J. Grifka M. Kuster (Hrsg.) Orthopädie und Unfallchirurgie
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Orthopädie und Unfallchirurgi...
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J. Grifka M. Kuster (Hrsg.) Orthopädie und Unfallchirurgie
J. Grifka M. Kuster (Hrsg.)
Orthopädie und Unfallchirurgie Für Praxis, Klinik und Facharztprüfung
Mit 1719 Abbildungen und 155 Tabellen
1 23
Prof. Dr. med. Joachim Grifka Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Prof. Dr. med. Markus Kuster Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen und The University of Western Australia Perth School of Surgery 35 Stirling Highway Crawley WA 6009 Perth, Australia
ISBN-13 978-3-642-13110-3 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Springer-Verlag GmbH Ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.
Planung: Antje Lenzen, Kathrin Nühse, Dr. Fritz Kraemer, Heidelberg Projektmanagement: Barbara Knüchel, Heidelberg Lektorat: Dr. Elke Wolf, Hannover und Frauke Bahle, Karlsruhe Zeichnungen: Angelika Kramer, Bad Cannstatt und Marion Wieczorek, Düsseldorf Einbandgestaltung: deblik Berlin Titelbild rechts: © Dimitrios | fotolia.com Satz: TypoStudio Tobias Schaedla, Heidelberg SPIN 11309512 Gedruckt auf säurefreiem Papier
2111 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort – Warum dieses Buch? Das Internet ist mit seiner unermesslichen Fülle an Informationen, Papers, Videos und Bildern zum großen Nachschlagewerk für alle Bereiche und somit auch für die Medizin geworden. Jedes Krankheitsbild, jede Operationstechnik und jede Publikation kann per Knopfdruck heruntergeladen werden. Jeder Arzt hat heute Zugang zum Internet: zu Hause, am Arbeitsplatz und unterwegs. Die Welt ist vernetzt. Braucht es da noch ein neues Lehrbuch? Die Antwort ist ein klares JA! Die Information im Internet ist ungefiltert und manchmal verwirrend. Auch braucht es häufig sehr lange, bis man den geeigneten Artikel findet. Somit sind Bücher als Grundlage und als Lehrmittel noch nicht veraltet. Dieses Buch ist in erster Linie zur Vorbereitung auf die Facharztprüfung im deutschsprachigen Raum gedacht. Das gesamte Gebiet der Orthopädie und Traumatologie wird übersichtlich dargestellt. Die Diagnostik sowie die verschiedenen Therapiemöglichkeiten werden aufgelistet. Als Besonderheit bietet dieses Lehrbuch auch Beschreibungen typischer operativer Versorgungen. Auch wird unter Evidenz und Kontroversen der heutige Stand des Wissens oder Unwissens dargelegt. Somit liefert dieses Buch eine Synopse des komprimierten Facharztwissens Orthopädie und Unfallchirurgie – als Nachschlagwerk wie auch als tatsächliches Lehrbuch, um die Stofffülle zusammenhängend vor der Facharztprüfung durchzugehen. Es freut uns ganz besonders, dass dieses Buch grenzüberschreitend als gemeinsames Werk zwischen der Universitätsklinik Bad Abbach / Regensburg und dem Kantonsspital St. Gallen zustande kam. Dies entspringt der langjährigen Freundschaft der Herausgeber. Unsere Oberärzte und leitenden Ärzte haben in ihrer raren Freizeit mit viel Freude, Ausdauer und Enthusiasmus didaktisch und inhaltlich wertvolle Kapitel geschrieben. Als Editoren können wir auf unser Team stolz sein. Für unser Titelbild hatten wir nach einem Sinnbild für die ursprüngliche Bedeutung der Bezeichnung »Orthopädie« (aus dem Griechischen: ὀρθός »aufrecht« und παιδεύειν »erziehen«) gesucht. Die sogenannten »Karyatiden« vom Erechtheion stehen auch nach über 2.400 Jahren noch »aufrecht« auf der Athener Akropolis und versinnbildlichen die tragfähige Statik. Wir wünschen Ihnen bei der Prüfungsvorbereitung und beim Lesen viel Spaß.
Joachim Grifka Bad Abbach / Regensburg
Markus Kuster St. Gallen
VII
Inhaltsverzeichnis 6
Amputationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7 6.8 6.9 6.10
J. Götz Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Grundprinzipien der Amputationschirurgie . . . . . . . . . . 62 Amputationshöhen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Operationstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Weitere Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Untere Extremtität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Obere Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Postamputationssymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
I Allgemeines 1
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7
Sensus orthopaedicus und akute Unfallversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .3 J. Krämer Abwägung oder sofortige Intervention . . . . . . . . . . . . . . . 4 Gemeinsamkeiten beim Lokalbefund . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Bildgebende Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Besonderheiten bei Operationen am muskuloskelettalen System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Technisches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Besondere Anforderungen an Wahleingriffe . . . . . . . . . . 5 Spezialweiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2
Orthopädie im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
2.1 2.2 2.3 2.4
J. Kampshoff Recherche im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Online-Nachschlagewerke und -Kurse . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Telemedizin und eHealth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
7
7.1 7.2 7.3
8
II Grundlagen des therapeutischen Vorgehens 3
Osteosynthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
3.1 3.2
L. Harder, M. Kuster Einblick in die Entwicklung der Verfahren . . . . . . . . . . . 14 Die technischen Prinzipien im Detail . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.7
9 4
4.1 4.2 4.3 4.4
5 5.1 5.2 5.3
Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung . . 29 H.A.C. Jacob Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Festigkeit und Elastizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Mechanische Beanspruchung des Knochens . . . . . . . . . 42 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Kleines Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
9.1 9.2 9.3 9.4
J. Götz, O. Linhardt, J. Grifka Stufenschema der Schmerztherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Schmerztherapie bei degenerativen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 Schmerztherapie im postoperativen Verlauf . . . . . . . . . 76 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Technische Orthopädie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 J. Götz Gesetzliche Grundlagen und Hilfsmittelverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Prothesenversorgung der oberen Extremität . . . . . . . . 81 Prothesenversorgung der unteren Extremität . . . . . . . . 84 Orthesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Orthopädische Schuhtechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Technische Hilfsmittel für die Rehabilitation . . . . . . . . 100 Abnahme technischer Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 K. Hower, J. Grifka Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Krankengymnastik (Bewegungstherapie) . . . . . . . . . . . 104 Physikalische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
III Systemerkrankungen
Periprothetische Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 J.B. Erhardt, M.S. Kuster Periprothetische Frakturen nach Hemi- oder Totalhüftgelenkarthroplastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Periprothetische Frakturen am Kniegelenk . . . . . . . . . . 53 Periprothetische Frakturen am Schultergelenk . . . . . . . 58 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
10
Skelettsystemerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . 139
10.1 Angeborene Skelettsystemerkrankungen . . . . . . . . . . 140 10.2 Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen . . . . . . 164 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Internetadressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
VIII
11
Inhaltsverzeichnis
Osteochondrosen und Osteonekrosen . . . . . . . 185
T. Renkawitz, J. Beckmann, O. Linhardt 11.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 11.2 Osteonekrosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 11.3 Osteochondrosen, Überlastungsreaktionen und Ossifikationsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
12
Neuromuskuläre Systemerkrankungen . . . . . . 199
12.1 12.2 12.3 12.4
E. Rutz, R. Brunner, Klinische Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Instrumentelle Ganganalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Biomechanische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Charakteristische Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
13
Weichteil- und Gelenkinfektionen . . . . . . . . . . . 213
13.1 Weichteilinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 13.2 Gelenkinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 13.3 Periprothetische Infektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
14
IV Traumatologie 18
Modernes Traumamanagement . . . . . . . . . . . . . 333
18.1 18.2 18.3 18.4
J.J. Osterwalder, D. Weber Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Allgemeiner »state of art« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Spezieller »state of art« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 Schweregradeinteilung von Verletzungen . . . . . . . . . . 351 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
19
Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
19.1 19.2 19.3 19.4 19.5 19.6 19.7
Komplexes regionales Schmerzsyndrom . . . . . 237 J. Beckmann, F. Köck Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
15
Knochen- und Weichteiltumoren . . . . . . . . . . . . 241
15.1 15.2 15.3 15.4 15.5 15.6
E. Koch, A. Hoffmann, C. Öhlschlegel, C. Lampert Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Gutartige Weichteiltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Bösartige Weichteiltumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Gutartige Knochentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Bösartige Knochentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Tumorähnliche Läsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
16
Degenerative Gelenkerkrankungen . . . . . . . . . 281
16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7
C. Lüring, M. Tingart, J. Grifka Allgemeines und Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Präarthrotische Deformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Primäre und sekundäre Arthrosen . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Pathomechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Klinische Manifestation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Grundzüge der Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
20
Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
S. Weindel, J. Grünert Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Klassifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens . . . . . . . . . . 385 20.5 Evidenz und Kontroversen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 20.1 20.2 20.3 20.4
21
17
17.1 17.2 17.3 17.4 17.5 17.6
Verletzungen der peripheren Nerven und des Plexus brachialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
21.1 21.2 21.3 21.4 21.5 21.6
J. Grünert Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Diagnostische Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 Einteilung der Nervenschäden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Allgemeine Therapiegrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Spezielle Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Therapieergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
V Regionale Orthopädie und Unfallchirurgie
Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 M. Tingart, C.Lüring, J. Schaumburger, J. Grifka Definition und Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Ätiologie und Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Diagnostik rheumatischer Erkrankungen . . . . . . . . . . . 300 Differenzialdiagnostik und klinisches Bild . . . . . . . . . . 303 Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
L. Harder, M. Kuster Aufbau und Physiologie des Knochens . . . . . . . . . . . . . 356 Pathogenese der Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Klassifikation der Frakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Klassifikation der Weichteilverletzungen . . . . . . . . . . . 366 Prinzipien der Frakturheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Komplikationen der Frakturbehandlung . . . . . . . . . . . . 369 Prinzipien der Frakturnachbehandlung . . . . . . . . . . . . . 380 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
22
Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
O. Linhardt, J. Götz, T. Renkawitz, T. Forster, M. Kröber, J. Grifka 22.1 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 22.2 Erkrankungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
IX Inhaltsverzeichnis
22.3 Verletzungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
23
Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk . . . . . . . . . . 477
J. Beckmann, M. Tingart, M.A. Kessler, T. Dobler, M. Kuster, J. Grifka 23.1 Anatomie und Biomechanik der Schulter . . . . . . . . . . . 478 23.2 Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 23.3 Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550
24
Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern . . . . . . . . . . . . . . . . 613
F.J. Winkler, G. Heers, M. Jakubietz, R. Jakubietz, J. Grünert 25.1 Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern . . . . 614 25.2 Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern . . . . . 660 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
26
Verletzungen des Beckens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687
K. Grob 26.1 Beckenringfrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 26.2 Azetabulumfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708
27
30
Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel . . . . . . . . . . . . . . . 711
J. Matussek Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922 Gametenstadium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 922 Frühe Embryonalphase (1.–2. SSW) . . . . . . . . . . . . . . . . 923 Spätere Embryonalphase (3.–8. SSW) . . . . . . . . . . . . . . . 925 Fetalphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927 Säuglingsphase bis Abschluss der Pubertät . . . . . . . . . 927 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927
31
Kinderorthopädische Untersuchung . . . . . . . . . 929
J. Matussek 31.1 Rolle des Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 31.2 Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 31.3 Körperliche Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
32
J. Matussek Wirbelsäule und Thorax . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 938 Hals und Schulter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942 Oberarm, Unterarm und Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947 Kindliches Hüftgelenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954 Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970 32.6 Knie und Schienbein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986 32.7 Fuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1009
33
28
34
C. Lüring, P. Baumann, H. Behrend, H. Bäthis, L. Harder, J. Grifka 28.1 Erkrankungen des Kniegelenks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760 28.2 Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel . . . 783 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
29
Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen . . . . . . . . . . . . . . 831
M. Handel, F.X. Köck, H. Durst, A. Rukavina, J. Grifka 29.1 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 29.2 Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen . . 835 29.3 Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen . . . . 873 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914
Erkrankungen der kindlichen Bewegungsund Halteorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
32.1 32.2 32.3 32.4 32.5
T. Renkawitz, M. Tingart, J. Beckmann, T. Kalteis, J. Grifka, R. U. Winkler, M. Ellenberger, K.-U.Lorenz 27.1 Erkrankungen des Hüftgelenks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 27.2 Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel . . . 733 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel . . . . . . . . . . . . . . 759
Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen . . . . . 921
30.1 30.2 30.3 30.4 30.5 30.6
Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
E. Sendtner, P. Bodler, A. Hoffmann 24.1 Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen . . . . . . . 556 24.2 Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen . . . . . . . . 568 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
25
VI Kinderorthopädie und Kindertraumatologie
Infektionen im Wachstumsalter . . . . . . . . . . . . 1011
J. Matussek 33.1 Gelenkinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1012 33.2 Knocheninfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1013 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1016
Tumoren im Wachstumsalter . . . . . . . . . . . . . . . 1017
J. Matussek 34.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1018 34.2 Gutartige Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1019 34.3 Maligne Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1022 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1024
35
Kindertraumatologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1025
35.1 35.2 35.3 35.4
J. Matussek Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1026 Epiphysenfrakturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1026 Frakturen der oberen Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . . .1028 Frakturen der unteren Extremitäten . . . . . . . . . . . . . . .1031 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1034
X
Inhaltsverzeichnis
VII Begutachtung 36
Das ärztliche Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037
L. Perlick, F.X. Köck, S. Anders, J. Grifka 36.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1038 36.2 Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1044 36.3 Begutachtung in der privaten Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1047 36.4 Begutachtung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1048 36.5 Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1049 36.6 Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und sozialen Entschädigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .1051 36.7 Begutachtung für die gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1053 36.8 Begutachtung zur Krankentagegeldversicherung . .1053 36.9 Begutachtung von Berufskrankheiten . . . . . . . . . . . . .1053 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1056
VIII Anhang Leitlinien der Fachgesellschaften . . . . . . . . . . . 1061 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065
XI
Autorenverzeichnis PD Dr. med. Holger Bäthis
Dr. med. Martin Ellenberger
Kliniken der Stadt Köln gGmbH Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie in Köln-Merheim Neufelderstr. 34 D-51067 Köln
Orthopädische Klinik Luzern AG St. Anna-Str. 32 CH-6006 Luzern
Dr. med. Johannes Erhardt Dr. med. Patrick Baumann Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Dr. med. Thomas Forster PD Dr. med. Johannes Beckmann Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Dr. med. Stefanie Füssel Dr. med. Henrik Behrend Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Dr. med. Paul Bodler Kantonsspital St.Gallen – Frauenfeld Klinik für Orthopädie Pfaffenholzstr. 4 CH-8501 Frauenfeld
Prof. Dr. med. Reinald Brunner UKBB – Universitätsspital beider Basel Neuromuskuläres Zentrum Petersgraben 4 CH-4031 Basel
Dr. med. Thomas Dobler Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Dr. med. Christian Dönecke Kantonsspital St.Gallen – Rorschach Innere Medizin Heidener Str. 11 CH-9400 Rorschach
Dr. med. Heiko Durst Klinik im Zentrum Rosenbergstr. 42b CH-9000 St. Gallen
Krankenhaus Rummelsberg Rummelsberg 71 D-90592 Schwarzenbruck
Dr. med. Jürgen Götz Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Prof. Dr. med. Joachim Grifka Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Dr. med. Karl Grob Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Prof. Dr. med. Jörg Grünert Kantonsspital St.Gallen Klinik für Hand-, Plastische- und Wiederherstellende Chirurgie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
PD Dr. med. Martin Handel Kliniken Calw Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Eduard-Conz-Str. 6 D-75365 Calw
XII
Autorenverzeichnis
Dr. med. Laurent Harder
Dr. med. Markus Kessler
Schulthess Klinik Hüft- und Kniechirurgie Lengghalde 2 CH-8008 Zürich
Orthopädisch Chirurgisches Versorgungszentrum Markt Schwaben-Poing Bahnhofstr. 25 D-85570 Markt Schwaben
PD Dr. med. Guido Heers
Dr. med. Eva Koch
Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Ostschweizer Kinderspital Claudiusstr. 6 CH-9006 St. Gallen
Dr. med. Franz Köck Dr. med. Kristin Hower Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Prof. Dr. Jürgen Krämer Dr. med. Antonin Hoffmann Spital Heiden Appenzell Ausserrhoden Werdstr. 1a CH-9410 Heiden
Institut für Wirbelsäulenforschung an der Ruhr-Universität Bochum (Technologiezentrum) Universitätsstr. 142 D-44799 Bochum
PD Dr. Markus Kröber Dr. Ing. Hilaire Jacob Consultant in Orthopaedic Biomechanics Gernstr. 128 CH-8409 Winterthur
Hirslanden Klinik St. Anna Neuro- und Wirbelsäulenzentrum St. Anna-Str. 32 CH-6006 Luzern
Dr. med. Michael Jakubietz
Prof. Dr. med. Markus Kuster
Universität Würzburg Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Oberdürrbacherstr. 6 D-97080 Würzburg
Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen und The University of Western Australia Perth School of Surgery 35 Stirling Highway Crawley WA 6009 Perth, Australia
Dr. med. Rafael Jakubietz Universität Würzburg Klinik und Poliklinik für Unfall-, Hand-, Plastische und Wiederherstellungschirurgie Oberdürrbacherstr. 6 D-97080 Würzburg
PD Dr. med. Thomas Kalteis Orthopädische Chirurgie München Steinerstr. 6 D-81369 München
Dr. med. Christoph Lampert Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
PD Dr. med. Oliver Linhardt Dr. med. Jörg Kampshoff Hanseklinikum Stralsund Orthopädie und Endoprothetik Große Parower Str. 47-53 D-17435 Stralsund
Orthopädie Zentrum Arabellapark München Englschalkinger Str. 12 D-81925 München
Dr. med. Kai-Uwe Lorenz Praxisgemeinschaft ZeniT Schwertstr. 9 CH-8200 Schaffhausen
XIII Autorenverzeichnis
PD Dr. med. Christian Lüring
Dr. med. Ernst Sendtner
Universitätsklinikum Aachen Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Pauwelsstr. 30 D-52074 Aachen
Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Dr. med. Jan Matussek
PD Dr. med. Gordian Stutz
Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 4 D-93077 Bad Abbach
Kantonsspital St. Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Dr. med. Christian Oehlschlegel
Prof. Dr. med. Markus Tingart
Kantonsspital St.Gallen Institut für Pathologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Universitätsklinikum Aachen Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie Pauwelsstr. 30 D-52074 Aachen
PD Dr. med. Joseph Osterwalder
Dr. med. Dieter Weber
Kantonsspital St.Gallen Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie Rorschacher Str. 95 CH-9007 St. Gallen
Kantonsspital St. Gallen – Flawil Krankenhausstr. 23 CH-9230 Flawil
Dr. med. Stefan Weindel PD Dr. med. Lars Perlick Asklepios Paulinenklinik Orthopädische Chirurgie Geisenheimer Str. 10 D-65197 Wiesbaden
PD Dr. med. Dr. habil. Tobias Renkawitz Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Dr. med. Alexander Rukavina Orthopädie am See Löwenstr. 16 CH-8280 Kreuzlingen
Dr. med. Erich Rutz Oberarzt Neuroorthopädie UKBB (Universitätskinderklinik beider Basel) Spitalstr. 33 CH-4056 Basel
Dr. med. Jens Schaumburger Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Praxis für Plastische und Handchirurgie Alte Jonastr. 24 CH-8640 Rapperswil-Jona
Dr. med. Roman Winkler Orthopädische Klinik für die Universität Regensburg im Asklepios Klinikum Bad Abbach GmbH Kaiser-Karl V.-Allee 3 D-93077 Bad Abbach
Dr. med. Frank Johannes Winkler Berufsgenossenschaftliches Unfallkrankenhaus Hamburg Abteilung für Handchirurgie, Plastische und Mikrochirurgie, Zentrum für Schwerbrandverletzte Bergedorfer Str. 10 D-21033 Hamburg
I
I
Allgemeines
1
Sensus orthopaedicus und akute Unfallversorgung – 3 J. Krämer
2
Orthopädie im Netz – 7 J. Kampshoff
1
Sensus orthopaedicus und akute Unfallversorgung J. Krämer
1.1
Abwägung oder sofortige Intervention – 4
1.2
Gemeinsamkeiten beim Lokalbefund – 4
1.3
Bildgebende Verfahren
1.4
Besonderheiten bei Operationen am muskuloskelettalen System – 4
1.5
Technisches Umfeld
1.6
Besondere Anforderungen an Wahleingriffe – 5
1.7
Spezialweiterbildung
– 4
– 4
– 5
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
4
1
Kapitel 1 · Sensus orthopaedicus und akute Unfallversorgung
Der neue Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie ist sowohl für die Erkrankungen als auch für die Verletzungen der Halte- und Bewegungsorgane zuständig – entsprechend dem im Ausland üblichen »orthopaedic surgeon« zuzüglich der konservativen Orthopädie. Damit ergänzen sich Orthopädie und Unfallchirurgie am gemeinschaftlichen muskuloskelettalen System, allerdings mit unterschiedlicher Aufgabenstellung.
1.1
Abwägung oder sofortige Intervention
Bei schon länger bestehenden orthopädischen Erkrankungen ist nach eingehender Untersuchung unter Einbeziehung früherer Befunde aus bildgebenden Verfahren und aktueller Befunde aus aktuellen Aufnahmen abzuwägen, wann welche Intervention notwendig ist, u. U. nach mehrfachen Befundkontrollen und Beobachtung des Spontanverlaufs der Erkrankung. Man hat zudem Gelegenheit, ggf. einen auswärtigen Spezialisten hinzuzuziehen. Bis auf wenige Ausnahmen, z. B. bei der akuten Epiphysenlösung oder dem Bandscheibenvorfall mit gravierenden Lähmungen, gilt dies für alle bis jetzt in den orthopädischen Fachbereich fallenden Erkrankungen. Die Zeit für eine längere Beobachtung und eine Abwägung der Intervention bleibt in der Unfallchirurgie nicht. Neben der sofortigen Versorgung der eigentlichen Verletzung in der Praxis oder in einem nahe gelegenen Krankenhaus sind Blutverlust, vitale Gefährdung und Begleiterkrankungen gleichermaßen zu berücksichtigen. Die Verletzten weisen u. U. einen schlecht eingestellten Diabetes mellitus auf, stehen unter einer Marcumar-Therapie, sind alkoholisiert oder Ähnliches. Bei Mehrfachverletzungen muss sofort entschieden werden, welche Versorgung primär und welche nachgeordnet stattfinden sollte. In Deutschland ist das Rettungswesen beispielhaft arztzentriert aufgebaut und entsprechend effizient.
1.2
Gemeinsamkeiten beim Lokalbefund
Zur Beurteilung des Lokalbefunds von Verletzungen und Erkrankungen am muskuloskelettalen System sind in Orthopädie und Unfallchirurgie vergleichbare Fähigkeiten beim optischen Erfassen, beim Tasten und bei der vorsichtigen Funktionsprüfung gefragt. Um Form- und Funktionsstörungen in der Tiefe zu evaluieren, muss man über räumliches Vorstellungsvermögen sowie gute anatomische Kenntnisse verfügen. Muskuloskelettale Erkrankungen und Verletzungen sind angewandte Anatomie – mehr als in anderen Fachbereichen der Medizin. Daher haben wir zusammen mit Anatomen seit vielen Jahren einen Studentenkurs für die klinische Anatomie speziell des muskuloskelettalen Systems etabliert.
1.3
Bildgebende Verfahren
Bildgebende Verfahren wie Röntgenuntersuchungen, CT, MRT und Sonografie sind für die Diagnosestellung und das weitere Vorgehen unabdingbar. Dabei ist die Sichtbarmachung tiefer ge-
legener Weichteilstrukturen mit dem Ultraschallkopf – dem verlängerten Finger beim Tastbefund – von besonderer Bedeutung. Bei der Beurteilung der Abbildungen ergibt sich der Unterschied zwischen Erkrankungen und Verletzungen, und zwar dadurch, dass bei länger bestehenden Schäden frühere Aufnahmen zum Vergleich herangezogen werden können und noch Zeit verbleibt, die aktuellen Bilder zu diskutieren. Bei Akutverletzungen, vor allem außerhalb der Dienstzeiten, besteht meist sofortiger Handlungsbedarf – ohne Diskussion.
1.4
Besonderheiten bei Operationen am muskuloskelettalen System
Bei offenen Operationen an der Wirbelsäule und an den Extremitäten ergeben sich die meisten Gemeinsamkeiten zwischen Orthopädie und Unfallchirurgie. Zugänge, Operationssitus und Umgang mit Knochen, Muskeln, Sehnen und Bändern sind identisch. In der Unfallchirurgie sind begleitende Haut- und Weichteilverletzungen zu berücksichtigen. Wiederum sind Tastsinn, Gefühl und räumliches Vorstellungsvermögen gleichermaßen gefragt. Anatomische Orientierungspunkte an Knochen und Sehnenansätzen werden nicht nur gesehen, sondern auch mit dem Sondenfinger in der Tiefe ertastet, z. B. der Trochanter minor und das Tuberculum innominatum am proximalen Femurende zur intertrochantären Umstellungsosteotomie oder der Processus coracoideus für die Eingriffe an der Schulter. Der Umgang mit Muskeln, Bändern und Knochen erfolgt besonders behutsam. Diese Strukturen weisen zwar eine ihren Aufgaben entsprechende Kraft und Stabilität auf, sind jedoch harten Operationsinstrumenten gegenüber sehr empfindlich. Beim Eintreiben von Meißeln, Markraumnägeln oder zementfreien Endoprothesen verhalten sich Knochen ähnlich wie Weichholz: Sie spalten und brechen, wenn man nicht entsprechend vorbohrt und gefühlvoll einpasst. Auf der anderen Seite darf man nicht zu zaghaft vorgehen, denn Osteosynthesen, zementfreie Endoprothesen und Kapsel-Band-Rekonstruktionen müssen eine so hohe Stabilität aufweisen, dass schon am ersten postoperativen Tag mit der Mobilisierung und der funktionellen Behandlung begonnen werden kann. Es ist ein besonderes Gefühl für die Knochenbruchgrenze mit »eingebautem« Drehmomentschlüssel erforderlich, z. B. beim Anziehen von Schrauben und Drähten, um den Anforderungen an übungsstabile postoperative Verhältnisse gerecht zu werden.
1.5
Technisches Umfeld
Das technische Umfeld in der Knochen- und Gelenkchirurgie hat sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt. Die minimal-invasive Chirurgie, z. B. an der Bandscheibe, bei den endoskopischen Operationen der großen Gelenke und bei stabilen Osteosynthesen, erfordert in Hinblick auf die Qualitätssicherung immer mehr technische Hilfsmittel. Der Operateur ist bei seinem Eingriff von Motorfräsen, Navigationssystemen einschließlich Videokette und Vergrößerungsmöglichkeiten (Operationsmikroskop), Lasersystemen etc. abhängig. Intra- und
5 1.7 · Spezialweiterbildung
postoperative Kontrollen mittels bildgebender Verfahren wie Röntgenuntersuchungen, Sonografie sowie in zunehmendem Maße auch CT und MRT veranlasst und beurteilt der Operateur. Der Chirurg muss sich im Rahmen seiner ärztlichen Sorgfaltspflicht mit allen technischen Systemen vertraut machen, um einen raschen und komplikationslosen Operationsablauf zu gewährleisten – dies insbesondere, weil hauptsächlich er verantwortlich gemacht wird, wenn etwas schiefgeht.
1.6
Besondere Anforderungen an Wahleingriffe
Das Anspruchsdenken der Patienten, insbesondere gegenüber Eingriffen am Skelettsystem, ist sehr hoch. Daher ist bei Wahleingriffen – wie bei allen elektiven orthopädischen Eingriffen – ein aufwendiges, ausführliches Aufklärungsgespräch erforderlich, in der Regel mit laienverständlichen Skizzen. Dies gilt beispielsweise für Korrekturoperationen an der Wirbelsäule bei Kindern nach vergeblicher konservativer Therapie sowie für Implantatzusammensetzungen bei künstlichem Gelenkersatz mit allen Komplikationsmöglichkeiten. Bei Akutverletzungen mit sofortigem Handlungsbedarf bleibt dafür oft wenig Zeit, zumal sich die Patienten häufig im Schockzustand befinden. Hier kommt es besonders auf die Erfahrung des behandelnden Arztes an, der die ihm adäquat erscheinende Behandlung ohne größere Diskussion sofort durchführen muss und später auch zu vertreten hat.
1.7
Spezialweiterbildung
Durch Hinzukommen der Unfallchirurgie ist der ohnehin schon umfangreiche Fachbereich »Orthopädie« noch erweitert worden. Nach der Weiterbildung zum neuen Facharzt ist eine Subspezialisierung daher unumgänglich, um im jeweiligen Fachbereich eine professionelle Leistung bieten zu können, beispielsweise in Kinderorthopäde, Rheumaorthopädie, Endoprothetik, Traumatologie oder Wirbelsäulenchirurgie. > Umfassende Kompetenz und Spezialisierung dienen der Qualitätssicherung und letztlich der Zufriedenheit unserer Patienten.
1
2
Orthopädie im Netz J. Kampshoff
2.1
Recherche im Internet – 8
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5
Allgemeine Suche in Medline – 8 Einschränkungen der Suche – 8 Cochrane Library – 8 Weitere Suchmaschinen – 9 Produktinformationen – 9
2.2
Online-Nachschlagewerke und -Kurse – 9
2.3
Telemedizin und eHealth – 9
2.4
Fazit
– 10
Literatur
– 10
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
8
2
Kapitel 2 · Orthopädie im Netz
Die zunehmende technische Entwicklung verändert die Welt der Medien, und immer mehr lernen auch Ärzte, diese technischen Neuerungen für sich zu nutzen. So sind mittlerweile die meisten Kliniken und Praxen mit dem Internet verbunden. Dies kann einer schnellen Informationsgewinnung dienen. Dadurch ist es heutzutage jedem Arzt – auch außerhalb großer universitärer Zentren – möglich, immer auf dem neuesten Stand zu sein. Aber Orthopädie im Netz kann noch mehr sein als reine Informationsgewinnung. Ein kurzer Überblick über die Möglichkeiten soll hier gegeben werden.
2.1
Recherche im Internet
2.1.1
Allgemeine Suche in Medline
⊡ Tab. 2.1 Suchbefehle für Pubmed Befehl
Bedeutung
Sternchen (z. B. fracture*)
Der Suchbegriff wird auch dann gefunden, wenn er Teil eines Wortes ist (auch »fractured« und »fractures« werden gefunden).
Operatoren: AND OR NOT Etiketten, z. B.: fractures [ti] Kuster [au] 2007:2010 [edat]
Beide Suchkriterien müssen erfüllt sein. Eines der Suchkriterien muss erfüllt sein. Das Suchkriterium darf nicht vorkommen.
Im Titel ist »fractures« enthalten. Einer der Autoren heißt Kuster. Die Erscheinung der Publikation liegt zwischen 2007 und 2010.
Die dargestellten Befehle können zu einer deutlich effizienteren Suche führen.
Pubmed (www.pubmed.org) heißt die Suchmaschine der Med-
line. Sie ist die am häufigsten verwendete Suchmaschine für medizinische Artikel in Fachzeitschriften. Diese Suchmaschine und die Datenbank werden vom National Institute of Health (NIH, Bethesda, USA) zur Verfügung gestellt. Sie ermöglichen die Suche unter momentan etwa 17.000.000 Artikeln, die überwiegend aus den Bereichen »Biologie« und »Medizin« stammen. Dabei werden generell Informationen wie Titel, Autor und Zeitschrift und zudem sogar der Abstract aufgeführt. Der vollständige Artikel muss jedoch über die nächstgelegene (Online-)Bibliothek beschafft werden. Das Finden der gewünschten Information kann sich jedoch als schwierig und recht zeitaufwendig erweisen, wenn man nicht einige Grundregeln der Recherche befolgt. Gesucht werden sollte jeweils der am einfachsten zugängliche und vollständigste Artikel, der zudem am aktuellsten ist. Dabei ist es hilfreich, sich zu der gewünschten Information eine möglichst konkrete Frage zu stellen, z. B.: Soll ich die geschlossene Humerusschaftfraktur mit einem Nagel oder mit einer Platte versorgen? Nur das einfache Eingeben der Schlagwörter »humerus« und »fracture« führt zu 7229 gefundenen Artikeln. Ein weiteres Einschränken der Suche ist daher sinnvoll, um schneller den passenden Artikel zu finden.
Optionen eingeschränkt werden. So gibt es beispielsweise für die Schlagwörter »humerus« und »fracture« 138 Artikel und 27 Reviews, die entweder auf Deutsch oder Englisch veröffentlicht sind und deren Volltextversionen frei zum Download zur Verfügung stehen. Wer häufig Medline benutzt, hat sicher eine Zeitersparnis, wenn er sich die »Suchbefehle« der Pubmed aneignet. Eine Auflistung der häufigsten Suchbefehle findet sich in ⊡ Tab. 2.1. Ein AND zwischen 2 Wörtern bedeutet, dass beide Wörter vorkommen müssen, ein OR, dass das eine Wort oder das andere vorkommen kann. [au] zeigt der Medline, dass es sich bei dem davor genannten Wort um einen Autor handelt, und [edat] hinter einer Zahl legt das Erscheinungsjahr fest. Wird beispielsweise nach »humerus AND fracture AND Kampshoff [au]« gesucht, ergibt sich nur noch ein Treffer. Um die oben genannte Suche nach der Humerusschaftfraktur zu konkretisieren, könnte z. B. Folgendes eingegeben werden: »fracture* [ti] AND (humerus* [ti] OR humeral* [ti]) NOT prox* NOT condyl* NOT distal* AND 2000:2007 [edat]«.
2.1.3 2.1.2
Cochrane Library
Einschränkungen der Suche
Die Medline bietet verschiedene Möglichkeiten, die Suche einzuschränken. Ein vorheriges Klicken auf »clinical queries« in der linken Spalte schränkt die Suche auf solche Artikel ein, die nach der »clinical study category« als höherwertig eingestuft werden (Haynes et al. 2005; Wilczynski et al. 2005; Wong et al. 2004). Ein erneutes Eingeben der Schlagwörter »humerus« und »fracture« führt auf diese Weise zu nur noch 479 gefundenen Artikeln. Unter diesen befindet sich auch ein Artikel über eine prospektive, randomisierte Studie, die sich genau mit der oben gestellten Frage auseinandersetzt. Auch mit einem Klick auf das Register »limits« lässt sich die Suche mittels multipler Einstellungen verändern. Hier können die Artikel nach Autor, Zeitschrift, Sprache, Artikeltyp und vorhandener Gratisvolltextversion sowie mit vielen weiteren
Der Zugang zur Cochrane Library (www.cochrane.org) ist gegenüber dem Zugang zur Medline kostenpflichtig. Diese Bibliothek hat es sich jedoch zur Aufgabe gemacht, Qualität statt Quantität in den Vordergrund zu stellen. Die Cochrane Library besteht aus den folgenden Teilen: ▬ Die Cochrane Database of Systematic Reviews enthält Reviews, die von den Mitarbeitern der Cochrane Collaboration nach strikten methodischen Vorgaben erstellt wurden. ▬ Bei der Database of Reviews of Effectiveness werden Reviews dargestellt, die selbigen Kriterien entsprechen, aber von Autoren außerhalb der Cochrane Collaboration stammen. ▬ Die Cochrane Controlled Trials Registry weist kontrollierte Studien auf, die ebenfalls den harten Kriterien der Cochrane Library entsprechen. Eine Volltextversion ist
9 2.3 · Telemedizin und eHealth
verfügbar. Leider kommen die Autoren recht häufig zu dem Schluss, dass eine Antwort auf die gestellte Frage aufgrund fehlender qualitativ hochwertiger Studien nicht möglich sei.
2.1.4
Weitere Suchmaschinen
Mittlerweile gibt es eine Fülle von medizinischen Suchmaschinen im Internet, die teilweise deutlich unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Während Pubmed einzig die Medline durchsucht, schließen andere Suchmaschinen weitere Datenbanken mit ein. Dabei haben alle Suchmaschinen ihre individuellen Stärken und Schwächen. Die europäische Alternative zur Medline ist Embase (www. embase.com). Abstracts von etwa 23.000.000 Artikeln werden hier gelistet. Jedoch ist eine Anmeldung erforderlich. Inhaltlich sind alle Artikel der Medline integriert. Etwa 25 % der in Embase gelisteten Artikel sind jedoch nicht in der Medline enthalten (Zlowodzki et al. 2006). Google Scholar (scholar.google.com) versucht, alle Suchwörter im Text wiederzufinden und durchsucht dabei das gesamte Web. Die Suche kann über Autor, Veröffentlichung und Zeitraum begrenzt werden. Die Suchergebnisse werden nach Relevanz sortiert. Zur Beurteilung der Relevanz bewertet Google Scholar die Vollständigkeit des Textes eines Artikels, den Autor, den Ort der Veröffentlichung und wie häufig der Artikel in der wissenschaftlichen Literatur zitiert wurde. Eine spezifische Suche nach Bildern und Abbildungen ist über die herkömmliche Google-Seite (images.google.com) möglich. Medscape (www.medscape.com) durchsucht eigene Datenbanken, Abstracts von Meetings orthopädischer Gesellschaften sowie Medline. Eine nützliche Sonderfunktion ist die Möglichkeit, nach Eingabe verschiedener Medikamente deren Interaktionen zu erkennen. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn auch der amerikanische Handelsname bekannt ist. Darüber hinaus gibt es eine Anwendung für das iPhone, was die mobile Benutzung vereinfacht.
2.1.5
Produktinformationen
Mittlerweile besitzen alle Hersteller von medizinischen Produkten Homepages, auf denen Informationen zu den jeweiligen Produkten erhältlich sind. Ein herstellerübergreifendes Verzeichnis von Produkten findet sich unter www.orthopedicproductguide.com. Informationen zu Medikamenten lassen sich herstellerunabhängig nach Anmeldung über die Seiten der Roten Liste (www.roteliste.de) oder ohne Anmeldung auf der Seite des Arzneimittelkompendiums der Schweiz (www. documed.ch) finden.
2.2
⊡ Tab. 2.2 Links zu weiteren Seiten mit Informationen zu spezifischen Fragen
Online-Nachschlagewerke und -Kurse
Ähnlich einem klassischen Lehrbuch gibt es auch Nachschlagewerke im Internet. Das größte Problem bei Publikationen im Internet ist jedoch die Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit.
Themen
Internetseiten
Operationstechniken und Klassifikationen
www.aofoundation.org
Röntgenanatomie
www.orthorad.de, www.teachingcentral.ch
Orthopädische Onkologie
www.bonetumor.org
Labornormwerte
www.laborlexikon.de
Während alle Texte im vorliegenden Buch von mehreren Lektoren korrekturgelesen wurden und man als Käufer von Büchern renommierter Verlage einigermaßen sicher qualitativ hochwertige Texte erhält, ist es letztlich jedem Menschen möglich, auf Internetseiten seine persönlichen Ansichten zu verbreiten. Wheeless Textbook of Orthopaedics (www.wheelessonline.com) ist eine einfach zu nutzende Informationsquelle für Diagnostik, Klassifikationen und empfohlene Therapien. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Nach einem Klick auf den entsprechenden Skelettabschnitt auf der Startseite kann die gewünschte Information gefunden werden. Die Verlinkungen verschiedener Themen und zahlreicher Abbildungen von Röntgen- und MRT-Befunden sowie Operationstechniken helfen beim Finden der gesuchten Information. Orthoteers (www.orthoteers.com) wurde ursprünglich von 3 englischen Assistenzärzten ins Leben gerufen, die – aus Frust bei der Vorbereitung auf die britische Facharztprüfung – relevante Informationen kompakt zusammenstellen wollten. Mittlerweile ist diese Seite anmeldungspflichtig. Die Internetseiten sind übersichtlich gestaltet und fassen ihre Informationen kompakt zusammen. Orthopaedics Hyperguide (www.ortho.hyperguides.com) stellt Tutorials, Online-Vorträge sowie Übungsfragen nach Themen sortiert zur Verfügung. Die Tutorials stammen von renommierten Autoren, die überwiegend aus den USA stammen. Sie geben einen guten Überblick über das jeweilige Themengebiet. Bei den Online-Vorträgen hört man die Stimme des Referenten, während seine Folien gezeigt werden. Im Tutorial kann das eigene Wissen spielerisch geprüft und verbessert werden. Eine Anmeldung ist erforderlich, die Nutzung der Seite ist jedoch kostenfrei. Links zu weiteren Seiten sind in ⊡ Tab. 2.2 aufgeführt.
2.3
Telemedizin und eHealth
Telemedizin und der neuere Ausdruck eHealth sind Überbegriffe für die Nutzung moderner Telekommunikationsmethoden in der Medizin. Letztlich ist der Anruf beim Hausarzt, um zusätzliche Informationen einzuholen, bereits Telemedizin. Ein weiteres Beispiel ist das in einigen Ländern schon recht verbreitete Wide Area Packs. Dabei ist es verschiedenen Institutionen und Ärzten möglich, digitale Röntgenbilder sowie
2
10
2
Kapitel 2 · Orthopädie im Netz
CT- und MRT-Befunde ihrer Patienten zu betrachten – egal an welchen Orten diese Aufnahmen gemacht wurden. Unnötige Doppelaufnahmen werden verhindert, die Befundung und das Einholen von Zweitmeinungen erleichtert (Ricci u. Borrelli 2004). In weniger dicht besiedelten Ländern wie Australien und Norwegen sind diese Systeme schon seit einigen Jahren in Anwendung. In absehbarer Zeit werden radiologische Bilder auch auf Mobiltelefonen betrachtbar sein. Online-Konsultationsmöglichkeiten, bei denen via Videokonferenz Patienten vorgestellt werden, könnten in der Zukunft eine immer größer werdende Rolle spielen. Dabei ist sogar die zeitliche Entkopplung möglich, sodass die Beantwortung einer Konsilanfrage besser in den Tagesablauf integriert werden kann. Auf diese Weise könnte auch beispielsweise ein merkwürdiger Befund während einer Arthroskopie in einem peripheren Krankenhaus direkt an ein Zentrum weitergeleitet werden, um von dort nützliche Hinweise zu erhalten. Aber auch durch die bessere Verknüpfung von Arzt und ambulantem Pflegedienst oder Physiotherapeut könnten auftretende Fragen durch Austausch von Bildern oder Videos als zusätzliche Informationsquellen schneller und besser beantwortet werden. > Durch Online-Konsultation ist nicht nur eine verbesserte Versorgung der Patienten möglich, sondern es kann auch eine Reduzierung der Behandlungskosten erzielt werden (Larsen et al. 2003; Stieglitz et al. 1998).
Auch befinden sich schon seit einigen Jahren Computer im Einsatz, mit deren Hilfe der Notarzt vor Ort Informationen wie Unfall- und Verletzungsbilder oder EKG-Befunde direkt an das Zielkrankenhaus übermittelt. Dort können daraufhin die optimalen Vorbereitungen zur Behandlung des eintreffenden Patienten getroffen werden (Schachinger et al. 2000). Neben den bisher angeführten Informationsquellen gibt die Zusammenstellung in ⊡ Tab. 2.3 einen Überblick über öffentliche Stellen und Behörden, bei denen Informationen zu Zulassung und Anforderungen für Facharzttitel und Zusatzbezeichnungen eingeholt werden können.
⊡ Tab. 2.3 Nützliche Links zu offiziellen Stellen Offizielle Stellen
Internetseiten
Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie
www.dgooc.de
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
www.dgu-online.de
Österreichische Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie
www.orthopaedics.or.at
Österreichische Gesellschaft für Unfallchirurgie
www.unfallchirurgen.at
Schweizer Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie
www.sgosso.ch
Krankenhäuser der Schweiz
www.doktor.ch
2.4
Fazit
Orthopädie im Netz kann mehr sein als reine Informationsgewinnung über Quellen im Internet. Betrachtet man die Entwicklung im Technik- und Telekommunikationsbereich, so hat dort in den letzten Jahren eine rasante Weiterentwicklung stattgefunden. Eine Übertragung auf die Medizin ist zwar technisch in vielen Bereichen möglich, hat sich aber bisher nicht flächendeckend durchgesetzt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass Neuerungen im medizinischen Umfeld immer weiter Nutzung finden. Langfristig durchsetzen wird sich, was sich als nützlich erweist und dem Arzt sowie dem Patienten hilft. Man kann der Zukunft mit Spannung entgegensehen.
Literatur Haynes RB, McKibbon KA, Wilczynski NL, Walter SD, Werre SR (2005) Optimal search strategies for retrieving scientifically strong studies of treatment from Medline: analytical survey. BMJ 3301: 1179 Larsen F, Gjerdrum E, Obstfelder A, Lundvoll L (2003) Implementing telemedicine services in northern Norway: barriers and facilitators. J Telemed Telecare 9 (Suppl 1): S17–S18 Ricci WM, Borrelli J (2004) Teleradiology in orthopaedics. Clin Orthop Relat Res 421: 64–69 Schachinger U, Kretschmer R, Rockelein W, Neumann C, Maghsudi M, Nerlich M (2000) NOAH – A mobile emergency care system. Eur J Med Res 5: 13–18 Stieglitz SP, Gnann W, Schachinger U, Maghsudi M, Nerlich M (1998) [Telecommunication in trauma surgery. Communication networks of hospitals in East Bavaria]. Chirurg 69: 1123–1128 Wilczynski NL, Morgan D, Haynes RB (2005) An overview of the design and methods for retrieving high-quality studies for clinical care. BMC Med Inform Decis Mak 5: 20 Wong SS, Wilczynski NL, Haynes RB (2004) Developing optimal search strategies for detecting clinically relevant qualitative studies in MEDLINE. Medinfo 11: 311–316 Zlowodzki M, Zelle BA, Keel M, Cole PA, Kregor PJ (2006) Evidence-based resources and search strategies for orthopaedic surgeons. Injury 37: 307–311
II
II
Grundlagen des therapeutischen Vorgehens
3
Osteosynthesen – 13 L. Harder, M. Kuster
4
Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung – 29 H.A.C. Jacob
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Periprothetische Frakturen J.B. Erhardt, M.S. Kuster
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Amputationen J. Götz
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Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie – 69 J. Götz, O. Linhardt, J. Grifka
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Technische Orthopädie J. Götz
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Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation – 103 K. Hower, J. Grifka
– 49
– 61
– 79
3
Osteosynthesen L. Harder, M. Kuster
3.1
Einblick in die Entwicklung der Verfahren – 14
3.1.1 3.1.2
Geschichte – 14 Anatomische Reposition und Grad der Stabilität
3.2
Die technischen Prinzipien im Detail – 16
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Allgemeine Vorbemerkungen – 16 Plattenosteosynthese: funktionelle Prinzipien der Implantate – 16 Winkelstabile Implantate – 20 Marknagelung – 22 Fixateur externe – 25
Literatur
– 27
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 15
3
14
Kapitel 3 · Osteosynthesen
3.1
Einblick in die Entwicklung der Verfahren
3.1.1
Geschichte
Bereits in der Antike sind Schienungstechniken zur Frakturbehandlung beschrieben worden (Hippokrates, Celsus, El Zahawari, Gooch). Meist resultierte daraus eine Verkürzung der betroffenen Extremität. Die kontinuierliche Traktion kam erstmals im 19. Jahrhundert zur Anwendung. Offene Frakturen waren bis vor 150 Jahren lebensgefährlich und bedeuteten in der Regel die Amputation. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts verstarben 46 von 93 Patienten, die Billroth in Zürich behandelte, an den Folgen komplizierter Frakturen (Billroth 1881). Die interne Stabilisation nahm 1770 mittels Drahtfixation ihren Anfang (B. Féraud). Es folgten Schraubenfixationen (Lambotte) und die Plattenfixation (Hausmann). Die Entwicklung noch einfacher Implantate und Instrumente sowie der Einzug aseptischer Verfahren in den Operationssaal führten allmählich zu besseren Resultaten. Danis (1949) legte den Grundstein der modernen Fraktur-
der Kallus um die unberührten, nicht anatomisch reponierten Knochenfragmente. Diese bei der intramedullären Stabilisierung gewonnenen Erkenntnisse wurden auf die Entwicklung der Plattenosteosynthesen übertragen. Heute gilt infolgedessen bei der Plattenosteosynthese: ▬ limitierte Reposition ▬ Wiederherstellung von Achse, Länge und Rotation ▬ maximale Schonung der Weichteile ▬ Erhaltung der Durchblutung, gerade auch im Frakturbereich Einzelne Fragmente werden nicht denudiert und dargestellt, sondern im Verbund belassen. Die Defektzone soll nicht rekonstruiert, sondern überbrückt werden (⊡ Abb. 3.1b). Die Wahl längerer Platten mit Einsatz nur weniger Schrauben pro Fragment soll eine gewisse Schwingung bzw. Mikrobewegungen zulassen.
behandlung durch Osteosynthese:
▬ anatomische Reposition und stabile interne Fixation der Fraktur ▬ sofortige aktive Mobilisation der benachbarten Gelenke ▬ Ermöglichen einer primären Knochenheilung ohne erkennbare Kallusbildung Es waren v. a. die Arbeiten von Danis, welche Maurice Müller, Hans Willenegger, Robert Schneider und Martin Allgöwer im Jahre 1958 zur Gründung der AO (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen) führten. Eine größtmögliche interfragmentäre Stabilität nach anatomischer Reposition musste unbedingt erreicht werden (Müller u. Willenegger ). Zu diesem Zweck wurden zahlreiche ausgeklügelte Systeme für diverse anatomische Lokalisationen entwickelt und weltweit erfolgreich angewendet (Rüedi u. Moran 2007). Eine entscheidende Erleichterung zum Erzielen einer interfragmentären Kompression war die Entwicklung der dynamischen Kompressionsplatte (»dynamic compression plate«, DCP) als Ersatz für die ursprüngliche Rundlochplatte. Durch die exzentrische Schraubenlage in einem ovalen »Gleitloch« wurde beim Anziehen der Schraube eine axiale Verschiebung der Knochenfragmente in Richtung Frakturspalt ermöglicht. Es folgten Weiterentwicklungen dieses Implantats mit jeweils limitiertem Knochenkontakt und somit geringerer Durchblutungsstörung im Bereich der Plattenauflage: ▬ LC-DCP (»Low-contact«-DCP; Gautier and Perren 1992) ▬ PC-Fix (»Point-contact«-Fixateur; Borgeaud et al. 2000) Intramedulläre Kraftträger an denjenigen Stellen, an denen die Frakturzone nur überbrückt, aber nicht freigelegt wird, zeichnen sich durch eine höhere Elastizität aus und bedingen eine ausgeprägtere Kallusformation bei sekundärer Frakturheilung (nichtosteonale oder sekundäre Spaltheilung). Schließlich ermöglichte die Einführung von Verriegelungsbolzen die intramedulläre Stabilisierung auch ausgedehnter Trümmerzonen ohne Verkürzung. Es entwickelte sich ein frakturüberbrücken-
a
b
⊡ Abb. 3.1a,b Vergleich zwischen rigider »Kammosteosynthese« und biologischer Plattenosteosynthese. a Beispiel einer rigiden Plattenosteosynthese (»Kammosteosynthese«) mit anatomischer Reposition aller Fragmente. Es wird eine große Anzahl an Schrauben inklusive Zugschrauben eingesetzt. b Beispiel einer »biologischen« Plattenosteosynthese. Im Bereich des Frakturspalts werden keine Schrauben gesetzt. Im Verlauf ist eine gute Kallusbildung zu erwarten
15 3.1 · Einblick in die Entwicklung der Verfahren
Erst eine lange Überbrückungszone ohne (Zug-)Schrauben ermöglicht die Elastizität des Platten-Fraktur-Verbunds. Der auf einen eng lokalisierten, kurzen Bereich der Platte konzentrierte Stress (Gefahr eines Plattenbruchs) konnte so reduziert werden, und während des Heilungsverlaufs zeigte sich im Röntgenbild eine gewisse Kallusbildung. Auch ohne absolute anatomische Reposition im Frakturbereich ermöglicht diese Form der internen Fixation dieselbe essenzielle Frühmobilisation – also funktionelle Nachbehandlung –, wie sie stets von der AO propagiert wurde. Allerdings bleibt das Postulat der anatomischen Reposition bei Gelenkfrakturen unangetastet. Dem steht die konventionelle, rigide »Kammosteosynthese« gegenüber, bei welcher möglichst alle Plattenlöcher besetzt werden (⊡ Abb. 3.1a).
zweiten Gewindes mit etwas geringerer Gewindesteigung stabil verankert. Dies führt zum Auffangen von Scherkräften durch Winkelstabilität ohne Anpressdruck der Platte auf der Kortikalis. Weiterentwicklungen führten zur LCP (»locking compression plate«; ⊡ Abb. 3.2), einer Platte mit Kombinationsloch (winkelstabil, ovales Kompressionsloch). Neue Implantate vereinen die Vorteile einer polyaxialen Schraubenlage mit der Möglichkeit der sekundären Verriegelung (⊡ Abb. 3.3).
> Die heutige Philosophie lautet: So viel Stabilität wie nötig, so viel Durchblutung wie möglich.
Ursprünglich wurde durch anatomisch exakte Rekonstruktion und interfragmentäre Kompression eine maximale Stabilität angestrebt (⊡ Abb. 3.1a). Die Last wurde so direkt von Fragment zu Fragment übertragen, ohne das Implantat dabei wesentlich zu belasten. Dies ermöglichte eine osteonale Knochenheilung ohne radiologisch erkennbare Kallusbildung. Erneute Frakturen bei inadäquatem Trauma nach Metallentfernung haben dieses Konzept einer »idealen Frakturheilung« jedoch infrage gestellt, und man löste sich von der ursprünglichen Doktrin der AO, wie sie oben beschrieben ist. Die Plattenosteosynthesen wurden nach dem Konzept der Überbrückungsplatten modifiziert, welche eine Schwingung des Systems ermöglichen.
Die rasch voranschreitende Entwicklung von Implantaten und operativen Hilfsmitteln (z. B. Zielbügel) verfolgt u. a. das Ziel, anatomische Strukturen möglichst intakt zu lassen und das Zugangstrauma zu reduzieren (minimal-invasiv), z. B. unter Verwendung eingeschobener Platten (Krettek et al. 2001). Die Frakturbehandlung bei Osteoporose mit reduzierter Verankerung der Schrauben im Knochen und konsekutiver Implantatlockerung führte zur Entwicklung winkelstabiler Implantate. Schrauben sind einerseits im Knochen, andererseits aber auch am Kontakt zwischen Schrauben, Kopf und Platte mittels eines
a
b
c
d
3.1.2
Anatomische Reposition und Grad der Stabilität
⊡ Abb. 3.2a–d Prinzip der winkelstabilen Verankerung am Beispiel der »locking compression plate« (LCP). a Schematische Darstellung des LCPKombinationslochs, welches das Einbringen von konventionellen und Verschlusskopfschrauben in dasselbe Implantat ermöglicht. b Der Gewindeschraubenkopf rastet in das reziproke Gewinde der LCP ein. Das Kombinationsloch ermöglicht die alternative Verwendung einer konventionellen Schraube. c Design und Kraftkomponenten einer konventionellen Schraube, welche für dynamische Kompressionsplatten (DCP) und »Low-contact«DCP Anwendung findet. Das Prinzip der Schraube besteht in der Herstellung einer Friktion zwischen der Unterseite der Platte und der Knochenoberfläche durch Kompression der Grenzflächen. d Verschlusskopfschraube zur Verwendung mit einer LCP. Die Funktion entspricht eher der eines Bolzens als einer Schraube. Die von der Schraube aufgebrachte axiale Kraft ist minimal. Die Schraube ermöglicht eine Fixation, welche darauf beruht, dass der Schraubenkopf in einer Position senkrecht zum Plattenkörper verankert ist, welcher nicht gegen den Knochen gepresst wird. Derartige Systeme wirken eher als Fixateure denn als Platten
3
16
Kapitel 3 · Osteosynthesen
Tipp
Kein Kontakt
3 a
b 250
N (Newton) (SA + 10N)
250
225 200 150
6 Nm Anziehdrehmoment
100 50 c
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0
⊡ Abb. 3.3a–d Winkelstabile Platte mit fakultativer Polyaxialität der Schrauben. a Polyaxiale Schraubenpositionierung mit anschließender Sicherungsoption für eine optimale Systemstabilität. Es besteht die Möglichkeit einer Frakturreposition mittels Kompressionsschraube. b »Noncontact-bridging«-(NCB-)Osteosynthese, welche das Risiko periostaler Durchblutungsstörungen reduziert. c Anatomisch geformte Platte. d Winkelstabilität einer gesicherten NCB-Schraube. SA Standardabweichung
3.2
Die technischen Prinzipien im Detail
3.2.1
Allgemeine Vorbemerkungen
Schon in den 1960er Jahren wurden die Vorteile der »biologischen« Osteosynthese von Weber erkannt (Weber 2004) und später auch von der AO mehr und mehr gefordert (Gerber et al. 1990). Wie dargelegt, ist eine gewisse Bewegung in der Frakturzone erwünscht und löste die Vorstellung einer absolut rigiden Stabilität als Voraussetzung für eine optimale Frakturheilung ab. Periostale und endostale Kallusformation gehen bei dieser sekundären Frakturheilung einem osteonalen Durchbau voraus. Anhand biomechanische »Finite-element«-Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass der wichtigste Faktor, welcher die Frakturbeweglichkeit beeinflusst die »bridging length« (Überbrückungslänge der Fraktur) ist (Kuster et al. 2002). Wie bei den konventionellen, mit Schrauben nicht voll besetzten Platten beeinflusst die Überbrückungslänge auch bei winkelstabilen Systemen den Verlauf der Frakturheilung. Auch bei winkelstabilen Implantaten ist der wichtigste Faktor, welcher die Frakturbeweglichkeit beeinflusst, die »bridging length«. Mikrobewegungen im Frakturbereich nehmen mit der Steigerung der Überbrückungslänge exponentiell zu.
I
I
Wir empfehlen, 3–5 Schraubenlöcher in der Frakturzone frei zu lassen (Stoffel et al. 2003). Mehr als 3 Schrauben pro Frakturfragment haben keinen weiteren Einfluss auf die Stabilität der Plattenverankerung.
Mit der Entwicklung winkelstabiler Implantate und deren großzügiger Anwendung konnten Frakturen in minimal-invasiver Technik versorgt werden, ohne die Frakturzone zu tangieren. Häufig führen dennoch zu rigide Osteosynthesen, welche die Frakturheilung behindern, zu Materialversagen und Sekundärdislokationen. Winkelstabile Implantate sind insbesondere dort anzuwenden, wo die Schraubenverankerung im Knochen fragwürdig ist, z. B. in osteoporotischem Knochen, bei rheumatoider Arthritis, bei Patienten unter Steroidbehandlung und bei Niereninsuffizienz (Giannoudis u. Schneider 2006). Bei jungen Patienten mit gesundem Knochen und bei einfachen Frakturen ohne Trümmerzone sind die klinischen und biomechanischen Resultate vergleichbar – unabhängig davon, ob herkömmliche Platten oder teurere, winkelstabile Implantate verwendet werden. Bei Trümmerzonen oder bei fehlender transkortikaler Abstützung hingegen sollten winkelstabile Platten Anwendung finden, da die konventionellen Platten der zyklischen Belastung nicht standhalten, was zu Kollaps und Materialversagen führen kann. Bei intraartikulären Frakturen mit metaphysärer Trümmerzone muss der Gelenkblock anatomisch wiederhergestellt und die Reposition durch interfragmentäre Kompression gehalten werden. Tipp
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Lange Platten, wenige Schrauben ▬ »Bridging length«: 3–5 Plattenlöcher freilassen ▬ Keine Zugschrauben durch die Platte ▬ Zugschrauben: plattenunabhängig, Kleinfragmentimplantat (3,5 mm) Schonende Operationstechnik: Periost belassen, Fragmente nicht aus dem Weichteilverbund lösen
> Im gleichen Set-up ist Stahl doppelt so steif wie Titanium.
3.2.2
Plattenosteosynthese: funktionelle Prinzipien der Implantate
Abstützplatte Im meta- und epiphysären Bereich genügen alleinige Zugschrauben bei Spaltfrakturen nicht. Zusätzlich muss eine Abstützplatte oder eine Platte mit »Antigleitfunktion« angebracht werden, um die axiale Kraft aufzufangen und auf das distale Fragment überzuleiten (⊡ Abb. 3.4).
Antigleitplatte Kurze Schrägfrakturen werden – wenn sie sich nicht idealerweise mittels intramedullärem Implantat versorgen lassen – mit Hilfe einer Platte nach dem Antigleitprinzip stabilisiert.
17 3.2 · Die technischen Prinzipien im Detail
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⊡ Abb. 3.4a–d Abstützplatte bei Tibiaplateaufraktur
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Dabei verhindert die Plattenlage in Bezug auf die Frakturebene ein verkürzendes Abgleiten der Fraktur. Die Fragmentspitze wird bei axialer Kompression im Sinne einer Verkürzungstendenz unter der Platte impaktiert und so am Gleiten verhindert (⊡ Abb. 3.5). Ein klassisches Beispiel ist die Versorgung der Weber-B-Fraktur am lateralen Malleolus mit dorsaler Plattenlage (Winkler et al. 1990).
Zugschraube Der Gewindeteil der Schraube fasst nur jenseits der Frakturlinie (transkortikal). Mittels Zugschraube lassen sich 2 Knochenfragmente gegeneinander komprimieren. Dies ist einerseits mittels Schaftschraube (nicht durchgehendes Gewinde) und andererseits mittels Gleitloch, d. h. durch Aufbohren des zum
⊡ Abb. 3.5a–c Dorsale Antigleitplatte, typischerweise bei dorsaler Platzierung zur Versorgung einer Weber-B-Fraktur des lateralen Malleolus (Röntgendarstellung des oberen Sprunggelenks, a.-p. und seitlich)
Schraubenkopf hin gewandten Loches (ciskortikal) auf den Außendurchmesser des Schraubengewindes, möglich (⊡ Abb. 3.6).
Neutralisationsplatte Bei gewissen Frakturverhältnissen lassen sich die auf die Frakturflächen einwirkenden Biege- und Torsionskräfte durch interfragmentäre Kompression (Zugschraube) ausschalten. Zusätzlich werden die Hauptfragmente mittels Neutralisationsplatte verbunden. Die Platte leitet Kräfte vom proximalen auf das distale Fragment und neutralisiert Kräfte im Frakturspalt – sie schützt ihn gewissermaßen. Die Zugschraube kann freistehend oder durch die Platte eingebracht werden (⊡ Abb. 3.7). Wir empfehlen freie Zugschrauben, um die Dynamik der Plattenosteosynthese möglichst wenig zu beeinträchtigen.
3
18
3
Kapitel 3 · Osteosynthesen
90° a
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⊡ Abb. 3.6a–d Prinzip einer 4,5-mm-Gewindekortexzugschraube zur interfragmentären Frakturkompression. a Anatomische Frakturreduktion. Das Gleitloch ist geringfügig weiter als der Gewindedurchmesser der Schraube. Die Schraube wird in einem Winkel von 90° zur Frakturlinie eingebort. b Der passende Bohrführer wird innerhalb des Gleitlochs platziert und das Pilotloch bis zum Durchmesser des Schraubenkerns aufgebohrt. c Verwendung eines Zapfens, um im Pilotloch einen Kanal für das Gewinde zu schneiden und auf diese Weise ein Gewindeloch zu schaffen. Dieser Schritt kann bei Verwendung selbstschneidender Gewindeschrauben ausgelassen werden. d Im Zuge des Vordringens der Schraube greift der Schraubenkopf in den benachbarten Kortex und erzeugt auf diese Weise einen Preload. Das weitere Vordringen der Schraube führt zu einer Kompression der Frakturstelle (interfragmentäre Kompression)
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⊡ Abb. 3.8a,b Überbrückungsplatte am Beispiel einer Femurschaftquerfraktur. Ap Röntgenbild (a) und laterales Röntgenbild (b)
Überbrückungsplatte Diese eignet sich für eine stabile Fixation frakturfern im proximalen und distalen Knochenfragment. Die Frakturzone selbst wird ohne Schraubeneinlage über eine gewisse Distanz überbrückt. Ohne die Fraktur freizulegen und dadurch einen zusätzlichen Weichteilschaden zu verursachen, können Achse, Länge und Rotation erhalten werden. Die Lastübertragung erfolgt anfänglich über die Platte, jedoch ohne Stresskonzentration auf einen sehr kurzen Plattenbereich, da mehrere Plattenlöcher unbesetzt bleiben und Schwingungskräfte sich so auf einen längeren Plattenbereich verteilen (⊡ Abb. 3.8).
Zuggurtung
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⊡ Abb. 3.7a,b Neutralisationsplatte mit plattenunabhängiger Zugschraube am lateralen Malleolus links sowie Zugschrauben am medialen Malleolus
Mit der Zuggurtung sollen die einwirkenden Zugkräfte aufgenommen und in der Gegenkortikalis in axiale Druckkräfte umgewandelt werden. Die Seite, an der Zugkräfte angreifen, ist anatomisch definiert und liegt den Hauptmuskelmassen gegenüber. Durch entsprechendes Platzieren einer Platte auf der Zugseite kann diese Zugkraft der Cis-Kortikalis in eine axiale Kompressionskraft der Transkortikalis umgewandelt werden. Als Beispiel seien hier die laterale Plattenlage am Femur und die Zuggurtungsdrahtosteosynthese der Patella oder des Olekranons (⊡ Abb. 3.9) erwähnt.
19 3.2 · Die technischen Prinzipien im Detail
a
b
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⊡ Abb. 3.9a–c Olecranonfraktur mit Zuggurtungsosteosynthese
! Cave Eine gute kontralaterale ossäre Abstützung ist Voraussetzung, ohne welche mittels Zuggurtung keine Stabilität zu erzielen ist.
Kompressionsplatte Gewisse Platten (DCP, LC-DCP) ermöglichen es dank ovaler Gleitlöcher und einer frakturnahen, exzentrisch eingebrachten Schraube, eine Querfraktur mit intakter Transkortikalis beim Eindrehen unter Kompression zu setzen. Vorteilhaft wird die Platte auf der der Hauptmuskelmasse gegenüber liegenden Seite angebracht. Nach dem Anmodellieren der Platte und dem Aufbieten der Kompression mittels exzentrischer Schrauben bleibt der Frakturspalt unter der Platte unter der vorgespannten Kompression (⊡ Abb. 3.10). Dieses Prinzip wird heute bei dynamischen Plattenosteosynthesen nicht mehr häufig angewendet. Kompressionsplattenosteosynthesen haben v. a. bei der Behandlung von Pseudarthrosen noch ihre Berechtigung.
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MIPO (»minimal invasive plate osteosynthesis«) Diese v. a. dank Winkelstabilität der Schrauben optimierten Implantate ermöglichen in Kombination mit einer Zielvorrichtung ein gedecktes Einschieben der Platte und auf diese Weise eine gewebeschonende Osteosynthese (⊡ Abb. 3.11).
Wellenplatte Die Wellenplatte ist v. a. zur Behandlung von Femurpseudarthrosen entwickelt worden. Sie hebt sich im Bereich der Pseudarthrose wellenförmig ab und wird am proximalen sowie am distalen Schaft verschraubt (⊡ Abb. 3.12). Spongiosa oder ein kortikaler Span lässt sich lateral unter der Platte einbringen. Die lokale Durchblutung wird geschont (Blatter u. Weber 1990).
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⊡ Abb. 3.10a–c Prinzip der Kompressionsplatte am Beispiel der »low contact dynamic compression plate« (LC-DCP). Nach dem Einsetzen einer Kompressionsschraube lässt sich nur noch eine weitere Schraube mit Kompressionsfunktion in dasselbe Fragment einsetzen. Ein Verschieben der Platte presst die erste Kompressionsschraube gegen die Seite des Schraubenlochs und verhindert weitere Bewegungen. Beim Anziehen der zweiten Schraube muss die erste Schraube gelöst werden, um ein Gleiten der Platte auf dem Knochen zu ermöglichen, wonach das erneute Anziehen der Schraube durchführbar ist
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⊡ Abb. 3.11a–f »Minimal invasive plate osteosynthesis« (MIPO). Minimal-invasiv eingebrachte, lange winkelstabile Platte am Unterschenkel
3.2.3
Winkelstabile Implantate
Die feste Verbindung zwischen Schraubenkopf und Plattenloch hat den nachteiligen beweglichen Sitz der Schrauben in den herkömmlichen Osteosyntheseplatten behoben. Ein starker Anpressdruck der Platte an den Knochen zum Erreichen einer stabilen Montage entfällt. Das winkelstabile Implantat stellt einen Rahmen im Sinne eines Fixateur interne dar. Die Kno-
chendurchblutung unter der Platte ist nur minimal kompromittiert. Die Implantate erlauben eine standardisierte, anatomische Formgebung der Platten, welche der Knochenoberfläche nicht exakt anmodelliert werden müssen. Beispiele für derartige Implantate sind LISS- (»less invasive stabilizing system«; Frigg et al. 2001), PHILOS- und LCP-Plattensysteme (LCP: »locking compression plate«). Solche Implantate bewähren sich v. a. an osteoporotischem Knochen.
21 3.2 · Die technischen Prinzipien im Detail
»Locking compression plate« (LCP) Eine Weiterentwicklung der herkömmlichen winkelstabilen Implantate ist die »locking compression plate« (LCP; ⊡ Abb. 3.13). Sie ermöglicht die Kombination einer Kompression im ovalen Gleitanteil mit einer winkelstabilen Verriegelung im gewindetragenden Anteil des Plattenlochs (⊡ Abb. 3.3; Abb. 3.10).
»Non-contact bridging plate« (NCB) Die logische Weiterentwicklung der Verriegelung des Schraubenkopfes in der Platte in einer einzigen, fest vorgegebenen Richtung ist ein Implantat, welches eine polyaxiale Schraubenposition erlaubt und bei dem die Verriegelung an die Platte sekundär erfolgt (⊡ Abb. 3.14). Vor der Verriegelung wirken die axial beweglichen Schrauben als Zugschrauben und können so auch als Repositionsinstrument genutzt werden. Dieses Prinzip basiert auf bekannter, standardisierter Operationstechnik. Zielvorrichtungen ermöglichen auch hier ein minimal-invasives Vorgehen (⊡ Abb. 3.11).
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⊡ Abb. 3.12a,b Wellenplatte
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⊡ Abb. 3.13a–f Winkelstabile Plattenosteosynthese mittels »locking compression plate« (LCP): laterale LCP-Plattenosteosynthese einer Tibiafraktur. a, b Unfallbild einer distalen Unterschenkelfraktur; c, d postoperatives Bild; e, f Kontrolle nach 10 Monaten
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Kapitel 3 · Osteosynthesen
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⊡ Abb. 3.14a–c Winkelstabile Osteosynthese (»non-contact bridging plate«, NCB): divergierende, winkelstabile Schraubenlage im Humeruskopf
3.2.4
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Marknagelung
Marknagelosteosynthesen eignen sich zur Versorgung von Frakturen im diaphysären Bereich der langen Röhrenknochen. Seit der Verfügbarkeit neuer winkelstabiler Platten (Fixateur interne), die sich besonders bei metaphysären Frakturen bewähren, entsteht in der proximalen und distalen metadiaphysären Übergangszone zwangsläufig eine überlappende Grauzone, wobei sowohl ein Marknagel als auch eine winkelstabile Platte zu erwägen ist (⊡ Abb. 3.15). Marknagelosteosynthesen haben sich dank winkelstabiler Verriegelungen auch außerhalb der Diaphyse in den metaphysären Zonen etabliert. Verriegelungsbolzen an beiden Nagelextremitäten ermöglichen das Halten der Reposition. Ein »Scheibenwischereffekt« kann verhindert werden. Es bestehen Verriegelungsmöglichkeiten in verschiedenen Ebenen, was eine individuellere Anpassung an die jeweilige Fraktur erlaubt.
Entwicklung der Marknagelosteosynthesetechniken Die Marknagelosteosynthese hat sich bei der Behandlung von Frakturen langer Röhrenknochen bewährt. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wurde versucht, Frakturen mittels nagelartiger Implantate aus Elfenbein oder Knochenfragmenten intramedullär zu stabilisieren (Hey-Groves 1914). Gerhard Küntscher stellte erstmals 1940 seinen geschlitzten, nicht verriegelten Rohrnagel aus Metall vor (Bick 1968). Ebenfalls als intramedulläre Kraftträger funktionieren »rush pins« und »Lottes‘ nails«. Diese »loose fitting« Marknägel konnten jedoch weder ein Teleskopieren noch eine Rotation der Fragmente verhindern (Rush 1968). Um diese Mängel zu beheben, wurden weitere Implantate entwickelt, beispielsweise die »Bündelnagelung«, bei der mehrere Drähte zur Stabilisierung von Humerusfrakturen in die Markhöhle eingebracht wurden (Hackethal 1963). Zudem wurden zur Versorgung hüftnaher Frakturen 3 vorgebogene Rundnägel oberhalb des medialen Femurkondylus bis in den Schenkelhals frakturüberbrückend fächerförmig vorgetrieben (Ender 1970). Ferner entwickelte man flexible intramedulläre Kraftträger (Ligier et al. 1983). Obwohl das Knochenmark ursprünglich
⊡ Abb. 3.15 Indikationszonen für Marknagel- und Plattenosteosynthesen
als unantastbar galt, erwies sich die Entwicklung geeigneter Systeme als sehr erfolgreich. Der Nageldurchmesser, die Kontaktfläche zwischen Knochen und Marknagel sowie die Schlitzung des Hohlnagels wurden als entscheidende Faktoren zum Erzielen einer stabilen Montage, v. a. einer Rotationsstabilität, betrachtet. Nagelform und -durchmesser werden mittels Markraumbohrung aufeinander abgestimmt.
23 3.2 · Die technischen Prinzipien im Detail
Die Markraumbohrung ist indessen nicht gefahrlos, denn es können sich mehrere unerwünschte Folgen ergeben (Klein et al. 1990; Paar et al. 2000; Trueta u. Cavadias 1955): ▬ erheblicher intramedullärer Druckanstieg ▬ Temperatursteigerung ▬ Knochennekrose ▬ Kompromittierung der medullären Durchblutung Erst die Entwicklung teils winkelstabiler Verriegelungsbolzen konnte die Indikationsbreite der Marknagelung auf den heutigen Stand bringen. So ließen sich schließlich proximalere sowie auch distalere Frakturen und v. a. Trümmerfrakturen mittels verriegeltem Marknagel stabilisieren. Für Querfrakturen kann primär eine dynamische Verrieglung mittels eines Schlitzlochs, welches ein axiales Gleiten eines der Fragmente über den Nagel ermöglicht und somit eine Kompression im Frakturspalt erzielt, angewendet werden. Bei verzögerter Frakturheilung lässt sich dieses Prinzip auch sekundär anwenden. Um die erwähnten Gefahren der Markraumbohrung zu vermeiden und die medulläre Durchblutung bei komplexen Frakturen mit ausgedehnter Weichteilschädigung zu schonen, wurden unaufgebohrte solide Nägel entwickelt. > Der Marknagel wirkt als intramedullärer Kraftträger, welcher im Gegensatz zur exzentrisch gelegenen Plattenosteosynthese eine idealere, zentralere Lastübernahme zeigt. So kann primär eine höhere Belastbarkeit erreicht werden.
Aufgebohrter Nagel Die Markraumbohrung erlaubt den Einsatz von Nägeln mit größerem Durchmesser, die infolgedessen über eine längere Strecke kortikalen Kontakt finden. Sie sind bei einfachen Frakturen mit nur geringem Weichteilschaden indiziert. Ihre Anwendung bei offenen Frakturen bringt jedoch eine hohe Infektionsrate von bis zu 21 % mit sich (Wiss u. Stetson 1995). Nicht zu vernachlässigen ist auch der im kanülierten Nagel bestehende Totraum, welcher einen quasi geschützten Besiedlungsraum für Bakterien darstellt. Ein weiteres Infektionsrisiko dieser Art der Marknagelung ist die Schädigung der intramedullären Durchblutung, welche bereits traumatisch und zusätzlich durch die Markraumbohrung gestört wird. An einem Tiermodell ließ sich zeigen, dass sich die medulläre Durchblutung erst nach 8–12 Wochen wieder normalisiert (Schemitsch et al. 1994). Beim Bohrvorgang entwickelt sich Hitze, welche zu Knochennekrosen und zusätzlicher Schädigung der Weichteile führen kann. Daher ist zu empfehlen, während des Aufbohrens die Blutsperre zu öffnen, damit über die Blutzirkulation Hitze abgeführt werden kann (Leunig u. Hertel 1996). Vor allem sollte man unter intensiver Wasserkühlung aufbohren. Die intramedulläre Druckerhöhung stellt ein weiteres Problem dar. Diese kann Folge des Aufbohrens, aber auch des Vorschieben des Nagels sein. Es wurden beim Aufbohren intramedulläre Drücke von bis zu 1500 mmHg gemessen (Sturmer u. Schuchardt 1980). Das Design des Bohrkopfs kann das Ausmaß der Drucksteigerung beeinflussen.
Die Ausschwemmung gerinnungsaktiver Faktoren (Bohrmehl, Markraumfett) in die Blutbahn stellt eine weitere Folge der Markraumbohrung dar. Eine respiratorische Insuffizienz bis hin zum »acute respiratory distress syndrome« (ARDS) ist eine mögliche Konsequenz. Das Einbringen des Marknagels in den Markraum nach Markraumbohrung kann zu einem Druckanstieg von bis zu 150 mmHg führen (Wenda et al. 1988). Selbst bei unaufgebohrten Marknägeln beträgt die intramedulläre Drucksteigerung max. 600 mmHg. Daher kann es auch hier zur Ausschwemmung gerinnungsaktiver Faktoren kommen. Operationstechnisch erfolgt das Aufbohren des Markraums über einen Führungsdraht mit distaler Verdickung (Olive), welche das Weggleiten der Bohraufsätze im Markkanal verhindert. Nach Auswechseln des Bohrdrahts durch einen Führungsdraht ohne Olive wird der kanülierte Nagel in den Markraum eingeschlagen. Die aufgeführten Risiken der Markraumbohrung und der Nagelung sind der Grund, weshalb diese Technik bei polytraumatisierten Patienten sehr kontrovers diskutiert wird (Giannoudis et al. 1998; Pape et al. 1999; Wenda et al. 1993). Im europäischen Raum ist eine postprimäre definitive Stabilisation nach initialem Fixateur externe bei polytraumatisierten Patienten mit insbesondere pulmonalem Trauma akzeptiert (Pape et al. 2002). In den USA wird hingegen auch bei polytraumatisierten Patienten weiterhin eine primäre definitive Marknagelosteosynthese propagiert (Bosse et al. 1997). Interessant ist das Ergebnis einer prospektiven, randomisierten Multicenterstudie, die das Auftreten eines ARDS nach Femurmarknagelung untersuchte: Es konnte kein Unterschied der ARDS-Inzidenz zwischen der aufgebohrten und der unaufgebohrten Gruppe festgestellt werden (Society 2006). Tipp
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Wenn eine Nagelung an einem intakten Knochen zu erfolgen hat (Rotationsosteotomie), sollte distal ein Bohrloch zur Druckentlastung angebracht werden.
Unaufgebohrter Nagel Der unaufgebohrte Marknagel ist ein intramedullärer, solider Kraftträger mit einem dünneren Durchmesser als jener von Hohlnägeln. Von Vorteil sind im Vergleich zum aufgebohrten Marknagel (Hupel et al. 1998): ▬ reduzierte Druckspitzen ▬ keine Hitzeentwicklung ▬ keine Nekrosebildung ▬ weniger intramedulläre Durchblutungsstörungen Der unaufgebohrte Marknagel kommt v. a. bei der Versorgung komplexerer Frakturen mit ausgedehnterem Weichteilschaden sowie bei mehrfachverletzten Patienten zur Anwendung. Der Nagel wird nach Eröffnung des Markraums direkt an einem Zielbügel montiert eingebracht. Dieses Manöver muss ebenfalls sorgfältig und ohne zu forcieren schrittweise erfolgen, da intraoperative intramedulläre Druckspitzen von bis zu 600 mmHg gemessen wurden.
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Kapitel 3 · Osteosynthesen
»Clou élastique« (Prévot-Nagel)
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Die intramedulläre Schienung mittels kleinvolumiger, elastischer Nägel eignet sich besonders für die Versorgung kindlicher Frakturen mit offenen Wachstumsfugen. Die Fraktur bleibt unangetastet. Sie wird mittels metaphysär, frakturfern eingebrachten, vorgebogenen Nägeln, die sich intramdeullär doppelt kreuzen, stabilisiert (⊡ Abb. 3.16). Die Epiphysen werden nicht angetastet. Die Nägel stützen sich an 3 Punkten ab: ▬ Kortikalis der Eintrittsstelle ▬ Kortikalis auf Frakturhöhe ▬ proximales Fragment Gelingt die Reposition mit 2 Nägeln nicht, muss selten ein dritter Nagel eingebracht werden. Bleibt die Fehlstellung bestehen, ist die Methode fehlindiziert.
Technische Fehler
▬ Kreuzung der Nägel auf Höhe der Fraktur (zu vermeiden) ▬ Verwendung unterschiedlicher Nageldurchmesser ▬ zu geringer Nageldurchmesser (sollte 1/3 des intramedullären Durchmessers betragen)
▬ Repositionshindernis/Weichteilinterposition ▬ Achsabweichungen, v. a. Rotationsfehler
Implantat
Die Prévot-Nägel bestehen aus Titan und haben einen Durchmesser von 1,5–4 mm mit Intervallen von 0,5 mm. Sie wer-
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den gerade, mit einer schnabelartigen, um 45° gekrümmten, abgeflachten Spitze geliefert. Der Markraum wird an der gewünschten Stelle mittels eines Pfriemes eröffnet, sodass sich die vorgebogenen Nägel unter Bildwandlerkontrolle vorschieben lassen. An der Eintrittsstelle ragen die Nägel über die Kortikalis hinaus, sodass die Entfernung problemlos erfolgen kann. Je nach operierter Lokalisation werden die Nägel nach 2–8 Monaten entfernt. Nachbehandlung
In der Regel ist keine zusätzliche Ruhigstellung im Gips notwendig. Es erfolgt eine schmerzadaptierte Mobilisation an Gehstöcken, sofern dies altersbedingt möglich ist.
Komplikationen nach Marknagelosteosynthesen »Anterior kneepain« Im Bereich der Nageleintrittsstelle kommt es an der Tibia in >60 % der Fälle zur »anterior kneepain« (vorderer Knieschmerz). Nach der Metallentfernung kann eine Besserung eintreten. Als häufigste Gründe werden der transligamentäre Zugang, die Wahl des Nageleintrittspunkts und das Hervorstehen des proximalen Nagelendes angegeben. Obwohl kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen para- und transligamentärem Zugang nachweisbar war (Katsoulis et al. 2006), wird dieses Thema weiterhin kontrovers diskutiert. Wir bevorzugen den paraligamentären Zugang zum ventralen Tibiakopf. Als Zielhilfe für den Nageleintrittspunkt dient die gut tastbare ventrale Tibiakante. Im seitlichen Strahlengang liegt dieser
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⊡ Abb. 3.16a–e Prévot-Nagel. Verlauf vom Unfallbild bis zur schönen Kallusbildung
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25 3.2 · Die technischen Prinzipien im Detail
Punkt direkt an der Schulter zwischen Plateau und Schaft. Ist der Nagel zu lang gewählt oder ungenügend unter Niveau eingeschlagen, kann er insbesondere im Verlauf einer Dynamisierung proximal hervortreten.
Malunion Marknagelosteosynthesen im metaphysären Bereich der Tibia, welche geschlossen reponiert werden, zeigen eine Malunionrate von bis zu bis 84 %. In diesem Bereich dominieren v. a. Flexions- und Extensionsfehlstellungen. Rotationsfehlstellungen im Schaftbereich werden bei der Marknagelung eher intraoperativ übersehen als bei der Plattenosteosynthese. Um diese Fehlstellungen möglichst zu eliminieren, gilt es bereits bei der Lagerung, die Gegenseite unter Bildwandlerkontrolle mit zu beurteilen. Falls möglich sollten die anatomischen Landmarken (Patella, Malleolengabel, Trochanter major, Trochanter minor) kontrolliert werden. Sofern keine Trümmerfraktur besteht, lässt sich die Rotation anhand der Kortikalisdicke bzw. des Durchmessers des Markraums am proximalen und distalen Fragment approximativ kontrollieren. Schließlich bleibt postoperativ die Gelenkbeweglichkeit zu überprüfen, welche v. a. nach Femurmarknagelung einen Rotationsfehler aufdecken könnte.
Nonunions Bezüglich der Nonunions wird auf Kap. 19.6.8 verwiesen.
Kompartmentsyndrom Vor allem bei Unterschenkelfrakturen, bei denen bereits traumatisch bedingt ein Risiko von bis zu 10 % für das Auftreten eines Kompartmentsyndroms besteht, kann dieses Risiko durch eine Marknagelosteosynthese noch erhöht werden. Bei geschlossener Reposition bleibt die Faszie intakt. Die Marknagelosteosynthese bedeutet gegenüber der offenen Reposition ein höheres Risiko für ein Kompartmentsyndrom. Eine postoperative Kompartmentdrucküberwachung während der ersten 24 h ist daher unerlässlich ( Kap. 19.6.2).
Fettembolien Fettembolien können unfallbedingt (Fraktur, Weichteilverletzung) oder bei Marknagelung (aufgebohrt, unaufgebohrt) auftreten und kumulieren. Eine Fettausschwemmung wird bei Traumapatienten in bis zu 90 % der Fälle beobachtet (Palmovic u. McCarroll 1965). Lediglich 1–5 % dieser Patienten entwickeln jedoch ein Fettemboliesyndrom mit respiratorischer Insuffizienz (ARDS; Peltier and Sevitt 1970). Die Versorgung polytraumatisierter Patienten mit Frakturen der langen Röhrenknochen (v. a. Femurfrakturen) in Kombination mit Thoraxverletzungen erfolgt weiterhin uneinheitlich. Im deutschsprachigen Raum wird eine Primärstabilisation mittels Fixateur externe empfohlen (»damage-control orthopaedics«; Pape et al. 2002, 2003; Scalea et al. 2000), im angelsächsischen Raum hingegen die definitive Stabilisation mittels Marknagel (unaufgebohrt oder bevorzugt aufgebohrt; Bone et al. 1989; Charash et al. 1994; Riska et al. 1976; Robinson 2001; White et al. 2004) propagiert.
Infektionen Geschlossene Marknagelosteosynthesen sind in bis zu 4 % der Fälle mit Infektionen belastet (Williams et al. 1995). Offene Frakturen sind mit einer Häufigkeit von bis zu 60 % mit Bakterienflora aus dem Unfallort kontaminiert (Gustilo u. Anderson 1976). So erstaunt es nicht, dass die Infektionsinzidenz mit zunehmendem Schweregrad ansteigt und dass für Grad lllB sowie Grad IIIC eine Inzidenz von bis zu 50 % möglich ist (Holtom u. Smith 1999). Die Frage, wie weit die Indikation für unaufgebohrte, solide Marknägel bei offenen Grad-lllA-Frakturen zu stellen ist, wird noch kontrovers diskutiert (Finkemeier et al. 2000; Gaebler et al. 2001; Haas et al. 1993; Joshi et al. 2004; Keating et al. 2000). Offene Frakturen bis Grad ll können bei genügender Weichteildeckung definitiv mittels Marknagel oder Platte versorgt werden.
3.2.5
Fixateur externe
Allgemeine Prinzipien Der Fixateur externe stabilisiert Knochenfragmente in der gewünschten Position, indem diese mittels perkutan eingebrachter Gewindestifte (Pins) ohne Freilegung an externen, längs verlaufenden Stäben (aus Carbon oder Stahl) mittels Gewindebacken fest verankert werden. Der Fixateur externe dient v. a. der gewebeschonenden notfallmäßigen Primärversorgung (⊡ Abb. 3.17). Unkomplizierte Frakturen, Querfrakturen und Osteotomien können mittels Fixateur externe definitiv ausbehandelt werden. Im Verlauf der Frakturheilung kann sich eine Dynamisierung des Systems (stärkere axiale Kompression auf den Frakturspalt) als notwendig erweisen. Dies ist insbesondere beim Monotube-Fixateur sehr einfach durchzuführen.
Eigenschaften der Fixateur-externe-Osteosynthese
▬ Vorteile: – Schonung der Knochendurchblutung und des Weichteilmantels – Primärbehandlung offener Frakturen – Versatilität der Steifigkeit je nach Fixateur-Montage – Behandlungsalternative bei Weichteil-/Knocheninfektionen (d. h. Verlassen der Platten- oder Marknagelosteosynthese) ▬ Nachteile: – Pin-Track-Infektionen und -Lockerungen (in bis zu 50 % der Fälle; Henley et al. 1998) – eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit (z. B. am lateralen Femur durch Fixierung des Tractus iliotibials) – sperrig und nicht immer gut toleriert – limitierte maximale Stabilität/Steifigkeit
Die Steifigkeit der Fixateur-externe-Montage hängt von dessen Anordnung, der Anzahl und Position der Pins und Querstreben sowie dem Durchmesser der Pins ab (Chao et al. 1989).
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Kapitel 3 · Osteosynthesen
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⊡ Abb. 3.17a–d Präliminäre Frakturstabilisation mittels Fixateur externe
Beeinflussbarkeit der Steifigkeit eines Fixateur externe (⊡ Abb. 3.18; Chao et al. 1989)
▬ Distanz der Pins: – von der Frakturlinie (a in ⊡ Abb. 3.18): je näher, desto stabiler (exponentieller Zusammenhang) – in den Hauptfragmenten (b in ⊡ Abb. 3.18): je weiter auseinander, desto stabiler ▬ Distanz der Streben: Distanz zum Knochen in der Längsachse (c in ⊡ Abb. 3.18): je näher, desto stabiler ▬ Anzahl der Streben: 2 Streben stabiler als eine einzelne ▬ Fixateur-Konfiguration: – unilateral – V-förmige Anordnung – bilateral – trianguläre Anordnung
Fixateur-Typen
⊡ Abb. 3.18 Beeinflussbarkeit der Steifigkeit eines Fixateur externe (vgl. Übersicht)
Es werden folgende Fixateur-Typen unterschieden: ▬ Pin-Fixateur ▬ Ring-Fixateur (Ilizarow-Fixateur) ▬ Hybrid-Fixateur mit Pins und Draht/Ring ▬ Pinless-Fixateur ▬ Monotube-Fixateur
27 Literatur
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3
Kapitel 3 · Osteosynthesen
dullary pressure in marrow cavity reaming (author’s transl)]. Unfallheilkunde 83: 346–352 Trueta J, Cavadias AX (1955) Vascular changes caused by the Kuntscher type of nailing; an experimental study in the rabbit. J Bone Joint Surg Br 37-B: 492–505 Weber B (2004) Minimax fracture fixation. Case collection: Lower leg, ankle joint, nonunions, autogenous bone transplantation. Thieme, Stuttgart New York Wenda K, Ritter G, Degreif J, Rudigier J (1988) [Pathogenesis of pulmonary complications following intramedullary nailing osteosyntheses]. Unfallchirurg 91: 432–435 Wenda K, Runkel M, Degreif J, Ritter G (1993) Pathogenesis and clinical relevance of bone marrow embolism in medullary nailing – demonstrated by intraoperative echocardiography. Injury 24 (Suppl. 3): S73–S81 White TO, Jenkins PJ, Smith RD, Cartlidge CW, Robinson CM (2004) The epidemiology of posttraumatic adult respiratory distress syndrome. J Bone Joint Surg Am 86-A: 2366–2376 Williams J, Gibbons M, Trundle H, Murray D, Worlock P (1995) Complications of nailing in closed tibial fractures. J Orthop Trauma 9: 476–481 Winkler B, Weber BG, Simpson LA (1990) The dorsal antiglide plate in the treatment of Danis-Weber type-B fractures of the distal fibula. Clin Orthop Relat Res 259: 204–209 Wiss DA, Stetson WB (1995) Unstable fractures of the tibia treated with a reamed intramedullary interlocking nail. Clin Orthop Relat Res 315: 56–63
4
Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung H.A.C. Jacob
4.1
Einleitung
4.1.1 4.1.2
Das Wolff-Gesetz – 30 Belastungsarten – 30
4.2
Festigkeit und Elastizität – 31
4.2.1 4.2.2 4.2.3
Grundlegende Gesetze – 31 Materialverhalten – 35 Elastische Verformung unter Last
4.3
Mechanische Beanspruchung des Knochens
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Allgemeines – 42 Zum mechanischen Aufbau des Knochens am Beispiel des proximalen Femurs – 42 Innere Beanspruchung des Knochens am Beispiel des proximalen Femurs – 43 Beeinflussung des physiologischen Belastungsmusters des Knochens durch Endoprothesen – 44
4.4
Schlussbemerkungen Literatur
– 30
– 39
– 45
– 45
Kleines Glossar – 45
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 42
4
30
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
4.1
Einleitung
4.1.1
Das Wolff-Gesetz
Bereits 1892 wurde durch Julius Wolff festgehalten, dass der lebende Knochen seine äußere Form, seine innere Architektur und seine Festigkeit stets auf die einwirkende mechanische Beanspruchung einstellt. Sein Gesetz der Transformation der Knochen (Wolff 1892) wurde ursprünglich durch die Beobachtung der »mathematisch wohlmotivierten Umwandlung sowohl der inneren Architectur, als auch der äusseren Form der Knochen«, welche in der Folge pathologischer Störungen der Inanspruchnahme des Knochens (Frakturen, Muskeldysfunktion etc.) auftrat, begründet. Er berichtete aber auch von absichtlich herbeigeführten, nicht durch pathologische Verhältnisse erzeugten Abänderungen der statischen Inanspruchnahme der Knochen, die zur Umwandlungen der Form und der Architektur des Knochens führten. Zusammenfassend stellte Wolff fest: »Alle Stoffzunahme des Knochens und aller Schwund von Knochensubstanz ist ausschliesslich von den statischen Bedingungen abhängig, unter welchen der Knochen sich befindet.« Obwohl die Suche nach dem »Agens«, welches die Inanspruchnahme des Knochens erkennt und die Stoffzunahme oder den Schwund von Knochensubstanz steuert, heute noch mit unver-
mindertem Eifer andauert, ist das beobachtete osteoblastische bzw. osteoklastische Verhalten von Knochen in Abhängigkeit von der einwirkenden mechanischen Belastung unbestritten (⊡ Abb. 4.1). Dies kommt nicht nur durch eine deutliche Veränderung der im Röntgenbild sichtbaren äußeren knöchernen Konturen zum Ausdruck, sondern auch in der Zu- oder Abnahme der Dichte des Knochens. Versteht man die Kortikalis als eine besonders dichte Form der Spongiosa, kann man im entsprechenden Fall von einer »Spongiosierung« der Kortikalis sprechen. Umgekehrt ist infolge zunehmender Beanspruchung des Knochens eine zunehmende Verdichtung der Spongiosa am Übergang zur Kortikalis zu beobachten, was der Zunahme der Kortikalisschichtdicke gleichkommt. Subtile Dichteveränderungen des Knochens lassen sich jedoch nicht immer erkennen. Wird dem Knochen, z. B. durch externe oder interne Schienen, über längere Zeit die physiologische Belastung (Inanspruchnahme) entzogen, kommt es zur Inaktivitätsatrophie – Knochenschwund im Sinne des Wolff-Gesetzes. > Vor allem in Zusammenhang mit Implantaten ist es von größter Bedeutung, dass der Knochen in der unmittelbaren Umgebung des Implantats weiterhin eine möglichst physiologische Belastung erfährt, damit dem Knochen seine Form und seine innere Architektur erhalten bleiben.
4.1.2
⊡ Abb. 4.1 Knochenumbau entsprechend veränderter mechanischer Inanspruchnahme. Knochenschwund im Bereich der Tibia nach Pseudarthrose mit kompensatorischer Hypertrophie der Fibula
Belastungsarten
Um sich ein genaueres Bild über die Belastung eines Knochens machen zu können, muss »Belastung« näher definiert werden. Es kann sich um eine Zug-, Druck-, Schub-(Scher-), Biege- oder Dreh-(Torsions-)Beanspruchung handeln, am häufigsten aber um eine Kombination. Die Belastung entsteht durch Kräfte, die sowohl über die zugehörigen Gelenkflächen (Gelenkresultierenden) als auch über die Muskel- und Ligamentinsertionen eingeleitet werden. Im Allgemeinen handelt es sich um Kräfte, welche benötigt werden, um einer externen Kraft entgegenzuwirken bzw. um Gelenke unter der Einwirkung der Körperschwere zu stabilisieren. Als Beispiel ist auf die monumentale Arbeit von F. Pauwels (1935) hinzuweisen, die den Berechnungsvorgang zur Bestimmung der Hüftgelenkkraft im Einbeinstand beschreibt. Dabei spielen die gelenkstabilisierenden Muskeln eine wesentliche Rolle, da sie etwa das 2fache des Gesamtkörpergewichts (genauer: ungefähr das 3fache des zu tragenden Körperabschnitts, denn vom Gesamtkörpergewicht wird das Gewicht des Standbeins abgezogen) an Kraft aufbringen müssen. Das Hüftgelenk selbst wird sowohl mit der Muskelkraft als auch mit dem Gewicht des zu tragenden Körperteils belastet. Damit ergibt sich eine Gelenkresultierende in der ungefähren Höhe des 3fachen Gesamtkörpergewichts. Als allgemein gültige Regel gilt der 1685 von Borelli anhand einfacher Hebelgesetzen aufgestellte Lehrsatz: Die gelenkstabilisierende Muskelkraft – und damit auch die Gelenkresultierende – ist stets größer als die externe, auszugleichende Kraft. Die vektorielle Summe der Muskelkraft und des Gewichts des zu tragenden Körperabschnitts ergibt eine Gelenkresultierende
31 4.2 · Festigkeit und Elastizität
mit einer räumlichen Richtung, die näher an die Richtung der stabilisierenden Abduktoren heranreicht als an die Richtung der senkrecht wirkenden Schwerkraft (⊡ Abb. 4.2). Im Beispiel des im Einbeinstand belasteten proximalen Femurendes (⊡ Abb. 4.2) steht der Femurkopf praktisch nur unter Druckbelastung, während der Schenkelhals einer starken Biegung sowie einer Druck- und Scherbelastung unterworfen ist. Der Trochanter major hingegen ist infolge Zugkraft der an dieser Stelle inserierenden glutäalen Muskeln einer erheblichen Zugbelastung ausgesetzt. Je nach Richtung der Schnittebene kann jedoch vorwiegend eine Scherbelastung auftreten (⊡ Abb. 4.2). Der gesamte diaphysäre Röhrenknochen des Femurs wird durch eine starke Biegebelastung (linear nach distal abnehmend) in der Frontalebene beansprucht. Werden Rumpf und Becken um eine vertikale Achse gedreht, während der Standfuß am Boden fixiert bleibt, tritt eine Torsionsbeanspruchung des Femurschafts hinzu. Dies tritt beispielsweise beim Treppensteigen auf. Es ist nicht Gegenstand dieses Kapitels, im Detail auf die Belastung der Gelenke einzugehen. Das Beschriebene dient lediglich dazu, auf diverse Belastungsarten hinzuweisen, denen ein Knochen physiologisch ausgesetzt ist. Die Voraussetzung für jede erfolgreiche therapeutische Behandlung eines Knochenbruchs oder Gelenkleidens ist eine fundierte Kenntnis der physiologischen Belastung des Knochens. Sobald Fremdma-
R
Z Q
N
Mb2
N2 Q2
N1
Mt3 N
Q1 Mb3
M
⊡ Abb. 4.2 Beanspruchung des proximalen Femurs im Einbeinstand. G Körpergewicht; M Moment; Mb Biegemoment; Mt Torsionsmoment; N Normalkraft; Q Scherkraft; R ≅ 3 G; Z ≅ 2 G
terialien mit dem vitalen Knochen in Verbund gebracht werden, ist das elastische Verhalten aller beteiligten Materialien in Betracht zu ziehen, damit die gewünschte Kraftverteilung zwischen Knochen und Implantat gewährleistet wird. Durch ein ungünstiges elastisches Verhalten kann ein gegenseitiges Gleiten entlang der Kontaktflächen entstehen, welches zu einem Materialabrieb führt. Implantate müssen hinsichtlich ihrer Festigkeit sorgfältig geprüft werden, da sie weder im Sinne des Wolff-Gesetzes eine Gestaltänderungsfähigkeit besitzen, um der auferlegten Beanspruchung gerecht zu werden, noch »selbstheilend« sind. Bei der Auswahl eines Implantats (Endoprothese oder Osteosynthesematerial) ist es zudem erforderlich, dass der Operateur in der Lage ist, sowohl die bevorstehende Beanspruchung des Implantats als auch die Langzeitauswirkung auf den vitalen Knochen abzuschätzen. Die folgende Abhandlung befasst sich mit diesem Aspekt.
4.2
Festigkeit und Elastizität
4.2.1
Grundlegende Gesetze
Allgemeines Bereits in der Einleitung wurden diverse Arten von Belastung erläutert: Zug-, Druck-, Biegungs-, Scher- oder Schubbelastung, Verdrehung oder Torsion. Dazu kommt eine weitere: die Knickung. Knickung entsteht, wenn lange, schlanke Säulen unter axialem Druck beansprucht werden (z. B. die Wirbelsäule). Daher sind es zunächst 6 einfache Belastungsarten, die einzeln oder in Kombination auftreten können. Wird ein Körper durch äußere Kräfte beansprucht, entsteht im Werkstoff des Körpers ein innerer Widerstand, der mit den äußeren Kräften im Gleichgewicht steht. Dieser innere Widerstand wird als Spannung bezeichnet. Jede der bereits erwähnten Belastungsarten ruft im belasteten Körper ein charakteristisches Spannungsbild hervor. In der Materialkunde ist die gebräuchliche Maßeinheit für Spannung N/mm2. Auch die internationale Einheit, das Pascal (1 Pa = 1 N/m2) wird verwendet. Dabei ist 1 N/mm2 = 1 MPa. Materialspannungen beziehen sich immer auf eine Schnittebene durch den belasteten Körper. Wirken Spannungen senkrecht zur Schnittebene, spricht man von »Normalspannungen«, welche entweder Zug (+σ) oder Druck (–σ) auf die Ebene übertragen. Liegen die Spannungen in der Schnittebene, handelt es sich um Scher- oder Schubspannungen (τ). Im gleichen Sinne werden alle senkrecht zur Schnittebene einwirkenden Kräfte »Normalkräfte« und solche, die parallel zur Schnittebene auftreten, »Scherkräfte« genannt. ! Cave Spannungen sind keine vektoriellen Größen. Trotz Betrag und Richtung dürfen sie – im Gegensatz zu Kräften – nicht wie Vektoren behandelt werden.
Eine elastische Verformung eines Körpers unter Belastung findet immer statt, vorausgesetzt die erzeugten Spannungen im Inneren des Körpers überschreiten die Elastizitätsgrenze des Werkstoffs nicht ( Kap. 4.2.2, Abschnitt »Spannungs-DehnungsDiagramm«). Seit Hooke (1678) wurde stets experimentell nach-
4
32
4
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
gewiesen, dass sich Bauteile jeglicher Form unter Last verformen (strecken, auslenken, durchbiegen etc.) und dass die Last sowie die dadurch resultierende Verformung sich direkt proportional zueinander verhalten, und zwar bis zu einer gewissen Grenzlast. Wird die Grenzbelastung überschritten, bleibt nach Entfernung der Last eine Restverformung zurück. Dass sich Körper gleicher Abmessungen, aber aus unterschiedlichen Werkstoffen unter der gleichen Belastung anders verformen, war ebenfalls lange bekannt. Dies im Voraus jedoch zu berechnen, benötigt die Kenntnis der mathematischen Theorie der Elastizität – eine Disziplin, die erst durch Coulomb und Navier um etwa 1800 entstand. Daher basieren die Festigkeitslehre und die Elastizitätslehre sowohl auf experimentellen Ergebnissen als auch auf abstrakten mathematischen Überlegungen. Die »Spannung« beispielsweise ist keine physikalische Gösse – sie ist ein Abstraktum, ein mathematisches Konzept. Die Spannung selbst kann nicht gemessen werden, nur ihre Begleiterscheinungen. Es folgt nun eine Beschreibung der Spannungen, die im Rahmen der bereits erwähnten 6 elementaren Belastungsarten auftreten. Am einfachsten lassen sich die Spannungen in einem runden Stab unter Belastung darstellen. Auch in der Praxis hat sich der Rundstab – der Querschnittsymmetrie wegen – als Prüfkörper etabliert. In gewissen Fällen (beispielsweise Träger unter Biegebelastung) lassen sich theoretische Überlegungen einfacher mit einem Querschnitt in rechteckiger Form anstellen.
Spannung Der Spannungszustand in einem Punkt innerhalb eines belasteten Stabes lässt sich auf unendlich viele Arten beschreiben. Wenn aber die Schnittebene senkrecht zur Stabsachse gelegt wird, sind für die 6 zugrunde liegenden Belastungsarten ( Kap. 4.1.2) einfache Darstellungen möglich.
Zugbelastung Wird ein Stab aus homogenem Material und mit einem Querschnitt A [mm2] an beiden Enden mit einer Zugkraft F [N] belastet (⊡ Abb. 4.3a), dann ist anzunehmen, dass die Spannung (Normalspannung) in allen Querschnittebenen gleichmäßig verteilt ist. In jedem Querschnitt des Zugstabs entsteht die Zugspannung:
σZ = F/A [N/mm2] Druckbelastung Die Druckspannung –σd ist analog der Zugspannung zu definieren, wobei der Stab an beiden Enden mit einer Druckkraft –F belastet wird (⊡ Abb. 4.3b). Nach Konvention wird ein Minuszeichen vor dem Symbol gesetzt, um eine Druckkraft bzw. Druckspannung zu signalisieren.
Scher- oder Schubbelastung Wird ein Stab auf Abscheren beansprucht, d. h. ein Kräftepaar Q greift senkrecht zur Längsachse eines Stabes mit einem Querschnitt A an (⊡ Abb. 4.3c), entsteht eine Scher- oder Schubspannung: τa = Q/A [N/mm2]
F
A -F A
Q
-F
F
Q
A a Zug
b Druck
c Scher oder Schub
⊡ Abb. 4.3a–c Belastung mit Normalkraft (a, b) und Scherkraft (c). A Querschnitt; F Zug- bzw. Druckkraft; Q Scher- bzw. Schubkraft
Biegebelastung Wirkt ein reines Biegemoment Mb im Querschnitt eines Stabes (⊡ Abb. 4.4a), entstehen im Werkstoff senkrecht zum Querschnitt Biegespannungen. Diese bestehen aus Zug- und Druckspannungen mit einem Null-Durchgang in der Mitte des Stabes (genauer: im Schwerpunkt des Querschnitts) und mit einem linearen Verlauf ( Kap. 4.2.3, Abschnitt »Axiales Trägheitsmoment, axiales Widerstandsmoment und Biegespannungen«). Die Größe des maximalen Spannungsbetrags ist vom Biegemoment [Nm] und von der Geometrie des Querschnitts abhängig. Die maximale Biegespannung tritt an der Oberfläche des Stabes auf und beträgt: ±σb = Mb/Wa [N/mm2]
Dabei ist Mb das Biegemoment und Wa das »axiale oder äquatoriale Widerstandsmoment« der Querschnittfläche (s. unten). Für einen rechteckigen Querschnitt mit der Breite b und der Höhe h ist Wa = bh2/6. Bei einem kreisrunden Stab mit einem Durchmesser D ist Wa = πD3/32. Für andere Querschnittgeometrien sind entsprechende Formeln beispielsweise aus Maschinenbauhandbüchern (z. B. Dubbel 1986) zu entnehmen. Bei den in ⊡ Abb. 4.4b u. d gezeigten Biegebelastungsfällen ist der Einfluss der Scherkraft gegenüber dem Biegemoment so gering, dass die Scherkraft meistens nicht weiter berücksichtigt wird. Bei der Wirbelsäule jedoch spielen Scherkräfte – nebst dem reinen Biegemoment – eine wichtige Rolle. Die dorsalen Gelenkfacetten mit ihrer speziellen Anordnung, v. a. im Lendenbereich, verhindern das durch die Scherkraft bestrebte Vorwärtsgleiten der Wirbelkörper (Spondylolisthese). Im Fall einer Biegebelastung mit Normalkraft (⊡ Abb. 4.4c) ist jedoch der Gesamteffekt zu überprüfen ( Kap. 4.2.1, Abschnitt »Zusammengesetzte Belastungen«). Der kombinierte Effekt von Biegung und Normalkraft kommt in der knöchernen Architektur des Schenkelhalses deutlich zum Ausdruck ( Kap. 4.3.2).
4
33 4.2 · Festigkeit und Elastizität
F
Mt = F × y1
a y1
y F.yy b= MMb = F×
F
a
F
y b
F F
Mb = F × y Mb + Scherkraft F
Mt
F c
Mt = F × y2
y
Mb = F × y
b
z
y2 x
F
Mb + Normalkraft F
F = F1 + F2 y d
F1
F2 M Mb + Scherkraft F2 Mb = F2 × y
Mt + Scherkraft F + Biegemoment Mb Mb = F × z
⊡ Abb. 4.4a–d Biegebelastung: reines Biegemoment (a), Biegemoment mit Querkraft (b, d), Biegemoment mit Normalkraft (c). F Kraft; Mb Biegemoment
⊡ Abb. 4.5a, b Torsionsbelastung. a Reine Torsion, b Torsion mit Scherkraft und Biegemoment. F Kraft; Mt Drehmoment
Knickung
Spannung befindet sich an d er Oberfläche und nimmt linear ab, gegen die Mitte des Querschnitts bis auf Null. Torsionsspannungen lassen sich nur beim kreisrunden Querschnitt einfach berechnen. In einem solchen Fall gilt:
Wird ein langer Stab (lang im Verhältnis zum Querschnitt) axial mit einer Druckkraft belastet, bewirkt dies eine seitliche Ausbiegung (Knickung). Bis zur kritischen Knicklast (elastische Instabilität) ist die auftretende Spannung als Druckspannung (⊡ Abb. 4.3b) zu betrachten.
Dreh- oder Torsionsbelastung Ein Drehmoment [Nm], welches um die Achse des Stabes wirkt (⊡ Abb. 4.5), führt zu einem Verdrehen der einzelnen Querschnitte des Stabes gegeneinander. Dadurch entstehen Torsions- oder Scherspannungen. Die Scherspannungen sind nicht gleichmäßig über die Querschnittfläche verteilt. Die größte
Torsionsspannung (max.): τa = Mt/Wp [N/mm2]
Dabei ist Mt das einwirkendes Drehmoment und Wp das »polare Widerstandsmoment« der kreisrunden Querschnittfläche ( Kap. 4.2.3, Abschnitt »Polares Trägheitsmoment, polares Widerstandsmoment und Torsionsspannungen«). Mit D als Durchmesser des runden Stabes ist Wp = πD3/16 [mm3]. Im Fall eines Rohres ist Wp = π(D4a – D4i )/16Da, wobei Da und Di Außen- und Innendurchmesser bezeichnen.
34
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
Eine reine Torsionsbeanspruchung entsteht, wenn weder Scherkräfte noch Biegemoment auftreten (⊡ Abb. 4.5a). In ⊡ Abb. 4.5b ist dagegen der häufig anzutreffende Fall dargestellt, in dem Biegemoment und Scherkraft zur Torsionsbelastung des Stabquerschnitts hinzukommen.
F
Zusammengesetzte Belastungen
4
Zwei oder mehrere der einfachen Belastungsarten treten in einem gegebenen Querschnitt gleichzeitig auf (z. B. ⊡ Abb. 4.4b–d u. ⊡ Abb. 4.5b). In solchen Fällen lassen sich die Normalspannungen, die durch die einzelnen Belastungsarten entstehen, algebraisch summieren. Wenn Scherspannungen in derselben Ebene liegen und die gleiche Richtung aufweisen, dürfen sie ebenfalls algebraisch summiert werden. Andere Kombinationen von Scher- und Normalspannungen benötigen spezielle Rechenverfahren.
D - ∆D
F
L + ∆L
γ
F
Bemerkungen zur Spannung In den dargestellten 6 Belastungsfällen ( Kap. 4.2.1, Abschnitte »Zugbelastung« bis »Dreh- oder Torsionsbelastung«) ist bemerkenswert, dass die Spannungen im belasteten Körper allein belastungs- und geometrieabhängig sowie von der Wahl des Materials (Werkstoff) völlig unabhängig sind. Dieser wichtige Grundsatz gilt für alle belasteten Körper aus einem homogenen Material. Bei Verbundkonstrukten oder inhomogenen Materialien (Bestandteile von unterschiedlichen Steifigkeiten) gilt die bisher angenommene Spannungsverteilung nicht. Um innere Spannungen in solchen Fällen zu ermitteln, ist es unerlässlich, das Verhältnis der unterschiedlichen Steifigkeiten der Materialien des Konstrukts zu beachten ( Kap. 4.3.4). Wie bereits erwähnt, ist die Spannung keine physikalische Größe. Sie lässt sich nicht messen. Jedoch lassen Begleiterscheinungen, die im Material auftreten (z. B. die Dehnung), auf die Spannungsintensität schließen.
Dehnung, Elastizitätsmodul und Poisson-Zahl Wird ein Probestab einer Zugbelastung ausgesetzt (⊡ Abb. 4.6a), erfährt eine Strecke L (bei Null-Last) eine messbare Verlängerung ΔL und der Durchmesser D eine Querkürzung ΔD. Versuche haben gezeigt, dass diese Längenänderung (bzw. Querkürzung) je nach Stabwerkstoff direkt proportional zur Größe der Belastung ist – bis zu einer gewissen Maximalbelastung, der sog. Proportionalitätsgrenze. Ferner hat sich gezeigt, dass es eine Maximalbelastungsgrenze gibt, bis zu welcher der Stab belastet werden kann, um bei vollständiger Entlastung zu seiner ursprünglichen Länge L0 zurückzukehren. Dies ist die Elastizitätsgrenze. Ist die Belastung höher als dieser Grenzwert, erfährt der Stab eine bleibende Streckung, d. h. die ursprüngliche Stablänge L0 wird bei Null-Last nicht wieder erreicht. > Praktisch alle Baumaterialien zeigen ein elastisches Verhalten.
Die Längenänderung ΔL ist nicht nur vom Bauwerkstoff, sondern auch von den Dimensionen des Stabes bzw. von der einwirkenden Belastung abhängig. Wird die »Einheitslängenänderung« oder Dehnung ΔL/L = ε berechnet (L ist die Ausgangslänge), erhält man einen Betrag ε, welcher von der Stablänge unabhängig
F a
b
⊡ Abb. 4.6a, b Elastische Verformung unter Last. D Durchmesser; F Kraft; L Strecke; γ Winkel
ist. Die Dehnung ε bleibt hingegen von der Stabquerschnittfläche, der Belastung und dem Werkstoff abhängig. Sucht man das Verhältnis der Spannung σ (Kraft/Querschnittfläche) zum entsprechenden ε, entsteht eine Konstante, die materialspezifisch ist: das Elastizitätsmodul des Werkstoffs. Das Verhältnis σ/ε bleibt über den gesamten Belastungsbereich bis zur Proportionalitätsgrenze konstant ( Kap. 4.2.2, Abschnitt »Spannungs-DehnungsDiagramm«). Zusammengefasst bedeutet dies: Dehnung: ε = ΔL/L [mm/mm] → dimensionslos
! Cave »Dehnung« ist in der Materialkunde ein Terminus technicus und darf nicht für eine beliebige Streckung des Materials im allgemein üblichen Sinn einer Verlängerung verwendet werden. Dehnung kann auch negativ sein, wenn es sich um Stauchung oder Querkontraktion handelt.
Das Proportionalitätsgesetz von Robert Hooke (das HookeGesetz) lautet: Die Dehnungen sind den Spannungen proportional oder ε/σ = α (α = konstant). Robert Hooke beschrieb 1678 jedoch lediglich die Proportionalität zwischen Kraft und Längenänderung bei Stäben unter Zug und Druck bzw. die Proportionalität zwischen Kraft und Auslenkung bei Biegeträgern. Die Begriffe »Dehnung«, »Spannung« und »E-Modul« wurden erst um 1800 durch Claude-Louis Navier eingeführt. Die Formel für das Elastizitätsmodul lautet: E = σ/ε [N/mm2]
Das Elastizitätsmodul E (auch E-Modul genannt) ist eine materialspezifische Konstante und ein Maß für die Steifigkeit des Werkstoffs. Je größer das E-Modul ist, desto geringer ist die
35 4.2 · Festigkeit und Elastizität
⊡ Tab. 4.1 Festigkeitseigenschaften einiger Materialien Material
E-Modul [GPa oder kN/mm2]
0,2%-Streckgrenze [MPa, oder N/mm2]
Zugfestigkeit [MPa oder N/mm2]
Dauerfestigkeit (Wechselbiegung) [MPa oder N/mm2]
Bruchdehnung [%]
Härte (Vickers) [kN/mm2]
Kortikaler Knochen (feucht)
Ca. 18
Ca. 140
140
–
1,5
24 (Brinell)
CoCrMo, Guss
206
500
700
±245
8
340
CoNiCrMoTi, geschmiedet
225
830
980
±560
45
340
Rostfreier Stahl (316-L)
201
300
530
±290
70
150
TiAlV
120
840
910
±420
12
330
TiAlNb
110
950
1050
±550
12
330
Keramik (Al2O3)
380
350
350 (500)
–
–
2300
Knochenzement (Polymethylmethacrylat)
3
60
–
–
–
–
Polyäthylen (»high density polyethylen«)
1
22
–
–
–
–
Dehnung bei einer gegebenen Spannung. ⊡ Tab. 4.1 zeigt die EModul-Werte von diversen, in der Orthopädie/Traumatologie häufig anzutreffenden Werkstoffen. Das E-Modul ist – nebst der Geometrie und der einwirkenden Kraft – für die elastische Verformung eines belasteten Körpers maßgebend. Die Verformung (Verlängerung, Auslenkung, Durchbiegung; Kap. 4.2.3, Abschnitte »Elastische Verformung unter Biegung« und »Elastische Verformung unter Torsion«) ist stets umgekehrt proportional zum E-Modul und direkt proportional zur Belastung. Anmerkung
Die E-Module von Polyethylen, Kortikalis, Titan und Stahl betragen ungefähr 1, 20, 100 und 200 GPa (N/mm2). Man bemerke das Verhältnis der Zahlen zueinander! So wie sich die Längsdehnung aus dem Verhältnis ΔL/L ergibt, wird auch die entsprechende Querdehnung oder Querkontraktion εq = ΔD/D bestimmt, wobei ΔD die Querkürzung und D die initiale Dicke des Probestabs sind. Die Querdehnung εq steht in engem Bezug zur Längsdehnung ε, sodass gilt: Querzahl: μ = εq/ε Poisson-Zahl: m = 1/μ
Für isotrope Stoffe (Stoffe mit gleichen Festigkeitseigenschaften in alle Richtungen) liegt die Poisson-Zahl zwischen m = 3 und m = 4. Für Metalle ist m = 10/3, also μ = 0,3.
Verzerrung (Gleitung) und Gleitmodul Wird ein Stab unter Scherkraft beansprucht (⊡ Abb. 4.6b), entsteht eine Verformung des Stabes, die als Verzerrung, Gleitung, Verschiebung oder auch Schiebung bezeichnet wird. Trägt man ein kleines Rechteck mit den Seiten parallel und quer zur Längsachse auf der Oberfläche des unbelasteten Körpers auf, verformt es sich unter Scherbelastung zu einem Parallelogramm. Die gegenüberliegenden Seiten haben sich verschoben.
Die ursprünglichen Rechtecke sind nun um einen Winkel γ verzerrt. Diese Winkeländerung γ ist die Verzerrung oder Gleitung des Materials unter der Einwirkung der Scherspannung τ. Das Hooke-Gesetz lässt sich auch hier in der Form γ/τ = konstant erkennen. Wird der Winkel γ in Bogenmaß angegeben, entsteht das Gleitmodul G: G = τ/γ [N/mm2]
Das G-Modul G ist – wie das E-Modul – eine materialspezifische Konstante und mit dem E-Modul eng gekoppelt: G = E × m/2 (m + 1), wobei für Metalle m = 10/3 einzusetzen ist. Das G-Modul wird benötigt, um die Verdrehung Θ eines runden Stabes der Länge L unter der Einwirkung einer Torsionsbeanspruchung ( Kap. 4.2.3, Abschnitt »Elastische Verformung unter Torsion«) zu errechnen.
4.2.2
Materialverhalten
Spannungs-Dehnungs-Diagramm Bauwerkstoffe werden meistens in der standardisierten Rundstabform (⊡ Abb. 4.6a) bezüglich ihrer Festigkeitseigenschaften geprüft. Dabei wird der Stab in eine Zerreißmaschine gespannt, welche eine kontinuierlich zunehmende Streckung des Stabes ermöglicht. Dabei nimmt die Zerreißkraft bis zum Bruch des Stabes zu. Gleichzeitig wird die Längenänderung ΔL zwischen 2 entlang des Stabes angebrachten Strichen (Distanz L0 in unbelastetem Zustand) mit einer geeigneten Messeinrichtung erfasst. Während des Zerreißversuchs zeichnet man die auf den Prüfstab ausgeübte Zugkraft und die gemessene Längenänderung in einem rechtwinkligen Koordinatensystem auf. Weil die ursprüngliche Stabquerschnittfläche A0 und die Strichdistanz L0 bekannt sind, lässt sich sowohl die Zugspannung σ als auch die entsprechende Dehnung ε ermitteln. Die resultie-
4
36
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
σ Z σz
B
Spannung
σs”
4
U” Dynamometer (F)
S
σs
u
G g
P
L0 + ΔL Extensiometer (ΔL)
0,002
O
ε plast
⊡ Abb. 4.7 Spannungs-Dehnungs-Diagramm. Erläuterungen im Text
rende Aufzeichnung sieht etwa so aus wie in ⊡ Abb. 4.7 dargestellt (Spannungs-Dehnungs-Diagramm bis zum vollständigen Bruch des Stabes). Charakteristisch sind ein linearer Verlauf bis zur Proportionalitätsgrenze P und anschließend eine geringe Abweichung vom bisherigen Verlauf bis zur Fließ- oder Streckgrenze σS. Es folgt eine rasche Zunahme der Dehnung bei einer geringen Zunahme der Spannung. Bei weiterer Streckung erreicht die Spannung im Punkt Z einen Maximalwert. Die bisher stets steigende Kurve neigt sich fortan und bricht nach einem zusätzlichen Dehnungsbetrag bei abnehmender Spannung im Punkt B abrupt ab. Zu beachten ist, dass die Spannung stets in Bezug auf die initiale Querschnittfläche des Stabes berechnet wurde. Tatsächlich aber nimmt die Querschnittfläche ständig ab, sodass der effektive Spannungsbetrag größer wäre als im Diagramm aufgezeichnet. Dies zu berücksichtigen, wäre äußerst unpraktisch. Deshalb wurde die ursprüngliche Querschnittfläche als Bezugsgröße international standardisiert. Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm enthält eine Fülle von Informationen über das Material des Stabes, nämlich: ▬ Zugfestigkeit ▬ Proportionalitätsgrenze ▬ Elastizitätsgrenze (auch Streck- oder Fließgrenze genannt) ▬ elastisches Verhalten bzw. Elastizitätsmodul ▬ Fließverhalten (oder plastisches Verhalten) ▬ Bruchdehnung Zugfestigkeit
Die höchste Zugkraft, die während des Zerreißversuchs erreicht wurde, dividiert durch den ursprünglichen Stabquerschnitt A0 ergibt die Zugfestigkeit σZ (Punkt Z in ⊡ Abb. 4.7). ⊡ Tab. 4.1 zeigt die Zugfestigkeit von diversen, in der Orthopädie/Traumatologie häufig anzutreffenden Werkstoffen. Elastizitätsmodul
Das E-Modul (E = σ/ε) entspricht der Steigung der Kurve des Spannungs-Dehnungs-Verlaufs bis zur Proportionalitätsgrenze (Strecke O–P in ⊡ Abb. 4.7). Am häufigsten ist dieser Teil der
O”
δ”
Dehnung ε
δ = ε Bruck (plast.)
Aufzeichnung gradlinig. Bei Verbundmaterialien (beispielsweise faserverstärkte Kunststoffe) hingegen kann das E-Modul mit der Spannung (bzw. Dehnung) variieren; die Strecke O–P verläuft dann nicht gradlinig. Im Weiteren zeigen viele Kunststoffe (auch Knochen) ein »viskoelastisches« Verhalten. Das E-Modul hängt dann von der Geschwindigkeit der Belastungsänderung ab ( Kap. 4.2.2, Abschnitt »Viskoelastizität«). Proportionalitäts- und Elastizitätsgrenze (auch Streck- oder Fließgrenze)
Das Verhältnis von Spannung zu Dehnung bleibt bis zur Proportionalitätsgrenze P konstant. Bis zur Elastizitätsgrenze G ist das Material elastisch, d. h. wenn von innerhalb dieses Bereichs eine vollständige Entlastung des Stabes stattfindet, kehrt der Stab zu seiner Ausgangslänge L0 zurück. Wird der Punkt G überschritten, erfährt der Probestab eine bleibende Streckung – die Streckgrenze wurde erreicht. Im praktischen Versuch lassen sich die Grenzwerte P und G in der Aufzeichnung kaum differenzieren. Sogar das erste Anzeichen einer Abweichung vom linearen Verlauf ist schwierig zu erkennen, und deshalb wurde die technische 0,2%-Streckgrenze eingeführt. 0,2%-Streckgrenze
Wenn die Zerreißmaschine nach Erreichen des Punktes G auf der Spannungs-Dehnungs-Kurve an einem beliebigen Punkt U« der Kurve gestoppt und den Probestab bis auf die Belastung Null entlastet hätte, entspräche die Länge des Stabes nicht mehr der ursprünglichen Länge L0; eine bleibende Verlängerung ΔLS (bzw. Dehnung) hätte sich eingestellt. Die gestrichelte Linie in ⊡ Abb. 4.7 zeigt das Geschehen. Auffallend ist, dass bei abnehmender Spannung (und Dehnung) ein gradliniger Verlauf parallel zum gradlinig aufsteigenden Anteil des SpannungsDehnungs-Diagramms, d. h. zwischen den Punkten O und P, zu beobachten ist. Dem Abstand der Parallelen zueinander, gemessen in Richtung der Dehnungsachse, gleicht die bleibende Dehnung εplast (= ΔLS/L0), entsprechend der plastisch gestreckten Länge ΔLS des Stabes. Nach der Definition ist die
37 4.2 · Festigkeit und Elastizität
Streckgrenze σS oder Fließgrenze der Punkt oberhalb desjenigen Punktes, an welchem eine bleibende Streckung des Stabes bzw. ein »Fließen« des Werkstoffs durch plastische Verformung eintritt. Weil dieser Punkt auf der Kurve schwer zu ermitteln ist, sucht man einen Punkt, an dem bereits 0,2 % der bleibenden Dehnung eingetreten wären. Man zeichnet im Abstand eines Dehnungsbetrags von 0,002 (0,2 %) eine Gerade g parallel zur Strecke O–P, welche die Kurve im Punkt S schneidet. Dieser Punkt auf dem Spannungs-Dehnungs-Diagramm markiert nun die 0,2%-Streckgrenze des Materials (international festgelegt und am häufigsten bei metallischen Werkstoffen anzutreffen; in einzelnen Fällen wird eine 0,1%-Streckgrenze angegeben). Die Streckgrenze wird üblicherweise als die entsprechende Spannung σS gekennzeichnet. ⊡ Tab. 4.1 zeigt die 0,2%-Streckgrenze von diversen, in der Orthopädie/Traumatologie häufig anzutreffenden Werkstoffen. Wie in ⊡ Abb. 4.7 zu erkennen ist, erfolgt bei geringer Belastungs- und Spannungszunahme eine starke Dehnung – eine plastische Verformung setzt ein. An einer Stelle des Stabes entsteht eine Einschnürung. Schließlich bricht der Stab an der Einschnürungsstelle. Neben der Bruchfestigkeit ist auch die Bruchdehnung ein für das Material charakteristischer Festigkeitswert. Bruchdehnung
Diese ist ein Maß für die Fähigkeit eines Materials, sich plastisch zu verformen, bevor ein Bruch eintritt. Sie ist definiert durch: δ = ΔLBruch/L0 × 100 [%]
Bei einer Bruchdehnung von 0 % wäre es unmöglich, einen Stab in Biegung bleibend zu verformen – er würde brechen. In einem solchen Fall entspricht die Streckgrenze der Bruchgrenze. Das Material ist spröde. Bei oberflächlichen Diskontinuitäten (z. B. Löcher, abrupte Querschnittänderungen oder Ritzen) können örtliche Spannungen auftreten, die ein Vielfaches der Nominalspannung betragen (Kerbspannungen). Nominalspannungen sind die theoretisch ermittelten Spannungen und ohne Kerben etc. zu berücksichtigen. Wenn an solchen Stellen keine plastische Verformung möglich ist, wird ein Bruch an dieser Stelle auftreten, bevor die Nominalspannung die Bruchgrenze erreicht hat. Dies geschieht beispielsweise beim Aufbrechen einer geritzten Glasampulle. Die Bruchdehnung wird gelegentlich auch als Ausdruck der Duktilität verwendet. Streng betrachtet ist dies nicht korrekt. Die Duktilität des Materials wäre in vollem Umfang nur an der Einschnürungsstelle des Probestabs zu beobachten. Die gemessene Bruchdehnung hingegen ergibt die plastische Verformung – ungleichmäßig verteilt – über die Messlänge L0.
Kaltverfestigung metallischer Werkstoffe Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm (⊡ Abb. 4.7) kann ferner das Phänomen der Kaltverfestigung (»work hardening«) gewisser metallischer Werkstoffe erklären. Die Erfahrung zeigt, dass beispielsweise Cerclage-Draht immer schwieriger anzupassen ist, je öfter er gebogen und gestreckt wird. Die Begründung lautet: Wird ein Probestab in der Zerreißmaschine bis über die Streckgrenze hinaus gedehnt, d. h. bis eine bleibende Verformung eintritt (z. B. bis Punkt U” in ⊡ Abb. 4.7), stellt
man bei allmählicher Lastabnahme einen linear absteigenden Spannungs-Dehnungs-Verlauf (Strecke u in ⊡ Abb. 4.7) bis auf die Last Null fest. Lässt man die Zugkraft (Spannung) von Null wieder ansteigen, wird dieselbe Strecke u zurückverfolgt, bis in der Nähe von Punkt U” eine neue Streckgrenze σS” erscheint. Bei weiterer Dehnung verhält sich der Verlauf wie im Diagramm gezeichnet, und zwar bis zum Bruch im Punkt B. Im vorgestreckten Zustand weist der Probestab eine höherer Streckgrenze auf als zuvor (σS” > σS). Damit ist der Elastizitätsbereich erhöht, aber das plastische Verformungsvermögen bis zum Bruch (Bruchdehnung) entsprechend reduziert (δ” < δ). Im Weiteren ist zu beachten, dass das Elastizitätsmodul des Materials den gleichen Wert aufweist wie zuvor. Die Erhöhung der Streckgrenze des Materials durch Vorbelastung bis über die ursprüngliche Streckgrenze hinaus wird als Kaltverfestigung bezeichnet. Durch Kneten des Materials wie beim Kaltwalzen kommt es zu zusätzlichen transkristallinen Bewegungen und Gleitblockierungen an den Korngrenzen, welche zu einer Erhöhung der Zugfestigkeit führen, allerdings auf Kosten der Bruchdehnung. Die Sprödigkeit nimmt zu. Einige Materialien wie viele rostfreie Stähle (austenitische Stähle) lassen sich nur auf diese Art verfestigen. ! Cave Vorsicht ist geboten, wenn vorgeformte Metallplatten während der Operation zwecks Anpassung an die anatomischen Verhältnisse einer zusätzlichen Formgebung unterzogen werden. Eine ausreichende Bruchdehnung ist meist nicht vorhanden, und ein Riss in der Platte kann unbemerkt auftreten. Die diesbezügliche Empfehlung bzw. Warnung der Hersteller von Osteosynthesematerialien ist unbedingt zu beachten.
Härte Die Härte eines Materials ist bekanntlich ein Ausdruck des Widerstands gegenüber einer Oberflächenbeschädigung. Somit sind Verfahren entwickelt worden, die vom Oberflächeneinritzen (Mohs) bis zum Oberflächeneindringen (Brinell, Rockwell, Vickers) reichen. Grundsätzlich steht die Härte mit der Festigkeit in Zusammenhang, denn die Oberfläche muss einen Widerstand gegen Deformation aufweisen. Trotzdem zeigt die Oberfläche häufiger ein anderes mechanisches Verhalten als das Innere. Die Härte hängt von der Kombination diverser Materialeigenschaften wie Streckgrenze, Zug- oder Druckfestigkeit, E-Modul und Bruchdehnung ab. Einige Materialien lassen empirisch eine Korrelation zwischen Härte und Zugfestigkeit feststellen. Dies wird genutzt, um die Festigkeit ohne Zerstörung des Werkstücks zu prüfen. Bei sehr harten Materialien wie Keramik wird die Härte durch Kratzen der Oberfläche mit einem härteren Material bestimmt. Die 10-teilige Mohs-Skala reicht von Talk bis Diamant. Bei den Brinell-Eindringverfahren wird eine gehärtete Stahlkugel in der Oberfläche mit einer standardisierter Last gedrückt. Der Durchmesser des entstandenen kraterförmigen Eindrucks ist ein Maß für die Härte der Oberfläche. Im Rockwell-Prüfverfahren wird entweder eine Stahlkugel oder ein Diamantenspitz mit sphärischer Form verwendet. Die Tiefe
4
38
4
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
des Eindringens ergibt den Härtegrad. Beim Vickers-Verfahren wird ein pyramidenförmiger Diamant genutzt. Die Abmessung des Diagonals des quadratischen Eindrucks ist ein Maß für die Härte der Oberfläche des geprüften Objekts. Gleitet eine Oberfläche unter Last auf eine andere, spielt die Oberflächenbeschaffenheit beim Abnützungsverhalten der Arbeitsflächen eine maßgebende Rolle (Rauigkeit und Härte). Im Gleitlager wird häufig ein weiches Material (z. B. hochverdichtetes Polyethylen) gegenüber einem harten Material (Metall, Keramik etc.) bewegt. Dank des weicheren Materials entstehen infolge der besseren Kongruenz an der Berührungsstelle kleinere spezifische Drücke. Zudem werden Abriebpartikel, die sonst zum Zerkratzen der Gleitoberflächen führen, unschädlich gemacht, indem man sie in der weichen Oberfläche einbettet.
Viskoelastizität Das Verhältnis zwischen Spannung und Dehnung (⊡ Abb. 4.7) ist bei den häufigsten Baumaterialien zeitunabhängig – die Belastungsgeschwindigkeit beeinflusst den Verlauf der Kurve nicht (erst bei sehr hohen Belastungsgeschwindigkeiten wie bei Explosionen tritt ein anderes Materialverhalten auf). Einige Materialien zeigen jedoch eine Abhängigkeit der Dehnung von der Belastungsgeschwindigkeit bzw. der Belastungsdauer, selbst innerhalb des elastischen Bereichs. Solche Werkstoffe werden als »viskoelastisch« bezeichnet. Beim Belasten solcher Materialien wird die angestrebte Enddehnung durch einen Viskosefaktor gebremst – die endgültige Dehnung ergibt sich erst nach einer gewissen Zeit. Auch beim Entlasten des Materials wird die ursprüngliche Form zwar wieder erreicht, aber dies benötigt Zeit. Das Material verhält sich elastisch, aber es ist eine gewisse Zeit erforderlich, um den Endzustand zu erreichen. Viele Kompositwerkstoffe wie faserverstärkte Kunststoffe, aber auch Knochen gehören hierzu. Deshalb muss einem Knochen beim Dehnen unbedingt ausreichend Zeit gelassen werden, um die erzeugte Spannung abzubauen, wenn ein Knochenbruch unerwünscht ist (z. B. im Apex des Keiles bei Keilosteotomien). Dies gilt auch bei der Verschraubung von Osteosynthesemateria. Eine Relaxation des Knochens tritt stets auf.
Kriechen Auch »Kaltfluss« genannt, ist Kriechen eine weitere zeitabhängige Eigenschaft bestimmter Materialien. Reines Kupfer und Blei beispielsweise zeigen bereits bei sehr niedrigen, konstant gehaltenen Belastungen im Laufe der Zeit eine ständig zunehmende Dehnung. Dasselbe gilt für gewisse Kunststoffe wie Teflon. Solche Materialien sind kaum elastisch und weisen ein deutlich plastisches Verhalten – Kaltfluss – bei niedrigen Belastungen auf. Die ursprüngliche Länge eines Probestabs wird durch Entlastung nie wieder erreicht. Bei höheren Temperaturen nimmt das Kriechen zu.
Ermüdung und Dauerfestigkeit Bekanntlich kann ein Bruch durch wiederholte Wechselbeanspruchung herbeigeführt werden, wobei die erforderliche Dehnung in wohlbekannten Fällen (Papierklemme, Zaundraht etc.) bei jedem Lastwechsel weit oberhalb der Streckgrenze
liegen muss. Als Faustregel gilt: 100.000 Lastwechsel bis zum Bruch, wenn die Streckgrenze jeweils gerade noch erreicht wurde. Der Bruch bei einer geringeren Anzahl an Lastwechseln benötigt entsprechend mehr plastische Dehnung (Zerrüttung des Werkstoffs). Aber selbst bei Dehnungen unterhalb der Streckgrenze kann ein Bruch bei einer entsprechend höheren Lastwechselzahl auftreten. Anhand von Versuchen werden die Maximalspannung und die entsprechende Anzahl an Lastwechseln bis zum Bruch erfasst und in ein sog. S-N-Diagramm eingetragen – »S« für Spannung (y-Achse) und »N« für Anzahl der Lastwechsel (x-Achse). Die Aufteilung entlang der x-Achse erfolgt meist logarithmisch. Das S-N-Diagramm zeigt die Ermüdungseigenschaften des geprüften Materials. Der Bruch wird beeinflusst durch: ▬ Höhe der Maximalspannung ▬ Anzahl der Lastzyklen ▬ Art der Last: wechselnd (± σ) oder schwellend (0 ↔ +σ oder 0 ↔ –σ) ▬ Spannungsgradient (Steilheit des Spannungsabfalls vom Ort der höchsten Beanspruchung) Versuche haben ergeben, dass sich die S-N-Kurve bei vielen Materialien bei 10–100 Mio. Lastzyklen einer Asymptote annähert, d. h. unterhalb eines bestimmten Spannungsniveaus erträgt das Material unendlich viele Lastzyklen, ohne zu brechen. Dies ist die Dauerfestigkeit des Materials. Noch zu erwähnen ist, dass die unmittelbare Umgebung des belasteten Körpers – ob Luft, Wasser oder biologische Flüssigkeiten etc. – für das Ermüdungsverhalten des Materials eine erhebliche Rolle spielt. Gesunder Knochen kennt keine Dauerfestigkeit im oben beschriebenen Sinn des Begriffs. Der Stoffwechsel bei der Heilung von ermüdeten Knochenanteilen sorgt stets für eine knöcherne Erneuerung. Knochenermüdung (z. B. Marschfrakturen) kommt nur bei hohen Belastungen und geringer Lastwechselzahl (wenige Tausend) vor.
Komponentprüfung Speziell zu erwähnen ist der Einfluss von Formdiskontinuitäten (Kerben, Löcher, abrupte Querschnittübergänge etc.) auf die Dauerfestigkeit eines belasteten Körpers. Obwohl eine gute Kenntnis der Festigkeitseigenschaften von Werkstoffen, wie oben beschrieben, für die Konstruktion eines Implantats unentbehrlich ist, so ist es dennoch erforderlich, die Festigkeit eines Bauteils im angefertigten Zustand zu prüfen: Komponentprüfung. Während die Kenndaten eines Werkstoffs anhand standardisierter Prüfkörper (meistens in Stabform) bereits zur Verfügung stehen, muss nun der Einfluss der Formgebung (Oberflächenbeschaffenheit, Krafteinleitung etc.) geprüft werden. Dies geschieht meistens durch zyklische Belastung des Bauteils. Nicht selten wird festgestellt, dass die Dauerfestigkeit des Bauteils geringer ist, als dies anhand der Materialkennwerte zu erwarten wäre. Fast immer ist dies auf örtliche Spannungskonzentrationen, die in der Umgebung von Löchern, Kerben und selbst Beschriftungen an der Oberfläche entstehen, zurückzuführen. Bedenkt man, dass am Lochrand 3-mal mehr Spannung herrscht, als die Nominalspannung beträgt, und dass – je nach Geometrie einer Kerbe – im Kerbengrund häufig bis
39 4.2 · Festigkeit und Elastizität
zum 7fachen der Nominalspannung anzutreffen ist, wird die dadurch entstandene Dauerfestigkeitsverminderung durchaus verständlich.
lastung«). Die Kenntnis des Spannungs-Dehnungs-Diagramms ( Kap. 4.2.2, Abschnitt »Spannungs-Dehnungs-Diagramm«) und
der physikalischen Bedingungen für das Kräftegleichgewicht eines Körpers werden vorausgesetzt.
Abrieb vom Gleitlager und Reibung Im Gleitlager, z. B. in einem künstlichen Gelenk, reiben sich 2 meist unterschiedliche Materialoberflächen aneinander. Die Oberflächen sind nie absolut glatt, und somit ist – trotz feinstmöglichem Polieren – mikroskopisch stets eine Art »Berglandschaft« vorhanden. Sind die Oberflächen während des Gleitvorgangs aneinandergedrückt, entsteht durch die partielle Verzahnung der Oberflächen miteinander eine Scherbeanspruchung der Oberflächenschicht. Dies tritt selbst dann auf, wenn sich zwischen den gleitenden Oberflächen ein Schmiermittel befindet, allerdings in vermindertem Ausmaß. Die richtungswechselnde Bewegung unter Belastung führt zur Ermüdung der Oberflächenschicht, wobei aus der Oberfläche kontinuierlich Materialpartikel losbrechen. Werden diese losen Partikel nicht sofort aus dem Bereich der Gleitbewegung entfernt, führen sie zu einer beschleunigten Zerstörung der Oberflächen. Rau gewordene Oberflächen lassen den Abnutzungsprozess weiter eskalieren. In Kap. 4.2.2 (Abschnitt »Härte«) wurde auf die Bedeutung der Oberflächenhärte von Gleitlagern bereits hingewiesen.
4.2.3
Elastische Verformung unter Last
Bereits in Kap. 4.2.2 (Abschnitt »Biegebelastung«) wurde die Biegespannungsverteilung in Trägern unter Biegemomentbelastung vorgestellt, und auch die Formeln, um diese zu berechnen, wurden angegeben, jedoch ohne nähere Erklärung. Die Biegung in Trägern wird nun wieder aufgegriffen, denn nur unter Berücksichtigung der elastischen Verformung ist Einsicht in das Verhalten des Materials gewährleistet. Dasselbe gilt für die Scherbeanspruchung in einem Rundstab unter Drehmomentbelastung ( Kap. 4.2.1, Abschnitt »Dreh- oder Torsionsbe-
Coulomb-Biegetheorie Das Problem, einseitig eingespannte und unter Biegung belastete Träger richtig zu dimensionieren, wurde mathematischwissenschaftlich bereits durch Galilei angegangen. Aber erst etwa 160 Jahre später konnte Coulomb, auf den Arbeiten von Hooke und Navier basierend, die Theorie der Biegung entwickeln. Es wurde beobachtet, dass Querschnittebenen beim Biegen eines im Querschnitt rechteckigen Stabes auch während der Verformung eben bleiben (⊡ Abb. 4.8). Bei Balken mit anderen Querschnittformen (rund, dreieckig etc.) verhält es sich ebenso, aber weniger gut beobachtbar. Ferner ist festzustellen, dass auf der konvexen Seite des elastisch verformten Stabes eine offensichtliche Streckung der Längsfaser und auf der konkaven Seite eine Stauchung der Längsfaser zu verzeichnen ist – in der Mitte des Stabes bleibt eine Faserschicht in ihrer Länge unverändert. Dies ist die Neutralzone. Da nun alle Querschnitte eben bleiben, auch im gebogenen Zustand des Stabes, und da die Elastizitätsgrenze des Materials nicht überschritten wurde sowie unter der Voraussetzung, dass das Spannungs-DehnungsVerhältnis des Materials unter Zug- und Druckbeanspruchung gleich ist, müssen die im Werkstoff entstandenen Spannungen (die der Dehnung proportional sind) in jedem Querschnitt linear verlaufen – von einer maximale Zugspannung in der äußersten Faser auf der konvexen Seite bis zu einer maximale Druckspannung in der äußersten Faser auf der konkaven Seite. Die so entstandenen inneren Spannungen (Zug und Druck) erzeugen zusammen ein inneres Biegemoment, welches dem externen Moment – von äußeren Kräften hervorgerufen – entgegenwirkt (widersteht). Weil bei reiner Biegung von außen keine axiale Kraft in Richtung der Stabsachse wirkt, muss die Summe aller Zugkräfte (Zugspannungen multipliziert mit der Querschnittfläche unter Zug) gleich groß sein wie die Summe aller
+σ f σmax e
σ y
A
S
+ε
h
b -σ Neutrallinie, Neutralzone
Mb
-ε
ρ
Mb
ρ = Ja × E / Mb
Neutralachse oder äquatoriale Achse
⊡ Abb. 4.8 Elastische Verformung und Spannungsverlauf bei Biegung. Erläuterungen im Text
4
40
4
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
Druckkräfte (Druckspannungen multipliziert mit der Querschnittfläche unter Druck). Diese Bedingung wird nur dann erfüllt, wenn die Neutralzone (Null-Spannung) im Schwerpunkt S der Querschnittfläche liegt. Somit sind die Grundlagen für die Berechnung der Biegespannungen gelegt. Der Verlauf der Biegespannungen vom maximalen Zug auf der einen Seite bis zum maximalen Druck auf der gegenüberliegenden Seite ist zwar linear, erfordert aber dennoch einige mathematische Manipulationen, um das innere Moment mit dem äußeren ins Gleichgewicht zu bringen.
Axiales Trägheitsmoment, axiales Widerstandsmoment und Biegespannungen In ⊡ Abb. 4.8 ist zu erkennen, dass in einem zur Null-Linie parallelen Flächenteilchen f die Spannung σ herrscht; die Kraft beträgt entsprechend f × σ. Die Spannung σ im Abstand y von der Neutralachse lässt sich von der maximale Spannung σmax und deren Abstand e zur Neutralachse ableiten durch: σ = σmax × y/e
Das innere Biegemoment Mi berechnet sich wie folgt: Mi = Σ f × σ × y = Σ f × σmax × y2/e = (σmax/e) Σ f × y2
Der Summenausdruck Σ f × y2 ist eine Konstante des Querschnitts und das axiale oder äquatoriale Trägheitsmoment der Querschnittfläche Ja [mm4] bezogen auf die durch den Flächenschwerpunkt S verlaufende Neutralachse oder äquatoriale Achse (⊡ Abb. 4.8). Weil das innere Biegemoment gleich groß sein muss wie das äußere, ist Ja (σmax/e) = Mb. Die maximalen Biegespannungen sind danach: ±σmax = Mb × e/Ja. Da sich Querschnitte um die äquatoriale Achse (d. h. durch den Flächenschwerpunkt gehend) manchmal nicht symmetrisch abbilden lassen (Dreieck, Halbrund etc.), sind die Abstände e1 und e2 zu den äußersten Fasern in solchen Fällen verschieden. Demzufolge entstehen die maximalen Biegespannungen (Zug und Druck) σmax1 und σmax2 mit entsprechend unterschiedlichen Beträgen: σmax1 = Mb × e1/Σ f × y2 und σmax2 = Mb × e2/Σ f × y2, wobei σmax1 und σmax2 im Abstand e1 bzw. e2 von der Neutralachse entfernt sind und Mb das äußere Biegemoment ist. Bei Querschnittflächen, die symmetrisch um die äquatorielle Achse abgebildet sind (Rechteck, Doppel-T, Kreis etc.), ist e1 = e2 = e, und somit kann auch (Σ f × y2)/e zu einer neuen Querschnittkonstante [mm3] zusammengefasst werden. Dies wird als das axiale oder äquatoriale Widerstandsmoment der Querschnittfläche Wa bezeichnet. Es ist also gleich dem Flächenträgheitsmoment Ja dividiert durch den Abstand e zur äußersten Faser. Damit ist ±σmax = Mb/Wa. Die Biegespannung ist stets nur von der Geometrie des Querschnitts abhängig und von der Wahl des Werkstoffs völlig unabhängig. In ⊡ Tab. 4.2 sind die Formeln zur Berechnung der axialen (äquatorialen) Trägheits- und Widerstandsmomente einfacher Querschnittflächen zu finden. Man beachte den überwiegenden Einfluss der Höhe h (bzw. D) des Trägers sowohl auf das Trägheitsmoment (h3) als auch auf das Widerstandsmoment (h2). Für andere Querschnittgeometrien sind entsprechende
⊡ Tab. 4.2 Axiale Trägheits- und Widerstandsmomente einfacher Querschnitte Querschnitt
Trägheitsmoment J [mm4]
Widerstandsmoment W [mm3]
Rechteck: Höhe h, Breite b
b × h3/12
b × h2/6
Dreieck: Höhe h, Basis b (e = h × 2/3)
b × h3/36
b × h2/24
Kreisrund: Durchmesser D
π D4/64
π × D3/32
Rohr: Durchmesser D (außen) bzw. d (innen)
π (D4 – d4)/64
π (D4 – d4)/32 × D
Formeln beispielsweise aus Maschinenbauhandbüchern (z. B. Dubbel 1986) zu entnehmen.
Elastische Verformung unter Biegung Die Berechnung der Durchbiegung eines belasteten Balkens, der auf 2 Stützen ruht, oder der Verschiebung des Endpunkts (Auslenkung) eines einseitig eingespannten Konsolträgers ist eine weitere Aufgabe, die das äquatoriale Trägheitsmoment der Querschnittfläche benötigt. Die entstandenen Dehnungen (infolge eines Biegemoments Mb) an den konkaven und konvexen Seiten eines belasteten Biegeträgers führen zu einer Krümmung der Neutrallinie mit dem Radius ρ (⊡ Abb. 4.8). Aus geometrischen Betrachtungen ergibt sich: ρ = e × E/σ = Ja × E/Mb, wobei Mb das örtliche Biegemoment an der untersuchten Stelle entlang des Trägers ist. Weil die Krümmung entlang des Trägers mit dem örtlichen Biegemoment variiert, muss die genaue Biegemomentverteilung entlang des Trägers bekannt sein. Danach wird zuerst die Summe der Krümmungen entlang der Träger ermittelt, bevor man zur gesuchten Auslenkung gelangt. Diese Integrationsarbeit ist für die häufiger in der Praxis vorkommenden Fälle bereits ausgeführt, und die Ergebnisse sind in entsprechenden Handbüchern enthalten (Dubbel 1986). Weil die Aufzeichnung aller denkbaren Belastungsfälle den Rahmen dieser Abhandlung sprengen würde, sind in ⊡ Abb. 4.9 lediglich 3 häufig anzutreffende Biegebelastungsarten dargestellt. Wie anhand der 3 dargestellten Belastungsfälle (⊡ Abb. 4.9) zu erkennen, ist die Durchbiegung stets umgekehrt proportional zum axialen Trägheitsmoment der Querschnittfläche und direkt vom Elastizitätsmodul des Materials abhängig.
Schlussbemerkungen zur Biegung Die Biegetheorie und die elastische Verformung unter Biegung sind oben nur so weit dargestellt, wie es erforderlich ist, um Grundlagen zu vermitteln. Der Einfluss von Scherspannungen infolge einer Querkraft, welche die Biegung häufiger begleitet, wurde bewusst weggelassen. Denn bei relativ langen Biegebalken (im Verhältnis zu deren Höhe), die in der Praxis vorkommen, spielen die Normalspannungen die wichtigere Rolle. Von größter Bedeutung bezüglich Materialbeanspruchung (Spannung) und elastischem Verhalten (Durchbiegung, Auslenkung) ist der Einfluss der geometrischen Merkmale des Querschnitts eines in Biegung belasteten Trägers.
41 4.2 · Festigkeit und Elastizität
F a v u v = F × u3 / (3 × Ja × E)
b
v Mb
u
v = Mb × u2 / (2 × Ja × E)
u/2
F
u/2
c v
v = F.u
3
u
⊡ Abb. 4.10 Verdrehung eines Rundstabes unter Torsion. Erläuterungen im Text
v = F × u3 / (48 × Ja × E) ⊡ Abb. 4.9a–c Auslenkung von Biegeträgern unter Last. Erläuterungen im Text
Torsion Bei der Behandlung der Verdrehung gilt die Annahme – wie in der Biegetheorie von Coulomb –, dass alle Querschnittebenen eben bleiben, auch im torquierten Zustand. Dies ist nachweislich bei allen kreisrunden und röhrenförmigen Stäben der Fall. Bei Stäben anderer Querschnittformen trifft dies nicht zu (die Querschnittebenen verwerfen sich unter Belastung), und deshalb wird hier nur die kreisrunde Querschnittform behandelt.
