundlage der erhobenen Daten tatsächlich ein höheres, vor allem mobilitätsinduziertes Niveau residentieller Segregation auf Quartiersebene feststellen. Diese Schlussfolgerung basiert nicht auf der Ermittlung quartiers- oder gruppenspezifischer Indizes, vielmehr auf den im Vergleich zu 1997 deutlicheren
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soziökonomischen und soziodemografischen Profilen der einzelnen Baustrukturtypen. Die fünf Typen lassen sich 2007 wie folgt charakterisieren: 䊏
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Im Typ I (kaiserzeitlicher Mietwohnungsbau) kam es zu einer Verjüngung bei Neuentstehung einer sozialen Mischung, der die Extreme (ganz Arme und ganz Reiche) fehlen. Es bleibt ein Durchgangsgebiet: Nach dem Wegzug der einen kommen neue Auszubildende. Eine Entleerung ist nicht zu befürchten. Typ II (repräsentative Villen/Stadthäuser) hat eine weitere soziale Homogenisierung erfahren und sich dabei zugleich verjüngt. Überraschend war die „Familialisierung“ des Quartiers, das eine „gute Adresse“ mit gehobenem Sozialstatus bleibt. Typ III (Siedlungsgebiete) ist durch anhaltende soziale Homogenität (d. h. durch Bewohner mit höherem sozialem Status) gekennzeichnet. Es kam zu einer Alterung der Alteingesessenen mit hoher Bindung an ihr Wohneigentum und zugleich zu einer Verjüngung durch partiellen Zuzug von Familien mit kleinen Kindern. Typ IV (Mietwohnungsbau der Zwischenkriegszeit) ist ebenfalls vergleichsweise stabil geblieben. Die soziale Mischung der breiteren Mittelschichten bei (wie im Typ I) Fehlen sozialer Extreme ist kennzeichnend für diesen Typ. Zugleich sind Alterungstendenzen unverkennbar. Im Typ V (Mietwohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre) hat sich die hohe soziale Homogenität ebenso wie die Alterssegregation gehalten. Junge Nachzügler sind angesichts der Situation auf dem Leipziger Wohnungsmarkt nur schwer vorstellbar, deshalb erscheint ein altengerechter und barrierearmer Umbau als sinnvolle Strategie.
Auf der Basis der vergleichenden empirischen Befunde im Abstand von zehn Jahren und ihrer Interpretationen lassen sich drei Quartierstypen unterscheiden, die als Beharrung (Persistenz), Wandel und Kontinuität bezeichnet werden. Beharrung beschreibt eine Quartiersgeschichte, die von „aging in place“ und hoher demografischer wie sozioökonomischer Homogenität gekennzeichnet ist (Typ V). Vom Kontinuitätsmuster unterscheidet sie sich dadurch, dass sowohl die Baustrukturen (standardisierter Wohnungsbau der 1950er- und 1960er-Jahre) als auch die Bewohnerschaft (Nachkriegs-Bildungsaufsteiger und DDR-Intelligenz) im Zuge der postsozialistischen Transformation eine starke symbolische Abwertung erfahren haben. Wandel insbesondere in Bezug auf demografische Merkmale, ist im Vergleich zu 1997 das typische Muster der kaiserzeitlichen Mietwohnungsbestände (Typ I), die ökonomisch und symbolisch aufgewertet wurden, aber weiterhin soziodemografisch und -ökonomisch heterogen sind. „Aging in place“, neue Mischungen und kleinräumige Homogenisierungen, z. B. durch studentische Zuzüge, existieren nebeneinander. Kontinuität kennzeichnet jene Quartiere, die einst mit Blick auf die klassische Kernfamilie errichtet wurden: also Eigenheimsiedlungen, im untersuchten Fall beginnend in der Zwischenkriegszeit (Typ III). Hier werden demografische Alterungsprozesse durch den Neuzuzug strukturell ähnlicher, nur eben jüngerer Nachfrager abgefangen. Demografisch erfolgt so eine Durchmischung, sozialstrukturell bedeutet dies eine Kontinuität.
Auswirkungen paralleler demographischer und wohnungsmarktbedingter Umbrüche
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Die Typen II (repräsentative Villen und Stadthäuser) sowie IV (Mietwohnungen der Zwischenkriegszeit) wiederum weisen verschiedene Facetten der vorgenannten Muster auf. In den Villen und Stadthäusern war 1997 am ehesten von Beharrung (Persistenz im Sinne eines auch über die DDR-Zeiten gehaltenen höheren sozialen Status) zu sprechen, doch zehn Jahre später finden sich eher Wandel (Neuzuzug von Familien) und Kontinuität (hoher sozialer Status). Die Mietwohnungen der Zwischenkriegszeit sind von Kontinuität der Möglichkeit sozialer Mischung – bei Fehlen sozialer Extremgruppen – gekennzeichnet, doch ein kleines Selbstnutzersegment (privatisiert durch den vormaligen Eigentümer) verweist auf Wandel im Bestand. 8
Fazit
Demografische Prozesse werden oft ohne jeden Raumbezug dargestellt, und wenn, dann maximal bis zur Ebene von Regionen oder Städten. In der Tat ist die Untersuchung so genannter natürlicher demografischer Faktoren (wie Geburtenverhalten oder Sterblichkeit) auf der Ebene beispielsweise von Stadtteilen oder Quartieren wenig aussagekräftig. Anders aber verhält es sich mit Bevölkerungsveränderungen durch Zu- oder Wegzüge – seit langem ein Thema der Stadtforschung und mit Konzepten wie Gentrification oder Invasion-Sukzession auch theoretisch untersetzt – oder dem quantitativen und qualitativen Wandel von Privathaushalten. Diese können, im Zusammenspiel mit sozioökonomischen Prozessen, kurzfristig einen Quartierswandel herbeiführen oder einfach auf einen solchen verweisen. Im untersuchten Fallbeispiel Leipzig-Stötteritz konnte eine Vielzahl von kleinteiligen demografischen Veränderungen, begleitet und partiell verstärkt durch einen tiefgreifenden Wandel des Wohnungsmarktes, identifiziert werden: Einwohnerwachstum und -schrumpfung, Zunahme der Zahl der Haushalte (und insbesondere der Einpersonenhaushalte), Alterung oder die veränderte Bedeutung von Familienhaushalten. Die Quartiersebene (hier abgegrenzt auf der Basis von baulich homogenen Typen) erwies sich dabei als geeignet, um kleinteilig unterschiedliche, zum Teil gar gegenläufige Prozesse darzustellen. Mit der Wiederholungsstudie konnte somit die Bedeutung einer kleinräumigen Betrachtung soziodemografischer und -ökonomischer Prozesse auf Ebene der Quartiere in einer Längsschnittperspektive gezeigt werden. Der sich vollziehende Wandel wäre mithilfe von Daten der amtlichen Statistik auf Ortsteilebene nicht in gleichem Maße darstellbar oder nachvollziehbar gewesen. Ob sich die Entwicklungen in den fünf Baustrukturtypen in den nächsten Jahren auch fortsetzen, sollen Befunde einer weiteren Erhebung 2017 belegen. Zugleich kann mit den dargelegten Untersuchungsergebnissen die Umsetzung des integrierten Stadtentwicklungskonzeptes (SEKo) Leipzig 2020 unterstützt werden. Die Strategien für die Ortsteilentwicklung (Stadt Leipzig 2009: 74–77) sehen räumlich punktuelle Interventionen für den Ortsteil Stötteritz vor. Diese Absicht ist mit den hier beschriebenen Befunden zu stärken.
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Annett Steinführer, Sigrun Kabisch und Sonja Zierow
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In der Übergangszone: Alternde Einfamilienhausgebiete zwischen Revitalisierung, Stagnation und Schrumpfung Philipp Zakrzewski
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Die Wirklichkeit vom eigenen Haus – Eine Einleitung
Die gebaute Umwelt stellt gleichsam das materialisierte Gedächtnis der gesellschaftlichen Entwicklung dar. Die Persistenz der städtebaulichen Strukturen bewirkt, dass eine Gesellschaft zu jeder Zeit mit siedlungsstrukturellen Gegebenheiten umgehen muss, die in früheren Phasen entstanden sind und oftmals nicht optimal mit den Anforderungen der Gegenwart harmonieren. Im zwanzigsten Jahrhundert haben sich die Städte im Zeichen scheinbar unerschöpflicher fossiler Energie und grenzenloser motorisierter Mobilität mit einer bisher ungekannten Rasanz ausgebreitet. Die Gesellschaft von morgen muss diese überkommene Siedlungsstruktur an ihre geänderten Bedürfnisse anpassen – und dies unter gänzlich anderen Vorzeichen. Nicht nur die steigendenden Energiepreise und der globale Klimaschutz, auch der demografische Wandel und veränderte wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Zeiten der Globalisierung machen den Umbau notwendig. In den westlichen Bundesländern ist etwa jedes dritte Wohngebäude ein zwischen 1949 und 1978 errichtetes Ein- bzw. Zweifamilienhaus (EZH); in diesem Gebäudebestand befinden sich mehr als ein Fünftel aller Wohnungen Westdeutschlands. Diese EZH aus der Hochzeit der Nachkriegssuburbanisierung werden immer älter – und mit ihnen ihre Bewohner, die sich einst als junge Ehepaare oder Familien den Traum vom Eigenheim erfüllt haben. Viele EZH-Siedlungen entstanden damals in kürzester Zeit und wurden von einer alters-, schicht- und lebensstilhomogenen Bevölkerung bezogen. Die überdurchschnittlich lange Wohndauer von selbstnutzenden Eigentümern und die gestiegene Lebenserwartung führen heute zu einer zunehmenden Überalterung dieser Wohngebiete. Je altershomogener die Bewohnerstruktur einer Nachbarschaft ist, desto abrupter vollzieht sich der unvermeidliche Generationenwechsel. Wer aber sind die potenziellen Nachnutzer, die nun an die Stelle der Erbauergeneration treten sollen? Infolge gesellschaftlicher Transformationsprozesse, des wirtschaftlichen Strukturwandels, großräumiger Bevölkerungsverschiebungen und des anhaltenden Geburtendefizits hat sich die Struktur und Verteilung der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Die für die EZH-Nach-
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Philipp Zakrzewski
frage nach wie vor besonders wichtige Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen wird jedes Jahr kleiner, weil die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge aus dieser Altersklasse herauswachsen. Zudem führt der gesellschaftliche Wandel zu qualitativen Veränderungen der Nachfrage. Durch den Bedeutungsverlust traditioneller Familienformen und die wachsende Zahl von Singles, Alleinerziehenden und Doppelverdienerhaushalten kommt es zu einer Verschiebung der Wohnungsnachfrage zugunsten stärker verdichteter Räume und integrierter, gut erreichbarer sowie infrastrukturell angemessen ausgestatteter Quartiere. Und auch die erhöhten Anforderungen an die Mobilität und Flexibilität der Arbeitskräfte sprechen für einen Bedeutungsgewinn zentral gelegener (Miet-)Wohnungen gegenüber peripheren Eigenheimen. Etliche EZH-Gebiete der 1950er- bis 70er-Jahre weisen nur geringe Schnittmengen mit diesen veränderten Nachfragepräferenzen auf. Auch steht der Bestandsmarkt in Konkurrenz zum Neubau, also dem Versprechen des individuellen Traumhauses in zeitgemäßem Design und mit Niedrigenergiestandard. Unter den gegebenen Umständen des fortschreitenden sozialen Wandels muss zudem in Erwägung gezogen werden, dass selbst eine gesellschaftliche Konstante wie der Eigenheim-Wunsch der Deutschen irgendwann an Wirkmächtigkeit verliert. Der Zukunftsforscher Horst W. Opaschowski prognostiziert eine „Abkehr vom Eigentum“ und sieht im Eigenheim den „Hauptverlierer des demografischen Wandels“ (Opaschowski 2009: 113–114). Es ist daher opportun, sich mit den Zukunftsaussichten dieser Wohnform auseinanderzusetzen und die Selbstläuferqualitäten der EZH-Quartiere1 kritisch zu hinterfragen. Nachfragedefizite werden zuerst in Regionen mit ungünstigen demografischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen spürbar. Aber auch in stabilen Regionen kann es Teilräume, einzelne Gemeinden oder Ortsteile mit problematischen Beständen geben. Nachteile wie ungünstige Lageeigenschaften, bauliche und energetische Mängel, mangelhafte Infrastrukturausstattung sowie Imageprobleme können auch hier zu Vermarktungsschwierigkeiten bei Bestandseigenheimen führen. Dieses Thema ist teilweise mit starken Tabus belegt. Das Ende des Wachstumsparadigmas ist in vielen Köpfen noch nicht angekommen und den vielbeschworenen „Chancen des Schrumpfens“ fehlt es noch an Überzeugungskraft. 1
Dem in diesem Beitrag verwendeten Quartiersbegriff liegt keine „harte“ Definition zugrunde. Je nach Maßstabsebene und thematischem Zugriff wird entweder ganz allgemein von Einfamilienhausbeständen oder von Einfamilienhausgebieten, -siedlungen bzw. -quartieren gesprochen. Festzuhalten ist, dass diese meist monofunktionalen Wohngebiete im soziologischen Sinn zum Teil gar keine Quartiere darstellen. Der US-amerikanische Soziologe Kent P. Schwirian unterscheidet dementsprechend „neighborhoods“ von „residential areas“. Während Erstere durch intensive soziale Beziehungen zwischen den Bewohnern charakterisiert sind, fehlen Letzteren solche etablierten Interaktionsmuster gänzlich oder überwiegend. Er weist zudem darauf hin, dass die Übergänge zwischen beiden Formen fließend sind und sich eine „residential area“ zu einer „neighborhood“ entwickeln kann und umgekehrt (Schwirian 1983: 84). Der Quartiersforscher Olaf Schnur plädiert darüber hinaus für die Abgrenzung von „Stadtquartieren“, die eine gewisse Nutzungsmischung aufweisen, von reinen „Wohnquartieren“ (Schnur 2008: 40).
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Für Hauseigentümer ist es eine schmerzliche Erfahrung, wenn die erwartete Wertbeständigkeit der Immobilie, für die ein halbes Leben lang gespart und gearbeitet wurde, nicht mehr gegeben und damit die Alterssicherung gefährdet ist. Die Immobilienwirtschaft wird sich in Gebieten mit Angebotsüberhängen und Mietermärkten mit Investitionen zurückhalten. Bereits vor Ort aktive professionelle Wohnungsmarktakteure werden aber alles daran setzen, ihre vorhandenen Eigentums- oder Mietwohnungen aufzuwerten, damit sie gegenüber den auf den Markt drängenden Bestandseigenheimen attraktiv bleiben. Kommunalpolitiker vermeiden es möglichst, öffentlich über Bevölkerungsschrumpfung und absehbare Leerstandsprobleme zu sprechen, auch wenn empfindliche Einnahmenverluste und steigende Infrastrukturkosten aufgrund sinkender Nutzerzahlen einen zunehmenden Handlungsdruck erzeugen. Und für den liberalen Staat besteht auf den ersten Blick wenig Veranlassung, aktiv zu werden, um die Folgen unrentabler privater Investitionen zu kompensieren – obwohl die EZH-Gebiete gewissermaßen das Ergebnis der Jahrzehnte währenden Wohneigentumsförderungspolitik darstellen. Eine Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Akteursperspektiven und Handlungslogiken sowie die Betrachtung der gebietsspezifischen Prozesse in ihrer Einbettung in die übergreifenden Zusammenhänge von der nationalen bis zur regionalen und lokalen Ebene ist für ein tiefer gehendes Verständnis der Quartiersentwicklung unabdingbar. Der Beitrag beleuchtet die Problematik der alternden EZHQuartiere daher aus verschiedenen Blickwinkeln – aufgrund der gegebenen Umfangsbeschränkungen können die einzelnen Aspekte jedoch nur angerissen werden. Am Anfang stehen eine sozialgeschichtliche und eine stadtentwicklungstheoretische Einordnung der Nachkriegssuburbanisierung, die durch die Skizze eines Zukunftsszenarios ergänzt wird. Es folgt eine Analyse der allgemeinen demografischen und sozioökonomischen Prozesse sowie der siedlungsstrukturellen Besonderheiten, die starken Einfluss auf die quantitative und qualitative Dimension des vermuteten Nachfragerückgangs haben. Im Anschluss werden Überlegungen zu den Auswirkungen der regionalen Disparitäten angestellt und mit theoretischen Modellen des Quartierswandels verknüpft. Die Modelldiskussion mündet in Vorschläge zur Typisierung der EZH-Gebiete und zur Systematisierung idealtypischer Quartierskarrieren. Mit einem Blick auf die spezifischen Betroffenheiten und Handlungsstrategien der lokalen und institutionellen Akteure endet der Beitrag. 2
Vorstadtdinosaurier – Anmerkungen zur Nachkriegssuburbanisierung
Die städtebauliche Entwicklung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wurde von ganz unterschiedlichen Einflüssen geprägt. Anfangs hatten der Wiederaufbau und die Behebung der Wohnungsnot die höchste Priorität (Harlander 1999: 235–238). Eine nicht unerhebliche Bedeutung erlangte in dieser Phase der Kleinsiedlungsbau, also die Errichtung von kleinen Häusern mit Ställen für die Kleintierhaltung sowie Gartengrundstücken für die Selbstversorgung (ibid.: 261–264). Mit dem wachsenden Wohlstand und der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesell-
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schaft veränderten sich auch die Ansprüche an den Wohnungsbau. In den 60er- und 70er-Jahren kam es, neben dem Bau von Großwohnsiedlungen, zu einer enormen Ausweitung des Ein- und Zweifamilienhausbaus. Möglich wurde diese Entwicklung erst durch die rasant wachsende Motorisierung der Bevölkerung, denn bei der Planung der EZH-Siedlungen spielte der Anschluss an den ÖPNV nur eine untergeordnete Rolle. Die Erschließung für den Verkehr erfolgte meist ausschließlich über Straßen, sodass der Besitz mindestens eines privaten Pkws eine Voraussetzung für diese Art der „Stadtflucht“ darstellte. Es gibt eine Reihe von Faktoren, die den Trend zum Wohnen in suburbanen EZH-Gebieten gefördert haben. Ob die kulturelle Vorbildfunktion der USA mit ihrem Ideal vom freistehenden Haus mit Garage großen Einfluss hatte, ist schwer nachprüfbar. Sicher ist, dass vor allem in kirchlich-konservativen Kreisen der frühen Bundesrepublik die Vorstellung vorherrschte, dass der Zugang breiter Bevölkerungsschichten zu Wohneigentum der beste Schutz vor kommunistischer „Verführung“ sei (ibid.: 264, 274). Aber auch die SPD war gegenüber der Eigenheimförderung aufgeschlossen, solange die unteren Einkommensschichten entsprechend davon profitieren konnten (von Beyme 1999: 107). So war die direkte und indirekte Wohneigentumsförderung von Anfang an eine wichtige Säule der Wohnungspolitik. Als Begründung für die Notwendigkeit einer staatlichen Wohneigentumsförderung wurde später eine neue Argumentationslinie eingeführt, die auf den „Sickereffekten“ des Filtering-Konzepts basierte. Durch die Abwanderung der mittleren und oberen Schichten in Eigenheimgebiete sollten Umzugsketten ausgelöst werden, an deren Ende das Nachrücken sozial niedrig gestellter Haushalte in die frei gewordenen besseren Wohnungen stand (J. Heuer et al. 1985: 178–181). Im Ergebnis führte diese Wohnungspolitik zu einer Bevorzugung der wohlhabenden Schichten, „da nicht die einkommensschwachen Haushalte, sondern eher der Mittelstand von den direkten und indirekten Vergünstigungen des Staats profitierte“ (von Beyme 1999: 120). Neben dem Aspekt der Eigentumsbildung sollte die Subventionierung der „Familienheime“ auch eine konservativ geprägte familienpolitische Funktion erfüllen. Die 1950er- bis 70er-Jahre lassen sich in Anlehnung an van de Kaa auch als das Goldene Zeitalter von Ehe und Familie2 charakterisieren, was sich statistisch in einem Ledigenanteil der 30- bis 39-jährigen weiblichen Bevölkerung von rund zehn Prozent und bei den Männern gleichen Alters von 16 Prozent niederschlug (Datenquelle: BiB 2010, eigene Berechnungen) und zu dem Babyboom führte, den die Bundesrepublik zwischen 1955 und 1970 erlebte. Die in der damaligen Zeit dominante Lebensform der Ehe mit Kindern entsprach in der Regel dem traditionellen Modell der Kleinfamilie, das dem Mann die Rolle des Familienoberhaupts und Ernährers und der Frau die Rolle der Hausfrau und Mutter zuwies. Als idealer Ort der „Kinderaufzucht“ galt ein ruhiges, grünes Umfeld, das Frauen und Kindern Schutz vor den „ungesunden“ Verhältnissen und Einflüssen der Stadt bot. Das Nachwirken 2
Dirk J. van de Kaa prägte 1987 den Begriff „Golden age of marriage“ für die Phase großer Heirats- und Kinderfreudigkeit nach dem 2. Weltkrieg.
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der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts populären Gartenstadt-Idee sowie des weit verbreiteten urbanisierungskritischen bis großstadtfeindlichen Gedankenguts kann als stützender Faktor angenommen werden (Reulecke 1985: 139). Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel kritisierte das konservative Weltbild der Bundesregierung 1962 mit den Worten: Das gesellschaftspolitische Paradies, das der CDU/CSU vorschwebt, ist ein von Konstanz bis Flensburg sich erstreckender Schrebergarten Eden, besiedelt mit Eigenheimen, bewohnt von redomestizierten Frauen, die sich unkontrollierter Gebärfreudigkeit hingeben, um den Staat mit „leistungsfähigen Individuen“ zu versorgen (Der Spiegel 1962: 30).
Eine Folge der familienorientierten Stadt-Umland-Wanderung war die Verjüngung der Zuzugsgemeinden bei gleichzeitig zunehmendem Altersdurchschnitt der zurückbleibenden Stadtbevölkerung. Aufgrund der stabilen sozioökonomischen Rahmenbedingungen der 1950erund 60er-Jahre, die mit Schlagwörtern wie Wirtschaftswunder, Vollbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat und Normalarbeitsverhältnis charakterisiert werden können, war der Eigenheimbau unter Angehörigen der Mittelschicht eine weit verbreitete Eigentumsbildungsstrategie (Häußermann/Läpple/Siebel 2008: 155). Wegen begrenzter finanzieller Möglichkeiten und der bereits beschriebenen Benachteiligung bei der staatlichen Förderung war es jedoch einem Großteil der Bevölkerung nicht möglich, den Traum vom eigenen Haus im Grünen zu verwirklichen. Auch bestand aufgrund der günstigen Mieten im Altbau, die erst nach dem schrittweisen Ausstieg aus der Wohnraumzwangsbewirtschaftung im Laufe der 1960er-Jahre moderat angehoben werden konnten, sowie wegen des rasant wachsenden Angebots im sozialen Wohnungsbau für die unteren Einkommensschichten ein geringer Anreiz zur Eigentumsbildung. Es kam daher zu einer selektiven Abwanderung der Angehörigen höherer Einkommensklassen in die umliegenden Wohngemeinden, woraus wiederum finanzielle Einbußen der Kernstädte bei gleichzeitigen Einnahmenverbesserungen der Umlandgemeinden resultierten. Zudem nutzten die Bewohner der Vorstädte weiterhin die städtischen Infrastrukturangebote, ohne aber zu ihrer Finanzierung beizutragen. Die „Eigentumsbildungssuburbanisierung“ stellte also eine Form der alters-, schicht- und lebensstilspezifischen residentiellen Segregation dar, die mit einem gesellschaftlichen Prestigegewinn des „Häuslebauers“ einherging und zugleich zur Schwächung der Kernstädte beitrug. Großen Einfluss auf die Siedlungsentwicklung hatten aber auch das freiheitlichdemokratische Gesellschaftssystem und die kapitalistische Wirtschaftsordnung, ohne die die beschriebenen Prozesse gar nicht in Gang gekommen wären.3 Ein Ver3
Der US-amerikanische Ökonom William Alonso beschrieb schon 1964 die Wohnstandortwahl der Haushalte als Kosten-Nutzen-Optimierung, die im Wesentlichen in der Vermittlung zwischen dem gewünschten Konsumstandard und den Grundstücks- und Mobilitätskosten besteht. Allein schon die Logik des städtischen Bodenmarktes mit einer vom Kern zum Rand abfallenden Bodenpreiskurve führt demnach sukzessiv zu einer Verlagerung des Wohnens vom Zentrum in die Stadtrandlagen oder das Umland (Maier/Tödtling 2006: 129–137).
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gleich der Stadtentwicklung der DDR mit der Westdeutschlands verdeutlicht, welche Auswirkungen das Vorhandensein oder Fehlen von gesellschaftlichen Prinzipien wie freie Marktwirtschaft, freie Wohnortwahl, aber auch kommunale Planungshoheit und interkommunaler Wettbewerb, auf die Genese der Städte und Landschaften hat. In der DDR wurden ausgesuchte Städte unter dem Primat der Volkswirtschaftsplanung kompakt und mit hoher städtebaulicher Dichte ausgebaut. Die übrigen Städte und vor allem die kleineren Ortschaften blieben dagegen weitestgehend von der städtebaulichen Weiterentwicklung ausgeschlossen und die innerstädtischen Altbauquartiere verfielen. Im Westen entstanden währenddessen zusätzlich zum Geschosswohnungsbau landauf, landab, von der Großstadt bis zum kleinsten Dorf eine Unzahl gering verdichteter Wohngebiete. In den Agglomerationsräumen wuchsen die Wohnstandorte, Gewerbegebiete und Infrastrukturen immer weiter aufeinander zu, bis sie sich allmählich zu scheinbar endlosen „Siedlungsteppichen“ vereinigten. Letztlich hat die offensive Baulandpolitik der um einkommensstarke Einwohner konkurrierenden westdeutschen Gemeinden maßgeblich zur „Zersiedelung“ oder treffender – wie die Schweizer sagen – „Verhäuselung“ der Landschaft beigetragen. 3
Von der Suburbanisierung zur Suburbanophilie – Ein Experiment
In Ergänzung zur zeithistorischen Perspektive folgt hier eine stadtentwicklungstheoretische Einordnung der Nachkriegssuburbanisierung. Zudem wird der Versuch unternommen, ein aus der Theorie abgeleitetes synthetisches Stadtentwicklungsszenario zu skizzieren. Die Grundlage bildet das von Siedentop modifizierte Phasenmodell der Stadtentwicklung4 (Tabelle 1, obere Hälfte) nach van den Berg (Siedentop 2008). In der Systematik des Modells folgt auf den initialen Prozess der Urbanisierung zunächst die Suburbanisierung, dann die Deurbanisierung und schließlich die Reurbanisierung. Die Urbanisierung5 beginnt mit einer allgemeinen Landflucht, die einen sprunghaften Einwohnerzuwachs der Städte bewirkt. Die Stagnation und der beginnende Rückgang der städtischen Wohnbevölkerung bei gleichzeitigen deutlichen Bevölkerungsgewinnen im Umland und einer Stabilisierung des agglomerationsfernen Raums ist kennzeichnend für die Phase der Suburbanisierung. Die EZH-Quartiere der 60er- und 70er-Jahre stellen den Kernbestand der westdeutschen Nachkriegssuburbanisierung dar. Während der 80er- und 90er-Jahre blieben diese Gebiete überwiegend stabil, die Kernstädte verloren dagegen weiter an Attraktivität und vor allem an Einwohnern und die Bevölkerungszuwächse verlagerten sich auf noch weiter entfernte Standorte, teilweise außerhalb der Stadtregionen. Diese Phase der Deurbanisierung scheint derzeit auszulaufen, denn in jüngerer Zeit gibt es in einigen Regionen Anzeichen für den Übergang zur Reurbanisierung (ibid.: 201). 4 5
Im Englischen „Cyclical Urbanization Model“. Es wird ein quantitativer, bevölkerungsbezogener Urbanisierungsbegriff verwendet.
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Reurbanisierung bedeutet im Kontext dieses Modells nicht städtisches Bevölkerungswachstum, sondern lediglich eine Stabilisierung der Kernstädte nach einer längeren Schrumpfungsphase. Im suburbanen Raum ist dann ein deutlicher Einwohnerrückgang zu verzeichnen und die peripheren Regionen stagnieren oder schrumpfen. Sollte sich der Reurbanisierungstrend, der aktuell noch keineswegs flächendeckend nachweisbar ist, in Zukunft verstetigen, würden viele ältere suburbane EZH-Gebiete also erstmals eine Phase des Attraktivitäts- und Bevölkerungsverlusts durchlaufen. Die Überalterung der Bewohner erreicht gleichzeitig ihren Höhepunkt und viele Gebäude befinden sich in einem desolaten Zustand. Die Reurbanisierung stellt die letzte Phase des Zyklus dar – was sich daran anschließt, bleibt offen. Die Modellbildung dient hier der rückblickenden Erklärung und Systematisierung der Stadtentwicklungsprozesse und nicht der Prognose. Dennoch soll an dieser Stelle versucht werden, aus der Logik des Phasenmodells ein Szenario für die zukünftige Entwicklung des suburbanen Raums abzuleiten. Das Experiment besteht also in der Erweiterung des Modells um einen neuen Zyklus, der im Anschluss an die Reurbanisierungsphase beginnt (Tabelle 1, untere Hälfte). Es wird die Annahme getroffen, dass sich die Bevölkerungsbewegungen in ihrer Tendenz analog zum Ursprungszyklus vollziehen werden.6 Wegen der inzwischen radikal veränderten raumstrukturellen Voraussetzungen wird sich der neue Zyklus jedoch in seinen baulich-räumlichen Auswirkungen fundamental von dem vorherigen unterscheiden. Die ersten drei „historischen“ Urbanisierungsphasen gingen mit der massenhaften Umwandlung bislang unbebauten Landes in Siedlungsflächen einher und haben eine großräumige Verstädterung von den Zentren bis an die Peripherie bewirkt. Erst in der letzten Phase geht das Neubauvolumen merklich zurück und ein Großteil der Wohnungsnachfrage wird in Zukunft vermutlich ohne die Inanspruchnahme neuer Flächen befriedigt werden können – die „Stadt Deutschland“ ist fertig gebaut. Der neue Zyklus der Stadtentwicklung wird nun nicht mehr im fordistisch geprägten uniformen Modus der Urbanisierung verlaufen, sondern kontextspezifisch als Transformation, Adaption, Perforation, Kontraktion, Arrondierung oder Konservierung der bestehenden Siedlungsstruktur. Stadterneuerung, Stadtumbau und Bestandsmanagement bilden den einen, Bestandssicherung, Rückbau oder Verfall den anderen Pol der zukünftigen Stadtentwicklung. In Abgrenzung vom Ursprungszyklus wird daher nicht mehr der Begriff Urbanisierung (oder „NeoUrbanisierung“) verwendet – der neue Zyklus beginnt mit der Phase der „Urbanophilie“. 6
Einschränkungen ergeben sich unter anderem daraus, dass diese Prozesse in Zukunft aufgrund der verfestigten Siedlungsstrukturen und einer altersstrukturell bedingten Abnahme des Mobilitätspotenzials mit einer viel geringeren Dynamik ablaufen werden, sowie daraus, dass die unabsehbaren Einflüsse der Fern- und Außenwanderung ein größeres Gewicht gegenüber den Wanderungen über kurze und mittlere Distanzen haben könnten als bisher. Die Überlagerung vielfältiger, teilweise konträr verlaufender Prozesse führt dazu, dass es schwieriger wird, eindeutige Trends zu identifizieren.
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Tabelle 1: Vereinfachtes und erweitertes Phasenmodell der Stadtentwicklung
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Die für die Reurbanisierung charakteristische leichte Erholung der Kernstädte wird nun von einer umfassenden Wiederentdeckung der Stadt abgelöst, die den Beginn des neuen Zyklus markiert. Diese Phase der „Urbanophilie“ geht für die meisten Großstädte und viele andere städtische Zentren mit einem deutlichen Einwohnerzuwachs einher. Die so oft beschworene „Renaissance der Stadt“ ist Wirklichkeit geworden. Da aber die letzten großen städtischen Konversionsflächen irgendwann entwickelt und die Nachverdichtungspotenziale ausgeschöpft sind, rückt bald das nähere Umland wieder stärker ins Blickfeld. Während der agglomerationsferne Raum eine erneute Landflucht erlebt, stabilisieren sich die suburbanen Räume innerhalb der Agglomerationen. In der nächsten Phase stagnieren die Kernstädte wieder und das Bevölkerungswachstum verlagert sich auf die altsuburbanen Gebiete. Der Generationenwechsel in den EZH-Gebieten ist vollzogen, die Häuser sind modernisiert oder durch Neubauten ersetzt worden. Durch Nachverdichtung, Nutzungsmischung, Ausbau des ÖPNV und andere Qualifizierungsmaßnahmen wurden viele ehemals als „Schlafstädte“ oder „Einfamilienhauswüsten“ abqualifizierte Umlandquartiere aufgewertet. Diese Phase erhält den Namen „Suburbanophilie“ und damit endet das Experiment. Dieser Ausblick auf eine mögliche Zukunft der Stadtregionen soll nicht als zweifelhafter Versuch der Prophetie missverstanden werden. Sein Sinn besteht vielmehr in der Produktion eines anschaulichen Bildes, das als Bezugspunkt für weitere Überlegungen dienen soll. Da sich Prozesse wie der soziodemografische Wandel oder die Stadtentwicklung so schleichend vollziehen, laufend von aktuellen Ereignissen
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überdeckt und unmerklich von gesellschaftlichen Tiefenströmungen beeinflusst werden, kann eine solche bewusst plakative Setzung besser Orientierung geben als die Versuche, Zukunftstrends aus oft unzureichenden Daten herauszulesen. Aus diesem erweiterten Stadtentwicklungsmodell lassen sich zwar weder Aussagen über die künftige Entwicklung einzelner Städte und Stadtregionen noch Konsequenzen für die individuelle Quartiersebene ableiten, jedoch kann es als Hintergrundfolie dienen, vor der die folgenden Ausführungen zu mittelfristig möglichen Verwerfungen im EZH-Sektor entwickelt werden. 4
Haus ohne Bieter – Konturen einer Mismatch-Problematik
Der soziodemografische Wandel in Deutschland hat tief greifende Auswirkungen auf den Wohnungsmarkt. In Ostdeutschland, wo der Rückgang und die Alterung der Bevölkerung schon weit fortgeschritten sind, hat die Wohnungswirtschaft mit einer Leerstandsproblematik von bisher ungekanntem Ausmaß zu kämpfen. Zur Stabilisierung des Mietwohnungsmarkts läuft seit 2002 das milliardenschwere staatliche Rückbau- und Aufwertungsprogramm Stadtumbau Ost. In Westdeutschland ist dank der Ost-West-Wanderung der Nachwendezeit, der stetigen Zuwanderung aus dem Ausland sowie einer aus dem hohen Ausländeranteil resultierenden höheren Geburtenrate die kritische Phase des demografischen Wandels noch nicht erreicht. Dennoch zeichnen sich in manchen westdeutschen Regionen in bestimmten Wohnungsmarktsegmenten bereits Probleme ab, die als Vorboten kommender demografisch bedingter Vermarktungsschwierigkeiten interpretiert werden können. Hier setzt das 2004 gestartete Städtebauförderungsprogramm Stadtumbau West an. Beide Stadtumbauprogramme konzentrieren sich auf den Geschosswohnungsbau, weil sich dort Angebotsüberhänge als erstes zeigen und im EZH-Sektor eine Marktsättigung noch nicht erreicht ist. Im Gegensatz zu den neuen Bundesländern, wo der Eigenheimbau vor der Wende nur eine untergeordnete Rolle spielte, gibt es in den alten Bundesländern aber einen riesigen Bestand an EZH, von denen nicht weniger als 40 Prozent aus den 1950er- bis 70er-Jahren stammen. Um sich der Problematik der alternden EZH-Quartiere anzunähern, folgen nun einige grundsätzliche Überlegungen zu den demografischen, gesellschaftlichen und siedlungsstrukturellen Rahmenbedingungen. Ausgehend von der Annahme, dass Bauherren von EZH in der Regel etwa zwischen 30 und 50 Jahre7 alt sind, ergibt sich für die Bauherren der EZH der 1950er-, 60er- und 70er-Jahre eine Zugehörigkeit zu den Geburtsjahrgängen 1900–1930, 1910–1940 bzw. 1920–1950. Unter der Annahme, dass die Ersteigentümer etwa bis zu einem Alter von 80 Jahren im EZH wohnen bleiben, ist mit Phasen verstärkten Eigentümerwechsels in den Jahren 1980–2010 für die 50er-, in den Jahren 1990–2020 7
In den 1950er-Jahren waren die Bauherren oftmals noch älter, da die Möglichkeiten zum Vermögensaufbau in vielen Fällen durch Kriegseinsatz, -gefangenschaft, Flucht etc. erschwert waren.
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für die 60er- und in den Jahren 2000–2030 für 70er-Baujahre zu rechnen. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der von den geburtenstarken Jahrgängen der 50er- und 60er-Jahre generierten Eigenheimnachfrage bereits durch Neubau in den 80er- und 90er- bzw. 00er-Jahren oder durch Kauf eines gebrauchten EZH realisiert wurde. Die nachfolgenden Generationen der nach 1970 Geborenen, denen die potenziellen Käufer der nun frei werdenden Häuser überwiegend angehören, weisen aber eine mit jedem neuen Jahrgang fallende Kohortenstärke auf, da sich zwischen 1965 und 1975 der Babyboom in einen Geburteneinbruch verwandelt hat. Zudem interessieren sich bei Weitem nicht alle Wohneigentumsbilder für Bestandsobjekte – zwischen 2004 und 2007 haben sich immerhin 40 Prozent der Eigentumserwerber für Neubauten entschieden (LBS 2009: 36). Der allgemeine natürliche Rückgang der Personengruppe mit erhöhtem Wohneigentumsbildungspotenzial wird überlagert von räumlichen Bevölkerungsbewegungen, die zu regional und lokal unterschiedlichen Ausgangsbedingungen geführt haben. Seit den ersten Nachkriegsjahrzehnten haben sich in Westdeutschland als Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Dynamik der Länder und Regionen erhebliche Bevölkerungsverschiebungen ergeben. Auf der interregionalen Ebene bildete die Nord-Süd-Wanderung ein stabiles Muster, aber auch intraregional war der Zuzug in prosperierende, zulasten altindustrieller und strukturschwacher Räume dominant. Dies führte zu sich verschärfenden räumlichen Disparitäten hinsichtlich des quantitativen Nachfragepotenzials, da in Wachstumsregionen der natürliche Rückgang durch die Wanderungsgewinne ausgeglichen oder sogar überkompensiert werden konnte, während in den Quellregionen Wanderungsverluste und Kohorteneffekte negativ kumulierten. Darüber hinaus kommen die Pluralisierung der Lebensstile und, in Verbindung damit, ein Wandel der Wohnpräferenzen immer stärker zum Tragen. Während die früher dominierende Lebensform der Kleinfamilie im Alleinverdienermodell zu-
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rückgeht, haben in letzter Zeit die Anteile der Alleinerziehenden, Alleinstehenden und kinderlosen Paare stark zugenommen. Zwischen 2007 und 2025 wird die Zahl der Drei- und Mehrpersonenhaushalte voraussichtlich von 11 auf 8,8 Millionen absinken – das wäre ein Rückgang um 20 Prozent (BIB/DESTATIS 2008: 60–66). Aus dem Rückgang der klassischen EZH-Nachfrager – junger Paare und Familien mit Kindern – folgt eine abnehmende Attraktivität des „Häuschens im Grünen“, sollten nicht andere Haushalts- und Lebensstiltypen das suburbane Wohnen verstärkt für sich entdecken. Alleinerziehende und jüngere Singles, aber auch Familien und Paare mit doppelter Berufstätigkeit, präferieren bisher aufgrund von Zentralitäts- und Angebotsvorteilen sowie der resultierenden zeitökonomischen Effizienzgewinne meist urbane Wohnstandorte (Häußermann 2007). Für die „jungen Alten“ können EZH-Quartiere zwar durchaus attraktiv sein, in Bezug auf das sich anschließende hohe Alter sind diese Gebiete aber weniger geeignet, wenn sie nicht über adäquate Gemeinschafts-, Versorgungs- und Pflegeangebote in fußläufiger Entfernung sowie über eine gute ÖPNV-Anbindung verfügen. Neben einer fehlenden oder unzureichenden Ausstattung mit sozialer Infrastruktur und Wohnfolgeeinrichtungen ist die Abhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr und die daraus resultierende Verkehrsbelastung ein großes Problem für die Zukunftsfähigkeit suburbaner Wohngebiete (Hesse/Scheiner 2007). Aber auch die aktuellen Entwicklungstrends von Wirtschaft und Arbeitsmarkt können sich negativ auf die EZH-Nachfrage auswirken. Geringe Wachstumsraten und sinkende Reallöhne, die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und die Zunahme prekärer Beschäftigungen, weiter steigende Anforderungen an die Mobilität und Flexibilität der Arbeitskräfte, um nur einige Aspekte zu benennen, sprechen tenden-
Abbildung 2: Qualitative Dimension der Mismatch-Problematik
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ziell gegen die beim Hauskauf übliche langfristige Verschuldung und Bindung an eine wartungsintensive Immobilie. Eine verkehrsgünstig gelegene, auf den aktuellen Bedarf zugeschnittene Mietwohnung im Agglomerationsraum ist dem Eigenheim in peripherer Lage in dieser Hinsicht deutlich überlegen (Opaschowski 2009: 112). Der quantitative und qualitative Nachfragerückgang kann in der Summe dazu führen, dass die Menge der frei werdenden EZH mittelfristig die Zahl der Haushalte übersteigen wird, die gewillt sind, Wohneigentumsbildung durch den Erwerb von Bestands-EZH zu realisieren (Abbildung 1 und 2). Die Mismatch-Problematik wird zwar dadurch abgemildert, dass die bei Angebotsüberhängen fallenden Haus- und Grundstückspreise die Eigentumsbildung für Schwellenhaushalte erleichtern, jedoch dauert es oft lange, bis sich Eigentümer oder Erben entschließen können, ein Haus weit unterhalb der ursprünglichen Preisvorstellungen zu veräußern. Gegen den Kauf einer Bestandsimmobilie spricht zudem, dass der Unterschied zwischen den Modernisierungskosten und den Kosten eines individuellen Neubaus häufig sehr gering ausfällt. Wenn eine Transaktion daran scheitert, dass kein den Vorstellungen der Eigentümer entsprechender Verkaufserlös erzielt werden kann, bleiben nur noch die Optionen des „Ausharrens“, der Vermietung oder des Leerstands. Angebotsüberhänge im Eigenheimsektor sind aber keinesfalls flächendeckend zu erwarten. Wie bereits weiter oben angedeutet, werden die allgemeinen quantitativen und qualitativen Aspekte der Mismatch-Problematik aufgrund der immensen regionalen Unterschiede oftmals ver- oder entschärft.
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Mixing the models – Versuch einer Systematisierung
Mit Blick auf die zunehmende räumliche Polarisierung werden im Folgenden Überlegungen zu idealtypischen Quartierskarrieren angestellt. Präsentiert wird keine abschließend ausgearbeitete Systematik, sondern ein aktueller Arbeitsstand. Es werden unterschiedliche Quartiersentwicklungspfade in Abhängigkeit von der interund intraregionalen Lage und den baulich-räumlichen Gegebenheiten beschrieben und mit Modellen des Quartierswandels aus der klassischen und aktuellen US-amerikanischen Fachliteratur verknüpft. Diese Modelle werden dabei nicht eins zu eins übernommen, sondern als „Steinbruch“ benutzt. Die so erarbeiteten Vorschläge für eine einfache Typisierung der EZH-Gebiete und für ein modifiziertes Phasenmodell der Quartiersentwicklung werden schließlich zum Entwurf einer Systematik typischer Verläufe von Quartierskarrieren zusammengeführt, die sowohl unterschiedliche regionale Rahmenbedingungen als auch gebietsspezifische Eigenschaften berücksichtigt. Ein Blick auf die Wachstumsregionen Westdeutschlands offenbart die wenig überraschende Erkenntnis, dass hier weiterhin eine generelle Wohnraumknappheit und damit auch ein Mangel an EZH vorherrscht (Bayern LB 2009). Ältere EZHGebiete in guter Lage und mit einer soliden Gebäudesubstanz werden unter solchen Umständen höchstens unter Gentrifizierungs- und Nachverdichtungsdruck „leiden“.
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Bei Quartieren in schlechter Lage und mit unattraktiver Bebauung besteht aber möglicherweise die Gefahr eines zwischenzeitlichen Niedergangs durch Sanierungsstau und Zuzug statusniederer Personen. Waren die Wohnstandorte gesellschaftlich unterprivilegierter Gruppen bislang meist innenstadtnahe Altbauquartiere oder Großwohnsiedlungen, könnten in Zukunft auch „abgewohnte“ EZH-Gebiete hinzukommen. Durch die Sanierung und Gentrifizierung vieler Innenstadtgebiete auf der einen und die Modernisierungen, Infrastrukturverbesserungen sowie das Quartiersmanagement in bisher benachteiligten Gebieten des sozialen Wohnungsbaus auf der anderen Seite, werden diese Gruppen zunehmend verdrängt und müssen sich nach anderen günstigen Wohnmöglichkeiten umsehen. In Anlehnung an das erstmals 1932 in den USA publizierte und später unter anderem von Hoover und Vernon weiterentwickelte Phasenmodell des sozialräumlichen Wandels von Wohngebieten8 (Tabelle 2) würde das gealterte EZH-Quartier nach einer Phase der Überbelegung und der Zunahme von Personen aus Randgruppenmilieus in einen Schrumpfungsprozess mit Bevölkerungs- und Gebäudeverlusten geraten, bevor schließlich eine von der öffentlichen Hand initiierte Kompletterneuerung beginnt (Metzger 2000).9 Der Downgrading-Prozess mit Zuwanderung statusniederer Personen, Verwahrlosung und schließlich Ausdünnung und Perforation wäre in Bezug auf das erweiterte Phasenmodell der Stadtentwicklung der Reurbanisierung und der sich anschließenden „urbanophilen“ Phase zuzuordnen. Die Revitalisierung durch öffentlich geförderten Stadtumbau, Ersatzneubau und Nachverdichtung markiert dann den Übergang zur Phase der „Suburbanophilie“. So ein Tabelle 2: Phasenmodelle der Stadt- und Quartiersentwicklung im Vergleich Phasenmodell des sozialräumlichen Wandels von Wohngebieten nach E. M. Hoover/R. Vernon (Metzger 2000: 9) 1. Errichtung einer Einfamilienhaussiedlung 2. Nachverdichtung durch Geschosswohnungsbau 3. Abwertung durch weitere Verdichtung, Überbelegung, Zunahme sozialer Randgruppen 4. Schrumpfung mit Bevölkerungs- und Gebäudeverlusten 5. Erneuerung durch öffentliche Intervention, Gebäudesanierung und Ersatz veralteter Wohnungen durch neue Mehrfamilienhäuser
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Modifiziertes Phasenmodell der Stadtentwicklung Suburbanisierung Deurbanisierung Reurbanisierung „Urbanophilie“ „Suburbanophilie“
Im Englischen „Model of Neighborhood Change“ bzw. „Life-Cycle Theory“. Neben dem Modell von Hoover und Vernon existieren allerdings noch weitere Modellvarianten, bei denen es in der letzten Phase nicht zur Aufwertung kommt, sondern zu Verfall und Verslumung. 9
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idealtypischer Verlauf der Quartiersentwicklung mag zwar tatsächlich vorkommen, lässt sich aber keinesfalls generalisieren.10 In Wachstumsregionen kann aufgrund eines funktionierenden Wohnungsmarkts und steigender Bodenpreise die Aufwertung oder Nachverdichtung älterer EZH-Gebiete am Ende eines Quartiers-Lebenszyklus als Regelfall angenommen werden. In Stagnations- und Schrumpfungsräumen gelten diese Voraussetzungen jedoch nicht oder nur eingeschränkt. Besonders in altindustriell geprägten, strukturschwachen oder ländlich-peripheren Räumen mit starken Abwanderungstendenzen und fortgeschrittener Überalterung muss mit zunehmenden Vermarktungsschwierigkeiten im EZH-Sektor gerechnet werden – dies ist teilweise schon heute der Fall (BMVBS/ BBR 2008b). Hinsichtlich des Phasenmodells der Stadtentwicklung müsste man nun anstatt der Stadtregionen die agglomerationsfernen Räume in den Blick nehmen. Am stärksten betroffen werden die Bestände mit ungünstigen Lageeigenschaften, baulichen Mängeln und Imageproblemen sein. Eine ungünstige Lage weisen unter anderem solche Wohngebiete auf, die nicht oder schlecht an das Netz des öffentlichen Personennahverkehrs angeschlossen sind und sich fernab von Arbeitsmöglichkeiten sowie von öffentlichen und privaten Infrastruktureinrichtungen befinden (Hesse/Scheiner 2007). Zu den baustrukturellen und architektonischen Nachteilen zählen zu kleine oder den heutigen Bedürfnissen schlecht anzupassende Grundrisse und zu große, aufwendig zu pflegende Grundstücke. Weitere Minuspunkte können zum Beispiel ein schlechter Zustand der Bausubstanz, eine geringe energetische Qualität sowie veraltete haustechnische Anlagen sein. Auch ein ungepflegtes Erscheinungsbild des Wohnumfelds sowie städtebauliche und ästhetische Defizite sind Risikofaktoren. Einzelne Mängel müssen zwar noch keine Gefahr für die Marktgängigkeit eines EZH bedeuten, wohl aber die Kumulation mehrerer der aufgeführten Problembereiche. Ab einer gewissen Schwelle von Leerstand oder Unternutzung kann es zu einem Abwärtssog sich gegenseitig verstärkender Entdichtung und Entwertung kommen. Zwischen den hier beispielhaft für Wachstums- und Schrumpfungsregionen angeführten Quartierskarrieren liegt eine ganze Bandbreite von möglichen Entwicklungspfaden. Um diese systematisch darzustellen, ist ein umfassenderer Ansatz nötig, der über das weiter oben angeführte Phasenmodell des sozialräumlichen Wandels von Wohngebieten hinausgeht. Temkin und Rohe haben ein holistisches Modell11 entwickelt, das die eingeschränkte sozialökologische und geodeterministische Perspektive des klassischen Phasenmodells weit hinter sich lässt. Der komplexe Modellansatz berücksichtigt die nationale und regionale Ebene sowie die Quartiers- und 10
Dieses Modell eignet sich ebenso wenig wie das Phasenmodell der Stadtentwicklung dazu, Allgemeingültigkeit beanspruchende Aussagen über den zukünftigen Wandel von EZH-Quartieren zu generieren. Abgesehen von konzeptionellen Schwächen, die hier nicht weiter thematisiert werden sollen, unterscheiden sich die hiesigen und heutigen Rahmenbedingungen fundamental vom US-amerikanischen Kontext der 1930er- bis 70er-Jahre, in dem die Theorie entstand. 11 Im Original als „a synthetic model of neighborhood change“ bezeichnet.
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Akteursebene. Auf der nationalen Ebene sollen die allgemeinen Rahmenbedingungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels, die Veränderungen in der Politik sowie der Entwicklungsstand der betreffenden Stadtregion erfasst werden. Innerhalb einer Region werden wiederum die sozialen, politischen und ökonomischen Besonderheiten betrachtet. Auf Quartiersebene gehen neben den sozialen und physischen Eigenschaften und der Lage auch die Entwicklungsphase des Gebiets mit ein. Darüber hinaus richten die Autoren ihr Augenmerk auf kurzfristige Veränderungen im Quartier, deren Wahrnehmung durch die Bewohner und institutionellen Akteure sowie die daraus resultierenden Reaktionen. Das Zusammenspiel der akteursspezifischen Handlungsstrategien bedingt schließlich die Art und Weise, in der sich der langfristige Wandel des Gebiets vollzieht (Temkin/Rohe 1996: 164–166). Dieses synthetische Modell beschreibt nicht den typischen Verlauf eines Wandlungsprozesses, sondern es ist ein Schema, das alle bedeutenden Einflussfaktoren der Quartiersentwicklung darstellen soll. Im Folgenden wird ein Vorschlag zur Systematisierung kontextspezifischer Quartierskarrieren vorgestellt, der Elemente aus beiden zitierten Modellen übernimmt und in seinem Komplexitätsgrad zwischen diesen Theorieansätzen angesiedelt ist. Zuerst wird in Anlehnung an Temkin und Rohe eine vereinfachte Quartierstypisierung entwickelt (Tabelle 3). Die auf nationaler Ebene identifizierte MismatchProblematik bildet den übergeordneten Kontext des Modells. Auf der regionalen Ebene wird wegen der großen Homogenität der westdeutschen Regionen hinsichtlich ihrer politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen nur pauschal zwischen Wachstums-, Stagnations- und Schrumpfungsregionen unterschieden. Die Zahl der Determinanten auf Quartiersebene kann stark reduziert werden, da von vornherein nur ein bestimmter Wohngebietstyp in einer bestimmten Nutzungszyklusphase betrachtet wird. Die Charakterisierung der sozialen Zusammensetzung der Gebiete wird vorerst ausgeklammert, da sich diese Quartierseigenschaften nicht ohne Weiteres bestimmen lassen und sich die betrachteten EZH-Gebiete in dieser Hinsicht mitten in einem Wandlungsprozess befinden. In die Typisierung gehen daher nur die Lage und die physischen Eigenschaften ein, die jeweils den Kategorien „gut“, „mittel“ und „schlecht“ zugeordnet werden. Es ergeben sich neun Typen und drei Klassen, die als A-, B- bzw. C-Wohngebiete bezeichnet werden. Tabelle 3: Wohngebietstypisierung nach Lage- und physischen Eigenschaften
Gute Lage Mittlere Lage Schlechte Lage
Überwiegend gute physische Eigenschaften
Überwiegend mittlere physische Eigenschaften
Überwiegend schlechte physische Eigenschaften
A1-Wohngebiet A3-Wohngebiet
A2-Wohngebiet B2-Wohngebiet
B1-Wohngebiet C1-Wohngebiet
B3-Wohngebiet
C2-Wohngebiet
C3-Wohngebiet
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Im nächsten Schritt wird eine durch das Phasenmodell von Hoover und Vernon inspirierte Systematik idealtypischer Quartierskarrieren vorgestellt (Tabelle 4), die sich gleichwohl deutlich vom Original unterscheidet. Als Grobstruktur können drei prinzipiell mögliche Entwicklungspfade identifiziert werden: Aufwertung, Stabilität/Stabilisierung und Verschlechterung. Die Verschlechterungsprozesse werden zusätzlich danach untergliedert, ob es sich um eine kurz-, mittel- oder langfristige Veränderung handelt bzw. ob es zu öffentlichen Interventionen kommt und welche Position das Quartier am Ende einnimmt. Tabelle 4: Differenziertes Modell idealtypischer Quartierskarrieren 1. Aufwertung durch umfangreiche private Investitionen und Zuzug statushöherer Personen 2. Stabilität durch ausreichende Instandhaltungsmaßnahmen und Zuzug statusgleicher Personen 3. Kurzfristige Verschlechterung durch Vernachlässigung und begrenzten Zuzug statusniederer Personen 4. Mittelfristige Verschlechterung durch Modernisierungsstau und erhöhten Zuzug statusniederer Personen, dann öffentliche Intervention 5. Langfristige Verschlechterung durch Verfallserscheinungen, Zuzug sozialer Randgruppen und sich ausbreitenden Leerstand
danach Aufwertung (3.1) danach Stabilisierung auf Ausgangsniveau (3.2) dadurch Aufwertung (4.1) dadurch Stabilisierung auf Ausgangsniveau (4.2) Stabilisierung auf niedrigem Niveau (5.1) Kontinuierlicher Verfall und Entleerung (5.2)
Aus der Verbindung der beiden Konzepte, unter Berücksichtigung der regionalen Rahmenbedingungen, ergibt sich schließlich eine Systematik von regions- und quartiersspezifischen Entwicklungspfaden (Tabelle 5). In prosperierenden Regionen werden A-Wohngebiete aufgrund des großen Nachfragedrucks in der Regel aufgewertet, B-Wohngebiete verbessern sich ebenfalls oder bleiben stabil. Bei C-Gebieten kann es zwar zu einer temporären Verschlechterung kommen, am Ende steht jedoch eine marktmäßige Revitalisierung. In Stagnationsräumen wird bei den besseren Quartieren die Stabilität oder Aufwertung dominieren. Quartiere der mittleren Kategorie bleiben stabil oder es tritt eine kurzfristige Verschlechterung ein. Bei Quartieren in schlechter Lage und mit gravierenden Mängeln kann es passieren, dass ein Downgrading-Prozess einsetzt, der nicht mehr ohne öffentliche Intervention zu stoppen ist. Durch staatliche Investitionsanreize, Einschreiten der Kommune oder andere Maßnahmen der öffentlichen Hand wird schließlich eine Stabilisierung oder sogar Aufwertung erreicht. In Schrumpfungsregionen wird es selbst bei den AWohngebieten selten zu einer kontinuierlichen Aufwertung kommen. Stabilität oder
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temporäre Verschlechterung sind hier die dominanten Entwicklungspfade. Bei den B-Gebieten wird meist eine spürbare Verschlechterung eintreten, die entweder mit oder ohne Eingreifen der öffentlichen Hand überwunden werden kann. Die C-Wohngebiete werden so stark abgewertet, dass eine Erneuerung ohne öffentliche Interventionen extrem unwahrscheinlich ist. Hier besteht vielmehr die Gefahr einer langfristigen Verschlechterung und dauerhafter Leerstände, wenn Investitionen ausbleiben. Am Ende kommt es dann entweder zu einer Stabilisierung auf niedrigem Niveau oder sogar zum unaufhaltsamen Verfall und zur vollständigen Entleerung des Gebiets. Tabelle 5: Systematik kontextspezifischer Quartiersentwicklungspfade
A-Wohngebiete B-Wohngebiete C-Wohngebiete
Wachstumsregionen
Stagnationsregionen
Schrumpfungsregionen
1 1–2 2–3
1–2 2–3 3–4
2–3 3–4 4–5
Dieses einfache Schema soll nicht dazu dienen, die unausweichliche Zukunft bestimmter Wohngebiete zu antizipieren. Es kann als Hilfsmittel verstanden werden, das auf mögliche künftige Entwicklungen frühzeitig aufmerksam macht. Der Verlauf einer individuellen Quartierskarriere wird aber von weiteren Faktoren beeinflusst. Insbesondere durch vorausschauendes Handeln der relevanten Akteure können die Weichen für alternative Entwicklungspfade gestellt werden.
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Herbst oder zweiter Frühling? – Ein Ausblick
Viele ältere EZH-Gebiete werden in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten eine Umbruchphase erleben. Der hier vorgestellte Versuch einer Systematisierung der möglichen pfadabhängigen Veränderungen erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit – vielmehr sollte ein Mittelweg zwischen zu großer Vereinfachung und Komplexität gefunden werden. Unabhängig davon, ob dieser Versuch als gelungen bezeichnet werden kann oder nicht, zeigt die Systematik, dass der Verlauf einer individuellen Quartierskarriere von einer Vielzahl von Faktoren abhängig ist. Eine bedeutende Determinante der Quartiersentwicklung, die im Modell jedoch nur eingeschränkt und schematisch berücksichtigt wurde, ist die Akteursebene. Sie soll hier kurz angesprochen werden, weil ihr eine zentrale Stellung innerhalb der Quartiersforschung zukommt. Die wichtigsten öffentlichen, privaten und zivilgesellschaftlichen Akteure wurden in der Einleitung bereits benannt. Es sind die staatlichen und kommunalen „Politikmacher“, es sind die immobilien- und wohnungswirtschaftlichen Akteure und es sind natürlich die Bewohner selbst sowie die weg- und zuziehenden Personen.
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Bezüglich der potenziellen Nachnutzer ist der Wandel der Nachfragepräferenzen die entscheidende Größe. Werden mehr klassische Eigenheime nachgefragt oder eher Eigentumswohnungen? Geht der Trend in Richtung Miete oder steigt die Wohneigentumsquote weiter an? Fest steht jedenfalls, dass die Hausbesitzer und -erwerber mit ihren positiven und negativen Investitionsentscheidungen nicht nur maßgeblichen Einfluss auf die Wertentwicklung des Gebäudes, sondern auch auf das Image des gesamten Quartiers und die Investitionsbereitschaft der benachbarten Eigentümer nehmen. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang, dass das Handeln der Eigner und potenziellen Erwerber oft nicht ausschließlich von ökonomisch-rationalen Entscheidungen geprägt ist. Neben dem ökonomischen kommt auch dem sozialen Kapital der lokalen Akteure ein nicht zu unterschätzender Stellenwert zu. Die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum Aufbau nachbarschaftlicher Netzwerke und Strukturen der gegenseitigen Hilfe sowie zur Durchsetzung eigener Interessen gegenüber der Lokalpolitik sind Beispiele für vom Sozialkapital abhängige Faktoren der Quartiersentwicklung. Auch die Frage, inwiefern es sich bei einem bestimmten EZH-Gebiet um ein Quartier im soziologischen Sinn handelt, ließe sich durch die Analyse dieser sozialen Interaktionsformen beantworten. Während die Handlungsstrategien der Betroffenen oft nah beieinander liegen, wird es aufseiten der staatlichen und nichtstaatlichen institutionellen Akteure teilweise konträre Interessen geben. Beispielsweise stellt bei einem entspannten Wohnungsmarkt ein frei werdendes Bestandseigenheim für die professionellen Vermieter eine unliebsame Konkurrenz dar – jede erfolgreiche Transaktion könnte eine leer stehende Mietwohnung nach sich ziehen. Wohnungsunternehmen werden deshalb versuchen, die Attraktivität ihrer Bestände durch energetische Sanierung und familien- oder altengerechte Modernisierung zu steigern. Immobilienentwickler werden vermutlich wegen höherer Renditeerwartungen den EZH-Neubau auf billigem Bauland Redevelopment-Projekten mit hohen Grundstücks- und Modernisierungs- bzw. Abrisskosten vorziehen. Eine Aufwertung leerstandsgefährdeter EZH-Siedlungen wäre also in solch einem Marktumfeld für die Immobilienwirtschaft tendenziell wettbewerbsschädigend. Aus kommunaler Sicht bedeutet jeglicher Wohnungsleerstand geringere Einnahmen und höhere Infrastrukturkosten – eine positive Entwicklung der EZH-Gebiete liegt daher grundsätzlich im Interesse der Gemeinden. Die übliche Praxis der Ausweisung neuer Bauplätze zur Stabilisierung der Einwohnerzahl wäre bei Leerständen im Bestand kontraproduktiv. Bei einem kontinuierlichen Haushaltsrückgang könnte sogar der geordnete Rückzug aus den peripheren EZH-Siedlungen sinnvoll sein, um leerstandsbedrohte, zentraler gelegene Stadt- oder Ortsteile zu stützen und eine effiziente und kostengünstige Infrastrukturnutzung zu gewährleisten. Aus der Perspektive des Staats ergibt sich ebenfalls ein ambivalentes Bild. Die Wohneigentumsförderung ist auch ein Instrument der Alterssicherung und soll den Staat von später anfallenden Unterstützungsleistungen entlasten. Verlieren die Eigenheime jedoch verbreitet an Wert, geht diese Rechnung nicht mehr auf. Insofern liegt die Wertstabilität der EZH im staatlichen Interesse. Demgegenüber steht die Haushalts-
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disziplin, die dagegen spricht, heute Geld auszugeben, um einen möglichen zukünftigen Wertverfall zu bremsen, zumal von diesen Zahlungen erneut die bevorzugte Klientel der Hauseigentümer profitieren würde. Selbst diese knappen Ausführungen machen schon deutlich, welcher enorme Einfluss akteursspezifischen Handlungslogiken zukommt. Möglicherweise wird in Zukunft öffentlich geförderter Stadtumbau auch in EZH-Gebieten der Nachkriegsepoche ein relevantes Aufgabenfeld der Städte und Gemeinden werden. Andernfalls könnte einem nicht unerheblichem Teil dieser Bestände ein schleichender Niedergang drohen – schlimmstenfalls verbunden mit dispersem Leerstand, Entdichtung, Entwertung und Verfall. Die hier präsentierte Systematisierung möglicher Quartierskarrieren bietet Ansatzpunkte für die Entwicklung eines für Wohnungsmarkt, -politik und Eigentümer nützlichen „Frühwarnsystems“. Welche Strategien die unterschiedlichen Akteure mehrheitlich verfolgen werden, kann heute noch nicht beantwortet werden. Hier öffnet sich ein weites Feld empirischer und akteurszentrierter Untersuchungen. Es muss also vorerst offen bleiben, ob die alternden Einfamilienhausquartiere eher dem Herbst oder einem zweiten Frühling entgegensehen.
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III Quartiersinfrastrukturen – quo vadis?
Stadtumbau West – Auswirkungen des Rückbaus sozialer Infrastrukturen aus der Expertenperspektive Oliver Niermann
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Stadtumbau West – eine Einleitung
Bereits seit den 1970er-Jahren vollziehen sich in Westdeutschland mehrdimensionale innerstädtische Entleerungsprozesse. Diese Prozesse sind in der Regel das Ergebnis sowohl von klein- als auch von großräumigen Migrationsbewegungen einerseits und absoluten Bevölkerungsrückgängen andererseits. Während Erstere ihre Ursachen in einem substanziellen Wandel der fordistischen Wirtschaftsstrukturen, in Arbeitsplatzverlusten und der daraus resultierenden Erwerbsmobilität sowie in allgemeinen Suburbanisierungsprozessen hatten, liegen die Gründe für die absoluten Rückgänge in unterschiedlichen bevölkerungsgeografischen Prozessen, welche als sogenannter „demografischer Wandel“1 zusammengefasst werden. Vor allem die Großstädte der hochverdichteten Regionen sind davon besonders betroffen (Häußermann/Siebel 2000a: 26). Der massive und dauerhafte Verlust an Arbeitsplätzen durch den wirtschaftlichen Strukturwandel (Tertiärisierung, Deindustrialisierung) sowie ein EinwohnerInnenverlust, insbesondere durch die selektive Abwanderung junger, erwerbsorientierter Menschen, sind, nach Gatzweiler et al. (2003: 558), die klar kennzeichnenden Prozesse, die die schrumpfende Stadt prägen (dazu auch Lang/Tenz 2003: 69), eine Entwicklung, die auch die Situation in den untersuchten Städten widerspiegelt. Obwohl die Auswirkungen des Strukturwandels in Westdeutschland schon früh erkannt und teilweise umfangreich untersucht wurden (z. B. Häußermann/Siebel 2000a), erfolgte eine umfassende und operationalisierte Reaktion erst mit erheblicher Zeitverzögerung.2 1 Als „demografischen Wandel“ versteht man allgemein die Prozesse des Geburtenrückgangs und der Überalterung einer Gesellschaft sowie des daraus resultierenden absoluten Bevölkerungsrückgangs. Der sich dadurch relational erhöhende Teil migrantischer Bevölkerung hat zu den Attributen „weniger, älter, bunter“ geführt, mit welchen der demografische Wandel oft beschrieben wird. Zukünftig wird die Rolle des demografischen Wandels ausschlaggebender für städtische Entleerungen sein als der wirtschaftliche Strukturwandel. 2 Vor allem durch den Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Wiedervereinigung 1990 und die daraus resultierenden ökonomischen und demografischen Entwicklungen sowie die anhaltende Immigration von Menschen aus den ehemaligen UdSSR-Staaten gerieten die westdeutschen Schrumpfungsprobleme zunächst aus dem Fokus v. a. der (Bundes-)Politik (vgl. auch Lang/Tenz 2003: 66).
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Eine breitere Wahrnehmung und Artikulation der Schrumpfungsprozesse in Westdeutschland und der mit ihnen einhergehenden Verluste städtischer Funktionen bzw. die Erkenntnis, den räumlichen Auswirkungen dieser Prozesse auf einer operationalisierten Ebene entgegentreten zu müssen, entstand erst im Rahmen der Problematisierung der ostdeutschen Defizite, welchen über das Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost“ begegnet werden sollte. Im Rahmen der vorbereitenden Studie „Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ erfolgte eine zunächst auf die Wohnbebauung fokussierte Thematisierung. Nach dem Abschluss der Studie erfolgte im Oktober 2001 zunächst die Auslobung des Wettbewerbs „Stadtumbau Ost“, mit dem Ziel der Erstellung integrierter Stadtentwicklungskonzepte (ISEKs) als Grundlage für den Umbau, und ab 2002 das gleichnamige Förderprogramm mit einer Laufzeit bis 2009 und einem Fördervolumen von 2,5 Milliarden “ im Rahmen der Städtebauförderung (StBauF). Ab 2002 wurden, zunächst im Rahmen des Förderprogramms „Experimenteller Wohn- und Städtebau“ (ExWoSt), auch die westdeutschen Verhältnisse in einem Umfang von 16 Pilotstädten untersucht, dessen Erfahrungen in der zur Entwicklung des Förderprogramms „Stadtumbau West“ resultierten, welches mit einer Fördersumme von 40 Mio. “ startete und mit 86 Mio. “ jährlich zunächst bis 2009 laufen sollte (vgl. BMVBW 2005: 12). Da den baurechtlichen Bestimmungen bisher das Paradigma der wachsenden und expandierenden Stadt zugrunde lag, wurde im Rahmen des Europarechtsanpassungsgesetzes 2004 (EAG) den spezifischen Ansprüchen an eine Stadtplanung und -entwicklung in „schrumpfenden“ Städten mit den §§ 171a–d im 3. Teil des 2. Abschnitts des Baugesetzbuches entsprochen. Die Ausschreibungen der Förderprogramme und die rechtliche Grundlage ermöglichten es den Städten idealerweise, erstmalig im Rahmen von integrierten städtebaulichen Entwicklungskonzepten auf die vorhandenen Missstände zu reagieren und dabei verschiedene betroffene Verwaltungsressorts in eine ganzheitliche Planung einzubeziehen (vgl. z. B. Hunger 2003: 647). Dabei spielen, neben den rechtlichen Werkzeugen der Stadtplanung, zunehmend auch weichere, kommunikationsorientiertere Methoden eine Rolle. Während in Ostdeutschland 2007 jede zweite Mittelstadt (53,5% der Gemeinden), oft auch unabhängig von der jeweiligen wirtschaftsstrukturellen Prägung, nach der umfassenden Definition des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) von Schrumpfungsproblemen betroffen war, waren im Westen lediglich 2,6% der Gemeinden betroffen.3 Die wenigen Städte in Westdeutschland sind in der Regel 3
Das Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) führt in seiner Definition die verschiedenen Schrumpfungsursachen zusammen und wird so den unterschiedlichen Prozessen gerecht, die zur Schrumpfung einer Stadt führen. Nach dieser Definition ist Schrumpfung mehr als der reine Einwohnerverlust und setzt sich aus einem Set von sechs Indikatoren zusammen. Diese sind der Bevölkerungsrückgang, die Wanderungsverluste, die Arbeitslosigkeit, die Arbeitsplatzverluste, die Kaufkraftschwäche und die kommunale Haushaltsnot. Entwickeln sich eine Mehrzahl dieser Indikatoren negativ, ist die Stadt durch Schrumpfung gekennzeichnet (vgl. Gatzweiler et al. 2003: 564). Somit versucht man der Mehrdimensionalität der Schrumpfungsursachen gerecht zu werden.
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als altindustrielle bzw. monostrukturierte Gebiete zu kategorisieren und/oder befinden sich in peripheren Lagen. Die Schrumpfungsregionen in Westdeutschland sind derzeit noch überwiegend kongruent zu den strukturschwachen Altindustrieregionen (Ruhrgebiet, Saarland, zudem: Küstenregionen). So sehr sich die Ursachen der Entleerungen in Ost- und Westdeutschland gleichen, so unterschiedlich gestaltet sich die Verortung der innerstädtischen Entleerung. Auch aufgrund der unterschiedlichen städtischen (Eigentums-)Strukturen waren in Ostdeutschland vor allem die monostrukturierten sogenannten „Plattenbau“-Gebiete und die unsanierten innerstädtischen gründerzeitlichen Quartiere massiv von Bevölkerungsverlusten betroffen. Die Entleerungen lassen sich teilweise großflächig darstellen und erfolgten mit der „Transformation“ des planwirtschaftlichen Wirtschaftssystems nach dem Anschluss der Deutschen Demokratischen Republik an die Bundesrepublik Deutschland beinahe „schockartig“ innerhalb weniger Jahre. In Westdeutschland zeigen sich die Entleerungen absolut und relativ geringer, dabei aber wesentlich diffuser, eher kleinräumiger und punktuell, teilweise in direkter Nachbarschaft zu städtischen Wachstumszonen.4 Zudem erfolgten die Bevölkerungsrückgänge atraumatisch, d. h. nicht schockartig, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg. In den drei untersuchten Kommunen Duisburg, Wilhelmshaven und Wuppertal begann die Schrumpfung bereits in den 1970er-Jahren. So hat z. B. Duisburg in den letzten 45 Jahren kontinuierlich ca. 19% seiner EinwohnerInnen verloren. In einer breiteren Varianz von Wohntypen und -lagen sind oft nur einzelne Straßenzüge oder Häuserblöcke betroffen. Laut einer BBR-Umfrage sollten davon vor allem deprivierte Gebiete mit einer AAAStruktur (Alte, ArbeiterInnen, AusländerInnen) betroffen sein (vgl. BBR 2006b: 103). Resümierend lässt sich sagen, dass es in Ostdeutschland vor allem um die Bewältigung städtebaulicher Krisen geht, während in Westdeutschland eher Prävention im Mittelpunkt steht, bevor die Situation ähnliche Ausmaße erreicht wie in Ostdeutschland. Bedingt durch den langen „Inkubationszeitraum“ der westdeutschen Schrumpfung, scheinen die Defizite weniger wahrnehmbar zu sein. Das ist sicher auch eine Auswirkung der spezifischen räumlichen Ausprägung. Eine Tendenz zeigt zudem, dass die suburbanen Einfamilienhaus-Gebiete zukünftig eine besondere Rolle spielen werden („empty nests“), wie sich auch im Laufe der Interviews herausstellte. Städtische Schrumpfung ist somit ein differenziert zu betrachtendes Problem, bei dem sich unterschiedliche Einzelprozesse zu einer Negativwirkung verdichten und Handlungsdruck erzeugen. Diesen Prozessen muss im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung begegnet werden. 4 Für eine ausführlichere komparatistische Gegenüberstellung der beiden Stadtumbauprogramme und ihrer Kontexte siehe Fuhrich/Kaltenbrunner 2005.
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Theorie und Methodik
Die Grundlage dieses Aufsatzes bildet die Diplomarbeit „Der Rückbau sozialer Infrastrukturen und dessen Auswirkungen in westdeutschen Städten mit Bevölkerungsrückgang – Skizziert an den Städten Duisburg, Wilhelmshaven und Wuppertal“ (Niermann 2007). Im Rahmen der Arbeit sollte untersucht werden, welchen Einfluss der Bevölkerungsrückgang auf die Ausstattung mit sozialer Infrastruktur (v. a. Schulen, Kindergärten, soziale Einrichtungen) hat und welche Auswirkungen die Rückbaustrategien der Städte auf Quartiere und deren Gesellschaften haben. Der Fokus wurde gewählt, weil die soziale Infrastruktur durch Bevölkerungsrückgänge besonders betroffen ist und die Folgen hier noch gravierender sind als im Hinblick auf einen eventuellen Wohnraumüberschuss oder eine Überkapazität in der technischen Infrastrukturversorgung. Um die Auswirkungen des Infrastrukturrückbaus und eventuelle Zusammenhänge zwischen Anpassungsprozessen und Quartiersentwicklungen zu untersuchen, wurde, nach einer ausführlichen Analyse der zu dem Zeitpunkt aktuellen Literaturund Berichtslage, eine hypothetische Wirkungskette entwickelt. Diese sollte in Fallbeispielen geprüft werden, wobei qualitative Leitfadeninterviews mit kommunalen und wissenschaftlichen Experten als Grundlage dienten. Die qualitative Erhebung wurde mit einer Analyse integrierter städtischer Entwicklungskonzepte und städtebaulicher Berichte (Duisburg 2006, Wuppertal 2005) sowie Ressortforschungsdokumenten ergänzt.5 Die lokalen Experten wurden im Rahmen ihrer Tätigkeit in den Kommunen für die jeweiligen Infrastrukturplanungen bzw. die Verantwortlichkeit für die Umsetzung integrierter städtebaulicher Konzepte ausgewählt. Hierbei handelte es sich um (leitende) MitarbeiterInnen der jeweiligen Stadtplanungsämter. Ergänzend dazu wurden mit zwei unabhängigen Experten, welche im Rahmen des Forschungsprojekts „Stadtquartiere im Umbruch“6 zu ähnlichen Fragestellungen forschten, Interviews geführt, um eine überkommunale Perspektive zu gewinnen. Die Bezugsebene für die Untersuchungen waren Quartiere in westdeutschen Städten, welche im Rahmen des Bund-Länder-Programms „Stadtumbau West“ gefördert wurden oder förderungswürdig gewesen wären. Diese Quartiere wiesen entsprechend 5 Das Wuppertaler Entwicklungskonzept war zum Zeitpunkt der Diplomarbeitserstellung noch in der Erarbeitungsphase und konnte nur teilweise online eingesehen werden. 6 Das ExWoSt-Forschungsfeld „Stadtquartiere im Umbruch“ des BBR beschäftigte sich explizit mit Quartieren, die durch Bevölkerungsverluste und Leerstände betroffen sind und die innovative Strategien zur Behebung der Missstände verfolgen. Dabei wurde schwerpunktmäßig auch die Ausstattung mit (sozialer) Infrastruktur thematisiert. Die befragten Experten waren Dr. Manfred Fuhrich als Leiter der Abteilung „Stadtentwicklung“ im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und Prof. Dr. Carsten Gertz vom Büro Gertz Gutsche Rümenapp als Vertreter der Forschungsassistenz.
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den Indikatoren (s. o.) des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung (BBR) alle Merkmale städtischer Konsolidierungsprozesse auf,7 wobei bereits Infrastrukturschließungen stattfanden. Die Auswahl erfolgte sowohl auf der Basis der Schilderungen der Experten in den Interviews als auch auf Grundlage der Entwicklungen und sozial-strukturellen Situationen, die aus den städtebaulichen Konzepten hervorgingen. Die Wirkungskette sollte den Konnex zwischen verschiedenen Einzelphänomenen prüfen und diesen als Prozess von der gesamtstädtischen Mesoebene bis auf die Mikroebene des Quartiers darstellen. Die Wirkungskette greift Fragen der sozialen Fragmentierung, Segregationstendenzen und der urbanen Polarisierungserscheinungen thematisch auf, welche beispielsweise Soja (z. B. 2009) oder auch Bourdieu (2005) immer wieder als bezeichnend für die Probleme im Kontext postmoderner Stadtentwicklungstheorien eingeordnet haben. Verkürzt lässt sich die hypothetische Wirkungskette folgendermaßen darstellen.8 1. Aufgrund der städtischen Bevölkerungsrückgänge stehen Einrichtungen der (öffentlichen) sozialen Versorgung vor Anpassungszwängen und müssen angepasst oder geschlossen werden. Einhergehend mit dem aus den Bevölkerungsrückgängen resultierenden Mangel finanzieller Ressourcen (Steuern, Schlüsselzuweisungen), entstehen gesamtstädtische Überkapazitäten bei der sozialen Infrastrukturausstattung. Infolge einer ansteigenden selektiven lokalen Mobilität durch Mietpreissenkungen werden Gebiete mit städtebaulichen Strukturdefiziten verlassen (vgl. Häußermann, Kapphan 2002; Danielzyk 2003: 11). Es verbleiben in der Regel Bevölkerungsgruppen, die aufgrund verschiedener Benachteiligungen nicht umziehen können. 2. Die Schließungen der Einrichtungen finden in der Regel in Gebieten statt, die aufgrund städtebaulicher Strukturdefizite zuerst von Bevölkerungsrückgängen betroffen sind.9 Die Angebotsreduzierung findet in der Regel dort statt, wo die Entleerungen am signifikantesten sind. Eine Erhebung belegt, dass die mit Abstand meisten Stadtumbaumaßnahmen in Westdeutschland in sogenannten benachteiligten Gebieten stattfinden (vgl. BBR 2006b: 103). 7 Die Untersuchung betraf die Quartiere Hochfeld und Kaßlerfeld (Duisburg), Südstadt, Heppens, Siebethsburg und Fedderwardergroden (Wilhelmshaven) sowie Arrenberg (Wuppertal). 8 Die einzelnen Prozesse sind im Rahmen anderer Untersuchungen, zumindest fallweise, bestätigt worden. Eine ausführliche Herleitung findet sich in Niermann (2007: 8ff.). 9 Diese Leerstände können auch Ausdruck von Filtering-Prozessen sein. Die Theorie des „Filtering-down“ beschreibt eigentlich die mit zunehmendem Alter oder sich verschlechterndem Zustand eintretende Abstufung einer Wohnung in ein niedrigeres Marktsegment, sodass ihr Ertragswert sinkt und sie so für Haushalte mit geringeren Einkommen erschwinglich wird (vgl. Wörterbuch Immobilienwirtschaft 2004: Begriff „filtering down“). Diese Sickerprozesse implizieren ein strukturelles Überangebot an Wohnraum. Deshalb wird die Theorie vor dem Hintergrund der schrumpfungsbedingten Wohnraumüberangebote wieder aktuell.
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3. Durch die Schließung von Infrastruktureinrichtungen werden strukturelle Funktionsschwächen und Attraktivitätsverluste verursacht oder verstärkt. Das Quartier wird durch den Rückbau ereignisärmer. Vor allem benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind davon betroffen. Da marginalisierte Quartiere oft auch städtebaulich in einer Abseitslage liegen (vgl. Häußermann 2003: 152), wird die Infrastruktur zudem selten von quartiersexternen Menschen genutzt. 4. Die Einschränkung der Versorgung wirkt sich vor allem auf Bevölkerungsgruppen aus, die auch durch Mobilitätseinschränkungen, geringe Einkommen oder andere soziale Probleme benachteiligt sind. Die Aktionsradien von sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen sind nach Häußermann (2003: 151) kleiner als die Aktionsradien beispielsweise von Mittelschichthaushalten und beschränken sich oftmals auf das eigene Wohnquartier. Durch den Rückbau der wohnortnahen Versorgungsmöglichkeiten sind die Bevölkerungsgruppen nicht mehr in der Lage, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, oder sie sind gezwungen, ihr Quartier zu verlassen und andere Bereiche der Stadt aufzusuchen. Somit ist die Funktion der sozialen Einrichtungen als Mittel zur Überwindung sozialer Exklusion nicht mehr vorhanden oder zumindest eingeschränkt. 5. Der Rückbau sozialer Infrastruktur verstärkt Polarisierungstendenzen innerhalb einer Stadtgesellschaft zulasten solcher betroffenen Stadtviertel. Bei der Neukonzeption städtischer Versorgungsstrukturen kommt es zu Konkurrenzsituationen zwischen verschiedenen Stadtvierteln. Dabei sind die schrumpfenden Stadtteile aufgrund mangelnden Sozialkapitals oft schlecht positioniert. „In den städtischen Verteilungskämpfen verlieren solche Quartiere an Gewicht, auch weil in der Regel der Anteil von Nicht-Wahlberechtigten (Ausländer) und Nicht-Wählern besonders hoch ist.“ (Häußermann 2003: 151)
6. Zunehmende Polarisierung, funktionale Entleerung und Leerstände (von Infrastruktureinrichtungen) führen zu einer Negativspirale aus weiteren Abwertungsprozessen und Imageproblemen. Durch die Leerstände, den Funktionsverlust und die Wahrnehmung des Rückzugs öffentlicher Maßnahmen sowie die schlechten sozial-strukturellen Verhältnisse verschlechtern sich das Image und der Zustand der schrumpfenden Stadtquartiere. Die Segregation von Unterschichtangehörigen führt zu weiteren negativen Prozessen (vgl. Häußermann 2003: 150). Es entstehen soziale Milieus, in denen sich besonders bei Jugendlichen negative Lernprozesse festsetzen. Die soziale Stabilität der Quartiere ist gefährdet, da integrierte Gruppen fehlen. Anhand dieser Wirkungskette sollte festgestellt werden, ob die verschiedenen städtischen Entwicklungsprozesse (mono)kausal verbunden sind. Sie bildete somit auch die thematische Grundlage für die Interviews.
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Zur sozialen Infrastruktur
Noch mehr als der Wohnungsbestand sind in Westdeutschland in erster Linie die Einrichtungen der sozialen Infrastruktur von Bevölkerungsrückgängen betroffen.10 Darüber hinaus setzt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Ansprüchen die herkömmlichen Bedarfsplanungen in einem nicht unerheblichen Maße unter Druck. Die vormals oft rein quantitativen Verfahren der Bemessung werden den neuen Lebensentwürfen, dem sich zunehmend reduzierenden Quartiersbezug und der steigenden Individualmobilität oft nicht mehr gerecht. „Immer häufiger tritt Infrastruktur aus ihrer Rolle des Selbstverständlichen, aus ihrem Hintergrunddasein heraus und als politisches Handlungsfeld in den Blickpunkt.“ (BBR 2006c: III.)
Neben der Wohnbebauung sind vor allem auch die technischen und sozialen Infrastruktureinrichtungen von Bevölkerungsrückgängen betroffen. Das BBR stellte 2006 fest: „Stadtentwicklung ist zunehmend durch eine Gleichzeitigkeit und räumliche Nachbarschaft von Wachstum und Schrumpfung gekennzeichnet. (…) Große Unsicherheit besteht in diesem Zusammenhang im Umgang mit der sozialen und technischen Infrastruktur.“ (BBR 2006a: V.)
Ihren Stellenwert für die Entwicklung eines Raumes oder einer Gesellschaft unter gleichwertigen Bedingungen streichen Jochimsen et al. (1977: 38) deutlich heraus. Ihnen zufolge ist die Infrastruktur die „(…) Gesamtheit der materiellen, institutionellen und personellen Einrichtungen und Gegebenheiten, die der arbeitsteiligen Wirtschaft zur Verfügung stehen und dazu beitragen, dass gleiche Faktorenentgelte für gleiche Faktorenleistungen (…) bei zweckmäßiger Allokation der Ressourcen (…) gezahlt werden. Mit Infrastruktur werden somit die wachstums-, integrations- und versorgungsnotwendigen Basisfunktionen einer Gesamtwirtschaft umschrieben.“11 10 Überschüssige Wohnraumkapazitäten werden teilweise durch den ansteigenden Pro-KopfWohnflächenbedarf aufgefangen. So wird beispielsweise für Duisburg bis 2020 eine Zunahme der Pro-Kopf-Wohnfläche um 6 m2 auf 42 m2 prognostiziert (Auskunft Amt für Stadtentwicklung und Projektmanagement). Technische Infrastruktureinrichtungen müssen oder können aufgrund der diffusen Entleerungen oft (noch) nicht reduziert werden (siehe auch Bullinger 2002: 265). Zudem handelte es sich beim Infrastrukturrückbau in Ostdeutschland oft um die Anpassung systembedingter Überkapazitäten, d. h., es gab, bedingt durch die höhere Erwerbsquote von Frauen, vor allem im Bereich der Kleinkinderbetreuung und Ganztagesschulen wesentlich breiter ausgebaute Angebote, die durch die Transformation des Wirtschaftssystems, Arbeitslosigkeit etc. nicht mehr gebraucht wurden. In Westdeutschland waren diese Angebote vergleichsweise schlechter ausgebaut, u. a. eben wegen mangelnder Notwendigkeit (niedrigere Frauenerwerbsquote). 11 Das BBR definiert Infrastruktureinrichtungen folgendermaßen: „Infrastrukturen sind materielle Einrichtungen und Dienstleistungsangebote einer Region, die die Grundlage für die Wahr(Fortsetzung auf S. 76)
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Der Begriff der sozialen Infrastruktur ist nur unklar definiert. Nach Zapf (2005: 1025) ist er ein unpräziser Sammelbegriff für verschiedenste Einrichtungen, Leistungen und Dienste in den Kommunen. Eine brauchbarere Abgrenzung findet Schubert (1995: 847). Nach ihm ist „(…) soziale Infrastruktur (…) im engeren Sinne die Gesamtheit der örtlichen sowie regionalen Dienste und Einrichtungen, die der sozialen Versorgung der Bevölkerung dienen, im weiteren Sinne die Gesamtheit der Netze von Beziehungen und Abhängigkeiten, die die Grundlage für die Daseinsvorsorge im gesellschaftlichen Alltagsleben bildet.“
Neben Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten oder Beratungs- und Betreuungseinrichtungen werden teilweise auch Nahversorgungseinrichtungen, lokale Dienstleistungen, Gastronomie oder konfessionelle Angebote unter dem Begriff zusammengefasst. „[Die] Infrastruktur der sozialen Versorgungseinrichtungen und Dienste stellt Leistungen bereit, die für die gesellschaftliche Daseinsvorsorge benötigt werden, die in den informellen Beziehungsnetzen aber nicht (mehr) (…) erbracht werden können.“ (Schubert 1995: 848.)
Damit ordnet Schubert (ebd.) soziale Infrastruktur als öffentlichen und verrechtlichten Ersatz für Leistungen ein, die historisch innerhalb privater sozialer Netzwerke geschaffen wurden, aber aufgrund der sozialen Entwicklung durch ebendiese Einrichtungen substituiert worden sind. Die „Leistungen für die gesellschaftliche Daseinsvorsorge“ wurden häufig haushaltsintern erbracht, wurden im Rahmen des modernen Wohn- und Städtebaus jedoch aus der unmittelbaren Wohnung ausgelagert, was den einzelnen Haushalt einerseits entlastete, andererseits aber auch mittelbar von öffentlichen städtischen Strukturen abhängig macht: „Der Prozeß der Urbanisierung ist ein Prozeß der Entlastung der Haushalte von vielfältigen Arbeiten und Verpflichtungen. Man muß das Wasser nicht mehr vom Markt holen, (…) und die Alten, die Kranken und Kinder können in den entsprechenden Einrichtungen der sozialen Infrastruktur untergebracht werden. (…) Zugleich ist der Prozeß der Urbanisierung auch ein Prozeß der Enteignung. Dem Haushalt werden die räumlichen (…), technischen (…) und rechtlichen (…) Voraussetzungen für Eigenarbeit, Selbsthilfe und Selbstversorgung genommen. Er wird (…) eingebunden (…) in ein Geflecht von privaten und öffentlichen Versorgungs- und Entsorgungsapparaturen, die meist nur über Geldzahlungen zugänglich sind, was wiederum die Integration des Haushaltes in das System der Berufsarbeit und des Sozialstaates voraussetzt.“ (Häußermann/Siebel 2000b: 28)
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(Fortsetzung von S. 75) nehmung menschlicher Daseinsfunktionen (Wohnen, Arbeiten, Erholung, Verkehr, Kommunizieren usw.) bilden. Konkret handelt es sich z. B. um Ver- und Entsorgungseinrichtungen, Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsinfrastruktur sowie Einrichtungen des Gesundheits-, Bildungs-, Kultur- und Freizeitbereiches (soziale Infrastruktur). Es sind im Wesentlichen Einrichtungen und Dienstleistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge. Durch Privatisierung öffentlicher Aufgaben werden immer mehr auch privatwirtschaftlich betriebene Versorgungseinrichtungen einbezogen.“ (BBR 2006c: 21.)
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Somit ist soziale Infrastruktur einerseits als ein Element zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse anzusehen, ihre Entwicklung ist aber auch gleichbedeutend mit einer geringeren Haushaltsautonomie. Ferner sollen „soziale Infrastrukturen teilräumliche Disparitäten ausgleichen und dadurch soziale Benachteiligungen kompensieren“ können (Kühn 1983; in Schubert 1995: 848). Heil beschreibt die soziale Infrastruktur auch als „Angelpunkt aller Maßnahmen zur Vermeidung und Überwindung von Exklusion wie auch zur Verbesserung von Lebenschancen von Problemgruppen, Minderheiten und sozial Benachteiligten.“ (Heil 1993; in: Dahme 2001: 115.)
Auch Zapf (2005: 1026) konstatiert, dass „[…] über die Platzierung und Ausgestaltung sozialer Infrastruktur die Möglichkeit besteht, Segregation zu verfestigen als auch umgekehrt, Sozialstrukturen zu öffnen […]“, und dass „einem innerkommunalen Sozialgefälle durch Leistungen und Dienste der sozialen Infrastruktur entgegengewirkt werden [kann]“. Damit ergibt sich eine besondere Relevanz für benachteiligte Haushalte (Alleinerziehende, Arbeitslose, Mittellose). Sie sind besonders von sozialen Infrastrukturangeboten abhängig. Darüber hinaus wohnt bestimmten Einrichtungen und Angeboten auch ein identitätsstiftendes Potenzial inne. Schulen, Kindergärten, Quartierstreffpunkte und Kulturzentren sind Kristallisations- und Kommunikationspunkte, die je nach Angebot zwar ganz spezifische Bevölkerungs- bzw. NutzerInnengruppen ansprechen, aber darüber hinaus auch Impulse in das Wohnumfeld ausstrahlen und somit zur Funktionsdurchmischung des Quartiers beitragen. Dies ist ein Punkt der auch in den aktuellen Diskursen um urbane Nachhaltigkeit immer zentraler für die Funktionsweisen von Quartieren wird.12 Konkretisieren lässt sich dieses Paradigma an der Perspektive einer um Geschlechtergerechtigkeit bemühten Planungskritik, von der immer wieder auf die Notwendigkeit kleinräumiger und differenzierter Strukturen hingewiesen wird, um beispielsweise die Reproduktionsarbeit zu vereinfachen und aufzuwerten (vgl. Hayden 2003, Becker 2004). Dabei nehmen auch die Probleme für eine nachhaltige Bedarfsplanung zu. Sie gerät zunehmend unter den Druck der sich ausdifferenzierenden sozialen Verhältnisse, sodass quantitative Ansätze nicht (mehr) als sinnvoll erscheinen und beispielsweise durch zunehmende Mobilität konterkariert werden. Auch die Aufhebung kommunal definierter Einzugsbereiche, wie die der Schulbezirke in NordrheinWestfalen, ermöglicht zwar einerseits eine flexiblere Nutzung durch die Bevölkerung, erschwert aber auch die mittel- und langfristige Strukturplanung. 12
Beispielsweise in den Programmen zur „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ in Deutschland. Auch aus Dokumenten wie der Aalborg Charta oder Leipzig Charta lässt sich das Paradigma der funktionsgemischten Quartiere als Gegenentwurf zur städtischen Funktionstrennung der Charta von Athen interpretieren. So sind es auch die kleinteiligen und funktional gemischten Quartiere wie Freiburg-Rieselfeld oder das Französische Viertel in Tübingen, welche als besonders nachhaltig dokumentiert (vgl. www.werkstatt-stadt.de) oder untersucht (Manderscheid 2004, Feldtkeller 2001) werden.
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Aufgrund der diffusen Entleerungen führen die gesamtstädtischen Schrumpfungen im Falle einer Einrichtungsschließung dann zu einer quartiersbezogenen Manifestation der städtischen Gesamtproblematik, eine ortsgebundene Notwendigkeit zur Schließung besteht nicht in allen Fällen.
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Ergebnisse
Nach Analyse der Untersuchungen und Interviews muss festgestellt werden, dass zwar alle untersuchten Stadtteile die spezifischen, oben genannten Schrumpfungsfaktoren erfüllen und unter teilweise erheblichen strukturellen Problemen leiden, aber vor allem die lokalen Experten nur wenige Aussagen zum konkreten Rückbau sozialer Infrastrukturen machen konnten bzw. Probleme hatten, die Auswirkungen des Rückbaus greifbar zu formulieren. Obschon die Problemlage natürlich bekannt ist,13 konnte sie für einzelne quartiersspezifische Prozesse nicht konkretisiert werden. Die Gründe dafür liegen vor allem im Mangel entsprechender Basisdaten und Indikatoren. Die Städte verfügen nicht über die notwendigen Kapazitäten, um derartige spezielle und qualitative Daten zu erheben, oder sie stehen noch am Beginn ihrer konzeptionellen Arbeit, da im Rahmen der integrierten Konzepte erst wenige Einrichtungen geschlossen worden sind und entsprechende Indikatoren für die Konsequenzen (noch) fehlen. Aufgrund der langen Schrumpfungsphase, fanden viele Schließungen schon in den 1970er- oder 1980er-Jahren statt, in der Regel unspezifisch. Durch Umstrukturierungen in der Verwaltung sind jedoch Dokumentationen und Fachwissen verloren gegangen bzw. können nicht mehr abgerufen werden. Die mittlerweile stattfindenden Interventionen begegnen also vor allem auch den funktionellen Defiziten der vergangenen, nicht genau dokumentierten Infrastrukturanpassungen. Die zwei wissenschaftlichen Experten Fuhrich und Gertz waren eher in der Lage, die Auswirkungen des Rückbaus zu abstrahieren, wiesen aber auch gleichzeitig auf die Kontextbezogenheit und die spezifischen Eigenarten der sehr differenzierten Angebote hin (Niermann 2007: 95ff.). Die hypothetische Wirkungskette konnte in ihrer Kausalität also nicht eindeutig bestätigt worden. Dennoch haben sich im Rahmen der Untersuchung der Fallstudien auch im Hinblick auf die Wirkungskette einige interessante Perspektiven ergeben. Beispielsweise ist es schwierig, die Konsolidierungsprozesse im Infrastrukturbereich auf die eingangs genannten Ursachen für den Bevölkerungsrückgang zurückzu13
Alle untersuchten Quartiere waren zum Zeitpunkt der Untersuchung Teil programmatischer Interventionen zur Aufwertung der Stadträume („Soziale Stadt“, „Stadtquartiere im Umbruch“ oder „Stadtumbau West“) bzw. der Antrag zur Teilnahme an ebendiesen Programmen wurde vorbereitet.
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führen. Auch hier ergibt sich eine multivariate Problemsituation. Häußermann (2003: 155) sieht die Problematik der Analyse solcher Prozesse in der „Simultanität der Wirkung verschiedener Effekte“. Somit wird eine Messung der Auswirkungen einer Infrastrukturausdünnung im sozialen Bereich schwierig und könnte maximal durch aufwendigere qualitative Methoden für einen lokalen Bereich eruiert werden.14 Oftmals spielen beispielsweise Änderungen in der Sozialstruktur (Angebotsrückgang durch gesellschaftliche Differenzierung im Sinne eines Nachfragerückgangs oder -wandels) oder die Planungen freier Infrastrukturanbieter (Vereine, Stiftungen, kirchliche Einrichtungen) eine entscheidende Rolle. So haben gerade die massiven Einschnitte in die kirchlichen Haushalte und die damit einhergehenden Kirchenschließungen und Gemeindezusammenlegungen zu einem Abbau von kirchlicher Sozialinfrastruktur in Quartieren geführt. Die städtischen Schließungen ergeben sich in der Regel aufgrund von Überkapazitäten oder fiskalischen Drucks. Das betrifft aber nur „freiwillige“ Angebote der Kommunen, da der Bereich der gesetzlich geregelten Angebote aufrechterhalten werden muss. Quantitativ wird es also keine Unterversorgung geben dürfen. Dennoch wird sich die Ausstattung einzelner Infrastruktur-Segmente zentralisieren (v. a. Bildungseinrichtungen wie Schulen oder Bibliotheken), da eine dezentrale und wohnortnahe Versorgung für einzelne Angebote nicht mehr leistbar sein wird. Damit ist zunächst einmal die Vergrößerung der Einzugsbereiche verbunden und in deren Folge die Notwendigkeit gesteigerter Mobilität. Der Experte Gertz (Niermann 2007: 98) weist darauf hin, dass deren Folgen oft nicht genug bedacht werden. So können z. B. bei Schulschließungen Mehrkosten in der Schülerbeförderung entstehen, die wiederum die öffentlichen Kassen belasten. Die Fallbeispiele Wuppertal und Duisburg, haben gezeigt, dass es aufgrund der westdeutschen Schrumpfungsverortung in den Einfamilienhaus-Gebieten in städtischen Randlagen zukünftig zu Problemen kommen wird. Solche oft monostrukturierten Lagen werden durch Überalterung und Abwanderung („empty nests“) ebenfalls zu Entleerungsgebieten avancieren. Diese werden vermutlich aufgrund der eher mittelschichtorientierteren Sozialstruktur besser mit einem Weniger an Versorgung umgehen können, da hier in der Regel Menschen wohnen, die über verhältnismäßig unproblematische Zugänge zur (Auto-)Mobilität verfügen, wohlhabender sind und in der Regel auch über ein höheres Sozialkapital verfügen.15 14
Sinnvoller als punktuelle Expertengespräche wäre zur Validierung einer derartigen quartiersbezogenen Entwicklung eher eine umfassende Sozialraumanalyse als Verlaufsstudie. 15 Bourdieu (2005: 164) formuliert diese Problematik folgendermaßen: „Das Kapital erlaubt es, unerwünschte Personen oder Sachen auf Distanz zu halten und zugleich sich den (gerade hinsichtlich ihrer Verfügung über Kapital) erwünschten Personen und Sachen zu nähern. […] Umgekehrt werden aber die Kapitallosen gegenüber den gesellschaftlich begehrtesten Gütern, sei es physisch, sei es symbolisch, auf Distanz gehalten. Sie sind dazu verdammt, mit den am wenigsten begehrten Menschen und Gütern Tür an Tür zu leben. Mangel an Kapital verstärkt die Erfahrung der Begrenztheit: er kettet an einen Ort.“
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Entsprechend werden in Wuppertal die problematischen Entleerungsviertel im Talbereich zuungunsten der randlagigen Familienhausgebiete gestärkt, indem gerade dort die (Bildungs-)Standorte und die Betreuung durch entsprechende Programme aufgewertet werden, sodass hier mittelfristig eine Intervention bezüglich der in der Wirkungskette unterstellten Effekte stattfinden könnte. Als zentraler und offensichtlichster Effekt der Konsolidierungsprozesse wurde vor allem die „erzwungene Mobilität“ gesehen, welcher sich solche BewohnerInnen ausgesetzt sehen, in deren Wohnnahraum entsprechend benötigte Einrichtungen geschlossen wurden. Die Vergrößerung der Distanz zur nächsten benötigten Einrichtung stellt, laut dem Experten Fuhrich, besonders bei „zwanghaft Sesshaften“ ohne finanzielle oder infrastrukturelle Möglichkeiten (individueller) Mobilität eine Benachteiligung dar (vgl. Niermann 2007: 100). Dies trifft vor allem bei solchen Veränderungen zu, die Versorgungsangebote in autoorientierte (Rand-)Lagen verlegen. So sind es auch die kommerziellen Versorgungsangebote (Post, Banken, Einzelhandel), die sich zuerst aus den Quartieren zurückziehen. Obwohl diese Angebote keine sozialen Infrastrukturen im klassischen Sinne darstellen, sind sie relevante Begegnungspunkte und erweitern das Feld der alltäglichen (Begegnungs-)Möglichkeiten im Quartier. So entsteht durch die Schließung von Versorgungseinrichtungen eine indirekte Benachteiligung immobiler Bevölkerungsgruppen (hauptsächlich ältere Menschen, sozial Benachteiligte, Hausfrauen, MigrantInnen), die eine höhere Nutzungsquote von sozialen Infrastruktureinrichtungen aufweisen und somit auch sensibler auf die Angebotsausdünnung reagieren. Rommelspacher (1992: 159) weist auf die Stadtteilgebundenheit benachteiligter Bevölkerungsgruppen hin und merkt zusätzlich an, dass Unterschichtgebiete in der Stadtplanung lange Zeit latent vernachlässigt wurden und der Abbau von sozialer Infrastruktur die Probleme solcher Viertel zusätzlich verschärft hat. Letztendlich ist allerdings festzustellen, dass die funktionale Entleerung benachteiligter Viertel nur ein Teilsegment der Benachteiligung darstellt (z. B. neben der städtebaulichen Lage und Situation oder der Sozialstruktur). Rein funktional muss eine Schließung nicht immer einen Angebotsmangel begründen. Wenn NutzerInnen im Quartier fehlen, ist der Rückbau unproblematisch. Jedoch kann die Bestandsgefährdung bzw. die Schließung eines Infrastrukturangebots auch Ausdruck motivierter oder mangelnder politischer Artikulationsfähigkeiten sein. So wurde aufgrund gesamtstädtischer Prozesse eine eher bestandsgefährdete Bildungseinrichtung in einem Wohngebiet der Mittelschicht zuungunsten einer eigentlich bestandsfesten Einrichtung geschlossen, die sich in einem Quartier befand, dessen vornehmlich migrantisch geprägtes Milieu nicht in vergleichbarem Maß an der Entscheidungsfindung der Stadtpolitik partizipieren konnte (vgl. Niermann 2007: 103). Als wichtig wird auch der Verlust von Identifikationspotenzialen bewertet, welcher mit der Schließung von Schulen, Kindergärten etc. einhergeht, die auch als soziale und kulturelle Mittelpunkte von Quartieren dienen können. Unter anderem
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dadurch fehlen einigen Stadtvierteln, beispielsweise in Duisburg, jegliche Alleinstellungsmerkmale gegenüber anderen Stadtteilen. Je nach politischer Artikulationsfähigkeit der Betroffenen wird die Relevanz solcher Einrichtungen für einen Quartiersbezug am bürgerschaftlichen Engagement sichtbar, welches sich oft regt, wenn eine Einrichtung für die Schließung zur Disposition steht. Gerade für Quartiere in Abseitslagen ergeben sich damit Bezugsverluste und eine Ereignislosigkeit, sodass sich außer der Wohnfunktion keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und Nahversorgung mehr ergeben. Dies führt langfristig zu einer geringeren Wohnzufriedenheit. Gleichwohl hat der Vergleich mit der ostdeutschen Situation gezeigt, dass sich beispielsweise Schulen oder Kindergärten noch bis zu einer Auslastung von 40% rentabel führen lassen. Hier sind die Anpassungsspielräume z. B. durch flexible Personalpolitik größer als bei technischen Versorgungseinrichtungen. Kommt es jedoch zu einer völligen Schließung sozialer Einrichtungen, ist dies im Vergleich zum Rückbau technischer Infrastrukturen im Stadtbild wesentlich deutlicher wahrzunehmen und wird, laut Fuhrich, oft als Beginn eines „Countdowns“ zur Aufgabe eines Gebietes empfunden (Niermann 2007: 104).