Polares Trägheitsmoment, polares Widerstandsmoment und Torsionsspannungen ⊡ Abb. 4.10 zeigt die Art der Verformung eines in Torsion belasteten Stabes. Querschnittebenen haben sich gegeneinander verschoben. Mantellinien, die vor der Belastung parallel zur Stabsachse verliefen, nehmen im belasteten Zustand eine Spiralform an. Betrachtet man ein kleines Rechteck mit Seiten parallel und quer zur Längsachse des Stabes auf der zylindrischen Oberfläche des unbelasteten Stabes, verformt sich dieses unter Scherbelastung zu einem Parallelogramm. Die gegenüberliegenden Seiten haben sich verschoben. Die ursprünglichen Rechtecke sind nun um einen Winkel γ verzerrt. Diese an der Oberfläche festzustellende Verzerrung nimmt radiär bis zur Stabsachse linear ab, und zwar bis auf den Wert Null. Dementsprechend ist der Verlauf der Scherspannungen ebenfalls linear, von einem Maximum an der Oberfläche bis auf Null in der Mitte. Betrachtet man die Scherspannungen τ in einem beliebigen Querschnitt, dann ist τ = τmax × y/e.
Das innere Drehmoment Mi ergibt sich aus der Summe Σ f × τ × y = Σ f × τmax × y2/e = (τmax/e) Σ f × y2. Der Summenausdruck Σ f × y2 (⊡ Abb. 4.10) ist eine Konstante des Querschnitts und das polare Trägheitsmoment der Querschnittfläche Jp [mm4] bezogen auf die Mitte des kreisrunden Querschnitts. Weil das innere Drehmoment (Torsionsmoment) gleich groß sein muss wie das äußere, gilt: (τmax/e) Σ f × y2 = (τmax/e) Jp = Mt
Daraus folgt: τmax = Mt × e/Jp
Somit kann auch (Σ f × y2)/e = Jp/e zu einer neuen Querschnittkonstanten [mm3] zusammengefasst werden. Diese wird als das polare Widerstandsmoment der Querschnittfläche Wp bezeichnet. Es ist also gleich dem polaren Trägheitsmoment Jp dividiert durch den Abstand e zur äußersten Faser. Damit ist τmax = Mt/Wp. Torsionsspannungen verhalten sich umgekehrt proportional zum Radius des Stabes in der 3. Potenz [r3]. Auch hier ist die Geometrie und nicht das Material des Stabes für die Größe der Torsionsspannungen maßgeblich. Mit D als Durchmesser des runden Stabes ist Wp = π D3/16 [mm3]. Im Fall eines Rohres ist Wp = π (D4a – D4i )/16 Da, wobei Da und Di der Außen- bzw. Innendurchmesser sind.
Elastische Verformung unter Torsion Die Verzerrung γ an der Oberfläche errechnet sich aus τmax/G, wobei G das Gleitmodul des Materials ist ( Kap. 4.2.1, Abschnitt »Verzerrung und Gleitmodul«). Die totale Verdrehung des End-
4
42
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
querschnitts gegenüber dem Anfangsquerschnitt ergibt sich dann aus Θ = τmax × L/r × G, wobei L die Länge und r der Radius des Stabes ist sowie Θ der Drehwinkel im Bogenmaß.
Elastisches Verhalten von Implantaten
4
Aus ⊡ Tab. 4.1 ist zu entnehmen, dass das E-Modul der meisten Metalle, die für Implantate Verwendung finden, etwa das 6- bis 12fache desjenigen von kortikalem Knochen beträgt. Implantate sollen eine Abstützungs- bzw. Kraftübertragungsrolle spielen, ohne den Knochen der physiologischen Beanspruchung unter Last zu berauben – was nicht immer einfach zu bewerkstelligen ist, denn einerseits müssen Implantate stark genug dimensioniert sein, um der auferlegten Belastung standzuhalten, und andererseits müssen sie die erforderliche Elastizität aufweisen. In Kap. 4.2.3 (Abschnitte »Elastische Verformung unter Biegung« und »Elastische Verformung unter Torsion« wurde dargestellt, wie die Elastizität eines Bauteils (Auslenkung eines Biegeträgers bzw. Verdrehung eines Torsionsstabs) durch dessen Formgebung zu beeinflussen ist. Materialseitig ist die Kombination von Körperverträglichkeit und niedrigem E-Modul – gekoppelt mit hoher Festigkeit – schwer zu finden. Der Wahl fällt meistens auf Metalle wie Titan (bzw. Titanlegierung), Chrom-Kobalt oder nichtrostenden Stahl. Demzufolge kann die erforderliche Komponentenelastizität nur durch »Design« bewirkt werden. Klassische Beispiele sind federnde Konstruktionen wie der Ilizarov-Fixateur und Schanz-Schrauben, aber im Fall der internen Fixation auch entsprechend geformte Platten mit Verschraubung. Damit die gefürchtete Inaktivitätsatrophie des Knochens infolge eines Kraftnebenschlusses (auch »stress shielding« genannt) auf ein Minimum reduziert wird, hat sich bei der Fixation von Endoprothesen i. A. die Anwendung eines möglichst kurzen Stiels als sinnvoll erwiesen (Näheres in Kap. 4.3.4).
4.3
Mechanische Beanspruchung des Knochens
4.3.1
Allgemeines
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat die besondere Architektur der Spongiosa, v. a. im Bereich des proximalen Femurs, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Wolff 1892). Der Spannungsverlauf, reflektiert durch die Trajektorien der Trabekularstruktur (⊡ Abb. 4.11), und sogar der Zusammenhang zwischen Spongiosadichte und Belastungshöhe wurde erkannt. Interessanterweise musste die Kortikalis als eine besonders dichte Form der Spongiosa immer wieder in Erinnerung gerufen und auf die spezielle Bauform der kortikalen Anteile eines Knochens hingewiesen werden. So wurde 1976 erstmals die Bedeutung der subchondralen Kortikalis des Acetabulums hinsichtlich der Kraftüberleitung zur restlichen Beckenstruktur beschrieben (Jacob et al. 1976). Die Beobachtung, dass relativ dünne Kortikalisschichten mittels sog. Membranspannungen (wie Hängematten) eine erhebliche Kraft übertragen können, mahnt zu einem vorsichtigen chirurgischen Umgang mit solchen Strukturen. Auch die Oberflächengeometrie des Knochens an Insertionsstellen von
⊡ Abb. 4.11 Knöcherne Architektur des proximalen Femur. Erläuterungen im Text
Muskeln und Ligamenten (Topografie), an denen eine Kraftübertragung stattfindet, ist zu beachten. Der Baustoff von Spongiosa und Kortikalis ist identisch. Durch den lockeren Aufbau der Spongiosa ergibt sich jedoch eine Konstruktsteifigkeit, die wesentlich geringer ist als die der Kortikalis. Unter »Konstrukt« ist eine volumetrisch größere Spongiosaeinheit zu verstehen, welche den Einfluss der Stoffauflockerung deutlich zeigt. Bei Angaben zum Elastizitätsmodul von Spongiosa spricht man daher von einem »globalen« E-Modul. Dieses variiert erheblich, von weniger als 0,5 kN/mm2 bis etwa 1,5 kN/ mm2. Das E-Modul von Kortikalis variiert zwischen 8 kN/mm2 und 20 kN/mm2 (Yamada 1970). Zudem ist zu beachten, dass der Übergang zwischen Spongiosa und Kortikalis stets graduell und nicht abrupt ist. Weitere Eigenschaften der makroskopischen Architektur des Knochens werden im folgenden Abschnitt anhand des proximalen Femurs behandelt.
4.3.2
Zum mechanischen Aufbau des Knochens am Beispiel des proximalen Femurs
Obwohl Borelli bereits 1685 den rechnerischen Vorgang zur Bestimmung der Gelenkkräfte beschrieb, dauerte es noch 250 Jahren, bis Friedrich Pauwels (1935) die Kraftresultierende im Hüftgelenk ermittelte. Letzterer stellte fest, dass die Kraftresultierende im Einbeinstand (beim Gehen maßgebend) in der Frontalebene liegt und mit einem Winkel von etwa 16° zur Vertikalen auf den Hüftkopf einwirkt (⊡ Abb. 4.11). Dieses analytische Ergebnis wurde durch In-vivo-Messungen von Bergmann (1997) weitgehend bestätigt. Ersetzt man diese Kraft (Hüftresultierende R) durch 2 Komponenten N und Q (N parallel zur Schenkelhalsachse und Q quer dazu), entstehen im Schenkelhals eine Druckbelastung infolge N und eine Biegebeanspruchung infolge Q. Die Kombination der Druckspannungen –σN (etwa gleichmäßig verteilt) und der Biegespannungen ±σb (Zug kraniolateral, Druck kaudomedial) führt im kraniola-
43 4.3 · Mechanische Beanspruchung des Knochens
teralen Bereich zu einer sehr geringen Belastung des Knochens (–σN + σb) und im kaudomedialen Anteil zu einer gesteigerten Druckbelastung: –σN – σb = –(σN + σb). Dieser Situation wird durch die Architektur der Schenkelhalskortikalis Rechnung getragen: im kraniolateralen Bereich sehr dünn, im kaudomedialen sehr dick. Im Bereich des Kopfes ist der Durchmesser durch die zulässige Belastbarkeit des Gelenkknorpels gegeben, und dadurch wird Spongiosa (von erheblicher Dichte) für den Femurkopf zum geeigneten Baumaterial. Dabei darf die dünne, widerstandsfähige, abschließende subchondrale Kortikalisschale (vergleichbar mit der Schale eines Eies) nicht außer Acht geraten. Die Architektur der Spongiosa innerhalb des Femurkopfs mit den rechtwinklig einander kreuzenden Trabekeltrajektorien, wie Wolf (1892) es erstmals beschrieb, weist deutlich auf die Richtung der am Femurkopf wirkenden Gelenkkraft und dessen Überleitung in die Kortikalis der Metaphyse weiter distal hin. Der knöcherne Aufbau im Bereich des Trochanters major ähnelt dem des Femurkopfs: dichte Spongiosa mit dünnem Kortikalisabschluss, durch welche die Sharpey-Fasern ein Kontinuum mit den inserierenden Abduktormuskelfasern bilden. Die Richtung der Trabekularstruktur, welche proximal mit den einstrahlenden Muskelfasern zusammenfällt und distal bis in die rasch dicker werdende laterale Kortikalis der femoralen Diaphyse verläuft, deutet auf die Zugkrafteinleitung und deren Fortsetzung im lateralen Anteil des Femurschafts hin. Die im kaudomedialen Anteil des Schenkelhalses eingeleitete Druckbeanspruchung setzt sich bis zum und entlang des medialen Anteils des Femurschafts fort. ! Cave Das Geschilderte warnt vor der gelegentlich anzutreffenden pauschalen Behauptung, Knochen sei unter physiologischer Belastung nur Druckkräften – und demzufolge nur Druckspannungen – ausgesetzt. Wenn auch das Femur, als Ganzes betrachtet, beim Tragen des Körpergewichts überwiegend unter Druckbelastung steht, dürfen Biegemomente und die dadurch entstehenden Zugspannungen dennoch nicht außer Acht gelassen werden. Auch die Zugoder Scherbeanspruchung des Knochens an Stellen, wo Muskeln oder Ligamente inserieren, ist zu berücksichtigen.
Am Beispiel mit ausgewählten Stellen am proximalen Femur (Schenkelhals, Trochanter major, Diaphyse) wird im folgenden Abschnitt verdeutlicht, welche Bedeutung der Berücksichtigung der inneren Beanspruchung zukommt, um beispielsweise Frakturen an solchen Stellen erfolgreich zu behandeln.
4.3.3
Innere Beanspruchung des Knochens am Beispiel des proximalen Femurs
Die Kenntnis der inneren Beanspruchung eines Knochens unter physiologischer Belastung ist von größter Bedeutung, wenn strukturelle Diskontinuitäten (z. B. Frakturen) durch mechanische Stabilisierungsmaßnahmen zu behandeln sind. Am Bei-
spiel des proximalen Femurs wird im Folgenden gezeigt, wie man die innere Beanspruchung des Knochens ermittelt. Das Femur ist beim Gehen großer Belastung ausgesetzt. Dabei ist die Standphase (Abrollphase des in Kontakt mit dem Boden befindlichen Fußes) entscheidend. Die Spitzenkräfte sind zwar von der Gehgeschwindigkeit abhängig, aber für eine qualitative Beurteilung der inneren Beanspruchung im Femur genügt es, den Einbeinstand im Stehen zu betrachten. Anhand der analytisch ermittelten äußeren Kräfte, die am Femur im Einbeinstand einwirken (Gelenkresultierende am Femurkopf und Muskelkraft der Abduktoren am Trochanter major), ergeben sich die im Folgenden dargestellten Beanspruchungsmuster.
Beanspruchung im Schenkelhalsbereich Gemäß des sog. Freimachungsprinzips wird an der zu untersuchende Stelle ein imaginärer Schnitt quer durch den Schenkelhals gelegt. Es müssen alle Kräfte und Momente, die auf einer Seite der Schnittstelle einwirken, bekannt sein. Bezüglich des Schenkelhalses ist bekannt, dass proximal der Schnittstelle nur eine Kraft R am Femurkopf einwirkt (⊡ Abb. 4.2). Die Kraft R beträgt etwa 3 G, wobei G das Körpergewicht ist. Wie in Kap. 4.3.2 beschrieben, wird diese Kraft in 2 Komponenten zerlegt, eine parallel zur Schenkelhalsachse (N), die andere quer dazu (Q). In der Schnittebene erzeugt N eine stabilisierende Druckkraft, während Q zu einem Biegemoment Mb = Q × y und auch zu einer Querkraft Q führt (⊡ Abb. 4.11). Beide letztgenannten Kräfte wirken destabilisierend. Kräfte und Biegemomente, die an der Schnittstelle im Gleichgewicht stehen, sind in ⊡ Abb. 4.2 und ⊡ Abb. 4.11 eingezeichnet. Im Fall eines Bruches an der imaginären Schnittstelle wird deutlich, welche mechanischen Maßnahmen erforderlich sind, um das Fragment zu stabilisieren. Jede nützliche Fixationseinrichtung (Winkelplatte, Schanz-Schrauben, dynamische Hüftschraube etc.) muss in der Lage sein, Mb sowie die Querkraft Q so aufzunehmen, dass unter Belastung an der Bruchstelle möglichst keine knöcherne Relativbewegung entsteht.
Beanspruchung im Bereich des Trochanter major Ähnlich wie oben geschildert, wird an der zu untersuchenden Stelle ein imaginärer Schnitt durch den Trochanter angelegt (Schnitt 2 in ⊡ Abb. 4.2). Die auf den Trochanter major einwirkende Muskelkraft Z beträgt etwa 2 G. Im gegebenen Fall wirkt Z schräg zur Schnittebene, und die Normalkraftwirkungslinie dürfte als durch die Mitte der Schnittebene gehend angenommen werden. Infolge der Zugkraft Z wirkt sowohl eine Querkraft Q2 als auch ein Biegemoment Mb2 an der Schnittstelle – dies in der Frontalebene im Einbeinstand. (Beim flektierten Hüftgelenk, z. B. beim Treppensteigen, dürfte sich an der gleichen Schnittstelle sowohl die Größe als auch die Richtung der Kräfte und des Biegemoments geändert haben). Das Problem, eine geeignete Fixationsvorrichtung zu finden, ist erheblich, denn die große Zugkraft von 2 G muss bei gleichzeitigem Zusammenhalten der Fragmentteile übertragen werden, um auch Relativbewegungen an den Bruchflächen zu minimieren. Die Problematik wird durch die hohe Pseudarth-
4
44
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
roserate – trotz der Entwicklung diverser Fixationsmethoden (Drahtschlingen, Hakenplatten etc.) – belegt. Das Zusammenspiel von Komponentenelastizität und Festigkeit ist hier von größter Bedeutung.
durch eine relativ dünne Platte aufgenommen werden können – vorausgesetzt, dass diese möglichst lateral angebracht ist ( Kap. 4.2.3, Abschnitt »Coulomb-Biegetheorie«). Zu beachten sind allfällige Torsionsmomente (Mt3 in ⊡ Abb. 4.2), welche im vorliegenden Fall nicht weiter behandelt werden. Stabilität bei vorkommender Torsionsbeanspruchung könnte beispielsweise durch einen Küntscher-Nagel mit Längsrippen oder Ähnliches gewährleistet werden. Das Biegemoment Mb3 wird in einem solchen Fall durch die Biegefestigkeit des Küntscher-Nagels getragen, und dieser muss dementsprechend dimensioniert sein. Bei allen Fixations- und Stabilisierungssystemen ist auf die Entlastung des Knochens durch das Implantat und auf die dadurch drohende Inaktivitätsatrophie zu achten. Manchmal ist es notwendig, das Osteosynthesematerial nach erfolgter Knochenheilung möglichst bald zu entfernen. Die Problematik der Inaktivitätsatrophie in der Umgebung von Implantaten wird nachfolgend anhand von Beobachtungen mit Femurendoprothesen geschildert.
Beanspruchung im diaphysären Bereich
4
Wie üblich, wird an der zu untersuchende Stelle im diaphysärem Bereich ein imaginärer Querschnitt (Schnitt 3 in ⊡ Abb. 4.2) gelegt (einfachheitshalber im Einbeinstand genau horizontal). Nun werden alle Kräfte und Momente, die dem proximalen Fragment ausgesetzt sind, in Betracht gezogen. (Auch das distale Fragment kann mit den entsprechend auferlegten Kräften und Momenten betrachtet werden – man wird zum gleichen Ergebnis gelangen. Die Wahl richtet sich lediglich nach der Kenntnis der Beanspruchung am entsprechenden Fragment.) Am proximalen Fragment wirken die Hüftresultierende R und die Muskelkraft Z. Diese Kräfte können zu einer gemeinsamen Kraft K zusammengefügt werden, welche gleich G ist, denn die Gleichgewichtsbedingung G + Z + R = 0 wurde erfüllt (⊡ Abb. 4.2). Die Kraft G wirkt als Normalkraft (N3 = G). Hinzu kommt das Biegemoment Mb3 = G × y3, wobei y3 den Abstand zwischen der Körperschwerlinie im Einbeinstand und der Längsachse des Femurs ist. Die Normalkraft G erzeugt an der Frakturstelle Druck und wirkt daher stabilisierend, aber dem destabilisierenden Biegemoment Mb3 muss entgegengewirkt werden. Logischerweise wäre eine an die laterale Kortikalis angeschraubte Platte sinnvoll; eine an der medialen Seite angebrachte Platte würde die erforderliche Biegesteifigkeit hingegen kaum aufbringen. An der lateralen Seite des Femurs treten Zugspannungen auf, die
⊡ Abb. 4.12a, b Spannungsentlastung des proximalen Femurs nach Einsetzen eines Implantats. a Zustand vor Einsetzen des Implantats; b Zustand nach Einsetzen des Implantats. Längsspannungen in MPa (= N/mm2), G = 600 N. + Zug; – Druck; G Gewichtskraft; σ Spannung
4.3.4
Beeinflussung des physiologischen Belastungsmusters des Knochens durch Endoprothesen
In den 1970er Jahren wurde von einer »neuen Pathologie« des Femurs berichtet: Knochenschwund im Proximalbereich des Prothesenstiels. Im Fall einer gelockerten Prothese wurde die Revision dadurch erheblich erschwert. Des Knochenschwunds wegen mussten Revisionsprothesen mit entsprechend längerem Stiel verwendet werden, die aber das Problem der Knochen-
a
b
45 Kleines Glossar
atrophie nicht beseitigten. Die Ursache für die Knochenatrophie suchte man an mehreren Fronten:
▬ Knochennekrose durch Knochenzement während dessen Polymerisation ▬ Durchblutungsstörungen ▬ Knochenresorption als Bioreaktion auf Zementpartikel ▬ ungeeignete Belastung des Knochens Dehnungsmessungen an Kunststoffmodellen des »physiologischen« Femurs im simulierten Einbeinstand haben die zweckmäßige Beanspruchung des Knochens vollumfänglich bestätigt. Im Schenkelhalsbereich zeigte der Spannungsverlauf entlang der medialen Kortikalis eine Belastung von etwa –24 N/mm2 und im mittleren Drittel der Diaphyse eine Belastung von ca. –38 N/mm2 (⊡ Abb. 4.12a). Nach Implantation einer konventionellen Prothese sank die Beanspruchung im proximalen Anteil des Femurs um 58 % auf etwa 10 N/mm2 (⊡ Abb. 4.12b). Der im Vergleich zum Knochen steife Endoprothesenstiel übertrug die vom Kugelkopf eingeleitete Gelenkkraft weiter nach distal, und damit fand im proximalen Bereich des Knochens eine Entlastung statt (Jacob u. Huggler 1980). Dies wurde dem WolffGesetz entsprechend als Hauptursache der Atrophie erkannt, und als Folge davon begann die Entwicklung diverser Prothesenkonzepte (Jacob et al. 2003; Werner et al. 2005). Die Steifigkeit eines Implantats ist, wie in Kap. 4.2.3 (Abschnitt »Elastisches Verhalten von Implantaten«) beschrieben, nicht nur vom E-Modul des Werkstoffs abhängig, sondern auch von der Gestaltung des Implantats (»Design«). Somit nahm die Formgebung neuerer Prothesen eine zentrale Position ein: Kurzstielprothesen, Prothesen mit spezieller proximaler Oberflächenbeschaffenheit (Aufrauung, Verwendung von Titan, Hydroxylapatitbeschichtung etc.) und distal glattem Stiel, Prothesen ohne intramedulläre Verankerung (Druckscheibenprothese; Jacob et al. 2003) sowie Schalensysteme wurden entwickelt.
4.4
Schlussbemerkungen
müssen Wege gefunden werden, den Knochen in der Umgebung eines Implantats weiterhin möglichst physiologisch zu beanspruchen, damit, wie Wolff es formulierte, »das Agens des Abhängigkeitsverhältnisses in das Streben zur Erhaltung der Funktion« in seinem Wesen respektiert wird.
Literatur Bergmann G (1997) In vivo Messung der Belatsung von Hüftimplantaten. Habilitationsschrift. Koster, Berlin Borelli GA (1685) De Motu Animalium [Übersetzt in Englisch durch P Maquet, 1989: On the movement of animals]. Springer, Berlin Dubbel (1986) Taschenbuch für den Maschinenbau, 15. Aufl. Springer, Berlin Jacob HAC, Bereiter HH, Bürgi ML (2003) Die zementlose metaphysär zu verankernde Druckscheiben-Hüftendoprothese (DSP). Med Orth Tech 5: 23–30 Jacob HAC, Huggler HU (1980) An investigation into biomechanical causes of prosthesis stem loosening within the proximal end of the human femur. J Biomechanics 13: 159–173 Jacob HAC, Huggler AH, Dietschi C, Schreiber A (1976) Mechanical function of subchondral bone as experimentally determined on the acetabulum of the human pelvis. J Biomechanics 9: 625–627 Pauwels F (1935) Der Schenkelhalsbruch – ein mechanisches Problem. Z Orthop Chir 63: Beilagenheft Werner CML, Jacob HAC, Ramseier LE, Favre P, Exner GU (2005) Uncemented short-length diaphyseal segmental replacement prosthesis fixation – finite element analysis and long-term results. J Orthop Res 23: 1065–1072 Wolff J (1892) Das Gesetz über die Transformation der Knochen. Hirschwald, Berlin Yamada H (1970) Strength of biological materials. Williams & Wilkins, Baltimore
Kleines Glossar Bruchdehnung
Eine Materialkonstante. Die plastische Dehnung während des Zerreißversuchs bis zum Materialbruch. Dauerfestigkeit
Das Wissen über das Verhalten eines Materials unter mechanischer Beanspruchung – die Festigkeitslehre – kann nur verstanden werden, wenn sowohl die Eigenschaften des Werkstoffs als auch die mechanische Beanspruchung desselben bekannt sind. Diese semiempirische Disziplin verbindet die Kenntnisse aus Laborversuchen mit abstrakten Grundlagen aus der Elastizitätslehre. Gegen eine falsche Anwendung von Formeln und Berechnungsmethoden ist nur derjenige geschützt, der ihre Herleitung kennt. Diese Grundlagen sind für den Alltag der orthopädischen Traumatologie bestimmt. Das Gebiet des mehrachsigen Spannungszustands wurde nicht behandelt, denn dies würde den vorgegebenen Rahmen dieses Kapitels sprengen. Letztlich ist auf das besondere Material »Knochen« hinzuweisen. Knochen besitzt die Fähigkeit, entstandene Bruchstellen zu heilen und die auferlegte mechanische Beanspruchung gestalterisch so anzupassen, dass – innerhalb gewisser Grenzen – eine ideale äußere Form und eine ideale innere Architektur resultieren. Diese »Grenzen« sind noch unbekannt. Daher
Maximale Grenzspannung, unterhalb welcher – bei zyklischer Belastung – ein Bruch nie zu erwarten wäre. Maßeinheit: MPa bzw. N/mm2. Dehnung
Örtliche, prozentuale Längenänderung (Längenänderung/ursprüngliche Länge), bewirkt durch die Spannung in einem durch Kräfte verformten Körper. Die Dehnung ist einheitslos (ε = ΔL/L0, mm/mm) und wird in % oder ‰ dargestellt. Drehmoment
Ein Dreheffekt, der zur beschleunigten Rotation eines starren Körpers mit der Masse m führt. Zwei gleich große, parallele, entgegengesetzte Kräfte (Kräftepaar F und –F) mit dem Abstand L bewirken einen Drehmoment innerhalb der Ebene, die beide Kräfte enthält. Die Größe des Drehmoments ergibt sich aus dem Produkt von Kraft und Abstand (F × L). Die Richtung des Drehmoments wird durch einen Pfeil dargestellt, der nach Konvention senkrecht zur besagten Ebene steht und
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46
Kapitel 4 · Materialverhalten (Knochen und Implantatwerkstoffe) bei mechanischer Beanspruchung
nach der »Korkenzieherregel« die Drehrichtung anzeigt. Ein gegebenes Drehmoment Mt kann darzustellenderweise durch ein Kräftepaar von beliebiger Größe F mit entsprechendem Abstand L ersetzt werden. Selbst wenn die Drehrichtung und der Dreheffekt (Größe des Drehmoments) definiert sind, ist die räumliche Position der Drehachse nicht bestimmt. Maßeinheit: Nm.
dass die Erde die Masse mit etwa 9,82 m/s2 in Richtung Erdmitte beschleunigt. Somit wirkt zwischen Tisch und Masse eine Kraft von 9,82 N (s. oben, »Kraft«). Anmerkung: Die Masse eines Patienten wäre korrekterweise in Kilogramm anzugeben und das Gewicht in Newton (N = kg × 9,82). Normalkraft
4
Duktilität
Die senkrecht zu einer Bezugsebene einwirkende Kraft.
Ein Ausdruck für die plastische Verformbarkeit eines Materials; wird häufig der Bruchdehnung gleichgesetzt.
Normalspannung
Spannungen, die senkrecht zu einer Bezugsebene auftreten. Elastische Verformung
Diejenige Verformung, welche sich bei nachträglicher totaler Entlastung eines belasteten Körpers zurückbildet.
Pascal
Elastizitätsmodul (E-Modul)
Internationale Maßeinheit für die Spannung (Druck-, Zug-, Scher- oder Schubspannung; s. unten, »Spannung«). Maßeinheit: Pa.
Eine Materialkonstante, die das Maß für die Steifigkeit des Werkstoffs ist. Maßeinheit: GPa bzw. kN/mm2.
Plastische Verformung
Ermüdung
Diejenige Verformung, welche bei nachträglicher totaler Entlastung eines belasteten Körpers erhalten bleibt.
Bruch infolge zyklischer Belastung; abhängig von Beanspruchungshöhe und Anzahl der Lastzyklen.
Querkraft
Siehe unten, »Scherkraft«. Freimachungsprinzip
Ein Verfahren, um Kräfte und Momente, die im Inneren eines Körpers wirken, zu bestimmen. Zuerst wird ein imaginärer Schnitt durch den zu analysierenden, im Kräftegleichgewicht befindlichen Körper gelegt. Alle äußeren Kräfte und Momente, die an einer Seite des Schnittes auftreten (es ist unerheblich, welcher Seite gewählt wird), werden nun zusammengefasst. Danach werden die Gleichgewichtsbedingungen, die an der Schnittstelle herrschen müssten (Kräfte und Momente), bestimmt. Dasselbe Verfahren kommt zur Anwendung, um die Gelenkresultierende zu bestimmen, wobei der Schnitt durch das Gelenk zu legen ist. Es ergibt sich eine Kraft, die stets senkrecht zur Gelenkoberfläche wirkt (s. unten, »Resultierende«). Kraft
Wirkt eine Kraft auf einen starren Körper mit der Masse m, erfährt der Körper eine Geschwindigkeitsänderung. Der Körper wird entlang der Kraftwirkungslinie beschleunigt. Die Größe der Kraft ergibt sich aus dem Produkt von Masse und Beschleunigung (s. unten, »Newton«). Die Kraft ist eine abgeleitete physikalische Größe, bestimmt durch den Betrag sowie die räumliche Richtung und die Lage der Wirkungslinie, und ist daher ein »linienflüchtiger« Vektor. Maßeinheit: N.
Resultierende (Gelenk-)
Wirken mehrere Kräfte derart an einem starren Körper, dass dieser im Gleichgewicht verharrt (vektorielle Summe aller Kräfte: 0), dann ist jede einzelne Kraft die äquilibrierende Kraft der zusammengefassten restlichen Kräfte. Kehrt man die Richtung dieser äquilibrierenden Kraft um, erhält man die Resultierende der übrigen Kräfte. Die »Resultierende« (eigentlich: resultierende Kraft) ist die vektorielle Summe aller Kräfte abzüglich der zuvor erwähnten äquilibrierenden Kraft. Die Gelenkresultierende wirkt senkrecht zur Knorpeloberfläche und ist die Vektorsumme der externen Kraft (z. B. Schwerkraft) sowie der internen, gleichgewichtserhaltenden Muskelkräfte. Kehrt man die Richtung der Gelenkresultierenden um, ist sie die äquilibrierende Kraft und führt zusammen mit allen anderen Kräften zur Vektorsumme 0. Scherkraft
Die parallel zur Bezugsebene einwirkende Kraft. Scher- oder Schubspannung
Spannungen, die innerhalb einer Bezugsebene auftreten. Schubkraft
Siehe oben, »Scherkraft«. Kriechen
Zunehmende plastische Dehnung infolge Belastungsdauer, selbst bei geringer Belastung. Newton
Internationale Krafteinheit; Symbol: N. Die Kraft, die benötigt wird, um eine Masse von 1 kg mit 1 m/s2 zu beschleunigen. Ruht eine Masse von 1 kg auf einem Tisch, verhindert dieser,
Spannung
Kraftintensität innerhalb einer beanspruchten Fläche, also Kraft/Fläche. Die Spannung kann in einem belasteten Körper von Punkt zu Punkt variieren. Daher ist die Bezugsfläche möglichst klein zu wählen. Spannungen sind keine Vektoren! Maßeinheit: N/m2 (Pa; s. oben. »Pascal«); 1 Pa ist gefühlsmäßig unvorstellbar klein, und selbst 1 MPa lässt keine praktische
47 Kleines Glossar
Vorstellung zu. Deshalb wird die Einheit N/mm2 in der technischen Literatur bevorzugt (1 MPa = 1 N/mm2). Streckgrenze (Fließgrenze)
Eine Materialkonstante. Die Spannung, welche – wenn sie überschritten wird – das Material bleibend verformt. Bei der nachträglichen totalen Entlastung des Körpers wird die ursprüngliche Form nicht mehr erreicht. Maßeinheit: MPa bzw. N/mm2 (s. oben, »Spannung«). Trägheitsmoment (äquatorial oder axial)
Geometrische Konstante bezogen auf die Querschnittfläche eines Biegebalkens; wird benötigt, um die Durchbiegung (elastische Verformung) zu berechnen. Symbol: Ja; Maßeinheit mm4 (s. unten, »Widerstandsmoment«). Trägheitsmoment (polar)
Geometrische Konstante bezogen auf die Querschnittfläche eines in Torsion beanspruchten Stabes; wird benötigt, um die Verdrehung (Verdrillung) zu berechnen. Symbol: Jp; Maßeinheit: mm4 (s. unten, »Widerstandsmoment«). Viskoelastizität
Dehnungsänderung im Laufe der Zeit, auch bei konstant gehaltener Spannung. Das Material bleibt elastisch, und die ursprüngliche Form wird nach totaler Entlastung sowie nach geraumer Zeit wieder erreicht. Widerstandsmoment (äquatorial oder axial)
Geometrische Konstante bezogen auf die Querschnittfläche eines Biegebalkens; wird benötigt, um die maximale Biegespannung zu berechnen. Symbol: Wa; Maßeinheit: mm3. Das Widerstandsmoment wird von dem entsprechenden Trägheitsmoment Ja abgeleitet. Widerstandsmoment (polar)
Geometrische Konstante bezogen auf die Querschnittfläche eines in Torsion beanspruchten Stabes; wird benötigt, um die maximale Torsionsspannung zu berechnen. Symbol: Wp; Maßeinheit: mm3. Das Widerstandsmoment wird vom entsprechenden Trägheitsmoment Jp abgeleitet. Zugfestigkeit
Eine Materialkonstante. Die höchste Spannung, die der Werkstoff unter Zugbeanspruchung ertragen kann. Maßeinheit MPa bzw. N/mm2.
4
5
Periprothetische Frakturen J.B. Erhardt, M.S. Kuster
5.1
Periprothetische Frakturen nach Hemi- oder Totalhüftgelenkarthroplastik – 50
5.2
Periprothetische Frakturen am Kniegelenk – 53
5.3
Periprothetische Frakturen am Schultergelenk – 58 Literatur
– 59
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 5 · Periprothetische Frakturen
5.1
Periprothetische Frakturen nach Hemi- oder Totalhüftgelenkarthroplastik
z
5
Epidemiologie
Die Prävalenz dieser Frakturen ist steigend, und sie sind daher bereits der dritthäufigste Grund für die Revision einer Hüftprothese. Periprothetische Frakturen werden in peri- und postoperative Frakturen unterteilt. Unzementierte Schäfte sind mit einem großen Risiko für eine periprothetische Fraktur verbunden. Daten aus der Mayo-Klinik zeigen ein Risiko für eine intraoperative Fraktur von 0,3 % für zementierte Schäfte und von 5,4 % für unzementierte Schäfte. Das Risiko einer postoperativen Fraktur für zementierte und unzementierte Schäfte wird mit 1,1 % angegeben. Das Risiko einer intraoperativen Fraktur steigt bei einer Wechseloperation auf 3,6 % für zementierte und 20,9 % für unzementierte Schäfte (Berry 1999). Das Gesamtrisiko für eine periprothetische Fraktur beträgt nach den Daten der Mayo-Klinik 4,1 %. Daten aus dem schwedischen Prothesenregister zeigen für das Gesamtkollektiv ein 10-JahresRisko von 0,64 % (Lindahl 2007). Die Einjahresmortalität des Gesamtkollektivs beträgt 13,1 % (Lindahl et al. 2006a). > Unzementierte Schäfte sind mit einem höheren Risiko für eine periprothetische Femurfraktur assoziiert. z
Risikofaktoren
Periprothetische Femurfrakturen ereignen sich meist als Folge niedrigenergetischer Unfallmechanismen. Als Risikofaktoren gelten (Lindahl et al. 2006a): ▬ Osteoporose ▬ Schaftfehllage ▬ inkompletter Zementmantel ▬ Osteolysen ▬ »stress shielding« ▬ aseptische Lockerung ▬ Revisionsarthroplastik z
Anamnese und Diagnostik
Aus der Anamnese ist zu erfahren, ob es Hinweise auf eine vorbestehende Lockerung der Prothese wie belastungsabhängige Schmerzen, Instabilitäten oder reduzierte Gehstrecke gab. Der Aktivitätsstatus vor der Fraktur sowie Hinweise in Bezug auf einen okkulten Infekt wie Ruheschmerz, Überwärmung und Temperaturerhöhung sollten dokumentiert werden. Bei der bildgegebenden Diagnostik ist auf hochqualitative Röntgenaufnahmen des Hüftgelenks und des Femurs zu achten, und je nach Frakturlokalisation oder anderen Begleitfaktoren (z. B. Vorhandensein einer ipsilateralen Knietotalendoprothese) ist eine Aufnahme des angrenzenden Gelenks erforderlich. Neben der Frakturart und der Klassifikation muss das verwendete Prothesendesign identifiziert werden, da dies in Hinblick auf die Therapie von Bedeutung ist. z
inhaltet die Lokalisation im Verhältnis zum Schaft, den Verankerungsstatus des Implantats und die Qualität des Knochens.
Klassifikation
Zur Klassifikation der periprothetischen Femurfrakturen nach Hüftarthroplastik findet die Vancouver-Klassifikation (Brady et al. 1999) weit verbreitete Anwendung. Die Klassifikation be-
Vancouver-Klassifikation
▬ Ag: Fraktur des Trochanter major ▬ Al: Fraktur des Trochanter minor ▬ B1: Fraktur um den Schaft/die Prothesenspitze mit fester Prothese
▬ B2: Fraktur um den Schaft/die Prothesenspitze mit lockerer Prothese
▬ B3: Fraktur um den Schaft/die Prothesenspitze mit lockerer Prothese und schlechter Knochenqualität
▬ C: Fraktur distal des Schaftes
Die Einteilung insbesondere in die Kategorie B1 oder B2 sollte nicht nur anhand des Röntgenbildes erfolgen, sondern auch intraoperativ überprüft werden (Lindahl et al. 2006a). Gewissenhaft angewendet kann die Klassifikation gute Empfehlungen für die Therapie geben. z
Therapie
Ziele der Behandlung sind die frühfunktionelle Nachbehandlung, die unmittelbare Mobilisation und die knöcherne Konsolidierung. Es besteht ein genereller Konsens, dass sich die konservative Behandlung dieser Frakturen nicht bewährt hat (Lindahl et al. 2006b; Su et al. 2004). Einzig undislozierte TypA-Frakturen können – unter der Voraussetzung engmaschiger Nachkontrollen – konservativ behandelt werden. Die operative Behandlung richtet sich nach dem Frakturtyp, der Knochenqualität und der Qualität der Verankerung des Schaftes. Anhand des Schwedischen Prothesenregisters ergibt sich folgende Verteilung des Frakturmusters:
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Typ A: 2 % Typ B1: 28 % Typ B2: 49 % Typ B3: 11 % Typ C: 10 %
Bei Vorliegen einer Typ-B2- oder -B3-Fraktur muss ein Schaftwechsel durchgeführt werden, evtl. in Kombination mit einer Osteosynthese. Hier sind sowohl für zementierte als auch für unzementierte Prothesen gute Ergebnisse dokumentiert (Lindahl et al. 2006a; Springer et al. 2003; Zaki et al. 2007). Es gibt jedoch Hinweise, dass unzementierte Schäfte mit einer geringeren Re-Operationsrate assoziiert sind (Lindahl et al. 2006a; Springer et al. 2003). Bei der Verwendung distal verankernder zementfreier Schäfte für B2-Frakturen hat sich ein transfemoraler Zugang bewährt. Bei ausgedehntem Knochenverlust und Osteolysen zeigt alternativ das »impaction grafting« – allein oder in Kombination mit »strut allografts« – gute Resultate (Tsiridis et al. 2007b). Bei dieser Technik wird zermörserte Allograft-Spongiosa in Verbindung mit zementierten Revisionsschäften verwendet. Bei B1- und C-Frakturen sollte eine Osteosynthese angestrebt werden (⊡ Abb. 5.1). Obwohl bisher keine prospektiven
51 5.1 · Periprothetische Frakturen nach Hemi- oder Totalhüftgelenkarthroplastik
⊡ Abb. 5.1 Radiologischer Verlauf einer Vancouver-Typ-C-Fraktur, die mit einem polyaxialen winkelstabilen Implantat versorgt wurde
randomisierten Studien vorliegen, zeigen Osteosynthesen mit winkelstabilen Platten gute Resultate (Chakravarthy et al. 2007; Erhardt et al. 2007; Fulkerson et al. 2007; Ricci et al. 2006; Wick et al. 2004). Für die Verwendung winkelstabiler Implantate sind verschiedene Techniken beschrieben. Diese weisen gegenüber Konstruktionen mit Cerclagen bessere biomechanische und biologische Eigenschaften auf (Chakravarthy et al. 2007). Jedoch kann die Verankerung im proximalen Fragment schwierig sein, da die vorgegebene Richtung der winkelstabilen Schrauben häufig mit der Lage der Prothese interferiert. Plattenausrisse als Folge einer insuffizienten Verankerung sind beschrieben (Buttaro et al. 2007; Chakravarthy et al. 2007). Da anatomisch geformte Platten für den proximalen Femur nicht erhältlich sind, kann die Verwendung einer Platte an der kontralateralen Seite in umgekehrter Richtung die Fixationsmöglichkeiten verbessern. Ebenso sind seit Kurzem periprothetische Schrauben ohne Spitze erhältlich. Dadurch können mehr Gewindegänge zur Verankerung beitragen, und es wird eine höhere Ausriss-
resistenz erreicht (Kampshoff et al. 2009). Bei der Verwendung eines polyaxialen winkelstabilen Implantats lässt sich trotz eines intramedullären Schaftes eine bikortikale Schraubenposition erzielen, was gerade in osteoporotischem Knochen von Vorteil ist (Erhardt et al. 2007). Es hat sich bewährt, die proximalen Schrauben dorsal am Schaft vorbei zu platzieren und die distalen Schrauben ventral. Bei der Verwendung von bikortikalen Schrauben, die durch den Zement penetrieren, muss jedoch mit einer Beschädigung des Zementmantels gerechnet werden, sodass dies zu vermeiden ist (Kampshoff et al. 2009). Eine gute Alternative zur winkelstabilen Platten stellen »strut allografts« dar, die auch in Kombination mit konventionellen Platten verwendet werden können. Hierfür sind sowohl gute klinische als auch gute biomechanische Ergebnisse beschrieben (Haddad et al. 2002; Tsiridis et al. 2007b; Zdero et al. 2008). Perioperativ muss überprüft werden, ob es sich um eine Typ-B1-Fraktur handelt und ob der Schaft fest verankert ist. Insbesondere zeigen Daten des Schwedischen Prothesenregisters, dass die
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52
Kapitel 5 · Periprothetische Frakturen
Typ A
g
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Intraoperative Prüfung
l
Undisloziert
Disloziert
Konservativ
Cerclagen, Trochanterplatte
Konservativ
BI
Typ B
B II
Typ C
B III
Winkelstabile Plattenosteosynthese
Osteosynthese: winkelstabile Platten, »strut allografts« Sonderfall: Querfraktur an der Prothesenspitze m ggf. Schaftwechsel
Schaftwechsel mit Revisionsschaft
Schaftwechsel mit Revisionsschaft, »impaction grafting« »strut allografts«
⊡ Abb. 5.2 Behandlungsalgorithmus für periprothetische proximale Femurfrakturen anhand der Vancouver-Klassifikation
⊡ Abb. 5.3 Radiologischer Verlauf einer Vancouver-Typ-B1-Querfraktur direkt an der Prothesenspitze. Es zeigt sich die schlechte Heilungstendenz dieser spezifischen Art von Fraktur (2facher Plattenbruch), sodass eine Konversion auf eine distal verankernde zementfreie Revisionsprothese erfolgte
53 5.2 · Periprothetische Frakturen am Kniegelenk
Revisionsrate nach Osteosynthese von B1-Frakturen höher ist als nach Versorgung von B2-Frakturen. Dies erklärt sich aus intraoperativ nicht erkannten Schaftlockerungen (Lindahl et al. 2006a). Das Vorgehen bei periprothetischen proximalen Femurfrakturen ist in ⊡ Abb. 5.2 in Form eines Algorithmus zusammengefasst. Einen Sonderfall stellen B1-Querfrakturen unmittelbar an der Prothesenspitze dar (⊡ Abb. 5.3). Hier gibt es Hinweise auf eine erhöhte Pseudarthroserate, sodass die Indikation zum Prothesenwechsel großzügig zu stellen ist (Tsiridis et al. 2007a). > Der Fixierungsstatus des Schaftes muss intraoperativ überprüft werden.
5.2 z
Periprothetische Frakturen am Kniegelenk Epidemiologie
In Deutschland werden nach Zahlen der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung jährlich (Stand 2007) ca. 136.000 Knietotalendoprothesen implantiert. Etwa 0,3–2,5 % der Patienten erleiden als Komplikation eine periprothetische Fraktur (Ritter et al. 1988; Su et al. 2004). Am häufigsten betroffen ist hier der distale Femur mit einer Inzidenz von bis zu 2 %, gefolgt von Tibia (0,3–0,5 %) und Patella (bis 0,6 %) (Burnett et al. 2004). z
Pathogenese und Risikofaktoren
Periprothetische suprakondyläre Femurfrakturen ereignen sich meist als Folge niedrigenergetischer Unfallmechanismen. Prädisponierend sind 3 Faktoren: ▬ Osteopenie ▬ reduzierte Kniegelenkbeugung ▬ Schwächung der anterioren Femurkortikalis (»femoral notching«) Vor allem die Kombination des »femoral notching« mit einer reduzierten Flexion scheint das Risiko zu erhöhen, während ein alleiniges »femoral notching« nicht zu einer erhöhten Frakturrate führt (Ritter et al. 1988). Biomechanische Studien zeigen bei einem »notching« von >3 mm eine Reduktion der Torsionsfestigkeit um bis zu 30 % (Culp et al. 1987). Weitere lokale und systemische Risikofaktoren können ebenfalls Einfluss auf die Frakturgefahr haben.
Lokale und systemische Risikofaktoren für suprakondyläre Femurfrakturen
▬ Systemische Risikofaktoren: – – – – – – – ▼ –
Osteoporose rheumatoide Arthritis Steroidmedikation hohes Alter weibliches Geschlecht Epilepsie Ataxie Morbus Parkinson
– Myasthenie – zervikale Myelopathie – Poliomyelitis ▬ Lokale Risikofaktoren: – »femoral notching« (>3 mm) – verminderte Flexion (<90°) – Osteolysen – Infekt – femorale Komponente in Hyperextension – Lockerung – Revisionsprothetik
Periprothetische Frakturen an der Tibia sind insgesamt seltener. Hier zeigt sich pathogenetisch, dass v. a. eine Varusfehlstellung und eine Malrotation der tibialen Komponente zu Stressfrakturen am medialen Tibiaplateau führen können. Entsprechende Ereignisse treten im Durchschnitt 3–4 Jahre nach erfolgter Implantation auf. Ferner sind periprothetische Tibiafrakturen häufiger nach vorangegangener Fraktur oder Umstellungsosteotomie sowie bei zementfreier Technik, Verwendung von Impaktoren zur Spongiosaverdichtung und Impingement bei langstieligen Komponenten zu beobachten (Burnett et al. 2004). Zu den Risikofaktoren von periprothetischen Patellafrakturen gilt spezifisch, dass v. a. der Ersatz der Patellarückfläche den bedeutendsten Faktor darstellt (Grace et al. 1988; Tharani et al. 2005). Hier ist darauf zu achten das eine Restpatelladicke von mindesten 10 mm erhalten bleibt. Da die Durchblutung der Patella von medial und lateral erfolgt, sollte, um Nekrosen zu vermeiden, immer eine Seite unversehrt bleiben. In einer kürzlich durchgeführten Studie untersuchten die Autoren die Patelladurchblutung bei medialem oder lateralem Zugang mittels Laser-Doppler-Flowmetrie. Diese Untersuchung zeigte, dass die Durchblutung sowohl bei medialem als auch bei lateralem Zugang um bis zu 70 % abnimmt (Nicholls et al. 2006). Normalerweise reicht die gegenseitige Blutzufuhr für die Patelladurchblutung aus. Sollte bei einer medialen Arthrotomie jedoch ein laterales Release notwendig werden, ist die Patella nekrose- und bruchgefährdet. In der Klinik der Autoren wird daher in Fällen, bei denen mit einem lateralen Release gerechnet werden muss (Valgusknie, Patellasubluxation), sowie bei präoperativ bestehender Patella baja ein lateraler Zugang mit Tuberositasosteotomie propagiert. Auch ein erhöhtes Aktivitätsniveau ist ein Risikofaktor für Patellafrakturen. Männer sind hier häufiger betroffen (Ortiguera u. Berry 2002). z Klassifikation z z Suprakondyläre periprothetische Frakturen
Es existieren verschiedenartigste Klassifikationen, um suprakondyläre periprothetische Frakturen zu beschreiben. Als eine weit verbreitete Klassifikation ist die Einteilung nach Lewis und Rorabeck (Rorabeck u. Taylor 1999a) zu nennen. Diese Einteilung hat den Vorteil, dass sie eine Lockerung der Prothese einbezieht und somit eine Empfehlung für die Therapie gibt (⊡ Abb. 5.4).
5
54
Kapitel 5 · Periprothetische Frakturen
Klassifikation nach Lewis und Rorabeck
▬ Typ I: undislozierte Fraktur mit fester Prothese ▬ Typ II: dislozierte Fraktur mit fester Prothese ▬ Typ III: undislozierte oder dislozierte Fraktur mit gelockerter Prothese
z z Periprothetische Tibiafrakturen
5
Eine Klassifikation zur Einteilung der periprothetischen Tibiafrakturen wurde durch Felix et al. (1997) anhand der Auswertung von 102 Frakturen erarbeitet. Von diesen Frakturen ereigneten sich 19 intraoperativ. Die Klassifikation umfasst die Beschreibung des Frakturverlaufs, der Stabilität der Prothesenkomponente und des Zeitpunkts der Fraktur (⊡ Abb. 5.5). Postoperative Typ-I-Frakturen sind immer mit einer lockeren Prothese assoziiert.
⊡ Abb. 5.4 Darstellung der Klassifikation nach Lewis und Rorabeck (1999a)
Klassifikation periprothetischer Tibiafrakturen nach Felix
▬ Typ I: Tibiaplateaufrakturen ▬ Typ II: Frakturen meta-/diaphysär im Bereich der Prothe▬ ▬ ▬ ▬ ▬
senspitze Typ III: Frakturen distal der Prothese Typ IV: Fraktur der Tuberositas tibiae A: Prothese stabil B: Prothese locker C: intraoperativ
z z Periprothetische Patellafrakturen
Bei der Einteilung der Patellafrakturen existieren verschiedene Klassifikationen, die jedoch meist folgende wichtige Kriterien enthalten (Keating et al. 2003): ▬ Funktion des Streckapparats ▬ Lockerung des Implantats ▬ verbleibende Knochenqualität
Klassifikation periprothetischer Patellafrakturen nach Keating
▬ Typ I: vertikale Frakturen mit stabilem Implantat und erhaltenem Streckapparat
▬ Typ II: horizontale Frakturen mit Verlust der Streckfunktion, Implantat locker/stabil – A: Dislokation um <1 cm – B: Dislokation um >1 cm ▬ Typ III: lockeres Implantat bei erhaltenem Streckapparat – A: gutes Knochenlager (Patelladicke von >1 cm) – B: schlechtes Knochenlager (Patelladicke von <1 cm)
z Therapie z z Suprakondyläre periprothetische Frakturen
Ziele der Behandlung sind die frühfunktionelle Nachbehandlung, die unmittelbare Mobilisation und die knöcherne Konsolidierung. Als objektiv gutes Ergebnis können eine Flexion
⊡ Abb. 5.5 Darstellung der Klassifikation nach Felix et al. (1997)
von mindestens 90°, eine Verkürzung um <2 cm, ein Valgus/ Varus von <5° und eine Flexion/Extension der femoralen Komponente von <10° angenommen werden (Mittlmeier et al. 2005; Rorabeck u. Taylor 1999b; Su et al. 2004). Diese Ziele sind in der Regel nicht mittels konservativer Therapie zu erreichen, sodass nur in sehr seltenen, unvermeidbaren Fällen eine konservative Behandlung durchgeführt wird. Die Operation ist elektiv zu planen. Dies beinhaltet das Erstellen eines Behandlungskonzepts (⊡ Abb. 5.6), das Beschaffen und die Auswahl des entsprechenden Implantats (Platte, Nagel etc.) und bei Verdacht auf Lockerung das Vorhandensein einer Revisionsprothese. Bei ossären Substanzdefekten kann die Verwendung von entsprechendem Ersatz notwendig sein (autologe Spongiosa, Spongiosablöcke bei vorhandener Knochenbank, kortikospongiöse Späne, ggf. Allografts; Healy et al. 1993). Im Fall einer lockeren Prothesenkomponente (Typ III) ist ein Wechsel mit einer Revisionsprothese anzustreben. Hier sollte der Prothesenstiel die Fraktur um mindestens 2 Schaftdurchmesser überbrücken. Bei Stiellängen über 190 mm ist wegen der Femurantekurvation mit Impingement-Problemen zu rechnen (Rorabeck u. Taylor 1999b). Bei ausgeprägtem Knochenverlust mit Beteiligung der Epikondylen sollte die Ver-
55 5.2 · Periprothetische Frakturen am Kniegelenk
Typ I
Typ II
CT
Typ III
CT Guter »bone stock«
Schlechter »bone stock«
Fällen eine minimal-invasive Osteosynthese erfolgen (Ricci et al. 2006), und zwar unabhängig vom verwendeten Prothesendesign – vorausgesetzt, die Diagnose ist eindeutig und eine Lockerung ausgeschlossen. Bei Prothesen mit intramedullärem Schaft kann entweder mit den bereits erwähnten periprothetischen Schrauben oder mit einem polyaxialen winkelstabilen Implantat gearbeitet werden (Erhardt et al. 2007; Heidukewych et al. 2007). Mit beiden Verfahren sind gute Ergebnisse dokumentiert (Erhardt et al. 2007; Ricci et al. 2006; Wick et al. 2004) und geringere Komplikationsraten erreicht worden als mit älteren konventionellen Implantaten (Chen et al. 1994; Mont et al. 1994) (⊡ Abb. 5.8). z z Interprothetische Frakturen
MIPO oder retrograder Nagel
MIPO oder retrograder Nagel
MIPO oder Revisionsprothese ± Knochenersatz
Revisionsprothese ± Knochenersatz
⊡ Abb. 5.6 Behandlungsalgorithmus für periprothetische Femurfrakturen anhand der Rorabeck-Klassifikation. MIPO minimal-invasive Plattenosteosynthese. (Aus Erhardt 2010)
wendung einer Revisionsprothese mit metaphysären »sleeves« in Betracht gezogen werden, da die verwendeten Prothesenstiele allein keine ausreichende Rotationsstabilität gewährleisten (⊡ Abb. 5.7). Im Revisionsfall hat sich ein lateraler Zugang mit Tuberositasosteotomie bewährt, wenn gleichzeitig eine Osteosynthese notwendig ist. Eine Tuberositasosteotomie kann auch bei medialem Zugang hilfreich sein, um die Exposition unter gleichzeitiger Schonung des ligamentären Streckapparats zu vereinfachen. Bei Typ-I- und -II-Frakturen (nach Rorabeck) ist eine primäre Osteosynthese durchzuführen. Voraussetzung ist ein ausreichender »bone stock« an der femoralen Komponente, um mindestens 3–4 Schauben platzieren zu können. Hier gibt es verschiedene Implantate wie Kondylenabstützplatte, dynamische, Klingenplatte und Gabelplatte. Die letztgenannten 3 Implantate bieten eine gewisse Winkelstabilität, sind jedoch aufgrund ihres Designs nicht bei jeder Prothesenkomponente verwendbar (Su et al. 2004). Außerdem besteht nur begrenzt die Möglichkeit der biologischen oder minimal-invasiven Plattenosteosynthese (MIPO). Hier haben in letzter Zeit 2 Implantate deutliche Vorteile gezeigt, zum einen die anatomischen winkelstabilen Platten und zum anderen die retrograden Nägel (Althausen et al. 2003; Chakravarthy et al. 2007; Fulkerson et al. 2007; Wick et al. 2004). Letztere sind jedoch auch vom jeweiligen Prothesendesign abhängig, insbesondere vom Notch-Design (»open box« vs. »closed box«) und der Möglichkeit der Nagelinsertion. Auch ist die Kontrolle des Alignements bei der Verwendung retrograder Nägel schwieriger. Hier bieten die anatomisch geformten Platten Vorteile, um die Achse und die Rotation wieder korrekt herzustellen (Erhardt et al. 2007). Mit modernen winkelstabilen Platten kann in den meisten
Ferner gilt zunehmend zu beachten, dass ipsilateral eine Hüftprothese im Sinne einer interprothetischen Fraktur vorzufinden ist. Für die Versorgung gelten die gleichen Prinzipien, jedoch sollte bei der Verwendung intramedullärer Implantate keine Sollbruchstelle erzeugt werden. Ist dies nicht möglich, ist einer Plattenosteosynthese der Vorzug zu geben. In diesem Fall ist darauf zu achten, ein ausreichend langes Implantat zu wählen. Bei der Revisionsprothetik sollte bei Verwendung eines »stem« ggf. eine Schutzosteosynthese in Erwägung gezogen werden. Eine Indikation zu einer Schutzosteosynthese ist nach Erfahrung der Autoren gegeben, wenn die Distanz zwischen beiden Prothesen weniger als 2 Schaftdurchmesser oder weniger als 6 cm beträgt, außerdem bei Osteoporose, Metastasen und Osteolysen. Wenn möglich sollte für die Schutzosteosynthese ein Implantat verwendet werden, welches nicht bis zum Epikondylus reicht, um Reizungen des Tractus iliotibialis zu vermeiden. In der klinischen Erfahrung hat sich gezeigt, dass anatomisch geformte distale Femurplatten nicht selten zu derartigen Reizungen führen. z z Periprothetische Tibiafrakturen
Typ-IB-Frakturen müssen mittels einer Revisionsprothese behandelt werden. Bei Typ-IC-Frakturen ist intraoperativ je nach Situation zu entscheiden. Osteosynthese, Augmentationen und Revisionsprothetik kommen hier infrage. Typ-IIA-Frakturen, die in Verbindung mit modernen Tibiakomponenten auftreten, können erfolgreich mit einer Osteosynthese behandelt werden. Bei undislozierter Fraktur ist auch eine konservative Behandlung möglich. Bei Typ-IIC-Frakturen lässt sich bei fester Prothese mittels konservativer Behandlung ein gutes Ergebnis erreichen (Felix et al. 1997), jedoch kann mit einer anatomisch geformten winkelstabilen Platte eine Osteosynthese angestrebt und somit eine frühfunktionelle Nachbehandlung ermöglicht werden. Typ-IIB-Frakturen stellen eine besondere Herausforderung dar – sie sind mit schlechter Knochenqualität und Osteolysen assoziiert. Ebenso treten sie bei Tibiakomponenten mit intramedullärem Stiel auf. Die Therapie besteht im Einsatz einer langen modularen Revisionsprothese, ggf. in Kombination mit einer autologen Spongiosaplastik und einer Osteosynthese. Die überwiegende Mehrzahl der Typ-III-Frakturen, also diejenigen distal der Prothese im Tibiaschaft, sind Typ-IIIA-Frakturen mit fester Prothese. Auch hier sind mittels konservativer Behandlung gute Ergebnisse erreicht worden, jedoch erlauben anato-
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56
Kapitel 5 · Periprothetische Frakturen
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⊡ Abb. 5.7 Interprothetische Fraktur, versorgt mit Revisionsprothese und »sleeve« zur Gewährleistung der Rotationsstabilität sowie Schutzosteosynthese. Es wurde ein lateraler Zugang mit Tuberositasosteotomie durchgeführt. (Aus Erhardt 2010)
misch geformte winkelstabile Platten mit der Möglichkeit der minimal-invasiven Implantation eine frühfunktionelle Nachbehandlung. Typ-IIIB-Frakturen stellen im Prinzip eine vergleichbare Herausforderung wie Typ-IIB-Frakturen dar, jedoch kann hier gelegentlich auch ein 2-zeitiges Vorgehen erforderlich sein: primär die Versorgung der Fraktur, sekundär die Revision der Prothesenkomponente. Typ-IV-Frakturen sind selten mit einer Prothesenlockerung kombiniert und bedürfen einem besonderen Augenmerk, um den Streckapparat wiederherzustellen. Sie sind mittels Schrauben- und/oder Zuggurtungsosteosynthese
zu behandeln (Haidukewych et al. 2007; Mittlmeier et al. 2005; Tharani et al. 2005). Ein Behandlungsalgorithmus für periprothetische Tibiafrakturen ist in ⊡ Abb. 5.9 dargestellt, ein Beispiel für die Versorgung einer Felix-IIIA-Fraktur in ⊡ Abb. 5.10. z z Periprothetische Patellafrakturen
Als Ziel gilt die Wiederherstellung des Streckapparats. Bei intraoperativen Frakturen sollte eine Schrauben- oder Zuggurtungsosteosynthese erfolgen, und auf einen geplanten retropatellaren Ersatz ist dann primär zu verzichten.
5
57 5.2 · Periprothetische Frakturen am Kniegelenk
⊡ Abb. 5.8 Beispiele periprothetischer Frakturen, die mit einem winkelstabilen Implantat versorgt wurden (von links Vancouver Typ C, Rorabeck Typ II und Felix IIIA)
Typ I
B
Revision
ORIF ± Augmentation ± Revision
Typ II
C
A
ORIF (MIPO), konservativ
Typ III
B
C
ORIF, konservativ
Modulare Revision ± ORIF ± Knochenersatz
A
B
ORIF (MIPO), konservativ
Typ IV
C
A
ORIF (MIPO), konservativ
C
Rekonstruktion Streckapparat, ggf. konservativ
Modulare Revision ± ORIF ± Knochenersatz, ggf. 2-zeitig
⊡ Abb. 5.9 Behandlungsalgorithmus für periprothetische Tibiafrakturen. MIPO minimal-invasive Plattenosteosynthese; ORIF Osteosynthese. (Aus Erhardt 2010)
Bei den postoperativen Frakturen sind die vertikalen TypI-Frakturen mit hoher Erfolgsrate konservativ zu behandeln. Bei Typ-II-Frakturen mit unterbrochenem Streckapparat muss dieser wiederhergestellt werden. Dies kann sich bei geringem oder schlechtem »bone stock« als schwierig erweisen. Patellaersatzkomponenten sollte man entfernen. Eine Patellektomie ist zu vermeiden werden, da sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einem schlechten funktionellen Ergebnis führt. Die Implantation einer Knieprothese verändert die Hebelfunktion der Kniescheibe und vermindert somit die Kraft des M. quadriceps femoris um bis zu 30 % (Greene u. Schuman 2008; Silva et al. 2003). Eine Patellektomie reduziert den Hebelarm des Muskels um weitere 30 % (Kuster u. Blatter 1996). Dies kann bereits zu einem signifikanten Effekt auf das physiologische Gangbild
führen. Bei der Durchführung der Zuggurtung empfiehlt es sich, kanülierte Schrauben und Zuggurtung statt K-Drähte und Zuggurtung zu verwenden. Typ-III-Frakturen mit erhaltenem Streckapparat können durch die Entfernung des Implantats behandelt werden. Die Restpatella sollte erhalten bleiben. Bei der Versorgung ist der vorgegebene Zugang zu verwenden, um die Durchblutung nicht noch weiter zu kompromittieren (Haidukewych et al. 2003; Mittlmeier et al. 2005; Nicholls et al. 2006; Tharani et al. 2005). Insgesamt sind die Ergebnisse besonders der Typ-II-Frakturen mit einer Revisionsrate von >40 % und einer Verschlechterung der Streckfunktion in >50 % der Fälle ungenügend (Ortiguera u. Berry 2002). Bei vollständigem Verlust des Streckapparats kann in Einzelfällen die Verwendung eines Allografts notwendig werden (Crossett et al. 2002).
58
Kapitel 5 · Periprothetische Frakturen
5
⊡ Abb. 5.11 Darstellung der Klassifikation periprothetischer Humerusfrakturen
▬ Schwächung der medialen Kortikalis während der primären Implantation z
Klassifikation
Wie von Wright et al. (1995) beschrieben, können periprothetische Humerusfrakturen in Relation zur Prothesenspitze wie in ⊡ Abb. 5.11 dargestellt klassifiziert werden.
Klassifikation periprothetischer Humerusfrakturen nach Wright
▬ Typ A: Fraktur an der Prothesenspitze bis mehr als 1/3 der Schaftlänge nach proximal
▬ Typ B: Fraktur an der Prothesenspitze bis weniger als 1/3 der Schaftlänge nach proximal
▬ Typ C: Fraktur distal der Prothesenspitze ⊡ Abb. 5.10 Felix-IIIA-Fraktur, mit NCB-Platte versorgt (NCB: »non contact bridging plate«). (Aus Erhardt 2010)
z
5.3
z
Periprothetische Frakturen am Schultergelenk Epidemiologie
Periprothetische Frakturen am Schultergelenk werden mit einer Prävalenz von bis zu 2,4 % angegeben (Kumar et al. 2004; Wright et al. 1995). Es sind jedoch nur wenige Daten zur Epidemiologie dieser Frakturen bekannt. Daten der MayoKlinik zeigen über einen Zeitraum von 25 Jahren und unter Berücksichtigung von 3091 implantierten Schulterprothesen nur 19 periprothetische Humerusfrakturen (Kumar et al. 2004). Häufigste Ursache ist ein einfacher Sturz. Insgesamt handelt es sich um eine sehr seltene Komplikation (Kumar et al. 2004). z
Risikofaktoren
Risikofaktoren für das Auftreten einer periprothetischen Humerusfraktur sind (Cameron u. Ianotti 1999): ▬ Osteopenie ▬ Osteolysen ▬ Ausdünnung der Kortikalis
Therapie
Aufgrund des relativ seltenen Auftretens dieser Frakturen existieren keine auf großen Fallzahlen basierenden Richtlinien. In der wohl umfassendsten publizierten Serie, erstellt aus dem Patientengut der Mayo-Klinik, zeigt sich, dass diese Frakturen schwierig zu behandeln sind. Grundsätzlich kann jedoch die Klassifikation nach Wright eine gute Basis für die Behandlung darstellen. Kunar et al. beschreiben in ihrer Arbeit die erfolgreiche operative und konservative Behandlung von Typ-C-Verletzungen und empfehlen bei guten Alignement und fester Prothese die konservative Behandlung mit einem Brace. Die durchschnittliche Heilungsdauer beträgt 3 Monate (Kumar et al. 2004). Bei Typ-B-Frakturen sollte grundsätzlich eine Osteosynthese angestrebt werden, bei fester Prothese evtl. in Verbindung mit Cerclagen (Cave: N. radialis). Eine primäre Spongiosaplastik kann zur schnelleren Knochenheilung in Erwägung gezogen werden. Bei lockerer Prothese sollte ein Prothesenwechsel zu einer zementierten Revisionsprothese erfolgen. Eine Typ-A-Fraktur kann bei gutem Alignement und fester Prothese konservativ mit einem Brace behandelt werden. Bei lockerer Prothese sollte ebenfalls ein Prothesenwechsel erfolgen (Kumar et al. 2004).
59 Literatur
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5
6
Amputationen J. Götz
6.1
Definition
– 62
6.2
Allgemeines – 62
6.3
Grundprinzipien der Amputationschirurgie – 62
6.4
Amputationshöhen – 63
6.5
Diagnostik – 63
6.6
Operationstechnik
6.7
Weitere Behandlung – 63
6.8
Untere Extremtität – 64
6.8.1 6.8.2 6.8.3 6.8.4 6.8.5
Fuß – 64 Unterschenkel – 65 Knie – 66 Oberschenkel – 66 Hüftbereich – 66
– 63
6.9
Obere Extremität
6.9.1 6.9.2 6.9.3 6.9.4
Hand – 67 Unterarm – 67 Ellenbogen und Oberarm Schulter – 67
– 67
– 67
6.10 Postamputationssymptome – 67 Literatur
– 67
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
62
Kapitel 6 · Amputationen
6.1
Definition
Amputationen werden unterschieden in: ▬ Major-Amputationen ▬ Minor-Amputationen ▬ Grenzzonenamputationen
6
Beschränkte sich die Bezeichnung »Major-Amputation« vor Einführung des DRG-Systems auf alle Amputationen oberhalb der Knöchelregion, gilt sie heute für alle Amputationen ab der transmetatarsalen Ebene. Dementsprechend umfasst der Begriff »Minor-Amputation« aktuell alle Zehenamputationen und Strahlenresektionen (früher bis einschließlich Chopart-Gelenk). Der Grund für diese Neudefinition ist in dem erhöhten Ressourcenverbrauch derjenigen Amputationsverfahren zu sehen, die neu in die Kategorie »Major-Amputation« eingruppiert wurden. Der Begriff »Grenzzonenamputation« ist im deutschen Sprachraum gebräuchlich und beschreibt laut Rümenapf (2003) die Kombination aus Minor-Amputation unter Schonung von vitalem Gewebe, Nekrosektomie und Débridement.
6.2
Allgemeines
> Jede Amputation, und sei es nur die Amputation einer Zehe, stellt für den Patienten ein traumatisierendes Ereignis dar. Es muss daher im Vorfeld jede konservative und operative Option ausgeschöpft werden, um die Amputation zu vermeiden.
Die Patientenführung ist einer der wichtigsten Bestandteile des Behandlungskonzepts. Dies schließt die ausführliche Aufklärung im Vorfeld der Operation ein. Ist die Amputation unumgänglich, muss dies dem Patienten deutlich gemacht werden, sodass im Abstand zur Operation keine Zweifel an der Notwendigkeit aufkommen. Aus diesem Grund empfiehlt sich immer die Durchführung einer Fotodokumentation. Des Weiteren müssen dem Patienten die heute möglichen Optionen der Prothesenversorgung erläutert werden, um so unbegründete Ängste vor einer amputationsbedingten Pflegebedürftigkeit und einer sozialen Isolierung zu reduzieren. Die frühzeitige Einschaltung eines Sozialdienstes oder eine Überleitung gibt dem Patienten die Möglichkeit, seine Zukunftsplanung frühzeitig zu gestalten und wieder aktiv zu werden. Risikofaktoren sollten im Umfeld der Operation reduziert werden, beispielsweise: ▬ Schaffung einer verbesserten Durchblutungssituation durch Sanierung des Gefäßstatus ▬ Aufgabe eines selbstschädigenden Verhaltens, z. B. durch Beendigung eines Nikotinabusus Die Prothesenversorgung schließt die Zusammenarbeit mit einem versierten Orthopädietechniker, der die Prothese sowohl hinsichtlich der anatomischen Gegebenheiten als auch hinsichtlich der funktionellen Anforderungen plant, ebenso mit ein wie eine intensive physiotherapeutische und rehabilitative Nachbehandlung. Eine Besonderheit stellt die Versorgung von Polytraumapatienten dar. Besitzen andere lebensgefährdende Verletzungen Ver-
sorgungspriorität oder würde eine operative Extremitätenrekonstruktion vom Patienten nicht überstanden werden (»life before limb«), besteht nur im Einzelfall die Indikation zur Amputation.
6.3
Grundprinzipien der Amputationschirurgie
Die Amputation ist eine der ältesten chirurgischen Verfahren. In den Zeiten von Hippokrates und Celsus wurde die Amputation als letzte Option nur bei Gangrän angewendet. Um 100 n. Chr. hatte sich das Indikationsspektrum erweitert: Geschwüre, schwere Verletzungen und Deformitäten wurden mittels Amputation therapiert. Erfolgte die Blutstillung initial mit Brandeisen, wurden bereits in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts Ligaturen durchgeführt. Nachdem viele Techniken im Laufe der Jahrhunderte wieder in Vergessenheit gerieten, war es der Verdienst von Ambrose Paré (16. Jahrhundert), sie wieder einzuführen. Parés Wiederentdeckung der Ligatur wie auch die Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey sollten die Voraussetzung schaffen, dass der Blutverlust während der Amputation in der Folge durch die Erfindung zunächst des Tourniquets von Morel (1674) und später des Tourniquets von Petit (1718) deutlich gesenkt werden konnte. Zu diesem Zeitpunkt wurde jedoch wenig Wert auf die Schaffung eines belastbaren Stumpfes gelegt. Erst durch Einführung der Anästhesie (1846/1847) und der aseptischen Chirurgie durch Lister (1870) konnte mehr Zeit auf die Rekonstruktion eines für eine spätere Prothesenversorgung geeigneten Stumpfes verwendet werden. Mögliche Indikationen zur Amputation sind: ▬ Infektion ▬ Trauma ▬ Erfrierungen oder Verbrennungen ▬ Ergotismus und andere Vergiftungen ▬ arterielle Durchblutungsstörungen ▬ Gangrän ▬ Morbus Winiwarter-Buerger ▬ Diabetes mellitus ▬ maligne Tumoren oder gutartige Riesentumoren ▬ Mangelernährung und Vitaminmangel ▬ angeborene Fehlbildungen Neben der strengen Indikationsstellung der Amputation muss zunächst die Ätiologie, die zur Amputationsnotwendigkeit führte, berücksichtig werden, d. h. man muss differenzieren, ob eine neuropathisch-infizierte oder eine ischämisch-gangränöse Veränderung und/oder eine Kombination aus peripherer Neuropathie und arterieller Verschlusskrankheit der Grund für die Amputationspflichtigkeit ist. Wird die Ätiologie nicht beachtet, kann dies der Beginn einer Serie von Revisionsoperationen und Nachamputationen sein. > Von Anfang an muss versucht werden, eine Stumpfsituation zu schaffen, die dem Patienten die beste Möglichkeit zur Re-Integration schafft. Dabei muss der von Baumgartner geprägte Spruch »je kürzer ein Amputationsstumpf, umso begrenzter die Rehabilitationsmöglichkeiten« stets Berücksichtigung finden.
63 6.7 · Weitere Behandlung
Auch muss immer versucht werden, große Gelenke zu erhalten. Weiterhin ist die Weichteilsituation zu berücksichtigen. Der knöcherne Stumpf muss gut gedeckt sein, um sowohl primär endbelastbar zu sein als auch um Schmerzen bei Belastung bis hin zur Zerstörung des Stumpfes zu vermeiden. Fehlstellungen sollten ebenso wie das Entstehen von Kontrakturen vermieden werden. All diese Überlegungen zeigen, dass es sich bei der Amputation um eine komplexe Operation handelt, deren korrekte Durchführung für das weitere Leben des Patienten von größter Bedeutung ist. Auch wenn Amputationen oft den Charakter von Übungs- und Einstiegsoperationen für Jungärzte haben, sollte dem Operateur aufgrund der weitreichenden Konsequenzen immer ein in der Amputationschirurgie Erfahrener mit Rat und Tat zur Seite stehen.
6.4
Amputationshöhen
Die möglichst distale Amputation unter Erhalt der großen Gelenke sollte das Ziel der Operation sein (Baumgartner 2009). Der Operateur muss die anatomischen Gegebenheiten wie auch die zur Verfügung stehenden Operationstechniken beherrschen und die prothetischen Versorgungsoptionen kennen. An der unteren Extremität muss der Stumpf belastungsfähig sein. Bei Amputationen der unteren Extremität spielt das Kniegelenk aufgrund seiner propriozeptiven Fähigkeiten sowie durch die Kraftübertragung für das postoperative funktionelle Ergebnis eine entscheidende Rolle. Wenn möglich sollte die Amputationshöhe unterhalb des Kniegelenks liegen. Auch bei der oberen Extremität bewahrt die Forderung nach maximaler Stumpflänge seine Gültigkeit.
6.5
er kann als temporäre Lösung zum Einsatz kommen und durch eine anschließende Lappenplastik ersetzt werden. Beim Sägen der Knochen sollte die Hitzebildung durch Wasserapplikation begrenzt werden; die Knochenenden sind zu entgraten und abzurunden. Entgegen der früher herrschenden Vorstellung sollte der Knorpel bei einer Exartikulation nicht entfernt werden. Die Konstruktion des Stumpfes erfolgt durch die Vernähung der zur Verfügung stehenden Muskellappen (myoplastisches Verfahren). Eine birnenförmige Gestaltung ist zu vermeiden – der Stumpf sollte für die spätere Prothesenversorgung zylindrisch oder konisch sein (Baumgartner 2009). Um das Entstehen eines Phantomschmerzes zu vermeiden, dürfen die zu durchtrennenden Nervenstrukturen nicht in die Länge gezogen werden. Der Nervenstumpf wird 3–4 cm nach proximal präpariert und dann abgesetzt, der N. ischiadicus umstochen. Zudem ist auf die begleitenden Gefäßstrukturen (Vasa nervorum) zu achten. Nekrotisches Gewebe muss komplett ausgeräumt und die Wunde gespült werden. Vor dem Wundverschluss öffnet man die Blutsperre, um größere Blutungsquellen auszuschließen. Es folgen die Drainageneinlage zur Prophylaxe einer Verhaltbildung (bei Zehen- und Fingeramputation: Lascheneinlage) und die spannungsfreie Naht der Wundränder. Sollte dies nicht möglich sein, muss eine sekundäre Wundheilung angestrebt werden, ggf. durch Vakuumversiegel, Epigard oder Ähnliches. Der postoperativ angelegte elastische Verband sollte nicht zu streng gewickelt werden; Einschnürungen sind zu vermeiden, indem man den durch den Verband ausgeübten Kompressionsdruck nach proximal kontinuierlich reduziert. Auch im weiteren Verlauf muss auf die Anlage des Verbands strengstens geachtet werden: Er darf nicht zu straff sein (Wundheilung), muss aber dennoch dazu geeignet sein, den Stumpf zu formen.
Diagnostik 6.7
Die Diagnostik umfasst (Schofer et al. 2001): ▬ klinische Untersuchung ▬ Standardröntgendiagnostik und ggf. weiterführende bildgebende Untersuchungen (MRT) ▬ neurologische Untersuchung ▬ Gefäßdiagnostik (Doppler-/Duplexsonographie, ggf. Angiographie)
6.6
Operationstechnik
Das Prinzip der operativen Versorgung ist an oberer und unterer Extremitäten gleich. Es empfiehlt sich, die Schnittführung an der Haut anzuzeichnen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Stumpf spannungsfrei mit intakter Vollhaut bedeckt werden muss. Eine weitere Regel besagt, dass die Länge des Hautlappens die Basisbreite nicht übersteigen darf. Die Hautnaht sollte im Bereich der unteren Extremität nicht in der Belastungszone liegen. Ist keine spannungsfreie Hautadaptation möglich, muss der Knochen so weit nachreseziert werden, bis dies möglich ist. Aufgrund der schlechten Belastbarkeit sowie der fehlenden sensiblen und sensorischen Fähigkeiten ist ein Meshgraft im Bereich der Belastungszone nicht zu empfehlen;
Weitere Behandlung
Der weitere Behandlungsverlauf vollzieht sich unter Zusammenarbeit von Ärzten, Pflegepersonal, Physiotherapeuten und Orthopädietechnikern. Bei Fußstümpfen erfolgt die Versorgung durch Orthopädieschuhtechniker. Bei Amputationen der oberen Extremität werden Ergotherapeuten mit einbezogen. Aufgrund des protrahierten Heilungsverlaufs sowie des zu erwartenden Rückgangs der Schwellungsneigung erfolgt die vorläufige Versorgung mittels einer Interimsprothese, sobald die Wunde dies erlaubt. Erst wenn der Patient mit dieser Prothese zurechtkommt und keine weitreichenden Änderungen mehr notwendig sind, wird die endgültige Prothese ausgearbeitet. Wie bei jedem Hilfsmittel, muss auch dieses ärztlicherseits kontrolliert und abgenommen werden. Die Planung der Prothesenversorgung geschieht im Rahmen eines ausführlichen Gesprächs mit dem Patienten. Oft steht dem Wunsch des Patienten nach einer »High-tech«-Prothese die Erfahrung gegenüber, dass sich der Patient mit einer einfacheren Prothese besser zurechtfindet, mobiler ist und sich sicherer bewegt. > Wichtig für die Entscheidung sind die Einordnung des Patienten in Mobilitätsgrade sowie die Erfassung des aktuellen Status mit einem Profilerfassungsbogen.
6
64
Kapitel 6 · Amputationen
Bezüglich der Prothesenbauweise lassen sich 2 unterschiedliche Typen unterscheiden: Schalen- und Modularbauweise. Bei der Schalenbauweise handelt es sich um das klassische Modell: Wie bei einem Gips befinden sich die tragenden Elemente außen. Bei der Modularbauweise erfolgt die Kraftübertragung zentral. Durch das modulare System sind Änderungen bezüglich der Mechanik wie auch der Länge relativ einfach durchzuführen. Durch Umkleiden des zentralen Kraftträgers lässt sich ein kosmetisch gutes Ergebnis erzielen ( Kap. 8).
der Metatarsalia angesehen. Im Einzelfall ist die individuelle Versorgung des Patienten unter Berücksichtigung seiner Standsicherheit zu veranlassen. Neben der Verringerung der Standfläche büßt der Patient zusätzlich sensomotorische und propriozeptive Fähigkeiten ein. Die Schrittabwicklung verändert sich, bei Verlust der Zehengrundgelenke ist zusätzlich eine Schuhzurichtung notwendig. Die Gefahr der Spitzfußentwicklung durch Überwiegen des M. triceps surae steigt, je proximaler die Amputationslinie am Rückfuß zurückgesetzt wird.
Vor- und Mittelfuß
6
6.8
Untere Extremtität
6.8.1
Fuß
Nachfolgend werden die verschiedenen Amputationshöhen des Fußes von distal nach proximal beschrieben. Die Versorgungsnotwendigkeit des Fußes mit einer Prothese hängt von der Amputationshöhe ab: Je peripherer die Amputation erfolgt, desto größer ist die verbleibende Standfläche. Als grobe Grenzzone, ab der eine Prothesenversorgung notwendig ist, wird die Basis
⊡ Abb. 6.1a–d Osteomyelitis des Metatarsale II links. a,b Keilresektion mit initialer Vakuumtherapie, c bei sauberen Wundverhältnissen sekundäre Wundheilung, d Endbefund
Mögliche Amputationen im Vorfußbereich sind die Zehenamputation, die transmetatarsale Amputation nach Sharp sowie die Amputation in der Lisfranc-Gelenklinie (tarsometatarsal). Bei der Amputation der Großzehe besteht seit jeher die Diskussion, ob man versuchen sollte, das Grundglied zu bewahren, um damit bei der Schrittabwicklung eine verbesserte Abstützkraft zu erreichen, oder ob man die Amputation im Zehengrundgelenk durchführen sollte, weil dann kein Risiko besteht, dass das Grundglied eine Dorsalextensionskontraktur entwickelt. Bei gleichzeitig bestehender Störung der Hauttrophik erfolgt bei
a
b
c
d
65 6.8 · Untere Extremtität
Diabetikern sowie bei Patienten mit Durchblutungsstörungen zur Vermeidung von Druckulzera eine Zweidrittel-Strahlresektion des Metatarsale I. Auf Kosten der Fußstatik wird die Rezidivquote für das Entstehen weiterer Ulzera deutlich gesenkt. Weitere Amputationsmöglichkeiten bestehen in der Keilamputation sowie in einer Strahlresektion. Beide Möglichkeiten führen zu einer Fußverschmälerung. Bei Vorliegen einer Osteomyelitis des Metatarsaleköpfchens stellt die innere Amputation eine elegante und äußerst effiziente Methode dar (⊡ Abb. 6.1). Bei dieser Operationstechnik, die meist bei diabetischem oder rheumatischem Fuß in Zusammenhang mit einem plantaren Ulkus unter den Metatarsaleköpfchen zur Anwendung kommt, wird über einen dorsalen Zugang eine (meist) Zweidrittel-Resektion des betroffenen Metatarsale durchgeführt. Aufgrund der kosmetisch nicht sichtbaren Amputationstechnik entfällt die psychologische Traumatisierung des Patienten. Bei Resektion von nur einem oder 2 Mittelfußknochen erfahren die Standfläche und die Gehfähigkeit keine ausgeprägten Einschränkungen. Bei kompletter Resektion aller Metatarsalia (⊡ Abb. 6.2) verkürzt sich der Fuß, und die Zehen setzen sich zurück. Ergänzend bleibt bezüglich der Amputationschirurgie des Fußes zu erwähnen: ▬ Hautschnitte werden in der Regel am Fußrücken durchgeführt. ▬ Die stabile Fußsohle soll den Amputationsstumpf nach distal bedecken. ▬ Die Knochen (insbesondere die Metatarsalia) müssen auf der Höhe der Amputation aufeinander abgestimmt sein und dürfen keine Kanten oder Spitzen aufweisen. ▬ Amputationen am Vorfuß sollten nicht auf Diaphysenhöhe erfolgen, da eine Extensionsfehlstellung der verbliebenen Restzehe droht. ▬ Die Qualität der Sohle bezüglich der Lastübernahme und der Polsterung kann von keinem Lappen ersetzt werden.
a
b
Rückfuß Die wichtigsten Amputationstechniken sind: ▬ Exartikulation im Chopart-Gelenk ▬ kalkaneotibiale Fusion nach Pirogow-Spitzy (⊡ Abb. 6.3) ▬ Syme-Amputation Ein Risiko der Amputation in der Chopart-Linie besteht in der bereits erwähnten Entwicklung eines Spitzfußes. Bei der Operation nach Pirogow-Spitzy wird nach Talusexstirpation eine Arthrodese des Restkalkaneus mit der Tibia durchgeführt. Zur Vermeidung einer Unterschenkelamputation bietet sich die Syme-Amputation an. Zwar werden Kalkaneus, Talus sowie medialer und lateraler Malleolus reseziert, die belastungsfähige Sohlenhaut sollte jedoch erhalten bleiben. Tipp
I
I
Gemäß Greitemann wird das Periost bei Amputationen im Rückfußbereich sorgfältig entfernt, um so das Risiko einer sekundären Ossifikation und einer daraus resultierenden Gefährdung des Stumpfes zu vermeiden.
c ⊡ Abb. 6.2a–c Transmetatarsale Amputation. a Intraoperativer Situs, b postoperatives Ergebnis, c seitliche Röntgenaufnahme
6.8.2
Unterschenkel
Ist eine Syme-Operation nicht durchführbar, stellt der Unterschenkel die nächste Amputationsetage dar. Das große Problem bei der Unterschenkelamputation besteht darin, dass man den Stumpf relativ lang (geringer knöcherner Querschnitt, schlechte Weichteildeckung), gleichzeitig aber auch endbelastbar machen möchte. Baumgartner empfiehlt eine mittlere knöcherne Stumpflänge von 10–13 cm bzw. bei der Brückner-Technik von 8–9 cm. Betrachtet man die Operationstechnik der Unterschenkelamputation nach Burgess, erfolgt zunächst ein fischmaularti-
6
66
Kapitel 6 · Amputationen
a
6
ausgiebige Blutstillung, spannungsfreier Lappenverschluss und Drainageneinlage. Der Unterschied bei der Brückner-Operation besteht darin, dass die Fibula aufgrund des kürzeren Stumpfes komplett entfernt wird; zur Vermeidung eines birnenförmigen Schaftes wird zusätzlich die Peronealmuskulatur, ggf. auch der laterale Anteil des M. gastrocnemius, entfernt. Auch wenn die im Jahre 1927 erstmalig durchgeführte Borggreve-Plastik in der Praxis sehr selten zur Anwendung kommt, ist sie dennoch eine der bekanntesten orthopädischen Operationen: Der um 180° gedrehte Unterschenkel wird an den distalen Femur angefügt, das obere Sprunggelenk dient nun funktionell als Kniegelenkersatz. Die Indikation zur Durchführung der Umkehr-/Umdrehplastik nach Borggreve-van Nes kann bei Tumoren oder angeborenen Fehlbildungen bestehen. Voraussetzung ist der Erhalt des N. ischiadicus. Inzwischen wurde die Operationstechnik von Winkelmann modifiziert und kann auch als Hüftersatzoperation zum Einsatz kommen.
6.8.3
Knie
Die Amputation auf Höhe des Kniegelenks kann entweder als Exartikulation, als transkondyläre Amputation oder in der inzwischen als veraltet und obsolet geltenden Technik nach Gritti durchgeführt werden. Bei der Exartikulation wird die Patella in der Regel belassen, bei der transkondylären Amputation hingegen entfernt. Bei der Gritti-Technik bringt man die Patella als Belastungsfläche auf den Diaphysenstumpf auf.
6.8.4
Oberschenkel
Je proximaler die Amputationshöhe, desto stärker kommt es zu einem Überwiegen der Abduktoren (Ansatz: Trochanter major) gegenüber den Adduktoren. Es resultiert eine Abduktionskontraktur. Ebenfalls durch die Lokalisation des muskulären Ansatzes überwiegt der M. iliopsoas gegenüber den Hüftstreckern, was zu einer Beugekontraktur führen kann. Wenn möglich, erfolgt eine myoplastische Deckung des Stumpfes, wobei die Muskelstümpfe über transossäre Bohrlöcher gesichert werden.
b ⊡ Abb. 6.3a,b Amputationsstumpf nach Pirogow-Spitzy-Amputation
ger Schnitt mit einem langen dorsalen und einem kurzen proximalen Lappen. Die gesamten Weichteilstrukturen werden ventral durchtrennt. Der Knochen wird freigelegt und die Fibula mit einem nach lateral ansteigenden Sägeschnitt abgesetzt. Nach Ablösung des Hinterlappens durchtrennt man nun die Tibia 5 mm unterhalb der Fibula und rundet das vordere Tibiadrittel nach ventral-proximal ab. Der M. soleus wird ausgelöst und entfernt, damit der Schaft keine birnenförmige Konfiguration annimmt. Der N. tibialis und der N. suralis werden gekürzt. Es folgen
6.8.5
Hüftbereich
Aufgrund seiner Bedeutung zum Sitzen als auch bei der Prothesenversorgung sollte der Trochanter major wenn möglich erhalten bleiben. Neben der Amputation des Femurs unterhalb des Trochanter minor und der Exartikulation des Hüftgelenks müssen noch die Hemipelvektomie und die Hemikorporektomie Erwähnung finden. Bei der Hemipelvektomie wird die gesamte untere Extremität einer Seite einschließlich des Beckens bis zum Os sacrum entfernt. Noch weitreichender ist die Hemikorporektomie: trauma- oder karzinombedingt wird die gesamte untere Körperhälfte entfernt (Becken, Beine, äußeres Genitale sowie die inneren Organe Blase, Rektum und Anus). Es handelt sich dabei um eine sehr selten durchgeführte Operation. Die Prognose ist von der zur Amputation führenden Diagnose abhängig.
67 Literatur
6.9
Obere Extremität
Die allgemeinen Amputationsprinzipien haben auch im Bereich der oberen Extremität Gültigkeit. Im Gegensatz zur unteren Extremität wird ein birnenförmiger Stumpf angestrebt, um zwischen Prothese und Stumpf einen optimalen Kraftschluss zu erreichen.
6.9.1
Hand
Größte Bedeutung hat die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Greiffunktion. Zusätzlich sollte auf den Erhalt der sensorischen Fähigkeiten geachtet werden. Neben den plastischen Verfahren, die im Rahmen der erhaltenden Maßnahmen zur Anwendung kommen können, seien als operative Techniken zur Rekonstruktion der Greiffunktion die Pollizisation von Zeige- oder Mittelfinger sowie der Transfer der 2. Zehe als Daumenersatz angeführt. Ähnlich der Krukenberg-Plastik kann auch im Mittelhandbereich durch Anlage eines Spaltes eine Greiffunktion zwischen Metakarpale II und Metakarpale IV erreicht werden.
6.9.2
Unterarm
Amputationshöhen sind Handgelenk (Exartikulation) bis proximale Ulna (3–4 cm Ulnastumpf müssen belassen werden). Je distaler die Amputation erfolgt, desto uneingeschränkter kann der Arm pro- und supiniert werden. Bei einer ulnaren Restlänge von 3 cm bezeichnet man den Stumpf als ultrakurz. Funktionsverbessernde Eingriffe dürfen erst im Intervall von 2–3 Monaten nach der Amputation stattfinden. Zu ihnen werden gezählt: ▬ Kineplastik nach Sauerbruch-Lebsche ▬ offene Mobilisation des Ellenbogens ▬ Krukenberg-Plastik Bei der Krukenberg-Plastik werden Radius und Ulna nach transradialer Amputation voneinander getrennt, sodass sie eine Art Greifzange bilden. Der große Vorteil dieser Technik besteht in der erhaltenen Sensibilität und der Erhaltung einfacher motorischer Funktionen. Gerade bei Blinden bietet sich diese Therapie an. ! Cave Immer muss der Patient auf die kosmetischen Nachteile dieses Operationsverfahrens hingewiesen werden.
6.9.3
Ellenbogen und Oberarm
Der Verlust des Ellenbogens bedeutet funktionell eine noch stärkere Einschränkung als der Verlust des Unterarms. Bei der Exartikulation wird der distale humerale Gelenkanteil sparsam abgerundet. Bei der transkondylären Amputation kann man den Humerus bis in die Metaphyse hinein resezieren. Zur Prophylaxe einer Stumpfperforation durch spitzen, wach-
senden Knochen kann eine Stumpfkappenplastik nach ErnstMarquardt zur Anwendung kommen. Die Operationstechnik der Amputation im Diaphysenbereich unterscheidet sich nicht von der des Oberschenkels.
6.9.4
Schulter
Die meist trauma- oder tumorbedingte Amputation im Schulterbereich kann vom ultrakurzen Oberarmstumpf bis zur Schulterexartikulation und Schultergürtelamputation reichen.
6.10
Postamputationssymptome
Hauptsächlich wird der im Jahre 1545 erstmals beschriebene Phantomschmerz mit diesem Begriff assoziiert, es können jedoch auch andere Sensationen auftreten, beispielsweise Phantomgefühl, Phantommotorik oder Teleskopphänomen. Während Stumpfschmerz und -sensationen bei einer vorwiegend mit Traumapatienten durchgeführten Studie unmittelbar nach der Amputation einsetzten, traten Phantomschmerzen innerhalb eines Monats nach der Amputation und mit einem zweiten Gipfel nach 12 Monaten auf (Schley et al. 2008). In einer aktuellen Studie von Kern (2009) geben 74,5 % der Amputierten das Vorhandensein von Phantomschmerzen an. Dabei wurde kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Phantomschmerzen und der Amputationshöhe oder demografischen Faktoren festgestellt, allerdings ist die Prävalenz bei jüngeren Amputationspatienten geringer. Uğur beschreibt bei Armamputationen eine höhere Prävalenz von Phantomschmerzen bei Amputation der dominanten Hand.
Literatur Baumgartner R (2009) Amputation als Komplikation – Komplikationen bei Amputationen. Medizinisch-Orthopädische Technik, http://mot-magazin.de/content/view/251/9/ Baumgartner R, Wetz HH (1992). Forefoot amputation. Orthopaedics Traumatology 1: 68–77 Brückner L (2006) Beinamputation bedarf interdisziplinärer Zusammenarbeit. Akutmedizin, Orthopädietechnik, Rehabilitation und Kostenträger. Medizinisch-Orthopädische Technik 57: 31–40 Bühren V (2009) Amputation vs. Extremitätenerhalt. Editorial. Trauma Berufskranh 11: 5–6 Deutsche Gesellschaft für Gefäßchirurgie (2008) Die amputationsbedrohte Extremität – Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gefäßchirurgie (vaskuläre und endovaskuläre Chirurgie) (DGG) AWMF-Leitlinien-Register Nr. 004/027, Entwicklungsstufe 2. http://www.uni-duesseldorf.de/ AWMF/ll/004-027.htm Förster A, Jungmichel D (2002) Die Operation nach Krukenberg. OrthopädieTechnik 5: 430 Fuhrmann R (2003), Wenn die Amputation unvermeidbar ist – Orthopädische Fußchirurgie. Dtsch Ärztebl 51/52: 3356–3357 Giessler GA (2009) Amputation oder Rekonstruktion der unteren Extremität. Trauma Berufskrankh 11: 17–20 Kern U (2009) Prävalenz und Risikofaktoren von Phantomschmerzen und Phantomwahrnehmungen in Deutschland. Schmerz 23 (5): 479–88 Rümenapf G (2003) Grenzzonenamputation bei Diabetikern – Offene Fragen und kritische Bewertung. Zentralbl Chir 128: 726–733
6
68
Kapitel 6 · Amputationen
Sage RA, Pinzer M, Stuck R et al. (2006) Amputation and rehabilitation of the diabetic foot. In: Veves A, Giurini JM, LoGerfo FW (eds) The diabetic foot, 2nd edn. Totowa (New Jersey): Humana Press, pp. 363–389 Schley MT, Wilms P, Toepfer S et al. (2008) Painful and nonpainful phantom and stump sensations in acute traumatic amputees. J Trauma 65: 858–864 Schofer M, Settner M, Kortmann HR et al. (2001) Amputationen am Fuß. Trauma Berufskrankh 3: 244–247 Stone PA, Back MR, Armstrong PA et al. (2005) Midfoot amputations expand limb salvage rates for diabetic foot infections. Ann Vasc Surg 19: 805–811 Uğur F (2007) Comparison of phantom limb pain or phantom extremity sensation of upper and lower extremity amputations. Agri 19: 50–56 Wetz HH, Gisbertz D, Fiedler R et al. (1998) Amputation und Prothetik; Teil 2: Amputationen am Fuß und ihre orthopädietechnische Versorgung. Orthopäde 27: 779–792
6
7
Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie J. Götz, O. Linhardt, J. Grifka
7.1
Stufenschema der Schmerztherapie – 70
7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5 7.1.6
Definition – 70 Allgemeines – 70 Nichtopioidanalgetika – 70 Opioidanalgetika – 72 Nichtanalgetika mit analgetischen Komponenten Schmerztherapie im Kindesalter – 74
7.2
Schmerztherapie bei degenerativen Erkrankungen – 74
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Symptommodifizierende Medikamente – 75 Intraartikuläre Injektionen – 75 Topische Anwendungen – 75 Komplementär- und Alternativmedizin – 75
7.3
Schmerztherapie im postoperativen Verlauf – 76
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4
Allgemeines – 76 Regionale Anästhesieverfahren – 76 Patientenkontrollierte Analgesie – 76 Präemptive Analgesie – 77
Literatur
– 77
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 73
70
Kapitel 7 · Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie
7.1
Stufenschema der Schmerztherapie
7.1.1
Definition
Die spezielle Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane richtet sich auf akute und chronische Schmerzzustände mit vorwiegend somatischer Ursache. Muskuloskelettale Erkrankungen und Verletzungen sind oft die Ursache von Schmerz. Die Schmerztherapie sowohl im akuten Stadium als auch bei chronischen Beschwerden, besonders bei fehlender kausaler Therapiemöglichkeit oder progredientem Leiden, ist für den Behandler daher von großer Bedeutung. Ziel dieses Kapitels ist es, einen Überblick über den derzeitigen Stand der möglichen schmerztherapeutischen Maßnahmen unter Berücksichtigung von Indikation, Alter des Patienten und potenziellen Nebenwirkungen zu geben.
beinhaltet die nichtsteroidalen Antirheumatika. Es folgen die nichtsauren Analgetika, und die letzte Gruppe wird von den zentral wirksamen Analgetika, subsumierend den Opioiden, repräsentiert. Vergegenwärtigt man sich die Kaskade des Informationsflusses vom Ausgangsort der Noxe über die Reizung von Nozizeptoren in der Peripherie, die Weiterleitung an das Rückenmarkhinterhorn über C- und Aδ-Fasern und die segmentale Umschaltung der Information auf Rückenmarkebene bis zur Weitergabe über Tractus spinothalamicus und Thalamus in das limbische System und den somatosensorischen Kortex, werden die unterschiedlichen Angriffspunkte der Analgetika verständlich.
7.1.3
Nichtopioidanalgetika
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)
7
7.1.2
Allgemeines
> Eine effektive Schmerztherapie ist nur dann möglich, wenn die Medikamente in der richtigen Reihenfolge und Kombination sowie unter Beachtung der Dosierung verschrieben werden.
Die WHO hat ein Stufenschema zur Behandlung von Tumorschmerzen erstellt, welches es dem Arzt ermöglicht, dem Patienten eine der jeweiligen Schmerzintensität angepasste analgetische Therapie zukommen zu lassen. Dieses differenzierte Schmerztherapieschema wird teilweise auch auf andere chronische Schmerzerkrankungen übertragen. Es folgt zunächst ein kurzer Überblick über das Stufenschema (⊡ Abb. 7.1), ehe auf die Präparate im Einzelnen eingegangen wird. Die Schmerztherapie wird primär mit einem Nichtopioidanalgetikum als Basisanalgetikum begonnen. Bei nicht ausreichender Wirkung wird das Basisanalgetikum um ein schwach oder stark wirksames Opioid ergänzt. Eine Kombination aus Medikamenten der Stufen 2 und 3 verbietet sich. Neben der WHO-Klassifikation der Analgetika hinsichtlich ihres therapeutischen Einsatzes existiert auch eine pharmakologische Unterteilung in 3 Hauptgruppen. Die erste Gruppe
Stufe 3
Stark auf das ZNS wirkende Opioide, oft in Kombination mit Präparaten der Stufe 1
Stufe 2
Schwach auf das ZNS wirkende Opioide, oft in Kombination mit Präparaten der Stufe 1 Stufe 1
Nichtopoidanalgetika (NSAR, Metamizol, Paracetamol, Azetylsalizylsäure) ⊡ Abb. 7.1 Stufenschema der WHO. NSAR nichtsteroidale Antirheumatika
Bereits in der griechischen und römischen Antike wurden zur Schmerzbekämpfung Dekokte von salizylathaltigen Pflanzen angewendet, beispielsweise die Weidenrinde, aus deren Extrakten Mitte des 18. Jahrhunderts erstmalig Salizin identifiziert werden konnte. Aufgrund der chemischen Struktur als Säure ist die Substanzklasse der nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR; syn. »nonsteroidal anti-inflammatory drugs« [NSAID]) nicht ZNS-gängig. Charakteristisch ist ihre Anreicherung in entzündetem Gewebe. Innerhalb der Gruppe unterscheiden sich die einzelnen Substanzen hinsichtlich ihrer Eliminationshalbwertzeit und ihrer Fähigkeit, Ulzera hervorzurufen. NSAR wirken analgetisch, antipyretisch und antiphlogistisch. Ihr Wirkmechanismus besteht in der Hemmung der Cyclooxygenasen (COX) und der dadurch bedingten Hemmung der Prostaglandinsynthese. Prostaglandine an sich dürfen nicht als die entscheidenden Schmerzmediatoren missverstanden werden. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, in vorgeschädigtem Gewebe die Erregungsschwelle für Nozizeptoren zu senken bzw. polymodale Rezeptoren als Nozizeptoren zu aktivieren (»silent nociceptors«). Mechanische oder thermische Reize von nur geringem Ausmaß können nun als Schmerz erfahren werden. Prostaglandin E2 moduliert die Suszeptibilität eines mit einem Rezeptor für Capsaicin, Protonen und Hitze versehenen Kanals (TRPV1, vormals Capsaicinrezeptor genannt) derart, dass bereits die Körpertemperatur eine Durchlässigkeit für Natrium- und Kalziumionen bewirkt, die ansonsten erst bei Temperaturen von >40°C eintritt. Die einsetzende und fortgeleitete Depolarisierung wird als Schmerz empfunden. Die Wirkung der NSAR besteht in der Reduktion der Prostaglandinkonzentration und in der dadurch bedingten Stabilisierung der nozizeptiven Reizschwelle, was schließlich zur Normalisierung der Empfindlichkeit der Nozizeptoren im geschädigten Gewebe führt. Glukokortikoide greifen in der Mediatorenkaskade noch früher an und hemmen die Phospholipase A2. Dadurch wird die Produktion von Arachidonsäure reduziert, aus der sich Prostaglandine und Leukotriene abspalten – der Grund für die breite antiphlogistische Wirkung von Kortison.
71 7.1 · Stufenschema der Schmerztherapie
Wichtige durch Cyclooxygenasehemmung hervorgerufene Nebenwirkungen
▬ Gastrointestinale Komplikationen: dyspeptische Be▬ ▬ ▬ ▬ ▬
schwerden, Schleimhauterosionen, Ulkusentwicklung, Blutungen, Diarrhö Ödembildung, Hyperkaliämie, Hypertonie Kopfschmerzen, Nausea, Hör- und Sehstörungen Thrombozytenaggregationshemmung, Blutungsneigung, Vasodilatation Bronchokonstriktion, asthmatische Diathese Schwangerschaftsgefährdung
Von dem Enzym Cyclooxygenase sind mindestens 2 Isoformen bekannt: COX-1 und COX-2. Die Entdeckung, dass COX-2 – durch proinflammatorische Mediatoren hochreguliert – hauptsächlich in entzündetem Gewebe exprimiert wird, führte letzt-
endlich zur Entwicklung einer neuen Substanzklasse, der Coxibe, die sich durch die selektive Hemmung der Isoform COX-2 auszeichnen (⊡ Abb. 7.2; ⊡ Tab. 7.1). Aktuelle, groß angelegte Studien mit insgesamt ca. 35.000 Probanden (»Therapeutic Arthritis Research and Gastrointestinal Event Trial«, TARGET; »Vioxx Gastrointestinal Outcome Research«, VIGOR; »Celecoxib Long-term Arthritis Safety Study«, CLASS) konnten belegen, dass das Risiko von schweren gastrointestinalen Komplikationen durch Verwendung von COX-2-Inhibitoren im Vergleich zu den traditionellen NSAR auf etwa die Hälfte reduziert wird. Das vermehrte Auftreten von kardiovaskulären Komplikationen unter COX-2-Hemmern, wie es sich in der ApproveStudie (»Adenomatous Polyposis Prevention on Vioxx«, Vioxx vs. Placebo) zeigte, und die kurzfristige Marktrücknahme von Vioxx führten zwischenzeitlich zu einer kritischen Haltung gegenüber der neuen Substanzklasse. Die kürzlich publizierten Ergebnisse der MEDAL-Studie (»Multinational Etoricoxib
⊡ Abb. 7.2 Pharmakologische Angriffspunkte von NSAR (nichtsteroidale Antirheumatika) und Coxiben. COX Cyclooxygenase. (Aus Grifka 2004)
⊡ Tab. 7.1 Übersicht über Cyclooxygenase-(COX-)2-Inhibitoren. (Nach Hinz u. Brune 2007) Substanz
Dosierungsempfehlung (Einzeldosis)
Besonderheiten
Celecoxib (Celebrex)
100–200 mg (max. 400 mg/Tag)
–
Valdecoxib (Bextra)
–
Im März 2005 vom Markt genommen (allergische Hautreaktionen, fehlende Langzeitdaten zur kardiovaskulären Sicherheit)
Parecoxib (Dynastat)
20–40 mg (max. 80 mg/Tag), i. v./i. m. zur postoperativen Analgesie
Wasserlösliches Prodrug von Valdecoxib
Etoricoxib (Arcoxia)
30 mg bei Osteoarthritis, bei unzureichender Schmerzlinderung 60 mg 90 mg bei rheumatoider Arthritis 120 mg bei akutem Gichtanfall
–
Rofecoxib (Vioxx)
–
Im September 2004 vom Markt genommen (erhöhtes kardiovaskuläres Risiko)
100 mg bei Osteoarthritis
Widerruf der Zulassung am 28.03.2008 (hepatotoxische Nebenwirkungen)
Sulfonamide
Methylsulfone
Arylessigsäure Lumiracoxib (Prexige)
7
72
7
Kapitel 7 · Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Diclofenac Arthritis Longterm Study«) belegen jedoch, dass thrombotische kardiovaskuläre Ereignisse sowohl unter Etoricoxib (Arcoxia) als auch unter Diclofenac in vergleichbarem Ausmaß auftreten. Eine von der europäischen Arzneimittelkommission ausgesprochene Kontraindikation für den Einsatz dieser NSAR bei Patienten mit kardiovaskulärer Vorerkrankung wird deshalb auch für die Substanzklasse der traditionellen NSAR erwartet. Die vorläufige Schlussfolgerung bei der Betrachtung von NSAR und COX-2-Inhibitoren kann darin gesehen werden, dass beide Substanzklassen nicht als voneinander unabhängige Wirkstoffgruppen zu betrachten sind. Auch in der Gruppe der NSAR kann man eine unterschiedliche Selektivität bezüglich der Spezifität der COX-2-Hemmung beobachten. Verallgemeinernd lässt sich derzeit Folgendes postulieren: Je unselektiver ein NSAR bezüglich COX-1 und COX-2 ist, umso höher ist sein Risiko, ein gastrointestinales Ereignis hervorzurufen. Im Umkehrschluss bedeutet dies für die COX-2-Inhibitoren gemeinsam mit denjenigen NSAR, die eine gewisse COX-2Affinität aufweisen (z. B. Diclofenac), dass bei hoher gastrointestinaler Protektion auch ein kardiovaskuläres Risikopotenzial vorhanden ist.
Nichtsaure Analgetika Da es sich bei dieser Substanzklasse rein pharmakologisch nicht um Säuren handelt, können die Wirkstoffe leicht die Blut-HirnSchranke überwinden und ihr analgetisches Potenzial durch Hemmung der Schmerzweiterleitung im ZNS ausüben. Bei relativ unbekanntem Wirkmechanismus ist eine antiphlogistische Komponente nicht oder nur in geringem Ausmaß vorhanden. Die analgetische und antipyretische Wirkung ist jedoch ausgezeichnet. Die typischen Nebenwirkungen der NSAR wie beispielsweise die Induktion von Ulzera fehlen (⊡ Tab. 7.2). Allgemein bekannt ist die potenzielle Schädigung der weißen Blutkörperchen, die zu einer deutlichen Anwendungsbeschränkung führt. Dies bewirkte, dass Metamizol im WHOStufenschema nicht aufgeführt ist und in den USA keine Zulassung besitzt. Die Zulassung in Deutschland beschränkt sich auf starke Schmerzen nach Verletzungen oder Operationen sowie Koliken und Tumorschmerzen bzw. Schmerzzustände, die durch eine adäquate andersartige Therapie nicht zu lindern
wären. Phenylbutazon ist zur Behandlung von Patienten mit Morbus Bechterew indiziert. Die Auswertung der aktuellen Studienlage ergibt ein Risiko von 1:300.000 bis 1:100.000, an einer mit einem hohen Mortalitätsrisiko behafteten Agranulozytose zu erkranken. Das klassische Paracetamol hat bei guter Verträglichkeit nur eine schwache analgetische Wirkung. Bei Überdosierung kann durch die hochdosierte Gabe von Acetylcystein ein hepatotoxischer Schaden vermieden werden. Da die kritische Grenzdosis bei Kindern in Abhängigkeit von Alter und Körpergewicht niedriger liegt, wird der Schmerztherapie im Kindesalter ein separater Abschnitt gewidmet (s. unten).
7.1.4
Opioidanalgetika
Diese stellen die Gruppen 2 und 3 des WHO-Schemas dar. Die im WHO-Schema noch angewandte Differenzierung in zentral wirksame, starke (Opioid-)Analgetika und peripher wirksame, schwache (Opioid-)Analgetika wurde in der aktuellen Literatur nicht mehr nachvollzogen. Als Opiate werden die Inhaltsstoffe des Schlafmohnharzes (Papaver somniferum) bezeichnet, Opioide sind die synthetischen Analoga. Der Vollständigkeit halber sei aufgeführt, dass Dihydrocodein, Tramadol retard und Tilidin/Naloxon (Valoron) der WHO-Stufe 2 zugerechnet werden und dass Morphin retard, Buprenorphin (Temgesic) sowie Levomethadon zu den hochpotenten Opioiden zählen. Auch die Opioide blicken auf eine lange Vergangenheit zurück. Bereits 4000 v. Chr. war den Babyloniern die sedierende Wirkung von Opium bekannt. Der analgetische Effekt sowie das Problem des Atemstillstands bei falscher Dosierung beschäftigten bereits die Ärzte der Antike. Außerdem wurde Opium als Therapeutikum bei Diarrhö verwendet. Es werden 3 Gruppen von transmembranösen Opioidrezeptoren unterschieden, und zwar μ-, δ- und κ-Rezeptoren. Der Wirkmechanismus besteht in der Hemmung der Aktivierung der Adenylatzyklase und in der dadurch blockierten Weiterleitung der synaptischen Übertragung von Schmerzafferenzen. Rezeptoren finden sich sowohl im ZNS als auch in der Peripherie, z. B. an vegetativen Nerven.
⊡ Tab. 7.2 Nichtsaure Analgetika Wirkstoff
Handelsnamen
Einzeldosis
Maximale Tagesdosis
Nebenwirkungen
Paracetamol
ben-u-ron Captin Paedialgon Perfalgan (i. v.)
500–1000 mg
4000 mg
Hepatotoxizität Nephrotoxizität hämolytische Anämie bei GPDH-Mangel
Metamizol
Novalgin Baralgin Analgin Berlosin Metamizol Novaminsulfon
500–1000 mg; parenteral: ab 15. Lebensjahr 1000–2500 mg
4000 mg
Agranulozytose Leukopenie allergische Reaktion (bis zum anaphylaktischen Schock bei zu schneller i. v. Gabe)
GPDH Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase
73 7.1 · Stufenschema der Schmerztherapie
Neben dem primär gewünschten analgetischen Effekt weisen Opioide folgende Nebenwirkungen auf: ▬ Euphorie ▬ Übelkeit, Erbrechen (initial in den ersten beiden Behandlungswochen) ▬ Abhängigkeit ▬ Dysphorie ▬ Miosis ▬ Atemdepression ▬ antitussiver Effekt ▬ Miktionsstörungen und Obstipation ▬ gesteigerte Bronchosekretion Bei nur geringem Einfluss auf die periphere und zentrale Hyperalgesie können Opiate und Opioide einerseits im Hypothalamus die emotionale Schmerzwahrnehmung verändern (Schmerzdistanzierung) und anderseits im Hinterhorn die glutamerge Reaktion bzw. im stark entzündeten Gewebe die durch inflammatorische Zytokine bewirkte Schmerztransmission hemmen. Aufgrund der aufgeführten Nebenwirkungen ist die Indikationsstellung auf schwerste Schmerzzustände, die analgetisch mit anderen Mitteln nicht suffizient therapierbar sind, eingeschränkt. Fraktur-, Operations- und Tumorschmerzen stellen das in Orthopädie und Unfallchirurgie gebräuchliche Anwendungsspektrum dar. > Bei einer Dauertherapie ist eine Obstipationsprophylaxe einzuleiten.
Ein Mangel des Enzyms CYP2D6 ist die Ursache für die analgetische Unwirksamkeit von Codein bei manchen Patienten, da bei ihnen die erforderliche Metabolisierung zum wirksamen Morphin nicht durchgeführt werden kann.
7.1.5
Nichtanalgetika mit analgetischen Komponenten
Psychopharmaka Der oftmals in der Praxis verwendete Einsatz von Antidepressiva, Neuroleptika und Tranquilizern zur ko-analgetischen Therapie nutzt die schmerzdistanzierende Wirkung dieser Pharmaka, die jedoch meist erst mit einer zeitlichen Verzögerung von einigen Tagen einsetzt. Eine direkte analgetische Komponente ist derzeit noch Thema aktueller Forschungsarbeiten und zum jetzigen Zeitpunkt umstritten. Verwendung finden hauptsächlich trizyklische Antidepressiva (z. B. Amitriptylin und Doxepin).
Kalzitonin Physiologisch handelt es sich bei Kalzitonin um den Antagonisten des Parathormons. Es hemmt die Osteoklastenaktivität und senkt den Kalziumspiegel im Plasma. Indikationen für die therapeutische Anwendung im Bereich der Schmerzbehandlung bestehen bei Phantomschmerzen (nicht Stumpfschmerzen) sowie beim »chronic regional pain syndrome« (sympathische Reflexdystrophie). Lindernde Effekte bei Osteoporoseschmerzen sowie bei osteogenen Schmerzen bei Morbus Paget wurden
ebenfalls beschrieben. Es findet mittlerweile auch Anwendung bei Knochenmarködemen und -nekrosen.
Bisphosphonate Bisphosphonate besitzen einen dualen Wirkmechanismus, und zwar durch Hemmung der Osteoklastenaktivität einerseits und Stimulation der Osteoblasten andererseits. Daher finden sie bei Osteoporose, Knochenmarködemen und -nekrosen Anwendung. Neben dem antiosteoporotischen Effekt zeigten Medikamente dieser Substanzklasse gute analgetische Eigenschaften, v. a. bei Patienten mit Prostata- oder Mammakarzinom. Bisphosphonate werden hierbei zur Therapie und Prävention von Knochenmetastasen und Tumorosteopathien erfolgreich eingesetzt.
Muskelrelaxanzien Hierbei handelt es sich um zentral angreifende Substanzen aus der Gruppe der Benzodiazepine. Eine Indikation für den kurzfristigen Einsatz von Muskelrelaxanzien, z. B. Tetrazepam, besteht bei Lumbal- und Zervikalsyndrom sowie bei Tendomyosen im Bereich von Wirbelsäule, Schulter und Becken. Auf Nebenwirkungen wie Tagesmüdigkeit, »hangover«, Einschränkung der Verkehrstüchtigkeit, Schwindel und Sturzneigung ist der Patient hinzuweisen. Gleichzeitiger Alkoholgenuss muss untersagt werden.
Kortison Aufgrund der bereits beschriebenen Hemmung der Phospholipase A2 und der dadurch bedingten breiten analgetischen und antiphlogistischen Wirkkomponente findet Kortison in der Schmerztherapie sowohl in lokaler, topischer als auch in systemischer Form Anwendung. Glukokortikoide unterdrücken neben der Expression der Cyclooxygenasen auch die Bildung proinflammatorischer Zytokine wie Tumornekrosefaktor α, Interleukin 1 und Interleukin 6. Lokale Entzündungsreaktionen, Lymphozyten- und Bindegewebezellproliferationen und somit eine mögliche Gelenkdestruktion können durch den Einsatz von Glukokortikoiden ebenso verhindert werden wie zytokinbedingte Begleiterscheinungen systemischer Entzündungen wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Fieberreaktionen. Dies erklärt die gute Wirksamkeit als Antirheumatika. Tipp
I
I
In der Traumatologie kann durch rechtzeitige hochdosierte Dexamethasongabe das Risiko persistierender Querschnittslähmungen bei Rückenmarkschwellung ebenso reduziert werden wie die vitale Gefährdung bei einer Einklemmung im Tentoriumschlitz oder im Foramen magnum (Reduktion des Hirnödems und damit des intrakraniellen Drucks).
Das risikoreiche Nebenwirkungsprofil der Glukokortikoide besteht in: ▬ Osteoporose ▬ Stammfettsucht ▬ Hypertonie ▬ Blutzuckerspiegelerhöhung ▬ Immunsuppression
7
74
Kapitel 7 · Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie
Spezifische und unspezifische Kalziumkanalblocker
Tipp
Die auf herkömmliche Analgetika nur schlecht reagierenden neuropathischen Schmerzen können gezielt durch natriumund kalziumkanalblockierende Antiepileptika therapiert werden. Mit Erfolg wird diese Substanzgruppe, als deren hauptsächliche Vertreter Gabapentin und Pregabalin zu nennen sind, auch bei der Behandlung der diabetischen Polyneuropathie eingesetzt.
7.1.6
7
Schmerztherapie im Kindesalter
Weniger die Komplexität als vielmehr die oft unbegründete Furcht vor der Gabe von Analgetika stellt das schmerztherapeutische Problem bei Kindern dar. Dies führt meist zu einer Unterversorgung. Wird die im Kindesalter unterschiedliche Pharmakokinetik beachtet, lässt sich die Behandlung jedoch relativ leicht durchführen. Dadurch, dass Kinder häufig nicht in der Lage sind, Schmerzen zu objektivieren, kann es zu einer unzureichenden Schmerztherapie kommen. Ab dem 4. Lebensjahr lässt sich das sog. Smiley-Schema anwenden. Bei kleineren Kindern ist der Untersucher auf andere Parameter wie z. B. Herzfrequenz und Blutdruck oder auffällige Verhaltensweisen angewiesen. Hier findet das KUSS-Schema (kindliche Unbehagens- und Schmerzskala) Anwendung. Dabei werden folgende Parameter beurteilt: ▬ Weinen ▬ Gesichtsausdruck ▬ Rumpfhaltung ▬ Beinhaltung ▬ motorische Unruhe Das sicherste und am häufigsten angewandte Analgetikum für Kinder ist Paracetamol. Suppositorien und Sirup sind die Applikationsformen der Wahl. Diclofenac als Suppositorium sowie Metamizol in oraler, rektaler oder i. v. Form zählen ebenfalls zu den Standardanalgetika bei Kindern (⊡ Tab. 7.3).
I
I
Oberflächenanalgesien (»eutetic mixture of local anaesthetics«, EMLA), Wundinfiltrationen und Regionalanästhesien können den Bedarf an Schmerzmitteln deutlich reduzieren.
Aus der Substanzklasse der Opioide darf Tramal in einer Dosierung von 0,5–1,0 mg/kgKG oral, rektal oder i. v. verwendet werden. Die maximale Tagesdosis beträgt 6 mg/kgKG. Eine i. m. Gabe ist obsolet. Bei Medikamentenverabreichung gilt eine erhöhte Überwachungspflicht. Bei Auftreten von Übelkeit kann Vomex A in entsprechender Dosierung appliziert werden. Morphin und Piritramid können eingesetzt werden, initial sollte man allerdings vorsichtig i. v. titrieren. Gerade bei Neugeborenen sollte die Anwendung von Opioiden unter Berücksichtigung des Reifezustands der Lunge aufgrund der möglichen Atemdepression jedoch nur bei ausgewählten Indikationen erfolgen. Aufgrund des Nebenwirkungsspektrums (z. B. Reye-Syndrom nach viralen Infekten) sowie der relativ geringen Potenz findet Acetylsalicylsäure bei Kindern keine Verwendung.
7.2
Schmerztherapie bei degenerativen Erkrankungen
Degenerativ bedingte Schmerzzustände äußern sich meist als Anlauf- oder Ermüdungsschmerz. Es wird eine Steifigkeit der betroffenen Gelenke beklagt, und es kann zum Auftreten von Krepitationen kommen. Akute Schmerzzustände werden in den Phasen der »aktivierten Arthrose« beschrieben. Radiologisch nachweisbare Gelenkveränderungen finden sich bei 75 % der über 50-Jährigen und bei 90 % aller über 70-Jährigen. Radiologische Degeneration und klinische Symptomatik korrelieren erfreulicherweise jedoch nur bei einem Teil der Betroffenen. Diagnose und Behandlungsbedürftigkeit ergeben sich aus der Synopse und der zusammenfassenden Beurteilung der anamnestischen, klinischen und radiologischen Daten.
⊡ Tab. 7.3 Basisanalgesie bei Kindern Präparate
Dosierung
Tageshöchstdosis
Paracetamol (ab dem Neugeborenenalter zugelassen) Paracetamol (Benuron) supp. 125/250/500/1000 mg, Benuron-Saft
Intitiale Gabe (»loading dose«): rektal 40 mg/kgKG, oral 20 mg/kgKG Repetitive Gabe: rektal 25 mg/kgKG, oral 15 mg/kgKG Verabreichung bis zu 4-mal täglich unter Beachtung der Höchstdosis
90 mg/kgKG – die Tageshöchstdosis muss immer schriftlich angegeben werden; Cave: Lebertoxizität
Diclofenac (Voltaren; ab dem ersten Lebensjahr zugelassen) Diclofenac (Voltaren) supp. 12,5/25/50 mg
1 mg/kgKG (max. 3-mal täglich)
3 mg/kgKG
Metamizol (Novalgin; ab dem 3. Lebensmonat oder ab einem Körpergewicht von 5 kg zugelassen) Metamizol Trpf. (1 Trpf. enthält 25 mg)
12,5 mg/kgKG (0,5 Trpf./kgKG; max. 4-mal täglich)
60–80 mg/kgKG
75 7.2 · Schmerztherapie bei degenerativen Erkrankungen
Zur Behandlung existieren – aufbauend auf dem Schema der WHO (⊡ Abb. 7.1) – mehrere gleichrangige Therapiekonzepte, die in Abhängigkeit vom Beschwerdeausmaß einzeln oder in Kombination angewandt werden können. Um eine Optimierung und Standardisierung der Behandlung auf Grundlage evidenzbasierter Daten zu gewährleisten, erfolgte bereits die Publikation internationaler und nationaler Behandlungsempfehlungen. Die Pharmakotherapie bietet einen Weg, eine manifeste Arthrose symptomatisch effektiv zu behandeln und die Notwendigkeit eines Gelenkersatzes zu verschieben. Zur Gruppe der symptommodifizierenden Medikamente zählen: ▬ klassische NSAR ▬ reine Analgetika ▬ intraartikuläre Kortikosteroide ▬ Topika ▬ nichtklassische NSAR ▬ Phytopharmaka
der langfristigen Anwendung von Omega-3-Fettsäuren kommt es durch Verdrängung der Omega-6-Fettsäuren zu einer günstigen Beeinflussung des Arachidonsäurespiegels. Intraartikuläre Hyaluronsäureinjektionen bewirken zum einen durch chondrozytäre Proteoglykanproduktion eine Knorpelstabilisierung, und zum anderen haben sie durch Beeinflussung der Synoviaviskosität einen positiven tribologischen Effekt auf das Gleitverhalten (Viskosupplementation). Die verminderte Viskosität bei inflammatorischer Synovialitis wird normalisiert, die Synovia also wieder zähflüssiger. Bevorzugt werden hochmolekulare Substanzen ohne tierische Bestandteile. Die Frequenz der Injektionstherapie wird eher empirisch als wissenschaftlich fundiert festgelegt, meist erfolgt eine Triplet-Anwendung. Da es sich um eine intraartikuläre Injektion handelt, müssen die Kautelen der sterilen Applikation streng beachtet werden.
7.2.2
Zu den Besonderheiten der einzelnen Substanzklassen sei auf die vorangegangenen Ausführungen verwiesen. Neben der rein analgetischen Pharmakotherapie stehen dem Orthopäden verschiedene Methoden zur Verfügung, die von rein konservativen bis zu Verfahren der Komplementärund Alternativmedizin reichen. Diese nichtmedikamentösen Therapien gewinnen gerade durch die derzeit geführte Diskussion um die Nebenwirkungen und Risiken von Analgetika immer mehr an Bedeutung. Dies geht auch aus Empfehlungen der American Heart Association hervor, die bei arthrotisch bedingten Schmerzen die Ausschöpfung konservativer Therapiemaßnahmen vor Initiierung einer medikamentösen analgetischen Therapie anrät. Lokale Infiltrationen, intraartikuläre Injektionen, manuelle Therapie, physikalische Therapie, Physiotherapie und orthopädietechnische Hilfsmittel werden begleitend zur Behandlung von akuten und chronischen Schmerzen des Bewegungsapparats eingesetzt. Während die Erstverordnung zur Therapie des Arthroseschmerzes im angloamerikanischen Raum meist Paracetamol oder Acetylsalicylsäure (reine Analgetika) vorsieht, wird im deutschen Sprachraum relativ zügig eine Therapie mit NSAR oder Coxiben eingeleitet, um auch die antiphlogistische Wirkung zu nutzen.
7.2.1
Symptommodifizierende Medikamente
Als symptommodifizierende Medikamente (»slow acting symptomatic drugs in osteoarthritis«, SYSADOA) fasst man Chondroitinsulfat, Glukosaminsulfat, Hyaluronsäure, Diacerein und Avocado-Soja-Extrakt zusammen. In mehreren placebokontrollierten Studien mit Glukosaminsulfat konnte eine Verlangsamung des arthrotischen Verschleißes aufgezeigt werden. Weiterhin wird eine Reduktion der Synovialitis diskutiert und somit ein analgetischer Effekt postuliert. Langzeitstudien mit Glukosaminsulfaten über einen Zeitraum von mehr als 3 Jahren konnten statistisch und klinisch signifikante positive Veränderungen der Arthrosesymptomatik aufzeigen. Im Rahmen
Intraartikuläre Injektionen
Eine in der Praxis häufig angewandte Methode zur Schmerzbekämpfung stellt die intraartikuläre Infiltration dar. Der Vorteil dieser Therapie besteht in der gezielten Schmerzbekämpfung vor Ort mit Langzeiteffekt ohne systemische Nebenwirkungen. Vor Durchführung der Injektion ist der laborchemische Ausschluss einer Entzündung (Leukozytenzahl, CRP-Konzentration) anzuraten. Allergien auf Lokalanästhetika sind auszuschließen. Außerdem sind erforderlich: ▬ Aufklärungsgespräch ▬ schriftliches Einverständnis des Patienten ▬ strengste Einhaltung steriler Kautelen Auf die mögliche Flush-Symptomatik (Gesichtsrötung) muss der Patient ebenso hingewiesen werden wie der Diabetiker bei Gabe von Kortison auf eine mögliche Entgleisung des Blutzuckerspiegels. Innerhalb eines Zeitraums von 6 Monaten sollten nicht mehr als 3 intraartikuläre Injektionen durchgeführt werden.
7.2.3
Topische Anwendungen
Hierunter versteht man die Anwendung von Salben- und Gelzubereitungen, zumeist von NSAR, teilweise auch von hyperämisierenden Substanzen. Bei widersprüchlicher Datenlage hinsichtlich Effektivität und Evidenz in Metaanalysen belegen Erfahrungswerte sowie die breite Akzeptanz durch die Patienten die Existenzberechtigung dieser Anwendungsform.
7.2.4
Komplementär- und Alternativmedizin
Alternative Verfahren in der Schmerztherapie sind in der westlichen Medizin meist umstritten. Die Akupunktur als einer der Bestandteile der traditionellen chinesischen Medizin besteht in der Hautpenetration mit dünnen Nadeln an definierten Körperstellen sowie in der manuellen oder elektrischen Stimulation der Nadeln. Wenngleich die Akupunktur in China ein
7
76
Kapitel 7 · Schmerztherapie in Orthopädie und Unfallchirurgie
vielfältiges Anwendungsspektrum aufweist, wird sie im Westen hauptsächlich zur Schmerztherapie eingesetzt. Die Akzeptanz der Akupunktur ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen, u. a. durch groß angelegte Studien. Die Wirksamkeit der Phytotherapie lässt sich aus den vorliegenden Studien und Verlaufsbeobachtungen nicht bestätigen, sodass die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft im Jahre 2001 keine Anwendungsempfehlung aussprechen konnte.
7
7.3
Schmerztherapie im postoperativen Verlauf
7.3.1
Allgemeines
Operationen führen unausweichlich zu einem Gewebeschaden und damit zu einem Operationsschmerz. Dieser dauert für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum an und hängt von verschiedenen Variablen ab, beispielsweise Dauer, Invasivität und Ort des Eingriffs sowie Allgemeinzustand des Patienten und nicht zuletzt präoperative Aufklärung und Vorbereitung. Neben der subjektiv durch den Patienten wahrgenommen Schmerzsymptomatik entstehen nachfolgend aufgeführte schmerzinduzierte Risiken und Komplikationsmöglichkeiten: ▬ Störung des respiratorischen Systems mit Reduktion sämtlicher respiratorisch relevanter Parameter (Vitalkapazität, funktionelle Residualkapazität, Atemzugvolumen) ▬ Sympathikusaktivierung mit folgendem Blutdruckanstieg, Tachykardie und peripherer Vasokonstriktion – bei myokardial vorgeschädigten Patienten kann dies ein Infarktgeschehen verursachen ▬ Auftreten von Nausea und/oder Vomitus ▬ Blutzuckerspiegelentgleisungen In Abhängigkeit davon, ob es sich bei der Operation um einen ambulanten oder stationären Eingriff handelt, können unterschiedliche Analgetika Anwendung finden. Trotz der heute zur Verfügung stehenden analgetischen Möglichkeiten wird davon ausgegangen, dass Patienten in Deutschland postoperativ eine Unterversorgung erfahren. Die primäre Bedeutung der Analgetika besteht in der Schmerzlinderung. Die sekundären positiven Effekte auf den weiteren Krankheitsverlauf dürfen jedoch nicht unberücksichtigt bleiben. Durch die antiphlogistische Wirkung wird eine Hemmung der lokalen Entzündungs- und Schwellungsneigung erzielt. Große Bedeutung hat auch die Prophylaxe der heterotopen Ossifikation durch NSAR und wahrscheinlich auch durch Coxibe bei der Implantation von Hüfttotalendoprothesen. ! Cave Eine progrediente Schmerzsymptomatik stellt eine Warnfunktion dar. Neben der analgetischen Therapie sollte nicht vergessen werden, den Patienten parallel hinsichtlich möglicher Komplikationen zu untersuchen.
Unmittelbar postoperativ bietet sich die standardmäßige i. v. Schmerzmittelapplikation an. Eine i. m. Gabe ist zu vermei-
den, und aufgrund der Nachteile der s. c. Applikation (verzögerter Wirkungseintritt mit Abhängigkeit von der Durchblutung) sollte die Indikation für diese Verabreichungsform kritisch gestellt werden. Eine baldige Umstellung der i. v. Gabe auf die orale Verabreichung retardierter Präparate ist anzustreben. Weiterhin beachtet werden sollte die opioidinduzierte Atemdepression. Gerade bei i. v. Applikation kann diese Nebenwirkung auftreten, v. a. bei Kombination mit Sedativa oder postoperativem Opioidüberhang. Wichtig sind die indikationsgerechte Gabe, die Beachtung der Dosierung sowie die Überwachung des Patienten. Tritt eine manifeste Atemdepression auf (Atemfrequenz von <8/min, Patient nicht ansprechbar), muss eine unmittelbare Sauerstoffapplikation erfolgen, außerdem ggf. eine Beatmung und eine Antagonisierung mittels Naloxon. Eine Intensivüberwachung ist aufgrund der kurzen Wirkungsdauer von Naloxon und des möglichen Opioidüberhangs obligat. Die Gefahr der Entwicklung einer Abhängigkeit ist bei nur kurzfristigem postoperativen Einsatz von Opioiden unbedeutend.
7.3.2
Regionale Anästhesieverfahren
Immer größere Bedeutung wird Regionalanästhesien mit postoperativ in situ belassenen Schmerzkathetern zugemessen. Neben dem schonenden Anästhesieverfahren kann dem Patienten im unmittelbar postoperativen Verlauf entweder durch Bolusgabe oder durch kontinuierliche Verabreichung von Lokalanästhetika eine weitgehende Schmerzfreiheit gewährleistet werden. Die zusätzliche Analgetikaapplikation lässt sich reduzieren, eine Frühmobilisierung ist möglich, und die Gefahr einer Schmerzchronifizierung sinkt.
7.3.3
Patientenkontrollierte Analgesie
Aufgrund der inzwischen einfachen Bedienbarkeit für den Anwender erfreut sich diese Methode sowohl bei Ärzten und Pflegepersonal als auch bei Patienten großer Beliebtheit. Im klinischen Alltag finden meist Pumpensysteme Anwendung. Diese werden unterschieden in: ▬ PCIA: patientenkontrollierte (»patient-controlled«) i. v. Analgesie ▬ PCEA: patientenkontrollierte (»patient-controlled«) epidurale Analgesie Bei der hauptsächlich eingesetzten PCIA kann in festgelegten Zeitabständen durch den Patienten selbst eine vorher vom Arzt bestimmte Menge an Analgetika (Opioid) abgerufen werden. Diese Form der Analgesie gewährleistet ein hohes Maß an Sicherheit. Eine regelmäßige Überwachung des Patienten, v. a. in der unmittelbar postoperativen Phase, die Schulung aller an der Versorgung des Patienten Beteiligten bezüglich des unmittelbaren Therapiemanagements bei Atemdepression, das Bereithalten von Naloxon sowie ggf. eine Pulsoxymetrie sollten dennoch zum Standard gehören.
77 Literatur
7.3.4
Präemptive Analgesie
Noch keine abschließende Bewertung existiert hinsichtlich der Hypothese von Woolf und Wall, dass bereits im Vorfeld der Operation eingeleitete analgetische Therapiemaßnahmen einen positiven Effekt auf das postoperative Schmerzempfinden haben. Die meisten der bisher durchgeführten Studien können diesen Effekt durch Reduktion des postoperativen Analgetikaverbrauchs jedoch bestätigen. Allgemein zusammengefasst bewirkt eine ausreichende Schmerztherapie im postoperativen Verlauf: ▬ eine Frühmobilisierung des Patienten und somit eine Senkung des Thromboserisikos und der Emboliegefahr sowie eine Verringerung des Dekubitusrisikos bei älteren Patienten ▬ die Vermeidung einer Schonatmung und dadurch eine Prophylaxe von respiratorischen Komplikationen ▬ eine Reduktion von schmerzinduzierten Stressreaktionen und Katecholaminausschüttungen mit der möglichen Folge einer kardiovaskulären Komplikation ▬ eine bessere Rekonvaleszenz durch ungestörte Ruhe- und Schlafperioden Aufgrund der fehlenden Objektivierbarkeit von Schmerzen ist der Untersucher neben der Beobachtung von vegetativen Reaktionen auf die subjektive Einschätzung durch den Patienten angewiesen. Numerische Rating-Skalen und die visuelle Analogskala haben sich im Alltag zur Beurteilung von Schmerzen bewährt. Egal welches Verfahren gewählt wird – eine suffiziente Schmerztherapie im postoperativen Verlauf ist zu gewährleisten. Im Vordergrund sollte bei diesen Überlegungen immer der ethisch-moralische Aspekt stehen. Aber auch zivilrechtliche (Schmerzensgeld) und strafrechtliche Konsequenzen [Tatbestand der vorsätzlichen (§ 223 Strafgesetzbuch) oder fahrlässigen (§ 230 Strafgesetzbuch) Körperverletzung oder der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323 Strafgesetzbuch)] sind zusätzliche Mahnungen, eine möglichst weitreichende Schmerzfreiheit zu gewährleisten.
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7
8
Technische Orthopädie J. Götz
8.1
Gesetzliche Grundlagen und Hilfsmittelverzeichnis – 80
8.2
Prothesenversorgung der oberen Extremität – 81
8.2.1 8.2.2 8.2.3
Prothesentypen, Schaft und Passteile – 81 Schulter, Oberarm und Ellenbogen – 82 Unterarm und Hand – 83
8.3
Prothesenversorgung der unteren Extremität – 84
8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.3.4 8.3.5
Prothesentypen – 84 Passteile – 84 Hüftbereich und Oberschenkel – 86 Kniebereich und Unterschenkel – 87 Fuß – 88
8.4
Orthesen
8.4.1 8.4.2 8.4.3 8.4.4 8.4.5
Allgemeines – 89 Untere Extremität – 90 Obere Extremität – 93 Wirbelsäule – 94 Orthesen und Bandagen beim Sport
8.5
Orthopädische Schuhtechnik – 97
8.5.1 8.5.2 8.5.3 8.5.4
Biomechanik und Prinzipien des menschlichen Ganges Orthopädische Schuhzurichtung – 97 Orthopädische Maßschuhe – 99 Einlagenversorgung – 99
8.6
Technische Hilfsmittel für die Rehabilitation – 100
8.6.1 8.6.2 8.6.3
Rollstuhlversorgung – 100 Geh- und Stehhilfen – 101 Greif- und Alltagshilfen – 102
8.7
Abnahme technischer Hilfsmittel – 102 Literatur
– 89
– 96
– 102
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 97
8
80
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
8.1
Gesetzliche Grundlagen und Hilfsmittelverzeichnis
stärkter Preiswettbewerb angeregt, der Qualitätswettbewerb gesteigert und den Krankenkassen ein Instrument zur Ausgabenreduzierung zur Verfügung gestellt werden. Eine wichtige Änderung besteht darin, dass durch Nutzung von Ausschreibungen Einsparungen erzielt werden können. Weiterhin soll die Versorgung des Versicherten nur noch durch Vertragspartner der jeweiligen Krankenkasse erfolgen. Zudem regelt das neue Gesetz, dass Mehrkosten für Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, sowie für etwaige höhere Folgekosten vom Versicherten zu tragen sind (§ 33 SGB V Abs. 1 Satz 5). Steht im Einzelfall kein Vertragspartner des Versicherungsträgers für die Versorgung zur Verfügung, kann das Hilfsmittel durch einen Leistungserbringer mit einer bis 31.12.2008 gültigen Zulassung oder einen Leistungserbringer, der nach dem 01.04.2007 die Qualitätsanforderungen nachgewiesen hat, abgegeben werden. Das Hilfsmittelverzeichnis stellt einen Katalog dar, in dem durch die Spitzenverbände der Krankenkassen alle von der Leistungspflicht erfassten Hilfsmittel systematisch aufgeführt sind. Es wird im Bundesanzeiger bekannt gemacht. Die Aufnahme eines Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis erfolgt auf Antrag des Herstellers. Über die Aufnahme entscheiden die Spitzenverbände der Krankenkassen gemeinsam (§ 139 Abs. 3). In Abschnitt 4 wird geregelt, dass das Hilfsmittel dann aufzunehmen ist, »wenn der Hersteller die Funktionstauglichkeit und Sicherheit, die Erfüllung der Qualitätsanforderungen nach Absatz 2 und, soweit erforderlich, den medizinischen Nutzen nachgewiesen hat und es mit den für eine ordnungsgemäße und sichere Handhabung erforderlichen Informationen in deutscher Sprache versehen ist«. Für neu zuzulassende Hilfsmittel muss der medizinische Nutzen zuvor in Studien nachgewiesen werden. Die Nummernzuweisung innerhalb des Katalogs erfolgt nach der in ⊡ Abb. 8.1 dargestellten Systematik. Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Verordnung von Hilfsmitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Neufassung vom 16.10.2008) zeigen, dass sich wissenschaftliche Fachverbände um Abstimmung und Vereinfachung des Verfahrens bemühen. So wird in § 11 Abs. 2 darauf hingewiesen, dass die kassenärztliche Bundesvereinigung
Die Technische Orthopädie stellt einen der traditionellen Grundpfeiler der Orthopädie dar. Hilfsmittel definieren sich dabei als sächliche Mittel oder Produkte, die serienmäßig hergestellt und in unverändertem Zustand oder mit handwerklicher Zurichtung an den Patienten weitergegeben oder aber individuell angefertigt werden. Aus § 33 SGB V sowie weiteren rechtlichen Vorgaben determiniert sich der Anspruch des Versicherten auf eine sachgerechte Hilfsmittelversorgung. Weiterhin wird in § 33 SGB V Abs. 1 festgelegt, dass Versicherte einen Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln besitzen, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. Der § 34 Abs. 4 regelt dabei den Ausschluss von Hilfsmitteln von geringem oder umstrittenem therapeutischen Nutzen oder geringem Abgabepreis. Weitere Reglementierungen bestehen durch zusätzliche gesetzliche Bestimmungen, welche die Hilfsmittelversorgung regulieren sollen. In § 12 SGB V Abs. 1 wird festgelegt, dass die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen und das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. Es geht also nicht um das medizinisch Sinnvolle. Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 SGB V Abs. 1). Krankenkassen, Leistungserbringer und Versicherte haben darauf zu achten, dass die Leistungen wirksam und wirtschaftlich erbracht und nur im notwendigen Umfang in Anspruch genommen werden (§ 2 SGB V Abs. 4). Eine zusätzliche Neuordnung erfährt die Hilfsmittelversorgung durch das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKVWSG – vom 26.03.2007, BGBl. I Nr. 11/2007, S. 378). Mit dieser Gesetzesnovelle sollen ein ver-
Einlagen
Fuß
08
03
KopieEinlagen
Ledereinlagen mit Längsgewölbestütze
Einzelprodukt
01
0
X xx
Einzelprodukt Produktart Untergruppe Anwendungsort ⊡ Abb. 8.1 Systematik der Nummernzuweisung im Hilfsmittelverzeichnis
Produktgruppe
3-stellig Einstellig 2-stellig 2-stellig 2-stellig
81 8.2 · Prothesenversorgung der oberen Extremität
und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen einvernehmlich allen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Krankenkassen Hinweise zur Verordnungsfähigkeit von Hilfsmitteln geben können. Für das Ausfertigen eines Hilfsmittelrezepts ist es notwendig, eine genaue Beschreibung der gewünschten Versorgung und/oder die Hilfsmittelnummer anzugeben. Weiterhin ist die Diagnose mit zu erfassen. Eine kleine ergänzende Erklärung kann oft zeitraubende Anfragen des MDK vermeiden helfen. Zu beachten ist weiterhin, dass pro ausgestelltem Hilfsmittelrezept nur eine Versorgung rezeptiert werden darf. Eine Lagerhaltung von Hilfsmitteln ist laut neuer Gesetzgebung nicht mehr erlaubt. Ausnahmen hiervon bilden allerdings alle stützenden und immobilisierenden Hilfsmittel, ohne die eine Akutversorgung von Traumapatienten oder eine postoperative Versorgung nicht zu gewährleisten wäre. Eine Zusammenarbeit zwischen Arzt und Orthopädieschuhmacher oder Orthopädietechniker begründet sich dadurch, dass die spezielle Anfertigung durch einen mit der indizierten Anfertigung vertrauten Partner zur individuellen Versorgung des Patienten erfolgt.
8.2
Prothesenversorgung der oberen Extremität
8.2.1
Prothesentypen, Schaft und Passteile
Die Entscheidung, ob und wenn ja von welcher Prothese der Patient profitiert, muss vom individuellen Nutzen für den Amputierten abhängig gemacht werden. Es gibt Patienten, die ohne prothetische Versorgung besser zurechtkommen als mit, und es gibt jene, die mit einer modernen Prothese überfordert sind und den Alltag mit einer reinen Schmuckprothese besser bewältigen können. Hier besteht die Hauptaufgabe des Arztes darin, nicht dem sportlichen Ehrgeiz zu verfallen, das neueste und modernste Modell einsetzen zu wollen, das der Patient nach wenigen Wochen frustriert in die Ecke stellt, sondern die Versorgung auf die Bedürfnisse des Patienten abzustimmen. Bei der Indikation und der Wahl der Prothesenversorgung spielen unterschiedliche Faktoren eine Rolle: ▬ Höhe der Amputation ▬ Begleitverletzungen ▬ zusätzliche Amputationen ▬ Alter und Ausbildungsstand des Patienten ▬ soziokulturelles Umfeld ▬ Kostenträger Eine Hilfestellung bei der Auswahl der geeigneten Prothesen bietet die Zustands- oder Profilerhebung. Eine Orientierung liefern z. B. Bögen des Bundesinnungsverbands für Orthopädie-Technik (BIV, www.ot-forum.de). Die allgemeine Unterteilung der Exoprothetik der oberen Extremität besteht in passiven und aktiven Prothesen sowie in deren Kombination (Hybridprothesen). Die passiven Prothesen können weiter in kosmetische und Arbeitsprothesen unterteilt werden. Die kosmetische Prothese kann funktionell im All-
tag zumindest einen Gegenhalt bieten. Sie weist ein geringes Gewicht auf. Durch Verwendung von Silikontechnik kann der natürliche Aspekt nahezu vollständig wiederhergestellt werden. In Amerika weit verbreitet ist der passive Arbeitsarm, der mit durch Bajonettverschluss austauschbaren Instrumenten armiert werden kann. Der Haken (»hook«) ist das bekannteste Werkzeug. Die Versorgung ist für Unterarmamputierte gut geeignet, die einer schweren beruflichen Tätigkeit nachgehen. In Deutschland ist der »hook« eher wenig verbreitet, in der südeuropäischen Bevölkerung tabuisiert. Die aktiven Prothesen können entweder durch Eigen- oder durch Fremdkraft betrieben werden. Bei den Eigenkraftprothesen wird die Kraftentwicklung über Bandagen von der Muskulatur des Schultergürtels auf die Prothese übertragen. Die Versorgung ist sowohl für Unter- als auch für Oberarmamputierte möglich. Die Vorteile der Eigenkraftprothese beruhen auf dem im Vergleich zur Fremdkraftprothese geringen Prothesengewicht, den geringen Kosten und der einfachen Instandhaltung. Als nachteilig werden das umständliche An- und Ablegen der Prothese sowie die Einschränkung durch die Schulterbandagen beurteilt. Eine weitere Möglichkeit der Kraftentwicklung besteht in der heute fast nicht mehr verwendeten Kineplastik nach Sauerbruch-Lebsche (⊡ Abb. 8.2). Bei dieser Technik wird ein mit Haut ausgekleideter Kanal transmuskulär durch den Bauch eines Stumpfmuskels angelegt (z. B. desinserierter M. biceps brachii bei Unterarmamputation oder M. pectoralis bei Oberarmamputation). Durch Muskelkontraktion wird der Kanal nach proximal bewegt. Ein in diesem Kanal einliegender Piacryl-Kunststoff-Stift (früher Elfenbein) kann die Kraft über Zügel auf die Prothesenhand übertragen. Eine weitere Möglichkeit bietet sich mit Beugescharniermechanismen durch Ausnutzen der Restbeweglichkeit von Gelenken im Amputationsstumpf. An die Prothese können eine mechanische Greifhand sowie austauschbare Arbeitsgeräte montiert werden. Die Fremdkraftprothese wird mittels Elektromotoren angetrieben. Der initiale Bewegungsimpuls lässt sich entweder durch verstärkte myoelektrische Signale der Stumpfmuskulatur, durch Kraftsensoren oder durch mechanische Schalter auslösen und ansteuern. Neueste Prothesenmodelle können sogar
a
b
⊡ Abb. 8.2a,b Kineplastik nach Sauerbruch-Lebsche
8
82
8
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
gedankengesteuert betrieben werden. Die von Kuiken und Dumanian entwickelte Technik wird als »targeted muscle reinnervation« bezeichnet. Grundlage ist die Tatsache, dass der Nerv nach einer Amputation bis auf die Amputationshöhe intakt und funktionsfähig bleibt. Dieser residuale Nerv wird isoliert und anschließend ein denervierter und in mehrere Segmente aufgeteilter Muskel (beispielsweise M. pectoralis) mit dem präparierten Nerv re-innerviert. Die EMG-Signale über den einzelnen Muskelportionen (des M. pectoralis) repräsentieren die Aktivität des ursprünglichen Muskels und können durch die myoelektrische Prothese in Bewegung umgesetzt werden. Die aktuelle Forschung versucht, über eine ähnliche Methodik (»targeted sensory reinnervation«) auch eine Wiederherstellung der Sensibilität zu erreichen: Nach vorheriger Denervation der Haut über dem Target-Muskel wird durch Re-Innervation mit afferenten Fasern von Handnerven bei Berührung ein Gefühl ausgelöst, das dem der amputierten Hand entspricht. Diese in der Laienpresse euphorisch gefeierten Fortschritte sollte man jedoch auf ein realistisches Erwartungsmaß zurücksetzen. Allgemein ist die Fremdkraftprothese für den differenzierten Patienten mit großer Trainingsbereitschaft zu empfehlen. Sie kann bei Unter- und Oberarmamputation eingesetzt werden. Die Prothese erfordert eine hohe Intensität an Physiotherapie und Ergotherapie. Bei Nichtgebrauch setzt ein schneller Verlust des motorischen Gedächtnisses ein. Weitere Nachteile sind das hohe Gewicht und die hohen Kosten. Bei den Hybridprothesen können die vorangestellten Komponenten miteinander kombiniert werden, sodass beispielsweise der Ellenbogen über einen Schulterbandagenzug betätigt wird und die Hand myoelektrisch.
Schaft Während die auftretenden Kräfte an der unteren Extremität hauptsächlich als axial wirkende Druckkräfte auftreten, ist an der oberen Extremität die Zugkraft von entscheidender Bedeutung. Die Anforderung, die sich somit an den Schaft ergibt, besteht in einem formschlüssigen Vollkontakt zum Amputationsstumpf. Die 3 wichtigsten Aufgaben des Prothesenschafts sind: ▬ Haftung zwischen Prothesenschaft und Stumpf (Suspension) ▬ Lastübertragung (Support) ▬ Kraft-/Bewegungsübertragung (Stabilisation) Der Schaft darf weder zu Einschnürungen und Strangulationen führen oder die Durchblutung des Stumpfes beeinträchtigen noch zu schwer sein. Er soll ein akzeptables Mikroklima im Interface gewährleisten und einen ausreichenden Tragekomfort bieten, der sowohl das An- und Ablegen als auch Reinigung, Kombination mit Kleidung etc. erlaubt.