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Fazit
Letztendlich muss man aus den Ergebnissen der Expertenbefragung ableiten, dass für Westdeutschland keine klare, (mono-)kausale Korrelation zwischen Bevölkerungsrückgang, Infrastrukturrückbau und negativen Entwicklungsprozessen für das Quartier nachweisbar ist. Aufgrund der diffusen und verteilten Entleerungen gibt es zudem keine eindeutige schrumpfungsinduzierte Notwendigkeit, Infrastruktur an bestimmten Orten zu schließen. Andererseits kann die Infrastrukturschließung indirekt, über den Umweg der ungleich verteilten Alternativen zur Raumerschließung bzw. Mobilität, zur Verschärfung städtischer Ungleichheiten beitragen. Dies natürlich nur, wenn Infrastrukturen mit einem gewissen Quartiersbezug geschlossen werden, obwohl noch potenzielle NutzerInnen vorhanden sind. Vor allem der Experte Fuhrich stellte heraus, dass sich die Auswirkungen einer Infrastrukturausdünnung nicht pauschalisieren lassen, da sich der Quartiersbezug von Einrichtungen und Menschen immer mehr auflöst (vgl. Niermann 2007: 100). Das heißt, Netzwerke und Alltagsroutinen gehen über den „Container“ des Quartiers hinaus und orientieren sich eher an Mobilitätspfaden oder an den persönlichen Präferenzen der Bewohner als an der räumlichen Nähe.16 In Hinsicht auf die Alterung der Gesellschaft und die damit zumindest teilweise einhergehende Immobilität ist jedoch gleichwohl zu vermuten, dass sich das infrastrukturelle Angebot zukünftig bedarfsgemäß ändern könnte, sodass sich (vor allem 16
So entstehen regelrechte Vermeidungsstrategien z. B. hinsichtlich der Nutzung bestimmter Betreuungseinrichtungen aufgrund eines hohen Anteils von Migrantenkindern.
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für ein zahlungsfähiges Klientel) verstärkt mobile Substitute für ortsfeste Infrastrukturdienstleistungen ergeben werden (mobile Betreuung, Essen auf Rädern etc.). Vor dem Hintergrund der sich ändernden Anforderungen an die Infrastruktur im sozialen Bereich aufgrund der fortschreitenden gesellschaftlichen Individualisierung muss eine neue Infrastrukturausstattung bedarfsnäher, flexibler und differenzierter sein. Dazu müssen multifunktionale Räumlichkeiten und Organisationsformen entstehen und auch das Bewusstsein für bürgerschaftliche Trägerschaften und ziviles Engagement gestärkt werden, welches vor dem Hintergrund einer ebenfalls rückläufigen Sozialstaatlichkeit zukünftig eine größere Rolle spielen wird.17 Auch zeigen verschiedenste Arten sogenannter „Neuer Wohnformen“ als gemeinschaftliche Wohnprojekte wieder eine Tendenz, (soziale) Infrastrukturen zurück ins Haus zu holen, selbst zu verwalten, zwischen den Bewohnern zu teilen und, im Idealfall, der Quartiersgesellschaft zu öffnen.18 Diesen neuen Infrastrukturräumen könnte aufgrund ihrer breiteren Nutzeradressierung durch verschiedenste Angebote auch ein Identifikations- und Integrationsfaktor innewohnen. Wichtig ist, dass sich die Nutzung vor dem Hintergrund sich stetig wandelnder gesellschaftlicher Ansprüche kurzfristig ändern lässt. Die Aktualität des Themas spiegelt sich nach wie vor in der Vielzahl von Forschungsprojekten mit unterschiedlichen Schwerpunkten in diesem Bereich wider (z. B. ExWoSt-Projekt Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere, Stadtquartiere im Umbruch). Im Rahmen der Bundes- und Landesmittel sind die Kommunen erstmals in der Lage, die Infrastruktursituation kooperativ zu analysieren und mittels der Integrierten Städtischen Entwicklungskonzepte (ISEK) ggf. zu verbessern, obwohl sie keine eigenen Ressourcen dazu besitzen. Erstmals besteht dabei die Möglichkeit der umfassenden Vernetzung einzelner Fachressorts und teilweise sogar nichtkommunaler Infrastrukturträger. Gleichwohl gibt es für andere relevante Bereiche, wie die Nahversorgung im Quartier, nur sehr geringe und indirekte Möglichkeiten der Steuerung durch die öffentliche Hand, was vor allem von den Duisburger Experten bedauert wird (vgl. Niermann 2007: 73). Für die weitere Ausstattung mit Wohnfolgeeinrichtungen ist zumindest über die integrierten (Rückbau-)Konzepte ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Thema entstanden, die über reine Kostenfragen hinausgeht. Dies ist umso wichtiger, als die Kenntnis über die Ausstattung der Stadtteile mit sozial-infrastrukturellen Angeboten ein wichtiges Analyseinstrument zur Bewertung qualitativer und nachhaltiger städtischer Strukturen sein kann, um mittelund langfristig Funktionsverluste in Vierteln sowie Benachteiligungen zu erkennen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlen vielen Städten jedoch noch ausreichende In17 Fallbeispiele für neue Arten quartiersbezogener sozialer Infrastrukturen wurden im Rahmen des ExWoSt-Forschungsfeldes „Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere“ evaluiert (vgl. BBR 2008). 18 Zwei gut integrierte Projekte wären zum Beispiel die Sargfabrik in Wien oder das Kraftwerk 1 in Zürich.
Stadtumbau West – Auswirkungen des Rückbaus sozialer Infrastrukturen
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formationen. Die im Rahmen von Fallstudien und Einzelprojekten erprobten integrierten Stadtentwicklungskonzepte müssen in der Folge als Methode zur Entwicklung tragfähiger und nachhaltiger städtischer Strukturen noch eine größere Verbreitung finden. Literatur Bourdieu, Pierre (2005): Ortseffekte. In: Bourdieu, Pierre; Schultheis, Franz; Balazs, Gabrielle (Hg.): Das Elend der Welt. Gekürzte Studienausgabe. Konstanz: UVK. 159–167. Becker, Ruth (2004): Raum: Feministische Kritik an Stadt und Raum. In: Becker, Ruth; Kortendiek, Beate; Budrich, Barbara; Lenz, Ilse (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 1. Aufl. Wiesbaden: Verl. für Sozialwiss. 652–664. Bullinger, Dieter (2002): Schrumpfende Städte und leere Wohnungen. Ein neues Phänomen und der Trend der Zukunft nicht nur in Ostdeutschland. In: Raumforschung und Raumordnung H. 3–4 (2002). Bonn. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2008): Gemeinschaftseinrichtungen im Quartier. In: Werkstatt: Praxis H. 60. Bonn. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2006a): Stadtquartiere im Umbruch. In: Werkstatt: Praxis H. 42. Bonn. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2006b): LebensRäume. Wohn- und Lebensbedingungen aus Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner. In: Berichte Bd. 24. Bonn. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (2006c): Zukunft städtischer Infrastruktur. In: Informationen zur Raumentwicklung H. 5/2006. Bonn. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (2005): Programme der Städtebauförderung. Merkblatt über die Finanzhilfen des Bundes. Berlin. Dahme, Heinz J. (2001): Zum Wandel von Gesundheitsförderung und sozialer Infrastruktur im Lichte einer sich ändernden Sozialstaatlichkeit. In: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes NRW (ILS): Stadt macht Zukunft. Neue Impulse für eine nachhaltige Infrastrukturpolitik. H. 170. Dortmund. Danielzyk, Rainer (2003): Stadtentwicklung in Nordrhein-Westfalen zwischen Wachstum und Schrumpfung. In: Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes NRW (ILS): Stadtentwicklung zwischen Wachstum und Schrumpfung. Werkstattgespräche H. 188. Dortmund. Duisburg (2006): Abschlussbericht „Stadtumbau in Duisburg“. Gesamtstädtisches Entwicklungskonzept. Duisburg. Feldtkeller, Andreas (Hg.) (2001): Städtebau: Vielfalt und Integration. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt. Fuhrich, Manfred; Kaltenbrunner, Robert (2005): Der Osten – jetzt auch im Westen? Gedanken zu den Besonderheiten und Gemeinsamkeiten zweier ungleicher Geschwister: Stadtumbau-West und Stadtumbau-Ost. In: Berliner Debatte Initial 16 (2005) 6. Berlin. 41–54. Gatzweiler, Hans-Peter; Meyer, Katrin; Milbert, Antonia (2003): Schrumpfende Städte in Deutschland? Fakten und Trends. In: Informationen zur Raumentwicklung H. 10/11.2003. Bonn. 557–574. Häußermann, Hartmut (2003): Die Armut in der Großstadt. Die Stadtstruktur verstärkt die soziale Ungleichheit. In: Informationen zur Raumentwicklung H. 3/4. Bonn. 147–159. Häußermann, Hartmut; Kapphan, Andreas (2002): Berlin: von der geteilten zur gespaltenen Stadt? Sozialräumlicher Wandel seit 1990. Opladen: VS Verlag.
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Von A wie Abriss bis Z wie Zwischennutzung – Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn Nico Grunze
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Einleitung
Die ostdeutschen Großwohnsiedlungen stellen nach wie vor wichtige Bestände auf dem Wohnungsmarkt und dennoch sind sie seit der politischen Wende im Jahr 1989 von tief greifenden Umbrüchen geprägt. Das Image der Neubaugebiete verkehrte sich bereits kurz nach dem Mauerfall vom bevorzugten Wohnstandort zur städtebaulich monotonen und sozial problematischen Stadtrandsiedlung (Liebmann 2010: 5). Ab Mitte der 1990er-Jahre setzten rasante Abwanderungen ein, die sich in einer stetig steigenden Anzahl leer stehender Wohnungen manifestierten. Die Auswirkungen gingen weder an den verbleibenden Bewohnern noch an der Wohnungswirtschaft spurlos vorüber. Als Reaktion auf die anhaltende Negativentwicklung legte die Bundesregierung im Jahr 2001 das städtebauliche Förderprogramm „Stadtumbau Ost“ auf. Somit stehen seit nunmehr fast zehn Jahren die Großwohnsiedlungen im Kontext des Wohnungsrückbaus der Plattenbaubestände im Fokus stadtentwicklungspolitischer Debatten. Eine vom Abriss dominierte Diskussion greift langfristig zu kurz, denn es bedarf neben Rückbaumaßnahmen und oft einfach erscheinenden Aufwertungsformen einer intensiven Auseinandersetzung mit Fragen zur angemessenen Qualifizierung der Wohngebiete. Die Chancen des Schrumpfens bzw. der Anpassung bestehen darin, die notwendigen Maßnahmen im Rahmen des Stadtumbaus enger mit den zu erwartenden bewohnerstrukturellen Veränderungen zu verzahnen. Das zukünftige Schicksal der ostdeutschen Großwohnsiedlungen ist untrennbar mit den Folgen der demografischen Entwicklung verknüpft. Trotz individueller Ausprägungen zentraler Merkmale, wie städtebauliche Strukturen oder Lage innerhalb eines Stadtgebiets, sind in den Großwohnsiedlungen vor allem durch die Alterung der Bewohner vergleichbare Entwicklungen zu erwarten. Die Wohngebiete zeichnen sich aufgrund der Haushaltsstruktur der Erstbezieher bis heute durch eine relativ homogene Altersstruktur aus (Lüdtke 2008: 21). Denn dem Leitbild der sozialistischen Kleinfamilie folgend wurden junge Familien mit Kindern bei der Zuweisung des Wohnraums bevorzugt. Die Ausstattung der Großwohnsiedlungen war dementsprechend angelegt und von einer Vielzahl sozialistischer Wohnkomplexe und damit einem engen Netz von sozialen Infrastruktureinrichtungen geprägt.
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Für die Betrachtung der gegenwärtigen Situation ist entscheidend, dass parallel zum Alter der Neubaugebiete gleichzeitig das durchschnittliche Alter von Eltern und Kindern stieg (Hannemann 2000: 100). Viele der damaligen Kinder und Jugendlichen haben zudem die Siedlungen aus verschiedenen Motiven verlassen. Folglich führte die typische Altersstruktur dieser Wohngebiete dazu, dass die Anzahl von Kindern und Jugendlichen in den Großwohnsiedlungen nach 25 Jahren deutlich zurückging. Angesichts dieser vielerorts beobachteten Entwicklung ist zu erahnen, welch weitreichende Folgen für die soziale Infrastrukturausstattung in demografisch homogenen Quartieren entstehen können. Am Fallbeispiel der Großwohnsiedlung Marzahn wird gezeigt, wie tief greifend sich das Phänomen einer demografischen Welle auf den Bedarf der sozialen Infrastruktur auswirkt.1 Im Anschluss an eine rein deskriptive Ursachenanalyse schließen sich Ausführungen zu den Effekten und den angestrebten Handlungsstrategien der Stadtentwicklung an. Der Beitrag versucht im ersten Teil zu zeigen, wie stark sich eine altershomogene Bewohnerstruktur auf Wohnquartiere auswirken kann. Innerhalb weniger Jahre kann sich der Bedarf von sozialen Infrastruktureinrichtungen grundlegend ändern, was sich durch Rückbau oder Neubau auch in der bis dahin monotonen städtebaulichen Struktur einer Großwohnsiedlung widerspiegelt. In Marzahn war der umfangreiche Abriss von sozialen Infrastruktureinrichtungen innerhalb weniger Jahre unabwendbar. Im Umgang mit den offenen Flächen wurden mit großem Einsatz Strategien von Zwischennutzungen erprobt. Die Potenziale und Hemmnisse dieser Vorgehensweise werden im zweiten Teil vorgestellt. 2
Die Großwohnsiedlung Marzahn
Die Großwohnsiedlung Marzahn liegt im Nordosten von Berlin an der Grenze zum Land Brandenburg und ist mit rund 60.000 Wohneinheiten sowie circa 360 Gesellschaftsbauten das größte Neubaugebiet Deutschlands in Plattenbauweise (Häußermann & Kapphan 2002: 164). Im Zuge des Wohnungsbauprogramms der DDR wurde die Siedlung auf ehemals landwirtschaftlichen Flächen und Rieselfeldern im Zeitraum von 1977 bis zur Wende 1989 errichtet (Fritsche & Lang 2007: 16). Der Baufortschritt vollzog sich von der sogenannten Südspitze als südlichstem Wohngebiet bis an die Gemeindegrenze des Ortes Ahrensfelde im Norden. Dementsprechend befinden sich im Süden die als erstes fertiggestellten und damit sowohl städtebaulich als auch demografisch ältesten Bereiche der Großwohnsiedlung Marzahn. Diesem Ablauf folgend lassen sich in der Großwohnsiedlung die Abschnitte Marzahn/Süd, Marzahn/Mitte und Marzahn/Nord unterscheiden. 1 Die vorgestellten Entwicklungen basieren grundlegend auf Diplomarbeitsergebnissen aus dem Jahr 2007 am Geografischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Prozess wurde vom Autor in den vergangenen zwei Jahren weiter beobachtet und 2009 erneut durch eine Kartierung analysiert.
Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn
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Im Jahr 1978 waren die ersten Häuser bezugsfertig und die Wohnungen wurden an ihre Mieter übergeben (BA Marzahn 1999: 9). Ab 1979 stieg die Einwohnerzahl mit dem Baufortschritt stetig an, bis sie sich Mitte der 1980er-Jahre auf dem Niveau von circa 170.000 Einwohnern stabilisierte. Wie in Abbildung 1 dargestellt, setzte bereits Anfang der 1990er-Jahre in der Großwohnsiedlung ein bis dahin ungewohnter Prozess ein: Die Bewohner verließen die Neubaugebiete und die Einwohnerentwicklung ist seitdem durch stetige Fortzüge gekennzeichnet. Im Jahr 2007 lag die Einwohnerzahl in der Großwohnsiedlung Marzahn erstmals unter 100.000 Einwohner.
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Abbildung 1: Die Entwicklung der Einwohnerzahl in der Großwohnsiedlung Marzahn zwischen 1992 und 2008 Quelle: StaLa 1992–2008
Für die Bedarfsentwicklung von sozialen Infrastruktureinrichtungen ist neben der allgemeinen Einwohnerentwicklung vor allem die Bewohnerstruktur entscheidend. Die Großwohnsiedlungen zeichnen sich durch eine homogene Altersstruktur aus. Das ist mit der demografischen Zusammensetzung der Erstbezieher zu erklären, unter denen junge Familien dominierten, welche von der staatlich geregelten Wohnungsvergabepolitik in der DDR profitierten. Neben Arbeitern oder Personen mit gesellschaftlichen Verdiensten waren es v. a. diese jungen Familien, die auf der Grundlage der Richtlinien für die Kommunale Wohnungsverwaltung (KWV) bei der Vergabe bedacht wurden (Häußermann & Siebel 2000: 173). Die familienorientierte Politik spiegelte sich zudem im Zuschnitt der Wohnungen und in der Ausstattung der Wohnkomplexe mit Infrastruktureinrichtungen in unmittelbarer Nachbarschaft wider (Bauakademie der DDR 1979: 153ff.). Mit dem anhaltenden Bezug der Neubaugebiete durch überwiegend junge Familien stieg auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen. Dieser Verlauf ist in Abbildung 2 exemplarisch anhand der Entwicklung der Schülerzahlen im Bezirk Marzahn in den vergangenen 30 Jahren dargestellt. Abbildung 2 illustriert idealtypisch die
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Abbildung 2: Entwicklung der Schülerzahlen im Bezirk Marzahn in den Jahren 1978 bis 2008 Quelle: SenBWF 2008
wellenförmige demografische Entwicklung in ostdeutschen Großwohnsiedlungen. Waren im Jahr 1978 nur knapp 550 Schüler im Bezirk Marzahn angemeldet, so nahm die Schülerzahl binnen weniger Jahre deutlich zu und stieg bis Mitte der 1980er-Jahre auf über 30.000. Über einen Zeitraum von zehn Jahren stabilisierten sich die Zahlen auf einem durchschnittlichen Niveau von über 30.000 Schülern. Schon ab Mitte der 1990er-Jahre stellten sich die ersten merklichen Rückgänge in den Anmeldezahlen ein. Die Rückgänge vollzogen sich in einem vergleichbaren Tempo und einer ähnlichen Dynamik wie wenige Jahre zuvor der Anstieg. Innerhalb von zehn Jahren reduzierten sich die Schülerzahlen um fast zwei Drittel. In Abhängigkeit von der Anzahl der Kinder und Jugendlichen variiert der Bedarf an sozialen Infrastruktureinrichtungen2 wie Kinderkombinationen3 und Schulen. 2 Unter dem Begriff der sozialen Infrastruktur ist eine Vielzahl verschiedener Einrichtungen zusammengefasst (Zapf 2005: 1025). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass sich der vorliegende Beitrag mit den Sozialeinrichtungen für bestimmte Altersklassen (Kinderkombinationen) und den Sozialeinrichtungen des Bildungswesens (Schulen) nur auf eine Auswahl von sozialen Infrastruktureinrichtungen konzentriert. Das Leerfallen dieser Einrichtungen ist auf die Folgen der demografischen Entwicklung und der Abwanderung von Einwohnern zurückzuführen. Andere soziale Infrastruktureinrichtungen, wie Altenheime, sogenannte Dienstleistungswürfel oder Kinderheime, schlossen nicht aufgrund eines sinkenden Bedarfs infolge des Bevölkerungsrückgangs, sondern weil dort zum Beispiel bauliche Mängel oder Ausstattungsdefizite dazu führten, dass ein Rückbau vorgenommen werden musste. Insofern unterscheiden sich die Ursachen des Leerstands deutlich voneinander, sodass diese sozialen Infrastrukturtypen in der vorliegenden Arbeit eine untergeordnete Rolle einnehmen. 3 Die sogenannte Kinderkombination war die in der DDR übliche Form der Tageseinrichtungen für Kinder bis zum Eintritt in das Schulalter. Unter dem Begriff ist die Kombination von (Fortsetzung auf S. 89)
Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn
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Während zu Beginn der 1980er-Jahre die Räumlichkeiten der Kinderkombinationen nicht ausreichten und in Schulgebäude ausgewichen werden musste, kehrte sich diese Situation später binnen weniger Jahre um. Bereits zu Beginn der 1990er-Jahre war die Schülerzahl so hoch, dass der Bau ergänzender Schulgebäude, sogenannter mobiler Unterrichtseinheiten, unumgänglich wurde. Mit dem Älterwerden der Kinder und Jugendlichen der Großwohnsiedlung verringerte sich sukzessiv der Bedarf an entsprechenden sozialen Infrastruktureinrichtungen. In diesem Zusammenhang wird davon gesprochen, dass die Generation von Kindern und Jugendlichen „durchgewachsen“4 ist. Die demografische Struktur und der wendebedingte Geburtenknick führten zu einem stark sinkenden Bedarf an sozialer Infrastruktur. Dieser Prozess mündete schlussendlich in der Schließung zahlreicher Einrichtungen. So wurde der veränderte Bedarf in den Quartieren mehr und mehr durch leer stehende sowie verwahrloste Gebäude wahrnehmbar. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, wurden zunächst Umnutzungskonzepte für die Gebäude erarbeitet. An einigen Standorten führten solche Ansätze zu attraktiven Lösungen, zum Beispiel dem Bürgerhaus in Marzahn Süd. Allerdings blieben diese Umnutzungen in Berlin eher Einzelfälle, denn in einem Gutachten wurde die statische Tragfähigkeit der Decken in den Kinderkombinationen beanstandet (Plattform Marzahn 2000: 9). Damit wäre häufig eine bauliche Veränderung notwendig gewesen, die so hohe Kosten verursacht hätte, dass eine Umnutzung völlig unrentabel gewesen wäre. Die ehemaligen sozialen Infrastruktureinrichtungen blieben damit überwiegend ohne Nutzung und verwahrlosten, was wiederum negative Effekte für das Wohnumfeld zur Folge haben konnte (Beer 2002: 53, Kabisch 2002: 51). In den Verwaltungen stieg der Handlungsdruck, denn sie befanden sich in dem Dilemma, zum einen ein möglichst dichtes Netz an Einrichtungen zu erhalten und zum anderen den dringend erforderlichen Rückbau anzugehen. Im Rahmen einer verwaltungsinternen Arbeitsgruppe und auf der Grundlage verschiedener Konzepte wurde darüber entschieden, welche Standorte zu erhalten bzw. abzureißen waren. Insgesamt sind über 70 soziale Infrastruktureinrichtungen aus der regulären Nutzung gefallen, wovon der überwiegende Teil bereits rückgebaut ist. Der Rückbauprozess von nicht mehr benötigten Gebäuden begann vereinzelt bereits Ende der 1990er-Jahre in Marzahn Nord. Die finanzielle Grundlage für die umfangreichen Abrissmaßnahmen wurde aber erst 2002 mit einer Verwaltungsvereinbarung des Bundes geschaffen. Damit war es dem Land Berlin gestattet, den Rückbau von sozialen Infrastruktureinrichtungen mit Mitteln aus dem Förderprogramm Stadtumbau Ost zu finanzieren (BMVBW 2002). 3
(Fortsetzung von S. 88) Kinderkrippe und Kindergarten in einem Gebäude zu verstehen (Gohrbandt & Weiss 2002: 24). Zwar befanden sich beide Einrichtungen unter einem Dach und die Versorgung der Kinder erfolgte zentral aus dem Versorgungstrakt, aber Organisation und Buchhaltung wurde in beiden Einheiten separat erledigt (Lehmann 1979: 5). 4 Der Begriff „Durchwachsen“ dient der Beschreibung des Prozesses der kollektiven Alterung ähnlicher Jahrgänge in einer Großwohnsiedlung (vgl. BA Marzahn-Hellersdorf 2005: 22).
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Die Differenzierung der Rückbauflächen
In der Großwohnsiedlung Marzahn sind innerhalb weniger Jahre rund 70 Kinderkombinationen und Schulen aus der regulären Nutzung gefallen. Für den überwiegenden Teil der Gebäude ließ sich keine Nachnutzung finden und damit gab es unter den gegebenen Bedingungen keine Alternativen zum umfangreichen Abriss. Bis auf vereinzelte Standorte ist dieser Prozess abgeschlossen. Der Rückbau der sozialen Infrastruktureinrichtungen führte dazu, dass zwischen den Wohngebäuden inselartig gelegene, dispers verteilte und ungenutzte Brachflächen verschiedener Größen zurückblieben. Die Rückbauflächen lassen sich unter anderem nach Lagemerkmalen und Eigentümerstrukturen differenzieren. Aus den Lagekriterien ergeben sich vier Kategorien: der Blockinnenbereich, das Infrastrukturband, die Randlage im Übergangsbereich zum Landschaftsraum und die Randlage im Übergangsbereich zum Kleinsiedlungsgebiet. Die Blockinnenbereiche sind in der Regel Einzelstandorte und durch die Lage im Innenhof sowie eine sehr dicht angrenzende mehrgeschossige Wohnbebauung gekennzeichnet. Ein Infrastrukturband umfasst dagegen Rückbauflächen von ehemals drei bis sechs benachbart liegenden Einrichtungen. Damit handelt es sich bei den Infrastrukturbändern um die flächenmäßig größten Rückbaustandorte. Sie zeichnen sich durch ihre unmittelbare Nähe zur Wohnbebauung aus. Charakteristisch für die Brachflächen der Randlagen im Übergangsbereich zum Landschaftsraum ist die Nähe zu landschaftlich attraktiven Bereichen. Aus diesem Grund erschließt sich diesen Standorten ein wichtiges Entwicklungspotenzial, da sich die Rückbauflächen gut in die Umgebung integrieren. Ein ähnlicher Ansatz liegt den Brachflächen der Kategorie Randlage im Übergangsbereich zum Kleinsiedlungsgebiet zugrunde. An diesen Standorten befinden sich die Rückbauflächen in direkter Nachbarschaft zu Einfamilienhausgebieten und können als Baulandparzellen veräußert werden. Bei der Betrachtung der Eigentumsstruktur der kommunalen Infrastrukturflächen lassen sich zwei zentrale Akteure, das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf und der Liegenschaftsfonds Berlin, unterscheiden. Für das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf als Flächeneigentümer sind drei Varianten der Verantwortlichkeiten an ehemaligen Standorten der sozialen Infrastruktur zu differenzieren: Erstens werden die Flächen für zukünftige Investitionen von daran interessierten Fachämtern vorgehalten, ohne aber eine baurechtliche Umwidmung vorzunehmen. In einer zweiten Variante werden die Grundstücke dem Vermögen des Natur- und Umweltamtes zugeordnet, was mit einer Umwidmung zu Grünflächen einhergeht. In einer dritten Möglichkeit werden die Flächen dem Finanzvermögen des Bezirks übergeben, womit eine mittelfristige Übertragung der Verantwortlichkeiten an den Liegenschaftsfonds Berlin verknüpft ist. Der Liegenschaftsfonds Berlin wurde im Jahr 2001 als eine treuhänderische Gesellschaft zur Vermarktung und Verwaltung von Immobilien der Stadt Berlin gegründet. Das Kerngeschäft des Liegenschaftsfonds besteht in dem Verkauf und der Vermarktung von Grundstücken und Häusern der Stadt Berlin. Somit ist der Liegen-
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schaftsfonds Berlin dafür verantwortlich, die Flächen zu marktüblichen Konditionen zu veräußern und die Bewirtschaftung zu übernehmen. Aufgrund der Vielzahl von Abrissmaßnahmen und der defizitären Haushaltssituation wurde in der Bezirksverwaltung Marzahn-Hellersdorf der Entschluss gefasst, die verschiedenen Rückbauflächen durch Zwischennutzer bewirtschaften zu lassen. Eine Unterscheidung der offenen Flächen ist aus der Perspektive der Zwischennutzung nötig, da die Entwicklungsoptionen je nach Größe, Lage und Eigentümer verschieden sind. Der Pachtzins ist zum Beispiel ein wichtiger Aspekt im Kontext von temporären Nutzungen und dieser unterscheidet sich je nachdem, in wessen Vermögen sich die Flächen befinden.
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Die Strategie zur Flächennutzung – Koordinierungsstelle Flächenmanagement
Die stetig zunehmende Zahl ungenutzter Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn machte ein neues Modell des Flächenmanagements notwendig. In einer Expertise zur Zukunft offener Flächen im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf wurde eine zentrale Anlaufstelle als „One-Stop-Agency“ angeregt (Plattform Marzahn-Hellersdorf & Bezirksamt Marzahn Hellersdorf 2003: 54). Auf diesem Entwurf basiert das Konzept der Koordinierungsstelle Flächenmanagement, welche dem Stadtplanungsamt angegliedert und seit dem Jahr 2003 personell besetzt ist (Herden 2007: 188). Der Arbeitsauftrag der Koordinierungsstelle Flächenmanagement lässt sich in zwei zentrale Bereiche gliedern: Zum einen sollen die Bewohner öffentlichkeitswirksam für die Möglichkeit gewonnen werden, ehemalige soziale Infrastrukturstandorte durch Zwischennutzungen in Anspruch zu nehmen. Die Hoffnung ist, dass die Koordinierungsstelle Flächenmanagement aus der Position eines „Kümmerers“ agieren kann, um so eine möglichst rasche, unbürokratische Vermittlung und Initiierung von städtebaulich verträglichen temporären oder dauerhaften Nutzungen zu realisieren (vgl. Ferber et al. 2010: 9). Das Ziel ist, negative Ausstrahlungseffekte in das Wohnumfeld durch leer stehende und verwahrloste Gebäude zu vermeiden. Die Arbeitsschwerpunkte setzen darauf, durch Bürgerbeteiligung neue Nutzungsangebote in Form von Zwischennutzungen für die entstandenen Brachflächen zu schaffen. Dieser Prozess soll durch die Umsetzung von Pilotprojekten, die Begleitung von Zwischennutzern in der Planungsphase und eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit für neue Nutzungsmöglichkeiten ein breites Spektrum an potenziellen Interessenten ansprechen. In der Koordinierungsstelle Flächenmanagement werden Anfragen koordiniert, Interessenten betreut und Projekte begleitet. Zum anderen besteht eine zweite Kernaufgabe in der verwaltungsinternen Betreuung eines Flächenpools. Die Koordinierungsstelle Flächenmanagement gewährleistet als zentraler Ansprechpartner eine unkomplizierte Kommunikation innerhalb der Verwaltung, mit den Interessenten sowie mit dem Liegenschaftsfonds Berlin (SenStadt 2004a: 46).
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Die Koordinierungsstelle Flächenmanagement ist ein Versuch, die Zwischennutzung von Brachflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn aktiv zu befördern. Um diesem Prozess einen Impuls zu verschaffen, entstand die Idee zum offensiven Flächenmarketing. Im Rahmen des „Projekts Neuland“ sollten Markierungselemente, wie zum Beispiel ein großer magentafarbener Pfeil, in Kombination mit einer gezielten Kommunikationsstrategie die Bewohner auf die offenen Flächen aufmerksam machen. Im Juni 2006 fiel der Startschuss für das „Projekt Neuland“ mit einer Laufzeit von einem Jahr. Dieses Projekt fand in Fachkreisen und den Medien großen Zuspruch. Im Ergebnis ist allerdings zu konstatieren, dass Anfragen seitens der Bewohner vergleichsweise verhalten eingingen und schließlich keine dieser Zwischennutzungsideen realisiert werden konnte (Antony 2007: 82). In der konkreten Umsetzung des „Projekts Neuland“ traten verschiedene Probleme und Konflikte auf, von denen hier nur einige angeführt werden. Als erstes ist zu erwähnen, dass sich die Realisierung auf eine Auswahl von drei als geeignet erachteten Projektstandorten in der Großwohnsiedlung Marzahn beschränkt (BA Marzahn-Hellersdorf 2006). Diese Rückbauflächen wurden nach Indikatoren wie Passantenfrequenz oder Sichtbarkeit ausgewählt, um auf diesem Weg eine möglichst breite öffentliche Wahrnehmung zu erzielen. Die Gesamtzahl aller Brachflächen ehemaliger sozialer Infrastrukturstandorte ist dagegen deutlich höher. Von daher erscheint es aus der Perspektive der Bewohner schwierig, die Möglichkeit einer Flächeninanspruchnahme durch eine punktuelle Verteilung der Aktionsflächen zu erzeugen. Der eng gesteckte finanzielle Rahmen verhinderte das Aufstocken weiterer Projektstandorte oder gar einen flächendeckenden Ansatz. Ein weiteres Hemmnis zeigte sich in den Nutzungsmöglichkeiten von Grundstücken, welche sich nicht im Eigentum des Bezirks befinden. Die Situation an diesen Standorten gestaltet sich aufgrund formaler Rahmenbedingungen, basierend auf politischen Beschlüssen, komplex. Ein eindeutiger Vermarktungsauftrag des Liegenschaftsfonds Berlin bei gleichzeitig fehlenden Mitteln zur Bewirtschaftung erlaubt unter anderem aus verkehrssicherungstechnischen Gründen keinen Zugang zu den Grundstücken. Drittens ist darauf zu verweisen, dass es an den Markierungselementen auf den Projektflächen zu Vandalismus und Beschädigungen kam, die eine regelmäßige Wartung notwendig machten, woraus für das Bezirksamt weitere Kosten entstanden. Außerdem musste durch die Instandsetzungen versucht werden, die Gefahr negativer Ausstrahlungseffekte auf das Wohnumfeld zu mindern. Dennoch erreichten die Koordinierungsstelle Flächenmanagement Anfragen zur temporären Nutzung der offenen Flächen. Die konzeptionellen Ideen wurden aufgenommen und die Realisierung geprüft, allerdings war es bislang noch nicht möglich, eine der Bewohneranfragen zu verwirklichen. Die Probleme bei der konkreten Umsetzung sind vielfältig, etwa die Dauer von Genehmigungsverfahren oder die Einhaltung der formalen Kriterien bei einer Vereinsgründung. Außerdem ist die Zwischennutzung von Rückbauflächen nur gegen einen Pachtzins möglich (vgl. Altrock 1998: 31). Die Pachthöhe variiert je nach Eigentümer. Viele Haushalte der Großwohnsiedlung Marzahn sehen sich jedoch nicht in der Lage, auch nur eine geringe Gebühr zu entrichten.
Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn
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Am Beispiel des „Projekts Neuland“ wurde eine Auswahl von projektbezogenen Hemmnissen genannt, die den letztendlichen Erfolg minderten. Grundsätzlich gilt es zu erwägen, ob die strukturellen Rahmenbedingungen in Großwohnsiedlungen einer Zwischennutzungskultur wie in den innerstädtischen Lagen widersprechen. Diese Überlegungen werden im Schlussteil noch einmal thesenartig aufgegriffen. Der anschließende Abschnitt beschäftigt sich vorher mit den aktuellen Formen der Flächenentwicklung.
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Die Flächenentwicklung in den vergangenen Jahren
Im Rückblick auf die vergangenen Jahre ist zu konstatieren, dass es nur sehr vereinzelt und durch die Entschlossenheit der Verwaltung gelungen ist, die Rückbauflächen durch Zwischennutzungen zu entwickeln. Die Bemühungen und der Prozess zeigen, dass die Verwaltung und die Wohnungsunternehmen als starke Partner die zentralen Akteure sind. Es verdeutlicht sich, dass es trotz großer Initiative seitens der Verwaltungen schwierig bleibt, temporäre Nutzungen gemeinsam mit den Bewoh-
Abbildung 3: Einfamilienhausbau in unmittelbarer Nachbarschaft zur vielgeschossigen (Abb. 3–6: eigene Aufnahmen) Wohnbebauung – Marzahn Mitte.
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nern zu initiieren. Die im Konzept zum Projekt Neuland gesuchten Zwischennutzer wie zum Beispiel „Fallschirmspringer ohne Landeplatz, Campingplatzbetreiber oder Fliegenfischer ohne Fließgewässer“ blieben bisher aus (Projekt Neuland o. J.). Stattdessen vollzogen sich auf den Rückbauflächen drei charakteristische Entwicklungen hin zu Lichtungen, Biotopen und Gärten. Die Begriffe stehen für die Art der Nutzung und die Größe der Rückbauflächen. Diese Formen der Flächenentwicklung sind allerorts in der Großwohnsiedlung Marzahn zu finden. Aus dem bisherigen Verständnis von Großwohnsiedlungen heraus wirken diese Nutzungen ungewohnt. Unter den Vorzeichen einer zunehmenden Alterung ist für die Zukunft jedoch davon auszugehen, dass neue Nutzungen dieser Art bald zur Normalität gehören könnten. 5.1
Lichtungen
Die massive städtebauliche Entdichtung, insbesondere in den Bereichen der Infrastrukturbänder, mündete in weitläufige Rückbauflächen, die sich unter dem Begriff Lichtungen zusammenfassen lassen. An diesen Standorten wurden bis zu sechs Einrichtungen der sozialen Infrastruktur abgerissen. Dennoch sind diese ausgedehnten Brachen durch die benachbarte Wohnbebauung städtebaulich gefasst, so dass die
Abbildung 4: Lichtung in Marzahn Mitte – Rückbaufläche von mehreren Schulen
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Lücken im Wohnkomplex spürbar bleiben. Die Entwicklung der Flächen gestaltet sich unter anderem durch die Größe, die angrenzende Wohnbebauung und eine differenzierte Eigentümerstruktur schwierig. Für Lichtungen lassen sich derzeit zwei Nutzungsarten unterscheiden: der Bau von Einfamilienhäusern (Abbildung 3) und das Liegenlassen als offene Fläche (Abbildung 4). Beide Formen der Nutzung sind für das charakteristische Bild einer Großwohnsiedlung vorerst ungewohnt. 5.2
Biotope
Eine zweite Form der typischen Flächenentwicklung kann mit dem Begriff Biotop umschrieben werden (Abbildung 5). Es handelt sich dabei um sehr kleine und nach wie vor eingefriedete Flächen im Blockinnenbereich. Der Liegenschaftsfonds Berlin als Eigentümer lässt diese Grundstücke eingezäunt, um so der Verkehrssicherungspflicht nachzukommen. Diese Situation ist eine begünstigende Voraussetzung für eine augenscheinlich artenreiche Vegetation. Gleichwohl ist die Entwicklung auf den Grundstücken zu regelrechten Biotopen ambivalent zu bewerten. Bei Bürgerbeteiligungsverfahren zum Stadtumbau in Marzahn Nord verwiesen einige Bewohner auf die durchaus besondere Qualität dieser üppigen Vegetation. Der Zustand wird in
Abbildung 5: Kindergarten in Betrieb (linke Bildhälfte) und ein aufgegebener Kinderkombinationsstandort entwickelt sich zum Biotop (rechte Bildhälfte) – Marzahn Mitte
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diesem Zusammenhang erstaunlicherweise nicht als ungepflegt empfunden, sondern vielmehr als willkommene Abwechslung gesehen. Mit den Grundstücken sind aber auch besondere Probleme verbunden. So verleitet der verwilderte Eindruck immer wieder Personen dazu, dort illegal Müll zu entsorgen. Außerdem hindert der Zaun die Anwohner an einer Nutzung der Flächen. 5.3
Gärten
Im Vergleich zu den vorangegangenen Flächenentwicklungen sind die Gärten eine intensive Form der Nutzung. In der Großwohnsiedlung Marzahn lassen sich infolge der Nachnutzung der Rückbauflächen zwei Typen differenzieren: Nachbarschaftsgärten als Zwischennutzung und Gärten von neu errichteten Einfamilienhäusern. Die Nachbarschaftsgärten mit verschiedenen konzeptionellen Ansätzen (Abbildung 6) wurden in den Randbereichen der Großwohnsiedlung angelegt. Insgesamt sind in Marzahn drei Gartenprojekte mit großer Unterstützung der öffentlichen Verwaltung oder der Wohnungsunternehmen als starken Partnern realisiert worden. Die Nutzung einer Gartenparzelle ist für einen verhältnismäßig günstigen Pachtzins möglich und wird von den Bewohnern sehr gut angenommen. In den Übergangsbereichen zu den Kleinsiedlungsgebieten wurden die Grundstücke der ehemaligen
Abbildung 6: Interkultureller Garten (Zwischennutzung) – Marzahn Nord
Nachnutzungspotenziale auf kleinteiligen Rückbauflächen in der Großwohnsiedlung Marzahn
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sozialen Infrastruktureinrichtungen für den Bau von Einfamilienhäusern verkauft. Der Begriff Garten ist in diesem Kontext unmittelbar mit dem Bau von Einfamilienhäusern verknüpft. Bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich bei diesen Flächen um Einzelstandorte in direkter Nachbarschaft zu älteren Einfamilienhaussiedlungen. Die Rückbauflächen der ehemaligen sozialen Infrastrukturstandorte sind damit weiterhin genutzt und nicht mehr als Lücke wahrnehmbar. Aus dieser Nachnutzung resultieren einige positiv zu bewertende Effekte. Es besteht zum Beispiel die Möglichkeit, die vorhandene Infrastruktur weiter zu nutzen. Sowohl für den Senat als auch für den Bezirk ist mit der Veräußerung der Grundstücke ein finanzieller Erlös verbunden. Außerdem werden die Bewohner durch den Erwerb einer Immobilie langfristig an den Bezirk gebunden, woraus eine stabilisierende Wirkung zu erwarten ist. Die besondere Lage in unmittelbarer Nachbarschaft zur vielgeschossigen Wohnbebauung kann sich allerdings langfristig auf den Preis der Immobilien niederschlagen. Bei einem Weiterverkauf könnte die zentrale Lage in der Großwohnsiedlung die Zahl der Interessenten einschränken. Neben den drei beschriebenen Entwicklungen Lichtungen, Biotope und Gärten kam es in der Großwohnsiedlung Marzahn zur Realisierung weiterer Nachnutzungen. Die Aufwertung der Rückbauflächen zu kleinen Parkanlagen, anziehenden Spielplätzen oder attraktiven Schulerweiterungsflächen basiert stets auf der Initiative sowie der Finanzierung durch das Bezirksamt. Damit wird bei der Betrachtung der Gesamtheit aller Brachflächen einerseits klar, dass mit der Gestaltung eine enorme finanzielle Belastung für den Bezirk einhergeht. Andererseits zeigt sich die zentrale Bedeutung der Bezirksverwaltung im Prozess der Qualifizierung der Siedlung. Durch die Initiative des Bezirksamts sind auf vereinzelten Rückbauflächen Zwischennutzungen entstanden. Neben den Gartenprojekten ist zum Beispiel eine Streuobstwiese zu nennen. Aus der Perspektive der Quartiers- und Stadtforschung bleibt es interessant, die Entwicklungen in Marzahn im Auge zu behalten, da die Vielzahl kleinteiliger Flächen einen weiterhin experimentellen Umgang in der Bewirtschaftung erwarten lässt.
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Schlussfolgerungen
Am Fallbeispiel der Großwohnsiedlung Marzahn lassen sich die Auswirkungen einer homogenen Altersstruktur auf den Bedarf an sozialen Infrastruktureinrichtungen anschaulich nachvollziehen. Während der Wohnungsrückbau in Ostberliner Großwohnsiedlungen im Verhältnis zum Gesamtbestand nur in geringem Umfang notwendig war, sind die Spuren des Stadtumbaus im Bereich der sozialen Infrastruktur umso klarer zu erkennen. Die städtebauliche Struktur, bestehend aus einer Abfolge von Wohnkomplexen ist in Marzahn verglichen mit Großwohnsiedlungen, in denen flächenhafte Wohnungsabrisse notwendig waren, nach wie vor gut nachvollziehbar. Aus diesem Grund ist der Rückbau von sozialen Infrastruktureinrichtungen innerhalb der Wohnkomplexe deutlich wahrnehmbar.
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Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf und die Senatsverwaltung Berlin stellten sich den Herausforderungen einer weiteren Nutzung sehr experimentierfreudig und im Kontext der Schrumpfungsdiskussion durchaus innovativ (vgl. Oswalt 2005). Unter den Bedingungen eines defizitären Haushalts und des mit jedem Abriss steigenden Handlungsbedarfs wurde die temporäre Nutzung dieser Flächen durch die Bewohner angestrebt. Die verfolgte Strategie der Zwischennutzung offener Flächen ist trotz großer Anstrengungen bisher nicht aufgegangen. Für diese Entwicklung lassen sich verschiedene Gründe ausmachen. Einige der projektbezogenen Hemmnisse wurden bereits genannt. An dieser Stelle wird noch einmal auf allgemeine Schwierigkeiten eingegangen, um so thesenartig einen Anstoß in der Debatte zu temporären Nutzungen in der Stadtentwicklung zu leisten. Zunächst werden die generellen Rahmenbedingungen für Zwischennutzungen angesprochen, bevor in einem zweiten Ansatz Ausführungen zum Umgang mit dem Begriff der Zwischennutzung folgen. Grundsätzlich gilt, dass es sich bei Zwischennutzungen um eine zeitlich befristete Form der Nutzung zwischen einer Ausgangsnutzung und einer angestrebten Folgenutzung handelt (Schlegelmilch 2009: 493). Der Erfolg von temporären Nutzungen ist, genau wie der einer „normalen“ langfristigen Nutzung, von unterschiedlichen Faktoren abhängig. An den drei ausgewählten Merkmalen Lage in der Stadt, Initiatoren von Zwischennutzungen und Konsumenten von Zwischennutzungen werden die Rahmenbedingungen am Fallbeispiel der Großwohnsiedlung Marzahn denen in innerstädtischen Lagen gegenübergestellt. Die Lage innerhalb der Stadt scheint ein entscheidender Faktor für die Realisierung einer Zwischennutzung zu sein. Insbesondere bei kommerziell orientierten Zwischennutzungen sind die Aspekte wie die Erreichbarkeit oder die Passantenfrequenz von großer Bedeutung. Die Ergebnisse einer Studie (BMVBS & BBR 2008) zu Zwischennutzungen deuten an, dass die Umsetzung von temporären Nutzungen in Stadtrandlagen schwieriger oder weniger attraktiv ist als im innerstädtischen Bereich. Auch wenn die Studie Best-Practice-Beispiele vorstellt und daher nur bedingt für den Zusammenhang mit Lagemerkmalen heranzuziehen ist, scheint eine generelle Orientierung von Zwischennutzern auf die Innenstadt als sehr wahrscheinlich. So lagen von 41 vorgestellten Projekten acht am Stadtrand, nur zwei dieser Projekte wurden auf offenen Flächen realisiert (ebd.). Die Initiatoren von temporären Projekten zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie eine innovative Idee verfolgen und aktiv an deren Realisierung arbeiten (Arlt 2006: 41ff., Becker 2010: 76). Dabei sind Beziehungen aus effektiven Netzwerken, in denen sie sich bewegen, äußerst hilfreich. Außerdem sind die sogenannten Raumpioniere bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen durchaus risikobereit (ebd.). In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, inwieweit die Konzentration der Zwischennutzungen auf innerstädtische Bereiche mit dem Wohn- oder Aufenthaltsort der typischen Zwischennutzungsinitiatoren korreliert. Der Erfolg einer temporären Nutzung hängt darüber hinaus entscheidend von den Konsumenten und der Zielgruppe ab, die den oft experimentell wirkenden Ansätzen offen gegenüberstehen müssen (vgl. SenStadt 2004b). In den
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Großwohnsiedlungen schrumpfender Städte wurde dagegen festgestellt, dass das Engagement und die Partizipation durch soziale und psychische Belastungen immer weiter zurückgehen (BMVBS & BBR 2009: 37). Am Beispiel der Großwohnsiedlung Marzahn zeigt sich, dass eine Reihe der üblichen Rahmenbedingungen für Zwischennutzungen nicht erfüllt sind. Die Siedlung liegt am Stadtrand von Berlin und die temporäre Nutzung offener Flächen gilt als ungleich schwerer als die von Gebäuden (Schlegelmilch 2009: 498). Das schlichte Vorhandensein einer Fläche ist nicht ausreichend für eine temporäre Inanspruchnahme. Selbst wenn Einigkeit über die formalen Bedingungen besteht, ist die Vielfalt der Nutzung eingeschränkt, denn die Grundstücke verfügen nur in Ausnahmen über dringend notwendige Versorgungsleitungen und Anschlüsse. Generell sollte im Rahmen der Bürgermitwirkung über die Verwendung des Ausdrucks „Zwischennutzung“ nachgedacht werden. In der Diskussion von Wissenschaft und Praxis der Stadtentwicklung hat sich der Begriff bewährt. Bei Strategien, die, wie in Marzahn, darauf abzielen, aktiv die Bewohner für eine Zwischennutzung zu gewinnen, kann die Initiative vermutlich allein der Formulierung wegen auf Ablehnung stoßen. Das Wort „zwischen“ impliziert bereits das Ende der Nutzung und hemmt dadurch die Bereitschaft zum Engagement. Ein besserer Ausdruck in diesem Rahmen ist eventuell die Bezeichnung „Folgenutzung“, zumal auf dem überwiegenden Teil der Rückbauflächen der Nutzungsdruck so gering ist, dass eine weitere Nutzung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten ist. Der Begriff „Zwischennutzung“ ist damit wenig passend gewählt. Obwohl die Rahmenbedingungen für Zwischennutzungen in der Großwohnsiedlung Marzahn nicht ideal erscheinen, sind mit diesem Ansatz durchaus Potenziale verbunden. Allerdings darf das Motiv nicht vordergründig darin bestehen, die Verantwortung und damit die Kosten für die Bewirtschaftung der Flächen auf Zwischennutzer zu übertragen. Vielmehr muss es darum gehen, bewohnerorientierte Angebote zu schaffen. Die Verwaltungen sollten, wie bei den Nachbarschaftsgärten, spezifische Nutzungen initiieren, um den Bewohnern so die Möglichkeit zu bieten, eventuelle Defizite in der Wohnung oder im Wohnumfeld auszugleichen. Der Infrastrukturbedarf hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Die veränderten Rahmenbedingungen in den Großwohnsiedlungen wie das steigende Durchschnittsalter der Bewohner, der wachsende Anteil an Arbeitslosen und Transferleistungsempfängern sowie die steigende Anzahl von Rentenempfängern lassen eine zunehmende Orientierung auf das Quartier erwarten. In der Zukunft müssen genau diese Rahmenbedingungen schwerpunktmäßig in die Überlegungen zur zielgruppenorientierten Aufwertung einfließen. Sowohl bei Zwischennutzungen als auch bei generellen Qualifizierungsmaßnahmen in den Großwohnsiedlungen sind mittel- bis langfristig neue Infrastrukturangebote stärker zu berücksichtigen. Die bewohnerorientierten Angebote können einen Beitrag zur Stabilisierung der Großwohnsiedlung leisten. An dieser Stelle ist die Politik gefordert, sich zur Entwicklung der Wohngebiete in Plattenbauweise zu positionieren und die formalen sowie finanziellen Voraussetzungen zur gezielten Qualifizierung zu schaffen.