Passteile Als Passteile werden die Funktionsbauteile der Prothese bezeichnet: Hand bzw. Greifhaken sowie Hand-, Ellenbogenund Schultergelenk. Passteile werden industriell hergestellt und lassen sich in Modular- oder Schalenbauweise fertigen. Die Schalenbauweise stellt die traditionellere Bauweise dar. Die Last wird über äußere Formteile getragen (exoskelettale Bau-
weise). Die Modularbauweise weist innen tragende Elemente auf und ist nach außen durch kosmetische Formteile verkleidet (endoskelettale Bauweise). Die Passteile werden unter Berücksichtigung der im Rahmen der Profilerhebung erzielten Ergebnisse individuell für den Patienten zusammengestellt. Ziel ist es, die biomechanischen Möglichkeiten mit den Ansprüchen des Patienten weitgehend zur Deckung zu bringen. Auf die Funktionsweise des Greifhakens (»hook«) wurde bereits eingegangen. Bei der Hand besteht die Wahl zwischen einer Passivhand und einer aktiv bewegbaren Hand. Bei Handgelenk und Ellenbogengelenk ergibt sich die Möglichkeit der Bewegungsausführung durch Eigen- oder Fremdkraft. Vor allem beim Handgelenk erfolgt die Funktionseinstellung jedoch meistens passiv durch die gesunde Hand der Gegenseite.
8.2.2
Schulter, Oberarm und Ellenbogen
Schulter Amputation und Exartikulation im Schulterbereich stellen für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar. Neben der Schwierigkeit der Befestigung der Prothese ist eine gute Funktionalität meist nur durch schwere Fremdkraftprothesen zu erreichen. Solche Prothesen werden von den meisten Patienten jedoch auf Dauer nicht toleriert. Schulter-Arm-Prothesen stützen sich thorakal ab, und die Unterstützungsfläche ist indirekt proportional zur noch verbliebenen Stumpflänge, d. h. je kürzer der Stumpf ist, desto größer muss die thorakale Abstützungsfläche gewählt werden. Die thorakale Abstützung kann entweder über Bandagen fixiert sein oder es wird eine Thoraxhalbschale in Rahmenschafttechnik, evtl. mit Silikon-Liner, angefertigt. Passive Schulter-Arm-Prothesen stellen bezüglich ihres Gewichts eine tolerable Belastung dar und ermöglichen es dem Patienten, zumindest dann Dinge festzuhalten, wenn das Ellenbogengelenk arretiert ist. Wie bereits angesprochen, sind Fremdkraftprothesen so schwer, dass sie erstens einer umfassenden thorakalen Abstützung bedürfen und zweitens aufgrund ihres Gewichts einen Überhang zur amputierten Seite mit den Folgebeschwerden einer sekundären Brustwirbelsäulenskoliose verursachen können. Eine Kompromisslösung stellt in manchen Fällen die Versorgung mit einer Schulterkappe dar. Durch sie wird zumindest die äußere Schulterform wiederhergestellt und das Tragen von Konfektionskleidung ermöglicht.
Oberarm und Ellenbogen Nach Exartikulation im Ellenbogen oder Amputation im Oberarmbereich stehen alle Systeme für die Versorgung zur Verfügung. Neben der Profilerhebung dient die Einteilung in 5 verschiedene Funktionalitätsgrade (Grade 1–5) der Erfassung des individuellen Versorgungsbedarfs des Patienten. Passive Prothesen bieten den Vorteil, dass sowohl ein gewisser funktioneller Einsatz wie die Gewährleistung eines Widerhalts gegeben ist als auch die Frage nach dem optischen Aspekt zufriedenstellend gelöst werden kann. Bei der Anwendung von aktiven Prothesen können Eigenkraftprothesen (Schulterbandage mit 2 oder 3 Zügen, Achterbandage) und Fremdkraftprothesen (myoelek-
83 8.2 · Prothesenversorgung der oberen Extremität
trische oder elektromechanische Prothese) zum Einsatz kommen. Die größte Akzeptanz erfährt die Hybridprothese: Der Ellenbogen wird mechanisch durch axialen Stoß arretiert und die Hand myoelektrisch angesteuert. Der Prothesenschaft kann sich bei ausreichender Stumpflänge und Rotationsstabilität auf den Stumpf beschränken und muss nicht auf die Schulter übergreifen (stumpfumfassender Kontaktschaft). Ist der Stumpf zu kurz für einen sicheren Halt, wird eine schulterübergreifende Bettung gewählt (stumpf- und gelenkumfassender Kontaktschaft). Der Nachteil besteht in der Reduktion der Schultergelenkbeweglichkeit aufgrund der Schulterfassung. Mit Hilfe der Liner-Versorgung kann in manchen dieser Fälle evtl. auch eine weitgehend freie Schulterbeweglichkeit erhalten bleiben. Sind Extremitätenreste oder -knospen bei transversalen Fehlbildungen vorhanden, stellt ein Offenendschaft die geeignete Lösung dar. Diese Schaftform weist nach distal eine Öffnung auf, sodass eine Nutzung der evtl. vorhandenen Restfunktion der Extremitätenreste (z. B. Sensibilität) möglich ist.
8.2.3
Unterarm und Hand
Unterarm Die prothetische Versorgung des Unterarms umfasst alle Unterarmstümpfe, vom transkondylären Typ (handgelenknahe Stümpfe) bis zu kurzen transradialen Stümpfen. Beim Unterarm gilt folgendes Prinzip: Je länger der Stumpf ist, desto besser sind die Versorgungsmöglichkeit und das Ergebnis. Der Stumpf kann entweder in Silikon-Liner-Technik gebettet und über einen Arretierstift mit der Prothese konnektiert werden oder der äußere Schaft wird in Karbonfasergießharztechnik hergestellt und innen ein Weichwandschaft eingezogen. Die
a
b
frühere übliche Einbeziehung des Oberarms ist aufgrund der modernen technischen Möglichkeiten auch bei kurzem Stumpf nicht mehr notwendig. Unterarmprothesen sind als rein kosmetische (Schmuckprothese; ⊡ Abb. 8.3), als zugbetätigte oder als myoelektrische Prothesen erhältlich.
Finger, Hand und Handgelenk Nach Amputation eines Langfingers (Digiti III–V) sind keine ausgeprägten funktionellen Störungen zu erwarten. Im Vordergrund steht der kosmetische Aspekt. Verfügbar sind Aufsteckfinger und der vollständige Fingerersatz nach Maß. Diese Prothesen sind alle passiv und ohne Gelenk. Die Befestigung erfolgt entweder über einen Vakuumeffekt oder die Befestigung am Nachbarfinger. Ist die Greiffunktion betroffen, sollten alle Möglichkeiten der operativen Rekonstruktion ausgeschöpft werden. Ist dies nicht mehr möglich, kann man bei Verlust des Daumens eine Daumenprothese mit Handhülse anfertigen. Bei Verlust aller Langfinger hilft eine Unterarmhülse mit Aussparung des Daumens zur Sicherung seiner Bewegungsfreiheit. Bei Amputationen im Bereich der Handwurzel kann eine palmare Greifplatte ein zufriedenstellendes funktionelles, wenn auch schlechtes kosmetisches Ergebnis erzielen. Alternativ kann wie bei der Handgelenkexartikulation eine Prothesenhand angepasst werden, deren Funktionsprinzip passiv oder aktiv ist. Eine Innovation im Bereich der Handprothetik zeichnete sich in den vergangenen Jahren ab: Seit 2000 arbeitet das Forschungszentrum Karlsruhe an der Entwicklung einer Fluidhand. Sie wird myoelektrisch angesteuert, die hydraulischen Antriebe in den Fingern werden durch kleine Pumpen betrieben. Der Vorteil besteht in der besseren Funktionalität der Prothese, welche 5 unterschiedliche Grundgriffe ausführen kann. Die Kosten sind derzeit noch immens.
⊡ Abb. 8.3a,b Schmuckprothese Unterarm
8
84
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
8.3
Prothesenversorgung der unteren Extremität
8.3.1
Prothesentypen
8.3.2
Passteile
Fuß
8
Entsprechend der Prothesenversorgung der oberen Extremität unterscheidet man 2 verschiedene Bauweisen: Schalen- und Modularbauweise. Die Schalenbauweise stellt die ältere Methode innerhalb der Prothetik dar. Die Lastübertragung erfolgt über den äußeren Anteil der Prothese. Da diese Bauweise dem der Schalenund Krustentiere ähnelt, trägt sie im Englischen die Bezeichnung »crustacean type«. Die Modularbauweise – oder auch Rohrskelettbauweise – zeichnet sich durch ein innen liegendes Trageelement und eine äußere Verkleidung aus. Dadurch ist diese Prothese der Schalenbauweise im äußeren Aspekt kosmetisch deutlich überlegen, auch lassen sich einzelne Passteile austauschen und Korrekturen an der Achse schnell durchführen. Dieser Versorgungstyp ist verglichen mit der Schalenbauweise jedoch teurer. Hinsichtlich des Achsaufbaus der Prothese orientiert man sich an der physiologischen Biomechanik und Anatomie. Im ventralen Aspekt folgt man ungefähr der Mikulcz-Linie. Auch in der Sagittalebene ist die Lage des Körperschwerpunkts entscheidend. Gerade beim Kniegelenk sollte man sich der Abhängigkeit der Gelenkachsenpositionierung vom gewählten Passteil bewusst sein. Bei der prothetischen Versorgung der unteren Extremität muss man sich die auftretenden Belastungen beim Gehen verdeutlichen. Neben der axialen Belastung in der Standphase, während derer die Prothese und der Stumpf die gesamte Belastung aufnehmen und übertragen, bestehen während der Schwungphase, bedingt durch Fliehkräfte, Momente, die einen gut sitzenden Schaftsitz erfordern. Daher ist es notwendig, dass der Schaft den Stumpf gut umschließt. Fensterödeme müssen ebenso vermieden werden wie Einschnürungen des Stumpfes. Bei der Auswahl der Passteile spielt neben der Profilerhebung des Patienten auch das Gewicht eine Rolle. Bei der Beurteilung erfolgt zudem eine Einteilung in 5 Mobilitätsgrade: ▬ Mobilitätsgrad 0: Der Patient ist selbst mit Unterstützung nicht gehfähig. ▬ Mobilitätsgrad 1: Innenbereichsgeher – der Patient ist in der Lage, mit Hilfe einer Prothese kurze Strecken mit geringer Geschwindigkeit auf ebenem Untergrund zu gehen. ▬ Mobilitätsgrad 2: eingeschränkter Außenbereichsgeher – bei geringer Geschwindigkeit ist der Patient in der Lage, kleine Hindernisse zu überwinden. Obwohl Gehdauer und -strecke limitiert sind, können kurze Strecken außer Haus bewältigt werden. ▬ Mobilitätsgrad 3: uneingeschränkter Außenbereichsgeher – der Patient kann sich bei frei gewählter Geschwindigkeit im Außenbereich bewegen und Hindernisse überwinden. Er kann die meisten Aktivitäten des täglichen Lebens ausüben und seinem Beruf nachgehen. Gehdauer und -strecke sind nicht oder nur unwesentlich beschränkt. ▬ Mobilitätsgrad 4: uneingeschränkter Außenbereichsgeher mit besonders hohen Ansprüchen – der Versorgte kann zusätzlich zu seiner uneingeschränkten Alltagsbetätigung sportlichen, evtl. sogar leistungssportlichen Aktivitäten nachgehen.
Die Auswahl der Passteile folgt der Einteilung des Patienten zu einem Mobilitätsgrad. Belastbarkeit, Gewicht, Flexibilität, Abrollverhalten und Material sind die Kriterien für die Zuordnung der Fußteile. Es werden gelenklose starre Füße (z. B. SACH-Fuß – SACH: »solid ankle-cushioned heel«; ⊡ Abb. 8.4), gelenklose energiespeichernde Füße, einachsige und mehrachsige Füße unterschieden. Bei den modernen Füßen ist die elastische Rückstellkraft ein wichtiger Bestandteil. Die während des Auftritts gespeicherte kinetische Energie wird beim Abstoßen wieder freigesetzt (»energy-storing effect«). Bei Mobilitätsgrad (0–)1 wird ein gelenkloser, leichter Fuß verwendet, z. B. der Kosmetikleichtfuß. Der SACH-Fuß weist einen stoßdämpfenden Fersenteil auf. Der dynamische SACH-Fuß kann auch bei Mobilitätsgrad 2 eingesetzt werden. Bei Mobilitätsgrad 2–3 können beispielsweise eingesetzt werden: ▬ Dynamikfuß. Dieser weist zusätzlich zum elastischen Fersenkeil einen elastischen Mittelfußkeil auf. ▬ Endolite-Multiflex-Prothesenfuß (Fa. Bauerfeind). Dieser enthält ein multiaxiales Kugelgelenk mit Fersendämpfung und eine energierückführende Blattfeder (Karbon). ▬ Endolite-Navigator-Fuß. Ein variabler Gummiball und Gummiblockringe ermöglichen eine individuelle Anpassung an Gewicht und Mobilität. Durch Zweiteilung der Vorfußkarbonfeder wird eine bessere Anpassung an unebenes Gelände und daher eine erhöhte Standsicherheit gewährleistet. Eine zusätzliche Fersenfeder bewirkt ein 3-Punkt-Karbonfedersystem. Beim C30-Trias werden durch eine zusätzliche Basisfeder die Vorfuß- und die Fersenfeder miteinander verbunden, und die Einheit des Fußes wird gestärkt. Innen- und Außentorsion ermöglichen eine schnelle Änderung der Bewegungsrichtung. Somit sind diese Fußteile (z. B. Endolite-Elite-VT-Prothesenfuß, Axtion DP) auch für die
⊡ Abb. 8.4 SACH-Fuß (SACH: »solid ankle-cushioned heel«). (Mit frdl. Genehmigung der Fa. Bauerfeind)
85 8.3 · Prothesenversorgung der unteren Extremität
⊡ Abb. 8.5 Cheetah-Sprintfuß für Unterschenkelprothesenträger. (Mit frdl. Genehmigung der Fa. Össur)
⊡ Abb. 8.6 C-Leg. (Mit frdl. Genehmigung der Otto Bock HealthCare GmbH)
Mobilitätsklasse 4 geeignet. Die einzelnen Fußteile der verschiedenen Hersteller können inzwischen derart modifiziert und eingestellt werden, dass sie für verschiedene Mobilitätsgrade geeignet sind. Für den Sportbereich gibt es spezielle Fußprothesen, bei denen die Blattfeder bis an den distalen Unterschenkel reicht. Sie rückten 2008 durch den Fall Oscar Pistorius in den Fokus des öffentlichen Interesses: Zunächst wurde der beidseits unterschenkelamputierte Südafrikaner aufgrund des Verdachts, dass er durch die Sportprothesen (Cheetah Flex-Foot; ⊡ Abb. 8.5) einen unerlaubten Vorteil habe, von der Qualifikation zu den Olympischen Spielen 2008 ausgeschlossen. Der Internationale Sportsgerichtshof CAS hob diese Entscheidung jedoch auf, der Athlet erreichte allerdings in der noch verbliebenen Zeit nicht die Qualifikationsnorm.
Kniegelenk Die Kniepassteile werden nach folgenden Parametern eingeteilt: ▬ ein- oder mehrachsig (mono-/polyzentrisch) ▬ Standphasensicherung: – mechanisch – hydraulisch – durch Anordnung des Drehpunkts des Kniepassteils ▬ Schwungphasensteuerung: – manuell – elektronisch
⊡ Abb. 8.7 Rheo Knee. (Mit frdl. Genehmigung der Fa. Össur)
Die beiden derzeit bekanntesten Kniepassteile mit mikroprozessorgesteuerter Schwung- und Standphase sind das C-Leg (Fa. Otto-Bock; ⊡ Abb. 8.6) und das Rheo-Knee (Fa. Össur; ⊡ Abb. 8.7).
Hüftgelenk Bisher war nur eine Versorgung mit einem monozentrischen Gelenk in Modular- oder Schalenbauweise in Verbindung mit einer Beckenkorbprothese möglich. Mit Einführung der Helix3D-Prothese (Fa. Otto Bock; ⊡ Abb. 8.8) mit einer hydraulischen Stand- und Schwungphasensteuerung gibt es seit Kurzem auch ein polyaxiales Hüftgelenk.
Osseointegration Aufgrund der in der Zahnmedizin erfolgreichen Technik der Osseointegration von Implantaten besteht die Hoffnung, diese Technik auch in der Prothesenversorgung zu implementieren, v. a. bei Oberschenkelamputationen. Dabei wird eine Titanhalterungsschraube intramedullär im Femur verankert. Das operative Vorgehen erfolgt 2-zeitig: Im ersten Operationsschritt wird die Titanschraube gesetzt und nach 6 Monaten eine Titanverlängerung transkutan mit der Schraube verbunden. Auch wenn aktuelle Studienergebnisse von Hagberg u. Brånemark (2009) sehr gute Ergebnisse für diese Methodik ausweisen, bleibt dennoch langfristig die Infektionsgefahr zu bedenken, da die physiologische Hautbarriere im Bereich des Pin-Eintritts nicht gegeben ist. Die Folgen für den Stumpf wären katastrophal.
8
86
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
⊡ Abb. 8.8a,b Helix-3D-Prothese. (Mit frdl. Genehmigung der Otto Bock HealthCare GmbH)
8
8.3.3
a
Hüftbereich und Oberschenkel
Hüftbereich Die Prothesenversorgung bei Patienten mit Amputationen im Bereich des proximalen Femurs (bis Trochanter minor) bis hin zur Hemipelvektomie und Hemikorporektomie erfolgt durch eine Beckenkorbprothese (Kanada-Prothese). Der aus Gießharz gefertigte Korb umfasst das gesamte Becken. Die Spinae iliacae anteriores et posteriores sind zu entlasten. Der Schambereich muss ausgespart werden. Um ein Pumpen der Prothese zu vermeiden, muss die Taillierung betont werden. Sollte bei einem muskelkräftigen Patienten ein Halbkorb ausreichen, ist dieser mit einem Gurt zur Gegenseite zu fixieren. Bei Hemipelvektomie erfolgen immer die Versorgung mit einem Beckenkorb sowie eine thorakale Abstützung und eine zusätzliche Fassung der Taille. Die Funktionsweise der gelenkbildenden Passteile besteht darin, dass die Prothese im Stehen, d. h. bei Belastung, alle Gelenke verriegelt und der Patient somit nicht einknicken kann. Will der Patient mit dem Gehen starten oder sich hinsetzen, vollführt er mit dem Becken eine Kippbewegung nach vorne und entriegelt dadurch die Prothesengelenke. Die Gelenkachse des Hüftgelenks ist nach ventral und medial verlagert. In der gängigen Literatur wird nur die Versorgung mit einem monozentrischen Gelenk beschrieben, es ist jedoch zu erwarten, dass sich auch hier die Tendenz zum erst kürzlich eingeführten polyzentrischen Gelenk (Helix-3D-Prothese; ⊡ Abb. 8.8) durchsetzen wird. Das Kniepassteil kann eine mechanische, hydraulische oder elektronische Steuerung aufweisen, die Kniegelenkachse sollte jedoch nach dorsal versetzt sein. Die prothetisch versorgte Seite sollte um 5–15 mm kürzer sein als die Gegenseite, sodass das Durchschwingen während der Schwungphase keine Probleme bereitet.
Oberschenkel Der Aufbau der Oberschenkelprothese ohne Tuberabstützung oder -umfassung folgt dem Bauprinzip bei Knieexartikulation mit innerer Weichwandschaftbettung oder Liner-Versorgung und
b
einem aus Gießharz hergestellten Oberschaft, der für einen guten Sitzkomfort im proximalen Drittel dorsalseitig weich gegossen wird. Die Beweglichkeit des Hüftgelenks bleibt erhalten. Neben der im nachfolgenden Abschnitt beschriebenen Knieexartikulation ist diese Prothese nach transkondylärer Amputation geeignet. Ist eine Amputation oberhalb der femoralen Kondylenebene notwendig, kann die Kraftübertragung trotz Vollkontaktschaft nicht allein über den Stumpf erfolgen. Die Kraftweiterleitung erfolgt zusätzlich am Becken. Große Unterschiede gibt es bei der Schaftform. Dabei wird die klassische, querovale Schaftform von der längsovalen unterschieden. Die querovale Form ist zwar in Anfertigung und Nacharbeit unproblematischer und bietet dem Patienten einen guten Sitzkomfort, sie bringt jedoch auch viele Nachteile mit sich, die dazu führten, dass mittlerweile die längsovale Schaftform zur Standardversorgung avancierte: ▬ Der querovale Querschnitt ist unphysiologisch. ▬ Es kommt zur Quetschung des Stumpfes und der Muskulatur (Ischiokruralmuskulatur). ▬ Ventral kann im Scarpa-Dreieck Druck auf die Femoralisgefäße entstehen. ▬ Der Schaft tendiert aufgrund der Tuberabstützung zur Lateralisation. Der längsovale Schaft, der auch als CAT-CAM-Schaft bezeichnet wird (CAT-CAM: »contoured adducted trochanteric controlled alignement method«), weist eine anatomische Schaftform auf. Durch seine mediale Tuberumgreifung verhindert er die Lateralisation des Schaftes. Die Risiken der Druckausübung auf die Femoralisgefäße sowie der Muskelquetschung sind durch die anatomisch angepasste Form verringert. Bei beiden Versorgungsmöglichkeiten kann der Patient den Stumpf mit Hilfe einer Einziehhilfe in den Schaft einbringen. Die Einziehhilfe kann ein Strumpf, eine Binde oder Ähnliches sein. Anschließend wird die Einziehhilfe über das Ventilloch entfernt und das Ventil verschlossen – der Stumpf sitzt fest im Schaft.
87 8.3 · Prothesenversorgung der unteren Extremität
Silikon- und Gel-Liner sind prinzipiell ebenfalls einsetzbar. Aufgrund ihrer Nachteile (hohes Gewicht, geringere Rotationsstabilität, schlechtere Prothesenführung) kommen sie jedoch nur bei geriatrischen Patienten zur Anwendung.
8.3.4
Kniebereich und Unterschenkel
Knie Die Versorgung nach Knieexartikulation kann mit einer Oberschenkelprothese entweder in Modular- oder in Schalenbauweise erfolgen. Der innere Weichwandschaft sorgt für eine sichere Umfassung des Stumpfes und wandelt dessen birnenförmige Form nach außen in eine zylindrische um. Alternativ ist eine Liner-Versorgung möglich. Der äußere, längsovale Schaft aus Gießharz wird im proximalen Anteil dorsal weichgegossen. Der Schaft muss so gearbeitet sein, dass die Hüfte frei beweglich bleibt und dass der Schaftrand im Leistenbereich sowie an der Oberschenkelinnenseite keine Beschwerden verursachen kann (Auskragung). Aufgrund des Übergewichts der Hüftflexoren und der daraus resultierenden Beugekontraktur des Hüftgelenks ist die Kniegelenkachse zur Rekonstruktion des Beinlots bei Vorliegen einer Kontraktur rückzuverlagern. Bei der Auswahl des Kniepassteils muss man dessen Aufbauhöhe berücksichtigen. Die Versorgung z. B. mit einem C-Leg-Passteil ist daher bei Knieexartikulation nicht möglich, da eine deutliche Überlänge des Oberschenkels resultieren würde.
> Es ist wichtig, die Beweglichkeit des Kniegelenks zu erhalten.
Unterschenkelkurzprothese in Liner-Technik Eine Alternative zur Weichwandschafttechnik bietet die LinerVersorgung (⊡ Abb. 8.9). Dabei umfasst ein Strumpf aus Silikon oder Gel (Polyurethan) den Stumpf. In den distalen Abschnitt des Liners ist ein Arretierungsstift (Pin) eingearbeitet. Dieser wird im Prothesenschaft über ein »shuttle lock verankert. Bei der Liner-Technik sind 2 Haftungsmechanismen hintereinandergeschaltet: Haut–Liner und Pin–»shuttle lock«. Der Nachteil der Liner besteht in dem potenziellen Melkeffekt, der sich durch die Fliehkräfte während der Schwungphase entwickelt. Bei schlechten Hautverhältnissen sowie ungünstigen
Unterschenkel Unterschenkelprothesen gibt es in Abhängigkeit von der Endbelastbarkeit des Stumpfs als Kurzprothese (Weichwandschaft- oder Liner-Technik) und als Prothese mit Oberschaft. Bei der Kurzprothese besteht zwischen Unterschenkelstumpf und Schaft Vollkontakt. Dabei wird der Stumpf entweder in Liner-Technik oder durch einen Weichwandschaft aus Schaumstoff oder Silikon umfasst. Der Vorteil gegenüber der Oberschaftprothese besteht darin, dass die Oberschenkelmuskulatur eine geringere Hypotrophie aufweist.
Unterschenkelkurzprothese in Weichwandschafttechnik Bei der Verwendung der Weichwandschafttechnik stehen für die Schaftform unterschiedliche Versorgungsmöglichkeiten zur Verfügung: ▬ »patella tendon bearing« (PTB) ▬ Kondylen-Bettung Münster (KBM) ▬ »prothèse tibiale supracondylienne« (PTS) ▬ Prothese Tibiale Kegel (PTK) Die PTB-Prothese ist die älteste Versorgungsmethode. Sie weist im Gegensatz zu den anderen genannten Prothesen keine suprakondyläre Fassung auf, sondern wird über Haltebandagen befestigt. Dies kann zu Einschnürungen und Instabilitäten führen. Bei den Prothesen mit suprakondylärer Fassung wird der mediale Kondylus verklammert und durch eine laterale Backe der Gegenhalt gesichert. Während die KBM die Patella nicht umfasst, schließt die PTS diese mit ein und kann dadurch eine Hyperextension des Kniegelenks vermeiden. Der Schaft ist zur Sicherung der Rotationsstabilität im Querschnitt dreieckig gearbeitet.
a
b
⊡ Abb. 8.9a,b Unterschenkelkurzprothesen in Liner-Technik
8
88
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
Weichteil- oder Stumpfverhältnissen ist der Gel-Liner zu verwenden (gute Dämpfungseigenschaften, geringere Hitzestauung durch wärmeleitenden Effekt).
Auch die prothetische Versorgung nach Borggreve-van-NesUmdrehplastik erfordert eine Unterschenkelprothese mit Oberschaft (⊡ Abb. 8.11). Aufgrund des noch erhaltenen Fußes wird die Versorgung oftmals auch als Orthoprothese bezeichnet.
Unterschenkelprothese mit Oberschaft Besteht keine Endbelastbarkeit des Stumpfes oder ist der Stumpf zu kurz, erfolgt die zusätzliche Versorgung mit einem abnehmbaren Oberschaft, der über ein Scharniergelenk mit der Unterschenkelprothese verbunden ist (⊡ Abb. 8.10). Die Nachteile bei dieser Versorgung bestehen u. a. in der zu erwartenden Atrophie der Oberschenkelmuskulatur und der eingeschränkten Beweglichkeit des Kniegelenks. Der Rückbau auf eine reine Kurzprothese ist möglich.
8
a
b
⊡ Abb. 8.10a,b Unterschenkelprothese mit Oberschaft
a
8.3.5
Fuß
Nach Zehenamputation kann eine kosmetische Silikonzehenprothese eine Achsabweichung der anderen Zehen in Richtung der neu entstandenen Lücke verhindern (z. B. Hallux valgus nach Amputation der 2. Zehe). ! Cave Diese Versorgung darf nur bei intakter peripherer Durchblutung und fehlender Neuropathie durchgeführt werden.
Alternativ kann man Raumfüller in den Schuhinnenraum einarbeiten. Eine Schuhzurichtung und eine adäquate Einlagenversorgung sind notwendig. Es empfehlen sich eine Sohlenversteifung mit Ballenrolle sowie Einlagen mit retrokapitaler Abstützung und Zehenweichbettung. Nach Großzehenamputation erfolgt die Einarbeitung einer Abrollfeder an den Schuh. Die Kurzprothese wird nach Amputationen, die bis zum Lisfranc-Gelenk reichen, eingesetzt. Voraussetzungen sind ein vollbelastbarer Stumpf und das Fehlen von Kontrakturen. Der Stumpf wird einschließlich der Ferse gut gefasst. Bei der Kurzprothese nach Bellmann verhindert ein integrierter Karbonrahmen, dass sich die Prothese verwringt, und verleiht somit
b
⊡ Abb. 8.11a–c Prothetische Versorgung nach Borggeve-van-Nes-Umdrehplastik
c
89 8.4 · Orthesen
eine höhere Stabilität. Bei geringem Anspruch und geringerer Belastung durch den Patienten kann diese Versorgung ggf. sogar bis zur Chopart-Gelenk-Amputation erfolgen. Alternativ ist bei einem kurzen Stumpf die Verordnung einer knöchelübergreifenden Prothese denkbar. Diese ermöglicht einen ventralen Einstieg über eine vordere Schnürung oder einen Reißverschluss und bietet einen sicheren Halt. Allerdings verliert der Patient durch die Immobilisierung des unteren Sprunggelenks und den teilweisen Verlust des Bewegungsumfangs im oberen Sprunggelenk einen Teil seiner Bewegungsfreiheit. Ebenfalls für die Chopart-Amputation geeignet ist die Rahmenprothese nach Botta. Hier erfolgt der Einstieg von hinten, die Ferse ist wiederum gut und sicher gefasst. Der Rahmen stützt sich an der vorderen Schienbeinkante unterhalb der Tuberositas ab.
8.4
Orthesen
8.4.1
Allgemeines
Unter einer Orthese versteht man eine Korrekturhilfe in Form eines äußeren Stützapparats. Die ISO-Definition lautet: extern angebrachte Vorrichtung, die aus einem einzelnen Bauteil oder einer Baugruppe besteht und obere oder untere Gliedmaßen, Rumpf, Kopf oder Hals und deren Zwischengelenke ganz oder teilweise erfasst, um die neuromuskulären und skelettalen Systeme zu beeinflussen (ISO 8549-1). Das Aufgabenspektrum einer Orthese kann nach ISO 8551 Folgendes umfassen: ▬ Reduktion, Vorbeugung und Erhaltung von Fehlstellungen ▬ Limitierung oder Erweiterung von Bewegungsumfängen ▬ Ausgleich eines Längendefizits ▬ Kompensation schwacher Muskeln ▬ Kontrolle hyperaktiver Muskeln ▬ Reduktion oder Umverteilung einer Belastung
Der Einsatz reicht von der Akutversorgung über die postoperative Versorgung bis zur Prävention. Zur Gewährleistung der biomechanischen Stabilität erfolgt die Fixierung der Orthese meist gelenkübergreifend. Das zugrunde liegende biomechanische Wirkungsprinzip beruht in der Regel auf dem 3-PunktePrinzip: 2 Fixierpunkte und ein dazwischen liegender, entgegengesetzt wirkender Druckpunkt. Allgemeine Grundsätze der Orthesenversorgung nach Kokegei besagen, dass nicht betroffene Gelenke nicht in ihrer Bewegung eingeschränkt werden dürfen. Weiterhin sollen Orthesen die Sensibilität erhalten und aufgrund ihrer Ästhetik die Compliance des Patienten unterstützen. Druckulzerationen müssen vermieden werden. Bezüglich der Nomenklatur sollte die internationale ISOKlassifikation verwendet werden, welche die Orthesen nach den eingeschlossenen Gelenken und Körpersegmenten beschreibt. In ⊡ Abb. 8.12 und ⊡ Abb. 8.13 sind die verschiedenen Segmente mit ihren jeweiligen englischen Namen und den sich daraus ableitenden Abkürzungen dargestellt. Wie zu ersehen ist, umfasst die aus den zusammengesetzten Abkürzungen bestehende Bezeichnung der Orthese alle Gelenke und Segmente, die von ihr eingeschlossen werden, beispielsweise: ▬ KO: Knieorthese/»knee orthosis« ▬ AFO: Sprunggelenkorthese/»ankle foot orthosis« ▬ HKAFO: hüftübergreifende Orthese/»hip knee ankle foot orthosis«
Einteilung der Orthesen nach Hohmann und Uhlig
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Stabilisation Fixation Korrektur (Retention, Redression) Entlastung Längenausgleich
C = cervikal
⊡ Abb. 8.12 Nomenklatur der Orthesenversorgung am Rumpf. (Aus Specht et al. 2008)
8
90
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
»Hip«
»Knee«
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⊡ Abb. 8.13a,b Nomenklatur der Orthesenversorgung an der unteren Extremität. (Aus Specht et al. 2008)
8.4.2
Untere Extremität
Das Indikationsspektrum für den Einsatz von Orthesen im Bereich der unteren Extremität umfasst die Versorgung von Band- und Sehnenverletzungen (z. B. Außenband, Achillessehne), Gelenkinstabilitäten (z. B. oberes Sprunggelenk) und Frakturen (Kalkaneus, Tibia). Weitere Indikationen bestehen bei der Klumpfußtherapie sowie bei der Versorgung von Patienten mit neuroorthopädischen oder anderen muskuloskelettalen Grunderkrankungen. Es folgt eine kurze Zusammenstellung der für den Alltag relevantesten und am häufigsten eingesetzten Orthesen.
Zehenorthesen Der Einsatz von Orthesen im Zehenbereich dient als Halluxvalgus-Lagerungsorthese dem Schutz vor einem postoperativen Stellungsverlust, dem Schutz vor Druckstellen (Polster aus Silikon oder Schaumstoff) und der Korrektur von Hammerzehen.
Fersenentlastungsorthesen Die Fersenentlastungsorthese nach Settner/Münch dient der gezielten Entlastung pathologischer Veränderungen im Bereich des Kalkaneus. Die Belastung wird dabei auf den Vor- und den Mittelfuß vorverlagert.
Rückfußorthesen Eine der am häufigsten zum Einsatz kommenden Orthese ist die Sprunggelenkorthese (AFO). In Abhängigkeit von der Indikation kann sich der Stabilisierungsgrad der Orthese von gering bis hoch erstrecken. Beim geringen Stabilisierungsgrad wird allein durch die elastische Fassung des Gelenks eine
»Ankle«
verbesserte Propriozeption erzielt. Durch Einarbeitung starrer Elemente lassen sich bestimmte Bewegungsausmaße gezielt ausschalten oder reduzieren.
Peronaeusorthese Bei Läsionen des N. peronaeus mit daraus resultierender Parese der Fußhebermuskulatur kommt die Peronaeusorthese zum Einsatz. Dadurch wird sowohl der Ausbildung eines Spitzfußes entgegengewirkt als auch verhindert, dass der Patient beim Gehen über den hängenden Fuß stolpert. Auf dem Markt befinden sich unterschiedliche Modelle, denen jedoch ein einheitliches Wirkprinzip gemeinsam ist (z. B. Heidelberger Feder/Winkel, Spitzfußfeder, Peronaeusorthese mit Druckfedergelenk).
Unterschenkelentlastungsorthese Bei nicht belastungsstabilen Frakturen im Bereich des distalen Unterschenkels und des oberen Sprunggelenks kann der Allgöwer-Apparat Anwendung finden – insbesondere dann, wenn der Patient koordinativ oder bezüglich der Kraft nicht in der Lage ist, das verletzte Bein komplett zu entlasten.
Vakuumstützorthese Das Funktionsprinzip besteht darin, dass sich ein Vakuuminnenkissen dem Fuß anmodelliert und von außen durch einen stabilen Gitterrahmen stabilisiert wird. Das Einsatzgebiet umfasst: ▬ prä- und postoperative Lagerung ▬ postoperative Nachbehandlung nach Einsatz einer Totalendoprothese im Bereich des oberen Sprunggelenks ▬ Achillessehnenruptur ▬ diabetisches Fußulkus
91 8.4 · Orthesen
Die Orthese ist modular aufgebaut und kann dem jeweiligen Krankheitsbild entsprechend angepasst werden (z. B. VACOped, VACOachill, VACOdiaped – Fa. OPED; ⊡ Abb. 8.14).
Klumpfußorthese Man unterscheidet den angeborenen vom neurogenen Klumpfuß. Der initialen Gipsredression des Neugeborenenklumpfu-
ßes, ggf. mit Durchführung operativer Maßnahmen, schließt sich die Orthesenversorgung an. Sie dient der Sicherung des erreichten Korrekturergebnisses. Zur Entlastung der Achillessehne wird die Oberschenkeleinfassung in 90°-Stellung fixiert (gelegentlich auch 60°-Flexion). Die Ferse muss gut gefasst sein; sie steht in Pronation und im oberen Sprunggelenk in Neutralstellung. Der Vorfuß wird in Abduktionstellung gehalten. Bei der Auswahl des Materials besteht ein Trend zu thermoplastischen Halbschalen. > Wichtig ist es, das Wachstum des Säuglings zu berücksichtigen und die Orthese entsprechend nachzubessern.
Die verschiedenen Orthesenkomponenten können entweder starr miteinander in Verbindung stehen oder durch Gelenke überbrückt werden.
Antiluxationsorthese Bei Luxationstendenz nach endoprothetischer Versorgung des Hüftgelenks dient diese Orthese der Prophylaxe weiterer Luxationen (Hüftgelenkrotationsbandage nach Hohmann, NewportOrthese). Der therapeutische Zeitraum beschränkt sich in der Regel auf ca. 3 Monate. Das Abtrainieren der Orthese muss mit gleichzeitiger Physiotherapie zur Muskelkräftigung erfolgen.
Orthoprothese Diese stellt den Übergang von der Orthese zur Prothese dar (⊡ Abb. 8.15). Sie findet bei angeborenen Extremitätenfehlbildungen und Beinlängendifferenzen von >12 cm sowie nach
⊡ Abb. 8.14 VACOped
a ⊡ Abb. 8.15a–c Orthoprothese
b
c
8
92
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
Umkehrplastik Verwendung. Der Patientenfuß, der keinen Bodenkontakt erlangen kann, wird in einer zweiten Ebene in einem Etagenschuh eingestellt und der Bodenkontakt über einen Prothesenfuß erreicht (SACH-Fuß; ⊡ Abb. 8.4).
Kniegelenkorthesen Diese Orthesen werden bei folgenden Indikationen eingesetzt: ▬ Instabilität oder Verletzung von Kreuz- oder Kollateralbändern ▬ Gonarthrose ▬ Genu recurvatum ▬ Limitierung des Bewegungsausmaßes des Kniegelenks
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Bei ligamentär verursachter Instabilität des Kniegelenks wird die Stabilität durch die Orthese wieder gewährleistet. Die Anwendung bei Arthrose erfolgt unter dem Gesichtspunkt, die Beinachse durch Aufbringen von valgischen oder varischen Momenten so zu beeinflussen, dass durch Verlagerung der Mikulizc-Linie eine Kraftumverteilung über das von der Arthrose noch nicht betroffene Gelenkkompartiment erzielt wird. Beim Genu recurvatum lässt sich die Überstreckung des Kniegelenks aufheben (⊡ Abb. 8.16). Kniegelenkbandagen besitzen zwar keine herausragenden biomechanischen Eigenschaften, dennoch können sie durch Kompression und Verbesserung der Propriozeption einen positiven therapeutischen Effekt hervorrufen. Einen weiteren positiven Effekt kann die Zentrierung der Patella darstellen.
Entlastung (Thomas-Schiene) und der gleichzeitigen Abduktion im Hüftgelenk (z. B. Tübinger Entlastungsorthese oder Mainzer Hüftentlastungsorthese, MHE). Während der Thomas-Splint nur aus einem Tubersitz und 2 Metallrahmen bestand und distal in einen Gehbügel ausleitete, fand bei der MHE ein PTF-Ringschaft (PTF: Pelvinum–Trigonum–Femur) Anwendung – das Bein wurde in Abduktion und Innenrotation geführt. ! Cave Ausdrücklich sei nochmals darauf hingewiesen, dass die orthetische Entlastung bei M. Perthes heute als obsolet angesehen wird. Therapieziele sind das Containment und die Bewegung der Hüfte und nicht die Anwendung der Orthese.
Eine Anwendungsmöglichkeit für Hüftorthesen stellt die postoperative Versorgung nach Refixation der Sehne des M. rectus femoris an der Spina iliaca anterior inferior dar (⊡ Abb. 8.17).
! Cave Ein wichtiger Hinweis für den Patienten muss darin bestehen, die Bandage aufgrund ihres stauenden Effekts nicht in Ruhe zu tragen.
Hüftorthese
a
Die klassischen Anwendungsgebiete für den Einsatz einer Hüftorthese sind inzwischen durch andere Therapiestrategien verdrängt worden: Beim M. Perthes dienten die Orthesen der
⊡ Abb. 8.16a,b Beispiel einer Knieorthese mit möglicher Limitierung des Bewegungsausmaßes in Extension und Flexion
a
b
⊡ Abb. 8.17a,b Starre Hüftorthese in Flexionsstellung nach Sehnenrefixation des M. rectus femoris
b
93 8.4 · Orthesen
Kindliche Hüftorthesen Die stadiengerechte Behandlung der Hüftdysplasie mit den jeweiligen Versorgungsmöglichkeiten wird in Abschn. 32.4.1 abgehandelt.
8.4.3
Obere Extremität
Bei der oberen Extremität muss bei jeder Ruhigstellung darauf geachtet werden, dass das immobilisierte Gelenk bereits nach kurzer Zeit zu einer Einschränkung der Beweglichkeit neigt. Mit zunehmendem Alter zeigt sich diese Tendenz ausgeprägter. Der Grundsatz der Ruhigstellung muss daher lauten: So lange wie nötig, so kurz wie möglich. Deshalb werden nach Hohmann und Uhlig Kurzzeitorthesen (maximale Tragezeit: 4 Wochen) von Langzeitorthesen (Tragezeit von >4 Wochen) unterschieden. Die intermittierende physiotherapeutische – zumindest passive – Beübung ist anzustreben. Die Ruhigstellung muss in einer Stellung erfolgen, die eine Kontraktur des Gelenks vermeidet. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Intrinsic-plus-Stellung der Hand mit Dorsalextension im Handgelenk und Flexion in den Metakarpophalangealgelenken zur Prophylaxe einer Kontraktur der Seitenbänder.
Fingerorthesen Der Schwanenhalsring dient bei Rheumatikern durch das 3-Punkte-Prinzip der passiven Korrektur einer Schwanenhalsdeformität (⊡ Abb. 8.18). Bei Strecksehnenausriss findet die Stack-Schiene als Fingerendgelenkorthese Verwendung. In Überstreckstellung des distalen Interphalangealgelenks kann die Ruptur ausheilen, das proximale Interphalangealgelenk ist frei beweglich. Nach Scaphoidfraktur oder operativen Interventionen, die eine Ruhigstellung des Daumensattelgelenks erforderlich machen, kann alternativ zur Gipsschiene mit Daumeneinschluss eine orthetische Versorgung erfolgen, welche die Ruhigstellung nach den gleichen Prinzipien gewährleistet, jedoch einen größeren Tragekomfort und eine schnelleren Zugang bei der Pflege sowie bei Kontrolluntersuchungen bietet. Bei durch Sehnenverkürzung hervorgerufenen Bewegungseinschränkungen der Finger kann der Bewegungsumfang durch eine Quengel-Schiene vergrößert werden (Flexions- oder Extensionsorthese für das proximale Interphalangealgelenk). Das Prinzip der Kleinert-Schiene nach Beugesehneneingriff beruht
a
b
durch eine Kombination aus Schienenbehandlung und Gummizügel auf einer passiven Flexion im Hand- und im Metakarpophalangealgelenk. In der Dorsalextension kann beübt werden, wobei gegen die Gummibandzügel gearbeitet wird. Bei Strecksehneneingriff erfolgt die Anwendung als ReverseKleinert-Schiene: Die Gummizügel sind dorsal über ein Rahmenkonstrukt angebracht und halten die Finger passiv in der Extension. In der Beugung kann gegen den Widerstand der Zügel geübt werden.
Hand- und Handgelenkorthesen Das Indikationsspektrum für eine Handgelenkbandage besteht bei Schmerzen und Schwellungen im Bereich des Handgelenks. Die Bandage kann durch Einarbeitung von Gurten oder Schienen verstärkt werden und bildet damit einen Übergang zur Handgelenkorthese, die (wahlweise mit Daumeneinschluss) eine optimale Stabilität gewährleistet. Bei Rheumatikern mit typischer Ulnardeviaton der Finger kann die Achsausrichtung der Fingerstrahlen durch eine Ulnardeviationsorthese korrigiert werden.
Ellenbogenorthesen Ellenbogenorthesen können das Bewegungsausmaß des Ellenbogens auf einen gewünschten Bereich limitieren. Umgekehrt können Quengel-Orthesen bei vorhandenem Bewegungsdefizit durch Federmechanismen eine Vergrößerung der »range of motion« bewirken. Bei seitlicher Schienung sind die Orthesen in der Lage, Varus- oder Valgusbelastungen zu reduzieren. Bei Schwellungszuständen oder Schmerzen werden Ellenbogenbandagen eingesetzt. Auch hier gilt – wie bei den Kniebandagen –, dass die Bandage nur in den aktiven Phasen getragen werden sollte, um stauende Effekte zu vermeiden. Bei der Epicondylitis humeri radialis bewirkt die Epikondylitisspange durch eine über eine Pelotte vermittelte Kompression distal des Sehnenursprungs der langen Extensoren eine Schmerzreduktion.
Schulterorthesen Bei lateraler Klavikulafraktur und bei Verletzungen des Akromioklavikulargelenks wird zur konservativen Therapie ein Rucksackverband (Klavikulabandage) angebracht. Der Behandlungserfolg ist an den korrekten, d. h. festen Sitz der Orthese gebunden. Aufgrund eines Spannungsverlusts der Or-
c
⊡ Abb. 8.18 Schwanenhalsring. a Typische Deformität, b Korrektur bei anliegendem Ring, c Schwanenhalsring
8
94
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
these muss der korrekte Sitz kontrolliert und die Spannung wiederhergestellt werden. Der neurologische Befund ist im Verlauf mit zu kontrollieren. Bei erforderlicher Ruhigstellung der Schulter wird ein Gilchrist-Verband angelegt. Wird der Arm im postoperativen oder posttraumatischen Verlauf zur Vermeidung von Muskel- und Kapselkontrakturen in Abduktion getragen, verwendet man bis zu einer Abduktion von 45° ein Armabduktionskissen (Postbotenkissen; ⊡ Abb. 8.19). Bei einem Abduktionsausmaß von >45° muss eine Armabduktionsorthese angelegt werden.
8.4.4
a
8
Wirbelsäule
Die Einteilung der Wirbelsäulenorthesen erfolgt zum einen bezüglich der Wirbelsäulenabschnitte, in denen sie ihre Funktion ausüben, zum anderen hinsichtlich der Orthesenfunktion. Man unterscheidet unterstützende, stabilisierende, fixierende und korrigierende Orthesen.
Zervikalorthesen
b
Aufgrund der besonderen funktionellen anatomischen Verhältnisse der Halswirbelsäule mit ihrer großen Beweglichkeit bei relativer Instabilität müssen bei der orthetischen Versorgung sowohl die jeweiligen pathoanatomischen Veränderungen als auch die zugrunde liegenden biomechanischen Prinzipien berücksichtig werden. Neben der Indikation sind auch das Ausmaß sowie der gewünschte Bereich der Ruhigstellung und Entlastung zu bewerten. Die ursprüngliche Einteilung von Weckenmann wurde von Grage-Rossmann erweitert. Dabei wird berücksichtigt, dass anhand der Konstruktion der Orthese eine funktionelle Einteilung möglich ist. Während durch die erste Orthesengruppe eine Ruhigstellung v. a. des mittleren Bereichs erfolgt (Schaumstofforthesen, Halskragen), bedarf es einer Kopffassung, um auch eine Ruhigstellung im zervikookzipitalen Übergang zu gewährleisten (kleine Kopfstütze, z. B. Philadelphia-Orthese oder Kopfstütze mit Schulterjoch). Wenn auch der untere Anteil der Halswirbelsäule in die Fixierung mit einbezogen werden soll, sind thorakale Anlagen erforderlich (Kopfstütze mit Schulterjoch und Thoraxanteil, Kopfstütze mit Thoraxfassung und Stirnband, Rumpforthese mit Kopfstütze/ Halo; ⊡ Abb. 8.20).
Schanz-Wickelkrawatte
c ⊡ Abb. 8.19a–c Versorgungsbeispiele mit Abduktionskissen
Aus Schaumstoff bestehend, wird die Schanz-Wickelkrawatte bei leichter Halswirbelsäulendistorsion, leichtem Zervikalsyndrom sowie postoperativ eingesetzt. Die Indikation zur Verordnung der Schanz-Wickelkrawatte v. a. nach leichter Halswirbelsäulendistorsion wird inzwischen negativ bewertet. Alle immobilisierenden Maßnahmen ohne Nachweis einer strukturellen Schädigung sollten vermieden werden. Sie führt bei längerem Tragen eher zu einer Schwächung der stabilisierenden Muskulatur der Halswirbelsäule. Bei der Anlage muss darauf geachtet werden, keinen Wulst zu wickeln, sondern den Kopf in Inklination einzustellen. Nur so ist für die Foramina intervertebralia mehr Platz vorhanden, und das Hinterhaupt wird gestützt.
95 8.4 · Orthesen
a
b
Schaumstoffkragen mit Verstärkung Abgesehen von der technischen Ausführung mit Einbau von integrierten, stabilisierenden Elementen gilt für den Einsatz eines Schaumstoffkragens mit Verstärkung das Gleiche wie für die Schanz-Wickelkrawatte.
Halbschalenzervikalstütze (Philadelphia) Gearbeitet in 2-Schalen-Technik bietet diese Orthese eine ventrale und dorsale Stabilisierung. Es resultiert eine gute Einschränkung der Bewegung in der Sagittalen, jedoch eine nur geringe Reduktion der Rotation und der Seitneigung.
Brustwirbelsäulen-/Thorakalorthesen Zur Wachstumslenkung bei Deformitäten der Rippen oder des Sternums (Pectus excavatum) können Thoraxpelotten nach Maß angebracht werden. Bei Haltungsschwäche, M. Scheuermann, Hohlrundrücken etc. wird von sog. Gradhaltern oder thorakalen Aufrichtbandagen eine Mahnfunktion eingenommen. Stützorthesen werden bei Osteoporose oder bei konservativ behandelter Brustwirbelkörperfraktur eingesetzt. Die Kyphoseorthesen haben in dieser Gruppe die größte Bedeutung (⊡ Abb. 8.21). In Abhängigkeit von der Etage der kyphotischen Ausprägung unterscheidet man 3 Typen von Orthesen: ▬ hochthorakaler Bereich (ab Th 8) ▬ thorakaler Bereich (Th 8–10) ▬ lumbaler Bereich (unterhalb von Th 11) Man muss sich bewusst sein, dass auch hochreichende Thorakalorthesen nur ungefähr bis zum 6. Brustwirbelkörper wirken. Viele der im Handel gängigen Korsette arbeiten mit sternalen Pelotten (Becker-Habermann-Korsett, Boston-Korsett mit Sternalpelotte nach Edelmann-Gutgesell). Allen gemeinsam ist die Funktionsweise im 3-Punkte-Prinzip (3-Punkt-Korsett nach Vogt und Baehler). Weitere bekannte Orthesen sind:
⊡ Abb. 8.20a,b Halo-zervikothorakale Orthese
▬ ▬ ▬ ▬
Reklinationskorsett nach Ziehlke-Nusser Reklinationskorsett nach Hohmann Reklinationskorsett nach Hepp-Kurda Münster-Kyphosenorthese
> Es ist darauf zu achten, dass die dorsale Pelotte ihren Druck nicht direkt auf den Scheitelpunkt der Kyphose ausübt, sondern knapp kaudal davon.
Lendenwirbelsäulenorthesen Ähnlich der Zervikalorthese muss primär darauf hingewiesen werden, dass eine dauerhafte Nutzung einer Lumbal-/Rumpforthese zu einer Schwächung der Muskulatur führt, was für die Stabilisierung der Wirbelsäule als kontraproduktiv anzusehen ist. Dies sollte bei jeder Verordnung bedacht werden. Trotzdem gibt es genügend Indikationen, die den Einsatz einer Lumbalorthese rechtfertigen bzw. notwendig machen. Rückenstützbandagen können bei Lumbalgien, degenerativen Wirbelsäulenveränderungen, muskulären Insuffizienzen etc. verordnet werden. Bekannte Orthesen sind u. a.: ▬ Tigges-Bandage ▬ Stützbandage nach John ▬ LumboFlex-Orthese (⊡ Abb. 8.22) ▬ Lindemann-Mieder Die zugrunde liegende Biomechanik entspricht dem Prinzip der Hohmann-Überbrückung: Zwei paravertebrale, gerade Überbrückungsstäbe sind zwischen einem thorakalen Bügel und einer Abstützung am Becken eingespannt. Die Stäbe besitzen keinen Formschluss mit der Lendenlordose, sondern einen Kraftschluss zwischen Brustwirbelsäule und Becken. Durch Bandagenzug wird das Gewicht von tief abdominal aufgefangen und entsprechend dem 3-Punkte-Prinzip auf die Wirbelsäule übertragen; das Abdomen wird eleviert. Es resultiert somit eine
8
96
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
a
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b
c
⊡ Abb. 8.21a–c Hyperextensionsorthese in Rahmenbauweise
⊡ Abb. 8.22a,b Orthese zur Entlordosierung der LWS
a
entlordosierende Wirkung – die Foramina intervertebralia und der Spinalkanal werden erweitert.
Skolioseorthesen Die ausführliche Darstellung der orthetischen Behandlung der Skoliose erfolgt in Abschn. 22.2.4.
8.4.5
Orthesen und Bandagen beim Sport
Sowohl in der primären und sekundären Prävention als auch im Rahmen der Rückführung zum Sport nach Verletzungen (Remodulierungsphase) gewährleisten Orthesen durch ihre stabilisierende Wirkung eine Protektion des betroffenen Gelenks.
b
Sie werden deshalb auch in Präventionsorthesen und medizinische Orthesen unterschieden. Die Orthesen sind entweder vollständig aus elastischem Material gearbeitet oder weisen stabilisierende Elemente auf. Das Tapen kann eine zeitaufwendige Alternative darstellen. Die orthetische Versorgung sollte jedoch nicht als Freibrief für die Wiederaufnahme jeglicher sportlicher Belastung gelten. Dem Patienten muss im Einzelfall ggf. auch eine Reduzierung bis hin zur Aufgabe des bisher durchgeführten Sportes angeraten werden, sollte aus medizinischer Sicht durch die Sportart eine fortwährende Schadensinduktion erfolgen. Die Sportorthesen sollten folgende Merkmale aufweisen: ▬ geringes Gewicht ▬ keine Behinderung beim Tragen der Sportbekleidung ▬ Funktionsunterstützung
97 8.5 · Orthopädische Schuhtechnik
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Unterstützung der Bandstabilität (wenn notwendig) geringe Kompression Verbesserung der Propriozeption Feuchtigkeitstransport nach außen keine Verursachung einer Hautreizung Strapazierfähigkeit keine Gefährdung für andere
Neuroreflektorische Therapiesohlen
Die neuroreflektorische/sensomotorische/propriozeptive Einlagenversorgung stellt einen neuen Trend bei der Förderung der Belastungsfähigkeit und der sportlichen Leistungserbringung dar. Sie basiert auf dem Konzept einer afferenzstimulierenden Therapie. Eine ausreichende wissenschaftliche Bewertung liegt zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor.
8.5
Orthopädische Schuhtechnik
8.5.1
Biomechanik und Prinzipien des menschlichen Ganges
Gemäß der heute gängigen Definitionen beschreibt ein Gangzyklus die Periode vom ersten Fersenkontakt des betrachteten Beines bis zum nächsten Fersenkontakt des gleichen Beines (⊡ Abb. 8.23). Eine 2-stufige Unterteilung erfolgt in Standphase mit direktem Bodenkontakt des Beines und Schwungphase. Während die Standphase bei normaler Gehgeschwindigkeit ca. 60% des Gangzyklus beansprucht, beträgt der Anteil der Schwungphase rund 40%. Die Standphase kann weiter untergliedert werden, beispielsweise in Relation zur kontralateralen Seite: Der »double limb support« (0–12% des Gangzyklus) beschreibt den Zeitraum, in dem beide Füße Bodenkontakt haben. Es folgt der »single limb support« (12–50% des Gangzyklus) als diejenige Phase, in der sich das kontralaterale Bein in der Schwungphase befindet. Die Standphase schließt mit einem zweiten »double limb support« (50–60% des Gangzyklus) ab. Die in der modernen Ganganalyse gängige Einteilung beruht auf der von Jaqueline Perry begründeten Nomenklatur und gliedert sich folgendermaßen: ▬ initialer Fersen-Boden-Kontakt (»initial contact«) ▬ Belastungsantwort (»load response«) ▬ mittlere Standphase (»midstance«) ▬ terminale Standphase (»terminal stance«) Diese Einteilung leitet sich aus der Betrachtung des gesamten Bewegungssystems ab und kann das Auftreten von funktionel-
Schwungphase
Rechts
Plantare Druckverteilungsmessung/Pedobarographie
In Ergänzung zur Ganganalyse liefert die Pedobarographie wertvolle Hinweise über dynamische Abläufe an der Fußsohle, die Kräfteverteilung, Druckspitzen und die lokale Beanspruchung der belasteten Fußfläche. Dies ist gerade bei peripherer Neuropathie unersetzlich, da der Patient meist erst dann bemerkt, dass der Schuh eine Druckstelle aufweist, wenn bereits das nächste Ulkus oder ein entzündeter Klavus entstanden ist.
8.5.2
Orthopädische Schuhzurichtung
Technologische wie auch werkstoffbedingte Fortschritte führten in den vergangenen Jahren zu einem größeren Stellenwert der Schuhzurichtung. Inzwischen lassen sich die meisten Bearbeitungen an qualitativ guten Konfektionsschuhen durchführen. Dies führt zu einer gesteigerten Compliance. Die Zielsetzung der orthopädischen Schuhzurichtung besteht in: ▬ Anpassung des Schuhes an den Fuß ▬ Veränderung der Stellung des Fußes im Schuh ▬ Beeinflussung des Bewegungsablaufs
Standphase
Schwungphase
Standphase
Links
len Abläufen oder Kompensationsmechanismen im Ablauf der Standphase somit exakt beschreiben. Die Schwungphase wird in »preswing«, »midswing« und »terminal swing« unterteilt. Vor allem bei den älteren Einteilungen wird oftmals der physiologische Ablauf beschrieben (Fersenkontakt, Ganzsohlenkontakt, Abrollphase etc.). Dies wird dem Bewegungsablauf bei verschiedenen Krankheitsbildern jedoch nicht gerecht, z. B. bei einem spastischen Kind oder einem Patienten mit Neuropathie, die ein differentes Gangbild aufweisen und beispielsweise mit dem Vorfuß den ersten Bodenkontakt haben. Im Rahmen der ganganalytischen Vermessung zur Schuhund Einlagenversorgung wird aus Zeit- und Kostengründen meistens auf die 3D-Analyse verzichtet. Stattdessen kommt ein 2D-Messsystem zur Anwendung, das aus einer Kamera besteht, die den Gang des zu Untersuchenden von hinten aufnimmt. Weiterhin werden bei der Untersuchung aus Platzgründen Laufbänder verwendet. Bei der Anwendung dieser »Light-Version« der Ganganalyse muss man sich jedoch über deren mögliche Fehlerquellen bewusst sein (z. B. projektionsbedingte Fehlmessungen). Das Gehverhalten in der Ebene unterscheidet sich von dem auf dem Laufband. Rückschlüsse von Untersuchungen auf dem Laufband auf das normale Gehen oder Laufen dürfen nur unter Berücksichtigung dieser Einflüsse erfolgen. In ähnlicher Weise kann die Messung im Schuh durch Bewegungen der Ferse im Schuh im Vergleich zur Barfußmessung zu einem anderen Ergebnis gelangen.
Standphase
Schwungphase
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ss
ds
ss
ds
ss
ds
% des 10 Gangzyklus
40
10
40
10
40
10
⊡ Abb. 8.23 Gangzyklus. ds »double limb support«, ss »single limb support«
8
98
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
Neben pathoanatomischen und unphysiologischen Fußformen besteht die Indikation zur Schuhzurichtung beispielsweise bei der konservativen Therapie von arthrotischen, posttraumatischen oder postoperativen Änderungen des Bewegungsablaufs. Folgende Schuhelemente stehen für eine Änderung im Rahmen der Schuhzurichtung zur Verfügung: ▬ Fußbett ▬ Schaft und Oberleder ▬ Vorder- und Hinterkappe ▬ (Lauf-)Sohle ▬ Absatz ▬ Schuhinnen-/-außenranderhöhung Die Versorgungsmöglichkeiten bei Schuhzurichtungen haben jedoch auch ihre Grenzen. Dann ist es notwendig, die Indikation für einen orthopädischen Maßschuh zu stellen.
Abrollabsatz
8
Es handelt sich um eine Abrundung der hinteren Absatzkante. Dadurch wird ein weicheres Aufsetzen erreicht. Der Abrollabsatz wird v. a. bei Bewegungsschmerzen im oberen Sprunggelenk eingesetzt.
Pufferabsatz Dieser bewirkt eine Reduktion der während des Fersenauftritts einwirkenden Bodenreaktionskraft. Neben dem Einsatz bei Pathologien des Fußes (Fersensporn, Rückfußfrakturen) bewirkt der Pufferabsatz eine Belastungsreduktion aller großen Extremitätengelenke bis zur Wirbelsäule.
Absatzerhöhung/Verkürzungsausgleich Bis zu einem Ausgleich von 0,5 cm erfolgt die Versorgung mit einem Fersenkissen, erst dann als Schuhzurichtung. Beträgt die Beinlängendifferenz mehr als 3 cm, ist ein orthopädischer Schuh notwendig.
Mittelfußrolle Eine zum Schuhgelenk rückversetzte Rolle verkleinert die Standfläche und erleichtert durch Übernahme der Sprunggelenkfunktion den Abrollvorgang. Die Indikation besteht bei Bewegungsschmerzen im oberen Sprunggelenk, z. B. aufgrund einer Arthrose. Bei der Ausführung ist die Absatzanpassung zu beachten.
Ballenrolle Hier kommt es zu einer Verlagerung des Rollenscheitels auf die Höhe der Zehengrundgelenke mit Übernahme der Zehengrundgelenkfunktion. Indikationen bestehen bei allen schmerzhaften Pathologien im Bereich der Metatarsophalangealgelenke, z. B. Arthrose, Morton-Neuralgie oder M. Köhler II.
Zehenrolle Der Rollenscheitel ist nach distal verlagert. Der Abrollvorgang wird durch die rückhebelnde Wirkung der Rolle verzögert, die Standphase verlängert. Die Indikation besteht bei Knieinstabilität und Schwäche der kniegelenkstabilisierenden Muskulatur. Zu beachten ist die gleichzeitige Sohlenversteifung, um die rückhebelnde Wirkung zu erzielen. Ein Absatzausgleich darf nicht durchgeführt werden, vielmehr lässt sich der Hebeleffekt durch Fersentieflegung verbessern.
Keilabsatz Der Raum zwischen Auflagefläche der Sohle und eigentlichem Absatz wird in den nun deutlich vergrößerten Absatz mit einbezogen. Die Indikation zu einem Keilabsatz besteht bei ausgesprochener Abflachung des Längsgewölbes. Sekundär wird eine Versteifung der Sohle im Mittel- und Rückfußbereich bewirkt.
Steg- und Flügelabsatz Während der Absatz beim Stegabsatz im mittleren Anteil des Schuhgelenks weiter nach vorne gearbeitet wird, erfolgt beim Flügelabsatz bei einseitiger Überlastung die seitliche Verlängerung des Absatzes nach vorne.
Schmetterlingsrolle Voraussetzungen für den Einsatz der Schmetterlingsrolle sind belastungsfähige Randstrahlen sowie eine ausreichende Stabilität des Quergewölbes. Der Rollenscheitel befindet sich auf Höhe der Zehengrundgelenke. Man unterscheidet die offene Schmetterlingsrolle (die Rolle ist auf die Lauffläche aufgebracht) von der gedeckten Schmetterlingsrolle (die Rolle wird in die Sohle integriert und ist von der Laufsohle bedeckt). Bei der gedeckten Schmetterlingsrolle kann eine sehr effektive Weichbettung der mittleren Metatarsalia eingesetzt werden. Aufgrund der Druckentlastung besteht die Indikation bei Metatarsalgien der mittleren Metatarsaleköpfchen.
Ausgestellter Absatz/Absatzverbreiterung Die Standfläche wird durch Verbreiterung des Absatzes nach medial und/oder lateral vergrößert. Bei medial auftretenden Belastungsmaxima (extremer Plattfuß, Valgusstellung des Rückfußes) erfolgt eine mediale Verbreiterung, bei lateralen Maxima (residueller Klumpfuß) entsprechend eine laterale Verbreiterung.
Schleppenabsatz Der Schleppenabsatz bewirkt durch eine Absatzverlängerung ein vorzeitiges Aufsetzen des Fußes nach hinten. Dadurch wird einer vermehrten Dorsalextension, z. B. beim Hackenfuß oder bei einer Schwäche der Wadenmuskulatur, entgegengewirkt.
Winkel-/Richtungsrolle Die asymmetrisch gearbeitete Winkelrolle bewirkt eine Bewegungsänderung des Abrollvorgangs.
Hallux-rigidus-Rolle Es kommt während der Schrittabwicklung zu einer Belastungsübertragung nach lateral, um das arthrotisch veränderte Großzehengrundgelenk zu entlasten.
Sohlenversteifung Es handelt sich um eine ganzsohlige Stabilisierung unter Einbeziehung des Schuhgelenks. Aufgrund der Ruhigstellung der Bewegungssegmente in Vor- und Mittelfuß besteht die Indi-
99 8.5 · Orthopädische Schuhtechnik
kation bei rheumatischen und diabetischen Füßen sowie zur Sicherung postoperativer Ergebnisse, z. B. nach Arthrodese. Verwendete Materialien sind Karbonfaser, Glasfaser und V2A-Stahlfedern. > Eine Abrollhilfe muss mitverordnet werden.
Schuhinnen-/Schuhaußenranderhöhung Durch mediales oder laterales Anbringen eines Keiles mit einer Basishöhe von 0,5 cm wird der Kraftvektor (Mikulicz-Linie) verlagert. Die häufigste Indikation besteht bei der unikompartimentellen Gonarthrose. Eine weitere Versorgungsmöglichkeit ist bei Instabilität des Sprunggelenks gegeben. Bei der Ausführung ist darauf zu achten, dass auch der Absatz bei der Randerhöhung mit berücksichtigt wird und dass das Schuhschaftmaterial auf der niedrigeren Seite ggf. verstärkt werden muss, damit der Fuß nicht zur Seite übertritt.
Schaft Durch polsternde Maßnahmen oder Freilegung, z. B. bei schmerzhaften Exostosen, resultiert eine Druckentlastung. Zudem lässt sich durch eine Schaftversteifung im Rückfußbereich eine Stabilisierung erreichen.
Fußbett Bei ausreichendem Innenvolumen des Schuhes kann eine Pelotteneinarbeitung zur Stützung des Längs- und/oder Quergewölbes erfolgen. Durch retrokapitale Abstützung und Weichbettung werden die Metatarsaleköpfchen druckentlastet. Im Vergleich zur Einlagenversorgung bietet die Fußbettzurichtung bei komplexer Fußdeformität eine bessere Fassung und eine Auflage am gesamten Fuß.
8.5.3
Orthopädische Maßschuhe
Die Versorgung mit einem orthopädischen Maßschuh ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine adäquate Versorgung (Einlagen, Schuhzurichtung) durch andere Maßnahmen nicht erreicht werden kann. Als orthopädischer Schuh darf ausschließlich ein nach besonderen Maß- und Modellverfahren (Leisten) für die Individualversorgung speziell angefertigter Schuh bezeichnet werden. Die Indikation für einen Maßschuh besteht bei: ▬ ausgeprägten Deformitäten ▬ vorausgegangenen Arthrodesen ▬ Ankylosen des Sprunggelenks ▬ Beinverkürzungen um 3–12 cm (ab 12 cm: Orthoprothese) ▬ Fußdeformitäten ▬ diabetischem Fuß ▬ Charcot-Fuß ▬ rheumatischen Fußdeformitäten ▬ sonstigen ausgeprägten Deformitäten des Fußes Von den Kostenträgern werden die jährliche Versorgung mit einem Paar orthopädischer Schuhe sowie die 4-jährliche Versorgung mit orthopädischen Hausschuhen übernommen. Die Verordnung erfolgt immer für ein Paar orthopädischer Schuhe,
auch wenn die Gegenseite keinen derartigen Behandlungsbedarf aufweist. Orthopädische Schuhe können als Halbschuhe, knöchelhohe Schuhe, Schaftstiefel oder Hausschuhe gearbeitet werden. Die Verordnung von Sport- oder Badeschuhen bedarf in der Regel einer besonderen Begründung für die Kostenträger. Die Anfertigung eines orthopädischen Schuhes ist arbeits- und kostenaufwendig. Deshalb ist von Anfang an auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Orthopädieschuhmacher, Arzt und Patient zu achten. Zunächst wird der Versorgungsvorschlag erarbeitet, dann dem Kostenträger der Kostenvoranschlag eingereicht. Der nächste Arbeitsschritt beinhaltet die Herstellung eines Leisten. Darunter versteht man die individuell abgenommene Fußform unter Einarbeitung der notwendigen Zugaben. Der Leisten entspricht somit dem Schuhinnenraum des herzustellenden Schuhes. Die Techniken der Leistenherstellung reichen vom traditionellen Gipsmodell bis hin zu den modernen Verfahren des 3D-Scans. Zur zwischenzeitlichen Kontrolle erfolgt eine Probeanpassung eines Probeschuhs. Dieser Probeschuh besteht aus einer individuellen Fußbettung, über die eine transparente, thermoplastische Folie entsprechend der Leistenform und dem gewünschten Schaftzuschnitt gezogen ist. Sind alle Korrekturmaßnahmen durchgeführt, wird dem Patienten der fertige Schuh ausgehändigt und ärztlich abgenommen.
8.5.4
Einlagenversorgung
Einlagen sollen eine Fehlstatik ausgleichen und eine veränderte Schrittabwicklung normalisieren. Die Vorteile bestehen in der Unsichtbarkeit der Einlagen für andere sowie in der Möglichkeit, die gleiche Einlage in verschiedenen Schuhen zu verwenden. Es lassen sich 3 verschiedene Wirkungsweisen unterscheiden: ▬ korrigierend (Korrektureinlagen) ▬ stützend (Kopie-Einlagen) ▬ entlastend oder bettend (Bettungseinlagen) Die Diabetesfußbettung kann im Gegensatz zur propriozeptiven Einlagenversorgung als eigenständige Einlagenform verstanden werden. Das genaue Wirkungsprinzip der propriozeptiven oder afferenzverstärkenden Einlagenversorgung ist nicht bekannt. Basierend auf den Grundlagen von Réné-Jaques Bourdiol wird versucht, über kleine Pelottierungen im Sohlenbereich Reize auf neurophysiologischer Grundlage auszuüben und damit Haltung und Bewegung zu beeinflussen. Der wissenschaftliche Stellenwert der propriozeptiven Einlagenversorgung kann zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund der diversen, vom jeweiligen Autor abhängigen Ausführungen der Versorgung wie auch aufgrund der unterschiedlichen Interpretation der Wirkungsweise sowie der mangelnden Studienlage nicht abschließend beurteilt werden. Die zur Herstellung verfügbaren Werkstoffe sind vielfältig und reichen von Karbon über Kork und Schaumstoff bis zu thermoplastischen Materialien. Die Shore-Härte dient als Kenngröße der Härte der jeweiligen Einlage. Innerhalb einer
8
100
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
Einlage können verschiedene Shore-Härten miteinander kombiniert werden. Es ist immer zu bedenken, dass Einlage und Schuh eine Einheit bilden. Neben der exakten und rutschsicheren Platzierung im Schuh muss die Gelenksprengung/Absatzhöhe berücksichtigt werden. Eine für einen flachen Schuh (niedrige Gelenksprengung) gearbeitete Einlage liegt bei einem Schuh mit hohem Absatz im Fersenbereich nicht auf. Auch die Techniken, die beim Maßnehmen Verwendung finden, sind vielfältig: ▬ plantare Druckmessung mittels Blaudruck oder Pedobarographie ▬ 3-dimensionaler Formabdruck mit Trittschaum ▬ Fertigung nach Gipsabdruck ▬ Verwendung eines Scanners mit digitaler Bearbeitung (CAD-System) und anschließender Fräsung oder Formung Typische Beschwerdebilder, die auf eine Einlagenversorgung gut ansprechen, sind im Folgenden dargestellt.
Kontrakter Plattfuß Hier erfolgt eine bettende Einlagenversorgung. ! Cave Versuche, das Längsgewölbe aufzurichten, führen zu Schmerzen und sind daher zu vermeiden.
Beinlängendifferenz Mittels Einlagenversorgung lässt sich ein Beinlängenunterschied von 5–10 mm ausgleichen. Beim Versuch, eine noch größere Differenz auszugleichen, würde der Fersenhalt durch die dann zu niedrige Fersenkappe nicht mehr gewährleistet sein. In diesem Fall erfolgt eine Absatzerhöhung bis ca. 5 mm mit anschließendem Verkürzungsausgleich (Absatz und Sohlen werden erhöht).
8.6
Technische Hilfsmittel für die Rehabilitation
Metatarsalgie bei Spreizfuß
8
Hier finden eine Spreizfußpelotte mit retrokapitaler Abstützung zur Quergewölbestützung und ggf. eine Weichbettung der schmerzhaften Metatarsaleköpfchen Anwendung. Die Pelotte darf nicht zu breit sein, um das Quergewölbe nicht auseinander zu drängen. In der akuten Phase kann für einen begrenzten Zeitraum evtl. zusätzlich eine Schmetterlingsrolle oder -einlage eingesetzt werden.
Im Rahmen der Rehabilitationsmittel werden im Folgenden die Rollstuhlversorgung, die Versorgung mit Geh- und Stehhilfen sowie Alltagshilfen dargestellt. Es ist jedoch nur ein grob orientierender Überblick über die Versorgungsoptionen möglich.
Fersensporn
Unter Berücksichtigung der Art der jeweiligen Behinderungen sollen Rollstühle ihrem Benutzer ein Höchstmaß an Aktivität ermöglichen, gleichzeitig den bestmöglichen Komfort gewährleisten und sekundäre Schäden vermeiden. Bezüglich der Antriebsart werden Greifreifen-, Handhebel-, Schiebe-, Trippelund Elektrorollstühle unterschieden. Die Klassifizierung der Rollstühle erfolgt in: ▬ Standard-/Faltrollstuhl. Dieser Typ wird für die nicht dauerhafte Versorgung eingesetzt. Individuelle Zuarbeitungen fehlen. ▬ Aktiv-/Adaptivrollstuhl. Dieser ist zur dauerhaften Nutzung, zur Bewältigung längerer Strecken und für aktive Nutzer geeignet. Durch die individuelle Zuarbeitung kann der Kraftaufwand zur Fortbewegung gemindert werden. ▬ Sportrollstuhl. Dieser ist bezüglich Funktion und Ausführung an die Anforderung des Behindertensports angepasst, z. B. Rollstuhltischtennis, Rollstuhlbasketball oder Rollstuhltanzsport. ▬ Rennrollstuhl. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl die Neigung der Räder (Sturz) als auch die Hinterräder selbst vergrößert sind, während der Durchmesser des Greifrings verringert ist. Das einzelne Vorderrad ist weit nach vorne verlagert. Dadurch wird Spurtreue ermöglicht. In den letzten Jahren zeichnete sich jedoch ein zunehmender Trend zu Handbikes (ähnlich dem Liegefahrrad) ab. ▬ Einhänderrollstühle. Durch eine starrachsige Verbindung der beiden Räder ist der Antrieb bei zusätzlichem (Funktions-)Verlust eines Armes über nur einen Greifreifen oder Handgriff möglich.
Hier kommen eine Einlage mit Fersenspornaussparung am medialen Bereich des Kalkaneus bis zur Plantarfaszie und eine seitliche Fassung des Kalkaneus zum Einsatz.
Hallux rigidus Bei Hallux rigidus sind eine Sohlenversteifung mit Anbringen einer Ballenrolle (Hallux-rigidus-Rolle) und eine Tieferlegung der Großzehe hilfreich.
Knickfuß Hier erfolgt eine fersenumfassende Einlagenversorgung mit Supinationskeil für den Fersenbereich und ggf. äußerer Backe, um ein Übertreten nach lateral zu vermeiden. Alternativ besteht die Versorgungsmöglichkeit mit einer Einlage mit hinterem Fersenflügel nach Elsner in Kombination mit einer Längsgewölbeabstützung.
Kontrakter Hohlfuß Bei kontraktem Hohlfuß erfolgt eine symptomatische Therapie mit stützenden Einlagen, bei kombiniertem Spreizfuß mit Quergewölbestützung.
Kindlicher Hohlfuß und lockerer Hohlfuß des Erwachsenen Man macht sich den gewölbeabflachenden Effekt der Auftrittkräfte zunutze, indem man eine Einlage mit langgezogener, medialseitiger Längsgewölbestütze so einarbeitet, dass sich der Fuß beim Auftritt in Längsrichtung spreizt.
8.6.1
Rollstuhlversorgung
101 8.6 · Technische Hilfsmittel für die Rehabilitation
▬ Elektrorollstuhl. Dieser eignet sich für Benutzer, für die die Benutzung eines Greifreifenrollstuhls nicht infrage kommt, oder für längere Distanzen. Generell werden wendige Elektrorollstühle für den häuslichen Bereich von Elektrorollstühlen zur Bewältigung von Langstrecken unterschieden. Sondersteuerungen, z. B. eine Kinnsteuerung für Tetraplegiker, sind möglich. ▬ Multifunktionsrollstühle, Positionierungsrollstühle, Lagerungsrollstühle. In der Regel werden diese Rollstühle bei stark pflegebedürftigen Patienten eingesetzt und sind als Schieberollstuhl gearbeitet. Sie weisen eine große Variabilität hinsichtlich der Einstellungsmöglichkeiten auf. Lagerungsschalen, Kopfstützen, Seitenpelotten und Ähnliches ermöglichen eine komfortable Lagerung ohne erhöhtes Risiko eines sekundären Schadens. Das stufenlose Lagern des Patienten im Rollstuhl wird meistens über Gasdruckfedern bewirkt. ▬ Dusch-/Toilettenrollstuhl. Dieser besitzt aus hygienischen Gründen meist eine Plastiksitzfläche zur leichten Reinigung und Desinfektion, häufig mit Hygieneöffnung im Sitzbereich.
8.6.2
Geh- und Stehhilfen
An Geh- und Stehhilfen sind zu nennen: ▬ Gehstock zur meist einseitigen Benutzung zur Belastungsreduktion einer unteren Extremität (Cave: »Handstock«: bei leichter Gehbehinderung ohne notwendige Entlastung) ▬ Unterarmgehstütze: – ein- oder beidseitige Nutzung – postoperativ oder posttraumatischen sowie bei Schmerzen im Bereich der unteren Extremitäten oder der Wirbelsäule und bei Lähmungen – individuelle Höheneinstellung möglich – Arthritisgehstützen: Krafteinleitung in die Gehstütze nicht über den Handgriff, sondern über die Unterarmauflage ▬ 4-Punkt-Gehstock/Mehrfußgehhilfen: erhöhte Sicherheit in der Standphase, z. B. bei Patienten mit infantiler Zerebralparese oder neurologisch bedingter Gangunsicherheit ▬ Achselgehstütze: – im angloamerikanischen Raum stark verbreitet, in Deutschland nur selten verordnet – Indikationen: Beschwerden im Hand- oder Handgelenkbereich, die keine Verwendung von Unterarmgehstützen erlauben > Zur Vermeidung von Plexusschädigungen muss auf eine gute Polsterung der Axillaabstützung geachtet werden.
▬ Gehbock: – bei hochgradiger Gangunsicherheit oder fehlender Koordinationsfähigkeit zur Verwendung von Unterarmgehstützen – auch als fahrbarer Gehbock mit vorne angebrachten Rädern und hinten angebrachten Stützen
⊡ Abb. 8.24 Rollator
▬ Gehwagen mit Armauflage oder Achselstützen, meist postoperativ oder in der frühen Mobilisierungsphase eingesetzt ▬ Rollator/Gehwagen/Walker (⊡ Abb. 8.24): – bei Gangunsicherheit, z. B. bei geriatrischen Patienten oder bei infantiler Zerebralparese – in klassischer Form mit 4 Rädern, die in der neuesten Generation trapezförmig angebracht sind, oder als Deltarad mit nur 3 Rädern (wendiger, aber geringere Stabilität) ▬ Stehgestell: – bei nicht selbstständig geh- oder stehfähigen Patienten zur Vertikalisierung (Kreislauf- und Krafttraining) – Platte mit Stehgestell ist ggf. mit Rollen versehen, sodass eine gewisse Mobilität erreicht werden kann – bei Kindern mit angelernter Stehposition: Fortbewegung ohne Einsatz von Armen oder Händen mittels SwivelWalker möglich
8
102
Kapitel 8 · Technische Orthopädie
8.6.3
Greif- und Alltagshilfen
Die Versorgung mit diesen Hilfsmitteln erfolgt in der Regel durch Physio- oder Ergotherapeuten. Inzwischen gibt es viele Fertigprodukte, sodass nur bei speziellen Indikationen durch den Orthopädietechniker Individuallösungen anzufertigen sind. Gängige Greif- und Alltagshilfen sind: ▬ Greifzange: bei Einschränkung der Beweglichkeit im Bereich der oberen oder unteren Extremität oder der Lendenwirbelsäule ▬ Griffverdickung/Sondergriff ▬ Griffverlängerung ▬ Toilettensitzerhöhung ▬ Anziehhilfe für Strümpfe
8
Mittlerweile gibt es für fast jeden Bereich der »activities of daily living« Möglichkeiten, Patienten mit Handicap eine Hilfestellung zu bieten. Der Bereich erstreckt sich von der mobilen Rampe über Höhenanpassungen von Möbeln durch Möbelfußverlängerung bis zu Fahrbedienungshilfen für das Auto.
8.7
Abnahme technischer Hilfsmittel
Im Rahmen der Qualitätssicherung soll der verordnende Arzt prüfen, ob das abgegebene Hilfsmittel seinen rezeptierten Maßgaben entspricht und den vorgesehenen Zweck erfüllt. Die Bedeutung der Hilfsmittelabnahme ist bei individueller Anfertigung oder Zurichtung noch höher einzuschätzen. Neben der handwerklichen Ausarbeitung müssen bei der Abnahme auch die Aussagen des Patienten bezüglich seiner Zufriedenheit berücksichtigt werden. Außerdem ist zu prüfen, ob der Patient eine Einweisung in sein Hilfsmittel erhalten hat. Bei weniger komplexen Hilfsmitteln wie beispielsweise Inkontinenzvorlagen muss sich der Arzt allerdings lediglich vergewissern, dass der Patient zweckmäßig versorgt ist.
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9
Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation K. Hower, J. Grifka
9.1
Einleitung
– 104
9.2
Krankengymnastik (Bewegungstherapie) – 104
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.2.6 9.2.7 9.2.8 9.2.9 9.2.10 9.2.11 9.2.12 9.2.13 9.2.14 9.2.15 9.2.16
Basistechniken – 104 Atemtherapie – 106 Perioperative Physiotherapie und Prophylaxen – 107 Gangschule und Gehhilfen – 107 Schlingentisch – 108 Rückenschule – 109 Bewegungsbad – 110 Manuelle Medizin – 111 Orthopädische Medizin nach Cyriax – 113 Brunkow-Stemmführung – 115 Therapie nach Brügger – 116 Medizinische Trainingstherapie – 117 Bobath-Therapie – 119 Vojta-Therapie – 120 Propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation – 122 Funktionelle Bewegungslehre nach Klein-Vogelbach – 123
9.3
Physikalische Therapie
9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.3.8
Geschichte – 124 Hydro- und Balneotherapie – 124 Bäder – 126 Thermotherapie – 127 Klassische Massage – 129 Unterwassermassage – 130 Manuelle Lymphdrainage – 130 Elektrotherapie – 132
9.4
Verordnungen Literatur
– 124
– 134
– 135
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
9
104
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
9.1
Einleitung
Das aufwendige diagnostische und therapeutisch/operative Vorgehen in den chirurgischen Fächern erfordert im Rahmen der Rehabilitation angemessene krankengymnastische und physikalische Anwendungen. Bei der konservativen Therapie kommt der Krankengymnastik und der physikalischen Therapie ohnehin eine Schlüsselstellung zu. Art und Ausmaß der Anwendungen und Behandlungskonzepte sind vom Krankheitsbild des Patienten sowie individuellen Kontraindikationen und Besonderheiten abhängig. Die Therapie wird stets individuell abgestimmt. Krankengymnastik (seit 1994 zusammengefasst mit Massage und den anderen physikalischen Anwendungen als »Physiotherapie« bezeichnet) umfasst die eigentlichen Bewegungsübungen in Kombination mit physikalischen Anwendungen. Diese dürfen nicht isoliert verordnet werden. Eine Eisanwendung ist beispielsweise nicht ohne nachfolgende Bewegungsübungen isoliert verordnungsfähig. Im Folgenden können nicht alle physikalischen Maßnahmen detailliert beschrieben werden. Ziel ist es, die besonders für den chirurgischen und orthopädischen Fachbereich notwendigen Maßnahmen auch anhand von Beispielen darzustellen. Wichtig für den verordnenden Arzt sind ein Gesamtüberblick und eine Vorstellung von der Kombinationsfähigkeit einzelner Maßnahmen.
9.2
Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
Unter »Krankengymnastik« versteht man die ärztlich verordnete Anwendung spezifischer Übungen zur Behandlung von Störungen des Bewegungssystems. Der Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit steht im Vordergrund. Die Leistungen des Bewegungssystems umfassen neben Gelenkbeweglichkeit auch Kraft, Koordination und Ausdauer. Demzufolge gilt es in der Bewegungstherapie neben der Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit, auch die Muskulatur zu kräftigen und die Koordination zu trainieren. Möglich sind neben Einzelanwendungen auch Gruppentherapien. Prinzipiell gilt, dass lokale Erkrankungen nur einen begrenzten, auf den Befund ausgerichteten Einsatz der Übungen bzw. Maßnahmen verlangen. Man spricht in diesem Zusammenhang von befundgerechter Verordnung. Es kommt hier weniger auf die Ursache als auf die Art der Störung an. Befunde sind z. B. Abschwächung der Muskelkraft oder bindegewebige Kontrakturen. Erkrankungen von allgemeinem Charakter mit Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit des Gesamtorganismus verlangen dagegen die Aufstellung eines umfassenden Therapieprogramms. Hierbei sind die Gesamtkonstitution und die Belastbarkeit des Patienten zu berücksichtigen. Der Begriff »Krankengymnastik« wird den modernen Anforderungen physiotherapeutischer Verfahren inzwischen nicht mehr gerecht, weil nicht nur der »Kranke« die verschiedenen Leistungen in Anspruch nimmt und reine »Gymnas-
tik« als Leibes- und Körperübung die verwendete Methodenvielfalt nur sehr beschränkt widerspiegelt. Das erweiterte Verständnis lässt sich am ehesten mit dem Begriff »Bewegungstherapie« ausdrücken. Diese stellt die Hauptaufgabe der Physiotherapie dar. Sie ist ein dynamischer Prozess, der sich den Bedürfnissen des Patienten im Verlauf der Erkrankung stets anpasst. Im Folgenden werden die Bezeichnungen »Krankengymnast« und »Physiotherapeut« synonym verwendet. Am Beginn jeder Physiotherapie stehen, wie auch bei der ärztlichen Untersuchung, eine genaue Anamnese und eine sorgfältige Befunderhebung. Dem Physiotherapeuten stehen dabei neben Inspektion und Palpation weitere klinische Untersuchungstechniken zur Verfügung, beispielsweise: ▬ Muskelfunktionsprüfung ▬ quantitative Bewegungsprüfung, d. h. Beurteilung und Messung der Gelenkbeweglichkeit in 3 Ebenen mit der Neutralnullmethode ▬ qualitative Bewegungsprüfung (Beurteilung des sog. Endgefühls am Ende eines Bewegungsausschlags) > Der physiotherapeutische Behandlungsplan muss vom Arzt legitimiert sein.
Die Auswahl der Maßnahmen erfolgt anhand der Symptome und Besonderheiten des Patienten und der festgelegten Behandlungszielen. Für den Patienten müssen die Übungen einfach und beschwerdefrei durchführbar sein. Zur Behandlung von Lungenfunktionsstörungen können ergänzend die ärztlichen Befunde aus Lungenfunktionsprüfung, Spirometrie und »Peak-flow«-Messung herangezogen werden.
9.2.1
Basistechniken
Die physiotherapeutischen Behandlungstechniken unterteilen sich in 2 Hauptbereiche: aktive und passive Techniken. In der Therapie sind aufgrund der Komplexität der zu behandelnden Strukturen und des großen Anwendungsspektrums der Physiotherapie meist nur Kombinationen aus beiden Techniken zu finden. Sie wirken sowohl direkt auf den Körper als auch indirekt auf die Psyche des Patienten, z. B. durch Motivation, ein positives Patienten-Physiotherapeuten-Verhältnis und entsprechende Behandlungsfortschritte.
Aktive Techniken Aktive Techniken führen zu einer Muskelaktivität. Sie werden anhand der Art ihrer Muskelaktivität, d. h. des motorischen Vorgangs, in verschiedene Formen gegliedert, beispielsweise Techniken, die dynamische/phasische Kontraktionen und somit Bewegungen bewirken, darunter: ▬ Techniken, die statische/tonische Kontraktionen, also Halten bewirken (⊡ Abb. 9.1) ▬ Techniken, die wechselweise dynamische und statische Kontraktionen bewirken Grundformen der Bewegung sind unterstützendes Bewegen, freies aktives Bewegen, resistives (gegen Widerstand ausgeführ-
105 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
tes) und passives Bewegen. Bei Bewegungen werden anhand der Freiheitsgrade unterschieden: ▬ isolierte Bewegungen, d. h. die Bewegung erfolgt um eine Achse, also einen Freiheitsgrad (⊡ Abb. 9.1) ▬ komplexe Bewegungen, die um mehrere Achsen (mehrere Freiheitsgrade in einem oder mehreren Gelenken) erfolgen Beim unterstützten Bewegen werden Bewegungen vom Patienten unter Abnahme der Eigenschwere des zu behandelnden Körperabschnitts durchgeführt. Neben der manuellen Unterstützung durch den Therapeuten können auch Geräte, z. B. eine entsprechende Aufhängung im Schlingentisch (s. unten), und der Wasserauftrieb im Bewegungsbad genutzt werden. Assistives Bewegen ist beispielsweise bei Übungsstabilität einer frischen Osteosynthese indiziert. Aktives oder freies Bewegen sind Bewegungsabläufe, die ohne Unterstützung des Therapeuten oder zusätzliche Widerstände ausgeführt werden. Die Durchführung erfolgt aus verschiedenen Ausgangsstellungen mit und ohne Gerät sowie in verschiedenen Tempi. Typische Formen sind die allgemeine Gymnastik und die sog. Stoffwechselgymnastik. Resistives Bewegen ist das Bewegen gegen einen Widerstand zusätzlich zum Eigengewicht unter Schwerkrafteinfluss. Der Widerstand besteht gegen die geforderte Bewegungsrichtung. Erzeugt wird er beispielsweise durch: ▬ den Therapeuten (manuell) ▬ Geräte wie Theraband, Deuserband oder Miniexpander ▬ Knetmasse ▬ eine entsprechende Aufhängung im Schlingentisch ▬ Wasser im Bewegungsbad Beim Halten werden Körper und Gelenkposition mittels statischer Muskelkontraktionen vom Patienten selbst gehalten. Bei den isometrischen Anspannungsübungen wird mit einer Anspannungskraft von ca. 50–70% der Maximalkraft gearbeitet. Dies ist definitionsgemäß erreicht, wenn der Patient die Haltespannung bei einer Haltedauer von 5–10 s 5- bis 10-mal wiederholen kann.
⊡ Abb. 9.1 Kräftigung der ventralen Kette aus entlordosierter Haltung heraus
! Cave Ganzkörperspannungen sind bei Erkrankungen, die keine Steigerung des peripheren Gefäßdrucks zulassen (z. B. fortgeschrittene Herz- und Lungenerkrankungen oder Blutungsneigung), kontraindiziert.
Beim Anhalten und Pressen der Atemluft sollte der Patient immer zum Weiteratmen aufgefordert werden.
Passive Techniken Passive Techniken sind Techniken, die am Patienten durchgeführt werden, ohne dass sie eine Muskelaktivität auslösen. Dazu gehören z. B. Lagerungen, entlastende Ausgangsstellungen, Traktion und passives Bewegen in verschiedenen Formen. Passives Bewegen ist eine Bewegung der Gelenke durch den Physiotherapeuten oder apparativ (z. B. mittels CPMSchiene – CPM: »continuous passive movement«; ⊡ Abb. 9.2), ohne eine Muskelaktivität auszulösen. Das Ziel besteht in einer Kontrakturprophylaxe beim beatmeten, komatösen Intensivpatienten oder in der Prüfung der Gelenkbeweglichkeit zur Diagnostik oder Eingrenzung von Beschwerden. Eine CPM-Schiene kommt häufig nach endoprothetischen Eingriffen zum Einsatz, außerdem nach Kreuzbandrekonstruktion, übungsstabiler operativer Frakturversorgung sowie Gelenkmobilisation in Narkose, um ein bestimmtes Bewegungsausmaß zu erhalten. Bei den CPM-Schienen sind die Bewegungsumfänge, Winkelgeschwindigkeiten und Pausen durch den Therapeuten einstellbar. Der Patient kann mithilfe einer einfachen Einhandfernbedienung selbstständig üben. Es kommt zum sofortigen Umschalten der Bewegungsrichtung, sobald der eingestellte Wert überschritten wird. CPM-Schienen haben keinen eindeutigen Vorteil gegenüber der Physiotherapie und sind daher als Produktgruppe aus dem
⊡ Abb. 9.2 Mobilisation mittels CPM-Schiene (»continuous passive movement«) für das obere Sprunggelenk
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Hilfsmittelverzeichnis herausgenommen worden (s. unten). Sie sind damit nicht mehr verordnungsfähig. Im Einzelfall ändern sich die Sachverhalte hier ständig. Grundsätzlich kann eine CPM-Schiene die krankengymnastische Beübung keinesfalls ersetzen, sondern sie lediglich ergänzen. Beim isolierten passiven Durchbewegen muss eine adäquate Lagerung des Patienten gewährleistet sein, und auch der Physiotherapeut muss seine Ausgangsstellung so wählen, dass er die gewünschte Bewegung rückengerecht und möglichst ohne hohen Kraftaufwand sowie repetitiv durchführen kann. Eine sichere Grifftechnik muss ebenfalls gewährleistet sein, damit das Gewicht der zu bewegenden Körperteile vollständig übernommen werden kann. Die Bewegung ist dabei langsam und rhythmisch auszuführen. Sie sollte exakt um die entsprechende Bewegungsachse führen. Um einen Gelenkflächenkontakt im Sinne einer Reibung zu vermeiden, ist die Bewegung unter minimalem Zug durchzuführen. > Wichtig ist die Fixation des proximalen Gelenks durch den Krankengymnasten, um eine unkontrollierte, fortlaufende Bewegung nach proximal zu unterbinden.
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Weiterhin sollte der gesamte Bewegungsweg genutzt und das Gelenk – soweit möglich – in sämtliche Freiheitsgrade mobilisiert werden. Vor dem passiven Durchbewegen ist in jedem Fall der Bewegungsspielraum zu überprüfen; der physiologische Bewegungsweg und die Bewegungsachse des Gelenks sollten vorab festgelegt sein. Am Beispiel der Elevation des Schultergelenks seien kurz die Grifftechnik und die Position von Patient und Physiotherapeut erläutert: Der Patient befindet sich in Rückenlage. Das Unterlagerungskissen des Kopfes muss so weit zur Seite geschoben sein, dass der Bewegungsweg des Armes nach kranial nicht behindert wird. Der Physiotherapeut steht seitlich des durchzubewegenden Armes. Die proximale Hand umgreift den distalen Humerus, und die distale Hand umfasst das Handgelenk von der Beugeseite her. Dabei liegt der Zeigefinger des Krankengymnasten in der Handinnenfläche des Patienten. Auch die Lagerung gehört zu den einfachsten, effektivsten passiven Maßnahmen. Durch die Lagerung von Körperteilen oder Körperabschnitten erfolgt eine Reduzierung oder vollständige Aufhebung der Muskelaktivität gegen die Schwerkraft. Zusätzlich werden bei der Lagerung Kopf, Thorax und Becken bestmöglich in die Körperlängsachse eingeordnet. Verschiedene Lagerungsmaterialien wie Kissen, Keile, Schienen und spezielle Betten können für eine unterschiedliche Zeitdauer von Minuten bis Tage/Wochen genutzt werden. Zur Behandlung der Bewegungsorgane sind Lagerungsmöglichkeiten zur Entspannung und Entlastung indiziert, ebenso die Hochlagerung einer Extremität zur Entstauung bzw. Abschwellung. Auch im Sinne von Kontrakturprophylaxe und Schmerzlinderung kann entsprechend gelagert werden. Zur Spitzfußprophylaxe bei peripheren, nicht spastischen Läsionen wird der Fuß in Nullstellung gelagert und eine Fußkiste (entsprechend fester Widerstand) zwischen Fuß und Bettende platziert.
Bei einer verstärkten Kyphose der Lendenwirbelsäule und der unteren Brustwirbelsäule sollte beispielsweise nie die Lendenwirbelsäule entsprechend unterlagert werden. In der Neurologie wird die Lagerung zur Reduktion einer Spastik genutzt. Eine Hemisymptomatik vom Typ Wernicke-Mann nach Apoplex kann durch die Lagerung des Patienten und eine entsprechende Raumgestaltung bereits »passiv« behandelt werden. In Rückenlage wird der Kopf des Patienten mit einem Kissen unterlagert. Die Halswirbelsäule befindet sich dabei in leichter Flexionsstellung. Die betroffene Schulter und der Arm liegen auf einem Kissen. Dabei ist der Ellenbogen gestreckt und die Hand geöffnet, die Finger sind gestreckt. Die betroffene Gesäßhälfte ist wenig unterlagert, um eine Retraktion des Beckens zu verhindern. Der Kopf ist zur betroffenen Seite gedreht. Hier sollte idealerweise auch der Eingangsbereich des Zimmers liegen und der Fernseher oder eine andere entsprechende Unterhaltung positioniert sein. Auf diese Weise wird das typisch spastische Muster der oberen Extremität (Kopfneigung zur betroffenen Seite, Schulterretraktion, Ellenbogen-, Handgelenkund Fingerflexion) verhindert und die betroffene, vom Patienten häufig nicht wahrgenommene Körperhälfte (»neglect«) mit einbezogen. Bei internistischen Patienten wird die Lagerung zur Entlastung des Herzens genutzt (»Herzbett«). Zur Sekretmobilisation und bei eingeschränkter Lungenfunktion sind Drainagelagerungen und Umlagerungen indiziert. Bei leichten Stadien einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit sind die Umlagerungen nach Ratschow als Gefäßtraining bekannt. Bei immobilisierten oder eingeschränkt mobilen Patienten aus sämtlichen Fachbereichen stellen Lagerungsmaßnahmen eine wichtige prophylaktische Maßnahme zur Vorbeugung eines Dekubitus dar. Zur Dekubitusprophylaxe ist eine faltenfreie Unterlage notwendig, außerdem das regelmäßige Umlagern des Patienten (mindestens alle 2 h) in Zusammenarbeit mit Pflegepersonal und Angehörigen. Durch die Lagerung wird eine breite Druckverteilung angestrebt. Dabei wird z. B. die Ferse durch eine Unterlage des gesamten Beines mit einem Kissen freigelegt sowie in Rückenund Bauchlage eine Lagerung des Körpers in 30°-Linkslagerung (wechselnd Rechtslagerung) angestrebt.
9.2.2
Atemtherapie
Eine Atemtherapie durch den Physiotherapeuten wird unterstützend zur medikamentösen Behandlung oder als adjuvante Therapie begleitend zu technisch-apparativen Maßnahmen angewandt. Die verschiedenen Techniken dienen der Pneumonieprophylaxe, dem Erhalt der Thoraxmobilität, der Verbesserung der Vitalkapazität, der Lösung und Beförderung von Sekret, der Erleichterung der Atemarbeit sowie der Verbesserung der Entspannung. In der Pneumologie wird die Atemtherapie therapeutisch bei obstruktiven und restriktiven Lungenerkrankungen eingesetzt. In sämtlichen anderen Fachbereichen findet die Atemtherapie hauptsächlich als Prophylaxe Anwendung.
107 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
! Cave Die Auswahl der verschiedenen atemtherapeutischen Maßnahmen orientiert sich primär an den im Befund erhobenen Symptomen, weniger an einzelnen Krankheitsbildern.
Zur Atelektasen- und Pneumonieprophylaxe sowie zur Verbesserung von Thoraxmobilität, Vitalkapazität und Sekretolyse werden Übungen zur Förderung von Ein- und Ausatmung angewendet, z. B. schnüffelnd durch die Nase bis zum Maximum einatmen und dabei evtl. ein Nasenloch zuhalten oder bei geschlossenem Mund durch die Nase gähnend einatmen, was zu einer reflektorischen Erweiterung der Bronchien führt. Die Ausatmung wird durch langsames Pusten gegen beispielsweise Luftballons oder ein vorgehaltenes Tuch gefördert. Hier stehen auch apparative Hilfen wie z. B. Flutter oder Tri-flow zur Verfügung. Weiterhin können Atmung und Bewegung kombiniert werden, u. a. durch Einnahme bestimmter Lagen und Stellungen sowie durch sog. atemerleichternde Stellungen. Bei Inhalationsbehandlungen können zusätzlich unterstützend verschiedene Aerosole zum Einsatz kommen.
kostengünstige Maßnahme darstellt. Besonders nach Intubationsnarkose wird eine Sekretfreiheit angestrebt, um Keimen ein zusätzliches Nährmedium zu entziehen. Die Patienten müssen im Rahmen der Atemgymnastik zum schonenden Abhusten motiviert werden. Auch hinsichtlich der Pneumonieprophylaxe sind bettlägerige Patienten idealerweise stündlich umzulagern. Zur Thromboseprophylaxe werden neben der medikamentösen Therapie in der Regel Kompressionsstrümpfe verordnet. Um die Muskelpumpe im Unterschenkel des liegenden Patienten zu aktivieren, wird der Patient zum statischen Anspannen und zum dynamisch-rhythmischen Bewegen der Füße (Dorsalextension/Plantarflexion und Rotationsbewegungen) aufgefordert. Dadurch kommt es zur Beschleunigung des venösen Blutstroms um das 2- bis 3-Fache. Beim Treten eines Bettpedals werden die höchsten Strömungsgeschwindigkeiten gemessen. Soweit möglich, ist auch hier die Frühmobilisation anzustreben. Das häufige Aufstehen und Gehen mit Kompressionsstrümpfen, alternativ elastischen Binden, bleibt die effektivste Thromboseprophylaxe.
9.2.4 9.2.3
Perioperative Physiotherapie und Prophylaxen
Längere Immobilisationsverfahren über mehr als einen Tag, z. B. im Rahmen operativer Eingriffe, können zu typischen Komplikationen wie Kontrakturen, Dekubitus, Pneumonien und Thrombose führen. Die Verhütung ist ein wichtiges Behandlungsziel, eigentlich die primäre physiotherapeutische Behandlung im unmittelbar postoperativen Verlauf (neben der gezielten Behandlung entsprechend dem Krankheitsbild, welche zunächst je nach Befinden des Patienten in den Hintergrund tritt). Ziel ist zunächst der DKPT-freie Patient (DKPT: Dekubitus, Kontraktur, Pneumonie, Thrombose). Zur gezielten Dekubitusprophylaxe sei auf den Abschnitt über die Lagerung verwiesen (s. oben). Hauptrisikopatienten sind Hemiplegiker, polytraumatisierte Patienten und Rollstuhlfahrer. Sensibilitätsstörungen bei Multipler Sklerose oder Diabetes mellitus stellen einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Sinnvoll für das physiotherapeutische Management von Kontrakturen ist eine Unterscheidung in strukturelle und funktionelle Bewegungseinschränkungen. Letztere lassen sich durch endgradige passive und aktive Bewegungen (ein- oder mehrdimensional, z. B. im Rahmen von PNF-Diagonalen; s. unten) sowie eine entsprechende Lagerung (s. oben) beeinflussen. Die beste Maßnahme zur Kontrakturprophylaxe ist die Frühmobilisation, die auch in Hinblick auf die Prophylaxe von Dekubitus, Pneumonie und Thrombose angestrebt werden sollte. Zur Pneumonieprophylaxe eignen sich Salbeneinreibungen, z. B. mit Transpulmin. Alkoholabklatschungen des Rückens werden wegen der Gefahr von Hautirritationen und Austrocknungen der Haut nicht mehr durchgeführt. Die Patienten werden zum regelmäßigen, forcierten Atmen angehalten, z. B. gegen einen über dem Bett aufgehängten Luftballon, was gegenüber den apparativen Atemtrainern eine effektive und
Gangschule und Gehhilfen
Die Gangschule vermittelt bzw. erhält ein physiologisches, harmonisches Gangbild. Außerdem hilft sie, sekundäre Erkrankungen zu vermeiden bzw. sie zu behandeln, welche aufgrund von abnormen Bewegungsmustern und Schonhaltungen auftreten können. Dabei kommen je nach Krankheitsbild Hilfsmittel wie Unterarmgehstützen, Gehwagen, Rollator und Gehbarren zum Einsatz (vgl. Kap. 8). ! Cave Auf Achselstützen sollte wegen der Gefahr einer Plexusaxillaris-Druckschädigung verzichtet werden. Störungen des normalen Gangbilds sind bei Verletzungen der unteren Extremität und der Wirbelsäule sowie aufgrund schwerer degenerativer Veränderungen wie Cox- oder Gonarthrose möglich. Neurologische Krankheitsbilder im Sinne einer zentralen Schädigung oder einer peripheren Nervenlähmung können das physiologische Gangbild ebenfalls stören. Der normale menschliche Gang wird in eine Stand- und eine Schwungphase unterteilt. Zwischen beiden Phasen liegt der sog. Doppelstand ( Kap. 8). Während der Standphase sind Kopf und Rumpf aufgerichtet, die Schultern stehen auf gleicher Höhe. Ab einer gewissen Geschwindigkeit (ca. 70 Schritte/min) schwingen die Arme durch Rotation des Schultergürtels reaktiv mit (»Armpendeln«). Die Schritte sind dabei gleich lang. Während der mittleren Standphase haben beide Füße Sohlenkontakt mit dem Boden. Mit dem Abheben der Ferse (Abrollphase) wird das Körpergewicht verlagert und die Schwungphase vorbereitet. Während der Schwungphase schwingt das Bein nach vorne, bis wieder Bodenkontakt beider Füße erreicht wird. Im Folgenden ist die Gangschulung mit Unterarmgehstützen nach Verletzung der unteren Extremität beschrieben: Beim sog. 3-Punkt-Gang wird zur Entlastung eines Beines das betroffene Bein mit Sohlenkontakt zwischen die beiden Unterarmgehstützen gesetzt, so dass der Vorfuß zwischen den
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
9.2.5
Schlingentisch
Stützen steht. Anschließend wird das gesunde Bein durchgezogen, sodass es etwa neben dem zu entlastenden Bein zum Stehen kommt. Anschließend können die Gehstützen wieder vorgestellt werden. Zur Entlastung beider Beine wird beim 4-Punkt-Gang zunächst die rechte Unterarmgehstütze vorgestellt, dann das linke Bein vorgesetzt. Dann wird die linke Stütze vorgestellt und das rechte Bein nachgezogen. Die Belastbarkeit eines Beines, z. B. nach Fraktur oder totalendoprothetischem Ersatz, wird in der Regel vom Operateur vorgegeben, entweder als Vollbelastung oder als Teilbelastung mit entsprechender Kilogrammangabe. Zum Einüben der Belastung steht der Patient mit dem betroffenen Bein auf einer Personenwaage, mit dem anderen Fuß auf gleicher Höhe, z. B. auf einem Holzbrettchen. Der Patient wird aufgefordert, das Körpergewicht so weit auf die betroffene Seite zu verlagern, bis die erlaubte Belastung erreicht ist, zunächst mit visueller Kontrolle, später mit geschlossenen Augen unter Aufsicht des Therapeuten. »Sohlenkontakt« bedeutet »keine Belastung« und wird auch als »Scheinschritt« bezeichnet. Der Patient wird angehalten, sich vorzustellen, ein rohes Ei oder ein Insekt nicht zu zertreten. Die Eigenschwere des Beines bedeutet definitionsgemäß eine Teilbelastung von ca. 15 kg. Beim Treppensteigen gilt der Grundsatz »gesund aufwärts, krank abwärts« (⊡ Abb. 9.3). Beim Treppenaufgehen wird das gesunde Bein vorgestellt und stützt entsprechend ab; das kranke Bein wird nachgezogen. Beim Abwärtsgehen wird zuerst das betroffene Bein zusammen mit der Stütze auf die tiefere Stufe gestellt, das Bein stützt entsprechend ab. Auf diese Weise kann das gesunde Bein nachgezogen werden, um wieder das volle Gewicht übernehmen zu können.
Der Schlingentisch ist eine Gerätekonstruktion, in welcher der Patient die Schwerelosigkeit des ganzen Körpers oder einzelner Körperteile erfahren kann. Einzelne Körperteile werden dabei mit Seilzügen und Schlingen aufgehängt. Ebenso kann je nach Lage der Aufhängepunkte eine Bewegung erschwert sowie Druck oder Zug auf ein Gelenk ausgeübt werden. Die Arbeit im Schlingentisch erfordert detaillierte Kenntnisse über die möglichen Aufhängungen und die entsprechenden Wirkungen. Durch die Bindung an eine horizontale Bewegungsebene bei einer axialen Aufhängung lassen sich Bewegungen selektiv üben sowie Ausweichbewegungen schnell erkennen und korrigieren. Ein weiterer Vorteil liegt in der Zeitersparnis: Mehrere Therapieformen können gleichzeitig appliziert werden. So kann man z. B. unter einer Traktion mit Gewichten gleichzeitig eine Fangoanwendung durchführen. Nicht zu unterschätzen sind auch die Arbeitserleichterung und die Kraftersparnis für den Therapeuten: Er braucht beispielsweise die entsprechenden Körperteile des Patienten nicht zu halten, und den benötigten Kraftaufwand für Traktion oder Muskeldehnung (⊡ Abb. 9.4) übernehmen teilweise oder ganz die verwendeten Züge, Expander oder Gewichte. Der Schlingentisch eignet sich dementsprechend hervorragend für sämtliche physiotherapeutische Techniken. Je nach Anwendungsbereich werden verschiedene Gerätetypen unterschieden: Der Standtyp steht mit 4 Stützen auf dem Boden. Der Deckentyp ist an der Decke fixiert. Mit dem Beckentyp können bettlägerige Patienten auf der Station behandelt werden. Grundsätzlich besteht der Schlingentisch aus einem stabilen Rahmengestell. Die Gitterkonstruktion der Metallverstrebungen untereinander sowie zwischen Decken- und Seitenteilen hat auch zu dem etwas unglücklichen Namen »Schlingenkäfig« geführt.
⊡ Abb. 9.3 Treppe abwärts gehen, dabei Entlastung des linken Beines.
⊡ Abb. 9.4 Dehnung des M. gastrocnemius
109 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
⊡ Abb. 9.5 Beckenaufhängung im Schlingenkäfig
Die zahlreichen Aufhängungsmöglichkeiten bieten somit eine fast unendliche Flexibilität. Das Schlingentischzubehör gliedert sich in entsprechende Schlingen für jedes Körperteil und dazugehörige Seilzüge, mit denen man Patienten bzw. Körperteile hochziehen oder fixieren kann, außerdem in Sonderzubehör wie Fixier- und Traktionsgurte, Umlenkrollen, Gewichte oder Expander. Unterschieden werden 2 Aufhängetypen. Bei der Einpunktaufhängung werden alle Seilzüge der verschiedenen Körperabschnitte in eine Öse gehängt (⊡ Abb. 9.5). Die Bewegung erfolgt dabei um einen Drehpunkt, wodurch mehr Mobilität entsteht. Bei der häufig angewendeten axialen Aufhängung befindet sich der Aufhängepunkt senkrecht über der Schlinge des zu behandelnden Gelenks, wodurch eine hubfreie Mobilisation ermöglicht wird. Bei der Mehrpunktaufhängung haben alle Seilzüge einen eigenen Aufhängepunkt. Die Bewegungen erfolgen dabei um mehrere Drehpunkte, wodurch das Bewegungsausmaß beschränkt und mehr Stabilität ermöglicht wird. Bei der neutralen Aufhängung befinden sich alle Aufhängepunkte senkrecht über den Schlingen, wodurch sich eine Übertragung von Zug oder Druck auf ein Gelenk vermeiden lässt. Als Beispiel für eine Einpunktextremitätenaufhängung sei die axiale Aufhängung über dem Ellenbogengelenk genannt. Auf diese Weise ist die hubfreie Mobilisation des Ellenbogengelenks möglich. Gleichzeitig kann der Therapeut die Haltung des Patienten korrigieren und Ausweichbewegungen, z. B. über das Schultergelenk, korrigieren. > Eine axiale Aufhängung übt immer Druck auf das bewegte Gelenk aus, sodass diese Aufhängung bei Arthrose oder Bandscheibenbeschwerden nicht geeignet ist.
9.2.6
Rückenschule
In Deutschland stellen Rückenschmerzen die zweithäufigste Ursache von Arztkontakten und Arbeitsunfähigkeit dar. Die Ausgaben des Gesundheitswesens für die Behandlung von Rückenerkrankungen und ihrer Folgen einschließlich Frühbe-
rentungen liegen bei >10 Mrd. Euro/Jahr. Rückenbeschwerden und Haltungsschäden sind zunehmend auch bei Jugendlichen und Kindern nachweisbar. Ursächlich sind ein ungünstiges Bewegungs- bzw. Freizeitverhalten und entsprechende Lebensgewohnheiten. Einerseits sind schwere körperliche Belastungen im Sinne von Heben, Tragen und Drehbewegungen ein Risikofaktor – andererseits stellen Bewegungsmangel, falsches und lang andauerndes Sitzen sowie einseitig belastende Sportarten wie z. B. Squash, Golf und Tennis die fast größere Gefahr dar. Die Rückenschule ist somit die klassische Primärprävention im Kindes- und Jugendalter. Bei bereits Erkrankten greift sie im Sinne der Sekundärprävention, um eine Chronifizierung der Beschwerden zu vermeiden. Die Rückenschule vermittelt zunächst medizinische Grundlagen zur Entstehung von Rückenbeschwerden. Weiterhin werden pathophysiologische Erkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten bei Kreuzschmerzen theoretisch behandelt sowie die medizinische Begründung für rückengerechtes Verhalten dargestellt. Ziele der Rückenschule sind: ▬ Information und Schulung des Patienten ▬ Übernahme der Verantwortung für die eigene Gesundheit (und den eigenen Rücken) ▬ selbstständige Kontrolle des Bewegungsverhaltens ▬ rückengerechtes Verhalten im Alltag In der Regel wird entsprechendes Wissen in Gruppen während 8–12 Unterrichtseinheiten à 90 min vermittelt. Vorteile der Gruppenbehandlung sind Begegnungen der Patienten untereinander und der Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen, außerdem die Gruppendynamik. Zur Demonstration und Anschauung eignen sich Dias, Folien bzw. PowerpointPräsentationen, Schaubilder und Wirbelsäulenmodelle. Zur praktischen Durchführung werden Hilfsmittel wie Sitzmöbel, Pezzibälle und alltagspraktische Gegenstände benutzt. Für die Mobilisations- und Kräftigungsübungen reicht eine Bodenmatte oder Decke aus. Bei der Planung eines Rückenschulkurses sind die Bedürfnisse der Teilnehmer zur berücksichtigen. Auf die unterschiedlichen Gesichtspunkte z. B. für Büroangestellte, Menschen in körperlich arbeitenden Berufen, Jugendliche oder Patienten, die eine Wirbelsäulenerkrankung bzw. Operation hinter sich haben, sollte eingegangen werden. Im Idealfall sollte man eine Zahl von 12 Teilnehmern nicht überschreiten. Der Ablauf einer Unterrichtsstunde ist demzufolge flexibel an die Bedürfnisse der Gruppe anzupassen. Zu Beginn jeder Stunde steht ein Aufwärmtraining. Jede Unterrichtseinheit hat dann ein bestimmtes Programm im Sinne des rückengerechten Alltagsverhaltens, beispielsweise: ▬ Sitzen am Arbeitsplatz oder im Auto ▬ verschiedene Sitzmöbel ▬ Entlastungshaltungen ▬ Liegen ▬ Bewegungsübergänge, z. B. Aufstehen aus dem Liegen, Bücken (⊡ Abb. 9.6), Heben und Tragen Weitere Themen sind Arbeitsplatzgestaltung und Hausarbeit sowie Freizeitgestaltung und Sportverhalten.
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
a ⊡ Abb. 9.7 Hüftabduktion gegen Wasserwiderstand
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b ⊡ Abb. 9.6 a Rückengerechtes, b rückenbelastendes Verhalten
In jeder Stunde werden den Teilnehmern 2–3 Übungen (nicht mehr!) als Hausaufgabe mitgegeben. In den folgenden Stunden werden die Übungen und bereits Erlerntes regelmäßig wiederholt. Tipp
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Auch hier gilt, dass möglichst wenige Übungen sicher erlernt und als Eigenübungsprogramm zu Hause vertieft werden.
Kleine Spiele und Partnerübungen lockern das Programm auf, fördern die rückengerechte Reaktion und machen Spaß. Am Abschluss jeder Stunde steht eine Entspannungseinheit zur Relaxation und zur Förderung der Körperwahrnehmung.
9.2.7
Bewegungsbad
Das Bewegungsbad ist eine krankengymnastische Behandlung im Wasser unter Nutzung des Auftriebs, des Reibungswiderstands und der Wärme. Die Invasion bewirkt einen mechanischen Auftrieb mit Schwerelosigkeit des Körpers (1/10 des
Körpergewichts). Dadurch werden die Gelenke entlastet und die Muskulatur von der Haltearbeit gegen die Schwerkraft befreit. Sich fast schwerelos zu bewegen, verleiht dem Patienten ein positives Bewegungserlebnis, und es kommt zu einer deutlichen Schmerzreduktion. So ist bei Gehübungen im Bewegungsbad Vollbelastung möglich, auch wenn der Patient nur mit 15 kg teilbelasten darf. Bewegungen werden leichter oder bei inkompletten Paresen überhaupt erst möglich. Die Wärme des Wassers wirkt ebenfalls analgesierend. Durch die Wärme wird die Berührungs- und Drucksensibilität der Haut aktiviert und die Bewegungsaktivität angeregt. Die Viskosität des Wassers setzt schnellen Bewegungen einen hohen Widerstand entgegen, langsame Bewegungen fallen leichter. Der Reibungswiderstand lässt sich somit zur Kräftigung nutzen (⊡ Abb. 9.7). ! Cave Durch den einwirkenden hydrostatischen Druck wird aus dem Becken-, Bein- und Bauchraum ein Blutvolumen von ca. 700 ml mobilisiert, was bei dekompensierter Herzinsuffizienz oder pulmonaler Insuffizienz problematisch ist. Das Bewegungsbad ist bei kardialer und respiratorischer Insuffizienz somit kontraindiziert.
Bei einer Wassertemperatur von 29–32°C werden Bewegungsübungen ausgeführt. Patienten mit degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparats oder rheumatischen Erkrankungen wünschen oft höhere Temperaturen. In jedem Fall sind die Patienten nach Verlassen des Bades hinsichtlich orthostatischer Probleme zu beobachten. Der Patient steht in der Nähe des Beckenrands und hat Kontakt mit dem Boden sowie dem Beckenrand. Zudem hält er sich evtl. an einer Stange fest. Im Rahmen einer Gruppentherapie kann der mobile Patient gezielte Bewegungsübungen bei erkrankten Gelenken durchführen oder den ganzen Körper durchbewegen. Ein Brett oder Paddel vergrößert die Handfläche, erhöht den Reibungswiderstand und kann zur Kräftigung der oberen Extremität zum Einsatz kommen.
111 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
Je nach Indikation und Befinden des Patienten hält sich der Physiotherapeut außerhalb des Beckens auf, gibt Anweisungen und zeigt die gewünschten Übungen. Bei sehr ängstlichen oder schwer kranken Patienten geht der Physiotherapeut mit ins Wasser und kann so direkt assistieren bzw. unterstützen. In diesen Fall handelt es sich in der Regel um Einzelanwendungen. Das Bewegungsbad ist indiziert bei: ▬ sämtlichen Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparats ▬ degenerativen Erkrankungen ▬ sämtlichen Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises im nicht entzündlichen Schub, bei denen eine Aktivierung der Muskeln und Gelenke unter Entlastung erwünscht ist In der Traumatologie und Orthopädie ist das Bewegungsbad indiziert, sobald postoperativ, z. B. nach Endoprothetik oder Osteosynthese, übungsstabile Verhältnisse gegeben sind und Wund- bzw. Narbenverhältnisse eine Wasseranwendung zulassen. Das Anwendungsspektrum erstreckt sich weiterhin über neurologische Erkrankungen sowie psychische und psychosomatische Störungen bis zu internistischen Krankheitsbildern. So kann das Bewegungsbad z. B. bei Diabetes mellitus eine Anregung des Stoffwechsels bewirken.
9.2.8
Manuelle Medizin
Die manuelle Medizin befasst sich mit sämtlichen reversiblen Funktionsstörungen an den Stütz- und Bewegungsorganen. Durch spezielle Handgrifftechniken können funktionelle Veränderungen bzw. die Auswirkungen auf das restliche lokomotorische System therapiert werden. Auf Basis der heutigen Technik der manuellen Medizin entwickelten sich in den USA verschiedene Schulen und Behandlungsrichtungen. Zum Beispiel entstanden um 1895 fast zeitgleich Schulen für Osteopathen und für Chiropraktiker. Die manuelle Medizin wird in diagnostische und therapeutische Verfahren unterteilt. Dabei sind alle segmental zugehörigen Strukturen wie Muskulatur, Bindegewebe und Blutgefäße zu bedenken sowie die nervalen reflektorischen Wechselwirkungen zu berücksichtigen. So können Funktionsstörungen der Wirbelsäule, z. B. im Sinne einer Blockierung oder Bewegungseinschränkung an peripheren Gelenken, reflektorisch zu segmentalen Muskeloder Hautveränderungen führen. Im Umkehrschluss kann ein geübter Diagnostiker von Störungen segmentaler Strukturen auf zugrunde liegende arthrogene Veränderungen schließen. Der Schlüsselbegriff der manuellen Medizin ist die Blockierung. Es handelt sich dabei um eine Bewegungshemmung, die ohne ersichtliche morphologische Veränderung des Gelenks auftritt. Neben vielen Erklärungsversuchen, die das Geschehen als Subluxation oder Einklemmungsphänomen synovialer Strukturen oder rein reflektorische Veränderung deuten, wird heute ein Mechanismus favorisiert, der das Gelenkspiel (»joint play«) in den Vordergrund stellt. Die anatomische Form der Gelenkpartner und die ligamentären Strukturen bestimmen den passiven Bewegungsumfang
des Gelenks, der größer ist als der von der Muskulatur bestimmte aktive. Somit werden die Gelenke in der Regel nicht in allen anatomisch möglichen Bewegungsrichtungen beansprucht. Unter passiver Gelenkführung ist es im entspannten Zustand jedoch möglich, Gleitbewegungen (Translationen) oder Rotationsbewegungen der Gelenkpartner durchzuführen. Diese minimalen Gleitbewegungen sind Voraussetzungen für die normale Gelenkfunktion. Bei einer Blockierung ist das Gelenk in seinem Spiel eingeschränkt und weist entsprechend auch in der Normalfunktion eine Bewegungshemmung auf. Um diese Bewegungshemmung zu lösen, kann das Gelenk durch geringe Distraktion oder passive Mobilisation in die verschiedenen Richtungen wieder frei werden. Ursachen einer Blockierung können Überlastungen, Fehlbelastungen oder Traumen sein. Ebenso können reflektorische Vorgänge zu Blockierungen führen. Die Blockierung ruft wiederum unter Umständen reflektorische, konsekutive Veränderungen hervor: reflektorische Erhöhung des Muskeltonus oder Induktion viszeraler Störungen über Reflexkreisläufe. Der Patient bemüht sich daraufhin – in der Regel unbewusst –, die lokale Blockierung zu kompensieren, wodurch es zu einer Fehlbelastung anderer Strukturen kommen kann. Durch eine entsprechende Überlastung sind entsprechend weitere Blockierungen möglich. In dieser Kaskade der Funktionsstörungen sind die reflektorischen Vorgänge prägend. Es kann zu hyperalgetischen Zonen und Muskelspasmen kommen. Treten trophische Einflüssen auf das Nervensystem und somit auf die Durchblutung hinzu, führt die gestörte Ernährungssituation zu Schmerzen. Dem Schmerz kommt so eine Schutzfunktion zu: Das betroffene Gelenk oder der Wirbelsäulenabschnitt wird geschont. Zu Schmerzentstehung und -weiterleitung sei auf entsprechende Fachbücher der Neurologie und Anästhesiologie verwiesen. > Um den beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen, bedarf es einer genauen diagnostischen Einordnung und einer sorgfältigen differenzialdiagnostischen Abgrenzung.
Der Diagnostik von Funktionsstörungen dienen: ▬ Anamnese ▬ Inspektion ▬ Palpation (Irritationspunkte, Insertionstendopathien, Dermatome, Kennmuskeln) ▬ klinische Funktionsprüfungen (Bewegungsausmaß, Neutralnullmethode, Muskelfunktionsprüfung, Testung des Endgefühls, Prüfung des Gelenkspiels) Die am Lokalbefund orientierte, gezielte manuelle Therapie kann in Form von 3 verschiedenen Techniken zur Anwendung kommen: ▬ Weichteiltechniken ▬ Mobilisationstechniken (aktiv und passiv) ▬ Manipulationstechniken Der Therapieplan wird grundsätzlich vom Arzt erstellt. Weichteiltechniken und Mobilisationsbehandlungen werden auch von Physiotherapeuten durchgeführt (mit 60 Stunden ist die ma-
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Muskelfehlsteuerung
Trauma
Viszerale Störung im Segment
Blockade (primär meistens in einer Schlüsselregion)
Hypermobilität als Kompensation in anderen Abschnitten der Wirbelsäule
Weitere Blockaden ⊡ Abb. 9.8 Darstellung der Ursachen und Wirkprinzipien von Wirbelsäulenblockierungen. (Nach Flor u. Birbaumer 1993)
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Klinische Dekompensation (z. B. bei Diskusprolaps)
nuelle Therapie in die physiotherapeutische Ausbildung zum Teil integriert, Sonderkurse von 260 Stunden berechtigen zur Abrechnung). ! Cave Manipulationstechniken dürfen nur von Ärzten durchgeführt werden.
Weichteiltechniken Unter Ausnutzung der oberflächlichen, reflektorischen Phänomene und des Kontakts zur tiefer liegenden betroffenen Struktur wird über reflektorische, durchblutungsfördernde und entspannende Ansätze eine Lockerung der Weichteile, z. B. der angespannten oder gereizten muskulotendinösen Bereiche, bewirkt. So kann beispielsweise eine durch die Weichteilgewebe unterhaltene Blockierung gelöst werden. Entsprechend kommen Vorgehensweisen der klassischen Massage zur Anwendung, darunter Streichung, Knetung, Quer- oder Längsfriktionen zur Muskelsehnendehnung und Lösung des verquollenen Bindegewebes (»deep friction«). Die Kontraindikationen entsprechen somit denen der klassischen Massage.
Mobilisationstechniken Bei der Mobilisation wird zwischen aktiven und passiven Maßnahmen unterschieden.
Regressive und reaktive Veränderung
Mobilisation, dosiert gegen die Spannung, nimmt der Bewegungsausschlag kaum merklich zu. So wird der Bewegungsraum allmählich erweitert, ohne dessen schmerzbedingte Grenze zu überschreiten. Die passive Bewegungsrichtung kann unter Beachtung der Schmerzgrenze bis hin zur Einschränkung erfolgen (direktes Vorgehen). Ist die Behandlung in die blockierte Bewegungsrichtung jedoch schmerzhaft, kann man die Mobilisation in die übrigen schmerzfreien Richtungen durchführen (indirektes Vorgehen). Nach jeder Mobilisation sollte das Ausmaß der wiedergewonnenen Beweglichkeit vom Therapeuten überprüft werden. > Grundsätzlich gilt zur passiven Mobilisation: Sie ist immer im schmerzfreien Bereich und aus der Mittelstellung (Neutralnullstellung) auszuführen, nie aus einer Endstellung heraus.
Aktive Mobilisationstechniken Die aktiven Maßnahmen zielen auf neuromuskuläre und reflektorische Wechselwirkungen ab, um über muskuläre Anspannungen, aktive Bewegungen, bestimmte Atemtechniken oder Augenbewegungen und damit einhergehende reflektorische Veränderungen Bewegungshemmungen und Blockierungen zu lösen. Diese Techniken können besonders bei ängstlichen Patienten angewendet werden.
Passive Mobilisationstechniken Bei der passiven Mobilisation wird das betroffene Gelenk in seinem vorhandenen Bewegungsraum wiederholt passiv durch den Therapeuten bewegt. Es kommt zur Mobilisation bis an die Einschränkung oder Blockierung. Die passive Bewegung kann alle Bewegungsrichtungen ausnutzen, die Bewegung muss für das entsprechende Gelenk nicht zwingend physiologisch sein. Seitneigen, Rotation und Traktion kommen zum Einsatz. Mobilisiert wird weich, repetitiv, ohne starken Druck und ausschließlich im schmerzfreien Bereich. Durch eine vorsichtige
Muskelenergietechnik
Aus einer Ausgangsstellung heraus, die nahe der schmerzhaft begrenzten Bewegungseinschränkung liegt, aber noch schmerzfrei eingenommen werden kann, wird der Patient aufgefordert, gegen den Handdruck des Therapeuten einen leichten Widerstand auszuüben. Diese isometrische Muskelanspannung wird für etwa 10 s gehalten und der Patient dann aufgefordert, locker zu lassen und langsam auszuatmen. Nach wenigen Sekunden nutzt der Therapeut die unveränderte Handauflage, um den nun spannungslosen Muskel zu dehnen.
113 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
Augen-Muskel-Technik
Die Bewegung der Augen kann Bewegungen in der Halswirbelsäule und im oberen Thoraxbereich bahnen oder hemmen. Bei der Behandlung wird die Stellung der Augen konkordant zur Anspannung und Entspannung im muskulären Bereich genutzt. Bei einer Rotationseinschränkung nach rechts hemmt der Blick nach links die Bewegung in Rechtsrotation, und beim Blick nach rechts wird die Rechtsrotation gebahnt. Atemtechnik
Auch die Atmung hat einen Einfluss auf Muskelan- und -entspannung: Eine ruhige Ausatmung hat eine hemmende Wirkung auf die Muskulatur. Bei forcierter Ausatmung kommt es zur Muskelanspannung. Auch bei Manipulationstechniken (s. unten) wird der Patient aufgefordert, tief einzuatmen und langsam auszuatmen. Die Manipulation wird dann im Moment der Entspannungsphase durchgeführt.
Manipulationstechniken Bei allen Manipulationstechniken handelt es sich ausschließlich um ärztliche Maßnahmen. Eine klare diagnostische Sicherung der Gelenkblockierung muss unbedingt gegeben sein. Im Rahmen der differenzialdiagnostischen Abgrenzung sind andere Ursachen einer Gelenkblockierung auszuschließen, evtl. ist eine Labordiagnostik notwendig. Eine Nativröntgenaufnahme – nicht älter als 6 Monate – ist unabdingbar. In jedem Fall sind die Kontraindikationen zu beachten. Eine Behandlung ist nicht durchführbar bei: ▬ Arthritiden ▬ Neoplasien ▬ Instabilitäten ▬ Osteoporose und Osteomalazie mit Spontanverformung ▬ Bandscheibenvorfällen mit fortschreitenden neurologischen Ausfällen ▬ Sudeck-Syndrom ▬ knöchernen Destruktionen Relative Kontraindikationen bestehen bei Osteoporose ohne Spontanverformungen, Hypermobilität und Bandscheibenvorfällen ohne neurologische Ausfälle. Angesichts beschriebener Komplikationen und Zwischenfälle, die besonders Halswirbelsäulenbehandlungen betrifft, ist neben der richtigen Indikationsstellung die korrekte Vorgehensweise bedeutsam. Für einen gezielten manuellen Impuls ist eine Vorgehensweise in 5 Schritten obligat: 1. Korrekte Lagerung: Sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie ist eine schmerzfreie, sichere und möglichst muskulär entspannte Position des Patienten erforderlich. 2. Tiefenkontakt: Ein gezielter manueller Impuls zur Deblockierung eines Gelenks kann nur dann gegeben werden, wenn ein guter, punktueller Kontakt zu den tiefen, zu behandelnden Strukturen herstellbar ist. Vorgelagerte Weichteilmassen müssen entsprechend verlagert oder in die Grifftechnik einbezogen werden. 3. Vorspannung: Durch die Lagerung des Patienten und die Einstellung des zu behandelnden Segments ist eine
bestimmte Einstellung der gesamten Gliederkette erforderlich, welche die Position der zu behandelnden Struktur sichert. Außerdem wird durch die Handanlage des Therapeuten eine Spannung in diejenige Richtung aufgebaut, in die der Impuls wirken soll. Durch die Kombination von korrekter Lagerung, Tiefenkontakt und Vorspannung werden die Voraussetzungen geschaffen, um in dem betroffenen Gelenk mit minimalem Kraftaufwand eine Bewegung zu erreichen. 4. Mobilisierender Probezug: Besonders an der Wirbelsäule ist es wichtig, sich zu vergewissern, dass die geplante Mobilisation in die beabsichtige Bewegungsrichtung möglich ist. Der Probezug beschreibt eine langsam zunehmende Krafteinwirkung in Richtung des geplanten Impulses. Gleichzeitig wird auf diese Weise geprüft, ob der geplante Mobilisationsansatz bzw. die geplante Mobilisationsrichtung vom Patienten toleriert wird. 5. Gezielter manueller Impuls: Mit minimaler Kraft wird über kurze Zeit und einen kurzen Weg auf das betroffene Gelenk eingewirkt. Die Bewegung wird nicht ausschließlich mit den Fingern oder der Hand, sondern durch eine Minimalbewegung im Bereich des Oberkörpers des Therapeuten ausgelöst. Es bestünde sonst die Gefahr, dass bei Ausüben der Kraft mit der Hand oder den Fingern eine zu große und unkontrollierte Krafteinwirkung mit einem zu langen Weg eintritt, ein »Durchreißen der Bewegung«. Um dies zu verhindern, verriegelt der Therapeut die Bewegungskette des Oberkörpers mit der sog. Pektoralispresse, d. h. der Therapeut neigt sich mit seinem Becken nach hinten und stellt mit seinem Oberkörper eine starre Position ein. Der manuelle Impuls erfolgt am günstigsten in der zweiten Hälfte der Ausatmungsphase des Patienten. Auch die bereits erwähnten Techniken der Muskelrelaxation können hierbei mitgenutzt werden. Der gezielte manuelle Impuls benötigt nur einen geringen Kraftaufwand (etwa 10% der Kraft des Probezugs). Beispiele der Manipulation werden hier im Einzelnen nicht beschrieben, da das Lernen von Manipulationstechniken nur unter Anleitung mit entsprechender Kontrolle der Positionierung des Patienten und der Handauflage erfolgen sollte.
9.2.9
Orthopädische Medizin nach Cyriax
Bei der orthopädischen Medizin nach Cyriax handelt es sich um ein durch den englischen Orthopäden James Cyriax (1904– 1985) entwickeltes System der manuellen Therapie zur Diagnostik und Therapie speziell von Weichteilläsionen. Durch eine standardisierte, exakte Untersuchung können Strukturschäden der Bewegungsorgane einwandfrei erfasst werden. Dies erfolgt durch die Abgrenzung der betroffenen Strukturen von allen anderen, die das gleiche Beschwerdebild verursachen könnten. An die Befunderhebung schließt sich die lokalisationsbezogene Therapie im Gebiet der Schädigung an. Indikationen sind degenerative, postentzündliche und posttraumatische Schäden des Bewegungsapparats, insbesondere
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Insertionstendopathien der Schulter, das Supraspinatussyndrom, Epikondylopathien, Patellaspitzensyndrome, Tendovaginitiden und Muskeltraumata sowie sämtliche posttraumatischen Weichteilläsionen in der Sportmedizin. Zur Untersuchung gehört auch hier zunächst die Inspektion: Die Haltung wird in Ruhe und Bewegung beurteilt, dabei lassen sich die schmerzauslösenden Bewegungen erfassen. Bei der Funktionsprüfung werden in 4 Untersuchungsabschnitten der Schmerz, die Bewegungseinschränkung und der Kraftverlust ermittelt. Bei der Prüfung der aktiven Bewegung lassen sich neben dem Bewegungsumfang auch die allgemeine Bewegungsbereitschaft sowie die Koordination beurteilen. Bei der passiven Bewegung können der Schmerz und das sog. Endgefühl bei endgradiger Bewegung geprüft werden. Bei der Untersuchung der isometrischen Kontraktion gegen Widerstand kann man neben der Kraft auch die subjektive Schmerzhaftigkeit beurteilen. Durch Zusatztests lässt sich die Funktionsprüfung weiter konkretisieren. Besteht beispielsweise der Verdacht auf eine Schädigung der langen Bizepssehne, erfolgt ein isometrischer Widerstand aus der Dehnstellung heraus, der eine verstärkte Belastung der Sehne bedeutet.
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> Schmerz kann auch an anderen Lokalisationen entstehen, die sich nicht inspizieren oder palpieren lassen, z. B. als fortgeleiteter Schmerz bei Erkrankungen innerer Organe entsprechend dem Dermatom.
Möglich sind auch sog. Schutzschmerzen durch eine Schonhaltung. Die Palpation bestätigt das Ergebnis der Funktionsuntersuchung. Dabei werden die bei der Funktionsprüfung schmerzhaften Strukturen erneut ertastet. Um Verspannungen zu vermeiden, wird das Schmerzgebiet immer zuletzt palpiert. Nach exakter Ermittlung der für die Bewegungsstörung verantwortlichen Weichteilstrukturen erfolgt die lokalisationsbezogene Therapie direkt am Ort der Schädigung. Tiefe Querfriktionen (»deep friction«; ⊡ Abb. 9.9) sind hier die Hauptaufgabe des Physiotherapeuten. Dabei handelt es sich um eine Massageform, die mit Fingern oder Daumen quer zur betroffenen Struktur, also an Sehnen, Muskeln oder Bändern, ausgeführt wird. Reiben auf der Haut sollte dabei vermieden werden. Der Wirkmechanismus ist noch unklar. Denkbar ist eine Adhäsiolyse verklebter Bindegewebestrukturen oder eine lokale Ausschüttung von Gewebehormonen. Ergänzend kann bei einzelnen Krankheitsbildern durch den behandelnden Arzt eine peridurale Infiltrationstherapie durchgeführt werden. Cyriax propagierte z. B. peridurale Infiltrationen von Lokalanästhetika durch den Hiatus sacralis bei radikulären Beschwerden im Lumbalbereich. Eine Manipulationsbehandlung nach Cyriax hat sich im deutschsprachigen Raum nicht durchgesetzt und wird daher nicht weiter erwähnt. Bei Störungen der Gelenkkapsel kommt es zu einem typischen Muster von Bewegungseinschränkungen, die in einem festen Verhältnis zueinander stehen, dem sog. Kapselmuster, z. B. am Schultergelenk: Außenrotation < Abduktion < Innenrotation, d. h. Außenrotation stärker eingeschränkt als Abduk-
⊡ Abb. 9.9 Querfriktionen an der Schulter
tion, welche stärker eingeschränkt ist als die Innenrotation. Das Kapselmuster tritt in Gelenken auf, die durch Muskelführung stabilisiert werden, wie Hüft-, Knie- und Schultergelenk. Gelenke, die ausschließlich durch Kapsel und Bänder gesichert werden, wie das Akromioklavikular- oder das Iliosakralgelenk, zeigen kein Kapselmuster. Den Kapselmustern liegt eine Kapselreizung zugrunde, z. B. bei Arthritis und Arthrose.
Behandlungsbeispiel eines Supraspinatussyndroms Typischer Befund bei der Untersuchung ist der sog. schmerzhafte Bogen (»painful arc«) durch Kompression von oberflächlichen Anteilen des M. supraspinatus im subakromialen Raum. Bei Abduktion des Armes zwischen 60° und 120° treten heftige Schmerzen auf, die bei weiterer Abduktion wieder rückläufig sind. Elevation, Innenrotation und Außenrotation können endgradig schmerzhaft eingeschränkt sein. Bewegungen gegen Widerstand in Abduktion und Außenrotation sind ggf. ebenfalls schmerzhaft. Bei der Palpation kommt es zur Druckschmerzhaftigkeit des Supraspinatussehnenansatzes am Tuberculum majus (⊡ Abb. 9.9). Der Patient ist zur Durchführung der Therapie im Sitzen gelagert. Es besteht eine Entspannung der oberen Extremität durch eine Rückenlehne und die Übernahme des Armes durch den Therapeuten. Bei den tiefen Querfriktionen befindet sich der Arm des Patienten in Innenrotation und Retroversion. Der Zeigefinger des Therapeuten wird – verstärkt durch den Mittelfinger – quer zum Sehnenverlauf des M. supraspinatus aufgelegt und in einer bogenförmigen Bewegung über eine Strecke von ca. 2 cm mit Druck auf der Sehne bewegt. Die Bewegung zurück zum Ausgangspunkt erfolgt druckfrei unter Beibehaltung des Hautkontakts. Die Querfriktionen erfolgen mit konstantem Druck über ca. 15 min. Dabei darf die Behandlung unangenehm, sollte jedoch nicht schmerzhaft sein.
115 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
9.2.10
Brunkow-Stemmführung
Bei der Stemmführung nach Brunkow handelt es sich um eine von der Krankengymnastin Roswitha Brunkow in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Methode zur Aktivierung bestimmter Muskelketten mittels isometrischer Muskelspannung. Besondere Anwendung findet die Technik in der Neurologie und Orthopädie. Eigene Erfahrungen der Begründerin als Rollstuhlpatientin nach einem Unfall flossen in die Behandlungsmethode mit ein. Das Prinzip der Therapie besteht in der Erarbeitung einer Ganzkörpergrundspannung: Die Extremitäten werden in einer bestimmten Haltung eingestellt. Bei maximaler Dorsalextension der Hände und Füße erfolgt ein schubartiges Einstemmen auf Handwurzel bzw. Ferse. Agonisten und Antagonisten spannen dabei gleich stark an; diese Ko-Kontraktion stabilisiert die Gelenke. Die Erarbeitung der Hand- bzw. Fußposition ist dabei entscheidend, sie ist praktisch die Grundlage der Methode. Die Muskelspannung aus den Extremitäten wird innen fortgeleitet und bewirkt eine Aufrichtung in isometrischer Ganzkörperspannung. Als Steigerung führt der Patient mit den eingestemmten Extremitäten aus verschiedenen Ausgangsstellungen kleine zusätzliche Bewegungen aus. Insgesamt kommt es zu einer Tonusregulation der gesamten Körpermuskulatur zugunsten der Aufrichtungsmuskulatur, welche noch über die Behandlung hinaus anhält. Therapieziel ist demnach auch die Umbahnung von fehlerhaften Körperhaltungen, Bewegungsmustern und Automatismen. Hauptindikationen bestehen zur Kräftigung und Tonusregulation bei degenerativen und operierten Wirbelsäulenerkrankungen sowie zur Kräftigung von Extremitäten bei belastungsstabilen Frakturen. Anwendungen ergeben sich weiterhin im
Sinne der Haltungsschulung bei Haltungsinsuffizienz oder als Prophylaxe (via Rückenschule). Bei Durchblutungsstörungen bewirkt die Methode eine Förderung der arteriellen Durchblutung und des venösen Rückstroms. Stemmübungen können in Rücken- und Bauchlage sowie sitzend, stehend und im Vierfüßlerstand durchgeführt werden. Als Beispiel sei die Ausgangsstellung »Rückenlage« mit dem entsprechenden Übungsaufbau beschrieben (⊡ Abb. 9.10): In Rückenlage sind die Beine zunächst ausgestreckt, der Kopf befindet sich in Mittelstellung, die Arme liegen leicht flektiert neben dem Körper, die Handflächen zeigen zum Boden, die Beine sind hüftbreit auseinander aufgestellt. Der Patient wird aufgefordert, die Füße zunächst maximal nach plantar zu flektieren, um sie dann in Dorsalextension einzustellen. Die Zehen bleiben in Mittelstellung, und der Patient wird gebeten, einen Schub auf die Fersen zu geben. Knie- und Hüftgelenke stellen sich unwillkürlich in Flexionsstellung ein. Dabei ist auf die Beinstellung zu achten und eine Valgusstellung zu vermeiden. Wenn die Beinposition sicher erarbeitet ist, erfolgt die Einstemmung der Arme über Schub auf die Handwurzeln. Zur Anforderungserhöhung kann der Patient aufgefordert werden, die Arme nach kranial-ventral zu schieben, ohne die Grundspannung zu verlassen, oder eines oder beide Beine in Richtung Decke zu bewegen. Beim Anheben des Kopfes unter Beibehaltung der Grundspannung sollte der Patient das Pressen oder Luftanhalten vermeiden und an das Weiteratmen erinnert werden. In Bauchlage liegen Handflächen und Stirn des Patienten auf der Unterlage, die Beine liegen etwas weiter als hüftbreit auseinander. Die Arme befinden sich in der sog. U-Halte (⊡ Abb. 9.11). Der Patient wird aufgefordert, die Fäuste oder die geöffneten Hände in die Unterlage zu drücken. Die Arme können
⊡ Abb. 9.10 Stemmübung nach Brunkow zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur, Grundspannung in Rückenlage
⊡ Abb. 9.11 Stemmübung nach Brunkow zur Kräftigung der Rumpfmuskulatur, Grundspannung in Bauchlage mit Gerät
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
dabei nach kranial und wieder zurück bewegt werden. Hierbei erarbeitet der Patient durch Aufrichtung der Brustwirbelsäule und Streckung der Halswirbelsäule neben einer allgemeinen Rumpfkräftigung besonders eine physiologische Schulter- und Nackenhaltung. Durch Befragen und Beobachten des Patienten ist die »Dosis« individuell festzulegen. Durch manuelle Hilfen des Physiotherapeuten und spezielle Grifftechniken werden Rezeptoren von Oberflächen- und Tiefensensibilität stimuliert. Mithilfe von Hautwischen, tiefem Streichen sowie manueller Hand- und Fußentfaltung lassen sich eine Verbesserung von Hand- und Fußposition sowie, falls erforderlich, ein Spannungsausgleich von Agonisten und Antagonisten erreichen.
9.2.11
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Therapie nach Brügger
Hierbei handelt es sich um ein von dem Schweizer Neurologen und Psychiater Dr. Alois Brügger in den 1950er Jahren entwickeltes Therapiekonzept zur Behandlung von Funktionsstörungen des Bewegungssystems. Nach Brügger gehen die meisten Erkrankungen des Bewegungsystems primär nicht auf strukturelle Schädigungen zurück, sondern werden durch vom Zentralnervensystem gesteuerte Schutzmechanismen ausgelöst. Kommt es z. B. zur Fehlbelastung eines Gelenks, beeinflussen die Schutzmechanismen die Funktion des Bewegungsystems. Zunächst entsteht eine Funktionskrankheit, die sich nach Beseitigung der Störung wieder zurückbildet. Bleibt die Störung dagegen bestehen, resultieren bleibende Veränderungen der Gewebestruktur. Strukturveränderungen durch chronische Fehlbelastungen lassen sich umgehen, indem das muskuloskelettale System optimal eingesetzt, d. h. eine physiologische Körperhaltung eingenommen wird. Die aufrechte Körperhaltung ist nach Brügger
a
b
durch eine ausgewogene thorakolumbale Lordose gekennzeichnet. Durch eine Extension der Halswirbelsäule sowie Thoraxanhebung und Beckenkippung wird die aufrechte Körperhaltung eingenommen. Die 3 Zahnräder in ⊡ Abb. 9.12c stellen diese Primärbewegung dar. Die Stellung der Extremitäten ergibt sich reaktiv durch die weiterlaufenden Bewegungen. So stehen die Knie beim aufrechten Sitz automatisch hüftbreit auseinander, die Füße sind tendenziell außenrotiert (⊡ Abb. 9.12b). Auch die Schultern befinden sich durch die Wirbelsäulenaufrichtung in Mittelstellung. Nur auf dieser Basis kann sich ein optimales neurophysiologisches Bewegungsmuster entwickeln. So arbeitet die Muskulatur funktionell synergistisch (zum Vergleich sternosymphysale Belastungshaltung in ⊡ Abb. 9.12a). Abweichungen der aufrechten Körperhaltung führen stets zur Fehlbeanspruchung der muskuloskelettalen Strukturen. Somit stellt die Korrektur der Haltung neben einer konkreten Therapie auch eine Prävention dar, um einen Rückfall in die Fehlbelastung durch eine unphysiologische Körperhaltung zu vermeiden. Bei der Fehlhaltung, der »krummen Haltung«, ist das Becken aufgerichtet, der Thorax gesenkt, die Lenden- und Brustwirbelsäule kyphosiert mit kompensatorischer Lordose der Halswirbelsäule und Reklinationsstellung der Kopfgelenke (⊡ Abb. 9.12b). Als weiterlaufende Bewegung kommt es zu protrahierten Schultern; die Hüften stellen sich in Adduktion und Innenrotation ein, die Füße in Supination und Plantarflexion. Diese sternosymphysale Belastungshaltung verursacht eine Biegespannung der Wirbelsäule, erzeugt Scherkräfte auf die sternokostalen Gelenke und die Akromioklavikulargelenke und engt Brust und Bauch ein – Atmung und Motilität des Magen-Darm-Traktes werden beeinträchtigt. Weiterhin wird das muskuloskelettale System durch den nozizeptiven somatomotorischen Blockierungseffekt beeinflusst, d. h. durch die chronische Fehlhaltung reagiert der Organismus mit reflektori-
c
⊡ Abb. 9.12a–c Körperhaltung. a Sternosymphysale Belastungshaltung, b aufrechte Körperhaltung, c Zahnradmodell der physiologischen Wirbelsäulenfunktion
117 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
schen Tonusänderungen: Muskeln, die durch ihre Kontraktion das gereizte Gelenk entlasten, werden hyperton-tendomyotisch, und Muskeln, die durch ihre Kontraktion den Reizherd belasten, werden hypoton-tendomyotisch und adynam. Indikationen dieses Behandlungskonzepts sind sämtliche durch Fehlhaltung ausgelösten Störungen der Bewegungsorgane: allgemeine Lumbalgien, Schulter-Arm-Schmerzen, Nacken- und Kopfschmerzen. Weiterhin lassen sich Beschwerden behandeln, die durch einseitige, monotone Bewegungen ausgelöst werden, z. B. Bildschirm- oder Akkordarbeit. Ziel der Behandlung ist es, die Fehlhaltung zu korrigieren und so die resultierenden nozizeptiven somatomotorischen Blockierungseffekte zu vermeiden. Zur Wiederherstellung des muskulären Gleichgewichts werden zur Lockerung der Muskulatur zunächst für ca. 30 min Wärmepackungen appliziert und die Tonusverhältnisse durch Verbesserung der Kontraktions- und Dekontraktionsfähigkeit reguliert, z. B. mithilfe von Therabandübungen. Aus der aufrechten Körperhaltung heraus wird das Theraband so gewickelt, dass der Hinweg eine schnellere konzentrische Kontraktion und der Rückweg eine langsamere exzentrische Kontraktion beinhaltet. Beispielsweise spannt der Patient die Außenrotatoren an und bremst die rotatorische Bewegung durch langsames Nachlassen ab. Die Haltungskorrektur zieht sich wie ein roter Faden durch die Behandlung. Der Patient erlernt zunächst die oben beschriebene Entlastungshaltung. Aus der Entlastungshaltung werden die Therabandübungen im Sitzen auf einem Hocker oder – als gesteigerte Anforderung – auf dem Pezziball durchgeführt. Die Technik nach Brügger kann mit den Stemmführungen nach Brunkow kombiniert werden, um auch die ventrale Rumpfmuskulatur zu beüben. Krankengymnastische Übungsbehandlungen stellen meistens eine Kombination aus verschiedenen Techniken dar. Weiterhin wird die Haltungsschulung in den Alltag des Patienten integriert – die Integration der aufrechten Haltung in den Alltag ist der wichtigste und schwierigste Aspekt der Behandlung. Alltagssituationen bzw. sich wiederholende Bewegungsabläufe in Beruf und Freizeit werden analysiert, und der Patient wird über Sinn und Auswirkung der Entlastungshaltung informiert, denn Alltagsbewegungen sind die einzigen Übungen, die jeder Mensch ein Leben lang ausführt. Bei sitzenden Berufen sind erleichternde Hilfsmittel (Keil-, Lordose- oder Schlafkissen) zu empfehlen. Auf diese Weise lassen sich die Grundlagen bzw. Übungen nach Brügger auch in Rückenschulprogramme integrieren.