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Wiener Stadtquartiere im demografischen Umbruch oder: Weil es nicht egal ist, wo man alt wird Tatjana Fischer
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Einleitung
Im Jahr 2005 wurde ein ForscherInnenteam vom Ökosozialen Forum Wien eingeladen, sich der Herausforderung „Alterung der Bevölkerung“ interdisziplinär anzunehmen und die Versorgungssituation älterer Menschen in der Stadt Wien zu untersuchen. Dem Leitbild einer „Stadt der kurzen Wege“ folgend, bestand das Ziel der Forschungsarbeit „Stadt der kurzen Wege aus ökosozialer Sicht – Nahversorgung und Naherholung in Wien vor dem Hintergrund des demografischen Wandels“ (vgl. Voigt et al. 2008) darin, raumdifferenzierte Grundsätze zu erarbeiten, damit Wien auch in Zeiten demografischer Dynamik hinsichtlich der Versorgung seiner – nicht nur älteren – BewohnerInnen in Zeiten des Wandels robust, anpassungsfähig und damit „fit für übermorgen“ bleibt. Die folgenden Ausführungen ergänzen die Ergebnisse der 2008 fertiggestellten Studie um persönliche Gedanken. Das Hauptanliegen der Forschungsarbeit bestand im Aufzeigen und Verstehen der Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen demografischem Wandel, Raumstrukturen und dem räumlichen Verhalten. Das Herausgreifen der Thematik „Altsein und Älterwerden in Wien“ diente dazu, zu zeigen, inwiefern räumliche Gegebenheiten für die Organisation und Bewältigung des Alltags älterer Menschen relevant sind und – im Allgemeinen – die Befriedigung der Bedürfnisse älterer Menschen beeinflussen. Daran anknüpfend war es Aufgabe auszuloten, welche Aspekte die Stadtplanung in den raumrelevanten Handlungsfeldern „Nahversorgung“ und „Naherholung“ im Hinblick auf die Personengruppe „60+“ mitzubedenken hat. Um die Komplexität des Themas zu veranschaulichen, wurde als Indikatorengruppe zur Bewertung der städtischen Versorgungsqualität die Personengruppe „60+“ ausgewählt. Dies deshalb, weil sie die am stärksten wachsende Altersgruppe überhaupt darstellt und sich durch eine große Heterogenität hinsichtlich der Lebenslagen und der damit verbundenen Ansprüche an den Stadtraum auszeichnet, die das Nutzungsmuster infrastruktureller Einrichtungen prägen. Aufgrund der Unterschiede in den individuellen Möglichkeiten, Orte und Einrichtungen zu erreichen, ist eine hohe Sensibilität innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe gegenüber räumlichen Barrieren und Versorgungsdefiziten zu erwarten.
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Innerhalb dieser Personengruppe erfolgte eine Fokussierung auf die mobilen älteren Menschen, weil sie ihre Versorgung (noch) selbst übernehmen (können) und ihnen somit räumliche Aspekte im Alltag regelmäßig begegnen. Auf zu Hause betreute immobile ältere Menschen wurde ergänzend eingegangen, sofern räumliche Aspekte für die an ihrer Betreuung Beteiligten (Angehörige, professionelles Personal verschiedener Trägerorganisationen) unmittelbar von Bedeutung sind. Auf die Untersuchung der Lebenssituation älterer Menschen mit Migrationshintergrund wurde kein inhaltlicher Schwerpunkt gelegt. Die Darstellung der Lebenssituation älterer Menschen konzentriert sich thematisch hinsichtlich der Nahversorgung auf die Versorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs, auf die (sozial-)medizinische Versorgung mit ambulanten Diensten und stationären Einrichtungen und hinsichtlich der Naherholung auf Außer-Haus-Aktivitäten in der Freizeit im Umfeld der Wohnung oder des Wohnorts an sogenannten „Orten im Freien“. Den räumlichen Bezugsrahmen für die Untersuchung bildet die Stadt Wien. Da allerdings auf kleinräumiger Betrachtungsebene große Unterschiede hinsichtlich der soziodemografischen Struktur, dem infrastrukturellen Versorgungsniveau und der Stadtgestalt bestehen und auf diese raumspezifischen Differenzen innerhalb der Stadt hingewiesen werden muss, wurden drei verschieden ausgeprägte Stadträume (Beispiele) für die Untersuchung ausgewählt: 䊏
Das Beispiel „Wilhelminenberg“ als ein Wohngebiet in Stadtrandlage und Wienerwaldnähe im 16. Wiener Gemeindebezirk, das durch Alterung der Bevölkerung gekennzeichnet ist. 䊏 Das Beispiel „Neubau“ – ein Mischnutzungsgebiet in dicht bebauter Innenstadtlage im 7. Wiener Gemeindebezirk, das sich durch große Vielfalt an Nahversorgungseinrichtungen auszeichnet. 䊏 Das Beispiel „Hirschstetten“ als ein Stadterweiterungsgebiet in Stadtrandlage nordöstlich der Donau im 22. Wiener Gemeindebezirk, das sehr gut mit (privaten und öffentlichen) Grünflächen ausgestattet ist. Methodisch näherte sich das ForscherInnenteam dem Thema über die Formulierung von Thesen über Wechselbeziehungen zwischen demografischem Wandel – im Speziellen der Alterung der Bevölkerung – und stadtraumrelevanten Aspekten betreffend Nahversorgung und Naherholung älterer Menschen. Die Thesen konnten dann mit den gewonnenen Erkenntnissen – Informationen von Älteren und ExpertInnen einerseits, Synthese der Ergebnisse durch die ForscherInnen selbst andererseits – verglichen werden. Es wurden 19 ExpertInnengespräche geführt, wobei die Gesprächspersonen aus folgenden Fachbereichen stammen: 䊏 䊏 䊏
Mobile Dienste und teilstationäre/stationäre Betreuung älterer Menschen Soziologie Stadt- und Landschaftsplanung
Wiener Stadtquartiere im demografischen Umbruch 䊏 䊏
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Integration älterer Menschen mit Migrationshintergrund SeniorInnenpolitik
Ältere Menschen ab 60 Jahren wurden in den drei Untersuchungsgebieten in Form von Kurzinterviews spontan an ausgewählten Orten der Nahversorgung (347 Personen) und Naherholung (614 Personen) befragt. Weiters gelang es, über Institutionen bzw. Einrichtungen und organisierte Treffpunkte älterer Menschen kooperative Ansprechpersonen in dieser Bevölkerungsgruppe zu gewinnen. Es wurden 67 Leitfadeninterviews geführt, in denen 72 Personen (Ehepaare wurden gemeinsam befragt) zu Wort kamen. Unter den 72 Befragten befanden sich zehn ältere Menschen mit Migrationshintergrund. Den Bearbeitenden war die Notwendigkeit der Verschränkung von raum- und sozialwissenschaftlichen Aspekten bewusst. Des Weiteren wollte man der inhaltlichen Komplexität durch Zerlegung der Forschungsfrage in Teilfragen begegnen und diesen dann wiederum spezifische Methodensets zuordnen. Neben quantitativen und qualitativen Methoden der empirischen Sozialforschung wie Befragung der älteren Menschen (und von Fachleuten) sowie Beobachtung von „Bewegungen im Raum“ kam der Ortsbegehung, d. h. dem unmittelbaren Erleben „räumlicher Bedingungen und Umstände“ durch die Bearbeitenden, große Bedeutung zu. Die gesamte Erhebungsphase folgte der Maxime, „so nah wie möglich am Menschen zu sein“, und dem Grundsatz des „problemzentrierten Arbeitens“. Ergänzt wurden die so gewonnenen Erkenntnisse durch die Ergebnisse der zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Fachliteratur aus den Themenbereichen Raum- und Landschaftsplanung, Soziologie und Ökonomie.
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Zum Profil der älteren Wiener Bevölkerung
So vielfältig wie die älteren Menschen selbst sind auch deren Bedürfnisse. Viele der in den Gesprächen geäußerten Alltagsprobleme bezogen sich auf Versorgungsfragen, wobei zu beachten ist, dass jeweils die eigene Lebenssituation den Hintergrund der Ausführungen bildet und diese somit immer Schilderungen der subjektiven (Raum-)Wahrnehmung und des subjektiven Erlebens des Altseins in der Stadt sind. Es darf angenommen werden, dass die hinter den Aussagen stehenden Bedürfnisse mit den Bedürfnissen von Personen in ähnlicher Lebenslage korrespondieren, besonders dann, wenn eine unzureichende Befriedigung der Grundbedürfnisse zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Wohlbefindens oder der Gesundheit führt. Zudem lassen sich im Zuge des Älterwerdens Verschiebungen bezüglich der Prioritäten innerhalb des Bedürfnisspektrums erkennen: Hier kommt den Bedürfnissen nach Autonomie, Identität bzw. Identifikation mit der Wohnumgebung, Sicherheit, Zugehörigkeit und Partizipation große Bedeutung zu. Das Bedürfnis nach Autonomie, Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wird in den Äußerungen der Älteren immer als Wunsch zum Ausdruck
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gebracht, so lange wie möglich eigenständig zu Hause zu leben. Eng damit verbunden ist der Wunsch, (auto-)mobil zu sein und zu bleiben, um auch weiterhin den Alltag unabhängig und flexibel gestalten zu können. Der (eigene) PKW stellt demnach einen wesentlichen Faktor für die subjektive Lebensqualität dar, vor allem für Menschen in den Stadtgebieten, wo die Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln den Ansprüchen der Befragten nicht genügt. An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Möglichkeiten, die die Stadt älteren Menschen bietet, und die Herausforderungen, die sie im Gegenzug an sie stellt, von den befragten ExpertInnen teilweise umfassender gesehen werden und hier Widersprüchliche zu den Anliegen Älterer zu erkennen sind. So interpretieren die ExpertInnen den Wunsch nach Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung als Herausforderung für die (zukünftige) Planung (sozial-)medizinischer Dienste, da seitens der Älteren professionelle Hilfe im mobilen und semistationären Bereich einerseits in sehr unterschiedlichem Maße tatsächlich in Anspruch genommen wird und mobile Dienste meist erst dann gerufen werden, wenn eine selbstständige Lebensführung nicht mehr möglich ist. Zudem besteht aus Sicht der ExpertInnen vielfach große Angst vor stationären Betreuungseinrichtungen, da sie aus Sicht der älteren Menschen mit der Forderung nach Selbstbestimmung nicht vereinbar sind. Aus dem Stellenwert der eben genannten Bedürfnisse im Leben älterer Menschen lassen sich demnach eine Reihe von Gemeinsamkeiten dieser – wie im Weiteren gezeigt werden wird – heterogenen Altersgruppe erkennen. Homogenität bei älteren Menschen besteht hinsichtlich der Bedeutung der Wahrung der Privatsphäre sowie im Hinblick auf den Versuch, gewachsene soziale Beziehungen zu erhalten. Dazu zählen auch Ähnlichkeiten bezüglich der Wohnungswahl, der Wohnzufriedenheit und der Sesshaftigkeit sowie der Raumwahrnehmung und Sensibilität bezogen auf die Wahrnehmung räumlicher Veränderungen im Wohnumfeld. Bemerkenswert ist, dass (infrastrukturelle) Ausstattungsdefizite der Wohnumgebung von den älteren Menschen vielfach durch andere Faktoren kompensiert werden und deshalb dem positiven Raumempfinden nicht entgegenstehen. Auffallend ist weiterhin die Ansicht vieler Befragter, sich im Falle eigener Fahruntüchtigkeit in fußläufiger Erreichbarkeit vom Wohnstandort versorgen zu können, obwohl die Möglichkeiten dazu vor allem am Stadtrand meistens nicht gegeben sind. Hinzu kommt, dass die Bereitschaft zu einem Wohnstandortwechsel seitens der Befragten sehr gering ist. Veränderungen im unmittelbaren Wohnumfeld, wie etwa der deutliche Anstieg der Wohnbevölkerung (einschließlich des vermehrten Zuzugs von Menschen mit Migrationshintergrund), bauliche Veränderungen oder Veränderungen hinsichtlich der infrastrukturellen Ausstattung, werden genau beobachtet. Positive Veränderungen werden wohlwollend zur Kenntnis genommen und negative Veränderungen leiten das wehmütige Zurückdenken an vergangene Tage ein. Hinsichtlich der Versorgung schätzen die Älteren die Gewährleistung von Wahlfreiheit in Bezug auf Güter und Dienste des täglichen Bedarfs – so halten viele als „Schnäppchenjäger“ gezielt Ausschau nach für sie passenden Angeboten – sowie (sozial-)medizinische Betreuung. Letzteres zeigt sich daran, dass pflegende Ange-
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hörige und die zu betreuende Person Wert darauf legen, die Trägerorganisation mobiler Dienste selbst auswählen zu können. Älteren Menschen mit Migrationshintergrund sind tendenziell ein schlechterer Gesundheitszustand und das frühzeitige Einsetzen des Alterungsprozesses im Vergleich zu älteren Menschen ohne Migrationshintergrund gemein. In der Befragung zeigt sich ein großer Facettenreichtum der untersuchten Bevölkerungsgruppe, der sich primär aus der jeweiligen Lebenslage ergibt. So spannt sich das Profil Älterer von den (genügsamen) Hochaltrigen, über die Hilfs- und Pflegebedürftigen und deren pflegende Angehörige bis hin zu den (finanziell) Unabhängigen, Flexiblen, Mobilen, zu denen auch eine immer größer werdende Anzahl an „jungen“, rüstigen SeniorInnen zu rechnen ist, „die das Leben zwischen 50 und 75 besonders genießen möchten“. Die Heterogenität der Lebenslagen, zu der auch die sehr unterschiedlich ausgeprägte Bereitschaft der Älteren zählt, sich mit dem „Altern und Älterwerden“ rechtzeitig auseinanderzusetzen und im Bedarfsfall (organisierte externe) Hilfe tatsächlich in Anspruch zu nehmen, gekoppelt mit gravierenden Unterschieden in den jeweiligen Bedürfnissen und dem Geltendmachen von Ansprüchen – die Gruppe der „jüngeren“ SeniorInnen zeichnet sich dabei durch „neuen“ Mut und „neues“ Selbstbewusstsein hinsichtlich der Artikulation von Wünschen aus –, stellt die Stadt vor große Herausforderungen in der Angebotsplanung. Auch die Struktur und die Organisation des Alltags variieren sehr, nicht zuletzt bedingt durch die sehr unterschiedliche Raumtüchtigkeit der älteren AkteurInnen, die sich in verschieden großen Aktionsradien ausdrückt, sowie durch den ebenfalls sehr unterschiedlichen Zugang zu und Umgang mit neuen Technologien, durch deren Nutzung, z. B. zur Versorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs, der Alltag wesentlich erleichtert werden kann.
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Charakteristika der Nahversorgung und Naherholung älterer Menschen in Wien
Das sich durch viele Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszeichnende Profil der heute älteren Stadtbevölkerung formt auch die Ansprüche der Älteren an ihre Nahversorgung und Naherholung entscheidend mit. Dennoch lassen sich aus der Befragung der älteren Menschen für beide Themenfelder einige Kernaussagen ableiten: So zeigt sich in Bezug auf die Nahversorgung mit Gütern und Diensten des täglichen Bedarfs, dass Einkaufen auch als Beschäftigung gesehen wird und deshalb für viele ein wesentlicher Grund ist, das Haus zu verlassen. Dazu gesellt sich eine sehr klare Zweigliedrigkeit des Einkaufsverhalten bei Lebensmitteln: zum einen sind die kleinen, alltäglichen Besorgungen zu nennen, zum anderen die in größeren Zeitabständen stattfindenden Großeinkäufe mit dem Auto. Parallel dazu wird das Vorhandensein von Fachgeschäften für Fleisch, Obst und Gemüse sowie Backwaren sehr geschätzt. Die Befragten sind vielfach auch bereit, für bessere Qualität und bes-
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seren Service höhere Preise zu bezahlen. Allerdings wird seitens der Älteren die persönliche Ansprache beim Einkaufen nicht immer als wünschenswert empfunden, sodass die Anonymität der Supermärkte auch von Älteren durchaus geschätzt wird. Die Monotonie großer Geschäftsstraßen wiederum wird vielfach als das Einkaufserlebnis störend empfunden, da die Filialen großer Handelsketten das Angebot und Bild prägen. Das Fehlen geeigneter Einkaufsmöglichkeiten sowie die körperliche Befindlichkeit der Älteren erfordern bei der Erledigung ihrer täglichen Wege die Hilfe Dritter. Dies sind meist die eigenen Kinder bzw. Schwiegerkinder. Diese Personen des Vertrauens begleiten die Älteren zudem, wenn Tätigkeiten zu erledigen sind, die vermehrte Aufmerksamkeit erfordern, wie etwa Bankwege. Im Hinblick auf die medizinische Basisversorgung (Allgemeinmedizin, Apotheken) zeigen sich die befragten Personen zufrieden. Ein Manko stellt die Versorgung mit FachärztInnen dar, da deren Wahl vielfach nicht in Abhängigkeit vom eigenen Wohnstandort erfolgt, sondern vor allem vom (langjährigen) Vertrauen abhängt. Sofern institutionelle Angebote wie etwa Essen auf Rädern in Anspruch genommen werden, besteht der Wunsch nach möglichst großer Flexibilität. Verflechtungen von Erledigungen des täglichen Bedarfs mit der Erholung dienenden Freizeitaktivitäten ergeben sich durch Wegeketten: Viele der Befragten genießen den Schaufensterbummel und das Flanieren, im Zuge dessen auch gerne Kleinigkeiten gekauft werden. Zwischendurch wird auch gerne das Kaffeehaus aufgesucht, auf einer Bank gerastet und das (innerstädtische) Treiben in den Straßen beobachtet. Das Stadtzentrum – gemeint ist hier die Wiener Innenstadt – spielt somit eine wichtige Rolle für die Naherholung der Älteren. Ihre Atmosphäre und ihr Angebot lassen sich kaum kompensieren. Hinsichtlich der Naherholung konnten aus der Befragung folgende Erkenntnisse gewonnen werden: Die Qualität des Naherholungsangebots im unmittelbaren Wohnumfeld wird wahrgenommen – unabhängig davon, ob die Befragten es nutzen oder nicht. Vor allem im innerstädtischen Gebiet wird das Fehlen ausreichender Grünräume als Mangel empfunden und die Nutzbarkeit vorhandener Grünflächen infrage gestellt. Der Nutzungsdruck auf die wenigen vorhandenen Möglichkeiten ist enorm. Neben dem eigenen Gesundheitszustand werden im innerstädtischen Gebiet häufig Konflikt- und Angstsituationen in den Park- und Grünflächen als Hemmnisse für die Nutzung und als wesentliche Einschränkung des eigenen Aktionsradius erlebt. Auch das zunehmende „Verbauen“ von Freiflächen wird bemängelt, des Weiteren, dass sie schlecht gepflegt werden bzw. im Winter wegen fehlender Schneeräumung nicht zu nutzen sind. Für fast alle Befragten stellt neben dem Vorhandensein von Naherholungsgebieten vor allem deren (leichte) Erreichbarkeit vom Wohnstandort aus eine Bereicherung der Lebens- und Wohnqualität dar. Tagesausflüge zu entfernter gelegenen Erholungsräumen erfolgen zumeist in Begleitung der Familie oder von Freunden bzw. werden von Vereinen, wie etwa den Pensionistenklubs, den Naturfreunden, dem Al-
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penverein oder den Pfarren organisiert. Als große Wiener Naherholungsgebiete sind hierbei der Wienerwald, Schönbrunn, der Prater, die Lobau und der Bisamberg zu nennen. Personen, die über einen eigenen (Schreber-)Garten verfügen, nutzen diesen bevorzugt.
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Stadtstruktur und Versorgungsqualität
Die drei für das Projekt ausgewählten, unterschiedlich strukturierten Beispielräume zeichnen sich jeweils durch ihre Verschiedenheit hinsichtlich demografischer Struktur, Lage im Stadtraum sowie Topografie und baulicher Stadtgestalt aus. Daraus resultieren Unterschiede bezüglich der Verkehrsinfrastruktur, der Qualität der Nahversorgung sowie dem Vorhandensein öffentlicher Grünflächen für die Naherholung. Während in den peripheren Stadträumen „Wilhelminenberg“ (Wien 16) und „Hirschstetten“ (Wien 22) Wohnnutzung und Grünflächen vorrangig sind, während die Dichte der Versorgungseinrichtungen gering ist, ist im innerstädtischen Mischgebiet „Neubau“ (Wien 7) eine Mischung aus „Wohnen“ und „Gewerbe und Dienstleistungen“ gegeben. Daraus ergibt sich in „Neubau“ eine im Vergleich zu den beiden anderen Untersuchungsgebieten ungleich höhere Anzahl an Nahversorgungseinrichtungen, deren Einzugsbereich (z. B. bei bestimmten FachärztInnen) teilweise das gesamte Stadtgebiet umfasst. Der Stadtraum „Wilhelminenberg“ umfasst – bedingt durch seine Nähe zum Wienerwald – zahlreiche naturnahe Erholungsgebiete. In „Neubau“ hingegen zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: mangelnde Durchgrünung und wenige von den Befragten nutzbare Parkanlagen („Korridorfunktion“). Wiederum anders ist die Situation in „Hirschstetten“: Hier befinden sich große Agrar- und Gärtnereiflächen, die jedoch für die öffentliche Nutzung nicht zur Verfügung stehen. Dennoch gibt es hier zwei über die Bezirksgrenze hinaus sehr beliebte Naherholungsgebiete: die Blumengärten Hirschstetten und den Hirschstettner Badeteich. Betrachtet man nun die Versorgungsqualität älterer Menschen, die auf die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel angewiesen sind bzw. ihre Wege zu Fuß zurücklegen, so zeigt sich, dass der Stadtraum „Neubau“ unter den drei ausgewählten derjenige ist, der eine gute Versorgung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, eine ausgewogene räumliche Verteilung der Haltestellen und eine exzellente Bedienungshäufigkeit aufweist. Der „Wilhelminenberg“ hingegen ist – betrachtet man 300 Meter als fußläufig gut erreichbare Entfernung zwischen den einzelnen Haltestellen – in dieser Hinsicht unterversorgt. Ähnlich sieht die Situation in „Hirschstetten“ aus. In den beiden letztgenannten Stadträumen ist die Bedienungshäufigkeit tagsüber sehr gering. Ein wesentlicher Grund dafür könnte in der hohen Automobilität der (älteren) BewohnerInnen liegen. Deshalb ist es in den Stadträumen „Wilhelminenberg“ und „Hirschstetten“ sehr relevant, wo genau ein älterer Mensch wohnt. Vor allem in „Hirschstetten“ gibt es
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„Wilhelminenberg“
„Neubau“
„Hirschstetten“
Vergleichende Darstellung der Bebauungssituation der drei Stadträume (Die Abbildung wurde folgender Quelle entnommen: Voigt, A. (2008, S. 59). Hierin heißt die Abbildung „Abb. 4.2-14: Vergleichende Darstellung der Bebauungssituation der drei Stadträume“). Die Karten wurden unter www.wien.gv.at heruntergeladen.
„Wilhelminenberg“
„Neubau“
„Hirschstetten“
Vergleichende Darstellung der Nahversorgungssituation der drei Stadträume. (Die Abbildung wurde folgender Quelle entnommen: Voigt, A. (2008, S. 59). Hierin heißt die Abbildung „Abb. 4.2-15: Vergleichende Darstellung der Nahversorgungssituation der drei Stadträume“). Die Grafiken wurden vom Team selbst erstellt.
„Wilhelminenberg“
„Neubau“
„Hirschstetten“
Vergleichende Darstellung der Naherholungssituation der drei Stadträume (Die Abbildung wurde folgender Quelle entnommen: Voigt, A. (2008, S. 59). Hierin heißt die Abbildung „Abb. 4.2-16: Vergleichende Darstellung der Naherholungssituation der drei Stadträume“). Die Grafiken wurden vom Team selbst erstellt.
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kleine Nahversorgungszentren, die für jene, die in den Wohnhausanlagen in unmittelbarer Nähe wohnen, (fußläufig) sehr gut zu erreichen sind, während die „Hausbesitzer“ in der Nähe des Hirschstettner Badeteichs entweder das Fahrrad oder das Auto nutzen müssen, um die Versorgungseinrichtungen rasch erreichen zu können. Es lässt sich unschwer erkennen, dass, bedingt durch seine raumbezogenen Eigenschaften, jeder Stadtraum seine Stärken und Schwächen aufweist, die sich in Vor- und Nachteilen für das tägliche Leben seiner (älteren) BewohnerInnen manifestieren. Für die Stadtplanung und Stadtentwicklung ist es nicht nur wichtig zu wissen, wo die (negativen) Knackpunkte bezüglich der Versorgungsfragen liegen, um diese zu entschärfen, sondern auch, welche Aspekte seitens der (älteren) Bevölkerung geschätzt werden, um diese möglichst zu stärken bzw. zu erhalten.
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Gedanken zu einer zukunftsfähigen Stadtplanung
Auch wenn die Versorgungsqualität der jeweiligen Stadtraumtypen aufgrund ihrer siedlungs- und infrastrukturellen sowie sozialräumlichen, aber auch naturräumlichen Eigenschaften unterschiedlich ausgeprägt ist, so ist unbedingt anzumerken, dass die Stadt bereits sehr viele Ideen – u. a. zur Gewährleistung der Barrierefreiheit sowie zur geordneten Nutzung vorhandener öffentlicher Grünräume durch unterschiedliche Anspruchsgruppen – umgesetzt hat. Die Herausforderung für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung besteht darin, die Lücken und Unsicherheiten, die sich zwischen Fakten- und Vermutungswissen über (nicht) voraussichtliche Entwicklungen und Trends auftun, zu schließen und weiterhin handlungsfähig und damit robust in Zeiten des Wandels zu bleiben. Um die Lebenssituation der heutigen und zukünftigen älteren Stadtbevölkerung weiterhin zu sichern und zu erhalten, wird es verstärkt erforderlich sein, 䊏
sich der Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten in den Bedürfnissen und Anliegen der durch unterschiedliche Lebenslagen geprägten Anspruchsgruppen unter den Älteren anzunähern, um herauszufinden, wie die Angebotsplanung für diese „neuen Kollektive“ aussehen könnte; 䊏 einen „objektiven Blick“ auf die tatsächliche Lebenssituation dieser Personengruppe im städtischen Kontext zu werfen, um die „Realität“ treffsicherer einschätzen und bewerten zu können; 䊏 Handlungsoptionen und -prioritäten für unterschiedliche Stadtraumtypen auszuloten und in weiterer Folge festzulegen. Viele der bisher angebotenen und umgesetzten Lösungsansätze weisen folgende Merkmale auf: 䊏 䊏
Kleinräumigkeit und Loslösung von übergeordneten Entwicklungen; Überschätzung der Partizipation und damit der bewusstseinsbildenden Maßnahmen im Allgemeinen;
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䊏
Versuch, den Verlust von räumlicher und sozialer Nähe durch Institutionalisierung teilweise zu kompensieren; 䊏 sehr unterschiedliche Treffsicherheit der Maßnahmen. Für die Zielsetzungen einer zukunftsfähigen Stadtentwicklung sind folgende Überlegungen wichtig: 䊏
䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
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Ausgangsbasis aller Überlegungen sollte die „Lebenslage“ („neue Kollektive“) sein, die zu einer gedanklichen Abkehr von einer Koppelung an das Alter führen sollte. Die Notwendigkeit des Angleichens der Geschwindigkeiten des „demografischen Wandels“ und des „stadtmorphologischen Wandels“. Die Stadtplanung ist gefordert, sich wieder auf das menschliche Maß zu besinnen, v. a. bei Überlegungen hinsichtlich Dichtewerten. Monotonien und „Übergrößen“, v. a. an den „Stadträndern“ und in „Siedlungserweiterungsgebieten“, sollten vermieden werden. Damit geht das Überdenken von Atmosphäre und Image verschiedener (öffentlicher) Stadträume einher. Zudem sollten der Facettenreichtum und die Funktionsfähigkeit der Stadträume erhalten bleiben, was eine stadtraumdifferenzierte Betrachtungsweise notwendig macht. Es muss die Gestaltung von Durchmischung sowie Integration überdacht werden; letztlich wird es – aufgrund sich verändernder Raumsouveränitäten und Raumtüchtigkeiten der einzelnen Anspruchsgruppen unter den Älteren – vermehrt erforderlich sein, die Potenziale neuer Formen der Nahversorgung und Naherholung (Stichwort „Stufenbau der Grünordnung“) auszuloten.
Mögliche erste Schritte in diese Richtung könnten sein: 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏 䊏
䊏
Mut zur ehrlichen Auseinandersetzung mit der tatsächlichen Situation im (öffentlichen) Stadtraum zu zeigen; seitens der Stadtverwaltung (bereits) ehrenamtlich tätige Personen stärker zu unterstützen; bestehende Paradigmen zu reflektieren; die Interessen der an Entwicklungsprozessen beteiligten AkteurInnen zu analysieren und Prioritäten neu zu ordnen; von Ceteris-paribus-Bedingungen abzukehren und die Bedürfnisse, Nöte und Potenziale einer „Stadtbevölkerung im Wandel” zu identifizieren; den Bedürfnissen der jüngeren Bevölkerung „mehr Raum“ zu geben; die Zukunftstauglichkeit „herkömmlicher” Lösungen zu überdenken und sich folgende Frage zu beantworten: „Würde ich die Lösungen, die ich anbiete, auch selbst nutzen?“; den Versuch zu unternehmen, einfache Maßnahmen auszuprobieren.
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Das ForscherInnenteam unternahm den Versuch, obige Gedanken konkret auf die drei ausgewählten Stadtraumtypen anzuwenden und leitete folgende Prioritäten und Zielsetzungen für die Stadtentwicklung in den beiden Handlungsfeldern Nahversorgung und Naherholung ab: Für das Wohngebiet in Stadtrandlage und Wienerwaldnähe („Wilhelminenberg“) ergibt sich als wichtigste Priorität die Sicherung der hohen Qualität der Naherholung sowie die Mindestsicherung und – wo möglich – Verbesserung der Nahversorgung, die Schaffung eines alternativen Versorgungsangebots mit mobilen Services sowie die Sicherung der Erschließungsqualität mit öffentlichem Verkehr. Dabei gilt es, die Geländeneigung der Hanglagen zu berücksichtigen, die insbesondere für ältere Menschen Schwierigkeiten der Raumnutzung mit sich bringen. An konkreten Maßnahmen im Bereich Nahversorgung kommen neben gezielten Förderungen für Klein- und Mittelbetriebe das Etablieren multifunktioneller stationärer NahversorgerInnen und die Einrichtung temporärer Märkte in Frage, weiters das Forcieren (der Inanspruchnahme) von Zustelldiensten, wie beispielsweise „Essen auf Rädern“, der Zustelldienste von Supermarktketten und Lebensmitteleinzelhandelsbetrieben, aber auch von Apothekenzustelldiensten. Im Bereich Naherholung sind die regional bedeutenden Naherholungsqualitäten in ihrem Bestand zu sichern und ihre Erreichbarkeit zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu verbessern, außerdem ist auf einen barrierefreien Zugang zu den öffentlichen Verkehrsmitteln zu achten. Weiters sollten die vorhandenen (Groß-) Grünanlagen besser betreut werden, z. B. durch Streuung und Reinigung der Wege, besonders im Winter, durch rutschsichere Ausstattung der Wege sowie das Schaffen von Rastmöglichkeiten (Bänke). Schließlich ist an das Errichten von Geländern an kritischen Stellen zu denken. Die wichtigste Zielsetzung für die Stadtentwicklung besteht demnach in der baulich-räumlichen Integration der bestehenden Raumstrukturen, der Verstärkung des räumlichen Zusammenhalts sowie der Erhaltung und weiteren Gestaltung des hochwertigen naturräumlich-ökologischen Potenzials. Im Mischnutzungsgebiet in dicht bebauter Innenstadtlage (Beispiel „Neubau“) bestehen die grundlegenden Herausforderungen in der Sicherung der bestehenden guten Nahversorgungsqualitäten, der Attraktivierung bzw. Anpassung des Angebots an die Bedürfnisse älterer Menschen sowie der Wahrung der Funktions- und Nutzungsmischung. Im Bereich Naherholung ist eine umfassende Verbesserung der Qualität durch gezielte Schaffung „grüner Netze“, etwa in Form von Grünverbindungen und flächenhaften Grüngestaltungen, möglich und nötig. Hinsichtlich konkreter Maßnahmen im Bereich Nahversorgung bestehen vielfältige Handlungsspielräume in der „Revitalisierung“ nicht mehr genutzter Erdgeschossflächen: So könnten ehemalige, heute teils leer stehende Geschäftslokale eine Umnutzung zu „Orten der Begegnung“ erfahren. Zusätzlich könnten im Zuge der Stadterneuerung und „Blocksanierung“ ein Umbau zur Förderung intergenerationellen Wohnens stattfinden sowie Einheiten für betreutes Wohnen errichtet werden. Durch verbesserte Zusammenarbeit engagierter Wirtschaftstreibender könnte eine
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stärkere Bindung der örtlichen Kaufkraft gelingen. Das ökologische und Erholungspotenzial dieses Stadtraums kann durch gezielte Interventionen im öffentlichen und halböffentlichen Grünraum durch Schaffung neuer „grüner Lungen“ oder die Förderung von Hofzusammenlegungen ausgeschöpft werden. Zur Verringerung von Nutzungskonflikten in öffentlichen Grünräumen bietet sich die Trennung in Funktionsbereiche sowie die Einsetzung einer generationenübergreifenden Parkbetreuung (inkl. partizipativer Parkgestaltung) an. Darüber hinaus ist die Verbesserung der „angstfreien“ Nutzbarkeit des öffentlichen Raumes mit Hilfe gestalterischer Maßnahmen, abgestimmte Ampelschaltungen und geeignete Querungshilfen zu forcieren. Als Zielsetzungen für die Stadtentwicklung ergeben sich demnach die Erhaltung, Ergänzung und Erneuerung der baulich-räumlichen Strukturen sowie die Erhaltung der Nutzungsmischung und der Nahversorgungsqualitäten, das bedeutet: ausgewogene und flächendeckende Grundversorgung in fußläufiger Distanz. Weiters ist auf den Erhalt und Ausbau des kleinräumigen ökologischen Potenzials auf verschiedenen Maßstabsebenen zu achten. Die zentrale Herausforderung für das sich in Stadtrandlage befindende „Hirschstetten“ besteht in der räumlichen Gestaltung der großen Naherholungspotenziale sowie der Mindestsicherung und Verbesserung der Nahversorgung, einschließlich der Sicherung der Erschließungsqualität mit öffentlichem Verkehr. Als Zielsetzungen für die Nahversorgung sind die Schaffung räumlich gut integrierter Versorgungsschwerpunkte und – fallsmöglich – die ausgewogene flächendeckende Grundversorgung in fußläufiger Erreichbarkeit ebenso zu nennen, wie der Ausbau dezentraler Nahversorgungseinrichtungen sowie die Kompensation der vorhandenen Defizite durch „neue“ Services. Konkret bieten sich dieselben Maßnahmen wie für das Beispielsgebiet „Wilhelminenberg“ an. In Bezug auf die Naherholung ist abgesehen von der Sicherung bestehender Orte der Naherholung deren räumliche Vernetzung und altengerechte Verbesserung anzustreben. An konkreten Maßnahmen lassen sich etwa die Schaffung nutzbaren Grüns in Geschosswohnbauten (Balkone und Loggien) nennen. Die Zielsetzung für die Stadtentwicklung besteht einerseits in der baulich-räumlichen Integration der bestehenden Raumstrukturen im Sinne der Verstärkung des räumlichen Zusammenhalts durch eine behutsame Nachverdichtung und Vernetzung, andererseits in der Erhaltung sowie Gestaltung des naturräumlich-ökologischen Potenzials auf den verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen.
Literatur Voigt, A.; Egartner, S.; Fischer, T.; Maisser, M.; Meth, D.; Steinbichler, M.; Wächter, P. (2008): Stadt der kurzen Wege aus ökosozialer Sicht – Nahversorgung und Naherholung in Wien vor dem Hintergrund der Alterung. Forschungsbericht. Ökosoziales Forum Wien. Wien 2008.
Ältere Menschen im Stadtteil – Perspektiven zur Vermittlung zwischen privater Lebensführung und öffentlicher Daseinsvorsorge Herbert Schubert und Katja Veil
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Abstract
Es wird die Idee einer „interaktiven Infrastruktur“ im Sozialraum des Wohnquartiers skizziert und mit Erkenntnissen zur Lebenssituation im Alter begründet. Im Blickpunkt stehen ältere Menschen, die in ihrer privaten Lebensführung zurückgezogen leben, kaum in lokale Beziehungsnetzwerke involviert sind und die Informationen und Angebote von Trägern der Altenhilfe deshalb bisher nicht erreichen. Mit dem skizzierten Infrastrukturmodell kann die kommunale Daseinsvorsorge vermeiden, dass solche Personen unerkannt in Notsituationen geraten, aber auch sicherstellen, dass sie kontinuierlich über Gelegenheiten zur erfolgreichen Bewältigung ihrer Lebenssituation informiert werden. Die infrastrukturelle „Brückenverbindung“ zu Älteren dient nicht nur der Sicherung von Grundbedürfnissen nach Kontakt, Zugehörigkeit und Anerkennung, sondern auch der Förderung und Unterstützung endogener Selbsthilfepotenziale in dieser Bevölkerungsgruppe. Im Vordergrund dieser Überlegungen steht eine möglichst frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Älterwerden, mit den Altersperspektiven und mit der Übernahme von Verantwortung für die persönliche Zukunft. Das skizzierte Modell zeigt Perspektiven für die Sozialplanung auf, zwischen privater Lebensführung im Alter und öffentlicher Daseinsvorsorge der Altenhilfe wirkungsvoll zu vermitteln, indem zurückgezogen lebende ältere Menschen dabei unterstützt werden, sich umfassend zu informieren und Chancen zur Mitgestaltung von Angeboten und Beratungen gemäß ihren Bedürfnissen wahrzunehmen.
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Einleitung
Das aktivierende sozialstaatliche Prinzip des „Förderns und Forderns“ gilt auch für die älteren Menschen (vgl. Lessenich 2008). Mit der – nicht zuletzt wegen der Kosteneffizienz – getroffenen Priorisierung von ambulanter vor stationärer Betreuung sowie von Prävention und Rehabilitation vor Pflege verfolgen die Kommunen das Ziel, das Prinzip der Aktivierung stärker lokal in Gemeinde und Quartier zu ver-
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ankern. So betrachtet ist die klassische Trennung in Sozialleistungen zur Unterstützung hilfebedürftiger Menschen auf der einen Seite und in Angebote zur allgemeinen Förderung sowie Anregung für ältere Menschen nicht sinnvoll. Im Aufgabenbereich der Aktivierung älterer Menschen gibt es in einigen Kommunen zwar schon modellhafte Beispiele, aber es muss in diesem Zusammenhang vor einer Überbetonung des Aspekts der „Aktivierung“ gewarnt werden, da der inhärente Impuls im Widerspruch zu einer selbst gewählten Rückzugsform stehen kann. Die Akzeptanz des Werts des selbstbestimmten Lebensvollzugs älterer Menschen beinhaltet auch die Anerkennung reduzierter Lebensformen, mit denen sich die älteren Menschen vor allem vor Überforderungen schützen wollen. In der Literatur dominiert die Perspektive, dass innovative Ansätze zur Erhöhung der gesellschaftlichen Teilhabe der älteren Bevölkerung notwendig seien – bei der Vermischung mit der „Aktivierungs“-Rhetorik ist jedoch Vorsicht geboten (vgl. Aner/Karl/ Rosenmayr 2007: 20). Die Infrastrukturplanung im Bereich der Altenhilfe kann nicht einseitig auf die Aktivierungsperspektive fokussiert werden, sondern muss offen bleiben für alle Formen der selbst gewählten privaten Lebensführung im Alter. Das Kuratorium Deutsche Altershilfe und der Verein für Sozialplanung fordern die Kommunen auf, dabei den Sozialraum als Bezugsrahmen in den Vordergrund der Alten- und Pflegepolitik zu stellen (vgl. VSOP 2008). Eine der wichtigsten Forderungen betrifft die Stärkung der Ressourcen des Sozialraums und die Erweiterung der Selbsthilfe- und Selbstbestimmungskapazitäten von älteren Menschen – unabhängig von einer aktiven oder reduzierten Teilhabe am Alltagsleben. Dieser Aspekt wird im Folgenden aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert.
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Zur privaten Lebensführung älterer Menschen
3.1
Ältere Menschen zwischen Autonomie und sozialer Abhängigkeit
Es können verschiedene Perspektiven auf das Alter eingenommen werden: Petermann und Roth (2006: 245ff.) bezeichnen normales Altern als statistischen Normbegriff, der sich sowohl an Entwicklungsverläufen als auch an der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit einer Altersgruppe orientiert. Unter Normalität wird im Alltag aber auch ein Älterwerden ohne chronische Krankheiten verstanden. Wird das Alltagsleben von Störungen beeinträchtigt, handelt es sich um pathologisches Altern, das mit zunehmenden Lebensjahren häufiger auftritt, weil z. B. Alzheimer-Demenz, Diabetes mellitus oder kardiovaskuläre Erkrankungen mit der Höhe des Lebensalters korrelieren (ebd.: 254). Die Kriterien Langlebigkeit, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit kennzeichnen nach Petermann/Roth erfolgreiches Altern. Schließlich betont der Begriff des differenziellen Alterns den Umstand, dass der Alterungsprozess individuell in unterschiedlicher Weise verlaufen kann (ebd.: 256). Familiale Beziehungen von alten Menschen gestalten sich heute mehrheitlich unter Bedingungen der räumlichen Trennung zwischen den Generationen (vgl.