9.2.12
Medizinische Trainingstherapie
Die medizinische Trainingstherapie entspricht weitgehend dem sog. Aufbautraining. In den 1980er Jahren wurde erkannt, dass ein intensives Aufbautraining bei Hochleistungssportlern nach Sportverletzungen zu einer wesentlich schnelleren Wiederherstellung und damit Wettkampffähigkeit führt. Dabei ist zum einen die Intensität des Trainings von Bedeutung: Trainingseinheiten von bis zu 3 h/Tag mindestens 3-mal pro
Woche sind erforderlich. Zum anderen wird die Komplexität berücksichtigt, d. h. nicht nur die verletzte Extremität bzw. das verletzte Körperteil wird trainiert, sondern der ganze Körper unter Berücksichtigung der wesentlichen Elemente der modernen Trainingslehre. Sportartspezifische Trainingsinhalte haben insgesamt den größten Stellenwert. Verletzungsauslösende Momente, z. B. muskuläre Dysbalancen oder sportspezifische externe Faktoren, lassen sich unter Trainingsbedingungen im Sinne der Prävention erkennen und kontrollieren. Dabei ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Ärzten, Physiotherapeuten und Sportlehrern ideal. Die Berufsgenossenschaften entschieden sich zunächst, diese Maßnahme auch für »Nichtsportler« zu übernehmen, da durch die kürzere Krankheitsdauer eine schnellere berufliche Wiedereingliederung möglich ist und durch die niedrigere Invaliditätsrate Kosten eingespart werden können. Bis Ende des Jahres 1993 wurde diese Therapieform unter dem Namen »besonders indizierte Therapie« (BiTh) geführt, fand aber wegen des komplizierten Genehmigungsverfahrens wenig Verbreitung. Im Jahre 1994 wurden die Verordnungsregeln vereinfacht. Unter dem Begriff »erweiterte ambulante Physiotherapie« (EAP) kann die Therapie seither von allen D- oder H-Ärzten verordnet werden. Die Durchführung bleibt Zentren bzw. Praxen überlassen, welche die personellen, apparativen und räumlichen Anforderungen der Berufsgenossenschaften erfüllen. Ziele der medizinischen Trainingstherapie sind: ▬ Wiederherstellung der bestmöglichen muskulären Funktionen, d. h. Kraft, Ausdauer und Koordination ▬ Wiederherstellung der bestmöglichen Funktion der Gelenke sowie der am Gelenkaufbau beteiligten Strukturen wie Sehnen, Bänder und Knorpel ▬ Schmerzfreiheit ▬ Wiedererlernen alltags- und sportspezifischer Übungsmuster ▬ Prävention erneuter Verletzungen Im Sinne der Primärprävention sind Maßnahmen indiziert, die der Entstehung eines Risikoverhaltens vorbeugen bzw. die der Entwicklung von Symptomen entgegenwirken. Die Sekundärprävention zielt auf eine möglichst rasche Erfassung von bereits aufgetretenen Symptomen. Die Tertiärprävention hilft, bereits aufgetretene Krankheiten oder Funktionsstörungen zu verbessern bzw. eine Chronifizierung zu verhindern. Die medizinische Trainingstherapie beginnt nach der Phase der unmittelbar postoperativen krankengymnastischen Behandlung. Im Behandlungsverlauf werden 4 Rehabilitationsphasen durchlaufen: ▬ Phase I – Mobilisation: frühfunktionelle Therapie. Nach der postoperativen/posttraumatischen Inaktivität geht es in dieser Phase um ein Training der allgemeinen Leistungsaktivität. Ausdauer ist die Grundlage für alle weiteren Maßnahmen. Vorrangige Behandlungsziele sind zudem Schmerzbekämpfung sowie Verhinderung verletzungsbedingter Muskelatrophien. Kryotherapie und Lymphdrainage kommen ebenso zur Anwendung wie Muskeldehnung, Ausdauertraining (z. B. auf dem Fahrradergometer), isometrisches Training an Geräten (⊡ Abb. 9.13) und
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Gangschule. Leistungssportler absolvieren täglich eine 60minütige Trainingseinheit. Im Regelfall finden über einen Zeitraum von etwa 1–3 Wochen 2 Trainingseinheiten pro Woche statt. ▬ Phase II – Stabilisationsphase. Hier steht die funktionelle Therapie im Vordergrund. Die in Phase I beschriebenen Ziele werden hinsichtlich Intensität und Dauer ausgebaut. Trainingsmethoden und Inhalte sowie die Trainingsmittel entsprechen denen der Phase I. Die »Dosierung« ändert sich jedoch: Leistungssportler absolvieren täglich 2 Trainingseinheiten, Freizeitsportler trainieren über einen Zeitraum von 1–5 Wochen einmal täglich. ▬ Phase III – hauptsächlich funktionelles Muskelaufbautraining. Insgesamt werden die für die Phase I genannten Ziele bei uneingeschränkter Funktionsfähigkeit weiter ausgebaut, funktionelle Bewegungsmuster gebahnt, Reaktion und Schnelligkeit optimiert sowie sportartspezifische Bewegungsmuster integriert. Der Patient wird auf sportliche Belastungen zudem psychisch vorbereitet. Zu Muskeldehnung, Lauftraining und Ausdauertraining treten intensives und extensives Intervalltraining sowie Komplextraining hinzu. Trainingsmittel sind neben der in den Phasen I und II bereits verwendeten Weichbodenmatte das Minitrampolin, das Schaukelbrett und der Kreisel. Es bleibt bei einer »Dosierung« von 60–90 min pro Trainingseinheit. Leistungssportler nehmen über einen Zeitraum von 2–6 Wochen täglich 2 Trainingseinheiten wahr. ▬ Phase IV – Muskelbelastungstraining. Reaktionsschnelligkeit und Sprungkraft sowie Kraft und Schnelligkeitsausdauer werden mithilfe von isokinetischen Test- und Trainingsmethoden optimiert. Als sportartspezifische Trainingsformen werden Sprints, Steigerungsläufe, Tempowechsel, Läufe und Sprungkraftserien durchgeführt. Ergänzende Trainingsmittel sind das Laufband sowie verschiedene Sportgeräte und Bodenbeläge. Für Leistungssportler erhöht sich die »Trainingsdosis« über 2–6 Wochen auf 2–3 Einheiten pro Tag.
⊡ Abb. 9.13 Training am Biodex-Gerät
Insgesamt ist sowohl die Dauer der einzelnen Trainingsphasen als auch der inhaltliche Aufbau von der Art der Verletzung bzw. dem Operationsverfahren sowie dem postoperativen Heilungsverlauf und der individuellen Kondition bzw. dem Leistungsniveau des Patienten abhängig. Der Trainingserfolg wird regelmäßig überprüft und der Trainingsplan ggf. modifiziert. Zum Trainingsbeginn erfolgt die Eingangsuntersuchung. Nach Abschluss von jeweils 10 Therapieeinheiten werden Zwischenuntersuchungen durchgeführt, außerdem zum Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme die Abschlussuntersuchung. Untersuchungsparameter sind: ▬ klinischer Befund, d. h. Schwellung, Ergussbildung und Schmerzangaben des Patienten ▬ Muskelumfang (in cm) ▬ Beweglichkeitsausmaß (nach der Neutralnullmethode) ▬ Muskelkraft (in Nm sowie Messung mithilfe isokinetischer Testverfahren) Untersuchungsintervalle und -parameter sind von den meisten Kostenträgern vorgeschrieben. Trainingsumfang und Übungsgestaltung sind so zu steigern, dass es zu einem kontinuierlichen Muskelaufbau kommt. ! Cave Eine zu hohe Anfangsbelastung muss vermieden werden, um eine vorzeitige Muskelermüdung zu vermeiden, die evtl. das Erreichen des Therapieziels verhindert.
Als Beispiel für die Reihenfolge der Trainingsinhalte sei das Vorgehen bei Kreuzbandersatzplastik mit Semitendinosus-/Gracilissehne rechts beschrieben (Ende Phase I; Atrophie der gesamten Beinmuskulatur rechts, besonders des M. quadriceps vastus medialis, außerdem Beuge- und Streckdefizit sowie Schwellung und belastungsabhängiger Schmerz des Kniegelenks): ▬ allgemeine Aufwärmphase: Fahrradergometrie (15 min mit mindestens 50 Watt; das rechte Bein tritt nicht mit, sondern wird auf einem Hocker abgestützt) ▬ Differenzialbehandlung: – Lymphdrainage – Muskeldehnung – aktive Dehnung, d. h. Stretching – Funktionsmassage – Querfriktionen der distal und proximal der Verletzung befindlichen Muskelgruppen, auch auf der gesunden Seite – Schnelligkeits- und Koordinationsübungen (stets vor dem Krafttraining durchzuführen, da die Energiereserven durch das Krafttraining ausgeschöpft werden, sodass der Muskel ermüdet und geschwächt und damit verletzungsanfällig wird), z. B. propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation (PNF; Abschn. 9.2.15) ▬ Kräftigung ▬ Ausdauertraining Durch regelmäßiges Training erfolgt eine schnelle Belastungsanpassung. Unregelmäßige Trainingsintervalle, d. h. einmal pro Woche oder weniger, verzögern den Rehabilitationserfolg. Zur optimalen Regeneration zwischen den Trainingseinheiten ist
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eine mindestens 6-stündige Pause einzuhalten. Innerhalb der einzelnen Therapieeinheiten werden Schwerpunkte wie Kraftoder Lauftraining gesetzt. Die Belastungsdosierung ist das entscheidende Kriterium der medizinischen Trainingstherapie. Die Dosierung ist von den oben genannten Kriterien abhängig, aber ganz wesentlich auch vom »Gefühl des Behandlers«. Ziel ist es, einen Mittelweg zwischen Unter- und Überforderung zu finden.
Trainingselement »Kraft« Unterschieden werden statisches und dynamisches Krafttraining. Beim statischen Training bleibt die Länge des Muskels während einer Kontraktion konstant (isometrisch). Die Kontraktion erfolgt gegen einen fixen Widerstand. Vorteile sind die frühzeitige Anwendbarkeit unmittelbar postoperativ und der Einsatz in Phase I als Atrophieprophylaxe, wenn noch keine übungsstabilen Verhältnisse vorliegen. Statisches Training kann gut dosiert und Muskelgruppen können selektiv beansprucht werden. Von Nachteil ist, dass keine koordinativen Elemente einer Bewegung einbezogen sind. Die Trainingsform ist entsprechend unphysiologisch. Es kommt zu keinem Schnellkrafttraining, da nur die phasischen (langsamen) Muskelfasern angesprochen werden. Beim dynamischen Krafttraining resultiert durch Verkürzung oder Verlängerung der kontraktilen Elemente des Muskels eine Längenveränderung der Muskulatur bei konstanter Spannung. Beim Stemmen einer Langhantel in Rückenlage kommt es zu einer konzentrischen Kontraktion des M. triceps brachii. Das Herablassen der Hantel führt im selben Muskel zu exzentrischen Kontraktionen. Die auxotonische Kontraktion stellt die häufigste Trainingsform im Kraftsport dar. Von Vorteil ist das Training komplexer und physiologischer Bewegungsabläufe. Die Belastungsintensität ist dabei variabel. Von Nachteil ist der häufig große apparative Aufwand bei Zuhilfenahme von Trainingsgeräten und Kraftmaschinen. Zudem besteht Verletzungsgefahr bei unsachgemäßer Anwendung von Trainingsgeräten. Die Isokinetik ist eine Sonderform des dynamischen Trainings. Die einzige Vorgabe ist eine Winkelgeschwindigkeit. Der Widerstand wird vom Patienten selbst erzeugt und über den Dynamometer bespiegelt. Der Patient erhält also genau denjenigen Widerstand, den er selbst am Gerät erzeugt. Isokinetik kann sowohl als Trainingsmittel als auch als Testsystem zum Einsatz kommen. Gemessen werden Bewegungsbereich, Leistung, Beschleunigung und Drehmoment. Als Trainingsmittel kann man ein »dynamisches Ramping« als Sondermodus wählen. Hierbei passt sich die Winkelgeschwindigkeit an die (Anfangs-)Geschwindigkeit des Patienten an. Diese Geschwindigkeit ist etwas niedriger als die Anfangsgeschwindigkeit und dient als eine Art Führungswiderstand. Dadurch wird eine schonende Adaptation an die jeweilige Trainingsgeschwindigkeit gewährleistet. Isokinetische Geräte sind in der Anschaffung sehr teuer und daher wenig verbreitet.
Trainingselement »Ausdauer« Die Widerstandsgröße gegenüber Ermüdung stellt die Ausdauer dar. Unterschieden werden lokale und allgemeine Ausdauer sowie aerob, anaerob-laktazid und anaerob-alaktazid erbrach-
te Leistungen. Das Kreatinphosphatsystem (Kreatinphospat + ADP → Kreatinin + ATP) arbeitet anaerob-alaktazid und stellt das Energiesystem für kurzzeitige Höchstbelastungen dar. Die anaerobe Glykolyse (Glykogen → Glukose → ATP + Laktat) setzt ca. 30 s nach der Kreatinphosphatspaltung ein und ist durch die Menge des anfallenden Laktats begrenzt. Aus diesem Grund beginnt nach etwa einer Minute die aerobe Glykolyse: Glukose + Sauerstoff + ADP → ATP (36 Mol ATP pro Mol Glukose) + Kohlensäure + Wasser. Beim Trainingsaufbau müssen die verschiedenen Energiebereitstellungsformen berücksichtigt werden. Lässt sich der Energiebedarf durch die aerobe Energiebereitstellung nicht decken, entsteht im Stoffwechsel Laktat. Durch die Laktatbelastung kommt es zu Schmerzen, einer Verringerung des Koordinationsvermögens und einer Erhöhung der Verletzungsgefahr. Insgesamt kann die Leistung nicht mehr auf dem anfänglichen Niveau gehalten werden. Die Laktatkonzentration sollte bei 3–4 mmol/l liegen, d. h. im Bereich der aeroben Belastungsfähigkeit. Die Herzfrequenz verhält sich proportional zum Laktatspiegelanstieg. So kann die submaximale Herzfrequenz als Maß für die Belastungsgröße herangezogen werden: 200 minus Lebensalter (Pulsbandlaufen). Sehr viel genauer ist die direkte Laktatspiegelmessung im Kapillarblut, die bei Hochleistungssportlern eine sinnvolle Ergänzung darstellt.
9.2.13
Bobath-Therapie
Die Bobath-Therapie wurde für Patienten mit Läsionen des ersten motorischen Neurons entwickelt, d. h. für jene mit Erkrankungen des Zentralnervensystems, die mit Bewegungsstörungen, Lähmungserscheinungen und einer Spastik einhergehen, z. B. durch Hemiplegie oder Rückenmarkverletzungen. Außerdem ist die Bobath-Therapie für Kinder mit infantiler Zerebralparese geeignet. Berta Bobath (1907–1991) hatte gegen Ende der 1930er Jahre als Physiotherapeutin bei der Behandlung schwer spastischer Patienten erkannt, dass sich die Spastik durch verschiedene Bewegungen und Positionen (Lagerungen) beeinflussen lässt. Ihr Mann, der Neurologe Karl Bobath, erarbeitete die neurophysiologischen Grundlagen und entwickelte gemeinsam mit seiner Frau nach systemischen Beobachtungen und Erprobung weiterer Behandlungstechniken das empirische Behandlungskonzept. > Das Ehepaar Bobath bezeichnete die von ihnen entwickelte Arbeitsphase ausdrücklich als Konzept und nicht als Methode. Das Konzept beinhaltet demnach keine vorgeschriebenen Techniken, Methoden oder Übungen, die stets in gleicher Weise anzuwenden sind, sondern es berücksichtigt die individuellen Möglichkeiten und Grenzen eines Patienten und bezieht diese in Pflege und Therapie mit ein.
Zum Erscheinungsbild zentraler Bewegungsstörungen gehört ein abnormer Haltetonus (erniedrigt, erhöht oder fluktuierend, sodass keine koordinative Bewegung möglich ist). Weiterhin ist die reziproke Innervation gestört, d. h. Agonist und
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Antagonist hemmen oder kontrahieren gleichzeitig, sodass es zu unangepassten Bewegungen oder sogar zur Bewegungsunfähigkeit kommt. Durch pathologische Bewegungsmuster wie den tonischen Labyrinthreflex, den asymmetrischen tonischen Labyrinthreflex, assoziierte Reaktionen und überschießende Schutzreaktionen ist die Willkürmotorik erheblich eingeschränkt. Bei der Therapie im Rahmen des Bobath-Konzepts gehen 3 Behandlungstechniken entsprechend der Pathologie und dem Behandlungsschwerpunkt ineinander über: ▬ Inhibition: Tonus und pathologische Bewegungsmuster werden gehemmt, um eine bessere Ausgangssituation für aktive Bewegungsabläufe zu schaffen. ▬ Fazilitation: Physiologische Bewegungsmuster werden gebahnt. ▬ Stimulation: Eine Bewegung wird durch verschiedenste Maßnahmen und Techniken, die unmittelbar die Nahsinne beanspruchen, vorbereitet und eingeleitet. Das Zusammenspiel der 3 Wahrnehmungssysteme (taktiles System über Berührung der Haut, propriozeptives System über propriozeptive Reize wie Druck und Zug und vestibuläres System mit Bewegung und Beschleunigung sowie Drehbewegung) ermöglichen dem Patienten die Entwicklung eines Körperschemas. Dabei wird die aktivierende (faszilierende) Stimulation von der hemmenden (inhibierenden) unterschieden. Hemmung und Bahnung werden durch die Einnahme hemmend wirkender Ausgangsstellungen erreicht, in denen man die physiologischen Bewegungsmuster an bestimmten Körperabschnitten, den sog. Schlüsselpunkten, manuell einleitet. Zu Beginn der Physiotherapie werden in der Regel die proximalen, also am Rumpf befindlichen Schlüsselpunkte wie Sternum, Schulter oder Becken genutzt, später die distalen, an den Extremitäten gelegenen wie Daumen oder Großzehe. Je proximaler ein Schlüsselpunkt liegt, desto stärker ist seine hemmende Wirkung und desto stärker führt er die eingeleiteten Bewegungen. Im Folgenden sei die Therapie bei einer Hemiplegie (Typ Wernicke-Mann) mit Beugespastik der oberen Extremitäten und Streckspastik des Beines beschrieben. Das Erscheinungsbild der Hemiplegie verläuft in 3 Stadien, die zeitlich individuell verschieden auftreten: ▬ Im Stadium I kommt es zunächst zu einer schlaffen Lähmung, also zu einer starken Tonusminderung. ▬ Im Stadium II tritt eine Tonussteigerung mit dem der Spastik auf. ▬ Das Stadium III bezeichnet die relative Wiederherstellung. Entsprechend dem Stadium der Hemiplegie werden unterschiedliche Behandlungsschwerpunkte verfolgt. Der Behandlungsbeginn erfolgt sofort nach Eintritt der Hemiparese. In der Frühphase (Stadium I) besteht das Hauptbehandlungsziel in der Vermeidung spastikfördernder Stellungen sowie in der Durchführung von Ausweich- bzw. Kompensationsübungen bei Lagerung und Positionswechseln. Erreicht wird dieses Ziel durch konsequentes Miteinbeziehen der betroffenen Seite, Ansprechen und Agieren mit dem Patienten von seiner betroffe-
nen Seite her, Raumgestaltung und Lagerungstechniken ( Abschn. 9.2.1, Abschnitt »Passive Techniken«) sowie aktives Miteinbeziehen der betroffenen Seite in alle Bewegungsabläufe. Als erste Autoinhibition erlernt der Patient das Händefalten. In der Spätphase (Stadien II und III) werden sämtliche therapeutischen Ansätze des Stadiums I weiterverfolgt. Zudem wird die fehlende Rumpfrotation geschult und zur Tonussenkung eingesetzt. Die Spastik lässt sich durch Gewichtsübernahme auf die betroffene Seite hemmen. Bewegungen werden, wie beschrieben, von proximal gebahnt, d. h. durch rumpfinduzierte Bewegungen eingeleitet, sodass sich die angesprochene Muskulatur reaktiv kontrahiert. Beispiel: Der Patient beugt sich aus dem Sitz vor und pendelt mit dem Arm im Schultergelenk, bis es zur Ellenbogenextension kommt. Die direkte Innervation der Extremitäten, z. B. aktive Ellenbogenextension, würde zu einer Tonussteigerung und zur Verstärkung des pathologischen Musters führen. Assoziierten Reaktionen, also vermehrte Spastik, und anderen pathologischen Bewegungsmustern kann durch das Vermeiden von Anstrengungen vorgebeugt werden. Erste Anzeichen einer Überforderung sind Muskelfibrillationen sowie Finger- und Zehenkrallen. Es gibt keine stets gleich auszuführenden Übungen für die einzelnen Phasen, vielmehr wird jeweils in Abhängigkeit vom Befund eine defizitäre Funktion erarbeitet, sodass die aus einer gehemmten Stellung heraus erlernten, aktiven, rumpfnahen Bewegungen nicht von einer Spastik überlagert werden können. Mit zunehmender Rückkehr der Funktion und Einsetzen der Spastik werden höhere Positionen wie Sitz und Stand erarbeitet. Der Rumpf ist bei Hemiplegikern instabil, sodass das wichtigste Behandlungsziel in einer guten Rumpfkontrolle besteht, da die Extremitäten die physiologische Verankerung als feste Basis brauchen, um eine physiologische Bewegung auszuführen. Bei Behandlungen sind stets die »activities of daily living« wie An- und Ausziehen in die beschriebenen Transfers einzubeziehen. Ziel ist das selbstständige Durchführen von Tätigkeiten des alltäglichen Lebens. Ein Hilfsmitteleinsatz ist kritisch und je nach Befund abzuwägen. Die Gewöhnung an ein Hilfsmittel (Gehhilfe, Schuhversorgung) erfolgt in der Regel schnell, der Hilfsmittelabbau ist entsprechend schwierig. Ausnahme ist zu Beginn der Rollstuhl.
9.2.14
Vojta-Therapie
Es handelt sich um ein von dem tschechischen Neurologen Václav Vojta (1917–2000) entwickeltes, neurophysiologisch orientiertes Bahnungssystem zur Wiederherstellung physiologischer Bewegungsmuster, die durch angeborene oder erworbene Läsionen des Zentralnervensystems blockiert sind. Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklung der Bewegung im ersten Lebensjahr, die sog. Idealmotorik, im Zentralnervensystem des Menschen fest angelegt ist, lassen sich durch propriozeptive Reize an bestimmten Punkten des Körpers, den sog. Auslösezonen, schon beim Säugling reflektorische Bewegungen hervorrufen. Die auch als Reflexlokomotion bezeichnete Methode wird hauptsächlich zur Prophylaxe und Behandlung kindlicher
121 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
neurologischer Bewegungsstörungen eingesetzt. So lassen sich physiologische Bewegungsabläufe bahnen, bevor diese beispielsweise durch spastische Ersatzmuster verhindert werden. Zerebral und spinal bedingte Bewegungsstörungen wie Tetra-, Hemi-, Mono- und Diplegien lassen sich bei Säuglingen und Kleinkindern gut behandeln, da Bewusstseinszustand und Entwicklungsalter für den Einsatz dieser Therapieform irrelevant sind. In der Erwachsenenneurologie kommt die Therapieform nach Schädel-Hirn-Traumata oder Rückenmarkverletzungen zum Einsatz, weiterhin bei zentralen oder peripheren Nervenläsionen wie multipler Sklerose und dystrophischen Muskelveränderungen. In der Orthopädie ist die Therapie indiziert bei: ▬ Störungen des muskuloskelettalen Systems durch Fehlbildungen wie Spina bifida, Schiefhals, Klumpfuß oder Sichelfuß ▬ sämtlichen Aufrichtungs- und Haltungsstörungen mit grob- und feinmotorischen Defiziten, z. B. infolge von Unfällen, Sportverletzungen, Skoliosen, Hüftdysplasien, Arthrosen oder Bandscheibenläsionen
Auslösezonen Vojta nutzte insbesondere 2 haltungskorrigierende Bahnungssysteme: das »Reflexkriechen« und das »Reflexumdrehen«. In beiden Systemen sind alle notwendigen Bewegungsmuster enthalten: ▬ automatische Körperhaltung ▬ Aufrichtungsmechanismen gegen die Schwerkraft ▬ zielgerichtete, phasische Beweglichkeit unter Einsatz der Halte- und Bewegungsfunktion der Schlüsselgelenke sowie der Schulter- und Hüftgelenke Am Körper werden 20 gleichwertige und kombinierbare Auslösezonen definiert, die man in Haupt- und Nebenzonen einteilt. Die Hauptzonen liegen an den Extremitäten (»Periostreize«), die Nebenzonen befinden sich am Rumpf (»Muskelreize«). Bei Säuglingen bis zur 6. Lebenswoche kann schon die Reizung einer einzelnen Zone das gesamte Reflexmuster auslösen. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist meistens die Reizung mehrerer Zonen als Kombination untereinander sowie über zeitliche und räumliche Summation notwendig. Zusätzlich zur motorischen kommt es über der betroffenen Muskulatur zu einer starken vegetativen Reaktion (Hautrötung, Schweißbildung).
Zentraler Wirkmechanismus Angenommen wird eine »supraspinale Aktivierung« über sensitive Bahnen der spinalen Hinterstränge sowie über spinozerebelläre und spinoretikuläre Bahnen. Die Reihenfolge der Bahnen entspricht der Reihenfolge der Entwicklung vom Vegetativum über die Sensorik zur Motorik. Über die Efferenzen wird eine aktive und oft wiederholbare Kontraktion der Muskulatur in dem physiologischen Haltungsmuster erreicht. Wird dieser Zustand dem Zentralnervensystem wiederholt entsprechend angeboten, steht er der Spontanmotorik eher zur Verfügung. Diese Behandlung ist kein kognitiver Lernprozess, sondern das Abrufen genetisch verankerter Bewegungsabläufe. So ist unbewusst eine Regulation des Muskeltonus möglich: Ein Hypotonus wird aktiviert, ein Hypertonus reduziert.
Auf diese Weise kann man Säuglinge und Kleinkinder wie auch Schwersttraumatisierte, die zu keinen Bewegungen auf Anweisung in der Lage sind, behandeln. Der Einsatz der Methode ist nicht ganz unumstritten. Kritiker sehen eine erhebliche Belastung von Eltern (die in die Therapie mit einbezogen sind, da Muster oft wiederholt werden müssen) und Kindern. Kinder und Säuglinge reagieren auf die Therapie oft mit exzessivem Schreien und Weinen – sie können sich nicht äußern, was die Eltern entsprechend verunsichert.
Durchführung Die Ausführung der Reflexbewegungen erfolgt größtenteils isometrisch: Zunächst wird die Muskulatur durch die Einnahme genau definierter Ausgangsstellungen vorgedehnt, ggf. unter zusätzlichem Dehnreiz durch den Therapeuten. Falls die Ausgangsstellung nicht eingenommen werden kann, muss man den Patienten entsprechend unterlagern. Für die gewünschte Reaktion wird dann die beste Auslösezone aufgesucht. Die beste Zone ist gefunden, wenn die Reflexbewegung optimal auslösbar ist. Die einzelnen Gelenkbewegungen, aus denen sich die Reflexbewegung zusammensetzt, werden als Zugrichtung beschrieben. Die durch die propriozeptiven Reize ausgelösten Reflexbewegungen münden in definierten Endstellungen.
Beispiel: Reflexkriechen Der Patient befindet sich in Bauchlage, der Kopf ist um 30° gedreht. Der gesichtsseitige Arm liegt über dem Kopf, die Hand wird um ein Holz gefaustet. Das gesichtsseitige Bein ist leicht flektiert und außenrotiert. Der Hinterhauptsarm liegt mit geöffneter Hand innenrotiert neben dem Kopf, das Hinterhauptsbein ist ebenfalls leicht flektiert außenrotiert. Auslösezonen an der Gesichtsseite sind Ellenbogen, Skapula, Becken und Knie und jene an der Hinterhauptsseite Akromion, Thorax, M. glutaeus medius und Ferse. Der Kopf »zieht« in die Verlängerung der Wirbelsäule. Auf der Gesichtsseite wird die Ellenbogenflexion mit Pronation, Innenrotation der Schulter, Skapuladepression an die Wirbelsäule, Hüftflexion und -außenrotation, Knieflexion sowie Dorsalextension und Pronation des Fußes provoziert. An der Hinterhauptsseite kommt es zu Ellenbogenflexion mit Supination, Außenrotation der Schulter, Hüftflexion und -außenrotation, Knieextension sowie Dorsalextension und Pronation des Fußes. Beim Wechsel der Auslösezonen von der Gesichtszur Hinterhauptsseite erfolgen reziproke Bewegungen, ähnlich einer Fortbewegung. Beim Erwachsenen wird die Bewegung durch Setzen von Widerständen in isometrische Kontraktionen umgewandelt. Auf das Reflexumdrehen soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Die Auslösezonen sind entsprechend andere, das Behandlungskonzept entspricht dem beschriebenen.
Wichtig ist ein frühzeitiger Beginn der Therapie bei angeborenen Läsionen, möglichst vor dem 12. Lebensmonat. Die Übungsprogramme müssen möglichst regelmäßig unter Anleitung und von den Eltern in Eigenregie durchgeführt werden.
9
122
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Säuglinge üben 3- bis 4-mal täglich für 20–30 min, Jugendliche und Erwachsene in der Regel ein- bis 2-mal täglich für eine Stunde. In der Säuglingstherapie sind Motivation und Schulung der Eltern wesentliche Faktoren für den Erfolg dieser Therapieform.
9.2.15
9
Propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation
Die propriozeptive neuromuskuläre Faszilitation (PNF) wurde in den 1950er Jahren in Kalifornien von der Physiotherapeutin Margareta Knott basierend auf neurophysiologischen Arbeiten des Physiologen Dr. Herman Kabat entwickelt. Auslöser zur Entwicklung dieses neuartigen Behandlungskonzepts war eine große Anzahl damals vermehrt aufgetretener Poliomyelitiserkrankungen. Zunächst wurde nach muskelaufbauenden Behandlungsformen gesucht, um schlaffe Lähmungen zu behandeln. Aufgrund der ständigen Weiterentwicklung beschränkt sich die Idee der Anwendung dieser komplexen Bewegungstechnik jedoch schon lange nicht mehr auf das Gebiet der Neurologie. PNF-Behandlungen werden heute auf sämtlichen Gebieten der rehabilitierenden Medizin angewendet. Dies basiert auf folgenden neurophysiologischen Grundlagen: Die Aktivität der Motoneurone unterliegt Einflüssen und Informationen aus dem Bewegungssystem als propriozeptive Reize aus Muskelspindeln, Sehnen und Gelenkrezeptoren. Der physiologische Bewegungsablauf des Menschen erfolgt nicht durch Aktivierung einzelner Muskeln, sondern durch Bewegungsmuster, die in bestimmten, stets wiederkehrenden Kombinationen eingesetzt werden. Die Bewegungsmuster des Körpers verlaufen grundsätzlich in spiral- und diagonalförmiger Richtung. Außerdem finden sämtliche Bewegungen stets 3-dimensional mit einer Flexions-Extensions-, einer Abduktions-Adduktions- und einer Rotationskomponente in allen Gelenken statt. Muskelkontraktionen sind stets miteinander verknüpft. So ist die Kontraktion eines Muskels immer mit der Aktivität in anderen Muskeln kombiniert. Ein Verknüpfungsmuster kann sich jedoch mit einem Wechsel der Ausgangsstellung verändern. Beispielsweise aktivieren bestimmte Ausgangsstellungen und Bewegungsrichtungen Muskeln innerhalb einer Kette. Wird ein Muskel unmittelbar vor einer aktiven Bewegung kurz gedehnt, verstärkt dies die beginnende Willküraktivität der Motoneurone. So gehören die Vordehnung eines Muskels sowie ein gezielt eingesetzter Führungswiderstand gegen die beabsichtigte Bewegungsrichtung zu den Techniken der PNF. Weiterhin können Impulse auf die Aktivität des neuromuskulären Systems als exterozeptive Reize in Form von Hautreizen über das taktile System (Bestreichen der Haut), visueller Stimulation (Anblicken des Patienten mit entsprechendem Aufforderungscharakter) aus Richtung der zu beübenden Region und verbaler Stimulation durch Aktionskommandos erfolgen. Die komplexen Bewegungsmuster orientieren sich dabei immer an Alltagsbewegungen. An einem Bewegungsmuster (»pattern«) sind jeweils Flexions-, Extensions-, Abduktions-, Adduktionssowie Innen- und Außenrotationsbewegungen beteiligt, sodass sämtliche Bewegungen diagonal- und spiralförmig verlaufen.
Der physiologische Bewegungsablauf einer jeden Bewegung erfolgt immer von proximal nach distal. Als Beispiel sei das Öffnen eines Schraubverschlusses genannt: Instinktiv wird der Gegenstand dicht an den Körper genommen und ein Rotationsreiz vom Rumpf her eingeleitet. Auf diese Weise ist eine optimale Kraftentwicklung in den oberen Extremitäten möglich. Beim therapeutischen Arbeiten werden sämtliche dieser Sachverhalte genutzt. Durch einen kurzen, schnellen Dehnungsreiz (»strech«), der dem Auslösen von Reflexen dient, werden eine Bewegungsbahnung und eine Kontraktion der zu beübenden Muskulatur bewirkt. Eine Gelenkstimulation lässt sich durch Druck (Approximation) zur Verbesserung der Stabilität oder durch Zug (Traktion) zur Steigerung der Mobilität erzielen. Durch Summation der genannten extero- und propriozeptiven Reize, z. B. Stretch-Kommando, Blickkontakt und angepasster Widerstand, findet aufgrund einer maximalen Isometrie ein Überfließen von Kraft (»overflow«/Irradiation) von einer kräftigen Muskelgruppe auf eine schwächere statt. Als Beispiel sei der ruhig gestellte linke Unterschenkel mit nicht übungsstabiler Fraktur genannt, welcher intensiv über den Rumpf und die nicht betroffene Extremität beübt werden kann: Der Patient befindet sich in Rückenlage, die betreffende Extremität ist entsprechend (hoch-)gelagert. Der rechte Arm wird gegen maximalen Widerstand aus Extension, Abduktion und Außenrotaton in Flexion, Adduktion und Innenrotation bewegt (⊡ Abb. 9.14). Indikationen für die PNF sind Muskelkräftigungen nach Frakturen, Sehnen- und Bandverletzungen sowie nach Implantation von Gelenkendoprothesen, weiterhin Muskelkräftigungen im Rahmen konservativer Behandlungen von degenerativen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen. Besonders effizient ist PNF als Rehabilitationsmaßnahme bei: ▬ Zustand nach Amputationen ▬ Rückenmarkerkrankungen mit Para- und Tetraparesen ▬ Muskelkoordinationsstörungen ▬ Tonusstörungen ▬ diversen neurologischen Erkrankungen Kontraindiziert ist das direkte Beüben bei:
▬ ▬ ▬ ▬
frischen, nicht belastungsstabilen Frakturen schwer entzündlichen Zuständen Fieber malignen Tumoren mit schwerer allgemeiner Beeinträchtigung ▬ fortgeschrittener Herzinsuffizienz Therapeutische Ziele der PNF sind neben der beschriebenen
Kräftigung die Koordination von physiologischen Bewegungsabläufen, der Abbau pathologischer Bewegungsmuster und eine Tonusnormalisierung. > Die PNF erfordert eine intensive, aktive Mitarbeit des Patienten und die Fähigkeit, die teilweise komplexen Bewegungsmuster zu erlernen und umzusetzen. Voraussetzung ist daher eine Grundmotivation, welche jedoch durch den dynamischen Bewegungsablauf zusätzlich gebahnt wird.
123 9.2 · Krankengymnastik (Bewegungstherapie)
a
⊡ Abb. 9.14 Extremitätenmuster. a Extension, Abduktion, Innenrotation; b Flexion, Adduktion, Außenrotation
b
Auch für den Physiotherapeuten stellt die PNF eine in jeder Hinsicht anspruchsvolle Technik dar.
9.2.16
Funktionelle Bewegungslehre nach Klein-Vogelbach
Dr. med. h.c. Susanne Klein-Vogelbach, Gymnastiklehrerin, Physiotherapeutin und langjährige Leiterin der Schule für Physiotherapie im Kantonspital Basel, ging von einem Idealkörperbau jedes Menschen für Statik und Konstitution aus. Dabei ermöglichen die optimale Gewichtsverteilung sowie die Länge von Rumpf und Extremitäten genau definierte Proportionen und ökonomische Bewegungen. Bei jedem Menschen treten jedoch Abweichungen von diesem Ideal auf, sodass es zur Überlastung einzelner Strukturen sowie zu veränderten Bewegungsabläufen und Dysbalancen der Muskelaktivität kommt. Bei der genauen Analyse werden zunächst die Gesamtkondition des Patienten im Sinne von Ernährungs- und Trainingszustand sowie der gesamte somatische und psychosoziale Zustand beurteilt. Die Konstitution umfasst dabei Längen, Breiten, Tiefen und Gewichte von Körperabschnitten sowie deren Abweichungen von der hypothetischen Norm. Weiterhin fließen Statik und Beweglichkeit sowie eine ausführliche Ganganalyse und das Bückverhalten des Patienten in die Beurteilung ein. Auf der Basis des Befunds werden Bewegungsübungen und Bewegungsübergänge ausgewählt, die momentan die beste Möglichkeit bieten, das Bewegungsverhalten zu verändern. Spezielle Übungen, die sich nach den Erkenntnissen der Biomechanik und der Neurophysiologie richten, sollen wieder ein normales Bewegungsverhalten ermöglichen. Das Hauptprinzip ist sozusagen eine Ökonomisierung durch hubarme und dynamische Stabilisation. Dabei sind Wiederholung und Anpassung notwendig: Bei der hubfreien/hubarmen Mobilisation werden Bewegungen aus der Rückenlage bzw. dem 4-Füßler-Stand ausgeführt, bei denen ein möglichst geringes Körpergewicht gegen die Schwerkraft zu heben ist (⊡ Abb. 9.15, ⊡ Abb. 9.16). Die widerlagernde Mobilisation wird an den Extremitäten ausgeführt: Aus Seitlage oder Sitz nähert man 2 gedachte
a
b
c ⊡ Abb. 9.15a–c 4-Füßler-Stand zur Mobilisation der Wirbelsäule
9
124
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
löst. Hauptindikationen im orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgebiet sind Schmerzen und funktionelle Bewegungseinschränkungen, besonders an Wirbelsäule, Hüfte, Knie, Schulter und Ellenbogen.
9.3
a
Der Organismus ist ständig physikalischen Bedingungen der Umwelt (Kälte, Wärme, Hitze und klimatische Bedingungen) ausgesetzt. Diese Reize können als Anwendungen gezielt eingesetzt werden. Eine prinzipielle Voraussetzung dafür ist das Prinzip der Selbstoptimierung bzw. Regulation. Jede Reizanwendung löst Reaktionen im Organismus aus. Der Organismus ist bestrebt, eine gestörte Funktion zu normalisieren. Mittels physikalischer Methoden lassen sich diese regulativen und reparierenden Prozesse im weitesten Sinne stimulieren.
9.3.1
9
b ⊡ Abb. 9.16a,b Hubarme Mobilisation der Wirbelsäule
Punkte des Körpers einander an. So wird der Patient z. B. für die Ellenbogenflexion aufgefordert, die Handwurzel zum Schultergelenk zu bewegen. Für die Lateralflexion der Lendenwirbelsäule soll er die Spina iliaca anterior zum gleichseitigen Fuß schieben. Zur Brustwirbelsäulenextension wird der sitzende Patient gebeten, das Brustbein in aufrechter Körperhaltung herauszustrecken und einzuziehen. Bei der mobilisierenden Massage liegt der Patient in Seitlage. Der Therapeut übt an den zu bewegenden Wirbeln intermittierend Druck nach vorne aus, bis der Patient die Bewegung selbstständig aktiv durchführen kann. Ergänzend kommen einfache Hilfsmittel wie der Pezziball zur Anwendung. Auf dem Gymnastikball werden mit genau definierten Übungen Gleichgewichtsreaktionen genutzt, um Koordination, Mobilisation und Kräftigung zu erreichen. Das Gangbild des Patienten wird analysiert, die falschen Bewegungsabläufe werden zerlegt und in Teilen geübt. Bei sämtlichen Übungen versucht man, die Ökonomisierung der Bewegungsabläufe mithilfe von Gleichgewichtsreaktion und reaktiven Übungen zu erreichen. Dabei werden durch eine aktive Bewegung eine fortlaufende Bewegung (als passive Widerlagerung) und eine Veränderung der Unterstützungsfläche ausge-
Physikalische Therapie
Geschichte
Anfangs lag den Wasserbehandlungen nicht nur eine therapeutische, sondern auch eine kultische und übersinnliche Bedeutung zugrunde. Bereits Griechen und Römer besaßen im Altertum eine hoch entwickelte Badekultur. Erwähnt ist ein bereits um 500 v. Chr. bestandenes neues Kurzentrum in Pergamon (Kleinasien), in dem Bade- und Trinkkuren, Sport und Gymnastik sowie Massagen verabreicht wurden. Als Vater der modernen Heilkunde gilt Hippokrates (460–370 v. Chr.), der seine Patienten u. a. mit Bädern und Waschungen behandelte, um die natürlichen Heilkräfte, die im Körper vorhanden seien, zu unterstützen. Die Römer übernahmen die medizinischen Traditionen und Erkenntnisse der Griechen. Die römische Badekultur ging in der Zeit der Völkerwanderungen (500–900 n. Chr.) jedoch zugrunde. Reste findet man in Deutschland im Verlauf des ehemaligen Limes in Baden Baden, Aachen, Trier und Badenweiler. Erst im Mittelalter des 12.–13. Jahrhunderts erwachte ein neues Badewesen. In Badestuben, ähnlich einer Sauna, wurden u. a. Bäder zur Vorbeugung und Abhärtung verabreicht. Es wurde außerdem massiert und geschröpft. In der Neuzeit entwickelte der Pfarrer Sebastian Kneipp hauptsächlich durch eigene Anwendungen als medizinischer Laie ein Wasserheilverfahren, welches er durch Klimaanwendungen, Diätvorschriften und Kräuterkuren ergänzte. Die Einwirkungen physikalischer Faktoren sind heute messbar, der Kranke selbst ist in seiner Individualität jedoch schwer darstellbar. Somit bleibt die physikalische Therapie auch heute noch im Wesentlichen eine »Erfahrungsmedizin«.
9.3.2
Hydro- und Balneotherapie
Heute bezeichnet »Hydrotherapie« die Anwendung von kaltem und warmem Wasser in Form von Bädern (Teil-/Vollbad, Temperatur an- oder absteigend, heiße oder kalte Wechselwaschungen, Güsse mit mechanischen Reizen; ⊡ Abb. 9.17).
125 9.3 · Physikalische Therapie
⊡ Abb. 9.17 Strahlführung beim Knie- und Schenkelguss
Die hydrotherapeutische Wirkung hängt dabei direkt von der Stärke des applizierten Reizes ab. Zu den milden hydrotherapeutischen Reizen zählen: ▬ Waschungen ▬ Abreibungen ▬ Trockenbürstungen ▬ ansteigende Teilbäder ▬ wechselwarme Fußbäder ▬ kalte Güsse bis zum Knie ▬ Wassertreten ▬ Wickel ▬ warmer Heusack ▬ kleine Peloidpackungen Mittelstarke Reize sind:
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
ansteigende Bein-, Sitz- und Halbbäder warme Zusatzhalbbäder wechselwarme Sitzbäder Rumpfwickel feuchte Packungen Saunagänge
Stark wirkende Reize sind:
▬ Überwärmungsbäder ▬ russisch-römisches Dampfbad (Mehrraumbad mit 54°C warmem Luftraum, 68°C warmem Heißluftraum, 45°C warmem Dampfnebelraum, Warmwasserbecken) ▬ kalter oder heißer Vollblitzguss Typisch für Anwendungen der milden Hydrotherapie ist neben der relativ kleinen Applikationsfläche der milde, zeitlich ansteigende Temperaturreiz. Damit werden überschießende und paradoxe Reaktionen, z. B. ungewollter Blutdruckanstieg, vermieden. Das therapeutische Anliegen besteht darin, hauptsächlich über die periphere Kreislaufregulation Einfluss auf lokalisierte Krankheitsprozesse sowie die allgemeine vegetative Reaktionslage zu nehmen. Weiterhin sind die Maßnahmen in entspre-
chender Auswahl geeignet, eine »grundsätzliche Abhärtung« zu erreichen. Kontraindikationen existieren praktisch nicht – vorausgesetzt, die Anwendungen werden einer geschwächten bzw. wenig entwickelten Reaktionsfähigkeit des Körpers entsprechend angepasst und dosiert. Bei der mittleren und großen Hydrotherapie, d. h. stärkeren Reizen, sind wechselwarme Anwendungen möglich. Es handelt sich dabei um Teil- oder Vollbäder, bei denen nach bestimmten Regeln ein Wechsel von Kalt nach Warm erfolgt. Sowohl die Temperatur des warmen und kalten Wassers als auch die Dauer der einzelnen Phasen und die Wechselfrequenz können individuell angepasst werden. In der Praxis kommen am häufigsten wechselwarme Fußbäder zum Einsatz. Allgemein ist zu beachten, dass ▬ 10-mal so lang warm wie kalt gebadet wird, ▬ das erste Bad warm ist (38–39°C), ▬ das letzte Bad kalt ist (Leitungswasser) und ▬ die Haut nach dem Bad abzutrocknen ist. Güsse werden mit kaltem Wasser oder wechselwarm durchgeführt und stellen somit ebenfalls eine Trainingsmöglichkeit für das Herz-Kreislauf-System, den Wärmehaushalt und die Atmung dar. Die am häufigsten angewendeten Güsse sind die sog. Flachgüsse. Diese wirken vorwiegend thermisch, während die Druckeinwirkung vernachlässigt werden kann. Bekannte Anwendungsformen sind der Knie- und der Schenkelguss (⊡ Abb. 9.17). Der bis zum Becken reichende Unterguss wird den mittelstarken Reizen zugeordnet. Ein Rückenflachguss, welcher besonders als Schlussabkühlung nach Wärmeanwendungen und Bädern geeignet ist, stellt eine erhebliche Reizeinwirkung dar und ist den starken Reizen zugeordnet. Ein Armguss bzw. der den Thorax einschließende »Oberguss« erzielt beachtliche Tonisierungseffekte. Neben den Flachgüssen kommen auch Strahl- oder Blitzgüsse, die zusätzlich einen ausgesprochen kräftigen mechanischen Reiz darstellen, zur Anwendung. Verglichen mit den Flachgüssen werden bei Strahl- und Blitzgüssen
9
126
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
intensivere und länger andauernde Reize erzielt. Daher wird diese Art der Anwendung zu den starken Reizen, der »großen Hydrotherapie«, gezählt. Die Strahlführung ist identisch mit der von Flachgüssen, jedoch verabreicht man den Strahl aus einer Entfernung von 3–4 m aus einem ¾-Zoll-Schlauch mit Düse. Besonders empfindliche Körperregionen wie Abdomen und Genitalbereich sind bei dieser Behandlung auszusparen. Außerdem sollte der zu Behandelnde immer die Möglichkeit haben, sich festzuhalten. Alle Druckstrahlgüsse können als Teilanwendungen (Knie-, Schenkeldruckstrahlguss) oder als Vollguss zur Anwendung kommen. Indikationsbeispiele für Güsse im orthopädisch-chirurgischen Bereich sind: ▬ weichteilrheumatische Erkrankungen ▬ schlaffe Lähmungen der Extremitäten ▬ Koxalgien ▬ aktivierte Koxarthrosen ▬ Sehnenscheidenentzündungen ▬ akute Gichtarthralgien
Wickelanwendungen und Packungen
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Ein Wickel nach Kneipp ist die Einhüllung eines Köperabschnitts in ein feuchtes inneres Tuch und ein äußeres trockenes Tuch. Beispiele sind Hals-, Brust-, Waden- und Leibwickel. Eine Packung ist definitionsgemäß ein Wickel, der mehr als die Hälfte des Körpers einbezieht. Aufschläge sind Anwendungen mit Tüchern in der oben beschriebenen Art, ohne dass diese zirkulär angelegt sind. Ziel der unterschiedlichen Wickelanwendungen ist es, nach einer anfänglichen Vasokonstriktion – das innere Tuch ist mit leitungskaltem Wasser getränkt – eine reaktive Vasodilatation zur Durchwärmung, Entspannung, Beruhigung und Schmerzlinderung zu erreichen. Anders in der Anwendung sind die wärmeentziehenden Wickel, wie sie besonders bei fieberhaften Erkrankungen angewendet werden. Am gebräuchlichsten sind die sog. Wadenwickel. Hierbei wird auf ein äußeres Tuch verzichtet, die Wassertemperatur sollte lau-kühl (30–34°C) sein. Diese fiebersenkenden Wickel werden nach ca. 10 min gewechselt, die Anwendung kann bis zu 4-mal wiederholt werden.
Allgemeine Wirkungen der Hydrotherapie Die Hydrotherapie gleicht Durchblutungsstörungen aus und trainiert das Regulationssystem (Wärmehaushalt). Vegetative Reflexe werden eingeübt, das Vegetativum wird insgesamt tonisiert. Wärme bewirkt Vagotonie, Spasmolyse und Schmerzlinderung. Es kommt zu einer Verbesserung der Trophik, und ein erhöhter Sympathikotonus lässt sich senken (Nervensystem). Die Ausscheidung über die Haut (Entgiftung) wird gefördert (Stoffwechsel) und die periphere Durchblutung verbessert, was eine sog. Herzbelastung bedeutet (Kreislauf). Atemstörungen durch Schmerzen lassen sich günstig beeinflussen. Eine spastische Bronchialmuskulatur wird detonisiert. Kältereize steigern Frequenz und Volumen der Atmung. Im Gewebe verbessern sich Turgor, Tonus, Elastizität, Durchblutung und Durchwärmung. Trophik und Lymphzirkulation werden günstig beeinflusst. Die Hydrotherapie verbessert zu-
dem die Hauttrophik und beeinflusst damit viele Hautfunktionen wie Immunreaktionen und Intermediärstoffwechsel günstig.
Allgemeine Regeln der Hydrotherapie Bei richtiger Dosierung sind hydrotherapeutische Maßnahmen immer anwendbar. Vor allen Anwendungen, insbesondere vor Kaltanwendungen, muss der Patient jedoch durchwärmt sein – keine kalten Füße! Vorwärmende Maßnahmen sind bei kalten Extremitäten indiziert, um paradoxe Wirkungen zu vermeiden. Kaltreize werden jeweils nur kurz, d. h. für 10–60 s, verabreicht, um Auskühlungen zu vermeiden. Warmreize sollten möglichst immer ansteigend verordnet werden und im Indifferenzbereich beginnen. Wechselwarme Anwendungen beginnen warm und werden kalt abgeschlossen. Nach reizstarken Anwendungen wie Saunagang, Überwärmungsbad, Unterwasserdruckstrahlmassage und Vollgüssen ist für den Patienten eine Ruhezeit von ca. 20 min vorzusehen. Nach Überwärmungsbädern muss eine ärztliche Kontrolle gewährleistet sein. Nach Kaltanwendungen sind die Patienten hinsichtlich der zeitgerechten Wiedererwärmung durch aktives Bewegen, entsprechende Bekleidung oder Bettwärme anzuleiten.
9.3.3
Bäder
Teil- und Vollbäder können als kalte (12–25°C), warme (36– 38°C) oder wechselwarme Bäder durchgeführt werden. Indikationen für ein ansteigendes Halbbad sind z. B. beginnende und abklingende Infekte sowie Ischialgien und Muskelverspannungen. Ansteigende Fußbäder werden bei gering ausgeprägten Durchblutungsstörungen und zur vegetativen Entspannung eingesetzt. Kontraindikationen sind neben den unten beschriebenen allgemeinen Kontraindikationen eine ausgeprägte Varikosis sowie ein Lymphödem.
Hydroelektrische Bäder Im 4-Zellen-Bad werden beide Arme und Unterschenkel separat in das Wasser getaucht. Mit verschiedenen Variationsmöglichkeiten kann man nun Strom durch den Körper leiten. Das Stanger-Bad ist eine Ganzkörperwanne, die allseitig mit Elektroden ausgestattet ist. Je nach Polung können Längs- und Querdurchflutungen durchgeführt werden. Die Stromstärke wird für den Patienten so gewählt, dass ein individuell gut erträgliches Kribbelgefühl auftritt – keinesfalls ein stechender oder brennender Schmerz. Indikationsbeispiele sind Schmerzen und arterieller Hypertonus. Hier wird die Polung so gewählt, dass die beruhigende, schmerzlindernde Anode an der betroffenen Seite liegt. Bei Muskelhypotonus und schlaffen Paresen hingegen wirkt die Kathode an der betroffenen Seite entsprechend anregend. Allgemeine Wirkungen sind: ▬ periphere Durchblutungssteigerung ▬ Schmerzlinderung ▬ Stoffwechselaktivierung ▬ Muskeltonussenkung oder -erhöhung ▬ iontophoretische Wirkung bei Zugabe von Medikamenten
127 9.3 · Physikalische Therapie
Kontraindikationen sind:
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
akute Herzerkrankungen schwere Herzinsuffizienz Schwangerschaft Metalle im durchströmten Gebiet größere Verletzungen der Haut Fieber venöse Insuffizienz
Wegen der hohen Betriebskosten und des zeitlichen Behandlungsaufwands sowie der speziellen erforderlichen technischen Ausstattung bleibt diese Behandlungsform heute großen (Kur-) Kliniken und entsprechenden Zentren vorbehalten.
9.3.4
Thermotherapie
Bereits im Altertum gehörte der Gebrauch von Wärme und Kälte als Heilmittel zu den häufigsten Verordnungen, ohne dass eine systematische Erkenntnis oder Deutung der spezifischen Wirkungen möglich war. Die hippokratische Schule hat als erste gewisse Wirkungsprinzipien formuliert. Die Therapie mit Wärme- oder Kälteträgern nutzt feste, flüssige oder gasförmige Medien zur Übertragung oder zum Entzug von thermischer Energie. Die thermische Energie wird dabei durch direkte Leitung, Konvektion oder Strahlung übertragen. Über Thermorezeptoren der Haut erfolgt die Wahrnehmung der Temperaturdifferenz.
Kryotherapie Hier wird Eis lokal angewendet, beispielsweise als Eislolly, d. h. als Eis am Stiel, welches in einem Joghurtbecher für 5 min gefroren (–18 bis –20°C) wurde. Weitere Applikationsformen sind Eisstückchen, Eiswasser, Eisbeutel (⊡ Abb. 9.18) sowie die Verwendung von Cool-Packs als Kurzzeittherapie oder bis max. 20 min (Langzeittherapie z. B. an Gelenken). Die Ganzkörperkältetherapie mit flüssigem Stickstoff oder Kohlendioxid bei Temperaturen von –180°C für 1–2 min wird beispielsweise
bei rheumatoider Arthritis und Spondylitis ankylosans durchgeführt. Als Hauptwirkungen werden die periphere Erregbarkeit und die Nervenleitgeschwindigkeit herabgesetzt und die Schmerzgrenze heraufgesetzt. Eingesetzt wird die Eisanwendung zur Schmerzlinderung und zur Abschwellung, z. B. zu Beginn einer krankengymnastischen Übungsbehandlung erkrankter oder operierter Gelenke. Weiterhin kommt die Kryotherapie zur Erhöhung des Muskeltonus zur Anwendung, wobei die Behandlungszeit während der Übungsbehandlung jeweils nur einige Sekunden beträgt und die Anwendung max. 4- bis 5-mal wiederholt wird. Ein Eislolly wird bei einer schlaffen Parese im Innervationsgebiet des N. peronaeus beispielsweise in Kombination mit einer assistiv geführten Bewegung (entsprechend der Muskelfunktion) kurz im Muskelverlauf gestrichen, um den Nerv zu stimulieren. Bei spastischer Muskulatur lässt sich durch eine 20-minütige Daueranwendung in Kombination mit statischer Muskelarbeit eine Senkung des Muskeltonus erreichen. Weiterhin wirkt Eis antiphlogistisch und antihämorrhagisch. Kontraindikationen sind: ▬ schwere Sensibilitätsstörungen ▬ trophische Störungen ▬ Sklerodermie ▬ Raynaud-Syndrom ▬ arterielle Durchblutungsstörungen ▬ Angiospasmen ▬ schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen ▬ Kälteüberempfindlichkeit Grundsätzlich ist zu beachten, dass Eis ein gesundes Lymphgefäßsystem zumindest behindert, was dem Abtransport von Stoffwechsel- und Entzündungsmediatoren entgegenwirkt. Ein krankes Lymphgefäßsystem wird weiter geschädigt. Tipp
I
I
Um Hautschädigungen zu vermeiden, darf das Eis selbst oder die Plastikbeschichtung einer Packung (Cool-Pack) keinen direkten Kontakt zur Haut haben. Zweckmäßigerweise legt man als Zwischenlage ein dünnes Handtuch oder ein Papiertuch auf. Knochenvorsprünge, z. B. die Patella, sind freizulassen, um Nekrosen zu vermeiden.
Wärmetherapie
⊡ Abb. 9.18 Eisbeutelanwendung am Kniegelenk
Verschiedene Wärmeträger wie Fango, Paraffin, Peloidpackungen, pflanzliche Wärmeträger (Heublumensack), Wärmflasche, heiße Rolle und Heißluft werden zu Behandlungszwecken genutzt. Lokale Wärmeanwendungen wirken hyperämisierend, detonisierend und analgetisch, bei chronisch-entzündlichen Prozessen zudem antiphlogistisch. Indikationsbeispiele aus dem orthopädisch-chirurgischen Bereich sind: ▬ chronische Polyarthritiden (nicht im akuten Schub) ▬ funktionelle Durchblutungsstörungen ▬ posttraumatische Behandlungen ▬ muskuläre Hypertonien ▬ Tendomyalgien ▬ Arthrosen
9
128
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Wärmeanwendungen werden in der Regel als vorbereitende Maßnahmen mit anderen physikalisch-therapeutischen Maßnahmen kombiniert, z. B. klassische Massage oder anschließende krankengymnastische Übungsbehandlung. So lassen sich vor anderen Behandlungen bereits eine entsprechende Detonisierung der zu beübenden Muskulatur sowie eine Analgesie erzielen. Ob eine Wärmezufuhr oder eine Kälteanwendung indiziert ist, hängt vom Einzelfall ab und muss individuell erfragt werden. Sämtliche Wärmeanwendungen sind kontraindiziert bei: ▬ akuten, exsudativen Arthritiden ▬ akuter Gicht ▬ fortgeschrittenen Stadien der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ▬ schweren venösen Durchblutungsstörungen ▬ Ödemen ▬ hochfieberhaften Infekten ▬ lokalen Entzündungen
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Bei malignen Erkrankungen besteht eine relative Kontraindikation. Hier sollte der Physiotherapeut Rücksprache mit dem behandelnden Arzt halten. Relative Kontraindikationen sind aufgrund der starken Kreislaufbelastung auch eine dekompensierte Herzinsuffizienz und ein fortgeschrittenes Alter. Bei akuten Bandscheibenvorfällen und Spinalkanalstenosen kann es durch die Hyperämie zu einer Schmerzverstärkung kommen. Exemplarisch sind im Folgenden 2 Formen der Wärmeanwendung näher beschrieben.
⊡ Abb. 9.19 Heiße Rolle
▬ schwerer Varikosis ▬ Lymphabflussstörungen ▬ dekompensierter Herzinsuffizienz
Heiße Rolle
Fango
Bei der heißen Rolle handelt es sich um eine aufwendige, aber sehr wirksame Variante einer Dampfkompresse. Bei dieser Anwendungsform werden 5 Trichter bzw. zylinderförmig zusammengerollte Frotteetücher mit einem Liter kochenden Wasser getränkt und auf die Haut getupft oder gerollt (⊡ Abb. 9.19). So entsteht eine Anwendetemperatur von 45°C bis max. 67°C. Bei Abkühlung der äußeren Tuchschicht werden die Handtücher von außen nach innen abgerollt, sodass die Hitzewirkung lange erhalten bleibt. Das letzte Handtuch wird nicht mehr abgerollt, sondern bleibt als Auflage liegen, solange es vom Patienten noch als heiß empfunden wird. Die gesamte Behandlung dauert 15–20 min. Anschließend sollte eine kalte Nachwaschung vorgenommen werden und der Patient für eine halbe Stunde gut zugedeckt nachruhen. Neben den allgemeinen Wirkungen einer Wärmeanwendung besteht der Hauptvorteil darin, dass kein Hitzestau möglich ist. Aufwendige Vorbereitungen und teure Träger wie Fango oder andere Paraffine sind nicht notwendig. Eine heiße Rolle lässt sich z. B. zur Vorbereitung auf eine Massage anwenden oder auch postoperativ, z. B. lokal nach Kniegelenkersatz zum Lösen von Verklebungen und zum verbesserten Abtransport von Metaboliten. Kontraindiziert ist diese Form der Anwendung (wie auch andere wärmetherapeutische Verfahren) für den entsprechenden Dermatombereich bei: ▬ akuten Schüben einer Arthritis ▬ aktivierten Arthrosen
Bei Fango handelt es sich um ein Gemisch aus Vulkangestein und Paraffin. Fangopackungen sind unter Zuhilfenahme von Wickeltechniken exakt an den Körper zu modellieren. Die Anlegetemperatur beträgt 45–50°C. > Falls es beim Patienten zu Zeichen des Beengtseins oder zu Atembeschweren kommt, ist eine sofortige Lockerung oder eine Unterbrechung der Behandlung indiziert.
Ein Hauterythem steht bei Fango und heißer Rolle für eine gute, adäquate Hautreaktion und ist entsprechend erwünscht. Ein fehlendes Erythem bedeutet einen Durchblutungsmangel oder eine zu geringe Temperatur. Bei guter Hautdurchblutung ist eine deutliche Differenz zwischen Packungs- und Hauttemperatur festzustellen. Indikationen sind: ▬ chronische rheumatische Erkrankungen ▬ degenerative Wirbelsäulen- und Gelenkerkrankungen ▬ Hypertonus der Muskulatur ▬ Schwellung von Weichteilen nach Überlastung, Traumen oder Operationen Allgemeine Wirkungen sind:
▬ ▬ ▬ ▬
Spasmolyse Tonussenkung Analgesie Hyperämie
129 9.3 · Physikalische Therapie
Kontraindikationen bestehen bei:
▬ akuten, exsudativen Arthritiden ▬ akuter Gicht ▬ fortgeschrittenen Stadien der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit ▬ schweren venösen Durchblutungsstörungen ▬ Lymphabflussstörungen ▬ Ödemen ▬ hochfieberhaften Infekten ▬ zusätzlich bei großflächiger Fangoanwendung: – Schwangerschaft – allgemeine Hitzeunverträglichkeit – Blutungen und Geschwüre im Magen-Darm-Bereich Die Behandlungszeit beträgt 10–20 min. Es ist eine mindestens 30-minütige Nachruhe indiziert (oder nachfolgende krankengymnastische Übungsbehandlung).
9.3.5
Klassische Massage
Massagetherapie ist die mechanische, systematische, schichtweise manuelle Durcharbeitung der äußeren Gewebeschichten des Körpers. Massage zählt zu den ältesten Behandlungsformen im Rahmen der manuellen Behandlung. In nahezu allen Kulturen sind Hinweise auf Massage als Heilmethode zu finden. Jedoch erst im angehenden 19. Jahrhundert ist die Massage durch Systematisierung der Techniken und Erarbeitung ihrer Grundlagen auch als medizinische Behandlung anerkannt worden. Generell muss bei der Wirkung zwischen mechanischer, physikalischer und reflektorischer Wirkung unterschieden werden. Die physikalische Wirkung besteht in einer Lösung von Adhäsionen im Gleit- und Verschiebegewebe zwischen Haut, Unterhaut, Faszien, Muskeln und Bändern sowie in einer Beschleunigung des Flüssigkeitstransports aus dem Gewebe. Die Einwirkung von Druck- und Zugkräften hat auf die Strukturen des Bindegewebes einen formativen Einfluss. Biochemisch kommt es zu einer Freisetzung von Gewebehormonen, zum Abtransport von Schmerzmediatoren und zu einer Steigerung der lokalen Durchblutung durch Beseitigung kapillärer Ischämien. Insgesamt resultiert eine Anregung des Muskelstoffwechsels. Die mechanische Beanspruchung der Gewebe löst auch eine reflektorische Wirkung aus. So geht eine Massage immer auch mit einer Reizung der Rezeptoren von Haut, Bindegewebe, Muskeln und Periost einher, was zu einem vermehrten Afferenzeinstrom in die zugehörigen Rückenmarksegmente führt. Spinale und supraspinale Umschaltungen auf efferente, motorische und sympathische Nervenbahnen bewirken reflektorisch – je nach angewendeter Grifftechnik – in unterschiedlicher Ausprägung zum Teil lang anhaltende Veränderungen des Muskeltonus, der Durchblutung und der spinalen Schmerzverarbeitung. Möglicherweise resultiert auch eine direkte Stimulierung der kapillären Durchblutung; für Lymphangiome ist dies durch Földi nachgewiesen worden. Beim Muskelhypertonus wird die Aktivität der Muskelspindeln herabgesetzt, beim muskulären Hypotonus gesteigert. Die
anregende bzw. dämpfende Wirkung entsteht vermutlich durch Verbindungen aufsteigender Bahnen zum limbischen System. > Die Massage wirkt sich zudem psychoemotional aus. Bei einigen Krankheitsprozessen lassen sich erst über diesen Umweg eine Lösung und eine Lockerung verspannter Muskelgruppen erreichen.
Je nach Indikation werden verschiedene Grifftechniken gewählt, wobei starke Reize stets mit sanften Ausstreichungen abwechseln. Ausstreichungen wirken entspannend, reizmildernd und erwärmend. Knetungen wirken hingegen stark hyperämisierend und tonusregulierend. Dabei werden einzelne Muskelgruppen mit Daumen und Fingerkuppe umfasst und im Wechsel der Hände S-förmig durchbewegt. Friktionen haben ebenfalls einen hyperämisierenden Effekt. Dabei handelt es sich um kleinflächige, kreisförmige Bewegungen durch Druck der Fingerkuppen. Vibrationen sind niederfrequente Zitterbewegungen in vertikaler Richtung, meist bei flach aufliegender Hand, alternativ mit den Fingerkuppen. Diese wirken entspannend und beruhigend sowie tonussenkend. Bei Schüttelungen werden Extremitäten, Rumpf- oder einzelne Muskelgruppen sanft zur Entspannung und zur Krampflösung geschüttelt. Klopfungen mit den Fingerspitzen (»tapotements«) wirken je nach Intensität aktivierend oder detonisierend. Zu den sog. Hautreizgriffen zählen Walkungen (grobe Rollung quer zum Muskelverlauf als Sonderform der Knetung), Klopfungen (kurze Schlagbewegungen mit Handkante, Hohlhand oder Fingern) und Klatschungen. Bei Letzterem handelt es sich um kurze, schlagende Bewegungen mit der flachen Hand. Zur Dosierung der Massageanwendung gilt die Faustregel »so stark wie nötig (um den gewünschten Behandlungserfolg zu erzielen), so schwach wie möglich (zur Vermeidung von Unverträglichkeitsreaktionen und in Hinblick auf eine ökonomische Arbeitsweise). Normalerweise werden 6–12 Massagen als 2- bis 3-mal wöchentlich stattfindende Serienbehandlung verordnet. Teilmassagen dauern üblicherweise 12–15 min, Großmassagen, die mehrere Körperteile mit einbeziehen (z. B. Rücken und Nacken), 15–20 min.
Aufbau einer Massagebehandlung In der Regel wird mit Streichungen zur Gewöhnung des Patienten und zur Anregung der Lymphmotorik begonnen. Knetungen, Walkungen und Reibungen sind zunächst mit leichtem Druck zu beginnen und werden im Behandlungsverlauf gesteigert, um gegen Ende der Applikationszeit wieder verringert zu werden. Bei den Griffwechseln ist auf fließende Übergänge zu achten. Guter Hautkontakt ist bei Griff- und Richtungswechseln beizubehalten. Die Intensität hinsichtlich der Verträglichkeit muss individuell mit dem Patienten geklärt werden.
Indikationen im orthopädisch-chirurgischen Fachgebiet sind: ▬ Muskelschmerzen infolge statischer und degenerativer Wirbelsäulen- und Gelenkveränderungen ▬ rheumatische Schmerzzustände
9
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
▬ postoperative und posttraumatische Störungen der Muskulatur ▬ muskulärer Hypertonus (»Hartspann«) ▬ Myogelosen
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Gelenk- und Narbenkontrakturen lassen sich ebenfalls positiv beeinflussen, genauso wie schlaffe und spastische Lähmungen. Weitere Indikationen finden sich im internistischen und gynäkologischen Fachgebiet. Als Vorbereitung zur krankengymnastischen Übungsbehandlung können Massagen in Kombination mit Wärme- oder Kälteanwendung oder einer Bindegewebemassage als vorbereitende Maßnahme zur Anwendung kommen. Kontraindikationen bestehen bei: ▬ lokalen Entzündungen von Haut, Unterhaut und Muskulatur (bei Lymphangitis, Thrombophlebitis und Myositis ist eine Symptomverstärkung möglich) ▬ Tumoren ▬ fieberhaften Erkrankungen ▬ Kreislaufdekompensation ▬ Blutungsneigung (Antikoagulanzienbehandlung mit Ausnahme einer »Low-dose«-Heperanisierung) ▬ frischen Operationsnarben ▬ sympathischer Reflexdystrophie
9.3.6
Unterwassermassage
Die Unterwassermassage ist eine großflächige Massagebehandlung des ganzen Körpers oder einzelner Regionen in einer Spezialbadewanne mittels eines regulierbaren Düsendruckstrahls unter Nutzung der warmen Wassertemperatur und des Auftriebs. Als Vorteil gegenüber der klassischen Massage addiert sich zum Auftrieb des Körpers im Wasser und zu den entsprechenden thermischen Reizen die massierende Wirkung auf die bereits entspannte Muskulatur. Indikationen und Kontraindikationen entsprechen im Wesentlichen denen der klassischen Massage. Besonders für stark behaarte Patienten stellt diese Massageform eine Alternative dar, um eine durch die klassische Massage häufig provozierte Follikulitis zu vermeiden. Der Behandlungsdruck bzw. die mechanische Beeinflussung der Haut und des darunter befindlichen Gewebes ist durch die Größe des Düsenquerschnitts, die Druckregulierung am Gerät, den Abstand zwischen Körper und Düse, die Dauer der örtlichen Einwirkung und den Einstellungswinkel regulierbar und individuell auf den Patienten abzustimmen. ! Cave Die Behandlung darf nie schmerzhaft sein.
Vor Beginn der Unterwassermassage sollte der Physiotherapeut dem Patienten 5 min Zeit lassen, um sich an die Wassertemperatur und den hydrostatischen Druck zu gewöhnen. Die Unterwassermassage sollte wegen der erhöhten Kreislaufbelastung frühestens 60 min postprandial durchgeführt werden. Die Wassertemperatur beträgt 34–40°C, die Behandlungszeit 10–20 min. Axilla, Kniekehle, weibliche Brustdrüse und Genitalbereich sind bei der Behandlung auszusparen. Die Strahlführung darf nicht auf Knochenvorsprünge und Periost gelenkt werden.
Nach Beendigung der Maßnahme sollte zunächst das Wasser abgelassen und der Patient in der Wanne ggf. kalt abgeduscht werden, um eine orthostatische Dysregulation zu vermeiden. Eine Nachruhe von mindestens 20 min ist einzuhalten. Nachteile dieses Verfahrens sind die hohen Betriebskosten (Wanneninhalt von 400–600 l Wasser) und die erforderliche technisch-apparative Ausstattung, weshalb diese Behandlungsform fast nur noch in großen Kliniken und entsprechenden (Kur-)Zentren Anwendung findet.
9.3.7
Manuelle Lymphdrainage
Es handelt sich dabei um eine spezielle Massageform mit weich ausgeführten speziellen Druck- und Schöpfgriffen zur mechanischen Ödembeförderung sowie zur Anregung der Motorik der Lymphgefäße, was zur Steigerung des Lymphabflusses führt. Bei der komplexen physikalischen Entstauungstherapie wird die Lymphdrainage durch einen speziellen lymphologischen Kompressionsverband ergänzt. Weiterhin kommt die Bewegungstherapie in Hinblick auf eine Ökonomisierung der Muskelpumpe sowie zusätzlich die elektrotherapeutische Schmerzbehandlung zum Einsatz. Eine begleitende adäquate Atemtherapie fördert zudem den venösen Rückstrom. Therapieziele der manuellen Lymphdrainage sind die Aufnahme lymphpflichtiger Lasten in die initialen Lymphgefäße und eine Verschiebung der Lymphe bzw. der interstitiellen Flüssigkeit. Weitere Therapieziele sind die Steigerung der Lymphangiomotorik und die Lockerung fibrosklerotischen Bindegewebes. Indikationen sind: ▬ sämtliche Insuffizienzen des Lymphgefäßsystems durch ein primäres oder sekundäres Lymphödem als Folge von Verlegung oder Entfernung der Lymphgefäße ▬ Lipödeme ▬ postoperative Ödeme ▬ ischämische und idiopathische Ödeme ▬ sympathische Reflexdystrophie (in Kombination mit anderen Maßnahmen) Auch Migräne und eine Trigeminusneuralgie sind positiv beeinflussbar. Durch Senkung des Sympathikotonus wirkt die manuelle Lymphdrainage bei Ödemen infolge rheumatischer Erkrankungen und bei phlebolymphostatischen Ödemen bei chronischer Beinveneninsuffizienz zusätzlich schmerzlindernd. Im Rahmen der Frührehabilitation nach Hüft- und Kniegelenkersatz wird die manuelle Lymphdrainage gerne durchgeführt, um durch das Trauma und die sekundäre Entzündung initiierte Schwellungszustände zu behandeln. Bei der sympathischen Reflexdystrophie kann man die Ödeme proximal der hyperalgischen Region behandeln. Kontraindikationen sind: ▬ akute Infekte und Entzündungen sowie Ekzeme (Gefahr der bakteriellen Streuung) ▬ akute Phlebothrombose (Gefahr einer Lungenembolie) ▬ dekompensierte Herzinsuffizienz und Asthma bronchiale (aufgrund der allgemeinen Vagotonisierung)
131 9.3 · Physikalische Therapie
Allgemeine Wirkweise Die Angiomotorik der großen Lymphkollektoren wird gesteigert und Flüssigkeit durch den Interzellularraum in intakte Lymphgefäße verschoben. Die Reabsorptionsrate ist durch die adäquate Erhöhung des Gewebedrucks entsprechend gesteigert. Durch langsames, vorsichtiges und insbesondere rhythmisches Arbeiten lässt sich schon nach kurzer Behandlungszeit die oben erwähnte Sympathikolyse erreichen. Durch Reizung von Mechanorezeptoren wird eine Übertragung von Schmerzimpulsen auf Rückenmarkebene gehemmt, und algogene Substanzen werden verringert. Auf diese Weise ist eine Desensibilisierung von Nozizeptoren möglich. Durch die konsequente Entstauung einer ödematisierten Extremität ist ein Rückgang der Infektanfälligkeit der betroffe-
nen Region zu beobachten, z. B. Rückgang der Erysipelhäufigkeit bei chronischem Lymphödem.
Durchführung Die Grifftechnik der manuellen Lymphdrainage unterscheidet sich von derjenigen der klassischen Massage am ehesten dadurch, dass sie ausgesprochen zart, mit wenig Druck, langsam, rhythmisch und kreisförmig entlang der Lymphgefäße ausgeführt wird (⊡ Abb. 9.20). Die Basisgriffe werden 5- bis 7-mal wiederholt. Sie orientieren sich entlang des Verlaufs von Lymphgefäßen in deren Abflussrichtung. Stehende Kreise werden vorwiegend in Lymphknotenregionen durchgeführt, wobei die Hände – flächig aufgelegt – auf der Stelle druckschwache Kreise in Ab-
a
b
c
d
⊡ Abb. 9.20a–d Grifftechniken der manuellen Lymphdrainage. a Stehende Kreise, b Schöpfgriffe an den Extremitäten, c Pumpgriff, d Drehgriff an großflächigen Körperteilen
9
132
Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
flussrichtung ausführen. Drehgriffe werden im Verlauf von Lymphbahnen angewendet. Schöpf- und Quergriffe kreisen in entgegengesetzter Richtung. Bei manifestem Ödem oder Fibrose sind spezielle Griffe anzuwenden. Bei bestehender Unterbrechung des Lymphabflusses, z. B. nach Mastektomie und axillärer Lymphknotenentfernung, darf man beispielsweise keinesfalls in Richtung Axilla arbeiten. Hier sind alternative Grifftechniken und Abflusswege indiziert.
Lymph-Taping (oder Ödem-Taping)
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Ergänzend zur manuellen Lymphdrainage können spezielle elastische Bänder (acrylbeschichtetes Baumwollgewebe) in definierter Technik zur Lymphdrainage auf ödematöse oder zur Analgesie auf schmerzende Körperstellen aufgeklebt werden (⊡ Abb. 9.21). Die Tape-Streifen werden dabei von der Lymphe als Leitbahn verwendet. Durch die Elastizität des Tapes hebt sich die obere Hautschicht gegenüber der unteren an, und unter dem Tape kommt es zu einer Druckreduktion – die Lymphe im Interstitium wird hierdurch mobilisiert. Da die Körperbewegungen des Patienten nicht eingeschränkt sind, wird zusätzlich das Bindegewebe gelockert. Hierdurch öffnen sich die Klappen der initialen Lymphgefäße, und die Lymphe fließt leichter ab. Das Tape wirkt ergänzend zur manuellen Lymphdrainage in behandlungsfreien Zeiten ähnlich einer 24-h-Massage und -Akupressur. Die klinischen Wirkungen sind entsprechend Schmerzreduktion, Muskelentspannung und Entzündungshemmung. Anwendungsbeispiele sind: ▬ zervikale und lumbale Muskeldysbalancen ▬ sämtliche Tendomyopathien, z. B. Achillodynie ▬ Arthrosen ▬ postoperative Schmerz- und Schwellungszustände
⊡ Abb. 9.21 Lymph-Tape am Unterschenkel.
9.3.8
Elektrotherapie
Die Elektrotherapie ist eine unspezifische Reiztherapie, die nicht organspezifisch wirkt und bei verschiedenen Krankheitsbildern im orthopädisch-traumatologischen Bereich Anwendung findet. Die Elektrotherapie untergliedert sich in die Niederfrequenz-, Mittelfrequenz- und Hochfrequenztherapie einschließlich der Ultraschallanwendungen. Der menschliche Körper entspricht einem Leiter 2. Ordnung, d. h. im »Volumenleiter Körper« stellen positive und negative Ionen die Ladungsträger dar. Die Wirkung des Stromes entspricht einer Summation unterschiedlicher Ionentransporte (⊡ Tab. 9.1).
Nieder- und Mittelfrequenztherapie Nieder- und mittelfrequenter Wechselstrom wird zur unmittelbaren Einwirkung auf neuromuskuläre Funktionen verwendet. Der medizinisch genutzte Niederfrequenzbereich erstreckt sich bis 1000 Hz. Der Mittelfrequenzbereich liegt zwischen 1000 und 100 kHz. Durch direkte Einwirkung auf das Zellmilieu wird das Ruhepotenzial der Zelle – abhängig von der elektrischen Polung – im Sinne einer Hyper- oder Depolarisation verändert. Daraus resultieren verschiedene physikalische Reaktionen. Schmerzstillung, Hyperämisierung und Erhöhung des Muskeltonus sind die Haupteffekte. Weiterhin lassen sich bei (Teil-)Paresen gezielt Muskelkontraktionen auslösen.
Galvanisation (Gleichstromtherapie) Die gleichbleibende Stromrichtung und die konstante Stromstärke bewirken im Gewebe eine Veränderung des Elektrolytmilieus. Durch die Ionenverschiebung kommt es lediglich zur Reizung von Schmerzrezeptoren. Nerven und Muskelfasern reagieren nicht. Therapeutische Ziele sind somit Analgesie, Sedierung und Erregungshemmung. Eine besondere Form der Gleichstrombehandlung ist das hydroelektrische Vollbad (Stanger-Bad). Hier erfolgt die Abgabe eines sehr niedrig dosierten Gleichstroms über großflächige Elektroden an der Wannenwand. Ebenso wirkt das hydroelektrische Teilbad (2- oder 4-Zellen-Bad), bei dem Arme und/ oder Beine bzw. Unterschenkel eingetaucht sind. Indikationen sind: ▬ Schmerzen unterschiedlicher Genese (Weichteilrheumatismus, Periarthropathien, Arthrosen, chronische Arthritiden) ▬ Muskelatrophien ▬ Neuropathien ▬ (Teil-)Paresen Kontraindikationen bestehen bei: ▬ Herzschrittmachern ▬ Hauterkrankungen und Verletzungen im Behandlungsgebiet ▬ hochfieberhaften Infekten ▬ akuten Entzündungen ▬ Gefäßerkrankungen (periphere arterielle Verschlusskrankheit im Stadium III oder IV)
133 9.3 · Physikalische Therapie
⊡ Tab. 9.1 Bezug zwischen Stimulationsfrequenz, physiologischem Effekt und therapeutischem Effekt Physiologischer Effekt
Frequenzbereich [Hz]
Therapeutischer Effekt
Muskelzuckung
1–5
Stimulation denervierter Skelettmuskulatur
Muskelzuckung im Sinne eines unvollständigen Tetanus
5–8
Tonussenkung der Skelettmuskulatur
Vollständiger Tetanus
50–70 (ab 30)
Skelettmuskeltraining und Atrophieprophylaxe
Stimulation von Hautrezeptoren und sensiblen Afferenzen
80–150 (prinzipiell alle Frequenzen)
Verringerung des Schmerzempfindens
Dämpfung der Aktivität sympathischer Nervenfasern
100–120 (prinzipiell alle Frequenzen)
Reflektorische Gefäßdilatation und Unterbrechung pathologischer Reflexkreise bei chronischem Schmerz
Iontophorese Wie auch bei der Galvanisation (Gleichstromtherapie) erfolgt die Medikamentenapplikation über die Haut mittels Iontophorese. Ein ionisiert vorliegender Wirkstoff wird unter einer Elektrode als Lösung oder Gel aufgebracht (z. B. Voltaren Emulgel). Die Wirkstoffionen übernehmen Teile des Ladungstransports. Eine hohe Stromdichte bis zur Toleranzgrenze, eine lange Therapiedauer (30 min) und großflächige Elektroden erhöhen die Wirkung. Eine bekannte Indikation stellt die Epikondylopathie dar. Aber auch bei anderen Insertionstendinosen sowie bei Periarthropathien und Achillodynie kann mittels Iontophorese wirkungsvoll behandelt werden. Ein Problem besteht darin, dass die Behandlung durch die begrenzte Eindringtiefe des Medikaments oberflächlich liegenden Strukturen vorbehalten bleibt – zu einer Anreicherung im tiefer gelegenen Gelenk kommt es nicht.
Hochfrequenztherapie (Diathermie) Die Hochfrequenztherapie setzt elektromagnetische Wellen und Felder zwischen 13,5 und 2450 MHz zur Wärmebehandlung tiefer Gewebeschichten ein. Infolge der hohen Frequenz der Impulse erfolgt keine sensible oder motorische Reizwirkung, sondern eine Erwärmung des Gewebes. Im Gegensatz zur Infrarotbestrahlung oder Wärmapplikation als Packung wird die Wärme nicht von außen aufgebracht und in den Körper geleitet, sondern entsteht durch die Reibung der Ladungsträger im Gewebe: Das elektromagnetische Feld induziert über eine verstärkte Molekularbewegung eine Energiezunahme und damit eine lokale Erwärmung. Die maximale Erwärmung entwickelt sich 1–4 mm unter der Haut, tiefer liegende Gewebeschichten werden nicht erreicht. In Deutschland sind 3 Frequenzbereiche zur Hochfrequenztherapie freigegeben: ▬ Kurzwelle (27,12 MHz, entsprechend einer Wellenlänge von 11,06 m) ▬ Dezimeterwelle (433,92 MHz, entsprechend einer Wellenlänge von 69 cm) ▬ Mikrowelle (2450 MHz, entsprechend einer Wellenlänge von 12,5 cm) Bei der Kurzwelle wird mittels Kondensatorplatten oder durch Induktion mittels Spulenfeld ein elektromagnetisches Feld auf-
gebaut. Dezimeter- und Mikrowelle induzieren die Tiefenerwärmung über einen elektromagnetischen Strahler. Im Gegensatz zu anderen Verfahren der Elektrotherapie ist kein ummittelbarer Hautkontakt erforderlich. Indikationen sind: ▬ Erkrankungen der Bewegungsorgane mit indizierter Wärmebehandlung ▬ Arthrosen ▬ chronische Arthritiden ▬ Periarthropathien ▬ degenerative Wirbelsäulensyndrome ▬ Weichteilrheumatismus Kontraindikationen sind: ▬ Vorhandensein eines Herzschrittmachers ▬ erhöhte Blutungsneigung ▬ periphere arterielle Verschlusskrankheit im Stadium III oder IV ▬ frische Thrombosen und Myokardinfarkte ▬ akute entzündliche Organerkrankungen ▬ Tuberkulose (Gefahr der Herdeinschmelzung) ▬ relative Kontraindikationen (großräumige Aussparung erforderlich): – Metallimplantate – Gravidität
Ultraschalltherapie Therapeutischer Ultraschall nutzt hochfrequente, mechanische Schwingungen. Durch die mechanischen Schwingungen kommt es zu einer Wärmebehandlung tiefer liegender Gewebeschichten (Thermotherapie). Im engeren Sinne handelt es sich somit um eine Mechanotherapie. Da zur Erzeugung dieser Schwingungen ein Wechselstromgenerator verwendet wird und, wie bereits erwähnt, eine Diathermie erfolgt, wird die Ultraschalltherapie didaktisch jedoch zur Hochfrequenzelektrotherapie gezählt. Mithilfe des piezoelektrischen Effekts werden unter Verwendung hochfrequenter Wechselströme Schwingungen zwischen 800 und 1000 kHz erzeugt und therapeutisch genutzt. Schallwellen sind mechanische Longitudinalwellen, die von einem beweglichen Geräteschallkopf ausgehen und auf die zu behandelnde Körperregion einwirken. Die Eindringtiefe (sog. Halbwertsdicke) beträgt bei 800 kHz 2–3,5 cm. Der Grad der
9
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Kapitel 9 · Krankengymnastik, physikalische Therapie und Rehabilitation
Erwärmung ist dabei vom Schallwellenwiderstand und von der Ultraschallabsorption des Gewebes abhängig. Im Fettgewebe werden die Schallwellen schwach absorbiert, hier kommt es somit zu einer geringeren Erwärmung. In wasserhaltigen Weichteilen hingegen und besonders an den Knochengrenzen kommt es zu einer stärkeren Absorption, also zu einer deutlicheren Erwärmung. Neben der Wärmeentwicklung wird zudem eine durch die mechanische Schwingung ausgelöste Mikromassage angenommen. Ultraschall kann sowohl als Dauerschall mit bewegtem Schallkopf als auch als Impulsschall mit rhythmischen Unterbrechungen angewandt werden. Bei der Impulsanwendung ist die Wärmewirkung bei gleichbleibender, mechanischer Wirksamkeit reduziert. Die Intensitäten sind vom Behandler fest eingestellt. Eine Dosierung erfolgt hier also nicht nach dem subjektiven Empfinden des Patienten wie z. B. bei der Hochfrequenzthermotherapie, sondern in Watt/cm2 Schallkopffläche; die maximale Dosis sollte 1,5–2 Watt/cm2 nicht überschreiten. Um ein Eindringen der Schallwellen in den Körper zu gewährleisten, muss ein Ankopplungsmedium verwendet werden, am häufigsten industriell hergestelltes Ultraschallgel (möglich sind auch Vaseline, Paraffinum liquidum oder ein Wasserbad). Bei sämtlichen Anwendungen sollten der Auflagedruck und die Bewegung des Schallkopfs durch den Behandler oder den Patienten selbst nur gering sein. Zu den Indikationen, bei denen detonisierende, hyperämisierende und/oder analgetische Effekte erwünscht sind, gehören: ▬ degenerative arthrotische Erkrankungen ▬ chronisch-entzündliche rheumatische Krankheitsbilder (mit geringer entzündlicher Aktivität) ▬ weichteilrheumatische Erkrankungen ▬ Tendopathien ▬ Epikondylitiden ▬ sämtliche Periarthropathien ▬ posttraumatische Funktionsstörungen wie Narbenkeloide und Verklebungen ▬ Dupuytren-Kontraktur Kontraindikationen bestehen bei:
▬ generalisierten, akuten, hochentzündlichen oder fieberhaften Erkrankungen ▬ peripherer arterieller Verschlusskrankheit im Stadium III oder IV ▬ hämorrhagischen Diathesen Kontraindiziert sind zudem Beschallungen von Epiphysenfugen im Wachstumsalter. Relative Kontraindikationen bestehen bei Tumoren im Behandlungsgebiet. Das Vorhandensein von Metallimplantaten und Endoprothesen stellt keine generelle Kontraindikation dar. Hier sollte im Einzelfall mit dem behandelnden Arzt Rücksprache gehalten werden. ! Cave Wegen der Gefahr eines Kabelbruchs darf die Anwendung nicht direkt über einem liegenden Herzschrittmacher erfolgen (Sicherheitsabstand: 15 cm).
9.4
Verordnungen
Zum Schluss dieses Kapitels seien einige allgemeingültige Regeln zur Verordnung von physiotherapeutischen Anwendungen erwähnt. Die Vorgaben ändern sich ständig. Die Heilmittelrichtlinien bilden die jeweils aktuelle Grundlage der Heilmittelversorgung. Die aktuellen Richtlinien gelten seit dem 01.07.2004. Der Heilmittelkatalog bestimmt die verordnungsfähigen Heilmittel und die verordnungsfähige Menge für die jeweilige Diagnose. Nicht mehr allein die Diagnose, sondern die mit dieser einhergehende Leitsymptomatik (Indikation) ist die therapiebegründende Verordnungsgrundlage. Die Verordnungen werden ausschließlich vom Arzt ausgestellt. Sie müssen sich an die Heilmittelrichtlinie halten. Die Krankenkasse wird sich dementsprechend bei Unklarheiten oder falsch ausgestellter Verordnung ausschließlich an den behandelnden Arzt wenden. Der sog. Regelfall geht von der Vorstellung aus, dass mit dem der Indikation zugeordneten Heilmittel und der entsprechenden Verordnungsmenge das angestrebte Behandlungsziel erreicht werden kann. (Erstverordnung). Ist das Behandlungsziel nicht erreicht, kann mit entsprechender Begründung durch den Arzt und Genehmigung der Krankenkasse ein Folgerezept ausgestellt werden (Folgeverordnung). Auf Wunsch des Arztes erstellt der Physiotherapeut nach erfolgter Behandlungsserie einen Behandlungsbericht. Für genauere Informationen sei an dieser Stelle auf die allgemeinen Heilmittelrichtlinien (zu finden z. B. unter www.heilmittelkatalog.de) verwiesen.
Grundsätzliches Ohne schriftliche Verordnung ist keine Behandlung möglich. Ohne weitere Hinweise unterliegt der Beginn der Behandlung einer Frist von 10 Tagen. Zusätzlich zur Diagnose sollte der Arzt die für die Physiotherapie relevanten Nebenerkrankungen aufführen. In der ärztlichen Verordnung ist die Gesamtanzahl der Behandlungen festgelegt, gängig sind in der Praxis 6 oder 10 Behandlungen. Die Behandlungsfrequenz ist ärztlich festzulegen. Erkrankungen mit rasch wechselndem Erscheinungsbild, z. B. chronische Polyarthritis, erfordern einen individuellen Behandlungsturnus. Bei stationärer Behandlung wird von einer täglichen Behandlung ausgegangen. > Wichtig ist die Angabe des Therapieziels.
Die krankengymnastische Behandlung ist in der Regel eine Einzeltherapie. Die Durchführung einer Gruppentherapie muss auf dem Rezept vermerkt sein. Rechtlich ist eine Verordnung »Krankengymnastik« ausreichend, der Physiotherapeut wählt die anzuwendenden Maßnahmen. Bei konkreten Therapieangaben, z. B. Atemtherapie oder Physiotherapie nach Brügger, ist nur der Einsatz der vorgeschriebenen Maßnahme möglich. Durch den Zusatz »auf neurophysiologischer Basis« können die auf neurophysiologischer Grundlage arbeitenden Methoden wie Bobath-Therapie, Vojta-Methode und PNF verordnet und vom Physiotherapeuten entsprechend der komplexen Behandlung höher abgerechnet werden. Bedingungen für den erhöhten Abrechnungssatz sind die durch Zertifikatskurs erworbene Qualifikation des
135 Literatur
Physiotherapeuten und der Nachweis gegenüber der Krankenkasse. Nachfragen speziell zu Verordnungen, ein regelmäßiger Informationsaustausch durch die Teilnahme an Visiten und feste Besprechungen sind mancherorts schon die Regel und wären sicherlich für jede Therapie wünschenswert. Ein Vorteil der stationären Behandlung besteht sicherlich darin, dass ein direkter Informationsaustausch zwischen behandelndem Arzt und Physiotherapeut beinahe jederzeit möglich ist.
Literatur Brügger A (1990) Gesunde Körperhaltung im Alltag. Zürich: Brügger Földi M (2003) Grundlagen der manuellen Lymphdrainage, 3. Aufl. München: Urban & Fischer in Elsevier Grifka J (1995) Naturheilverfahren – Bewährte Methoden, anerkannte Therapien. München: Urban & Schwarzenberg Hedin S (2007) PNF– Grundverfahren und Funktionelles Training. München: Urban & Fischer in Elsevier Kolster B, Ebelt-Paprotny G, Hirsch M (1994) Leitfaden Physiotherapie. Neckarsulm: Jungjohann Krämer J, Grifka J (2007) Orthopädie, 8. Aufl. Heidelberg: Springer Morfeld M, Mau W, Jäckel WH, Koch U (2007) Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren. München: Urban & Fischer in Elsevier Neumann H-D (2003) Manuelle Medizin, 6. Aufl. Heidelberg: Springer Werner G, Diehl R, Klimczyk K, Rude J (2000) Checkliste Physikalische und Rehabilitative Medizin. Stuttgart: Thieme
9
10
Skelettsystemerkrankungen
10.1
Angeborene Skelettsystemerkrankungen – 140
10.1.1 10.1.2 10.1.3 10.1.4
Einleitung – 140 Dysplasien – 140 Störungen der Knochendichte – 146 Störungen des Knorpel- und Fasergewebes
10.2
Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen – 164
10.2.1 10.2.2 10.2.3 10.2.4 10.2.5
Knochenstoffwechsel – 164 Einfluss verschiedener Hormone auf den Knochenstoffwechsel Kalzium- und Phosphathaushalt – 166 Diagnostik – 168 Erkrankungen – 171
Literatur
– 152
– 181
Internetadressen
– 183
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 165
140
10.1
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Angeborene Skelettsystemerkrankungen
H. Klima, J. Schaumburger, C. Lampert
10.1.1
10
Einleitung
Wie der Begriff schon sagt, ist bei diesem Krankheitsbild nicht ein einzelnes Organ betroffen. Vielmehr handelt es sich um multiple Störungen, die nicht nur den Bewegungsapparat betreffen. Gemeinsam ist diesen Erkrankungen, dass sie mit nur wenigen Ausnahmen erblich sind und somit als Heredopathien bezeichnet werden und dass sie in aller Regel mit einem Klein- oder Zwergwuchs einhergehen (Endgröße von <150 cm). Obwohl diese Erkrankungen sehr heterogene Auswirkungen haben, ist es insbesondere der Kleinwuchs, der in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihren hohen ästhetischen Anforderungen im Vordergrund steht. Die angeborenen Skelettsystemerkrankungen sind mit einer Häufigkeit von 2–40/1 Mio. Einwohner sehr selten und gehören somit auch im kinderorthopädischen Alltag zu den Raritäten. Die meisten Kinder sind nicht behindert und empfinden die wenigen Einschränkungen im Alltag auch nicht als Behinderung. Die Funktionseinschränkungen können zudem durch praktische Hilfsmittel und Kreativität kompensiert werden. Viel störender ist in der Regel der Sonderstatus in der Gesellschaft und auch schon in der Familie. Therapiert werden die betroffenen Patienten nur in wenigen Fällen, und zwar mit verlängernden orthopädischen Maßnahmen, die allerdings nur mit erheblichem Aufwand möglich sind. Viel häufiger kommen Maßnahmen zur Korrektur von Deformitäten im Bereich der Extremitäten oder im Bereich der Wirbelsäule, zur Korrektur von Anomalien im Bereich der Hände und Füße sowie zur Korrektur von Gelenksstellungen zur Anwendung. Diese dienen der kurzfristigen funktionellen Verbesserung sowie der Prophylaxe von sekundären Gelenkveränderungen und Funktionseinschränkungen im Erwachsenenalter. > Da die Problematik in der Regel nicht nur einen Extremitätenabschnitt betrifft und die Behandlung sehr zeitaufwendig ist, muss häufig ein individueller Therapieplan erstellt werden, um den Kindern zum Wachstumsende eine möglichst optimale Achsstellung der unteren Extremitäten und bestmögliche Gelenkstellungen zu ermöglichen.
Systemerkrankungen, die mit ausgeprägtem Zwergwuchs und einer Endgröße unter 100 cm vergesellschaftet sind, kommen bei der Pseudoachondroplasie, beim diastrophischen Zwergwuchs und bei der Osteogenesis imperfecta vor. Der mittelgradige Zwergwuchs mit einer Endgröße zwischen 100 und 130 cm ist typischerweise bei Mukopolysaccharidose, Pseudoachondroplasie, Achondroplasie, diastrophischem Zwergwuchs, Osteogenesis imperfecta, Chondrodysplasia calcificans punctata, Kniest-Syndrom, metatrophischem Zwergwuchs, Cornelia-deLange-Syndrom und spondyloepiphysärer Dysplasie möglich. Ein nur geringer Zwergwuchs mit einer Endgröße zwischen 130 und 150 cm ist bei Mukopolysaccharidose, Ehlers-Danlos-
Syndrom Typ VII und Hypochondroplasie zu erwarten, ein Kleinwuchs mit einer Endgröße von >150 cm hingegen bei Trisomie 8, multipler epiphysärer Dysplasie, multiplen Osteochondromen, Athrogryposen und Larsen-Syndrom. Die Klassifikation dieser sehr heterogenen Krankheitsgruppe erfolgt jedoch nach der Art der Störung im Bindegewebe(Knochen-)Aufbau (Spranger 1992): ▬ Defekte der langen Röhrenknochen und des Achsenskeletts (24 Untergruppen entsprechend klinischen und genetischen Gesichtspunkten) ▬ Störung der Organisation der knorpeligen und bindegewebigen Komponenten des Skeletts (die meisten Heredopathien mit tumorähnlichem Befund) ▬ idiopathische Osteolysen (mit 4 Untergruppen) In den folgenden Abschnitten sind nur diejenigen Skelettsystemerkrankungen mit relevanten orthopädischen Problemen aufgeführt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Die häufigsten Systemerkrankungen sind die Neurofibromatose und die Osteogenesis imperfecta mit jeweils 15–25 Betroffenen pro 1 Mio. Einwohner. Darauf folgen das Marfan-Syndrom, die multiple epiphysäre Dysplasie sowie die spondyloepiphysäre und die diaphysäre Dysplasie mit jeweils 10–15 Betroffenen pro 1 Mio. Einwohner. Mit ca. 5 Betroffenen pro 1 Mio. Einwohner schließen sich die Achondroplasie, die Pseudoachondroplasie, die Dyschondrosteosis, die fibröse Dysplasie, das Ehlers-Danlos-Syndrom, die Osteopetrose und die Hypochondroplasie an. Alle anderen Skelettsystemerkrankungen kommen noch seltener vor. Die weitaus häufigste Skelettsystemerkrankung ist die Trisomie 21 (bis zu 1000 Betroffene pro 1 Mio. Einwohner). > Die Skelettsystemerkrankungen bedingen nicht nur Anomalien im Bereich des Bewegungsapparats, sondern sehr häufig auch im Gesicht, wodurch die verschiedenen, sehr heterogenen Skelettsystemerkrankungen oftmals bereits voneinander unterschieden werden können.
10.1.2
Dysplasien
Skelettdysplasien sind alle erblich und somit angeboren. Es zeigen sich Veränderungen im Bereich des Knorpels und des Knochengewebes mit sehr variabler klinischer und symptomatischer Ausprägung. Auch die Beteiligung der Extremitätenknochen ist bezüglich Schweregrad und Häufigkeit sehr unterschiedlich, ebenso Deformitäten von Becken und Wirbelsäule.
Chondrodysplasie z
Synonyme
Achondrodysplasie, Chondrodystrophia fetalis, Zwergenwuchs, OMIM 100800, Achondrodysplasia z
Definition
Die Erstbeschreibung erfolgte im Jahre 1878 durch Barreau und die Beschreibung der Chondrodystrophie im Jahre 1892 durch Kaufmann. Die Chondrodysplasie ist eine autosomal-dominant
141 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
vererbliche Erkrankung mit Zwergwuchs und Störung der enchondralen Ossifikation bei normaler periostaler Knochenbildung. Typische Befunde sind kurze Extremitäten bei normaler Rumpflänge und Kopfgröße, vorspringender Stirn und Sattelnase. Der lumbale Spinalkanal ist verengt, und es zeigen sich typische Veränderungen im Bereich des Beckens. In der Regel haben die Diaphysen einen normalen Durchmesser, da die periostale Ossifikation normal ist. Sehr häufig sieht man Spontanmutationen bei normalwüchsigen Eltern. Die Diagnose wird aufgrund der sehr kurzen Extremitäten im Verhältnis zu Kopf und Rumpf häufig bereits pränatal gestellt. Ansonsten ist nach der Geburt das typische Gesicht für die Diagnosestellung wegweisend. z
Epidemiologie
Auftreten bei 1/30.000 bis 1/10.000 Lebendgeburten. Weltweit ca. 250.000 betroffene Patienten. z
Ätiologie und Pathogenese
Es handelt sich um eine Störung der enchondralen Ossifikation. Der Erbgang ist autosomal-dominat, meist Spontanmutation (80%) des »fibroblast growth factor receptor 3« (FGFR-3), was zu einer Störung der Zellproliferation bei der Differenzierung der Chondrozyten in der Wachstumsfuge führt. Bei 95% der Patienten liegt derselbe Punktmutation vor. z
Anatomie
Auffällig ist der disproportionierte, rhizomele Kleinwuchs mit einer Körpergröße von 115–145 cm (Zichner u. Enderle 2003c) und einer charakteristischen Kopfform (großer Hirnschädel, vorspringende Stirn, Mittelgesichtshypoplasie mit Sattelnase und prominenter Unterkiefer). Der Stamm ist von normaler Länge. Sie Schultern sind aufgrund des desmalen Wachstums der Klavikula breit, die Arme verkürzt, insbesondere proximal; sie reichen bis zum Trochanter major und nicht – wie normalerweise – bis zur Mitte des Oberschenkels. Der Abstand zwischen dem dritten und vierten Finger ist vergrößert (sog. 3-Zack-Hand). Die Hyperlordose der Lendenwirbelsäule und die Hüftbeugekontraktur führen zu einem ausladenden Gesäß und zu einer Vorwölbung des Abdomens. Die untere Extremität zeigt wegen des überproportionalen Wachstums der Fibula ein Genu varum recurvatum und eine Varusstellung des Rückfußes. Häufig kommt eine Adipositas vor. z
Diagnostik
Eine DNS-Untersuchung ist möglich, v. a. pränatal bei auffälligem Sonogramm oder bei der humangenetischen Beratung betroffener Elternteile. In den meisten Fällen ist die Chondrodysplasie in eine Blickdiagnose. z z Bildgebende Verfahren
Die Achondroplasie zeigt typische radiologische Veränderungen, vorwiegend an Schädel, Wirbelsäule, Becken und Extremitäten (⊡ Abb. 10.1). Die Diagnostik kann durch CT und MRT, insbesondere zur Beurteilung des Foramen occipitale magnum und der Spinalkanalstenose, ergänzt werden. Das Schädeldach ist vergrößert, mit frontaler Prominenz, Mittelgesichtshypoplasie und Verkürzung der Schädelbasis mit einem engen Fo-
⊡ Abb. 10.1 Achondroplasie: typischer Befund der unteren Extremitäten im Röntgenbild bei einem 4-jährigen Jungen
ramen magnum. Die Wirbelkörper sind normal hoch und breit, allerdings mit sehr kurzen Wirbelbögen und Einengung des Spinalkanals. Bei einigen Patienten finden sich Keilwirbel. Es zeigt sich eine Hyperlordose der Lendenwirbelsäule mit horizontal stehendem Os sacrum. Die Beckenschaufeln sind niedrig und breit (fast quadratisch). Im Kindesalter weisen die Patienten eine enge Incisura ischiadica major (»notch«) auf. Das Azetabulum steht horizontal, die Trochanteren sind prominent. Die Röhrenknochen sind kurz und weisen prominente Muskelansätze auf. Es kommen verbreiterte Metaphysen mit spitzen Ausziehungen zur Darstellung. Am Kniegelenk sind die Epiphysen V-förmig. Die Fibula ist überlang, somit kommt es zu Crus varum und Genu varum. z
Differenzialdiagnosen
Zu den Differenzialdiagnosen der Achondroplasie zählt u. a. die Hypochondroplasie mit geringerer Ausprägung sehr ähnlicher Veränderungen. Hier wird die Diagnose häufig erst nach dem 3. Lebensjahr gestellt. Klinische wie auch radiologische Befunde sind ähnlich, aber deutlich geringer ausgeprägt. Lum-
10
142
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
balstenosen kommen nur selten vor. Es ist eine Endkörpergröße von 130–150 cm zu erwarten. Eine weitere Differenzialdiagnose ist die Pseudoachondroplasie. Diese weist ein gemischtes Vererbungsmuster auf, wird jedoch zumeist autosomal-dominant vererbt. Der Zwergwuchs ist allerdings proportionierter, da auch der Rumpf verkürzt ist. Die Endgröße beträgt nur 100–120 cm, und die Bandlaxizität ist ausgeprägter als bei der Achondroplasie. Auch hier ist die Intelligenz normal. Wie bei der Achondroplasie und der Hypochondroplasie besteht eine relative Überlänge der Fibula mit Ausprägung von Genua vara. Hier zeigen sich die Epiphysen mit kleinfragmentären Ossifikationskernen, wobei Hüft- und Kniegelenke am stärksten betroffen sind. Aufgrund der Epiphysenveränderungen kommt es frühzeitig zu Gelenkdeformitäten mit Arthrosen, weshalb es bei der Pseudoachondroplasie besonders wichtig ist, Achsabweichungen frühzeitig zu korrigieren; später kommen Totalendoprothesen zum Einsatz. Wegen der Epiphysenveränderungen sind Beinverlängerungen bei der Achondroplasie auf jeden Fall zu vermeiden. Bei der Pseudoachondroplasie sind Skoliosen und Kyphoskoliosen häufiger zu beobachten, wobei die Korsetttherapie in der Regel wenig erfolgreich ist und zum Wachstumsende häufig Spondylodesen durchgeführt werden müssen. Weitere Differenzialdiagnosen der Achondroplasie sind die spondyloepiphysäre Dysplasie und der diastrophe Zwerg-
10
wuchs. z
Therapie
Es wurden Behandlungsversuche mit Wachstumshormon unternommen, allerdings ohne Langzeiteffekt. Das zusätzliche Wachstum lag bei 4 cm (Zichner u. Enderle 2003c). Im experimentellen Stadium befinden sich Inhibitoren der FGFR-3Tyrosinkinase bzw. Antikörper, welche die Aktivierung von FGFR-3 blockieren. Diese Ansätze zeigten in vitro eine gute Wirkung, allerdings ließ sich im Tiermodell noch keine Wirkung erreichen (Horton et al. 2007).
wicklung der Genua vara mit großer Sicherheit zu vermeiden. Im Bereich der Wirbelsäule findet sich häufig eine langgezogene Kyphose bis zur proximalen Lendenwirbelsäule, darunter eine deutlich ausgeprägte Lordose mit häufiger Ausbildung einer Spinalkanalstenose schon im Kindheitsalter, bei Jugendlichen symptomatisch wird. Hier ist dann eine Laminektomie oder eine Erweiterung des Foramen vertebrale indiziert, spätestens bei neurologischen Ausfällen. In wenigen Fällen ist der intensive Wunsch nach einer Beinverlängerung nicht durch Überzeugungsarbeit oder psychologische Betreuung zu verhindern. Sinnvoll ist dieses Vorgehen jedoch nur dann, wenn eine Körpergröße über 150 cm erreicht werden kann, was bei einer zu erwartenden Körpergröße von 120 cm nur mit einer Vielzahl von operativen Eingriffen und Tragezeiten von 2–4 Jahren möglich ist. Bei Verlängerungen von mehr als 6 cm im Rahmen einer einzigen Phase steigt die Komplikationsrate äußerst stark an. Sollten sich Patient und Arzt für einen Therapieplan mit Verlängerung über Jahre entscheiden, ist eine gute Vorbereitung der Kinder und der Eltern notwendig, u. a. durch Gespräche mit bereits behandelten Kindern. In einigen Fällen (falls die Verödung der Wachstumsfugen der Fibula versäumt wurde) ist eine Korrektur der Genua vara mittels Osteotomie zu empfehlen. z
Dysostosis cleidocranialis z
Durch Gliedmaßenverlängerung kann ein Längenzuwachs von max. 15–30 cm erreicht werden. Die Behandlungsdauer beträgt allerdings viele Monate, und es sind mehrere Operationen im Rahmen mehrerer stationärer Aufenthalte erforderlich. Bevorzugt werden Verlängerungsdistraktionen an den Unterschenkeln mit gleichzeitiger Beinachsenkorrektur. Oberschenkelverlängerungen sind wegen der kräftigeren Muskulatur schwieriger. > Über Komplikationen wie Wundinfektionen, Fehlstellungen sowie Probleme mit Weichteilen, Gefäßen und Nerven durch die Extension ist aufzuklären.
In den ersten Jahren haben die Kinder in aller Regel keine Beschwerden oder Einschränkungen, und auch eine prophylaktische Therapie ist bis zum 5. Lebensjahr normalerweise nicht indiziert. Die im Laufe des Wachstums typischerweise ausgeprägter zutage tretenden Genua vara werden durch eine relative Überlänge der Fibula gegenüber der Tibia verursacht. Meist kann im Alter von 5 Jahren eine komplette Epiphyseodese proximal und distal der Fibula empfohlen werden, um die Ent-
Synonyme
Kleidokranielle Dysplasie, Scheuthauer-Marie-Sainton-Syndrom, OMIM 119600 z
z z Operative Therapie
Prognose
Die Lebenserwartung ist gegenüber der Allgemeinbevölkerung um 10–15 Jahre verkürzt (Horton et al. 2007). Patienten mit Chondrodysplasie haben ein geringeres Einkommen und einen niedrigeren Bildungsstand als andere Menschen, obwohl diese Erkrankung mit keinerlei mentalen Beeinträchtigungen einhergeht.
Definition
Die Dysostosis cleidocranialis ist eine seltene, variable Erkrankung des Skelett- und Zahnsystems mit mehr als 100 assoziierten Anomalien. Zu den auffälligsten Anomalien gehören eine Hypobzw. Aplasie der Klavikel sowie eine massive Zahnüberzahl. z
Ätiologie und Pathogenese
Mundlos und Lee gelang es im Jahre 1997, durch Nachweis einer Mikrodeletion am CBFA1/RUNX2-Gen die molekularbiologische Ursache für diese Störung der Knochenentwicklung darzustellen. Das Genprodukt gilt inzwischen als Koordinator sowohl der frühen pränatalen Osteogenese als auch der postnatalen Knochenremodellation. Außerdem spielt es bei der Chondrozytendifferenzierung während der enchondralen Ossifikation eine Rolle. Der Erbgang ist autosomal-dominant, mit kompletter Penetranz, allerdings breiter Expressionsvariabilität. Das Leiden tritt familiär gehäuft auf, wobei der Anteil an Spontanmutationen auf 15–40% geschätzt wird. Die Seltenheit der Erkrankung (1/1.000.000) und ihre Variabilität erschweren eine systematische Befundung.
143 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
z
Anatomie
Die bezeichnenden Eigenschaften der Erkrankung finden sich in der Hypo- bzw. Aplasie der Klavikel wieder, welche die charakteristische Mobilität der Schultern in Kombination mit einer flügelartigen Aufstellung der Scapulae ermöglicht. Weiterhin typisch ist die deutliche Zahnüberzahl in beiden Kiefern. Da lediglich das bleibende Gebiss betroffen ist, lässt sich erst beim Jugendlichen eine Diagnose stellen. Zu den typischen kraniofazialen Merkmalen gehören: ▬ verspäteter Fontanellenschluss ▬ vorgewölbte Stirn ▬ Hypoplasie des Mittelgesichts ▬ fehlender Nasenknochen ▬ abgerundeter Kieferwinkel ▬ Worm-Knochen z
Diagnostik
Durch genetische Untersuchung des RUNX2-Genes können Mutationen diagnostiziert werden. Bisher sind mehr als 10 verschiedene Mutationen bekannt. z z Klinische Untersuchung
Charakteristisch ist die vermehrte Beweglichkeit der Schultern nach vorne (⊡ Abb. 10.2). Teilweise können die Patienten ein Blatt Papier zwischen den Schultern halten. Dies basiert auf dem Defekt der Klavikel, der sehr variabel ausgeprägt ist. Die Patienten sind oft kleiner als der Erwachsenendurchschnitt. Weiterhin fällt ein breiter, großer Kopf mit Maxillahypoplasie
a
b
und fehlendem Verschluss der vorderen Fontanelle auf. An orthopädischen Befunden zeigen sich bei einer Vielzahl der Patienten eine Skoliose, eine Brachydaktylie, Genua valga, Pedes planus und eine Hüftdysplasie. Es kommt häufig zu Frakturen. z z Bildgebende Verfahren
Zur Sicherung der Diagnose kann eine Röntgenaufnahme des Schultergürtels (Klavikel) angefertigt werden (⊡ Abb. 10.3). Allerdings ist die Ausprägung der Dysplasie der Klavikel sehr unterschiedlich – sie kann von einem fast normal angelegten Schlüsselbein bis zur Aplasie reichen. Der Thorax kann sich glockenförmig darstellen. Am Schädel zeigt sich eine brachyzephale Schädelform mit sog. Worm-Knochen, fehlendem Verschluss der Fontanelle beim Erwachsenen, Maxillahypoplasie, Prognathie und überzähligen Zähnen. An der Wirbelsäule kommt es zu Bogenschlussstörungen, Spondylolyse und Spondylolisthese. Einige Patienten weisen eine Skoliose und eine Kyphose auf. Auf Beckenaufnahmen zeigen sich hypoplastische Darmbeinschaufeln, verzögerte Ossifikationen an den Schambeinknochen, deformierte Hüftköpfe (»chef ’s hat«) und Hüftdysplasien. Teilweise sind Spaltbecken beschrieben. An Händen und Füßen kann man Brachydaktylien finden. z
Therapie
Der Defekt an den Klavikeln bedarf in der Regel keiner Therapie. Eine Vorstellung beim Zahnarzt bzw. Kieferorthopäden ist wegen der Überzahl der Zähne, dem fehlenden Ausfallen der Milchzähne und dem ausbleibenden Durchbruch der bleiben-
⊡ Abb. 10.2a,b Dysostosis cleidocranialis: vermehrte Beweglichkeit der Schultern nach vorne
10
144
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
⊡ Abb. 10.3 Dysostosis cleidocranialis im Röntgenbild
10
a
b
c
⊡ Abb. 10.4a–c Metaphysäre Dysplasie. a Mädchen (6,5 Jahre) vor der operativen Korrektur, b 1 Jahr nach fugenübergreifender Platte zur Hemiepiphyseodese medial, c 1,5 Jahre nach Metallentfernung
den Zähne hingegen notwendig. Bei Hüftdysplasien kann eine Umstellungsosteotomie durchgeführt werden.
▬ multiple epiphysäre Dysplasie ▬ Dysplasia epiphysealis hemimelica
Epiphysäre Dysplasie
Metaphysäre Dysplasie
z
Diese seltene Heredopathie wird autosomal-rezessiv vererbt und verursacht nur einen geringfügigen Kleinwuchs. Typische Veränderungen sind die Deformitäten im Bereich der langen Röhrenknochen und hier besonders im Bereich der Metaphysen mit einer deutlichen Verbreiterung. Diese Dysplasie nimmt einen äußerst benignen Verlauf und führt nur selten zu Genua valga sowie zu einer erhöhten Knochenbrüchigkeit. Selten sind wachstumslenkende Eingriffe im Bereich der Epiphysenfugen oder Korrekturosteotomien indiziert (⊡ Abb. 10.4).
Synonyme
Fairbank-Erkrankung, Ribbing-Müller-Erkrankung, Dysplasia epiphysealis multiplex. z
Definition
Angeborene Skeletterkrankung mit multiplen epiphysären Wachstumsstörungen und nachfolgender Gelenkdegeneration. Man unterscheidet folgende Unterformen: ▬ metaphysäre Dysplasie ▬ spondyloepiphysäre Dysplasie
145 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
a
b
Spondyloepiphysäre Dysplasie
Bei dieser Heredopathie unterscheidet man einen KongenitaTyp, der in der Regel schon bei Säuglingen diagnostiziert und autosomal-dominant vererbt wird, von einem Tarda-Typ, der X-chromosomal-rezessiv vererbt wird und somit nur bei Jungen vorkommt. Hier erfolgt die Diagnosestellung in der Regel erst im Vorschulalter bei nur mäßigem Minderwuchs. Beide Typen sind mit einem disproportionierten Minderwuchs verbunden. Deutlich stärker betroffen ist hier die Wirbelsäule. Bei der Kongenita-Form findet man schon bei der Geburt häufig Coxa vara, später Hüftflexionskontrakturen, Schenkelhalspseudarthrosen mit rasch progressiver varischer Fehlstellung und Hyperlordosen im Lendenwirbelsäulenbereich (⊡ Abb. 10.5). Die Wirbelkörper zeigen eine ausgezogene Deformität bei dysplastischem Dens und Gefahr einer atlantoaxialen Instabilität. Es ist eine deutliche Häufung von Skoliosen und Kyphosen sowie Thoraxdeformitäten zu beobachten. Außerdem kommen gehäuft Klumpfüße, Lippen-Kiefer-GaumenSpalten und Katarakte sowie Myopie und Taubheit vor. Bei der Tarda-Form sind all diese Veränderungen möglich, jedoch weniger ausgeprägt. Im Rahmen der orthopädischen Therapie sollten die Skoliose- und die Kyphosefehlbildung mittels einer konsequenten Korsetttherapie angegangen und bei Therapieresistenz operativ korrigiert werden. Die Deformitäten der unteren Extremitäten lassen sich durch wachstumslenkende orthopädische Eingriffe gut beeinflussen. Die Schenkelhalsdeformitäten sollten früh eher überkorrigiert und möglichst bis zum Wachstumsende stabilisiert werden, beispielsweise durch Hohlschrauben. Auf
⊡ Abb. 10.5a,b Spondyloepiphysäre Dysplasie. a Typisches Röntgenbild der unteren Extremität eines Kleinkindes vor operativen Eingriffen, b nach multiplen korrigierenden und stabilisierenden Eingriffen bei Wachstumsende
diese Weise lassen sich sekundäre Hüftkopfdeformitäten häufig verhindern. Multiple epiphysäre Dysplasie
Diese Erkrankung ist besonders im Bereich der Schenkelhälse nicht immer leicht von der spondyloepiphysären Dysplasie abzugrenzen. Jedoch zeigen sich keine Veränderungen an der Wirbelsäule. Auch die Abgrenzung gegenüber dem M. Perthes ist nicht immer leicht. Es handelt es sich um eine autosomal-dominante Heredopathie, wobei 3 Formen unterschieden werden: ▬ lokalisierte Form nach Meyer (nur Femurköpfe betroffen, auch als Dysplasia epiphysealis capitis femoris beschrieben) ▬ milde Form nach Ribbing mit Dysplasie der Femurköpfe und geringer Beteiligung der Finger und Zehen ▬ schwere Form nach Fairbank mit sehr später Ossifikation der Femurkopfkerne und der meisten Epiphysen sowie mit plumpen Fingern und Zehen bei mäßigem Kleinwuchs Der schwere Verlauf mit schlechter Prognose und rascher Deformierung der Epiphysen ist durch therapeutische Maßnahmen kaum zu beeinflussen. Die Prognose ist in der Regel schlecht, und es müssen frühzeitig Gelenkendoprothesen eingesetzt werden. Im Kleinkindalter treten belastungsabhängige Schmerzen auf, und im Röntgenbild zeigt sich eine verzögerte Ossifikation des Femurkopfkerns mit Unregelmäßigkeiten, die vom Befund bei M. Perthes oft nur schwierig zu unterscheiden sind. Ebenfalls häufig findet sich eine Coxa vara. Falls die klinischen Veränderungen im Bereich der Hände nicht aussagekräftig genug sind, offenbart das Röntgenbild die typischen
10
146
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
plumpen Phalangen und Epiphysenveränderungen. Außerdem sind immer beide Hüftköpfe betroffen, und es kommt zu keiner Lateralisation, wobei das Azetabulum häufig stärker mitbeteiligt ist. Die mediale Säule ist betroffen im Gegensatz zu den lateralen Säulen beim M. Perthes. Der kurzfristige Verlauf ist oftmals benigner als der des M. Perthes, wobei die Langzeitprognose auf der anderen Seite schlecht ist: Es kommt zu deutlichen Deformierungen der Hüftköpfe und des Schenkelhalses mit beginnender Koxarthrose, teilweise schon um das 20. Lebensjahr. Dysplasia epiphysealis hemimelica
10
Bei dieser Heredopathie ist der Erbgang unbekannt. Es handelt sich um die seltenste der beschriebenen Dysplasien. Hier bilden sich Osteochondrome im Bereich der Epiphysen langer Röhrenknochen, aber auch im Bereich der karpalen oder tarsalen Knochen. Außer den typischen Osteochondromen sind diese nur durch ihre Lokalisation zu unterscheiden, nämlich epiphysär und nicht metaphysär. Histologisch bieten diese Veränderungen das gleiche Bild. Die orthopädischen Probleme entstehen oft erst im Vorschulalter. Selten werden die Kinder aufgrund von Gelenkbeschwerden, häufiger wegen Deformitäten im Bereich der Knie vorgestellt. Störende Veränderungen werden operativ entfernt, wobei die Rezidivhäufigkeit ausgeprägter ist als bei den klassischen Osteochondromen. Nach dem Wachstumsabschluss ist eine deutlich geringere Aktivität zu erwarten. z
Epidemiologie
Die Prävalenz wird auf 16,3 pro 1 Mio. Einwohner bzw. auf 9 pro 100.000 Geburten (Enderle 2003) geschätzt.
z
z z Operative Therapie
Bei fortgeschrittenen Befunden ist nur noch die endoprothetische Versorgung sinnvoll. Bei geringerer Ausprägung zielt die Behandlung auf den Erhalt des »containment« ab. Am Hüftgelenk kann dies durch varisierende, aber auch valgisierende Umstellungsosteotomien erreicht werden. Manche Autoren empfehlen zusätzlich die Verbesserung der Pfannendachanatomie. An den Kniegelenken sollte man beim Auftreten von Beschwerden die Achsenfehlstellung korrigieren.
10.1.3
Ätiologie und Pathogenese
Es wird ein gestörter Transport der Knorpelproteoglykane vom rauen endoplasmatischen Retikulum zum Golgi-Apparat vermutet. Es handelt sich um einen autosomal-dominanten, selten autosomal-rezessiven Erbgang. Die Mutation liegt entweder im »Cartilage-oligomeric-matrix-protein«-(COMP-) oder im Kollagen-IX-Gen. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Mit zunehmendem Wachstum kommt es zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen an den großen Gelenken. Das Hüftgelenk steht an erster Stelle. Es folgen Schulter, Ellenbogen, Hand, Fuß und Kniegelenke. Die Körpergröße ist nur wenig bis gar nicht reduziert und liegt bei 140–170 cm.
Störungen der Knochendichte
Osteogenesis imperfecta z
Definition
Die Osteogenesis imperfecta gehört zur Gruppe der autosomaldominant oder autosomal-rezessiv vererbten Krankheiten. Zum Krankheitsbild gehören: ▬ abnorme Brüchigkeit der Knochen ▬ blaue Skleren ▬ Schwerhörigkeit ▬ allgemeine Bandlaxizität ▬ gesteigerte Verletzlichkeit der Haut (unterschiedlich stark ausgeprägt) z
z
Therapie
Die Therapie richtet sich auf die Behandlung der Arthrose. Diese tritt bei Patienten mit epiphysärer Dysplasie und schlechter Kongruenz der Gelenke schon ab dem 20. Lebensjahr auf.
Epidemiologie
Die Prävalenz beträgt 16,3 pro 1 Mio. Einwohner, wobei Typ I am häufigsten vorkommt, Typ II nur halb so oft zu beobachten ist und die Typen III und IV extrem selten sind. z
Ätiologie und Pathogenese
Bei der Osteogenesis imperfecta sind die Osteoblasten sehr aktiv, aber nicht in der Lage, aus den Retikulinfasern normales Kollagen zu bilden. Insbesondere fehlen die »cross-links«, die für die Polymerisation und damit für die Stabilität des Kollagens essenziell sind. Der Enzymdefekt ist bei den verschiedenen Typen unterschiedlich. Die Frakturheilung ist trotzdem ungestört, zeigt aber meistens große Kallusformationen. Histologisch sind dünne Knochentrabekel mit verminderter Grundsubstanz vorhanden. Zudem finden sich Faserknochenbezirke mit abnormem Proteoglykangehalt.
z z Bildgebende Verfahren
z
Die Befunde sind meist seitensymmetrisch. Die Epiphysenkerne sind klein, abgeflacht, unregelmäßig gestaltet und fragmentiert. Dies fällt besonders stark an den Femurköpfen auf und erschwert die Abgrenzung gegenüber dem M. Perthes. Die Humerusköpfe zeigen Deformitäten. Durch eine überlange Ulna kann es zu Subluxationen kommen. An den Händen fallen kurze Phalangen auf. Am Kniegelenk kann eine doppelschichtige Patella vorliegen, oft zeigen sich Genua valga. Der Malleolus lateralis ist etwas länger als der Innenknöchel.
Die ersten genauen Beschreibungen stammen von Lobstein (1835) und Vrolik (1849), obwohl die Krankheit schon seit dem Altertum bekannt ist. Looser nahm im Jahre 1906 die erste Einteilung vor und unterschied dabei eine kongenitale von einer Tarda-Form. Bei der kongenitalen Form sind die Frakturen schon bei der Geburt vorhanden, bei der Tarda-Form treten sie erst in der Jugendzeit auf. In Anlehnung an die Erstbeschreiber bezeichnete man die kongenitale Form auch als »Typ Vrolik« und die zweite als »Typ Lobstein«. Sillence stellte im Jahre 1979 eine neue
Klassifikation
147 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
⊡ Tab. 10.1 Klassifikation der Osteogenesis imperfecta nach Sillence Typ
Vererbung
Charakteristika
Prävalenz
I
Autosomal-dominant
1/30.000
II
Autosomal-rezessiv
Schwerste Form der Osteogenesis imperfecta Tod bei der Geburt oder in der frühen Kindheit
1/60.000
III
Autosomal-rezessiv
Extrem gering
IV
Autosomal-dominant
Knochenbrüchigkeit unterschiedlich (bei Geburt normal, dann unterhalb des Normbereichs) bei 30% der Patienten Skoliosen häufig Dentinogenesis imperfecta (Typ B; sonst Typ A) Übergangsform zwischen Typen I und III
V
–
VI
–
Mineralisationsdefekt Wirbelkompressionsfrakturen Extremitätendeformitäten
VII
Autosomal-rezessiv
Coxa vara Gliederverkürzung wie bei Typ IV
Genetisch bedingte Osteoporose erhöhte Knochenbrüchigkeit Blaue Skleren Hörstörung in 30–50% der Fälle Typ A: ohne Störung der Dentinogenese Typ B: mit Störung der Dentinogenese (Schmelzabsplitterungen, Formabweichung der Wurzeln, Verfärbungen)
Ausgeprägte Knochenbrüchigkeit schwere Knochenverformungen Kleinwuchs weniger blaue Skleren als bei Typ I, bei Erwachsenen sogar weiße Skleren starke Skoliose Lebenserwartung bei 25% der Patienten reduziert
Unbekannt (seltene Formen)
Hypertrophe Kallusbildung weiße Skleren keine Dentinogenesis imperfecta Kalzifikation der Membrana interossea des Unterarms
⊡ Tab. 10.2 Einteilung der Osteogenesis imperfecta nach Hanscom Typ
Verbiegung der Röhrenknochen
Bikonkave Wirbelkörper
Kleeblattbecken
Zysten
Fehlende Kortikalis an den Diaphysen
Fehlende Kortikalis den den Rippen
Häufig-keit [%]
A
+
–
–
–
–
–
31,3
B
+
+
–
–
–
–
7,8
C
+
+
+
–
–
–
17,2
D
+
+
+
+
–
–
15,6
E
+
+
+
+
+
–
9,4
F
+
+
+
+
+
+
3,1
+ zutreffend; – nicht zutreffend
Klassifikation mit 4 und später 7 Unterteilungen vor (⊡ Tab. 10.1). Hanscom beschrieb 1992 eine Einteilung, welche die Problematik aus orthopädischer Sicht am besten widerspiegelt (⊡ Tab. 10.2). z
Klinik
Während Patienten mit Typ II (entspricht Typen E und F nach Hanscom) sehr früh sterben, erreichen die anderen ein Alter, in dem orthopädische Probleme auftreten. Die Einteilung nach Hanscom lässt den Schweregrad vom ossären Standpunkt aus gut erkennen und hat damit auch für die therapeutischen Überlegungen Konsequenzen:
▬ Typ A: Extremitäten/Beine nur wenig verbogen, Wirbelkörper normal ▬ Typ B: deutliche Verbiegung der Ober- und Unterschenkel mit Verbreiterung der Kortikalis, Wirbelkörper bikonkav, Skoliose/Kyphose möglich ▬ Typ C: zusätzlich Protrusio acetabuli (mit 10 Jahren), schwerste Wirbelsäulendeformationen ▬ Typ D: radiologisch ab dem 5. Lebensjahr zystische Veränderungen am distalen Femur und an der proximalen Tibia, früher Verschluss der Epiphysenfugen
10
148
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
folgender Verdickung der Kortikalis und Verbreiterung der Diaphysen. Doch wird der Knochen durch die Hemmung der Osteoklasten spröder und steifer, sodass nicht bei allen Kindern eine Reduktion der Frakturhäufigkeit resultiert (wahrscheinlich in Abhängigkeit vom Aktivitätsgrad). Zudem sprechen nicht alle Kinder auf die Gabe von Bisphosphonaten an, was dann ein Absetzen der Therapie erforderlich macht. Es wird allgemein angenommen, dass eine Therapie über eine Dauer von 3–5 Jahren hinaus keinen Effekt mehr hat, sodass keine Dauertherapie durchgeführt werden soll. Dafür muss nach dem Absetzen der Bisphosphonate ein genaues Monitoring erfolgen, um einen möglichen Knochenabbau zu erkennen und die Therapie fortzusetzen.
Weitere Symptome der Osteogenesis imperfecta sind: ▬ blaue Skleren, die persistieren (außer bei Typen III und IV) ▬ allgemeine Bandlaxität mit Hypermobilität aller Gelenke (Patellaluxation, atlantoaxiale Subluxation, flexible Plattfüße) ▬ Brüchigkeit der Kapillaren ▬ gastrointestinale Probleme ▬ vorgewölbte Stirn ▬ Hyperopie ▬ dreieckförmiges Gesicht ▬ Dentitionsstörungen mit bläulicher Verfärbung der Zähne ▬ Taubheit ▬ Otosklerose ▬ Kleinwuchs z
Diagnostik
Die Diagnose wird in erster Linie klinisch und radiologisch gestellt. Röntgenbilder werden häufig aufgrund einer Fraktur angefertigt. Dabei zeigen sich die typischen Veränderungen der Knochen, welche die Diagnose sichern oder zumindest vermuten lassen (⊡ Abb. 10.6). Anhand des Alters bei der ersten Fraktur und der Form der Knochen lässt sich vielfach bereits eine Typeneinteilung vornehmen. Erst in zweiter Instanz kommen die genetischen Tests zum Einsatz, von denen aktuell 3 existieren.
10
z
Therapie
Eine kausale Therapie ist bisher nicht bekannt, sodass nur eine symptomatische Behandlung möglich ist. In dem Moment, in dem Enzyme gentechnisch beeinflussbar sind, wird eine Heilung möglich sein.
Die medikamentöse Therapie mit Bisphosphonaten hat in letzter Zeit zunehmend an Bedeutung gewonnen, ist aber noch nicht in allen Belangen gesichert. Biphosphonate können i.v. oder p.o. gegeben werden. Bei Kindern sind Tabletten zu bevorzugen. Es gibt Kinder, die sehr gut auf Bisphosphonate ansprechen und die – im Röntgenbild sichtbar – Knochen anlagern, mit
a
Bei Erwachsenen mit Osteogenesis imperfecta haben Bisphosphonate nur einen geringen Effekt und werden hauptsächlich eingesetzt, um eine natürliche Osteoporose zu therapieren. Zudem kommen diese Medikamente bei Typ I nur dann zum Einsatz, wenn jährlich mehr als 3 Frakturen auftreten, d. h. die Wirkung ist auch dort marginal. Die Dosis der Medikation ist vom Alter des Patienten und dem Typ der Osteogenesis imperfeca abhängig. Es werden momentan verschiedene Protokolle getestet, wobei das MontrealProtokoll am häufigsten zur Anwendung kommt. z z Operative Therapie
z z Konservative Therapie
⊡ Abb. 10.6a–c Typische Knochenbefunde bei Osteogenesis imperfecta mit Verdichtung der Fugen, Doppelkonturen der Deck- und Bodenplatten sowie allgemeiner Osteoporose und Varusdeformation der Oberschenkelknochen. a 10-jähriges Mädchen; b 14-jähriger Junge; c 4-jähriges Mädchen
> Man nimmt heute an, dass Bisphosphonate noch über Jahre im Knochen wirken, nachdem die Zufuhr beendet wurde.
b
Die symptomatische Therapie zielt auf eine adäquate Behandlung von Frakturen. Diese sind in 2 Schwerpunkte zu unterteilen: ▬ Verbiegungen und Frakturen der langen Röhrenknochen ▬ Wirbelsäulendeformitäten und -frakturen Nachdem die Frakturen früher wie bei gesunden Kindern mittels Gips und Ruhigstellung behandelt wurden, versorgt man heute viele Frakturen mithilfe stabilisierender operativer Verfahren (⊡ Abb. 10.7, ⊡ Abb. 10.8, ⊡ Abb. 10.9).
c
149 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
! Cave Der große Nachteil der Gipsbehandlung besteht in der Immobilität und damit in einer erhöhten Osteoporosegefahr, was bei Kindern mit Osteogenesis imperfecta zu vermehrten Knochenbrüchen und evtl. zur Gehunfähigkeit führt.
a
b
Platten und externe Fixateure haben sich ebenfalls nicht bewährt, da diese Implantate zu steif sind und wegen des »stress shielding« an den Rändern zu einem erhöhten Frakturrisiko führen. Es kamen daher schon früh Nägel zum Einsatz, die jedoch wegen des Wachstums bald zu kurz wurden, sodass das gleiche Problem eintrat wie bei den Platten. Ein Durchbruch
c
d
e
⊡ Abb. 10.7a–e In Fehlstellung verheilte Femurfraktur bei einem 7-jährigen Jungen. a,b Korrektur mit Osteotomie und Bailey-Nagel, c, d wegen eines »stress shielding« deutlich verminderte Knochenmasse um den Nagel herum, zudem Knieinfekt; e nach dem Wechsel auf elastische Titannägel guter Knochenaufbau
a
b
c
⊡ Abb. 10.8a–c Stressfraktur nach Nagelung mit Varusabkippung bei einem 9-jährigen Mädchen. Korrekturosteotomie und Schienung mit 2 elastischen Nägeln. Ausheilung der Osteotomie in mechanisch guter Stellung nach einem Jahr
10
150
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Verfahren dar, um Kinder mit Osteogenesis imperfecta zu behandeln und längerfristig zu schützen. Zudem sind damit Korrekturosteotomien auf verschiedenen Höhen möglich, um verbogene Diaphysenknochen zu begradigen und in eine mechanisch bessere Position zu führen. Das Einbringen der Nägel erfolgt von der Metaphyse aus (gelegentlich auch von der Epiphyse aus, aber nicht durch das Gelenk) und ist deutlich einfacher als mit dem geraden Bailey-Nagel möglich. Nichtsdestotrotz ist es bei sehr schwachen Knochen teilweise schwierig, den Markraum aufzufädeln, ohne die Kortikalis zu perforieren. Die Behandlung von Wirbelsäulendeformitäten ist sehr schwierig, da eine Korsetttherapie bei Skoliosen unwirksam und fast immer eine operative Korrektur notwendig ist. Diese erfolgt meist in Form einer dorsalen Instrumentation mit ventraler Spondylodese, um die häufig kyphotische oder auch skoliotische Deformität zu korrigieren. Etwa die Hälfte der Patienten mit Osteogenesis imperfecta Typ I haben eine Deformität, die teilweise sehr ausgeprägt ist. Die Verankerung der Implantate ist dabei mit den gleichen Nachteilen behaftet wie bei den Röhrenknochen (»stress shielding«, Steifigkeit), sodass viele Segmente gehalten werden müssen. ! Cave Das Anästhesierisiko ist wegen einer möglichen atlantoaxialen Instabilität erheblich gesteigert.
Mit neueren Technologien und Werkstoffen wie Nanoverfahren, speziellen Keramiken und modifizierbaren Metallen wird die symptomatische Therapie sicherlich noch verbessert und das Implantat dem Knochen des jeweiligen Patienten angepasst werden können.
10
a
b
Osteopetrose z
⊡ Abb. 10.9a,b Exzentrische Fraktur. a Schienung mit 2 elastischen Nägeln in der Epiphyse, b nach Wachstumsabschluss Verlängerungsosteotomie bei einseitiger Verkürzung
wurde durch die Einführung des Teleskopnagels nach Bailey erzielt, der mitwächst. Damit bleibt der Knochen während des Wachstums geschient und bricht weniger häufig. Der Nagel hat allerdings auch einige Nachteile, sodass er heute nicht mehr häufig verwendet wird: ▬ Er muss durch das Gelenk eingebracht werden, was den Gelenkknorpel teilweise zerstört. ▬ Durch ein mögliches Verklemmen ist der Teleskopeffekt nicht immer gewährleistet. ▬ Als Stahlnagel ist er sehr steif, was ein »stress shielding« bewirkt und je nach Dicke zu einem Knochenabbau führt. Eine deutliche Verbesserung haben die elastischen intramedullären Nägel erbracht, die von distal und proximal her überlappend eingebracht werden und auf diese Weise mitwachsen können. Der Hauptvorteil besteht in der Elastizität der Nägel, was den Knochen stärker stimuliert und ihn dennoch schützt. Je nach Land werden diese Nägel verschieden bezeichnet (Prévot-, Métaiseau-, TENS-Nagel etc.). Sie stellen heute das beste
Synonyme
Marmorknochenkrankheit, M. Albers-Schönberg. z
Definition
Bei dieser Heredopathie, die einer generalisierten Osteosklerose entspricht, unterscheidet man 3 Formen: ▬ benigne Form mit autosomal-rezessiver oder autosomaldominanter Vererbung (Erwachsenenform, Osteopetrosis tarda) ▬ maligne Form mit autosomal-rezessiver Vererbung (kindliche Form, Osteopetrosis congenita) ▬ intermediäre Form mit autosomal-rezessivem Erbgang Die milde, autosomal-dominant vererbte Form ist deutlich häufiger als die maligne. Klinisch finden sich häufig eine Splenomegalie, eine Hepatomegalie sowie eine Optikusatrophie. Seltener zeigen sich Frakturen, Taubheit, Osteomyelitis des Kiefers, Genu valgum, Genu varum, Thoraxdeformitäten sowie ein gering ausgeprägter Kleinwuchs. In mehr als 50% der Fälle verläuft die TardaForm jedoch asymptomatisch. Eine orthopädische Therapie ist aufgrund folgender Komplikationen erforderlich: ▬ Frakturen mit verzögerter Durchbauung ▬ Coxa vara, Genua vara oder valga
151 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
▬ allgemeinen Knochenschmerzen ▬ Spondylolyse ▬ selten: Skoliosen oder Kyphosen sowie Spinalstenosen und Osteomyelitiden ▬ häufig: Kox- oder Gonarthrosen Während Patienten mit der Tarda-Form eine normale Lebenserwartung haben, erreichen Kinder mit maligner Form nur selten das Erwachsenenalter. z
Epidemiologie
Die Inzidenz der autosomal-rezessiven Form wird mit 1/300.000 Geburten angegeben (Tolar 2004), die Prävalenz mit 2,6–50/1 Mio. Einwohner (Hefti 2006a). z
Sandwich-Form entsteht. An den kleinen Knochen bilden sich kernartige Inseln als »Knochen im Knochen«. z
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch kommen generalisierte Osteosklerosen in Betracht. Die Osteopetrose muss von der Myelofibrose, der Fluorose und dem Hyperparathyroidismus abgegrenzt werden. z
Therapie
Bei der infantilen Form wurden Knochenmarktransplantationen versucht. Auch Infusionen von Parathormon und hohen Dosen von Kalzitriol kamen zum Einsatz. Zur Behandlung der Panzytopenie wurden hochdosierte Glukokortikoide verwendet. Bei der Erwachsenenform versucht man eine kalziumarme Diät und den Einsatz von Interferon γ.
Ätiologie und Pathogenese
Ein Defekt der Osteoklasten führt zu fehlender Resorption der Spongiosa, Auflagerung einer verkalkten Knorpel-/Knochenmatrix auf das Osteoid. Verschiedene Arbeiten weisen auf eine Insuffizienz der Osteoklasten mit wahrscheinlich multiplen Enzymdefekten hin. Außerdem scheint die Kalzium-PhosphorStoffwechselbilanz gestört zu sein, was zur Ausprägung einer Osteomalazie führt. Hierdurch kommt es zu einer erhöhten Knochenmasse bei gleichzeitiger Knochenweichheit und dadurch erhöhter Frakturhäufigkeit.
z z Operative Therapie
Die Therapie der Frakturen zeigt konservativ bessere Heilungstendenzen als operativ. Eine Marknagelung kann aufgrund des fehlenden Markraums schwierig sein. Allerdings kann sich auch eine Plattenosteosynthese schwierig gestalten, da der Knochen hart und brüchig ist.
Osteopoikilie z
Synonyme
Multiple Knocheninseln, OMIM 166700. z
Diagnostik
Bei der Osteopetrosis congentia fällt im Knochenmark eine erhöhte Anzahl an Osteoklasten auf. Im Gegensatz hierzu kann die Osteoklastenzahl bei der Osteopetrosis tarda normal oder sogar reduziert sein. z z Klinische Untersuchung
Bei der malignen Form treten bereits früh Wachstumsstörungen an den Schädelknochen mit Folgen an den Hirnnerven auf. Es können Achsdeviationen an den langen Röhrenknochen entstehen, die bei der Geburt meistens noch nicht auffallen. Bei der Osteopetrosis tarda handelt es sich oft um einen Zufallsbefund in Zusammenhang mit Röntgenaufnahmen bei Frakturen. Die intermediäre Form liegt zwischen den beiden anderen Formen und fällt durch Kleinwuchs und häufige Frakturen auf. Die Frakturen an den Röhrenknochen sind Querfrakturen. Die Heilung erfolgt normal oder wenig verzögert. Syndaktylien, Leukodystrophie und geistige Retardierung wurden in Zusammenhang mit der Osteosklerose berichtet. Die Entartung zu osteogenen Sarkomen ist beschrieben. z z Bildgebende Verfahren
Die Diagnose wird am ehesten anhand des Röntgenbilds gestellt. Die Knochenstruktur ist verdichtet, mit Aufhebung der normalen Struktur. Außerdem fällt eine Sklerose auf. Es besteht kein Unterschied zwischen Spongiosa und Kortikalis. Die Befunde sind symmetrisch. Am Becken sind der Beckenkamm und das Azetabulum verdichtet. Verdichtungszonen finden sich an den Wirbelkörpern, und zwar an den Grund- und Deckplatten mit einem strahlendurchlässigeren Zentrum, sodass eine Fahnen- oder
z
Definition
Diese Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt. Da diese Erkrankung in der Regel asymptomatisch verläuft, werden viele Fälle nicht diagnostiziert. Radiologisch zeigen sich meist rundliche oder ovale Herde mit erhöhter Knochendichte und unregelmäßiger Verteilung in der Spongiosa, die bereits nach der Geburt vorhanden sind und vermehrt die Meta- und Epiphysen betreffen. Die Veränderungen finden sich insbesondere in Hand- und Fußwurzelknochen, aber auch im übrigen Skelett. z
Epidemiologie
Osteopoikilie zeigt eine Prävalenz von weniger als 0,1 pro 1 Mio. Einwohner. Sie kommt bei Jungen etwas häufiger vor als bei Mädchen. z
Ätiologie und Pathogenese
Eine Mutation im LEMD3-(MAN1-)Gen führt zu einem Funktionsverlust des Membranproteins (Hellemans et al. 2004). z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Klinisch verursacht die Osteopoikilie keine Beschwerden. Hautveränderungen wie Keloidbildung oder Sklerodermie sowie eine disseminierte lentikuläre Dermatofibrose (BuschkeOllendorf-Syndrom) wurden mitgeteilt. Laborchemisch finden sich keine Veränderungen. z z Bildgebende Verfahren
Meist handelt es sich bei der Osteopoikilie um einen Zufallsbefund im Rahmen der Röntgendiagnostik aufgrund anderer
10
152
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Indikationen. Es finden sich kleine, meist symmetrische, multiple Skleroseherde in allen Knochen, besonders am Becken sowie an den Epiphysen der Oberschenkelknochen wie auch an Metakarpalia und Metatarsalia. Die Herde sind meistens kleiner als 1 cm. Differenzialdiagnostisch sind Kompaktainseln abzugrenzen. z
Therapie
Eine spezifische Therapie der Osteopoikilie ist nicht erforderlich und auch nicht möglich.
10.1.4
Störungen des Knorpel- und Fasergewebes
z
z z Bildgebende Verfahren
Auf dem Röntgenbild zeigen sich die breitbasigen (sessilen) oder gestielten (pedunkulierten) Osteochondrome mit Kontinuität des Trabekelmusters zwischen Metaphyse und Exostose. Bei Veränderung der klinischen Beschwerden sollte eine Röntgenkontrolle durchgeführt werden. Der Knorpelüberzug lässt sich auf einem Nativröntgenbild nicht beurteilen, sodass sich hier eine CT- oder MRT-Diagnostik anbietet. z
Multiple Osteochondrome z
Synonyme
Osteokartilaginäre Exostosen, multiple hereditäre Exostosen, OMIM 133700 (EXT1), OMIM 133701 (EXT2) z
10
Epidemiologie
Die Erkrankung hat eine Prävalenz von ca. 1/50.000 bis 1/1.000.000. Bei der multiplen Form findet sich keine Geschlechterbevorzugung (Köhler 2005) bzw. ein Verhältnis von Männern zu Frauen von 1,5:1 (Bovée 2008). Im Gegensatz dazu manifestiert sich die solitäre Form bevorzugt beim männlichen Geschlecht. z
Ätiologie und Pathogenese
Die erblichen Osteochondrome sind dominant vererbte Systemerkrankungen. 90% der Patienten weisen eine Mutation in den Exostosin-(EXT-)Genen auf. Die Exostosen gehen vom Epiphysenknorpel aus. Etwa 15% der Patienten mit kartilaginären Exostosen haben multiple Tumoren. Klinisch auffällig wird die Erkrankung im Wachstumsalter. Mit Abschluss des Wachstums sistiert meist auch die Größenzunahme der Exostosen. z
Therapie
Einer Therapie bedarf es normalerweise nur bei Schmerzen, Beeinträchtigung der Muskelfunktion, Gelenkdeformierungen oder ausgeprägter Deformierung paarig angelegter Knochen wie an Unterarm oder Unterschenkel. Hier müssen die Osteochondrome entfernt und die Deformität korrigiert werden.
Definition
Diese Erkrankung wird autosomal-dominant vererbt. Die dabei vorkommenden Osteochondrome treten im metaphysären Bereich der langen Röhrenknochen auf. In der Regel ist dies mit einem mäßigen Kleinwuchs verbunden, außerdem mit einer ausgeprägten Wachstumsstörung, besonders im Bereich des Vorderarms, aber auch im Bereich des Unterschenkels. Bei Jungen kommt diese Erkrankung häufiger vor als bei Mädchen. Die Knorpelkappe ist gerade bei kleinen Kindern deutlich verdickt, ansonsten entspricht der Befund dem bei solitären Osteochondrom. Man geht davon aus, dass das fehldifferenzierte Knorpelgewebe aus der Wachstumsfuge stammt, sich mit dem Wachstum von der Fuge entfernt und dann senkrecht zur ursprünglichen Wachstumsrichtung wächst. z
Diagnostik
Es lassen sich Veränderungen im Tumorsuppressorgen Exostosin (EXT1-Gen auf Chromosom 8, EXT2-Gen auf Chromosom 11) nachweisen.
Anatomie
Bevorzugte Lokalisationen sind die langen Röhrenknochen, insbesondere die metaphysären Regionen von distalem Femur, proximalem Humerus, Tibia, Fibula, distalem Radius und Ulna. Die Röhrenknochen können verkürzt sein.
z z Operative Therapie
Meist sind die Exostosen asymptomatisch, und es ist keine Therapie notwendig. Eine prophylaktische Abtragung ist nicht indiziert. Die Indikation zur Abtragung besteht bei: ▬ neurologischen Symptomen ▬ Bewegungseinschränkung bzw. Beschwerden bei Bewegungen ▬ Bursitis ▬ Deformität ▬ kosmetisch störenden Veränderungen > Bei Verdacht auf maligne Entartung ist eine Biopsie indiziert. Die Operation sollte unter Bildwandlerkontrolle erfolgen, da die Größe der Exostosen leicht unterschätzt wird. z
Differenzialdiagnosen
Die wichtigste Differenzialdiagnose ist die Metachondromatose. Bei dieser autosomal-dominant vererbten Krankheit treten die Osteochondrome im Bereich der Finger und der langen Röhrenknochen auf. Sie wachsen jedoch in Richtung der Epiphysen und können spontan regredient sein. Außerdem können auch die Plattenknochen sowie die Wirbelsäule betroffen sein, und es finden sich Abflachungen des Femurkopfes sowie Femurkopfnekrosen. Hier besteht kein Kleinwuchs. z
Prognose
Die Prognose ist bei nur geringem Minderwuchs in der Regel gut. Kontrovers diskutiert wird in der Literatur das Entartungsrisiko, das je nach Veröffentlichung zwischen 1% und 20% schwankt. Bei den Veröffentlichungen mit sehr hohem Entartungsrisiko geht man von einer negativen Selektion aus, sodass das Risiko höchstwahrscheinlich bei <2% liegt. Hier kommt es zur Ausbildung von Chondrosarkomen, seltener zur Entwicklung von Osteo- oder Fibrosarkomen mit Transformation in aller Regel erst im Erwachsenenalter. Von einem erhöhten
153 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
a
b
c
d
⊡ Abb. 10.10a–d Osteochondromatose. a Typischer Befund der unteren Extremität bei einem 12-jährigen Jungen, b mechanisch schmerzhafte Osteochondrome am linken distalen Femur, c Osteochondrome mit Ulnaverkürzung und Bewegungseinschränkung am linken Unterarm, d linker Unterarm nach Korrektur und Verlängerung der Ulna
Entartungsrisiko geht man bei rumpfnahen Osteochondromen aus, weiterhin bei starker mechanischer Reizung und bei Osteochondromen mit sehr dicker Knorpelkappe. In seltenen Fällen kann auf dem Boden einer solitären kartilaginären Exostose ein sekundäres Chondrosarkom entstehen. Bei multiplen Exostosen wird ein Chondrosarkom in bis zu 5% (Bovée 2008) bzw. 8% der Fälle (Jundt u. Baumhoer 2008) beobachtet. Hinweise auf eine maligne Entartung sind: ▬ plötzliches Wachstum der Exostose ▬ neu aufgetretene Schmerzen ▬ Verbreiterung der Knorpelkappe auf >2 cm ! Cave Das Risiko für eine maligne Entartung ist bei stammnahen Exostosen (Becken, Schulter) erhöht (5–25%, Zichner 2007).
gel einseitig auf und kommen meistens in den Röhrenknochen oder im Becken vor. Andere Lokalisationen sind selten. Eine Vererbung ist nicht bekannt. z
Therapie
Eine orthopädische Therapie ist häufig schon im Kleinkindalter notwendig, und zwar aufgrund von Deformitäten der Röhrenknochen im Bereich der unteren Extremität mit Enchondromen meist in der Metaphyse, selten im Bereich der Diaphyse (⊡ Abb. 10.11). Die Frakturhäufigkeit ist erhöht. Die Behandlung von Frakturen und Achsfehlstellung sowie der Beinverkürzung ist oft schwierig und nur mittels Ringfixateuren möglich. z
Prognose
Das Entartungsrisiko ist mit ca. 30% deutlich höher als bei der multiplen Osteochondromatose. Am häufigsten kommt es zu Chondrosarkomen, aber auch Osteosarkome und entdifferenzierte Chondrosarkome sind möglich.
Multiple Enchondromatose z
Synonyme
Ollier-Syndrom, Dyschondroplasie.
Fibröse Dysplasie z
Synonyme
Fibroossäre Dysplasie, fibroossäre Läsion. z
Ätiologie und Pathogenese
Bei dieser Erkrankung ist die Ätiologie nicht bekannt, wobei es sich um eine hamartomartige Proliferation der Knorpelzellen handeln könnte. Die multiplen Enchondrome treten in der Re-
z
Definition
Die Erstbeschreibung erfolgte im Jahre 1938 durch Lichstenstein und diejenige des Mc-Cune-Albright-Syndroms 1936 durch
10
154
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
⊡ Abb. 10.11a,b Multiple Enchondromatose. a Typischer Befund am Unterschenkel, b linker Unterarm
10
a
Mc Cune sowie 1937 durch Albright. Histologisch zeigt sich bei der polyostotischen wie auch bei der monostotischen Form eine Anomalie des osteogenen Mesenchyms. Die polyostotische Form tritt in der Regel einseitig auf. Bei der Assoziation mit einer hormonellen Störung wird die polyostotische Form als Albright- oder Mc-Cune-Albright-Syndrom bezeichnet. Die monostotische Form fällt sehr häufig als Zufallsbefund auf, da diese in der Regel asymptomatisch ist. In 20% der Fälle findet sich bei der fibrösen Dysplasie die polyostotische Form und in 5% der Fälle einer polyostotischen Form ein AlbrightSyndrom. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist nicht bekannt, wobei eine hereditäre Komponente mit sehr unterschiedlicher Penetranz vorzuliegen scheint. Im betroffenen Gewebe kann eine Punktmutation in dem für ein stimulatorisches Gsa-Protein kodierenden Gen gefunden werden. Es kommt zu einer gesteigerten Zellproliferation und einer mangelhaften Zelldifferenzierung. Die meisten Läsionen (89%; Pollandt et al. 2002) sind monostotisch, verursachen keine Beschwerden und bedürfen keiner speziellen Therapie. Die monostotische Form wird häufig erst bei Frakturen diagnostiziert, typischerweise durch eine Verbiegung des proximalen Femurs mit sog. Hirtenstabdeformität oder Säbeldeformität der Tibia. Der radiologische Aspekt ist sehr typisch, mit blasig aufgetriebenem Knochen und ausgedünnter Kortikalis sowie milchglasartiger Trübung des Knochens. Histologisch dominieren irreguläre Faserknochenbällchen in sehr reichhaltigem, fibulösem Stoma. Die monostotische wie auch die polyostotische Form ist in der Regel bei Wachstumsabschluss nicht mehr progredient. Die fibrösen Tumoren sind in allen Kochen zu finden, wobei die Häufigkeit im proximalen Femur und im Bereich der proximalen Tibia (ca. 50% der Erkrankungen) am höchsten ist.
b
Beim Mc-Cune-Albright-Syndrom sind Hautpigmentierungen ähnlich »Café-au-lait«-Flecken und bei Mädchen eine Pubertas praecox mit Kleinwuchs wie auch andere hormonelle Störungen zu finden. z
Diagnostik
Alle Knochenmetabolismusmarker sind in erhöhter Konzentration nachweisbar. Man sollte die Schilddrüsenfunktion abklären und zudem die Konzentrationen von »growth hormon«, »insulin-like growth factor 1« (IGF-1), Prolaktin, Phosphat, Parathormon und Kalzium bestimmen, da entsprechende endokrinen Dysfunktionen häufig mit einer fibrösen Dysplasie assoziiert sind und zu Thyreotoxikose, Phosphatverlust, Hypophosphatämie und Hyperparathyroidismus führen können (Rödl u. Götze 2008). In Zweifelsfällen ist eine Biopsie erforderlich. z z Bildgebende Verfahren
Im Röntgenbild zeigen sich milchglasartige Osteolysen ohne trabekuläre Strukturen mit reaktiver Randsklerose, v. a. nach innen, sowie eine Auftreibung des Knochens mit Dickenveränderung der Kortikalis (⊡ Abb. 10.12). Die CT kann diese Befunde noch deutlicher darstellen. Bei der Szintigraphie zeigt sich eine massive Mehranreicherung. Das MRT ergibt aufgrund der Füllung der Läsion mit fibrösem Gewebe und Osteoid mit etwas erniedrigtem Wassergehalt in der T1-Wichtung ein hypointenses homogenes Signal und in der T2-Wichtung ein hyperintenses Signal, allerdings nicht so intensiv wie Wasser. z
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sind andere Knochenzysten und die osteofibröse Dysplasie nach Campanacci (fast ausschließlich in
155 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
a
⊡ Abb. 10.12 Fibröse Dysplasie. a Typischer Befund am linken proximalen Femur, b rechter Unterschenkel
b
der Tibia) zu unterscheiden. In der Regel ist die milchglasartige Trübung wegweisend, und auch die Enchondromatose oder Histiozytose ist bereits radiologisch relativ gut von der fibrösen Dysplasie abzugrenzen.
Neurofibromatose z
z z
Therapie
Bisphosphonate können die Funktion verbessern und Schmerzen lindern (DiCaprio u. Enneking 2005). Rezidive bzw. das Neuauftreten von Herden sowie die Frakturraten konnten durch die Gabe von Bisphosphonaten nicht eindeutig beeinflusst werden (Rödl 2008 u. Götze 2008). Glukokortikoide und Kalzitonin zeigten keinen Effekt. Eine Bestrahlung ist obsolet. z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Therapie besteht zur Frakturprophylaxe, zur Behandlung einer pathologischen Fraktur und zur Deformitätenkorrektur. Auch Beinlängendifferenzen können eine orthopädische Therapie erforderlich werden lassen. Es bieten sich eine Kürettage und eine autologe oder allogene Spongiosaplastik an. Zur Stabilisierung empfehlen sich Verriegelungsnägel, bei Kindern Teleskopnägel. Die zusätzliche Anlagerung von »bone morphogenetic protein 7« (BMP-7) hatte bei einem Patienten mit Pseudarthrose am proximalen Femur zur Ausheilung geführt (Beckmann et al. 2008). > Die Kürettage (Spongiosaplastik und intramedulläre Schiene) sollte möglichst erst bei älteren Jugendlichen oder jungen Erwachsenen durchgeführt werden, da die Rezidivgefahr hier deutlich geringer ist. z
Prognose
Die Prognose ist bei normaler Lebenserwartung in der Regel sehr gut. Im Prinzip ist die Erkrankung gutartig. In Einzelfällen wurde eine maligne Entartung beobachtet. Insgesamt ist die Entartungswahrscheinlichkeit mit <1% äußerst gering. Bei kranialem Befall besteht das Risiko einer Erblindung bzw. Ertaubung.
Synonym
M. Recklinghausen Definition
Hierbei handelt es sich um eine häufige systemische Erkrankung mit autosomal-dominanter Vererbung, ungefähr die Hälfte der Neurofibromatosepatienten tragen Neumutationen (nach der Trisomie 21 die häufigste Skelettsystemerkrankung). Ein Betroffener vererbt die Krankheit mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%. Es werden zwei Unterformen unterschieden (s. unten). z
Epidemiologie
Die Prävalenz des häufigeren Typs I beträgt 30/100.000, diejenige des Typs II 0,1/100.000 Einwohner. Es gibt keine ethnische oder geschlechtsspezifische Prädilektion. z
Ätiologie und Pathogenese
Es bestehen multiple tumoröse Veränderungen des Nervensystems (peripher, zentral, Rückenmark, Bindegewebe). Klinisch zeigen sich derbe, helle Knoten, die mit Nervengewebe in Verbindung stehen und histologisch aus Schwann- oder Begleitzellen bestehen. Aus orthopädischer Sicht führen die Tumoren in Haut, Skelett und Weichteilen zu behandlungsbedürftigen Beinlängendifferenzen, kongenitalen Tibiapseudarthrosen und häufig kurzbogigen Skoliosen mit deutlicher kyphotischer Komponente. z
Diagnostik
Um die Diagnose einer Neurofibroamtose zu stellen, müssen 2 der folgenden Symptome erfüllt sein: ▬ »Café-au-lait«-Flecken (>5 in 99% der Fälle) ▬ subkutane Neurofibrome (Fibroma mollusca; 16%) ▬ Skoliosen und Kyphosen, häufig kurzbogig (10%) ▬ Beinlängendifferenz (Hypertrophie auf der Seite mit multiplen Neurofibromen; 17%) ▬ neurologische Störungen, v. a. der Sensibilität (15%)
10
156
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Seltenere Symptome sind Elefantiasis, kongenitale Pseudarthrosen (13%, wobei in 40% der Fälle mit kongenitalen Pseudarthrosen eine Neurofibromatose vorliegt), paravertebrale Tumoren und axilläre Sommersprossen. z
Differenzialdiagnosen
Die wichtigste Differenzialdiagnose ist das Proteus-Syndrom, welches ebenfalls knotige Hauttumoren aufweist, außerdem Makrodaktylie und ausgeprägte Fußvergrößerung. Hier handelt es sich jedoch histologisch um Hamartome bzw. Fettgewebe. z
Prognose
Die Prognose ist gut, mit in der Regel normaler Lebenserwartung, außer bei maligner Entartung, welche mit einer Häufigkeit von 5% angegeben wird.
Neurofibromatose Typ I z
10
Ätiologie und Pathogenese
Obwohl »Café-au-lait«-Flecken manchmal schon von Geburt an sichtbar sind, entwickeln sie sich typischerweise erst während der ersten Lebensmonate und nehmen in der Kindheit an Größe und Zahl zu. Sie sind in der Regel das erste Erkennungsmerkmal der Neurofibromatose. Beim Freckling handelt es sich um Hyperpigmentierungen aus multiplen braunen Flecken mit einem Durchmesser von 1–3 mm. Am häufigsten tritt es axillär und inguinal (in Hautfalten) auf. Ungefähr 80% der betroffenen Kinder weisen dieses Symptom im Alter von 6 Jahren auf. Die Tumoren sind primär gutartig und bestehen aus SchwannZellen, Perineuralzellen, Fibroblasten und Mastzellen. SchwannZellen sind die primären Tumorzellen der Neurofibrome. Hinsichtlich ihrer Wachstumscharakteristika und Lokalisation sind diese in umschriebene kutane Neurofibrome, subkutane Neurofibrome und plexiforme Neurofibrome zu differenzieren, die nodulär oder diffus wachsen können. Anzahl, Art und Lokalisation der Neurofibrome sind sehr unterschiedlich und nicht vorhersagbar. Kutane Neurofibrome treten üblicherweise erstmalig in der Adoleszenz auf und nehmen in ihrer Anzahl im Erwachsenenalter kontinuierlich zu. Sie entarten nicht, aber verursachen eine psychosoziale Stigmatisierung und Juckreiz. Spinale Neurofibrome können zur Kompressionen des Myelons führen und mit signifikanten neurologischen Defiziten einhergehen. Plexiforme Neurofibrome wachsen entlang der Nerven, gehen von multiplen Nervenfaszikeln aus und sind häufig von Geburt an vorhanden (kongenital). Sie können das umgebende Gewebe infiltrieren oder verdrängen und zu einer Knochenhypertrophie führen. Ihr Wachstum ist umgekehrt proportional zum Lebensalter. Lisch-Knötchen werden durch Untersuchungen mit der Spaltlampe als Erhebungen auf der Iris entdeckt. Es handelt sich um Irishamartome, die nicht entarten und deren Anzahl sich mit zunehmendem Alter erhöht. Mehr als 70% der Kinder, die älter sind als 10 Jahre, weisen Lisch-Knötchen auf. Diese sind ein wichtiges diagnostisches Kriterium, insbesondere wenn noch keine Neurofibrome sichtbar sind. Bei 15% der Kinder lassen sich Optikusgliome feststellen. Symptomatische Tumoren verursachen Sehstörungen, eine Proptosis und Hypothalamusdysfunktionen.
Die Skoliose ist die häufigste Skelettmanifestation der Neurofibromatose (10–60%). Typischerweise ist die Brustwirbelsäule betroffen, mit einer kurzen, stark angulierten Krümmung über 4–6 Wirbel. Bei der Geburt liegt keine Tibiapseudarthrose vor, sondern eine kongenitale anterolaterale Tibiaverbiegung, die im Verlauf frakturiert, wodurch eine Pseudarthrose entsteht. Pseudarthrosen treten auch an Fibula, Ulna und Radius mit einer Neigung zu nicht heilenden Frakturen auf. Etwa 24% der Patienten sind minderwüchsig, wobei nur selten ein Hormonmangel nachzuweisen ist. Es kann zu einer Hemihypertrophie einer Extremität kommen. Dies wird durch eine Hypertrophie des versorgenden Nervs/Plexus ausgelöst und steht mit einer Hypertrophie der Weichteile (Hämangiomatose, Lymphangiomatose, Elefantiasis) in Verbindung. Weitere Knochendysplasien können im Bereich der Orbita und des Keilbeins beobachtet werden. Kinder mit Neurofibromatose zeigen häufig eine Entwicklungsverzögerung. In diese fließen Ungeschicklichkeit, Gleichgewichtsstörungen und Muskelhypotonie ein. Rund 50% der Kinder weisen eine etwas verminderte Intelligenz auf. z
Diagnostik
Aufgrund der Größe des Gendefekts ist die Mutationsanalyse nicht einfach. Auch das breite Spektrum der Mutationen im NF1-Gen, die zur Entstehung der Erkrankung führen, erschwert die molekulargenetische Diagnostik. Neben großen Deletionen des gesamten NF1-Gens wurden verschiedenste Mutationen einzelner Basenpaare identifiziert, wobei Mutationen, die das Spleißen der RNA betreffen, besonders häufig sind. > Die Vielfalt der NF1-Mutationen und das Fehlen ausgeprägter Mutations-Hotspots erfordern es, verschiedene Techniken einzusetzen, um eine hohe Mutationsdetektionsrate zu erzielen (Kehrer-Sawatzki u. Mautner 2009).
In der Mehrzahl der Fälle erfüllen erwachsene Patienten mit Neurofibromatose Typ I die diagnostischen Kriterien, und eine Identifizierung der krankheitsverursachenden Mutation ist zur Diagnosestellung nicht erforderlich. Sie ist jedoch bei kleinen Kindern mit Verdacht auf Neumutation für eine sichere Diagnosestellung sehr wichtig. Dies gilt generell für Patienten mit Verdacht auf Neurofibromatose Typ I, welche die diagnostischen Kriterien nicht erfüllen. Eine ausgedehnte Diagnostik ist je nach Befundkonstellation insbesondere im Kindesalter wesentlich. Sie umfasst die im Folgenden beschriebenen klinischen Untersuchungen und bildgebenden Verfahren sowie psychometrische Tests und augenärztliche Untersuchungen. z z Klinische Untersuchung
Aufgrund der variablen klinischen Symptomatik bei voller Penetranz wurden diagnostische Kriterien aufgestellt. Eine Neurofibromatose Typ I wird diagnostiziert, wenn mindestens 2 der folgenden Merkmale auftreten (NIH 1988): ▬ mehr als 6 »Café-au-lait«-Flecken (Durchmesser von 1,5 cm bei Erwachsenenen bzw. 0,5 cm bei Kindern) ▬ mehr als 2 Neurofibrome bzw. ein plexiformes Neurofibrom
157 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
a
b
c
d
⊡ Abb. 10.13a–d Neurofibromatose. a, b Kongenitale Tibiapseudarthrose, c, d nach progressiver Korrektur mit Ilizarov-Ringfixateur
▬ Freckling (»Sommersprossen«) im axilliären und inguinalen Bereich ▬ Optikusgliom ▬ mehr als 2 Lisch-Knötchen der Iris ▬ Knochendysplasie mit Skoliose, kongenitale Achsabweichung der Tibia, Pseudarthrosen, Keilbeinflügeldysplasie ▬ betroffener Verwandter ersten Grades > Das Monitoring des Wachstumsverhaltens der Wirbelsäule spielt im Rahmen der Verlaufsbeobachtung von Kindern eine wesentliche Rolle. Kinder mit einer beginnenden Skoliose sollten alle 4–6 Monate kontrolliert werden. z z Bildgebende Verfahren
Als bildgebende Verfahren werden MRT, EEG, Sonographie des Abdomens und die Röntgenuntersuchung der Knochen diagnostisch eingesetzt. z
Therapie
Symptomatische Optikusgliome sollen nicht mittels Strahlentherapie, sondern wegen potenzieller sekundärer, therapieinduzierter zentralnervöser Tumoren und einer möglichen strahleninduzierten Vaskulopathie primär durch eine Chemotherapie behandelt werden. Tipifarnib zählt zu den Substanzen, welche die Ras-Aktivierung supprimieren. Inwieweit Statine, welche die RAS-Modifikation inhibieren, für die Therapie nichtneoplastischer Symptome einsetzbar sind,
wird – ebenso wie die Therapie mit Tipifarnib – in klinischen Studien geprüft. Im Tiermodell wurde nachgewiesen, dass Lovastatin Lernbehinderungen und Aufmerksamkeitsstörungen verbessern kann (Kehrer-Sawatzki u. Mautner 2009). z z Operative Therapie
Kutane Neurofibrome sollten entfernt werden, weil dies der Stigmatisierung der Betroffenen entgegenwirkt. Die chirurgische Behandlung plexiformer Neurofibrome kann sich durch die Infiltration angrenzenden Gewebes (z. B. Muskel, Faszie und Knochen) und eine ausgeprägte Vaskularisation schwierig gestalten. Da diese Tumortypen im Kindes- und Jugendalter die stärkste Progression aufweisen, ist deren Reduktion oder Resektion in diesem Alter vorteilhaft. Eine maligne Entartung tritt in 1–4% der Fälle auf. Verdächtig sind große Ausdehnung, Schmerzen und rasches Wachstum (Herring 2008). Bei Patienten mit Achsabweichung der Tibia und/oder Pseudarthrose führt ein minimales Trauma zur Fraktur. Die Behandlung der Pseudarthrose stellt häufig eine große Herausforderung dar. Es kommen verschiedene Operationsmethoden infrage: ▬ Marknagelung oder Fixateur externe (Ilizarov), wobei sich die zusätzliche Applikation von rekombinantem »bone morphogenetic protein« (BMP) als hilfreich erwiesen hat (⊡ Abb. 10.13) ▬ Transfer einer gestielten Fibula von der kontralateralen unteren Extremität
10
158
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
z z Orthopädische Therapie
Die Beinlängendifferenzen sollten durch eine Epiphysiodese des betroffenen Beines behandelt werden. Eine Verlängerung der Gegenseite ist nicht zu empfehlen. Skoliosen sind stark progredient und meist nicht erfolgreich mittels Korsettbehandlung zu therapieren. Kongenitale Pseudarthrosen sind in aller Regel nur unter Berücksichtigung der genannten Therapieregeln zu therapieren. Sie bestehen selten schon bei der Geburt, sondern treten eher im Verlauf des Kleinkindalters auf. Hier zeigt sich intraoperativ ein derbes Fremdgewebe im Bereich der Pseudarthrose, das sich histologisch hamartomartig darstellt. Die Pseudarthrose ist selten (0,5/100.000 Geburten). Am besten fasst eine Multicenterstudie mit 73 Fällen von Grill et al. (1996) die orthopädische Therapie zusammen. Die Autoren empfehlen die konservative Therapie bis zum 3. Lebensjahr. Danach ist der Segmenttransport mit Ringfixateur externe oder der Transfer der vaskularisierten Fibula am erfolgreichsten – jedoch nur, wenn der »Pseudarthroseknochen« mit dem gesamten fibrösen Bindegewebe entfernt wird. Die Autoren führen die konservative Therapie mit Unterschenkelorthese mit evtl. vorübergehender intramedullärer Schienung bis zum 5. Lebensjahr durch und erst im Anschluss einen Segmenttransport mit Ringfixateur, in der Regel über eine zusätzliche Prévot-Nagelung, die über viele Jahre belassen wird.
10
z
Prognose
Patienten mit Neurofibromatose Typ I haben eine weitgehend normale Lebenserwartung.
Neurofibromatose Typ II z
Ätiologie und Pathogenese
Dieser Typ ist durch multiple Tumoren (Schwannome) der Hirn- und Spinalnerven charakterisiert. Das erste Symptom ist eine Schwerhörigkeit durch Befall des VIII. Hirnnervs. Es kommen allerdings auch eine Sehschwäche, Sensibilitätsstörungen und eine Schwäche der Gesichtsmuskulatur vor. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung Eine Neurofibromatose Typ II wird sicher diagnostiziert, wenn
folgende Merkmale auftreten (McClatchey 2007; NIH 1988): ▬ beidseitiger Befall (Schwannome) des VIII. Hirnnervs (MRT-/CT-Aufnahmen) ▬ betroffener Verwandter ersten Grades mit Neurofibromatose Typ II und frühem (Alter von <30 Jahren) einseitigen Befall des VIII. Hirnnervs sowie 2 der folgenden Erkrankungen: – Meningeome – Gliome – Schwannome – juvenile Katarakt Eine Neurofibromatose Typ II ist wahrscheinlich, wenn folgenden Merkmale auftreten: ▬ einseitiger Befall (Schwannom) des VIII. Hirnnervs (MRT-/CT-Aufnahmen) vor dem 30. Lebensjahr und mindestens eine der folgenden Erkrankungen:
– Meningeome – Gliome – Schwannome – juvenile Katarakt ▬ oder: mindestens 2 Meningeome mit einseitigem Befall (Schwannom) des VIII. Hirnnervs vor dem 30. Lebensjahr und eine der folgenden Erkrankungen – Gliome – Schwannome – juvenile Katarakt z
Therapie
Die Tumoren können nur chirurgisch therapiert werden. In der Regel bleiben Funktionsausfälle zurück. z
Prognose
Die Prognose der Neurofibromatose Typ II ist schlecht.
Dysostosen Marfan-Syndrom z
Synonyme
OMIM 154700, Arachnodaktylie, Dolichostenomelie. z
Definition
Hierbei handelt es sich um eine autosomal-dominant vererbte Erkrankung mit struktureller Veränderung v. a. des Bindegewebes (systemische Störung der Kollagenbildung). Typisch ist die verhältnismäßige Überlänge der Extremitäten im Vergleich zum Rumpf bei Bandlaxizität, häufigen Skoliosen, Protrusio acetabuli, Fußdeformität, Aortendilatation und Ectopia lentis (»Schlotterlinse«). Die Erstbeschreibung erfolgte durch Marfan im Jahre 1896. z
Epidemiologie
Es handelt sich mit einer Prävalenz von 11 pro 1 Mio. Einwohner und einer Inzidenz von 1/10.000 um eine häufige Heredopathie. Die zu unterscheidende kontrakturale Form tritt nur in Einzelfällen auf. z
Ätiologie und Pathogenese
In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um einen autosomal-dominanten Erbgang (75%) oder um Neumutationen des Fibrillin-1-Genes auf Chromosom 15. Strukturelle Veränderungen des Fibrillins führen zu Mikrofibrillindefekten sowie zum Verlust von Dehnbarkeit und Zugfestigkeit. Es sind alle Bindegewebearten (kardiovaskulär, Skelettsystem, Auge) betroffen. z
Klinik
Patienten mit Marfan-Syndrom fallen durch Hochwuchs (>180 cm) und überlange Extremitäten auf. Finger und Zehen sind lang und dünn (Arachnodaktyilie). Die Patienten sind schlank, die Armspanne kann länger sein als die Körpergröße. Die Muskulatur ist nur gering ausgeprägt und hypoton. Alle Gelenke sind überstreckbar. Oft haben die Patienten Deformitäten am Thorax (Trichter- und Kielbrust) und an der Wirbelsäule (Kyphosen und Skoliosen).
159 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
> Ein Aortenaneurysma ist die häufigste Todesursache.
Skoliosen kommen in >50% der Fälle vor. Sie sind rigide und rasch progredient sowie oft eher kyphotisch als lordotisch. Sehr häufig treten Knick-Senk-, Serpentinen- oder Klumpfüße auf. Die Protrusio acetabuli führt häufig zu einer frühzeitigen Koxathrose. z
Diagnostik
Ein klassisches Marfan-Syndrom besteht, wenn mindestens 2 der folgenden Symptome nachgewiesen sind: ▬ Skoliose ▬ Ectopia lentis ▬ Herzveränderungen ▬ abnorme Armspannweite (Armspannweite größer als Körperlänge) ▬ erhöhte Bandlaxizität ▬ Großwuchs (>180 cm) z
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnosen sind das Ehlers-Danlos-Syndrom (mit Hautveränderung) sowie die Homozystinurie. z
Prognose
Die Prognose ist gut, wobei die Lebenserwartung aufgrund der kardiovaskulären Symptome und hier besonders aufgrund der gehäuft auftretenden Aortenrupturen deutlich reduziert ist. Die Prognose wird insgesamt durch die kardiovaskuläre Beteiligung des Bindegewebes bestimmt.
Down-Syndrom z
Synonyme
Trisomie 21, Mongolismus, Langdon-Down-Syndrom, OMIM 190685. z
z
Epidemiologie
Das Down-Syndrom tritt mit einer Häufigkeit von 140/ 100.000 Lebendgeburten und einem Überwiegen des weiblichen Geschlechts im Verhältnis 3:1 auf. Die Inzidenz beträgt 1:700 bis 1:600. > Die Häufigkeit steigt mit dem Alter der Mutter: ▬ Risiko bei einer 20-jährigen Mutter: 1:1000 ▬ Risiko bei einer 45-jährigen Mutter: 1:40
Therapie
Mit Ausnahme der Skoliose erfolgt eine symptomatische Therapie, und zwar zunächst eine Korsettversorgung. Wenn allerdings eine Progression eintritt, ist eine frühzeitige Operation indiziert (rasche Stabilisierung bei progredienter Skoliose). Eine orthopädische Therapie ist am häufigsten bei der Skoliose notwendig und dabei weniger erfolgreich als bei der idiopathischen Skoliose, wobei die Operationsindikation bei einem Cobb-Winkel von >40° früh gestellt werden sollte. Die Fußdeformitäten werden nicht anders therapiert als bei Kindern ohne Marfan-Syndrom. Schulterinstabilitäten und rezidivierende Patellaluxationen kommen gehäuft vor und können in typischer Weise therapiert werden. Bei der kontrakturalen Form ist eine redressierende oder Schienenbehandlung häufig nicht erfolgreich, sodass eine Nachkorrektur mittels Ringfixateur nach Ilizarov erforderlich wird. z
mosom auf ein anderes transloziert ist. Diese Unterscheidung ist für eine Mutter mit weiterem Kinderwunsch sehr wichtig, da das Risiko bei der translozierten Form bei einer weiteren Schwangerschaft 1:3 und bei der klassischen Form nur 1:50 beträgt. Bei 94% der Erkrankten liegt eine freie Trisomie vor, bei 2% ein Mosaik und bei 4% eine Translokation. Die Trisomie 21 ist in diesem Kapitel aufgrund der ausgeprägten allgemeinen Bandlaxizität und der hierdurch häufigen Hüftluxationen, habituellen Patellaluxationen, Plattfüße sowie atlantoaxialen Instabilitäten aufgeführt. Radiologisch ist auf der Beckenübersichtsaufnahme eine ausladende und breite Beckenschaufel typisch.
Definition
Hierbei handelt es sich um die häufigste Heredopathie. Es besteht eine Duplikation des Chromosoms 21, und in der Regel sind 47 statt 46 Chromosomen vorhanden. Jedoch gibt es auch eine Form mit 46 Chromosomen, wobei das zusätzliche Chro-
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
In der Regel wird die Diagnose bereits bei der Geburt gestellt. Trotz der großen Variabilität der Ausprägung der Erkrankung sind die Betroffenen durch ihr Aussehen zu erkennen. An allgemeiner Symptomatik finden sich: ▬ mongoloide Lidachse ▬ Mikrozephalie ▬ schütteres Haar ▬ breiter und kurzer Hals ▬ Herzfehler ▬ geistige Behinderung ▬ Protrusion der Zunge mit offenem Mund An orthopädischen Befunden zeigen sich: ▬ 4-Finger-Furche an der Hand mit einwärts gedrehtem Kleinfinger ▬ kleine Hände und Füße ▬ vergrößerter Abstand zwischen erster und zweiter Zehe (Sandalenzehe) ▬ Fußdeformitäten wie Knick-Senk-Fuß, Spitzfuß, Hackenfuß und Klumpfuß ▬ Hallux-varus- oder Hallux-valgus-Stellung am Vorfuß ▬ Luxationen der Patella und der Hüfte ▬ Genua valga ▬ Skoliose ▬ Hyperkyphose ▬ Trichterbrust ▬ atlantoaxiale Instabilität mit neurologischen Ausfällen bei einigen Patienten Sehr auffällig ist zudem die allgemeine Hypotonie und Laxizität aller Gelenke. Typisch ist neben der ausladenden Beckenform
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160
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
auch die sehr flache Ausprägung der Hüftpfanne, welche die Luxationsneigung noch unterstützt. Sehr früh sollte ein Herzfehler ausgeschlossen werden, um diesen zu therapieren. Im weiteren Verlauf fällt v. a. der psychomotorische Entwicklungsrückstand auf, der sehr variabel sein kann. z z Bildgebende Verfahren
Am Becken fällt ein kleiner Ileum- und Azetabulumwinkel auf. Das Os ischii ist hypoplastisch, und es besteht eine Coxa valga. Diese Befunde bilden das sog. Mongoloidenbecken. An der Halswirbelsäule können die Anomalien am atlantookzipitalen und atlantoaxialen Übergang festgestellt werden. Die Wirbelkörper haben eine konkave vordere Wirbelkante. Es finden sich Schmorl-Knötchen und an der unteren Lendenwirbelsäule Spondylolisthesen. An Händen und Füßen fällt eine verzögerte Skelettentwicklung auf. Metakarpalia, Metatarsalia und Phalangen sind kurz.
Halswirbelsäulenbeschwerden sind Funktionsaufnahmen und bei Bedarf eine Stabilisierung (atlantoaxiale Stabilisierung oder okzipitozervikale Fusion) erforderlich.
Skoliosen und Spondylolisthesen im Lendenwirbelsäulenbereich werden nach üblichen orthopädischen Gesichtspunkten behandelt. Bei Hüftdysplasie ist zunächst eine konservative Therapie möglich. Falls dies nicht ausreichend ist, kommen intertrochantäre, derotierende und varisierende Femurosteotomien mit Pfannendachplastiken (Pemberton, Salter) und Kapselraffungen in Betracht. Allerdings besteht ein erhöhtes Risiko für eine Reluxation. Bei femoropatellaren Instabilitäten und valgischer Beinachse können Weichteileingriffe mit einer suprakondylären Umstellung kombiniert werden. Im Bereich der Füße kommen multiple Deformitäten vor. Diese lassen sich konservativ und operativ behandeln. z
z
10
Therapie
Physiotherapeutische und orthopädisch-konservative Maßnahmen sind bei diesen Patienten unumgänglich. Durch Gabe von Wachstumshormon kann ein besseres Längenwachstum erzielt werden, allerdings bessert sich die psychomotorische Entwicklung nicht. Patienten mit Down-Syndrom leiden an einer verminderten Knochendichte. An eine nichtmedikamentöse und medikamentöse Therapie sollte gedacht werden. Einer orthopädischen Behandlung bedarf es bei Folgen der ausgeprägten Hyperlaxizität: ▬ gehäufte Hüftluxationen ▬ rezidivierende habituelle Patellaluxationen ▬ flexible Plattfüße ▬ atlantoaxiale Instabilität Die kongenitalen Luxationen sind nicht häufiger, aber schwieriger und langwieriger zu behandeln. Die sekundären Luxationen aufgrund der Laxizität sind konservativ wie operativ schwer therapierbar – trotz Kapselraffung und prolongierter Ruhigstellung zeigen sich hier häufig Rezidive. Die gehäuften Femurkopfnekrosen haben in der Regel eine schlechte Prognose, und eine Epiphyseolysis capitis tritt ebenfalls gehäuft auf, kann aber in typischer Weise behandelt werden. Die Patellaluxation wie auch Schulterinstabilitäten sind wie bei Kindern ohne Trisomie zu behandeln, wobei die Rezidivneigung allerdings deutlich höher ist.
Prognose
Seitdem Herzfehler früh erkannt und operativ behandelt werden, ist die Prognose gut, sodass fast alle Kinder mit Trisomie 21 das Erwachsenenalter erreichen und viele bereits das Rentenalter. Hier sind dann Arthrosen im Bereich der unteren Extremitäten häufiger, und die Stabilität der erforderlichen Endoprothesen ist deutlich geringer.
Mukopolysaccharidosen (MPS) z
Synonym
Mukopolysaccharidspeicherkrankheit z
Definition
Diese Speicherkrankheiten sind in der Regel autosomal-rezessiv vererblich (bis auf den Typ II, der X-chromosomal-rezessiv vererbt wird und daher nur bei Jungen vorkommt). Es handelt sich um einen Enzymdefekt. Die Lysosomen sind in ihrer Funktion gestört, sodass es zur Speicherung von Mukopolysaccharidkomponenten mit intrazellulärer Anreicherung von Glykosaminoglykanen (saure Mukopolysaccharide) in verschiedenen Organen (Zentralnervensystem, Skelett, Leber, Milz) kommt. z
Epidemiologie
Diese Erkrankungen tritt insgesamt selten auf (1,7/1.000.000 Einwohner). In Deutschland beträgt die Prävalenz aller Mukopolysaccharidosen 3–4/100.000 Neugeborene, wobei der Typ III am häufigsten ist.
z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Stabilisierung einer Instabilität darf nicht nur anhand der Bildgebung und der Verschiebung gestellt werden, sondern muss auch die klinisch-neurologischen Aspekte berücksichtigen. Eine Instabilität findet sich bei 10–40% der Patienten, wobei die meisten (99%) asymptomatisch bleiben (Weber et al. 2006; Zichner 2003a). ! Cave Die atlantoaxiale Instabilität muss bei der Intubation bedacht werden (Auftreten in knapp 10% der Fälle, neurologische Symptomatik bei >60% der Betroffenen). Bei den geringsten Anzeichen neurologischer Symptome oder bei
z
Ätiologie und Pathogenese
Die Enzymdefekte werden durch Genmutationen hervorgerufen. Bisher sind verschiedene Phänotypen (teilweise mit Subtypen) bekannt (⊡ Tab. 10.3). Die einzelnen Typen zeigen unterschiedliche Ausprägungen, das Spektrum reicht von mild bis schwer. Intrazellulär gebildete Glykosaminoglykane werden in den extrazellulären Raum ausgeschieden und lysosomal abgebaut. Durch defekte Enzyme ist der Abbau gestört, und es kommt zur Anhäufung von Glykosaminoglykanresten in den Lysosomen. Je nach Typ werden die Mukopolysaccharide Heparansulfat, Dermatansulfat und Keratansulfat enzymatisch nicht
161 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
⊡ Tab. 10.3 Mukopolysaccharidosen. (Nach Beck 2007) MPS-Typ
Defektes Enzym
Klinische Symptomatik
Chromosomale Lokalisation
I (M. Hurler, M. Scheie)
α-Iduronidase
Disproportionierter Kleinwuchs grobe Gesichtszüge Viszeromegalie oft mentale Retardierung
4p16.3
II (M. Hunter)
Iduronatsulfatase
Disproportionierter Kleinwuchs grobe Gesichtszüge Viszeromegalie oft mentale Retardierung
Xq28
IIIA (M. Sanfilippo A)
Heparan-N-Sulfatase
Mentale Retardierung Tetraspastik Vegetatives Stadium (Endstadium)
17q25.3
IIIB (M. Sanfilippo B)
N-Azetyl-Glukosaminidase
Mentale Retardierung Tetraspastik Vegetatives Stadium (Endstadium)
17q21
IIIC (M. Sanfilippo C)
Azetyl-CoA-Transferase
Mentale Retardierung Tetraspastik vegetatives Stadium (Endstadium)
8p11.1
MPS IIID (M. Sanfilippo D)
N-Azetyl-Glukosamin-6-Sulfatase
Mentale Retardierung Tetraspastik vegetatives Stadium (Endstadium)
12q14
IVA (M. Morquio A)
N-Azetyl-Galaktosamin-Sulfatase
Skelettdysplasie Stenose im Bereich des kraniozervikalen Übergangs Hörstörungen normale Intelligenz
16q24.3
MPS IVB (M. Morquio B)
β-Galaktosidase
Skelettdysplasie Stenose im Bereich des kraniozervikalen Übergangs Hörstörungen normale Intelligenz
3p21.33
VI (M. Maroteaux-Lamy)
N-Azetyl-Galaktosamin-4-Sulfatase (Arylsulfatase B)
5q11–13
IX
Hyaluronidase
Kleinwuchs Gelenkschwellungen normale Intelligenz
umgewandelt und gespeichert oder im Urin ausgeschieden, was durch Laboranalysen nachweisbar ist. Hierdurch ist das Wachstum vermindert und die Körpergröße reduziert, und es kommt zu Skelettveränderungen im Bereich der Wirbelsäule, des Schädels und der Sella turcica, welche aufgeweitet ist. Die Klavikel sind zum Sternoklavikulargelenk hin breit, ebenso die Rippen im ventralen Bereich. Die Wirbelsäulenveränderungen sind mit abgeflachten und ovalär geformten Wirbelkörpern mit typischer thorakolumbaler Kyphose, aber auch Skoliose verbunden. Das Os ileum ist breit, und es zeigen sich häufig Coxa valga oder vara. Die unregelmäßige Femurkopfepiphyse beim Typ IV gibt häufig zu einer Verwechslung mit dem M. Perthes Anlass. Der kurze Nacken ist bei fast allen Typen vorhanden, und die orthopädische Therapie muss v. a. die atlantoaxiale Instabilität berücksichtigen. Gelegentlich kommt es zu Stenosen des Rückenmarks im Halswirbelsäulenbereich.
Disproportionierter Kleinwuchs grobe Gesichtszüge Viszeromegalie normale Intelligenz
z
3p21.3
Klassifikation
Man unterscheidet 6 Typen, von denen die ersten Anfang des 20. Jahrhunderts beschrieben wurden (⊡ Tab. 10.3): ▬ MPS I (M. Hurler): Bei schwerer geistiger Entwicklungsstörung und mäßigem Kleinwuchs ist die Prognose sehr schlecht, und die Kinder sterben meist vor der Pubertät wegen kardiopulmonaler Probleme. ▬ MPS II (M. Hunter): Dies ist der einzige X-chromosomalrezessiv vererbte Defekt. Das »fratzenhafte« Gesicht (Gargoylismus) ist weniger ausgeprägt als beim Typ I. Auch hier besteht ein mäßiggradiger Kleinwuchs. Thorakolumbale Kyphosen sind weniger ausgeprägt als beim Typ I, ebenso die geistige Entwicklungsstörung. Die Patienten überleben bis zur 3. Lebensdekade. ▬ MPS III (M. Sanfilippo): Hier sind die typischen Gesichtsveränderungen am geringsten ausgeprägt. Die Größe ist nor-
10
162
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
mal. Die geistige Entwicklung ist schwer beinträchtigt und die typische Verbreiterung der medialen Klavikula deutlich. Es ist ein Überleben bis in die 4. Lebensdekade möglich. ▬ MPS IV (M. Morquio): Die Gesichtsveränderungen sind typisch, mit zusätzlich breitem Mund und prominenter Maxilla. Der Kleinwuchs ist sehr ausgeprägt und geht ohne geistige Entwicklungsstörungen sowie mit einer fast normalen Lebenserwartung einher. Es zeigen sich die typische thorakolumbale Kyphose und unregelmäßige Femurkopfepiphysen. ▬ MPS V (MPS I-S, M. Scheie): Bei typischem Gargoylismus sind die Größe und die geistige Entwicklung normal. Es bestehen eine fast normale Lebenserwartung und eine Verkleinerung der Epiphysen an den Händen. ▬ MPS VI (M. Maroteaux-Lamy): Hier bestehen typische, eher derbe Gesichtszüge. Bei ausgeprägtem Zwergwuchs und thorakolumbaler Kyphose zeigt sich keine geistige Entwicklungsstörung. Allerdings ist die Lebenserwartung leicht verringert.
10
z
Klinik
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Gesichtsdysmorphie Makroglossie Hornhauttrübung Hautverdickung Organvergrößerungen (Hepatomegalie)
z
Diagnostik
Im Urin ist eine erhöhte Mukopolysaccharidausscheidung nachweisbar. In Leukozyten und Fibroblasten kann eine verminderte Enzymaktivität nachgewiesen werden. z z Klinische Untersuchung
Die Patienten zeigen teilweise eine mentale Retardierung, außerdem Schwerhörigkeit, Wachstumsdefizit, Gelenkkontrakturen und Hernien. Beim M. Morquio (MPS IV) stehen die Skelettveränderungen im Vordergrund. Die Patienten zeigen: ▬ schwere Deformierungen der Wirbelsäule und des Thorax ▬ disproportionierter Minderwuchs (Größe von ca. 100– 125 cm) ▬ im Vergleich zum Rumpf lange Extremitäten ▬ Bandlaxizität mit überstreckbaren Gelenken ▬ atlantoaxiale Instabilität ▬ Hüftluxationen ▬ Genua valga, Pedes planus ▬ Gelenkschmerzen ▬ Früharthrose
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Hypoplasie der unteren Beckenschaufeln steilgestellte Pfannendächer Coxa valga flache Femurkopfepiphysen unregelmäßige Epiphysen an den langen Röhrenknochen kleine, unregelmäßige Karpalia und Tarsalia breite Metakarpalia und Phalangen I und V zentral gefurchte Metatarsalia und Phalangen
z
Therapie
Im Vordergrund steht die symptomatische Behandlung der kardiopulmonalen Probleme, die für die Lebenserwartung entscheidend sind. Stammzellentransplantationen haben bei den Typen I und II Erfolge gezeigt. Die Transplantation von allogenem Knochenmark ist nach aktuellem Wissensstand bei Typ I indiziert, wenn sie vor dem 2. Lebensjahr erfolgt. Wenn bereits Manifestationen am Zentralnervensystem aufgetreten sind, ist dieser Eingriff weitgehend wirkungslos. Bei den Typen III und IV ist bisher keine Therapie möglich. Die Genforschung kann hier Fortschritte erbringen. Eine Enzymsubstitution ist bei den Typen I, II und VI möglich. Es liegen allerdings noch keine Langzeitergebnisse vor. Eine weitere therapeutisch Überlegung besteht in einer Substratreduktion durch Hemmung der Synthese der Speichersubstanz. z z Operative Therapie
Die Denshypoplasie, die zur atlantoaxialen Instabilität und zu entsprechenden neurologischen Komplikationen führen kann, bedarf der Kontrolle durch bildgebende Verfahren. Die Schwere der Denshypoplasie korreliert mit der Instabilität. Hier kann eine frühe prophylaktische Stabilisierung zwischen C1 und C2 notwendig werden. Die thorakolumbale Kyphose mit Wirbelgleiten kann durch eine dorsale Zuggurtung behandelt werden. Die Progredienz ist jedoch in der Regel nicht durch konservative und operative Therapiemaßnahmen aufzuhalten. Bei Achsdeformitäten können Korrekturosteotomien erforderlich werden. Durch die Bandlaxizität sind unter Umständen zusätzliche Orthesen notwendig. Eine früh einsetzende Gon- oder Koxarthrose erfordert schon in jüngeren Jahren einen endoprothetischen Ersatz. Die Hüftdysplasie kann durch pfannendachverbessernde Eingriffe und varisierende Umstellungsosteotomien am proximalen Femur verbessert werden. Gelegentlich müssen Genua valga oder massive Rückfußvalgusfehlstellungen operativ korrigiert werden.
Mukolipidosen z
Synonym
Oligosaccharidosen Die geistige Entwicklung ist beim MPS IV normal und die Lebenserwartung gut. z z Bildgebende Verfahren
Bei der MPS IV findet sich röntgenologisch keine Dysostosis multiplex wie bei den anderen MPS, sondern eine charakteristische spondyloepiphysäre Dysplasie mit Platyspondylie und anteriorer Hypoplasie der Wirbelkörper mit Denshypoplasie. Außerdem zeigen sich:
z
Definition
Hierbei handelt es sich um autosomal-rezessiv vererbliche lysosomale Speichererkrankungen, bei denen es durch einen Enzymdefekt zur Speicherung von Oligosacchariden (Glucocerebro 7) kommt. Insgesamt sind diese Erkrankungen sehr selten. Orthopädisch sind die Skelettveränderungen relevant: Knochennekrosen (schmerzhaft), pathologische Frakturen, Osteolysen und Osteomyelitiden bei Infiltration des Knochen-
163 10.1 · Angeborene Skelettsystemerkrankungen
marks und Anreicherung von Gaucher-Zellen in diesem Bereich. Es zeigen sich zystische Veränderungen mit Auftreibungen der Meta- und Diaphysen sowie Kortikalisausdünnung. Die hiermit verbundenen Knochennekrosen sind schmerzhaft und werden auch als »Knochenkrise« mit Überwärmung, Rötung sowie Fieber bezeichnet. > Dauert die schmerzhafte Krise länger als 3 Tage an, muss auch an die häufigen Osteomyelitiden gedacht werden.
Veränderungen wie Hüftkopfnekrosen oder Frakturen auf dem Boden von Nekrosen sind häufig schwierig zu behandeln und führen oftmals zu einer sehr frühen Koxarthrose, die in der Regel nur durch eine Hüftendoprothese behandelt werden kann. Auch der Kollaps von Wirbelkörpern mit kyphotischer Fehlstellung kann behandlungsbedürftig werden. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Pathogenese entspricht derjenigen der Mukopolysaccharidosen. Durch eine autosomal-rezessive erbliche Mutation kommt es zur Funktionsstörung lysosomaler Enzyme, sodass die Substrate nicht abgebaut werden können und gespeichert werden. Im Urin werden nicht Mukopolysaccharide ausgeschieden, sondern Oligosaccharide. z
Klassifikation
Man unterscheidet 3 Untertypen: ▬ Typ I: Diese akute infantile, neuropathische Form verläuft im ersten Lebensjahr tödlich. ▬ Typ II: Diese chronische, nicht neuropathische Form zeigt sich in der Regel erst in der Adoleszenz mit sehr variabler Symptomatik. ▬ Typ III: Diese subakute, neuropathische oder juvenile Form verhält sich wie Typ II, tritt jedoch bereits während der Kindheit auf und zeigt zusätzlich neurologische Symptome. Alle Typen bedingen im entsprechenden Alter eine Splenomegalie, Hautpigmentationen und vergrößerte Lymphknoten. Später treten Anämie, Blutungsneigung und rezidivierende Infekte auf. z
Klinik
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Grobe Gesichtszüge Hepatosplenomegalie Skelettveränderungen Kleinwuchs Kontrakturen und Neurodegeneration wie beim M. Hurler (MPS Typ I-H)
z
Diagnostik
Im Urin lassen sich Oligosaccharide nachweisen. Die Enzymaktivität kann im Serum und in den Leukozyten bestimmt werden. Eine molekularbiologische Diagnostik ist möglich. z z Bildgebende Verfahren
Wie bei der MPS findet sich röntgenologisch eine Dysostosis multiplex. Durch MRT-Untersuchungen lassen sich aufgrund ge-
speicherter Stoffwechselprodukte Weichteilverdickungen nachweisen. z
Therapie
Mittlerweile lässt sich die Grundkrankheit durch Substitution des defekten Enzyms im Rahmen einer sehr teuren gentechnischen Therapie behandeln. Kontrakturen der Gelenke werden mittels Physiotherapie behandelt. Bei der Mukolipidose mit rachitisähnlichem Bild ließ sich durch die Gabe von Vitamin D eine Besserung erzielen. Das operative Vorgehen entspricht demjenigen bei den Mukopolysaccharidosen.
Lipidosen z
Definition
Zu den Lipidspeicherkrankheiten werden der M. Gaucher, der M. Niemann-Pick, der M. Fabry und die Gangliosidosen gezählt. Der M. Fabry und der M. Gaucher machen etwa 20% aller Lipidspeicherkrankheiten aus (Aldenhoven et al. 2009). z
Ätiologie und Pathogenese
M. Gaucher, M. Niemann-Pick und Gangliosidosen werden autosomal-rezessiv vererbt, der M. Fabry folgt einem X-chromosomalen Erbgang. Der M. Gaucher wird durch ein defektes Enzym verursacht, wodurch es zur Anhäufung von Glukozerebrosid in Zellen des retikuloendothelialen Systems kommt. Beim M. NiemannPick resultiert eine Speicherung von Sphingomyelin in Leber, Milz und anderen Organen. Durch die fehlende Aktivität der α-Galaktosidase beim M. Fabry kommt es zur Akkumulation von Zeramidtrihexosid in glatter Muskulatur, Endothelien und Epithelien, bei den Gangliosidosen zur Anhäufung von GM1Gangliosid oder Spaltprodukten. z
Diagnostik
Es ist ein Nachweis von histiozytären Speicherzellen (GaucherZellen) in verschiedenen Organen (Leber, Milz) möglich. Die Lipidspeicherung beim M. Niemann-Pick zeigt sich in Schaumzellen im Knochenmark. Die Enzymaktivität kann an Leukozyten- oder Fibroblastenkulturen bestimmt werden. Außerdem lässt sich die DNS-Mutation analysieren, insbesondere bei heterozygoten Frauen mit M. Fabry. z z Klinische Untersuchung
Patienten mit M. Gaucher haben eine kurze Statur, krisenhafte Gelenkschmerzen, Osteonekrosen, pathologische Frakturen und Osteomyelitiden. Der M. Niemann-Pick ist durch die Vergrößerung von Leber und Milz charakterisiert. Es kommt zu zentralnervösen Ausfällen mit Verlust motorischer Funktionen. Beim M. Fabry treten brennende Schmerzen an den Händen und Füßen (Akroparästhesien) sowie Gelenkschmerzen auf. Die Patienten haben eine kurze Statur. > Patienten mit einer Gangliosidose entwickeln sich schlecht, es kommt zu einer Hepatosplenomegalie und zu Skelettveränderungen ähnlich wie bei einer Mukopolysaccharidose. Es treten Krampfanfälle auf, und es kann sich eine Tetraspastik ausbilden.
10
164
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
z z Bildgebende Verfahren
Patienten mit M. Gaucher zeigen radiologisch eine Auftreibung und eine Entkalkung der Knochen, besonders an den Fingern und Zehen. Am Femurkopf kommt es durch die Nekrosen zu einem M.-Perthes-ähnlichen Bild. Die distalen Röhrenknochen sind aufgetrieben (Erlenmayer-Kolben-Deformitäten).
Knochenbildungs- und Knochenresorptionsvorgänge laufen stets parallel ab, wobei im Kindes- und Jugendalter die Knochenbildung und ab dem 40. Lebensjahr die Knochenresorption überwiegt. Dabei haben eine Vielzahl von Faktoren Einfluss auf das Gleichgewicht zwischen den beiden Vorgängen.
Knochenbildung z
Therapie
Beim M. Gaucher ist eine Enzymersatztherapie möglich und inzwischen die Therapie der Wahl. Hierdurch kann ein normales Knochenwachstum erwartet werden. Allerdings bilden sich vor Beginn der Therapie bestehende Knochenveränderungen nicht mehr zurück. Neben der Enzymersatztherapie ist beim M. Gaucher die Substratreduktion möglich. Die Ansprechrate der Enzymersatztherapie ist beim M. Fabry geringer als beim M. Gaucher. Verschiedene Therapieoptionen (z. B. Substratreduktion) befinden sich bei den anderen Speicherkrankheiten im Stadium erster klinischer Studien. Pathologische Frakturen, Osteomyelitiden und Nekrosen bedürfen oft der operativen Therapie.
10.2
10
Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Knochenresorption
C. Doenecke, J. Schaumburger
10.2.1
Die Knochenbildung erfolgt durch Osteoblasten, welche sich über Präosteoblasten aus mesenchymalen Stammzellen spezialisieren. Dabei erfolgt die Regulation der Zellproliferation bis hin zum Osteoblasten durch verschiedene Wachstumsfaktoren, welche von den osteoblastären Zellen selbst produziert und sezerniert werden. Ein Teil dieser Wachstumsfaktoren wird in die organische Knochenmatrix eingelagert und im Zuge der Knochenresorption wieder freigesetzt. Ungefähr 15% der Osteoblasten werden als Osteozyten in die Knochensubstanz eingeschlossen. Die Mineralisation der Knochenmatrix erfolgt durch die osteoblastäre Abgabe von Matrixvesikeln, in denen sich die Kristallisation von amorphem Kalziumphosphat zu Hydroxylapatit vollzieht. Matrixvesikel und Osteoid bilden schließlich zusammen die Knochensubstanz.
Knochenstoffwechsel
Aufbau des Knochens und Kalzifikation Der Knochen setzt sich aus einer hauptsächlich aus Kollagen bestehenden organischen Matrix (Osteoid) und darin eingelagerten Mineralien wie Kalzium, Phosphat, Magnesium und Natrium zusammen. Kalzium und Phosphat verbinden sich dabei zum äußerst harten Kalziumapatit (Hydroxylapatit). Neben der biomechanischen Stütz- und Schutzfunktion fungiert der Knochen als größter Kalzium- und Phosphatspeicher des Körpers.
Während des Wachstums, aber auch als Anpassung an veränderte biomechanische Belastungen sowie zur Balancierung des Kalziumhaushalts und zur Erneuerung und Reparatur alter Substanz wird Knochengewebe fortlaufend erneuert. Der Abbau bereits vorliegender Knochensubstanz erfolgt durch sog. Osteoklasten und ist für die Erneuerung des Knochengewebes essenziell. Die Differenzierung von Vorläuferzellen bis hin zum Osteoklasten und dessen Aktivität unterliegen diversen Faktoren. Dabei unterscheidet man endokrine Faktoren wie z. B. Parathormon, 1,25-Dihydroxy-Vitamin D3, Kalzitonin, Östrogene, Androgene und Tumornekrosefaktor α von parakrinen Faktoren wie beispielsweise Interleukine, »transforming growth factor β« und Prostaglandine. Die osteoklastische Knochenresorption endet mit der apoptotischen Degeneration des Osteoklasten, was durch Östrogene, »transforming growth factor β« und Bisphosphonate stimuliert werden kann (⊡ Abb. 10.14).
Apoptose Fortlaufende Knochenbildung Osteoklast
Osteoblast
Inhibition der Osteoklastenfunktion
Biphosphonat Knochen ⊡ Abb. 10.14 Vermuteter Wirkmechanismus von Bisphosphonaten
10
165 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Zur Beurteilung von Knochenbildung und Knochenresorption lassen sich diverse biochemische Marker in Serum und Urin bestimmen ( Abschn. 10.2.4).
ziumhaushalt und Knochenstoffwechsel (Steigerung der Knochenresorption, Hemmung der Proliferation der Osteoblasten).
Schilddrüsenhormone 10.2.2
Einfluss verschiedener Hormone auf den Knochenstoffwechsel
Parathormon Parathormon (PTH) wird in der Nebenschilddrüse gebildet und spielt neben Kalzitriol bei der Regulierung des Kalziumund Phosphathaushalts eine wesentliche Rolle. Registrieren die Kalziumrezeptoren in den Nebenschilddrüsenzellen erniedrigte Serumkalziumwerte, wird vermehrt Parathormon sezerniert. In der Folge steigt die Serumkalziumkonzentration durch verschiedene Mechanismen an: ▬ Kalziumfreisetzung aus den Knochen durch Stimulierung der Osteoklasten ▬ Steigerung der intestinalen Kalziumresorption und der renalen Kalziumrückresorption im Nierentubulus ▬ Stimulierung der renalen 25-Hydroxyvitamin-D-1αHydroxylase und somit Erhöhung der 1,25-DihydroxyVitamin-D3-Konzentration Parallel dazu bewirkt PTH durch Hemmung der renalen Phosphatrückresorption im Nierentubulus eine Senkung des Serumphosphatspiegels. Erhöhte Parathormonspiegel werden z. B. beim Hyperparathyroidismus beobachtet ( Kap. 10.2.5, Abschnitt »Hyperparathyroidismus«).
Wachstumshormon Das Wachstumshormon fördert in der Kindheit durch Stimulierung der Chondrozyten der Epiphysenfuge, welche dadurch vermehrt »insulin-like growth factor 1« sowie »transforming growth factor β« sezernieren, das Skelettwachstum. Dies fördert die chondroblastäre Differenzierung und somit eine Expansion der Knorpelschicht. Neben den Chondrozyten tragen auch osteoblastäre und präosteoklastäre Zellen Wachstumshormonrezeptoren. Beim Erwachsenen wird durch das Wachstumshormon folglich sowohl die Knochenbildung als auch die Knochenresorption unterhalten.
Geschlechtshormone Östrogene und Androgene wirken beide hemmend auf die Knochenresorption, allerdings über 2 verschiedene Mechanismen: Während Östrogene die Entwicklung osteoklastärer Vorläuferzellen hin zum reifen Osteoklasten hemmen, bewirken Androgene eine Hemmung der Parathormonwirkung am Osteoblasten.
Ähnlich wie mit den Glukokortikoiden verhält es sich mit den Schilddrüsenhormonen: Trijodthyronin als eigentlich wirksames Schilddrüsenhormon (Thyroxin hat eher den Charakter eines Prohormons mit Vorratsfunktion) fördert in physiologischen Dosen sowohl die Osteoblasten- als auch die Osteoklastenfunktion und trägt somit wesentlich zum Knochenumbau bei. Durch die Kopplung beider Vorgänge bleibt die Nettoknochenmasse letztlich konstant.
1,25-Dihydroxy-Vitamin D3 (Kalzitriol) Vitamin D (Cholekalziferol) ist ein fettlösliches Vitamin, welches überwiegend in der Haut unter Sonneneinstrahlung (UV-B) aus 7-Dehydrocholesterin (Provitamin D3) gebildet wird. Ein kleinerer Teil wird über die Nahrung aufgenommen, den höchsten Vitamin-D-Gehalt weist neben Lebertran Fischfleisch auf, z. B. von Hering, Thunfisch, Lachs und Forelle. Vitamin D selbst ist biologisch nur schwach aktiv und muss durch schrittweise Hxdroxylierungen in die biologisch aktive Form überführt werden (⊡ Abb. 10.15). Die erste Hydroxylierung erfolgt in der Leber zu 25-Hydroxycholekalziferol (25-OH-D3 oder Kalzifediol), die zweite in der Niere, wodurch die eigentliche biologisch aktive Form, das 1,25-DihydroxyCholekalziferol, auch Kalzitriol genannt, entsteht. Die in der Niere ablaufende Hydroxylierung von Kalzifediol zu Kalzitriol wird durch niedrige Serumphosphatspiegel stimuliert, durch hohe Phosphatspiegel hingegen gehemmt. Kalzifediol weist eine wesentlich geringere Aktivität als Kalzitriol auf und wirkt vorwiegend am Osteoblasten. Dabei fördert es die Verkalkung des Osteoids. Kalzitriol hingegen zeigt eine deutlich höhere Aktivität und bewirkt am Knochen durch den Einbau von Kalzium und Phosphat eine Mineralisierung sowie am Darm eine Steigerung der Kalzium- und Phosphatresorption.
Kalzitonin Kalzitonin wird bei akut erhöhten Serumkalziumwerten aus den sog. C-Zellen der Schilddrüse sezerniert. Die Senkung des Serumkalziumspiegels erfolgt durch eine Hemmung der durch PTH geförderten Osteoklastenaktivität. Neben akut erhöhten Serumkalziumwerten bewirken auch verschiedene gastrointestinale Hormone wie z. B. Gastrin und Katecholamine eine Kalzitoninsekretion. Bei akut schmerzhafter Osteoporose wirkt Kalzitonin schmerzlindernd, weshalb es u. a. bei schmerzhaften Wirbelfrakturen Anwendung findet, und zwar zu Beginn einer
Glukokortikoide Physiologische Glukokortikoidkonzentrationen im Plasma stabilisieren den Knochenstoffwechsel, indem einerseits osteoblastäre Funktionen stimuliert werden und es andererseits zur Hemmung der Osteoklastenreifung kommt. Erst dann, wenn im Plasma über lange Zeit hohe Glukokortikoidkonzentrationen vorliegen, ergeben sich ungünstige Auswirkungen auf Kal-
UV-Licht
Cholekalziferol
7-Dehydrocholesterin Haut
⊡ Abb. 10.15 Entstehung von Kalzitriol
Kalzifediol Leber
Kalzitriol Niere
166
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
antiresorptiven Therapie, z. B. mit Bisphosphonaten. Prophylaktische Gaben von Kalzitonin können zwar das Risiko vertebraler Frakturen mindern, nicht aber das von Hüftfrakturen. Die Konzentrationsbestimmung des humanen Kalzitonins im Serum dient der Diagnostik und der Verlaufskontrolle des medullären Schilddrüsenkarzinoms (C-Zell-Karzinom).
▬ an Anionen gebundenes Kalzium (vorwiegend an Phosphat, Zitrat und Bikarbonat gebunden; ca. 5%)
Referenzbereiche für Kalzium (Erwachsene)
▬ Gesamtkalzium: 2,20–2,65 mmol/l ▬ ionisiertes Kalzium: 1,15–1,35 mmol/l
> Kalzitonin hemmt die Osteoklastenaktivität.
10.2.3
Kalzium- und Phosphathaushalt
Bei der Regulation sowohl des Kalzium- als auch des eng damit verknüpften Phosphathaushalts spielen 2 Hormone eine wesentliche Rolle, nämlich PTH und Kalzitriol.
Kalziumhaushalt
10
Die Regulation des Kalziumhaushalts ist in ⊡ Abb. 10.16 dargestellt. Kalzium ist ein wesentlicher Bestandteil des Knochens. In Verbindung mit Phosphor bildet es das Kalziumapatit. Das im Körper verteilte Kalzium befindet sich zu 99% im Skelettsystem sowie in den Zähnen, und lediglich 1% ist im Extrazellulärraum lokalisiert, wobei zwischen beiden Kompartimenten im Normalfall ein reger Austausch besteht. Der Tagesbedarf an Kalzium liegt bei ca. 1 g. Besonders kalziumhaltig sind Milch und Milchprodukte. Im Serum liegt das Kalzium in 3 verschiedenen Fraktionen vor: ▬ freies oder ionisiertes Kalzium (ca. 50%) ▬ proteingebundenes Kalzium (vorwiegend an Albumin, weniger an Globuline gebunden; ca. 45%)
Die Gesamtkalziumkonzentration lässt sich zwar einfach bestimmen, hat jedoch den Nachteil, dass die Kalziumkonzentration im Serum in Abhängigkeit von der Proteinkonzentration, insbesondere der Konzentration des Albumins, stark variiert. Ein Abfall des Serumalbuminspiegels um 1 g/dl bewirkt beispielsweise eine Erniedrigung des Gesamtkalziumwerts von etwa 0,25 mmol/l. Bei Hypalbuminämie lässt sich die Gesamtkalziumkonzentration mit folgender Formel auf einen Referenzwert des Albumins von 40 g/l korrigieren: Korr. Ca [mmol/l] = gemessenes Ca [mmol/l] – 0,025 × Albumin [g/l] + 1
Auch pH-Wert-Verschiebungen haben einen Einfluss auf die Kalziumkonzentration. So liegt – bezogen auf einen konstanten Gesamtkalziumwert – im Rahmen einer Azidose tatsächlich eine höhere Konzentration an ionisiertem Kalzium vor. Entsprechend findet man bei einer Alkalose geringere Werte. Das ionisierte Kalzium eignet sich besser zur Beurteilung des Kalziumstatus, da es die biologisch aktive Form darstellt und da seine Konzentration im Plasma direkt durch Parathormon und Vitamin D reguliert wird.
Kalzitonin
7-Dehydroxycholesterol
UV-Licht
Osteoklastenhemmung
Nahrungsaufnahme
Parathormon
Vitamin D (Cholekalziferol) Ca2+
Ca2+
Umwandlung in der Leber Phosphat 25-Hydroxy-Vitamin D (Kalzifediol)
(Ausscheidung über Niere)
Parathormon
Kalziumausscheidung der Niere Umwandlung in der Niere
Osteoklastenaktivierung
1α-25-Hydroxy-Vitamin-D3 (Kalzitriol)
Kalzium-/Phosphatresorption
⊡ Abb. 10.16 Regulation des Kalziumhaushalts
Phosphat
wird umgewandelt in, Stimulation Kalzium/ Phosphat: Werte im Serum
Hemmung
167 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Hyperkalzämie Eine Hyperkalzämie liegt bei Gesamtkalziumkonzentrationen von >2,65 mmol/l vor und lässt sich in der Regel auf eine Kombination mehrerer Mechanismen zurückführen: ▬ erhöhte intestinale Kalziumabsorption ▬ vermehrte Kalziumresorption aus dem Knochen ▬ verminderte Kalziumausscheidung im Urin Ursachen für eine Hyperkalzämie sind beispielsweise: ▬ Malignome: Osteolysen, Plasmozytom, paraneoplastisches Syndrom mit Freisetzung von PTH, »parathormon-related protein« oder Vitamin D ▬ endokrinologische Ursachen: primärer Hyperparathyroidismus, Hyperthyreose, Nebennierenrindeninsuffizienz ▬ Immobilisation ▬ Medikamente: Thiaziddiuretika, Überdosierungen mit Vitamin D oder Vitamin A ▬ Sarkoidose ▬ Milch-Alkali-Syndrom ▬ familiäre hypokalziurische Hyperkalzämie ▬ metabolische Ursachen: Azidose, Hypophosphatämie, Hyperproteinämie (eine erhöhte Proteinbindung im Rahmen einer Dysproteinämie ist klinisch irrelevant, da sich der Spiegel des ionisierten Kalziums im Normbereich befindet)
Das klinische Bild der Hyperkalzämie ist durch folgende Symptome gekennzeichnet: ▬ Erbrechen ▬ Exsikkose ▬ Schwäche ▬ Hyporeflexie ▬ Bradykardie ▬ Nephrolithiasis ▬ Diabetes insipidus ▬ Weichteilverkalkungen
Hypokalzämie Meist liegt einer Erniedrigung des Gesamtkalziumspiegels auf Werte unter 2,20 mmol/l eine Hypalbuminämie zugrunde, z. B. im Rahmen einer Proteinurie, einer Leberzirrhose oder eines Malabsorptionssyndroms. Weitere Ursachen für eine Hypokalzämie sind beispielsweise: ▬ Hypoparathyroidismus ▬ Pseudohypoparathyroidismus mit Endorganresistenz gegenüber PTH ▬ Niereninsuffizienz: – renale Phosphatretention (bei glomerulärer Filtrationsrate von <25 ml/min) – verminderte intestinale Kalziumabsorption aufgrund eines Vitamin-D-Mangels bei nicht ausreichendem funktionstüchtigen Nierengewebe – Resistenz des Knochens gegenüber PTH ▬ Vitamin-D-Mangel und Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels ▬ Hypomagnesiämie
▬ ▬ ▬ ▬
Hyperphosphatämie renal-tubuläre Azidose osteoblastische Metastasen akute Pankreatitis
Klinisch können im Rahmen einer Hypokalzämie Hyperreflexie, Tetanie, zerebrale Krampfanfälle, Osteomalazie, trophische Hautstörungen und Katarakt auftreten.
Phosphathaushalt Phosphat ist ein wesentlicher Bestandteil des Knochens. Es wird mit der Nahrung zugeführt und findet sich v. a. in Fleisch und Gemüse. Fünfundachtzig Prozent des anorganischen Phosphats befinden sich in Knochen und Zähnen, 14% intrazellulär sowie 1% extrazellulär. Der Tagesbedarf liegt bei ca. 1 g.
Referenzbereiche für Phosphat (Erwachsene)
▬ 0,84–1,45 mmol/l
Hypophosphatämie Leichte Hypophosphatämien kommen bei stationären Patienten recht häufig vor und bedürfen in der Regel keiner Therapie. Schwere Hypophosphatämien mit Werten unter 0,32 mmol/l sind dagegen selten und müssen stets therapiert werden. Es kommt zu Muskelschwäche und Muskelschmerzen sowie zu Verwirrungszuständen bis hin zum Koma. Ursachen einer schweren Hypophosphatämie können sein: ▬ akute Phosphatverschiebung von extra- nach intrazellulär, z. B. bei: – Erholung von einer diabetischen Ketoazidose – Nahrungszufuhr nach längerer Hungerperiode – respiratorischer Alkalose – Erholung von einer akuten respiratorischen Azidose – schweren körperlichen Anstrengungen – Leukämien – Lymphomen ▬ mangelnde Phosphataufnahme, z. B. bei parenteraler Ernährung ▬ gestörte enterale Phosphatabsorption, z. B. durch Phosphatbinder oder Antazida ▬ renal-tubulärer Verlust, z. B. bei sporadischer Hypophosphatämie oder im Rahmen maligner Erkrankungen ▬ Verbrennungen ▬ Operationen mit Flüssigkeitsverlusten und Verabreichung von Glukoseinfusionen ▬ Alkoholismus
Hyperphosphatämie Ursachen für Hyperphosphatämien sind:
▬ ▬ ▬ ▬
verminderte renale Phosphatausscheidung verstärkte Zufuhr mit der Nahrung oder parenteral gesteigerte intestinale Absorption Rückverteilung und/oder Freisetzung von intrazellulärem Phosphat
10
168
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Als Folge der Hyperphosphatämie kommt es durch Verminderung der 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D3-Konzentration und Abnahme der intestinalen Kalziumabsorption kompensatorisch zu einem Abfall der Kalziumkonzentration im Plasma. Ferner resultieren ektope Verkalkungen in allen Organen, welche durch ein Kalzium-Phosphat-Produkt von >4,5 mmol/l und das Vorliegen einer Alkalose begünstigt werden.
Diagnostik
10.2.4
Biochemische Marker In Serum und Urin lassen sich mittlerweile einige biochemische Marker sowohl für den Knochenauf- als auch für den Knochenabbau bestimmen. Diese Marker allein reichen für die Beurteilung des Knochenstatus jedoch nicht aus und sollten stets additiv zur Diagnostik mittels bildgebender Verfahren eingesetzt werden.
▬ Erkrankungen mit erniedrigter Gesamt-AP-Konzentration: – – – – –
Hypothyreose Mangelernährung hypophysärer Zwergwuchs Achondrodysplasie familiäre Hypophosphatämie
Bei einigen Skelettsystemerkrankungen wie z. B. M. Paget, Vitamin-D-Mangel-Rachitis und Knochenmetastasen reicht eine Bestimmung der Gesamt-AP-Konzentration zur Beurteilung der Osteoblastenaktivität aus. Bei anderen Erkrankungen wie z. B. Hyperparathyroidismus, Osteopenie und Osteoporose ist die Gesamt-AP-Konzentration hingegen nur geringfügig erhöht, weshalb sich hier die Bestimmung des Knochen-APWertes besonders gut eignet. Osteokalzin
Knochenbildung Alkalische Phosphatase (AP) und Knochen-AP (b-ALPn)
Weitere biochemische Marker
Neben den genannten Markern lassen sich im Serum das carboxyterminale Typ-I-Prokollagen-Propeptid (PICP) sowie das aminoterminale Typ-I-Prokollagen-Propeptid bestimmen. Diese Werte haben jedoch aufgrund einer niedrigen Spezifität nur einen geringen Stellenwert.
Veränderungen der AP-Konzentration
Knochenresorption
▬ Erkrankungen mit erhöhter Gesamt-AP-Konzentration:
Hydroxypyridiniumderivate im Urin (»crosslinks«)
– – – – – – – – – – – – – – – – – ▼
M. Paget Rachitis Osteomalazie Osteogenesis imperfecta fibröse Dysplasie primäre Knochentumoren Knochenmetastasen multiples Myelom Hyperparathyroidismus Akromegalie Hyperthyreose Niereninsuffizienz Knochenbrüche im Heilungsstadium ektope Ossifikation Sarkoidose Knochentuberkulose Vitamin-D-Intoxikation
Im Rahmen der Reifung der Kollagenmatrix werden die einzelnen Kollagenfibrillen durch Hydroxypyridiniumderivate, die »crosslinks«, miteinander verknüpft. 5
Risiko für Hüftgelenkfraktur
10
Die im Serum bestimmbare Konzentration der (gesamten) alkalischen Phosphatase (AP) setzt sich aus den Konzentrationen mehrerer Isoenzyme zusammen, von denen diejenigen der Leber- und der Knochen-AP die beiden größten Fraktionen darstellen. Bei unklar erhöhten Gesamt-AP-Werten kann somit eine weitere Abklärung mittels Konzentrationsbestimmung der Knochen-AP (Ostase) erfolgen. Dies betrifft v. a. Patienten, bei denen zusätzlich eine Lebererkrankung vorliegt, bzw. dies dient in speziellen Fällen der Verlaufsbeurteilung von Skelettsystemerkrankungen. Ein erhöhter Knochen-AP-Wert spricht für eine Osteoblastenaktivierung und ist bei Kindern infolge des Knochenwachstums physiologisch, im Erwachsenenalter jedoch immer pathologisch.
Osteokalzin wird von aktiven Osteoblasten gebildet und überwiegend in die organische Knochenmatrix eingebaut. Ein kleinerer Teil gelangt jedoch in die Blutbahn. Osteokalzin gelangt aber auch bei der Knochenresorption in die Blutbahn, sodass Osteokalzin nicht als alleiniger Marker für die Knochenbildung, sondern eher als Marker für einen gesteigerten Knochenumbau zu verstehen ist. Im Rahmen einer Niereninsuffizienz lassen sich im Serum erhöhte Osteokalzinkonzentrationen feststellen, da Osteokalzinfragmente renal ausgeschieden werden.
4,1 4 3
2,7 1,9
2 1
Niedrige Knochendichte Hüftgelenk
Hoher PyrilinksD-Wert
Niedrige Knochendichte Hüftgelenk + hoher Pyrilinks-D-Wert
⊡ Abb. 10.17 Zusammenhang zwischen Knochendichte, Pyrilinks-DWert und Frakturrisiko
169 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Vom Pyridinolin (PYD), welches nicht nur in Knochen, sondern auch in Knorpel, Sehnen und perivaskulär vorkommt, unterscheidet man das für das Kollagengerüst von Knochen und Dentin absolut spezifische Desoxypyridinolin (DPD oder Pyrilinks-D). DPD (und in geringerem Maße auch PYD) stellen zurzeit die besten, da spezifischsten biochemischen Marker für die quantitative Beurteilung der Knochenresorption dar und werden gegenwärtig als Hinweis für eine »High-turnover«-Osteoporose angesehen. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass erhöhte DPD-Konzentrationen in Verbindung mit einer erniedrigten Knochendichte bei älteren Frauen auf ein ca. 4-fach erhöhtes Risiko für osteoporotische Frakturen hinweisen (⊡ Abb. 10.17). Carboxy- und aminoterminales Typ-I-Kollagen-Telopeptid im Serum
das Ergebnis, also die Masse kalziumhaltiger Kristalle im untersuchten Knochen, in g/cm2 angegeben. Die Messungen erfolgen typischerweise an der Lendenwirbelsäule (L1–L4) und am linken Femur (⊡ Abb. 10.19), wobei zu beachten ist, dass sich im zu untersuchenden Bereich keine Metallimplantate befinden dürfen. Nach der inzwischen allgemein akzeptierten Definition durch die WHO liegt dann eine Osteoporose vor, wenn das Ergebnis der Knochendichtemessung um mehr als 2,5 Standardabweichungen unter dem Mittelwert junger, gesunder Frauen liegt (sog. T-Score). Folgerichtig wird das Ergebnis nicht nur in g/cm2, sondern auch als T-Score geliefert (⊡ Abb. 10.20). Bei einem T-Score von –1 bis –2,5 Standardabweichungen spricht man laut WHO-Definition von einer Osteopenie. Bei T-Scores unter –2,5 geht man von einer Osteoporose aus.
Im Rahmen der Knochenresorption werden diese Peptide aus der Kollagen-Typ-I-Matrix freigesetzt und können im Serum nachgewiesen werden. Leider sind die Konzentrationen dieser Peptide nicht spezifisch für die Knochenresorption, da sie auch im Rahmen des Stoffwechsels der Haut freigesetzt werden. Kalziumausscheidung im Urin
Auch die Kalziumausscheidung im 24-h-Urin kann zur Abschätzung einer gesteigerten Knochenresorption herangezogen werden, allerdings nur bei normaler Nierenfunktion und ausgewogener Ernährung. Tartratresistente saure Phosphatase im Serum (TRAP5b)
Im Normalfall ist bei Gesunden nur das aus den Osteoklasten stammende Isoenzym (5b) der sauren Phosphatase nachweisbar und kann somit als Parameter für die Knochenresorption dienen. Weitere biochemische Marker
Weitere Marker für die Knochenresorption sind das Knochensialoprotein und Hydroxylysinglykoside im Serum, außerdem die Hydroxyprolinausscheidung im Urin, allerdings mit geringerer Bedeutung im klinischen Alltag, da sie entweder eine geringe Spezifität besitzen oder ihre Bestimmung kompliziert ist.
⊡ Abb. 10.18 Zweidimensionale Darstellung der eigentlich 3-dimensionalen Knochenstruktur bei der »dual energy X-ray absorptiometry«
Osteodensitometrie Die Osteodensitometrie ist eine Methode zur Beurteilung der Knochendichte durch Erfassung kalziumhaltiger Kristalle im Knochen. Sie wird zur Diagnosestellung und zur Verlaufsbeurteilung einer Osteoporose bzw. Osteopenie herangezogen. Gerade zur Früherkennung einer Osteoporose ist die Osteodensitometrie unverzichtbar. Anhand der gemessenen Werte lässt sich zudem durch einen Vergleich mit epidemiologischen Daten das jeweilige Frakturrisiko abschätzen. Das am häufigsten durchgeführte Verfahren ist die Messung mit Röntgenstrahlen. Hierbei unterscheidet man planare Messverfahren von volumetrischen Verfahren. Bei beiden Methoden schließt man vom Ausmaß der vom Knochen absorbierten Strahlung auf den Kalziumgehalt des Knochens. Die »DXA« genannte »dual energy X-ray absorptiometry« ist momentan der Goldstandard unter den planaren Verfahren. Die Darstellung der eigentlich 3-dimensionalen Knochenstruktur erfolgt hierbei 2-dimensional (⊡ Abb. 10.18) im Sinne eines Summationsbilds. Folgerichtig wird
⊡ Abb. 10.19 Messung der Knochendichte am linken Femur
10
170
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
Referenz: L1−L4 Knochendichte [g/cm2] 1,42
T-Score 2
1,30
1
1,18
0
1,06
-1
0,94
-2
0,82
-3
0,70
-4 -5
0,58 20 ⊡ Abb. 10.20 Darstellung der Knochendichte als T-Score
10
Neben dem T-Score wird in der Regel zusätzlich noch der Z-Score angegeben. Dieser ermöglicht den Vergleich der individuellen Messergebnisse mit den Durchschnittswerten von Personen derselben Altersgruppe und desselben Geschlechts. Er besagt also lediglich, ob die untersuchte Person in Bezug auf die Knochenmasse gesünder oder kränker ist als gleichaltrige Personen. Ob tatsächlich eine Osteopenie oder Osteoporose vorliegt, vermag nur der T-Score zu sagen. Volumetrische Messungen werden anhand der quantitativen CT durchgeführt, weshalb man das Ergebnis hier in g/cm3 angibt. Die Strahlenbelastung ist bei der Verwendung von Computertomographen allerdings um ein Vielfaches höher als bei der DXA, für welche Werte zwischen 0,01 und 0,1 mSv angegeben werden. Im Vergleich dazu beträgt die Strahlenbelastung bei einer konventionellen Thoraxaufnahme ca. 0,2 mSv. Allein die natürliche Strahlenbelastung (hauptsächlich bedingt durch Inhalation von Radon) beträgt in Deutschland bereits >2 mSv/Jahr. Neben der Knochendichtemessung mithilfe von Röntgenstrahlen kommt vereinzelt auch die Sonographie zur Anwendung. Im Gegensatz zur sonst üblichen Verwendung des Ultraschalls, bei der aufgrund des reflektierten Schallmusters Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des untersuchten Gewebes gezogen werden, beurteilt man bei der ultraschallgesteuerten Knochendichtemessung Qualität und Quantität des durch das Gewebe hindurchtretenden Schalles, vorzugsweise am Kalkaneus. Das zu untersuchende Gewebe befindet sich also zwischen Schallsender und Schallempfänger. Gemessen wird dabei entweder die Abschwächung des Ultraschallsignals oder die Geschwindigkeit, mit der sich der Schall im Knochen ausbreitet. Zur Früherkennung einer Osteoporose haben sich die ultraschallbasierenden Verfahren jedoch noch nicht etabliert.
Indikationen Bei folgenden Personen ist die Durchführung einer Osteodensitometrie indiziert: ▬ Frauen um das 50. Lebensjahr, wenn mindestens ein zusätzlicher Risikofaktor besteht ▬ Frauen ab dem 65. Lebensjahr, auch ohne Vorliegen zusätzlicher Risikofaktoren
30
40
50 60 70 Alter [Jahre]
80
90
100
▬ Personen mit Erkrankungen, welche mit einem erhöhten generalisierten Knochenverlust einhergehen (primärer Hyperparathyroidismus, Hypogonadismus) ▬ Patienten unter Langzeittherapie mit Medikamenten, die mit einem erhöhten Knochenverlust einhergehen, und solche mit (konventionell-)radiologischem Verdacht auf einen verminderten Knochenmineralgehalt ▬ Patienten nach einer Wirbelkörper-, Schenkelhals- oder Radiusfraktur oder jeglicher Fraktur mit inadäquatem Trauma als Basisbefund für Verlaufskontrollen ▬ Personen mit klinisch manifester Osteoporose ▬ Patienten mit Osteogenesis imperfecta ▬ Patienten mit gastrointestinalen Erkrankungen (Malabsorption, Colitis ulcerosa, M. Crohn etc.) > Bei Radius-, Schenkelhals- oder Wirbelkörperfrakturen ohne adäquates Trauma sollten eine Osteodensitometrie sowie ein Osteoporose-Screening durchgeführt werden.
Kontrollmessungen Kontrollmessungen sollten stets mit derselben Methode und wenn möglich an baugleichen Geräten durchgeführt werden. Zur Beurteilung eines Therapieerfolgs ist eine Kontrolle frühestens nach einem Jahr indiziert. In der Regel erfolgen die Kontrollen dann alle 2 Jahre. Kürzere Intervalle sind nur in Ausnahmefällen sinnvoll, z. B. bei hochdosierten Steroidgaben über einen längeren Zeitraum.
Abschätzung des Frakturrisikos Zur Abschätzung des individuellen Frakturrisikos müssen neben dem gemessenen Knochenmineralgehalt v. a. das Alter sowie das Geschlecht berücksichtigt werden. Ein Z-Score von –1 geht ungefähr mit einer Verdoppelung des altersentsprechenden Frakturrisikos einher, ein Z-Score von –2 mit einer Vervierfachung und ein Z-Score von –3 mit einer Verachtfachung. Hierbei gilt es allerdings zu beachten, dass Frakturen in den unterschiedlichen Altersgruppen auch unterschiedlich oft auftreten und somit ein 8-fach gesteigertes Risiko bei jungen
10
171 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Patienten immer noch ein niedriges Risiko darstellt – bei alten Patienten bedeutet dies jedoch eine enorme Steigerung des ohnehin hohen Frakturrisikos.
Geometrische Veränderungen bei Osteoporose Hier sind zu nennen: ▬ endostaler Knochenverlust → Markraumerweiterung → größerer innerer Durchmesser (bei beiden Geschlechtern gleich) ▬ zunehmender periostaler Knochenanbau → größerer äußerer Durchmesser (bei Männern stärker ausgeprägt als bei Frauen) ▬ zunehmendes Trägheitsmoment (dies kann teilweise den Verlust an mechanischer Festigkeit kompensieren) ▬ insgesamt verminderte Knochendichte, verminderte Steifigkeit und verminderte Dicke der Kortikalis
10.2.5
▬ endokrinologisch: Hyperthyreose, M. Cushing, Hypogonadismus, Diabetes mellitus ▬ gastroenterologisch: Malresorption, Laktoseintoleranz ▬ medikamentös: lang anhaltende Glukokortikoidtherapie, Gerinnungshemmung mit Heparin, immunsuppressive Therapien ▬ Immobilisierung ▬ andere: rheumatische Erkrankungen, Osteogenesis imperfecta, Down-Syndrom, Marfan-Syndrom, Ehlers-DanlosSyndrom
Risikofaktoren für die Entwicklung einer primären Osteoporose
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Erkrankungen
Osteoporose z
Definition
Der menschliche Knochen besteht zu ungefähr 70% aus Mineralien, hauptsächlich Kalziumhydroxylapatit, zu 29% aus Proteinen (hauptsächlich Kollagen) und zu 1% aus Zellen. Bei Osteopenie und Osteoporose bleibt dieses Verhältnis größtenteils erhalten, die Gesamtknochenmasse ist jedoch reduziert. Auf den Konsensuskonferenzen 1993 in Hongkong und 1996 in Amsterdam wurde die Osteoporose folgendermaßen definiert: Die Osteoporose ist eine systemische Skeletterkrankung, die durch eine niedrige Knochenmasse und Strukturveränderungen des Knochengewebes charakterisiert ist und eine gesteigerte Knochenbrüchigkeit und Frakturgefährdung zur Folge hat. Die Größe der Knochenausgangsmasse sowie das Ausmaß und die Dauer des Knochenmasseverlustes bestimmen die Ausprägung des klinischen Bildes einer Osteoporose. z
Epidemiologie
Durch die höhere Lebenserwartung nimmt der Anteil älterer Mitbürger an der Gesamtpopulation zu und damit auch die Bedeutung der Osteoporose, da diese sich v. a. mit zunehmendem Alter manifestiert. Bereits heute ist die Osteoporose die häufigste Skeletterkrankung. Schätzungen gehen von 8–9 Mio. Betroffenen in Deutschland aus. Etwa 25–30% der Frauen über 60 Jahren weisen osteoporosebedingte Wirbelkörperdeformierungen auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Unterschieden werden primäre und sekundäre Formen der Osteoporose. Ungefähr 95% der Fälle entfallen auf die primären Formen, deren Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind. Zu dieser Gruppe gehört die häufigste Form, die postklimakterische Osteoporose. Aber auch Männer können von einer Osteoporose betroffen sein, in Deutschland betrifft dies etwa 1,3 Mio. Patienten. Den sekundären Formen der Osteoporose können verschiedene Ursachen zugrunde liegen:
z
Hohes Lebensalter weibliches Geschlecht Osteoporose in der Familienanamnese weiße oder asiatische Herkunft schlanker Körperbau frühes Einsetzen der Wechseljahre Mangel an Geschlechtshormonen Mangel an Kalzium Mangel an Vitamin D Nikotinkonsum Alkoholmissbrauch körperliche Inaktivität
Klassifikation
Die WHO definiert die Osteoporose ausgehend von der Knochendichte (⊡ Tab. 10.4). z
Diagnostik
Bei der Anamnese sollte man auf eine Reduktion der Körpergröße, Rückendeformierungen und Frakturen (Schenkelhals und Radius) achten, insbesondere bei nicht adäquatem Trauma. Es kann im Rahmen eines Deckplatteneinbruchs oder einer Wirbelkörpersinterung mit subperiostaler Blutung zu akuten Schmerzen kommen. Der Schmerz lässt sich häufig mit einem Ereignis in Zusammenhang bringen und ist genau zu lokalisieren. In der unteren Brustwirbelsäule oder der oberen Lendenwirbelsäule werden häufig chronische Schmerzen geschildert. Grundsätzlich handelt es sich um lokalisierte
⊡ Tab. 10.4 Stadien der Osteoporose Stadium
Knochendichte (T-Score)
Frakturen
Normal
–1 SD
Keine
Osteopenie
–1 bis –2,5 SD
Keine
Präklinische Osteoporose
Mehr als –2,5 SD
Keine
Manifeste Osteoporose
Mehr als –2,5 SD
Vorhanden
SD Standardabweichung unterhalb des Mittelwerts der Knochendichte gesunder junger Menschen (sog. T-Score; 1 SD = 10%)
172
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
⊡ Abb. 10.21 Osteoporose mit Fischwirbelbildung an BWK 7 und 12. a Röntgenbild, b CT
a
b
10 Schmerzen und nicht – wie bei der Osteomalazie – um generalisierte Schmerzen. Klinisch zeigt sich weiterhin eine Abnahme der Körpergröße durch die hyperkyphotischen und hyperlordotischen Wirbelkörperdeformierungen. Die Wirbelsäulendeformität kann so ausgeprägt sein, dass die Rippen die Beckenkämme berühren, was zu einer sehr schmerzhaften Periostreizung führt. Ein weiteres typisches Zeichen ist am Rücken der Patienten zu beobachten: Durch Höhenverlust der Wirbelkörper kommt es zum »Schrumpfen« des Oberkörpers, und es bilden sich schräg abwärts ziehende Hautfalten. Diese werden als »Tannenbaumphänomen« bezeichnet. Ein weiteres Merkmal ist das durch die reduzierte Oberkörperlänge bedingte Ausweichen des Abdomens nach vorne (Kugelbauch). Bei der apparativen Diagnostik stehen die radiologischen Möglichkeiten und die Labordiagnostik im Vordergrund. Radiologisch zeigt sich bei der Osteoporose eine Verminderung der spongiösen Skelettanteile. Der axiale Druck im Bereich der Wirbelsäule führt zu Keil-, Fisch- und Kompressionswirbeln (⊡ Abb. 10.21). Die Diagnose darf jedoch nicht einfach aufgrund einer vermehrten Strahlendurchlässigkeit des Knochens gestellt werden. Zum einen fällt dies erst ab einem Knochendichteverlust von 30–50% auf, zum anderen ist die Transparenz sehr stark von der Untersuchungstechnik abhängig. Die Diagnose wird heutzutage neben den klinischen und den Laborbefunden über die Densitometrie gesichert. Von den vielen Methoden hat sich im klinischen Alltag die DXA bewährt, die durch viele Studien evaluiert ist. Die Indikation zur Knochendichtebestimmung kann perimenopausal zur Identifi-
zierung von Risikopatienten sowie postmenopausal zur Bestimmung eines Basiswerts für den Verlauf und die Therapiekontrolle gestellt werden, ebenso bei ungewöhnlichen Fällen und bei Patienten mit Kortikosteroidbehandlung oder primärem Hyperparathyroidismus. Allerdings sollte die Knochendichtemessung nicht als allgemeiner Screening-Test verwendet werden. Laboruntersuchungen bei Osteoporose dienen dem Ausschluss sekundärer Ursachen. Das Screening-Programm für eine Osteoporose umfasst als Minimalprogramm: ▬ Kalzium- und Phosphatkonzentration ▬ Aktivität der alkalischen Phosphatase ▬ Serumkreatininwert ▬ γ-GT-Aktivität ▬ kleines Blutbild ▬ Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit ▬ Konzentration des C-reaktiven Proteins ▬ TSH-Wert ▬ Eiweißelektrophorese Bei klinischem Verdacht auf Osteoporose werden weitere Parameter bzw. Untersuchungen notwendig: ▬ Konzentrationen von Vitamin D bzw. dessen Metaboliten 25-Hydroxy-Vitamin D3 (Malabsorption) und 1,25-Hydroxy-Vitamin D3 (renale Osteodystrophie) ▬ in manchen Fällen zusätzlich: – PTH-Konzentration – H2-Laktose-Atemtest – Thyroxinspiegel – Testosteronkonzentration
173 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Als letzte Stufe werden die Parameter des Knochenstoffwechsels bestimmt. Für die Beurteilung des Knochenaufbaus werden die Konzentrationen des Osteokalzins und des carboxyterminalen Typ-I-Kollagen-Propeptids benötigt. Die Spiegelbestimmung von Desoxypyridinolin/Pyridinolin (»crosslinks«) erfasst dieses spezifische Abbauprodukt des Knochens. Die Hydroxyprolinausscheidung wird heute nicht mehr als Knochenabbaumarker verwendet, da die Probengewinnung problematisch (prolinfreie Diät für 3 Tage, 24-h-Sammelurin) und der Wert relativ unspezifisch ist. Ist die Diagnose nach den genannten Untersuchungen nicht sicher zu stellen, empfiehlt sich die Durchführung einer Ganzkörperskelettszintigraphie. Die Szintigraphie hat eine hohe Empfindlichkeit bei geringer Spezifität. Die Areale, die eine erhöhte Anreicherung zeigen, sollten gezielt nachuntersucht werden, u. U. kann eine Knochenbiopsie angeraten sein. Da die Knochenbiopsie ein invasives Verfahren ist und da Aufarbeitung sowie Auswertung aufwendig sind, stellt die Biopsie die absolute Ausnahme des diagnostischen Abklärungsvorgangs dar. Eine Biopsie ist indiziert bei: ▬ progressivem abklärungsbedürftigem Verlauf ▬ Verdacht auf Malignom oder hämatologische Erkrankung ▬ Bedarf der Unterscheidung zwischen Osteomalazie und Osteoporose (in Zweifelsfällen) z Therapie Akutphase
Ziele in der Akutphase nach Wirbelkörpersinterung sind die Schmerzlinderung und eine rasche Mobilisierung. Häufig ist bei Frakturen eine kurzzeitige stationäre Behandlung sinnvoll. Die Anwendung von physikalischen Maßnahmen wie Wassergymnastik und Kälteanwendungen wird von den Patienten als wohltuend empfunden. Krankengymnastische Übungen (ggf. im Liegen) inklusive Verhaltensmaßnahmen (Rückenschule) kommen ebenfalls hinzu. Die Grundlage der Mobilisierung ist eine adäquate Schmerztherapie nach WHO-Stufenschema. In der Akutphase ist Kalzitonin (nasal, 200 IE/Tag) berechtigt. Außerdem kommen Infiltrationen mit Lokalanästhetika zum Einsatz. Die Vertebroplastie (Knochenzementstabilisierung ohne vorhergehende Ballonaufrichtung des Wirbelkörpers) stellt ein modernes minimal-invasives Verfahren dar und kommt insbesondere dann zum Einsatz, wenn die Schmerzen bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen konservativ nicht ausreichend therapiert werden können. Die Kyphoplastie hingegen stabilisiert den Wirbelkörper nach vorhergehender Wirbelkörperaufrichtung mittels Ballon. Chronische Phase
Die Therapie der chronischen Phase kann in eine nichtmedikamentöse und eine medikamentöse Therapie eingeteilt werden. Dabei sollten die Patienten auf regelmäßige körperliche Aktivität und eine ausreichende Kalziumzufuhr achten. Nikotin und Alkohol sind zu meiden. Physikalische Therapie
Die Behandlung der chronischen Schmerzen ist die Domäne der Physiotherapie, unterstützt durch Analgetika. Dosier-
te Belastung und körperliche Bewegung trainieren Herz und Kreislauf, zusätzlich kann ein Sturz eher abgefangen oder vermieden werden. Die Mobilisierung führt zur Verbesserung des Knochenstoffwechsels und der Statik. Nicht selten leiden ältere Patienten an psychischen Störungen und an Störungen der Schmerzempfindung. Daher ist eine psychologische Betreuung und Beratung der Patienten wichtig. Allerdings können Psychopharmaka zu einer Gangunsicherheit mit Sturzneigung führen, wodurch das Risiko einer peripheren Fraktur ansteigt. Der Einsatz von Hüftprotektoren ist aufgrund der mangelnden Akzeptanz und Compliance limitiert. Auch ist die Senkung der Frakturrate im Alltag nicht nachgewiesen. Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Basistherapie besteht bei nicht ausreichender nutritiver Kalziumzufuhr aus einer Substitution bis zu einer Gesamtzufuhr von maximal1500 mg Kalzium sowie 800– 2000 IE Vitamin D3 pro Tag. Eine relative Indikation zur spezifischen medikamentösen Therapie besteht bei einem hüftfrakturäquivalenten 10-JahresFrakturrisiko von >20%. Ab einem Risiko von >40% oder bei mehr als einer osteoporotischen Wirbelkörperfraktur sollte unabhängig vom T-Wert behandelt werden (absolute Indikation). Die Therapie bei niedriger Knochendichte erfolgt in Abhängigkeit von Geschlecht, Lebensalter und weiteren Risikofaktoren (⊡ Tab. 10.5).
Risikofaktoren, die eine Anhebung der Therapiegrenze bedingen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Periphere Fraktur nach dem 50. Lebensjahr singuläre Wirbelkörperfraktur proximale Femurfraktur eines Elternteils deutlicher Knochendichteverlust (≥5%) am Gesamtfemur über 2 Jahre multiple Stürze Immobilität subklinischer Hyperkortisolismus primärer Hyperparathyroidismus TSH <0,3 mU/l Wachstumshormonmangel bei Hypophyseninsuffizienz Hypogonadismus (Serumtestosteron <200 ng/dl) antiandrogene Therapie Aromatasehemmertherapie Diabetes mellitus Typ I rheumatoide Arthritis B-II-Operation/Gastrektomie Epilepsie Nikotinkonsum
Neben der Basistherapie mit Kalzium und Vitamin D3 stehen diverse Substanzgruppen zur Verfügung, die im Folgenden dargestellt sind. ▬ antiresorptive Substanzen: – Hormone (Östrogene, Anabolika) – selektive Östrogenrezeptormodulatoren)
10
174
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
⊡ Tab. 10.5 Therapie bei niedriger Knochendichte in Abhängigkeit von Geschlecht, Lebensalter und weiteren Risikofaktoren. Anhebung der Therapiegrenze um +0,5 T-Werte bei einem Risikofaktor (d. h. auf –2,5 statt –3,0) bzw. um +1,0 T-Werte bei 2 oder mehr Risikofaktoren (d.h. auf –2,0 statt –3,0) Lebensalter [Jahre]
DXA-Messung
Frau
Mann
–2,0 bis –2,5
–2,5 bis –3,0
–3,0 bis –3,5
–3,5 bis –4,0
unter –4,0
50–60
60–70
Nein
Nein
Nein
Nein
Ja
60–65
70–75
Nein
Nein
Nein
Ja
Ja
65–70
75–80
Nein
Nein
Ja
Ja
Ja
70–75
80–85
Nein
Ja
Ja
Ja
Ja
>75
>85
Ja
Ja
Ja
Ja
Ja
– Bisphophonate – Kalzitonin – Strontiumranelat ▬ anabole Substanzen: – Fluoride (möglichst retardierte Präparate) – Anabolika – Östrogene in hohen Dosen – Parathormon (Teriparatid) – Strontiumranelat
10
Bisphosphonate
Bisphosphonate sind synthetische Analoga des Pyrophosphats. Sie führen zur Reduktion der Osteoklastenaktivität. Eingesetzt werden hauptsächlich Präparate der 3. Generation (Alendronat, 10 mg/Tag bzw. 70 mg/Woche; Risedronat, 5 mg/Tag bzw. 35 mg/Woche). Bisher galt der Grundsatz, dass die enterale Verabreichung bei fehlender Kontraindikation der parenteralen Form vorzuziehen ist. Inzwischen sind jedoch die einmal jährliche Therapie mit 5 mg Zoledronat (i. v. Kurzinfusion über mindestens 15 min) sowie die vierteljährliche i. v. Bolusinjektion von 3 mg Ibandronat (über mindestens 15–30 s) zur Behandlung der Osteoporose zugelassen. Bisphosphonate werden leider nur zu einem geringen Prozentsatz (<1%) aufgenommen und können gastrointestinale Beschwerden bis hin zur Ösophagitis auslösen, weshalb die Einnahmemodalitäten strengstens zu beachten sind: ▬ nach dem Aufstehen mit einem vollen Glas Wasser schlucken ▬ die Tablette nicht kauen oder im Mund auflösen lassen ▬ nach Tabletteneinnahme mindestens 30 min aufrecht sitzen oder stehen ▬ keine Einnahme vor dem Schlafengehen ! Cave Erkrankungen des Ösophagus wie z. B. Ösophagusmotilitätsstörungen sowie eine schwere Niereninsuffizienz stellen Kontraindikationen für eine enterale Therapie mit Bisphosphonaten dar.
Bezüglich des Einflusses von Bisphosphonaten auf die Frakturheilung gilt: Patienten, die wegen Osteoporose, M. Paget, Knochentumoren oder Osteogenesis imperfecta mit Bisphosphonaten behandelt werden und eine Fraktur erleiden, können
die Bisphosphonattherapie weiterführen. Bisphosphonate behindern die Konsolidierung der Fraktur nicht. Zum Einfluss von Bisphosphonaten auf die Gelenkendoprothetik gilt: Unter einer Bisphosphonattherapie heilen Metallimplantate nicht nur schneller ein, auch das Ausmaß der periprothetischen Osteolyse ist unter dieser Therapie signifikant geringer. Östrogenpräparate
In der »Women’s Health Initiative Study« konnten für postemenopausale Frauen im Alter von 50–79 Jahren für eine Kombinationstherapie aus Östrogen und Progesteron gegenüber Placebo im Sinne einer Primärprävention eine Reduktion von Schenkelhals- und Wirbelkörperfrakturen sowie ein verringertes Risiko, an einem Kolonkarzinom zu erkranken, nachgewiesen werden. Leider jedoch zeigte sich auch ein signifikant erhöhtes Risiko sowohl für kardiovaskuläre Erkrankungen als auch für die Ausbildung eines Mammakarzinoms, weshalb diese Studie vorzeitig abgebrochen werden musste. Selektive Östrogenrezeptormodulatoren
Für diese Substanzgruppe sind eine Zunahme der Knochendichte sowie eine Abnahme der Fraktrurrate bewiesen. Das Risiko zur Ausbildung eines Mammakarzinoms ist geringer als bei der Hormonsubstitutionstherapie. Die Datenlage bezüglich des kardiovaskulären Risikos ist allerdings noch nicht ganz klar. Die Tagesdosis beträgt z. B. 60 mg Raloxifen. Strontiumranelat
Strontiumranelat wirkt sowohl knochenneubildend als auch knochenresorptionshemmend. Es ist bei Patienten mit postmenopausaler Osteoporose zur Reduzierung des vertebralen und des Hüftfrakturrisikos indiziert. Die Tagesdosis beträgt 2 g p.o. Schwere Nierenfunktionsstörungen stellen eine Kontraindikation dar. Zudem sollte Strontiumranelat bei Patientinnen mit erhöhtem Thromboembolierisiko nur mit Vorsicht angewendet werden. Teriparatid (rekombinantes humanes PTH)
Die intermittierende Gabe von Teriparatid (z. B. 20 μg/Tag s.c.) führt insbesondere zur Aktivierung der Osteoblasten und somit neben der Knochenneubildung zu einer gesteigerten intestina-
175 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
len Kalziumabsorption und einer erhöhten tubulären Kalziumreabsorption sowie zu einer vermehrten renalen Phosphatexkretion. Indiziert ist die Anwendung von Teriparatid bei Frauen mit manifester Osteoporose in der Menopause und hohem Frakturrisiko, da es sowohl das vertebrale als auch das nichtvertebrale Frakturrisiko senkt, und bei Männern mit primärer oder hypogonadaler Osteoporose mit hohem Frakturrisiko (Wirkung über die Steigerung der Knochenmineraldichte). Kontraindikationen stellen hier eine vorbestehende Hyperkalzämie, eine schwere Niereninsuffizienz sowie metabolische Knochenerkrankungen wie z. B. Hyperparathyroidismus oder M. Paget wie auch eine vorausgegangene Strahlentherapie des Skeletts dar. Denosumab
Dieser humane monoklonale IgG2-Antikörper inhibiert den RANK-Liganden. Hierdurch werden Osteoklasten gehemmt. Die Gabe von 60 mg Denosumab erfolgt alle 6 Monate als subkutane Injektion. Indiziert ist die Anwendung von Denosumab bei postmenopausaler Osteoporose und bei Männern im Rahmen einer Hormonablation bei Prostatakarzinom.
Die aktuellen Empfehlungen (Konsensusleitlinien) des Dachverbandes Osteologie (DVO) können unter www.dv-osteologie. org eingesehen werden. z
Prognose
Nach Marshall et al. (1996) ist der prädiktive Wert der Osteodensitometrie hinsichtlich des Frakturrisikos höher einzustufen als der Serumcholesterinwert hinsichtlich des Herzinfarktrisikos. Auch ist die Anzahl der Patienten, die man mit Bisphosphonaten behandeln muss, um eine Fraktur zu vermeiden, geringer als die Anzahl derjenigen, die man mit Lipidsenkern behandeln muss, um einen Herzinfarkt zu vermeiden. Ein wesentlicher Teil der Osteoporosefälle bei älteren Menschen kann durch eine rechtzeitige adäquate Therapie vermieden oder zumindest zeitlich verschoben werden. Ist die Trabekelstruktur dagegen schon vollständig verloren, ist es – unabhängig von der gewählten Therapie – nicht möglich, den Knochen wieder aufzubauen.
Osteomalazie z
Definition
Kalzitonin ist nicht Bestandteil einer »First-line«-Therapie bei Osteoporose, kann aber zur Reduktion von Wirbelkörperfrakturen beitragen und ist v. a. zu Beginn einer antiresorptiven Therapie bei akut schmerzhafter Osteoporose indiziert.
Die Osteomalazie ist eine systemische Skeletterkrankung, die durch eine ungenügende Mineralisation des Knochens gekennzeichnet ist. Der Knochen ist weich und biegsam. Während des Wachstums kommt es dadurch zu Störungen und zur Deformität des Skelettes, insbesondere an den langen Röhrenknochen (z. B. bei Rachitis).
Fluoride
z
Fluoride besitzen ein nur enges therapeutisches Fenster und führen gehäuft zu einer gastrointestinalen Unverträglichkeit. Für Fluoride ist v. a. eine vertebrale Knochendichtezunahme beschrieben. Eine Senkung der Frakturrate kann jedoch nicht sicher nachgewiesen werden. Zudem ist der unter einer Fluoridtherapie neu aufgebaute Knochen spröder. Die Dosierung beträgt 10–20 mg bioverfügbares Fluorid pro Tag (möglichst retardierte Form).
Der Osteomalazie können Störungen im Vitamin-D-Stoffwechsel, Störungen des Phosphatstoffwechsels oder andere Ursachen (Bisphophonatbehandlung, renal-tubuläre Azidose) zugrunde liegen. Dabei kommen ursächlich in Betracht: ▬ Vitamin-D-Mangel durch ungenügende Bildung in der Haut bei mangelnder UV-Exposition ▬ Mangelernährung (im Alter, Unterernährung, vegetarische Ernährung) ▬ verminderte intestinale Absorption nach Gastrektomie oder bei mangelhafter Gallesekretion, gestörter Pankreasfunktion oder Erkrankungen des Dünndarms
Kalzitonin
> Erste Studien mit rekombinantem humanen PTH (Teriparatid) und Strontiumsalzen zeigen sowohl eine Zunahme der Knochendichte als auch eine Reduktion von Frakturen. Therapiedauer
Die Therapiedauer sollte mindestes 3–5 Jahre betragen – dies ist die minimale Zeitspanne, in der Aussagen zur fraktursenkenden Wirkung der Medikamente sicher getroffen werden können. Danach sollte der Patient erneut evaluiert werden. Die derzeitigen Behandlungskonzepte reichen von einer vorübergehenden Therapiepause bis hin zu einer Dauertherapie. Für Teriparatid ist die Therapiedauer auf 18 Monate begrenzt, für Preotact auf 24 Monate. Alle 3–6 Monate empfehlen sich klinische Verlaufskontrollen. Zum Ausschluss einer Fluorose sollte bei einer Therapie mit Fluoriden jährlich eine seitliche Röntgenaufnahme der Brustwirbelsäule angefertigt werden. Generell ist die Kontrolle der Knochendichte vor Ablauf von 2 Jahren nicht sinnvoll.
Ätiologie und Pathogenese
Der Vitamin-D-Stoffwechsel kann zudem durch eine mangelhafte Metabolisierung von Vitamin D3 zu aktiven Metaboliten gestört sein, entweder auf der Stufe der 25-Hydroxylierung in der Leber (Leberzirrhose, Antiepileptika) oder auf der Stufe der 1-Hydroxylierung in der Niere, z. B. bei Niereninsuffizienz. Der Osteomalazie kann auch ein chronischer Phosphatmangel zugrunde liegen. Dieser entsteht entweder durch pathologische renale Verluste oder durch eine verminderte enterale Absorption. z
Diagnostik
Trotz der sehr unterschiedlichen Ätiologie der Osteomalazie bietet sich ein erstaunlich ähnliches klinisches Erscheinungsbild wie bei der Osteoporose. Das klinische Bild und die radiologischen Veränderungen der Osteomalazie lassen sich sehr gut mit dem histologischen Bild des untermineralisierten, ver-
10
176
10
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
breiterten Osteoids und damit der verstärkten Verformbarkeit des Knochens bereits unter physiologischen Bedingungen in Zusammenhang bringen. Im Gegensatz zu Patienten mit Osteoporose, die eher lokale Schmerzen angeben, klagen Patienten mit Osteomalazie über generalisierte Schmerzen (»Mammamia-Syndrom«) und Muskelschwäche. Bei Belastung kommt es zur Dehnung des weichen Knochens sowie zu einem Zug am Periost und dadurch zu Schmerzen, v. a. im Bereich der Adduktoren auf der Innenseite der Oberschenkel. Zusätzlich können Frakturen von Sitz- und Schambein Schmerzen in der Leiste verursachen (typischer Leistenschmerz bei Patienten mit Osteomalazie). Auch klagen die Patienten über Fersenschmerzen und daraus resultierend über ein Gefühl des »Wie-auf-Watte-Gehens«. Der Watschelgang beruht auf einer Myopathie der Glutäalmuskeln, die mit einer intrazellulären Phosphatverarmung in Verbindung gebracht wird. Patienten mit ausgeprägter Osteomalazie vermeiden jede Bewegung, was in einer Immobilität mit Osteoporose resultieren kann. Die Symptome werden bei generalisierten Beschwerden oft als psychogen eingestuft. Bei älteren Patienten werden die Leistenschmerzen und der Watschelgang oft als Koxarthrose fehlgedeutet. Bei Bettlägerigkeit und Muskelhypotrophie ergibt sich mitunter die Fehldiagnose einer Parese. Wichtig ist, überhaupt an die Möglichkeit einer Osteomalazie zu denken. Der entscheidende laborchemische Befund ist die erhöhte Aktivität der alkalischen Phosphatase (⊡ Tab. 10.6). Als weitere Marker sollten die Konzentrationen von Vitamin D3 und seiner Metabolite bestimmt werden. Hier bietet sich v. a. das 25-Hydroxy-Vitamin D3 an. Der Spiegel des Nierenme-
taboliten 1,25-Hydroxy-Vitamin D3 ist dabei meistens noch im Normbereich. Im Röntgenbild kann eine vermehrte Strahlendurchlässigkeit wie bei der Osteoporose vorhanden sein. Typischerweise finden sich verwaschene Strukturen durch vermehrtes Osteoid (»Renoir-Effekt«), deformierte lange Röhrenknochen, Looser-Pseudofrakturen und Fischwirbel in ganzen Wirbelsäulenabschnitten. Ist aufgrund der klinischen, laborchemischen und radiologischen Befunde keine eindeutige Diagnosestellung möglich, sollte nach mehrfacher Tetrazyklinmarkierung (im Abstand von 2 Wochen) eine Knochenbiopsie durchgeführt werden. Bei der Osteomalazie zeigt sich dabei eine diffuse Markierung und keine Markierungsfronten, bei denen der Abstand bestimmt werden kann. z
Therapie
Der tägliche Bedarf an Vitamin D3 beträgt bei Erwachsenen 2,5 μg (100 IE), bei Säuglingen, Heranwachsenden und älteren Menschen 10 μg (400 IE). Bei Mangel an exogenem Vitamin D durch reduzierte UV-Bestrahlung oder Fehlernährung sind orale Dosen von 1000 IE Vitamin D3/Tag angeraten. Besteht eine Resorptionsstörung, empfiehlt es sich, Vitamin D3 zu injizieren (3-mal 300.000 IE im Abstand von 3–6 Wochen). Dabei muss auf den Kalziumspiegel geachtet und eine Kalziumsubstitution von 2–3 g/Tag durchgeführt werden. Anfangs kann die Aktivität der alkalischen Phosphatase ansteigen, bis sich anschließend eine Normalisierung einstellt. Bei Tubulopathien werden höchste Dosen von Vitamin D (bis 1 Mio. IE/Tag) eingesetzt. Den renalen Phosphatverlust
⊡ Tab. 10.6 Differenzialdiagnostik der wichtigsten Osteopathien Erkrankung
Röntgenbefunde
Serumkalziumkonzentration
Serumphosphatkonzentration
Serumaktivität der alkalischen Phosphatase
Parathormonkonzentration
Osteopenie, Osteoporose
Wirbelfrakturen Keilwirbel Struktur scharf gezeichnet mit Betonung der Wirbelabschlussplatten
→
→
→ (bei frischen Frakturen ↑)
→
Osteomalazie
Fischwirbel, evtl. Keilwirbel Looser-Pseudofraktur Struktur schwammig-verwaschen
↓ oder →
↓ oder →
↑
↑
Primärer Hyperparathyroidismus
Selten Osteoporose plus subperiostale Usuren plus Zysten Gelenknahe Minderung der Mineraldichte
↑
↓ oder →
↓ oder →
↑
Renale Osteopathie
Kombination von Fibroosteoklasie (sekundärer Hyperparathyroidismus), Osteomalazie und Osteosklerose
↓ oder →
↑
↑ oder →
↑
Metastasen
Osteolytische und osteoblastische Herde
↑, → oder ↓
→ oder ↓
↑ oder →
→ oder ↓
Osteodystrophia deformans Paget
Typische grobmaschige Struktur mit Aufhellungs- und sklerotischen Zonen Herdförmiger Befall, evtl. Osteoporose der nicht befallenen Skelettabschnitte
→
→
↑↑
→
↑ erhöht; ↑↑ stark erhöht; ↓ vermindert; → im Normbereich
177 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
behandelt man durch Gabe von bis zu 2,5 g Phosphat/m2 KOF. Es empfiehlt sich, unter der Behandlung den PTH-Spiegel zu bestimmen. Die Evidenz der Therapieempfehlungen ist in ⊡ Tab. 10.7 wiedergegeben.
Hyperparathyroidismus Beim Hyperparathyroidismus lassen sich unphysiologisch hohe Plasmakonzentrationen von intaktem PTH nachweisen. Die Steuerung der PTH-Sekretion erfolgt physiologisch im Sinne eines Rückkopplungsmechanismus in Bezug auf den Plasmakalziumspiegel. Die hierzu notwendigen Kalziumrezeptoren befinden sich in den Nebenschilddrüsenzellen, welche an der Hinterfläche des rechten und linken Schilddrüsenlappens lokalisiert sind. Ein fallender Plasmakalziumspiegel führt zu einer vermehrten PTH-Sekretion, ein steigender zu einer verminderten.
Primärer Hyperparathyroidismus (pHPT) z
Epidemiologie
Mit einer Inzidenz von ca. 30/100.000 Einwohner ist der pHPT eine der häufigsten endokrinologischen Erkrankungen und betrifft vorwiegend Frauen zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr. z
Ätiologie und Pathogenese
Dem primären Hyperparathyroidismus (pHPT) liegt eine Überfunktion der Nebenschilddrüsen (Epithelkörperchen) mit vermehrter, oft exzessiver und v. a. autonomer PTH-Bildung
zugrunde. Nach der Tumorhyperkalzämie ist der pHPT mit ca. 30% die zweithäufigste Ursache eines erhöhten Plasmakalziumspiegels. In 80–85% der Fälle finden sich solitäre, seltener auch multiple Adenome der Nebenschilddrüsen. In ca. 15% der Fälle beruht der pHPT auf einer polyklonalen Hyperplasie aller 4 Nebenschilddrüsen, in nur 1% findet sich ein Karzinom der Nebenschilddrüsen. z
z ⊡ Tab. 10.7 Evidenz der Therapieempfehlungen Therapie/Medikamente
Diagnostik
Meist verläuft der pHPT klinisch asymptomatisch, da er aufgrund (meist routinemäßig bestimmter) erhöhter Plasmakalziumspiegel häufig schon frühzeitig diagnostiziert wird. In fortgeschrittenen Stadien zeigen sich neben den Symptomen einer Hyperkalzämie ( Abschn. 10.1.2.3, Abschnitt »Hyperkalzämie«) jedoch typische Skelettveränderungen, die auf einer PTH-bedingten gesteigerten Osteoklastenaktivierung beruhen (braune Tumoren, Osteoporose). Glieder- bzw. Rückenschmerzen können die Folge sein, vereinzelt werden auch pathologische Frakturen beobachtet. Laborchemisch finden sich beim pHPT neben erhöhten Kalzium- und PTH-Spiegeln erniedrigte Plasmaphosphatwerte, während die Aktivität der alkalischen Phosphatase als Folge einer Skelettbeteiligung erhöht sein kann. Radiologisch eignen sich Röntgenaufnahmen der Hände in Weichstrahltechnik gut zum Nachweis subperiostaler Akroosteolysen als Hinweis auf eine Skelettmanifestation. Therapie
Während der mit nur geringfügig erhöhten Plasmakalziumspiegeln einhergehende asymptomatische pHPT keiner Therapie bedarf, besteht die Therapie der Wahl beim symptomatischen pHPT in der chirurgischen Parathyroidektomie. Zum Auffinden der Nebenschilddrüsenadenome eignet sich die Sonographie, womit ca. 70% der Adenome dargestellt werden können. In Sonderfällen kommen neben der Szintigraphie (v. a. bei ektop gelegenen Adenomen) auch CT und MRT zur Lokalisationsdiagnostik zum Einsatz. Medikamentöse Therapieansätze dienen lediglich der Symptomkontrolle und zielen einerseits auf die Senkung des Plasmakalziumspiegels bzw. das Verhindern damit verbundener Komplikationen (Nephrolithiasis etc.) und andererseits auf das Blockieren der PTH-Wirkung am Skelettsystem, wofür sich Bisphosphonate besonders gut eignen.
Evidenzgrad
Empfehlungsstärke
Krankengymnastik/ Training
Ib
A
Physikalische Maßnahmen
III
B
Kalzitonin
Ib
A
Lokalanästhetika
III
B
Orthesen
III
B
Kyphoplastie
II
B
Kalzium
Ib
A
Vitamin D
Ib
A
Selektive Östrogenrezeptormodulatoren
Ia
A
Bisphosphonate
Ia
A
Fluoride
Ib
A
Parathormon (Teriparatid)
Ia
A
Sekundärer Hyperparathyroidismus (sHPT)
A
z
Osteoporose
Strontiumranelat
Ia
Osteomalazie Vitamin D
III
B
Phosphat bei Verlust
III
B
> Das Auftreten eines pHPT bei jüngeren Patienten oder eine familiäre Häufung sollte stets weiter abgeklärt werden. Hier gilt es v. a. das Vorliegen einer multiplen endokrinen Neoplasie Typ I (MEN I: pHPT, Pankreas-, Nebennieren- und/oder Hypophysentumoren) auszuschließen.
Ätiologie und Pathogenese
Beim sekundären Hyperparathyroidismus (sHPT) kommt es in der Folge von Erkrankungen, die mit einem verminderten Serumkalziumspiegel einhergehen, reaktiv zu einer vermehrten PTH-Sekretion. Eine eigentliche Fehlfunktion der Epithelkörperchen, wie sie beim pHPT vorliegt, besteht nicht. Ursächlich
10
178
Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
kann eine renale Form, z. B. bei chronischer Niereninsuffizienz, von einer intestinalen Form mit ungenügender intestinaler Kalziumaufnahme, beispielsweise im Rahmen eines Malabsorptionssyndroms, unterschieden werden. > Die Ursache eines sHPT liegt außerhalb der (gesunden) Nebenschilddrüse. Meist liegt eine chronische Niereninsuffizienz oder eine Malabsorption zugrunde. z
> Laborchemisch finden sich beim sHPT normale bis erniedrigte Plasmakalziumspiegel sowie eine erhöhte Konzentration des (intakten) PTH. Liegt dem sHPT eine renale Ursache zugrunde, ist der Serumphosphatspiegel stets erhöht (⊡ Tab. 10.8).
10
▬ Hyperkalzämie unter Vitamin-D-Therapie ▬ Normokalzämie und schwere renale Osteopathie ▬ Normokalzämie, fehlende Symptome und >20-fach erhöhte PTH-Werte ▬ Kalziphylaxie ▬ evtl. auch: – therapierefraktäre Hyperphosphatämie – nicht anderweitig beherrschbarer Pruritus
Diagnostik
Klinisch finden sich beim sHPT neben den Symptomen der zugrunde liegenden Erkrankung mitunter diffuse Knochenschmerzen sowie ein erhöhtes Frakturrisiko, außerdem Muskelschwäche, Pruritus und Weichteilverkalkungen bis hin zur Kalziphylaxie. Am Skelett kann letztlich das gleiche Bild entstehen wie beim pHPT.
z
Operationsindikationen sind beispielsweise:
Therapie
Die Therapie des sHPT besteht primär in der Behandlung der zugrunde liegenden renalen oder intestinalen Grundkrankheit. Die konservative Therapie wird durch eine phosphatarme Diät und die Gabe von Phosphatbindern, z. B. Kalziumazetat, ergänzt (Cave: keine aluminiumhaltigen Phosphatbinder bei Niereninsuffizienz). Daneben können Kalzitriol und VitaminD-Analoga eingesetzt werden. Sofern operiert werden muss, bietet sich die totale Parathyroidektomie mit bilateraler Thymusresektion und Autotransplantation in den nichtdominanten bzw. Shunt-freien Unterarm (M. brachioradialis mit Clip-Markierung) an.
Ein mit einer terminalen, dialysepflichtigen Niereninsuffizienz assoziierter sHPT zeigt häufig das Bild einer renalen Osteopathie ( Kap. 10.2.5, Abschnitt »Renale Osteopathie«), welche sich im Anschluss an eine Nierentransplantation bessern kann.
Sekundärer Hyperparathyroidismus (sHPT) mit Autonomie Bei dem früher als »tertiärer Hyperparathyroidismus« bezeichneten sekundären Hyperparathyroidismus mit Autonomie besteht – wie auch beim pHPT – eine autonome PTH-Sekretion, welche hier allerdings als Folge einer lang anhaltenden Stimulation der Epithelkörperchen, wie sie z. B. im Rahmen eines sHPT bei chronischer Niereninsuffizienz beobachtet werden kann, zu verstehen ist. Das klinische Bild entspricht weitestgehend dem beim pHPT. Meist liegt dem sHPT mit Autonomie eine chronische Niereninsuffizienz mit Phosphatstau und Hypokalzämie zugrunde. Im Gegensatz zum sHPT reicht hier jedoch die Therapie der Grundkrankheit, z. B. durch Nierentransplantation oder Dialyse, nicht aus, um den Hyperparathyroidismus zu beenden. Aufgrund der Autonomie der Epithelkörperchen besteht der Hyperparathyroidismus trotz Therapie weiter und kann nur durch eine Parathyroidektomie behoben werden. Hierzu erfolgt eine subtotale Parathyroidektomie mit bilateraler Thymusresektion und Clip-Markierung des Nebenschilddrüsenrests im Hals.
⊡ Tab. 10.8 Laborbefunde bei sekundärem Hyperparathyroidismus Ätiologie
Kalziumspiegel
Phosphatspiegel
Parathormonkonzentration
Weiteres diagnostisches Vorgehen*
Chronische Niereninsuffizienz (verminderte renale Phosphatausscheidung)
Serum: ↓ Urin: ↓
Serum: ↑ Urin: ↓
↑
Bestimmung von: – Kreatininspiegel (↑) – Kreatinin-Clearance (↓) – Harnstoffkonzentration (↑) – Erythropoetinspiegel (zum Ausschluss einer Anämie; ↓) – Vitamin-D3-Spiegel (↓) – Aktivität der alkalischen Phosphatase (↑) Röntgendiagnostik (Zeichen einer Osteopathie)
Malassimilation, Malabsorption oder Vitamin-D3Metabolisierungsstörung (bei Leberzirrhose oder Cholestase)
Serum: ↓ Urin: ↓
Serum: ↓ bis normal Urin: ↓
Bestimmung von: – Aluminiumkonzentration (↓) – Enzymaktivitäten: GOT (↑), GPT (↑), γ-GT (↑), alkalische Phosphatase (↑) – Bilirubinspiegel (↑) – Vitamin-D3-Konzentration (↓) Lebersonographie
* Immer: Bestimmung der Lipase- und Amylase-Aktivität (beide erhöht), Sonographie (Ausschluss einer Pankreatitis) und Gastroskopie (Ausschluss von Ulzera) ↑ erhöht; ↓ erniedrigt
179 10.2 · Skelettsystemerkrankungen des Erwachsenen
Operationsindikationen sind beispielsweise: ▬ Hyperkalzämie, Hypophosphatämie und erhöhter PTHWert nach mehr als einem Jahr nach Nierentransplantation ▬ innerhalb des ersten Jahres nach Nierentransplantation: nur bei Transplantatgefährdung durch extreme Hyperkalzämie und drohendem Funktionsverlust der Transplantatniere
Renale Osteopathie z
Definition
Bei der renalen Osteopathie handelt es sich in der Regel um ein Mischbild aus Osteomalazie und sekundärem bzw. tertiärem Hyperparathyroidismus mit vermehrter Kalziummobilisation aus dem Knochen. In diesem Zusammenhang müssen auch die Osteopathie nach Nierentransplantation sowie die adynamische Knochenerkrankung erwähnt werden. z
Ätiologie und Pathogenese
Zum Bild der renalen Osteopathie tragen mehrere Faktoren bei. Einerseits besteht beim chronisch niereninsuffizienten Patienten bereits ab glomerulären Filtrationsraten unter 50 ml/min wegen der verminderten Hydroxylierung des 25-Hydroxy-Cholekalziferols ein deutlicher Mangel an aktivem Kalzitriol. Zum anderen kommt es im Rahmen der eingeschränkten GFR zu einer zunehmenden Phosphatretention, welche ihrerseits die Hydroxylierung des 25-Hydroxy-Cholekalziferols hemmt und insbesondere aber in Kombination mit der Hypokalzämie einen sHPT bewirkt. z
Diagnostik
Klinisch entsteht das Bild einer Osteitis fibrosa, bei der sich eine gesteigerte Osteoklastenaktivität mit dementsprechend gesteigerter Knochenresorption beobachten lässt. Radiologisch sind beispielsweise an den Händen subperiostale Resorptionen der Kortikalis nachzuweisen. Zudem können Akroosteolysen und bei besonders schweren Formen auch subchondrale Resorptionszonen, z. B. im Bereich des Ileosakralgelenks oder der Symphyse, die Folge sein. Letzeres geht mit starken Schmerzen sowie einer Pseudoerweiterung des jeweiligen Gelenks einher. Patienten mit renaler Osteopathie klagen meist über diffuse Knochenschmerzen und Muskelschwäche. Extraossäre Verkalkungen in Gefäßen und Weichteilen treten v. a. dann auf, wenn das Kalzium-Phosphat-Produkt überschritten wird. Eine Sonderform stellt hierbei die Kalziphylaxie (urämisch-kalzifizierende Arteriolopathie) dar, die einen schweren Verlauf der renalen Osteopathie kennzeichnet. Hierbei kommt es zur Ablagerung von Kalzium- und Phosphatsalzen in Gefäßwände und Subkutis mit konsekutiver, äußerst schmerzhafter Vaskulitis und Pannikulitis. z
Therapie
Um das Entstehen einer renalen Osteopathie zu verhindern oder zumindest zu verzögern, bedarf es bereits ab einer glomerulären Filtrationsrate von <50 ml/min einer frühen Therapie mit Vitamin D (bei Kalziumspiegeln, welche möglichst im hochnormalen Bereich angesiedelt sind). Eine reduzierte Anzahl an Osteoblasten bei normaler oder reduzierter Osteoklastenanzahl, die in einem »low bone turnover« resultiert, ist für die sog. adynamische Knochenerkrankung
charakteristisch. Das Osteoid ist entweder normal dick oder leicht verdünnt. Weder der genaue Pathomechanismus noch die klinische Bedeutung sind gegenwärtig klar. Sie betrifft v. a. Patienten mit Peritonealdialyse, alte Menschen, Diabetiker und Patienten nach Parathyroidektomie. Da eine Aluminiumüberladung ebenfalls ursächlich sein kann, muss diese stets ausgeschlossen werden. Laborchemisch finden sich eine Hyperkalzämie, ein reduzierter Spiegel des immunreaktiven PTH sowie eine verminderte Aktivität der knochenspezifischen alkalischen Phosphatase. Eine gezielte Therapie ist nicht möglich. Insbesondere sollten Vitamin-D-Gaben vermieden werden, da der Spiegel des immunreaktiven PTH hierdurch noch weiter sinken würde. Nach Nierentransplantation liegt die Nierenfunktion oft wieder im Bereich Gesunder. Trotzdem werden auch bei diesen Patienten häufig Osteonekrosen, Osteoporose, diffuse Knochenschmerzen sowie Frakturen beobachtet, welche die Lebensqualität mehr einschränken als die renale Grunderkrankung selbst. > Bereits 6 Monate nach Nierentransplantation können die Patienten im Bereich der Lendenwirbelsäule 5–10% der Knochenmasse verloren haben.
Vermutlich sind es v. a. die in der Transplantationsmedizin häufig eingesetzten Kortikosteroide, die für den beobachteten Knochenmasseverlust verantwortlich sind. Hierfür spricht, dass im Rahmen von 2 Studien mit einer Cyclosporinmonotherapie kein Verlust an Knochenmasse beobachtet werden konnte. Zudem scheint der Spiegel des immunreaktiven PTH vor der Nierentransplantation in Bezug auf den Knochenmasseverlust von Bedeutung zu sein, und zwar unabhängig von der Art der medikamentösen Therapie. Therapeutisch kommen zum Verhindern des Knochenmasseverlusts insbesondere Bisphosphonate und Kalzitriol zur Anwendung. Bei schwerer Hyperkalzämie, wie sie beim tertiären Hyperparathyroidismus beobachtet werden kann, besteht die Indikation zur Parathyroidektomie. Um bei chronisch niereninsuffizienten Patienten die Entwicklung einer renalen Osteopathie frühzeitig zu erfassen, bedarf es eines regelmäßigen Monitorings (⊡ Tab. 10.9).
Morbus Paget z
Synonyme
▬ Osteitis deformans ▬ Osteodystrophia deformans z
Epidemiologie
Meist wird der M. Paget wegen fehlender typischer Symptome zufällig diagnostiziert. Die Erkrankung tritt meist erst nach dem 40. Lebensjahr klinisch in Erscheinung, das durchschnittliche Erkrankungsalter liegt bei etwa 60 Jahren. Die Prävalenz beträgt ca. 1/30.000. z
Ätiologie und Pathogenese
Beim M. Paget kommt es zu gesteigerten Knochenumbauprozessen, welche zu einer gestörten Knochenstruktur führen. Die nicht systemisch, sondern lokalisiert auftretenden Störungen bedingen letztendlich Deformationen und eine vermehrte Frakturanfälligkeit.
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Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
⊡ Tab. 10.9 Monitoring bei chronisch niereninsuffizienten Patienten zur frühzeitigen Erfassung einer renalen Osteopathie Maßnahmen
Patienten nach Nierentransplantation
Dialysepatienten
Bestimmung des Spiegels des immunreaktiven Parathormons
Alle 3–6 Monate
Alle 3 Monate
Serumphosphat- und Serumkalziumspiegelbestimmung
Im Rahmen der üblichen ambulanten Kontrollen
Einmal wöchentlich (bei Kalzitrioltherapie Berechnung des Kalzium-Phosphat-Produkts)
Osteodensitometrie
Jährlich
Jährlich
Die Ursache des M. Paget ist noch nicht geklärt. Diskutiert wird neben genetischen Faktoren (positive Familienanamnese bei ca. 20% der Patienten) v. a. eine »Slow-virus«-Infektion mit Paramyxoviren, die eine exzessive Osteoklastenaktivität nach sich zieht. Als Reaktion darauf kommt es zur Osteoblastenaktivierung mit vermehrtem Knochenaufbau, welcher allerdings teilweise chaotisch und von Region zu Region unterschiedlich ablaufen kann. Letztlich wird der resorbierte Knochen durch einen funktionell minderwertigen Knochen ersetzt, wobei der Knochenmineralgehalt in benachbarten Knochenregionen massive Unterschiede aufweisen kann. Neben Frakturen sind Knochendeformierungen die Folge. z
10
Klinik
Ungefähr 70% der Patienten mit M. Paget sind asymptomatisch, und die Erkrankung wird zufällig durch radiologische Untersuchungen oder im Rahmen einer Abklärung erhöhter Werte der alkalischen Phosphatase entdeckt. Tritt der M. Paget klinisch in Erscheinung, bestehen die Symptome meist in lokalisierten Knochenschmerzen in stark beanspruchten Skelettregionen wie beispielsweise Lendenwirbelsäule, Becken, Femur, Tibia, aber auch Schädel (Kautätigkeit), Klavikula und Rippen. In der Regel verläuft die Erkrankung monostotisch, also auf einen Knochen begrenzt, gelegentlich aber auch polyostotisch. Aufgrund von Fehlbelastungen kommt es zusätzlich zu Muskelschmerzen bzw. Kämpfen. Weiterhin lässt sich gelegentlich an Knochen, die direkt unter der Haut liegen, wie z. B. an der Tibia, eine Überwärmung der betroffenen Region feststellen, welche die Folge einer vermehrten Durchblutung ist. In Einzelfällen wird durch das daraus resultierende gesteigerte Herzminutenvolumen eine Herzinsuffizienz begünstigt. Zudem können sowohl Frakturen als auch die Knochenanbauprozesse durch direkte Nervenschädigung neurologische Symptome hervorrufen. > Bei <1% der betroffenen Patienten kommt es – v. a. bei polyostotischem Befallsmuster – zur Entwicklung eines Osteosarkoms mit schlechter Prognose, weshalb diesbezüglich regelmäßige Kontrollen indiziert sind.
Zusammengefasst sind mögliche Symptome bzw. Komplikationen des M. Paget: ▬ Knochendeformationen ▬ gesteigertes Frakturrisiko ▬ lokale Knochenschmerzen ▬ Herzinsuffizienz infolge eines gesteigerten Herzminutenvolumens ▬ Myalgien sowie Krämpfe durch Fehlbelastungen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Überwärmung durch Hyperzirkulation Varikosis neurologische Ausfälle durch direkte Nervenschädigung sekundäre Arthrosen benachbarter Gelenke sHPT Entwicklung eines Osteosarkoms in <1% der Fälle
z
Diagnostik
Diagnostisch fällt v. a. eine massiv gesteigerte Aktivität der alkalischen Phosphatase im Serum auf. Diese eignet sich sowohl zur Aktivitätsbeurteilung als auch zur Verlaufskontrolle während einer Therapie. Allerdings muss das Vorliegen einer Lebererkrankung ausgeschlossen werden, da hier ebenfalls ein Aktivitätsanstieg der alkalischen Phosphatase zu beobachten ist. Differenzialdiagnostisch kann hier auch die Aktivität der knochenspezifischen Form der alkalischen Phosphatase bestimmt werden. Auf eine zusätzliche Konzentrationsmessung von Hydroxyprolin und Pyridinium-Crosslinks im Urin kann man in der Regel verzichten, da Knochenauf- und Knochenabbauprozesse im Wesentlichen linear ablaufen. Um das Vorliegen eines sHPT nicht zu übersehen, empfiehlt sich zumindest einmalig die Bestimmung des Spiegels des immunreaktiven PTH. Einen guten Überblick über das Befallsmuster bietet die Skelettszintigraphie, bei der die betroffenen Knochen eine Mehranreicherung aufweisen. Radiologisch fallen initial v. a. Osteolyseherde und mit zunehmender Dauer der Erkrankung eine Verdickung der Kompakta sowie eine Sklerosierung und Vergröberung der Spongiosa (typische grobsträhnige Struktur) auf. Differenzialdiagnostisch muss v. a. das Vorliegen insbesondere von Skelettmetastasen, aber auch einer Osteomalazie ausgeschlossen werden. z
Therapie
Eine Indikation zur Therapie des M. Paget besteht in <50% der Fälle. Meist sind es Knochenschmerzen, ausgeprägte Knochenumbauprozesse oder drohende Komplikationen, die eine medikamentöse Behandlung erforderlich machen. Zur rein symptomatischen Therapie der Knochenschmerzen eignen sich nichtsteroidale Antirheumatika. Physiotherapeutische Maßnahmen zum Muskeltraining sind dann indiziert, wenn es infolge des Knochenumbaus und der Deformierungen zu einer veränderten Biomechanik kommt. Als Basistherapie kommen beim M. Paget Bisphosphonate zum Einsatz, die durch Hemmung der Osteoklastenaktivität frühzeitig in den Pathomechanismus des für den M. Paget typischen Knochenumbauprozesses eingreifen. Die Therapie der Wahl stellt zurzeit eine einmalige 15-minütige Infusion von
181 Literatur
5 mg Zoledronsäure dar, welche eine Normalisierung des Knochenstoffwechsels für ein ganzes Jahr bewirkt. Im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie mit Risedronat, einem oral verabreichten Bisphosphonat (30 mg/Tag über 60 Tage), sprechen 96% der Patienten nach 6 Monaten auf eine Therapie mit Zoledronsäure an (gegenüber 74% bei Risedronat). Ähnlich verhält es sich bei der Normalisierungsrate für die Aktivität der alkalischen Phosphatase im Serum (89% gegenüber 58% bei Risedronat). Zudem scheint Zoledronsäure bei Patienten, welche bereits mit Bisphosphonaten vorbehandelt wurden, einen besseren therapeutischen Effekt zu zeigen als Risedronat (69% gegenüber 55%). Der Therapieerfolg sollte anhand der Aktivitätsbestimmung der alkalischen Phosphatase im Serum ungefähr alle 3 Monate kontrolliert werden. Erneute Therapiezyklen sind in der Regel möglich, sofern ausreichend lange Therapiepausen eingelegt werden. Radiologische Kontrollen empfehlen sich im Fall von Osteolysen ein- bis 2-mal jährlich. Die häufigsten Nebenwirkungen der oral verabreichten Bisphosphonate sind Irritationen im oberen Gastrointestinaltrakt, während i. v. zugeführte Bisphosphonate wie Pamidronat oder Zoledronsäure Beschwerden verursachen können, welche denen bei einem grippalen Infekt ähneln (Fieber, Myalgien, Kopfschmerzen, Unwohlsein). Zusätzlich zur Therapie mit Bisphosphonaten sollten die Patienten eine Kalziumsubstitution von 1–1,5 g/Tag und eine Vitamin-D-Substitution von 400–800 U/Tag erhalten. Kalzitonin ist aus diversen Gründen (schlechtere Effektivität, häufige Nebenwirkungen und Toleranzentwicklung) nicht mehr zu empfehlen, sofern keine Unverträglichkeit für Bisphosphonate besteht. In diesen Fällen wird eine Dosierung von 50–100 U/Tag s.c. bzw. 200 U/Tag intranasal empfohlen, mit einer allmählichen Dosisreduktion auf 3-mal 50 U/Woche s.c. im Fall eines Therapieerfolgs. Trotz der heutzutage sehr guten medikamentösen Therapiemöglichkeiten kann im Einzelfall auch eine operative Therapie erforderlich sein, z. B. in Form von Gelenkersatzoperationen oder Umstellungsosteotomien.
Therapieindikationen bei M. Paget
▬ Absolute Therapieindikationen: – Knochenumbauprozesse mit einer Aktivität der alkalischen Phosphatase von >600 U/l – Knochenschmerzen – Knochendeformitäten – hohes Frakturrisiko – Läsionen benachbarter Nerven – Befall der Schädelbasis – Hyperkalzämie infolge Immobilisation ▬ relative Therapieindikationen: – mittlere Krankheitsaktivität (Aktivität der alkalischen Phosphatase von 300–600 U/l) – Wärmegefühl – Befall der Schädelkalotte – Vorbereitung auf operative Therapiemaßnahmen – Herzinsuffizienz
Keine Therapieindikation liegt vor, wenn der Patient älter als 75 Jahre ist, keine Symptome vorliegen, lediglich geringe Knochenumbauaktivitäten mit einer Aktivität der alkalischen Phosphatase von 200–300 U/l zu verzeichnen oder nur wenige Knochen betroffen sind.
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Kapitel 10 · Skelettsystemerkrankungen
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183 Internetadressen
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Internetadressen Deutsche OI-Gesellschaft: www.oi-gesellschaft.de Internationale OI-Gesellschaft: www.oif.org OI-Klinik, Baltimore, USA: www.osteogenesisimperfecta.org Schweizerische OI-Gesellschaft: www.svoi-asoi.ch Dachverband Osteologie (DVO): www.dv-osteologie.org
10
11
Osteochondrosen und Osteonekrosen T. Renkawitz, J. Beckmann, O. Linhardt
11.1
Einleitung
11.2
Osteonekrosen
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5 11.2.6 11.2.7 11.2.8 11.2.9 11.2.10 11.2.11 11.2.12
Einleitung und Allgemeines – 186 Osteochondrosis dissecans – 187 Morbus Haas – 188 Morbus Panner – 188 Morbus Kienböck (Lunatummalazie) – 189 Morbus Dietrich – 190 Morbus Thiemann – 191 Idiopathische und sekundäre Femurkopfnekrose des Erwachsenen Morbus Köhler I – 192 Müller-Weiss-Syndrom – 193 Morbus Köhler II – 193 Morbus Ahlbäck – 194
11.3
Osteochondrosen, Überlastungsreaktionen und Ossifikationsstörungen – 194
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.3.6
Einleitung und Allgemeines – 194 Morbus Friedrich – 195 Morbus van Neck – 195 Morbus Osgood-Schlatter – 195 Morbus Blount – 196 Morbus Haglund (Sever) – 196
Literatur
– 186 – 186
– 197
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 191
186
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
11.1
Einleitung – Alkoholabusus – Hepatopathien – Dyslipoproteinämien – M. Gaucher – Pankreatitiden – Hyperurikämie – Vitamin-A-Mangel – Polyhypovitaminosen – Caisson-Krankheit (Tauch-/Dekompressionsunfälle) – rheumatoide Arthritiden – Kollagenosen – myeloproliferative Erkrankungen – M. Crohn – Atherosklerose – Vaskulitiden – Embolien – Blutkrankheiten – arterielle Hypertonie – Infektionen ▬ idiopathisch/spontan: keine Zuordnungsmöglichkeit einer definierten Ursache
Osteochondrosen stellen eine heterogene Gruppe von Veränderungen dar, die typischerweise mit einer Fragmentation und einer Sklerose von epiphysären oder apophysären Zentren des Skeletts bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden einhergehen. Dabei werden 3 Hauptgruppen unterschieden: ▬ Osteonekrosen mit lokalisiertem Untergang von knorpeligen und knöchernen Anteilen, v. a. als Folge primärer oder sekundärer Durchblutungsstörungen ( Abschn. 11.2) ▬ Überlastungsreaktionen infolge von repetitiven (Mikro-) Traumen ohne histopathologischen Nachweis von Knochennekrosen ( Abschn. 11.3) ▬ Variationen und Störungen der normalen Ossifikation ( Abschn. 11.3)
11.2
Osteonekrosen
11.2.1
Einleitung und Allgemeines
z
11
Definition
Es handelt sich um Osteonekrosen (aseptische Knochennekrosen, avaskuläre Nekrosen, ischämische Knochennekrosen) mit histolopathologischem Nachweis von Knochennekrosen. Osteonekrosen treten zumeist in einer relativ typischen Altersspanne und je nach Lokalisation unter Bevorzugung des weiblichen oder männlichen Geschlechts auf. Insgesamt sind Jungen und Männer häufiger betroffen als Mädchen und Frauen. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Entstehungsursachen der Osteonekrosen sind vielschichtig und teilweise noch nicht endgültig geklärt. Als typische Ursache für die Entstehung einer Osteonekrose wird eine passagere intraossäre Durchblutungsstörung angenommen. Orientierend lassen sich posttraumatische und systemische (nichttraumatische) Risikofaktoren definieren. Ohne Zuordnungsmöglichkeit einer definierten Ursache spricht man von einer idiopathischen (spontanen) Osteonekrose.
Ursachen für die Entstehung von Osteonekrosen
▬ Posttraumatisch: – Unterbrechung der arteriellen Blutversorgung – rezidivierende Gelenkluxationen/-repositionen – intramedullärer Druckanstieg – Gefäßverletzungen ▬ nicht traumatisch/systemisch: – systemische Kortikoidgabe – Immunsuppression – Chemotherapie – Bestrahlung ▼
Der Krankheitsverlauf einzelner Osteonekrosen variiert je nach Typ, Lokalisation und Ausprägungsgrad von wenigen Monaten bis mehreren Jahren. Allen Osteonekrose gemeinsam ist ein stadienhafter Verlauf. Orientierend wird dabei in eine initial ischämische Ödemphase (avaskuläre Knochentrümmerzonen), eine Demarkationsphase (Einsprossen von Blutgefäßen, Osteoidbildung) und abschließend eine Reparationsphase (Knochenfeinzeichnung) unterschieden, bei den epiphysären Formen der Osteonekrose typischerweise mit einer ossären Deformation/ Destruktion verbunden. z
Klassifikation
Die Namensgebung einzelner Osteonekrosen richtet sich nach dem Erstbeschreiber oder der anatomischen Lokalisation (⊡ Abb. 11.1). z
Diagnostik
Radiologische Verfahren spielen in der Diagnostik und Differenzialdiagnostik der Osteonekrosen eine wesentliche Rolle. Konventionelle Röntgenaufnahmen in 2 Ebenen sind auch heute noch die Grundlage der radiologischen Diagnostik. Zur differenzialdiagnostischen Früherkennung sowie zur Beurteilung von Größen und Vitalität nekrotischer Areale hat die MRT eine zentrale Bedeutung. Bereits im röntgenologisch negativen Stadium können Osteonekrosen magnetresonanztomographisch sichtbar gemacht werden. Knochenmarknekrosen zeigen dabei auf T1-gewichteten Aufnahmen typischerweise einen Signalverlust, begleitend ist auf T2-gewichteten bzw. STIR-Aufnahmen (STIR: »short time inversion recovery«) oftmals ein Knochenmarködem erkennbar. Im Einzelfall ist die Skelettszintigraphie in 3-Phasen-Technik zur Darstellung veränderter Knochenstoffwechselprozesse nützlich.
187 11.2 · Osteonekrosen
Mediale Clavicula (M. Friedrich) Humeruskopf (M. Haas)
osteochondralen Fraktur infolge von Scherkräften ist wahrscheinlich, auch wenn nur bei 40–60% der Patienten anamnestisch ein Trauma zu erheben ist. Neben einer traumatischen und einer mikrotraumatischen Genese können vaskuläre, genetische, endogene sowie bakterielle bzw. infektiöse Faktoren bei der Entstehung einer Osteochondrose eine Rolle spielen. z
Capitulum humeri (osteochondrosis dissecans am Ellenbogen)
Femurkopfnekrose
Oslunatum (M. Kienböck)
Metatarsaleköpfchen II-V (M. Dietrich)
Basis mittlere Fingerphalanx (M. Thiemann)
Proximale Epiphyse der Tibia (M. Blount)
Kalkaneusapophyse (M. Haglund) Metatarsaleköpfchen (M. Köhler II)
Femurkondylus (M. Ahlbeck) Tuberositas tibiae (M. Osgood-Schlatter)
Os naviculare (Müller-WeissSyndrom)
⊡ Abb. 11.1 Namensgebung einzelner Osteonekrosen. (Aus Zilles Tillmann 2010)
11.2.2 z
Osteochondrosis dissecans
Definition
Es handelt sich um eine Sonderform der Osteonekrosen, und zwar um eine Erkrankung subchondraler Knochenstrukturen von fast ausnahmslos konvexen Gelenkanteilen. Hier kommt es zur Abgrenzung und ggf. Ablösung eines osteochondralen Anteils. Am weitaus häufigsten sind Knie (v. a. interkondylärer Anteil des medialen Femurkondylus) und Sprunggelenk (v. a. mediale Talusschulter) betroffen, seltener Ellenbogen- (s. unten), Schulter- oder Hüftgelenk. Die Prävalenz beträgt in westlichen Ländern 6/10.000 (maximale Inzidenz zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr: 20–30/100.000). Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Abgegrenzt werden die juvenile Form und die adulte Form nach Epiphysenfugenschluss. z
Ätiologie und Pathogenese
Die adulten Formen scheinen gehäuft aus asymptomatischen juvenilen Läsionen zu resultieren. Die Ursächlichkeit einer
Klinik
In 30–40% der Fälle tritt die Erkrankung bilateral auf. Es können belastungsabhängige Schmerzen, Schwellungen und Blockierungsphänomene, insbesondere nach Loslösung der Dissekate als »Gelenkmaus«, resultieren. Nicht selten wird die Diagnose der Osteochondrosis dissecans jedoch als radiologischer Zufallsbefund gestellt. z
Klassifikation
Es besteht ein pathogenetischer Stadienablauf in 4 Stadien nach Bruns (⊡ Abb. 11.2): ▬ Die Osteochondrose beginnt im Stadium I als subchondrale Osteonekrose. Günstigstenfalls kann in diesem Stadium eine Restitutio ad integrum ohne konsekutive Disseketatablösung erfolgen. ▬ Werden derartige ossäre Reparationsvorgänge verhindert, entsteht am Rand der Osteonekrose eine Verdichtung im subchondralen Knochen: Aus dem Initialstadium ist das Stadium der Sklerosierung bzw. Demarkation (Stadium II) entstanden. ▬ Beim Dissekat in situ (Stadium III) erkennt man an der Gelenkfläche eine das Dissekat zirkulär umgebende Demarkationzone. Bei mechanischer Prüfung in situ weist es eine verminderte Stabilität gegenüber der Umgebung auf. ▬ Ist auch die Knorpelschicht aus ihrem Verbund zur Umgebung vollständig herausgelöst, bildet das osteochondrale Dissekat einen freien Gelenkkörper (Stadium IV). z
Diagnostik
Es erfolgt eine Nativröntgendiagnostik. Frühe Stadien können magnetresonanztomographisch diagnostiziert werden (⊡ Abb. 11.3). z
Therapie
Konservative Therapiemaßnahmen kommen im Anfangsstadium zur Anwendung. Bei magnetresonanztomographisch vermuteter Abgrenzung mit deutlichem Sklerosesaum muss die Gelenkfläche arthroskopisch beurteilt werden. Arthroskopisch assistiert kann auch eine ante- oder retrograde Anbohrung erfolgen oder nach Ablösung entweder eine Re-Fixation des Dissekats oder aber eine Dissekatentfernung mit nachfolgender osteochondraler Transplantation. ! Cave Im Gegensatz zur juvenilen Form hat die konservative Therapie bei der adulten Form oft nur geringe Erfolgsaussichten. Trotz Therapie besteht hier prinzipiell ein erhöhtes Arthroserisiko.
11
188
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
B A C
Stadium I
⊡ Abb. 11.2 Stadieneinteilung der Osteochondrosis dissecans am Beispiel des Knies. A Subchondraler avitaler oder vitaler Knochen; B subchondrale Sklerosierung; C Gelenkknorpel; D fibröse Grenzzone zwischen Dissekat und Sklerosezone. (Nach Bruns 1996).
Stadium II
Stadium IIIM
Stadium IIID
B D A C
B A C Stadium IVM
z
B A C
Stadium IVD
Klassifikation
Es besteht ein stadienhafter Verlauf bis zur ossären Deformation des Humeruskopfes, im Extremfall unter Mitbeteiligung des Glenoids. z
Therapie
In frühen Stadien erfolgt eine konservative Therapie mit temporärer Ruhigstellung und antiphlogistischen sowie analgetischen Maßnahmen. In fortgeschrittenen Stadien werden arthroskopisch assistierte oder »Mini-open«-Anbohrungen des Humeruskopfes vorgenommen. Bei ausgeprägter Destruktion ist eine Hemi- bzw. Totalarthroplastik des Schultergelenks möglich.