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Schilling/Wahl 2002: 304ff.). Laut Mikrozensus lebten im Jahr 1998 nur 14% der Menschen im Alter über 60 Jahren in Privathaushalten mit einem oder mehreren Kindern oder anderen verwandten Personen zusammen (vgl. BMFSFJ 2001: 216). Seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts ist die Orientierung unter älteren Menschen verbreitet, nicht mit der Kindergeneration in einem Haushalt leben zu wollen und „Intimität auf Abstand“ zu wünschen (Schweppe 2007: 207ff.). Besonders zu beachten sind auch geschlechtsspezifische Merkmale. Backes schreibt über die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung des Zusammenwirkens von „Gender“ und „Ageing“ (2007: 151ff.). Soziale Probleme im Alter sind zum überwiegenden Teil Probleme alter und hochbetagter Frauen. Altwerden und Altsein bedeuten für eine Frau unter den aktuellen biografischen Bedingungen ein zweifaches Risiko für die Lebenslagen: Die mit dem Alter(n) strukturell drohenden sozialen Probleme (hinsichtlich materieller Sicherung und Wohnen, gesellschaftlicher Einbindung, sozialer Vernetzung, Gesundheit/Pflege und der Angewiesenheit auf andere) sind gegenwärtig bei älteren Frauen stärker ausgeprägt als bei älteren Männern. Das bedeutet andere und im Prinzip mehr Beeinträchtigungen, aber häufig auch vielfältigere subjektive Bewältigungsformen als unter Männern. Frauen haben eine höhere Lebenserwartung als Männer, sind aber mit zunehmendem Alter häufiger von chronischen Krankheiten, psychosozialen Notlagen und Pflegebedürftigkeit betroffen. Besonders deutlich zeigen sich Alternsrisiken bei einer Kumulation von Benachteiligungen im Lebensverlauf: zum einen bei Frauen, die aus unteren Sozialschichten stammen, selbst sozial nicht aufgestiegen sind, in infrastrukturell schlechter ausgestatteten Regionen leben, gesundheitlich und bezüglich ihrer sozialen Kontakte sowie ihrer Versorgungschancen beeinträchtigt sind; und zum anderen bei Frauen, die materiell und immateriell benachteiligt sind, bei denen Armut, Isolation, Beschäftigungslosigkeit oder Überlastung und Krankheit zusammentreffen. Ein zunehmender Anteil der älteren Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Negativ wirken sich im Alter das geringe Bildungs- und Einkommensniveau der ehemaligen Gastarbeitergeneration aus, das sich beispielsweise in einem durchschnittlich schlechteren Gesundheitszustand widerspiegelt (Schopf/Naegele 2005: 387, Özcan/Seifert 2006: 31ff.). Es wird zwar auf die relativ starken Selbsthilfepotenziale von Migranten/innen hingewiesen (vgl. Dietzel-Papakyriakou 2005), aber das bedeutet nicht, dass eine geringere Abhängigkeit von staatlichen Hilfesystemen besteht. Gerade bei älteren Migranten/innen sind die Integration in die Mehrheitsgesellschaft sowie die Inanspruchnahme von kommunalen Hilfen mit Hindernissen verbunden, was eine stärkere interkulturelle Ausrichtung von Leistungen der Altenhilfe notwendig erscheinen lässt (Özcan/Seifert 2006: 31ff.). Empirische Erhebungen innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund unterstreichen, dass dieser Personenkreis in Deutschland keine soziokulturell homogene Gruppe darstellt. Vielmehr zeigt sich – wie in der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund – eine vielfältige und differenzierte Milieulandschaft (Sinus Sociovision 2007, dieselben 2008). Die Migranten-Milieus unterscheiden sich weniger nach ethnischer Herkunft und sozialer Lage als nach ihren Wertvorstellungen, Le-
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bensstilen und ästhetischen Vorlieben. Das Spektrum der Grundorientierungen ist unter Personen mit einer Migrationsgeschichte sehr breit und heterogen: Es gibt sowohl traditionellere als auch soziokulturell modernere Segmente als bei einheimischen Deutschen (Wippermann/Flaig 2009). Die älteren Menschen mit Migrationshintergrund sind in zwei Milieus überrepräsentiert: Als erstes ist ein vormodernes, relativ isoliertes Milieu zu nennen, das in den patriarchalischen und religiösen Traditionen der Herkunftsregionen verhaftet bleibt. Ältere Menschen sind vermehrt auch im Blue-Collar-Milieu der traditionellen Arbeitsmigranten und Spätaussiedler zu finden, die nach materieller Sicherheit für sich und ihre Kinder streben (Sinus Sociovision 2008). 3.2
Aktivierung und soziales Engagement älterer Menschen
In den 1980er-Jahren wurde ein Umdenken im Umgang mit dem Alter gefordert: Passive Formen der Lebensorganisation im Alter wurden als reformbedürftig dargestellt; stattdessen sollte das Älterwerden als eine aktive Gestaltungsaufgabe begriffen werden (vgl. Naegele/Tews 1993: 126ff.). Zugleich wurde das Bild einer tendenziellen „Verjüngung des Alters“ populär, das Chancen und Potenziale zu mehr Aktivität versprach. Mit der Relativierung bzw. Biografisierung der Lebensalter sind Altersphasen nicht mehr an bestimmte Lebensstile gebunden (vgl. Schweppe 2007). Auch die Konsumgewohnheiten lassen sich nicht mehr an bestimmten Lebensaltern festmachen, sondern korrespondieren mit altersübergreifenden Lebensstilen und -orientierungen. Die Forderung, ältere Menschen zu Mitbestimmung und mehr Autonomie zu befähigen, wurde auch auf internationaler Ebene entwickelt (vgl. Lessenich 2008: 108ff.). Diese Argumentationslinie wurde 1997 als „active ageing“ auf die Tagesordnung des G8-Gipfels gesetzt. Sie fand eine Fortsetzung mit dem „Jahr der älteren Menschen“, das die Vereinten Nationen 1999 ausriefen. Die EU-Kommission übernahm das Leitbild einer aktiven Gesellschaft für alle Altersgruppen. Lessenich weist darauf hin, dass sich die Zielsetzungen der EU-Leitlinien von den Forderungen der Vereinten Nationen dahin gehend unterscheiden, dass die europäische Politik dem Ziel folgt, den Verbleib im Arbeitsmarkt auszudehnen (Lessenich 2008: 110). Die WHO betont demgegenüber die Aktivierung in der Nacherwerbsphase, um die physische und mentale Gesundheit der Menschen sowie die Unabhängigkeit und Produktivität der älteren Menschen zu erhalten. Der fünfte Altenbericht der Bundesregierung enthält Handlungsempfehlungen zur besseren Nutzung der Potenziale älterer Menschen in der nachberuflichen Lebensphase (vgl. BMFSFJ 2006). Darin werden Potenziale für eine verantwortungsvolle Rolle älterer Menschen dargestellt, die vor allem im selbstbestimmten Engagement liegen. In sozialpolitischen Konzepten wird deshalb zurzeit die Strategie verfolgt, die soziale Teilhabe und die aktive Mitwirkung älterer Menschen im Gemeinwesen zu fördern. Im Kontrast dazu steht aber die reale Bereitschaft älterer Menschen, ihre Zeitpotenziale in ehrenamtliche Aktivitäten zu investieren (ebd.:
Ältere Menschen im Stadtteil
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22). Köller (2007: 127ff.) hat in diesem Zusammenhang zwei Typen des Umgangs mit der Zeit im Alter diagnostiziert: Typ 1 beschreibt Personen, die in ihrer Erwerbsbiografie anhaltende zeitliche Belastungen (z. B. Termindruck) erlebt haben. Sie lehnen es ab, die zeitliche Logik der Arbeitswelt auf ihr Leben im Ruhestand zu übertragen und wollen ihre Zeit nicht zur öffentlichen Ressource machen. Zu Typ 2 zählen Personen, die ihre Zeit im Ruhestand grob planen. Sie übernehmen diese Strukturierungsmuster aus ihrem Erwerbsleben. Auch sie genießen die durch den Ruhestand gewonnene Zeitflexibilität. 3.3
Partizipation und soziale Ungleichheit
Im Laufe der beiden vergangenen Jahrzehnte hat sich eine Alterseinteilung etabliert, die zwischen „jungen Alten“ und „alten Alten“ differenziert: Für die erstgenannte Gruppe hat sich auch der Begriff des 3. Lebensalters eingebürgert (unterhalb des 80. Lebensjahres) – entsprechend repräsentieren die sogenannten Hochbetagten ab dem 80. Lebensjahr das 4. Lebensalter (Petermann/Roth 2006: 250). In den vergangenen Jahrzehnten hat sich eine weitere Differenzierung der „jungen Alten“ nach Milieus verbreitet. Die 55- bis 70-Jährigen unterscheiden sich danach in der Orientierung und im Lebensstil (Sinus Sociovision/Infratest Sozialforschung 1991): (I) 31% wurden den „pflichtbewussten-häuslichen Alten“ zugeordnet, (II) 29% den „sicherheitsund gemeinschaftsorientierten Alten“, (III) 25% den „aktiven neuen Alten“; und (IV) 15% der Befragten wurden als „passive resignierte Alte“ bezeichnet. Die Milieugruppen unterscheiden sich in Bezug auf ihre Aktivitätspotenziale erheblich, vor allem Letztere widersprechen dem Bild eines „aktiven“ Alters und bilden eine kaum wahrgenommene Kontrastgruppe. Ein niedrigschwelliges Kriterium für die Einbindung in das öffentliche Leben von Wohnquartier und Stadtteil ist die aktive Beteiligung in Freizeitgruppen und Vereinen. Im Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde eine Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement in den Jahren 1999 bis 2004 durchgeführt (vgl. TNS 2005). Die Quote des Engagements ist mit 40% unter Erwerbstätigen deutlich höher als unter Arbeitslosen mit 27% und als unter Rentnern/innen mit 28%. Bei Personen mit einem niedrigen Einkommen ist die Quote der Personen, die sich engagieren, deutlich geringer als bei Personen mit höherem Einkommen. Die Berliner Altersstudie BASE zeigt in einer Pfadanalyse unterschiedliche Prädiktoren für gesellschaftliche Beteiligung auf. Dabei wird deutlich, dass neben gesundheitlichen Faktoren wie dem Eintreten von Demenz auch soziale Faktoren einen Einfluss haben. Zum einen tragen Vorerfahrungen der Partizipation vor dem 60. Lebensjahr zu einer erhöhten Beteiligung im Alter bei. Zum anderen ist die Beteiligungsbereitschaft auch vom Bildungsniveau und vom Geschlecht abhängig. Am stärksten ist die Bereitschaft in der gehobenen Mittelschicht ausgeprägt (Maas/Staudinger in Mayer/Baltes 1996: 550). In der Untersuchung „Altersvorsorge in Deutschland“ (TNS 2007) wurde beobachtet, dass ältere Menschen aus etablierten Milieus –
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quasi „selbsthilfefähiger“ – an die offenen personalen Beziehungskreise der lokalen Gelegenheiten andocken und die vorhandenen Infrastrukturen nutzen können, während Menschen aus schwächeren Milieus gerade auch im Alter überdurchschnittlich ausgegrenzt bleiben oder ausgegrenzt werden (vgl. Kronauer 2002; derselbe 2008). Die Ausgangssituation wird dadurch verschärft, dass gerade dieser Personenkreis nur schlecht über die Infrastrukturen der kommunalen Altenhilfe erreicht wird (vgl. Reuband 2008: 354ff.). In besonderer Weise gilt dies auch für ältere Menschen mit einem Migrationshintergrund (TNS 2005: 347ff.). Vergleichszahlen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) sowie des Zentrums für Türkeistudien weisen für die großen Migrantengruppen in Deutschland Engagementquoten von 10% bis 12% aus. Die erste Migrantengeneration beteiligt sich vor allem in den traditionellen Migrantenvereinen und in ihrer „Community“ (Dietzel-Papakyriakou 2005:401). Diese sind jedoch bisher relativ isoliert und nur selten Teil der öffentlichen Partizipationsgelegenheiten. Aufgrund der relativen Isolation von der sozialräumlichen Gelegenheitsstruktur werden die in sich geschlossenen Beteiligungssysteme als Verfestigung von desintegrierten Parallelgesellschaften kritisiert, aber auch als Potenzial für die Anschlussfähigkeit an die Mehrheitsgesellschaft interpretiert (ebd.: 402). Bei der Potenzialanalyse im Altersvergleich ist zu berücksichtigen, dass sich ein hoher Prozentsatz älterer Menschen „zur Ruhe gesetzt“ hat. Oft stehen gesundheitliche Barrieren bestimmten Aktivitäten entgegen, die körperliche und geistige Anstrengung erfordern. Statt diese ältere Menschen für ihren zurückgezogenen Lebensstil zu kritisieren, ist es angemessener, dies zu akzeptieren und infrastrukturelle Gelegenheiten zu schaffen, die darauf ausgerichtet sind. Unter der Perspektive der differenziellen Gerontologie stehen biografisch begünstigte „Pioniere“, die von den Angeboten zur Partizipation Gebrauch machen können und von sozialräumlichen Angeboten profitieren, einer Gruppe von zurückgezogenen Älteren gegenüber, die mit gesundheitlichen Einschränkungen oder anderen Schwierigkeiten zu kämpfen haben (Aner/Karl/Rosenmayr 2007: 23). Letztere werden bisher kaum erreicht, wobei Angebote für diese Zielgruppe bislang auf interventionsbezogene und damit passive Versorgungsleistungen beschränkt bleiben. Für die Population der zurückgezogenen älteren Menschen werden deswegen innovative Angebote im Gemeinwesen gebraucht, die deren Lebenslagen gerecht werden und dabei deren Autonomie und Selbstbestimmung fördern (ebd.: 28). 3.4
Angemessener Umgang mit den Selbstdefinitionen des Alters
Die Verluste des dritten (60 bis unter 80 Jahre) und vierten Lebensalters (80 Jahre und älter) treten besonders in einer Beeinträchtigung der Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zutage. Häufig ist bereits das Ausscheiden aus dem Berufsleben mit einer schleichenden Selbstwertminderung verbunden. Im weiteren biografischen Verlauf frustrieren erlittene oder befürchtete Verluste nahestehender Personen das Bindungsbedürfnis. Sukzessiv auftretende und sich chronifizierende Schmerzen
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beeinträchtigen zunehmend das Wohlbefinden und lassen die Befürchtung anwachsen, pflegebedürftig zu werden. In der Folge minimiert sich das Erleben personaler Wirksamkeit, was einen zurückgezogenen Lebensstil befördern kann (vgl. Petermann/Roth 2006: 250). Bei Hochbetagten kommen oft eine ausgeprägte Unlust und ein niedriges Selbstwertgefühl vor; in Verbindung mit fehlenden sozialen Bindungen kann daraus ein schwieriger seelischer Zustand resultieren, der zwar Lösungen und Veränderungen erfordert, zu denen die Betroffenen sich aber nur noch selten motivieren können. Dem werden die Kampagnen des „erfolgreichen Alterns“, die in den beiden vergangenen Jahrzehnten insbesondere von politischen Agenturen ausgegangen sind, nicht gerecht (vgl. Frank 2007). Es stehen sich die Konzeptionen des Disengagements und der Aktivitätstheorie gegenüber. In der Aktivitätstheorie wird der positive Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und fortgesetzter Aktivität im Alter herausgestellt. Empirisch gilt als gesichert, dass besonders die informelle Aktivität im Freundes-, Bekannten- und Nachbarschaftskreis für die Lebenszufriedenheit bedeutsam ist (vgl. Petermann/Roth 2006: 259). Die Disengagementtheorie betrachtet die protektiven Wirkungen des allgemeinen Rückzugs aus der personalen Umwelt und die damit verbundene „Wendung nach innen“. Mit diesem Verhaltensmuster geben alte Menschen nach und nach ehemalige Positionen und Weltsichten auf. Wegen der positiven empirischen Befunde im Rahmen gerontologischer Erhebungen wurde die Position der Aktivitätstheorie zur angemesseneren Form eines befriedigenden Alterns erklärt, weil sich aktive ältere Menschen wohler fühlen und mit ihrem Leben zufriedener sind als inaktive (ebd.: 260). Praktikerinnen und Praktiker der kommunalen Altenhilfe plädieren demgegenüber für eine differenzierende Sicht, die die interindividuellen Unterschiede der Menschen im dritten und vierten Lebensalter anerkennt. Der Rückzug von sozialen Aktivitäten und aus der Umwelt im Sinn einer Wendung nach innen darf nicht negativ stigmatisiert werden. Es ist nicht sinnvoll, öffentlich Druck auf die älteren Menschen auszuüben und sie zur aktiven Wahrnehmung von Rollen im Alter zu „verpflichten“. Im Vordergrund muss stehen, was das Individuum selbst will und welche Form des Umgangs mit dem Älterwerden die größte Zufriedenheit für den/die Einzelne/n mit sich bringt (vgl. Reuband 2008: 354ff.). Außerdem wird oft verkannt, dass ältere Menschen auch im Rahmen zurückgezogener Lebensstile gestaltend auf ihre soziale Umwelt einwirken. So geben die Menschen im dritten Lebensalter ihrer persönlichen Umwelt im Durchschnitt mehr Unterstützung, als sie von dieser erhalten. Diese Generosität beruht in der Regel auf einer selbst auferlegten Bescheidenheit und Selbstverantwortung älterer Menschen. Ihr Rückzug kann daher auch das Ziel verfolgen, die Belastung der Jüngeren zu vermindern. Die Entlastung der Jüngeren stellt ein wesentliches Thema des eigenen Wohlbefindens im Alter dar und repräsentiert das Bemühen um ein selbstbestimmtes und unabhängiges Alltagsleben (vgl. Petermann/Roth 2006: 263). Vor diesem Hintergrund wird auf der kommunalen Ebene die Diskussion geführt, die Altenhilfeplanung (als Teil der Sozialplanung) nicht nur auf den aktiven
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Personenkreis der älteren Menschen auszurichten, sondern infrastrukturelle Perspektiven auch für diejenigen zu entwickeln, die bewusst „disengaged“ sind, also eher inaktive Verhaltensformen für die Organisation des Alltags bevorzugen (vgl. VSOP 2008: 19).
4
Neue Perspektiven der kommunalen Daseinsvorsorge für zurückgezogen lebende ältere Menschen
4.1
Netzwerkorientierung der Angebote für ältere Menschen
Die Gestaltung der kommunalen Daseinsvorsorge erfolgt mit den Methoden der örtlichen Sozialplanung (vgl. Deutscher Verein 1986). Im Bereich der Altenhilfe wurde der Bedarf lange Zeit im Rahmen von Orientierungswerten berechnet und wurden entsprechende Einrichtungen geschaffen (vgl. ebd.: 700ff.). Eine Folge des damit verbundenen sukzessiven Ausbaus der Sozialverwaltung im Sozialstaat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts war die Fragmentierung der Gesamtaufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge in funktionale Teilaufgaben. Die fehlende Transparenz der zergliederten Abläufe führte zu „operativen Inseln“, auf denen die professionellen Akteure der verschiedenen Ressorts und der einzelnen Einrichtungen relativ isoliert agierten. Gemeinsame Schnittstellen wurden von ihnen nicht mehr wahrgenommen, was zum Aufbau von Doppelstrukturen, aber auch zu Leerstellen beitrug. Daher setzte sich in den vergangenen Jahren die Einsicht durch, dass die Qualitätsentwicklung von Diensten und Einrichtungen in den Sozialräumen der Bewohnerinnen und Bewohner entscheidend davon abhängt, ob diese Barrieren überwunden werden. Seit den 1990er-Jahren setzen sich daher Netzwerke als neue Organisationsform auch in der kommunalen Daseinsvorsorge durch, weil sie Brücken zwischen den operativen Inseln schlagen können (vgl. Schubert 2008). Deshalb wird die Sozial- und Infrastrukturplanung gegenwärtig nach Kriterien der Netzwerkkooperation modernisiert (Schubert 2008a: 84). Ein Alleinstellungsmerkmal der kommunalen Daseinsvorsorge besteht darin, dass die in natürlichen Netzen gebündelten sozialen Ressourcen – wie z. B. die Primärnetzwerke der Familie, des Freundeskreises und vertrauter Kollegencliquen sowie die Sekundärnetzwerke der Vereine – auch Gegenstand der fachlich-professionellen Primärprozesse sind. Mit der Konstruktion künstlicher (tertiärer) Netzwerke werden professionelle Ressourcen gebündelt und fachliche Aktivitäten interdisziplinär koordiniert sowie mit den lokalen Primär- und Sekundärnetzwerken gekoppelt. Das Aufgabenfeld der sozialen Infrastrukturplanung hat sich in den vergangenen Jahren dahin gehend verschoben, dass Vernetzungen von öffentlichen, sozialwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Planungsgegenstand geworden sind (vgl. Schubert 2007). Seit den 1990er-Jahren besteht eine Tendenz zu einer flexibleren Infrastrukturplanung, die mehrere Handlungsstränge zu integrieren versucht. Dies erfolgt vor allem in Gestalt einer „projektorientierten“, d. h. punktuell intervenierenden Planung, in der die
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„Software“ im Sinne der Problemdefinitionen und der Aktivierung der Akteure einen hohen Stellenwert besitzt, die „Hardware“ im Sinne von Gebäude, Raumprogramm und materieller Ausstattung entsprechend weniger Beachtung findet. Zugleich werden formelle Planungsabläufe durch informelle Verfahren ersetzt. In diesen Projekten der Sozialplanung nimmt die Bedeutung der hierarchischen Steuerung im Planungsprozess sukzessiv ab, während der Aspekt der Kooperation und der kooperativen Umsetzung an Bedeutung gewinnt (Planung im Konsens). In der aktuellen Orientierung der Sozialplanung werden spezifische Areale des Siedlungsraums als administrative Raumeinheit genutzt, um darin vorhandene professionelle Interventionen zu koordinieren (Sozialraumorientierung). Statt neue Einzelinfrastrukturen zu planen, wird unter der Kategorie des Sozialraums eine „Netzwerkplanung“ betrieben, nach der verschiedene Akteure aus Verwaltung, Bildungswesen, Gesundheitswesen, sozialer Arbeit und Kultur raum- und problemkontextbezogen kooperieren sollen (vgl. Schubert 2008a: 85). Die besondere Anforderung an die Sozialplanung besteht darin, den Aufbau von operativen Netzwerken als Fortsetzung der klassischen Infrastrukturplanung zu begreifen und somit als Planungsaufgabe neu zu füllen. Die Sozial- bzw. Altenhilfeplanung ist in der kommunalen Daseinsvorsorge prädestiniert dafür, als Agentur der Netzwerkplanung lokale Kräfte und Leistungen in Gestalt einer Netzwerkkooperation zu integrieren. Unter Aspekten der Qualitätssicherung müssen solche Agenturen darauf achten, dass die operativen Netzwerke nicht nur „technokratisch“ konstruiert werden, sondern durch „Akteursbrücken“ dynamisch mit anderen lokalen Netzwerken verknüpft bleiben. Es geht um die Wirkungsrelevanz der Verbindung der sekundären, zivilgesellschaftlichen mit den tertiären, fachlichen Netzstrukturen. Mit interaktiven und informellen Infrastrukturmodellen soll vermieden werden, dass Personen unerkannt in Notsituationen geraten, und es soll sichergestellt werden, dass sie kontinuierlich Informationen sowie Angebote erhalten, wie sie ihre Lebenssituation erfolgreich bewältigen können. Gleichzeitig muss dabei das Bedürfnis nach Rückzug und Selbstbestimmtheit in Bezug auf Aktivierungsanforderungen respektiert werden.
4.2
Ausblick auf ein angemessenes interaktives Infrastrukturmodell
Ein zurzeit nicht genau quantifizierbarer Teil der älteren Bevölkerung lebt relativ zurückgezogen und ist nur eingeschränkt in die sozialräumliche Umgebung eingebunden. Familienbezüge sind reduziert oder prekär, ebenso Kontakte in die Nachbarschaft oder ins weitere Umfeld im Quartier. Auch wenn Kontakte auf vereinzelte Familienbeziehungen oder auf einen engen Ausschnitt des herkunftskulturellen Milieus konzentriert bleiben, ist eine aktive Teilhabe kaum ausgeprägt. Einerseits handelt es sich um einen freiwilligen und bewussten sozialen Rückzug; andererseits resultiert das zurückgezogene Leben aus körperlichen, sozialen und/oder kognitiven Einschränkungen. Die zugrunde liegenden Bewältigungsstrategien sind mit dem Ri-
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siko sozialer Isolation verbunden und münden in eine reduzierte Lebensqualität und Anfälligkeit für Krankheiten aller Art. Die kommunale Seniorenarbeit – das ist Kern der Problemlage – erreicht diesen Personenkreis über die bestehende soziale Infrastruktur bzw. über Angebote der Altenhilfe im weitesten Sinne fast gar nicht und kann bisher in diese Kreise hinein kaum Impulse geben, die die Autonomie und Eigenverantwortlichkeit im Alter stärken. Daher besteht ein Bedarf an quartiersbezogenen Handlungskonzepten, die eine soziale Teilhabe dieser Menschen an den Ressourcen des Quartiers sowie der Stadt insgesamt ermöglichen, indem eine „indirekte Interaktion“ hergestellt wird. Es ist notwendig, „interaktive“ Infrastrukturmodelle der kommunalen Altenhilfe zu entwickeln und zu erproben: Die Interaktion erfolgt darüber, dass die „natürlichen Kontaktpunkte“ von zurückgezogen lebenden älteren Menschen im Wohnquartier als „Brücke“ (Gatekeeper) für den Austausch von Informationen und Leistungen gewonnen und kontraktuell gebunden werden, um auf diesem Weg im Sozialraum des Wohnquartiers und Stadtteils mehr Teilhabechancen zu eröffnen und Möglichkeiten zu einer selbstbestimmten Gestaltung des Alters zu vermitteln. Dies setzt die Erhebung genauerer Informationen sowohl über die Lebensbedingungen älterer Menschen als auch über die sozialräumlichen Potenziale in den Wohnquartieren voraus. Der Ansatz repräsentiert einen neuen Typ von Sozialplanung, der nicht neue Einrichtungen erfindet, sondern bestehende Potenziale zu einer „flexiblen Netzwerkinfrastruktur“ bündelt (vgl. Schubert 2009). Zur Realisierung eines solchen Modells muss der Informationsaustausch im Sozialraum erheblich erweitert und informeller gestaltet werden. Interaktive Infrastrukturen verfolgen deswegen eine stärkere Öffnung von informellen Akteuren im Wohnquartier für die Fragen des Alters. Diese sozialräumlichen Akteure – seien es Institutionen, Organisationen, Verbände oder einzelne Personen – können als Ressourcen des Wohnviertels in einer Netzwerkform verknüpft werden, um über sie als informelle Kontaktgelegenheiten, die im Alltagsleben älterer Menschen eine sozialräumliche Bedeutung haben, Zugang zu den zurückgezogen lebenden älteren Menschen im Quartier zu gewinnen. Die Ressourcen im Sozialraum des Wohnquartiers, die als alltägliche Bezugspunkte auch von zurückgezogen lebenden Älteren aufgesucht werden, sind zu identifizieren. Im herkömmlichen Verständnis reichen sie von der Kirchengemeinde über Vereine bis hin zu den Hausärzten. Wenn der Blick weiter ausgedehnt wird, gehören dazu auch Läden, wie z. B. Apotheke, Drogerie oder Lebensmittelgeschäft, und Dienstleistungsagenturen, wie z. B. Fußpflege, Friseur, Reinigungskräfte oder Postbote. Nach ihrer Identifizierung muss die Sozialplanung ein Konzept entwickeln, wie über diese „Gatekeeper“ Informationen der Altenhilfe an die älteren Menschen im Quartier weitergegeben werden können. Im Rahmen einer angemessenen Kommunikationsstrategie können die älteren Menschen in ihrem Wirkungskreis über diese Kontaktpunkte regelmäßig informiert und mit Materialien ausgestattet werden, um sie dadurch wieder kulturell in den Alltag der lokalen Stadtgesellschaft einzubeziehen.
Ältere Menschen im Stadtteil
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Ein solcher Kooperationszusammenhang lässt sich nur über eine systematische und vorausschauende Reflexion, Planung und Abstimmung herstellen. Dazu sind: 䊏
die Aufgaben des Netzwerks aus der Perspektive der älteren Menschen zu analysieren, 䊏 die notwendigen Netzwerkpartner im Wohnquartier zu identifizieren sowie zu gewinnen, 䊏 der Ablauf des Ineinandergreifens tiefenscharf vorzustrukturieren und 䊏 angemessene Handlungsziele unter den Beteiligten im Sozialraum zu vereinbaren. Die professionelle sozialplanerische Vorbereitung der Netzwerkkooperation als Grundlage für die zu entwickelnde „interaktive Infrastruktur“ kann als Meilenstein für den Erfolg bewertet werden. Denn der Bedarf an einer Verbesserung der Infrastrukturversorgung zurückgezogen lebender Menschen, die durch innovative Wege und Formen der Kommunikation erreicht wird, steht außer Zweifel. Indem solche neuen Akteure in die lokale Altenhilfe eingebunden werden, lässt sich im sozialräumlichen Zusammenspiel mit den bisherigen Trägern sozialer Leistungen eine bessere Versorgungsqualität erreichen. Literatur Adler, G./Tremmel, S./Brassen, S./Scheib, A. (2000) Soziale Situation und Lebenszufriedenheit im Alter. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. 33: 210–216. Aner, K./Karl, F./Rosenmayr, L. (Hrsg.) (2007) Die neuen Alten – Retter des Sozialen? Wiesbaden: VS Verlag. Anhorn, R./Bettinger, F./Stehr, J. (Hrsg.) (2008) Sozialer Ausschluss und soziale Arbeit. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, 181–198. Backes, G.M. (2007) Geschlechter – Lebenslagen – Altern. In: Pasero/Backes/Schroeter (2007): 151–183. Backes, G.M./Amrhein, L. (2007) Potenziale und Ressourcen des Alter(n)s im Kontext von sozialer Ungleichheit und Langlebigkeit. In: Pasero/Backes/Schroeter (2007): 71–84. Beckmann, K./Hesse, M./Holz-Rau, C./Hunecke, M. (Hrsg.) (2006) StadtLeben – Wohnen, Mobilität und Lebensstil. Neue Perspektiven für Raum- und Verkehrsentwicklung. Wiesbaden: VS Verlag. BMFSFJ (2006) Fünfter Bericht zur Lage der älteren Generation. Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft. Der Beitrag älterer Menschen zum Zusammenleben der Generationen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. BMFSFJ (Hrsg.) (2004) Lebenssituation der älteren alleinstehenden Migrantinnen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) (1998) Regionales Altern und Mobilitätsprozesse Älterer. Expertisenband 2 zum Zweiten Altenbericht der Bundesregierung. Frankfurt a. M.: Campus. Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.) (2006) Lebenssituation und Gesundheit älterer Migranten in Deutschland. Expertisen zum Fünften Altenbericht der Bundesregierung. Berlin: LIT Verlag.
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IV Mikrodemografien im Vergleich
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung – ein Fallbeispiel aus Kiel Marco Schmidt
1
Demografischer Wandel und Stadtentwicklung
Ausgehend von dem stetigen sozialen Wandel verändern sich die gesellschaftlichen Normen und Werte nachhaltig. Ausprägungen dieses Wandels können beispielsweise in einer Heterogenisierung von Biografien und Lebensstilen, neuen Bedürfnissen und Ansprüchen (z. B. an Wohnstandorte) sowie veränderten generativen Verhaltensweisen gesehen werden. Der demografische Wandel stellt dabei eine Folge dieser Veränderungen auf globaler Ebene dar und entfaltet räumlich differenzierte Auswirkungen und Dynamiken. Wachstum, Schrumpfung, Überalterung, steigende Kinderzahlen – dies alles können mögliche Entwicklungspfade für städtische Teilräume innerhalb derselben Stadt sein. Im Kontext von Stadt- und Raumentwicklung sind vor allem die Themen Siedlungsstruktur, Wohnungswesen und Infrastruktur zu nennen (Kemper 2005: 8). Aber auch Fragen der Mobilität, der Pflege, der Bildung, der Nahversorgung, der Lebenswirklichkeiten älterer Menschen, lokaler Wohnungsmärkte, des Generationenwechsels in Wohnquartieren sowie politische und planerische Fragen sind beispielhafte Themenfelder, welche im Spannungsfeld zwischen demografischem Wandel und Stadtentwicklung stehen. Auf lokaler Ebene hat der Bestand an gebauten, langlebigen Strukturen (Infrastrukturen und Wohnraum) eine besondere Bedeutung. Sie werden aufgrund unterschiedlicher lebensstilspezifischer und lebenzyklischer Bedürfnisse und Wahrnehmungen in einem differenzierten Maße von bestimmten sozialen Gruppen nachgefragt. Somit werden die Nachfrage und der Zuzug von bestimmten Bevölkerungsgruppen teilweise durch den Bestand selber bestimmt (Myers 1990: 12). Es kann vermutet werden, dass bestimmte Quartierstypen dadurch in besonderem Maße von den Auswirkungen des demografischen Wandels betroffen sind bzw. zukünftig betroffen sein werden (Schnur 2006: 20). Im folgenden Beitrag sollen die wesentlichen Herausforderungen des demografischen Wandels anhand eines konkreten, bewusst demografisch derzeitig (noch) „unspektakulär“ ausgewählten Beispiels benannt werden und Bezüge zur differenzierten Raumwirksamkeit entsprechender Prozesse und den aktuellen Stadtentwicklungstrends hergestellt werden.
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Marco Schmidt
Demografische Rahmenbedingungen in Kiel
Die Bevölkerungsentwicklung in Kiel wird maßgeblich sowohl durch den sich weiter vollziehenden Strukturwandel (Abbau vor allem der ehemals dominanten Werftindustrie) als auch durch die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten (Universität, Fachhochschule etc.) geprägt. Die Folgen von Strukturwandel und Suburbanisierung manifestierten sich in massiven Bevölkerungsverlusten, welche sich von 1970 bis 2001 auf über 40.000 Personen summieren (Bürger- und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel 2007). Die Einwohnerzahl stabilisiert sich seitdem und es kommt wieder zu moderaten Bevölkerungszuwächsen. Den wesentlichen Faktor für die Bevölkerungsentwicklung und -struktur stellen die Wanderungsbewegungen dar. Die Fort- und Zuzüge in Kiel sind charakteristisch für einen Hochschul- und Ausbildungsstandort. Der seit 2001 deutlich positive Wanderungssaldo weist dabei vor allem eine geringere Abwanderung (vor allem der 30- bis unter 35-jährigen Personen) insgesamt sowie einen vermehrten Zuzug von jüngeren Personen im Ausbildungsalter auf. Dies liegt vor allem an der Baulandausweisung, in gestiegenen Studierendenzahlen (keine Studiengebühren und „Begrüßungsgeld“ bei Anmeldung) und an einer erhöhten Wertschätzung des Wohnstandortes. Für die Gesamtstadt Kiel kann jedoch anhand der Wanderungsbewegungen keine „Renaissance der Städte“ (vgl. z. B. Kuhn 2007: 125, Hirschle & Schürt 2008: 211 oder Siedentop 2008: 193) festgestellt werden. Dennoch sind auch in Kiel gerade in innerstädtischen (Altbau-)Stadtteilen Prozesse der Umstrukturierung feststellbar, welche im Sinne einer erhöhten Wertschätzung von städtischem Wohnen gedeutet werden können. Die Bevölkerungsstruktur Kiels ist als Universitätsstadt im Vergleich zum Landesdurchschnitt erwartungsgemäß relativ jung. Entsprechend hohe Bevölkerungsanteile weisen die Altersgruppen der 21- bis unter 50-Jährigen auf, die etwa 46% der Bevölkerung ausmachen. Bisher können die Auswirkungen des demografischen Wandels auf gesamtstädtischer Ebene in den Jahren 1996 bis 2006 als moderat bezeichnet werden. Sie sind durch eine leichte Abnahme der durchschnittlichen Haushaltsgröße (–3,8%), eine Abnahme der Personen ab 60 Jahren auf 23,5% (–2,0 Prozentpunkte) und eine Abnahme der Kinder unter sechs Jahren auf 4,9% (–0,8 Prozentpunkte) gekennzeichnet. Etwa 53% aller Haushalte (2006) sind Einpersonenhaushalte und in lediglich 17% der Haushalte leben Kinder unter 18 Jahren. Damit ist der durchschnittliche Haushalt von einer Alltagswirklichkeit ohne Kinder geprägt. Das Muster der Alterung auf Stadtteilebene (Anteil der Personen 60 Jahre und älter) folgt einem ähnlichen Muster wie die Bevölkerungsentwicklung insgesamt. Eine starke räumliche Ausdifferenzierung ist zu erkennen, wobei Schrumpfung und Überalterung in den Gebieten oftmals gleichzeitig vorzufinden sind. Homogene Altersstrukturen sind charakteristisch für viele dieser schrumpfenden Stadtteile. Neben der lokalen Persistenz sind nur geringe Austauschprozesse durch Wanderungsbewegungen festzustellen. Ein „Durchaltern“ (auch als „demografische Welle“ bezeich-
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
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net) ganzer Quartiere in den Stadtteilen ist die Folge und betrifft sowohl Geschosswohnungsbau als auch Einfamilienhausgebiete („aging-in-place“ und „dying-inplace“, vgl. auch Köster 1994: 96). Demografisch jüngere Stadtteile sind im universitätsnahen Raum sowie in Neubaugebieten im südlichen Kiel vorzufinden. Viele dieser peripheren Stadtteile weisen einen hohen Anteil von Familien mit Kindern auf. Andere Stadtteile mit einer zeitlich differenzierten Bauhistorie (zumeist Eigenheime) weisen hohe Bevölkerungsanteile mit sowohl älteren als auch jüngeren Altersgruppen auf; ein baulicher Bezug der kleinräumigen Altersverteilung innerhalb der Stadtteile ist dabei festzustellen. 3
Das Fallbeispiel Kiel-Russee
3.1
Methodisches Vorgehen
Das folgende Beispiel eines Kieler Stadtteils soll die mikrodemografischen Prozesse und ausgewählte Themenfelder, die damit in Verbindung stehen, auf kleinräumiger Ebene diskutieren. Im besonderen Maße wird dabei auf die Lebenssituation älterer Menschen eingegangen, da diese im Zuge des demografischen Wandels eine besondere Rolle spielen. Die Ausführungen basieren auf eigenen empirischen Erhebungen, welche 2007 u. a. im Stadtteil Russee durchgeführt wurden. Diese beinhalten: 䊏
Standardisierte postalische Haushaltsbefragungen (n = 177, entspricht einer Rücklaufquote von 35,4%, ca. 5% aller Haushalte wurden erfasst; leichte Überrepräsentation von älteren und größeren Haushalten, Personen mit Migrationshintergrund sowie höheren Bildungsabschlüssen), 䊏 Kartierung der Bebauung und Nutzung, 䊏 Systematische Begehungen und Beobachtungen mit dem besonderen Fokus auf visuelle Artefakte des Generationenwechsels/des Bevölkerungsaustausches; dabei vereinzelte, zufällige „Gartenzaungespräche“, 䊏 Expertengespräche mit Akteuren der Wohnungswirtschaft und kommunalen Vertretern. 3.2
Vorstellung des Untersuchungsgebietes
Der Stadtteil Russee liegt am westlichen Stadtrand von Kiel, nördlich angrenzend an den gleichnamigen See und das umgebende Landschaftsschutzgebiet. Durch die 1970 erfolgte Eingemeindung erfolgte eine rasante Transformation von einem kleinen Dorf zu einem Wohnstandort mit suburbanem Charakter. Der Stadtteil ist maßgeblich durch die Wohnform des Ein- und Zweifamilienhauses geprägt – etwa 93% aller Wohngebäude und 67% aller Wohnungen bestehen aus diesem Wohntypus. Vor allem seit den 1980er-Jahren wurden im größeren Stil Eigenheime und in den 1990er-Jahren auch punktuell Geschosswohnungsbau errichtet. Aufgrund der Bebauungsstruktur und der relativ jungen Gebäudesubstanz liegen die durchschnitt-
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Marco Schmidt
lichen Wohnungsgrößen über dem Kieler Mittel. Funktional ist der Stadtteil klar auf das familiäre Wohnen konzipiert. Hierzu sind ergänzend Nahversorgungseinrichtungen sowie ein Angebot an Kindertagesstätten und primarschulischer Betreuung errichtet worden. Derzeitig erfolgt die Erschließung weiterer kleiner Baugrundstücke zur Errichtung von Eigenheimen. Der Stadtteil hat derzeit (2006) 7.455 Einwohner. 3.3
Demografische Struktur
Russee stellt einen im Kieler Vergleich relativ jungen Stadtteil dar. Besonders starke Strukturunterschiede weist der Stadtteil hinsichtlich der Anteile an Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter ab drei bis unter 21 Jahren auf. Ebenfalls überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind die Altersgruppen ab 35 bis unter 60 Jahren. Auffällig ist dabei die relativ starke Abnahme (absolut und relativ) von Kindern und Jugendlichen. Seit wenigen Jahren unterschreitet der Anteil der unter dreijährigen Kinder den städtischen Durchschnitt. Dagegen sind die Altersgruppen ab 60 Jahren noch deutlich geringer vertreten. Interessant ist in diesem Kontext die dynamische Zunahme der älteren Personen ab 60 Jahren im Stadtteil – dieser hat sich im Zeitraum von 2000 bis 2006 um über fünf Prozentpunkte erhöht. Bezogen auf den gesamtstädtischen Kontext ist dies ein hoher Wert der Zunahme. Die derzeitige Bevölkerungsstruktur (vgl. Abbildung 1) lässt darauf schließen, dass in fünf bis 15 Jahren sehr dynamische Alterungsprozesse zu erwarten sind („demografische Welle“). Bevölkerungsstruktur im Vergleich 2006
12
anGesamtbevölkerung der Gesamtbevölkerunginin% % AnteilAnteil an der
10
8
Russee Kiel
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3
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Abbildung 1: Demografische Strukturen in Kiel und Russee im Vergleich Quelle: Bürger- und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel 2007; eigener Entwurf, eigene Berechnung
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
135
Eine stark familiär geprägte Bevölkerungsstruktur spiegelt sich auch in der Haushaltsstruktur wider. Die durchschnittliche Haushaltsgröße liegt mit 2,28 Personen (2006) erheblich über dem Kieler Durchschnitt (1,77). Die Entwicklung ist aber auch hier von einer leichten Abnahme geprägt. Die weitere Haushaltsstruktur ist von vergleichbar geringen Anteilen an Einpersonenhaushalten (30%, Kiel: 53%) sowie hohen Anteilen von Haushalten mit Kindern (36%, Kiel: 20%) gekennzeichnet. In etwa 27% der Haushalte wohnen keine Kinder (mehr); anhand der Abwanderungsstrukturen sowie den vorherrschenden Wohntypen kann darauf geschlossen werden, dass ein nicht unerheblicher Teil dieser Haushalte nicht durch generelle Kinderlosigkeit charakterisiert ist, es sich vielmehr um „empty nests“ handelt. Aufgrund von Altersstruktureffekten weist Russee noch positive natürliche Bevölkerungsbewegungen auf. Das generelle generative Verhalten weist allerdings, altersbereinigt, kaum wesentliche Abweichungen von dem der Gesamtstadt auf. Zusammen mit den Wanderungsüberschüssen wurde im Zeitraum von 2000 bis 2006 ein moderater Einwohnerzuwachs von knapp drei Prozent generiert. 3.4
Kleinräumige demografische Differenzierung
Die Annahme, dass die demografische Alterung häufig mit einer baulichen Alterung einhergeht (Vater & Zachraj 2008: 320, vgl. auch Franz & Vaskovics 1982: 286), kann für den Stadtteil Russee in großen Teilen bestätigt werden. Die Bevölkerungsentwicklung im Stadtteil ist insgesamt von einer noch leicht positiven Entwicklung gekennzeichnet. Auf Blockebene stellt sich dieses Bild sehr viel differenzierter dar (vgl. Abbildung 2). Einwohnerzuwächse sind zunächst einmal in Blöcken mit hoher Neubautätigkeit (z. B. Block 1, 2, 3, 8 und 19) sowie in Bauabschnitten jüngsten Datums (Block 36) vorzufinden. Dort wird durch Zuzug sowie durch familiäre Expansion die Einwohnerbasis erhöht. Dies kann auch in stark alternden Gebieten erfolgen, wodurch vermeintlich gegenläufige Entwicklungen (Alterung und Einwohnerzuwachs) zeitgleich zu konstatieren sind (z. B. Block 1). Ebenfalls sind Einwohnerzuwächse in wenigen Gebieten (Block 13 und 14) mit generativen Umbrüchen festzustellen. Hier sind derzeit noch sehr hohe Anteile älterer und hochbetagter Menschen vorzufinden. Einwohnerzuwächse, ein hoher Anteil von Kindern sowie abnehmende absolute und relative Zahlen von älteren Altersgruppen lassen auf diesen Wechsel schließen. Dies wird weiterhin durch die Gebäudealter (überwiegend aus den 1950er- und 1960er-Jahren) sowie die Beobachtungen der Begehungen bestätigt. Zusätzlich sind auch hier Neubautätigkeiten der 1990erJahre vorzufinden, sodass Generationenwechsel und Neubautätigkeit in Kombination diese Strukturen und Prozesse erklären. Block 14 weist aufgrund geringerer Neubautätigkeit sowie einer derzeit noch schwächeren Dynamik des generativen Wechsels (dafür aber noch hoher Alterungsdynamik) eine geringere Ausprägung der genannten Prozesse auf. Stagnierende bis stark abnehmende Bevölkerungszahlen (Abnahme bis über 31% von 1996 bis 2006) sind ebenfalls in vielen Gebieten vorzufinden. Aufgrund
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Marco Schmidt
geringer Leerstände können im Wesentlichen die mehr oder minder starke Haushaltsreduktion sowie der Austausch von Haushalten mit unterschiedlichen Größen erklärend angeführt werden. Die Abwanderungsstruktur lässt in vielen Fällen darauf schließen, dass die erwachsen gewordenen Kinder den Haushalt verlassen haben, was vielfach mit dem Erbauungsdatum der Häuser korrespondieren würde. In älteren Haushalten kommt es aufgrund von weiteren Verkleinerungen oder kompletter Auflösung von Haushalten zu einer Bevölkerungsreduktion. Generell kann man feststellen, dass in Russee viele Gebiete ihre familiäre Expansionsphase abgeschlossen haben und die Bevölkerungszahl stagniert bzw. teilweise auch schon abnimmt. Insgesamt ist die Bevölkerung im gesamtstädtischen Vergleich sehr jung, weist geringe Anteile älterer Menschen und relativ viele Kinder im schulpflichtigen Alter auf. Die Differenzierung der demografischen Prozesse auf Baublockebene zeigt ein differenziertes Bild (siehe Abbildung 2). Die Verteilung der Altersgruppen unterstützt die These, dass es sich in einigen Teilgebieten von Russee um konsolidierte Wohngebiete handelt Die Abnahme des Anteils an Kindern unter zehn Jahren ist dabei in nahezu allen Teilgebieten größer als die generative sowie wanderungsbedingte Zuwachsdynamik. Dies lässt ebenfalls darauf schließen, dass in vielen Teilgebieten die familiäre Expansion im Wesentlichen abgeschlossen ist bzw. sich bezogen auf den Stadtteil abgeschwächt hat. Hohe Anteile der unter sechsjährigen Kindern sind fast ausschließlich in Gebieten mit Neubau von Einfamilienhäusern aus den 2000er-Jahren vorzufinden. Die in Abbildung 2 dargestellte Verteilung und Dynamik der Personen ab 60 Jahren zeigt ein ebenfalls sehr differenziertes Bild, bei dem Bezüge zum Wohnungsbestand bestehen. Vor allem Eigenheimgebiete der 1950er- und 1960er-Jahre weisen besonders markante Anteile von über 60- und über 80-Jährigen auf. Die Neubaugebiete der 1980er-Jahre und vor allem die seit 1990 erstellten Bauabschnitte weisen hingegen nur sehr geringe Anteile älterer Menschen auf. Eine auffällige Ausnahme bilden einige jüngere Geschosswohnungsbestände in der Spreeallee (z. B. Block 31), wo eine insgesamt altersgemischte Bewohnerschaft mit unerwartet hohen Anteilen von 60- bis unter 80-Jährigen vorgefunden werden kann. Es lässt sich spekulieren, ob diese Personen eine relativ gut ausgestattete neue Wohnung mit zentral verfügbarer Infrastruktur zielgerichtet als „Ruhesitz“ ausgewählt haben. Auf der Ebene der Baublöcke, welche unterschiedlich groß (Fläche und Einwohnerzahl) sind, haben demografische Veränderungen auch unterschiedlich starke statistische Auswirkungen. Die Blöcke sind baulich nicht homogen und einheitlich strukturiert, sodass ein Vergleich nicht problemlos möglich ist. Dennoch können klare Verbindungen zwischen baulicher und demografischer Alterung gezogen werden. Die statistischen Indizien lassen sich durch die Beobachtungen visueller Artefakte des Umbruchs bestätigen. Auch „Gartenzaungespräche“ bestätigen die obigen Aussagen hinsichtlich generativer Umbrüche. Insbesondere die Persistenz vieler Menschen in Eigenheimen lässt Verbindungen zwischen zeitlichen Bauabschnitten und den durchschnittlichen demografischen Strukturen der Bevölkerung zu. Durch die relative Homogenität der Bevölkerungsstruktur in diesen Beständen kommt es zu
Datenquelle: Bürger- und Ordnungsamt der Landeshauptstadt Kiel 2006/2007, eigene Berechnungen; Geodaten: © Stadtvermessungsamt Kiel, Genehmigungsnummer LHK/024/06
Abbildung 2: Alterung und Altersdynamik in Kiel-Russee
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
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„demografischen Wellen“, welche durch eine hohe Alterungsdynamik gekennzeichnet sind. In deutlich älteren Beständen sind schon mehrfach Generationenwechsel erfolgt, während sie in Eigenheimen der späten 1950er- bis 1980er-Jahre oftmals noch nicht vollzogen wurden und zum Teil noch die Erstbezieher in den Häusern wohnen. 3.5
Infrastrukturen
Lokal verfügbare Infrastrukturen stellen insbesondere vor dem Hintergrund einer zunehmend älter werdenden Stadtteilbevölkerung einen maßgeblichen Faktor für die gesellschaftliche Teilhabe und für die Bewahrung der Lebensqualität dar. Anhand der abgefragten Nutzungsverflechtungen kann in gewissem Maß darauf geschlossen werden, ob das lokale Angebot den Anforderungen und Wünschen der Stadtteilbewohner entspricht oder ob substituierend andere Einrichtungen aufgesucht werden. Beispielhaft werden die Bildungseinrichtungen für Kinder bis zum Grundschulalter sowie die Nahversorgung im Stadtteil diskutiert. Durch die substanzielle Veränderung der Nutzergruppen auf Stadtteilebene, welche bei Kitas, Krippen und Grundschulen anhand des Alters klar benannt werden können, können der Bestand und die Auslastung dieser lokalen Infrastrukturen zukünftig infrage gestellt werden. Ein ausreichendes und räumlich nahes Angebot an kindgerechten Infrastrukturen stellt insbesondere für zuziehende Haushalte mit Kindern einen wichtigen Standortfaktor dar. Insbesondere Kindertagesstätten und Grundschulen weisen dabei klare nahräumliche Einzugsgebiete auf. Ausnahmen stellen im Wesentlichen Einrichtungen mit besonderen pädagogischen oder lebensweltlichen Konzepten (Waldkindergarten, Waldorfschule o. Ä.) dar. Die lokale Kinderbetreuung ist gerade für Stadtteile mit Familienprägung von besonderer Bedeutung. Von den Befragten mit Kindern im Haushalt wurden diese Strukturen explizit als Bedingungen für einen Zuzug genannt. Die Nutzungsquote und die räumliche Verflechtung zeigen einen klaren Stadtteilbezug auf. 85% der Befragten, die eine Kindertagesstätte nutzen, suchen lokale Angebote im Stadtteil auf. Dies korrespondiert mit den verfügbaren Plätzen für Kinder ab drei Jahren bis zum Grundschulalter (ca. 220 Plätze). Trotz weiteren Zuzugs von Eltern mit Kindern in den Stadtteil ist eine merkliche Reduktion der absoluten und relativen Anteile der Kinder im Stadtteil festzustellen. Die frühkindliche Betreuung ist, bezogen auf die westdeutsche durchschnittliche Betreuungsquote von 9,9% der Kinder unter drei Jahren (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2009: 9f.) nur gering ausgeprägt. Nur etwa die Hälfte der Kapazitäten des theoretischen Bedarfs wird lokal bereitgestellt. Fragen der Auslastung bzw. thematisch-zeitlichen Akzentuierung (z. B. Ausbau der frühkindlichen Betreuungsangebote, Ganztagsbetreuung, Ausbau der Fördermöglichkeiten) der Einrichtungen sind zukünftig zu erwarten; auch Einrichtungsschließungen werden bereits jetzt in einigen westdeutschen Kommunen diskutiert (vgl. z. B. Koch 2005).
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
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Die Nahversorgung stellt also einen integralen Bestandteil von lebenswerten und funktional durchmischten Quartieren dar. Wohnungsnahe Versorgung entspricht dem Leitbild der Stadt der kurzen Wege, der dezentralen Konzentration und ermöglicht die Verringerung privater Verkehre. Waren des kurzfristigen Bedarfs sollten fußläufig in zehn Minuten erreichbar sein; in der Planungspraxis entspricht dies einer Distanz von 500 bis 700 Metern (Junker & Kühn: 28). Darüber hinaus stellen Nahversorgungs- und Stadtteilzentren wichtige „Kristallisationspunkte alltäglicher Kommunikation“ dar (Weber 2006: 248). Integrierte Lagen sind vor dem Hintergrund einer deutlich alternden Bevölkerung von besonderer Bedeutung. Jeder Konsument verfügt im Umfeld seines Wohnortes nur über begrenzte Informationen zu möglichen Einkaufszielen, von denen er wiederum auch nur einen Teil tatsächlich besucht. Unabhängig vom ökonomischen Status nimmt dieser „Kenntnis- und Besuchsraum“ mit steigendem Alter ab (Kulke 2005: 15f.). Insgesamt ist die Nahversorgung also vor allem für ältere und sozial benachteiligte Menschen („Nichtmotorisierte“) von besonderer Bedeutung (Weber 2006: 252). Dispers sind im und um den Stadtteil vielfältige Versorgungsstrukturen vorzufinden. Dies ermöglicht circa 72% der Stadtteilbewohner innerhalb von 500 Metern Luftlinie ein Lebensmittelgeschäft zu erreichen. Ein wirkliches Ortszentrum mit Aufenthalts- und Kommunikationsqualität fehlt hingegen. Dies wird auch von den Bewohnern klar als Defizit benannt. Sowohl die Bewertung als auch die Nutzungsstrukturen zeigen, dass eine hohe lokale Akzeptanz und Zufriedenheit mit den Einrichtungen der Nahversorgung besteht. Etwa 93% der befragten Russeer nutzen hauptsächlich die lokalen Betriebe zur Deckung ihres Bedarfes, wobei die Personen ab 60 Jahren eine höhere lokale Nutzung aufweisen als die jüngeren Altersgruppen. Dies spiegelt sich auch in der Verkehrsmittelwahl wider; trotz überwiegender PkwVerfügbarkeit erledigen ältere Personen ihre Einkäufe „nur“ zu 62% mit dem Pkw (Personen/Haushalte unter 60 Jahren: 77%) – auch das Fahrrad (17%) sowie zu Fuß (17%) sind Formen der Mobilität, wobei diese mit zunehmenden Alter deutlich ansteigen (insbesondere die Fortbewegung zu Fuß). Dies deckt sich auch mit verschiedenen Untersuchungen, in denen konstatiert wird dass die Füße das wichtigste Verkehrsmittel älterer Menschen sind (z. B. Kasper & Lubecki 2003: 6). Für den ÖPNV kann gesagt werden, dass er, abgesehen vom Schülerverkehr u. a. zu weiterführenden Schulen, für den Stadtteil bei allen Altersgruppen für jedwede Tätigkeit oder auch Freizeitaktivitäten nur eine untergeordnete Rolle spielt. Lediglich bei den Hochbetagten ist eine etwas höhere Nutzung festzustellen; aufgrund der geringen Fallzahlen ist aber die Ableitung eines Trends nicht möglich. Es bestehen grundsätzliche altersspezifische Bewertungsunterschiede; zumeist bewerten ältere Menschen die Ausstattung durchschnittlich um eine halbe Schulnote schlechter als jüngere Altersgruppen. Ältere Menschen verwenden seltener die besonders guten und schlechten Noten, so dass trotz unterschiedlicher Bewertungsstruktur der durchschnittliche Wert nicht sonderlich von den restlichen Gruppen divergiert. Auch sind die freizeitlichen und versorgungsbezogenen Aktionsräume stärker auf den Stadtteil fokussiert, als bei den jüngeren Russeern.