11
11.2.4 z
Morbus Panner
Synonyme
»Little leaguer’s elbow«, »Pitcher’s elbow« z ⊡ Abb. 11.3 Magnetresonanztomogramm bei frühem Stadium einer Osteochondrosis dissecans
11.2.3 z
Morbus Haas
Definition
Es handelt sich um eine avaskuläre Nekrose des Humeruskopfes, die von Cruess erstmalig im Jahre 1976 beschrieben wurde. z
Klinik
Es bestehen belastungsabhängige Schulterschmerzen (nachts oft verstärkt) sowie eine passive und aktive Bewegungseinschränkung der betroffenen Schulter.
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Capitulum humeri. Die Erkrankung tritt unter Bevorzugung des männlichen Geschlechts zumeist zwischen dem 6. und dem 10. Lebensjahr auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursächlich sind lokale Durchblutungsstörungen und rezidivierende Mikrotraumen. Es erkranken typischerweise Sportler aus Wurf- und Rückschlagsportarten, und zwar mit dem dominanten Arm. Aber auch Sportarten wie Gymnastik und Gewichtheben prädisponieren zu dieser Erkrankung. z
Klinik
Meist sind sportlich aktive Kinder betroffen. Es bestehen Belastungs- und Ruheschmerzen im Ellenbogen sowie gelegentlich sicht- und tastbare Schwellungen am Ellenbogen. Die Streckung
189 11.2 · Osteonekrosen
kann endgradig eingeschränkt sein. Selten fallen deutliche Bewegungseinschränkungen oder Einklemmungserscheinungen des betroffenen Ellenbogens auf. Oft wird die Erkrankung erst durch Beschwerden bei Heranwachsenden evident. z
Kassifikation
Es besteht ein stadienhafter Verlauf mit abschließendem Reparationsstadium, in dem die Erkrankung meist ohne bleibende Deformierung ausheilt. z
Diagnostik
Es erfolgt eine nativradiologische Diagnostik des Ellenbogengelenks in 2 Ebenen: initial Sklerosierungsstadium mit Verdichtung des Knochenkerns, anschließend Fragmentationsstadium mit Zerfall des Knochenkerns, gefolgt von einem Osteolysestadium mit Verkleinerung des Knochenkerns und einem Reparationsstadium mit Wiederaufbau von Form und Struktur des Epiphysenkerns. Magnetresonanztomographisch ist auf T1gewichteten Aufnahmen bei noch unauffälligem Röntgenbild ein frühzeitiger Signalverlust des Knochenkerns erkennbar. In der Regel treten keine freien Gelenkkörper auf (Differenzialdiagnose: Osteochondrosis dissecans). Bei typischem Röntgenbefund ist eine weiterführende bildgebende Diagnostik – nicht zuletzt wegen der guten Prognose der Erkrankung – nur selten erforderlich. z
Differenzialdiagnosen
Als Differenzialdiagnose kommt die Osteochondrosis dissecans des Capitulum humeri in Betracht (⊡ Abb. 11.4). Hier erkranken fast ausschließlich männliche Personen im 2. Dezennium, meist zum Zeitpunkt des Wachstumsfugenschlusses, also nach Ausreifung des Knochenkerns. Betroffen ist dabei meist lediglich ein Teil des Capitulum humeri, und zwar überwiegend der laterale. Eine Abgrenzung zwischen Osteochondrose des Capitulum humeri und M. Panner ist damit zumeist allein anhand des Patientenalters möglich. Laboruntersuchungen sind zum Ausschluss akuter und chronischer Arthritiden nützlich. Knochennekrosen des Ellenbogengelenks können in seltenen Fällen auch die Trochlea humeri oder das Radiusköpfchen betreffen (M. Hegemann).
⊡ Abb. 11.4 Nativradiologische Darstellung des Ellenbogengelenks in 2 Ebenen bei Osteochondrosis dissecans am Capitulum humeri
▬ Fraktur des Gelenkknorpels ▬ Lockerung, Verschiebung bzw. Ablösung der osteochondralen Läsion Operative Therapieoptionen umfassen: ▬ arthroskopische und offene Verfahren mit Re-Fixation bzw. Exzision der Läsion ▬ Entfernung freier Gelenkkörper ▬ Abrasionsarthroplastik und/oder subchondrale Anbohrung Neuere Therapieverfahren sind: ▬ Implantation autologer osteochondraler Zylinder ▬ osteochondrale Transplantationen im erkrankten Bereich ▬ Osteotomieverfahren mit Erweiterung des Radiohumeralgelenks zur Reduktion der Druckbelastungen auf das Capitulum humeri
11.2.5 z
Morbus Kienböck (Lunatummalazie)
Therapie
Der Schlüssel einer erfolgreichen Therapie ist die frühzeitige Erkennung. Die Therapie des M. Panner erfolgt vorwiegend
z
Synonyme
Aseptische Lunatumnekrose.
konservativ:
▬ Vermeidung belastender Sportarten und Überlastungen jeglicher Art ▬ ggf. temporäre Ruhigstellung in dorsaler Oberarmgipsschiene in Rechtwinkelstellung des Ellenbogengelenks ▬ antiphlogistische Salbenverbände ▬ bedarfsweise Analgetika Die Indikation zur Operation einer Osteochondrose des Capitulum humeri besteht bei: ▬ persistierenden oder exazerbierten Beschwerden trotz konservativer Therapie ▬ symptomatischen freien Gelenkkörpern
z
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Os lunatum. Die Erkrankung tritt unter Bevorzugung des männlichen Geschlechts vorwiegend in der 3.–4. Lebensdekade auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Angenommen wird ein Zusammenhang zwischen einer intraossären Druckerhöhung durch Kompressionskräfte bei Dorsalextension des Handgelenks, einer venösen Stase und/oder einer Minusvariante der Ulna (bei >70% der betroffenen Patienten nachweisbar). Selten besteht eine posttraumatische Ätiologie, z. B. nach Luxation des Os lunatum.
11
190
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
> Die Lunatummalazie wird als Berufserkrankung anerkannt, wenn eine mindestens 2-jährige regelmäßige Arbeit mit einem Pressluftwerkzeug, einer Motorsäge oder einem ähnlichem Gerät mit repetitiver, stoßartiger oder oszillierender Druckbelastung auf das Handgelenk vorausgegangen ist. z
Klinik
Symptome sind: ▬ Belastungs- und Ruheschmerzen ▬ Kraftminderung ▬ Bewegungseinschränkung im betroffenen Handgelenk Klinisch imponieren oftmals eine dorsale Verdickung des Handgelenks und ein umschriebener Druckschmerz über dem Os lunatum. Die klinische Symptomatik geht der radiologischen Veränderung häufig erheblich voraus. z
11
Diagnostik
Nativradiologisch (Handgelenk in 2 Ebenen) zeigt sich ein stadienhafter Verlauf (Einteilung nach Decoulx). Typischerweise hat der M. Kienböck seine maximale Ausprägung im proximalen Knochenanteil (⊡ Abb. 11.5). Eine Vitalitätsbeurteilung des Os lunatum ist magnetresonanztomographisch möglich (bei vollständiger Osteonekrose starker Signalabfall sowohl auf T1- als auch auf T2-gewichteten Aufnahmen – avitale Knochenareale speichern kein Kontrastmittel). Dünnschicht-CT-Aufnahmen können helfen, das Erkrankungsstadium exakter einzuschätzen, knöcherne Veränderungen (z. B. diskrete Frakturierungen) deutlicher zu erkennen und/oder die Stellung der Knochen sowie der angrenzenden Gelenke zu beurteilen (karpale Instabilität).
a
b
⊡ Abb. 11.5a,b Nativradiologische Darstellung des Handgelenks bei M. Kienböck. a a.p.-Projektion, b seitlich
onen an den Unterarmknochen (Radiusverkürzung, seltener Ulnaverlängerung) mit Lockerung des ulnaren Bandapparats sowie Interpositionsarthroplastiken. Für Letztere wird die aufgerollte Sehne des M. palmaris longus oder ein Platzhalter aus Silastic nach Swanson verwendet. Im Stadium III oder bei Vorliegen einer Arthrose kann eine interkarpale Teilarthrodese (SkaphoidTrapezium-Trapezoideum-Arthrodese) durchgeführt werden. Zu Diagnostik und Therapie der Lunatummalazie siehe auch Abschn. 21.2.7.
Einteilung der radiologischen Stadien nach Decoulx
▬ Stadium I: diffus vermehrte Sklerosierung mit erhaltener
z
Form und subchondraler Spalte entlang der radialen Begrenzung ▬ Stadium II: mikrozystische Veränderungen und mosaikartiges Aussehen bei mäßig veränderter Form (Kondensation) ▬ Stadium III: Infraktion des proximalen Os lunatum mit beginnender Sinterung und begleitender karpaler Instabilität (Fragmentation) ▬ Stadium IV: progredienten Kollaps und perilunäre Arthrose
Es erfolgen eine Ruhigstellung im Unterarm mittels Gipsverband (je nach Operationsmethode) sowie im Anschluss aktive Bewegungsübungen ohne Belastung. Zudem ist bei erhaltenem Os lunatum die Vermeidung grober Belastungen (Schlag, Stoß, Rütteln, Vibration) für 3–6 Monate erforderlich. Die Therapiekontrolle wird durch klinische und radiologische Untersuchungen gewährleistet.
Therapie
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Metakarpaleköpfchens. Der M. Dietrich ist eine seltene Erkrankung, die 1932 erstmals durch Dietrich beschrieben wurde.
11.2.6 z
z
Im Frühstadium (Stadium I nach Decoulx) erfolgt eine konservative Behandlung mit Ruhigstellung des Handgelenks für mindestens 6 Wochen im zirkulären Unterarmgipsverband, ggf. ergänzt durch regionale Anästhesieverfahren. Bei Beschwerdepersistenz oder fortgeschrittenen radiomorphologischen Veränderungen sind oftmals eine operative Druckentlastung und eine Re-Vaskularisierung notwendig. Beschrieben werden unterschiedliche operative Therapieverfahren, z. B. Transfer des gefäßgestielten und entknorpelten Os pisiforme, Niveauoperati-
Nachbehandlung
z
Morbus Dietrich
Definition
Klinik
Es bestehen lokale Schmerzen und Schwellungen. z
Diagnostik
Primär erfolgt die Diagnostik nativradiologisch, evtl. später magnetresonanztomographisch.
191 11.2 · Osteonekrosen
z
Therapie
Bisher sind nur Einzelfälle beschrieben. Stadienabhängig erfolgen Ruhigstellung, Dekompression, Kürettage und/oder Knochentransplantation.
11.2.7 z
Morbus Thiemann
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose der Fingerphalanxbasis. Der M. Thiemann ist eine seltene Erkrankung, die 1909 erstmals von Thiemann beschrieben wurde. Sie tritt unter Bevorzugung des männlichen Geschlechts in familiärer Häufung vorwiegend in einem Alter von 11–19 Jahren auf. z
Klinik
⊡ Abb. 11.6 Nativradiologische Darstellung einer Femurkopfnekrose
Es bestehen eine schmerzarme Schwellung der proximalen Interphalangealgelenke, v. a. der mittleren Finger, sowie später Fingerverkürzung und -deformität. Seltener sind auch die Metakarpophalangealgelenke, die Tarsometatarsalgelenke oder die Interphalangealgelenke des Fußes betroffen.
⊡ Tab. 11.1 Idiopathische und sekundäre Femurkopfnekrose des Erwachsene, Einteilung nach Ficat und Arlet Stadium
Röntgenologische Befunde
0
Unauffällig
Nativradiologisch erkennt man: ▬ epiphysäre Inhomogenität ▬ Verdickungen der Phalanxbasis ▬ Gelenkspaltverschmälerung
I
Radiologisch unauffällig, aber klinisch Symptome oder radiologisch geringe Veränderungen: feiner Klarheitsverlust oder geringe Osteoporose
IIa
Diffuse oder lokalisierte radiologische Veränderungen: Osteoporose, Sklerose, Zysten
z
IIb
Erkennbare subchondrale Fraktur (»crescent sign«, Sichelzeichen) segmentale Abflachung des Femurkopfes
III
Einbruch der Femurkopfkontur Knochensequester Gelenkspalt normal weit
IV
Femurkopfdeformierung Arthrosezeichen (nun Gelenkspaltverschmälerung) azetabuläre Veränderungen
z
Diagnostik
Therapie
In der Regel erfolgen keine oder nur konservative Therapieverfahren mit vorübergehender Ruhigstellung und analgetischen sowie antiphlogistischen Maßnahmen.
11.2.8
z
Idiopathische und sekundäre Femurkopfnekrose des Erwachsenen
Definition
Die Femurkopfnekrose des Erwachsenen stellt die weitaus häufigste Form der Osteonekrosen des Erwachsenenalters dar. Sie tritt meist im Alter zwischen 30 und 50 Jahren auf, Männer sind häufiger betroffen. z
Klassifikation
Es gibt 2 Klassifikationen: nach Ficat und Arlet (⊡ Tab. 11.1) mit den Stadien 0–IV sowie nach Steinberg mit den Stadien 0–V bzw. 0–VI (⊡ Tab. 11.2; ⊡ Abb. 11.7).
Klinik
Symptome sind: ▬ belastungsabhängige Schmerzen ▬ intermittierendes Entlastungshinken ▬ Bewegungseinschränkung im betroffenen Hüftgelenk Ein beidseitiger Befall beider Hüftgelenke ist sehr häufig, ebenso das gleichzeitige Auftreten anderer Osteonekrosen. Unbehandelt führt die idiopathische Femurkopfnekrose in 85% der Fälle zu einer schweren, sekundären Osteoarthropathie. z
z
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt nativradiologisch (⊡ Abb. 11.6). Frühe Stadien können magnetresonanztomographisch diagnostiziert werden
z
Therapie
Eine Entlastung als einzige Therapiemaßnahme führt in >70% der Fälle zu einer klinischen und radiologischen Progression. Als konservative Therapieversuche ohne evidenzbasierte Grundlagen werden z. B. Stoßwellenbehandlungen und die hyperbarer Oxygenierung beschrieben. Pharmakologische Ansätze bestehen in der Gabe vasodilatierender Prostaglandinanaloga. Chirurgisch wird in frühen Stadien eine Dekompression durch retrograde Femurkopfanbohrung mit oder ohne Spongiosaumkehrplastik durchgeführt. In höheren Stadien besteht die Indikation zur Umstellungsosteotomie oder zur endoprothetischen Versorgung (in Abhängigkeit vom Alter/Aktivitätsgrad des Patienten sowie von der Größe des Nekroseareals).
11
192
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
Stadium 0
Stadium I
Stadium II
Stadium III
Stadium IV
Stadium V
⊡ Abb. 11.7 Einteilung der Femurkopfnekrose nach Steinberg
⊡ Tab. 11.2 Idiopathische und sekundäre Femurkopfnekrose des Erwachsene, Einteilung nach Steinberg Stadium
Radiologische Zeichen
0
Unauffälliges Röntgenbild, Szintigramm und MRT
I
Unauffälliges Röntgenbild, auffälliges MRT
A: mild, <15% des Kopfes betroffen B: moderat, 15–30% des Kopfes betroffen C: massiv, >30% des Kopfes betroffen
II
11
III
Auffälliges Röntgenbild: Zysten, sklerotische Veränderungen im Hüftkopf
A: mild, <15% des Kopfes betroffen
Subchondraler Kollaps mit »crescent sign«
A: mild, <15% der Gelenkfläche eingebrochen
B: moderat, 15–30% des Kopfes betroffen C: massiv, >30% des Kopfes betroffen
B: 15–30% der Gelenkfläche eingebrochen C: >30% der Gelenkfläche eingebrochen
IV
Abflachung des Hüftkopfes
A: <15% der Gelenkfläche eingebrochen und <2 mm tief B: moderat, 15–30% der Gelenkfläche eingebrochen, 2–4 mm tief C: >30% der Gelenkfläche eingebrochen, > 4 mm tief
V
Gelenkspaltverschmälerung mit oder ohne Beteiligung des Azetabulums
VI
11.2.9 z
A, B oder C wie bei IV mit möglicher Ausweitung auf das Azetabulum
Fortschreitende degenerative Veränderung
Morbus Köhler I
z
Ätiologie und Pathogenese
Gehäuft tritt der M. Köhler bei mechanischen Dauerbelastungen oder lokalen Durchblutungsstörungen des Os naviculare pedis auf. Stellungsanomalien (Spreiz- oder Plattfuß) prädisponieren ebenfalls. Es besteht eine familiäre Häufung mit Xchromosal-rezessivem Erbmuster. z
Klinik
Oft handelt es sich um einen radiologischen Zufallsbefund. Mögliche Symptome sind: ▬ Belastungs- und Druckschmerzen im Bereich des dorsomedialen Talonavikulargelenks ▬ gelegentlich Schwellung, Überwärmung und Rötung ▬ oft diffuser Schmerz unter Einbeziehung der Sprunggelenke Typischerweise besteht eine schmerzfreie, aktiv und passiv vollständig erhaltene Beweglichkeit im Mittelfuß und in den Sprunggelenken. z
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt nativradiologisch. Beim häufigeren Typ I erscheint das Os naviculare abgeflacht und zeigt Bereiche mit erhöhter Strahlendichte (⊡ Abb. 11.8). Beim selteneren Typ II wird der Knochenkern durch ein einzelnes, größeres Gefäß versorgt. Zu Beginn fällt eine insgesamt erhöhte Röntgendichte auf, bevor es radiologisch zu einem Verschwinden des Kerns kommt. Magnetresonanztomographisch fällt auf T1-gewichteten Aufnahmen ein Signalverlust des Knochenkerns auf. z
Differenzialdiagnosen
Mögliche Differenzialdiagnosen sind: ▬ Stress- oder Ermüdungsfrakturen des Os naviculare ▬ akute Tendinitiden durch Schmerzausstrahlung im Sehnenansatzbereich und -verlauf der Mm. tibialis anterior et posterior ▬ aspetische Osteonekrose des Os naviculare pedis beim Erwachsenen (Müller-Weiss-Syndrom als eigenständige Krankheitsentität; Kap. 11.2.10)
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Os naviculare pedis. Die Erkrankung tritt unter Bevorzugung des männlichen Geschlechts vorwiegend in einem Alter von 2–10 Jahren auf. In 75–80% der Fälle ist ein unilaterales Auftreten zu beobachten.
z
Therapie
In der Regel erfolgt eine konservative Behandlung: ▬ temporäre Ruhigstellung im Unterschenkelgehgips ▬ analgetische und antiphlogistischen Maßnahmen
193 11.2 · Osteonekrosen
– Bildung von Fragmenten, die auch den Talus und die Ossa cuneiformia betreffen können ▬ im späteren Stadium: durch die lateralen Kompressionskräfte hervorgerufene, kommaförmige Deformation des Os naviculare Magnetresonanztomographisch zeigt sich auf T1-gewichteten Aufnahmen ein auffälliger Signalverlust des Knochenkerns. Zur Differenzialdiagnostik von Stress- oder Ermüdungsfrakturen des Os naviculare hat das 3-Phasen-Knochenszintigramm besondere Bedeutung, ggf. ergänzt durch eine Dünnschicht-CT. ⊡ Abb. 11.8 Nativradiologischer Befund bei M. Köhler (Typ I)
z
▬ Vermeidung von belastenden Sportarten und Überlastungen ▬ plantare Abstützung des Längs- und Quergewölbes mit Einlagen ▬ Tragen von Schuhwerk mit harter Sohle ! Cave In ca. 2,5% der Fälle heilt die Nekrose des Os naviculare mit einer keilförmigen Abflachung und einem verkürzten medialen Längsgewölbe aus und prädisponiert dann zur Entstehung einer Arthrose des Talonavikulargelenks. Über die veränderte Biomechanik im Fußgewölbe kann es zu überlastungsbedingten Stress- bzw. Ermüdungsfrakturen des Os naviculare kommen.
11.2.10 z
Müller-Weiss-Syndrom
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Os naviculare pedis. Die Erkrankung tritt unter geringer Bevorzugung des weiblichen Geschlechts ohne eindeutigen Altersgipfel im Erwachsenenalter auf.
z
Ätiologie und Pathogenese
Adipositas und angeborene/posttraumatische Fußdeformitäten prädisponieren durch eine erhöhte mechanische Belastung des medialen Längsgewölbes. z
Klinik
Es bestehen starke, insbesondere belastungsabhängige Schmerzen im dorsomedialen Mittelfußbereich und im Talonavikulargelenk. Die Sprunggelenk- und Mittelfußbeweglichkeit ist schmerzhaft, aber typischerweise nicht eingeschränkt. Der neurovaskuläre Untersuchungsbefund ist unauffällig. Bilateraler Verlauf, v.a als sekundäre Osteonekrosen des Os naviculare im Rahmen einer systemischen Grundkrankheit oder posttraumatisch.
Die operative Therapie umfasst: ▬ Ausräumung des devitalisierten Knochengewebes unter Auffüllung mit autologer Spongiosa ▬ in höheren Stadien: talonavikulare oder navikulokuneiforme Arthrodese
11.2.11
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt nativradiologisch: ▬ initial: – Volumenverminderung mit erhöhter Röntgendichte bzw. Abflachung des Os naviculare – Verlust der trabekulären Knochenstruktur
Morbus Köhler II
Synonym
M. Köhler-Freiberg. z
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose der Metatarsaleköpfchen II–IV (selten V). Die Erkrankung tritt unter Bevorzugung des weiblichen Geschlechts vorwiegend in einem Alter zwischen 12 und 18 Jahren auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Mechanische Belastungen des Vorfußes (Balletttänzer) und Stellungsanomalien (Spreiz- oder Plattfuß) prädisponieren zu dieser Erkrankung. z
z
Therapie
In Frühstadien erfolgt eine konservative Behandlung: ▬ temporäre Ruhigstellung im Unterschenkelgips mit klinischen und radiologischen Therapiekontrollen ▬ plantare Abstützung des Längs- und Quergewölbes mit gut der Fußsohlenkontur anliegender Bettung ▬ Tragen von Schuhwerk mit harter Sohle
z z
Differenzialdiagnosen
Mögliche Differenzialdiagnosen sind Stress- oder Ermüdungsfrakturen des Os naviculare (oft schwer voneinander abgrenzbar – eine Stressfraktur kann Ursache und/oder Folge einer Osteonekrose des Os naviculare sein). Der Ausschluss von Infektionen und Tumoren ist erforderlich.
Diagnostik
Es ergeben sich folgende Symptome bzw. Befunde: ▬ zunehmende, belastungsabhängige Vorfußschmerzen, anfänglich vorwiegend beim Tragen von Schuhen mit hohen Absätzen und dünnen Sohlen, später unabhängig vom Schuhwerk ▬ schmerzhafte Abrollbewegung
11
194
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
▬ Druckschmerz über dem betroffenen Metatarsaleköpfchen ▬ im Spätstadium: Zehenkontrakturen bei Subluxation im Grundgelenk des betroffenen Os metatarsale z z Bildgebende Verfahren
Nativradiologisch ist ein stadienhafter Verlauf erkennbar (finales Fragmentationsstadium mit scholligem Zerfall und typischer kelchförmiger Deformierung). Magnetresonanztomographisch zeigt sich auf T1-gewichteten Aufnahmen ein auffälliger Signalverlust im Mittelfußköpfchenbereich. z
Differenzialdiagnosen
Als Differenzialdiagnosen kommen in Frage: ▬ Tumoren des Mittelfußes ▬ sekundäre ossäre Veränderung durch ausgeprägte Fußdeformitäten (v. a. Spreizfuß) ▬ Infektionen z
Therapie
Therapieoptionen sind: ▬ frühzeitige Entlastung des Metatarsaleköpfchens mit retrokapital abstützenden Einlagen oder Weichbettung (ergänzend orthopädische Schuhzurichtung, z. B. Abrollhilfe oder gedeckte Schmetterlingsrolle) ▬ lokale und systemische antiphlogistische Therapie ▬ nach Abschluss des Wachstums operative Therapie mit Köpfchenmodellierung oder dorsaler Keilosteotomie und Entnahme eines 60°-Keils möglich
11 11.2.12 z
Morbus Ahlbäck
Definition
Es handelt sich um eine Osteonekrose des Femurkondylus. Die Erkrankung wurde erstmals im Jahre 1968 von Ahlbäck beschrieben. Sie betrifft üblicherweise den medialen Rand des medialen Femurkondylus, kann aber auch am lateralen Femurkondylus oder am medialen Tibiaplateau vorkommen. Das Knie ist die zweithäufigste Lokalisation der Osteonekrosen des Erwachsenenalters, wenn auch weitaus seltener als die Osteonekrose des Femurkopfes. Typischerweise sind Patienten mit einem Altersgipfel um 60 Jahre betroffen, Frauen häufiger als Männer. z
Ätiologie und Pathogenese
⊡ Abb. 11.9 Nativradiologischer Befund bei M. Ahlbäck
z
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt nativradiologisch (⊡ Abb. 11.9). Frühe Stadien können magnetresonanztomographisch diagnostiziert werden. z
Therapie
Konservativen Therapieverfahren mit Entlastung, Schuhaußenranderhöhung und begleitenden analgetischen sowie antiphlogistischen Maßnahmen werden für kleine Areale und frühe Stadien beschrieben. Für größere Areale und spätere Stadien sind zumeist operative Maßnahmen unumgänglich, beispielsweise: ▬ arthroskopische Versorgung mit antegrader Anbohrung ▬ Defektauffüllung mit osteochondralen Transplantaten und retrograder Anbohrung ▬ Umstellungsosteotomien ▬ uni- oder bikompartimenteller Gelenkersatz
Prognostisch bedeutsam sind Größe und Ausdehnung der Osteonekrose im Verhältnis zur Kondylenbreite. z
11.3
Osteochondrosen, Überlastungsreaktionen und Ossifikationsstörungen
11.3.1
Einleitung und Allgemeines
Klinik
Es treten folgende Symptome auf: ▬ plötzlich und stark einsetzende Knieschmerzen, je nach Befall streng auf den medialen oder lateralen Gelenkspalt begrenzt, sowie nachfolgend allmähliche oder vorübergehende Besserung mit belastungsabhängiger Schmerzsymptomatik ▬ umschriebener Druckschmerz ▬ schmerzbedingte Einschränkung der Gelenkbeweglichkeit ▬ gelegentlich intraartikuläre Ergussbildung
z
Definition
Es handelt sich um eine Fragmentation und eine Sklerose von epiphysären oder apophysären Knochenstrukturen ohne histologische nekrosetypische Zeichen. Typischerweise werden diese Erkrankungen durch (repetitive) Mikrotraumen und/oder Über- und Fehlbelastungen hervorgerufen.
195 11.3 · Osteochondrosen, Überlastungsreaktionen und Ossifikationsstörungen
z
Klinik
Es bestehen belastungsabhängige Schmerzen und Bewegungseinschränkungen. z
11.3.2
Morbus Friedrich
Definition
Es handelt sich um eine Osteochondrose der medialen Klavikula, die erstmalig im Jahre 1924 von Friedrich beschrieben wurde. Frauen häufiger betroffen als Männer. z
Ätiologie und Pathogenese
Ein Zusammenhang mit mechanischen Stressfaktoren wurde beschrieben z
Klinik
Schmerzen und Schwellung des Sternoklavikulargelenks. z
Diagnostik
Nativradiologisch zeigen sich im Kindes- bis junges Erwachsenenalter vermehrt resorptive Veränderungen, bei ältere Patienten sklerotische Verdichtungen. z
Differenzialdiagnosen
SAPHO-Syndrom, Osteomyelitiden. z
Therapie
In der Regel ist keine oder nur eine konservative Therapie mit vorübergehender Ruhigstellung erforderlich. Operative Interventionen resultieren in ungünstigen Narbenbildungen.
11.3.3 z
Morbus van Neck
Definition
Diese Osteochondrose bzw. Ossifikationsvariante der ischiopubischen Synchondrose wurde von van Neck im Jahre 1924 erstmalig beschrieben. Sie wird mittlerweile als häufige und normale Ossifikationsvariante angesehen und fällt meist beidseitig im Alter von 5–8 Jahren auf (die Synchondrose schließt sich zumeist im Alter von 9–11 Jahren). z
Diagnostik
Die Bildgebung erfolgt primär nativradiologisch. Ein MRT kann zum Ausschluss eines pathologischen Geschehens durchgeführt werden, liefert jedoch häufig falsch-positive Befunde.
11.3.4 z
Differenzialdiagnosen
Stressfrakturen, Infektionen.
Morbus Osgood-Schlatter
Synonyme
»Rugby knee«, Apophysitis. z
Definition
Die Osteochondritis der Tuberositas tibiae tritt unter Bevorzugung des männlichen Geschlechts vorwiegend bei sportlich aktiven Kindern/Jugendlichen während des pubertären Wachstumsschubes (10–16 Jahre) als Überlastungssyndrom auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursache ist vermutlich eine zum Zeitpunkt der Entwicklung des sekundären Ossifikationszentrums durch (sportliche) Aktivität/Mikrotraumata hervorgerufene Traktionsapophysitis im Bereich der patellaren Insertion an der Tuberositas tibiae. Ein neuromuskulär unbalancierter, verkürzter Streckapparat des Kniegelenks wirkt scheinbar beschwerdeverstärkend. Das vermehrte Knochenlängenwachstum bei relativ zu kurzen MuskelSehnen-Strängen führt zu vermehrtem Zug auf die aufgelockerte Apophysenfuge. z
Klinik
Es sind Jugendliche/Heranwachsende betroffen. Typische Symptome sind: ▬ diskreter Ruheschmerz und verstärkter Belastungsschmerz, v. a. beim Treppensteigen und bei/nach sportlicher Aktivität (Sprungdisziplinen, Fußball) im Bereich der Tuberositas tibiae ▬ Entlastungshinken ▬ schmerzhafte Schwellung und Rötung über der Tuberositas tibiae mit Schmerzverstärkung bei Kniegelenkstreckung gegen Widerstand ▬ bei fortgeschrittenen Veränderungen sicht-/tastbare Prominenz der Tuberositas tibiae ▬ in 5–15% der Fälle chronisch persistierende Schmerzen, Schwellung und Bildung von Knochenfragmenten z
Diagnostik
Nativradiologisch zeigen sich im frühen Initialstadium keine wesentlichen Auffälligkeiten, später Strukturauflockerung und Verdichtungen im Bereich der Tuberositas tibiae (⊡ Abb. 11.10), außerdem Fragmentationen im Bereich der Tibiaapophyse. Bei unklarem Knieschmerz oder zur Diagnosesicherung kann ggf. ein MRT durchgeführt werden. Es zeigen sich ein typisches Knochenmarködem in den ventralen Abschnitten der Tibiaepiphyse sowie Ergussbildung in der Bursa infrapatellaris profunda. z
z
Therapie
In der Regel ist keine oder nur konservative Therapie mit vorübergehender Ruhigstellung erforderlich.
Therapie
Entsprechend Ätiopathogenese und klinischem Bild werden Osteochondrosen vorwiegend konservativ therapiert (Entlastung, analgetische und antiphlogistische Maßnahmen unter begleitender Physiotherapie).
z
z
Differenzialdiagnosen
▬ Bursitis praepatellaris ▬ Patellaluxation
11
196
Kapitel 11 · Osteochondrosen und Osteonekrosen
▬ häufigere und in bis zu 75% der Fälle beidseitige infantile Form mit schwereren Verläufen im Alter von 1–3 Jahren ▬ adoleszente (Spät-)Form im Alter von 8–15 Jahren z
Ätiologie und Pathogenese
Es besteht eine genetische Mitbeteiligung (Erkrankung tritt häufiger in der schwarzen Bevölkerung auf). Die varische Überlastungsreaktionen im Bereich der proximalen medialen Tibiaepiphyse führt zur Störung der Verknöcherungsvorgänge in Epiphyse, Physe und Metaphyse. Eine infantile Form findet sich häufig bei übergewichtigen Kindern: Belastung, z. B. durch frühes Gehen, führt zu Durchblutungsstörungen im Bereich der proximomedialen Tibiaepiphyse. z
Klinik
Varische Beinachse mit Innentorsion der Tibia. z
Diagnostik
Nativradiologisch, ggf. Ganzbeinstandaufnahme zur präoperativen Planung. ⊡ Abb. 11.10 Nativradiologischer Befund bei M. Osgood-Schlatter
11
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Kniebinnenverletzungen (Kreuzband-/Meniskusläsionen) Epiphysenverletzungen Arthritiden Osteochondrosis dissecans Quadrizepssehnenruptur Baker-Zyste »Jumper‘s knee« Hoffaitis M. Sinding Larsen (Osteonekrose im Bereich des Patellarsehnenansatzes am inferioren Patellapol; bezüglich Ätiologie, klinischem Bild und Therapie dem M. OsgoodSchlatter gleichzusetzen)
z
Therapie
Die Therapie ist in der Regel konservativ (selbstlimitierender Verlauf, normalerweise über 2 Jahre) und besteht aus Ruhigstellung/Sportkarenz, analgetischen und antiphlogistischen Maßnahmen sowie physiotherapeutische Übungsbehandlung. Selten ist eine operative Therapie indiziert zum Ende des Wachstums bei persistierender Beschwerdesymptomatik (im Wachstumsalter dabei Gefahr des frühzeitigen Verschlusses des ventralen Anteils der proximalen Tibiaepiphyse mit konsekutivem Genu recurvatum). Bei Ausheilung mit knöcherner Prominenz der Tuberositas tibiae später knöcherne Modellierungsoperation.
z
z
z
Morbus Blount
Definition
Diese Osteochondrose der proximalen Tibiaepiphyse wurde von Blount im Jahre 1937 erstmals beschrieben. Es existieren zwei Verlaufsformen mit unterschiedlichen Altersgipfeln:
Therapie
In den Anfangsstadien erfolgt die Wiederherstellung der physiologischen Achskräfte am Kniegelenk durch redressierende Gipsverbände. Bei älteren Kindern und Versagen der Gipsbehandlung ist eine Umstellungsosteotomien und/oder temporäre laterale Epiphyseodesen indiziert. Bei deutlicher Beinlängendifferenz sind korrigierende und verlängernde Maßnahmen angezeigt (z. B. Illizarov-Technik). > Hohe Rezidivrate! Die Therapie erfolgt daher mit Überkorrektur der Achse vor dem 4. Lebensjahr.
11.3.6 z
Morbus Haglund (Sever)
Definition
Diese Osteochondrose der Kalkaneusapophyse ist eine zumeist selbstlimitierende Erkrankung. Der Erkrankungsgipfel liegt bei 8–12 Jahren, Knaben insgesamt häufiger betroffen. z
11.3.5
Differenzialdiagnosen
▬ Frühkindlich-physiologisch beidseitige varische Beinbiegung ▬ fokal fibrokartilaginäre Dyplasie, die bei Kindern im Alter von 3–18 Monaten ausschließlich unilateral auftritt und sich meist bis zum Alter von 4 Jahren spontan zurückbildet ▬ Osteomyelitische oder tumuröse Prozesse
Ätiologie und Pathogenese
Ursache ist eine Überbeanspruchung aufgrund vermehrter Scherkräfte im Bereich der Achillessehnenapophyse durch Fußfehlstellungen (z. B. Calcaneus varus) und/oder Muskeldysbalancen. z
Klinik
Ruheschmerzen nach Belastung.
197 Literatur
z
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt nativradiologisch und sonographisch. z
Therapie
Die konservative Therapie besteht aus: ▬ Ruhigstellung/Sportkarenz ▬ analgetische und antiphlogistische Maßnahmen ▬ Einlagen ▬ orthopädieschuhtechnische Versorgung Bei Ausheilung mit knöcherner Prominenz operative Abtragung der Exostose mit subachillärer Entfernung bis zur Gegenseite, ggf. Bursektomie.
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11
12
Neuromuskuläre Systemerkrankungen E. Rutz, R. Brunner,
12.1
Klinische Untersuchung – 200
12.1.1 12.1.2 12.1.3 12.1.4 12.1.5 12.1.6
»Range of motion« und Muskellängen Torsionen – 200 Kraft – 200 Spastizität – 200 Sensibilität – 200 Selektivität – 200
12.2
Instrumentelle Ganganalyse – 200
12.3
Biomechanische Grundlagen – 201
12.3.1 12.3.2 12.3.3
Normales Stehen – 201 Normales Gehen – 202 Pathologische Situationen – 202
12.4
Charakteristische Krankheitsbilder
12.4.1 12.4.2 12.4.3
Spastische Krankheitsbilder – 204 Krankheitsbilder mit schlaffen Paresen Behandlungsmaßnahmen – 208
Literatur
– 200
– 204 – 205
– 212
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
200
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
12.1
Klinische Untersuchung
12.1.1
»Range of motion« und Muskellängen
Die Stellung im ruhigen Stand gilt als Ausgangsstellung. Damit wird das Bewegungsausmaß entsprechend der Null-Durchgangsmethode bestimmt. Aus dieser Stellung heraus kann man die Bewegungen ausführen und das jeweilige Bewegungsausmaß erfassen. Lässt sich das Hüftgelenk beispielsweise aus seiner Null-Stellung bis 90° beugen und bis 10° strecken, schreibt man: Flexion/Extension = 90–0–10°. Fehlen jedoch 10° bis zur Streckstellung, lautet die Beschreibung: Flexion/Extension = 90–10–0°. Um den neuroorthopädischen Status zu erheben, befindet sich der Patient in Rücken- oder Bauchlage am Ende der Liege. Dadurch werden die für das Gehen relevanten Untersuchungspositionen ermöglicht. > Eine pathologische Lordosierung der Lendenwirbelsäule muss bei der Prüfung der Hüftgelenkflexion und -extension beachtet werden.
12
Die Hüftgelenkabduktion bei gebeugtem Knie ergibt die Länge der Adduktoren und artikuläre Einschränkungen im Hüftgelenk. Die Hüftgelenkabduktion bei gestecktem Kniegelenk misst die Länge des M. gracilis (2-gelenkiger Muskel). Die Hüftgelenkadduktion bei gestrecktem oder gebeugtem Knie zeigt die Länge der Hüftabduktoren und artikuläre Einschränkungen an. Das Messen der Hüftinnen- und -außenrotation ist in Funktionsstellung (Streckstellung zum Stehen und Gehen) aussagekräftiger als in Beugung. Die Kniegelenkflexion bei gestreckter Hüfte ergibt die Länge des M. rectus femoris. Die Kniegelenkextension bei gestreckter Hüfte zeigt kapsuloligamentäre Einschränkungen im Kniegelenk an. Die Kniegelenkflexion bei gebeugter Hüfte illustriert kapsuloligamentäre und artikuläre Einschränkungen. Die Kniegelenkextension bei gebeugter Hüfte ergibt die Länge der ischiokruralen Muskulatur. Die Dorsalextension im Sprunggelenk bei gebeugtem Knie und durch Supination blockiertem unteren Sprunggelenk zeigt die Länge des M. soleus an. Die Dorsalextension im Sprunggelenk bei gestrecktem Knie und durch Supination blockiertem unteren Sprunggelenk misst die Länge der Mm. gastrocnemii (die beiden letztgenannten Tests werden auch Silverskiold-Test genannt). Die Dorsalextension im Sprunggelenk bei gestrecktem Knie und freiem unteren Sprunggelenk zeigt kapsuloligamentäre und artikuläre Einschränkungen an. Für die Messung der Plantarflexion im Sprunggelenk sind die Stellungen im unteren Sprunggelenk und die Knieposition unbedeutend.
12.1.2
Torsionen
Die femorale Torsion wie auch die Tibiatorsion werden klinisch bestimmt. Der Patient sitzt oder liegt mit hängendem Unterschenkel vor dem Untersucher. Der Trochanter major wird palpiert und das Bein so weit rotiert, bis dieser maximal prominent ist. Dadurch lässt sich die femorale Torsion am Unterschenkel durch ein Winkelmaß ablesen. Die Tibiatorsion
wird im Verhältnis der Interkondylarlinie zur Intermalleolarlinie bestimmt.
12.1.3
Kraft
Die manuelle Muskelkraft wird nach Daniel und Worthingham geprüft. Man verwendet dabei folgende Skala: ▬ Grad 0: keine spürbare Muskelkontration ▬ Grad I: spürbare Muskelkontration, aber keine sichtbare Bewegung ▬ Grad II: sichtbare Bewegung (»partial arc of motion«) bei aufgehobener Schwerkraft ▬ Grad III: kompletter »arc of motion« gegen die Schwerkraft ▬ Grad IV: kompletter »arc of motion« gegen leichten Widerstand ▬ Grad V: kompletter »arc of motion« gegen maximalen manuellen Widerstand
12.1.4
Spastizität
Die Beurteilung der Spastik erfolgt nach der modifizierten Skala von Ashworth und Bohannon. Man verwendet dabei folgende Skala: ▬ Grad 0: normal (»no increase in muscle tone«) ▬ Grad 1: mild (»slight increase in tone ‚catch‘ in limb movement or mild resistance to movement«) ▬ Grad 2: mäßig (»more marked increase in tone throug most of the range of motion, but affected part is easily moved«) ▬ Grad 3: schwer (»considerable increase in tone, passive movement is difficult«) ▬ Grad 4: extrem (»affected part rigid in flexion or extension«)
12.1.5
Sensibilität
Die exakte Prüfung der Sensibilität ist für die Erhebung des neuroorthopädischen Status unerlässlich. Sie sollte immer symmetrisch geprüft werden.
12.1.6
Selektivität
Definition
Austesten der willkürlichen Aktivität einzelner Muskeln.
12.2
Instrumentelle Ganganalyse
Die instrumentelle Ganganalyse ist die einzige objektive Untersuchungsmöglichkeit einer Funktion. Dabei werden Marker (reflektierende: passive; leuchtende: aktive) an markanten Skelettpunkten befestigt und mittels Kameras 3-dimensional im Raum verfolgt. Die Auswertung ergibt die Gelenkwinkel in 3 Dimensionen (Kinematik). Gleichzeitig geht der Proband über Kraftmess-
201 12.3 · Biomechanische Grundlagen
platten, welche die Kraft zwischen Fuß und Boden (Bodenreaktionskraft) in 3 Dimensionen aufzeichnen. Nach dem Prinzip der inversen Dynamik lassen sich aus Bewegungen und Kräften die Drehmomente und die Leistungen in den Gelenken bestimmen (Kinetik). Die zeitgleiche Aufzeichnung von elektromyografischen Daten (dynamisches EMG, meist als Oberflächen-EMG an der Haut abgeleitet) zeigt die neuromuskuläre Steuerung. Die dadurch gewonnen Informationen sind wichtig, um einerseits pathologische Mechanismen zu verstehen und andererseits das weitere therapeutische Prozedere festzulegen.
12.3
tensionsmoment (⊡ Abb. 12.2). Der Fuß ist zum Ausgleich eines unebenen Bodens jedoch ohne passive Haltestrukturen beweglich. Der M. triceps surae (v. a. der M. soleus) wirkt dem äußeren Moment entgegen. Er drückt über den Hebelarm »Fuß« das Kniegelenk in Extension (»plantar flexion knee extension couple«) und kontrolliert die Schwerkraft in Bezug auf die Drehzentren der Gelenke. Die Beugestellung beim dynamischen Stehen führt zu äußeren Flexionsmomenten, die muskulär stabilisiert werden müssen (⊡ Abb. 12.3), was energetisch ungünstig und anstrengend ist.
Biomechanische Grundlagen
Das Verständnis der Biomechanik ist die Voraussetzung für eine funktionelle Behandlung. Wesentlich ist die Position eines Gelenkdrehzentrums zur Bodenreaktionskraft. Wirkt die Bodenreaktionskraft exzentrisch, ergibt sich ein äußeres Drehmoment, welches das Gelenk streckt oder beugt (⊡ Abb. 12.1).
12.3.1
Normales Stehen
Beim lockeren Stehen fällt die Bodenreaktionskraft (Senkrechte durch den Schwerpunkt) knapp hinter das Hüftgelenk- und vor das Kniegelenkdrehzentrum (⊡ Abb. 12.2). Ein äußeres Extensionsmoment hält die Gelenke gestreckt; die entsprechende Gegenkraft leistet der Kapsel-Band-Apparat. Dazu ist in beiden Gelenken eine leichte Hyperextension notwendig. Eine geringe Aktivität der synergistischen Beugemuskeln verhindert eine Überdehnung. Am Sprunggelenk wirkt ein äußeres Dorsalex-
M. gluteus maximus Hamstrings
F
F
Extensionsmoment
A
A
M
Dorsalextensionsmoment
M
Gelenkkapsel Hamstrings? M. gastrocnemius
M. triceps surae: M. soleus M. gastrocnemius
Fb
Fb a
Extensionsmoment
Gelenkkapsel M. iliacus
b
⊡ Abb. 12.1a,b Auf ein System mit gebeugtem Gelenk A wirkt eine Kraft F, die die Bodenreaktionskraft Fb hervorruft. Von der Bodenreaktionskraft Fb wirkt ein Drehmoment M gegen das Gelenk. Liegt Fb auf der Beugeseite, wird das Gelenk in Beugung gedrückt. a Um das Gelenk zu strecken, ist Streckkraft erforderlich, b liegt Fb dagegen auf der Streckseite, wird das Gelenk in Streckung gedrückt (zusätzliche Streckkraft ist nicht notwendig)
Bodenreaktionskraft ⊡ Abb. 12.2 Skelettschema mit externen Drehmomenten und internen Gegenkräften. Beim lockeren Stehen kontrolliert der M. triceps surae (v. a. der M. soleus) die Unterschenkelposition derart, dass die Bodenreaktionskraft vor das Kniegelenkzentrum und hinter das Hüftgelenkzentrum fällt. Dadurch entstehen externe Extensionsmomente, welche diese Gelenke ohne Muskelaktivität gestreckt halten (die Gegenkraft stammt in erster Linie aus den Kapsel-Band-Strukturen)
12
202
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
»Plantar flexion knee extension couple« Über eine plantarflektierende aktive Kraft (M. triceps surae) wird der Unterschenkel in Rücklage gedrückt, wodurch es zu einer Streckung des Kniegelenks kommt.
12.3.2
-
Äußeres Beugemoment
M. gluteus maximus Hamstrings Vasti M. rectus femoris
Äußeres Beugemoment B
M. triceps surae: M. soleus M. gastrocnemius
12
Normales Gehen
Beim Gehen kontrollieren die Mm. vasti die Kniebeugung und die Hüftextensoren die Hüftbeugung während der Lastübernahme, die Dorsalextensoren das Aufsetzen des Fußes. Der M. triceps (v. a. der M. soleus) bremst die Vorwärtsbewegung der Tibia. Dadurch gerät die Bodenreaktionskraft vor das Knie- und hinter das Hüftgelenkzentrum, wodurch diese Gelenke gestreckt werden (es sind nicht die Streckmuskeln, welche strecken; ⊡ Abb. 12.4). Die Hüftabduktoren kompensieren ein äußeres Adduktionsmoment. Beim Abstoßen sind v. a. die Beuger (Hüfte: M. psoas, M. rectus femoris; Knie: ischiokrurale Muskeln, Mm. gastrocnemii; Fuß: Mm. gastrocnemii) aktiv. Das Bein wird als 2-gelenkiges Pendel beschleunigt und schwingt ohne Muskelkraft nach vorne. Lediglich der Fuß wird hochgezogen.
12.3.3
Pathologische Situationen
Stehen und Gehen werden beeinträchtigt durch: ▬ Beinlängendifferenz ▬ Bewegungseinschränkung ▬ muskuläre Schwäche
Beinlängendifferenz Äußeres Dorsalextensionsmoment Bodenreaktionskraft
⊡ Abb. 12.3 Beim Stehen in Beugestellung von Knie und Hüfte bestehen Flexionsmomente auf diesen Niveaus, die eine muskuläre Gegenkraft erfordern
⊡ Abb. 12.4 Drehmomente in der Standphase. Erste Hälfte: Die Position der Bodenreaktionskraft erzeugt ein Flexionsmoment in Knie- und Hüftgelenk. Die Streckmuskeln kontrollieren die Beugestellung. Die Dorsalflexoren bremsen das Aufsetzen des Fußes. Zweite Hälfte: Die Bodenreaktionskraft befindet sich vor dem Kniegelenk und hinter dem Hüftgelenk. Diese Gelenke werden durch diese externen Drehmomente gestreckt. Die Plantarflexoren müssen dem Dorsalextensionsmoment entgegenhalten
Ein Patient mit einer Beinlängendifferenz hat 2 Möglichkeiten: ▬ die Beinlängendifferenz funktionell zu kompensieren, indem er das kürzere Bein streckt (mehr Spitzfußstellung, Knie- und Hüftextension) und das längere Bein beugt (Dorsalflexion, Flexion in Knie- und Hüftgelenk) – in der Schwungphase muss das Bein stärker gebeugt werden, ▬ die Beinlängendifferenz nicht zu kompensieren und das Becken schief zu halten.
203 12.3 · Biomechanische Grundlagen
Bewegungseinschränkung Steckausfälle in Knie,- und Hüftgelenk führen zu einer funktionellen Verkürzung, Spitzfüssigkeit und Beugeausfälle zu einer Verlängerung des Beines. Sie werden wie Beinlängendifferenzen (s. oben) kompensiert. Zudem wird der Bewegungsablauf verändert: Bei einem Hüftstreckausfall muss die Wirbelsäule am Ende der Standphase hyperextendiert werden – ansonsten wird das Bein am Ende der Standphase dynamisch instabil (mit Nachgeben des Kniegelenks beim Abstoßen). Ein Hüftbeugeausfall führt entweder zu kleinen Schritten oder zu einer Kyphosierung der Wirbelsäule. Ein Hüftadduktionsausfall verlängert, ein Hüftabduktionsausfall verkürzt das Bein funktionell. Bei verstärkter Kniebeugung lässt sich die vermehrte Belastung der Kniestrecker vermindern, indem der Rumpf nach vorne gebeugt und so die Last zwischen Knie- und Hüftstreckern aufgeteilt wird. Die Vorneigung des Rumpfes reduziert das äußere Beugemoment am Kniegelenk. Das Hüftgelenk steht entsprechend verstärkt gebeugt. Fehlt die Kniebeugung, ist das Bein in der Schwungphase zu lang – der Patient muss das Bein entweder zirkumduzieren oder sich auf der Gegenseite in der Mitte der Standphase auf die Zehenspitzen stellen. Bei Spitzfußstellung (Dorsalflexionsausfall, Spitzfüßigkeit) besteht eine funktionelle Beinverlängerung, welche entsprechende Beugehaltungen in Knie- und Hüfte notwendig macht. In der Schwungphase kommt es zu einer funktionellen Überlänge mit Kompensationen wie beim Kniebeugeausfall. Die Spitzfüßigkeit verlängert das Bein. Eine Hackenfüßigkeit reduziert die belastete Fläche des Fußes und erfordert eine vermehrte Aktivierung der Kniestrecker, um das Kniegelenk gestreckt zu halten (Ausfall der initialen Beugung), oder führt in der Standphase zu einer Knie- und Hüftbeugestellung mit verstärkter Haltearbeit der Hüft- und Kniestrecker. > Eine Spitzfüßigkeit allein führt kaum zu einer Gehunfähigkeit. Eine Hackenfüßigkeit ist weit störender und erfordert kompensatorische Haltearbeit der Knieund Hüftstrecker. Daher gilt: SOS – »safe our soleus«. Deshalb ist vor einer allzu großzügigen Indikationsstellung zur Achillessehnenverlängerung Vorsicht geboten.
Muskuläre Schwäche Eine muskuläre Schwäche hat viele Ursachen (jegliche Schmerzen, Sehnen- oder Muskelrisse, schlaffe und spastische Paresen). Schwächen werden über eine Verlagerung des Schwerpunkts kompensiert. Damit wird die Bodenreaktionskraft in einer Art eingeleitet, dass der entsprechende Muskel nicht benötigt wird. Bei schwachen Knieextensoren (⊡ Abb. 12.5) wird ▬ der Fuß durch Plantarflexorenaktivität verstärkt nach unten gedrückt und damit das Kniegelenk in Extension gehalten oder ▬ der Oberkörper nach vorne gebeugt und ein externes Knieextensionsmoment aufgebaut. Dazu wird das Hüft-
a
b
⊡ Abb. 12.5a,b Kompensation von schwachen Knieextensoren. a Verstärkte Plantarflexion mit Knie(hyper)extension, b Vorverlagerung der Bodenreaktionskraft vor das Kniegelenk mit Aufbau eines externen Extensionsmoments durch Vorneigung des Oberkörpers
gelenk flektiert, und es entsteht ein äußeres Flexionsmoment an der Hüfte. Die notwendige Haltearbeit stammt aus den Hüftextensoren (v. a. aus den ischiokruralen Muskeln). Bei Hüftabduktorenschwäche kann der Patient ▬ entweder den Körperschwerpunkt so weit zur Seite über das Hüftgelenk verlagern (Rumpfpendeln), bis dieser über dem Hüftgelenk liegt (damit tritt kein externes Adduktionsmoment mehr auf, und die Hüftabduktorenarbeit, um das Becken zu stabilisieren – sog. Duchenne-Hinken –, entfällt; ⊡ Abb. 12.6), ▬ oder seine Schwäche nicht kompensieren und das Becken nach unten fallen lassen (Trendelenburg-Hinken), mit relativ überlangem Schwungbein. Eine Schwäche der Plantarflexoren führt durch den Wegfall des »plantar flexion knee extension couple« am Kniegelenk zu einer dynamischen Instabilität. Der Patient muss ▬ die initiale Beugung bei der Lastübernahme verhindern (und zwar durch Aktivierung der Kniestrecker) und ▬ die Kniestrecker durch Vorneigen des Rumpfes und Aufbau eines äußeren Extensionsmoments entlasten. Alle diese Mechanismen können auch zusammenspielen und erklären damit die verschiedenen Hinkbilder.
12
204
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
▬ Tetraparesen: Die Patienten haben typischerweise an allen Extremitäten eine deutliche Spastizität mit gleichzeitiger Hypotonie an der Rumpf- und Halsmuskulatur. Die Gehfähigkeit wird erst spät oder gar nicht erlangt (⊡ Abb. 12.7). ▬ Diplegien: In erster Linie sind die unteren Extremitäten betroffen. Die Rumpf- und Halsmuskulatur ist normoton, und die Patienten entwickeln eine gute Rumpfkontrolle. Der Gehbeginn verspätet sich oft, in der Regel werden die Patienten aber gehfähig (allerdings erst ab einem Alter von 2–3 Jahren; ⊡ Abb. 12.8). ▬ Hemiparesen: Bei diesen Patienten sind Arm und Bein auf der gleichen Seite betroffen. Wie bei den Diplegien, ist die Rumpfmuskulatur auch hier beinahe normal kontrollierbar (gute Rumpfkontrolle). Die kontralateralen Extremitäten weisen bei genauer Untersuchung meist ebenfalls leichte Funktionsstörungen auf. Die Gehfähigkeit wird in der Regel mit 18–30 Monaten erlangt (⊡ Abb. 12.9). Die Angst vor der Entwicklung von Skoliosen ist unbegründet.
Externes Hüftadduktionsmoment
z a
Bodenreaktionskraft
b
Bodenreaktionskraft
⊡ Abb. 12.6a, b Beim Duchenne-Hinken wird der Oberkörper so weit zur Seite geneigt, dass kein externes Adduktionsmoment eine stabilisierende Aktivität der Abduktoren erfordert. a Normale Position, b Position beim Duchenne-Hinken
12
12.4 12.4.1
Charakteristische Krankheitsbilder Spastische Krankheitsbilder
Zerebralparese z
Synonyme
Infantile Zerebralparese, zerebrale Bewegungsstörung z
Definition
Die Zerebralparese ist eine bleibende Bewegungsstörung und beruht auf einem nicht fortschreitenden Defekt oder einer Schädigung des Gehirns in frühen Entwicklungsphasen (in der Regel innerhalb der ersten beiden Lebensjahre). Sie ist damit ein Symptomenkomplex und keine Entität. z
Ätiologie
Ätiologisch lassen sich prä-, peri- und postnatale Ursachen unterscheiden. z
z
Therapie
Die typischen Probleme bei Patienten mit einer Zerebralparese sind der erhöhte Muskeltonus und die Spastizität. Die Motorik der Patienten blockiert, und kontrollierte Willkürbewegungen sind unmöglich. Somit wird nicht nur die motorische, sondern letztendlich die gesamte Entwicklung des Patienten behindert. Therapeutisch ist bei Spastizität und muskulärer Hypertonie deshalb eine Tonusreduktion entscheidend. Neben der Spastizität kommen auch ataktische, athetotische und dystone Störungen vor.
Späte Schädigungen des Gehirns z
Definition
Hierunter versteht man Schädigungen des Gehirns, die nach Ausreifung des zentralen Nervensystems stattfinden.
Epidemiologie
Die Prävalenz der Zerebralparese liegt für entwickelte Länder konstant leicht über 2/1000. Die Zerebralparese ist somit die häufigste Ursache für eine Behinderung im Kindesalter. z
Klinik
Die Diagnose wird am häufigsten aufgrund fehlender oder asymmetrischer Bewegungen des Säuglings gestellt. Die verzögerte Entwicklung und ein verspätetes Einsetzen der motorischen Funktionen gehören mit zu diesem Symptomenkomplex. Oft bilden sich erst später die weiteren typischen Zeichen aus, beispielsweise ein hoher Grundtonus und eine Spastizität. Vorherrschend sind motorische Störungen, die sich in Form von Spastizität und muskulärer Hypertonie äußern und meist distal betont sind. Häufig zeigen sich auch Veränderungen der Sensibilität.
Klassifikation
Die Zerebralparesen werden anhand der topischen Verteilung folgendermaßen untergegliedert:
z
Ätiologie
Die häufigsten Ursachen sind: ▬ Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma ▬ zerebrovaskuläre Insulte ▬ Infekte ▬ multiple Sklerose ▬ Reanimation z
Klinik
Obwohl die Spastik in der Regel stärker und störender ausgeprägt ist als bei Patienten, die an einer Zerebralparese lei-
205 12.4 · Charakteristische Krankheitsbilder
⊡ Abb. 12.9 Patient mit Hemiparese rechts. Auf der betroffenen Seite ist das Bein innenrotiert. Der Patient steht spitzfüßig
⊡ Abb. 12.7 Patient mit spastischer Tetraparese, der mit Unterstützung gehfähig ist
⊡ Abb. 12.8 Patient mit spastischer Diplegie (typische Kauerstellung der Beine)
den, können diese Patienten gelegentlich trotz des schweren Schadens erstaunliche Leistungen erbringen, da sie auf die Erfahrungen zurückgreifen können, die vor der Schädigung des Gehirns gemacht wurden. z
Therapie
Das Behandlungsziel besteht darin, den Patienten wieder möglichst gut in das frühere Alltagsleben zu integrieren.
z
z 12.4.2
Krankheitsbilder mit schlaffen Paresen
Definition
Die Myelomeningozele ist eine Spaltfehlbildung, bei der ▬ die Wirbelbögen nicht geschlossen sind, ▬ die Dura entweder sackartig vorgewölbt ist (⊡ Abb. 12.10) oder ebenfalls offen liegt und ▬ das Rückenmark sich nicht zum Neuralrohr hin verschlossen hat. Epidemiologie
Die Myelomeningozele stellt im Kindesalter die häufigste Affektion des Rückenmarks dar.
Myelomeningozelen
z
z
Die Ätiologie für die Spaltfehlbildung ist unklar. Wahrscheinlich handelt es sich um ein multifaktiorelles Leiden.
Synonyme
Spina bifida, offener Rücken, MMC
Ätiologie
12
206
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
Poliomyelitis und Postpoliosyndrom z
Definition
Es handelt sich um eine Viruserkrankung, welche v. a. die Vorderhornzellen des Rückenmarks betrifft und bei 1–2% der betroffenen Patienten neurologische Symptome hervorruft. Dank Impfkampagnen ist die Krankheit weitgehend ausgerottet. z
⊡ Abb. 12.10 Neugeborenes mit Myelomenigozele
z
12
Diagnostik
Die neurologische Funktion ist auf Höhe der Meningomyelozele sowie distal davon gestört. Betroffen sind die Motorik (in der Regel als schlaffe Lähmung), die Sensibilität sowie die Funktion von Blase und Darm. Die Myelomeningozelen werden von Fehlbildungen ohne Befall des Rückenmarks (Meningozelen und rein knöcherne Defekte) abgegrenzt. Bei diesen Patienten sind keine neurologischen Probleme zu erwarten. Bei der Myelomeningozele sind Spinalkanal, Hirnhäute und Neuralrohr offen. Die Wirbelsäule ist immer fehlgebildet. Konkomitierende Fehlbildungen sind die Arnold-Chiari-Fehlbildung (Kaudalverlagerung der Medulla oblongata mit ausgezogenen Kleinhirnfortsätzen) und die Walker-Zyste (Erweiterungen des 4. Ventrikels) als häufigste zusätzliche Fehlbildungen des zentralen Nervensystems. Die Häufigkeit von Epilepsien liegt bei Patienten ohne Hydrozephalus bei ca. 2%, bei denjenigen mit Hydrozephalus bei ungefähr 22%. > Neben all diesen neurologischen Problemen sei auch auf die Latexallergie hingewiesen, die bei Patienten mit Myelomeningozelen gehäuft anzutreffen ist und die auf einer verstärkten Antikörperbildung beruht.
Klinisch zeigen sich bei Patienten mit Myelomeningozele schlaffe Paresen der Muskulatur in Kombination mit einer Hypo- oder Anästhesie. Eine Spastizität ist nicht typisch und muss abgeklärt werden (Ausschluss von »tethered cord syndrome« und Syringomyelie). Die Sehnenreflexe sind meist vermindert bis erloschen. Im Weiteren besteht eine Urin- und Stuhlinkontinenz. > Entscheidend für die Gehfähigkeit ist das Vorhandensein einer ausreichenden Kraft in den Kniestreckern (L4). Diese Muskeln müssen als höchste innervierte Gruppe die aufrechte Stellung kontrollieren. Voraussetzung für eine bleibende Funktion ist die passive Kniestreckbarkeit. Ein Gehen ohne Orthesen setzt eine ausreichende Kraft der Plantarflexoren (S1) voraus.
Klinik
Typisch sind schlaffe Paresen bei erhaltener Sensibilität. Die Patienten entwickeln Kompensations- und Adaptationsmechanismen, um trotz ihrer Behinderung weiterhin im Alltagsleben ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Gelenkluxationen sind selten. Typisch dagegen ist eine ausgeprägte Verkürzung der betroffenen Extremität um ca. 4–5 cm, v. a. wenn die Poliomyelitis in der frühen Kindheit aufgetreten war. Als wahrscheinlichste Ursache dafür gilt die Minderdurchblutung aufgrund des geringen Gebrauchs. Heute ist v. a. das Postpoliosyndrom relevant. Es tritt als weitere und progrediente muskuläre Schwäche Jahre nach der Ersterkrankung auf. z
Therapie
Die noch innervierte Muskulatur lässt sich (auch bei partieller Parese) auftrainieren. Dadurch kann eine funktionelle Verbesserung erreicht werden.
Myopathien z
Definition
Die Myopathien umfassen eine Gruppe von Krankheiten, die ausschließlich die Muskulatur befallen. z
Klinik
Charakteristische Symptome sind: ▬ oft langsam progrediente, symmetrische, muskuläre Schwäche ▬ rasche Ermüdbarkeit ▬ verminderte Reflexe Viele Myopathien kommen familiär gehäuft vor. Sie können aber auch als Begleitsymptome anderer Grundkrankheiten (z. B. Stoffwechsel- oder Hormonstörungen) auftreten. Die Sensibilität bleibt normal. z
Klassifikation
Die Einteilung der Myopathien erfolgt nach folgender Systematik: ▬ Muskeldystrophien ▬ kongenitale Muskeldystrophien ▬ spinale Muskelatrophie ▬ hereditäre, motorische und sensorische Neuropathie ▬ Myotonien ▬ Myasthenia gravis pseudoparalyctica ▬ sekundäre Myopathien Die aus neuroorthopädischer Sicht wichtigsten Krankheitsbilder sind in den folgenden Abschnitten dargestellt.
Muskeldystrophie Typ Duchenne Die Muskeldystrophie Typ Duchenne ist die häufigste Form und wird X-chromosomal vererbt. Es sind ausschließlich Jun-
207 12.4 · Charakteristische Krankheitsbilder
konsekutiver progredienter Muskelschwäche. Die Verteilung ist meist symmetrisch. Gemäß der Klassifikation nach Byers werden 3 Formen unterschieden: ▬ Typ I: akute infantile (schwere) Form Werdnig-Hoffmann ▬ Typ II: chronische infantile Form (intermediäre spinale Muskelatrophie) ▬ Typ III: juvenile (leichte) Form Kugelberg-Welander Im Rahmen der orthopädischen Behandlung wird mit Orthesen die verlorene Muskelkraft ersetzt und so eine optimale Rehabilitation für den Patienten ermöglicht.
Hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSN)
⊡ Abb. 12.11 Pseudohypertrophie der Wadenmuskulatur bei Muskeldystrophie Typ Duchenne
gen befallen. Die klinischen Symptome beginnen innerhalb der ersten 4 Lebensjahre. An den Waden entwickelt sich die typische Pseudohypertrophie (⊡ Abb. 12.11). Die Gehfähigkeit erlischt um das 10. Lebensjahr herum. Die Lebenserwartung liegt zwischen 25 und 30 Jahren. Dabei ist heute weniger die pulmonale als die kardiale Insuffizienz limitierend. Eine kausale Behandlung der Duchenne-Muskeldystrophie (Dystrophinmangel) ist nicht möglich. Die orthopädische Behandlung zielt darauf ab, die Geh- und Stehfähigkeit möglichst lange zu erhalten und Kontrakturen zu verhindern. Orthopädische Operationen sind v. a. zur Korrektur der Wirbelsäulendeformitäten schon bei minimen Winkelabweichungen sinnvoll, da die Patienten oft schnell aus dem Lot geraten, weil sie der Schwerkraft nicht mit eigener Muskelkraft entgegenwirken können.
Es handelt sich um eine neuromuskuläre Erkrankung, die an Armen und Beinen zu einer distalen Muskelschwäche führt (Synonym: Morbus Charcot-Marie-Tooth). Die Charcot-MarieTooth-Krankheit ist nach denjenigen 3 Ärzten benannt, die sie als erste im Jahre 1886 beschrieben: Professor Jean-Martin Charcot (1825–1893) und sein Schüler Pierre Marie (1853– 1940), die beide in Paris am Hôpital de Salpetrière arbeiteten, sowie Dr. Howard Tooth (1856–1926) aus London. Die Krankheit wird auch »Peroneusmuskelatrophie« genannt, weil der Peroneusmuskel gewöhnlich als erster Muskel betroffen ist. Der Name »hereditäre motorisch-sensorische Neuropathie« (HMSN) beschreibt die Krankheit jedoch genauer, denn sie ist erblich und kann sowohl die Bewegungsfähigkeit (Motorik) als auch die Empfindungsfähigkeit (Sensorik) beeinträchtigen. Es werden 3 Formen unterschieden: ▬ dominante demyelinisierende Form (HMSN Typ I) ▬ neuronal-dominate Form (HMSN Typ II) ▬ demyelinisierende rezessive Form (HMSN Typ III)
Paraplegie Unfallbedingt oder als Komplikation chirurgischer Eingriffe kann das Rückenmark bleibend komplett oder inkomplett geschädigt werden. Bis heute sind keine Maßnahmen möglich, um das geschädigte Rückenmark zu regenerieren. Die Lähmungen distal der Läsion sind schlaff. Die neuroorthopädische Behandlung besteht deshalb darin, die möglichen Folgeschäden der Lähmungen zu verhindern.
Muskeldystrophie Typ Becker
Plexusparese
Die Muskeldystrophie Typ Becker wird X-chromosomal vererbt. Sie ähnelt dem Typ Duchenne, doch sind die Symptome geringer ausgeprägt und weniger rasch progredient. Diese Erkrankung tritt 10-mal seltener auf als der Typ Duchenne. Auch hier ist die Therapie des Grundleidens bis heute nicht möglich. Die Gehfähigkeit erlischt um das 30.–40. Lebensjahr, die Lebenserwartung liegt zwischen 50 und 60 Jahren. Die orthopädischen Maßnahmen ähneln denen bei der Duchenne-Muskeldystrophie, werden jedoch erst später im Leben notwendig.
Unter einer Plexusparese versteht man eine Nervenläsion zwischen dem Austritt der Spinalwurzeln aus dem Rückenmark und der Formierung der peripheren Nerven. Verschiedene Mechanismen, von einer einfachen Dehnung bis zum Zerreißen von Nervenfasern oder dem Ausriss von Wurzeln aus dem Rückenmark, können zu dieser Läsion führen.
Spinale Muskelatrophie Bei den hereditären, sensomotorischen Polyneuropathien handelt es sich um eine heterogene Gruppe von Krankheiten mit Degeneration der Vorderhornzellen des Rückenmarks und
Läsion des Plexus brachialis
Klinisch unterscheiden sich am Arm 2 Formen: obere und untere Plexusparese. Dabei weist der größte Teil der Kinder eine obere (Typ Erb) oder eine komplette Plexuparese auf. Bei dieser Form (Erb-Duchenne) sind die Wurzeln C5 und 6 betroffen. Motorisch ist ein Ausfall der Abduktion und der Außenrotation im Schultergelenk, der Ellbogenflexion und partiell auch der
12
208
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
Ellbogenextension sowie der Supination und der Handgelenkextension festzustellen. Die Schulter hängt tief, bei gestrecktem Ellbogen. Die untere Plexusparese (Klumpke-Déjérine) ist selten (nur 0,6% aller Plexusparesen). Dabei ist v. a. das Segment Th1 und nur inkonstant das Segment C8 betroffen. Es fehlt die Aktivität der kleinen Handmuskeln, und insbesondere die ulnaren Finger krallen sich ein. Ein Horner-Syndrom (Ptosis, Miosis und Enophthalmus) kann als Zeichen der Mitbeteiligung des gleichseitigen Sympathikus gleichzeitig auftreten. Differenzialdiagnostisch müssen bei mangelnden Bewegungen der oberen Extremität andere Verletzungen ausgeschlossen werden. In diesen Fällen handelt es sich um eine schmerzbedingte Pseudoparalyse. Die Prognose der oberen Plexusparese ist besser als diejenige der unteren. Bei der Therapie soll v. a. die Entstehung von sekundären Deformitäten verhindert werden. Dabei ist es hilfreich, die vorhandenen und neu innervierten Muskeln aufzutrainieren. Selten sind auch Verlagerungsoperationen (z. B. Verlagerung des M. levator scapulae auf den M. supraspinatus oder des M. teres major auf den M. infraspinatus) notwendig, um die Außenrotation und die Abduktion des Armes zu verbessern.
Die Abklärung muss eine klinische Untersuchung beinhalten, die folgende Aspekte umfasst: ▬ Bewegungsumfang in den Gelenken ▬ Muskellängen ▬ Muskelkraft ▬ Sensibilität ▬ Spastizität ▬ Selektivität Außerdem ist eine Untersuchung der Funktion (in der Regel eine instrumentierte Ganganalyse) erforderlich. Die vollständige Untersuchung liefert eine Liste von Problemen, welche gewichtet und entsprechend behandelt werden. Als Therapiemittel stehen konservative und operative Möglichkeiten zur Verfügung
Konservative Maßnahmen Aktive Behandlungsformen (Physiotherapie, Ergotherapie etc.)
Während das Hauptgewicht früher auf der Verhinderung von Kontrakturen lag, ist heute das Auftrainieren der Muskelschwäche in den Vordergrund gerückt. Daneben steht ein Training von Gleichgewicht, Körperkontrolle und Funktion. Anpassung von Orthesen
Läsion des Plexus lumbosacralis
Diese ist oft traumatisch bedingt (z. B. bei einem Motorradunfall als Begleitverletzung eines schweren Beckentraumas) oder beruht auf einer Tumorinfiltration durch metastatische Prozesse.
12
12.4.3
Behandlungsmaßnahmen
Es werden unterschieden: ▬ Lagerungsorthesen (⊡ Abb. 12.12). Diese dienen der Dehnung von Kontrakturen und sind v. a. im Anfangsstadium sowie postoperativ hilfreich. Sie sollten generell mindestens 1–2 Stunden pro Tag getragen werden. Ein häufigeres Tragen oder auch die nächtliche Anwendung ist oft störend und nur über definierte Perioden sinnvoll.
Gehfähige Patienten Patienten mit neuromuskulären Krankheitsbildern ist eine ausgeprägte Muskelschwäche gemein. Je nach Krankheitsbild ist diese mit einer Spastizität, Sensibilitätsstörungen oder anderen zentralen neurologischen Symptomen (Ataxie, Athetose, Dystonie etc.) gekoppelt. Aus der funktionellen muskulären Insuffizienz einerseits und aus Kompensationen andererseits entwickeln sich Deformitäten, welche ihrerseits wieder kompensiert werden müssen. Schwäche und Deformitäten verhindern es, äußere Drehmomente und Kräfte optimal zu nutzen. Die notwendige zusätzliche Muskelleistung kann nicht aufgebracht werden, und die Funktionen verschlechtern sich oft im Laufe der Zeit. Aus der Biomechanik ergeben sich folgende Behandlungs-
a
ziele:
▬ Wiederherstellung der (passiven) Voraussetzungen für ein Stehen/Gehen mit minimalem Kraftaufwand: leichte Überstreckung (mindestens jedoch volle Streckung) in Knie und Hüfte ▬ Optimierung der Hebelarme: Fuß und Knie in Gangrichtung ▬ Optimierung der Muskellängen: Verlängerung von kontrakten Muskel-Sehnen-Apparaten, evtl. Verkürzung der überlangen Antagonisten
b ⊡ Abb. 12.12a,b Lagerungsorthese zur Kniestreckung. Zur vollen Extension muss die Orthese 20° überstreckbar sein, da die Weichteile sonst komprimiert werden. Der Oberschenkelteil muss das Gesäß mitfassen, um Druck auf den N. ischiadicus zu vermeiden. (Mit freundlicher Genehmigung der Basler Orthopädie René Ruepp AG)
209 12.4 · Charakteristische Krankheitsbilder
a ⊡ Abb. 12.13 Fußorthese (OSSA) zur Aufrichtung des Rückfußes bei Insuffizienz des M. tibialis posterior. (Mit freundlicher Genehmigung der Basler Orthopädie René Ruepp AG)
b ⊡ Abb. 12.15a,b Korrektur der Fußstellung mittels Fußorthese. a Abduktions-Knick-Senk-Füße unter Belastung mit entsprechender Auswärtsrichtung. b Füße mit Orthesen in Gangrichtung, womit die Abduktions-Knick-Komponente korrigiert wird
⊡ Abb. 12.14 Funktionelle Unterschenkelorthese (zurückgeschnitten auf die notwendigen Anteile). (Mit freundlicher Genehmigung der Basler Orthopädie René Ruepp AG)
fehlenden »plantar flexion knee extension couple«). Eine wirksame Fußaufrichtung – ob mittels Einlage oder Orthese – lässt sich an der Korrektur der Fußstellung erkennen (⊡ Abb. 12.15). Unter Belastung (Standphase) kann das nächsthöhere Gelenk meist indirekt kontrolliert werden (Unterschenkelorthese bei Knieproblemen), während die Führung ohne Belastung (Schwungphase) ein Segment mehr umfassen muss (Unterschenkelorthese bei Fußproblemen). Knieübergreifende Orthesen sind meist hinderlich und selten notwendig.
Operative Maßnahmen Muskeloperationen
▬ Funktionelle Orthesen. Diese dienen der Verbesserung einer Funktion und müssen folglich während dieser Aktivität getragen werden. Sie können Füße aufrichten (⊡ Abb. 12.13) und damit den Hebelarm korrigieren, überaktive Plantarflexoren hemmen (⊡ Abb. 12.14) oder insuffiziente Plantarflexoren ersetzen (Wiederaufbau eines
Es bestehen folgende Möglichkeiten: ▬ Verlängerungen. Diese werden an kontrakten Muskeln notwendig. Dabei kann der Muskel grundsätzlich im Bereiche der Sehne (meist Z-förmig) oder innerhalb des Muskelbauchs durch Durchtrennung der Bindegewebefasern mit einem oder mehreren Schnitten (»intramuscular tenotomy«) verlängert werden. Die rein sehnigen Verlänge-
12
210
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
rungen erbringen mehr Länge, bergen jedoch eine erhöhte Gefahr einer persistierenden Schwäche. Ein präoperativer Test mit Botulinumtoxin, das in den kontrakten Muskel injiziert wird, ist ratsam. Auf diese Weise lässt sich erkennen, inwieweit die Funktion von der Kraft dieses Muskels abhängt und ggf. auf die Verlängerung verzichtet werden muss. ▬ Verlagerungen von Sehen oder halben Sehnen (»split transfers«). Diese können am Fuß zur Korrektur bei fehlendem Antagonisten erfolgen (Ausbalancierung der Fußheber und der Plantarflexoren bei fehlendem M. triceps surae). ▬ Verkürzungen. Diese können bei Sehnen, welche überdehnt oder postoperativ überlang sind, die Muskelkraft wieder verbessern (z. B. Patellar-, Achillessehne). Operationen innerhalb des Muskelbauchs ermöglichen eine sofortige Vollmobilisation. Eingriffe an Sehnen, v. a. Verkürzungen, erfordern dagegen eine Ruhigstellung für 4–6 Wochen, um eine Dehnung der Naht zu verhindern. Ossäre Korrekturen
Mit ossären Korrekturen werden verbleibende knöcherne oder weichteilbedingte Deformitäten, welche sich nicht anders therapieren lassen, korrigiert (z. B. suprakondyläre Extensionsosteotomie bei Kniebeugekontraktur; ⊡ Abb. 12.16). Moderne Osteosynthesematerialien ermöglichen eine sofortige Mobilisation unter Vollbelastung, womit sich ein weiterer Abbau von Muskelkraft verhindern lässt.
Arthrodesen
Gelenkinstabilitäten entstehen bei Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen aufgrund mangelnder dynamischer Muskelaktivität. Die Kapseln leiern aus, was die Instabilität verstärkt. Funktionell relevante Instabilitäten wie bei KnickSenk-Platt-Füßen erfordern stabilisierende Maßnahmen. Hierzu stehen Orthesen oder Arthrodesen zur Verfügung. Während in Orthesen eine Restbeweglichkeit verbleibt, ist das entsprechende Gelenk nach einer Arthrodese steif. Bewährt haben sich bei entsprechenden Instabilitäten v. a. Arthrodesen des unteren Sprunggelenks und des Kalkaneokuboidalgelenks zur Wiederherstellung des Fußes als Hebelarm. ! Cave Arthrodesen von Knie und Hüfte sind kontraindiziert, da die langen Hebelarme der Röhrenknochen bei steifen Gelenken zu pathologischen Frakturen disponieren.
Nicht gehfähige Patienten Schwerstbehinderte, nicht gehfähige Patienten sollen ihr Leben in erster Linie schmerzfrei verbringen können. Behandlungsmaßnahmen sind u. U. auch zur Erleichterung der Pflege notwendig. Ein manchmal schon hochgestecktes, aber sehr wichtiges Ziel, nämlich das Erreichen einer Transferfähigkeit, kann oft nur schwierig erlangt werden. Manchmal sind große Eingriffe notwendig, um solche kleinen Schritte zu erreichen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sich der Aufwand lohnt.
Neurogene Hüftluxation
12
⊡ Abb. 12.16 Suprakondyläre Knieextensionsosteotomie zur Behebung einer Kniebeugekontraktur
Eine Hüftgelenkluxation kann äußerst schmerzhaft sein, v. a. wenn sie mit einer Spastizität kombiniert ist. Die konservative Behandlung der Hüftluxation besteht im Akzeptieren der Luxation und der Therapie der Schmerzzustände mit Analgetika. Wichtig ist es, Sitzhilfen dem Bewegungsausmaß (bzw. der Bewegungseinschränkung) anzupassen. Ein rein konservatives Vorgehen ist bei schwerstbehinderten Patienten mit schlechtem Allgemeinzustand möglich. Eine operative Intervention ist nach Meinung der Autoren dann sinnvoll, wenn die luxierte Hüfte symptomatisch wird (Schmerzen, Störung der Funktion und der funktionellen Entwicklung, Bewegungseinschränkung). Eine frühzeitige Operation ist technisch einfacher, da weniger ausgeprägte Deformitäten vorhanden sind und auch die Prognose bezüglich einer Re-Luxation besser ist. Die Art der Operation wird auf der Basis der motorischen Fähigkeiten der Kinder gewählt. Bei Erwachsenen kann es im Rahmen von Paraplegien zu Luxationen kommen, weil die Gelenke nicht durch Muskeln dynamisch kontrolliert werden. Die Indikation zur Behandlung ergibt sich bei funktionellen Problemen. Es gibt folgende Operationsverfahren: ▬ Weichteil-Release. Grundsätzlich kann das Hüftgelenk mittels eines unterschiedlich ausgedehnten WeichteilRelease wieder zentriert werden. Die Durchtrennung der Weichteile hinterlässt jedoch regelmäßig eine dynamische Instabilität im Gelenk und führt nicht selten zu Kontrakturen (oft Abduktions-/Außenrotationskontraktur). Zudem hat das Azetabulum bei älteren Kindern kaum mehr eine
211 12.4 · Charakteristische Krankheitsbilder
Chance, seine pathologische Form spontan wieder zu korrigieren. ▬ Resektion des Femurkopfs. Es gibt zahlreiche Techniken, um den Femurkopf zu resezieren und entweder den Schenkelhals, den Femurschaft oder den Trochanter minor in die Pfanne einzustellen. Am besten sind die Resultate mit der infratrochanteren Resektionstechnik. Die Interposition von Muskulatur als Puffer hat einen günstigen Effekt. All diesen Resektionsarthroplastiken ist jedoch gemeinsam, dass sie eine wesentliche Instabilität im Hüftgelenk schaffen und eine Beinverkürzung mit sich bringen. Nach den Erfahrungen der Autoren ist dieses Vorgehen nur in Extremfällen oder nach Versagen anderer Therapiemethoden indiziert. ▬ Angulationsosteotomie nach Schanz. Bei dieser Operation wird der proximale Anteil des Femurs valgisch eingestellt. Damit kann bei schmerzhaften Hüften Schmerzfreiheit erzielt werden, weil der Kopf nicht mehr gegen das Becken gepresst wird. Auch besteht beim Gehen eine bessere Stabilität als nach der Kopfresektion. Die Beweglichkeit bleibt jedoch weiterhin eingeschränkt. Eine spätere Totalarthroplastik der Hüfte wird erschwert. ▬ Rekonstruktion des Hüftgelenks. Diese Methode wird von den Autoren meistens bevorzugt. Operativ lässt sich das luxierte Hüftgelenk wieder aufbauen (⊡ Abb. 12.17). Eine Derotations-Varisations-Osteotomie am proximalen Femur zusammen mit weichteilbalancierenden Maßnahmen kann ausreichen. Die Gesamtresultate sind jedoch besser, wenn alle vorhandenen Deformitäten an Becken und Femur korrigiert werden. Diese Operation besteht aus der Kombination einer korrigierenden Femurosteotomie (mit Verkürzung, Derotation und Varisation) mit einer Azetabuloplastik vom Pemperton- bzw. Dega-Typ. In seltenen Fällen kann auch eine Salter- oder TripleOsteotomie zur Korrektur des Beckens notwendig sein. Meistens ist eine zusätzliche offene Reposition mit Resektion des Lig. capitis femoris, Dissektion des Lig. transversum acetabuli und Verlängerung des M. iliopsoas erforderlich. Sind die Adduktoren am Ende der Ope-
⊡ Abb. 12.17 Hüftrekonstruktion links, Hüftluxation rechts
ration immer noch verkürzt, werden sie aponeurotisch verlängert. Vor allem bei erwachsenen Patienten kann eine alleinige Femur-Derotations-Varisations-Osteotomie genügen. Voraussetzung ist ein in allen Ebenen ausreichend ausgebildetes Azetabulum (3D-CT).
Wirbelsäulendeformitäten Die meisten schwerstbehinderten Patienten sind an einen Rollstuhl gefesselt. Der Rollstuhlsitz muss den Problemen der Sitzposition und der Wirbelsäulendeformität Rechnung tragen und entsprechend adaptiert werden. Dementsprechend ergeben sich für die Behandlung von Wirbelsäulendeformitäten folgende Ziele:
▬ Stabilisierung der Wirbelsäule und damit auch des Rumpfes, sodass eine aufrechte Position eingenommen werden kann – durch die Stabilisation des Rumpfes wird dem Patienten meist auch die Kopfkontrolle erleichtert oder überhaupt erst ermöglicht ▬ Korrektur der Form ▬ Verhinderung der Progredienz der Deformität Eine Korsettbehandlung (⊡ Abb. 12.18) ist möglich, solange sich die Wirbelsäule noch so weit aufrichten lässt, dass der axiale Druck in aufrechter Stellung über die Wirbelsäule abgeleitet werden kann. Winkelwerte im Röntgenbild sind für die Entscheidung wenig hilfreich. Wichtiger ist das klinische Bild. Am besten lässt sich dieses Ziel erreichen, indem man den Gipsabdruck in Überkorrektur anfertigt, denn der Patient wird im Korsett in seine Fehlform zurückfedern.
⊡ Abb. 12.18 Doppelschalenkorsett zur Korsettbehandlung bei Wirbelsäulendeformitäten. (Mit freundlicher Genehmigung der Basler Orthopädie René Ruepp AG)
12
212
Kapitel 12 · Neuromuskuläre Systemerkrankungen
Sind die konservativen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft, bleibt nur noch die operative Behandlung. Hier werden folgende Operationsziele angestrebt: ▬ Erhaltung der Sitzfähigkeit ▬ Verhinderung einer Dekompensation ▬ Verbesserung der Pflegefähigkeit ▬ Vermeidung von Schmerzen ▬ Stabilisierung der Wirbelsäule ▬ Korsettfreiheit
Probleme an der oberen Extremität Die Hand ist weit mehr als nur ein Teil des Bewegungsapparats. Sie ist auch ein enorm wichtiges Sinnesorgan und ein Ausdrucksmittel: Mit der Hand ertastet man die Umgebung – ohne diesen differenzierten Tastsinn wäre man nicht in der Lage, viele alltägliche Dinge zu verrichten. Der Gebrauch der Hand ist jedoch nur bei aufrechter Körperposition (im Stehen oder Sitzen) möglich – bei gut funktionierendem, visuellem Organ. Nur so kann die Hand gezielt eingesetzt werden. Mit Handgelenkorthesen werden bestehende Kontrakturen aufgedehnt. Somit sind nur in Ausnahmefällen handchirurgische Maßnahmen notwendig.
Literatur
12
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13
Weichteil- und Gelenkinfektionen
13.1
Weichteilinfektionen – 214
13.1.1 13.1.2 13.1.3
Allgemeines – 214 Infektionsformen – 214 Mikrobiologie – 217
13.2
Gelenkinfektionen
13.3
Periprothetische Infektionen – 228
13.3.1
Zusammenfassung
Literatur
– 222
– 233
– 233
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
214
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
Weichteilinfektionen
13.1
S. Füssel z
Definition
Weichteilinfektionen entstehen endogen durch Erreger der patienteneigenen Flora oder exogen mit neu erworbenen Erregern aus der Umgebung des Patienten. Die Gefahr einer Infektion ist abhängig von der Erregervirulenz, dem Immunsystem des Patienten, der Beschaffenheit des befallenen Gewebes und der sog. kritischen Keimmasse. Die Ausbreitung einer Infektion kann direkt, z. B. durch Hautverletzung, hämato- oder lymphogen, intrakanalikulär oder per continuitatem vom Eintrittsort in das umliegende Gewebe erfolgen.
13.1.1
Weitere wichtige Parameter zur Erkennung und Verlaufskontrolle einer Infektion sind das C-reaktive Protein (CRP), die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) und die Leukozytose. ⊡ Tab. 13.1 fasst die wichtigsten exogenen und endogenen Faktoren, die eine Infektentstehung begünstigen, zusammen. Insbesondere postoperative Wundheilungsstörungen stellen für den Chirurgen ein häufiges Problem dar. Die Entstehung wird durch folgende Hauptpunkte gefördert: ▬ gestörte Blutzusammensetzung ▬ verminderte Perfusion ▬ nicht optimale Naht ▬ Serom und Fremdkörpergranulom Im Folgenden werden die typischen Formen, mikrobiologische Grundlagen und Antibiotikatherapie besprochen.
Allgemeines 13.1.2
13
Weichteilinfektionen, die durch endogene und exogene Faktoren ermöglicht bzw. begünstigt werden, stellen in der Orthopädie und Traumatologie eine große Herausforderung für den behandelnden Arzt dar. Für den Behandlungserfolg essenziell ist die frühzeitige Erkennung einer Infektion, die sich morphologisch mit den Kardinalsymptomen einer akuten Entzündung präsentiert: ▬ Dolor: Durch die Entzündung kommt es im Wundgebiet zur Exsudation, wodurch Druck auf die lokalen Nervenendigungen entsteht. ▬ Calor: Als Teil der Entzündungsreaktion kommt es im Bereich der Entzündung zu lokaler Hyperämie und folglich Überwärmung. ▬ Rubor: Durch die Hyperämie kommt es ebenfalls zu lokaler Rötung. ▬ Tumor: Lokale Hyperämie und Exsudation rufen eine Schwellung hervor. ▬ Functio laesa: Die Funktion des betroffenen Organs wird durch die Entzündungsvorgänge eingeschränkt oder aufgehoben.
Infektionsformen
In Orthopädie und Traumatologie zeigen sich einige klassische Infektionsformen: Abszess, Phlegmone, Bursitis, Empyem, Lymphangitis und nekrotisierende Fasciitis werden im Folgenden beschrieben.
Abszess Als Abszess bezeichnet man eine von einer Abszessmembran umgebene Eiteransammlung in einer nicht präformierten Höhle aufgrund von Gewebeeinschmelzung (⊡ Abb. 13.1). Klinisch zeigen sich die klassischen Entzündungszeichen ( Abschn. 13.1.1) sowie eine tastbare Fluktuation. Ausgelöst wird die Abszessbildung meist durch eine bakterielle Infektion, klassischerweise Staphylokokken, häufig begünstigt durch z. B. ein Serom, Hämatom oder Granulom. Zur Diagnostik sind sonographische bzw. für tiefer gelegene Gewebeschichten MRT-Untersuchungen indiziert. Gegebenenfalls kann auch eine Punktion notwendig werden. Therapeutisch gilt nach Hippokrates der Leitsatz: »Ubi pus ibi evacua«. Die operative Revision und Drainageneinlage ist
⊡ Tab. 13.1 Faktoren, die eine Infektion begünstigen (nach Scheffer et al. 2008) Endogen
Exogen
Große Mengen zerstörten, schlecht durchbluteten Gewebes Wundheilungsstörungen konsumierende internistische Erkrankungen (Tumor) rheumatoide Arthritis verminderte Immunkompetenz Übergewicht Hämatome periphere Ödeme Lymphangitis Neuropathie Diabetes mellitus schlechter Allgemein- und Ernährungszustand männliches Geschlecht hohes Alter distale Körperpartien
Polytrauma Schock Infektionen anderer Lokalisationen Sepsis Massentransfusion verminderte globale Sauerstoffverfügbarkeit Ischämie und Reperfusion Verbrennungen Medikamenteneinnahme (z. B. Immunsuppressiva) große Operationen instabile Osteosynthesen Endoprothesen
215 13.1 · Weichteilinfektionen
⊡ Abb. 13.1 Spritzenabszess in der rechten Ellenbeuge
der reinen Abszessspatung vorzuziehen. Wegen der Gefahr der Keimverschleppung sollte der Eingriff möglichst nicht in Lokalanästhesie erfolgen. Postoperativ sind tägliche Verbandswechsel und ggf. Spülungen mit hypertoner Kochsalzlösung, Lavanid oder anderen Wundantiseptika obligatorisch. Vor Beginn einer begleitenden Antibiotikatherapie, die mindestens 3 Tage durchgeführt werden sollte, ist die Abnahme eines mikrobiologischen Abstrichs zur genauen Erregerbestimmung und ggf. Anpassung der Antibiotikatherapie erforderlich.
Phlegmone Eine Phlegmone ist eine eitrige Entzündung, meist hervorgerufen durch Bagatellverletzungen, oft am Fuß (⊡ Abb. 13.2). Im Gegensatz zum Abszess breitet sie sich diffus infiltrativ entlang des interstitiellen Bindegewebes im Bereich der tiefen Dermis und Subkutis sowie zwischen Geweben und Organen aus. Ursächlich für eine Phlegmone sind Bakterien, die in der Lage sind, mittels Enzymen die Interzellularsubstanz von Bindegewebe zu zerstören. Hierzu zählen in erster Linie Streptokokken, Pseudomonas und Clostridien. Klinisch zeigen sich folglich die oben beschriebenen allgemeinen und lokalen Entzündungszeichen sowie eine vornehmlich teigige Schwellung mit häufig ausgeprägtem Druckschmerz. Typische Formen der Phlegmone sind an der Haut das Erysipel, in der Skelettmuskulatur die Muskelphlegmone. Meist wird das Erysipel durch β-hämolysierende Streptokokken verursacht, seltener durch Bacillus anthracis. Die Haut ist im betroffenen Bereich stark überwärmt und scharf abgegrenzt gerötet. Zur Verlaufskontrolle empfiehlt sich die Markierung der Grenzlinie mittels Farbstift. Zur Therapie ist eine hochdosierte i.v.-Gabe von Penicillin erforderlich, die nach Abklingen der lokalen Symptomatik wegen der Rezidivgefahr oral weitergeführt werden sollte. Die betroffene Extremität sollte möglichst ruhig gestellt werden. Im Falle purulenter Einschmelzung ist eine breite Eröffnung mit radikaler Nekrosektomie indiziert.
Bursitis Bursitiden sind zunächst meist aseptische Entzündungen der Schleimbeutel infolge chronischer Reizung. Vor allem durch
⊡ Abb. 13.2 Phlegmone am Unterschenkel bei entzündlicher Veränderung an der Eintrittspforte
⊡ Abb. 13.3 Bursitis präpatellaris linkes Knie im Seitenvergleich
Traumen oder nach Punktionen kommt es zur Keimeinbringung in die Flüssigkeitsansammlung und Ausbildung einer dann eitrigen Bursitis. Häufig sind Schulter (Bursa subacromialis), Ellbogen (Bursa olecrani) und Knie (Bursa praepatellaris; ⊡ Abb. 13.3) betroffen. Klinisch zeigen sich Rötung, Überwärmung, Fluktuation, Lymphangitis und Lymphadenitis. Bei der purulenten Bursitis ist die Bursektomie die Therapie der Wahl, in schweren Fällen sogar mit zweizeitigem Vorgehen (initiale Spaltung mit offener Wundbehandlung und sekundäre Bursektomie).
13
216
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
Empyem Ein Empyem ist eine Eiteransammlung in einer präformierten Höhle. Nähere Informationen finden sich in Abschn. 13.2.
Lymphangitis Bei lymphogener Ausbreitung der Entzündung spricht man von einer Lymphangitis. Sie verläuft in der Regel oberflächlich und betrifft meist die distalen Extremitäten. Verursacht wird sie oft durch Panaritien, Furunkel, Abszesse oder Phlegmone. Klinisch imponieren Druckschmerz, streifenförmige Rötung, ein subkutan liegender tastbarer Strang und geschwollene regionale Lymphknoten. Therapeutisch ist die Sanierung des auslösenden Herdes indiziert. Begleitend soll die betroffene Extremität ruhiggestellt und mit feuchten Verbänden gekühlt werden. Eine systemische Antibiotikatherapie ist meist erforderlich. In ausgeprägten Fällen schmelzen betroffene Lymphknoten ein und abszedieren, sodass die chirurgische Eröffnung notwendig wird. In Folge rezidivierender Lymphangitiden kann es durch den Verschluss der entzündeten Lymphgefäße zu einem chronisch progredienten Lymphödem kommen, das mit Kompression, Hochlagerung und Lymphdrainage zu behandeln ist.
⊡ Abb. 13.4 Histologisches Bild einer nekrotisierenden Fasziitis mit Destruktion von Muskelfasern und Infiltration mit neutrophilen Granulozyten
Nekrotisierende Fasziitis
13
Die nekrotisierende Fasziitis ist eine seltene Infektion des Subkutangewebes und der Faszie mit einer Letalität von bis zu 80%. Durch einen Triggermechanismus von Tumornekrosefaktor und Interleukinen kommt es häufig zur Sepsis mit Multiorganversagen und »toxic shock syndrome«. Hervorgerufen wird die Erkrankung durch Mischinfektion mit anaeroben und fakultativ anaeroben Bakterien ohne Nachweis von Streptokokken der Gruppe A (Typ I) oder durch primäre Infektion mit Streptokokken der Gruppe A mit oder ohne Beteiligung von Staphylococcus aureus oder S. epidermidis (Typ II). Betroffen sind in erster Linie Patienten mit geschwächter Immunkompetenz. Klinisch zeigen sich zuerst lokal eine starke ödematöse Schwellung mit begleitendem Erythem und Überwärmung. Die Haut glänzt, petechiale Einblutungen sind möglich. Begleitend tritt ein ausgeprägtes Krankheitsgefühl mit starken Schmerzen bereits nach sehr kurzem Verlauf auf. Zur Diagnosesicherung legten Kaul und Mitarbeiter (1997) folgende Kriterien fest ▬ histologischer Nachweis eine Fasziennekrose und eines Faszienödems, eines Bindegewebeödems der Dermis und des subkutanen Fettgewebes ▬ intraoperativer Nachweis einer großflächigen Fasziennekrose Weitere klassische Symptome sind Krepitation, Hautnekrose und Vorhandensein von Gas in der Röntgenuntersuchung. Gerade im Anfangsstadium können diese hinweisenden Symptome jedoch fehlen. Diagnostisch am sichersten ist laut Bisno (2000) die Kombination von heftigem Lokalschmerz, ausgeprägten systemischen Zeichen und Dysfunktion von Organsystemen mit akutem Beginn (⊡ Abb. 13.4 u. ⊡ Abb. 13.5). Therapeutisch ist das radikale chirurgische Débridement mit Fasziektomie und Nekrosektomie, erforderlichenfalls auch Amputation, innerhalb der ersten 24 h für das Überleben des Patienten entscheidend (⊡ Abb. 13.6). Begleitend muss eine kal-
⊡ Abb. 13.5 Klinisches Bild einer nekrotisierenden Fasziitis mit massiver Rötung im Bereich der Oberschenkelinnenseite. Zwischen dem Anzeichnen und der Fotodokumentation bereits massive Progredienz der lokalen Rötung
⊡ Abb. 13.6 Charakteristischer intraoperativer Befund mit gräulich verfärbter Muskelfaszie und Kolliquationsnekrosen
217 13.1 · Weichteilinfektionen
kulierte Mehrfachantibiose angesetzt werden, die abhängig vom mikrobiologischen Befund nach 24 h angepasst werden muss. Weitere Débridements sind meist erforderlich. Die Patienten müssen intensivmedizinisch überwacht werden. > Bereits der Verdacht auf nekrotisierende Fasziitis zwingt zur operativen Revision!
13.1.3
Mikrobiologie
Erreger von Infektionen stammen aus vielfältigen Quellen. Die Kenntnis, welche Erreger wo am häufigsten zu erwarten sind, ermöglicht bereits vor Bekanntwerden eines mikrobiologischen Untersuchungsergebnisses die Einleitung einer kalkulierten Antibiotikatherapie. Die Entnahme und Untersuchung von Probenmaterial vor Behandlungsbeginn ersetzt sie jedoch nicht! ⊡ Tab. 13.2 zeigt die Zuordnung von Keimquellen zu häufigen Keimarten (nach Nerlich M et al. 2003). Die Auswahl der in den folgenden Abschnitten behandelten Erreger orientiert sich am klinisch relevanten Spektrum.
Grampositive Kokken Staphylokokken Staphylokokken sind grampositive kugelige Bakterien, deren Nachweis in der Anzüchtung meist gut gelingt. Unterschieden werden Koagulase-positive und -negative Staphylokokken. Der bedeutendste Keim dieser Gruppe ist Staphylococcus aureus.
⊡ Tab. 13.2 Zuordnung von Keimquellen zu häufigen Keimarten Erregerquelle
Mögliche Keimarten
Exogen Erde, Staub, Straße
Bacillus spp., Clostridien
Pflanzen
Nonfermenter, Enterobacteriaceae
Gewässer, Abwässer
Nonfermenter, Enterobacteriaceae
Tierbiss
Pasteurella multocida, Streptokokken, Staphylokokken
Nahrungsmittel
Enterobacteriaceae
Exogen nosokomial Von anderen Patienten
Staphylokokken, Corynebakterien, Enterobacteriaceae, Nonfermenter
Aus der Umgebung
Enterobacteriaceae, Nonfermenter
Endogen Haut
Staphylokokken, Corynebakterien
Nasen-Rachen-Raum
Streptokokken, Staphylokokken, Aktinomyzeten, grampositive Anaerobier, Haemophilus spp., Pneumokokken, Hefen, (Meningokokken)
Kolon
Enterobacteriaceae, Nonfermenter, Staphylokokken, Enterokokken, Hefen, grampositive und gramnegative Anaerobier, Clostridien
Staphylococcus aureus ist Koagulase-positiv und aufgrund seiner Verbreitung von großer Bedeutung: 80% der Bevölkerung sind wahrscheinlich zeitweise mit dem Keim infiziert, der v. a. im Nasopharynx vorkommt und dort Teil der physiologischen bakteriellen Flora ist. Aufgrund der guten Haftung des Keims auf der Haut ist eine Übertragung über die Hände möglich. Staphylococcus aureus ist sowohl gegen Temperaturen als auch Salze sehr unempfindlich. Alle Staphylokokken besitzen das Enzym Katalase, das die von Granulozyten produzierten Sauerstoffradikale abbauen kann. Die Koagulase befähigt die Keime zur Fibrinvernetzung, wodurch sie wahrscheinlich an der Bildung von Abszessmembranen beteiligt sind. Des Weiteren verfügen Staphylokokken über Protein A, das mit IgG interagiert, und α-Toxin, das zur Membranschädigung einer Vielzahl von Zellen führt. Das exfoliative Toxin führt durch Auflösung der Desmosomen zur Ablösung der äußeren Hautschichten (»scaled skin syndrome«, M. Ritter). Das »toxic shock syndrome« wird durch TSS-Toxin hervorgerufen. Ca. 50% der Staphylokokken produzieren des Weiteren hitzestabile Enterotoxine der Gruppen A–F, die häufig Ursache von Nahrungsmittelvergiftungen sind. Staphylococcus aureus kann auch sog. Superantigene produzieren, die die Fähigkeit besitzen, T-Zellen und Makrophagen direkt zu aktivieren, was zur nicht mehr regulierbaren Freisetzung von Tumornekrosefaktor (TNF) α, Interleukin (IL) 1 und 2 sowie Interferon führt. Diese Eigenschaft besitzen das exfoliative Toxin, TSS, das Enterotoxin und das erythrogene Toxin der Streptokokken der Gruppe A. Die durch Staphylococcus aureus hervorgerufenen Infektionen sind z. B. Furunkel und Karbunkel mit Abszessbildung, nosokomiale, postoperative Wundinfektionen, Spritzenabszesse oder Osteomyelitiden. Über fremdkörperassoziierte Infektionen kann das Bakterium eine Endokarditis verursachen, v. a. bei beatmeten Patienten spielt es eine Rolle bei Pneumonien. Über besiedelte Gefäßkatheter ist eine Sepsis möglich. Aufgrund der β-Laktamase-Produktion durch 60–80% der Stämme sind Penicilline mit Ausnahme der penicillinasefesten nicht zur Therapie geeignet. Cephalosporine der 1. und 2. Generation sind hier Mittel der Wahl. Problematisch ist die Resistenz gegen Methicillin bzw. Oxacillin, die oft mit einer Resistenz gegen weitere Antibiotikagruppen einhergeht, sodass viele Keime bereits eine Multiresistenz aufweisen. Der Einsatz von Glykopeptiden wie Teicoplanin oder Vancomycin ist dann erforderlich, aufgrund der Resistenzentwicklung auch gegen diese Substanzklasse möglichst in Kombination mit Rifampicin, Chinolonen, Fusidinsäure, Fosfomycin, Clindamycin oder Trimetoprim-Sulfamethoxazol. Auch Linezolid und Tigecyclin sind geeignet. Koagulase-negative Staphylokokken wie Staphylococcus epidermidis und andere sind Teil der physiologischen Flora, bilden den größten Teil der Hautflora und kommen praktisch ubiquitär vor. Von klinischer Bedeutung sind sie im Zusammenhang mit fremdkörperassoziierten Infektionen, insbesondere Kunststoffen. Dieser Keimgruppe fehlt die Koagulase, die Widerstandsfähigkeit entspricht der von Staphylococcus aureus. Die Patho-
13
218
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
genität zeigt sich insbesondere in der Fähigkeit, mittels eines Polysaccharidadhäsins auf Oberflächen zu haften und einen Biofilm zu bilden, der die Bakterien vor Phagozytose und Antibiotikawirkung weitgehend schützt. Im Zusammenhang mit Fremdkörpereinbringung kann es zur Besiedelung von Implantaten aller Art kommen. Zur Protheseninfektion sei hier auf Abschn. 13.3 verwiesen. Therapeutisch ist in erster Linie die Entfernung des Fremdkörpers erforderlich. Wegen der weitreichenden Konsequenzen bei Infektion sollte zur Sicherung eines eventuell positiven mikrobiologischen Ergebnisses die mehrfache Entnahme von tiefen Wundabstrichen angestrebt werden, um eine mögliche Kontamination von Proben auszuschließen. Die Resistenzlage entspricht der von Staphylococcus aureus.
Streptokokken
13
Streptokokken sind grampositive kugelige Bakterien, die meist in Paaren oder Ketten wachsen. Streptokokken besitzen keine Katalase. Sie werden nach ihrem Hämolyseverhalten in solche mit vollständigem (β-Hämolyse) und unvollständigem (α-Hämolyse, »vergrünend«) Hämoglobinabbau eingeteilt. Die Unterteilung in die Lancefield-Gruppen A, B, C, D, F und G hängt von zellwandständigen Polysacchariden ab. Streptococcus pyogenes (Lancefield-Gruppe A) zählt zu den β-hämolysierenden Streptokokken, kommt vorwiegend im Rachenraum von Kindern vor und wird durch direkten Kontakt oder Tröpfcheninfektion übertragen. Auch Vaginal- und Analbesiedelung und -infektionen kommen vor. Die Pathogenität des Keims ist multifaktoriell: In der Zellwand befindet sich zum Schutz vor Phagozytose Hyaluronsäure, das M-Protein schützt ebenfalls vor Phagozytose und vor Reaktionen des Komplementsystems, die C-Substanz ist zusammen mit Teilen der Zellwand gewebetoxisch und Lipoteichonsäure bewirkt die Anheftung an Wirtszellen. Extrazelluläres Produkt ist erythrogenes Toxin (Typ A–C), das zytotoxisch und pyogen wirkt (Typ A: Superantigen, siehe unter S. aureus). Superantigen A spielt vermutlich auch eine wichtige Rolle bei der nekrotisierenden Fasziitis. Streptolysin O ist toxisch gegen Erythrozyten und Herzmuskelzellen, Streptolysin S ebenso. Streptokinase aktiviert Plasminogen und löst so Fibrin auf, Hyaluronidase baut Hyaluronsäure ab. Weitere Proteinasen, DNasen und Amylasen sorgen für die phlegmonöse Ausbreitung von A-Streptokokken. Streptococcus pyogenes verursacht in erster Linie bei Kindern eine akute Pharyngitis bzw. bei Vorhandensein von erythrogenem Toxin Scharlach. Kommt es während der Infektion zur Antikörperbildung gegen M-Protein, kann dies zu einer Kreuzreaktion mit Herzklappengewebe, Myosin und der Basalmembran der Nierenglomeruli führen, was sich klinisch in rheumatischem Fieber, Poststreptokokken-Glomerulonephritis und Endokarditis äußern kann. Des Weiteren verursacht Streptococcus pyogenes das Erysipel, das sich durch Rötung, lymphangitisches Ödem und Allgemeinsymptome wie Fieber und Schüttelfrost sowie systemisch-toxische Reaktionen äußert. Sind Rumpf oder Extremitäten betroffen, kann es zur großflächigen Ausbreitung mit dramatischen Verläufen kommen. Eitrige Infektionen ten-
dieren zur phlegmonösen Ausbreitung. Mischinfektionen mit Staphylococcus aureus kommen vor. Eintrittspforte sind häufig minimale Hautverletzungen. Die nekrotisierende Fasziitis als foudroyanter Verlauf der Infektion wurde oben bereits beschrieben. Penicillin G ist die Therapie der Wahl bei Streptokokkeninfektionen. Alternativ kann auf Clindamycin oder Erythromycin ausgewichen werden, wobei hier die Resistenzlage berücksichtigt werden muss. Gegenüber Aminoglykosiden sind alle Streptokokken resistent. Streptococcus agalactiae (Lancefield-Gruppe B) als β-hämolysierende Streptokokken kommen in erster Linie als Flora der terminalen Darmabschnitte sowie der Anal- und Vaginalregion des Erwachsenen vor, sodass dieser Keim insbesondere in der Neonatologie von Bedeutung ist. Die übrigen β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppen C, G und F sind Teil der physiologischen Keimbesiedelung des Rachenraums. Die allgemeinen Eigenschaften sind die gleichen wie bei Streptococcus pyogenes. Streptokokken der Gruppe B besitzen einen CAMP-Faktor, der mit Phospholipasen zytolytisch wirkt, Hämolysin ist zytotoxisch. Die in Orthopädie und Traumatologie relevanten Infektionen sind Hautinfektionen, die überwiegend ältere und immunsupprimierte Patienten betreffen. Aufgrund der geringen Pathogenität sind sie meist Teil von Mischinfektionen. Resistenzlage und Therapieempfehlung sind mit der von Streptococcus pyogenes vergleichbar. Die vergrünenden Streptococcus pneumoniae (Pneumokokken) kommen gehäuft in den Atemwegen von Kindern und älteren Menschen vor, die Übertragung erfolgt über Tröpfcheninfektion. Ihre Empfindlichkeit gegenüber Umwelteinflüssen erschwert den kulturellen Nachweis. Eine den anderen Streptokokken ähnliche Polysaccharidsubstanz in der Kapsel schützt sie vor Phagozytose und ist für die Pathogenität verantwortlich. Es existieren über 80 verschiedene Serotypen. Wie der Name sagt, ist die häufigste Infektion, die durch Pneumokokken hervorgerufen wird, die Pneumonie, des Weiteren kommen Infekte des HNO-Bereichs sowie Meningitiden vor. > Der Verlust der Milz geht mit einem erheblich gesteigerten Risiko einer systemischen Pneumokokkeninfektion einher.
Mittel der Wahl bei Pneumokokkeninfektionen ist in Deutschland Penicillin G, in Südeuropa, Teilen Osteuropas oder den USA kommen resistente Stämme vor (teilweise über 50%). Bei Allergien oder Resistenzen können Erythromycin oder Cephalosporine eingesetzt werden, Tetracycline sollten wegen Resistenzentwicklung nur nach Antibiogramm gegeben werden.
Enterokokken Enterokokken gehören zur Darmflora, besiedelt werden auch Mundhöhle, Vagina und Urethra. Im nosokomialen Bereich kommen sie auch in der Trachea, in offenen Wunden und auf der Haut vor. Die Unterscheidung von Kontamination und Infektion kann daher erschwert sein. Gegenüber Umwelteinflüssen sind Enterokokken recht resistent. Am häufigsten werden bei Infektionen E. faecalis und E. faecium nachgewiesen.
219 13.1 · Weichteilinfektionen
Enterokokken sind Erreger von Harnwegsinfektionen, Wundinfektionen, Sepsis und Endokarditiden. Problematisch ist ihre ausgrägte primäre Resistenz gegen Antibiotika, die teils chromosomal (gegen sämtliche Cephalosporine, penicillinasefeste Penicilline, Clindamycin), teils plasmidkodiert ist. Bei therapeutisch erreichbaren Dosierungen von Aminoglykosiden besteht ebenfalls Resistenz. Bei systemischen Infektionen kann aufgrund eines synergistischen Effekts mit Gentamicin kombiniert mit Penicillin therapiert werden. Am wirksamsten ist bei Infektionen mit E. faecalis Ampicillin, für E. faecium liegt die Resistenzrate für diese Kombination mittlerweile bei 50–60%. Auch Glykopeptide werden zunehmend unwirksam, was durch Anwendung von Avoparcin in der Tiermast noch unterstützt wird. Als Reserveantibiotika bei Glykopeptidresistenz kommen Linezolid bzw. bei E. faecium die Kombination Quinupristin/ Dalfopristin infrage.
Grampositive, sporenlose Stäbchen Corynebacterium diphtheriae Corynebakterien sind aerobe, unregelmäßig geformte Stäbchen. Der bekannteste Vertreter ist C. diphtheriae. Neben der Rachendiphtherie kann auch die Wunddiphtherie vorkommen. Durch Impfung ist sowohl die Anzahl der Infektionen als auch der Träger stark zurückgegangen. Bei Reisenden bzw. Einwanderern aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion sollte jedoch daran gedacht werden. > Bereits der Verdacht auf eine Infektion ist ebenso wie Erkrankung und Tod durch Diphtherie meldepflichtig, der zuständige Mikrobiologe muss bei Eingang der Probe über den Verdacht unterrichtet werden.
Andere Corynebakterien Sie gehören zur Keimflora von Haut und Schleimhaut. Vergleichbar den Koagulase-negativen Staphylokokken können sie zu fremdkörperassoziierten Infektionen von Kathetern, Prothesen u. ä. führen. Wegen der teilweise schwierigen Resistenzlage sind die Infektionen schwer zu behandeln. Reserveantibiotika sind nach Austestung Glykopeptide, Linezolid und teilweise Quinupristin/Dalfopristin.
Andere grampositive, sporenlose Stäbchen Bakterien dieser Gruppe sind selten Erreger von Haut- und Weichteilinfektionen. Mycobacterium tuberculosis und M. bovis verursachen Abszesse in Knochen und Gelenken, atypische Mykobakterien können Lymphadenitiden mit Lymphknotenbeteiligung, insbesondere bei Immungeschwächten, hervorrufen. > Bei Verdacht auf eine Mykobakterieninfektion muss diese explizit im Untersuchungsauftrag an die Mikrobiologie nachgefragt werden!
Actinomyces spp. verursachen Aktinomykose. Diese geht meist von den oropharyngealen Schleimhäuten aus. Die Entstehung wird besonders durch Verletzungen des Oropharynx mit Nekrosen und schlechter Blutversorgung begünstigt. Die Infektion selbst zeigt sich granulomatös-putride und neigt zu
Abszedierung und Fistelung. Der Nachweis gelingt am ehesten mikroskopisch, ein spezielles Transportmedium kann erforderlich sein.
Grampositive, Sporen bildende Stäbchen Durch ihre Fähigkeit zur Sporenbildung sind diese Bakterien gegen Umwelteinflüsse extrem resistent und können auch in unbelebter Umgebung überleben. Sie sind ubiquitär verbreitet, sodass Wundinfektionen leicht vorkommen können.
Bacillus spp. Bacillus spp. kommen in Erde, auf Pflanzen und Gegenständen vor. Sie wachsen aerob. Für die Pathogenität relevant ist die Bildung von Hämolysinen und Lecithinase. Zu Infektionen kommt es in erster Linie durch Traumen mit Einbringung kontaminierten Materials, z. B. bei perforierenden Augenverletzungen, offenen Frakturen oder Weichteilverletzungen. Unterschieden werden muss jedoch die Kontamination von der klinisch relevanten und behandlungspflichtigen Infektion. Neben Wundinfektionen können einige Subspezies auch Sepsis, Meningitis, Endokarditis, Harnwegsinfektionen, Fremdkörperinfektionen und Lebensmittelintoxikationen verursachen. Mit zahlreichen Antibiotika, auch Penicillin G, können Bacillus-Infektionen in der Regel gut behandelt werden. B. cereus weist häufig Resistenzen gegen mehrere Antibiotika auf, reagiert aber gewöhnlich empfindlich auf Clindamycin oder Vancomycin. Vor Beginn der Therapie ist die Erstellung eines Antibiogramms erforderlich.
Bacillus anthracis Der Milzbranderreger ist ubiquitär verbreitet und besitzt aufgrund seiner Fähigkeit zur Bildung eines Exotoxins und Kapselbildung hohe Virulenz. B. anthracis verursacht durch Wundkontakt mit kontaminierten tierischen Materialien Hautmilzbrand, durch Inhalation Lungenmilzbrand und durch orale Aufnahme Darmmilzbrand. Der Keim ist für die meisten Warmblütler pathogen. Die Inkubationszeit beträgt 1–7 Tage. Der Nachweis gelingt im Abstrichpräparat mikroskopisch, in Speziallabors auch kulturell. Am häufigsten kommt Hautmilzbrand vor. Klinisch entwickelt sich schnell eine stark infiltrierte Papel. Sie ist schmerzlos und mit schwärzlichem Schorf bedeckt. Das Milzbrandkarbunkel fluktuiert nicht, die Umgebung ist meist stark gerötet. Die Allgemeinsymptomatik mit Fieber, Benommenheit, Herzrhythmus- und Kreislaufstörungen wird durch das Exotoxin hervorgerufen. Vom Primärherd aus kann sich eine schmerzhafte Lymphangitis entwickeln, die zur tödlich verlaufenden Milzbrandsepsis führen kann. Mit Antibiotikatherapie ist die Prognose jedoch recht gut. Lungenmilzbrand beginnt meist mit den Symptomen einer unspezifischen Atemwegsinfektion, es kann jedoch zu einer akuten Verschlechterung, der sogenannten Milzbrandpneumonie, kommen, die mit Hämoptoe, hohem Fieber, Schüttelfrost und Schock binnen 5 Tagen meist letal verläuft. Die Prognose des seltenen Darmmilzbrandes, der über sich schnell entwickelnde blutige Diarrhoen und Peritonitis zum
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Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
Schock führen kann, ist trotz antibiotischer Therapie ebenfalls schlecht. Zur Therapie stehen Penicillin, Tetracycline, Erythromycin, Chloramphenicol und Ciprolfloxacin zur Verfügung. Für Erkrankte besteht Isolationspflicht.
dieser Stelle auf die Bedeutung der aktiven Immunisierung mit Tetanustoxoid hingewiesen! Antibiotisch sollten Infektionen mit C. tetani wenn möglich mit Penicillin G behandelt werden. > Erkrankung und Tod durch Tetanus sind meldepflichtig.
> Verdacht, Erkrankung und Tod durch B. anthracis sind meldepflichtig.
Bei Verdacht auf Hautmilzbrand (Anamnese!) sollten wegen der Gefahr der Generalisierung chirurgische Manipulationen nicht durchgeführt werden. Bei Terrordrohungen im Zusammenhang mit B. anthracis sind die jeweiligen Rettungsleitzentralen Ansprechpartner, Informationen sind auf den Seiten des Robert-Koch-Instituts (www.rki.de) abrufbar.
Clostridien Clostridien sind obligat anaerob. Sie kommen als Sporen in der unbelebten Umgebung vor, als vegetative Form im Darm. Clostridium perfringens und andere echte Gasödemerreger: Die Pathogenität dieser Bakterienspezies beruht auf
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der Toxinbildung unterschiedlicher Art und der vor Phagozytose schützenden Kapsel. Die Toxine verstärken sich gegenseitig und wirken zelltoxisch, wodurch eine ausgeprägte Gewebeschädigung entstehen kann. Des Weiteren bilden Clostridien mittels ihres Stoffwechsels Gas. Gasbrand entsteht entweder durch eine penetrierende Verletzung mit einem sporentragenden Material oder endogen, z. B. durch Darmwandverletzungen. Damit aus der Kontamination eine Infektion wird, sind anaerobe, also gedeckte Verhältnisse, Voraussetzung. Gasbrand in Verbindung mit einer Mischinfektion ist meist recht unkompliziert zu behandeln. Verläufe mit foudroyanter Muskelnekrose, schneller Ausbreitung und Toxinämie enden häufig tödlich. Therapeutisch ist Penicillin G das Mittel der Wahl, entscheidend ist jedoch die schnelle chirurgische Sanierung, hyperbare Sauerstofftherapie und intensivmedizinische Versorgung. > Erkrankung und Tod durch Gasbrand sind meldepflichtig. Clostridium tetani ist sehr beweglich und produziert mehrere Toxine, wovon Tetanospasmin das für die Pathogenität entscheidende ist. Durch Hemmung der Glycin und GABA freisetzenden synaptischen Vesikel der hemmenden Zwischenneurone des Rückenmarks kommt es zu Spasmen der durch die Motoneurone innervierten Muskulatur, auch das vegetative Nervensystem ist gestört. Zur Symptomatik führt ausschließlich das Toxin, das langsam von der Eintrittspforte entlang der Nervenfaser zum Rückenmark wandert. Somit setzen die Symptome mit einer Latenz von ca. 4–14 Tagen ein. Wichtig ist daher im Falle einer Verletzung eine ausgiebige Wundtoilette, um die Vermehrung des Erregers zu verhindern, außerdem die passive Immunisierung mit Antitoxin. Haben die Symptome bereits eingesetzt, ist die Prognose auch unter Therapie schlecht. Daher sei an
Gramnegative Kokken Neisseria meningitidis (Meningokokken) N. meningitidis kommt im Nasen-Rachen-Raum vor. Die Übertragung geschieht über Tröpfcheninfektion, besonders gehäuft in Kindergärten, Schulen u. ä Einrichtungen. Der mikrobiologische Nachweis des empfindlichen Keims gelingt am besten in nativem Liquor bzw. in aeroben Blutkulturen. Durch ein Endotoxin löst N. meningitidis die Freisetzung von z. B. TNF-α und IL-1 aus, die Fieber, hypotones Kreislaufversagen, disseminierte intravasale Gerinnung und Störungen der Mikrozirkulation hervorrufen. N. meningitidis ist bis zum Alter von 50 Jahren der häufigste Erreger einer bakteriellen Meningitis. In seiner schwersten Verlaufsform, dem Waterhouse-Friderichsen-Syndrom, steht der Endotoxinschock im Vordergrund. Hierbei entstehende hämorrhagische Nekrosen der Haut können Indikation zu chirurgischem Eingreifen sein. Penicillin G ist Mittel der Wahl, Cephalosporine der 3. Generation können ebenfalls eingesetzt werden. Für exponierte Personen wird zur Chemoprophylaxe Rifampicin oder Ciprofloxacin (nur Erwachsene) empfohlen. > Erkrankung und Tod an Meningokokken-Meningitis sind meldepflichtig.
Gramnegative Stäbchen Im Folgenden werden nur die für Orthopädie und Traumatologie relevanten Keime beschrieben, sofern sie bei Weichteilinfektionen eine Rolle spielen.
Enterobacteriaceae Enterobacteriaceae sind fakultativ anaerobe gramnegative Stäbchen, die großteils in der menschlichen Darmflora nachweisbar sind. Infektionen haben meist einen fäkalen Ursprung. Enterobacteriaceae werden über Fäkalien von Mensch und Tier in der Umwelt, so z. B. auf Pflanzen, in Gewässern und unhygienisch hergestellten Lebensmitteln, verbreitet. Von Bedeutung sind für noskomiale Wundinfektionen Escherichia coli, Enterobacter, Klebsiella, Serratia, Citrobacter, Morganella, Proteus, Hafnia und Salmonellen. Die Anzüchtung der Keime gelingt in der mikrobiologischen Untersuchung in der Regel gut, da sie aerob bzw. fakultativ anaerob und sehr temperaturunempfindlich sind. Ihre Pathogenität beruht ähnlich der der Meningokokken auf einem Endotoxin, zudem sind einige Spezies durch eine Polysacharidkapsel vor Phagozytose geschützt. E. coli, Salmonellen und einige andere Arten produzieren außerdem Enterotoxine. E. coli führt häufig zu nosokomialen Harnwegsinfektionen, Klebsiella und Enterobacter spp. zu Pneumonien, einige
221 13.1 · Weichteilinfektionen
Spezies verursachen postoperative Wundinfektionen, Peritonitis, Katheterinfektionen und Sepsis. Salmonella enteritidis als Erreger der Salmonellenenteritis ist wegen seiner Neigung zur Abszessbildung, z. B. im Rahmen von Spondylodiszitiden, von Bedeutung. Die Resistenzlage dieser Keime ist problematisch, da sie durch häufigen Antibiotikaeinsatz über eine unterschiedliche Anzahl natürlicher und erworbener Resistenzmechanismen verfügen. Mittlerweile sind gegen jede verfügbare Antibiotikaklasse Resistenzen bekannt, am geringsten ist die Rate bei Carbapenemen, eine Therapie sollte erst nach Austestung mit Antibiogramm erfolgen.
Pseudomonas aeruginosa Pseudomonas aeruginosa kommt überall dort vor, wo es ausreichend feucht ist, sogar in Wasserleitungen für destilliertes Wasser und Desinfektionsmittellösungen. Typisch ist der süßliche Geruch sowie die häufig grüne, rote, blaue oder braune Koloniefärbung, an der man z. T. auch schon die Weichteilinfektionen erkennen kann. Seine Pathogenität erhält der Keim durch die Bildung von Zytotoxinen und Proteasen, die der Ausbreitung dienen, sowie Fimbrien zur Anheftung. Einige Stämme bilden auch schleimiges Alginat zum Schutz vor Phagozytose. Exotoxin A hemmt, vergleichbar mit Diphtherietoxin, die Proteinsynthese der Wirtszelle. Die Farbstoffe haben eine hemmende Wirkung auf andere Bakterien. P. aeruginosa ist ein typischer Erreger opportunistischer Infektionen, der klinisch bedeutsam wird, wenn die systemische oder lokale Abwehr gemindert ist. Somit kommt er häufig vor beim Ulcus cruris, diabetischer oder arteriosklerotischer Gangrän. Die klinische Symptomatik ist meist mild. Anders ist dies bei Verbrennungen: als häufigster Keim in Brandwunden, deren lokale Abwehr nahezu aufgehoben ist, führt er bei solchen Patienten auch zur Sepsis. Neben diesen Wundinfektionen spielt der Keim auch eine große Rolle bei nosokomial erworbenen Pneumonien, Harnwegsinfektionen, postoperativen Meningitiden und Ventrikulitiden sowie als Sepsiserreger. Die Schwierigkeiten in der Behandlung liegen in der weiten Verbreitung und der Multiresistenz des Erregers begründet. Durch β-Laktamase-Bildung ist er gegen viele Penicilline und Cephalosporine unempfindlich, außerdem kann der Keim unter einer laufenden Antibiose weitere Resistenzmechanismen exprimieren. Es wurden bereits Resistenzen gegen alle verfügbaren Antibiotikaklassen nachgewiesen. Zur Vermeidung einer noch schnelleren und häufigeren Resistenzentwicklung gilt auch hier, die Therapie möglichst nur nach Antibiogramm mit einem möglichst wenig breit wirksamen Antibiotikum durchzuführen.
Stenotrophomonas maltophilia S. maltophilia ist weitgehend mit P. aeruginosa vergleichbar, sowohl was Vorkommen und Pathogenität als auch klinische Infektionen betrifft. Hervorzuheben ist jedoch seine Fähigkeit zur Produktion von Metallo-β-Laktamasen. Dadurch verfügt er über eine natürliche Resistenz gegen Carbapeneme. S. maltophilia weist unter den klinisch relevanten gramnegativen
Bakterien die meisten Isolate mit Resistenzen gegen alle Antibiotika auf. Eine genaue Resistenzprüfung vor Therapiebeginn ist daher unbedingt erforderlich.
Acinetobacter spp. Acinetobacter spp. sind mit den oben beschriebenen Nonfermentern vergleichbar, sind jedoch nicht so sehr auf Feuchtigkeit angewiesen. A. baumanii ist die Spezies, die am häufigsten im Zusammenhang mit nosokomialen Infektionen nachgewiesen wird und Resistenzen gegen Antibiotika aufweist. Die Resistenzlage ist ebenfalls ähnlich: A. baumanii weist oft Resistenzen gegen Penicilline, Cephalosporine, Aminoglykoside und Chinolone auf. β-Laktamase-Inhibitoren wie Sulbactam haben jedoch eine intrinsische antibakterielle Aktivität gegen Acinetobacter spp., sodass therapeutisch die Kombination von β-Laktamase-Inhibitoren mit Penicillinen angewandt werden kann, ebenso wie Carbapeneme. Vereinzelte Resistenzen sind allerdings auch gegen diese Antibiotika bekannt.
Pasteurella multocida Da der Erreger Bestandteil der Schleimhautflora von Tieren ist, kommen Infektionen mit P. multocida in erster Linie bei Personen mit häufigem Tierkontakt oder Opfern von Bissverletzungen vor. Der Keim ist fakultativ anaerob und empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen, sodass die Anzüchtung schwierig sein kann. Für seine Pathogenität sind Neuramidasen, Hyaluronidase, ein Hämagglutinin und bei einigen Stämmen ein Exotoxin verantwortlich. Binnen weniger Stunden kann es nach Tierbissen zur Infektion mit seröser oder putrider Sekretion und Schwellung der Lymphbahnen kommen. Hämatogen oder lymphogen kann sich die Infektion ausbreiten. Gegen Penicillin G ist P. multocida sensibel, es ist daher Mittel der Wahl. Des Weiteren können gegen gramnegative Keime wirksame andere Penicilline, Cephalosporine oder Chinolone eingesetzt werden. z Therapie z z Antibiotikatherapie
Um weitere Resistenzbildungen zu vermeiden, muss die Indikation zum Einsatz von Antibiotika stets gut überdacht werden. Kommt man zu dem Schluss, dass der Einsatz unumgänglich ist, sollten folgende Prämissen gelten: An erster Stelle steht die Diagnostik. Klinisch kann häufig die wahrscheinliche Ursache der Infektion eingegrenzt werden, mikrobiologisch muss der Nachweis des vorhandenen Keimspektrums untersucht werden. Zur Festlegung der Therapie ist eine Resistenztestung erforderlich. Die Therapieauswahl richtet sich dann nach der Grunderkrankung, der Begleitsymptomatik, der Anamnese, den anzunehmenden Herden und den bereits stattgefundenen Therapien. Bei erfolgtem Erregernachweis muss die begonnene Therapie auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Zudem muss bei neu hinzugekommenen Infektzeichen die Diagnostik wiederholt werden. Therapieempfehlungen in Anlehnung an Nerlich und Berger (2003) zum Antibiotikaeinsatz bei häufiger auftretenden Infektionen sind in ⊡ Tab. 13.3 dargestellt.
13
222
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
⊡ Tab. 13.3 Therapieempfehlungen zum Antibiotikaeinsatz bei häufiger auftretenden Infektionen
13
Diagnose
Häufige Erreger
Therapie
Bemerkungen
Primär
Sekundär
Panaritium
S. aureus, Anaerobier
Clindamycin
Erythromycin
Lokaler antiseptischer Therapieversuch
Panaritium mit tiefer Beteiligung von Knochen oder Sehnen
S. aureus, Anaerobier
Clindamycin
Erythromycin
Antibiose und chirurgische Therapie
Furunkel, Karbunkel
S. aureus
–
–
Chirurgische Therapie
Furunkel mit Zellulitis oder systemischen Infektzeichen
S. aureus
PRSP, Cefazolin
–
Chirurgische Therapie
Phlegmone
S. pyogenes, Mischinfektion
Penicillin G
Erythromycin
Chirurgische Therapie
Erysipel
S. pyogenes
Penicillin G
Erythromycin, Cefazolin
–
Infizierte Gangrän
Oft Mischinfektion: S. aureus, Anaerobier, Clostridien, Streptokokken, gramnegative Stäbchen
Clindamycin, Cefazolin; bei Beteiligung gramnegativer Keime: Cefoxitin, Aminopenicillin + β-Laktamase-Inhibitor; bei schweren Verläufen: Ciprofloxacin + Metronidazol, Piperacillin + β-Laktamase-Inhibitor
–
–
Nekrotisierende Fasziitis (durch Streptokokken A)
S. pyogenes, Streptokokken C und G, manchmal polymikrobiell
Penicillin (>24 Mega/Tag) + Clindamycin
3. Gen. Cephalosporin oder Erythromycin
Sofortige chirurgische Intervention und mikrobiologische Diagnostik
Gasgangrän, -ödem
Clostridium spp., polymikrobiell
Penicillin + 3. Gen. Cephalosporin + Metronidazol
Piperacillin + β-Laktamase-Inhibitor
Sofortige chirurgische Intervention und mikrobiologische Diagnostik
Postoperative Wundinfektion
S. aureus, S. pyogenes, Enterobacteriaceae
Nicht septisch: 1. oder 2. Gen. Cephalosporin oder Aminopenicillin + β-Laktamase-Inhibitor
PRSP (+ Chinolon)
Zuerst Diagnostik: Direktpräparat, Kultur
Septisch: Piperacillin + β-Laktamase-Inhibitor
2. oder 3. Gen. Cephalosporin
Septische Bursitis
S. aureus, selten: Mykobakterien
PRSP
1. Gen. Cephalosporin
Schweißdrüsenabszess
S. aureus, Enterobacteriaceae
Nach Diagnostik
–
Diagnostik durch Aspirat
Verbrennungen
Nicht infiziert
Silbersulfadiazin
Silbernitrat
Mit Sepsis: Enterobacteriaceae, P. vaeruginosa, S. aureus
Früh: Aminopenicillin + β-Laktamase-Inhibitor; spät: Piperacillin (oder Ceftazidim) + Aminoglykosid + Vancomycin
DD: Pneumonie, laufende Diagnostik der Kolonisation, ggf. topische Antibiose
DD Differenzialdiagnose; Gen. Generation; PRSP penicillinasefeste Penicilline (Oxacillin und Derivate)
13.2
Gelenkinfektionen
G. Stutz z
Synonyme
Gelenkempyem, Pyarthros, septische Arthritis z
Definition
Ein Gelenkinfekt ist eine chronische oder akute entzündliche Erkrankung eines Gelenks, die durch Infektionserreger verursacht wird. Diese können auf unterschiedlichen Wegen das Gelenk erreichen. Synovialmembran und Gelenkknorpel be-
einflussen die Eigenschaften eines Gelenkinfekts. Es lassen sich zwei verschiedene Arten von Gelenkinfekten (Neugebauer u. Graf 2004) unterscheiden: ▬ Der primäre oder exogene Gelenkinfekt tritt als Komplikation nach therapeutischen Eingriffen auf (z. B. Punktionen, Infiltrationen, Operationen) oder entsteht direkt bei traumatischer Eröffnung des Gelenks durch Kontamination mit Infektionserregern. ▬ Der sekundäre oder endogene Gelenkinfekt wird durch die hämatogene Streuung von Infektionserregern über die Blutbahn ins betroffene Gelenk verursacht.
223 13.2 · Gelenkinfektionen
z
Klassifikation
Nach Gächter (1985) können Gelenkinfekte nach ihren arthroskopischen und radiologischen Charakteristika in 4 Stadien eingeteilt werden (⊡ Abb. 13.7 bis ⊡ Abb. 13.11). Arthroskopische Stadieneinteilung nach Gächter
▬ Stadium I: – – – –
trübe Synovia Rötung der Synovialmembran mögliche petechiale Blutungen keine radiologischen Veränderungen
▬ Stadium II: – schwere Entzündungen mit Fibrinablagerungen – Pus – keine radiologischen Veränderungen
▬ Stadium III: – Verdickung der Synovialmembran – Kompartmentformation (badeschwammähnliches Bild insbesondere im Recessus suprapatellaris) – noch keine radiologischen Veränderungen
⊡ Abb. 13.7 Infekt Stadium III nach Gächter (Erreger: Candida parapsilosis): arthroskopischer Befund
▬ Stadium IV: – aggressive Pannusbildung mit Infiltration und evtl. Unterminierung des Knorpels – radiologisch subchondrale Osteolysen, knöcherne Erosionen- und Zystenbildung
Nach Kuner et al. (1987) werden anhand klinischer Befunde 4 Stadien unterschieden. Klinische Stadieneinteilung nach Kuner
▬ Stadium I – purulente Synovialitis: Schwellung über dem Gelenk, Haut gerötet, glänzend, überwärmt, Ergussbildung, Schonhaltung ▬ Stadium II – Gelenkempyem: zusätzlich periartikuläre Schwellung und Rötung, starke spontane Schmerzhaftigkeit, Druckdolenz über der Kapsel, Entlastungsstellung in Beugung, Fieber ▬ Stadium III – Panarthritis: massive Weichteilschwellung, prallgespannte glänzende Haut, extreme Schmerzhaftigkeit, septische Temperaturen, Beeinträchtigung des Allgemeinzustands ▬ Stadium IV – chronische Arthritis: geringe Entzündungszeichen, Deformierung und diffuse Schwellung des Gelenks, Fistelbildung oder starke Vernarbung, schmerzhafte Instabilität, starke funktionelle Behinderung
z
⊡ Abb. 13.8 Infekt Stadium IV nach Gächter (Erreger: Candida parapsilosis): MRT-Befund mit deutlicher ossärer Beteiligung medialbetont
Ätiologie und Pathogenese
Die hämatogene Streuung von Infektionserregern im Rahmen einer infektiösen Grunderkrankung ist die häufigste Ursache einer Gelenkinfektion. Die Häufigkeit in der Bevölkerung beträgt 2–10 Fälle/100.000 Einwohner. Bezüglich Häufigkeit folgen die postoperativen und iatrogenen Infektionen (Infiltrationen, Punktionen) und die Infektionen nach traumatischer Gelenkeröffnung.
⊡ Abb. 13.9 Infekt Stadium IV nach Gächter (Erreger: Candida parapsilosis): intraoperativer Befund bei offener Revision infolge Fortschreiten des Infekts mit Gelenkdestruktion trotz arthroskopischem Débridement und i.v.-Antimykotikatherapie
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224
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
Risikofaktoren
Nach Voroperationen ist das Risiko für die Entstehung eines Gelenkinfekts erhöht (McAllister et al. 1999). Intraartikuläre Injektionen führen in 0,003–0,34% zu exogenen Gelenkinfektionen. Insbesondere durch den Zusatz von Kortikosteroiden wird das Infektrisiko erhöht (Ganzer et al. 2001). Eine Schwächung des Immunsystems durch internistische Grunderkrankungen, Infektionserkrankungen, vorbestehende Gelenkerkrankungen bzw. -verletzungen, medikamentöse Immunsuppression und Drogenmissbrauch begünstigen das Auftreten eines Gelenkinfekts. Die Operationsdauer, die Zahl invasiver Vorbehandlungen und Voroperationen sowie die Verwendung von synthetischem Material erhöhen das Infektrisiko. Altersabhängig steigt das Infektrisiko ebenfalls an. Postoperative Infektionen nach Arthroskopien
a
b
⊡ Abb. 13.10a,b Infekt Stadium IV nach Gächter (Erreger: Candida parapsylosis): Zustand nach 2-maligem offenem Débridement und ossärer Resektion nach vorübergehender Ruhigstellung im Fixateur externe mit Zement-Spacer-Einlage (Tuberositasosteotomie mit 2 Zugschrauben fixiert). a Strahlengang a.p., b seitlich
13
a
Nach arthroskopischen Eingriffen allgemein wird die Häufigkeit von Gelenkinfekten mit 0,04–0,28% angegeben, nach diagnostischen Arthroskopien mit 0,1–0,42%. Nach Arthrotomie beträgt die Infekthäufigkeit 0,02–0,08%. Berjano und Mitarbeiter (1998) stellten nach Schulterarthroskopien eine Infektrate von 0,71% fest. Bei Arthroskopien am Ellenbogen fanden sich postoperative Gelenkinfekte in 0,8% (Kelly et al. 2001), am Hüftgelenk in 0,09% (Clarke et al. 2003). Erregerspektrum
Staphylococcus aureus (⊡ Abb. 13.12) ist der am häufigsten nachgewiesene Erreger eines Gelenkinfekts, gefolgt von Staphylococcus epidermidis, hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A, Pneumokokken, Pseudomonas aeruginosa, Proteus mirabilis, Escherichia coli, Haemophilus influenzae, Propionibakterien und Salmonellen. Gonokokken werden nur noch selten als Erreger von Gelenkinfektionen nachgewiesen. Auch seltene aerobe und anaerobe Keime sowie Pilze können einen Gelenkinfekt verursachen. Der bakteriologische Nachweis der Erreger gelingt in 63–100% der Fälle. Zum Nachweis einzelner Bakterienarten wie Propionibakterien kann eine verlängerte Bebrütungszeit der bakteriologischen Proben erforderlich sein.
b
⊡ Abb. 13.11a,b Zustand nach ausgeheiltem Infekt Stadium IV (4 Monate Zementspacer und antimykotische Therapie): Varus-valgus-constrained-Kniegelenktotalendoprothese. a Strahlengang a.p., b seitlich
⊡ Abb. 13.12 Staphylococcus aureus (mikroskopisches Präparat; Gramfärbung, Vergrößerung 1: 1000)
225 13.2 · Gelenkinfektionen
z
Klinik
Die schmerzhafte Bewegungseinschränkung, Überwärmung und periartikuläre Rötung des betroffenen Gelenks sind die typischen Symptome eines Gelenkinfekts. Febrile Temperaturen sind häufig, jedoch nicht zwingend nachzuweisen. Ebenfalls können weitere klinische Symptome wie Follikulitis, Lymphangitis und Lymphadenitis auftreten. Diese Symptome sind allerdings unspezifisch und können auch von anderen, nicht infektiösen Arthritiden provoziert werden. Die Abgrenzung eines Gelenkinfekts von einer Chondrokalzinose ( Abschn. 33.1), einem CRPS (»complex regional pain syndrome«, Kap. 14) oder einer reaktiven Arthritis ( Abschn. 33.1) kann schwierig sein, insbesondere da diese Erkrankungen auch kombiniert auftreten können. Unter Antibiotikatherapie und Immunsuppression sowie auch im Rahmen von immunsupprimierenden Erkrankungen können die Symptome nur schwach ausgeprägt sein oder praktisch vollständig fehlen. Bei ausgeprägter Adipositas können die Symptome evtl. erst im fortgeschrittenen Stadium feststellbar werden. Am Schultergelenk sind die Symptome oft abgeschwächt (Jeon et al. 2006, Kieser 2001). Eine vorangegangene intraartikuläre Kortikosteroidapplikation kann ebenfalls die Symptome des Gelenkinfekts maskieren. > In über 95% ist nur ein großes Gelenk infiziert, es können jedoch auch mehrere Gelenke betroffen sein.
Bei postoperativen Gelenkinfekten findet sich meist eine Rötung evtl. verbunden mit Austritt von Pus im Bereich des Operationszugangs, evtl. kann auch eine lokale Fistelbildung vorliegen. Bei Kindern haben Gelenkinfekte alters- und erregerabhängige Besonderheiten und müssen insbesondere von nicht infektiösen Arthritiden abgegrenzt werden ( Kap. 33.1). z
Diagnostik
Bei Verdacht auf das Vorliegen eines Gelenkinfekts ist eine Routinelaboruntersuchung mit Bestimmung der Leukozytenzahl, Differenzialblutbild und C-reaktivem-Protein-Wert indiziert. Das C-reaktive Protein ist ein sensitiver Parameter in der Diagnostik und Verlaufsbeurteilung von Gelenkinfekten
(Simank et al. 2004). Bei Verdacht auf eine Bakteriämie können Blutkulturen einen Erregernachweis erbringen. Zusätzlich ist ein Nativröntgen des betroffenen Gelenks zum Nachweis bzw. Ausschluss einer knöchernen Mitbeteiligung der Infektion erforderlich. Eine Ultraschalluntersuchung kann über Gelenkerguss und evtl. vorhandene periartikuläre Flüssigkeitsansammlungen Aufschluss geben. Zur Beantwortung spezifischer Fragestellungen können weitere diagnostische Verfahren indiziert sein (MRT, CT, Szintigraphie), zudem können serologische Verfahren die Diagnostik spezieller Arthritisformen (z. B. Borrelien, Lues) und spezifischer Begleiterkrankungen ermöglichen. Diese Zusatzuntersuchungen sind teuer und sollten daher nicht routinemäßig, sondern nur bei speziellen Fragestellungen eingesetzt werden. Durch eine Punktion des betroffenen Gelenks unter sterilen Bedingungen wird Synovia bzw. Gelenkerguss für die mikroskopische Schnellbakteriologie und weitere mikrobiologische Analyse gewonnen. Die Punktion muss möglichst vor dem Beginn einer antibiotischen Therapie erfolgen, um keine falsch-negativen Resultate zu erhalten. Die Untersuchung des Punktats erlaubt differenzialdiagnostische Rückschlüsse auf die Erkrankung des Gelenks (⊡ Tab. 13.4). > Eine Zellzahl >50.000/ml und ein pH-Wert >7 mmol/l in der Punktatanalyse sind praktisch beweisend für einen Gelenkinfekt. Intraoperative Abstriche und Biopsieproben werden zusätzlich entnommen. Johnson und Freemont (2001) stellten hierdurch eine erhöhte Rate des Erregernachweises fest. Wichtig für die Diagnostik und die spezifische Therapie eines Gelenkinfekts ist der Nachweis der Erreger im Schnellbakteriologiepräparat und die Anzüchtung in Erregerkulturen mit Antibiogramm. Trotz negativem Bakteriologieresultat kann ein Gelenkinfekt vorliegen, insbesondere wenn mit einer antibiotischen Therapie bereits vor der Entnahme der Bakteriologieproben begonnen wurde. Wenn eine hämatogene Streuung als Ursache der Gelenkinfektion vermutet wird, muss eine Fokussuche erfolgen. Zahnstatus, Wirbelsäule und benachbarte Knochen sollten in diese Abklärung mit einbezogen werden.
⊡ Tab. 13.4 Differenzialdiagnostik des Gelenkpunktats. (Nach Chapman 2001) Charakteristik
Normal
Nicht inflammatorisch
Inflammatorisch
Purulent
Hämorrhagisch
Farbe
Farblos
Xanthochrom
Xanthochrom bis weiß
Erregerabhängig
Xanthochrom bis dunkelrot
Transparenz
Klar
Klar
Durchsichtig bis trüb
Trüb
Trüb
Viskosität
Hoch
Hoch
Niedrig
Eher hoch
Hoch
Leukozyten/mm3
200
200–2000
2000–60.000 (Ø 20.000)
>50.000 (Ø 100.000)
Variabel
Polymorphe Leukozyten [%]
~25
~25
~75
<75
Variabel, meist <75
Glukose
Ähnlich Blutwert
Ähnlich Blutwert
Niedriger als Blutwert
<50% des Blutwertes
Ähnlich Blutwert
Kultur
Negativ
Negativ
Negativ
Positiv/negativ
Negativ
Spontane Clots
Keine
Selten
Häufig
Oft
Oft
13
226
z
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
Therapie
> Die Diagnose eines Gelenkinfekts erfordert eine unverzügliche notfallmäßige Therapie!
Zur Behandlung eines Gelenkinfekts wird heute allgemein die Kombination aus operativer und antibiotischer Therapie empfohlen. Durch arthroskopische Spülung mit Antibiotikatherapie konnten gute bis sehr gute klinische Resultate bei Kindern und Erwachsenen an verschiedenen Gelenken erreicht werden (Kim et al. 2003, Parisien u. Shaffer 1992, Skyhar u. Mubarak 1987). Im Vergleich zur Arthrotomie mit subtotaler Synovektomie erzielten Wirtz und Mitarbeiter 2001 durch arthroskopisches Débridement bessere funktionelle Resultate. z z Operative Therapie
13
Die Therapie eines Gelenkinfekts muss frühestmöglich eingeleitet werden. Bereits bei Verdacht auf das Vorliegen eines Gelenkinfekts ist eine arthroskopische Spülbehandlung indiziert. Wird die Behandlung verzögert, können durch das Fortschreiten des Infektes für den Patienten lebensbedrohliche Komplikationen auftreten. Die Behandlungsprinzipien sind an allen Gelenken identisch, allerdings müssen am Schultergelenk der Subakromialraum und ggf. das Akromioklavikulargelenk in die Behandlung mit einbezogen werden. Im Stadium I und II des Gelenkinfekts ist eine arthroskopische Spülbehandlung kombiniert mit einer intravenösen Antibiotikatherapie in der Regel ausreichend. Im Stadium III wird häufig die arthroskopische Entfernung von Adhäsionen, Fibrinsträngen und Synovialisverdickungen erforderlich. Die Synovialmembran sollte hierbei als physiologische Barriere gegen die extraartikuläre Ausbreitung des Infekts möglichst intakt bleiben. Eine primäre Synovektomie sollte daher vermieden werden (Gächter 1993). Im Stadium IV ist ein arthroskopisches Vorgehen nicht ausreichend. Eine offene Revision mit Débridement und Lavage des Gelenks ist hier erforderlich. > Auch trotz aggressiver Therapie kann ein Gelenkinfekt fortschreiten und ein höheres Infektstadium erreichen. Entsprechend muss die Behandlung angepasst und ggf. intensiviert werden.
Im Verlauf werden klinische Symptomatik und Laborparameter engmaschig kontrolliert. Das C-reaktive Protein ist der wichtigste Laborverlaufsparameter. Wenn im Verlauf die klinischen Symptome nicht zurückgehen und/oder die Laborparameter nicht regredient sind, ist eine wiederholte arthroskopische Spülung indiziert. Hierbei muss beachtet werden, dass durch die arthroskopische Spülung evtl. nicht sämtliche Bereich des Gelenks erreicht werden können. Insbesondere bei Baker-Zysten, liegenden Transplantaten (vorderes/hinteres Kreuzband etc.) und Fremdmaterial (Allograft, Fadenanker, Nahtmaterial, Interferenzschrauben etc.) ist dies möglich. Hier kann eine offene Revision indiziert sein. Diese kann ebenfalls bei einer extraartikulären Ausbreitung des Infekts erforderlich sein. Der Zusatz von Antibiotika und Antiseptika zur Arthroskopieflüssigkeit wird diskutiert (Attmannspacher 2002). Nach unseren eigenen Erfahrungen sind diese Zusätze nicht erforderlich (Stutz u. Gächter 2001). Einige Antiseptika (z. B. Lavasept)
⊡ Abb. 13.13 Austritt von Pus aus dem Arthroskopieportal bei Arthroskopie eines linken Schultergelenks
sind aufgrund knorpeltoxischer Wirkungen bei intraartikulärer Anwendung kontraindiziert, da sie schwere Knorpelschäden verursachen können. Drainagen sind in der Regel nicht erforderlich; falls sie dennoch verwendet werden, sollten sie frühestmöglich entfernt werden, um eine Sekundärinfektion durch Keimaszension zu verhindern. Zu den Behandlungsprinzipien bei Protheseninfekten und Gelenkinfekten ohne Implantat vergleiche Abschn. 13.3). Postoperative Nachbehandlung
Nach der operativen Revision sollte das betroffene Gelenk möglichst nur kurze Zeit zur Schmerzbehandlung und zur Beruhigung der Weichteile ruhiggestellt werden. Frühestmöglich wird mit der zunächst schmerzadaptierten passiven Mobilisation auf einer Motorschiene begonnen (CPM-Schiene) und rasch eine zusätzliche aktive Bewegung unter physiotherapeutischer Anleitung durchgeführt. Ziel ist eine möglichst rasche und vollständige funktionelle Wiederherstellung des betroffenen Gelenks. Während der Ruhigstellung muss eine Thromboseprophylaxe erfolgen. z z Antibiotikatherapie
Der Beginn der Antibiotikatherapie sollte erst intraoperativ nach Entnahme von Bakteriologie- und Histologieproben erfolgen, um deren Resultate nicht zu verfälschen. Die Behandlung erfolgt intravenös mit einem Breitbandantibiotikum. Hierdurch sollen aerobe und anaerobe Keime therapeutisch erreicht werden. Diese Therapie wird bis zum Erhalt der Bakteriologieresultate mit Antibiogramm weitergeführt und entsprechend angepasst. Bei Problemkeimen muss evtl. eine Kombinationsantibiotikatherapie erfolgen, in der Regel ist jedoch eine Monotherapie ausreichend. ⊡ Tab. 13.5 zeigt eine Zusammenstellung der an unserer Klinik verwendeten unspezifischen und spezifischen Antibiotikadosierungen bei Gelenkinfekten ohne liegendes Implantat. Bei liegendem Fremdmaterial (Fadenan-
227 13.2 · Gelenkinfektionen
⊡ Tab. 13.5 St. Gallener Empfehlung zur Antibiotikatherapie von Gelenkinfekten (ohne Implantat) bei nachgewiesener Sensibilität der Erreger im Antibiogramm Erreger
Antibiotikum
Tagesdosis i.v.