140 3.6
Marco Schmidt
Wohnen und Wanderungsbewegungen
Die eigene Wohnung sowie das Quartier/Stadtteil stellen insbesondere für ältere Menschen die zentralen Lebensmittelpunkte bzw. die wichtigsten „sozial-räumlichen Kontexte“ dar (Saup 1999: 8). In einer affektiv-emotionalen sowie kognitiven Beziehung kommt dem Quartier somit eine besondere Bedeutung und Symbolik zu (Schneider-Sliwa 2004: 306). Dabei erfüllen die Wohnung und das Wohnumfeld drei wesentliche Funktionen – als emotionaler Raum, als Handlungsraum sowie als sozialer Raum (Kulenkampf et al. 2000: 6). Der Wohnungsmarkt in Russee ist durch eine sehr geringe Leerstandsquote von 0,7% (GEWOS 2007: 88), geringe Fluktuationsraten sowie eine hohe Quote an selbst genutztem Eigentum gekennzeichnet. Insgesamt ist eine hohe Wohnzufriedenheit nahezu aller Befragten festzustellen – lediglich unter 5% der Befragten sind „unzufrieden“ oder „sehr unzufrieden“ mit ihrer Wohnsituation. Dies zeigt sich auch in der hohen durchschnittlichen Wohndauer in Stadtteil und Wohnung (bezogen auf das jeweilige Alter) von knapp 14 Jahren. In absoluten Zahlen leben die meisten älteren Personen im Stadtteil in der Wohnform des Ein- und Zweifamilienhauses. Relativ haben die ab Sechzigjährigen zwar die höchsten Anteile je Wohnform bei den Eigentumswohnungen, grundsätzlich stellt jedoch das Ein- oder Zweifamilienhaus den Lebensraum der älteren Haushalte (zumeist Zweipersonenhaushalte) dar. Nur in den wenigsten Fällen erfolgte eine Anpassung der wohnlichen Gegebenheiten durch Umbauten oder aber technische Hilfsmittel. In etwa 6% der befragten Haushalte sind derlei Anpassungen erfolgt. Vor allem das Anbringen von Haltegriffen in der Wohnung sowie die Herstellung von Barrierefreiheit werden besonders häufig genannt. Auch Notrufanlagen sowie spezielle Sitzgelegenheiten für das Badezimmer sowie Aufzüge (z. B. Treppenlift) werden angeführt. Russee wurde bereits oben als familiär geprägter Stadtteil mit überwiegender Eigenheimbebauung charakterisiert. Dies spiegelt sich auch in den alterspezifischen Wanderungssalden wider. Insbesondere 30- bis unter 35-jährigen Menschen (mutmaßlich junge Familien) wandern (mit ihren Kindern) zu. Bis auf die Altersgruppen im Kindesalter sowie die in der Familiengründungsphase weisen die weiteren Gruppen lediglich ausgeglichene oder gar negative Salden auf. Aufgrund vielfältiger Ursachen, zu denen auch die mangelnden Wohn- und Betreuungsangebote vor Ort gehören, ist der Wanderungssaldo bei den Hochbetagten negativ. Über 65% der antwortenden Haushaltsmitglieder haben bereits zuvor in Kiel gewohnt (lediglich 9% zuvor im Stadtteil). Der Wohnortwechsel ging zu überwiegenden Teilen mit einem Wechsel der Wohnungsart von der Mietwohnung zum Eigenheim sowie mit einer starken Vergrößerung der Wohnfläche einher. Rund 80% der befragten Haushalte haben sich im Vergleich zur vorherigen Wohnung um durchschnittlich 43 m2 (auf dann 124 m2) vergrößert. Die Flächenerweiterung wird im Wesentlichen durch die Faktoren Haushaltsexpansion (erhöhter Flächenbedarf) sowie höhere finanzielle Ressourcen (Hand-
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Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
lungsspielraum erweitert sich) erklärt; weiterhin kann diese Erweiterung durch den gesamtgesellschaftlichen Trend des steten Wachstums der durchschnittlichen Wohnfläche pro Person erklärt werden. Auch der Wunsch nach Eigentum spiegelt sich bei der „klassischen“ jungen Mittelschichtfamilie wider. Insbesondere in Russee kann dieser Haushaltstypus in verstärktem Maße vorgefunden werden. Der Wunsch nach Eigentum, welcher nicht isoliert vom Lebensverlauf betrachtet werden sollte, stellt in Russee eines der wichtigsten Motive zur Wanderung dar. Dieses Motiv beinhaltet auch den Erwerb von Eigentumswohnungen, welche in Russee von verschiedenen Gruppen nachgefragt werden; hierzu sind auch ältere Haushalte zu zählen. Viele der anderen Wanderungsmotive (vgl. Abbildung 3), welche Lagefaktoren (schlechtes
sonstiger familiärer Grund
20,12
Heirat
7,32
Erwerb von Wohneigentum
39,63
Berufliche Gründe
13,41
schlechtes Wohnumfeld
8,54
schlechte Wohnlage
9,76
schlechte Ausstattung
4,88
Wohnkosten
9,76
Wohnung zu groß
4,88
Wohnung zu klein
39,63
0
10
20
30
40
50
Abbildung 3: Ausgewählte Motivbündel für den Wohnungstandortwechsel nach Russee Quelle: eigene Erhebung 2008 (n = 177)
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Umfeld und Lage), Kosten oder „sonstige familiäre Gründe“ betreffen, sind dagegen nicht zwangsläufig im Lebensverlaufskontext zu sehen. Auch sind weitere sehr persönliche Gründe von den Befragten angegeben worden, welche aber in der Summe nicht diese signifikanten Ausprägungen aufweisen. Generell finden Wohnortwechsel häufig in zeitlicher Nähe zu biografischen Ereignissen statt (vgl. Beckmann et al. 2006). Auch Schneider & Spellerberg (1999) haben in ihrer 1996 durchgeführten Studie festgestellt, dass das Lebensphasenmodell trotz individualisierter Lebensläufe immer noch eine hohe Aussagekraft aufweist. Aber auch Faktoren wie beispielweise Image, Lebensstil, Habitus oder verschiedene Arten von Restriktionen stellen sehr wichtige Einflussfaktoren für die Wohnstandortwahl dar. Ein Stadtteil, ein Quartier oder eine Nachbarschaft werden als Indikator für individuelle Eigenschaften, Werte Normen, sozialen Status bzw. die Stellung in der sozialen Hierarchie wahrgenommen (Permentier et al. 2007: 202). Nicht unabhängig von finanziellen Ressourcen stellen der Habitus und die damit verbundenen sozialen Praktiken in einer Nachbarschaft eine wichtige Basis für die emotionale Bindung an den Wohnort dar. Abweichendes Verhalten und differierende Normen führen direkt oder indirekt zu einem Gefühl der Ausgrenzung oder zum Gefühl, „nicht dazuzugehören“. Dazu gehört auch ein gewisser Rechtfertigungsdruck bei Differenzen zwischen zugewiesenem sozialem Status des Haushalts und dem zugewiesenen Image des Wohnorts (Gram-Hanssen & Beth-Danielsen 2004: 22). Der in Russee dominierenden Wohnform „Eigenheim“ werden positive Statusassoziationen zugewiesen und dadurch ein Distinktionsbedürfnis der Eigentümer befriedigt. Das Eigenheim stellt das seit Jahrzehnten unangefochtene Leitbild des Wohnens dar (Böltken 2008: 44), wobei dieses in letzter Zeit von einem schleichenden Bedeutungsverlust (siehe auch oben: „Renaissance der Städte“) gekennzeichnet ist. Auch stellen ähnliche Alltagspraktiken und „Ziele“ (das Großziehen von Kindern) eine Grundlage für hohe Wohnzufriedenheit, geringes Konfliktpotenzial, wohnliche Persistenz sowie soziale Netzwerke dar. Wenn man das Lebensalter betrachtet, in dem die Haushalte in den Stadtteil ziehen, kann die These der biografisch korrelierenden Ereignisse mit dem Umzug bestätigt werden. Anhand der bisherigen Wohndauer in der Wohnung kann auch auf die Zeiträume und das entsprechende Alter, in denen die Haushalte (präziser: die antwortende Person) gewechselt sind, rückgeschlossen werden. Dabei unterscheiden sich die Wanderungszeitpunkte nach Wohnungstyp deutlich. Zunächst kann festgestellt werden, dass das durchschnittliche Alter bei Bezug der derzeitigen Wohnung bzw. des Hauses, trotz gravierend unterschiedlicher Altersstrukturen im Stadtteil, nahezu einheitlich bei etwa 36 Jahren liegt. Dies trifft, altersstrukturell bereinigt, auch auf die älteren Haushalte zu. Wenn man die Perzentile betrachtet, in denen 75% aller Werte liegen, so befinden sich die oberen Grenzen in Russee bei 43 Jahren. Ein geringer Anteil der Personen verändert danach seinen Wohnstandort, insbesondere wenn zuvor Eigentum gebildet wurde. Grundsätzlich nimmt die Wanderungsbereitschaft mit zunehmendem Alter deutlich ab, so dass man davon ausgehen kann, dass die Wohnorte der heute 50-Jährigen zu großen Teilen auch die Wohn-
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
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standorte der zukünftigen Betagten darstellen (Heye & Odermatt 2006: 6; Köster 1994: 6). Wenn man diese Werte nach Wohntypus differenziert, werden deutliche Unterschiede sichtbar. Eigenheime weisen ein im Vergleich relativ junges durchschnittliches Bezugsalter auf (fast 36 Jahre), während für Eigentumswohnungen in Mehrfamilienhäusern das mit Abstand höchste durchschnittliche Zuzugsalter zu konstatieren ist (43 Jahre). Wenn man die Gruppe der älteren Befragten (ab 60 Jahren) betrachtet, welche innerhalb der letzten 10 Jahre einen Wohnungswechsel vorgenommen haben, kann man konstatieren, dass es sich dabei zu großen Teilen um gezielte Ruhesitzwanderungen handelt. Die wichtigsten Gründe für eine solche Wanderung werden in den Eigenschaften der Wohnung gesehen – Kosten, Größe sowie die Ausstattung der Wohnimmobilie stellen die wesentlichen Motive für einen späten Wohnortwechsel dar. Dies zeigt sich auch in der starken Reduktion der durchschnittlichen Wohnfläche (–26 m2) sowie der Wahl des Wohnungstyps. In Russee wird dabei vor allem das Segment der gut ausgestatteten Eigentumswohnungen bevorzugt. Anhand der kleinräumigen demografischen Prozesse können die im höheren Alter zuziehenden Personen auch räumlich relativ gut zugeordnet werden. Ein Geschosswohnungsbau der 1990er-Jahre, in dessen Umfeld auch ein kleines Nahversorgungszentrum errichtet wurde, stellt einen beliebten Zuzugsbestand dar (vgl. Abbildung 2; Baublock 28). Etwa die Hälfte der im höheren Alter zuziehenden Personen hat zuvor in einem der Kieler Umlandkreise – zumeist im Eigenheim – gewohnt. Sicherlich ist Russee aufgrund seiner Bevölkerungs- und Baustruktur nicht unbedingt für gezielte Ruhesitzwanderungen prädestiniert; der Stadtteil weist aber dennoch in Teilbereichen Qualitäten auf, die für diese Gruppe Relevanz hat. Etwa 15% der Russeer planen einen Fortzug aus dem Stadtteil, wobei hierfür hauptsächlich alters- (28%) und berufsbedingte Gründe (24%) angegeben werden. Im Zusammenhang mit den vorherigen Ausführungen kann festgestellt werden, dass nur ein geringer Teil der Stadtteilbevölkerung diesen im Alter (freiwillig) verlassen wird. 4
Zukünftige Entwicklungspfade von Stadtteilen – ein zusammenfassender Ausblick
Anhand des Kieler Fallbeispiels Russee wurde aufgezeigt, dass auch demografisch derzeit „unauffällige“ Gebiete mit homogener Bevölkerungs- und Bebauungsstruktur der Beachtung in der Diskussion um den demografischen Wandel bedürfen. Gerade die einseitig familiär ausgerichteten Stadtteile mit ihrem auf spezifische Nachfrager ausgerichteten Wohnungsangebot und ihrer entsprechenden Infrastruktur sowie der hohen Persistenz im Bestand (geringe Austauschdynamik; „demografisches Blockieren“) werden in besonderem Maße nicht nur von den demografischen Veränderungen betroffen sein. Die Wohnwünsche und Wohnleitbilder sowie der relative und absolute Rückgang der nachfragedynamischen Altersgruppen und
144
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jungen Familien setzt diese Bestände unter Druck (Frage der mittel- bis langfristigen Generationenwechsel). Verschiedene Wanderungssystematiken lassen dabei Rückschlüsse auf zukünftige demografische Entwicklungen zu. Dem frühzeitigen Erkennen von Prozessen und Strukturen nicht nur demografischer Natur kommt zukünftig, gerade vor dem Hintergrund schwindender kommunaler Ressourcen, eine besondere Bedeutung zu. Bisher herrscht aber vor allem in vielen westdeutschen Kommunen noch ein mangelndes Problem- und Umsetzungsbewusstsein vor. Zudem ist eine mangelnde Kenntnis der Prozesse, Strukturen und Handlungsoptionen (Strohmeier & Terpoorten 2006: 10; abgesehen von Baulandausweisungen und Ausbau der Kinderbetreuung) sowie ein Glaube an die Umkehrbarkeit der Prozesse (Bullinger 2002: 264) vorzufinden. Der überwiegende Teil der älteren Bevölkerung will und wird nach Möglichkeit bis ins hohe Alter im Stadtteil und in der Wohnung wohnen bleiben. Dieses „zentrale Verlangen“ älterer Menschen, längstmöglich, autonom und selbstbestimmt in ihrer Wohnung zu leben, wird als „ageing in place“ bezeichnet (Chapman & Howe 2001, Reindl & Novak 1997, zitiert in Wezemael 2006: 324). Auch Russee hat gezeigt, dass gerade die Verschiebung des Aktionsraums die Akzentuierung von Stadtteil- und Quartiersinnenentwicklung essenziell für den Erhalt von Lebensqualitäten für alle Generationen macht. Insbesondere relativ monofunktionale Eigenheimsiedlungen eignen sich nur bedingt für ein erfolgreiches, langfristiges und vor allem den Bedürfnissen und Wünschen der Menschen angemessenes Leben im Alter. Sowohl ungeeignete Wohnformen als auch eine ungenügende altersspezifische Infrastruktur erschweren das erfolgreiche „ageing in place“. Anpassungskonzepte mit demografischem Fokus für diese Quartierstypen erscheinen sinnvoll. Die Etablierung von altersgerechten Informations- und Betreuungsnetzwerken, bauliche Anpassungsmöglichkeiten, generationenübergreifende Ausrichtung von sozialen und bildenden Infrastrukturen, oder aber auch die gezielte Etablierung einer neutralen Wohnungsbörse, welche Haushalte mit Umzugswünschen bei der gezielten Realisierung eines Umzugs im Alter berät und unterstützt, könnten Bestandteile solcher Maßnahmen darstellen. Angesichts des Potenzials älterer Haushalte, die möglicherweise in die Stadt zurückkehren möchten, scheint die bisher wahrgenommene Strategie der Kommunen einseitig. Die Befragung hat gezeigt, dass ältere Wanderer vor allem in den Geschosswohnungsbau ziehen. Hier fehlt es, auch aufgrund der mangelnden Bautätigkeit bzw. der geringen Umbautätigkeiten, oft an geeignetem Wohnraum, um diesen Menschen eine auch für das Alter geeignete Wohnung zu bieten. Gegebenenfalls könnten bei Investitionen in den Wohnungsbestand Stadtumbauprogramme die Anpassungsprozesse an die alternde und schrumpfende Bevölkerung unterstützen. Dabei würden diese Investitionen allen Bevölkerungsgruppen zugutekommen. Ein Stadtumbauprogramm mit demografischem Fokus könnte außerdem bei den handelnden Akteuren in den Kommunen das Bewusstsein hierfür stärken und somit zu einer ausgewogenen Stadt- und Quartiersentwicklung beitragen.
Demografische Herausforderungen für eine bewohnergerechte Stadtteilentwicklung
145
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Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch: Einfluss von baulichen Maßnahmen auf die soziodemografischen und sozioökonomischen Merkmale der betroffenen Wohnbevölkerung Christoph Craviolini und André Odermatt
1
Einleitung
Im Zuge der Suburbanisierung hat die Stadt Zürich, wie andere schweizerische und europäische Städte auch, seit den frühen 1960er-Jahren einen drastischen Rückgang der Wohnbevölkerung erlebt. Insbesondere jüngere, verhältnismäßig finanzkräftige Mittelschichthaushalte haben die Stadt in Richtung Umland verlassen. Dies hat zu einer teilweisen Marginalisierung der Kernstadt (vgl. Odermatt 2001: 110ff.; Leuthold 2006: 31) und zur Prägung des Begriffs der A-Stadt (Frey 1996), einer Stadt als „soziale Brache“ (Heye 2008: 17) mit einem hohen Anteil an Alten, ausländischen Personen, Arbeitslosen sowie Auszubildenden geführt. Seit Mitte der 1990er-Jahre wird dieser zentrifugale Prozess der Suburbanisierung allerdings von einem Reurbanisierungsprozess überlagert (Gaebe 2004: 154). Im Zuge dieser Entwicklung wurde der in den 1990er-Jahren vorherrschende Diskurs der A-Stadt von einem Diskurs der Aufwertung und Gentrifzierung abgelöst (bspw. Dangschat 1994; Leuthold 2006; Heye/Leuthold 2006, 2004; Heye 2008). Die Renaissance des Städtischen als Wohn- und Arbeitsort führte – und führt – zu einer Rückkehr der Mittelschichten in die Zentren der Großstädte. Auch in Zürich führte diese Entwicklung seit 1999 zu einem erneuten Bevölkerungswachstum. Die Überlagerung der gegenläufigen Entwicklungen der Suburbanisierung und der Reurbanisierung hat zu veränderten Segregationsmustern und zu klein- wie auch großräumigen Umschichtungs-, Auf- und Abwertungsprozessen geführt (Leuthold 2006; Heye/Leuthold 2006; Heye 2008), wobei in den Kernstädten insbesondere die ehemals vernachlässigten innenstadtnahen Quartiere sozial und baulich aufgewertet wurden (Leuthold 2006: 32). Diese Entwicklung ist in innenstadtnahen ehemaligen Arbeiter- und Industriequartieren eng mit dem Prozess der Gentrifizierung verknüpft (Dangschat 1994: 336). Das Langstrassenquartier ist ein solches innenstadtnahes ehemaliges Arbeiterquartier. Im Quartier zeigten sich in den letzten Jahrzehnten die klassischen Proble-
148
Christoph Craviolini und André Odermatt
me innenstadtnaher Quartiere mit zu erwartender Cityerweiterung und suburbanisierungsbedingter Abnahme der Wohnbevölkerung: mangelnde Investitionstätigkeit, Degradation der Bausubstanz, einseitige Bevölkerungsentwicklung. Damit verbunden war eine Ausbreitung des Sexgewerbes und des Drogenmilieus. Heute zähl das Quartier allerdings zu den Stadtzürcher Quartieren mit der seit den frühen 1990er-Jahren relativ gesehen stärksten Aufwertungstendenz (Heye/Leuthold 2004). Zusammen mit den Quartieren Gewerbeschule und Escher Wyss, die im Jahr 1990 im Hinblick auf den Status allesamt zu den statusniedrigsten Quartieren gehörten, liegt das Quartier im Jahr 2000 nur noch knapp unter dem Mittelwert aller Stadtzürcher Quartiere (ebenda; Craviolini et al. 2008). Gleichwohl hält sich hartnäckig eine – je nach Interventionslevel der Polizei – mehr oder weniger sichtbare Drogenszene im Quartier. Auch sind weiterhin zahlreiche Straßenzüge stark durch das Rotlichtmilieu geprägt. Dies deutet darauf hin, dass zwar Gentrifizierungsprozesse ablaufen, sich diese aber auf gewisse Teilgebiete beschränken (Berger et al. 2002; Craviolini et al. 2008, 2009). In Bezug auf die Immobilienmarktprozesse weist das Kerngebiet der Langstrasse im Kreis 4 eine geringe Liegenschaftsdynamik auf, die sich unter anderem in einer geringen Neubautätigkeit manifestiert (Wüest & Partner 2003). In jüngster Zeit deuten jedoch diverse geplante oder bereits realisierte Neubau- und Sanierungsprojekte auf eine Zunahme der baulichen Dynamik und somit auch auf eine Aufwertungstendenz hin (Lüthi 2007; Craviolini et al. 2008). 1.1
Ziele und Fragestellungen
Dieser Artikel geht der Frage nach, welche Auswirkungen die beschriebenen Veränderungen auf gesamtstädtischer Ebene und auf der Ebene des Langstrassenquartiers auf die soziodemografischen wie auch sozioökonomischen Merkmale der Quartierbevölkerung haben und inwiefern sich die Entwicklung von der anderer innenstädtischer und innenstadtnaher Quartiere unterscheidet. Ein besonderer Fokus soll dabei auf die Analyse der durch Sanierungs- und Neubaumaßnahmen induzierten Veränderungen der demografischen und sozioökonomischen Bevölkerungsstruktur gelegt werden. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern diese baulichen Tätigkeiten zu einer Verdrängung bestimmter Bevölkerungsschichten führt. Die zentralen Fragestellungen sind daher: 䊏
Wie hat sich die Bevölkerungszusammensetzung im Langstrassenquartier im Zeitraum von 1993 bis 2006 verändert? 䊏 Welchen Einfluss haben in diesem Zeitraum stattfindende Sanierungs- und Neubauaktivitäten auf die soziodemografischen und soziökonomischen Merkmale der Quartiersbevölkerung? 䊏 Lässt sich im Langstrassenquartier eine Verdrängung von bestimmten Bevölkerungsgruppen nachweisen?
149
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
2
Methodik
2.1
Untersuchungsgebiet, Vergleichsgebiet
Das Zürcher Langstrassenquartier ist Teil von Zürichs Kreis 4, auch bekannt als Aussersihl oder „Chreis Cheib“1, Letzteres in Anlehnung an sein Image als Ort der Ausgegrenzten und der negativen städtischen Funktionen. Das Quartier grenzt unmittelbar an Zürichs Innenstadt und den Hauptbahnhof Zürich an. Die Geleiseanlagen bilden denn auch eine deutlich wahrnehmbare Quartiergrenze. Das Quartier ist in baulicher und infrastruktureller Hinsicht geprägt durch das Kasernenareal im Osten wie auch durch die Nähe zu den Geleiseanlagen und die damit verbundene Bahninfrastruktur im Norden. Tabelle 1: Das Untersuchungs- und Vergleichsgebiet in Zahlen, 2006
Wohnbevölkerung
Langstrassenquartier
Vergleichsgebiet
Stadt Zürich
10.332
214.497
370.062
Gesamtfläche (ha)
113
5.343
9.188
Gebäudebestand
1.270
33.873
56.080
Wohnungsbestand
6.112
122.325
203.839
Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
Das Langstrassenquartier ist traditionell durch einen hohen Anteil an Bewohnerinnen und Bewohnern ausländischer Herkunft und eine stark multikulturelle Zusammensetzung der Quartierbevölkerung geprägt. In seiner Funktion ist das Langstrassenquartier ein Quartier mit einer ausgeprägten Mischfunktion. Zum einen ist es ein althergebrachtes Arbeiter-Wohnquartier mit vergleichsweise günstigen Wohnungen, zum anderen Gewerbegebiet und Ausgangsmeile. Das Quartier weist infolgedessen auch einen hohen Anteil an Gebäuden mit einer Mischnutzung auf, das heißt mit Wohn- und Gewerbenutzung. Der Wohnungsbestand ist vergleichsweise alt und durch einen deutlich über dem städtischen Schnitt liegenden Anteil an kleinen Wohnungen geprägt; Wohnungen mit vier oder mehr Zimmern sind dagegen untervertreten (vgl. Craviolini et al. 2009: 11f.). Damit sich die Ergebnisse in den stadtzürcherischen Entwicklungskontext einordnen lassen, werden die Quartiere der ersten Eingemeindung von 1893 als Vergleichsgebiet hinzugezogen. Dieses Vergleichsgebiet umfasst die Stadtkreise Aussersihl, Fluntern, Hirslanden, Hottingen, Leimbach, Oberstrass, Riesbach, Unterstrass, Wiedikon, Wipkingen and Wollishofen. Nicht enthalten sind insbesondere die Entwicklungsgebiete im Norden und Nordwesten des heutigen Stadtgebietes. 1 „Chreis“ steht für Stadtkreis, „Cheib“ ist ein abschätziger schweizerdeutscher Ausdruck und bedeutet wörtlich Aas. „Chreis Cheib“ verweist auf die alte Funktion des Quartiers als Tierkadaverentsorgungsstelle, meint heute aber primär den schlechten Ruf des Quartiers.
150 2.2
Christoph Craviolini und André Odermatt
Datenbasis
Die Auswertungen in diesem Artikel basieren auf georeferenzierten Registerdaten von Statistik Stadt Zürich, welche detaillierte Informationen zu Bevölkerung und Gebäudebestand der Stadt Zürich bieten. In Bezug auf die Gebäude sind dies beispielsweise Baujahr, Renovationszeitpunkt, aber auch Gebäudetyp oder Wohnungsstruktur der einzelnen Gebäude, in Bezug auf die Wohnbevölkerung sind dies verschiedenste demografische und sozioökonomische Merkmale wie Alter, Herkunft oder steuerbares Einkommen. Das Bevölkerungsregister umfasst die Gesamtheit der in der Stadt Zürich gemeldeten Personen, wobei für die Studie die Personen mit wirtschaftlichem Wohnsitz2 berücksichtigt werden. Die verwendeten Merkmale sind stark von der Verfügbarkeit der Daten abhängig. Aufgrund des Erhebungszeitpunkts – Registrierung bei Zuzug oder Umzug – verlieren Merkmale wie berufliche Stellung mit zunehmender Wohndauer an Aktualität und Aussagekraft. Daher wird ausschließlich auf Merkmale zurückgegriffen, welche über die Jahre unverändert bleiben oder fortgeschrieben werden können, respektive regelmäßig aktualisiert werden, wie bspw. das Alter oder das steuerbare Einkommen. Der Personendatensatz beinhaltet keinen Haushaltsindikator. Aus diesem Grunde lassen sich keine Aussagen auf der Ebene der einzelnen Haushalte machen. Gebäudedaten wie auch Bevölkerungsdaten liegen adressgenau als Einzelrecords vor und decken den Zeitraum von 1991 bis 2006 für die Bevölkerung respektive von 1993 bis 2007 für die Gebäude ab. Die hohe zeitliche und räumliche Auflösung der Datensätze erlaubt eine detaillierte Analyse der Entwicklungen der letzten 15 Jahre, sowohl auf der Ebene der einzelnen Gebäude wie auch auf der Ebene des Langstrassenquartiers, des Vergleichsgebiets oder der Stadt Zürich. 2.3
Operationalisierung: Einfluss der Neubau- und Sanierungstätigkeit auf die Bewohnerstruktur
Der Einfluss von Neubau- und Sanierungstätigkeit auf die Bewohnerstruktur der von baulichen Maßnahmen tangierten Gebäude lässt sich durch eine Verknüpfung der beiden oben beschriebenen Datensätze untersuchen. Der Personendatensatz wird dabei um Gebäudeinformationen aus dem Gebäuderegister ergänzt, wobei der Abgleich über die Adresse erfolgt. Aussagen auf Wohnungsebene sind daher nicht möglich. Der Vergleich der Bewohnermerkmale der Gebäude in den drei Jahren vor einer Sanierung respektive einem Abbruch und der Bewohnerstruktur in den drei Jahren 2
Der wirtschaftliche Wohnsitz einer Person ist in der Gemeinde, deren Infrastruktur sie am häufigsten beansprucht, unabhängig vom Ort, wo sie ihre Papiere hinterlegt hat. Für Studierende und Erwerbspersonen gilt als wirtschaftlicher Wohnsitz die Gemeinde, von der aus sie sich täglich zur Hochschule oder Arbeit begeben.
151
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
nach erfolgter Sanierungs- oder Neubautätigkeit erlaubt die Analyse des Einflusses von Sanierungs- oder Neubautätigkeit auf die Bewohnerstruktur. Renovationsarbeiten mit Gesamtkosten von unter 50.000 CHF wie auch solche ohne Einfluss auf das Gebäudeäußere oder die Grundrisse werden nicht berücksichtig. Als Indikator für eine mögliche Verdrängung dient zum einen ein deutlicher Rückgang der Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner eines Gebäudes, zum anderen eine markante Veränderung der soziodemografischen und sozioökonomischen Bewohnerstruktur. 3
Entwicklung der Bevölkerungsstruktur
3.1
Bestand
Das Langstrassenquartier weist im untersuchten Zeitraum zwischen 1993 und 2006 einen Bevölkerungsverlust auf, entgegen dem gesamtstädtischen Trend und deutlich ausgeprägter als das Vergleichsgebiet (vgl. Abbildung 1). Dieser Bevölkerungsrückgang geht primär auf die Zeitperiode zwischen 1993 und 2000 zurück und ist zu einem bedeutenden Teil auf Migrationsverluste zurückzuführen. Das Quartier weist zwar einen positiven Außenmigrationssaldo auf, verzeichnet also mehr Zuzüge von außerhalb der Stadt als Wegzüge, es verliert jedoch Bewohnerinnen und Bewohner an die übrigen städtischen Quartiere. Der positive Außenmigrationssaldo vermag dabei die Abwanderung in die anderen Stadtquartiere nicht zu kompensieren. Zudem weist das Quartier in besagtem Zeitraum ein Geburtendefizit auf, das heißt, dass die Zahl der Todesfälle die Zahl der Geburten übersteigt. Das Jahr 2000 stellt einen Wendepunkt dar. Nach 2000 verzeichnet das Langstrassenquartier einen Geburtenüberschuss wie auch eine größtenteils positive Wanderungsbilanz, was sich in einer Zunahme des Bevölkerungsbestands niederschlägt (vgl. Craviolini et al. 2008: 48). 105
Langstrassenquartier Bestand 2006: 10332
100
Bestand 2006: 214497
Stadt Zürich
90
Bestand 2006: 370'062
Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
6
5
20 0
4
Abbildung 1: Entwicklung des Bevölkerungsbestandes
20 0
3
20 0
2
20 0
1
20 0
0
20 0
9
20 0
8
19 9
7
19 9
6
19 9
5
19 9
4
19 9
19 9
3
85 19 9
100=Bestand 1993
Bevölkerung
Vergleichsgebiet 95
152
Christoph Craviolini und André Odermatt
Die Kombination von positivem Außenmigrationssaldo und negativem Binnenmigrationssaldo im Langstrassenquartier ist typisch für seine Funktion als Ankunftsquartier (vgl. Heye 2008); ebenso die hohe Migrationsdynamik, welche das Verhältnis aller Umzüge zur Wohnbevölkerung des Vorjahres wiedergibt. Diese liegt mit nahezu 100% deutlich über dem gesamtstädtischen Mittel von rund 30% (Craviolini et al. 2008: 49). 3.2
Altersstruktur
Die aktuelle Bevölkerungsstruktur des Quartiers weist einen hohen Anteil an 21- bis 45-Jährigen auf. Mehr als 60 Prozent der Quartierbevölkerung sind diesem Alterssegment zuzuordnen, womit diese Gruppe im Vergleich zum Referenzgebiet klar übervertreten ist. Kinder und Jugendliche wie auch Personen über 46 sind hingegen unterrepräsentiert (Abbildung 2). Altersstruktur
Veränderung der Altersstruktur
2006
1993 - 2006
65 plus
46 bis 65 21 bis 45 6 bis 20 0 bis 5 0%
10%
20%
30%
40%
50%
Langstrassenquartier
60% 70%
-50% -40% -30% -20% -10%
0%
10%
Vergleichsgebiet
Abbildung 2: Altersstruktur, Langstrassenquartier und Vergleichsgebiet Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
Die Veränderung der Altersstruktur der Quartierbevölkerung im untersuchten Zeitraum von 1993 bis 2006 zeigt, dass insbesondere Personen unter 20 Jahren wie auch solche älter als 65 überdurchschnittlich vom Wanderungsverlust betroffen waren (vgl. auch Craviolini et al. 2008: 66). Ein Blick auf die Migrationsmuster zeigt, dass bei den über 65-Jährigen primär ein Wegzug über die Stadtgrenze stattfindet – im Gegensatz zu den Kindern und Jugendlichen, welche primär in andere Stadtquartiere umziehen. Zahlenmäßig zugenommen haben in diesem Zeitraum indessen Personen im Alter zwischen 21 und 45, insbesondere solche zwischen 31 und 45 Jahren (vgl. Craviolini et al. 2009: 5). Das Vergleichsgebiet weist eine ähnliche Entwick-
153
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
lung wie das Langstrassenquartier auf, unterscheidet sich aber von diesem durch den Grad der Veränderung der Bestände der einzelnen Altersgruppen. 3.3
Herkunft der Bevölkerung
Neben der Altersstruktur hat sich auch die Herkunftsstruktur der Bevölkerung verändert (Abbildung 3). Im Langstrassenquartier ist zwischen 1993 und 2006 ein deutlicher Rückgang der ausländischen Bevölkerung feststellbar. Im gleichen Zeitraum nimmt die Anzahl der Personen schweizerischer Nationalität zu. Die Zunahme des Anteils an Schweizerinnen und Schweizern läuft dem Trend der Gesamtstadt entgegen, welche einen Rückgang verzeichnet. Die verschiedenen Gruppen ausländischer Herkunft weisen jedoch teilweise eine gegenläufige Entwicklung auf. Während vergleichsweise statushohe Personen aus West- und Nordeuropa oder Nordamerika3 (vgl. Heye/Leuthold 2004: 24ff.) anzahlmäßig zulegen, nehmen Personen aus anderen Herkunftsregionen deutlich ab. Das Vergleichsgebiet weist eine ähnliche Entwicklungstendenz auf, allerdings weniger prononciert (Abbildung 4). Einen deutlichen Unterschied gibt es allerdings: Während im Vergleichsgebiet – wie im Übrigen auch in der Gesamtstadt – die stärkere Präsenz von Personen aus West- und Nordeuropa zulasten der Personen mit Schweizer Nationalität wie auch der sonstigen ausländischen Bevölkerung zu gehen scheint, wirkt sie sich im Langstrassenquartier allein auf den Anteil ausländischer Personen anderer Nationalitäten aus. Dabei zeichnet
6000
Schweiz
5000
Nord- und Westeuropa, Nordamerika
4000
Andere Länder
3000 2000 1000
06
05
20
04
20
03
20
02
20
01
20
00
20
99
20
98
19
97
19
96
19
95
19
94
19
19
93
0
19
Bevölkerung nach Herkunft
7000
Abbildung 3: Herkunft der Quartierbevölkerung Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
3 Zu dieser Gruppe gehören: Belgien, Dänemark, Deutschland, Liechtenstein, Färöerinseln, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Island, Kanalinseln, Luxemburg, Monaco, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Vatikan, Grönland, Kanada, USA.
154
Christoph Craviolini und André Odermatt
Langstrassenquartier Schweiz Nord- und Westeuropa, Nordamerika Andere Länder
250 200 150
Vergleichsgebiet Schweiz Nord- und Westeuropa, Nordamerika Andere Länder
100 50
06
05
20
04
20
03
20
02
20
01
20
00
20
98
99
20
19
97
19
96
19
95
19
94
19
19
93
0
19
100=Bestand 1993
Bevölkerung nach Herkunft
300
Abbildung 4: Entwicklung der Herkunftsstruktur; Langstrasse und Vergleichsgebiet Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
sich insbesondere ein deutlicher Rückgang der ehemals stark vertretenen Personen aus Südeuropa sowie dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei ab (vgl. Craviolini et al. 2008: 71). Bei gleichbleibender Entwicklung werden die Personen aus West- und Nordeuropa die südeuropäische Bevölkerung in wenigen Jahren als stärkste Bevölkerungsgruppe im Langstrassenquartier ablösen. Durch den Wegzug der für die Quartierinfrastruktur und das Bevölkerungsbild prägenden Bevölkerungsgruppen aus Südeuropa, dem ehemaligen Jugoslawien oder der Türkei dürfte sich die Quartiercharakteristik nachhaltig verändern. Die drei Herkunftsgruppen unterscheiden sich auch deutlich im Hinblick auf die Richtung der Migrationsbewegungen. Personen aus der Schweiz weisen durchwegs positive Außenmigrationssaldi und negative Binnenmigrationssaldi auf. Das heißt mit anderen Worten, dass mehr Schweizer und Schweizerinnen von außerhalb der Stadt zuziehen als umgekehrt, dass aber gleichzeitig das Langstrassenquartier auch überdurchschnittlich Personen schweizerischer Herkunft an die anderen Stadtquartiere verliert. Anders präsentiert sich die Situation bei den Personen der Gruppe „andere Länder“. Diese Bevölkerungsgruppe weist neben einem deutlich negativen Binnenmigrationssaldo oft auch negative Außenmigrationssaldi auf, was letztlich in einem abnehmenden Bestand resultiert. Das Langstrassenquartier verliert diese Bevölkerungsgruppen somit an die anderen Stadtquartiere wie auch an die Agglomeration, die restliche Schweiz und das Ausland. Ausländische Personen nord- und westeuropäischer sowie nordamerikanischer Herkunft weisen neben hohen positiven Außenmigrationssaldi auch teilweise positive Binnenmigrationssaldi auf. Das Langstrassenquartier erlebt somit neben dem Zuzug von außerhalb der Stadt teilweise auch einen Zuzug dieser Ausländergruppe von innerhalb der Stadt (Craviolini et al. 2008: 71).
155
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
3.4
Einkommensstruktur
Das Langstrassenquartier wie auch das Vergleichsgebiet weisen zwischen 1993 und 2006 eine Veränderung der Einkommensstruktur der Bevölkerung auf (Abbildung 5). Die Berechnungen basieren auf dem jährlichen steuerbaren Individualeinkommen, wobei Personen ohne deklariertes Einkommen von der Grundgesamtheit ausgeschlossen werden. Darunter fallen Ehefrauen, quellbesteuerte Personen4 sowie Personen, deren zivilrechtlicher Wohnsitz5 nicht Zürich ist. Die Einkommen sind um die Teuerung bereinigt. Bei Verheirateten wird das steuerbare Einkommen jeweils
Langstrassenquartier
100%
75001+
80%
50001 - 75000
60%
25001 - 50000 <= 25000
40% 20%
19
93 19 94 19 95 19 96 19 97 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06
0%
Vergleichsgebiet
100% 80% 60% 40% 20% 0%
Abbildung 5: Einkommensstruktur, Langstrassenquartier und Vergleichsgebiet Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
4
Für diese Personengruppe liegen keine Einkommensinformationen vor. Als zivilrechtlicher Wohnsitz einer Person gilt die Gemeinde, in der sie mit dem Heimatschein angemeldet ist, Steuern bezahlt und ihre politischen Rechte ausübt bzw. für die ihr, wenn sie über eine ausländische Staatsbürgerschaft verfügt, die entsprechende Bewilligung ausgestellt worden ist. 5
156
Christoph Craviolini und André Odermatt
halbiert, um das Individualeinkommen anzunähern. Bei den Einkommen vor 1999 wurden zudem der mit der Umstellung auf die Gegenwartsbesteuerung im Jahr 1999 wegfallende Altersabzug und der persönliche Abzug nachträglich wieder zugefügt. Dennoch sind die Einkommensveränderungen zwischen 1998 und 2001 mit Vorsicht zu interpretieren. Beide, Langstrassenquartier wie Vergleichsgebiet, weisen eine anteilsmäßige wie auch absolute Zunahme von Personen mit einem Individualeinkommen von mehr als 75.000 CHF auf. Neben einer Zunahme der obersten Einkommen findet sich im Langstrassenquartier eine Zunahme der niedrigsten Einkommensklasse, was auf eine zunehmende soziale Polarisierung im Quartier hinweist.
4
Einfluss der Bautätigkeit auf die Bevölkerungsstruktur
Baulichen Maßnahmen wie Gebäudesanierungen oder Neubauten kommt insbesondere in Quartieren mit einem relativ alten, demodierten Wohnungsbestand eine Schlüsselrolle in Bezug auf die Veränderung der Sozialstruktur der Bewohnerschaft zu. Bauliche Maßnahmen beeinflussen über die Veränderung der Wohnungsstruktur den Zugang zum Wohnungsmarkt wie auch die Attraktivität des Wohnungsangebots für unterschiedliche Bevölkerungssegmente. Zum Beispiel können großzügigere Wohnungsgrundrisse sanierte Wohnungen für finanzschwächere Haushalte unerschwinglich machen und gleichzeitig ein Quartier für ein bestimmtes Bevölkerungssegment erst attraktiv machen, indem geeigneter Wohnraum bereitgestellt wird. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, wie sich bauliche Maßnahmen auf die Sozialstruktur der Bewohner der betroffenen Gebäude auswirken und inwiefern die Bautätigkeit zu einer Verdrängung spezifischer Bevölkerungssegmente führt. Bei sanierten Gebäuden wurde die Bewohnerstruktur in den drei Jahren vor einer Sanierungsperiode mit derjenigen in den drei Jahren nach erfolgter Sanierung verglichen. Wurde ein Gebäude innerhalb der untersuchten Zeitspanne zwischen 1993 und 2006 mehrmals saniert, werden die drei Jahre vor der ersten Sanierung mit den drei Jahren nach der letzten Sanierung verglichen. Nicht berücksichtigt wird die Bewohnerstruktur während der Umbauperiode. Bei Neubauten, Abbruchliegenschaften und den Ersatzneubauten wird das Bewohnerprofil aller Abbruchliegenschaften in den drei Jahren vor dem tatsächlichen Abbruch mit dem Bewohnerprofil aller neu erbauten Liegenschaften in den drei Jahren nach erfolgtem (Ersatz-)Neubau verglichen. Das Jahr, in welchem ein Gebäude abgerissen wurde, wie auch das Erstellungsjahr eines (Ersatz-)Neubaus wird nicht berücksichtigt. 4.1
Sanierung
Die Sanierungsmaßnahmen haben, wie Abbildung 6 illustriert, einen deutlichen Einfluss auf den Bewohnerbestand der betroffenen Gebäude. Der ausgeprägte Rückgang der Bewohnerzahlen in den letzten zwei Jahren vor der eigentlichen Sanierungsperiode weist darauf hin, dass es sich bei den Sanierungsmaßnahmen im Lang-
157
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
strassenquartier um substanzielle Eingriffe in die bauliche Struktur und nicht nur um kosmetische Maßnahmen handelt. Dieser Effekt findet sich auch im Vergleichsgebiet, wenn auch weniger ausgeprägt. Im Gegensatz zu diesem liegt die Anzahl der Bewohner aller sanierten Gebäude im Langstrassenquartier klar unter derjenigen der Gebäude vor erfolgter Sanierung. Sanierungsmaßnahmen führen im Langstrassenquartier somit zu einer eigentlichen inneren Entdichtung. Langstrassenquartier
Vergleichsgebiet
600 550 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0
18000 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0 3
2
1
Jahre vor Umbau
1
2
3
Jahre nach Umbau
3
2
1
Jahre vor Umbau
1
2
3
Jahre nach Umbau
Abbildung 6: Entwicklung der Bewohnerbestände6 Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
Sowohl im Langstrassenquartier wie auch im Vergleichsgebiet gehen Sanierungsprozesse mit einer Veränderung des soziodemografischen und sozioökonomischen Bewohnerprofils einher (Abbildung 7, s. S. 158). Die Veränderungen fallen dabei im Langstrassenquartier deutlich prononcierter aus als dies im Vergleichsgebiet der Fall ist. Bei der Altersstruktur der Bewohner zeigen sich Unterschiede zwischen den einzelnen Altersgruppen hinsichtlich des Einflusses der Sanierungstätigkeit auf ihre prozentualen Anteile. Während sich der Anteil der den beiden obersten Altersklassen zugehörenden Personen mit dem baulichen Eingriff nur geringfügig verändert, hat dieser einen deutlichen Einfluss auf die übrigen Altersklassen. Im Gegensatz zum Vergleichsgebiet sinkt der Anteil an Kindern und Jugendlichen im Langstrassenquartier nach erfolgter Sanierung, während sich bei den 21- bis 45-Jährigen eine deutliche Zunahme findet. 6 Die Abbildungen zeigen die Entwicklung des Bewohnerbestands aller betroffenen Gebäude drei Jahre vor respektive drei Jahre nach der Sanierung. Es werden nur Gebäude berücksichtigt, welche frühestens im Jahr 1996, jedoch spätestens 2003 saniert wurden. Die Bewohnerstruktur während der Sanierungsperiode wird nicht berücksichtig.
158
Christoph Craviolini und André Odermatt
Langstrassenquartier
Vergleichsgebiet
100%
100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
0%
0%
66 und älter
Altersstruktur
46 bis 65 21 bis 45
3
2
1
Herkunftsstruktur
Jahre vor Umbau
2
3
2
1
Jahre vor Umbau 100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
0%
0 bis 5 3
Jahre nach Umbau
100%
1
2
3
Jahre nach Umbau
Schweiz Nord- und Westeuropa, Nordamerika Andere Länder
0% 3
2
1
Jahre vor Umbau
Einkommensstruktur
1
6 bis 20
1
2
3
3
Jahre nach Umbau
2
1
Jahre vor Umbau
100%
100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
1
2
3
Jahre nach Umbau mehr als 75'000 50'001 bis 75'000 25'001 bis 50'000
0%
1 bis 25'000
0% 3
2
1
Jahre vor Umbau
1
2
3
Jahre nach Umbau
3
2
1
Jahre vor Umbau
1
2
3
Jahre nach Umbau
Abbildung 7: Vergleichende Analyse der Bewohnerprofile vor und nach Sanierung7 Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
7 Die Diagramme zeigen die Entwicklung der Bewohnerprofile aller betroffenen Gebäude drei Jahre vor respektive drei Jahre nach der Sanierung.
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
159
Die Bewohner von frisch sanierten Wohnungen weisen im Langstrassenquartier gegenüber denjenigen von zu sanierenden einen deutlich höheren Anteil von Personen aus der Schweiz sowie Westeuropa, Nordeuropa und Nordamerika auf. Der Anteil von Personen aus anderen Herkunftsregionen, wie beispielsweise Südeuropa oder dem Balkan, sinkt. Im Vergleichsgebiet sind die Unterschiede deutlich geringer. Allerdings unterscheiden sich Langstrassenquartier und Vergleichsgebiet hinsichtlich der Herkunftsstruktur der Bewohnerinnen und Bewohner neu sanierter Gebäude nur geringfügig. Ebenfalls deutliche, mit Sanierungsmaßnahmen einhergehende Veränderungen zeigen sich bei der Einkommensstruktur. Neu sanierte Gebäude weisen insbesondere einen höheren Anteil an Personen mit einem jährlichen steuerbaren Einkommen von über 75.000 CHF auf. Demgegenüber nimmt der Anteil der untersten beiden Einkommensklassen ab. Ähnliche Effekte finden sich im Vergleichsgebiet. Allerdings fallen dort die Unterschiede zwischen der Einkommensstruktur der Bewohner vor und nach einer Sanierung geringer aus. Im Langstrassenquartier zeigt sich auch hier eine mit der Sanierung einhergehende Tendenz zur Angleichung an die Einkommensstruktur der Bewohnerinnen und Bewohner neu sanierter Gebäude des Vergleichsgebiets. 4.2
Neubau und Ersatzneubau
Neubau respektive Ersatzneubau haben ähnlich den Sanierungsmaßnahmen einen erheblichen Einfluss auf die Anzahl der Bewohner der involvierten Liegenschaften wie auch auf das soziodemografische und sozioökonomische Profil der Bewohner. Vergleicht man die Bewohnerzahlen aller in der untersuchten Periode abgebrochenen Gebäude mit den Bewohnerzahlen der neu erstellen Gebäude – Ersatzneubau wie auch Neubau in Baulücken –, zeigt sich im Langstrassenquartier eine deutliche Abnahme (Abbildung 8, s. S. 160). Es findet somit ebenfalls eine innere Entdichtung statt. Analog präsentiert sich die Situation im Vergleichsgebiet. Auch hier übersteigt die Anzahl der Bewohner von zum Abbruch vorgesehenen Gebäuden diejenige in neu erbauten Gebäuden. Langstrassenquartier und Vergleichsgebiet unterscheiden sich hinsichtlich des Einflusses der Neubau- und Abbruchtätigkeit auf die Bewohnerzahl von der Entwicklung in der Gesamtstadt, wo eine deutliche Zunahme der Bewohnerzahlen festzustellen ist (vgl. Craviolini et al. 2008: 81). Eine Erklärung für den Unterschied zwischen Langstrassenquartier und Gesamtstadt dürfte das geringe Vorhandensein von Baulücken im Langstrassenquartier und die Zuordnung des Großteils des Quartiers zur Quartiererhaltungszone sein, welche der Gebäudehöhe Grenzen setzt. Eine Vergrößerung der Wohnungsgrundrisse im Zuge von Ersatzneubauten führt daher im Langstrassenquartier mehr oder weniger zwangsläufig zu einer Reduktion der Anzahl der Wohnungen pro Gebäude und damit verbunden zu einem Rückgang der Bewohnerzahlen. Die Neubautätigkeit hat nicht nur einen Einfluss auf die Anzahl der in den Gebäuden wohnhaften Personen, sondern auch auf die soziodemografischen und so-
160
Christoph Craviolini und André Odermatt
Langstrassenquartier
Vergleichsgebiet
400
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350
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300
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250
5000
200
4000
150
3000
100
2000
50
1000
0
0 3
2
1
1
2
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
3
2
1
1
2
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
Abbildung 8: Entwicklung der Bewohnerbestände8 Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
zioökonomischen Charakteristika der Bewohner der betroffenen Gebäude, wie aus Abbildung 9 ersichtlich wird. Gebäude, welche vor dem Abbruch stehen, weisen mit rund 10 Prozent einen im Vergleich zum Quartier überdurchschnittlich hohen Anteil an Jugendlichen und Kindern auf. Deutlich übervertreten sind Personen im Alter von 21 bis 45 Jahren. Personen, die älter als 65 Jahre sind, sind hingegen nur marginal vertreten. Vergleicht man das Bewohnerprofil der vor dem Abbruch stehenden Gebäude mit demjenigen der Neubauten, zeigt sich, dass mit dem (Ersatz-)Neubau ein Rückgang der Kinder im Vorschulalter und der über 45-Jährigen einhergeht. Ein etwas anderes Bild zeigt sich im Vergleichsgebiet. Neu erbaute Gebäude weisen hier erstens einen höheren Anteil an Kindern unter 6 Jahren auf als Gebäude vor dem Abbruch. Zweitens führt der Neubau nicht zu einem Rückgang des Anteils der über 45-jährigen Bewohner. Die Herkunftsstruktur der Bewohner von neu erbauten und abzubrechenden Gebäuden unterscheidet sich grundsätzlich. Vor dem Abbruch stehende Gebäude weisen einen hohen Anteil an Personen der Gruppe „andere Länder“ auf. Diese Bevölkerungsgruppe ist im Langstrassenquartier in neu erbauten Gebäuden nur noch marginal vertreten. Die Herkunftsstruktur wird fast komplett von Personen aus der
8 Die Abbildungen zeigen die Entwicklung des Bewohnerbestands aller betroffenen Gebäude drei Jahre vor dem Abbruch respektive drei Jahre nach dem (Ersatz-)Neubau. Es werden nur Gebäude berücksichtigt, welche frühestens im Jahr 1996, jedoch spätestens 2003 abgerissen respektive neu erbaut wurden.
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Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
Langstrassenquartier
Vergleichsgebiet
100%
100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
0%
0%
66 und älter
Altersstruktur
46 bis 65 21 bis 45
3
2
1
1
2
3
Herkunftsstruktur
2
1
1
2
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
100%
100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
Schweiz Nord- und Westeuropa, Nordamerika Andere Länder
0% 3
2
1
1
2
3
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
Einkommensstruktur
0 bis 5 3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
0%
6 bis 20
2
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Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
100%
100%
80%
80%
60%
60%
40%
40%
20%
20%
mehr als 75'000 50'001 bis 75'000 25'001 bis 50'000
0%
1 bis 25'000
0% 3
2
1
1
2
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
3
2
1
1
2
3
Jahre vor Abbruch Jahre nach Neubau
Abbildung 9: Vergleichende Analyse der Bewohnerprofile vor Abbruch und nach Neubau9 Quelle: Statistik Stadt Zürich, eigene Darstellung
9 Die Diagramme zeigen die Entwicklung der Bewohnerprofile aller Neubau- und Abbruchliegenschaften drei Jahre vor dem Abbruch respektive drei Jahre nach erfolgtem Neubau.
162
Christoph Craviolini und André Odermatt
Schweiz, Nordeuropa, Westeuropa oder Nordamerika dominiert. Im Vergleichsgebiet weisen Neubauten gegenüber Abbruchliegenschaften ebenfalls einen geringeren Anteil an Personen der Gruppe „andere Länder“ auf, allerdings fällt hier der Rückgang deutlich geringer aus. Ähnlich der Herkunftsstruktur hat die Einkommensstruktur von Bewohnern in Neubauten wenig mit derjenigen von Bewohnern in Gebäuden gemein, welche vor dem Abbruch stehen. Personen mit einem Einkommen von über 50.000 CHF machen bei Abbruchliegenschaften nur rund 20 Prozent aller Bewohner mit Einkommen aus; Personen der obersten Einkommensklasse mit einem jährlichen steuerbaren Individualeinkommen von mehr als 75.000 CHF finden sich nahezu keine. Neubauten hingegen weisen einen Anteil an Personen mit einem steuerbaren Einkommen von mehr als 50.000 CHF auf, welcher deutlich über dem Quartiersmittel liegt. Insbesondere sind auch Personen mit einem Einkommen von mehr als 75.000 CHF übervertreten. Auf der anderen Seite weisen neu erbaute Gebäude gegenüber Abbruchliegenschaften einen geringeren Anteil an Personen mit einem Einkommen zwischen 1 und 50.000 CHF auf. Das Vergleichsgebiet zeigt ebenfalls eine mit Neubaumaßnahmen einhergehende Zunahme des Anteils der oberen beiden Einkommensklassen. Allerdings ist der Unterschied geringer, was auf das allgemein höhere Einkommensniveau zurückzuführen ist. Der Anteil der Personen mit einem Einkommen über 50.000 CHF ist in Abbruchliegenschaften nahezu doppelt so hoch wie in demselben Liegenschaftstyp im Langstrassenquartier.