Primär empirisch bis zum Erregernachweis
Amoxicillin/Clavulansäure (z. B. Augmentin®, Augmentan® )
4-mal 2,2 g
Staphylococcus aureus
Flucloxacillin (z. B. Floxapen®, Staphylex®)
4-mal 2 g
Staphylococcus epidermidis
Flucloxacillin
4-mal 2 g
β-hämolysierende Streptokokken Gruppe A
Penicillin
6-mal 4 Mio. IE
Pneumokokken
Penicillin
6-mal 4 Mio. IE
Pseudomonas aeruginosa
Gemäß Antibiogramm, kombinierte Therapie
Proteus mirabilis
Ceftriaxon
1-mal 2 g
E. coli
Ceftriaxon
1-mal 2 g
Haemophilus influenzae
Ceftriaxon
1-mal 2 g
Propionibakterien
Amoxicillin (z. B. Clamoxyl®)
6-mal 2 g
Salmonellen
Ceftriaxon
1-mal 2 g
Gonokokken
Ceftriaxon
1-mal 2 g
Methicillin-resistente S. aureus
Vancomycin (z. B. Vancocin®)
2-mal 1 g
kern, Interferenzschrauben, Transplantaten), das nicht entfernt werden kann oder soll, ist eine Kombinationsantibiotikatherapie erforderlich. Klinischer und laborchemischer Verlauf sowie der nachgewiesene Erreger bestimmen die Dauer der Antibiotikatherapie. Die Gesamtdauer der Therapie sollte über die Normalisierung der klinischen und laborchemischen Verlaufsparameter hinaus insgesamt mindestens 4 Wochen betragen. Erregerabhängig (z. B. Propionibakterien) kann eine länger andauernde Antibiotikatherapie erforderlich sein. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit klinischen Infektiologen hat sich bei der Behandlung von Gelenkinfekten sowie auch Protheseninfekten ( Abschn. 13.3) nach unseren Erfahrungen sehr gut bewährt. z
Komplikationen
Trotz aggressiver Therapie eines Gelenkinfekts können schwere Komplikationen auftreten. Funktionelle Beeinträchtigungen des betroffenen Gelenks können durch die infektbedingte Schädigung des Gelenks entstehen. Überschreitet der Infekt die Gelenkbarriere, kann eine Sepsis entstehen, die ggf. nur noch durch Amputation der betroffenen Extremität beherrschbar sein kann. Durch Gelenkinfekte verursachte Todesfälle wurden beschrieben (Ambacher et al 2001). Bei einer Ausdehnung des Infektes auf den angrenzenden Knochen (Osteomyelitis Abschn. 19.7.2, Knocheninfektionen Abschn. 33.2) kann das offene Débridement des Gelenks mit Anlage einer Arthrodese erforderlich sein. Bei Weichteildefekten kann eine plastische Deckung mittels gestielter oder freier Lappenplastiken notwendig sein. Infektbedingte Funktionseinschränkungen von Gelenken können negative Auswirkungen auf die benachbarten Gelenke ausüben. Ebenfalls ist eine Beeinträchtigung der Mechanik der
⊡ Abb. 13.14 Postoperativer Infekt bei Zustand 14 Tage nach arthroskopischer VKB-Ersatzplastik mit Ligamentum-patellae-Transplantat
Wirbelsäule durch eine infektbedingte Veränderung des Gangbilds möglich. > Beim prothetischen Ersatz eines durch Infektion zerstörten Gelenks besteht ein erhöhtes peri- und postoperatives Infektionsrisiko sowie sekundär ein erhöhtes Lockerungs-und Reoperationsrisiko. z
Prognose
Bei frühzeitiger und aggressiver Therapie ist die Prognose eines Gelenkinfekts gut. Im eigenen Patientengut musste lediglich bei 4% eine offene Gelenkrevision bei Therapieversagern bei
13
228
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
arthroskopischer Therapie vorgenommen werden (Stutz et al. 2000). In der Literatur werden Therapieversager bei bis zu 15% bei arthroskopischer Therapie beschrieben (Thiery 1989). Der Zustand des betroffenen Gelenks vor Infektionsbeginn beeinflusst das funktionelle Resultat nach ausgeheiltem Infekt. Ein Zusammenhang zwischen initialem Infektstadium, Erfolgsrate und Häufigkeit arthroskopischer Spülungen konnte ebenfalls nachgewiesen werden. Ein frühes Infektstadium ist gegenüber einem fortgeschrittenen Stadium prognostisch günstiger (Balabaud et al. 2007). Verschiedene klinische und experimentelle Studien stellten einen Zusammenhang zwischen frühem und aggressivem Behandlungsbeginn und Therapieerfolg fest (Pfeiffenberger u. Meiss 1996, Vispo Seara et al. 2002).
13.3
Periprothetische Infektionen
T. Kalteis
13
Septische Komplikationen nach endoprothetischer Versorgung sind schwerwiegende Komplikationen. Zur Infektbehandlung sind zumeist lange stationäre Behandlungen, mehrfache operative Revisionseingriffe und eine Langzeitantibiose erforderlich, mit entsprechender physischer und psychischer Belastung der betroffenen Patienten. Auch eine letztendlich erfolgreiche Infektsanierung geht häufig einher mit einer Funktionsminderung, einer Mobilitätseinschränkung und einer verschlechterten Prognose hinsichtlich der Standzeit von Endoprothesen. Periprothetische Infektionen können bei fulminantem Verlauf oder verschleppter Therapie in ein septisches Multiorganversagen übergehen, eine Extremitätenamputation oder Exartikulation erforderlich machen oder letal verlaufen. Die Mortalität periprothetischer Infektionen bei älteren Patienten wird mit annähernd 8% angegeben (Saccante 1998). Nicht zuletzt bedeuten septische Komplikationen nach endoprothetischer Versorgung eine hohe sozioökonomische Belastung (Sharkey et al. 2002, Whitehouse et al. 2002, Coello et al. 2005, Perencevich et al. 2003). In einer beispielhaften Rechnung werden für die Behandlung eines Patienten mit periprothetischer Infektion nach Hüfttotalprothesenimplantation 50.000 Euro veranschlagt (Ruchholtz u. Nast-Kolb 2004). Diese Kosten werden in zahlreichen Fällen jedoch deutlich überschritten. Für periprothetische Infektionen nach primärer endoprothetischer Versorgung wird, abhängig u. a. von Gelenkregion, Begleiterkrankungen und Weichteilsituation, eine Inzidenz von 0,6–2% angenommen (Aglietti u. Baldini 2000, Geipel u. Herrmann 2004, Peersman et al. 2001, Ridgeway et al. 2005, Lentino 2003). Bei Wechseloperationen werden Infektionsraten bis 15% beschrieben (Walter et al. 2007, Nguyen et al. 2002). Allerdings schwanken die statistischen Angaben sowohl für die Primärendoprothetik, als auch für Wechseloperationen erheblich. Ursachen hierfür sind u. a. die Anwendung unterschiedlicher Definitionen für septische Komplikationen und eine unzureichende Erfassung durch geeignete und extern kontrollierte Qualitäts-
sicherungsmaßnahmen. Letztendlich muss davon ausgegangen werden, dass die Inzidenz von implantatassoziierten und periprothetischen Infektionen höher liegt, als die gegenwärtig publizierten und häufig als Kennzahlen zur Qualitätskontrolle vorgegebenen Daten. z
Synonyme
Implantatassoziierte Infektion, periprothetische Infektion z
Definition
Periprothetische Infektionen werden zumeist nach dem Zeitintervall zwischen operativem Eingriff und Infektmanifestation eingeteilt. Nach der Einteilung von Trampuz und Zimmerli (2005) manifestiert sich ein Frühinfekt innerhalb von 3 Monaten, ein verzögerter Frühinfekt 3–24 Monate postoperativ und ein Spätinfekt später als 2 Jahre postoperativ (Trampuz u. Zimmerli 2005). Weiterhin wird unterschieden zwischen endogenen und exogenen Infektionen. Bei endogenen Infektionen wird eine hämatogene Streuung der Erreger zugrunde gelegt. Bei exogenen Infektionen wird eine perioperative Kontamination angenommen. Zahlenmäßig stehen bei Frühinfektionen und verzögerten Frühinfektionen exogene Infektionswege im Vordergrund, bei Spätinfekten endogene Infektionswege (Zimmerli et al. 2004). z
Ätiologie und Pathogenese
Aufgrund einer Minderung des lokalen Abwehrsystems ist bei einliegendem Fremdmaterial die für eine Infektion erforderliche Keimzahl um mehr als das 100.000-Fache verringert (Zimmerli et al. 1982). Bereits ein bakterielles Inokulum von weniger als 100 kolonienbildenden Einheiten (KBE) kann ausreichend sein, um eine implantatassoziierte oder periprothetische Infektion zu verursachen (Schierholz u. Beuth 2001). Nur wenige bakterielle Erreger sind für 80–90% der implantatassoziierten und periprothetischen Infektionen verantwortlich. Zumeist sind es nicht obligat pathogene Keime der normalen Hautflora, die bei Anwesenheit von Fremdmaterial pathogen werden. Bei periprothetischen Infektionen werden in den meisten Fällen Staphylokokken (50–55%) als Erreger nachgewiesen, seltener gramnegative Stäbchen (20%) und Streptokokken (10%) oder Mischinfektionen (10%). Spezifische Infektionen sind ebenso Seltenheiten wie Pilzinfektionen (⊡ Abb. 13.15). Zahlreiche Erreger sind in der Lage, an Oberflächen von Fremdmaterialien einen Biofilm zu bilden. Nach der Kontamination adhärieren die Bakterien mittels spezieller Rezeptoren an der Proteinmatrix auf Implantaten. Diese proadhäsive Proteinmatrix bildet sich nach Implantation der Endoprothesen durch Anlagerung u. a. von Albumin, Thrombozyten, Fibroblasten, Fibrinogen oder aktivierten Endothelzellen. Nach der Adhäsion akkumulieren die Mikroorganismen auf der Oberfläche und bilden eine mehrschichtige Zellschicht, welche durch bakterielle Exopolysaccharide stabilisiert wird. In diesem Biofilm sind die Erreger den körpereigenen Abwehrmechanismen und einer Antibiotikatherapie nur eingeschränkt zugänglich, sodass für eine Infektsanierung die Entfernung der Implantate
229 13.3 · Periprothetische Infektionen
erforderlich wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die bakteriellen Erreger im Biofilm häufig in sessile Formen mit deutlich verlängerten Generationszyklen übergehen. Diese Tatsache muss bei der Wahl der Antibiose und insbesondere bei der Dauer der Antibiotikatherapie berücksichtigt werden (Geipel u. Herrmann 2004). Wie in unterschiedlichen Metaanalysen gezeigt werden konnte, müssen u. a. Endoprothesenwechseloperationen, vorangegangene Wundinfektionen, maligne Grunderkrankungen, eine vorbestehende Immunsuppression, die rheumatoide Arthritis, Diabetes mellitus, Mangelernährung oder Adipositas sowie eine terminale Niereninsuffizienz als Risikofaktoren für das Auftreten periprothetischer Infektionen angesehen werden (Berbari et al. 1998).
10% Streptokokken
10% poly7% mikrobiell Anaerobier 2% sonstige 10% ohne Erregernachweis
25% gramnegative aerobe Stäbchen E.coli. Proteus spp., Morganella morgani, Serratia marcescens, Citrobacter freundii, Pseudomonas spp.
25% Staphylococcus aureus
25−30% Koagulase-negative Staphylokokken
⊡ Abb. 13.15 Keimspektrum periprothetischer Infektionen
a
b
z
Diagnostik
Bei fulminantem Verlauf einer akuten Infektion kann die Diagnose anhand der klinischen Infektzeichen mit lokaler Schwellung, Rötung, Überwärmung und akuter Schmerzsymptomatik ohne weitere apparative Diagnostik zumeist eindeutig gestellt werden. > Bei einem chronischen Verlauf, insbesondere bei »Lowgrade«-Infektionen, ergibt sich der Verdacht auf Vorliegen einer periprothetischen Infektion häufig aus den anamnestischen Angaben der Patienten, wobei insbesondere Ruhe- und Nachtschmerz charakteristisch sind.
Auch muss bei einer postoperativ verlängerten oder verstärkten Wundsekretion oder bei einer Einschränkung des Bewegungsumfangs infolge einer Arthrofibrose eine septische Komplikation in Erwägung gezogen werden. Auffällige Laborparameter, insbesondere ein erhöhter CRP-Wert, können den klinischen Verdacht untermauern und Anlass für eine weiterführende Diagnostik geben. In der konventionellen Röntgendiagnostik zeigen sich zumeist erst bei chronischen Infektionen Zeichen einer Lockerung mit Lysesäumen, umschriebenen Osteolysen oder periostitischen Anbauten (⊡ Abb. 13.16). Zur Abklärung können szintigraphische Untersuchungen hilfreich sein, wobei zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung der periprothetischen Infektion von einer aseptischen Prothesenlockerung die Drei-Phasen-Skelettszintigraphie ggf. mit einer Leukozytenszintigraphie kombiniert werden sollte (Palestro et al. 2002). Intraoperativ können periprothetische Infektionen durch eine ausgeprägte Membranbildung am Interface zwischen Fremdkörper und knöchernem Lager imponieren oder auch durch mehr oder weniger stark ausgeprägte Osteolysen und Fistelsysteme.
c
d
⊡ Abb. 13.16a–d Röntgenkontrolle. a Postoperativ a.p., b postoperativ axial, c, d 26 Monate postoperativ bei periprothetischer Infektion mit deutlichen Osteolysen und periostalen Reaktionen
13
230
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
> Als beweisend für das Vorliegen einer Infektion wird der mikrobiologische Nachweis desselben Erregers in mindestens 3 intraoperativ entnommenen Gewebeproben erachtet (Atkins et al. 1998).
13
Die histologische Untersuchung mit Nachweis von granulozytären Infiltraten kann bei fehlendem Keimnachweis die Verdachtsdiagnose einer bakteriellen Infektion erhärten oder aber als Plausibilitätskontrolle bei unklaren mikrobiologischen Untersuchungen herangezogen werden (Trampuz et al. 2003). Die frühzeitige und eindeutige Keimidentifizierung mit Antibiogramm ist für eine gezielte Antibiose und für die Auswahl des geeigneten Behandlungsregimes von grundlegender Bedeutung. Daher sollte, soweit der Allgemeinzustand des Patienten dies ermöglicht, vor der operativen Revision ein Keimnachweis angestrebt werden. Eine Ausnahme stellen akute Frühinfektionen dar, bei denen ein implantaterhaltendes Vorgehen mit lokalem Débridement gewählt wird. In diesen Fällen kann der Keimnachweis in den intraoperativ entnommenen Gewebeproben erfolgen, und die Revision sollte ohne weitere Zeitverzögerung durchgeführt werden. Vor der Entnahme von mikrobiologischen Proben und erfolgreichem Keimnachweis sollte keine Antibiose begonnen werden. Eine bereits begonnene Antibiose sollte vor einer Punktion oder intraoperativen Probenentnahme bereits 10–14 Tage abgesetzt sein, um falsch-negative Ergebnisse zu vermeiden (Spangehl et al. 1999). Bei fehlendem Keimnachweis muss die Probenentnahme ggf. wiederholt werden, um einen Keimnachweis zu erzwingen. Gelenkpunktionen müssen in einem geeigneten Eingriffsraum unter streng aseptischen Bedingungen durchgeführt werden, um einerseits eine iatrogene Kontamination des Gelenks, andererseits aber auch eine sekundäre Kontamination der entnommenen Proben zu verhindern. Intraoperative sollten mindestens 5–6 Biopsien aus unterschiedlichen Regionen des Operationssitus entnommen werden, wobei makroskopisch auffälligen Regionen zu bevorzugen sind. Die Proben sollten neben der mikrobiologischen auch einer histologischen Untersuchung zugeführt werden. > Fistel- oder Wundabstriche sind grundsätzlich ungeeignet für die Diagnose und Therapieplanung von periprothetischen Infektionen.
z
Therapie
Wesentliche Bestandteile der Therapie bei periprothetischen Infektionen sind die chirurgische Revision und eine auf Erregerspektrum und Antibiogramm abgestimmte Antibiose. z z Operative Therapie
Das chirurgische Vorgehen richtet sich dabei u. a. nach dem zeitlichen Intervall zwischen endoprothetischer Versorgung und Auftreten der Infektion, Begleiterkrankungen, Weichteilsituation und Erregerspektrum (Zimmerli 2004; ⊡ Tab. 13.6). Bei der Wahl des geeigneten Behandlungsregimes kann die Einteilung in Frühinfektionen, verzögerte Frühinfektionen und Spätinfektionen hilfreich sein: Bei einem Frühinfekt mit stabil verankerter Endoprothese und intakten Weichteilverhältnissen ist ein frühzeitiges, radikales chirurgisches Débridement mit Belassen der Endoprothese in situ und begleitender Langzeitantibiose gerechtfertigt. Für dieses therapeutische Vorgehen werden Erfolgsraten von 23–55% veröffentlicht (Schoifet u. Morrey 1990, Tattevin et al. 1999, Drancourt et al. 1997). In aktuellen Veröffentlichungen werden für ein gelenkerhaltendes Behandlungskonzept mit Débridement und Antibiose Erfolgsraten von mehr als 80% angegeben, wenn die Therapie innerhalb von 3 Wochen nach Beginn der klinischen Infektsymptomatik begonnen wurde, die Implantate stabil verankert waren, kein wesentlicher Weichteilschaden vorlag und eine gezielte Antibiose möglich war (Giulieri et al. 2004, Berdal et al. 2005). Entscheidend beim endoprotheseerhaltenden Vorgehen ist der Zeitpunkt der Revisionsoperation. Revisionseingriffe, die später als 6 Wochen nach Primärimplantation durchgeführt werden, sind bei Belassen der infizierten Implantate in aller Regel nicht mehr erfolgreich. Bei einem verzögerten Frühinfekt mit intakten Weichteilen und präoperativ bekanntem Erregerspektrum, das eine gezielte Antibiotikatherapie erlaubt, kann die einzeitige Wechseloperation in Erwägung gezogen werden. Bei vorliegenden Risikofaktoren wie immunsupprimierenden Begleiterkrankungen immunsupprimierender Medikation, bei ungünstiger Weichteilsituation oder knöchernen Defekten, bei unbekanntem Erreger oder Erregern mit schwieriger Resistenzlage und somit eingeschränkter Möglichkeit einer suffizienten Antibiotikabehandlung sollte dem zwei- oder mehrzeitigen Endoprothesenwechsel der Vorzug gegeben werden. Hierbei werden in einem ersten operativen Eingriff die infizierten Implantate und Fremdmaterialien vollständig ex-
⊡ Tab. 13.6 Kriterien für die Wahl unterschiedlicher operativer Behandlungskonzepte bei periprothetischen Infektionen (in Anlehnung an die Empfehlungen von Zimmerli et al. 2004) Débridement mit Erhalt der Endoprothese
Einzeitiger Endoprothesenwechsel
Zweizeitiger Endoprothesenwechsel
Verzögerter Infekt (6 Wochen bis 24 Monate postoperativ) bekannter Erreger gezielte Antibiose mit geeigneten Wirkstoffen (z. B. Rifampicin) intakte Weichteile Antibiose für ca. 6 Wochen
Frühinfekt (<6 Wochen) intakte Weichteile stabil verankerte Endoprothese Antibiose für ca. 12 Wochen
verzögerter Frühinfekt oder Spätinfekt unbekannter/multiresistenter Erreger Mischinfektionen begleitende Weichteilschäden (z. B. Abszess, Fistelung) fortgeschrittene Destruktion des periprothetischen Knochens immunsupprimierende Begleiterkrankungen Antibiose nach Reimplantation für ca. 6 Wochen
231 13.3 · Periprothetische Infektionen
plantiert, das periartikuläre Gewebe débridiert und ggf. ein temporärer antibiotikahaltiger Platzhalter eingebracht. Alternativ kann eine temporäre Sine-sine-Situation belassen werden. Begleitend wird eine mehrwöchige systemische Antibiose nach Antibiogramm durchgeführt. Bei persistierenden Infektzeichen wird das lokale Débridement wiederholt. Nach Normalisierung der Infektparameter und einem antibiosefreien Intervall ohne erneuten Anstieg der Infektzeichen wird der Patient erneut endoprothetisch versorgt (⊡ Abb. 13.17). Für dieses mehrzeitige Therapiekonzept wird in unterschiedlichen Zentren eine Behandlungsdauer von wenigen Wochen bis zu mehreren Monaten veranschlagt. Der einzeitige Wechsel bei einer periprothetischen Infektion verkürzt die stationäre Behandlungsdauer, ermöglicht eine rasche Mobilisation des Patienten, gewährleistet zumeist günstigere funktionelle Langzeitergebnisse und senkt die mit der Behandlung einer septischen Komplikation verbundenen Kosten. Allerdings besteht bei einem einzeitigen Wechsel ein erhöhtes Risiko für einen persistierenden bzw. rezidivierenden Infekt. Der wesentliche Vorteil des zweizeitigen Wechselkonzeptes ist die höhere Wahrscheinlichkeit für eine Infektsanierung. Allerdings müssen eine mehrwöchige Entlastung der betroffenen Extremität, mehrere operative Eingriffe und eine längere stationäre Behandlungsphase in Kauf genommen werden. Die Erfolgsraten der Behandlungskonzepte mit ein- oder zweizeitigem Prothesenwechsel sind aufgrund des unterschiedlichen Studienaufbaus und der unterschiedlichen Bewertungskriterien in veröffentlichten Untersuchungen nur mit erheblichen Einschränkungen vergleichbar. Für die einzeiti-
a
b
c
ge Wechseloperation am Hüftgelenk werden für 84–92% eine erfolgreiche Infektsanierung beschrieben, für das zweizeitige Behandlungskonzept Erfolgsraten von 85–97%. Für periprothetische Infektionen am Kniegelenk werden für den einzeitigen Wechsel Erfolgsraten von 75–89% angegeben, für den zweizeitige Wechsel Erfolgsraten von 89–97% (Ostendorf et al. 2002, Hanssen u. Rand 1999). Spätinfektionen weisen zumeist einen chronischen Verlauf auf mit bereits erheblicher Schädigung der periartikulären Weichteile und des knöchernen Implantatlagers. Daher wird bei Spätinfektionen zumeist der mehrzeitige Endoprothesenwechsel als Verfahren der Wahl angesehen. Allerdings kann bei einer akut aufgetretenen Infektsymptomatik bei endogener Infektion ein lokales Débridement mit Belassen der Endoprothese in Erwägung gezogen werden, wenn eine stabile Prothesenverankerung gesichert ist und die Weichteile intakt sind. Hier kann die Behandlung also im Sinne eines Frühinfekts versucht werden. Endgültige Sine-sine-Situationen oder Arthrodesen bzw. Amputationen sind in seltenen Fällen indiziert bei Patienten mit rezidivierenden Infektionen und nicht behebbaren funktionellen Defiziten oder knöchernen Defekten bzw. bei vital bedrohlichen Verläufen. z z Antibiotikatherapie
Die chirurgische Behandlung von periprothetischen Infektionen wird von einer gezielten systemischen, ggf. auch von einer lokalen Antibiose begleitet. Geeignete Antibiotika sind solche, die eine gute Penetration ins Knochen- und periartikuläre Weichteilgewebe aufweisen und auch eine Wirkung auf im-
d
⊡ Abb. 13.17a–d Zweizeitiges Vorgehen bei verzögertem Frühinfekt am Knie. a, b PMMA-Spacer-Interposition und Gentamicin-Ketten für 8 Wochen, c, d Reimplantation einer achsgeführten Knietotalendoprothese bei fehlenden Infektzeichen im antibiotikafreien Intervall
13
232
Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
⊡ Tab. 13.7 Begleitenden Antibiotikatherapie bei periprothetischen bzw. implantatassoziierten Infektionen entsprechend der Empfehlungen der Arbeitsgruppe Infektiologie der Universität Regensburg Erreger
Zeitdauer
Antibiotikum
Staphylococcus aureus, Koagulasenegative Staphylokokken (Methicillinempfindlich)
2 Wochen
1. Wahl: Flucloxacillin 4-mal 2 g i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v. 2. Wahl: Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v. alternativ zu Ciprofloxacin ggf. moderne Chinolone, z. B. Moxifloxacin
MRSA
Anschließendb
Ciprofloxacin 2-mal 750 mg p.o. plus Rifampicin 2-mal 450 mg p.o.
3 Wochen
1. Wahl: Vancomycin 2-mal 1 g i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v. 2. Wahl: Rifampicin 2-mal 450 mg i.v. plus Cotrimoxazol 3-mal 960 mg i.v. Reserve: Linezolid 2-mal 600 mg i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v.
Anschließendb
Rifampicin 2-mal 450 mg p.o. plus Cotrimoxazol 3-mal 960 mg p.o. Reserve: Linezolid 2-mal 600 mg p.o. plus Rifampicin 2-mal 450 mg p.o.
Streptokokken
Anaerobier
13 Enterobacteriaceae (z. B. Pseudomonas aeruginosa)
4 Wochen
Penicillin G 4-mal 5 Mio. IE/Tag i.v.
Anschließendb
Penicillin V 3-mal 1 Mio. IE p.o.
2–4 Wochen
Clindamycin 3- bis 4-mal 600 mg i.v.
Anschließendb
Clindamycin 4-mal 300 mg p.o.
2–4 Wochen
Ceftazidim 3-mal 2 g i.v. plus Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v. Alternativ: Piperacillin 3-mal 4 g i.v. plus Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v. Alternativ: Carbapenem (Imipenem oder Meropenem) 3-mal 1 g i.v. plus Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v.
Empirische Therapiea
Anschließendb
Ciprofloxacin 2-mal 750 mg p.o.
3 Wochen
1. Wahl: Ciprofloxacin 2-mal 400 mg i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v. 2. Wahl: Vancomycin 2-mal 1 g i.v. plus Rifampicin 2-mal 450 mg i.v.
Anschließendb
Ciprofloxacin 2-mal 750 mg p.o. plus Rifampicin 2-mal 450 mg p.o.
MRSA multiresistener Staphylococcus aureus a Empirische Therapie nur bei wiederholt fehlender Keimidentifizierung, aber dringendem Infektverdacht b Dauer der Antibiose abhängig vom operativen Konzept, 6 Wochen nach TEP-Wechsel, 12 Wochen bei lokalem Débridement mit Belassen der Endoprothese
233 Literatur
plantatadhärente Keime im Biofilm zeigen. Diese Eigenschaften wurden bislang v. a. für Rifampicin, aber auch für einige Fluorchinolone und Linezolid als Reserveantibiotikum nachgewiesen. Die Antibiose muss hochdosiert und über mehrere Wochen erfolgen, um den erhöhten lokalen Hemmkonzentrationen und den verlängerten Generationszyklen der Keime im Biofilm Rechnung zu tragen. Tipp
I
I
Nach chirurgischer Revision mit Prothesenwechsel wird eine Antibiose von 6 Wochen und nach einem lokalen Débridement mit Belassen der Implantate eine Antibiose von 12 Wochen empfohlen.
Daher sollten die Präparate zusätzlich eine hohe orale Bioverfügbarkeit aufweisen, um nach einer anfänglichen parenteralen Antibiotikagabe auf eine oralen Antibiose umsteigen zu können. Allerdings wurden bezüglich der Dauer der postoperativen Antibiose bislang keine aussagekräftigen Studien veröffentlicht, die Empfehlungen beruhen zumeist auf monozentrischen Erfahrungen. Aufgrund der Gefahr von Resistenzentwicklungen bei Monotherapien, insbesondere bei Gabe von Rifampicin, sollte die Antibiose in der Regel als Kombinationstherapie durchgeführt werden. ⊡ Tab. 13.7 listet die Empfehlungen des Arbeitskreises Infektiologie der Universität Regensburg für die systemische antibiotische Behandlung von implantatassoziierten und periprothetischen Infektionen auf. Aufgrund der Biofilmproblematik wird neben der systemischen Antibiose eine ergänzende lokale Antibiotikatherapie bei der Behandlung von implantatassoziierten Infektionen empfohlen. Durch die lokale Antibiose können temporär hohe lokale Wirkspiegel im Fokus der Infektion erreicht werden. Für die lokale Antibiotikatherapie haben sich seit vielen Jahren mit Gentamicin versetzte Polymethylmethacrylat-(PMMA-)Zemente bewährt. Nach Keimspektrum und Antibiogramm werden dem Knochenzement aber auch alternative antibiotische Wirkstoffe beigemengt. Voraussetzung ist, dass die Antibiotika in Pulverform vorliegen und hitzestabil sind, wie z. B. Clindamycin, Ofloxacin und Vancomycin. Die antibiotikaversetzten PMMAZemente kommen im Rahmen der zementierten Prothesenverankerung oder in Form von temporären PMMA-Spacern bei zweizeitigen Wechseloperationen sowie als PMMA-Ketten zum Einsatz, die in Wundhöhlen eingelegt werden (⊡ Abb. 13.17). Ergänzend sind antibiotikahaltige Matrices erhältlich, die in das Wundgebiet eingebracht werden können.
13.3.1
Zusammenfassung
Bei der Wahl des Behandlungskonzepts bei implantatassoziierten bzw. periprothetischen Infektionen müssen zahlreiche Parameter berücksichtigt werden, insbesondere das Intervall zwischen Erstoperation und Infektmanifestation, die Weichteilsituation, das Keimspektrum sowie vorliegende Begleiterkrankungen. Eine erfolgreiche Infektsanierung ist nur durch
eine radikale chirurgische Behandlung und eine begleitende Antibiotikatherapie gewährleistet. Ein lokales Débridement mit Erhaltung der Endoprothese ist nur bei Frühinfektionen oder frühzeitiger Revision bei Spätinfektionen mit akutem Beginn der Infektsymptomatik gerechtfertigt. Voraussetzung für einen einzeitigen Prothesenwechsel bei Früh- oder Spätinfekten sind insbesondere die eindeutige präoperative Keimidentifizierung, welche eine erregerspezifische lokale und systemische Antibiose ermöglicht, stabil verankerte Implantate, intakte Weichteilverhältnisse und das Fehlen von begleitenden Risikofaktoren. Das zwei- bzw. mehrzeitige Behandlungskonzept verringert das Risiko persistierender Infektionen und stellt das Verfahren der Wahl dar bei unbekannten Erregern, bei kritischer Resistenzlage, bei ausgedehnten Defekten der periartikulären Weichteile oder des knöchernen Lagers sowie bei Patienten mit begleitenden Risikofaktoren.
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Kapitel 13 · Weichteil- und Gelenkinfektionen
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14
Komplexes regionales Schmerzsyndrom J. Beckmann, F. Köck
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238
z
Kapitel 14 · Komplexes regionales Schmerzsyndrom
Definition
Das komplexe regionale Schmerzsyndrom Typ I (»complex regional pain syndrome« bzw. CRPS Typ I) – zunächst nach dem Erstbeschreiber von 1902, Paul Sudeck, als M. Sudeck und später als sympathische Reflexdystrophie bezeichnet – beschreibt einen Symptomenkomplex mit chronischen, oft schwer beherrschbaren Schmerzen sowie autonomen, sensomotorischen und trophischen Störungen. Die Inzidenz beträgt etwa 0,5/100.000 Einwohner pro Jahr. Der Altersgipfel der Erkrankung liegt etwa zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjahr. Es sind mehr Frauen als Männer betroffen; der Frauenanteil liegt bei 60–80%. Kinder und ältere Menschen erkranken seltener an einem CRPS. Die obere Extremität ist mit 50–60% etwas häufiger betroffen als die untere. Abgegrenzt werden muss das CRPS Typ II, früher als »Kausalgie« bezeichnet, das als einzig sicher fassbaren Unterschied eine nachweisbare Nervenverletzung aufweist und zumeist auf das Versorgungsgebiet des betroffenen Nervs beschränkt ist. Im Übrigen kann der beiden Schmerzsyndromen gemeinsame Symptomenkomplex sehr ähnlich sein. z
Äthiologie und Pathogenese
Das CRPS Typ I wird v. a. nach Frakturen, Kontusionen oder kleineren Operationen an den distalen Extremitäten beobachtet. Bei bis zu 20% der Patienten tritt das Krankheitsbild ohne eruierbares Trauma spontan auf. Die Pathogenese ist bislang noch weitgehend ungeklärt. Wahrscheinlich ist ein Circulus vitiosus aus Schmerzwahrnehmung im zentralen Nervensystem und abnormer Reaktion des zentralen Sympathikus durch eine Fehlregulation des neurovegetativen Nervensystems. Auch das
Vorliegen eines lokalen »systemic inflammatory response syndrome« (SIRS) wird in diesem Zusammenhang diskutiert. z
Klinik
Die Erkrankung wird in ihrer klassischen Definition in 3 Stadien eingeteilt (⊡ Tab. 14.1): ▬ entzündliche Phase ▬ dystrophe Phase ▬ atrophe Phase Die Symptomentrias aus sensorischen, sympathischen/autonomen und motorischen Störungen tritt sofort oder mit mehrtägiger Latenz nach dem schädigenden Ereignis im distalen Bereich der betroffenen Extremität auf. Trophische Veränderungen sind ein Spätzeichen der Erkrankung. > Die Ausprägung der Symptome steht in keinem Verhältnis zur meist nur geringen Intensität des vorangegangenen Traumas.
Hauptsymptom der Erkrankung ist der spontane Schmerz, der von brennender, bohrender oder krampfartiger Qualität ist, distal betont tief in der Extremität angegeben wird und durch Belastung eine Verstärkung erfährt. Kleinste Bewegungen der Finger einer betroffenen Hand oder Temperaturveränderungen sowie Berührungen führen häufig zu heftigen Schmerzen (Wärme-, Kälte- und Berührungsallodynie). Selten ist der Schmerz nur gering ausgeprägt. Autonome Symptome des CRPS Typ I sind Rötung, Überwärmung und Ödem mit meist massiver Weichteilschwellung der betroffenen Region (⊡ Abb. 14.1). Als Ausdruck einer ge-
⊡ Tab. 14.1 Stadieneinteilung des CRPS
14
Stadien
Verlauf
Klinisches Bild und Röntgenbefunde
I – Akutstadium (akute Entzündung, sympathische Dysfunktion)
Akuter Beginn (Stunden bis wenige Wochen nach Einwirken des auslösenden Agens) Dauer: wenige Wochen bis Monate
II – Dystrophiestadium
Beginn: nach 3–7 Monaten Dauer: 3–6 Monate
III – Atrophiestadium
Beginn: meist nach 8 Monaten Dauer: Monate bis Jahre
Tiefenschmerz Spontanschmerz, (brennend/stechend) Schonhaltung bis zur Schmerzsteife Hyperalgesie Hyperästhesie Allodynie rötlich-livide, feuchtwarme Haut Weichteilödem
Reduktion der Ruheschmerzen Bewegungsschmerzen rigide Muskulatur chronische Dystrophie zunehmende Gelenkversteifung blass-livide, kühle, trockene Haut mit trophischen Störungen (Nägel/Haare) palmare/plantare Fibrosierung Röntgenbefund: fleckförmige Entkalkung Oft irreversible Symptome atrophische, trockene Wachshaut Anhidrose Gelenkkontrakturen Muskelatrophie völliger Funktionsverlust. Röntgenbefund: milchige Osteoporose
239 Kapitel 14 · Komplexes regionales Schmerzsyndrom
störten Hautdurchblutung kann eine Temperaturdifferenz von >1,5–2°C zwischen betroffener und nicht betroffener Extremität nachweisbar sein. Als weiteres Zeichen einer sympathischen Störung ist eine gestörte ekkrine Schweißdrüsenaktivität möglich, sowohl in Form einer Hyper- als auch einer Hypohidrose. In der Regel kommt es zu einer aktiven und passiven Funktionseinschränkung, insbesondere bei Komplexbewegungen, außerdem zu einer Kraftminderung der betroffenen Extremität. Ferner können zudem ein Tremor (Halte- und Aktionstremor), eine Dystonie und Koordinationsstörungen vorliegen. Berufliche und auch einfache alltägliche Aufgaben sind häufig nicht mehr zu bewältigen. Die trophischen Veränderungen treten bei etwa 30% der Patienten als Spätzeichen der Erkrankung auf. Es kommt zu einem gestörten Wachstum der Haut und der Hautanhangsgebilde (Nägel, Haare). Die Haut wird zunehmend glänzend, dünnt aus, verliert ihre normale Fältelung und wird glatt und straff (Wachshaut); Haare und Nägel werden gröber und brüchig. Zugleich tritt eine oft sehr stark ausgeprägte Osteoporose auf (⊡ Abb. 14.2). Die betroffene Extremität wird schmerzbedingt in einer neutralen Schonhaltung gehalten. Daher kommt es zu einem Einsteifen von Gelenken mit Kontraktur durch Muskelverkürzung und -atrophie.
z
Diagnostik
Goldstandard der Diagnostik ist eine umfassende anamnestische und klinische Untersuchung. Radiologische Verfahren dienen der Diagnosesicherung. In erster Linie sollte hierbei eine posterior-anteriore Röntgenaufnahme beider betroffenen Extremitäten zum Seitenvergleich angefertigt werden. Eine MRT mit i. v. Gabe von Gadolinium sowie eine 3-Phasen-Skelettszintigraphie sind bei entsprechendem klinischen Bild, aber unauffälligem nativradiologischen Befund zu erwägen. Schon einige Wochen nach Krankheitsbeginn zeigen sich charakteristische röntgenologische Veränderungen mit fleckiger Minderung des Kalksalzgehalts des gesamten betroffenen Handskeletts und bandförmigen Aufhellungen insbesondere der periartikulären Abschnitte sowie der Handwurzel mit »bleistiftdünner« Kortikaliszeichnung (⊡ Abb. 14.2). Im Skelettszintigramm sind – typischerweise in der Einflussphase – eine Hyperämie und eine Hyperperfusion aller Finger mit Betonung der periartikulären Anteile zu beobachten (⊡ Abb. 14.3). Thermographie und Sudometrie der Haut sowie die Durchführung eines Ischämietests zur Feststellung einer Schmerzbesserung,
⊡ Abb. 14.2 Radiologischer Befund bei CRPS Typ I
⊡ Abb. 14.1a,b Autonome Symptome bei CRPS Typ I
⊡ Abb. 14.3 Szintigraphischer Befund bei CRPS Typ I
14
240
Kapitel 14 · Komplexes regionales Schmerzsyndrom
beispielsweise durch Anlegen einer Blutdruckmanschette, sind weitere diagnostische Möglichkeiten. z Therapie > Die Therapie muss in jedem Fall frühzeitig und multimodal sowie interdisziplinär eingeleitet werden. Ziel ist die Unterbrechung des Circulus vitiosus aus zentraler Schmerzwahrnehmung und abnormer Reaktion des zentralen Sympathikus und damit des progredienten Verlaufs der Erkrankung. Konservative Verfahren stehen im Vordergrund. Im Akutsta-
14
dium ist eine vorübergehende Ruhigstellung angeraten. Kompressionsverbände und Lymphdrainage können der Schwellung entgegenwirken. Intensive physiotherapeutische, ergotherapeutische und physikalische Therapien sind von immenser Wichtigkeit. Insbesondere in frühen Stadien müssen diese jedoch äußerst vorsichtig durchgeführt werden, da ansonsten eine Beschwerdeexazerbation möglich ist. Von großer Bedeutung ist eine suffiziente Analgesie. Die Schmerzmedikation sollte aufgrund der Komplexität der beteiligten molekularbiologischen Systeme und Veränderungen sowohl aus peripher (nichtsteroidale Antirheumatika) als auch aus zentral wirksamen Substanzen (Opioide, trizyklische Antidepressiva, Antikonvulsiva) bestehen. Eine ergänzende Therapie mit Kalzitonin ist wegen der guten Schmerzreduktion und der gleichzeitigen Rekalzifizierung bzw. der Verminderung einer weiteren Demineralisierung empfehlenswert. Da das CRPS überdurchschnittlich häufig mit einer sympathischen Dysregulation und entsprechenden trophischen Störungen vergesellschaftet ist, können neben einer zentralen Medikation bei Vorliegen eines sympathisch unterhaltenen Schmerzes auch invasive Maßnahmen wie Sympathikolysen und ganglionäre lokale Opioidanalgesien (GLOA) durchgeführt werden. Neben sympathikolytischen Verfahren sind unter der pathophysiologischen Vorstellung eines lokalen SIRS zudem gute Erfolge durch eine systemische Mannitol-/Dexamethasongabe beschrieben. Obwohl kein gesicherter prädisponierender psychischer Typus bekannt ist, sind dennoch insbesondere ängstlich besorgte und sensible Frauen häufig betroffen. Daher sollte auch die Durchführung einer kausal angreifenden Psychotherapie bedacht werden. Die Ziele der Psychotherapie sind: ▬ Abbau schmerzverstärkender Ängste durch entspannungsund konfliktzentrierte Therapieverfahren ▬ Entwicklung von Schmerzverarbeitungs- und Stressbewältigungsstrategien ▬ Abbau pathologischer Verhaltensmuster ▬ Erkennung und Korrektur von gestörten Körperwahrnehmungen und Konversionsmustern
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15 Knochen- und Weichteiltumoren E. Koch, A. Hoffmann, C. Öhlschlegel, C. Lampert
15.1
Einführung
– 242
15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.1.5
Histogenese – 242 Epidemiologie und Ätiologie Staging – 242 Diagnostik – 243 Therapie – 245
15.2
Gutartige Weichteiltumoren – 247
15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6 15.2.7 15.2.8 15.2.9 15.2.10
Lipomatöse benigne Weichteiltumoren – 247 Fibröse benigne Weichteiltumoren – 247 Neurale benigne Weichteiltumoren – 247 Benigne Weichteiltumoren der glatten Muskulatur: Leiomyome – 248 Perivaskuläre Weichteiltumoren: Glomustumoren – 248 Benigne Weichteiltumoren der Skelettmuskulatur: Rhabdomyome – 248 Benigne vaskuläre Weichteiltumoren: Hämangiome – 248 Benigne chondroossäre Weichteiltumoren: Weichteilchondrome – 248 Synoviale Weichteiltumoren – 248 Tumoren unklaren Ursprungs: Myxome – 249
– 242
15.3
Bösartige Weichteiltumoren
15.3.1 15.3.2
Maligne lipomatöse Weichteiltumoren – 249 Maligne fibröse Weichteiltumoren – 249
– 249
15.4
Gutartige Knochentumoren – 250
15.4.1 15.4.2 15.4.3
Osteogene benigne Knochentumoren – 250 Chondrogene benigne Knochentumoren – 252 Fibröse benigne Knochentumoren – 255
15.5
Bösartige Knochentumoren
15.5.1 15.5.2 15.5.3 15.5.4 15.5.5 15.5.6 15.5.7 15.5.8
Chondrogene maligne Knochentumoren: Chondrosarkome – 262 Fibröse maligne Knochentumoren: Fibrosarkom – 265 Histiozytäre maligne Knochentumoren: malignes fibröses Histiozytom – 266 Vaskuläre maligne Knochentumoren: Hämangiosarkom und Hämangioendotheliom Notochordale Tumoren: Chordom – 267 Maligne Knochentumoren hämatopoetischen Ursprungs – 268 Maligne Tumoren unklaren Ursprungs – 271 Sekundäre Knochentumoren (Metastasen) – 273
– 258
15.6
Tumorähnliche Läsionen – 274
15.6.1 15.6.2 15.6.3 15.6.4 15.6.5
Aneurysmatische Knochenzyste – 274 Solitäre Knochenzysten – 275 Osteofibröse Dysplasie – 276 Langerhans-Zell-Histiozytose – 276 Nichtossifizierendes Knochenfibrom – 277
Literatur
– 278
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 267
242
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
15.1
Einführung
15.1.3
15.1.1
Histogenese
Generell werden die Knochen- und Weichteiltumoren in benigne, intermediäre und maligne Tumoren unterteilt: ▬ Benigne Tumoren metastasieren nicht, infiltrieren nicht und respektieren die Organgrenze. ▬ Die intermediären Tumoren entwickeln keine Metastasen, können jedoch über die Organgrenze hinaus wachsen und Nachbargewebe infiltrieren. ▬ Maligne Tumoren sind potenziell metastasierend, respektieren die Organgrenze nicht und infiltrieren.
Knochen- und Weichteiltumoren sind Tumoren, die aus mesodermalem und neuroektodermalem, nichtepithelialem Gewebe entstehen. Hierzu gehören Fett, Muskeln, periphere Nerven, Blut- und Lymphgefäße, Knochen, Knorpel und das fibrohistiozytäre Gewebe. Die Klassifikation der Tumoren wird aufgrund ihrer histologischen Ursprungsgewebeähnlichkeit und ihrer genetischen Typisierung vorgenommen. Je undifferenzierter die Tumoren sind, umso schwerer ist jedoch das Ursprungsgewebe nachvollziehbar. Maligne Knochen- und Weichteiltumoren werden Sarkome genannt.
15.1.2
Epidemiologie und Ätiologie
Der Anteil maligner Weichteiltumoren an sämtlichen Malignomen beim Erwachsenen beträgt weniger als 1%. Bei Kindern machen die Weichteiltumoren mit 15% aller Malignome dagegen einen deutlich größeren Anteil aus. Die Inzidenz der benignen Weichteiltumoren ist nicht bekannt. Man geht davon aus, dass sie 100-fach höher ist als diejenige der Sarkome. Weichteiltumoren können am Rumpf, im Halsbereich sowie an der oberen und unteren Extremität auftreten. Der Kopf ist selten betroffen. Die Häufigkeitsverteilung korreliert mit der Gewebemasse der jeweiligen Körperregion. Die untere Extremität ist mit etwa 45% die Hauptprädilektionsstelle. Es folgen obere Extremität und Rumpf mit jeweils etwa 20%. Die Halsregion ist in 5% der Fälle betroffen. Es gibt 2 Altersgipfel: Zum einen treten Sarkome gehäuft bei Kindern auf, der zweite Peak liegt bei älteren Menschen über 50 Jahren. Die Exposition gegenüber gewissen Substanzen sowie bestimmte Genmutationen sind als ätiologische Faktoren anerkannt.
15 Risikofaktoren für das Auftreten von Weichteilsarkomen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Ionisierende Strahlen Viren (humane Herpesviren, HIV) Chronisches Lymphödem Chemische Karzinogene (Dioxin) Medikamente (Zytostatika) Genetische Mutationen (Fibromatose, Retinoblastom, Gardner-Syndrom)
Der Anteil maligner Knochentumoren an sämtlichen Malignomen beim Erwachsenen beträgt 0,2%. Kinder sind häufiger betroffen. Die Ätiologie dieser Tumoren ist weitgehend unbekannt. Ein signifikanter Fortschritt konnte in letzter Zeit bei ihrer histologischen und genetischen Typisierung erzielt werden.
Staging
Staging benigner Tumoren Benigne Knochen- und Weichteiltumoren werden nach dem System der Musculoskeletal Tumor Society in 3 Stadien eingeteilt: ▬ inaktiv (Stadium I) ▬ aktiv (Stadium II) ▬ aggressiv (Stadium III) Die inaktiven benignen Tumoren sind asymptomatisch und erfahren keine Größenzunahme. Die aktiven benignen Tumoren zeigen eine langsame Größenzunahme und können entsprechend Symptome verursachen. Die aggressiven benignen Tumoren sind die intermediären Raumforderungen, die rasch größenprogredient sind und in das Nachbargewebe hineinwachsen. Auf dieser Einteilung basiert die Therapieempfehlung: Während die inaktiven benignen Tumoren keiner speziellen Therapie bedürfen, ist bei den aktiven und den aggressiven benignen Tumoren die Resektion zu empfehlen. Bei den aggressiven benignen Tumoren müssen wegen der Rezidivfreudigkeit und der Infiltrationsneigung teilweise radikalere chirurgische und allfällig auch adjuvante Behandlungsmethoden angewandt werden.
Staging maligner Tumoren In den Jahren 1943–1952 wurde von Denoix die TNM-Einteilung der Malignome entwickelt, die von der Union International Contre le Cancer (UICC) aufgegriffen, laufend aktualisiert und publiziert wird. Mit dem 1.1.2010 wurde die 7. Revision der TNM-Klassifikation eingeführt. In die TNM-Klassifikation fließen die Tumorgröße (T), der Lymphknotenstatus (N), die Fernmetastasierung (M) und das histopathologische Grading (G) ein, um eine Stadiengruppierung für die malignen Knochen- und Weichteiltumoren zu ermöglichen. Die ausführliche Klassifikation für die Weichteilund Knochentumoren ist in der 7. Auflage TNM-Klassifikation dargestellt (⊡ Tab. 15.1 u. ⊡ Tab. 15.2). Ein oberflächlicher Tumor ist vollständig oberhalb der oberflächlichen Faszie lokalisiert und infiltriert diese nicht. Ein tiefer Tumor ist entweder ausschließlich unterhalb der oberflächlichen Faszie lokalisiert oder oberhalb der Faszie mit Infiltration der Faszie oder durch die Faszie. Eine Lymphknotenmetastasierung kommt bei Weichteiltumoren selten vor. Weichteilsarkome metastasieren vorwiegend in die Lunge. Leber und Haut sind weitere bevorzugte Manifestationsorte. Für die malignen Knochentumoren gilt die in ⊡ Tab. 15.3 dargestellte Kurzfassung der TNM-Klassifikation (7. Aufl.). Die Stadiengruppierung zeigt ⊡ Tab. 15.5.
243 15.1 · Einführung
⊡ Tab. 15.1 TNM-Klassifikation der Weichteilsarkome (7. Aufl., Kurzfassung)
⊡ Tab. 15.4 Stadiengruppierung der Weichteilsarkome (nach Enneking)
Stadium
Beschreibung
Stadium
Grading
Tumorausbreitung
Metastasen
T1
Tumordurchmesser ≤5 cm
IA
Low Grade
Intrakompartimentell
Keine
T1a
Oberflächlich
IB
Low Grade
Extrakompartimentell
Keine
T1b
Tief
IIA
High Grade
Intrakompartimentell
Keine
T2
Tumordurchmesser >5 cm
IIB
High Grade
Extrakompartimentell
Keine
T2a
Oberflächlich
III
G1 oder G1
T1 oder T2
Fernmetastasen
T2b
Tief
N1
Regionär
G
Niedriggradig/hochgradig
⊡ Tab. 15.5 Stadiengruppierung der malignen Knochentumoren (TNM, 7. Aufl.)
⊡ Tab. 15.2 Stadiengruppierung der Weichteilsarkome (TNM, 7. Aufl.) Stadium
T
N
M
G
IA
T1a
N0, NX
M0
Niedriggradig
T1b
N0, NX
M0
Niedriggradig
T2a
N0, NX
M0
Niedriggradig
T2b
N0, NX
M0
Niedriggradig
T1a
N0, NX
M0
Hochgradig
T1b
N0, NX
M0
Hochgradig
IIB
T2a
N0, NX
M0
Hochgradig
III
T2b
N0, NX
M0
Hochgradig
T2b
N1
M0
Hochgradig
Jedes T
N1
M0
Jedes G
Jedes T
Jedes N
M1
Jedes G
IB
IIA
IV
⊡ Tab. 15.3 TNM-Klassifikation der malignen Knochentumoren (7. Aufl., Kurzfassung) Stadium
Beschreibung
T1
Tumordurchmesser ≤8 cm
T2
Tumordurchmesser >8 cm
T3
diskontinuierliche Ausbreitung im primär befallenen Knochen
N1
Regionär
M1a
Lungenmetastasen
M1b
Andere Fernmetastasen
G
Niedriggradig/hochgradig
> Wegen der Prognoserelevanz wird großer Wert auf die Unterscheidung zwischen intrakompartimenteller und extrakompartimenteller Tumorausbreitung gelegt.
Das Kompartiment ist am Muskel durch die Faszie, am Knochen durch die Kortikalis und am Gelenk durch die Kapsel begrenzt. Tumoren, die entlang der Gefäß- und Nervenbündel,
Stadium
T
N
M
G
IA
T1
N0, NX
M0
Niedriggradig
IB
T2
N0, NX
M0
Niedriggradig
IIA
T1
N0, NX
M0
Hochgradig
IIB
T2
N0, NX
M0
Hochgradig
III
T3
N0, NX
M0
Jedes G
IVA
Jedes T
N0, NX
M1a
Jedes G
IVB
Jedes T
N1
Jedes M
Jedes G
Jedes T
Jedes N
M1b
Jedes G
in der Kniekehle oder im Becken entstehen, werden immer als extrakompartimentell wachsend beurteilt. Bei retroperitonealen Sarkomen ist das Peritoneum, bei perirenalen die Gerota-Faszie als Kompartimentgrenze definiert. Prognostische Relevanz ergibt sich aus dem bei 15% liegenden, deutlich niedrigeren Metastasierungsrisiko niedrigmaligner Sarkome. Dagegen wird bei hochmalignen Sarkomen mit etwa 50% ein hohes Fernmetastasierungsrisiko gesehen. Entsprechend beeinflusst neben dem histopathologischen Typ das histopathologische Grading die Therapie, insbesondere die Radikalität des chirurgischen Vorgehens, außerdem die Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Überlebensrate sinkt mit steigendem histopathologischem Grading sowie progredienter Tumorausdehnung, Metastasierung, Tumorgröße und Tumortiefe. Erwing-Sarkome, Rhabdomyosarkome, Angiosarkome, pleomorphe Liposarkome, extraossäre Osteosarkome und mesenchymale Chondrosarkome werden unabhängig des Score-Ergebnisses immer als hochmaligne eingestuft. Gutdifferenzierte Liposarkome, Dermatofibrosarcoma protuberans, infantile Fibrosarkome und angiomatoide maligne fibröse Histiozytome werden dagegen stets als niedrigmaligne eingestuft.
15.1.4
Diagnostik
Anamnese Die benignen Weichteiltumoren sind zumeist lange Zeit symptomlos. Wenn überhaupt, berichten die Patienten über eine
15
244
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
mechanisch störende Raumforderung. Schmerzen werden meistens nicht angegeben. Häufig fällt das erste Augenmerk auf den Tumor nach einem Bagatelltrauma aufgrund einer Untersuchung der betroffenen Körperregion. Das stattgehabte Trauma erklärt allerdings selten die Tumorgenese. Bei malignen Tumoren werden dagegen häufig Schmerzen angegeben. Auch über malignomübliche, jedoch unspezifische Symptome als Zeichen einer konsumierenden Erkrankung wie Müdigkeit, Schwäche, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und Schwellung der Lymphknoten wird berichtet. Die rasche Größenprogredienz eines Weichteiltumors ist ein unsicheres Malignitätskriterium. Familien- und eigenanamnestisch sind vorbestehende Tumorerkrankungen zu erfragen.
Klinische Untersuchung Bei der körperlichen Untersuchung sollten durch Inspektion und Palpation sowohl der Lokalbefund als auch allfällige Begleitbefunde beurteilt werden. Lymphknoten, innere Organe und Hautverhältnisse sind bezüglich Auffälligkeiten zu untersuchen.
Laborchemische Untersuchung Die laborchemische Untersuchung sollte neben einem differenzierten Blutbild die Konzentration des C-reaktiven Proteins, die Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und die Elektrolytwerte erfassen. Bei bestätigter Malignomdiagnose können weitere Laborwerte zur Verlaufsbeurteilung herangezogen werden (z. B. Enzymaktivitäten: Transaminasen, Lipase, LDH).
Bildgebende Verfahren Röntgendiagnostik
Zunächst sollte ein konventionelles Röntgenbild der betroffenen Körperregion in 2 Ebenen angefertigt werden. Hiermit kann die erste Differenzierung des Tumors erfolgen. Eine Beurteilung, ob es sich um eine knöcherne oder weichteilige Raumforderung handelt, ist ebenso möglich wie eine Aussage hinsichtlich kalzifizierender Anteile. Schon das konventionelle Röntgenbild kann malignomverdächtige Strukturen anzeigen.
15
Computertomographie (CT)
Die CT lässt ebenfalls eine Größenabschätzung mit Beurteilung des Infiltrationsausmaßes zu. Durch Kontrastmittelgabe ist die Durchblutungssituation sehr exakt abzuschätzen. Zur ScreeningUntersuchung hinsichtlich Lymphknoten-, Leber- und Lungenmetastasierung ist die CT das Mittel der Wahl. Insbesondere zur Beurteilung von Weichteilgewebe am Körperstamm und zur Rekonstruktion von Knochen wird die CT-Untersuchung herangezogen. Angaben über die Dignität des Tumors sind unspezifisch. Magnetresonanztomographie (MRT)
Wegen der exzellenten Abgrenzbarkeit der einzelnen Strukturen bei fehlender Strahlenbelastung und besserer Kontrastmittelakzeptanz hat sich die MRT als Untersuchungsmittel der Wahl etabliert. Insbesondere bei Weichteiltumoren der Extremitäten ist sie Goldstandard. Erfahrene Untersucher können mittels MRT auch eine Aussage über die Dignität des Tumors wagen. 3-Phasen-Skelettszintigraphie
Die Ganzkörperskelettszintigraphie lässt zwar weder eine sensitive noch eine spezifische Aussage hinsichtlich einer Mehranreicherung zu, womit sie kein geeignetes Diagnostikum für Weichteiltumoren darstellt. Zur weiteren Abklärung, insbesondere zur Knochenmetastasensuche, wird sie dagegen regelmäßig herangezogen. Positronenemissionstomographie (PET)
Als Routinediagnostikum wird die Fluordesoxyglukose-PET (PET-CT) für Weichteiltumoren nicht eingesetzt. Sie ist auch kein Bestandteil der obligatorischen, von den Krankenkassen getragenen Abklärung. Sensitivität und Spezifität für Staging und Rezidivdiagnostik sind gut (je nach Fragestellung Sensitivität von bis zu 100% und Spezifität von bis zu 90%). Eine Überlegenheit gegenüber der Diagnostik mittels CT oder MRT konnte bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. Aktuell stellt die Fluordesoxyglukose-PET eine weitere Möglichkeit bei unklaren Fällen oder als Zusatzdiagnostik dar (in der Schweiz nur mit Kostengutsprache möglich).
Histologische Untersuchung Malignitätskriterien im Röntgenbild
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Unscharfe Randbegrenzung der Tumorläsion Mottenfraßähnliche Knochendestruktion Lamelläre (zwiebelschalenartige) Periostreaktion Spikuläre Periostreaktion bei Tumorinfiltration Periostsporn (Codman-Dreieck) als Zeichen schnellen Wachstums
Sonographie
Mittels Sonographie können insbesondere die Weichteiltumoren hinsichtlich Lokalisation und Größe einschließlich Beurteilung des Ausgangsgewebes und möglicher Infiltrierung von Nachbarstrukturen sehr gut beurteilt werden. Durch Farbdopplernutzung lassen sich Aussagen über die Durchblutungssituation des Tumors treffen. Angaben über die Dignität sind mittels Sonographie jedoch nicht möglich.
Zur exakten Klassifizierung eines Tumors bedarf es einer feingeweblichen Untersuchung. Zur Gewinnung des Gewebes bestehen verschiedene Möglichkeiten: Bei benignen Tumoren ist die gleichzeitige diagnostisch-therapeutische Intervention durch vollständige Exzision des betroffenen Gewebes inklusive Pseudokapsel zu empfehlen. Die histologische Untersuchung sollte auch bei fehlendem Malignitätsverdacht stets folgen. Bei Verdacht auf maligne Erkrankung ist die Exzisionsbiopsie verboten, da sie einer R1-Resektion gleichkäme und die Gefahr der Tumorzellverschleppung birgt (s. unten). Das Gewebe sollte bei Knochentumoren stets mittels Inzisionsbiospie gewonnen werden. Bei Weichteiltumoren kann man neben der Inzisions- auch eine Feinnadelbiopsie durchführen. Um die gewünschte Stelle sicher zu erreichen, ist eine Feinnadelbiopsie computertomographisch oder sonographisch gesteuert durchzuführen. Die Therapieentscheidung kann auch während der definitiven Operation fallen, wenn sich der betroffene Bereich mittels Schnellschnittdiagnostik un-
15
245 15.1 · Einführung
tersuchen lässt. Sobald eine operative Gewebegewinnung erfolgt, sind wichtige Regeln zu befolgen (s. nachfolgende Übersicht).
a
b
Biopsiestandards
▬ Der Hautschnitt soll direkt über dem befallenen Kompar-
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
15.1.5
timent und weitestmöglich distal liegen. Dabei sollten sich Gefäße und Nerven möglichst weit entfernt vom Schnitt befinden. Die Präparation sollte nicht durch die »internervous plains«, sondern stets innerhalb eines Kompartiments erfolgen. Das Biopsat muss vitales Tumorgewebe – idealerweise inklusive Pseudokapsel – enthalten und sollte mindestens ein Volumen von 1 cm3 aufweisen. Im Rahmen der definitiven zweiten Operation muss der Zugang vollständig ausgeschnitten werden können. Während der Operation sollte eine subtile Blutstillung erfolgen. Die Drainage verlässt die Haut durch die Wunde, auf keinen Fall durch ein benachbartes Kompartiment.
radikal
weit
radikal
marginal intraläsional
weit marginal intraläsional
Therapie
Der Therapieschwerpunkt bei malignen Weichteiltumoren liegt im Operativen. Unterstützung findet die chirurgische Behandlung durch die Radiatio und die zytostatische Therapie. Allgemein wird die Behandlung der Sarkome in Tumorzentren empfohlen.
⊡ Abb. 15.1a,b Schematische Darstellung der Resektionsgrenzen nach Enneking (intraläsional, marginal, weit, radikal). a Resektion, b Amputation
Chirurgische Therapie Definitionsgemäß wird die operative Behandlung nach ihrer Radikalität eingeteilt. Je nach Resektionsausmaß kann eine Prognose hinsichtlich Lokalrezidiv und adjuvanter Therapieempfehlung abgegeben werden. Wünschenswert ist die vollständige Entfernung der Tumormasse mit ausreichend großem tumorfreien Rand unter Belassung von möglichst viel nichtbefallenem Gewebe. Bei Sarkomen wird die äußere Begrenzung »Pseudokapsel« genannt; diese Zone wird makroskopisch nicht mehr als Tumormasse identifiziert. Es finden sich darin jedoch häufig noch Tumornester, sog. Satelliten, sodass die Pseudokapsel zur Tumormasse gerechnet werden muss. Die Resektionsgrenzen nach Enneking sind in ⊡ Abb. 15.1 dargestellt.
im benachbarten Gewebe zurückzuführen. Dies sind Tumornester, welche im makroskopisch gesunden Gewebe verbleiben.
Radikale Resektion
Intraläsionale Resektion
Bei der radikalen Resektion wird der Tumor »en bloc« und außerdem das gesamte Gewebe der betroffenen Kompartimente reseziert. Man spricht von einer R0-Resektion. Bei einer Amputation wird der gesamte Körperteil distal der Läsion mitentfernt. Bei beiden Verfahren liegt die Rezidivrate unter 5%. Die Amputation ist nicht per se die radikalere Operation, wird aber bei Befall mehrerer Kompartimente empfohlen.
Bei der intraläsionalen Resektion wird der Tumor nicht vollständig entfernt, die Präparation erfolgt durch den Tumor. Wegen der Persistenz von Tumorzellen, also entsprechend einer R2-Resektion, liegt die Rezidivrate bei 100%. Sowohl die marginale als auch die intraläsionale Resektion sind lediglich Palliativmaßnahmen. Wegen der seltenen Lymphknotenmetastasierung ist eine Lymphknotendissektion bei der chirurgischen Behandlung der Sarkome nicht indiziert. Auch in den seltenen Fällen eines Lymphknotenbefalls (Synovialsarkom) ist durch die Lymphknotenausräumung kein Nutzen für den Patienten erwiesen. Bei benignen Weichteiltumoren ist die marginale Resektion zumeist ausreichend. Lediglich aktive und aggressive Tumoren neigen zum Rezidiv und sollten radikaler angegangen werden.
Weite Resektion (»wide resection«)
Bei der weiten Resektion ist der Tumor – ebenfalls vollständig inklusive Pseudokapsel – von mindestens 1 cm gesundem Gewebe im Resektat (R0) umgeben. Das Kompartiment wird jedoch ansonsten belassen. Die Rezidivrate ist mit 10% etwas höher als bei der radikalen Resektion. Dies ist auf »skip lesions«
Marginale Resektion
Bei der marginalen Resektion wird entlang der makroskopischen Tumorgrenze, der sog. Pseudokapsel, reseziert. Makroskopisch ist somit der Tumor zwar entfernt, mikroskopisch muss jedoch mit verbliebener Tumormasse gerechnet werden. Daher liegt die Rezidivrate dieser R1-Resektion bei 60–90%. Gehäuft wird diese Resektionsart durchgeführt, wenn der Tumor fälschlicherweise als benigne eingestuft und entsprechend nur aus der Kapsel ausgeschält wird.
246
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
⊡ Tab. 15.6 Strahlentherapie Präoperative Radiatio
Intraoperative Radiatio
Postoperative Radiatio
Vorteile
kleines Behandlungsfeld kleine Dosen wegen guter Durchblutung des Tumors ausreichend keine Tumorverteilung Tumorverkleinerung
keine Verzögerung der chirurgischen Therapie sehr kleine Dosis ausreichend zeitsparend gezielte Strahlenapplikation
sofortige chirurgische Behandlung möglich präzise Bestimmung der Tumorausdehnung möglich weniger Wundheilstörungen
Nachteile
Bestrahlungstiefe ungenau nur Behandlung des Tumorbetts möglich Wundheilungsstörung Infekte Strahlenbelastung des Personals Neuritis/Neuropathie
hohe Dosen erforderlich Keloidbildung der Narbe großes Behandlungsfeld
Wundheilungsstörung Verzögerung des Operationszeitpunkts Biopsie erschwert Tumorausdehnung intraoperativ nicht beurteilbar
Die chirurgische Tumorresektion ist zwar Goldstandard, dennoch haben sich adjuvante und neoadjuvante Therapieformen etabliert, die die Überlebensrate deutlich steigern und das gesamte Behandlungsmanagement vereinfachen konnten.
Bei Kindern dagegen zeigt die zytostatische Therapie sehr gute Ansprechraten, weswegen die Chemotherapie bei ihnen etabliert ist. Insbesondere beim Ewing-Sarkom und beim Rhabdomyosarkom gehört diese Behandlungsform als neoadjuvante Zytostase zum Standard.
Strahlentherapie Bis in das Jahr 1982 war die Amputation das Standardverfahren zur Behandlung eines Sarkoms. Als Studien für beinerhaltende Operationen mit anschließender Radiotherapie im Vergleich zur Amputation bei hochmalignen Sarkome an einer Extremität ähnliche Überlebens- und Rezidivraten nachweisen konnten, setzte sich als Therapie der Wahl die »wide resection« – sofern chirurgisch möglich – mit Radiatio durch. Bei hochmalignen Sarkomen konnte die Rezidivquote durch Bestrahlung signifikant reduziert werden. Seither ist die Bestrahlung ein unangefochtener Bestandteil der Standardtherapie hochmaligner Weichteiltumoren. Einen hohen Stellenwert hat die Strahlentherapie im Palliativbereich, indem sie zur Schmerzlinderung beiträgt, v. a. bei Knochenmetastasen. Weichteiltumoren können präoperativ (neoadjuvant), intraoperativ (Brachytherapie) und postoperativ (adjuvant) bestrahlt werden (⊡ Tab. 15.6). Bei Weichteiltumoren hat sich die Kombination aus Brachytherapie und anschließender postoperativer Radiatio durchgesetzt. Bei Knochentumoren ist die intraoperative Strahlentherapie nicht sinnvoll. Hier reicht die postoperative Bestrahlung aus.
15
! Cave Nach durchgeführter Strahlentherapie besteht ein etwa 1%iges Risiko, an einem strahleninduzierten Zweittumor zu erkranken.
Chirurgie bei Knochenmetastasen Bei knochenmetastatischem Befall ist die kurative Behandlung üblicherweise nicht mehr möglich. Hier besteht die chirurgische Interventionsindikation in der Prophylaxe oder Behandlung von pathologischen Frakturen. Zur Entscheidungshilfe, ob bei bestehender Metastase eine Protektionsosteosynthese durchgeführt werden sollte, wird die Klassifikation nach Mirels herangezogen. Diese schätzt das Frakturrisiko metastasenbefallener Röhrenknochen anhand der Lokalisation und der Größe der Metastasen sowie anhand der Läsionsart und der Schmerzen ein (⊡ Tab. 15.7). Werden nach dieser Einteilung mindesten 8 Punkte erreicht, entspricht dies einem deutlich erhöhten Frakturrisiko. Es besteht die Indikation zur Schutzosteosynthese. ⊡ Tab. 15.7 Klassifikation nach Mirels Risikofaktor
Punkte
Größe <ൈ der Zirkumferenz
1
ൈ bis der Zirkumferenz
2
> der Zirkumferenz
3
Lokalisation
Chemotherapie Die (neo-)adjuvante Therapie mittels Zytostatika wird elektiv angewandt. Verbreitete Zytostatika sind Doxorubicin und Ifosfamid, welche als Einzelpräparate und in Kombination verabreicht werden. Die Chemotherapie wird bei metastasierten Weichteiltumoren und bei Rezidiven empfohlen. Bei Ersttumoren erfolgt sie nur dann, wenn diese in tiefen Schichten gelegen und hoch- bis mäßiggradig maligne sind. Wegen der strapaziösen Behandlung sollte der Patient einen guten Allgemeinzustand aufweisen und jünger sein als 65 Jahre. Bei den meisten Sarkomen (malignes fibröses Histiozytom, Liposarkom und Leiomyosarkom) ist ein schlechtes Ansprechen auf die Chemotherapie bekannt, entsprechend sollte man bei diesen Tumoren auf andere adjuvante Therapien zurückgreifen.
Obere Extremität
1
Untere Extremität
2
Peritrochantär
3
Art der Läsion Osteoplastisch
1
Gemischt
2
Osteolytisch
3
Schmerzen Gering
1
Mäßig
2
Extrem
3
247 15.2 · Gutartige Weichteiltumoren
15.2
Gutartige Weichteiltumoren
15.2.1
Lipomatöse benigne Weichteiltumoren
innenfläche und Fußsohle. Die zumeist schmerzlose Raumforderung neigt nach chirurgischer Behandlung zu Rezidiven. Eine maligne Entartung mit Metastasierung ist dagegen extrem selten.
Lipom Diese gutartige Fettgewebegeschwulst tritt typischerweise extraossär und stammnah auf. Es ist der Weichteiltumor mit der höchsten Indzidenz. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer, der Altersgipfel liegt zwischen dem 40. und dem 60. Lebensjahr. Die langsam wachsende Raumforderung bedarf bei Beschwerdearmut keiner Therapie, da eine Entartung selbst bei großen Lipomen untypisch ist und die Rezidivrate bei annähernd 0% liegt.
Spindelzelllipom Das Spindelzelllipom weist bei der histologischen Untersuchung viele Spindelzellen auf. Dabei finden sich beim Spindelzelllipom im Gegensatz zum malignen Tumor keine Lipoblasten, dafür eine strukturierte Formation der Kollagenfasern und der mukoiden Matrix. Das Spindelzelllipom wächst typischerweise langsam im Subkutangewebe der Rücken-, Schulter- und Nackenregion. Der Altersgipfel liegt in der 4.–7. Lebensdekade. Im Gegensatz zum Lipom zeigt das Spindelzelllipom ein gehäuftes Auftreten beim männlichen Geschlecht und tritt fast immer solitär auf.
Pleomorphes Lipom Das pleomorphe Lipom ist sehr selten, es macht etwa 1,5% aller lipösen Weichteiltumoren aus. Die sehr langsam wachsende Raumforderung tritt ähnlich dem Spindelzelllipom vermehrt beim männlichen Geschlecht mit einem Altersgipfel in der 5.–7. Lebensdekade auf. Die Abgrenzung zum malignen Tumor ist indiziert, um eine unnötige operative Intervention vermeiden zu können.
Fibromatose Fibromatosen sind derbe Bindegewebetumoren. Bekannte Fälle sind die Dupuytren-Kontraktur der Aponeurose an der Hand und der M. Ledderhose der Fußsohlenaponeurose mit konsekutiver Kontrakturentwicklung. Diese Erkrankung neigt zum Rezidiv. Eine Lösung der Kontrakturen erfolgt chirurgisch. Das Krankheitsbild der juvenilen hyalinen Fibromatose zeigt neben multiplen, subkutan liegenden Tumoren Flexionskontrakturen der Gelenke sowie eine Gingivahypertrophie. Diese extrem seltene Krankheit lässt sich auf eine genetische Ursache zurückführen.
Desmoidfibromatose Die Desmoidfibromatose ist mit 0,3% aller Weichteiltumoren selten. Die Inzidenz steigt bei familiärer adenomatöser Polyposis auf 17% und beim Gardner-Syndrom auf 38%. Die desmoplastischen Fibroblastome wachsen überwiegend in muskuloaponeurotischen Strukturen. Die definitionsgemäß benigne Erkrankung kann in ihrer aggressiven Form die benachbarte Muskulatur und die Faszien infiltrieren. In solch einem Fall ist die weite Resektion mit anschließender Strahlentherapie – wie bei malignen Tumoren – notwendig. Bei langsam wachsenden, symptomlosen Tumoren reicht die Beobachtung aus; eine weitere Intervention ist nicht notwendig. Die Prädilektionsstellen liegen – untypisch für sonstige Weichteiltumoren – in der oberen Körperhälfte. Die Desmoidfibromatose kann in jedem Alter auftreten; der Altersgipfel liegt im 2.–4. Lebensjahrzehnt. Auffällig häufig sind Frauen postpartal betroffen.
Noduläre Fasziitis Angiolipom Angiolipome werden in nichtinfiltrierend und infiltrierend wachsende Tumoren unterteilt. Die Erstgenannten treten bei jungen Erwachsenen als weiche, oft schmerzhafte kutane Knötchen auf. Wegen der häufig angegebenen lokalen Beschwerden ist die Enukleation angeraten. Die infiltrierend wachsenden Angiolipome sind sehr selten. Obwohl sie gutartig sind, infiltrieren sie das Nachbargewebe und lassen dadurch eine maligen Entität vermuten. Die Therapie dieser aggressiven Tumoren erfolgt stets chirurgisch mittels weiter Resektion. Anschließend ist zumindest beim Rezidiv eine Radiotherapie angezeigt.
Die noduläre Fasziitis ist eine tumorartige Läsion, die entlang der Faszien wächst. Die bevorzugte Lokalisation ist der Unterarm. Der Altersgipfel liegt in der Adoleszenz. Durch die hohe Mitoserate kann die Abgrenzung der gutartigen nodulären Fasziitis gegenüber dem malignen Fibrosarkom im Rahmen der histologischen Untersuchung schwierig sein. Die tatsächliche Entartungsrate liegt ebenso wie die Rezidivrate annähernd bei 0%. Eine chirurgische Intervention ist nur bei störender Raumforderung notwendig.
15.2.3 15.2.2
Fibröse benigne Weichteiltumoren
Kalzifizierendes aponeurotisches Fibrom Das kalzifizierende aponeurotische Fibrom ist ein sehr seltener Tumor, der in 2 Formen auftritt. Nach dem Erstbeschreiber wird das aponeurotische Fibrom auch Keasbey’s Tumor genannt, dessen diffuser Befall sich vorwiegend bei Kindern und Jugendlichen findet, während der umschriebene Befall eher bei älteren Patienten auftritt. Hauptprädilektionsstellen sind Hand-
Neurale benigne Weichteiltumoren
Neurolemmom (benignes Schwannom, Neurinom) Das Neurolemmom entsteht als gutartiger Tumor aus den Schwann-Zellen, welche die peripheren Nerven umscheiden. Ihre Prädilektionsstelle ist das Kopf-Hals-Gebiet. Die sehr langsam wachsenden Neurinome entarten extrem selten, können aber aufgrund der Nervennähe zu neurologischen Ausfällen führen, insbesondere bei rückenmarknaher Lage der Schwannome und beim Akustikusneurinom. Der Altersgipfel liegt in der 2.–5. Dekade.
15
248
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Neurofibrom Neurofibrome sind gutartige Tumoren der peripheren Nerven, die sich als kutane noduläre und polypoide Knötchen darstellen. Prädilektionsstellen sind der Rumpf und die Extremitäten. Beim solitären Befall ist eine maligne Entartung extrem selten. Neurofibrome sind mit der autosomal-dominant vererbbaren Neurofibromatose Typ I (Recklinghausen) und Typ II assoziiert. Hier liegt die Entartungswahrscheinlichkeit bei 5–20%.
15.2.4
Benigne Weichteiltumoren der glatten Muskulatur: Leiomyome
Leiomyome entstehen an der glatten Muskulatur. Hierzu gehört die Muskulatur der Haarwurzeln (M. erector pili), der Gefäße sowie der Mamillen- und Genitalregion. Am häufigsten findet man das Myom an der Gebärmutter. In den orthopädischen Bereich fällt die Behandlung von Angioleiomyomen. Dies sind zum Teil schmerzhafte, solitäre, subkutan liegende Knötchen. Histologisch besteht eine Unterteilung in solide/kapillär, kavernös und venös. Prädilektionsstellen sind die obere und die untere Extremität mit knapp 90%.
15.2.7
Die gutartigen Neubildungen der Blutgefäße werden je nach dem Durchmesser des Lumens in kapilläre und kavernöse Hämangiome unterteilt. Die kapillären Hämangiome mit engen Lumina liegen in der Kutis oder in der Mukosa. Gehäuft treten sie außerdem in Wirbelkörpern auf. Die kavernösen Hämangiome mit kleinen Gefäßdurchmessern findet man eher in den tieferen Hautschichten und in der Muskulatur. Während die kapillären Hämangiome max. 3 cm groß werden, können die kavernösen deutlich größere Ausmaße annehmen (Naevus flammeus). Obwohl Hämangiome an jedem Gefäß entstehen können, ist die Prädilektionsstelle der Kopf- und Halsbereich. Das Hämangiom ist der häufigste Weichteiltumor des Kindesalters. Da es in 90% der Fälle während der ersten 10 Lebensjahre zu einer totalen oder partiellen Spontanrückbildung kommt, besteht eine Therapieindikation nur bei schneller Größenzunahme oder bei Lokalisation im Gesichtsbereich. Die chirurgische Behandlung erfolgt üblicherweise mittels Laser oder durch Kryotherapie.
15.2.8 15.2.5
Perivaskuläre Weichteiltumoren: Glomustumoren
Bei Glomustumoren kommt es zur Proliferation von Epitheloidzellen, die in der Nähe von Blutgefäßen gelegen sind. Die Tumoren treten v. a. im Fingerbereich auf, meistens subungual. Oft werden von den Patienten – vorwiegend junge Erwachsene – Schmerzen angegeben. Da die Raumforderungen unter dem Elektronenmikroskop häufig eine Ko-Existenz von glatter Muskulatur, Endothel- und Epitheloidzellen zeigen, besteht die Theorie, dass es sich beim Glomustumor nicht um eine Neoplasie, sondern um eine mesodermale Entwicklungsstörung handelt.
15
15.2.6
Benigne Weichteiltumoren der Skelettmuskulatur: Rhabdomyome
Rhabdomyome treten hauptsächlich im Kleinkindalter in der kardialen Muskulatur auf und sind zu 50% mit der tuberösen Sklerose (Bourneville-Pringle-Syndrom) assoziiert. Die extrakardialen Rhabdomyome sind extrem seltene Neoplasien, die aufgrund der unterschiedlichen Histologie in adult und fetal unterteilt werden. Bei fetalen Rhabdomyomen unterscheitet man weiter zwischen myxoid und zellulär. Über 90% aller adulten und zellulär-fetalen extrakardialen Rhabdomyome treten im Kopf- und Halsbereich auf. Während der adulte Typ eher bei männlichen Erwachsenen auftritt, befällt der fetale, myxoide Typ v. a. den Vulvovaginalbereich von Frauen mittleren Alters und den postaurikulären Bereich von Jungen. Da extrakardiale Rhabdomyome weder zu aggressivem Wachstum noch zu Metastasierung oder Rezidivierung neigen, ist die lokale Exzision die Therapie der Wahl.
Benigne vaskuläre Weichteiltumoren: Hämangiome
Benigne chondroossäre Weichteiltumoren: Weichteilchondrome
Weichteilchondrome (extraossäre Chondrome, Weichteilosteochondrome) sind im Gegensatz zu ossären Chondromen selten. Die Genese ist nicht gesichert; neben der Neoplasie werden rezidivierende Mikrotraumen sowie eine Entwicklungsstörung propagiert. Die Tumoren wachsen hauptsächlich im Handbereich, sind zumeist <3 cm groß und neigen zu Rezidiven. Primär besteht kein Kontakt des Weichteilchondroms zu Kortikalis oder Gelenkkapsel, bei entsprechender Größe kann jedoch eine sekundäre knöcherne Veränderung auftreten. Eine Geschlechtsspezifität ist nicht nachzuweisen; der Altersgipfel liegt zwischen dem 4. und dem 6. Lebensjahrzehnt. Da ein erhöhtes Entartungsrisiko nicht bewiesen ist, aber postuliert wird, sollte eine chirurgische Exzision erfolgen.
15.2.9
Synoviale Weichteiltumoren
Ganglion Ein Ganglion ist eine zystische Formation mit fibröser Kapsel, die sich aus Synovia oder Sehnenscheiden entwickelt und mit einer hochviskösen, mukoiden Flüssigkeit gefüllt ist. Die Verbindung zum Ausgangsgewebe kann im Verlauf verloren gehen oder sich als fibröser Strang zeigen. Die prallelastische Raumforderung ist üblicherweise symptomlos, man findet sie zumeist im Bereich des Hand- oder Sprunggelenks. Eine operative Intervention ist bei Beschwerdefreiheit nicht notwendig. Die Rezidivquote liegt bei etwa 20%.
Pigmentierte villonodulläre Synovitis (PVNS) Die pigmentierte villonodulläre Synovitis (PVNS) ist mit einer Inzidenz von 0,0002% sehr selten. Hauptlokalisationsort ist mit 80% das Kniegelenk, gefolgt von Hüft- und Sprunggelenk.
249 15.3 · Bösartige Weichteiltumoren
Bei der PVNS ist die neoplastische Genese nicht gesichert, als Pathomechanismus wird auch eine inflammatorische Reaktion diskutiert. Es wird zwischen der diffusen und der lokalen PVNS unterschieden. Bei beiden Arten kommt es zur villösen (zottig) und nodulären (knotig) Schleimhautproliferation, die bei der lokalen PVNS als solitäre Schwellung zumeist der Sehnenscheide symptomatisch wird. Die diffuse PVNS findet sich dagegen v. a. in Gelenken und betrifft die gesamte Synovia. Wegen der hohen Rezidvrate von bis zu 50% und der erhöhten Gefahr einer Gelenkdestruktion wird die PVNS mit malignen Tumoren verglichen. Als Therapie der Wahl gilt die offene oder arthroskopische Synovektomie. Durch eine adjuvante Radiatio kann die Rezidivrate auf 10–20% gesenkt werden. Bei Gelenkdestruktion ist unter Umständen ein Gelenkersatz notwendig. Chemo- und Radiosynoviorthese haben sich nicht durchgesetzt. Die erstgenannte Therapie zeigt häufige und starke Nebenwirkungen, außerdem wird dem radioaktiven Medikament eine gewisse Karzinogenität nachgesagt. Die Radiosynoviorthese ist dagegen wenig wirksam und erhöht das Risiko des degenerativen Verschleißes am behandelten Gelenk.
Riesenzelltumor der Sehnenscheide Der Riesenzelltumor der Sehnenscheide ist mit 1,6% aller Weichteiltumoren ein sehr seltener Tumor, der bevorzugt an den Sehnenscheiden der Hand und des Sprunggelenks wächst. Ob wirklich eine Neoplasie besteht oder die fibröse Masse eine inflammatorische Antwort auf (Mikro-)Traumen darstellt, konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden. Histologisch finden sich in den Raumforderungen Riesenzellen, inflammatorische Zellen, Makrophagen, Histiozyten, Fibrozyten und Kollagen. Der Tumor wächst langsam. Treten Beschwerden auf, ist eine Exzision erforderlich. Bevorzugt tritt der Riesenzelltumor in der 3. und 4. Lebensdekade auf. Die histologische Diagnostik sollte durchgeführt werden, um eine villonoduläre Synovialitis sicher ausschließen zu können.
Synoviale Chondromatose Bei der synovialen Chondromatose entstehen in der Gelenkschleimhaut aus ungeklärter Ursache knorpelige und osteokartilaginäre Körper, die aus der Synovia herauswachsen und zu freien Gelenkkörpern werden können. Bevorzugt findet sich die Chrondromatose im Kniegelenk, gefolgt von Hüft- und Ellenbogengelenk. Der Altersgipfel liegt im 4. Lebensjahrzehnt. Da es neben Gelenkblockaden und schmerzhafter Schwellung durch die freien Gelenkkörper zur Zerstörung des Gelenks kommen kann, ist die Gelenkkörperentfernung zu empfehlen. Die radikale Synovektomie wird dagegen nicht einheitlich befürwortet. Es wird postuliert, dass sich dadurch die Rezidivrate senken ließe. Die Erkrankung ist jedoch so selten, dass selbst erfahrene Chirurgen nur über Einzelfälle berichten können.
ten Geschwülsten. Am häufigsten treten Myxome im Vorhof des Herzens auf. Extrakardiale Weichteilmyxome findet man subkutan, intratendinös, intramuskulär und ossär. Die häufigste extrakardiale Lokalisation ist der Unterschenkel. Frauen sind etwas häufiger betroffen. Das Myxom neigt weder zu Rezidiven noch zu Metastasen.
15.3
Bösartige Weichteiltumoren
15.3.1
Maligne lipomatöse Weichteiltumoren
Liposarkom Fünfzehn Prozent aller malignen Weichteiltumoren sind Liposarkome. Sie entstehen typischerweise nicht im subkutanen Fettgewebe, sondern in den tieferen Gewebeschichten. Sie neigen zur Rezidivbildung und infiltrieren die intramuskulären Faszien. Eine Arrosion knöcherner Strukturen ist selten. Abzugrenzen ist das atypische Lipom, das zwar zur Rezidivbildung neigt, ansonsten jedoch keinerlei Malignitätskriterien aufweist. Je nach Differenziertheit des Gewebes wird zwischen »Lowgrade«-, »Intermediate-grade«- und »High-grade«-Liposarkomen unterschieden. Da durch das Grading die Metastasierungswahrscheinlichkeit und die Rezidivneigung des Tumors beschrieben werden, sind die Prognose und die Therapie entsprechend des histologischen Bildes sehr unterschiedlich. Neben der hohen Inzidenz im Kindesalter steigt das Risiko mit dem Alter. Der zweite Altersgipfel liegt beim Liposarkom zwischen dem 50. und dem 70. Lebensjahr. Wegen der hohen Strahlensensibilität ist die neoadjuvante Radiatio neben der chirurgischen Intervention standardisierter Bestandteil der Therapie.
»Low-grade«-Liposarkome Zu den »Low-grade«-Liposarkomen gehören die gut differenzierten und die myxoiden Liposarkome. Es sind langsam wachsende Tumoren mit Rezidivneigung. Metastasierungen sind dagegen selten (<10%).
»High-grade«-Liposarkome Aggressive »High-grade«-Liposarkome sind die wenig differenzierten, pleomorphen und rundzelligen Sarkome. Diese sind metastasierungsfreudig mit einer Metastasierungsrate von >50%, und auch die Rezidivrate ist sehr hoch. Die 5-JahresÜberlebensrate liegt bei diesen hochmalignen Tumoren lediglich bei 20%.
15.3.2
Maligne fibröse Weichteiltumoren
Fibrosarkom 15.2.10
Tumoren unklaren Ursprungs: Myxome
Bei den Weichteilmyxomen kommt es durch Ablagerung von myxoider Grundsubstanz in den Zellen der Muskulatur und der Subkutis zu langsam wachsenden, gelegentlich schmerzhaf-
Das Fibrosarkom ist definiert als ein aus anaplastischen Spindelzellen bestehender Tumor in fibrösem oder myxoidem Stoma. Durch die Kernatypien unterscheidet es sich vom oben genannten Desmoid. Das Fibrosarkom hat eine hohe Rezidivrate bei niedriger 5-Jahres-Überlebensrate, die je nach Grading zwischen 32% und 70% liegt. Durch eine optimierte Therapie
15
250
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
konnte zwar das Rezidivrisiko gesenkt werden, einen Einfluss auf die Überlebensrate zeigt sich bisher jedoch nicht.
Malignes fibröses Histiozytom Das maligne fibröse Histiozytom (MFH; Synonyme: pleomorphes fibröses Histiozytom, pleomorphes fibröses Xanthom, malignes fibröses Xanthom) tritt in multiplen Formen auf, jedoch bilden Fibrozyten und Retikulinfasern einen festen Bestandteil. Wegen des morphologischen Variantenreichtums kommt es häufig zur Fehlinterpretation, die Diagnose eines MFH verwischt mit derjenigen anderer Sarkome. Entsprechend ist die Inzidenz ungenau. Man geht davon aus, dass das MFH das häufigste Weichteilsarkom im höheren Alter ist. Der Altersgipfel liegt in der 6. und 7. Lebensdekade. Männer sind häufiger betroffen. Metastasierung und Rezidiv finden sich in >40% der Fälle.
Dermatofibrosarcoma protuberans Das Dermatofibrosarcoma protuberans ist ein lokal aggressiver Hauttumor, der eine hohe Lokalrezidivrate aufweist. Durch eine weite Resektion kann die Rezidivrate auf <10% gesenkt werden, allerdings sind häufig deckungsplastische Eingriffe notwendig. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei diesem niedrigmalignen Tumor bei 98%, fällt allerdings bei Auftreten eines Lokalrezidivs um etwa 5 Prozentpunkte. Der Altersgipfel liegt im 4.–5. Lebensjahrzehnt.
15.4
Gutartige Knochentumoren
15.4.1
Osteogene benigne Knochentumoren
Osteoidosteom z
15
Definition
Es handelt sich um eine gutartige knochenbildende Geschwulst, die gehäuft in den kurzen und langen Röhrenknochen beobachtet wird und sich röntgenologisch durch eine zentrale Aufhellung mit sklerotischem Randsaum, den sog. Nidus, sowie klinisch durch eine unverhältnismäßige Schmerzsymptomatik auszeichnet. z
z
Diagnostik
Seitens der Bildgebung findet sich charakteristischerweise ein sogenannter Nidus, eine lytische Läsion, die üblicherweise kleiner als 1 cm und von einer Sklerosezone umgeben ist. Dieser ist auf konventionellen Röntgenaufnahmen jedoch nur selten auszumachen. Hier stellt sich meist nur die langgezogene, spindelförmige Verdickung des kortikalen Knochens dar (⊡ Abb. 15.2). Gelegentlich kann es zur Ossifikation des Zentrums kommen. In diesen Fällen bietet sich das Bild einer Zielscheibe mit strahlendichtem Zentrum, einer ihn umgebenden lytischen, strahlentransparenten Zone sowie der bereits erwähnten, strahlendichten Sklerosezone in der Peripherie. Um den Nidus darzustellen, eignet sich die CT am besten. Außerdem kann damit die Entfernung von festgelegten Referenzmarken zur Operationsplanung und zur intraoperativen Orientierung dokumentiert werden.
Epidemiologie
Das Osteoidosteom macht ca. 10% aller benignen Knochentumoren aus. Der Altersgipfel liegt zwischen 5 und 35 Jahren, männliche Patienten sind im Verhältnis 2 : 1 häufiger betroffen. z
⊡ Abb. 15.2 Osteoidosteom im Talushals eines 18-jährigen Mannes. Primärvorstellung wegen einer Distorsion des oberen Sprunggelenks
Klinik
Typischerweise ist der dia- bzw. metaphysäre Kortex betroffen, v. a. im Bereich des proximalen Femurs, der Tibia, der Wirbelsäule, der Hände und der Füße. Im Bereich der Wirbelsäule finden sich Osteoidosteome überwiegend in den posterioren Anteilen. Im Vordergrund stehen Schmerzen, die nachts auftreten oder sich verstärken. Diese sprechen typischerweise gut auf Salizylate an. Bei Lokalisation innerhalb eines Gelenks können arthroseähnliche Symptome mit Ergussbildung und Bewegungseinschränkung resultieren. Im Bereich der Wirbelsäule kann es zur Entwicklung einer schmerzhaften Skoliose kommen. Beschrieben wurden aber auch asymptomatische Osteoidosteome.
z
Therapie
Die bewährteste Therapiemethode ist die offene chirurgische Abtragung des Nidus. Dabei wird nach Lokalisation des Hauptbefunds zunächst die Sklerosezone mit dem Meißel durchbrochen und das lytische Zentrum eröffnet. Idealerweise findet sich dann der rötliche bis kirschrote Nidus. Dieser muss vollständig kürettiert und anschließend zur histologischen Untersuchung eingesandt werden. Die Rezidivrate liegt bei dieser Methode bei annähernd 0%, und dieses Vorgehen bietet eine exzellente Ausbeute für die histologische Untersuchung zur Sicherung der Diagnose. In einigen Arbeiten wurden Erfolge einer alternativen Methode, der CT-gesteurten Hochfrequenzablationstechnik, beschrieben. Diese ist schmerzhaft und sollte unter Narkose durchgeführt werden. Dabei wird der sklerotische Knochen mittels Fräse zunächst schichtweise abgetragen. Anschließend
251 15.4 · Gutartige Knochentumoren
erfolgt eine Feinnadelbiopsie des Nidus. Die Spitze der eingeführten Radiofrequenzablationsnadel sendet hochfrequente Radiowellen aus, die eine Hitze von 90°C erzeugen können. Empfohlen wird eine Mindesteinwirkzeit von 6 min. Es kommt zur Hitzenekrose des umgebenden Gewebes. Aufgrund der Hitzeentwicklung können jedoch neurale Strukturen geschädigt werden. Weitere Nachteile sind eine durchschnittliche Rezidivrate von 10–15% sowie eine weniger sichere Ausbeute für die histologische Diagnosesicherung. Bei erfolgreicher Therapie sollte es innerhalb von Stunden zu einer raschen Schmerzreduktion kommen. Sollte die Läsion schlecht erreichbar sein oder der Patient keine opererative Therapie wünschen, besteht die Möglichkeit einer konservativen Therapie im Sinne einer Langzeitmedikation mit nichtsteroidalen Antirheumatika. Die Nebenwirkungen der Medikamente sowie psychische und emotionale Nebenwirkungen sind die Hauptnachteile der konservativen Therapie (Campanacci et al. 1999; de Berg et al. 1995; Donahue et al. 1999; Rosenthal et al. 1998).
Osteoblastom z
Definition
Es handelt sich um einen benignen knochenbildenden Tumor mit einer Größe von >1 cm. Der histologische Aufbau gleicht in weiten Teilen demjenigen des Osteoidosteoms. Zusätzlich kommen lobuläre Areale mit flächenhaftem Osteiod bzw. mineralisiertem Knochen vor. Die umgebende Sklerose ist geringer ausgeprägt als beim Osteoidosteom. z
a
Epidemiologie
Das Osteoblastom ist ein seltener Tumor. Er geht wie das Osteoidosteom von Osteoblasten aus (»großer Bruder des Osteoidosteoms«). Der Altersgipfel liegt zwischen dem 18. und dem 20. Lebensjahr (die Mehrheit der Patienten ist 10–25 Jahre alt). Das männliche Geschlecht ist 2-mal häufiger betroffen. Die häufigste Lokalisation ist die Wirbelsäule (35–40% der Läsionen), gefolgt von proximalem Humerus und Hüfte sowie noch seltener Fuß und Hand. In langen Röhrenknochen bevorzugt der Tumor die Metaphyse vor der Diaphyse. > In der Wirbelsäule kommen Osteoblastome und Osteoidosteome bevorzugt in den dorsalen Anteilen, Osteosarkome und Riesenzelltumoren dagegen v. a. in den ventralen Wirbelsäulenanteilen (Wirbelkörper) vor. z
b ⊡ Abb. 15.3a,b Osteoblastom im Bereich des Wirbelbogens auf Höhe des 2. Lendenwirbelkörpers bei einem 6-jährigen Mädchen
Diagnostik
Im Röntgenbild imponiert eine überwiegend lytische Knochendestruktion mit typischem mottenfraßähnlichen Charakter (⊡ Abb. 15.3a). Dieser ist durch eine Mischung aus lytischem und blastischem Umbau bedingt. Das Ausmaß der Mineralisation hängt vom Grad der Osteoidproduktion ab. Einige Osteoblastome zeigen eine signifikante Reaktion des umgebenden Knochens, die als »Flare-Phänomen« bezeichnet wird und sich in einem ausgeprägten Ödem und einer Sklerose des Umgebungsknochens niederschlägt. Die ausgeprägte Umgebungsreaktion kann an einen malignen Prozess erinnern und zur Überschätzung der Tumorgröße führen.
Die Bildgebung der Wahl stellt die Computertomographie dar (⊡ Abb. 15.3b). Diese ermöglicht eine korrekte Abschätzung der Tumorausdehnung und stellt auch das beste Instrument zur präoperativen Planung dar. z
Differenzialdiagnostik
Differenzialdiagnostisch muss v. a. das Osteoidosteom (kleiner, weniger lytische Anteile, ausgeprägtere sklerotische Umgebungsreaktion des Knochens) in Erwägung gezogen werden.
15
252
z
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Therapie
Im Rahmen der Therapie empfiehlt sich – wenn möglich – eine weite Resektion. Wenn diese aufgrund der Lokalisation nicht möglich ist, sollte eine marginale Resektion oder eine intraläsionale Kürettage mit Entfernung der inneren Schichten des sklerotischen Randknochens und Spülung mit H2O2, Phenol etc. angeboten werden. Die meisten Läsionen erfordern eine Spongiosaplastik mit oder ohne Schutzosteosynthese. Die Rezidivrate beträgt 10–20% (Della Rocca u. Huvos 1996; Shaikh et al. 1999).
15.4.2
Chondrogene benigne Knochentumoren
Die gutartigen knorpelbildenden Knochentumoren werden in 4 Typen unterteilt: ▬ Chondrom (Enchondrom oder periosteales Chondrom) ▬ Osteochondrom ▬ Chondroblastom ▬ chondromyxoides Fibrom Diese Tumoren sind latente bis sehr aggressive Läsionen, welche dazu fähig sind, Lungenmetastasen zu bilden (z. B. das Chondroblastom). Die Behandlungsmöglichkeiten reichen von der Beobachtung bis zur Exzision.
vor. 42% der Enchondrome bilden sich im Bereich der kleinen Röhrenknochen der Hand, treten jedoch auch in den langen Röhrenknochen auf, hier v. a. im dia- oder metaphysären Bereich. Am häufigsten ist der Humerus betroffen (14%). Der Einbezug der Epiphyse ist selten. z Diagnostik Enchondrome sind meistens asymptomatisch, können sich je-
doch gelegentlich durch eine Fraktur präsentieren. Das Röntgenbild zeigt eine scharf begrenzte Osteolyse. Innerhalb dieser finden sich stippchenförmige Verkalkungen, sodass ein marmoriertkalzifiziertes Erscheinungsbild entsteht. Enchondrome können deshalb wie Knocheninfarkte aussehen. Gelegentlich lässt sich auch eine rein lytische Läsion ohne Mineralisierung beobachten. Meist handelt es sich um Zufallsbefunde (⊡ Abb. 15.4). Die Mehrheit der periostalen Chondrome finden sich am Humerus (38%) und an den kleinen Röhrenknochen der Hand. Dieser Tumor kann wegen der oberflächlichen Lokalisation als Weichteiltumor imponieren. Radiologisch finden sich ein gut demarkierter kortikaler Defekt und ein geringer Überhang der kortikalen Ecken. Etwa ein Drittel der periostalen Chondrome zeigen im Röntgenbild eine mineralisierte kartilaginäre Matrix, die bei den anderen zwei Drittel fehlt. z
Chondrom z
Definition
Das Chondrom ist ein gutartiger, meist asymptomatischer, knorpelproduzierender Tumor. Chondrome bilden 3–10% aller Knochentumoren bzw. 12–24% aller gutartigen Knochentumoren. Sie sind die zweithäufigsten knorpelbildenden gutartigen Tumoren. Die meisten treten zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr auf. Die sog. Enchondrome kommen im Markraum, die periostalen Chondrome auf der Knochenoberfläche
Differenzialdiagnostik
Bei Befall des Beckens oder der langen Röhrenknochen muss differenzialdiagnostisch ein Chondrosarkom ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zum Enchondrom äußert sich dieses durch: ▬ Schmerzen ▬ tiefe endosteale Verformung (>⅔ der Kortikalisdicke) ▬ Zerstörung des Kortex ▬ Weichteiltumor ▬ periosteale Reaktion ▬ deutliche Aufnahme des Radioisotops bei der Szintigraphie
15
a
b
⊡ Abb. 15.4a,b Ursprüngliche Kniegelenkdistorsion bei einer 73-jährigen Patientin mit persistierenden Schmerzen und radiologischer Erfassung eines Knochentumors in der proximalen Tibia. Da ein Chondrosarkom auch magnetresonanztomographisch nicht ausgeschlossen werden konnte (a), erfolgte eine Tumorresektion im Gesunden (b). Der Defekt wurde mittels Knochenzement aufgefüllt und mittels Schutzosteosynthese überbrückt. Die histologische Untersuchung bestätigte den Verdacht auf ein Enchodrom
253 15.4 · Gutartige Knochentumoren
Sollte die Dignität des Tumors weiterhin unklar sein, kann eine MRT oder eine DNS-Analyse für Klarheit sorgen.
aller Knochentumoren aus. Der Altersgipfel liegt in der 2. Lebensdekade (50% aller Osteochondrome).
z
z
Therapie
Die asymptomatischen Enchondrome erfordern keine Therapie, sondern lediglich eine Beobachtung. Um zu dokumentieren, dass sie nicht wachsen und inaktiv sind, werden 3 Monate und ein Jahr nach der Diagnosestellung Verlaufsröntgenbilder angefertigt. Enchondrome mit pathologischer Fraktur werden immobilisiert oder – falls erforderlich – exzidiert und der Defekt mittels Spongiosaplastik aufgefüllt. Die periostalen Chondrome werden mit dem darunter liegenden Kortex marginal exzidiert und der Defekt mittels eines knöchernen Graftes rekonstruiert. Die intraläsionale Exzision ist mit einem signifikanten Risiko eines Rezidivs vergesellschaftet (Erlemann 2001; Murphey et al. 1998; Robbin u. Murphey 2000; Scarboroguh u. Moreau 1996).
Multiple Enchondromatosen Wenn viele Tumoren vorhanden sind, die involvierten Knochen dysplastisch sind und der Befall unilateral ist, handelt es sich um einen M. Ollier. Sind zusätzlich Weichteilangiome vorhanden, handelt es sich um das Maffucci-Syndrom. Diese betreffen typischerweise die Haut, aber auch Organe wie die Lunge. Die Enchondrome können überall im Skelett auftreten, tendenziell jedoch eher unilateral. Meistens ist die Metaphyse der langen Röhrenknochen betroffen. Die relative Inzidenz gegenüber dem isolierten Enchondrom beträgt 1 : 6. Betroffen sind meistens junge Patienten. Es kommt zu Knochendeformitäten, die schwerwiegend sein und unter Umständen zum Funktionsverlust der Extremität führen können. Oft sind Längendifferenzen der Extremitäten und ein Kleinwuchs festzustellen. Die histologische Auswertung wird durch einen gelegentlichen Pleomorphismus erschwert. Die Entartung eines Enchondroms ist selten (ca. 1%). Bei der multiplen Enchondromatose besteht jedoch ein erhöhtes Risiko einer Entartung (M. Ollier: 25%; Maffucci-Syndrom: 100%). Meistens entwickelt sich ein Chondro- oder Angiosarkom. Therapeutisch ist neben Korrekturosteotomien ein lebenslanges Monitoring erforderlich, um eine maligne Entartung nicht zu verpassen.
Osteochondrom z
Definition
Das Osteochondrom imponiert als knöcherne Auftreibung an der Außenseite der Knochen, die mit einer Knorpelkappe überzogen ist. Der Tumor kann isoliert, mehrfach oder in Form der multiplen hereditären Exostose (autosomal-dominante Vererbung) auftreten. Die multiple hereditäre Exostose kann jeden Knochen betreffen und führt zu Deformitäten. Die Ostochondrome sind am häufigsten in den Metaphysen der langen Röhrenknochen (v. a. rund um das Kniegelenk) sowie im Bereich des proximalen Femurs und des proximalen Humerus zu finden. Weniger häufig kommen sie auch im Becken, z. B. im Os ileum, und in der Skapula vor. z
Epidemiologie
Das Osteochondrom ist der häufigste gutartige Knochentumor und macht 35–50% aller benignen Knochen- sowie 10–15%
Diagnostik
Es handelt sich um überwiegend asymptomatische Läsionen, die als radiologischer Zufallsbefund entdeckt werden. Schmerzen können durch muskuläre Irritation, Abdrängen von Nerven oder Gefäßen, Fraktur, Interferenz mit der Gelenkfunktion, mechanisches Trauma oder Entzündung der sich bildenden Bursa über der Läsion resultieren. Charakteristischerweise zieht die Kortikalis in die Läsion mit ein, sodass der Markraum des tumortragenden Knochens unmittelbar in die Läsion übergeht. Das Osteochondrom kann einen Stengel haben oder breitbasig aufsitzen und kommt typischerweise an Orten von Sehneninsertionen vor. Gestielte Osteochondrome in Knienähe wachsen üblicherweise vom Gelenk weg. Der Kortex ist von einer dünnen Knorpeldchicht bedeckt, die normalerweise nur 2–3 mm dick ist. Allerdings kann diese beim wachsenden Kind 1–2 cm dick werden. Die Knorpelkappe hat ähnliche Eigenschaften wie die Wachstumsplatte und ist der Ursprung des Tumorwachstums. Die Knorpelkappe bildet sich im Allgemeinen nach Wachstumsabschluss zurück. Deshalb hängt die Dicke der Kappe mit dem Alter des Patienten zusammen. Über der Knorpelkappe können sich bursaähnliche Hohlräume entwickeln. z
Therapie
Wenn das Osteochondrom Symptome verursacht, sollte es entfernt werden. Um ein Rezidiv zu vermeiden, ist unbedingt darauf zu achten, die Knorpelkappe mit zu entfernen. Der basisnahe Knochen wird bündig mit dem Osteochondrom abgetragen (bei nicht gestielten Tumoren schwierig). z
Prognose
Die Rezidivrate beträgt insgesamt 2%. Schmerzen ohne mechanische Reizung, Wachstum der Exostose nach Wachstumsabschluss, neu einsetzende Schmerzen sowie eine dicke, unregelmäßig kalzifizierte Knorpelkappe (>1 cm nach Wachstumsabschluss) sind malignitätsverdächtig. Die Entwicklung eines Sarkoms aus einem Osteochondrom ist selten und kommt bei <1% der Patienten vor. In diesem Fall wird üblicherweise ein peripheres oder sekundäres »Low-grade«-Chondrosarkom, seltener ein dedifferenziertes Chondrosarkom diagnostiziert (sog. sekundäre Sarkome). Weitere Entartungszeichen sind die Zerstörung des subchondralen Knochens, die Mineralisation der Weichteile und ein inhomogenes Erscheinungsbild. Die Prognose der sekundären Sarkome ist exzellent. Sie metastasieren selten (Erlemann 2001; Lee et al. 2002; Murphey et al. 2000; Robbin u. Murphey 2000; Scarborough u. Moreau 1996; van der Eijken 1998; Wirganowicz u. Watts 1997; Wuisman et al. 1997).
Multiple hereditäre Exostosen Synonyma sind multiple Osteochondrome und generalisierte Osteochondromatose. Die multiplen hereditären Exostosen stellen ein eigenständiges Krankheitsbild dar und sind von den solitären Osteochondromen zu unterscheiden. Die Einzelläsion
15
254
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
a
b
c
d
⊡ Abb. 15.5a–d Befund bei einem 14-jährigen Patienten mit multiplen hereditären Exostosen
ist in ihrem Aufbau gleich (⊡ Abb. 15.5). Das Entartungsrisiko ist jedoch deutlich höher als beim solitären Osteochondrom und erreicht 10–20%. Das Krankheitsbild wird autosomal-dominant vererbt. Es wurden bis zu 100 und mehr Läsionen bei einer erkrankten Person beobachtet (Peterson 1989).
Chondroblastom z
Definition
Es handelt sich um einen gutartigen knorpelbildenden Tumor, der überwiegend kniegelenknah zu finden ist, v. a. junge Patienten vor Wachstumsabschluss betrifft und trotz seiner Gutartigkeit die Fähigkeit besitzt, Lungenmetastasen zu bilden.
15
z
Epidemiologie
Chondroblastome sind selten und bilden ca. 5–10% aller kartilaginären benignen Tumoren und <1% aller Knochentumoren. Nach Osteochondrom und Enchondrom ist das Chondroblastom der dritthäufigste kartilaginäre Tumor. Die Inzidenz von Lungenmetastasen liegt vermutlich bei <2%. Chondroblastome kommen v. a. bei jungen Patienten (überwiegend in der 2. Lebensdekade) in der Epiphyse vor. 50% der Chondroblastome entwickeln sich vor dem Wachstumsabschluss.
> Das Chondroblastom und der Riesenzelltumor sind typischerweise in der Epiphyse lokalisiert. z
z z
Ätiologie und Pathogenese
Dieser Tumor findet sich typischerweise in der Epiphyse des distalen und proximalen Femurs, der proximalen Tibia und des proximalen Humerus. Er dehnt sein Wachstum bei entsprechender Größe in die Metaphyse aus. Das Knie ist in 30% der Fälle betroffen. Gelegentlich treten Chondroblastome in der Nähe der ehemaligen Wachstumszonen des Beckens, der Wirbelkörper sowie des Hand- und Fußskeletts auf.
Diagnostik
Die Patienten berichten üblicherweise über Schmerzen in der betroffenen Extremität, die auf das benachbarte Gelenk bezogen sein können. Der Schmerz kann in seiner Intensität demjenigen beim Osteoidosteom entsprechen. Die radiologische Erscheinungsweise variiert von einem kleinen, strahlentransparenten, gut definierten Tumor bis zum aggressiven, destruktiven Neoplasma (⊡ Abb. 15.6). Die Läsionen sind klein und können anfangs leicht übersehen werden, sodass sich die Diagnosestellung unter Umständen um Monate verzögert. Die Tumoren sind meist zentral in der Epiphyse zu finden. Die aggressive Form kann sich jedoch auch in die Metaphyse ausdehnen und natürliche Barrieren wie den Kortex zerstören und in die Weichteile expandieren. Es imponiert eine scharf begrenzte Osteolyse, die durch einen sklerotischen Rand von der normalen Knochenstruktur abgegrenzt ist. Das Zentrum enthält herdförmige Verkalkungen. Bei der MRT stellen sich die Chondroblastome in der T2-Wichtung meist mit einem perifokalen Ödem im Sinne einer Entzündungsreaktion dar. Therapie
Seitens der Therapie bieten sich in erster Linie die intraläsionale Kürettage und die Spongiosaplastik an. Gelegentlich müssen außergewöhnliche Operationszugänge genutzt werden, um an die Läsion zu gelangen. Wählt man den transmetaphysären Weg, wird die Fuge teilweise verletzt. Die Therapie der aggressiven Tumorform besteht wegen der häufigen lokalen Rezidive (in bis zu 5% der Fälle) wenn möglich in der weiten Resektion mit anschließender Rekonstruktion. Ungefähr 2% der Chond-
255 15.4 · Gutartige Knochentumoren
Differenzialdiagnostisch muss an den Riesenzelltumor gedacht werden. Das Rezidivrisiko bei intraläsionaler Exzision beträgt bis zu 25%, sodass eine sorgfältige Resektion mit einem marginalen Sicherheitsabstand gefolgt von einem Knochenersatz anzustreben ist. Für das lokale Rezidiv und lokal aggressive Formen ist die »En-bloc«-Resektion angezeigt (Robbin u. Murphey 1998; Scarborough u. Moreau 1996).
15.4.3
Fibröse benigne Knochentumoren
Benignes fibröses Histiozytom
⊡ Abb. 15.6 Chondroblastom im proximalen Humerus eines 18jährigen Mannes. Nach Ausräumung zeigte sich knapp 6 Jahre später ein Rezidiv, das erneut mittels Kürettage und Auffüllung mit TutoplastGranulat behandelt werden musste. Bei den weiteren Nachkontrollen war der Patient beschwerdefrei
roblastome metastasieren in die Lunge. Eine Resektion der pulmonalen Metastasen ist möglich. Die Chemotherapie konnte sich bisher nicht durchsetzen (Ramappa et al. 2000; Robbin u. Murphey 2000; Scarborough u. Moreau 1996; Schuppers u. van der Eijken 1998; Springfield et al. 1985; Suneja et al. 2005; van der Eijken 1998; Wu et al. 1998).
Chondromyxoides Fibrom Das chondromyxoide Fibrom ist der seltenste benigne kartilaginäre Tumor und repräsentiert <5% der benignen kartilaginären Tumoren sowie höchstens 0,5% aller Knochentumoren. Es kommt typischerweise in der 2. und 3. Lebensdekade vor und betrifft überwiegend Männer. Befallen ist die Metaphyse der langen Röhrenknochen, v. a. der proximalen Tibia. Aber auch Becken und distales Femur sind übliche Lokalisationen. Klinisch kann ein Monate bis Jahre anhaltender Schmerz im Bereich der betroffenen Extremität vorliegen. Radiologisch imponiert üblicherweise eine rein osteolytische, destruktive Läsion in der Metaphyse, exzentrisch gelegen und scharf vom gesunden Knochen abgegrenzt. Gelegentlich wird das Erscheinungsbild einer Seifenblase beobachtet. Der Kortex ist ausgedünnt und vereinzelt durch das expansive Tumorwachstum aufgetrieben. Die Ausdehnung des Tumors kann bis zu 10 cm erreichen, wodurch das Risiko einer pathologischen Fraktur steigt.
Es handelt sich um einen seltenen, gutartigen, selbstlimitierenden Knochentumor mit ähnlichen Eigenschaften wie das nichtossifizierende Fibrom. Die Unterschiede liegen in der klinischen und radiologischen Präsentation: Das benigne fibröse Histiozytom ist im Gegensatz zum nichtossifizierenden Fibrom auch ohne Vorliegen einer pathologischen Fraktur schmerzhaft (Bertoni et al. 1986). Die Schmerzen können über Wochen bis Jahre bestehen. Häufig wird der Tumor zufällig entdeckt (Bertoni et al. 1988). Auch die Lokalisation (Rippen, Os ileum, lange Röhrenknochen, Wirbelsäule) differiert. Die Läsion findet sich meist in der Diaphyse, aber auch in den übrigen Knochenabschnitten und tritt in jedem Alter auf. Das Röntgenbild demonstriert eine osteolytische, scharf begrenzte Knochenläsion mit gelegentlich sichtbarem sklerotischen Saum und Trabekelstruktur. Selten bestehen eine Kortexdestruktion und eine Weichteilinvasion (Grohs et al. 2002; Matsuno 1990). Makroskopisch liegt ein gelber, grauer, roter oder weißer, solider oder weicher Tumor vor. Das histologische Bild zeigt ein fibröses Gewebe mit Riesen- und Schwammzellen (Clarke et al. 1985). Der Tumor neigt zur Rezidivierung, verhält sich gelegentlich aggressiv und kann Lungenmetastasen bilden. Die Therapie besteht in der Kürettage mit oder ohne Knochenersatz (Bertoni et al. 1986, 1988; Boisgard et al. 2000; Clarke et al. 1985; Grohs et al. 2002; Kuruvath et al. 2006).
Desmoplastisches Fibrom Das desmoplastische Fibrom ist ein seltener, Kollagenfasern bildender Tumor mit geringem Zellreichtum sowie einem lokal begrenzten invasiven Wachstum (Delling 1997). Es ist einer der seltensten primären Knochentumoren (<0,1% aller Knochentumoren) und tritt von der 2. bis zur 7. Lebensdekade auf. Zu finden ist dieser Tumor am häufigsten in der Mandibula, gefolgt von den langen Röhrenknochen und dem Becken (v. a. Os ileum). Hauptsymptome sind ein leichter Schmerz (v. a. in der Nacht) und eine Schwellung. In ca. 10% der Fälle entwickelt sich eine pathologische Fraktur. Aufgrund des langsamen Wachstums kann die Anamnese bis zu 3 Jahre zurückreichen. In seltenen Fällen ist der Tumor mit einer fibrösen Dysplasie und einem M. Paget assoziiert. In den langen Röhrenknochen tritt der Tumor überwiegend metaphysär auf, liegt zentral oder exzentrisch und hat das Erscheinungsbild einer Seifenblase (⊡ Abb. 15.7). Der Kortex ist ausgedünnt oder durchbrochen. Der endostale Knochen ist deformiert. Eine Ausdehnung in
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Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Vaskuläre benigne Knochentumoren: Hämangiom z
Definition
Es handelt sich um eine gutartige, neoplastische Gefäßproliferation. Mehr als 50% der Hämangiome treten im Bereich des Schädels und des Unterkiefers auf. An zweiter Stelle folgt die Wirbelsäule (v. a. die Wirbelkörper). Eine Ausdehnung auf die posterioren Anteile wie Pedikel ist möglich. Seltener kann der Tumor auf die Bandscheibe oder die Rippen übergreifen. Zuletzt können lange Röhrenknochen, hier insbesondere die Metaphyse, betroffen sein. Die meisten Hämangiome treten solitär auf. Eine maligne Entartung sowohl solitärer als auch multipler, unbehandelter ossärer Hämangiome ist selten. z
Epidemiologie
Das Hämangiom ist der häufigste angiogene Knochentumor. Da die meisten Hämangiome asymptomatisch sind, ist die tatsächliche Inzidenz unbekannt. Alle Altersgruppen können betroffen sein. z
⊡ Abb. 15.7 Befund bei einer 14-jährigen Patienten mit persistierenden, belastungsabhängigen Schmerzen (Schmerzstärke von 7–8 auf der visuellen Analogskala) nach einer Kniegelenkdistorsion. Radiologisch ist im distalen Femurbereich eine zystische Läsion zu erkennen, die mittels Kürettage behandelt wurde. Histologische Diagnose eines desmoplastischen Fibroms
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die umliegenden Weichteile ist häufig zu beobachten. Der schmale Tumorrand zeichnet sich landkartenartig ab, die Grenze kann sklerosiert sein. Die Abgrenzung zu malignen Läsionen ist unter Umständen sehr schwierig. Bei der CT zeigt sich zusätzlich eine überwiegend lytische Läsion mit unterschiedlich ausgeprägter intraläsionaler Septierung und leichtem Mottenfraßmuster im Randbereich. Differenzialdiagnostisch kommen ein »Low-grade«-Fibrosarkom, ein nichtossifizierendes Fibrom, die fibröse Dysplasie, ein zentrales »Low-grade«-Osteosarkom, die solitäre und die aneurysmatische Knochenzyste, ein Riesenzelltumor, das chondromyxoide Fibrom und das Hämangiom infrage. Die intraläsionale Kürettage allein birgt ein Rezidivrisiko von 40%, weshalb ein großzügiger Weichteilzugang, ein großes Knochenfenster zur guten Übersicht, eine sorgfältige Kürettage, das Herausfräsen von eingewachsenen Tumorbestandteilen sowie der Einsatz adjuvanter Mittel wie Phenol und Flüssigstickstoff empfohlen werden. Eine weite Resektion mit tumornegativen Rändern weist eine hohe Morbidität auf und ist deshalb für verlängerbare Knochen sowie für Tumoren, welche die Möglichkeiten der intraläsionalen Chirurgie überfordern, reserviert (Bohm et al. 1996; Gebhardt et al. 1985; Nishida et al. 1995; Vanhoenacker et al. 2000).
Diagnostik
Die meisten Hämangiome werden zufällig entdeckt. Typisch ist – nicht nur bei den Wirbelkörperhämangiomen – die Resorption der nicht gewichttragenden, horizontalen Trabekel, sodass die vertikalen übrigbleiben und dem Tumor das Aussehen eines Gefängnisgitters verleihen. Die vertikalen Trabekel sind leicht sklerotisch und am besten im axialen Computertomogramm zu sehen (⊡ Abb. 15.8). Kortikale Unregelmäßigkeiten kommen gelegentlich vor. Allerdings ist ein Durchbruch in die Weichteile selten. Auch die Schädelhämangiome können ein ähnliches Streifenmuster wie die Wirbelkörpertumoren zeigen. Üblicherweise sind diese Läsionen jedoch meist klein und osteolytisch. Die Matrix solcher Läsionen kann ein gekörntes oder aneurysmatisches Aussehen mit zentrifugal angeordneten Knochennadeln (»sunburst pattern«) aufweisen. In flachen und Röhrenknochen dominiert das Aussehen einer Seifenblase mit zentraler Transparenz, die von einer Sklerosezone umgeben ist. In diesen Fällen ist eine Ausdünnung des Kortex zu beobachten. Auch in diesen Fällen ist ein kortikaler Durchbruch in die Weichteile jedoch rar. Beobachtet wird gelegentlich die Ausbildung von Phlebolithen in den Läsionen (Braitinger et al. 1989; Friedman 1996; Mendez et al. 2002; Vilanova et al. 2004). Wenn die Diagnose unklar ist, wird eine Biopsie durchgeführt. Diese kann mit einer starken Blutung einhergehen. Es wurde sogar über letale Ausgänge nach Biopsien und Zahnextraktionen berichtet. Deshalb gehört die Angiographie in der Klinik der Autoren standardmäßig zur präoperativen Evaluation des Befunds. Die angiographische Embolisation der zuführenden Gefäße soll die intraoperative Blutungsneigung minimieren. z
Therapie
Wenn die Läsion symptomatisch ist oder eine Fraktur droht, wird das Hämangiom intraläsional kürettiert und die Kaverne mit Knochenersatz ausgefüllt (nur bei größeren Befunden) sowie bei Bedarf osteosynthetisch stabilisiert. Alternativ kann eine Vertebroplastie durchgeführt werden – insbesondere dann, wenn ledig-
257 15.4 · Gutartige Knochentumoren
lich frakturbedingte Schmerzen bekämpft werden sollen. Drohen bei Wirbelsäulenbefall neurologische Ausfälle oder eine Fraktur, wird mittels Laminektomie und Kürettage sowie bei Bedarf zusätzlich mit Stabilisierung und Vertebrektomie vorgegangen. Da die Bestrahlung das Risiko eines Bestrahlungssarkoms birgt, wurde die Indikation hierfür eingeschränkt. Aktuell wird bestrahlt, um die vertebragene Ausdehnung mittels niedriger Bestrahlungsdosen zu reduzieren und damit extensive Operationen im Wirbelsäulenbereich zu vermeiden (Acosta et al. 2006; Hadjipavlou et al. 2007; Heyd et al. 2001; McAllister et al. 1975; Ng et al. 1997; Sakata et al. 1997).
Semimaligne Knochentumoren: Riesenzelltumor z a
z b ⊡ Abb. 15.8a,b Hämangiom im Bereich des 10. Brustwirbelkörpers eines 57-jährigen Mannes. Eine transkutane, transpedikuläre Biopsie bestätigte die Verdachtsdiagnose eines Hämangioms. Da die Beschwerden im Verlauf sistierten, wurde auf eine operative Intervention verzichtet
a
Definition
Der Riesenzelltumor ist ein lokal aggressiv wachsender Tumor, der durch ein stark vaskularisiertes Gewebe mit mononukleären Zellen und zahlreichen, diffus verteilten Riesenzellen charakterisiert ist (Delling 1997). Betroffen ist v. a. das epiphysäre Ende langer Röhrenknochen. Bei offener Wachstumsfuge findet man die Läsion metaphysär. Zu beobachten ist der Riesenzelltumor am häufigsten kniegelenknah, hier v. a. am distalen Femur. Weitere Lokalisationen sind (nach Häufigkeit) die proximale Tibia, das Sakrum, der distale Radius und die Wirbelkörper. Der seltene multifokale Riesenzelltumor manifestiert sich häufig durch einen Befall der Hand. Die Tumoren des distalen Radius (⊡ Abb. 15.9) sind die häufigste Quelle von Lungenmetastasen (Siebenrock et al. 1998). Diese treten bei 2% aller Riesenzelltumoren und bei 6% der Rezidive auf.
b
Epidemiologie
Der Riesenzelltumor repräsentiert ca. 4–5% aller primären Knochentumoren. Im asiatischen Raum ist der Tumor häufiger und bildet einen Anteil von ca. 20% der primären Knochentumoren (Sung et al. 1982). Siebzig Prozent der Fälle betreffen junge Erwachsene mit einem Altersgipfel zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Der Tumor befällt etwas häufiger das weibliche Geschlecht.
⊡ Abb. 15.9a,b Riesenzelltumor am distalen Radius eines 47-jährigen Mannes. Vorstellung wegen einer Handgelenkkontusion. Nach einer zunächst gelenkerhaltenden »En-bloc«Resektion des Tumors mit Beckenkamminterposition musste später aufgrund einer radiokarpalen Instabilität eine Handgelenkarthrodese durchgeführt werden
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z
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Klinik
Aufgrund seines aggressiven Wachstums, des sich erhöhenden Druckes innerhalb des Knochens sowie eines eventuellen kortikalen Durchbruchs und einer steigenden Periostspannung dominieren Schmerz und Schwellung das klinische Bild. Im Bereich des betroffenen Gelenks kann es außerdem zu einer Einschränkung der Beweglichkeit und zur Ausbildung eines Ergusses kommen. Ist die Schwächung der Kortikalis fortgeschritten, kann sich der Patient mit einer pathologischen Fraktur präsentieren. z
Diagnostik
Im konventionellen Röntgenbild findet sich eine epiphysärmetaphysär gelegene, expansiv wachsende, rein osteolytische Läsion ohne Kalzifikation der Matrix und ohne Randsklerose. Die Randbereiche des Tumors zeigen dennoch eine scharfe Abgrenzung gegenüber dem umgebenden Knochen. Die Kortikalis kann sehr dünn sein. Es werden 3 Stadien unterschieden: ▬ Im Stadium 1 (inaktives Stadium) findet sich keine oder eine nur minimale Einbeziehung des Kortex. Diese Läsionen sind meist asymptomatisch und haben eine relativ gute Prognose. ▬ Der Tumor präsentiert sich am häufigsten im Stadium 2, dem aktiven Stadium. Radiologisch dominieren eine extensive Ausdünnung des Kortex sowie ein »aneurysmatisches« Aussehen, welches durch das expansive Wachstum bedingt ist. ▬ Im Stadium 3, dem aggressiven Stadium, findet sich eine Destruktion des Kortex mit gelegentlicher Expansion des Tumors in die Weichteile. In diesem Stadium besteht ein höheres Rezidivrisiko.
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Zur Erfassung der Weichteilbeteiligung eignet sich die MRT. Makroskopisch erscheint ein weicher, bröckeliger Tumor mit großen Arealen hämorrhagischer Reaktionen, die ihm ein rotbraunes Aussehen verleihen. Der Tumor durchwandert vom Zentrum des epiphysären Endes bis zum benachbarten Kortex aggressiv den Knochen, bricht häufig bis unter das Periost durch und dilatiert den Knochen, was dem Tumor ein aneurysmatisches Aussehen verleiht. z
Therapie
Die Behandlung des Tumors erfolgt in den meisten Fällen chirurgisch. Eine intraläsionale Kürettage allein mit Defektfüllung mittels Knochenersatz bringt eine unbefriedigend hohe Rezidivrate von bis zu 41% mit sich (McGough et al. 2005; Prosser et al. 2005; Sung et al. 1982; Turcotte et al. 2002), sodass früh nach geeigneten Adjuvanzien gesucht wurde. Durch die Kombination mit Zement, Hochgeschwindigkeitsfräsen und Phenol konnte die Rezidivrate auf ca. 6% gesenkt werden (Lackman et al. 2005; Ward u. Li 2002). Phenol gehört zum festen Bestandteil der Therapieschemata und bietet eine gute Alternative zum Flüssigstickstoff (Malawer et al. 1999; Turcotte et al. 2002; Ward u. Li 2002), der sowohl in der umgebenden ossären Substanz (bis zu 1–2 cm tief) als auch in den Weichteilen Nekrosen verursachen kann und zu Knochennekrosen mit erhöhter Frak-
turrate (bis zu 6%) führt. Der Einsatz weiterer Adjuvanzien (H2O2, Bisphononate, Argonlaser, Zinkchlorid etc.) wird diskutiert (Chang et al. 2004; Nicholson et al. 1998; Ward u. Li 2002; Zhen et al. 2004;). Bei Läsionen im Sakrumbereich, die schlecht erreichbar sind, oder aus anderen Gründen, die gegen eine operative Intervention sprechen, konnte alternativ die intraarterielle Embolisation eingesetzt werden. Die hohe Rate der Spätrezidive und der Todesfälle schränkt die Indikation dieser Methode jedoch ein (Lackman et al. 2002; Lin et al. 2002). Die Bestrahlung des Primärtumors bringt eine sehr hohe Rezidivrate mit sich. Außerdem wurde die Entstehung von strahleninduzierten Sarkomen beobachtet (Feigenberg et al. 2003; Leggon et al. 2004), sodass diese Therapieform für inoperable Tumoren im Wirbelsäulen- und Beckenbereich reserviert bleibt (Cheng et al. 1997; Feigenberg et al. 2003; Siebenrock et al. 1998).
15.5
Bösartige Knochentumoren
Osteogene maligne Knochentumoren: Osteosarkome Das Osteosarkom ist kein einheitlicher Tumor, sondern eine Gruppe von sehr verschiedenen Entitäten. Es handelt sich um Spindelzellneoplasmen, die Osteoid produzieren und sich bei der Diagnosestellung mit Mikrometastasen präsentieren. Früher wurde 5 Jahre nach der Diagnosestellung eine Mortalität von bis zu 80% beobachtet. Heute überleben ca. 70% der Patienten, die zum Zeitpunkt der Diagnosestellung metastasenfrei sind. Die Unterteilung der Osteosarkome in verschiedene Subtypen orientiert sich am Grading sowie an der Lokalisation im Knochen. Außerdem gibt es die Unterteilung in primäre und sekundäre Osteosarkome (Delling 1997).
Klassifikation der Osteosarkome
▬ Gruppe der zentralen Osteosarkome: – klassisches Osteosarkom (Synonyme: zentrales hochmalignes Osteosarkom, klassisches zentrales Osteosarkom) – sekundäres Osteosarkom – multifokales Osteosarkom – teleangiektatisches Osteosarkom ▬ Gruppe der Oberflächenosteosarkome (juxtakorikale Osteosarkome): – parossales Osteosarkom – periostales Osteosarkom – hochmalignes Oberflächenosteosarkom
Zentrale Osteosarkome Klassisches Osteosarkom Definition Das klassische Osteosarkom (in englischsprachiger Literatur »high-grade intramedullary osteosarcoma«, »classic central osteosarcoma« oder »classic osteosarcoma« genannt) ist der häufigste maligne Knochentumor. Es ist durch die Bildung von Osteoid, mineralisiertem Knochengewebe, Bindegewebe und chondroider Grundsubstanz gekennzeichnet und als hochma-
259 15.5 · Bösartige Knochentumoren
lignes Spindelzellsarkom, charakterisiert durch die Produktion von Osteoidmatrix, definiert. Bei einzelnen Familien wird eine genetische Prädisposition beobachtet. Auch eine Häufung bei Patienten mit erblichem Retinoblastom und Li-Fraumeni-Syndrom (autosomal-dominant vererbbare Erkrankung, die mit multiplen Tumoren einhergeht, welche oft im frühen Lebensalter auftreten) wurde beschrieben. Bei Tieren können Osteosarkome durch Viren induziert werden. In 3% der Fälle lässt sich ionisierende Strahlung als Ursache nachweisen. Der Tumor wird mit höherer Frequenz bei solchen Patienten beobachtet, die wegen anderer Tumoren bestrahlt wurden und Alkylanzien (gehören zu den Zytostatika) erhielten. 45% der Osteosarkome kommen knienah (distaler Femur und proximale Tibia) vor. Ebenfalls häufig sind sie am proximalen Humerus (10%) zu beobachten, weiterhin am proximalen Femur und am Becken. Der Tumor ist generell in der Metaphyse lokalisiert.
wechselnde, sich jedoch stetig steigernde Intensität. Bei der Diagnosestellung handelt es sich bei 90% der Läsionen um »High-grade«-Tumoren, die den Kortex penetrieren und einen Weichteiltumor bilden. Dieser ist bei der Diagnosestellung häufig bereits relativ groß und berührungsempfindlich. Ein Gelenkserguss oder eine pathologische Fraktur kann ebenfalls zur Diagnosestellung führen. Ungefähr 10–20% der Patienten weisen bei der Diagnosestellung pulmonale Metastasen auf.
Diagnostik
Das klassische Osteosarkom macht 20% aller malignen Knochentumoren aus. In den USA werden jährlich 900 Fälle registriert. Der Tumor kommt etwas häufiger bei Männern vor (Verhältnis von 60 : 40) und tritt überwiegend in der 1.–3. Lebensdekade auf. Ein zweiter Inzidenzanstieg wird im späten Erwachsenenalter (v. a. Osteosarkome in Assoziation mit einem M. Paget sowie sekundäre Osteosarkome) beobachtet.
Im Röntgenbild zeigt sich in der Metaphyse eine aggressive Läsion. Innerhalb des Tumors liegen Zonen der Knochendestruktion und der Knochenneubildung nebeneinander. Der kortikale Knochen ist häufig abgehoben oder durchbrochen. Es kommt zur Bildung sog. Codman-Dreiecke (strahlendichte Ecken neben dem strahlendurchlässigeren Tumor). Das Aussehen des Tumors kann jedoch auch an einen Sonnenaufgang oder eine Sternenexplosion erinnern. MRT und CT eignen sich zur Bestimmung der Tumorausdehnung sowie zur Beurteilung der Einbeziehung von neurovaskulären Strukturen und der übrigen Weichteile (⊡ Abb. 15.10). Metastasen werden mittels CT und Szintigraphie erfasst. Am häufigsten sind diese in der Lunge lokalisiert, gefolgt vom Knochen. Weit seltener findet man sie in der Pleura, im Perikard, in den Nieren, in den Nebennieren, in den Lymphknoten und im Gehirn (für Grundsätze der Tumordiagnostik Abschn. 15.1.4).
Klinik
Histopathologie
Der Tumor präsentiert sich häufig durch Ruheschmerzen, die regelmäßig auf ein Trauma folgen und bereits seit mehreren Monaten bestanden haben. Die Schmerzen haben eine
Makroskopisch durchsetzen die klassischen Osteosarkome die Metaphysenregion. Die Wachstumsfuge wirkt dabei wie eine Barriere, sodass ein Durchbruch in die Epiphyse erst in fort-
Epidemiologie
a
b
⊡ Abb. 15.10a,b Periostales, vorwiegend chondroblastisches Osteosarkom Grad III mit Übergreifen auf die Kortikalis und Infiltration des Markraums bei einem 13-jährigen Mädchen. Der Tumor wurde reseziert, die Hüfte totalprothetisch versorgt. Nach einer vorangegangenen Chemotherapie waren >80% des Tumors noch vital. Die Patientin ist 3 Jahre später verstorben
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260
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
geschrittenen Fällen beobachtet wird. Der Tumor wächst aggressiv und durchbricht in der Regel die Kortikalis. Er kann ein bimssteinartiges Aussehen aufweisen.
Therapie
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Die Therapie der Osteosarkome beschränkte sich früher auf die Amputation. Langzeitstudien zeigten jedoch Überlebensraten von nur 10–20%, und bis zu 90% der Patienten verstarben vor der Ära der Chemotherapie an den Folgen der pulmonalen Metastasierung. Nach Einführung der Chemotherapie konnte bei 50–65% der Patienten ein tumorfreies Überleben erreicht werden. Gleichzeitig ließ sich das Potenzial der Extremitätenerhaltung verbessern. Kontrovers diskutiert wird die präoperative, sog. neoadjuvante Chemotherapie. Diese kann die Tumorgröße reduzieren, die Ausdehnung der Tumornekrose erhöhen und teilweise auch eine Rettung der Extremität ermöglichen – sie kann aber auch zur Entwicklung chemotherapieresistenter Klone beitragen. Durch die Chemotherapie kommt es zur Destruktion von malignen Zellen, bei vielen Patienten zur totalen Tumornekrose. Die Mikrometastasen (in 80–90% der Fälle bei der Diagnosestellung vorhanden) werden eliminiert, und die reaktive Zone wird »sterilisiert«. Im Rahmen der aktuellen Therapieprotokollen verabreicht man die präoperative Chemotherapie für 8–12 Wochen, danach folgen ein Staging und – falls möglich – die Tumorresektion. Die Erhaltungschemotherapie wird postoperativ für 6–12 Monate durchgeführt. Mit dieser Strategie lässt sich eine Langzeitüberlebensrate von 60–70% erreichen. Nach wie vor sterben jedoch trotz Verbesserungen bei der Chemotherapie 20–40% der Patienten. Einer der Hauptgründe des Therapieversagens ist die Resistenz des Tumors gegenüber den Medikamenten, verursacht durch ein Membranprotein, welches dazu fähig ist, verschiedene Medikamente aus den Zellen »herauszupumpen«. Betreffend der operativen Maßnahmen ist zu entscheiden, ob die Extremität erhalten wird oder nicht. Die Anzahl der extremitätenerhaltenden Eingriffe steigt durch die zunehmende Erfahrung der Chirurgen und die Verbesserungen bei den rekonstruktiven Techniken. Aktuell sind etwa 80% der Patienten zum Zeitpunkt der Diagnosestellung Kandidaten für dieses Prozedere. Wichtig ist es, die Tumorränder tumorfrei zu bekommen. Allerdings ist noch nicht bekannt, welche Randdicke dazu erforderlich ist. Simon et al. (1986) haben die Amputation mit der extremitätenerhaltenden Chirurgie verglichen und stellten betreffend der lokalen Rezidivrate keinen signifikanten Unterschied fest, solange eine weite Resektion durchgeführt wurde. In anderen Studien ließen sich nach extremitätenerhaltenden Eingriffen ebenfalls niedrige Raten an lokalen Rezidiven feststellen (ca. 5%; Bacci et al. 1993; Eckhardt et al. 1991). Die Funktion bei extremitätenerhaltenden Eingriffen ist derjenigen nach Amputation überlegen. Die Wahl der Rekonstruktionstechniken hängt von der Tumorlokalisation und der vom Patienten erwarteten Funktion der Extremität ab. Nach kompletter Tumorresektion stehen individuell hergestellte Gelenkprothesen, osteochondrale Allografts, Allograft-Prothesen-
Kombinationen und die Arthrodese zur Auswahl (Frassica et al. 1997; Sim et al. 1985). > Die Kriterien für die Auswahl der Patienten für das extremitätenerhaltende Prozedere sollten nie die onkologischen Therapieziele beeinträchtigen. Bei Kindern sollte bedacht werden, dass eine gute Funktion auch nach Amputation der unteren Extremität erreichbar ist. Deshalb sollte die lokale Kontrolle des Tumors vor den extremitätenerhaltenden Maßnahmen im Vordergrund stehen, zumal ein Rezidiv fast immer fatale Folgen hat.
Die Indikation für eine Amputation muss bei extrem großen Tumoren mit evidenter Einbeziehung der neurovaskulären Strukturen, pathologischen Frakturen mit Kontamination von mehreren Weichteilkompartimenten, Läsionen der distalen Extremitätenabschnitte, lokalen Rezidiven und Läsionen bei sehr jungen Individuen überprüft werden. Speziell bei pathologischen Frakturen kann bei undislozierter Fraktur und gutem Ansprechen auf die Chemotherapie eine lokale Resektion erfolgen. Eine ungünstige Lokalisation für die Erhaltung der Extremität ist die distale Tibia, da eine adäquate Weichteildeckung hier schwierig ist. Bei Vorliegen von pulmonalen Metastasen muss zusätzlich zur Chemotherapie eine vollständige Resektion der Metastasen erfolgen. In diesen Fällen liegt die Langzeitüberlebensrate bei 30–50%, abhängig vom Ausmaß der Erkrankung bei der Diagnosestellung. Die Prognose ist besser, wenn nur pulmonale Metastasen vorliegen (im Vergleich zum zusätzlichen Vorhandensein knöcherner Metastasen).
Prognose Bezüglich der Lokalisation des Primärtumors haben Tumoren im Bereich des axialen Skeletts und in proximaler Lokalisation eine schlechtere Prognose. Weitere negative prognostische Faktoren sind ein großer Tumor, das Vorliegen von sog. SkipMetastasen (weitere Tumorableger innerhalb des Knochens der Primärläsion) sowie eine pathologische Fraktur. Der Umfang der Nekrose innerhalb des exzidierten Tumors nach präoperativer Chemotherapie ist ein prognostischer Faktor bezüglich der Wirksamkeit der eingesetzten Medikamente. Patienten mit weniger als 95%igem Nekroseanteil entwickeln trotz Fortsetzung der Chemotherapie postoperativ eher Fernmetastasen als solche mit einem Nekroseanteil von >95%. Von einem Ansprechen der Chemotherapie wird dann gesprochen, wenn der Nekroseanteil mehr als 98% des Primärtumors erreicht. Ein schlechtes Outcome wird bei Patienten mit Metastasen beobachtet. Der Tod wird am häufigsten durch ein Lungenversagen (diffuse Lungenmetastasierung, pulmonale Blutung, Pneumothorax oder Obstruktion der V. cava superior) verursacht.
Sekundäres Osteosarkom Sekundäre Osteosarkome entstehen entweder auf dem Boden vorbestehender benigner Knochenläsion (häufig bei M. Paget) bzw. benigner Knochentumoren oder entwickeln sich nach einer lokalen Strahlentherapie des betroffenen Skelettabschnitts. Ihr Aufbau gleicht dem der hochmalignen Osteosarkome (Delling 1997). Die sekundären Osteosarkome nach Bestrahlung
261 15.5 · Bösartige Knochentumoren
treten mit einer durchschnittlichen Latenzzeit von 16 Jahren auf. Wegen der häufigen Strahlentherapien im Becken- und Schulterbereich (Mammakarzinom und Malignome gynäkologischen Ursprungs) sind hier auch die häufigsten Befunde lokalisiert (Unni et al. 2005). Die Patienten sind meistens älter als diejenigen mit klassischem Osteosarkom. Selten kommen sekundäre Osteosarkome bei fibröser Dysplasie, aseptischen Knocheninfarkten und dem Ewing-Sarkom vor. Die Behandlung sollte aggressiv sein, ist jedoch aufgrund der ungünstigen lokalen Bedingungen (Bestrahlung) limitiert. Im Bereich der operativ gut erreichbaren Extremitäten entspricht die Prognose derjenigen der klassischen Osteosarkome (Delling 1997; Unni et al. 2005). > Sekundäre Osteosarkome entstehen am häufigsten nach Bestrahlung sowie bei M. Paget und kommen im Gegensatz zu den primären Osteosarkomen v. a. bei älteren Patienten vor.
Multifokales Osteosarkom Das multifokale Osteosarkom ist ein seltenes, stark sklerosiertes Osteosarkom. Bei Erstmanifestation eines Osteosarkoms werden multiple, synchron oder metachron wachsende Osteosarkome festgestellt. Diese ähneln sich im Erscheinungsbild. Es ist schwer zu unterscheiden, ob es sich um Metastasen eines Primärtumors oder das multifokale Osteosarkom handelt. Diskutiert wird eine rasche hämato- bzw. lymphogene Ausbreitung eines Primärtumors (Daffner et al. 1997). Die Läsionen sind überwiegend in langen Röhrenknochen lokalisiert, können aber in praktisch allen übrigen Skelettabschnitten vorkommen. Die Prognose bei den synchron auftretenden Osteosarkomen (v. a. bei Kindern) ist üblicherweise sehr schlecht, mit einer Überlebensdauer von nur wenigen Monaten (Buzzoni et al. 2005; Delling 1997; Jones et al. 1993; Sasaki et al. 2000; Unni et al. 2005; Zafad et al. 2000). Bei den multifokalen metachron wachsenden Osteosarkomen (v. a. bei Adoleszenten) wird über vereinzelte Fälle mit Langzeitüberleben berichtet (Simodynes et al. 1981).
Teleangiektatisches Osteosarkom Das teleangiektatische Osteosarkom ist eine seltene Variante (<3%) des klassischen Osteosarkoms. Betroffen ist die gleiche Altersgruppe wie beim klassischen Osteosarkom. Die Lokalisation und das radiologische Bild sind ähnlich wie bei der aneurysmatischen Knochenzyste. Der Tumor imponiert als röntgentransparente Läsion mit geringer Kalzifikation bzw. Knochenformation. Bei der CT und MRT sind teilweise Flüssigkeitsspiegel erkennbar. Das teleangiektatische Osteosarkom kann mit gutartigen Läsionen wie z. B. der bereits genannten aneurysmatischen Knochenzyste verwechselt werden. Histologisch findet sich eine vaskularisierte Läsion mit geringer Osteoidproduktion und wenigen zellulären Elementen, die hochmaligne sind. Die Durchführung einer Biopsie gestaltet sich aufgrund der wenigen soliden Anteile in dem gut vaskularisierten und oft zystischen Tumor schwierig. Die Therapie ist mit derjenigen des klassischen Osteosarkoms identisch. Die Prognose konnte dank der Chemotherapie verbessert werden
und gleicht heute derjenigen des klassischen Osteosarkoms (Delling 1997; Gebhardt et al. 2002; Unni et al. 2005).
Oberflächenosteosarkome Parossales Osteosarkom Das parosseale Osteosarkom gehört zu den juxtakortikalen Osteosarkomen, nimmt seinen Ursprung von der Knochenoberfläche und hat eine gestielte Verbindung zur Oberfläche des tumortragenden Knochens (Delling 1997). Der Altergipfel liegt zwischen dem 20. und dem 40. Lebenjahr. Das weibliche Geschlecht ist häufiger betroffen (Berndt et al. 2002; Temple et al. 2000). Der Tumor wächst auf der Oberfläche der Metaphyse von langen Röhrenknochen, typischerweise an der dorsalen Seite des distalen Femurs. Weitere mögliche Lokalisationen sind proximale Tibia und proximaler Humerus. Der Patient präsentiert sich mit einem derben, schmerzhaften Tumor, der aufgrund einer mechanischen Irritation oft zu einer Einschränkung der Beweglichkeit führt (v. a. bei maximaler Knieflexion). Oft vergehen aufgrund des langsamen Wachstums und der häufig vorkommenden Fehldiagnosen von den ersten Symptomen bis zur Diagnosestellung Monate bis Jahre. Im konventionellen Röntgenbild zeigt sich ein stark ossifizierter, häufig lobulierter, gefiederter Tumor. Dieser ist über einen relativ schmächtigen Stiel mit dem Kortex verbunden und breitet sich an den benachbarten Weichteilstrukturen entlang sowie zirkumferenziell um den Knochen herum aus, sodass ein pilzförmiges Aussehen resultiert. Der Bezug zu den umgebenden Weichteilen kann mittels MRT gut dargestellt werden (Raymond 1991). Makroskopisch imponiert ein steinharter, elfenbeinweißer, gut definierter, sklerotischer Tumor, der eine annähernd homogene Konsistenz aufweist. Die Grenze zwischen Tumor und benachbarten Weichteilen ist üblicherweise scharf. Die Einbeziehung des Markraums ist i. A. minimal (Bertoni et al. 2005; Okada et al. 1994; Sheth et al. 1996a; Temple et al. 2000). Differenzialdiagnostisch kommen das Osteochondrom, die Myositis ossificans und das klassisches Osteosarkom infrage. Eine weite Resektion ist üblicherweise kurativ – vorausgesetzt, die Resektionsränder sind tumorfrei (Okada et al. 1994; Temple et al. 2000). Lokalrezidive treten in 25–35% der Fälle auf und können erfolgreich operativ behandelt werden (Kavanagh et al. 1990; Sheth et al. 1996a). Bei den typischen parossalen »Low-grade«-Osteosarkomen ist keine Chemotherapie erforderlich. Wenn der Tumor lokal unter Kontrolle gebracht werden kann, ist die Prognose mit einer Langzeitüberlebensrate von >95% exzellent. Eine Markrauminvasion beeinflusst die Langzeitüberlebensrate nicht (Kavanagh et al. 1990; Okada et al. 1994; Temple et al. 2000). Beim dedifferenzierten parossalen Osteosarkom wird neben der weiten Tumorresektion eine Chemotherapie durchgeführt (Bertoni et al. 2005; Sheth et al. 1996a). Entscheidend für die Überlebensrate ist die Antwort des Tumors (Nekroserate der »High-grade«-Komponente von >90%) auf die Chemotherapie (Sheth et al. 1996a). Die Prognose ist i. A. schlecht, was v. a. auf die ausgeprägte Metastasierung zurückgeführt wird (Bertoni et al. 2005; Okada et al. 1994; Sheth et al. 1996a).
15
262
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Periostales Osteosarkom
15
Das periostale Osteosarkom ist durch einen breitbasigen Kontakt mit der Kortikalis sowie durch die Bildung überwiegend chondroider Abschnitte und meist nur sehr geringer Osteoidanteile bei geringer bis mittlerer Zelldichte und unterschiedlicher Kernpolymorphie der Tumorzellen charakterisiert (Delling 1997). Dieser seltene Tumor tritt am häufigsten in der 2. und 3. Lebendekade auf (Raymond 1991; Unni et al. 2005). Der Tumor ist meist in der Diaphyse der langen Röhrenknochen, typischerweise des Femurs und der Tibia, lokalisiert (Delling 1997; Raymond 1991). Die Wahrscheinlichkeit, Metastasen zu entwickeln, ist geringer als beim klassischen Osteosarkom, aber höher als bei parossalen »Low-grade«-Tumoren (Unni et al. 2005). Radiologisch imponiert ein überwiegend strahlentransparenter Tumor, breitbasig auf der kortikalen Knochenoberfläche aufsitzend. Der zentrale Bereich kann spikulaeartige Verschattungen und eine kortikale Vertiefung aufweisen. Im Bereich der Tumorränder findet sich eine reaktive, dichte Knochenneubildung. Insgesamt entsteht der Eindruck einer aufgehenden Sonne (»sunburst pattern«). Makroskopisch zeigt sich aufgrund der überwiegenden Knorpelbildung ein grau-glasiger Tumor. Die benachbarte, reaktive Kortikalisverdickung kann weit proximal und distal des Tumors feststellbar sein, darf jedoch nicht als Gesamtausdehnung des Tumors fehlinterpretiert werden. Differenzialdiagnostisch müssen das Osteochondrom, das parossale und das klassische Osteosarkom sowie das hochmaligne Oberflächenosteosarkom in Betracht gezogen werden. Die Therapie der periostalen Osteosarkome besteht in der weiten Resektion. Gelingt es nicht, die Resektionsränder tumorfrei zu bekommen, ist das Risiko eines Lokalrezidivs sowie der Metastasenbildung erhöht (Ritts et al. 1987). Die Lokalrezidivraterate scheint ihrerseits mit der Überlebensrate zusammenzuhängen. Bei Resektion des Tumors zusammen mit einer Chemotherapie wird eine 5- bzw. 10-Jahres-Überlebensrate von 89% bzw. 83% erreicht. Die Rolle der Chemotherapie ist trotzdem noch unklar, und diese Behandlung konnte bisher nicht als prognostischer Faktor bestätigt werden (Grimer et al. 2005). Das Risiko der pulmonalen Metastasierung liegt bei 15–18% (Bertoni et al. 1982; Ritts et al. 1987).
Hochmalignes Oberflächenosteosarkom Das hochmaligne Oberflächenosteosarkom ist ein sehr seltenes Osteosarkom, das auf der periostalen Seite der langen Röhrenknochen (v. a. am Femur) lokalisiert ist. Die Patienten befinden sich meist in der 2. Lebensdekade und können sich mit und ohne Schmerzen präsentieren. Radiologisch findet sich ein dem Kortex breitbasig aufsitzender Tumor mit radiären Ossifikationsstreifen, die quer zur Längsachse des Knochens liegen. Allerdings kann auch ein strahlentransparenter Tumor – einem periostalen Osteosarkom ähnlich – vorliegen. Makroskopisch imponiert eine Mischung aus fleischigen und soliden Arealen. Histologisch handelt es sich um einen überwiegend osteoblastischen Tumor. Das makroskopische und histologische Bild ist mit dem eines hochmalignen klassischen Osteosarkoms identisch. Im fortgeschrittenen Stadium kann es zum Markraumdurchbruch kommen. Die Therapie entspricht derjenigen des klassischen Osteosarkoms und besteht
in einer neoadjuvanten Chemotherapie gefolgt von einer Resektion (Delling 1997; Okada et al. 1999; Raymond 1991; Unni et al. 2005). Die Prognose ist bei Mortalitätsraten von 50–80% schlecht (Schajowicz et al. 1988).