5
Fazit
Die vergleichende Analyse der soziodemografischen Merkmale zeigt, dass – um es mit Michael Arend et al. (2009: c2) zu formulieren – „frühere Konzepte und Vorstellungen wie z. B. jene der A-Städte, der postindustriellen Städte und der zersiedelten unübersichtlichen Städte […] die gegenwärtigen Veränderungen und Entwicklungstrends nicht ausreichend ab(bilden)“. Vielmehr muss von „differenziellen Städten, also Städte(n) mit einer wachsenden sozialen, altersmäßigen und kulturellen Heterogenität der Wohnbevölkerung“ (ebenda) gesprochen werden. Die Entwicklung des Bevölkerungsbestands wie auch der untersuchten soziodemografischen und sozioökonomischen Bevölkerungsmerkmale im Langstrassenquartier unterscheidet sich teilweise erheblich von derjenigen des Vergleichsgebiets, sowohl im Hinblick auf die Ausprägung der Merkmale als auch im Hinblick auf die Stärke der Veränderungen im untersuchten Zeitraum. Noch ausgeprägter sind die Unterschiede zur Gesamtstadt (vgl. Craviolini et al. 2009). Das Langstrassenquartier weist eine markante Veränderung seiner Ausländerstruktur auf, welche mittelfristig den Charakter des Quartiers verändern und zusammen mit der Entwicklung der Einkommensstruktur zu einer verstärkten inneren Polarisierung im Quartier führen dürfte. Die Entwicklung der Altersstruktur zeigt eine starke relative Zunahme der 21- bis 45-Jährigen, was zusammen mit der Einkommensentwicklung und der Veränderung der Her-
Zürichs Langstrassenquartier im Umbruch
163
kunftsstruktur ein Indiz für eine Gentrifizierungstendenz im Quartier ist (vgl. Dangschat 1988). Die deutliche Abnahme der über 65-Jährigen deckt sich mit Heyes (2008: 15) Postulat einer „Welle der Überalterung“, welche auf die Suburbanisierungswelle von der Stadt ins Umland folgt. Der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung ist in der Kernstadt in den letzten 20 Jahren gesunken, während er in den Umlandgemeinden gestiegen ist. Die am stärksten „überalterten“ Gebiete der Agglomeration Zürich sind nicht mehr die Innenstadtquartiere, sondern die Stadtränder (Heye 2008: 14f.). Die im Langstrassenquartier insgesamt stärker ausgeprägte Veränderung der untersuchten Bevölkerungsmerkmale ist bis zu einem gewissen Grad dem kleineren räumlichen Maßstab zuzuschreiben, primär aber Ausdruck der jüngeren Historie des Quartiers (vgl. Vieli 2006) und der verhältnismäßig alten und demodierten Gebäudesubstanz (vgl. Craviolini et al. 2009: 12). Veränderungen an der Bausubstanz, sei es durch Sanierung, sei es durch Ersatzneubau, haben im Langstrassenquartier einen weitaus stärkeren Einfluss auf die Bewohnercharakteristika als im Vergleichsgebiet. Auf der Ebene der einzelnen Gebäude zeigt sich, insbesondere im Fall der Neubautätigkeit, eine markante Veränderung des soziodemografischen und sozioökonomischen Bewohnerprofils sowie eine innere Entdichtung. Mit der Neubautätigkeit geht im Langstrassenquartier ein deutlicher Anstieg der Einkommen und des Anteils an statushohen Ausländergruppen und Schweizern einher. Allerdings lässt sich bei zwischen 1996 und 2003 erstellten Neubauten im Langstrassenquartier, im Gegensatz zum Vergleichsgebiet und der Gesamtstadt, keine Zunahme an Kindern finden, im Gegenteil. Dies streicht die Bedeutung des Wohnumfelds heraus. In sehr urbanen Quartieren mit einem reichhaltigen Kultur- und Freizeitangebot wie dem Langstrassenquartier führen Neubauten somit nicht zwingend zu einem höheren Kinderanteil. In jüngster Zeit scheint der Anteil an Kindern im Vorschulalter bei Neubauten im Langstrassenquartier allerdings zuzunehmen, wie die neusten Resultate der Studie „Neubausiedlungen verjüngen die Stadt“ von Statistik Stadt Zürich und Stadtentwicklung Zürich (Glauser/Martinovits 2009: 12) zeigen. Insgesamt scheint der neu erstellte Wohnraum mit einem im Vergleich zum Wohnungsbestand des Quartiers überdurchschnittlich hohen Anteil an großen Wohnungen (vgl. Craviolini et al. 2009: 12) das Quartier für ein neues, verhältnismäßig junges und finanzkräftiges Bevölkerungssegment zu erschließen. Auf der Ebene der einzelnen Gebäude zeigen sich im Fall von Neubauten denn auch klare Verdrängungstendenzen. Obwohl auch bei Sanierungsmaßnahmen eine Veränderung der Bewohnerprofile zu finden ist, lassen sich hier keine eindeutigen Verdrängungstendenzen finden. Vielmehr zeigt sich, dass Sanierungsmaßnahmen außer bei der Einkommensstruktur zu einem Angleichen der Bewohnercharakteristika an das Profil der Bewohner der sanierten Gebäude des Vergleichsgebiets führen. Der Einfluss der Bautätigkeit auf die soziodemografischen und sozioökonomischen Kennzahlen auf Quartiersebene ist aufgrund der noch verhältnismäßig geringen Bautätigkeit klein (vgl. Craviolini et al. 2008: 15), obwohl die mit den baulichen Maßnahmen verbundenen Veränderungen der Bewohnerprofile weitaus stärker aus-
164
Christoph Craviolini und André Odermatt
fallen als die allgemeine Entwicklung der soziodemografischen und sozioökonomischen Kennzahlen im Quartier. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die Bautätigkeit, indem sie die Struktur des Wohnungsbestands verändert, eine wichtige Steuerungsgröße für die Entwicklung eines Stadtgebiets darstellt und als eigentlicher Katalysator für eine Quartiersaufwertung wirkt. Die Art der baulichen Aktivität – Sanierung oder (Ersatz-)Neubau – hat dabei erheblichen Einfluss auf die Stärke der induzierten sozialen Veränderungen.
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Von feinen Unterschieden: Die Entwicklung tschechischer Großwohnsiedlungen zwischen demografischem Wandel, Wohnungsmarkt und Stadtteilimages Katrin Großmann
In Deutschland werden Großwohnsiedlungen als Brennpunktgebiete gehandelt, wenn es um die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Quartiere geht. Insbesondere in Ostdeutschland überlagern sich Dimensionen des demografischen Wandels, wie Alterung, niedrige Geburtenraten und Migration, vor allem in Form von Abwanderung. Bei einem Überangebot an Wohnraum, wie dies in einigen schrumpfenden Städten in Deutschland der Fall ist, wird Leerstand als „Abstimmung mit dem Möbelwagen“ gewertet (Fischer 2002), die zeigt, welche Gebiete langfristig nicht mehr nachgefragt werden. Da der Leerstand in ostdeutschen Großwohnsiedlungen seit den 1990er-Jahren wuchs, werden sie als die Verlierergebiete der Entwicklung angesehen (u. a. Keller 2005). Die großen Plattenbaugebiete in Ostdeutschland gelten mittlerweile als Dinosaurier des DDR-Staates, die über kurz oder lang aus den Städten verschwinden werden oder auch sollten, wie das beispielsweise der Leipziger Kunsthistoriker Arnold Bartetzky formuliert, wenn er dafür eintritt, in die Gründerzeit-Quartiere statt in Plattenbauten zu investieren, denn: „Die Stadtschrumpfung bietet uns die Chance für die Richtungsentscheidung, in welcher Lebenswelt wir unsere Kinder und Enkel aufwachsen sehen wollen.“ (Bartetzky o. J.) Die Stigmatisierung dieser Wohngebiete ist zu einer Konsenserzählung geworden: Hässliche Architektur und seltsame Menschen, die dort wohnen wollen, Wendeverlierer, die Ewiggestrigen und die Verlierer der heutigen Zeit. So schrieb ein Journalist der WAZ über das Fritz-Heckert-Gebiet in Chemnitz: „Plattenbauten für 80.000 Menschen, seelenlose Moderne. 46.000 Menschen leben hier noch, nach Augenschein darunter viele Mühselige und Beladene, die Gewürgten, die Untüchtigen und die nicht mehr werktätigen Massen. In Hochhäusern, deren Schatten alles verdunkeln.“ (Wolf 2002; dazu ausführlich in Großmann 2005, Richter 2006). Und der hohe Wohnungsleerstand scheint den stigmatisierenden Stimmen Recht zu geben. Dass viele BewohnerInnen mit ihren Siedlungen hochzufrieden sind, sie die hohe Infrastrukturdichte und Umweltqualität an den Rändern der Städte schätzen, dass es auch Zuzug in diese Gebiete gibt, wird dabei ausgeblendet (exemplarisch für Leipzig-Grünau: Kabisch und Großmann 2010).
166
Katrin Großmann
Die deutsche Debatte kann hier nahtlos an einen internationalen Diskurs anschließen, der sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft den Großwohnsiedlungen Europas keine positive Zukunft zubilligt (Szelenyi 1996, Sailer-Fliege 1999 und 2000, van Kempen et al. 2005). Dabei werden die Erfahrungen in westeuropäischen Städten recht unhinterfragt auf die postsozialistischen Städte übertragen. So schrieb Ivan Szelenyi 1996: “[…] this low quality housing, located in undesirable neighbourhoods […]. Those who can afford are beginning to escape from them, leaving the poor and ethnic minorities to concentrate in them (a process of residualization familiar in the similar estates on the periphery of many Western European cities). As a result, the whole belt of ‘new housing estates’ is likely to become the slums of the early twenty-first century.” (Szelenyi 1996: 315.)
Auch differenziertere Beiträge beginnen zwar zunächst mit der Feststellung, dass die Situation noch recht stabil ist, sie halten aber an der Niedergangshypothese fest. In einer der letzten großen internationalen Vergleichsstudien zur Entwicklung von Großwohnsiedlungen heißt es im Resümee: “In the Central European Countries […] their position is not yet as bad as in the Western Countries. However, the tendencies point to a similar decline.” (van Kempen et al. 2005: 360, ähnlich auch Sailer-Fliege 1999.)
Dabei scheint man – unabhängig vom demografischen Wandel – von einer Art baulichem Schicksal der Siedlungen auszugehen. Die vermeintlich uniformen Baustrukturen würden dabei über kurz oder lang zu ähnlichen Entwicklungen führen. Sascha Tsenkova, eine prominente Stimme im Diskurs zur Entwicklung postsozialistischer Städte, äußerte anlässlich einer internationalen Konferenz, dass man bei diesen Siedlungen schon alle kenne, wenn man nur eine gesehen habe (dokumentiert bei Wassenberg 2004: 226). Doch ist dieser Schluss zulässig? Und würde das bedeuten, dass, ähnlich wie in Ostdeutschland, die Großwohnsiedlungen in allen Städten mit stagnierenden bzw. sinkenden Bevölkerungszahlen die Hauptschauplätze von Wohnungsleerstand wären? Ist der demografische Wandel also nur der „Sargnagel“ für ohnehin zukunftslose Quartiere?
1
Forschungsgegenstand und Methode
Im Folgenden wird exemplarisch die Situation der Großwohnsiedlungen in der zweitgrößten tschechischen Stadt, in Brno (Brünn), dargestellt. Die Ergebnisse basieren auf einer empirischen Studie aus den Jahren 2007 und 2008, in der die Großwohnsiedlungen der Stadt Brno untersucht wurden,1 insbesondere die verschiedenen 1
Ich danke den Kollegen des Instituts Geonika sowie des Ethnografischen Instituts der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, die mir Kontakte zu Interviewpartnern vermittelt haben, sowie meinen Gesprächspartnern selbst. Für die Kontakte zu weiteren Haushalten, zu den (Fortsetzung auf S. 167)
Die Entwicklung tschechischer Großwohnsiedlungen
167
Perspektiven ihres Images. Dazu wurden Experteninterviews mit den Stadtteilbürgermeistern (oder ihren Stellvertretern) aller Großwohnsiedlungen Brnos und ausgewählter anderer Stadtteile sowie Interviews mit BewohnerInnen von Großwohnsiedlungen, innenstädtischen und suburbanen Quartieren durchgeführt. Diese wurden über den Zwischenschritt der thematischen Kodierung fallvergleichend ausgewertet, d. h. interpretiert, und es wurden Bewertungsmuster der Quartiere herausgearbeitet (vgl. Kelle und Kluge 1999, Flick 2002). 2
Großwohnsiedlungen in Tschechien – ein kurzer Abriss
In Bezug auf die Rolle der Großwohnsiedlungen ist der wesentliche Unterschied zwischen westeuropäischen und auch (west-)deutschen Städten einerseits und osteuropäischen Städten andererseits ein quantitativer. Während in westeuropäischen Städten dieser Siedlungstyp nur etwa 10 % des Wohnungsbestands ausmacht, sind es in osteuropäischen Städten etwa 40%. In den Großstädten übersteigt der Anteil dieser Wohnungen häufig 50% des Bestands. Wohnen in Großwohnsiedlungen ist hier also eine normale, universelle Wohnform (van Kempen et al. 2005: 2, Rietdorf et al. 2001). Dies trifft auch für tschechische Großstädte zu. Hier wurden 1,2 Millionen Wohnungen in Plattenbauweise errichtet, in denen ca. ein Drittel der Bevölkerung der tschechischen Republik lebt (Kallabová 2002: 28). Derzeit werden einige der Siedlungen nachverdichtet bzw. weiter gebaut, d. h. an ihrem Rand oder auf freien Flächen werden weitere Mehrfamilienhäuser gebaut, nun allerdings nicht mehr in Plattenbauweise. Die tschechische Debatte über Großwohnsiedlungen selbst war in der Transformationsphase von gänzlich anderen Fragestellungen dominiert. Hier ging es Ende der 1990er-Jahre und zu Beginn des Jahrtausends vor allem um Fragen der Privatisierung und damit verknüpft um die Frage der Sanierung und Erhaltung („Regenerace“). Diskutiert wurde, welche strukturellen Schwächen die Siedlungen haben und wie man zu ihrer „Humanisierung“ betragen kann. Damit war gemeint, sie von Schlafstätten zu voll funktionstüchtigen Stadtteilen aufzuwerten – „to form a living environment which would stimulate the establishment of community“ (Kallabová 2002: 29). Dazu gehörte die Fassadengestaltung zur Überwindung der Monotonie, die Aufwertung des Wohnumfelds durch Grünanlagen, mehr Spielplätze und die Einordnung von Stadtteilkernen mit einer entsprechenden Infrastruktur. Wenn Kallabová bei einigen Projekten von gelungener Humanisierung spricht, sollte dieser Begriff in seinen Assoziationen von einem deutschen Publikum nicht überinterpretiert werden. Über Jahre ging es in der tschechischen Debatte nicht um die Frage des sozialen Abstiegs der Siedlungen, sondern immer um die Möglichkeiten und Grenzen der „urbanisti1
(Fortsetzung von S.166) Stadtteilverwaltungen und für Übersetzungsarbeiten danke ich Iva Kratochvilova sowie Robert Kudelka, der mir mit großem Einsatz zu Gesprächen mit den Stadtteilbürgermeistern verhalf. Für die Erstellung der Karten danke ich Annegret Kindler.
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Katrin Großmann
schen“, d. h. physischen und infrastrukturellen Aufwertung (Quellen: Lux 2000, Kallabová und Bílek 2006, Skulinová et al. 2006). Die Frage nach der Stabilität des sozialen Mix ist mittlerweile aber auch im nationalen Diskurs präsent, die Arbeiten konzentrieren sich dabei auf die Hauptstadt Prag (Snejdová 2006, Barvíková 2009, Temelová et al. 2009). Die Ergebnisse weisen auf unterschiedliche Trends in verschiedenen Siedlungen hin. So berichten Temelová und Puldová, dass in einigen Prager Siedlungen der Akademikeranteil anhaltend hoch und ein Zuzug von jungen Haushalten mit überdurchschnittlich hohem Bildungsniveau zu verzeichnen ist. Auf der anderen Seite gebe es Siedlungen, die einen hohen Anteil von Roma beherbergen, was als Push-Faktor für höhere soziale Schichten gewertet wird. Snejdová ist etwas skeptischer. Ihrer Analyse zufolge steigt der Bildungsstand in Prag allgemein, bleibt jedoch in den Siedlungen gleich, in manchen sinkt er (Snejdová 2006). Alle Autoren stimmen jedoch vor allem darin überein, dass die Großwohnsiedlungen differenziert zu betrachten sind, da sie sich je nach Einflussfaktoren unterschiedlich entwickeln.
3
Die Stadt Brno und ihre Großwohnsiedlungen im demografischen Wandel
3.1
Plattenbaubestände in Brno
In Brno gibt es nicht eine oder zwei große Siedlungen, in denen sich der Plattenbaubestand der Stadt konzentriert, sondern mehrere mittlere Großwohnsiedlungen. Wie Abbildung 1 zeigt, gruppieren diese sich in einem Ring um das innere Stadtgebiet mit der historischen Altstadt im Zentrum. Die Siedlungen wurden bei ihrer Errichtung um ältere dörfliche Siedlungen herum errichtet, die der Großwohnsiedlung jeweils ihren Namen gaben. So liegt die Großwohnsiedlung Bystrc am ehemaligen Dorf Bystrc, das heute eine Art Stadtteil- und Verwaltungszentrum bildet und unter anderem das Stadtteilrathaus beherbergt. Lediglich eine Großwohnsiedlung entstand tatsächlich auf vorher unbesiedelter Fläche: Vinohrady, das auf ehemaligen Weinbauflächen errichtet wurde und daher seinen Namen „Weinberg“ hat. Acht dieser Siedlungen sind administrative Stadtteile Brnos,2 und beherbergen zwischen 4.000 und 10.000 Wohnungen (MMB 2008: 55, zu den Einwohnerzahlen vgl. Tabelle 2). Zudem gibt es Wohnhäuser in Plattenbauweise verteilt im ganzen Stadtgebiet, sozusagen als „infill-development“, von denen einige in der Wahrnehmung der Bewohner als „sidlisˇ teˇ“ (Großwohnsiedlung) gelten, auch wenn die Zahl der Wohnungen unter den in der Literatur üblichen Minimalgrenzen von 2.000 Wohnungen im Komplex liegen. Für die Grafik in Abbildung 1 wurden Stadtgebiete als Großwohnsiedlung dargestellt, die überwiegend Wohnungen in Plattenbauweise aufweisen. Eine Groß2
Die Großwohnsiedlung Lesná bildet hier eine Ausnahme, sie ist Teil des administrativen Stadtteils Brno-Sever.
169
Die Entwicklung tschechischer Großwohnsiedlungen
wohnsiedlung bezeichnet einen Cluster von Wohnhäusern, die in industrieller Bauweise gefertigt wurden und in der lokalen Wahrnehmung als „sidlisˇ teˇ“, als Plattenbau-Siedlung gelten. Für den Zweck dieser Untersuchung ist weniger die Größe einer Siedlung relevant als ihre Präsenz in den Mindmaps der Einwohner von Brno: Eine Großwohnsiedlung ist eine Großwohnsiedlung, wenn die Einwohner sie so bezeichnen. Tabelle 1: Ausgewählte Merkmale des Wohnungsbestands in Brno $ # - A# ) ; 9 - . 9 8 8!
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Quelle: Magistrat der Stadt Brno (MMB): 2008
Betrachtet man das Verhältnis zwischen Wohnungen in Plattenbauweise und Wohnungen in anderer Bauweise, so erweist sich Brno als durchschnittliche osteuropäische Großstadt: 43,2% des Wohnungsbestands wurden in Plattenbauweise errichtet. Diese Zahl bezieht sich auf den letzten Zensus im Jahr 2001. Nach 2001 wurde in Brno wieder verstärkt Wohnungsbau in Form von Ein- oder Mehrfamilienhäusern betrieben. Einerseits gewann die Suburbanisierung an Dynamik, Wohnraum entstand um die dörflichen Siedlungen im Stadtgebiet und im Umland. Andererseits entstanden in den letzten Jahren einige neue Wohnungen, auch in neuen Mehrfamilienhäusern innerhalb der Stadt. Häufig entstehen Neubauten als Erweiterung der bestehenden Großwohnsiedlungen, sodass – im Kontrast zu Ostdeutschland – die Großwohnsiedlungen eher weiter wachsen als schrumpfen. Da dies allerdings keine Mehrfamilienhäuser in Plattenbauweise sind, dürfte der statistische Anteil solcher Wohnungen leicht zurückgehen. 3.2
Eigentumsverhältnisse und sozialer Mix
Die Siedlungen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Größe, sondern auch hinsichtlich der Lage, der Umweltqualität und hinsichtlich der Eigentümerstrukturen. Im Zuge der Privatisierungen entstanden drei wichtige Formen des Wohneigentums in den Siedlungen. Zum ersten gibt es noch immer einen für osteuropäische
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Großwohnsiedlungen vergleichsweise großen Anteil kommunaler Wohnungen. Dies sind die ehemaligen staatlichen Wohnungen, die an die kommunale Selbstverwaltung übergeben wurden. In Brno werden sie von den Stadtteilen direkt vermietet. Für diese Wohnungen gibt es lange Wartelisten, denn sie werden zu regulierten Preisen, nicht zu Marktpreisen vermietet. Alte Mietverträge in diesem Bestand haben den Status von Quasi-Eigentum, denn das Recht auf die Wohnung, das über ein Dokument, das sogenannte „dekret na byt“, zugesichert wird, ist vererbbar. Daher ziehen junge Haushalte häufig in die Wohnungen der Großeltern, da ihnen sonst nur der zu Marktpreisen angebotene Wohnraum zugänglich ist (Steinführer 2004b, Bierzy´nski et al. 2010). Zum zweiten gibt es den privatisierten Bestand, der in den 1990er-Jahren zu einem Bruchteil der Marktpreise an die Mieter veräußert wurde und inzwischen teilweise auf dem Wohnungsmarkt als Eigentumswohnungen gehandelt wird. Zum dritten gibt es genossenschaftliche Wohnungen. Dies sind einerseits die großen, vor 1990 entstandenen Wohnungsgenossenschaften und andererseits neu gegründete kleine Eigentümergenossenschaften, oft auf der Ebene von Hauseingängen, die zur Verwaltung und zur Organisation von Sanierungsarbeiten ins Leben gerufen werden. Die Stadtteilverwaltungen der Großwohnsiedlungen in Brno verfolgen nun in ihren Beständen unterschiedliche Strategien. Während die Stadtteilbürgermeisterin von Nov y´ Liskovec zum Zeitpunkt der Untersuchung auf einen Mix der Eigentums-
Abbildung 1: Anteil der Hochschulabsolventen in Brno laut Zensus 2001 Quelle: CˇSU (Cˇesk´y statistick´y úrˇad – Tschechisches Amt für Statistik)
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formen setzte und daher nicht weiter privatisierte, setzte der Bürgermeister von Bohunice auf die umfassende Privatisierung. Als dritte Variante hielt die Führung von Star y´ Liskovec lange am kommunalen Bestand fest, aber auch hier werden die Weichen nun eher auf Privatisierung gestellt (Informationen von Interviews im Winter 2007/2008). Im Kontrast zu westdeutschen bzw. westeuropäischen Großwohnsiedlungen ist der soziale Status der Großwohnsiedlungen in Brno noch immer von einem Mix der Statusgruppen geprägt. Abbildung 1 zeigt den Anteil der Hochschulabsolventen unter den Bewohner bei der letzten Zensus-Erhebung 2001 (jüngere Daten sind nicht verfügbar). Wie deutlich sichtbar ist, liegen die Großwohnsiedlungen hier im unteren bis oberen Mittelfeld. Weder sind sie Orte mit sehr hohen noch mit sehr niedrigen Anteilen von Hochschulabsolventen. Stattdessen variieren die Bildungsabschlüsse zwischen den unterschiedlichen Großwohnsiedlungsstandorten der Stadt. Die nördlichen und westlichen Siedlungen haben einen höheren Anteil an Hochschulabsolventen als die südlichen und östlichen Siedlungen, ein Muster, das die innere Stadt prägt und sich in den Großwohnsiedlungen fortsetzt. Ein ähnlich differenziertes Bild ergibt sich bei der vergleichenden Darstellung des Altersdurchschnitts der Stadtteile im Zensus 2001. Es gibt Siedlungen mit hohem Altersdurchschnitt, insbesondere im Norden, und Siedlungen, die einen eher
Abbildung 2: Durchschnittsalter der Bevölkerung in Brno laut Zensus 2001 Quelle: CˇSU
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niedrigen Altersdurchschnitt aufweisen. Entscheidend hierfür ist das Alter der Siedlungen. Die südlichen und östlichen Siedlungen wurden später gebaut, die demografische Welle steckt hier noch am Anfang. Nov y´ Liskovec beispielsweise wurde zur Hälfte erst in den 1990er-Jahren errichtet. Die Siedlungen im Norden und Westen sind dagegen älter und die demografische Welle ist hier weiter fortgeschritten. Dazu kommt, dass in Lesná, der baulich und demografisch gesehen ältesten Siedlung, nach Informationen von Interviewpartnern kaum Wohnungen am Markt angeboten werden, sodass eine Verjüngung durch Zuzug kaum einsetzen kann. 3.3
Bevölkerungsentwicklung
Der demografische Wandel macht nicht an der deutsch-tschechischen Grenze halt. Auch in Tschechien sanken in den 1990er-Jahren die Geburtenraten unter das Reproduktionsniveau, ein Phänomen, das in den postsozialistischen Ländern weit verbreitet war. Die Geburtenzahlen fielen hier zeitweise in den Bereich der „lowest-low fertility“, einer Rate von weniger als 1,3 Kindern pro Frau (Kohler et al. 2002). Auch wenn die Geburtenrate in den vergangenen Jahren wieder gestiegen ist, sagen die demografischen Prognosen für Tschechien eine Phase der Stabilität der Bevölkerungszahlen bis etwa 2020 voraus, gefolgt von einer Phase des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs, in den negativen Szenarien um über zwanzig Prozent bis 2050 (Sobotka et al. 2008: 405; Burcin/Kucˇera 2002: 95. Zum tschechischen Diskurs zur demografischen Entwicklung siehe Steinführer 2010). Wie sich diese Prozesse in den großen Städten der Tschechischen Republik niederschlagen werden, ist schwer abzuschätzen, da hier vor allem die regionale Wanderung eine Rolle spielt. Die Einwohnerzahl der Stadt stieg bis Ende der 1980er-Jahre, der Zensus 1991 zählte 388.500 Einwohner. Beim nächsten Zensus 2001war die Einwohnerzahl auf 381.900 gesunken. Der vorläufige Tiefpunkt laut Melderegister war 2006 mit 366.700 Einwohnern erreicht, seitdem steigt die Einwohnerzahl wieder an. Die Bevölkerungszahl der Stadt Brno laut Einwohnermelderegister liegt zum 31. 12. 2008 laut Melderegister bei 370.600 (Steinführer et al. 2010). Dahinter steht vor allem eine steigende Geburtenrate (Mulícˇek 2008). Die Aussagekraft dieser Einwohnerzahlen wird allerdings angezweifelt. So nehmen Experten der lokalen Verwaltung an, dass die tatsächliche Bevölkerung deutlich höher liegen muss als die Zahl der registrierten Einwohner. Insbesondere Studenten, Auszubildende und Berufseinsteiger melden oft keinen offiziellen Wohnsitz an, sondern bleiben am elterlichen Wohnsitz gemeldet. Die Schätzung der Experten vor Ort, dass die Einwohnerzahl bis zu 100.000 Personen über den 2008 gemeldeten liegen könnte, basieren auf der Bebachtung der Auslastung städtischer Infrastrukturen. So wurde die Kanalisation für etwa 500.000 Menschen ausgelegt – und stößt in Teilen bereits an ihre Grenzen.3 Anders als in Polen oder Ostdeutschland ist tempo3
Interview mit einem Verwaltungsmitarbeiter des Stadtteils Brno-Strˇed im Februar 2008.
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räre oder dauerhafte Auswanderung auf der Suche nach einem Arbeitsplatz kein verbreitetes Phänomen (Bierzy´nski et al. 2010). Bei der Betrachtung der Einwohnerzahlen der Stadtteile ist also zu beachten, dass es eine gewisse Unsicherheit gibt, doch lassen sich so zumindest Trends erfassen. Tabelle 2 zeigt die Entwicklung der Einwohnerzahl in ausgewählten Stadtteilen, getrennt nach dem Stadtzentrum, Großwohnsiedlungen und Stadtteilen mit suburbanem Charakter. Tabelle 2: Entwicklung der Einwohnerzahlen ausgewählter Stadtteile
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* Stand jeweils zum 1.1. des Jahres Quellen: Magistrat der Stadt Brno (MMB), CˇSU
Deutlich wird, dass die Großwohnsiedlungen einen leichten, aber kontinuierlichen Einwohnerrückgang zu verzeichnen haben, während die suburbanen Stadtteile gerade in den letzten Jahren rasant gewachsen sind. Das Stadtzentrum hat laut Statistik in den 1990er-Jahren Einwohner verloren, nach 2000 aber wieder dazugewonnen (zur Einschätzung der Realitätsnähe der Daten vgl. Steinführer et al. 2010). Was steht nun hinter dem Bevölkerungsrückgang der Großwohnsiedlungen? Ein Beispiel: Im Gespräch mit dem stellvertretenden Bürgermeister des Stadtteils Bystrc, einer Großwohnsiedlung im Nordwesten der Stadt, erklärt der Experte, dass
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widersprüchliche Entwicklungen zu beobachten seien. Einerseits werden im Stadtteil weiter Wohnungen neu gebaut, die Nachfrage danach ist hoch, aber die Einwohnerzahl ist trotzdem rückläufig. „Wir bauen Wohnungen in Bystrc – und nicht wenig, aber trotzdem, die Einwohnerzahl steigt nicht. Sondern im Gegenteil. Zum Beispiel haben wir […] im Jahre 2000 angefangen mit dem Bau und in diesen sieben Jahren haben wir etwa 400 [Wohnungen, KG] gebaut, aber trotzdem ist die Zahl der Einwohner um diese 735 gesunken. Warum? […] Wir hatten kein Problem mit dem Verkauf dieser Wohnungen, es gibt ein großes Interesse. Absolut problemlos, diese Wohnungen in Bystrc sind gleich verkauft. Aber trotzdem [lacht] […] sinkt die Zahl der Einwohner.“4 (Im Original Deutsch.)
Das heißt, trotz sinkender Einwohnerzahlen ist keine Entspannung des Wohnungsmarkts in Sicht. Nun könnte man vermuten, dass die Nachfrage sich auf neue Wohnungen konzentriert und die Plattenbaubestände trotzdem von Leerstand betroffen oder bedroht wären. Doch das ist nicht der Fall: „Ich war in Leipzig vor zwei Jahren oder so, in Leipzig, in Chemnitz und in Dresden, und (…) wir haben die leeren Wohnungen gesehen, wir haben den Umbau gesehen; wie sieht das aus. Und so ein Problem gibt es nicht hier, keine leeren Wohnungen, aber trotzdem sinkt die Zahl der Einwohner.“5
Auch andere Stadtteilvertreter berichten Ähnliches. Die Nachfrage nach Wohnungen ist ungebremst, die Wartelisten für kommunale Wohnungen sind voll und die Wohnungspreise steigen immer weiter. Die Ursachen für den Einwohnerrückgang in den Großwohnsiedlungen sind stattdessen in Veränderungen der Haushaltsstrukturen zu finden. Die durchschnittliche Haushaltsgröße sinkt, denn die Zahl der Einpersonenhaushalte steigt, während die Zahl der Haushalte mit vier und mehr Personen abnimmt (Vaishar et al. 2010). „Ich glaube, das ist teilweise darum, weil sehr oft die Leute übersiedeln von kleinen Wohnungen in große Wohnungen. Oder es wohnen zwei Generationen zusammen und dann wohnen sie selbstständig. Das ist wahrscheinlich auch spezifisch für diesen Bezirk, weil praktischerweise dieser Bezirk in den Jahren 1960 bis 1990 gebaut wurde. In 30 Jahren praktisch. Die Leute waren jung und relativ bald hatten sie Kinder, und jetzt kommt gerade die zweite Generation und sie siedeln um.“6
Die Haushaltsneugründungen, so versicherte man mir immer wieder, würden in der Regel im selben Stadtteil vorgenommen, falls man eine Wohnung bekommt, was in manchen Siedlungen schwieriger und in manchen leichter ist – vorausgesetzt man kann die Marktpreise zahlen. Es gibt jedoch auch Hinweise darauf, dass der Nachfragedruck auf das Segment der Plattenbauwohnungen nachlässt. In Interviews mit Immobilienmaklern wurde 4 5 6
Interview mit einem Verwaltungsmitarbeiter des Stadtteils Bystrc im Oktober 2007. Ebenda. Ebenda.
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uns berichtet, dass einerseits die Plattenbauwohnungen in den Großwohnsiedlungen beliebte Spekulationsobjekte seien. Die Preisexplosionen der vergangen Jahre bei Eigentumswohnungen seien Anlass für kleine private Anleger, ihre im Zuge der Privatisierung günstig erworbene Wohnung weiterzuverkaufen oder privat zu vermieten und vom Erlös eigene Wohnwünsche zu erfüllen. An erster Stelle stehe hier immer wieder der Traum vom Häuschen im Grünen (Kallabová 2002: 29). Andererseits erklärte im Mai 2008 ein auf Vermietungen spezialisiertes Immobilienbüro in Brno, dass Mietwohnungen in Großwohnsiedlungen am schwierigsten vermietbar seien. Die Interviewpartnerin erwartet: „Das sind irgendwann die schlechtesten Viertel, wie überall in Europa“7. Sollte sich der Wohnungsmarkt in Brno durch die an Dynamik gewinnende Neubautätigkeit und rückgängige Bevölkerungszahlen entspannen, sollten die Wohnungspreise sinken oder stagnieren – wie dies von manchen Immobilienmaklern durchaus erwartet wird (Johnstone 2010), was passiert dann mit den Großwohnsiedlungen? Zur Beantwortung dieser Frage ist das Image der Siedlungen wichtig. Dies verweist auf das letzte, möglicherweise aber entscheidende Thema bei der Abschätzung der künftigen Entwicklung der Großwohnsiedlungen in Brno unter den Bedingungen des demografischen Wandels – die Wahrnehmung.
4
Die Stadtteile Brnos in der Wahrnehmung der Bevölkerung
Um die Wahrnehmung und Akzeptanz der Siedlungen in Brno zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Gesamtstadt hilfreich. Brno ist eine Stadt, auf die der Begriff „historisch gewachsen“ tatsächlich zutrifft. Um die mittelalterliche Innenstadt liegt ein Ring gründerzeitlicher Stadterweiterungen. Im Nordwesten der Stadt sind diese Gründerzeitgebiete stärker bürgerlich geprägt mit eher repräsentativem Wohnbestand, der inzwischen auch großteils saniert wurde. Im Süden bzw. Südosten des Stadtzentrums siedelten sich Industriebetriebe an, durchsetzt mit Arbeiterwohnvierteln. Teile dieser Arbeitersiedlungen werden seit Jahrzehnten von der Roma-Community in Brno geprägt, was sie in den Augen vieler Bewohner Brnos zu den schlechtesten Adressen der Stadt macht. In Interviews wurden diese Viertel wiederholt als die „Bronx von Brno“ bezeichnet, sie seien durch die „sozial problematische Struktur der Bewohner“8 gekennzeichnet. Das Problematische daran sei das Verhalten dieser Gruppe. „Hohe Arbeitslosigkeit, Kriminalität natürlich, und alles, was damit verbunden ist“ – so beschreibt es eine Vertreterin des administrativen Stadtteils Mitte.9 Der Stadtteil mit dem positivsten Image ist das Masaryk-Viertel. Es wurde Anfang des 20. Jahrhunderts als Beamtenviertel vorwiegend in Villenstruktur gebaut 7 8 9
Interview mit einer Immobilienmaklerin in Brno, Mai 2008. Interview mit einem Verwaltungsmitarbeiter des Stadtteils Brno-Sever, Februar 2008. Interview mit einer Verwaltungsmitarbeiterin des Stadtteils Brno-Strˇed, Februar 2008.
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und liegt auf einem Hügel westlich der Altstadt (vgl. auch Steinführer 2004a: 254-261, Vaishar und Zapletalova 2003). Dieses Viertel wird assoziiert mit guter Wohnqualität und einer statushohen Bevölkerung. Die Preise sind hoch, aber es ist ohnehin kaum möglich, ein Haus oder eine Wohnung in diesem Viertel zu bekommen, da sie kaum am Markt angeboten werden. In den Interviews wurde deutlich, dass selbst die hoch im Kurs stehenden suburbanen Gebiete im Norden der Stadt diese Nummer eins der Adressen Brnos in den mentalen Rankings bisher nicht überholt haben. Diese mentale Teilung der Stadt in den repräsentativen Nordwesten und den weniger repräsentativen Südosten der Stadt hängt mit der naturräumlichen Situation zusammen: Während der nördliche Teil auf den ersten Hügeln am Fuße des mährischen Karst gebaut wurde, liegen die südlichen Viertel in eher flachem Gelände und gelten als landschaftlich wenig reizvoll.
5
Images der Großwohnsiedlungen
Alle anderen Stadtteile rangieren zwischen diesen beiden Polen aus bester und schlechtester Adresse, auch die Großwohnsiedlungen. Deren Images werden von den historisch gewachsenen räumlichen Strukturen und den dazugehörenden Wahrnehmungsmustern beeinflusst, denn die Nordwest-Südost-Teilung findet sich auch hier wieder. Die Mehrheit meiner Interviewpartner hatte eine distinkte Meinung dazu, was gute und was schlechte Großwohnsiedlungen in Brno sind, und zwar unabhängig vom jeweils eigenen Wohnstandort. Die wichtigsten Kriterien, die zur Bewertung der Siedlungen herangezogen werden, sind die Dichte der Gebäude, der Grünflächenanteil innerhalb der Siedlung und die Nähe zu attraktiven Erholungsgebieten in der Umgebung der Siedlung. Die Großwohnsiedlung mit dem mit Abstand besten Image ist die älteste Siedlung Lesná. Sie liegt im Norden der Stadt und wurde Ende der 1960er-Jahre erbaut. Damals gehörte sie zu den architektonischen Modellprojekten im sozialistischen
Abbildung 3: Lesná Foto: K. Großmann
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Städtebau (Rietdorf 1972: 274–277). Im Jahr 2009 formierte sich in Brno eine Initiative, die gesamte Siedlung unter Denkmalschutz zu stellen, um weitere Nachverdichtung zu verhindern. Die geringe Baudichte und die großen Abstandsflächen zwischen den Häusern mit inzwischen hoch gewachsenem Grün gelten als das Markenzeichen der Siedlung. In der Kodierung der Interviews wurden 46 explizit positive Passagen zu Lesná gezählt und nur 4 explizit negative. Von den positiven Passagen beziehen sich 28 auf die geringe Baudichte und die üppigen Grünflächen im und um das Gebiet. Die nächste Kategorie, sozusagen die „zweitbeste Kategorie“, sind die Gebiete im Nordwesten, z. B. Kohoutovice und Bystrc. Ihr gutes Image hat seinen Grund ebenfalls in der landschaftlichen Lage. Bystrc befindet sich in der Nähe einer Talsperre, einem wichtigen Erholungs- und Freizeitziel der Bewohner Brnos. Der Stadtteil ist laut Einwohnermelderegister mit 23.312 Bewohnern (2008) eine der größten Plattenbausiedlungen (vgl. Tabelle 2). Der Stadtteil weist im Westen weiter Baugebiete aus, die mit großen Mehrfamilienhäusern bebaut werden. Die Bautechnologie hat sich geändert, der Maßstab der Großwohnsiedlung aber wird fortgesetzt. Kohoutovice ist mit 13.338 Einwohnern wesentlich kleiner und liegt in einer Senke zwischen den grünen Hügeln im Westen der Stadt. Auch hier gruppieren sich die Plattenbauten um einen alten Dorfkern. Der Stadtteil ist daher umgeben von Grün- und Waldflächen. Viele Plattenbauten in Kohoutovice wurden aufwändig umgestaltet, um so, etwa durch den Aufbau von Dachgeschossen, die Fassade zu verändern und gleichzeitig Wohnraum zu gewinnen. Beide Stadtteile sind eher weit vom Zentrum entfernt, man braucht ca. eine halbe Stunde, um sie mit dem ÖPNV zu erreichen. Für manche Interviewpartner war das ein deutlicher Nachteil dieser Stadtteile. Zu Bystrc enthält das Material 28 positive und 20 negative Passagen, für Kohoutovice 45 positive und 13 negative. Die negativen Wertungen beziehen sich hauptsächlich auf die Baudichte, vor allem in Bystrc, die positiven auf die naturräumlichen Qualitäten. Wenn im Interview – was
Abbildung 4: Kohoutovice Foto: K. Großmann
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eher selten der Fall war –soziale Aspekte zur Sprache kamen, dann wurden beide Siedlungen als Wohnstandort des gehobenen Milieus dargestellt. So berichtete ein Bewohner aus Kohoutovice: „Es gibt viele Unternehmer, die eine schöne, große Wohnung einem Einfamilienhaus vorziehen. Die sagen immer: Ja, ich habe keine Zeit, ich habe einen riesigen Garten am Haus. Ich habe keine Zeit dafür. Dann sind meine Nachbarn sauer, dass der Rasen nicht gepflegt ist. Es sind lauter Probleme mit einem Haus. Ich möchte lieber eine wirklich schöne Wohnung haben. Also auch sonst eher wohlhabende Leute.“
Alle anderen Siedlungen haben ein vergleichsweise schlechteres Image, auch wenn die Wahrnehmung bei verschiedenen Interviewpartnern differiert. Im Kontrast zu Lesná werden die südlichen und südöstlichen Großwohnsiedlungen wie Vinohrady, Liˇse n, ˇ Bohunice, Star y´ Liskovec und Nov y´ Liskovec häufig als „schlechter Urbanismus“ bezeichnet. Das bedeutet, dass sie als zu dicht gebaut, zu groß im Maßstab und in der Gebäudehöhe angesehen werden. Es gebe zu wenige Grünflächen in den Siedlungen und diese seien zudem schlecht gestaltet. Vinohrady wird von einem Bewohner von Bystrc (Interview im November 2007) mit den Worten beschrieben: „Kein Platz, zu wenig Grünflächen, keine Bäume. Die Nachbarn sehen sich auf einer Distanz von 20 bis 30 Metern, sie schauen sich in die Fenster. Es ist so schlimm, dass es in Vinohrady fast nichts gibt, was man für Vinohrady tun könnte.“ Die südlichen Großsiedlungen werden von manchen Interviewpartnern pauschal charakterisiert und andere wieder sehen deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Siedlungen im Süden. Aus der Perspektive von Bystrc beispielsweise wurden Bohunice und Vinohrady als schlechteste Siedlungen beschrieben. Ein Gesprächspartner aus Bohunice wiederum sagte, dass Vinohrady so dicht gebaut sei, dass er dort auf keinen Fall hinziehen würde und er es bei der Suche nach einer Wohnung von vornherein ausgeschlossen habe. In Vinohrady dagegen hat man die Siedlung inklusive
Abbildung 5: Vinohrady Foto: K. Großmann
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der Fassaden unter Erhaltungsschutz gestellt, weil man nicht „so eine kunterbunte Siedlung“10 haben möchte wie in Bohunice oder in Liˇseˇn. Außerdem habe man hier – im Gegensatz zu vielen anderen Siedlungen – ein hübsches, neu saniertes Stadtteilzentrum. Die Vorteile der eigenen Siedlung aus Bohunicer Sicht werden dagegen funktional beschrieben: „Unser Vorteil ist, dass die Straßenbahn gerade mal 10 Minuten bis ins Stadtzentrum braucht. Im Vergleich zu Vinohrady, wo das länger dauert. […] Kohoutovice, Liˇseˇn, das ist alles zu weit weg.“11 Gibt es negative soziale Aspekte bei den Images? Ja, die gibt es, aber sie sind kein dominierendes Thema. Neben dem Thema Nachbarschaftskonflikte, das in den Interviews zweimal vorkam, wird hin und wieder eine hohe Baudichte mit abweichendem Verhalten in Verbindung gebracht – je dichter ein Gebiet sei, desto mehr Probleme gebe es mit Kriminalität: „Ich glaube, es wird in der Kriminalität deutlich. In den älteren Teilen der Siedlungen gibt es weniger Probleme im Vergleich zu dem dichter bebauten jüngeren Teil und dessen Umfeld. Meiner Meinung nach hängt das wirklich von der Bebauungsdichte ab.“12
Kriminalität ist also eine Frage der Dichte, kein Charakteristikum von Großwohnsiedlungen per se. Das Thema wird eher benutzt, um gute von schlechten Siedlungen bzw. Siedlungsteilen zu unterscheiden. Aus deutscher Sicht bleibt festzuhalten, dass die starke Differenzierung zwischen den Siedlungen bedeutet, dass der Quartierstyp als solcher nicht stigmatisiert sein kann. Interessant ist auch, dass die Differenzierung der Stadt Brno überwiegend an den physischen Eigenschaften der Siedlungen festgemacht wird und weniger an sozialen Strukturen, auch das ist in Deutschland anders. Da Stigmatisierung aus meiner Sicht die Herstellung einer Verbindung zwischen gebauten und sozialen Strukturen ist, sind die Siedlungen in Brno derzeit nicht stigmatisiert. Kleine Ansätze hierzu zeigen sich jedoch in der beschriebenen Verbindung von Baudichte mit Kriminalität. Andererseits kam eine solche Verbindung in allen 43 Interviews nur zweimal vor.
6
Wohnpräferenzen und Wohnzufriedenheit
Im Hinblick auf die Wohnpräferenzen von Bewohnern der Großwohnsiedlungen zeigt die Analyse der Interviews, dass bis auf eine Ausnahme alle Interviewpartner überzeugte Großwohnsiedlungsbewohner waren. Es gibt fallübergreifend zwei Hauptargumente, warum die Großwohnsiedlungen der präferierte Wohnstandort sind. Das eine Argument bezieht sich auf die unmittelbare Verfügbarkeit aller wichtigen Funk10 11 12
Interview mit einem Verwaltungsmitarbeiter des Stadtteils Vinohrady im November 2007. Interview mit einem Bewohner des Stadtteils Bohunice im Januar 2008. Interview mit einem Verwaltungsmitarbeiter des Stadtteils Bohunice im Februar 2008.
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tionen eines Wohnstandorts in Kombination mit einem Wohnumfeld, das vergleichsweise ruhig ist, nicht von Verkehr, Industrie oder anderen Stressfaktoren beeinträchtigt wird und dem alltäglichen Leben in allen Aspekten entgegenkommt. Zu den geschätzten Funktionen gehört vor allem die gute Verkehrsanbindung, die den eigenen Wohnstandort schnell, zuverlässig und in geringer Taktfrequenz mit anderen Orten in der Stadt verbindet. Des Weiteren gehören dazu die Ausstattung mit Schulen und Kindergärten sowie Serviceeinrichtungen in direkter Nähe, die Ausstattung mit Einkaufsgelegenheiten und Freizeitangeboten. Selbst die wichtigen Verwaltungsinstitutionen sind im Stadtteil angesiedelt. Das macht die Großwohnsiedlungen zu präferierten Wohnstandorten für eine Reihe von Haushaltstypen in meinem Sample: besonders für Familien mit kleinen Kindern, aber auch für Paare mittleren Alters oder für Ältere. Starke soziale Netze wie Verwandte oder Freunde, die im selben Gebiet wohnen, oder gute nachbarschaftliche Kontakte erhöhen die Identifizierung mit der Siedlung. So sagte eine Interviewpartnerin aus Bystrc: „Die Vorteile [des Stadtteils, KG] sind, dass alles in der Nähe ist was man so zum Leben braucht. Geschäfte aller Art, man muss nicht in die Stadt fahren, Schulen, Spielplätze. Wir leben nicht dicht an der Straße, so dass die Kinder vor dem Haus spielen können. […] Und in die Stadt ist es auch nicht so weit, wenn man zur Arbeit fährt. Die Verbindung mit Bus, mit Straßenbahn, das ist alles gut. […] Für mich ist Bystrc die wahre Nummer 1 [Lachen].“13
Das zweite Argument für diesen Wohnstandort ist seine Nähe zu Erholungsräumen im Grünen, die besondere Lage am Stadtrand. Einerseits wird dies mit einer gesunden Wohnumgebung assoziiert, die dem Lärm und dem Dreck der Innenstadt gegenübergestellt wird. Andererseits geht es um den Zugang zu den Grünräumen selbst. Hier kann man spazieren gehen, joggen, Rad fahren, wandern. Der Vorteil einer Wohnung in der Großwohnsiedlung gegenüber dem Häuschen in suburbaner Lage ist die Mischung aus funktionalen urbanen Qualitäten und der Stadtrandlage. „[Frage: Was sind weitere Kriterien bei der Wahl eines Gebiets?] Öffentlicher Nahverkehr und Schulen und Kindergärten, dieses Infrastrukturproblem. Also, nicht abhängig zu sein von einem Auto, um sich zu bewegen. Ich würde sagen, das ist mein Lieblingsgebiet in der Stadt. Es gibt Wald für jeden, man kann einfach spazieren gehen und kleine Unternehmungen machen, wenn man hier wohnt.“14
Selbstverständlich gab es auch andere Wohnpräferenzen in den Interviews. In Großmann et al. (2010) werden Befunde zu jüngeren Haushalten dokumentiert, die Großwohnsiedlungen zugunsten der Innenstadt ablehnen oder vom suburbanen Wohnen träumen. Diese anderen Präferenzen bedeuten jedoch nicht, dass es eine klare Tendenz zur Ablehnung oder Abwendung von Großwohnsiedlungen gibt. 13 14
Interview mit einer Bewohnerin des Stadtteils Brno-Bystrc im Januar 2008. Interview mit einer Bewohnerin des Stadtteils Kohoutovice im November 2007.
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Zusammenfassung und Ausblick: Kein Niedergang in Sicht
An der Oberfläche der Trends der Bevölkerungsentwicklung passieren in Tschechien und (Ost-)Deutschland ähnliche Dinge: Die Geburtenrate fiel in den 1990er-Jahren unter das Reproduktionsniveau und erreichte zeitweise das Level von Lowest-lowFertility-Raten. Damit weicht die Bevölkerungsentwicklung vom über Jahrhunderte anhaltenden Wachstumspfad ab. Für die Tschechische Republik wird eine Phase der Stagnation prognostiziert, der ab ca. 2020 ein allgemeiner Bevölkerungsrückgang folgen soll. Im Zuge dieser Entwicklung altert die tschechische Bevölkerung im Durchschnitt, die Haushaltsgrößen sinken. Während in Ostdeutschland eine Abwanderungswelle nach West- bzw. vor allem nach Süddeutschland den Bevölkerungsrückgang auch in den großen Städten verstärkte, ist in Tschechien die Hauptstadt Prag das Migrationsziel Nummer eins. Die Großwohnsiedlungen, die Gegenstand dieses Beitrags sind, erleben trotzdem sehr unterschiedliche Entwicklungen. Während ostdeutsche Großwohnsiedlungen scheinbar von ihrem „physischen Schicksal“ eingeholt werden, nämlich dem Niedergang, der durch den demografischen Wandel noch beschleunigt wird, bilden tschechische Großwohnsiedlungen einen integralen, akzeptierten Bestandteil der lokalen Wohnungsmärkte. Auch hier zeitigt der demografische Wandel Wirkungen, allerdings andere als in Ostdeutschland. In der Fallstudie Brno gehen die Einwohnerzahlen der Siedlungen tatsächlich zurück, was jedoch nichts mit einer sinkenden Akzeptanz der Siedlungen zu tun hat. Vielmehr sinken die Haushaltsgrößen, während die Zahl der Haushalte durch den Ausbau der Siedlungen weiter steigt. Ehemals in einer Wohnung zusammenlebende Generationen gründen eigene Haushalte; wo sie dies tun, darüber gibt es keine gesicherten Ergebnisse. Der Wohnungsmarkt ist noch immer angespannt, in unterschiedlichen Segmenten unterschiedlich stark. Insbesondere für die verbliebenen kommunalen Mietwohnungen, die weiterhin zu regulierten Preisen vermietet werden, gibt es lange Wartelisten. Eigentumswohnungen sind in einigen Siedlungen leichter, in anderen schwerer zu finden, auch die Preise unterscheiden sich je nach Ansehen und Prestige der Siedlung. Inwieweit die Spekulationen mit Eigentumswohnungen in den Plattenbaubeständen zu ersten Angebotsüberhängen führen, ist noch nicht absehbar, derzeit gibt es keine Wohnungsleerstände. Die Großwohnsiedlungen genießen eine anhaltende allgemeine Akzeptanz, Kritik bezieht sich vor allem auf die physischen Eigenschaften einzelner Siedlungen. Manche seien zu dicht gebaut, andere lägen in einer weniger reizvollen Umgebung. Es gibt aber auch Siedlungen, die zu den besten Adressen der Stadt zählen. Im scharfen Gegensatz zu Ostdeutschland gibt es vor allem eines nicht: eine pauschale, stigmatisierende Abwertung von Großwohnsiedlungen im Fremdbild, die negative physische Eigenschaften mit sozialen Problemen verbindet. Allerdings finden sich Spuren der Niedergangshypothese etwa in den Annahmen der befragten Immobilienmakler vor Ort und auch in den Fragestellungen von Wissenschaftlern. Wie groß der Einfluss dieses eher international stimulierten Diskurses
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ist, wird die Zeit zeigen. Der demografische Wandel mag in Deutschland als Katalysator einer Entwicklung gewirkt haben, die durch eine Mischung von Wohnungsmarktfaktoren, Stigmatisierung und ökonomischen Bedingungen bestimmt wurde. Eine ursächliche Rolle in der Schrumpfung von Großwohnsiedlungen kommt ihm eher nicht zu. Die Ausführungen zeigen stattdessen, dass der demografische Wandel je nach lokalem und nationalem Kontext sehr unterschiedliche Wirkungen entfalten kann. Die Zukunft von Großwohnsiedlungen entscheidet sich also im Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen und Trends, nicht als von der Baustruktur vorbestimmtes Schicksal. Dabei differenzieren sich die Siedlungen im postsozialistischen Kontext eher aus als dass sie gleiche Entwicklungspfade einschlagen. Hier spielen Wechselwirkungen unterschiedlicher Faktoren wie Eigentumsstrukturen, Entwicklung des Wohnungsmarkts, Fluktuation, Entwicklungsstrategien der Entscheidungsträger auf unterschiedlichsten Ebenen, naturräumliche Lage und vieles andere eine Rolle. Der demografische Wandel ist dabei nur ein Faktor.
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Die Entwicklung tschechischer Großwohnsiedlungen
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V Ausblick
Quartiersperspektiven zwischen Schrumpfung und Temporalität, Aufwertung und Abriss Thesen zu Schrumpfung und Stadtumbau Ost in mittelgroßen Städten Ingeborg Beer
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Schrumpfung ist kein Leitbild für den Umbau der Städte und Quartiere
Die anhaltenden Wirkungen von demografischer Schrumpfung, Alterung und Abwanderung in ostdeutschen Städten und Quartieren stellen große stadtpolitische und wohnungswirtschaftliche Herausforderungen dar, deren Bewältigung nicht in Sicht ist. Seit dem Jahr 2000, als die „Kommission Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in den neuen Bundesländern“ etwa 1 Million leer stehende Wohnungen bilanzierte, wurden mit dem 2001 aufgelegten Bund-Länder-Programm Stadtumbau Ost von den kommunalen Wohnungsgesellschaften und Wohnungsgenossenschaften zwar bis Ende 2009 etwa 250.000 Wohnungen „vom Markt genommen“, doch nach wie vor stehen in Ostdeutschland 1 Million Wohnungen leer (GdW 2010). In zahlreichen Stadtumbaustädten ist seit der politischen Wende die Einwohnerschaft durch Wanderungsdefizite und Geburtenrückgänge um ein Drittel und mehr geschrumpft und bis 2030 wird sich für viele von ihnen der Prozess in ähnlichem Ausmaß verlangsamt fortsetzen. Während in der „wachsenden Stadt“ private Akteure mit persönlichem Engagement und eigenem Kapital von sich aus auf Entwicklungsdynamik, Stadtgestalt und Quartiersperspektiven einwirken, wetteifern seit dem Bundeswettbewerb „Stadtumbau Ost“ 2001 massiv schrumpfende Städte um die besten Schrumpfungskonzepte und Zugänge zu dem gleichnamigen Förderprogramm. Wohnungsunternehmen werden mit Abrisshilfen und darüber hinaus durch Altschuldenentlastung unterstützt und der Präsident des GdW begründete kürzlich deren Weiterführung: „Wir brauchen eine rasche Lösung der Altschuldenfrage, um die erfolgreiche Fortsetzung des Stadtumbaus in Ostdeutschland und die weitere positive Entwicklung der ostdeutschen Städte nicht zu gefährden.“ (GdW 2010). Die „schrumpfende Stadt“ ist ein Projekt mit hohem Unterstützungsbedarf, in dem wohnungswirtschaftliche und stadtplanerische Sichtweisen und Interessen dominieren. Sofern die Wohnungsunternehmen ihre Bestände in den ersten Nachwendejahren nicht umfassend modernisierten, wurde der dauerhafte Rückbau – die eine
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Ingeborg Beer
„Säule“ des Stadtumbaus – in der ersten Phase meist flächenhaft von außen her durchgeführt und durch die Aufwertung des Wohnungsbestands, von Infrastruktur und Wohnumfeld als zweiter „Säule“ begleitet, auch um die verbleibenden Quartiersbestände nachhaltig zu sichern. Schwedt/Oder ist dafür ein Beispiel: Der Stadtteil Am Waldrand mit einst 14.000 Einwohner/innen wurde innerhalb von wenigen Jahren zu einer kleinen Siedlung mit 2.200 Einwohner/innen rückgebaut und das verbleibende „Bestandsquartier“ mit neuem Wohnen, modernisierter Kita, Schule und Sportanlagen in enger Partnerschaft mit dem Förderprogramm „Soziale Stadt“ aufgewertet. Inzwischen richten sich bauliche Aufwertungsmaßnahmen stärker – im Land Brandenburg fast ausschließlich – auf die innerstädtischen und innenstadtnahen Quartiere, auf deren strukturelle, funktionale und gestalterische Stärkung. Hier wird „seniorengerechtes Wohnen“ durch den Einbau von Aufzügen unterstützt, entstehen generationsübergreifende Wohnanlagen sowie Parks, Spielplätze oder andere „qualifizierte Freiräume“ zur Verbesserung von Wohnqualität. Der Abriss von Gebäuden, die vor 1919 errichtet wurden, wird in der Regel nicht mehr gefördert. Doch zahlreiche denkmalgeschützte Bauten sind schon abgerissen, andere befinden sich in der kritischen Verfallsphase, prächtige Villen finden keine Käufer. Einst „geschlossene“ Jugendstil-Ensembles (Wittenberge) oder gut erhaltene Gründerzeitquartiere (Chemnitz) sind perforiert und der „Luxus der Leere“ (vgl. Kil 2004) reicht längst in die Mitte dieser Städte hinein. Das kleinräumige Nebeneinander von aufgewerteten Bereichen, leer stehenden Wohngebäuden und untergenutzten Flächen dürfte auch künftig quartiersprägend bleiben. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Doppelstrategie von Rückbau und Aufwertung mit ihren begrenzten Akteurskonstellationen und Handlungsfeldern in der Praxis den hohen Programmanspruch, der sich auf „die Attraktivität der Städte als Wohn- und Wirtschaftsstandort“ und die „Zukunftsfähigkeit der Städte“ (VV 2002: 5) richtet, überhaupt erfüllen kann. Zwar gelten innerstädtische und innenstadtnahe Quartiere als „Zuzugsgebiete“ von baukulturellem und symbolischem Wert, doch für die erwünschten und erforderlichen Zuzüge aus Plattenbausiedlungen bestehen vielfache Barrieren. Für private Haus- und Grundbesitzer, auf die ein hoher Anteil des innerstädtischen Wohnungsbestands entfällt, rechnen sich angesichts des anhaltenden Bevölkerungsrückgangs, geringer Mieterwartungen und nachlassender Kreditbereitschaft der Banken „angebotsorientierte“ Investitionen nicht. Zuzüge aus der Region finden in erster Linie durch ältere Bewohner/innen statt und für „nachfrageorientierte“ Strategien fehlt die erforderliche Binnennachfrage. Kommunale oder genossenschaftliche Wohnungsunternehmen dürften wenig Interesse daran haben, ihre Mieter an die privaten Hauseigentümer zu „verlieren“. Und schließlich erweisen sich die „Lebensbedingungen und Wünsche der dort (in den Plattenbausiedlungen, I. B.) lebenden Einwohner sowie die infolge Hartz IV und zunehmender Altersarmut wachsende Nachfrage nach kostengünstigeren Wohnungen“ (Tesch 2006: 914) als Hemmnis für bauliche Interventionen in die innerstädtischen und innenstadtnahen Quartiere.
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Möglicherweise wären über „Aufwertung“ hinausgehende Kraftakte und Revitalisierungskonzepte erforderlich, die gemeinsam von unternehmerischen und privaten Eigentümern unter Einbeziehung von Schulen, Kultureinrichtungen, Handwerksbetrieben, Geschäftsleuten und Künstlern getragen werden, die Nischen und Experimente zulassen und potenzielle Investoren und Zuziehende willkommen heißen. Dies würde aber auch Vertrauen in die Zukunft und den Aufschwung der Innenstädte sowie die eigene Gestaltungskraft voraussetzen, was im Allgemeinen eher nicht gegeben ist und mit Empowerment-Ansätzen erst unterstützt werden müsste. Die „Leitphilosophie“ des Stadtumbaus heißt Schrumpfung und umfasst in erster Linie baulich-strategische Aspekte. Die perforierte Stadt gibt keine Antworten darauf, wie der Zusammenhalt von Quartieren, sozialen Milieus und Generationen gefördert wird, und es bleibt offen, wie innerstädtisch-historische Qualitäten gerettet werden könnten. Auch mit dem naheliegenden Leitbild der kompakten Stadt durch Rückbau von außen nach innen hat sich die Hoffnung auf mehr Umzüge aus den äußeren Plattenbausiedlungen in die Altbauten und Gründerzeitwohnungen nicht erfüllt. Elke Pahl-Weber hat bereits 2006 für „neue Qualitäten“ im Stadtumbau plädiert und dabei Lebensqualitäten und städtebauliche Qualitäten zusammengedacht: „Schrumpfung kann kein Leitbild sein. Die städtebaulichen Leitbilder müssen Schrumpfung als Rahmenbedingung nehmen und zur Entwicklung neuer Qualitäten kommen: Lebensqualitäten und städtebauliche Qualitäten.“ (Pahl-Weber 2006: 3.) Doch auch die zweite Phase des Stadtumbaus – das Förderprogramm wurde im Jahr 2009 bis 2016 verlängert – verblieb im Zeichen des Schrumpfens: Abrisszahlen sind zentrale Erfolgsindikatoren, die Minderung des Wohnungsleerstands steht im Mittelpunkt. Positive Perspektiven mit entsprechender strategischer Ausrichtung wie „familienfreundliches Quartier“ oder „lebendige und kooperative Stadt“ könnten verschiedene Handlungsfelder und Akteure zusammenführen und – wie in den Quartieren der „Sozialen Stadt“ – Synergien bewirken. Doch setzen Integrierte Stadtentwicklungskonzepte eher auf „Slogans“ wie „Stadt im Wandel“ oder „Stadt am Fluss“. Qualitativ orientierte und integrierte Leitbilder wie die Idee K3 („kleiner, klüger und kooperativ“) im Stadtumbau der Lutherstadt Eisleben bilden eher die Ausnahme.
2
Demografisches Schrumpfen braucht Gegensteuern
Schrumpfende Städte erarbeiten bereits heute Konzepte für den Bestand ihrer Wohnungen, Gebäude und Quartiere im Jahr 2030. Dies mag Hinweise für Förderbedarfe von Bund und Ländern ermöglichen und die Planungssicherheit der Kommunen erhöhen, es kann aber auch den Blick auf wünschenswerte Perspektiven verstellen und vergessen machen, dass der demografische Wandel kein unabänderliches Naturschicksal darstellt, sondern beeinflusst werden kann – und muss. Das Geburtendefizit ist relativ gut vorhersehbar und kurzfristig nicht beeinflussbar. Doch in welchen
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Dimensionen Ab- und Zuwanderungen stattfinden und wer sich daran beteiligt, ist von zahlreichen Einflüssen und Beeinflussungen abhängig. Auf zukunftstaugliche Beeinflussungen kommt es derzeit an. Denn eine neue Schere im demografischen Wandel beginnt sich zu öffnen. Gab es bisher zu wenig Ausbildungs- und Arbeitsplätze für die zahlreichen Schulabsolvent/innen, so geht es angesichts sinkender Schülerzahlen und des Eintritts vieler Beschäftigter und Engagierter ins Rentenalter nun um die Frage, wie Lehrer, Facharbeiter, Ärzte, Geschäftsnachfolger oder Fußballtrainer gewonnen und damit zentrale Funktionen auch für das Umland aufrechterhalten werden können. Ob dies gelingen wird, ist offen – entscheidend ist die Bleibe-, Rückkehr- und Zuzugsbereitschaft der jungen und gut ausgebildeten Generation (vgl. IfS 2009). Diese Bereitschaft wächst nicht unmittelbar mit dem Bau von Häfen, Grünanlagen, Kureinrichtungen oder Stadtmarketing. Sie ist auch – und vielleicht sogar sehr wesentlich – ein Resultat des Vertrauens, das in Wirtschaftskraft und lokale Politik gesetzt wird, sowie des Zutrauens, das diese der jungen Generation entgegenbringen. Die im Auftrag der Gemeinsamen Landesplanungsabteilung der Länder BerlinBrandenburg durchgeführte Untersuchung zu „Lebenszufriedenheit und Bindungskraft Zentraler Orte im Land Brandenburg aus Sicht der Altersgruppe 16 bis unter 30 Jahre“ (vgl. IfS 2009) zeigt auf, dass die wirtschaftlichen Chancen einer Region zwar die Grundlage der Ortsbindung darstellen, darüber hinaus aber Erfahrungen aktiven Beeinflussens der eigenen Lebenswelt und Begegnungen auf „Augenhöhe“ von großer Bedeutung sind. Für junge Leute und deren Eltern gehört Abwanderung heute zur „Normalität“ eines erfolgreichen Lebenswegs und wer bleibt, steht vielfach unter dem Rechtfertigungsdruck, warum er seine Zukunftsperspektiven an den „verödenden und vergreisenden Osten“ binden will. Dies bedeutet, „dass die Städte vor allem jenen Faktoren mehr Aufmerksamkeit schenken müssen, die ihre Einwohner bei der ‚Abstimmung mit den Füßen‘ beeinflussen“ (Franz 2005). Anpassungskonzepte an Bevölkerungs- und Wohnungsbedarfsprognosen sind schnell wertlos, wenn diese Aufmerksamkeit versäumt wird. „Wenn wir in die Zukunft blicken“, so auch Volker Hauff im Diskurs zu Nachhaltigkeit, „geht es nicht um das präzise Vorhersagen von Entwicklungen, wie sie tatsächlich kommen werden. Das ist nicht produktiv. Es geht darum, mögliche Entwicklungen zu definieren und sich dann Gedanken zu machen, was man tun muss, damit von den möglichen Entwicklungen die wünschenswerten eintreten.“ (Hauff 2008: 123). Diese Aufgabe sollten Leitbilder in schrumpfenden Städten erfüllen – auch wenn sie bisherige Prioritäten infrage stellen.
3
Ein neuer Quartiers-Typus entsteht: Das „temporäre Quartier“
Im Unterschied zur ersten Phase des Stadtumbaus wird der flächenhafte und zügige Abriss von verlassenen Wohnquartieren in den kommenden Jahren eine geringere Rolle spielen und der Rückbauprozess langsamer verlaufen. Damit bildet sich – je
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nach bisheriger Rückbaustrategie – zwischen Einfamilienhaussiedlungen, modernisierter „Platte“ und Innenstadt ein neuer Quartiers-Typ heraus: das „temporäre Quartier“. Diese Quartiere müssen die kleiner gewordene, aber anhaltende gesamtstädtische Schere von Wohnungsleerständen und Bevölkerungsverlusten über einen längeren Zeitraum hinweg bewältigen. Meist in den Vorwendejahren in industrieller Bauweise erstellt und seither nicht (umfassend) modernisiert, werden „temporäre Quartiere“ mittel- bis langfristig vollkommen oder in großen Teilen abgerissen werden und haben nur noch für eine „begrenzte Restlaufzeit“ Bestand. Bis zum völligen „Leerzug“ werden keine Investitionen und kaum mehr Instandsetzungen getätigt – es finden Schritt für Schritt Abrisse statt (vgl. auch Peter 2009). Angesichts günstiger Mieten wohnen hier oft Haushalte und Familien mit einer „Umzugsgeschichte“ im Rückbau, mit geringen Einkommen oder in Transferabhängigkeit sowie Alleinerziehende und ein überproportional hoher Anteil von Kindern in Armut. Sie werden über einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren im „Wartestand auf Abriss“ (vgl. Beer 2002) leben. Soziale Einrichtungen und Läden schließen im Laufe der Zeit und das Erscheinungsbild des öffentlichen Raums wird vom Niedergang geprägt, ohne dass positive Signale im unmittelbaren Umfeld entstehen würden. Benachteiligende Wirkungen, die in Quartieren mit „besonderem Entwicklungsbedarf“ durch den Einsatz des Förderprogramms „Soziale Stadt“ gemindert werden sollen, werden hier – kleinräumige Sozialdaten liegen trotz Stadtumbaumonitoring kaum vor – durch Stadtumbauprozesse forciert und für einen bestimmten Zeitraum ohne gegensteuernde Maßnahmen hingenommen. Das Förderprogramm Stadtumbau Ost proklamiert den „geordneten Rückbau“, doch bezieht sich dieser Anspruch in erster Linie auf bauliche Aspekte und städtebauliche Ordnungsvorstellungen. Darüber hinausgehende Hoffnungen auf lebenswerte Perspektiven, die Minderung von sozialer Segregation und benachteiligenden Wirkungen richten sich vielfach auf das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ und dessen Partnerprogramme. Ob die „Betreuung“ von temporären Quartieren aber seine Aufgabe sein soll, ist eine offene Frage – das Programm „Soziale Stadt“ sieht diesen in Auflösung befindlichen Quartierstypus bisher jedenfalls nicht vor. Da hier keine Investitionen mehr getätigt werden, wird der Programmeinsatz der „Sozialen Stadt“ vonseiten der Fördermittelgeber ohnehin zur Disposition gestellt. In diesen Fällen stellt sich dann die dringende Frage, wie der Stadtumbau selbst in die Pflicht genommen werden kann und welchen Beitrag dazu die Wohnungsunternehmen über ihre Aufgaben als Vermieter hinaus leisten können. Den Abriss von Wohngebäuden zu planen, ist die eine Seite – den langen Prozess bis hin zum mehr oder weniger vollständigen Abriss zu gestalten, die andere. Es sind dringend Antworten erforderlich, wie Lebensqualität auch in diesen Quartieren aufrechterhalten bleibt und wie es gelingen kann, die Wirkungen der zunehmenden – wenn auch temporär zugespitzten – sozialräumlichen Spaltung und Benachteiligungen zu mindern. Die Hinwendung zu den innerstädtischen Quartieren darf nicht dazu führen, dass diese Quartiere „vergessen“ werden und bei unübersehbaren Prob-
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lemkonstellationen dann die „Soziale Stadt“ bemüht wird. Im Nebeneinander von industriell errichteten Stadtteilen mit „Wartestand auf Abriss“ und den innerstädtischen Zuzugs- und Aufwertungsquartieren braucht Stadtentwicklung eine Verantwortungsgleichzeitigkeit für die unterschiedlichen Quartierstypen und die Lebenssituationen dieser Bewohnerinnen und Bewohner.
4.
Der „Stadtbürger“ ist mehr als ein „Wohnraumverbraucher“
Die Perspektive des Stadtumbaus – Schrumpfen, Leerstandsbeseitigung, Warten auf Abriss – schlägt sich in begrenzten Mitwirkungsstrukturen nieder. Während im Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt“ oder im EFRE-Programm zur nachhaltigen Stadtentwicklung die Mitwirkung der „Stadtbürger“ ein eigenständiges Ziel darstellt und bis hin zum Mitentscheiden bei Investitionen reichen kann, rückt beim Stadtumbau der Bürger in seiner Rolle als „Mieter“ in den Mittelpunkt. In erster Linie kommt es auf seine Zustimmung zu Aus- und Umzug sowie auf seine Bereitschaft an, sich in einem anderen Quartier einleben zu wollen. Breite Diskussionen oder prinzipielles Mitentscheiden, vor allem in Abrissfragen, werden auch in kritischen Fachkreisen nicht wirklich erwartet. Die „Beteiligungsangebote“ bleiben „mieterzentriert“: Dazu gehören Informationsbriefe, Mietergespräche, hausweise Veranstaltungen und die Bereitstellung von Wohnungsangeboten vonseiten der Wohnungsunternehmen. Im günstigsten Fall stellt sich am Ende des Prozesses Zufriedenheit mit der neuen Wohnung und dem Wohnumfeld ein und bleiben Mieterhaushalte dem jeweiligen Wohnungsunternehmen erhalten. Innovative Modelle eines strategischen Umzugs- und Belegungsmanagements in die innerstädtischen Quartiere unter Einbeziehung privater Wohnungseigentümer – beispielsweise Wohnprojekte für Alleinerziehende, für bewährte Nachbarschaften oder Mehr-Generationen-Familien aus den Plattenbausiedlungen etc. – finden zunächst ihre Grenzen an Vermietungsinteresse und Verwaltungsaufwand, auch wenn sie stadtpolitisch sinnvoll wären, weil sie „soziales Kapital“ und unterstützende Netzwerke erhalten können. Hat Alexander Mitscherlich 1965 für den wachsenden Massenwohnungsbau angeprangert, dass die Menschen als „Wohnraumverbraucher entwirklichte Bürger“ (Mitscherlich 1980: 38) angesehen werden, so behält dieses Bild auch unter veränderten Vorzeichen des Schrumpfens eine gewisse Aktualität. Beim Thema „Beteiligung“ ist der Stadtumbau durchweg innovationsschwach. Dies zeigt sich auch da, wo Mieter jenseits ihrer konkreten Aus- und Umzugsorientierung ein Stück weit als „Stadtbürger“ angesprochen werden und der Stadtumbau zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen wird. Beteiligungsangebote konzentrieren sich vor allem auf die passive Seite von Mitwirkung, auf Informationsvermittlung, und selbst auf dieser Stufe tun sich die Akteure aus lokaler Politik und Wohnungswirtschaft schwer, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen und Ergebnisse der
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Stadtentwicklung im Konsens herzustellen. Vielfach überlassen sie die Verkündung von Stadtumbauperspektiven und ersten Abrissplänen der lokalen Presse. In einigen Städten haben sich kritische Initiativen zum Thema „Stadtumbau“ gebildet oder es entstanden – wie in Hoyerswerda – Beiräte für den Stadtumbau. Doch eine Kultur des breiten und offenen Dialogs darüber, wohin Stadt und Quartiere sich entwickeln, welche Projekte zu deren Zukunftsfähigkeit beitragen und was der Stadtumbau dafür bewirken kann, hat sich nicht verankert. Such- und Diskussionsprozesse gab es allenfalls in der noch unsicheren Anfangsphase, oft initiiert durch Künstler/innen und universitäre Projekte. Auch im Rahmen „großer Ereignisse“ wie der Internationalen Bauausstellung 2010 SachsenAnhalt gab es besondere Beteiligungsformen (Charette-Verfahren, Open Space etc.) und wurden innovative Projekte aufgezeigt, „wie Leerständen und Umstrukturierungen kreativ, unter Mitwirkung der Bürger begegnet werden kann“ (Bohne & Kurth 2010: 3). Doch im Großen und Ganzen hat die außerordentliche Thematik von Schrumpfen und Rückbau keine außerordentlichen Partizipationsformen hervorgebracht. Selbst im Evaluierungsbericht werden mit Blick auf die Innenstädte und Altbauquartiere keine differenzierten Angebots- und Aktivierungsformen angeregt, wenn es heißt: „Bei Stadtumbauprozessen in der Innenstadt bzw. in Altbauquartieren wird in Zukunft die Einbeziehung bürgerschaftlicher Potenziale für die Lösung der komplexen Aufgaben eine zunehmend wichtige Rolle spielen, was längerfristige Management- und Beratungsansätze erfordern wird.“ (BMVBS 2009: 4).
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Schrumpfende Städte stehen vor neuen Risiken
Drei Viertel aller ostdeutschen Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern sind in das Stadtumbauprogramm einbezogen. Ihre wirtschaftliche Basis ist im Allgemeinen schwach ausgeprägt und überdurchschnittlich von Dienstleistung bestimmt – doch auch Städte mit wirtschaftlich starker Basis und industriellem Profil sind gleichermaßen davon betroffen. Allein aus demografischen und sozialräumlichen Trends erwachsen für die Städte neue Risiken, die wiederum auf ihre wirtschaftlich unterschiedlichen Perspektiven zurückwirken. 5.1
Generationenwechsel und wirtschaftliche Basis
Eine zentrale Frage für mittelgroße Städte wird sein, ob der Generationenwechsel in Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft gelingt. In vielen kleinen Handwerksbetrieben und innerstädtischen Einzelhandelsgeschäften, Dienstleistungsbereichen und ehrenamtlichen Funktionen stehen ältere Menschen kurz vor dem Ruhestand. Zwanzig Jahre nach der politischen Wende eröffnen sich angesichts sinkender Schülerzahlen („Wendeknick“) und des Eintritts vieler Beschäftigter in das Rentenalter für junge Leute zwar mehr Chancen für Ausbildung und Beschäftigung, doch werden sie nicht in ausreichendem Maße ergriffen. Die erste gemeinsame „Fachkräfte-
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studie Berlin-Brandenburg“, die von der Prognos AG im Auftrag der beiden Länder erstellt wurde, rechnet schon bis 2015 damit, dass 270.000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, 2030 sollen es bereits 460.000 sein, selbst wenn bis dahin ein innovativer Wachstumskurs in Industrie und Gewerbe und demzufolge eine wachsende Nachfrage nach hoch qualifizierten Fachkräften vorausgesagt wird (MASF 2010). Auch in Sachsen-Anhalt gibt es große Probleme bei der Besetzung offener Stellen und es ist absehbar, dass mehr Leute den Arbeitsmarkt verlassen als einsteigen – hier werden vor allem in der Metall- und Elektroindustrie sowie bei Ärzten und Pflegekräften qualifizierte Arbeitskräfte benötigt. Vor diesem Hintergrund haben sich in mehreren ostdeutschen Ländern inzwischen Rückkehrinitiativen und Koordinierungsstellen gebildet, die jungen Menschen die Chancen zum Bleiben in der oder Wiederkommen in die Heimatregion aufzeigen sollen. 5.2
Sozialräumliche Fragmentierung und solidarische Stadt
Ein weiteres Risiko entsteht dadurch, dass Schrumpfung und Stadtumbau das sozialräumliche Gefüge der Städte erheblich verändern und Spaltungslinien verstärken. In sanierten und vernachlässigten Altbauten, nicht modernisierten und modernisierten Plattenbauwohnungen sowie Einfamilienhaussiedlungen leben je eigene Wohnmilieus, die vom Stadtumbau unmittelbar beeinflusst werden: Die soziale Zusammensetzung der Quartiere wird homogener, die Stadtgesellschaft deutlich fragmentierter. In bestimmten Quartieren – und hierbei spielen Entstehungsalter und Stadtumbau eine Rolle – leben materiell gut ausgestattete Rentnerinnen und Rentnern in gewachsener und vertrauter Nachbarschaft. In anderen, vor allem den unsanierten und preisgünstigen Wohnungsbeständen, konzentrieren sich Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Kinderarmut. Gleichzeitig wird im Schatten von „Abriss“ und „Aufwertung“ weiter neu gebaut: Auf Abrissflächen wird das Einfamilienhaus nach wie vor als Wohntypus mit Perspektive gesehen, wenngleich es sein kann, dass dieser zum Problemfall der Zukunft wird. 5.3
Generationenkonflikte und Vielfalt von Lebensformen
Schließlich deuten sich Konfliktlinien zwischen Jung und Alt an. In vielen Städten befinden sich Kinder und Jugendliche bereits in der Minderheit, ihre Lebensformen und Lebensstile erfahren oft wenig Akzeptanz. Die Eltern- und Großelterngeneration bestimmt direkt oder indirekt die Verhaltenserwartungen – vor allem im öffentlichen Raum ergeben sich daraus zahlreiche Konfliktfelder. Damit das Zusammenleben in den überschaubaren Strukturen von mittelgroßen Städten gelingt und ein Gefühl der Wertschätzung entsteht, wird die ältere Generation Differenz und abweichende Ideen viel mehr anerkennen müssen. Dies gilt auch für die Stadtpolitik, von der sich die junge Generation oft wenig wahrgenommen fühlt (IfS 2009: 107).
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Anhaltende Umbruchprozesse bilden ungünstige Rahmenbedingungen für stadtbürgerliches Engagement
Es gibt kaum empirische Untersuchungen darüber, wie Menschen mit anhaltenden Umbruchsituationen zurechtkommen, ob melancholische und resignative „Gemütszustände“ zunehmen oder sich Widerstandskraft entwickelt, um den vielfältigen „Zumutungen“ etwas entgegenzusetzen. Vieles spricht dafür, dass die Menschen nicht einfach resignieren – aber auch nicht vertrauensvoll in die Zukunft blicken können. Vieles deutet aber auch darauf hin, dass andauernde Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung den Rückzug in die eigenen vier Wände begünstigen und wenig Vertrauen besteht, lokalpolitische Entscheidungen zur Verbesserung der eigenen Lage beeinflussen zu können. Nach den Umzugswellen der ersten Stadtumbauphase dürfte bei fortschreitender sozialer Entmischung in den neuen Rückbauquartieren die Resignation zunehmen (vgl. Peter 2009). Gleichwohl wird den Menschen ein hohes Maß an aktiven Anpassungsleistungen und das Zurechtkommen mit beständigen Veränderungen abverlangt. Angesichts der hohen Wanderungsdynamik lösen sich Familien- und Nachbarschaftsbeziehungen auf, Verlustgefühle und Abschied gehören zum Alltagsleben. Bei Abriss von Wohnung, Schule oder Wohngebiet werden die „Wurzeln“ des Aufwachsens abgeschnitten und zu „Erinnerungsorten“ in Fotoalben. Diese Rahmenbedingungen sind denkbar ungünstig für das Ziel, auch diese Einwohner über einen längeren Zeitraum hinweg als „Stadtbürger“ in eine aktive und engagierte Mitwirkung an den Geschicken der Stadt einzubinden. In dem Verbundprojekt „Social Capital – Über Leben im Umbruch“ haben 20 Soziologien und Ethnologen aus fünf verschiedenen deutschen Forschungseinrichtungen von 2007 bis 2010 das Leben der Einwohner/innen im brandenburgischen Wittenberge untersucht1 (die Ergebnisse werden in Kürze vorgelegt). In dieser Stadt, die einst bedeutender industrieller Knotenpunkt mit Ölmühle, Elbhafen und dem modernsten Nähmaschinenwerk der Welt war, wurden nach der politischen Wende 1989 innerhalb von eineinhalb Jahren drei der vier Großbetriebe geschlossen, 8.000 Menschen verloren ihre Arbeit, junge Leute zogen massenweise fort und kamen nicht zurück. Es lassen sich erfolgreiche Wege nachvollziehen, doch leben wohl die meisten Menschen in der Gewissheit, dass sich ihr alltägliches Leben grundsätzlich nicht mehr verbessern wird. Heinz Bude, der Leiter des Projekts, beschreibt die Phasen des Hoffens und Wartens so: „Erstens: das langsame, quälende Ende der 1
Fünf Institute – Thünen-Institut, Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), BrandenburgBerliner Institut für sozialwissenschaftliche Studien (BISS e.V.), Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften – erforschten den Umbruch europäischer Gesellschaften. Sie wurden vom Ministerium für Bildung und Forschung gefördert. In fünf unterschiedlichen Teilprojekten standen Fragen nach dem sozialen Kapital, Veränderungen in Communities, Familien und Generationen, sowohl in Deutschland als auch in anderen europäischen Vergleichsregionen im Vordergrund.
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DDR. Zweitens: die Jahre nach der Wende, die von einem Gesetz der Unwahrscheinlichkeit geprägt waren. Was wird passieren, was wird mit mir passieren? Kommt noch ein rettender Investor? Stürze ich ab? Oder schaffe ich es nach oben? Dabei haben sich die großen Erwartungen in ein ewiges Warten verwandelt. Und jetzt kommt die dritte Phase: das harte Gesetz der Wahrscheinlichkeit. Wer’s bisher nicht geschafft hat, wird es auch in Zukunft nicht mehr schaffen. Das Warten ist vorbei. Jetzt wird Inventur gemacht.“ (Bude 2010.)
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Fazit: Von der Steuerung des Schrumpfens zur Steuerung von Zukunftsfähigkeit
Mit Schrumpfung, Alterung und Abwanderung ändern sich zwar die Bedingungen der Stadtentwicklung radikal, Stadtpolitik und planungspolitische Praxis bewegen sich aber dennoch „in den gewohnten Bahnen einer vorwiegend baulich-physischen Steuerung. Die kulturellen und sozialen Ressourcen einer Stadt sind bisher kaum Ansatzpunkte für Strategien zur Steuerung des Schrumpfens“ (Häußermann, Läpple & Siebel 2008: 216f.) Solange Schrumpfen das Leitmotiv darstellt, Wohnungsmarkt und Stadtgestalt die zentralen „Säulen“ beim Umbau der Städte bilden, werden beschäftigungsorientierte, soziale oder kulturelle Perspektiven auch immer nur nebenher ihren Platz finden. „Der Stadtumbau“, so auch Matthias Bernt, „verfolgt zwar im Anspruch eine integrierte und gesamtstädtische Steuerung – in der Wirklichkeit entzieht sich aber eine Reihe von Problemfeldern fast völlig der Möglichkeit zur Beeinflussung. Im Windschatten des Stadtumbaus verschärfen sich so gegenwärtig sogar Problemlagen, v.a. in den Bereichen unsanierter Altbaubestände, technischer Infrastruktur und sozialer Segregation“ (Bernt 2009). Zukunftsfähigkeit zu steuern ist mehr und anderes als Schrumpfung zu steuern. Dazu bedarf es der Verständigung auf gesamtstädtische und quartiersbezogene Probleme und Qualitäten mit Umsetzungsperspektive, weniger des Blicks auf den Wettbewerb um Fördermittel. Sie zielt auf eine integrierte Stadtentwicklung, in der auch Beschäftigung und Generationenwechsel, Gemeinwesenorientierung und sozialer Zusammenhalt eine gewichtige Rolle spielen. Zusammenfassend kristallisieren sich drei Themen- und Handlungsfelder heraus, die eine Hinwendung zur Steuerung von Zukunftsfähigkeit untermauern: Erstens sind Verantwortungsgleichzeitigkeiten in den Städten erforderlich, die den sozialräumlichen Zusammenhalt der Quartiere und der Generationen stärken. Vor allem sind vonseiten der Politik für „temporäre Quartiere“ Unterstützungsansätze aufzuzeigen, die Benachteiligungen mindern. Neben den Ressorts Stadtentwicklung und -planung sollten auch Fachbereiche wie „Jugend“, „Bildung“, „Wirtschaft“ oder „Soziales“ ihre Projekte und Maßnahmen an den unterschiedlichen Bedarfen der Quartiere ausrichten, neue und temporäre Angebotsformen entwickeln, gezielt freie Träger und zivilgesellschaftliche Akteure in die Strukturen einbinden. Der ge-
Quartiersperspektiven zwischen Schrumpfung und Temporalität, Aufwertung und Abriss
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samtstädtisch ausgerichtete Stadtumbau muss sich nicht nur an der Beseitigung von Wohnungsleerständen und an Abrisszahlen messen lassen, sondern auch daran, dass die nachteiligen Wirkungen des Schrumpfens nicht einseitig auf dem Rücken temporärer Quartiere und der hier lebenden Menschen ausgetragen werden. Zweitens könnten Erfahrungen und „gute Beispiele“ nachweisen, ob und wie Schrumpfungsprozesse beeinflusst werden können und der bevorstehende Generationenwechsel in Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft gelingt. Bisher scheinen sich angesichts drohenden Fachkräftemangels vor allem Unternehmen, Wirtschafts- und Arbeitspolitik dieses Themas anzunehmen, weniger die Stadt- und Quartiersentwicklungsplanung. Angesichts der Rückkehr- und Zuzugserfordernisse wird der Fokus auf Schrumpfung aber nicht ausreichen. Mitwirkungsbeispiele der jungen Generation am alltäglichen Leben der Quartiere – nicht nur an den Planungen und Konzepten gesamtstädtischen Schrumpfens – in den Bereichen Kultur, Musik, Schüler- oder Juniorfirmen können vielleicht aufzeigen, dass schrumpfende Städte nicht nur demografisch alternde Quartiere mit Abrissperspektive haben. Wenn dem Thema Rückkehr und Zuzug keine Aufmerksamkeit geschenkt wird und das Leitbild Schrumpfen dominant bleibt, werden sich bauliche Investitionen in die innerstädtischen und innenstadtnahen Quartiere als nicht nachhaltig erweisen und unwirksam bleiben. Drittens brauchen Städte qualitative Bilder von ihrer Zukunftsfähigkeit – nicht nur in den Konzepten der Kommunen und den Köpfen der Professionellen, sondern vor allem im Bewusstsein der Akteure und der Bürgerschaft. Für eine strategische Umsetzung von gesamtstädtisch ausgerichteten Konzepten – ohnehin eine große Schwachstelle im Stadtumbau – sind geeignete Strukturen und qualitätsvolle Prozesse erst einmal zu schaffen, die über die Beteiligung an Planung und Informationsvermittlung und über den Stadtumbau des Schrumpfens und Aufwertens hinausgehen: kooperative Steuerungsinstrumente, breite Akteurskonstellationen, die gezielte Einbeziehung der jungen Generation, die Zusammenführung verschiedener Förderprogramme und der Blick auf Stadt-Umland-Beziehungen. Die Veränderungsperspektive sollte nicht darin bestehen, Schrumpfen besser zu steuern, sondern sich stärker der Zukunftsfähigkeit der Städte und Quartiere zuzuwenden. Literatur Beer, Ingeborg (2002): Wohnen und Leben im Wartestand. Ein Quartier in Schwedt zwischen Abriss und Aufwertung. Berliner Debatte Initial, Heft 13, S. 49–56 Bernt, Matthias (2009): „Stadtumbau Ost“. Wohnungsleerstand und Abrisse in Ostdeutschland. Abrufbar unter: http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/2380967.html Bude, Heinz (2010): „Sie wollen die brutale Wahrheit“ (Interview). Zeitmagazin 10 vom 4. 3. 2010. Bohne, Rainer und Detlef Kurth (2010): Städte im Umbau. Umbau der Stadt, in: PlanerIn Heft 2/2010: 3 BMVBS Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung; Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung; und Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.) (2009):
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Evaluierung des Bund-Länder-Programms „Stadtumbau Ost“. Zentrale Ergebnisse und Empfehlungen des Gutachtens, Berlin. Franz, Peter (2005): Regionalpolitische Optionen für schrumpfende Städte. Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 03/2005): S. 10–16 GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (Hrsg.) (2010): Gemeinsame Erklärung des GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen und der ostdeutschen Regionalverbände der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft anlässlich des Stadtumbaukongresses am 23. Februar 2010 in Leipzig. Abrufbar unter: http://www.gdw.de/uploads/files/Pressemeldungen/2010/Leipziger%20Erklärung_ Endversion.pdf Hauff, Volker (2008): „Wer Nachhaltigkeit will, muss Streit wagen.“, in: Borries, Friedrich v., Böttger, Matthias und Florian Heilmeyer: Bessere Zukunft? Auf der Suche nach den Räumen von Morgen. Berlin. Häußermann, Hartmut, Läpple, Dieter und Walter Siebel (2008): Stadtpolitik. Frankfurt am Main. IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH (im Auftrag der Gemeinsamen Landesplanungsabteilung Berlin-Brandenburg) (2009): Untersuchung der Lebenszufriedenheit und Bindungskraft Zentraler Orte im Land Brandenburg aus Sicht der Altersgruppe 16 bis unter 30 Jahre. Berlin. Kil, Wolfgang (2004): Luxus der Leere – Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt. Wuppertal. Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg (Presseerklärung) (2010): Erste gemeinsame Fachkräftestudie Berlin – Brandenburg: Senatorin Bluhm und Minister Baaske: „Fachkräftesicherung: Gute Ausbildung und guter Lohn“. Abrufbar unter: http://www.masf.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.196921.de Mitscherlich, Alexander (1980 [1965]): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Frankfurt/Main. Pahl-Weber, Elke (2006): Städtebauliche Qualität und Stadtumbaurealität, Transferveranstaltung „Städtebauliche Dimension des Stadtumbaus“, 28. 09. 2006 in Stendal (http:// www.stadtumbau-ost.info/praxis/veranstaltungen/transferveranstaltung/2006/Vortrags text_Pahl_Weber.pdf). Peter, A. (2009): Stadtquartiere auf Zeit. Lebensqualität im Alter in schrumpfenden Städten. Wiesbaden. VV (2002): Verwaltungsvereinbarung über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach Artikel 104 a Absatz 4 des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen (VV-Städtebauförderung 2002) vom 19. Dezember 2001/9. April 2002. Tesch, Joachim (2006): Soziale Aspekte des Stadtumbaus, in: UTOPIE kreativ, Heft 192: S. 910–920.
Autorinnen und Autoren
Beer, Ingeborg, Dr., geb. 1948 in Hengersberg/Bayern, Studium der Soziologie in München und Berlin, ist seit 1993 als Stadtsoziologin mit ihrem Büro für Stadtforschung + Sozialplanung an der Schnittstelle von Stadtumbau und Sozialer Stadt tätig und begleitet diese Prozesse durch integrierte Konzepte, partizipative Projekte, wissenschaftliche und fachliche Beratung – vor allem in Berlin und im Land Brandenburg. Craviolini, Christoph, Dipl.-Geograph, geb. 1978 in Bern, Studium der Geographie, der Volkswirtschaft, der Informatik und Mathematik in Zürich und Lausanne, seit 2007 beschäftigt als Projektmitarbeiter und Assistent am Geographischen Institut der Universität Zürich, Arbeitsschwerpunkte Quantitative Sozial- und Stadtgeographie, Geographische Wohnungsmarktforschung. Drilling, Matthias, Dr., geb. 1964 in Frankfurt/M., Studium der Geographie, Wirtschaftstheorie und Betriebswirtschaftslehre sowie Promotion in Freiburg i. Br., Nachdiplomstudium Raumplanung MAS an der ETH Zürich; seit 2010 Leiter des Instituts Sozialplanung und Stadtentwicklung an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz und Lehrbeauftragter am Geographischen Institut der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Nachhaltigkeit (insbes. in Wettbewerbsverfahren), Sozialplanung im städtischen Kontext, Raumtheorien. Fischer, Tatjana, Dr., geb. 1973 in Wien, Studium der Geographie an der Universität Wien, Aufbaustudium Technischer Umweltschutz an der Technischen Universität Wien und an der Universität für Bodenkultur Wien, Doktoratsstudium an der Universität für Bodenkultur Wien, seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung, Universität für Bodenkultur Wien. Arbeitsschwerpunkte: Lebensqualitäts-, und Versorgungsforschung, Analyse der räumlichen Entwicklung in ländlichen Räumen Österreichs vor dem Hintergrund des demographischen Wandels. Großmann, Katrin, Dr. phil., geb. 1972 in Bad Salzungen, Studium der Soziologie, Europäischen Ethnologie und Völkerkunde in Marburg, seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: Großwohnsiedlungen, schrumpfende Städte und demographischer Wandel, integrierte Stadtentwicklung.
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Autorinnen und Autoren
Grunze, Nico, Dipl.-Geograph, Studium der Geographie, Soziologie und Kartographie in Berlin, seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag in Berlin beschäftigt, Arbeitsschwerpunkte: Forschung zu Entwicklungsperspektiven ostdeutscher Großwohnsiedlungen. Kabisch, Sigrun, Prof. Dr. phil., geb. 1956 in Lützen, Leiterin des Departments Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Honorarprofessur für sozialwissenschaftliche Stadtgeographie an der Universität Leipzig, Arbeitsschwerpunkte: Zukunftschancen von Großsiedlungen, demographischer Wandel und Stadtentwicklung, sozialräumliche Differenzierung in lateinamerikanischen Großstädten, urbane Vulnerabilität. Niermann, Oliver, Dipl.-Geograph, geb. 1981 in Rinteln, graduierte 2007 an der Westfälischen Wilhelms-Universität im Fach Geographie, mit den Nebenfächern Politikwissenschaften und Kommunikationswissenschaften mit dem Thema „Der Rückbau sozialer Infrastrukturen und dessen Auswirkungen auf westdeutsche Städte mit Bevölkerungsrückgang“, arbeitete 2009 als wissenschaftlicher Assistent und Doktorand am Institut für Soziologie der Universität Innsbruck, zurzeit in der Wohnungsmarktbeobachtung der NRW.BANK, Düsseldorf. Interessensschwerpunkte: handlungsorientieren Raumtheorie, Geographies of Gender, nachhaltiges und geschlechtergerechtes Wohnen, Partizipation in der Stadtplanung, Schrumpfungsräume. Odermatt, André, Dr., geb. 1960 in Zürich, Studium der Geographie, Wirtschaftsund Sozialgeschichte sowie Geologie und Mathematik in Zürich, bis Mai 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Universität Zürich, Arbeitsschwerpunkte Stadt und Regionalforschung, Geographische Wohnungsmarktforschung, Raumplanung, seit Mai 2010, Stadtrat von Zürich, Vorsteher des Hochbaudepartements der Stadt Zürich. Schmidt, Marco, Dipl.-Geograph, geb. 1979 in Kiel, Studium der Geographie, Bevölkerungswissenschaften und Politische Wissenschaften an Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Anschließende Promotion an der RWTH Aachen und der CAU Kiel. Seit Februar 2010 Beschäftigung als Koordinator Bildungsmonitoring im Projekt „Lernen vor Ort“ im Landkreis Osnabrück. Vorherige Tätigkeit im Planungsbüro „Lebensraum Zukunft“ in Eckernförde (bis 02/2010). Arbeitsschwerpunkte stellen Stadt- und Raumentwicklungsprozesse unter dem Einfluss des demografischen Wandels, Wohnen- und Wohnstandortwahl sowie bildungsgeographische Fragestellungen dar. Schnur, Olaf, Dr. rer nat. habil., Dipl.-Geograph, geb. 1966 in Aschaffenburg, Studium der Geographie, Soziologie und des Städtebaus in Würzburg und Bonn, 1995–1998 Projektleiter bei empirica GmbH (Bonn/Berlin), 1998–2010 wissenschaftlicher Mit-
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arbeiter am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, Vertretung der Juniorprofessur für Kultur- und Sozialgeographie. Seit 2010 Vertretungsprofessur für Humangeographie am Institut für Geographie der Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte: Stadt- und Sozialgeographie, Quartiersentwicklung in Großstädten, soziale Stadtentwicklung, lokales Sozialkapital, Urban Governance, Wohnen und Wohnungsmarkt, demographischer Impact in Wohnquartieren. Schubert, Herbert, Prof. Dr. phil. Dr. rer. hort. habil., geb. 1951 in Hildesheim, Studium der Sozialwissenschaften in Bochum und der Raumwissenschaften in Hannover, seit 1999 Professor für Soziologie und Sozialmanagement an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der Fachhochschule Köln, Direktor des Instituts für angewandtes Management und Organisation in der Sozialen Arbeit (IMOS) und Leitung des Forschungsschwerpunkts „Sozial Raum Management“, Habilitation und apl. Prof. an der Fakultät Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. Berufliche Tätigkeiten: in den 90er Jahren Leitung der Koordinationsstelle Sozialplanung der Stadt Hannover und von Forschungsbereichen im Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung in Hannover. Sozialwissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte: Netzwerkmanagement, Kontraktmanagement, Sozialplanung; raumwissenschaftliche Arbeitsschwerpunkte: Governance im Sozialraum, städtebauliche Kriminalprävention, Methoden der Sozialraumanalyse und Architektursoziologie. Steinführer, Annett, Dr. phil., geb. 1972 in Leipzig, Studium der Soziologie, Bohemistik/Slowakistik sowie Ost- und Südosteuropawissenschaften in Leipzig, Glasgow und Brno, seit 2010 am Institut für Ländliche Räume des Johann Heinrich von Thünen-Instituts, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei in Braunschweig, zuvor seit 1999 am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ in Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: sozialräumliche Ungleichheiten und demographischer Wandel, postsozialistische Stadtentwicklung und Extremereignisforschung. Veil, Katja, Dr.-Ing., geb. 1974, Studium der Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin und der Oxford Brookes University, Promotion an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover. Seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsschwerpunkt „Sozial Raum Management“ der Fachhochschule Köln. Zuvor tätig als Referentin im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung und als freie Planerin. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte: Governance im Sozialraum, sozialräumliche Prävention in Netzwerken, Kommunikationsstrukturen und Netzwerkarbeit für ältere Menschen, städtebauliche Gestaltung und soziale Organisation. Zakrzewski, Philipp, Dipl.-Ing. (FH), M.Sc. Studium der Architektur in Coburg und der Europäischen Urbanistik in Weimar, geb. 1975 in Erlangen, seit 2007 wissen-
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Autorinnen und Autoren
schaftlicher Mitarbeiter am Institut für Raumordnung und Entwicklungsplanung der Universität Stuttgart (ireus), davor am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. (IÖR) in Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Soziodemografischer Wandel und Raumentwicklung, Theorie und Analyse der Stadtentwicklung, Empirische Stadt- und Quartiersforschung. Zierow, Sonja, Dipl.-Geographin, geb. 1983 in Schlema, Studium der Geographie in Halle (Saale) und Leipzig. Arbeitsschwerpunkte: sozialräumliche Differenzierung, demographischer Wandel und nachhaltige Stadtentwicklung.