15.5.1
Chondrogene maligne Knochentumoren: Chondrosarkome
Chondrosarkome sind maligne, knorpelbildende Knochentumoren, die ein breites Spektrum an Erscheinungsmöglichkeiten aufweisen: von hochmalignen, aggressiven Formen bis zu jenen, die nie metastasieren. Es handelt sich betreffend Diagnostik und Therapie um die schwierigsten Tumoren. Die Diagnosestellung anhand von bildgebenden Verfahren allein ist manchmal schwer. Auch die Auswertung der Histologie ist unsicher, da die Unterschiede zwischen niedrig- und hochmalignen Formen subtil sind. Außerdem kann eine einzelne Biopsie Gewebe zutage fördern, das wenig repräsentativ für das tatsächliche Malignitätspotenzial des Tumors ist.
Klassisches Chondrosarkom (Grade 1–3) Definition Das klassische Chondrosarkom ist der zweithäufigste maligne Knochentumor und durch die Bildung von chondroider Matrix charakterisiert. Am häufigsten treten Chondrosarkome an Becken, Femur und Schultergürtel auf. Die meisten gehören zu den sog. zentralen Chondrosarkomen, die ihren Ursprung im Markraum haben. Selten sind die subperiostalen oder extraossären Chondrosarkome.
Epidemiologie Der Tumor tritt überwiegend im Erwachsenenalter mit einem Altersgipfel in der 6. Lebendekade auf und ist relativ häufig (etwa 7% aller Knochentumoren; Delling 1997, 2005).
Klinik Das wichtigste Leitsymptom ist der Schmerz. Dieser unterscheidet die malignen knorpelbildenden Knochentumoren von den benignen. Die Schmerzen werden durch die Dehnung des Periosts (Ruheschmerz) sowie durch die Knochendestruktion und die daraus resultierende Instabilität hervorgerufen. Auch ein palpabler Weichteiltumor durch die extraossäre Komponente kann festgestellt werden.
Diagnostik Radiologisch ergibt sich kein einheitliches Bild. Es finden sich überwiegend osteolytische Läsionen. Die übrigen Merkmale werden durch den Differenzierungsgrad bzw. die Wachstumsgeschwindigkeit bestimmt. Die langsam wachsenden »Lowgrade«-Tumoren zeigen Periostreaktionen bzw. eine Auftreibung des Knochens. Bei den aggressiveren »High-grade«-Chondrosarkomen kommt es zu einer Kortikalisdestruktion, was bei der Bildung als extraossäre Tumorkomponente imponiert. CT und MRT sind geeignet, um die Grenze zum gesunden Gewebe sowie das Ausmaß der kortikalen Destruktion – v. a. bei Beckentumoren – zu erfassen (⊡ Abb. 15.11).
263 15.5 · Bösartige Knochentumoren
a
c
b
Histopathologie Makroskopisch zeigt sich ein läppchen- und knotenförmiger Aufbau. Der Tumor breitet sich im Markraum aus. Die Kortikalis kann durch die reaktive Knochenneubildung verdickt oder arrodiert sein. Das Tumorgewebe ist von Nekrosen, Blutungen und zystischen Hohlraumbildungen durchsetzt (Delling 1997). Die histologischen Zeichen, die diese Tumoren von ihren benignen Gegenspielern unterscheiden, sind: ▬ Hyperzellularität ▬ Zellatypien ▬ Pleomorphismus ▬ binukleäre Formen ▬ myxoide interzelluläre Matrix ▬ Invasion und Destruktion der benachbarten Knochentrabekel Ausmaß und Erscheinungsbild dieser Veränderungen sind es, die der Pathologe beim Grading der Läsion in Betracht zieht.
⊡ Abb. 15.11a–c Befunde bei einem 38-jähriger Patienten mit einem Chondrosarkom das auf dem Boden einer kartilaginären Exostose entstanden ist und einen Befall des proximalen Humerus, des Glenoids sowie des Akromions zeigt. Der Patient leidet an einem M. Ollier. Vier Jahre zuvor wurde bereits ein Chondrosarkom am 9. Brustwirbelkörper entfernt
Dieses entscheidet über die Art der Therapie und v. a. über die Prognose des Tumors. Die meisten Autoren verwenden die Einteilung in die Grade 1–4, wobei Grad 4 dem dedifferenzierten Chondrosarkom entspricht.
Therapie Zur Diagnosesicherung wird zunächst eine Biopsie durchgeführt. Im Fall der dedifferenzierten Chondrosarkomen (s. unten) besteht ein Nebeneinander von »Low«- und »High-grade«Komponenten, sodass immer eine offene Inzisionsbiopsie angestrebt werden sollte, um die kleinere »High-grade«-Komponente zu erfassen. Das gewonnene Material sollte eine Grösse von ca. 1 cm3 haben und am Stück gewonnen werden. Empfohlen wird die weite Resektion, da mit dieser die beste Prognose assoziiert ist. Eine inadäquate Resektion im Sinne einer intraläsionalen bzw. marginalen Resektion korreliert mit einem erhöhten Risiko eines Lokalrezidivs (Pring et al. 2001; Sanerkin et al. 1979; Sheth et al. 1996b).
15
264
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
> Gitelis et al. (1981) haben gezeigt, dass eine inadäquate Behandlung (intraläsionale oder marginale Resektion) zu einer Rezidivrate von 69% gegenüber 6% bei adäquater (weite Resektion) führen kann. Die Gruppe mit adäquater Resektion zeigte eine 5-JahresÜberlebensrate von 81% (gegenüber 53% bei inadäquater Resektion) und war zu 78% tumorfrei (gegenüber nur 6% bei inadäquater Resektion; durchschnittliche Nachbeobachtungszeit von 11,1 Jahren).
Eine Bestrahlung ist für jene Tumoren reserviert, die chirurgisch schlecht erreichbar (z. B. an der Wirbelsäule) oder aus sonstigen Gründen nicht operabel sind. Die Überlebensraten der ausschließlich bestrahlten Patienten (5- bzw. 10-JahresÜberlebensrate von 41% bzw. 36%) sind geringer als bei jenen mit inadäquater Resektion (Krochak et al. 1983). Die Chemotherapie spielt bei der Chondrosarkombehandlung keine Rolle (Dickey et al. 2004; Eriksson et al. 1980).
Dedifferenziertes Chondrosarkom Rizzo et al. (2001) bestätigten den Zusammenhang zwischen der Rezidiv- bzw. Metastasenrate sowie der Mortalitätsrate auf der einen Seite und der inadäquaten Resektion auf der anderen Seite. Andere Autoren kamen zu ähnlichen Ergebnissen (Fiorenza et al. 2002; Lee et al. 1999a; Wang et al. 1991). Die Prognose hängt zudem maßgeblich von der Differenzierung des Tumors ab: Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt bei Grad-1-Chondrosarkomen bei 71–89%, bei Grad-2-Tumoren bei 40–53% und bei Grad-3-Läsionen bei 27–38% (Fiorenza et al. 2002; Gitelis et al. 1981; Sanerkin et al. 1979). Auch die Metastasenentwicklung, die v. a. bei Beckenläsionen auftritt, ist bei »Low-grade«-Chondrosarkomen mit einer Rate von insgesamt 0–20% niedriger als bei »High-grade«-Tumoren, bei denen eine Rate von 20–75% erreicht wird (Gitelis et al. 1981; Rizzo et al. 2001; Sanerkin et al. 1979; Sheth et al. 1996b). Andere Untersuchungen zeigten, dass neben der Tumordifferenzierung auch die zunehmende Tumorgröße, die extrakompartimentelle Ausbreitung, ein Patientenalter von >50 Jahren und die stammnahe Tumorlokalisation negative prognostische Faktoren darstellen (⊡ Tab. 15.8; Fiorenza et al. 2002; Lee et al. 1999a; Ozaki et al. 1996a; Soderstrom et al. 2003). Ob die Lokalrezidivrate ebenfalls einen Einfluss auf die Überlebensrate hat, wird kontrovers diskutiert (Lee et al. 1999a; Ozaki et al. 1996a; Sheth et al. 1996b).
Das dedifferenzierte Chondrosarkom besteht aus 2 nebeneinander vorliegenden Komponenten, einer hochdifferenzierten chondrogenen und einer undifferenzierten mesenchymalen Komponente (Delling 1997, 2005). Der Altersgipfel liegt in der 5.–6. Lebendekade, die Lokalisation ist identisch mit derjenigen der klassischen Chondrosarkome (Delling 1997; Frassica et al. 1986; Staals et al. 2006). Pathologische Frakturen, Schmerzen und eine begleitende Weichteilkomponente sind die Leitsymptome (Delling et al. 2005; Frassica et al. 1986; Lee et al. 1999a). Manche Autoren bezeichnen diesen Tumor als »Grad-4-Chondrosarkom«, was eine enge Verwandschaft zum klassischen Chondrosarkom bereits erahnen lässt. Wie schon erwähnt, muss dies bei der Biopsie berücksichtigt und ein möglichst repräsentativer Anteil gewonnen werden, in dem die »High-grade«-Komponente erfasst ist. Zur Hilfe kann man die MRT hinzuziehen, was die Lokalisierung des dedifferenzierten Anteils erleichtert (McSweeney et al. 2003; Saifuddin et al. 2004). Die Perforation des Kortex, die Bildung eines Weichteiltumors und eine frühe Metastasierung sind häufige Merkmale dieses Tumors. Die Prognose ist trotz radikaler Resektion und dem gelegentlichen Einsatz der Chemotherapie mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von 0–24% sehr schlecht (Anract et al. 1994; Capanna
⊡ Tab. 15.8 Diagnostische Merkmale des Chondrosarkoms. (Nach Mankin 2002)
15
Merkmal
Ausprägung
Größe
Je größer der Tumor ist, desto eher ist er maligne.
Lokalisation
Stammnah gelegene Tumoren sind eher maligne. Dagegen sind peripher gelegene und akrale Läsionen tendenziell eher benigne. Tumoren im Becken-, proximalen Femur-, Skapula- und proximalen Humerusbereich sind tendenziell bösartig (eher als Tumoren im Bereich der distalen Extremitätenabschnitte, v. a. an Händen und Füßen).
Alter des Patienten
Chondrosarkome sind vor dem 25. Lebensjahr selten. Je älter der Patient ist, desto wahrscheinlicher handelt es sich bei einer kartilaginösen Läsion um einen bösartigen Tumor.
Anzahl der Läsionen
Patienten mit multiplen kartilaginären Läsionen (Maffucci-Syndrom, M. Ollier, hereditäre multiple osteokartilaginäre Exostosen) haben ein höheres Risiko für die Entwicklung eines Chondrosarkoms als jene mit solitären Läsionen.
Lokalisation des Tumors innerhalb des Knochens
Enostotisch wachsende Tumoren sind eher maligne. Exostotisch wachsende Läsionen scheinen so gut wie nie zu metastasieren. Der Anteil enostotischer Läsionen liegt bei ca. 3%.
Szintigraphiebefund
Ein »kalter« Tumor ist eher nicht maligne, ein »heißer« ist hingegen nicht zwingend maligne. Viele benigne Läsionen und fast alle malignen Tumoren sind szintigraphisch aktiv. Jene Tumoren, die nicht aktiv erscheinen, sind selten maligne oder aggressiv.
Lokalrezidiv
Tumoren, die nach operativer Behandlung lokal rezidivieren, produzieren eher Metastasen als jene, bei denen dies nicht der Fall ist. Dies gilt insbesondere für »High-grade«-Tumoren, die zu ca. 70% lokale Rezidive aufweisen.
Symptome
Maligne kartilaginäre Tumoren verursachen typischerweise persistierende, dumpfe Schmerzen, die sich nachts verstärken.
265 15.5 · Bösartige Knochentumoren
et al. 1988; Dickey et al. 2004; Frassica et al. 1986; Mercuri et al. 1995; Staals et al. 2006).
ist vom desmoplastischen Fibrom abzugrenzen (Delling 1997; Papagelopoulos et al. 2002).
Mesenchymales Chondrosarkom
Epidemiologie
Das mesenchymale Chondrosarkom ist ein seltener (8% der zentralen Chondrosarkome), hochmaligner Tumor mit dem biologischen Verhalten eines zentralen hochmalignen Osteosarkoms. Es tritt in der 2.–3. Lebensdekade auf und ist im Gegensatz zum klassischen Chondrosarkom überwiegend im Bereich des Stammskeletts (Rippen, Becken, Schädel, Wirbelsäule sowie Diaphyse der langen Röhrenknochen) lokalisiert. Histologisch ist der Tumor durch eine kleinzellige Komponente charakterisiert, die zu einer Verwechslung mit dem Ewing-Sarkom führen kann. Der Patient präsentiert sich mit Schmerzen, aber auch einer schmerzlosen tastbaren Weichteilschwellung (Dabska u. Huvis 1983; Huvis et al. 1983). Die Therapie besteht in einer neoadjuvanten Chemotherapie und einer Resektion (Delling et al. 2005; Huvis et al. 1983; Streitbuerger et al. 2006). Die Prognose ist bei einer 10-Jahres-Überlebensrate von 20–28% schlecht (Dabska u. Huvos 1983; Huvos et al. 1983).
Das Fibrosarkom tritt in jedem Alter auf. Die typische Lokalisation ist die Kniegelenkregion. Klinisch präsentiert sich der Tumor – ähnlich wie andere maligne Knochentumoren – durch unspezifische Schmerzen und eine Schwellung der betroffenen Extremität. Bei 15–29% der Patienten wird er nach einer pathologischen Fraktur diagnostiziert (Huvos u. Higinbotham 1975; Larsson et al. 1976; Papagelopoulos et al. 2002).
Diagnostik Radiologisch imponiert eine mäßig scharf begrenzte, landkartenartige Osteolyse mit mottenfraßähnlicher Zeichnung und Kortikalisdurchbruch (⊡ Abb. 15.12; Taconis u. Mulder 1984). Die meisten Fibrosarkome sind zentral im Markraum zu finden. Die MRT ist für die Erfassung der Weichteilausdehnung hilfreich. Das histologische Bild ist – wie bei Weichteilfibrosarkomen – durch Spindelzellen, eine variable Kollagenproduktion und ein Fischgrätenmuster gekennzeichnet.
Klarzellchondrosarkom Diese seltene Chondrosarkomvariante tritt fast ausschließlich in den Epiphysen erwachsener Patienten (Altersgipfel in der 3. und 4. Lebensdekade) auf (Bjornsson et al. 1984; Engels et al. 2000; Kaim et al. 2002). Meistens finden sich Klarzellchondorsarkome im proximalen Femur, seltener im proximalen Humerus. Der histologische Aufbau ist durch Anteile klassischer Chondrosarkomzellen und typische, wasserhell-blasige Tumorzellen charakterisiert. Die letztere Komponente hilft, diesen Tumor gegenüber anderen Chondrosarkomen abzugrenzen. Die Lokalisation (proximaler Femur) und das osteolytische Aussehen im Röntgenbild führen gelegentlich zu Verwechslungen mit einer Femurkopfnekrose (Bjornsson et al. 1984; Delling et al. 2005; Engels et al. 2000; Streitbuerger et al. 2006). Die Tumoren werden als Grad-2-Chondrosarkome eingestuft und zeichnen sich durch ein langsames Wachstum, eine späte Metastasierung und eine relativ hohe Lokalrezidivrate aus. Letztere wird durch eine adäquate Resektion (tumorfreie Ränder) signifikant gesenkt. Die marginale bzw. intraläsionale Resektion ist unzureichend. Die 10-Jahres-Überlebensrate liegt bei 89%; 68% der Patienten sind nach dieser Zeit noch tumorfrei (Bjornsson et al. 1984; Itala et al. 2005; Laporte et al. 1996; Present et al. 1991; Unni et al. 1976).
15.5.2
a
Fibröse maligne Knochentumoren: Fibrosarkom
Definition Das Fibrosarkom bildet ca. 4–5% aller malignen Knochentumoren. Es ist ein maligner, kollagenfaserbildender Knochenund Weichteiltumor, der ein ähnliches Erscheinungsbild und eine vergleichbare Lokalisation aufweist wie das Osteosarkom. Eine Bildung von Osteoid oder Knorpel erfolgt nicht. Der Tumor kommt in unterschiedlichen Malignitätsgraden vor und
b
⊡ Abb. 15.12a,b Destruktion des vorderen Beckenrings durch ein Fibrosarkom bei einer 77-jährigen Patientin. Außer einer Bestrahlung hat die Patientin keine weiteren Therapiemaßnahmen toleriert
15
266
z
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Therapie
Therapeutisch ist die weite Resektion (oder radikalere Verfahren wie Amputation oder Exartikulation) das Mittel der Wahl. Die Rolle der Chemotherapie ist nicht vollständig geklärt. Der Einsatz der perioperativen adjuvanten Therapie sollte jedoch bei Tumoren mit höherer Malignität in Erwägung gezogen werden (Papagelopoulos et al. 2002). Ungefähr 68% der Läsionen sind dem Grad 3 oder 4 zuzuordnen. z
Prognose
In 63–68% der Fälle metastasiert das Fibrosarkom in die Lunge. Die Prognose ist mit 5-Jahres-Überlebensraten von 21–42% schlechter als diejenige des Osteo- und des Weichteilfibrosarkoms und hängt vom Grading sowie der Lokalisation des Tumors und außerdem von der Radikalität des chirurgischen Verfahrens wie auch vom Alter des Patienten ab (Andre et al. 1983; Huvos u. Higinbotham 1975; Jeffree u. Price 1976; Larsson et al. 1976; Neifeld et al. 1987; Papagelopoulos et al. 2000b, 2002; Taconis u. van Rijssel 1985).
15.5.3
Histiozytäre maligne Knochentumoren: malignes fibröses Histiozytom
chronischen Osteomyelitis oder der fibrösen Dysplasie sowie nach Einbringen von Metallimplantaten (Nägel, Staples, Hüfttotalprothesen etc.). Mehr als 15% der sekundären Tumoren sind strahleninduziert und treten im Schnitt 16,5 Jahre nach der Strahlenexposition auf. Ungefähr 75% der Tumoren kommen im Bereich der langen Röhrenknochen vor, davon 50% in Knienähe. Am häufigsten ist das Femur (45%) betroffen, gefolgt von Tibia, Becken und Humerus (jeweils 10%). Die Hälfte dieser Tumoren sind im Bereich der unteren Extremitäten anzutreffen. Typisch ist die metaphysäre Lage, wobei eine Ausdehnung in Richtung Epi- und Diaphyse nicht selten ist (Bielack et al. 1999; Delepine et al. 2001; Huvos et al. 1985; Keel et al. 2001; Kenan et al. 1998; Little u. McCarthy 1993; Nishida et al. 1997; Schuh et al. 2004; Visuri et al. 2006; Yokoyama et al. 1993).
Epidemiologie Das maligne fibröse Histiozytom kann grundsätzlich in jedem Alter auftreten. Es gibt jedoch 2 Altersgipfel: bei primären Tumoren in der 2.–3. Dekade und bei sekundären Tumoren im 5.–7. Lebensjahrzehnt. Der Tumor repräsentiert etwa 1–5% aller primären Knochentumoren. Männer sind im Verhältnis 3 : 2 häufiger betroffen als Frauen (Delepine et al. 2001; Quinn u. Ricci 2002).
Definition Es handelt sich um einen malignen Knochentumor, möglicherweise mesenchymalen Ursprungs, mit sowohl fibrösen als auch histiozytären Eigenschaften. Das maligne fibröse Histiozytom bildet sowohl Knochen- als auch Weichteiltumoren. Das maligne fibröse Histiozytom kann überall auftreten, sowohl als Primär- (ca. 70% aller malignen fibrösen Histiozytome) als auch als Sekundärtumor (ca. 30%) auf der Grundlage eines Knocheninfarkts, des M. Paget, einer
Diagnostik Das maligne fibröse Histiozytom besitzt radiologische Eigenschaften eines hochdestruktiven Tumors: lytische, landkartenartige oder permeativ metaphysär wachsende Läsion mit Zerstörung des Kortex und Bildung einer Weichteilmasse (⊡ Abb. 15.13). In 40% der Fälle findet sich eine gemischt osteolytisch-sklerotische Läsion. Die »High-grade«-Tumoren zeigen eine gering definierte »Transitionszone«, die »Low-grade«-Tu-
15
⊡ Abb. 15.13a,b Malignes fibröses Histiozytom der Tibia bei einem 70-jährigen Mann. Der Tumor befand sich randständig im Bereich eines Knocheninfarkts
a
b
267 15.5 · Bösartige Knochentumoren
moren können eine mehr oder weniger ausgebildete Randsklerose aufweisen. Die Szintigraphie stellt die intraossäre Ausdehnung des Tumors und die Lokalisation von Knochenmetastasen dar. Das Ausmaß der Knochendestruktion ist am besten mittels CT darstellbar. Die intra- und extraossäre Ausdehnung des Tumors sowie seine Nähe zu neurovaskulären Strukturen sind ideal mittels MRT zu beurteilen. Trotzdem kann die Diagnose weder computer- noch magnetresonanztomographisch gestellt werden, sondern nur histologisch (Delepine et al. 2001; Quinn u. Ricci 2002).
fusem Tumorbefall sowie bei relevanten Ko-Morbiditäten empfohlen (Capanna et al. 1984; Quinn u. Ricci 2002). Die Prognose ist bei »Low-grade«-Tumoren, primären Tumoren, geringer Tumorgröße und jüngeren Patienten besser (Bielack et al. 1999; Capanna et al. 1984; Delepine et al. 2001; Huvis et al. 1985; Peiper et al. 2004; Salo et al. 1999).
15.5.4
Vaskuläre maligne Knochentumoren: Hämangiosarkom und Hämangioendotheliom
Differenzialdiagnosen Mögliche Differenzialdiagnosen umfassen: ▬ Fibrosarkom ▬ Osteosarkom ▬ Chondrosarkom ▬ Chordom ▬ Melanom ▬ Karzinommetastasen (v. a von Nieren- und Schilddrüsenkarzinom)
z
Therapie
z
Rein operativ versorgte Patienten weisen eine 5-Jahres-Überlebensrate von 17% (inadäquate Resektion) bzw. 28–63% (adäquate Resektion) auf (Capanna et al. 1984; Yokoyama et al. 1993). Die Entscheidung, ob eine extremitäterhaltende Tumorresektion oder eine Amputation angestrebt wird, sollte sich rein nach onkologischen Gesichtpunkten (Biopsie, Staging, Tumorfreiheit der Resektatränder etc.) richten (Capanna et al. 1984; Little u. McCarthy 1993; Nishida et al. 1997). Neben der zumindest weiten Resektion des Tumors wird eine prä- und postoperative Chemotherapie empfohlen (Bacci et al. 1996a, b, 1988; Delepine et al. 2001; Earl et al. 1993; Ham et al. 1996). Die Chemotherapie in Kombination mit einer adäquaten Tumorresektion scheint die 5-Jahres-Überlebensrate auf 57–86% anzuheben (Bramwell et al. 1999; Capanna et al. 1984; Little u. McCarthy 1993). Yokoyama et al. (1993) stellten sogar eine 5-Jahres-Überlebensrate von 100% bei einer allerdings kleinen Gruppe von 6 Patienten (von insgesamt 34 Patienten) fest, die mittels adäquater Tumorresektion und Chemotherapie behandelt wurden. Das Ansprechen des Tumors auf die Chemotherapie wird bei einer Nekroserate von >90% der Tumormasse als gut bezeichnet. Ob die Nekroserate jedoch einen prognostischen Wert besitzt, ist nicht gesichert (Bacci et al. 1996a, 1997, 1998; Bielack et al. 1999; Bramwell et al. 1999; Picci et al. 1997). Der bessere Marker des Therapieerfolgs scheint die Tumorfreiheit der Resektatränder zu sein (Bramwell et al. 1999; Capanna et al. 1984; Little u. McCarthy 1993; Nishida et al. 1997; Peiper et al. 2004). Es ist allerdings noch nicht definitiv geklärt, ob die Chemotherapie, die Tumorfreiheit der Resektatränder oder eben die Kombination beider Faktoren zu einer Verbesserung des Ergebnisses führt (Little u. McCarthy 1993). Eine aggressive Metastasenresektion kann kurativ sein oder zumindest zur Verbesserung der Überlebensrate führen (Quinn u. Ricci 2002). Eine Bestrahlung dieses Tumors wird nur bei inoperablen Fällen, zur Reduktion des Rezidivrisikos, bei dif-
Die Tumoren treten häufig multifokal in den Knochen derselben Extremität auf und äußern sich initial meistens durch Schmerzen oder gelegentlich durch pathologische Frakturen. Hämangiosarkome scheinen u. a. sekundär aufzutreten, v. a. in Zusammenhang mit Knocheninfarkten.
Definition
Es handelt sich um maligne Tumoren vaskulären Ursprungs, die neben der Leber, der Lunge und den Weichteilen auch die Knochen befallen. z
Epidemiologie
Die Tumoren sind selten (<1% aller malignen Knochentumoren) und betreffen alle Altersgruppen.
z
Klinik
Diagnostik
Konventionell-radiologisch zeigen sich überwiegend lytische Läsionen ohne reaktive Knochenbildung. Zur Lokalisierung zusätzlicher Läsionen eignet sich die MRT. z
Therapie
Die Therapie dieser malignen Tumoren erfolgt durch Bestrahlung, Embolisation und/oder weite Resektion. Diskutiert wird außerdem der Einsatz der Chemotherapie, von Interleukin-2 und von Interferonen (Abdelwahab et al. 1998; Cerilli u. Fechner 1999; Ellis et al. 1996; Krajca-Radcliffe et al. 1992; Lomasney et al. 1996; Lopes e al. 1999; McDonald et al. 2002; Pizio u. Szczurek 1992; Roudier-Pujol et al. 1994; Sybert et al. 1995; Uribe Uribe et al. 1996; Weiss et al. 1986; Wenger u. Wold 2000).
15.5.5 z
Notochordale Tumoren: Chordom
Definition
Es handelt sich um ein seltenes malignes Neoplasma, das in der Mittellinie des axialen Skeletts (im Bereich der Chorda dorsalis) auftritt und sich aus primitivem notochordalen Gewebe entwickelt. Das Chordom bildet ca. 1–4% aller primären malignen Knochentumoren. z
Epidemiologie
Der Altersgipfel der sakralen Tumoren liegt zwischen 50 und 70 Jahren. Männliche Patienten sind im Verhältnis 2 : 1 häufiger betroffen. Patienten mit Tumoren der Kopfregion sind in
15
268
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
der Regel jünger (40–60 Jahre). Patienten unter 30 Jahren sind extrem selten betroffen (Bjornsson et al. 1993; Delling 1997; Mindell 1981; Sundaresan 1979, 1986). Der Tumor tritt vorwiegend an den Enden der Wirbelsäule (sphenookzipital und im Sakrumbereich) auf. Die sakrokokzygealen Läsionen bilden etwa 50%, die sphenookzipitalen etwa 35% aller Chordome. Nur ungefähr 10–15% der Tumoren kommen in den restlichen Wirbelsäulenabschnitten vor, v. a. zervikal (Bjornsson et al. 1993; Delling 1997; Mindell 1981; Raguin et al. 1987; Sundaresan 1986). z
Klinik
Der Tumor präsentiert sich durch einen langsam, über Monate bis Jahre zunehmenden Schmerz, dem viele Patienten anfangs keine Beachtung schenken. Bei sakralen Chordomen kann ein tiefer, lumbaler Schmerz, ein Hüftschmerz oder zunächst ein gastrointestinales Beschwerdebild im Sinne einer Obstipation, eines Verlusts des rektalen Tonus oder Ähnlichem vorliegen. Die meisten Symptome werden durch die Verdrängung der präsakralen Strukturen durch die Tumormasse verursacht. Bei Patienten mit lang anhaltenden tieflumbalen Beschwerden kann die rektale digitale Untersuchung mehr als 50% der präsakralen Chordome aufdecken. Bei Tumoren im Wirbelkörperbereich ist durch Kompression der Nervenwurzeln oder des Rückenmarks eine große Variabilität neurologischer Symptome möglich. Die zervikalen Tumoren äußern sich durch Schluck- oder Atembeschwerden sowie eine Gefühllosigkeit in Armen oder Beinen, gefolgt von Schmerzen (Mindell 1981; Sundaresan 1986). z
15
Diagnostik
Das konventionelle Röntgen zeigt häufig nicht das wahre Ausmaß des Tumors. Der ossäre Anteil ist gegenüber dem extraossären üblicherweise klein. Das konventionelle Röntgenbild eines Chordoms zeigt in ca. 2/3 der Fälle eine Osteosklerose. In 1/3 der Fälle sind diese Tumoren rein osteolytisch. Das Sakrum ist durch das expansive Wachstum häufig ausgedehnt, und der Weichteiltumor kann eine unregelmäßige Mineralisation im Sinne von Matrixverkalkungen zeigen. Die Wirbelkörperchordome weisen häufig Areale mit lytischer Knochendestruktion und Knochenneubildung mit gelegentlicher Einbeziehung der benachbarten Strukturen (Bandscheibe, Wirbelkörper etc.) auf. CT und/oder MRT dokumentieren die wahre Ausdehnung des Tumors und eignen sich deshalb gut für die präoperative Planung (De Bruine u. Kroon 1988; Meyer et al. 1984; Rosenthal et al. 1985; Sundaresan 1986; Sze et al. 1988; Wippol et al. 1999). Chordome wachsen langsam und lokal invasiv. Makroskopisch imponiert ein lobulierter, grauer, gelatinöser bis knorpelartiger Tumor (Bjornsson et al. 1993; Chambers u. Schwinn 1979). Die lokalen Rezidive werden durch die Invasion kleiner Tumorzapfen über das Operationsgebiet hinaus verursacht (Delling 1997). Die Metastasen treten überwiegend im Knochen und in der Lunge auf (Raguin et al. 1987). Mögliche Differenzialdiagnosen sind Liposarkom, Karzinommetastase, Riesenzelltumor, multiples Myelom, neurogene Tumoren und myxoides Chondrosarkom.
z
Therapie
Nach Staging und Biopsie ist eine weite Resektion durchzuführen. Diese ist für das Outcome entscheidend (Fuchs et al. 2005). Um eine weite Resektion zu erreichen, sind – wenn nötig – die sakralen Nervenwurzeln zu opfern. Im Fall einer inadäquaten Resektion ist in einem hohen Prozentsatz (64%) mit einem Lokalrezidiv zu rechnen (Kaiser et al. 1984). Dieses wächst ungünstigerweise infiltrativ und hat deshalb eine schlechte Prognose. Der Erfolg der Therapie hängt deshalb maßgeblich davon ab, ob die primäre Resektion adäquat durchgeführt wurde (Fuchs et al. 2005). Obwohl es sich um einen strahlenresistenten Tumor handelt, kann eine hochdosierte Bestrahlung als Ergänzung infrage kommen, wenn eine weite Resektion nicht erreicht werden konnte oder wenn ein Rezidiv auftritt (Amendola et al. 1986; Keisch et al. 1991; Rich et al. 1985; Romero et al. 1993). Über schonendere Protonen-, Neutronen- und Schwerionenbestrahlungen wird ebenfalls berichtet (Breteau et al. 1998; Hug et al. 1999; Park et al. 2006; Saunders et al. 1986; Schoenthaler et al. 1993; Suit et al. 1982). z
Prognose
Die Chordome metastasieren nach 5 Jahren in ca. 5% der Fälle und nach 10 Jahren in 50% der Fälle (Samson et al. 1993). Die Metastasen dieses Malignoms gehen weit häufiger von den sakralen als den übrigen Läsionen aus und sind meistens asymptomatisch. Der Tod wird eher durch das Versagen der lokalen Tumorkontrolle als durch die Metastasen verursacht. Die 5-Jahres-Überlebensrate erreicht 38–79% (Bjornsson et al. 1993; Chambers u. Schwinn 1979; Fuchs et al. 2005; Hug et al. 1999; Keisch et al. 1991; Rich et al. 1985; Romero et al. 1993; Sundaresan et al. 1979).
15.5.6
Maligne Knochentumoren hämatopoetischen Ursprungs
Primäres malignes Lymphom z
Definition
Das primäre maligne Knochenlymphom ist ein Tumor des retikuloendothelialen Systems. Es macht ca. 1–3% aller primären malignen Knochentumoren aus. Das primäre maligne Lymphom nimmt seinen Ausgang vom Markraum. Nach einem unterschiedlich langen Intervall erfolgt eine Generalisierung der Erkrankung mit Lymphknoten- und Organbefall (⊡ Abb. 15.14; Delling 1997). z
Epidemiologie
Vorwiegend betroffen sind Altersgruppen zwischen der 3. und 6. Lebensdekade. z
Diagnostik
Die häufigsten Lokalisationen sind die Metaphysen der langen Röhrenknochen, v. a. des distalen und proximalen Femurs sowie der proximalen Tibia, aber auch Becken, Wirbelkörper und Schultergürtel. Konventionell-radiologisch findet sich ein marmoriertes oder mottenfraßähnliches Erscheinungsbild.
269 15.5 · Bösartige Knochentumoren
Chemotherapie wird i. A. bei systemischem Befall (M. Hodgkin und Non-Hodgkin-Lymphome), aber zunehmend auch primär in Kombination mit der Bestrahlung eingesetzt. Ein operatives Vorgehen dient überwiegend der Frakturstabilisierung oder es wird bei isolierten Tumoren eingesetzt, die nicht auf eine Bestrahlung angesprochen haben. z
Prognose
Die 10-Jahres-Überlebensrate erreicht bei unifokaler Manifestation 80% (Baar et al. 1999; Cook et al. 1996; Durr et al. 2002; Farres et al. 1993; Kitsoulis et al. 2006; Krishnan et al. 2003; Leeson et al. 1989; Ludwig 2002; Misgeld et al. 2003).
Myelom a
Das Myelom stellt eine maligne Erkrankung des lymphatischen Systems mit monoklonaler neoplastischer Proliferation der B-Zellen dar. Diese Zellen produzieren pathologische Immunglobuline ohne Antikörperfunktion, sog. Paraproteine. Diese Neoplasie macht ungefähr die Hälfte aller Knochentumoren aus.
Multiples Myelom z
b
⊡ Abb. 15.14a,b Autopsiepräparat eines multizentrischen, im Knochen lokalisierten, diffusen, großzelligen, hochmalignen B-Zell-Lymphoms bei einem 65-jährigen Mann
Definition
Die häufigste Myelomform, das multiple Myelom (auch M. Kahler oder Plasmozytom genannt), ist ein generalisierter Knochentumor (diffuse Zellproliferation) und geht von den Plasmazellen des Knochenmarks aus. Dies führt zur Verdrängung der Hämatopoese und zur Zerstörung des Knochengewebes. Die häufigste Lokalisation betrifft deshalb die Skelettabschnitte mit aktiver Blutbildung. Mehr als 85% aller Läsionen sind im Bereich des Achsenskeletts und der proximalen Anteile von Humerus und Femur zu finden. Das Myelom kann jedoch auch herdförmig auftreten (solitäres Myelom; s. unten). Die beiden erstgenannten Formen stellen das medulläre Myelom dar. Vollständigkeitshalber soll auch das als Rarität vorkommende extramedulläre Plasmozytom (Wachstum außerhalb des Knochengewebes) genannt werden. z
Epidemiologie
Der Altersgipfel liegt zwischen dem 50. und dem 80. Lebensjahr. Eine Mischung aus Knochendestruktion und -neubildung ist üblich. Der kortikale Knochen kann verdickt oder unregelmäßig destruiert sein. Bei einem diskreten Röntgenbefund zeigt sich bei der MRT die wahre Ausdehnung des Tumors, v. a. in die Weichteile hinein. Die Szintigraphie kann bei unklarem Röntgenbild ebenfalls diagnostisch eingesetzt werden. Differenzialdiagnostisch kommen infrage: ▬ Ewing-Sarkom ▬ Karzinommetastase ▬ Osteomyelitis ▬ malignes fibröses Histiozytom ▬ M. Paget z
Therapie
Der Grundpfeiler der Therapie ist die Bestrahlung des betroffenen Knochens und der regionalen Lymphknoten. Die
z
Klinik
Klinisch äußert sich das Myelom initial durch Knochenschmerzen (68%), am häufigsten im Bereich der Wirbelsäule und der Rippen. Es kommt zu pathologischen Frakturen (60% der Fälle), v. a. zu Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper. Ungefähr ein Drittel der Fälle wird zufällig diagnostiziert. Erschöpfung tritt im Zusammenhang mit der assoziierten Anämie (62%) auf. Weitere Symptome entstehen aufgrund der begleitenden renalen Insuffizienz (55%), der Hyperkalzämie (30%) und der Amyloidablagerungen (7%). z
Diagnostik
Die Diagnose wird anhand des Vorliegens eines Haupt- und eines Nebenkriteriums oder anhand des Vorliegens von 3 Nebenkriterien gestellt.
15
270
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Diagnostische Kriterien für das multiple Myelom
▬ Hauptkriterien: – monoklonale Paraproteinämie: – Serum: IgG-Konzentration von >35 g/l, IgAKonzentration von >20 g/l – Urin: Bence-Jones-Proteinurie von >1 g/24 h – Knochenmarkinfiltration mit >30% Plasmazellen – histologischer Plasmozytomnachweis in sonstigen Biopsaten ▬ Nebenkriterien: – monoklonale Paraproteinämie in geringerer Konzentration als beim Hauptkriterium – Knochenmarkinfiltration mit 10–30% Plasmazellen – Osteolysen – Antikörpermangel: – IgM-Konzentration: <0,5 g/l – IgA-Konzentration: <1 g/l – IgG-Konzentration: <6 g/l
Im Röntgenbild finden sich die typischen, »ausgestanzten« osteolytischen Knochenläsionen ohne reaktive Randzone (⊡ Abb. 15.15; »Schrottschussschädel«). In einigen Fällen (15– 25%) kann jedoch nur eine Osteopenie vorliegen. Makroskopisch liegt eine Infiltration des Knochenmarks mit grau-roten, elastischen und relativ scharf begrenzten Herden vor. Mikroskopisch finden sich atypische, unterschiedlich differenzierte Plasmazellen mit exzentrisch gelegenen Zellkernen und angedeuteter Radspeicherstruktur des Chromatins. Es sind mehrkernige Plasmazellen und Riesenzellen zu erkennen. z
a
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch sind v. a. Karzinommetastasen auszuschließen. Diese verursachen in einer vergleichbaren Altersgruppe ähnliche Symptome. z
15
Therapie
Die Chemotherapie in Kombination mit Prednison stellte über Jahrzehnte die primäre Therapie dar, wird jedoch zunehmend von Polychemotherapieprotokollen in Kombination mit Interferon abgelöst. Bisphosphonate, eine prophylaktische Antibiotikagabe, hämatopoetische Wachstumsfaktoren und die Knochenmarktransplantation kommen alternativ oder ergänzend zum Einsatz. Eine Bestrahlung kann durch Verlangsamung des Tumorwachstums zur Schmerzreduktion oder zur Heilung von Mikrofrakturen führen. Drohende oder bereits erlittene Frakturen werden osteosynthetisch versorgt. z
Prognose
Die Prognose richtet sich nach dem Stadium der Erkrankung. Zu diesem Zweck entwickelten Durie und Salmon im Jahre 1975 ein Staging-System, das es erlaubt, anhand einer Schätzung der gesamten Tumormasse (durch Veränderungen des MGradienten) das Ansprechen auf die Chemotherapie und das Überleben des Patienten besser abzuschätzen. Es gibt Versuche, dieses System zu reformieren und einfacher sowie verlässlicher
b
⊡ Abb. 15.15a,b Femur eines 59-jährigen Mannes mit Ausbreitung eines multiplen Myeloms. a im Röntgenbild, b im MRT
zu gestalten. Die mittlere Überlebenszeit beträgt 18 Monate bis 5 Jahre. Die 5-Jahres-Überlebensrate erreicht 18–58%. Die häufigsten Todesursachen sind Infektion und renale Insuffizienz (Barlogie et al. 1989, 1999; Berenson 1997; Delling 1997; Durie u. Salmon 1975; George u. Sadovsky 1999; Greipp u. Witzig 1996; Greipp et al. 2005; Kyle 1975; MacLennan et al. 1994; Oken 1994, 1998; Papagelopoulos et al. 1997; Roodman 1997; Smith u. Newland 1999; Vesole et al. 1996).
Solitäres Myelom > Es ist wichtig, das solitäre Myelom wegen der besseren Prognose vom multiplen Myelom zu unterscheiden.
271 15.5 · Bösartige Knochentumoren
Diagnostische Unterscheidungskriterien sind: ▬ isolierte Läsion bei der Skelettuntersuchung ▬ histologische Bestätigung eines Plasmozytoms ▬ negatives Knochenmarkaspirat
Mehr als die Hälfte dieser Läsionen sind in der Wirbelsäule angesiedelt. Radiologisch und histologisch ist das solitäre Myelom mit der multiplen Form identisch. Die Therapie besteht in einer Bestrahlung der Läsion mit 4500 cGy. Eventuell muss der betroffene Knochenabschnitt prophylaktisch osteosynthetisch stabilisiert werden. Mehr als 50% der Patienten erfahren eine Ausbildung eines multiplen Myeloms. Die 5- bzw. 10Jahres-Überlebensrate beträgt 74% bzw. 45% (Frassica et al. 1989).
Osteosklerotisches Myelom Hierbei handelt es sich um eine seltene Form des Myeloms (1% der Fälle), bei dem Knochenläsionen mit einer chronisch-entzündlichen demyelinisierenden Polyneuropathie einhergehen. Diese Läsion ist meistens im Bereich von Wirbelsäule, Becken oder Rippen zu finden. Die Extremitäten sind üblicherweise ausgespart. Die Patienten sind in der Regel jünger als beim multiplen Myelom. Diagnostisch muss zusätzlich zur dargestellten Myelomdiagnostik die Polyneuropathie erfasst und evaluiert werden. Klinisch fallen zunächst sensorische Symptome (verminderte Spitz-stumpf-Sensibilität, Kälteempfindlichkeit, Kribbeln) auf, gefolgt von motorischer Schwäche. Beide Symptomgruppen treten symmetrisch auf, beginnen distal und setzen sich nach proximal fort. Knochenschmerzen sind nicht charakteristisch. Radiologisch zeigt sich ein Spektrum von rein sklerotischen bis zu gemischt sklerotisch-lytischen Läsionen. Die primäre Therapie ist die Bestrahlung, ergänzt durch Chemotherapie und Plasmapherese. Eine Besserung der neurologischen Veränderungen kann trotz Therapie ausbleiben (Delling 1997; Kelly et al. 1983).
15.5.7
Maligne Tumoren unklaren Ursprungs
Ewing-Sarkom Definition Es handelt sich um eine systemische Erkrankung mit sich früh entwickelnden Mikrometastasen eines primitiven neuroektodermalen Tumors (Hornicek 2002). Unter dem Begriff »EwingSarkom« werden Tumoren neuroektodermalen Ursprungs (primitive neuroektodermale Tumoren, PNET) zusammengefasst (Horowitz 1989). Das Ewing-Sarkom bevorzugt lange Röhrenknochen, am häufigsten das Femur, gefolgt von Tibia, Humerus und Fibula. Auch das Becken ist eine häufige Lokalisation, hier v. a. das Os Ileum. Weitere mögliche Lokalisationen sind Rippen, Wirbelkörper, Skapula und Klavikula. Im Knochen selbst ist am häufigsten die Diaphyse betroffen. Der Ausgangsfokus des Ewing-Sarkoms wurde auch in der Kutis bzw. Subkutis beobachtet (Bernstein et al. 2006a; Delling 1997; Horowitz et al. 1992; Laurence et al. 2005).
Epidemiologie Das Ewing-Sarkom ist das zweithäufigste Knochenmalignom des Kindes- und frühen Erwachsenenalters. Der Altersgipfel liegt zwischen dem 5. und dem 30. Lebensjahr. Diese Tumorgruppe bildet ca. 1% aller Tumoren des Kindesalters und 4–6% aller malignen Knochentumoren. Es tritt häufiger bei Jungen und fast ausschließlich bei Kaukasiern auf (Bernstein et al. 2006a; Delling 1997; Hornicek 2002; Horowitz et al. 1992; Vlasak u. Sim 1996).
Klinik Die betroffene Extremität ist schmerzhaft und manchmal geschwollen. Gelegentlich wird auch ein vorausgegangenes Trauma angegeben (Widhe u. Widhe 2000). Pathologische Frakturen führen in bis zu 15% der Fälle zur Diagnose (Wagner et al. 2001). Bei gelenknahen Tumoren kann es zum Verlust der Gelenkbeweglichkeit kommen. In fortgeschrittenen Fällen sind gelegentlich systemische Symptome wie Fieber, Müdigkeit, Unwohlsein und Gewichtsverlust zu beobachten. Die Temperaturerhöhung wird durch die Ausschüttung von Zytokinen, die durch den Tumor produziert werden, verursacht. Wegen der Erhöhung der Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit, der Anämie und der Leukozytose ist die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber der Osteomyelitis erschwert (Durbin et al. 1998). Tumoren im Bereich der Wirbelsäule und des Sakrums können Rückenschmerzen sowie Irritationen der Nervenwurzeln verursachen. Abhängig von der Tumorausdehnung sind zusätzlich Störungen der Darm- bzw. Blasenfunktion möglich. Etwa ein Viertel der Patienten weisen bei der Diagnosestellung bereits Metastasen auf (Bernstein et al. 2006a; Horowitz et al. 1992; Laurence et al. 2005; Thacker et al. 2005). Die Metastasierung erfolgt zu 50% in die Lunge. Im Rahmen der Labordiagnostik kann eine Aktivitätssteigerung der alkalischen Phosphatase und der LDH auffallen. z
Diagnostik
Makroskopisch imponiert ein weiß-graues Tumorgewebe, das die trabekuläre Knochenstruktur infiltriert, den Kortex und das Periost perforiert und in die umgebenden Weichteile bzw. in den Markraum eindringt. Osteolytische Regionen mit Kortexzerstörung und ohne Tumorosteiod sind charakteristisch. Mikroskopisch finden sich große Rundzellen mit großen Kernen und schmalem Zytoplasmasaum. Die charakteristische reziproke Chromosomentranslokation t(11:22) (q24;q12) ist in >85% der Fälle feststellbar (Desmaze et al. 1997; Grier 1997; Taylor et al. 2005).
Bildgebende Verfahren Das Röntgenbild stellt sich entsprechend der Wachstumsgeschwindigkeit der Läsion unterschiedlich dar (⊡ Abb. 15.16a). Bei langsamem Wachstum zeigt sich eine zwiebelschalenartige Verdickung der Kortikalis, üblicherweise in der Diaphyse oder im metadiaphysären Übergang. Bei schnellerem Wachstum liegt eine größere Vielfalt an Röntgenbefunden vor. Diese bestehen in einem unregelmäßigen Muster aus Knochendestruktion
15
272
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
mittelaufnahme im Tumorbereich, aber auch im Bereich der Knochenmetastasen. Die CT erfasst Lungenmetastasen (Horowitz et al. 1992). Diese Untersuchungen werden im Rahmen des Re-Stagings über einen Zeitraum von mindestens 5 Jahren postoperativ durchgeführt.
Differenzialdiagnosen Infrage kommende Differenzialdiagnosen sind: ▬ Osteosarkom ▬ Osteomyelitis ▬ primäres malignes Lymphom ▬ Histiozytose ▬ metastatisches Neuroblastom (v. a. bei Kindern unter 5 Jahren) ▬ Karzinommetastase (bei Patienten über 30 Jahren)
a
Außerdem müssen während der histologischen Untersuchung das Rhabdomyosarkom, das mesenchymale Chondrosarkom, das multiple Myelom und das kleinzellige Lungenkarzinom in Betracht gezogen werden (Durbin et al. 1998).
Therapie
b
15
⊡ Abb. 15.16a,b Befund bei einer 33-jährigen Patientin mit Befall des rechten Iliosakralgelenks durch ein Ewing-Sarkom. Trotz zahlreicher Eingriffe inklusive Hemisakrektomie und Fusion zwischen 5. Lendenwirbelkörper und Os Ilium, mehreren Chemotherapiezyklen sowie Bestrahlung konnte eine ausgedehnte ossäre und pulmonale Metastasierung des Tumors nicht verhindert werden. Die Patientin verstarb 19 Monate nach der Diagnosestellung. a Röntgenbild, b MRT
und intaktem Knochen (»Mottenfraßmuster«) und reichen bis zur radiären Spiculae-Bildung, ähnlich derjenigen des Osteosarkoms. Der Kortex ist ausgedünnt und im Bereich der Läsion zestört. Eine periostale Reaktion im Sinne von Codman-Dreiecken kann ebenfalls beobachtet werden. Die MRT stellt sowohl das Ausmaß des Tumors im Markraum als auch die Größe des Weichteiltumors dar (⊡ Abb. 15.16b). Auch Skip-Metastasen und die Nähe des Tumors zu neurovaskulären Strukturen werden abgebildet. Außerdem eignet sich die MRT, um die Wirkung der Chemo- und Strahlentherapie zu dokumentieren, da die Größenreduktion des Tumors und die Änderung der Signalgebung sichtbar werden (Brisse et al. 2004; Eggli et al. 1993). Die Szintigraphie zeigt eine Kontrast-
In der Vor-Chemotherapie-Ära war die Prognose des Tumors schlecht. Da der Tumor früh Mikrometastasen bildet, führte die alleinige Amputation oder Bestrahlung der betroffenen Extremität nicht zur Heilung. Die 5-Jahres-Überlebensraten lagen damals bei 5–10% (Horowitz et al. 1992). Heute gehört die Chemotherapie zur Hauptstütze der Therapie dieser Systemerkrankung. Die Einführung der Chemotherapie in das Therapieschema und Verbesserungen bei den Medikamenten führten bei Patienten ohne Metastasen bei der Diagnosestellung zu Gesamtüberlebensraten von 60–80% (Bernstein et al. 2006a, b; Grier 1997; Grier et al. 2003; Kolb et al. 2003; Laurence et al. 2005; Miser et al. 2004; Paulussen et al. 2001; Smeland et al. 2004; Taylor et al. 2005; Thacker et al. 2005; Vlasak u. Sim 1996). Aber auch bei Vorliegen von Lungenmetastasen ist die Chemotherapie das Mittel der Wahl und kann in Verbindung mit Thorakotomie, Lungenbestrahlung und Resektion des Primärtumors kurativ sein. Patienten mit ausschließlich Lungenmetastasen haben eine bessere Prognose als solche mit Knochen- bzw. Knochen- und Lungenmetastasen (Pinkerton et al. 2001). Trotz aller Therapieverbesserungen der letzten Jahre überleben nur etwa 25% dieser Patienten (Bernstein et al. 2006a). Aktuell wird nach der Diagnosesicherung mittels Biopsie und nach einer ersten magnetresonanztomographischen Erfassung des Tumors eine neoadjuvante Polychemotherapie mit bis zu 6 Medikamenten durchgeführt (Brisse et al. 2004). Eine Kontroll-MRT zeigt die aktuelle Ausdehnung des Tumors an und dient der Operationsplanung, sodass eine weite Resektion durchgeführt werden kann (Eggli et al. 1993; Fletcher 1991; Shapeero u. Vanel 2000). Die weite Resektion senkt sowohl die Rate lokaler Rezidive als auch die Metastasenrate signifikant auf 5% (gegenüber 12% bei marginaler oder intraläsionaler Resektion) und verbessert die Überlebensrate von 34% auf 74% (Ozaki et al. 1996b; Wilkins et al. 1986). In den meisten Fällen
273 15.5 · Bösartige Knochentumoren
kann man die Extremität erhalten. Wird die Wachstumsfuge bei der Tumorresektion zerstört, kommen expandierbare Prothesen oder der Knochentransport zum Einsatz. z
Prognose
Die histologische Untersuchung bewertet das Ansprechen des Tumors auf die Chemotherapie. Beträgt die Nekroserate >90%, wird von einem guten Ansprechen ausgegangen. Die 5-JahresÜberlebensrate liegt in solchen Fällen bei 77–84% (gegenüber 20–44% bei schlechtem Ansprechen; Laurence et al. 2005; Wunder et al. 1998). Lässt sich lediglich eine intraläsionale oder marginale Resektion erreichen, wird mittels Bestrahlung versucht, eine lokale Kontrolle zu erzielen. Auch bei den »Highrisk«-Läsionen (z. B. Beckentumoren, Tumoren mit schlechtem Ansprechen auf die Chemotherapie oder Vorliegen von Metastasen bei der Diagnosestellung) kommt die Bestrahlung zum Einsatz (Dunst u. Schuck 2004). > Die Radiotherapie bringt jedoch trotz der Radiosensitivität des Tumors eine zu hohe Rezidivrate von 10–20% mit sich. Zudem besteht das Risiko strahleninduzierter Sarkome (Koshy et al. 2005). Die Gesamtüberlebensrate ist im Vergleich zur Resektion ebenfalls niedriger.
Schlechte prognostische Faktoren sind (Laurence et al. 2005; Paulussen et al. 2001; Smeland et al. 2004; Wunder et al. 1998): ▬ zentrale und große Tumoren ▬ Tumoren des Beckens ▬ inadäquate Resektionsränder ▬ Metastasen bei Diagnosestellung ▬ schlechtes Ansprechen auf die Chemotherapie
Adamantinom Das Adamantinom der Extremitätenknochen ist eine seltene (<1% aller Knochentumoren), niedrigmaligne Läsion, die am häufigsten im Bereich der Tibia und weit seltener im Bereich der anderen langen Knochen (Fibula, Femur, Ulna, Radius) zu finden ist. Betroffen sind alle Altersgruppen. Auf der Röntgenaufnahme imponieren multiple, relativ scharf umrandete, osteolytische Defekte verschiedener Größe. Typischerweise ist die größte Läsion mit einer Destruktion des Kortex vergesellschaftet. Die Therapie besteht in der weiten Resektion. Dabei führen die frühe Diagnosestellung und die suffiziente Therapie zur Heilung. Der Tumor kann bei inadäquater Resektion (marginal oder intraläsional) Lokalrezidive bilden und/oder spät in die Lunge, in andere Knochen oder in die regionalen Lymphknoten metastasieren. Die 10-Jahres-Überlebensrate erreicht 87% (Delling 1997; Gebhardt et al. 1987; Hazelbag et al. 1994; Huvos u. Marcove 1975; Qureshi et al. 2000).
15.5.8
z
Sekundäre Knochentumoren (Metastasen)
Definition
Der häufigste Knochentumor bei Patienten über 40 Jahren ist eine Metastase eines Mamma-, Nieren-, Prostata-, Schilddrüsen- oder Bronchialkarzinoms. Sobald sich Tumorzellen im
Knochen einnisten, ist der Tumor nicht mehr heilbar, und die therapeutischen Möglichkeiten sind palliativer Natur. Die häufigsten Lokalisationen sind Becken, Wirbelkörper, Rippen und obere Extremitäten. Das typische Verteilungsmuster ist wohl auf den Batson-Venenplexus zurückzuführen, der das venöse Blut von der Lunge, der Brust, der Prostata, der Schilddrüse und der Nieren zum venösen Plexus der Wirbelsäule führt. Dieser Plexus hat enge Verbindungen zu den Wirbelkörpern, dem Becken, dem Schädel und den oberen Extremitäten, was das gehäufte Vorkommen der Metastasen in diesen Lokalisationen erklärt. Die Tumorzellen schütten dabei einen osteoklastenaktivierenden Faktor aus, was zur Osteolyse zu führen scheint (Clohisy et al. 2000). Zu den überwiegend osteolytischen Metastasen gehören Ableger des Nieren- und weniger ausgeprägt des Mammakarzinoms. Diese kommen relativ häufig vor und stellen ein größeres klinisches Problem dar als die osteoblastischen Metastasen, die durch eine Osteoblastenaktivierung entstehen (Mundy u. Yoneda 1995). Diese sind typischerweise beim Prostatakarzinom sowie teilweise beim Mamma-, Magen- und Schilddrüsenkarzinomen zu beobachten. Die 6 häufigsten Ursprungstumoren von Knochenmetastasen sind: ▬ Mammakarzinom (gemischt osteolytisch-osteoblastisch) ▬ Bronchialkarzinom (osteolytisch) ▬ Hypernephrom (gemischt osteolytisch-osteoblastisch) ▬ Prostatakarzinom (osteoblastisch) ▬ Schilddrüsenkarzinom (osteoblastisch) ▬ Magenkarzinom (osteoblastisch) z
Klinik
Das Leitsymptom ist der Schmerz der betroffenen Region. Dieser ist für den Patienten üblicherweise besser im Bereich der langen Röhrenknochen lokalisierbar als im Becken- oder Wirbelsäulenbereich. Schmerzen seitens der Metastasen treten im Gegensatz zu Arthroseschmerzen in der Regel nachts auf. Außerdem können sie sich durch eine Kompression von Nerven und Gefäßen, pathologische Frakturen sowie das sog. paraneoplastische Hyperkalzämiesyndrom bemerkbar machen. Letzteres entsteht durch eine tumorbedingte Hyperkalzämie auf der Grundlage ausgeprägter Osteolysen. z
Diagnostik
Zu den grundlegenden diagnostischen Schritten gehören: ▬ Labordiagnostik (im Rahmen der klinisch-chemischen Untersuchungen und der Serum- bzw. Urinimmunelektrophorese): – Blutbild inklusive Differenzierung – Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit – Leberfunktionstests – Kalzium- und Phosphatkonzentration – Aktivität der alkalischen Phosphatase ▬ Bildgebung: – Röntgenbild der betroffenen Region – Szintigraphie (solitäre oder multiple Metastasierung?) – Thorax-CT (okkultes Lungenkarzinom?) – Sonographie oder CT des Abdomens und des Beckens ▬ Biopsie (falls Primärtumor nicht bekannt ist)
15
274
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Differenzialdiagnosen einer solitären destruktiven Läsion bei Patienten über 40 Jahren
▬ Gutartig: – M. Paget – Hyperparathyreoidismus ▬ bösartig: – Knochenmetastase – Myelom – Lymphom – Chondrosarkom – malignes fibröses Histiozytom – sekundäres Osteosarkom (Sarkom im Rahmen eines M. Paget, strahleninduziertes Sarkom etc.)
z
Therapie
Die Entscheidung, ob der betroffene Knochenabschnitt eine Schutzosteosynthese benötigt, wird anhand folgender Kriterien festgelegt (Harrington 1982): ▬ Größe der Läsion (≥2,5 cm) ▬ Destruktion der Gesamtkortikalis (≥50%) ▬ belastungsabhängige Schmerzen trotz adäquater Radiotherapie
15
Liegt das Ausmaß der Kortikalisdestruktion zwischen 20% und 30%, ist das Frakturrisiko gering; bei 40–80% sollte je nach Lokalisation (am Femur: subtrochantär, Schaftbereich, distales Drittel; ähnlich am Humerus: subkapital und ebenfalls Schaftbereich und distales Drittel) eine Schutzosteosynthese durchgeführt werden. Spontanfrakturen treten bei einer Kortikalisdestruktion von >75% auf. Alternativ hierzu kann die Beurteilung des Risikos aufgrund der Menge der verlorenen Knochensubstanz, des Modulus des restlichen Knochens, der Defektlokalisierung und des Typs der Kraft, die den betroffenen Knochenabschnitt belastet, wie von Hipp vorgeschlagen, vorgenommen oder das Score-System von Mirels verwendet werden (Hipp et al. 1995; Mirels 1989). Patienten mit osteolytischen haben das höchste, Patienten mit osteoblastischen Metastasen das niedrigste Risiko einer pathologischen Fraktur. An der Klinik der Autoren wird als Kriterium dafür, ob eine Schutzosteosynthese durchgeführt wird oder nicht, die Mirels-Klassifikation verwendet. Üblicherweise werden die Primärtumoren der meisten Knochenmetastasen durch Chemotherapie, hormonelle Therapie oder Bestrahlung behandelt, und die orthopädische Versorgung beschränkt sich auf symptomatische, palliative und/ oder diagnostische Maßnahmen. Eine weite Resektion wie bei den meisten Sarkomen ist in diesem Fall nicht notwendig. Eine Ausnahme bildet das Nierenkarzinom, das durch Bestrahlung schwer zu kontrollieren ist. Wenn die Prognose im individuellen Fall gut ist, wird eine weite Resektion empfohlen. Zur Stabilisation haben sich Marknägel, Platten und endoprothetisches Material mit Einsatz von Zement bewährt (Harrington 1982; Yazawa et al. 1990). Ergänzend werden antiresorptive Medikamente (z. B. Bisphosphonate) zur Hemmung der Osteoklasten-
aktivität verwendet. Diese scheinen sowohl die Bildung als auch die Progression der osteolytischen Metastasen einzuschränken (Mundy u. Yoneda 1995). Zur Schmerzbekämpfung oder wenn operative Maßnahmen nicht durchführbar sind, ist eine fraktionierte Bestrahlung mit 4000–5000 cGy anzuraten. Therapieziele sind (British Association of Surgical Oncology 1999; Healey u. Brown 2000): ▬ Einschränkung der Tumorprogression ▬ Schmerzkontrolle ▬ Verbesserung der Lebensqualität z
Prognose
Die Prognose richtet sich nach dem Typ des Primärtumors. Üblicherweise sind die Überlebensraten bei Patienten mit Metastasen eines Mamma-, Schilddrüsen- oder Prostatakarzinoms (5-Jahres-Überlebensrate: 20–40%) höher als diejenigen bei Patienten mit Metastasen einer Lungenneoplasie oder eines Melanoms (5-Jahres-Überlebensrate: <5%) (Coleman 1997).
15.6
Tumorähnliche Läsionen
Läsionen, die primäre Knochentumoren simulieren und in die differenzialdiagnostischen Überlegungen mit einbezogen werden müssen, sind im Folgenden dargestellt.
15.6.1 z
Aneurysmatische Knochenzyste
Definition
Es handelt sich um eine benigne, vaskuläre, tumorähnliche Läsion des Knochens, die knochendestruktiv wächst und in die Weichteile expandiert. Die aneurysmatische Knochenzyste macht ca. 1–2% der primären Knochentumoren aus und tritt in ungefähr 50% der Fälle in Zusammenhang mit anderen Knochentumoren wie Riesenzelltumor, Chondroblastom, Osteoblastom, chondromyxoides Fibrom oder fibröse Dysplasie auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist unbekannt. Es wird angenommen, dass hämodynamische Störungen im Kapillarsystem des Knochens zu diesem expansiven Prozess führen. Drei Viertel der Patienten sind jünger als 20 Jahre. Lokalisiert sind die aneurysmatischen Knochenzysten meistens in der Kniegelenkregion, im Becken und im Bereich der Wirbelsäule. Sie können jedoch in fast jedem Knochen auftreten (Cottalorda u. Bourelle 2007; Mankin et al. 2005; Vergel De Dios et al. 1992). z
Klinik
Klinisch präsentieren sie sich mit Schmerzen und Schwellung, teilweise seit Monaten oder Jahren bestehend. Gelegentlich können ein palpabler Tumor und neurologische Defizite zur Entdeckung dieser Läsion führen. z
Diagnostik
Radiologisch zeigt sich ein charakteristisches Bild einer osteolytischen, expansiv und exzentrisch wachsenden, metaphysär
275 15.6 · Tumorähnliche Läsionen
Bourelle 2006; De Cristofaro et al. 1992; DeRosa et al. 1990;). Eine Bestrahlung kann bei unvollständig resezierbaren, aggressiven und/oder rezidivierenden Läsionen mit gutem Erfolg durchgeführt werden (Mendehall et al. 2006).
15.6.2 z
Solitäre Knochenzysten
Definition
Die solitären (juvenilen) Knochenzysten machen den Hauptteil der Knochentumoren aus. Es handelt sich um expansiv, zystisch und symmetrisch wachsende Knochenläsionen mit Ausdünnung des ansonsten intakten Kortex. Die Ätiologie ist unbekannt. Betroffen sind v. a. Patienten in den ersten beiden Lebensdekaden, das männliche Geschlecht 3fach häufiger. Die Zysten treten meist am proximalen Humerus auf, gefolgt von proximalem Femur und distaler Tibia (Delling 1997; Lee et al. 1999b; Wilkins 2000; Zehetgruber et al. 2005). z
⊡ Abb. 15.17 Humerusschaftfraktur aufgrund einer aneurysmatischen Knochenzyste bei einem 6-jährigen Jungen
z
lokalisierten Läsion, die einen dünnen Rand mit periostaler Knochenneubildung aufweist (⊡ Abb. 15.17). Diese kann gelegentlich diaphysär oder epiphysär durch das Überschreiten der Wachstumsfuge auftreten (Vergel De Dios et al. 1992). Besonders bei den aggressiven Läsionen sind MRT und CT für differenzialdiagnostische Überlegungen hilfreich (Azouz 2002; Cottalorda u. Bourelle 2007). Makro- und mikroskopisch finden sich unterschiedlich große, blutgefüllte Kammern ohne endotheliale Auskleidung, die durch fibröse Septen voneinader getrennt sind. Diese Septen weisen dünne Knochenstränge auf. Differenzialdiagnostisch sind niedrigmaligne zentrale Osteosarkome sowie teleangiektatische Osteosarkome in Betracht zu ziehen. z
Therapie
Die Therapie besteht in der sorgfältigen Kürettage, dem Auffüllen mit Knochenersatz sowie dem Einsatz verschiedener Adjuvanzien (Kryochirurgie, Ethibloc-Injektion, temporärer Defektfüllung mit Knochenzement etc.). Lokalrezidive treten – abhängig von der Methode – in bis zu 60% der Fälle auf und sind häufig bei Kindern mit offener Wachstumsfuge zu beobachten (Cottalorda u. Bourelle 2006; Cottalorda et al. 2005; Dormans et al. 2004; Kransdorf u. Sweet 1995; Mankin et al. 2005; Marcove et al. 1995; Mendenhall et al. 2006; Ozaki et al. 1997; Papagelopoulos et al. 1998; Schreuder et al. 1997a; Vergel De Dios et al. 1992; Windhager et al. 1995). Eine alternative Therapiemethode (z. B. bei schwer erreichbaren Tumoren) stellt die selektive arterielle Embolisation dar (Cottalorda u.
Klinik
Klinisch können die solitären Knochenzysten asymptomatisch sein oder sie präsentieren sich durch Schmerzen und Schwellung. Nicht selten sind sie auch für eine pathologische Fraktur bei geringem Trauma verantwortlich (Roposch et al. 2000). Diagnostik
Radiologisch imponiert eine zentrale, osteolytische Läsion mit symmetrischer Ausdünnung des Kortex (⊡ Abb. 15.18). Häufig kann ein expansives Wachstum mit Verbreiterung des Knochens beobachtet werden. Die Breite erreicht normalerweise maximal die Breite der Wachstumsfuge. Lehnt sich die Zyste der Wachstumsfuge an, sprechen manche Autoren von einer »aktiven«, liegt normales Knochengewebe dazwischen, von einer »latenten« Knochenzyste. Die Knochenzysten sind mit einer dünnen, fibrösen Membran ausgekleidet und in der Regel mit seröser Flüssigkeit gefüllt. Haben sich innerhalb der Läsion Septen gebildet, spricht man von »multikameralen«, ansonsten von »unikameralen« Knochenzysten. Mikroskopisch zeigt sich eine schmale Bindegewebezone, in der es zum Auftreten kleiner Osteoidabscheidungen kommt. Diese wird von Mesenchymzellen begrenzt. Außerdem kommen Hämosiderinpigment und unterschiedlich viele benigne Riesenzellen zur Darstellung. Differenzialdiagnostisch kommen neben der aneurysmatischen Knochenzyste die fibröse Dysplasie und der Riesenzelltumor infrage. Zur Diagnosesicherung wird zunächst Material durch Aspiration gewonnen, danach kann man Methylprednisolonazetat in die Läsion injizieren. Diese muss unter Umständen in 2- bis 3-monatigen Abständen wiederholt werden, bevor eine vollständige Heilung eintritt (Campanacci et al. 1986; Scaglietti et al. 1982). z
Therapie
Im direkten Vergleich mit der Methylprednisoloninjektion besitzt die operative Versorgung eine höhere Morbidität. Kü-
15
276
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
15.6.3 z
Osteofibröse Dysplasie
Definition
Es handelt sich um eine seltene Variante der fibrösen Dysplasie und betrifft v. a. die Tibia bei Kindern, die jünger als 10 Jahre sind. Die osteofibröse Dysplasie ist eine lokal aggressiv wachsende Läsion. Eine Deformierung des Knochens (»bowing«) wird am häufigsten beklagt. Es kann zur Entwicklung einer pathologischen Fraktur kommen. z
a
Diagnostik
Die Diagnose wird radiologisch gestellt. Es zeigt sich eine osteolytische, expansiv wachsende Läsion, die zur Ausdünnung und teilweise zur Destruktion des Kortex führt und von einer Sklerosezone begrenzt wird. Die Läsion besitzt ein milchglasähnliches Aussehen. Üblicherweise wird die gesamte Zirkumferenz der Tibiadiaphyse eingenommen (Bosse et al. 1993, 1994; Campanacci u. Laus 1982; Levine et al. 2003). Im Biopsat zeigt sich ein faserreiches Stroma mit neugebildeten Knochentrabekeln. z
Therapie
Da Lokalrezidive nach Kürettage häufig sind und die Progressivität der Läsion nach der Pubertät sistiert, ist bei Kindern die konservative Therapie indiziert. Lediglich symptomatische Läsionen bei Adoleszenten, die älter sind als 15 Jahre, werden mittels Kürettage und Knochenersatz behandelt (Bosse et al. 1993; Campanacci u. Laus 1982; Campbell u. Hawk 1982; McCaffrey et al. 2003; Park et al. 1993; Wang et al. 1992).
b
⊡ Abb. 15.18a,b Solitäre Knochenzyste im Kalkaneus eines 35-jährigen Mannes
15
rettage und Knochenersatz mit oder ohne Kryochirurgie ziehen außerdem in 12–40% der Fälle ein Rezidiv nach sich (Bovill u. Skinner 1989; Farber u. Stanton 1990; Nerr et al. 1966; Oppenheim u. Galeno 1984; Schreuder et al. 1997b; Spence et al. 1976). Allerdings scheint diese Technik bei Kalkaneuszysten wiederum überlegen zu sein (Glaser et al. 1999). Techniken wie die subtotale Resektion allein oder kombiniert mit Knochenersatz sind für widerspenstige Läsionen, v. a. im Bereich des proximalen Femurs, wo pathologische Frakturen zur Immobilisation führen können, reserviert (Fahey u. O’Brien 1983; McKay u. Nason 1977). Andere Therapietechniken sind das multiple Aufbohren, das Auffüllen mit Hydroxylapatit/Kalziumphosphatgranulat nach Kürettage, die Injektion demineralisierter Knochenmatrix und autogenen Knochenmarks nach Fenestrierung sowie die Versorgung mittels elastischer Nägel (Capanna et al. 1991; Chigira et al. 1983; Delling 1997; De Sanctis u. Andreacchio 2006; Inoue et al. 1993; Roposch et al. 2000; Rougraff u. Kling 2002; Wilkins 2000).
15.6.4 z
Langerhans-Zell-Histiozytose
Definition
Unter den Begriff »Langerhans-Zell-Histiozytose«, früher »Histiozytosis X« genannt, versteht man eine Erkrankung des retikuloendothelialen Systems, die sich als ▬ eosinophiles Granulom (meist in einem einzelnen Knochen auftretend und selbstlimitierend), ▬ M. Hand-Schüller-Christian (chronische Form) oder ▬ M. Abt-Letterer-Siwe (fatale, akute, disseminierte Form mit extraskelettaler Manifestation) präsentiert (Delling 1997). z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist unbekannt. Die Hand-Schüller-Christian-Erkrankung ist sowohl durch einen Knochen- als auch durch einen Organbefall charakterisiert und weist bei weniger als 25% der Patienten die Symptomtrias aus Exophthalmus, Diabetes insipidus und osteolytischen Schädelläsionen auf. Die Abt-Letterer-Siwe-Erkrankung tritt bei jungen Kindern auf und ist üblicherweise tödlich (Bernstand et al. 2005). Die höchste Inzidenz wird im Alter von 1–3 Jahren erreicht. Drei Viertel der Läsionen treten in den ersten 3 Lebensdekaden auf. Die Läsion ist meist im Schädelbereich lokalisiert, gefolgt von Femur, Tibia, Schulterblatt, Rippen, Unterkiefer und Wirbelkörpern (Hefti u. Jundt 1995).
277 15.6 · Tumorähnliche Läsionen
z
Diagnostik
Radiologisch findet sich in langen Röhrenknochen eine höchst destruktive, zentrale, ausgestanzte Läsion, deren Erscheinungsbild einer Reihe anderer Tumoren bzw. Knochenpathologien ähnlich sein kann (Ewing-Sarkom, metastatisches Neuroblastom, Osteomyelitis). Der Kortex ist unter Umständen zerstört, und eine Weichteilmasse kann Malignität vortäuschen. Auch eine Expansion des betroffenen Knochens ist möglich. Bei einem Wirbelkörperbefall kommt es in ca. 50% der Fälle zur Ausbildung von Vertebra plana (Garg et al. 2004; Ippolito et al. 1984; Stull et al. 1992). Die Szintigraphie hat sich neben dem konventionellen Röntgenbild v. a. für Verlaufsuntersuchungen und die Suche nach Rezidivläsionen bewährt (Crone-Munzebrock u. Brassow 1983; Ven Nieuwenhuyse et al. 1996; Westra et al. 1983). Typisch für das histologische Bild sind proliferierende Langerhans-Zellen mit gekerbten oder gerillten Kernen und eosinophilem Zytoplasma. Mitotische Figuren können auftreten. Zur Erhärtung der Diagnose wird eine Biopsie durchgeführt. z
a
Therapie
Kleine solitäre Läsionen in nicht tragenden Skelettabschnitten heilen meistens ohne Therapie spontan aus. Bei drohender Fraktur kann die Kürettage, evtl. in Kombination mit einer Spongiosaplastik bzw. einer Kryotherapie, oder ausschließlich Kortikosteroidinjektionen zum Einsatz kommen. Wenn die Gelenkfläche in Gefahr ist, wird neben der Kürettage ein Knochenersatz erforderlich. Vertebra plana ohne neurologische Defizite und Störung des Wirbelsäulen-Alignments sind nicht behandlungsbedürftig. Die diffuse Tumorerkrankung erfordert neben der Beobachtung unter Umständen eine lokale oder systemische Therapie mit Kortikosteroiden oder Interferonen oder eine Polychemotherapie. Der Einsatz einer niedrigdosierten Bestrahlung (600–800 cGy) ist umstritten (Bernstrand et al. 1996; Hefti u. Jundt 1995; Garg et al. 2004; Greis u. Hankin 1990; McCollough 1980; Mickelson u. Bonfiglio 1977; Olschewski u. Seegenschmiedt 2006; Raney 1991; Schajowicz u. Slullitel 1973; Schaser et al. 2002; Sessa et al. 1994; Velez-Yanguas u. Warrier 1996; Womer et al. 1985; Yasko et al. 1998).
15.6.5
z
b
Nichtossifizierendes Knochenfibrom
c
⊡ Abb. 15.19 a,b Nicht ossifizierendes Fibrom bei einem 17-jährigen Patienten mit typischer Lokalisation im metaphysären Bereich mit unmittelbarem kortikalem Kontakt, lobulärer Sklerosezonen. c Korrespondierendes Kernspin
Definition
Bei diesem fibrösen metaphysären Defekt handelt es sich um eine tumorähnliche Läsion unbekannter (wahrscheinlich traumatischer) Genese, die bei Jugendlichen in den Metaphysen der langen Röhrenknochen auftritt und radiologisch eine traubenförmige Osteolyse zeigt, die von einer Randsklerose begrenzt wird. Die WHO bevorzugt die Bezeichnung »fibröser metaphysärer Defekt« und beschreibt die Läsion als »gut definierte, nicht-neoplastische Knochenläsion«. Der Begriff des nichtossifizierenden Knochenfibroms ist allerdings wohl die am häufigsten verwendete Bezeichnung dieser Läsion.
z
Epidemiologie
Das nichtossifizierende Knochenfibrom ist eine häufige Läsion und tritt in den ersten beiden Lebensdekaden auf. Erwachsene sind selten betroffen. In Reihenuntersuchungen wurde eine hohe Häufigkeit des Tumors nachgewiesen. Die Inzidenz wird mit 1,8% angegeben (Freyschmidt et al. 1981). Die Läsion betrifft fast nur die unteren Extremitäten. Die häufigsten Lokalisationen sind die Metaphysen des distalen Femurs sowie der distalen und proximalen Tibia. Die meisten Läsionen bilden sich spontan zurück.
15
278
z
Kapitel 15 · Knochen- und Weichteiltumoren
Diagnostik
Die Mehrheit der Patienten ist asymptomatisch, und die Läsionen werden zufällig entdeckt. Das radiologische Bild ist derart charakteristisch, dass es eine Biopsie überflüssig macht. Es findet sich eine metaphysär gelegene, längliche, osteolytische Läsion, die am Übergang zum normalen Knochengewebe eine girlandenartige Sklerosezone im Sinne einer reaktiven ossären Antwort aufweist. Der Kortex kann leicht aufgetrieben und ausgedünnt sein. Differenzialdiagnostisch kommen der Riesenzelltumor, die fibröse Dysplasie und das klassische »Lowgrade«-Osteosarkom infrage. z
Therapie
Die Therapie besteht in der Beobachtung, sofern keine pathologische Fraktur droht und der Patient asymptomatisch ist. Bei Entwicklung von Symptomen und Befall von >50–75% des Kortex sind Kürettage und Knochenersatz die Therapiemöglichkeiten der Wahl.
Literatur
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15
16
Degenerative Gelenkerkrankungen C. Lüring, M. Tingart, J. Grifka
16.1
Allgemeines und Definition – 282
16.2
Präarthrotische Deformität
16.3
Primäre und sekundäre Arthrosen – 284
16.4
Pathomechanik
16.5
Klinische Manifestation
16.5.1 16.5.2
Beschwerdebild – 287 Verteilung – 288
16.6
Diagnostik – 288
16.7
Grundzüge der Therapie
16.7.1 16.7.2 16.7.3 16.7.4
Konservative Therapie – 290 Orthopädische Hilfsmittel – 291 Gelenkerhaltende operative Therapie – 292 Gelenkersetzende operative Therapie – 294
Literatur
– 284
– 285 – 287
– 290
– 296
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
282
16.1
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
Allgemeines und Definition
Heilung im Sinne einer vollständigen Wiederherstellung des Knorpels nicht zu erreichen.
> Die Arthrose (Osteoarthrose, Osteoarthritis, Osteoarthrosis) ist eine nichtentzündliche, kontinuierlich fortschreitende, degenerative Erkrankung des Gelenkknorpels.
Bei der Arthrose handelt es sich um eine nicht entzündliche Erkrankung des Gelenkknorpels. Im Frühstadium betrifft sie nur den Knorpel, später auch die übrigen Gelenkstrukturen, z. B. den Knochen und den Kapsel-Band-Apparat. Gekennzeichnet ist die Arthrose durch das unaufhaltsame Fortschreiten. Im fortgeschrittenen Stadium kann es zu schweren, den Knochen betreffenden Deformitäten (Arthrosis deformans) kommen. Ursächlich wird ein Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit des Knorpels angenommen. Allerdings weisen aktuellere Arbeiten darauf hin, dass in der Regel das Zusammenspiel vieler Faktoren für die Ausbildung der Arthrose verantwortlich ist (multifaktorielle Genese). Dabei können sowohl exogene (Trauma) als auch endogene Faktoren (gestörter Metabolismus, Nutrition des Knorpels) eine Rolle spielen. Diese Zusammenhänge sind in ⊡ Abb. 16.1 dargestellt. Festzuhalten bleibt, dass es sich bei der Arthrose um eine chronisch fortschreitende Erkrankung mit phasenhaftem Verlauf handelt. Gleich welcher Ursache die Entstehung der Arthrose ist, läuft der Prozess der fortschreitenden Degeneration und Gelenkdestruktion immer uniform ab. Da der Gelenkknorpel des Erwachsenen keine Fähigkeit zur Regeneration hat, ist eine
> Es gibt 4 klassische radiologische Arthrosezeichen: ▬ Gelenkspaltverschmälerung ▬ subchondrale Sklerose ▬ osteophytäre Anbauten ▬ subchondrale Zysten
Mitunter wird der Knorpel an einer Stelle initial geschädigt. Diesem Defekt folgt eine regelhaft ablaufende Kaskade: Der Defekt verursacht i. d. R. eine reaktive Synovitis, die mit einer vermehrten Produktion von Synovialflüssigkeit einhergeht. Dies lässt sich klinisch als positives Ergusszeichen klassifizieren. Im weiteren Verlauf kommt es zu weiteren Knorpelaufbrüchen und zu einer sukzessiven Überlastung der subchondralen Zone. Als Ausdruck der vermehrten Belastung werden verstärkt Kalziumapatitkristalle eingelagert, die subchondrale Sklerose entsteht. Dieses Arthrosezeichen ist sodann radiologisch manifest. Im Zuge der Überlastung baut der Knochen reaktiv die Größe der Belastungsfläche aus: Osteophyten entstehen (⊡ Abb. 16.2). Die Reduktion der Knorpeldicke ist radiologisch bei Aufnahmen unter Belastung des Gelenks als Gelenkspaltverschmälerung verifizierbar. Ist der Knochen in der Hauptbelastungszone vollständig überlastet, kommt es zum Knochenuntergang und damit zur Ausbildung von subchondralen Zysten (⊡ Abb. 16.3). Diese meist mit galertiger Substanz gefüllten Hohlräume können Kontakt zum Gelenk bekommen und sind meist von einem deutlichen Sklerosewall umgeben.
Risikofaktoren v Alter v Geschlecht v Gewicht v Beanspruchung v Belastung v Genetischer Faktor? v N.N.
16
Präarthrotische Deformität v Angeboren v Erworben
Präarthrotische Deformität
Intaktes Gelenk
Irreversible Matrixdegeneration Reaktive Synovitis Fortschreitende Gelenkdestruktion mit Inkongruenz
Sekundärarthrosen ⊡ Abb. 16.1 Ätiologie und Pathogenese der Arthrose
Primärarthrosen
Knorpeldegeneration
Altersbedingter Gelenkverschleiß
283 16.1 · Allgemeines und Definition
Bei der Arthrose kommt es somit neben den degenerativen Veränderungen auch reaktiv zu entzündlichen Veränderungen. Daher wird im angloamerikanischen Sprachraum auch von der Osteoarthritis gesprochen. Befindet sich die Erkrankung
im entzündlichen Stadium, spricht man von einer aktivierten Arthrose. Dieses Stadium geht meist mit deutlichen Schmerzen und einer intraartikulären Ergussbildung einher. Im latenten Stadium findet sich keine akut-entzündliche Symptomatik. Selbst umfangreiche Untersuchungen an verschiedenen Gelenken haben ergeben, dass keine positive Korrelation zwischen der radiologischen und der klinischen Ausprägung der Arthrose besteht. Auch bei ausgeprägten radiologischen Zeichen kann die subjektive Beschwerdesymptomatik gering sein. > Die Arthrose ist eine Volkskrankheit. 60% der über 35Jährigen zeigen am Gelenkknorpel erste Anzeichen degenerativer Veränderungen.
⊡ Abb. 16.2 Ausgeprägte Coxarthrose mit Osteophytenkranz
Die Arthrose ist eine Volkskrankheit. Darüber hinaus ist sie nach der Hypertonie diejenige, die in Deutschland die meisten Kosten verursacht (⊡ Tab. 16.1). Es gibt für das Kniegelenk eine umfangreiche Arbeit von Steadman, der anhand von mehr als 10.000 Kniearthroskopien nachweisen konnte, dass bereits 60% der 30- bis 35-Jährigen erste Anzeichen für eine Degeneration des Kniegelenkknorpels aufweisen. Dieser Prozentsatz schreitet mit zunehmendem Alter rasch fort, sodass in der 7. Lebensdekade nur noch ein verschwindend geringer Anteil der Menschen keine Verschleißerscheinungen aufweist (⊡ Abb. 16.4). Auch Valkenburg zeigt auf, dass mehr als 50% der von ihm untersuchten Patienten am Kniegelenk arthrosetypische Röntgenbefunde aufweisen. Dabei nimmt, wie ⊡ Abb. 16.4 zeigt, der Prozentsatz der Betroffenen stetig zu. Der National Health Interview Survey von 1989 bis 1991 ergab, dass die Prävalenz der Arthrose im Alter zwischen 35 und 44 Jahren bei 15% und im Alter zwischen 75 und 84 Jahren bereits bei 60% liegt. Lawrence zeigt auf, dass bei mehr als 90% der über 65-Jährigen mindestens ein Gelenk arthrosetypischen Zeichen aufweist. Der höchste Häufigkeitsanstieg der Neuerkrankungen wird zwischen dem 50. und dem 60. Lebensjahr für das Knie- und Hüftgelenk verzeichnet. > Das weibliche Geschlecht ist ein wichtiger prädisponierender Faktor für die Entstehung der Arthrose.
Hinsichtlich der Epidemiologie ist das weibliche Geschlecht ein sehr wichtiger prädisponierender Faktor. Ein deutlicher Anstieg der Arthroseprävalenz findet sich postmenopausal. Bei Frauen sind oft mehrere Gelenke betroffen. Männer sind eher der monarthrotischen Gruppe zuzuordnen. Bei Männern
⊡ Tab. 16.1 Kosten verschiedener Krankheiten (Stand: 2006; Gesamtkosten der gesetzlichen Krankenversicherung: 236 Mrd. Euro; aufgeführt sind die 4 teuersten Erkrankungen). (Quelle: Statistisches Bundesamt)
⊡ Abb. 16.3 Koxarthrose mit allen 4 Arthrosezeichen: Gelenkspaltverschmälerung, subchondrale Sklerosierung, Osteophyten, subchondrale Zysten
Krankheiten
Kosten [Mrd. Euro]
Herz-Kreislauf-Erkrankungen
35,2
Erkrankungen des Verdauungssystems
32,7
Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen
26,7
Muskel- und Skeletterkrankungen
26,6
16
284
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
Gelenke ohne Arthrose [%] 100
80
60
40
20
0 15−19
20−29
30−39
40−49
50−59
60−69
70−79
80−95
Altersgruppe [Jahre]
⊡ Abb. 16.4 Altersverteilung der Arthrose
ist ein wesentlich geringerer kontinuierlicher Anstieg ab dem 30. Lebensjahr zu verzeichnen. Eine weitere Prädisposition bzw. Risikofaktor ist eine vermehrte Belastung, wobei dieser Einfluss mit Vorsicht beurteilt werden muss. Meist handelt es sich auch bei diesen Patienten um ein multifaktorielles Geschehen (Sportler mit rezidivierenden Mikrotraumen, Adipositas mit Stoffwechselerkrankungen), das zur Ausbildung der Arthrose führt. Das Übergewicht als Ursache für die Arthroseentstehung ist nur für das Kniegelenk belegt.
16.2
16
Hüftgelenk
Schultergelenk
Ellenbogengelenk
Primäre und sekundäre Arthrosen
> Primäre Arthrosen haben keine erkennbare Ursache. In der Regel handelt es sich um Altersdegenerationen. Sekundäre Arthrosen sind einer Ursache zuzuschreiben (⊡ Abb. 16.6).
Solche Arthrosen, die als Folge zugrunde liegender Veränderungen entstehen, werden sekundäre Arthrosen genannt. Unter den zugrunde liegenden Veränderungen lassen sich sowohl knöcherne Deformitäten (frühkindliches Fehlwachstum, Trauma) als auch systemische Erkrankungen (Krankheiten aus dem rheumatischen Formenkreis, Gichtarthropathie, Chondrokal-
Großzehengrundgelenk
⊡ Tab. 16.2 Präarthrotische Deformitäten und Funktionsstörungen Ätiologie
Deformitäten und Funktionsstörungen
Angeboren
Hüftdysplasie Pathologische Schenkelhalsverhältnisse (Ante-, Retrotorsion) Femoropatellare Dysplasie Chondrodysplasien
Erkrankungen
M. Perthes Osteochondrosis dissecans Epiphysiolysis capitis femoris Chondromatosen Ehlers-Danlos-Syndrom
Posttraumatisch
Posttraumatische Gelenkflächeninkongruenz Posttraumatische Bandinstabilitäten Luxationen Posttraumatische Achsabweichungen
Präarthrotische Deformität
Als Präarthrosen werden Form- und Funktionsstörungen (Trauma, Bewegungsdefizit) definiert (⊡ Abb. 16.5; ⊡ Tab. 16.2). In der Regel können diese Faktoren anamnestisch oder röntgenologisch erfasst und diagnostiziert werden. Die körperliche Untersuchung kann die biomechanischen Funktionsstörungen detektieren und klassifizieren.
16.3
Kniegelenk
zinose, Ochondrose, Gelenkinfektionen) subsummieren. Die Arthrosen, die ohne erkennbare Ursache im Sinne einer Altersdegeneration zu sehen sind, werden primäre oder idiopathische Arthrosen genannt. Von Polyarthrosen spricht man, wenn mindestens 3 verschiedene Gelenkarten (z. B. Hüfte, Schulter und Finger) – nicht insgesamt 3 Gelenke – betroffen sind. Die Polyarthrosen scheinen einen mehr systemischen als pathomechanischen Charakter zu besitzen, der sich auch in den klinischen Verläufen widerspiegelt. In der Zusammenschau bedeutet dies, dass die Arthrosen auf Basis eines multifaktoriellen Geschehens als mono- oder polyartikuläre Veränderungen mit phasenartig fortschreitendem Charakter auftreten. Die Initialzündung für diese Kaskade ist die Schädigung der Ernährungssituation des Ge-
285 16.4 · Pathomechanik
⊡ Abb. 16.5 Präarthrotische Deformität bei Dysplasie der Gelenkpfanne eines Hüftgelenks. Eine mangelnde Überdachung führt zur Hyperkompression der verkleinerten Belastungsfläche
⊡ Abb. 16.6 Sekundäre Gonarthrose bei rheumatoider Arthritis. Entzündliche Destruktion durch Pannusgewebe, das vom Randbezirk auf die Knorpelfläche wächst und von dort den Knorpel destruiert
lenkknorpels. Aufgrund der dadurch entstehenden Inkongruenzen der Gelenkflächen und der ungünstigen biomechanischen Eigenschaften der betroffenen Gelenke steht letztlich der pathomechanische Prozess der Knorpeldestruktion im Vordergrund.
16.4
Pathomechanik
> Die Arthrose kann vereinfacht als Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit des hyalinen Gelenkknorpels verstanden werden.
Zum Verständnis der Pathophysiologie und der Pathomechanik der Arthrose ist die Kenntnis der mikroskopischen und submi-
kroskopischen Anatomie der Gelenke und des Gelenkknorpels von entscheidender Bedeutung. Die Gelenke des menschlichen Körpers sind von hyalinem Knorpel überzogen. Dieser ist aus Knorpelzellen (Chondrozyten) und dem umgebenden Matrixgewebe zusammengesetzt. Die Knorpelzellen produzieren die Grundsubstanz des hyalinen Gelenkknorpels aus Kollagen und Proteoglykanen. Diese Entwicklung wird von einem Regelkreis gesteuert, in dem hormonelle, metabolische und enzymatische Faktoren eine Rolle spielen. Problematisch an diesem Regelkreis ist die Tatsache, dass die Chondrozyten nach Abschluss des Wachstums ihre Teilungs- und damit Regenerationsfähigkeit verlieren. Dies bedeutet, dass Knorpeldefekte nach Abschluss des Längenwachstums lediglich mit faserigem Ersatzgewebe gefüllt werden können. Der Körper hat in diesem Bereich seine Selbstheilungskraft verloren. Das Ersatzgewebe ist bezüglich der Belastbarkeit immer minderwertiger als der echte hyaline Knorpel. Die Matrix des menschlichen hyalinen Gelenkknorpels besteht aus Kollagen, Proteoglykanen und freiem Wasser. Dabei liegt der Anteil des Kollagens bei ca. 50% des Trockengewichts. Der Proteingehalt des Knorpels wird zu 90% durch das Kollagen gebildet. Die Mikroarchitektur des Knorpels ist ebenfalls auf die Funktion ausgerichtet. In der gelenknahen Knorpeloberfläche (Lamina splendens) verlaufen die Kollagenfasern annähernd parallel zur Oberfläche. Sie biegen dann arkadenförmig um und strahlen nahezu senkrecht in die tieferen Lagen und den subchondralen Knochen ein. Durch diese Architektur sind eine gute Vernetzung und eine ausgeprägte Verzahnung und damit eine gute Stabilität gewährleistet. Die Proteoglykane sind 2-geteilt: Einem Proteinanteil (Hyaluronsäurekette) lagert sich eine Glukosaminoglykankette an. Durch die Verbindung mit Hyaluronsäurekomplexen sind diese Proteoglykane stark hydrophil. Diese Einlagerungsfähigkeit macht die besondere Eigenschaft des Knorpels aus: Je besser das Wasser eingelagert und gehalten werden kann, umso stabiler, widerstandsfähiger und elastischer ist das Knorpelgerüst. Es entsteht ein starker hydrodynamischer Druck, dem das kollagene Netzwerk gegen ein weiteres Aufquellen entgegenwirkt (⊡ Abb. 16.7). Das Kollagenfasergerüst bestimmt also die prallelastische Konsistenz. In der physiologischen Situation besteht die Matrix des hyalinen Knorpelgewbes zu ca. 70% aus Wasser. Dieses an die Proteoglykane gebundene Wasser unterliegt einem stetigen Austausch mit der Gelenkflüssigkeit (der hyaline Gelenkknorpel wird durch die Synovialflüssigkeit ernährt). Aufgrund der Tatsache, dass das Knorpelgewebe selbst avaskulär ist, sind die Chondrozyten auf den Transport von nutritiven Substraten aus der Synovialflüssigkeit angewiesen. Gleichzeitig müssen Stoffwechselprodukte auch wieder abgegeben werden. Somit ist das Zusammenspiel zwischen Be- und Entlastung, dem jedes Gelenk unterliegt, für die Langlebigkeit eines Gelenks von entscheidender Bedeutung. Eine Störung dieses empfindlichen Haushalts führt unweigerlich zu einem Schaden des hyalinen Knorpels. Auch der »Schmierfilm«, den die Synovialflüssigkeit gewährleistet, ist von großer Relevanz. Dadurch ist Knorpel 100fach glatter als die Oberfläche von Eis. Sofern der Schmierfilm einreißt, kann es zu einer oberflächlichen Verletzung der
16
286
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
⊡ Abb. 16.7 Schematische Darstellung von unbelastetem Knorpel als feste Matrix aus Kollagen und Proteoglykanen mit interstitieller Wassereinlagerung. (Aus Grifka u. Ogilvie-Harris 1999)
16
Lamina splendens kommen, die u. U. weitere Destruktionen nach sich zieht. Histologisch können die arthrosespezifischen Veränderungen im Einzelnen beschrieben werden: Während sich die Chondrozyten bei unauffälligem Knorpel im jüngeren Erwachsenenalter gleichmäßig fast über die gesamte Schichtdicke verteilen und lediglich an der Oberfläche eine tangentiale Ausrichtung der Kollagennetzstruktur zu beobachten ist, treten bei der Arthrose erste Veränderungen an der Lamina splendens mit Auffaserungen auf und anschließend eine Verringerung der Zahl der Chondrozyten, die sich schließlich im Zuge eines Reparationsversuchs zu Clustern zusammenlegen und untypische Teilungsformationen aufweisen. Elektronenmikroskopisch lassen sich die oberflächlichen Veränderungen mit feinen Rissbildungen darstellen. Die Kollagenstruktur, welche die gesamte Knorpeldicke netzartig durchwebt, ist stellenweise aufgebrochen. Dies bedeutet den Verlust der Elastizität. Diese Veränderungen, die von Outerbridge bereits 1961 für die Retropatellarveränderungen makroskopisch beschrieben worden sind, wurden auf die arthroskopische Bewertung übertragen und sind aktueller Standard in der Bewertung von Knorpelveränderungen.
Chondromalaziestadien nach Outerbridge
▬ Grad I:intakter Knorpel, noch glatt, aber mit Verlust von Elastizität und Erholungsfähigkeit
▬ Grad II: Verlust von Elastizität und Erholungsfähigkeit, Oberfläche aufgeraut, feine Rillen erkennbar
▬ Grad III: deutlicher Knorpelabrieb mit Kratern bis fast auf den Knochen, knöcherne Anbauten (Osteophyten)
▬ Grad IV: vollständiger Verlust des Knorpels, freiliegender Knochen
Prinzipiell kann die Pathomechanik des degenerativen Gelenkverschleißes als Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit des hyalinen Gelenkknorpels verstanden werden. Allerdings beschreibt diese vereinfachte Darstellung nur oberflächlich die komplexen Veränderungen, die der Arthrose zugrunde liegen. Dabei sind aktuell noch nicht alle Bausteine dieses Mechanismus verstanden. Generell kann angenommen werden, dass einzelne oder mehrere endogene oder exogene Noxen den Metabolismus der Chondrozyten und ihrer Matrix irreversibel oder zumindest nachhaltig schädigen, sodass es zu einer Destruktion der Knorpelmatrix kommt. Als solche Faktoren sind in der Literatur aufgeführt: ▬ Alter ▬ Geschlecht ▬ Rasse ▬ Hormone ▬ Zytokine ▬ Gelenkbeanspruchung, die ggf. zur Mikrotraumatisierung des Gelenks führt Offensichtlich können diese Faktoren speziell bei vorgeschädigten Gelenken oder bestimmten Dispositionen zu einem rascheren Fortschreiten des Gelenkverschleißes führen. Die Forschung auf diesem Gebiet hat auch gezeigt, dass die Arthrose als Resultat heterogener Ursachen auf endo- und exogener, systemischer und artikulärer Ebene angesehen werden muss. Sie ist sicher nicht ein zwangsläufig eintretender Zustand im Alter, wie Studien an Gelenken Verstorbener zeigen. In der klassischen Arthroseforschung werden Gelenkflächendefekte, Stufenbildungen, der Verlust von gelenkflächenvergrößernden Strukturen (Meniskus, Labrum), Achsdeviationen und Gelenkinstabilitäten als pathogenetisch wirksame Faktoren angesehen. Gleiches gilt für eine lange bestehende Immobilisation. Eine repetitive starre axiale Belastung kann mit einer Mikrotraumatisierung einhergehen, was wiederum eine Arthrose zur Folge haben kann. Mittlerweile ist durch die EULAR-Richtlinie das Übergewicht als Risikofaktor für die Gonarthrose nachgewiesen. In den aktuelleren Arbeiten zur Thematik werden sowohl mechanische als auch chemische Modelle zur Entstehung der Arthrose verfolgt. Diese sind als sog. Destruktionskaskade anzusehen. Der hyaline Gelenkknorpel zeichnet sich durch eine Matrix aus, in welche die Chondrozyten eingebettet sind. Diese synthetisieren die Matrix (überwiegend Typ-II-Kollagen), in deren Fasernetz die Proteoglykane fixiert sind. Diese wiederum zeichnen sich durch eine hohe Wasserbindungskapazität aus (⊡ Abb. 16.8). Insgesamt entsteht aus dieser mikroskopischen Architektur das Bild eines Gel- oder Wasserkissens, das sowohl Druck- als auch Dehnkräfte gut aufnehmen und kompensieren kann. Dieses komplexe System ist durch ein sensibles Gleichgewicht gekennzeichnet. Synthese und Abbau halten sich die Waage. Als anabole Faktoren (Knorpelregeneration) wirken dabei Insulinwachstumshormone (»insulin-like growth factors«: IGF-I, IGF-II). Gegenläufig, also katabol, wirken Zytokine wie Interleukin 1 (IL-1) und Tumornekrosefaktoren (TNF-α), außerdem Metalloproteinasen. Verschiebt sich das Gleichgewicht
287 16.5 · Klinische Manifestation
⊡ Abb. 16.8 Schematische Darstellung von belastetem Knorpel als feste Matrix aus Kollagen und Proteoglykanen mit interstitieller Wassereinlagerung. F Druckkräfte; fluid »fluid velocity«. (Aus Grifka u. OgilvieHarris 1999)
zwischen anabolen und katabolen Prozessen zur katabolen Seite, wird das komplexe Netz aus Kollagenen und Proteoglykanen abgebaut. Dieser Prozess führt konsequenterweise zu einer geringeren Widerstandsfähigkeit hinsichtlich Druck- und Stauchkräften, also zu einer verminderten Belastbarkeit des hyalinen Knorples. Aus experimentellen Betrachtungen lässt sich schlussfolgern, dass das gestörte Gleichgewicht des Gelenkknorpels möglicherweise durch eine kurzfristig erhöhte Interleukinfreisetzung im Gelenk unwiederbringlich gestört wird. Aufgrund der verminderten Belastungsfähigkeit kann es dann zu makroskopischen Schädigungen mit Rissen im Fasernetz kommen. Als Folge dieses Reizes resultiert zunächst eine vermehrte Aktivität der Chondrozyten mit Cluster-Bildung und Hypertrophie, was mit einer passager vermehrten Proteoglykan- und Kollagensynthese einhergeht. Allerdings bleiben diese Reaktionen meist frustran, sodass das Auftreten des Fibrillationsphänomens bereits dem makroskopischen Knorpelschaden entspricht und das Inkongruenzprinzip greift. Dieses Konzept in Verbindung mit biomechanischen Einflüssen kann die Entstehung einer Arthrose aktuell am besten beschreiben. Wie bereits erwähnt, sind präarthrotische Veränderungen wie Gelenkinkongruenz und Gelenkinstabilität für die Entstehung einer Arthrose von entscheidender Bedeutung. Solche Faktoren führen aufgrund der mechanischen Problematik bereits bei alltäglichen Belastungen zu einer Überschreitung der Belastbarkeit der Gelenkfläche in umschriebenen Arealen. Pauwels hat bereits vor einem halben Jahrhundert festgehalten,
dass die Kraft, die am gesunden Hüftgelenk auf einem Quadratzentimeter Gelenkknorpel lastet, 18 kp beträgt. Dieser Wert steigt bei einer Coxa valga subluxans auf das 10- bis 15fache. Bezogen auf die operativ versorgten Arthrosen des Hüftgelenks zeigen 3 von 4 Koxarthrosen Zeichen einer präarthrotischen Deformität. Gerade im Rahmen von Rentenverfahren wird von den zu Begutachtenden häufig die jahrelange schwere körperliche Arbeit ins Feld geführt. Dies kann auch für die stark beanspruchten Gelenke gelten, ebenso wie eine übermäßige (leistungsbezogene) sportliche Aktivität. Bei dieser Einschätzung gilt jedoch zu berücksichtigen, dass speziell die solchermaßen exponierten Personen auch eine höhere Traumarate haben und sich damit eher der Kreis der präarthrotischen Deformität schließt. Dem Körpergewicht als Faktor der Arthroseentstehung wird immer wieder eine gewichtige Rolle zugesprochen, und die AGR-Richtlinie kann dies belegen. Dabei stellt sich in der Literatur zur Thematik heraus, dass ein hohes Körpergewicht tatsächlich mit einer erhöhten Gonarthroserate einhergeht, allerdings liegen in der Regel noch weitere, möglicherweise beeinflussende Faktoren wie Nikotinabusus oder hormonelle Kontrazeption vor. Welcher Faktor welchen anderen beeinflusst und bedingt, ist allerdings noch nicht abschließend verstanden. Daher muss diese Einschätzung mit Vorsicht beachtet werden. Ohne Frage kann natürlich ein bereits vorgeschädigtes Gelenk ein hohes Gewicht schlechter tolerieren, und die ligamentäre Situation wird durch die vermehrte Belastung strapaziert. Neben diesen eher im Sinne einer Überlastung zu wertenden Faktoren zeigen tierexperimentelle Studien, dass auch eine längere Phase der Entlastung zum Voranschreiten degenerativer Prozesse führen kann. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass eine regelmäßige, funktionelle Belastung des Gelenkknorpels für ein gesundes Gelenk essenziell ist und dass die intermittierende Belastung erst die Nutrition des Gelenkknorpels erlaubt. Daher ist für das gesunde Gelenk der Wechsel von Be- und Entlastung von größter Wichtigkeit. Eine Gelenkbewegung ohne große Belastung wird für die Knorpelernährung als besonders günstig angesehen. > Die Prävention der Arthrose folgt dem Motto »viel bewegen, wenig belasten«.
16.5
Klinische Manifestation
16.5.1
Beschwerdebild
Die Arthrose verursacht i. d. R. recht typische Beschwerden, die von der überwiegenden Anzahl der Patienten übereinstimmend angegeben werden. Dennoch sind die Ausprägungen und die damit verbundenen Einschränkungen der Lebensqualität höchst unterschiedlich. > Leitsymptom der Arthrose ist der Schmerz.
Leitsymptom bei der Arthrose ist der Schmerz, der sich auf das betroffene Gelenk konzentriert, aber auch zu angrenzen-
16
288
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
den Gelenken ausstrahlen kann. Die Schmerzqualität kann stechend, bohrend oder auch dumpf sein. Dies ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Zusätzlich zum Schmerz bemerken die Patienten eine endgradige Einschränkung der Beweglichkeit, die im Verlauf u. U. zu einem nahezu vollständigen Einsteifen des Gelenks führt. Häufig macht sich zunächst eine verminderte Streckbarkeit bemerkbar. Dies zeigt sich z. B. im Bereich des Kniegelenks dadurch, dass die Betroffenen angeben, gerne ein Kissen oder sogar eine Knierolle unter die Kniekehle zu legen. Dies führt zu einer Entlastung der hinteren Gelenkkapsel und wird als angenehm empfunden. Bei der Koxarthrose kommt es nicht selten zunächst zu einer Reduktion der Innenrotation und zu einer Schmerzprojektion in die Leiste. Tritt eine Beugekontraktur auf, wird der Thomas-Handgriff positiv, und eine Hyperlordose lässt sich klinisch verifizieren. Das Liegen auf der Seite wird von diesen Patienten als unangenehm empfunden, wenn eine Bursitis trochanterica hinzukommt. > Der Anlaufschmerz ist ein Symptom der Spätphase.
16
Im fortgeschrittenen Stadium bemerken die Patienten die typische morgendliche Steifigkeit. Das Gelenk scheint zäh zu sein und mag sich nicht so recht bewegen. Für die Gelenke der unteren Extremität »läuft« das Gelenk erst nach den ersten Schritten und einer gewissen »Warmlaufphase« besser. Dies wird als morgendlicher Anlaufschmerz bezeichnet und ist ebenfalls typisch. Meist können diese Patienten aber noch die alltäglichen Verrichtungen durchführen, und die notwendigen Wege werden i. d. R. weitgehend problemlos bewältigt. Einschränkungen ergeben sich nur bei längeren Wanderungen oder ungewohnten Belastungen. Der Belastungsschmerz nimmt im Zeitverlauf allerdings an Intensität zu. Bei fortgeschrittenen Veränderungen kommt es häufig zu einem nächtlich auftretenden Schmerz, der die Patienten aufwachen lässt. Wird das Gelenk belastet, treten nicht selten sofort Schmerzen auf, die bei bestehender Belastung kontinuierlich zunehmen. Viele Patienten beklagen auch Schmerzen in der Ruhephase. Dies führt meistens dazu, dass die Betroffenen zu Schmerzmitteln greifen müssen, um überhaupt den Alltag bewältigen zu können. Bei ausgeprägter Arthrose beklagt die überwiegende Mehrheit der Patienten Nachtschmerzen, Belastungsschmerzen und Ruheschmerze n.
Symptome der Arthrose
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Anlaufschmerz Gelenksteifigkeit (Morgensteifigkeit) Reduzierte Belastbarkeit Rasche Ermüdung Belastungsschmerz Nachtschmerz Ruheschmerz Gelenkgeräusche Zunehmende Achsfehlstellung Reduzierte Gelenkbeweglichkeit
16.5.2
Verteilung
> Die Wirbelsäule und die Kniegelenke sind die am häufigsten von Arthrose betroffenen Körperregionen.
Die Arthrose ist eine Erkrankung mit Bevorzugung des weiblichen Geschlechts. Hinsichtlich der Verteilung auf die Gelenke gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben. Es zeichnet sich jedoch ab, dass die überwiegende Mehrzahl der Fälle im Bereich der Wirbelsäule vorkommt, gefolgt von Knie- und Hüftgelenken (⊡ Tab. 16.3). Sprunggelenke, Großzehengelenk und Schulter-Arm-Komplex stehen bezüglich der Anzahl der Erkrankungen im Hintergrund.
16.6
Diagnostik
> Die wichtigsten Schritte zur Diagnose sind Anamnese und körperliche Untersuchung.
Die Diagnostik der Arthrose leitet sich direkt aus den oben geschilderten Ausprägungen ab. Die klinische Untersuchung steht neben der Anamnese an erster Stelle der diagnostischen Abfolge. Eine kritische Evaluation der subjektiven Beschwerden in Zusammenschau mit den klinisch objektivierbaren Untersuchungsbefunden lässt einerseits Rückschlüsse auf die Krankheitsaktivität und andererseits auf den Leidensdruck des Patienten zu. Aktuelle Daten, auch aus der Arbeitsgruppe der Autoren, zeigen, dass es kaum eine Korrelation zwischen der subjektiven Beschwerdeintensität des Patienten und den radiologisch und/oder intraoperativ objektivierbaren Befunden gibt. Dabei sollte die Anamnese den Schmerzcharakter und die Schmerzintensität ebenso abfragen wie das zeitliche Auftreten (Nachtschmerz, Ruheschmerz, Belastungsschmerz). Fragen hinsichtlich der typischen Morgensteifigkeit ergeben ebenfalls wertvolle Hinweise. Eine schrittweise Einsteifung des Gelenks sollte erfragt werden. Aufgabe des untersuchenden Arztes ist es, ein komplexes Bild der Erkrankung in Zusammenhang mit der Lebenssituation zu erhalten. Die Einschränkung der Lebensqualität und die Behinderungen der Alltagstauglichkeit sollten im Vordergrund der Befragung stehen. Hier stellt der WOMAC-Score (Western and Ontario McMasters University
⊡ Tab. 16.3 Regionale Verteilung manifester und radiologisch nachweisbarer Arthrosen. (Quelle: Statistisches Bundesamt) Region
Häufigkeit [%]
Wirbelsäule
60
Kniegelenk
27
Hüftgelenk
7,3
Sprunggelenk
4
Großzehengrundgelenk
1,5
Schulter-Arm-Komplex
1
289 16.6 · Diagnostik
Osteoarthritis Index) ein sinnvolles und in mehreren Studien validiertes Hilfsmittel speziell für die Erfassung der Einschränkungen im Alltag dar. > Die klinische Untersuchung beinhaltet Inspektion, Palpation und Funktionsprüfung.
Die klinische Untersuchung besteht aus der klassischen Inspektion, der Palpation und der Funktionsprüfung. Dabei fokussiert die Inspektion auf eine verstrichene und verplumpte Gelenkkontur, außerdem auf Gelenkkontrakturen, Achsabweichungen und isolierte Atrophien der gelenkführenden Muskulatur. Auch sollten die Nachbargelenke mitbeurteilt werden. Eine seitenvergleichende Untersuchung ist Standard. Die Palpation umschließt alle prominenten und nichtprominenten Areale der gelenknahen Regionen. Dabei sollte ein spezielles Augenmerk auf Kapsel-, Sehen- und Bandansätze gerichtet werden. Druck- und Dehnungsschmerzen sind auszulösen. Verhärtungen oder Verdickungen der Gelenkkapsel sollte man sensibel von Gelenkergüssen unterscheiden, da sie unterschiedliche Aspekte beleuchten. Wärmeunterschiede der oberflächlichen Haut sind im Seitenvergleich zu überprüfen und können bei der aktivierten Arthrose auch Ausdruck der Hyperaktivität der Schleimhaut sein. Die Bursen sollten gezielt aufgesucht und bezüglich Schwellung und Druckschmerz untersucht werden. > Die Gelenkfunktion wird seitenvergleichend mit der Neutralnullmethode gemessen.
Die Funktion des Gelenks bezieht sich v. a. auf den Bewegungsumfang. Daher sollte diesem ein spezielles Augenmerk gewidmet werden. Die Untersuchung des Bewegungsumfangs eines Gelenks bezieht sich immer auf die Neutralnullmethode (⊡ Abb. 16.9). Alle Gelenke werden im Seitenvergleich sowohl bezüglich des aktiven als auch des passiven Bewegungsumfangs
⊡ Abb. 16.9 Ebenen und Ausgangsstellungen nach der Neutralnullmethode
untersucht. Zusätzlich sollten Schmerzempfindungen und Krepitationen wahrgenommen und dokumentiert werden. Die Bewegungsprüfung allein reicht nicht aus. Je nach untersuchtem Gelenk muss die Bandstabilität getestet werden. Die Menisken und der Diskus sind ebenfalls zu untersuchen. Das Gangbild sollte ebenso wie die Körperhaltung analysiert und in die Befundung mit einbezogen werden. In der heutigen Zeit wird niemand mehr eine Diagnose ohne entsprechende Bildgebung stellen. Dabei ist die klassische Röntgenaufnahme in 2 senkrecht zueinander stehenden Ebenen Goldstandard. Sie ist unerlässlich für die Diagnose, die Planung einer Therapie und als Verlaufskontrolle. Allerdings muss – wie oben bereits erwähnt – darauf hingewiesen werden, dass gerade die Frühstadien der Arthrose nur unzureichend beurteilbar sind. Klassische Arthrosezeichen sind: ▬ Verschmälerung des Gelenkspalts aufgrund der Abnahme der Knorpeldicke ▬ subchondrale Sklerosierung aufgrund der einsetzenden Überlastung, einhergehend mit einer vermehrten Kalksalzeinlagerung ▬ Bildung von osteophytären Anbauten als Versuch des Gelenks, die Kraft auf eine größere Fläche zu verteilen ▬ subchondrale Zysten (Geröllzysten) als Einbrüche der Gelenkflächen Darüber hinaus gibt es weitere Anzeichen für arthrotische Veränderungen, beispielsweise: ▬ Änderung der Gelenkgeometrie ▬ Achsabweichung ▬ Inkongruenz der Gelenkpartner ▬ Verminderung des Kalksalzmineralgehalts Die CT besitzt im Rahmen der Diagnostik der degenerativen Erkrankungen einen untergeordneten Stellenwert. Dies ist einerseits auf die wenig weiterführende Information im Vergleich zur konventionellen Röntgendiagnostik und andererseits auf die hohe Strahlenbelastung zurückzuführen. Dreidimensionale Rekonstruktionen können allerdings bei der Planung von komplexen operativen Maßnahmen sinnvoll sein. Bei der computerunterstützten Endoprothesenimplantation ist die CT in den Bereichen Knie- und Hüftendoprothetik mittlerweile ebenfalls obsolet. Sie wurde von der bildfreien Navigation verdrängt. Die MRT besitzt hingegen einen nicht unerheblichen Stellenwert, da sie den Gelenkknorpel mit möglichen Schäden frühzeitig und mit einer hohen Auflösung darstellen kann. Dies gilt insbesondere für das Knie- und auch für das Hüftgelenk. Zusätzlich lassen sich die periartikulären Weichteile (Kapsel, Sehen, Muskeln) darstellen und in die pathodiagnostischen Überlegungen mit einbeziehen. Die Sonographie besitzt aufgrund der einfachen Durchführbarkeit, der fehlenden Strahlenbelastung, der geringen Kosten und der guten Beurteilbarkeit der Weichgewebe in der Arthrosediagnostik einen gewissen Stellenwert (⊡ Abb. 16.10). Speziell im Rahmen der Beurteilung der periartikulären Schulterpathologien, aber auch bei Kniebeschwerden kann sie – nicht zuletzt weil eine dynamische Untersuchung möglich ist
16
290
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
16.7
Grundzüge der Therapie
16.7.1
Konservative Therapie
Bei der Therapie der Arthrose müssen folgende Aspekte phasen- und ausprägungsadaptiert berücksichtigt werden: ▬ Schmerztherapie ▬ Entlastung ▬ Prophylaxe/Besserung einer Kontraktur ▬ Prävention/Besserung einer Muskelschwäche ▬ bei frustraner konservativer Therapie: operative Behandlung > Die konservative Behandlung der Arthrose fußt auf mehreren Säulen und ist nie eine Monotherapie.
⊡ Abb. 16.10 Suprapatellarer Sonographieschnitt bei massivem intraartikulären Erguss und Synovialitis. A Femur; B Patella; C Erguss; D Synovialitis. Mit frdl. Genehmigung von W. Hartung, Bad Abbach
16
– gut angewandt werden. Speziell bei Fragestellungen des rheumatischen Formenkreises wird die Sonographie am Kniegelenk eingesetzt. Die Arthroskopie gilt eher als therapeutische Methode, eine rein diagnostische Arthroskopie sollte es im Normalfall nicht geben. Dennoch ist festzuhalten, dass über einen kleinen Zugang ein optimales, 3-dimensionales und hochauflösendes Bild der Gelenkbinnenstrukturen gewonnen werden kann, wie es bislang durch keine Bildgebung möglich ist. Bei speziellen Fragestellungen sowie bei unklaren konventionell-radiologischen und magnetresonanztomographischen Befunden kann eine Arthroskopie die Planung der Therapie vereinfachen, z. B. bei der Fragestellung »Umstellungsosteotomie oder endoprothetische Versorgung am Kniegelenk« oder »Nutzen eines pfannenvergrößernder Eingriffs am Hüftgelenk«. Idealerweise werden die Patienten einzeitig arthroskopiert und definitiv versorgt, sofern die Entscheidung zwischen 2 Therapieoptionen schwankt. Laborchemische Untersuchungen haben in der Diagnostik der degenerativen Gelenkerkrankungen nur einen untergeordneten Stellenwert, da die Ergebnisse nicht mit pathologischen Befunden assoziiert sind. Lediglich hinsichtlich differenzialdiagnostischer Überlegungen (Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises) haben die Konzentration des C-reaktiven Proteins (CRP) sowie die Leukozytenzahl und das Differenzialblutbild wie auch die Aufteilung der Globuline einen hinweisenden Charakter (»Rheumalabor«). In jedem Fall hilft die laborchemische Untersuchung – neben der Gelenkpunktion – bei der Frage nach einem Gelenkinfekt weiter. Zusätzlich zu den genannten klinischen und radiologischen diagnostischen Verfahren sollte ein orientierender neurologischer und internistischer Status erhoben werden, der Geschlecht, Alter, Körperbau, Gewicht, Größe sowie relevante Begleiterkrankungen mit einschließt.
Die Aufklärung über Krankheitsverlauf und Behandlung (»education«) ist eine entscheidende Maßnahme zur optimalen Führung des Patienten. Eine gute Compliance ist erreichbar, wenn die Patienten mit allgemeinverständlichen Vorträgen geschult werden und dabei Verhaltensanleitungen erhalten (Patientenschulung). Der Patient muss wissen, dass die Arthrose nicht heilbar ist, sondern nur in Symptomatik und Progression eingedämmt werden kann. Er muss zur entsprechenden Mitarbeit angeregt werden – nicht zuletzt, um die alleinige Verantwortung für den Therapieerfolg von den Schultern des behandelnden Arztes zu nehmen. Gerade die Prognose sollte zu einem frühen Zeitpunkt aufgezeigt werden, damit der Patient seine individuelle Lebenssituation auf die Erkrankung abstimmen kann. Ein arthrosegerechtes Alltagsverhalten ist erforderlich und sinnvoll. Dazu zählen: ▬ Kräftigung der gelenkführenden Muskulatur ▬ Anpassung der sportlichen Aktivität ▬ Vermeidung von Sportarten mit hoher Stauch- und Stoßbelastung der Gelenke ▬ bei Gonarthrose: Reduktion des Übergewichts Die Wirksamkeit von diätetischen Maßnahmen zur Knorpelernährung hat bislang keine Studie eindeutig beweisen können. Einen hohen Stellenwert besitzt die physikalische Therapie. Hierunter fallen Kälteanwendungen (akutes Stadium) gegen Gelenkschwellung und -überwärmung sowie Wärmeanwendungen (latentes Stadium – nicht im aktivierten Stadium) zur Muskelentspannung – je nach Akuität der Ereignisse und den Vorlieben des Patienten. Auch ist eine adäquate Bewegungstherapie sinnvoll, streng nach dem Motto »wer rastet, der rostet«. Im Weiteren sind die Facetten der physikalischen Medizin auszuschöpfen ( Kap. 9): Balneo-, Hydro-, Elektro- und Mechanotherapie und auch Ultraschallbehandlungen können hilfreich sein. Neben diesen Optionen muss in jedem Fall die gelenkführende Muskulatur trainiert werden. Dies kann über isokinetische, aber auch dynamische Übungen erfolgen. Ebenfalls ist es ein Ziel der physikalischen Therapie, etwaige Gelenkkontrakturen zu beseitigen und den Bewegungsumfang des Gelenks zu verbessern, sofern dies aus knöcherner Sicht möglich ist. Bei der Verordnung der Behandlungen sollte sowohl die aktive als auch die passive Seite des Patienten angesprochen werden: eines bis 2 aktivierende Verfahren (Krankengymnastik, Bewegungsbad,
291 16.7 · Grundzüge der Therapie
Trainingstherapie) werden i. d. R. mit einem passiven Verfahren (Mechano-, Balneo-, Thermotherapie) kombiniert. Kontraindikationen (Elektrotherapie bei Herzschrittmacher) müssen Beachtung finden.
Möglichkeiten der physikalischen Therapie
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Balneotherapie Elektrotherapie Mechanotherapie Hydrotherapie Medizinische Trainingstherapie Ergotherapie
Durch einige Multicenterstudien konnte die Wirksamkeit der Akupunktur bei ausstrahlenden Beschwerden belegt werden. Die Facetten der medikamentösen Therapie der Arthrose sind vielfältig. Am häufigsten werden sicherlich Schmerzmedikamente verschrieben, wobei es hier verschiedene Wirkstoffgruppen mit unterschiedlichem Risikoprofil gibt. Sinnvolle Wirkstoffgruppen sind die traditionellen nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR), die sowohl eine entzündungshemmende als auch eine schmerzstillende Wirkung besitzen. Allerdings haben einige dieser Medikamente gastrointestinale (Übelkeit bis hin zu gastrointenstinalen Blutungen) und auch renale Nebenwirkungen (Erhöhung des Serumkreatininwerts). Neuere Entwicklungen in dieser Wirkstoffgruppe, die sog. Coxibe, konnten speziell diese Nebenwirkungen reduzieren ( Kap. 7). Weitere Möglichkeiten bieten periphere Analgetika wie Paracetamol, welches allerdings speziell hepatische Komplikationen verursachen kann (Dosierung von >4 g/Tag) und daher bei bekannter hepatischer Vorschädigung nicht angewandt werden sollte. Ebenfalls sehr gut bei Knochenschmerzen ist Metamizol wirksam, das allerdings in seltenen Fällen die Hämatopoese ungünstig beeinflussen kann. Daher ist bei der medikamentösen Behandlung der Arthrose das individuelle Risikoprofil jedes Patienten genau einzuschätzen. Eine weitere Gruppe der Schmerzmittel sind synthetische Opioide. Diese Substanzgruppe, die früher stärksten Schmerzen vorbehalten war, reüssiert heute mit »Low-dose«-Pflastern. Grundsätzlich müssen die typischen Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen und auch Obstipation bedacht werden. Eine langfristige Verordnung dieser Wirkstoffgruppe ist bei Arthrose aufgrund der genannten Probleme kritisch zu überprüfen. Eine vereinzelte intraartikuläre Kortisoninjektion kann in akuten Schmerzphasen, also bei der aktivierten Arthrose, die ggf. auch mit intraartikulären Ergüssen einhergeht, erfolgen. In der Regel wird dabei auf ein in kristalliner Form vorliegendes Präparat zurückgegriffen, welches den Wirkstoff retardiert freisetzt. Zusätzlich sollte zur Akutwirkung ein lokales Anästhetikum verwendet werden. Die Menge richtet sich nach der Gelenkgröße und liegt bei 10–50 mg Prednisolonäquivalent. Die Aufklärung für diese Injektion muss wie diejenige für einen operativen Eingriff erfolgen. Insbesondere ist die Gefahr einer injektionsbedingten Infektion zu diskutieren. Aufgrund der Nebenwirkungen sollten allerdings innerhalb von 6 Monaten nicht mehr als 2 In-
jektionen verabreicht werden. Vor Implantation einer Gelenkendoprothese ist eine 3-monatige Karenz anzuraten. Unterstützend können auch Salben und Gels aufgetragen werden, wenn eine Penetration bis zum Gelenk zu erwarten ist. Diese enthalten oft traditionelle NSAR und entfalten – regelmäßig und gekühlt aufgetragen – häufig eine sehr gute Wirksamkeit. Da die Eindringtiefe dieser Substanzen bei kutaner Anwendung jedoch bei ca. 1 cm liegt, sind speziell die hautnahen Gelenke für diese Art der konservativen Therapie prädestiniert. Auf dem Markt sehr häufig vertreten sind pflanzliche Arzneien. Hierzu lässt sich festhalten, dass klare Hinweise für die Wirksamkeit vom wissenschaftlichen Standpunkt aus fehlen. Die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft stellte sogar fest, dass mit den bisher vorliegenden Untersuchungen keine Belege für die Wirksamkeit erbracht werden können. Ein weiterer Diskussionspunkt ist der Einsatz von Hyaluronsäure- und Glukosaminsulfatpräparaten, erstere zur 3- bis 5-maligen intraartikulären Injektion im wöchentlichen Abstand und letztere zur täglichen oralen Einnahme (3-mal 250– 500 mg/Tag). Beiden Substanzen wird eine anabole Wirkung auf den Gelenkknorpel und eine antiphlogistische Wirkung auf die Synovialitis zugeschrieben. Hyaluronsäure ermöglicht neben einer Verbesserung der Knorpelnutrition auch eine Verbesserung der mechanischen Eigenschaften (Gleitfähigkeit) des Gelenkknorpels. Adäquate Studien, die die Wirksamkeit belegen, fehlen.
16.7.2
Orthopädische Hilfsmittel
Das klassische Hilfsmittel zur Entlastung der unteren Extremität ist die Unterarmgehstütze bzw. der Gehstock. Untersuchungen konnten zeigen, dass der Einsatz einer einseitig geführten Unterarmgehstütze die Belastung um ca. 10–25% reduziert. Eine vollständige Entlastung sollte nach Möglichkeit vermieden werden, um die damit verbundenen möglichen Konsequenzen zu umgehen (Thrombose bei fehlender Muskelpumpe, Muskelhypotrophie, Osteoporose). > Eine einseitige Unterarmgehstütze kann die Belastung der betroffenen Extremität um 10–25% verringern.
Speziell bei bestehenden Kontrakturen an der unteren Extremität kann ein Toilettenaufsatz für den Patienten eine große Hilfe darstellen. Auch Sitzerhöhungen sind sinnvoll. Ein weites Feld ist die orthopädische Schuhzurichtung ( Kap. 8). Die Möglichkeiten der Stoßdämpfung, des Beinlängenausgleichs und der Kraftumlenkung bei Achsabweichungen speziell im Kniegelenk sollten genutzt werden. Einlagenversorgungen und auch Schuhzurichtungen (z. B. Abrollhilfe bei Arthrose des oberen Sprunggelenks) stellen einfache und wirksame Möglichkeiten dar. Speziell Patienten mit einer Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis kann durch einfache Schuhzurichtungen gut geholfen werden. Primär- und auch sekundärarthrotische Veränderungen, gerade im Bereich des Fußes, erfordern ein fein abgestimmtes und in Kooperation mit einem erfahrenen Orthopädieschuhtechniker angerfertiges orthopädisches Schuhwerk.
16
292
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
Orthesen können im Endstadium hilfreich sein. Immobilisierende oder entlastenden Schienen und Bandagen haben ihre Bedeutung aufgrund der unzureichenden Wirkung bei schmerzhaften Arthrosen und der heutigen umfassenden operativen Möglichkeiten ein wenig eingebüßt.
16.7.3
Gelenkerhaltende operative Therapie
Die gelenkerhaltende Operative Therapie der Arthrose ist vielfältig und wird im Detail in den einzelnen Kapiteln abgehandelt. Die folgenden Passagen können und sollen nur einen Überblick über die Möglichkeiten bieten. Die gelenkerhaltende operative Therapie richtet sich einerseits nach dem Schmerzbild des Patienten und andererseits nach den klinisch-radiologischen Befunden. Die zunehmende sportliche Aktivität der Bevölkerung und die Verbreitung von Risikosportarten auch beim Freizeitsportler haben dazu geführt, dass der traumatische und degenerative Knorpelschaden des Kniegelenks demographisch sehr häufig schon bei jüngeren Patienten auftritt. Da dies eine noch besonders aktive Patientengruppe ist, die in der Regel mitten im Erwerbsleben steht, sollte eine endoprothetische Versorgung als letzte Therapieoption möglichst lange herausgezögert werden. Zwar toleriert der menschliche Knorpel erhebliche Belastungen, jedoch deutet sich an, dass Defekte, die einen Durchmesser von ca. 5 mm überschreiten, zu bleibenden Schäden führen. Verschiedene Autoren beschreiben, dass die kritische Größe eines behandlungsbedürftigen Defekts am Kniegelenk bei ca. 2 cm2 liegt. Curl und Mitarbeiter konnten im Rahmen einer retrospektiven Studie bei weit über 30.000 Kniearthroskopien nachweisen, dass die Inzidenz therapiebedürftiger Knorpelschäden bei etwa 63% liegt. Da das Risiko einer vorzeitigen Kniegelenkarthrose bei jungen Patienten mit Knorpelschaden in der Anamnese um den Faktor 3 erhöht ist, müssen gerade diesem Patientenkollektiv möglichst effektive, aber wenig invasive Therapiestrategien angeboten werden, die eine schnelle und dauerhafte Rehabilitation ermöglichen. Sowohl an den großen Gelenken der oberen Extremität (Schulter, Ellenbogen, Handgelenk) als auch an denjenigen der
unteren Extremität (Hüfte, Knie, Sprunggelenk) hat sich die Arthroskopie innerhalb der vergangenen Jahre und Jahrzehnte
zu einer Routineoperation entwickelt. In der Regel sollte vor der Operation neben einer konventionell-radiologischen Darstellung eine MRT durchgeführt werden, die detaillierte Auskünfte über die chondrale Situation des Gelenks ermöglicht. Auch lassen sich Strukturen wie das Labrum glenoidale an der Schulter, die Menisken am Kniegelenk und der Diskus am Handgelenk darstellen und etwaige pathologische Veränderungen aufspüren. Im weiteren Verlauf kann dann das Problem entsprechend der Notwendigkeiten behoben werden. Die Vorteile der arthroskopischen Therapie liegen auf der Hand: minimal-invasive Schnittführung mit maximaler Gelenkübersicht und großem Behandlungsspielraum. Aufgrund der minimalen Weichteilverletzung sind die Risiken geringer als bei offenen Gelenkoperationen, und die Rehabilitation des Patienten gelingt in der Regel rascher. Bei einer Arthroskopie werden zunächst die Binnenstrukturen des Gelenks genau untersucht. Der Knorpel wird in allen Gelenkanteilen begutachtet und hinsichtlich degenerativer Veränderungen geprüft. Die Gelenkbinnenstrukturen lassen sich in Hinblick auf Schädigungen beurteilen. In den allermeisten Fällen ist es möglich, Schädigungen einzeitig zu beheben. Grundsätzlich stehen dem Operateur hier 2 verschiedene gelenkflächenrestituierende Methoden zur Auswahl (⊡ Abb. 16.11): einerseits die Stimulation der »Selbstheilung« durch Schaffung von intrinsischem Ersatzgewebe und andererseits der extrinsische autologe Gewebeersatz im weitesten Sinne. Die am wenigsten invasive Methode ist die Gelenklavage, fakultativ verbunden mit einem Débridement oder einem Knorpel-Shaving. Dabei bietet die einfache Lavage lediglich die Option, das Gelenk von Entzündungsmediatoren und Zelldetritus freizuspülen, und zeigt speziell bei jungen Menschen nur eine vorübergehende, geringfügige Wirkung. Gleichwohl haben sich die Arthroskopie und die damit verbundene Gelenklavage als probate Mittel bewährt, um die endoprothetische Versorgung bei älteren Patienten mit manifester Degeneration herauszuzögern. Sowohl beim »shaving« als auch beim Débridement werden mechanisch irritierende Knorpel- und Gewebeauffaserungen abgetragen. Dieser Effekt ist i. d. R. nur von vorübergehender
16 Behandlungsoptionen
Extrinsisches Vorgehen
Intrinsisches Vorgehen
Mikrofrakturierung
⊡ Abb. 16.11 Behandlungsoptionen bei Knorpelschaden. ACT Autologe Chondrozytentransplantation
Abrasion
Osteochondrale Transplantation
Traditionelle ACT
Periostlappentransplantation
Matrix-ACT
293 16.7 · Grundzüge der Therapie
Dauer. Beim Débridement können zusätzlich Synovektomien, partielle Meniskektomien am Kniegelenk und Osteophytenabtragungen zur mechanischen Funktionsverbesserung vorgenommen werden. Zum kurz- bis mittelfristigen Erfolg dieser Maßnahmen gibt es unterschiedliche Angaben. Ganz wesentlich ist der Therapieerfolg vom Ausmaß des Schadens abhängig. Dies ist die Erklärung für den mangelhaften Erfolg des arthroskopischen Débridements bei ausgeprägten Arthrosen, also bei überzogener Indikation. Um die Selbstheilung des Körpers zu aktivieren, ist es notwendig, pluripotente mesenchymale Stammzellen zu aktivieren. Durch Eröffnen der subchondralen Knochenlamelle (Pridie-Bohrung, Mikrofrakturierung) entsteht ein Einstrom von Zellen, die in einem Blutkuchen (»super-clot«) dem Defekt aufgelagert sind und sich im weiteren Verlauf zu faserknorpeligem Gewebe als »Ersatzknorpel« ausdifferenzieren. Die von Steadman eingeführte sog. Mikrofrakturierung zielt auf eine multiple Perforation der subchondralen Knochenlamelle zur Induktion von faserigem Ersatzgewebe. Diese Technik als Bioprothese anzupreisen, ist irreführend. Steadman selbst hat diese Technik am Kniegelenk mittlerweile bei über 1400 Patienten durchgeführt und zufriedenstellende Ergebnisse erheben können. Ähnlich große Datenmengen stehen für Schulter, Hüfte und Sprunggelenk nicht zur Verfügung, allerdings zeigt die Literatur im mittelfristigen Verlauf auch hier gute Ergebnisse. Die alleinige Transplantation von Periostlappen zur Deckung von Knorpeldefekten ist eine Option – wenn man die aktuelle Literatur zur Thematik hinzuzieht, jedoch nur eine untergeordnete. Solide Daten gibt es bislang nur zum Kniegelenk, mit allerdings sehr geringen Fallzahlen. Hauptkritikpunkte an der Periostlappentransplantation sind neben der technisch anspruchsvollen Durchführung sekundäre Kalzifikationen und eine Degeneration des Ersatzgewebes nach 2–5 Jahren. Bei rheumatischer Knorpeldestruktion besteht die größte Erfahrung. Die Transplantation von autologen Knorpel-Knochen-Zylindern (Mosaikplastik) ist mit diversen Modifikationen weiter verbreitet als die Periostlappentransplantation und besitzt v. a. am Kniegelenk einen hohen Stellenwert. Unterschiedlich große Knorpel-Knochen-Zylinder werden an gering belasteten Stellen des Kniegelenks entnommen und in die Defektzone transplantiert. Hier hat sich in einigen Studien ein überwiegend guter mittelfristiger klinischer Verlauf herauskristallisiert. Diese Ergebnisse dürfen jedoch nicht über die nachteiligen Aspekte hinwegtäuschen: Bei zunehmender Defektgröße bildet sich zwischen den Zylindern nicht selten ein fibröses Füllgewebe mit der Folge einer mechanischen Instabilität. Außerdem lässt sich gerade bei großen Defekten nicht immer die erforderliche Oberflächenkongruenz erzeugen, was sekundär in einem Zylinderversagen resultieren kann. Auch ist besonders bei großen Defekten die Morbidität an der Entnahmestelle nicht zu unterschätzen, hier ist nicht selten auch die Verfügbarkeit begrenzt. Andererseits ist es ein technisch nicht zu aufwendiges Verfahren und kann im Gegensatz zur autologen Chondrozytentransplantation einzeitig und ohne zusätzliche Kosten durchgeführt werden. Eine Umfrage aus der eigenen Arbeitsgruppe zeigte, dass die Osteochondrosis dissecans die Hauptindikation für eine osteochondrale Transplantation darstellt.
Die autologe Chondrozytentransplantation wurde erstmals von Bentley und Kollegen tierexperimentell durchgeführt und später von der Arbeitsgruppe um Petersen und Brittberg klinisch etabliert. Beim ursprünglichen Verfahren wird nach dem Prinzip einer bioaktiven Kammer eine kultivierte autologe Chondrozytensuspension in den mit einem autologen Periostlappen gedeckelten Defekt injiziert (⊡ Abb. 16.12). Mittlerweile liegen verlässliche Ergebnisse über mehr als 10-jährige Anwendungen vor.
a
b
c ⊡ Abb. 16.12a–c Technik der autologen Chondrozytentransplantation
16
294
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
Eine Erfolgsrate von >80% wird beschrieben, was sich mit den Erfahrungen aus der Klinik der Autoren deckt. Allerdings sind für dieses Verfahren hauptsächlich das Knie-, das Sprungund das Ellenbogengelenk prädestiniert. Die guten Ergebnisse sind u. a. darauf zurückzuführen, dass autologe Chondrozyten transplantiert werden, diese bei großer Vitalität stoffwechselaktiv die Matrix aufbauen und keine immunologische Gewebeantwort auftritt. Mittlerweile steht die autologe Chondrozytentransplantation in der Folgegeneration zur Verfügung. Dabei werden Trägermaterialien mit den angezüchteten Knorpelzellen beschickt und transplantiert. Dies vereinfacht einerseits die intraoperative Applikation und vermeidet andererseits das Einnähen des Periostlappens in den gesunden Knorpel. Studien zum Vergleich der konventionellen, periostlappenassoziierten und der matrixassoziierten autologen Chondrozytentransplantation finden sich in der Literatur nicht. Nichtsdestotrotz wird von den Anwendern hier ein deutliches Innovationspotenzial gesehen.
16.7.4
Gelenkersetzende operative Therapie
Die gelenkersetzende Therapie der Arthrose richtet sich nach dem Grad der Arthrose. Je nach klinischem und radiologischem Befundbild sollten mit dem Patienten die Behandlungsoptionen sowie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Prothesentypen kritisch diskutiert werden. Dabei ist sowohl der Aktivitätslevel als auch die Arthroseausprägung individuell zu berücksichtigen. Aus Sicht der Autoren besteht die Indikation zum Gelenkersatz, wenn ▬ die konservativen Maßnahmen (Physiotherapie, Schmerzmedikation, physikalische Anwendungen) ausgeschöpft sind, ▬ Nacht- und Ruheschmerzen auftreten und ▬ sich die Gehstrecke bei Arthrose der unteren Extremität auf wenige 100 m reduziert hat. Detaillierte Informationen zu den gelenkersetzenden Maßnahmen sind den entsprechenden Kapiteln zu entnehmen.
Omarthrose
16
Die degenerativen Erkrankungen des Schultergelenks sind seltener als diejenigen der unteren Extremitäten, dennoch ist die Anzahl der Omarthrosen tendenziell steigend. Bei frustraner konservativer Therapie und Beschwerdepersistenz wird die Indikation zum endoprothetischen Gelenkersatz gestellt (⊡ Abb. 16.13). Diese Indikation sollte nicht zu spät gestellt werden, da eine intakte Rotatorenmanschette wesentlich zu einem guten funktionellen Outcome beiträgt. Speziell bei rheumatischer Genese oder im posttraumatischen Fall kann die endoprothetische Versorgung des Glenohumeralgelenks bei defekter Rotatorenmanschette im Wesentlichen eine Schmerzbeseitigung erbringen. > Eine intakte Rotatorenmanschette ist die Voraussetzung für ein gutes funktionelles Outcome eines endoprothetischen Ersatzes des Glenohumeralgelenks.
⊡ Abb. 16.13 Versorgung einer Glenohumeralarthrose mittels Humeruskopfprothese
Gonarthrose Die Indikation zum alloarthroplastischen Gelenkersatz des Kniegelenks ist die schmerzhafte und ausgeprägte Arthrose des Kniegelenks, die zu einer schmerzhaften Bewegungsreduktion geführt hat. Bei isoliertem Befall nur des medialen oder lateralen Kompartiments ohne Retropatellararthrose ist eine unikondyläre Prothese zu diskutieren (⊡ Abb. 16.14). In der Regel sollte der Befund präoperativ durch eine Arthroskopie gesichert werden, um auch das Femoropatellargelenk sicher beurteilen zu können. Nur wenn hier und im Gegenkompartiment allenfalls chondromalazische Areale vom Grad II vorhanden sind, erscheint diese Art des partiellen Oberflächenersatzes sinnvoll. Das Streckdefizit sollte nicht mehr als 10° und die Abweichung im Varus- oder Valgussinne ebenfalls nicht mehr als 10° betragen. Bei weiter fortgeschrittener Arthrose mit Befall aller Gelenkanteile und weitgehend intakten ligamentären Verhältnissen ist die bikondyläre Oberflächenprothese die Therapie der Wahl (⊡ Abb. 16.15). Hierbei werden mit speziellen Sägeschablonen nur die oberflächlichen betroffenen Areale der Gelenkfläche entfernt. Dies gewährleistet ein besonders knochensparendes Verfahren. Die Prothesen können zementiert oder zementfrei eingebracht werden. Die Haltbarkeit der Prothesen unterscheidet sich nur gering. Allerdings setzt die zementfreie Verankerung eine tragfähige Knochenstruktur und einen schlüssigen Implantat-Knochen-Kontakt an allen Resektionsflächen voraus, da mit der zementfreien Verankerung ein »press-fit« erreicht werden muss. Darüber hinaus kann die Oberflächenprothese mit einem rotierenden oder fixen Inlay eingebracht werden. Die aktuelle Literatur zur Thematik weist hier keine wesentlichen Unterschiede bezüglich der Haltbarkeit oder der Patientenzufriedenheit nach. Insgesamt liegt die 10-Jahres-Prothesenerhaltungsrate nach dem finnischen Knieregister bei 97%.
295 16.7 · Grundzüge der Therapie
a
b
⊡ Abb. 16.14a,b Ersatz des medialen Kompartiments mit einer unikondylären Schlittenprothese
a
b
⊡ Abb. 16.16a,b Endoprothetischer Ersatz des Kniegelenks mit einer teilgekoppelten Prothese
Sofern die Defektsituation den Grad 2b überschreitet und die ligamentäre Situation insuffizient ist, stellt die (teil-)gekoppelte Prothese die Therapie der Wahl dar. Insbesondere weit fortgeschrittene sekundäre Arthrosen bei vorliegender Erkrankung des rheumatischen Formenkreises sind die Domäne der teilgekoppelten oder achsgeführten Prothesen (⊡ Abb. 16.16), da sich bei diesen Patienten i. d. R. zur ungünstigen ligamentären Situation eine schlechte Knochensubstanz hinzugesellt, welche eine erhöhte Stabilität durch diese Art des endoprothetischen Kniegelenkersatzes erfordert. > Bei insuffizientem Kapsel-Band-Apparat und einem Defekttyp >Grad 2b stellt die achsgeführte Prothese die optimale Versorgung dar.
Koxarthrose a
b
⊡ Abb. 16.15a,b Endoprothetischer Ersatz des Kniegelenks mit einer bikondylären Oberflächenprothese
Je nach Modularität der Prothese und ligamentärer Situation können auch größere Defekte tibial und femoral mit einer modularen Oberflächenprothese versorgt werden. Bei suffizienten ligamentären Verhältnissen ist auch eine Varus- oder Valgusfehlstellung bis 20° mittels Oberflächenprothese therapierbar. In solchen Extremfällen sollte aber eine achsgeführte Prothese als Rückzugsmöglichkeit verfügbar sein, da präoperativ klinisch nicht immer mit Sicherheit festgestellt werden kann, ob die ligamentäre Situation nach den entsprechenden Knochenschnitten ausgleichbar ist.
Die Indikation zum Ersatz des Hüftgelenks stellt sich v. a. aufgrund des Leidensdrucks des Patienten in Zusammenschau mit den klinischen und radiologischen Befunden. Dabei gilt es insbesondere das Aktivitätsniveau des Patienten und sein biologisches Alter zu berücksichtigen. Da die heutzutage vorhandenen Möglichkeiten des endoprothetischen Hüftgelenkersatzes vielfältig sind, gilt es, für jeden Patienten die individuell optimale Prothese zu planen. Je nach knöcherner Situation werden die Prothesen zementfrei oder zementiert eingebracht. Beide Verfahren haben ihre systemimmanenten Vor- und Nachteile, die jeweils kritisch abzuwägen sind. Abgesehen davon muss bei geeigneter anatomischer Situation das Ziel des endoprothetischen Ersatzes eine möglichst knochensparende Herangehensweise sein. Die Oberflächenprothese, sog. Resurfacing (⊡ Abb. 16.17), war der 3. Versuch eines derartigen knochenerhaltenden Gelenkflächenersatzes der Hüfte – nach den Episoden der Judetund Wagner-CUP-Prothese. Biomechanisch wurde Wert darauf gelegt, die »Head-neck-ratio«, also das Verhältnis des Schen-
16
296
Kapitel 16 · Degenerative Gelenkerkrankungen
⊡ Abb. 16.17 Versorgung einer Koxarthrose mit einer Oberflächenprothese
16
⊡ Abb. 16.18 Versorgung einer Koxarthrose mit einer Kurzschaft-Prothese
kelhalses zum Femurkopf exakt einzustellen. Daher stellte ein sehr kurzer Schenkelhals eine Kontraindikation dar. Die technisch exakte Implantation einer Oberflächenprothese war auch für den erfahrenen Operateur schwierig. Erhebliche Nachteile waren, dass für die Pfannenverankerung mehr Knochen im Becken reseziert werden musste und bei der Metall-Metall-Paarung ein Abrieb entsteht, der in Form von Metallionen (Kobalt und Chrom) auch im Blut nachzuweisen ist. Außerdem hat sich mittlerweile das Problem deutlich verkürzter Standzeiten dieses Prothesentyps gezeigt, je nach Endoprothesenregister und Prothesentyp nach 3 Jahren 6–10 % Revisionen. Der Anteil der Patienten, die Probleme haben, aber noch nicht revidiert sind, ist noch erheblich größer. Eine weitere knochensparende Prothese ist die im Schenkelhals verankerte Prothese (⊡ Abb. 16.18). Diese metaphysär verankerten Prothesen werden aktuell vermehrt untersucht. Es gibt verschiedene Designoptionen und unterschiedliche Philosophien. Der Vorteil dieser Prothesen besteht im weitgehenden Erhalt des knöchernen Femurmarklagers mit den entsprechenden Vorteilen im Revisionsfall. Als Standardversorgung werden die Schaftprothesen angesehen, die je nach knöcherner Situation zementiert oder zementfrei implantiert werden können (⊡ Abb. 16.19). Auch bei diesen Prothesen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Designs und Verankerungsphilosophien. Die Standzeiten werden in der internationalen Literatur mit 12–15 Jahren angegeben. Entscheidende Kriterien für die Auswahl des korrekten Implantats sind einerseits der Anspruch und das biologische Alter des Patienten und andererseits die anatomische Situation. Nicht jeder Patient ist für eine Oberflächenprothese oder eine metaphysär verankerte Prothese geeignet, sodass der Operateur
⊡ Abb. 16.19 Koxarthrose, mittels zementfreier Schaftprothese versorgt
die Entscheidung anhand harter Kriterien für jeden Patienten individuell fällen muss. Detaillierte Informationen hierzu sind den einzelnen Spezialkapiteln zu entnehmen.
Degenerative Veränderungen an anderen Gelenken Auch an anderen und kleineren Gelenken werden endoprothetische Versorgungen routinemäßig vorgenommen. So gibt es mittlerweile sehr gute Erfahrungen mit dem endoprothetischen Ersatz des oberen Sprunggelenks und erste Ergebnisse zur Fingerendoprothetik. Beschrieben, aber kontrovers diskutiert werden die Endoprothetik des Großzehengrundgelenks und auch der Bandscheibenersatz. Detailliere Informationen sind den einzelnen Spezialkapiteln zu entnehmen.
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16
17
Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen M. Tingart, C.Lüring, J. Schaumburger, J. Grifka
17.1
Definition und Epidemiologie – 300
17.2
Ätiologie und Pathogenese – 300
17.3
Diagnostik rheumatischer Erkrankungen – 300
17.3.1 17.3.2 17.3.3 17.3.4
Anamnese – 300 Klinische Untersuchung – 301 Labordiagnostik – 302 Bildgebende Verfahren – 302
17.4
Differenzialdiagnostik und klinisches Bild – 303
17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4 17.4.5 17.4.6 17.4.7
Entzündliche Gelenkerkrankungen – 303 Spondylarthritiden – 306 Enteropathische Arthropathien – 307 Reaktive Arthritiden – 308 Entzündliche Systemerkrankungen – 309 Arthropathien bei metabolischen Störungen Weichteilrheumatismus – 311
17.5
Konservative Therapie
17.5.1 17.5.2 17.5.3 17.5.4 17.5.5 17.5.6
Medikamentöse Therapie – 312 Physiotherapie – 313 Physikalische Therapie – 313 Ergotherapie – 314 Injektionen – 314 Synoviorthesen – 314
17.6
Operative Therapie – 315
17.6.1 17.6.2 17.6.3
Wirbelsäule – 315 Schulter, Ellenbogen und Hand Hüfte, Knie und Fuß – 324
Literatur
– 310
– 312
– 317
– 328
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
300
17.1
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
Definition und Epidemiologie
Bei den Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises handelt es sich um eine inhomogene, sehr weit gefasste Gruppe von z. T. sehr unterschiedlicher Krankheiten. Diese umfasst die infektiösen Arthropathien und die entzündlichen Polyarthropathien einschließlich der Arthritis psoriatica, der juvenilen Arthritis und der Arthritis urica. Darüber hinaus gehören zu den Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises Systemerkrankungen des Bindegewebes. Hier sind exemplarisch die Panarteriitis, die Riesenzellarteriitis, der systemische Lupus erythematodes sowie die progressive systemische Sklerose zu nennen. Im Bereich der Wirbelsäule und des Rückens prägen v. a. Deformitäten des Rückens und Spondylopathien (z. B. die Spondylitis ankylosans) die Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises. Zu den rheumatischen Krankheiten des Weichteilgewebes gehören solche der Muskulatur (z. B. Myositis, Kalzifikation und Ossifikationen), der Synovia und der Sehnen. Innerhalb dieser großen Gruppe lässt sich ein sog. harter Kern der entzündlichen rheumatischen Erkrankungen im engeren Sinne abgrenzen. Dazu gehören z. B. die rheumatoide Arthritis und die Spondylosis ankylosans, aber auch entzündliche Systemerkrankungen wie der systemische Lupus erythematodes und die systemische Sklerose. Die Zugehörigkeit von Stoffwechselkrankheiten (z. B. Gicht) zu den Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises kann mit der Gelenksymptomatik und der Entzündungssituation begründet werden. Hierbei spielen sich die für die Prognose des Patienten teilweise wichtigsten Vorgänge jedoch nicht selten extraartikulär ab (z. B. in Form der Uratnephropathie bei Gicht). Der Begriff des Rheumatismus im ursprünglichen Sinne, der jedoch heute in dieser Form keine Bedeutung mehr hat, wurde erstmalig im »Liber de rheumatismo et pleuritide dorsale« von Guillaume de Baillou (1538–1616) benutzt. Die große Gruppe der rheumatischen Erkrankungen weist eine Prävalenz von ca. 30% auf. Damit zählen diese Erkrankungen zu den häufigsten Krankheiten. Die Prävalenz einer relevanten körperlichen Behinderung liegt insgesamt bei ca. 5–10%, bei den über 65-Jährigen sogar bei bis zu 20%.
17.2
17
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiopathogenese rheumatischer Erkrankungen beruht auf immunologischen Mechanismen, die z. T. nur in Ansätzen bekannt sind. Prinzipiell wird beim Menschen zwischen einem spezifischen und einem unspezifischen Immunsystem unterschieden. Die unspezifische Immunabwehr ist dadurch kennzeichnet, dass sie auch ohne Antigenpräsentation aktiv wird. Sie besteht aus einer intakten Epidermis, dem Darm und der Lunge und darüber hinaus aus dem sog. Komplementsystem sowie antimikrobiellen Enzymen und Mediatoren. Eine Aktivierung des Komplementsystems bewirkt u. a. eine erhöhte Gefäßpermeabilität und eine verstärkte Chemotaxis von Leukozyten. Als zellulärer Bestandteil tragen neutrophile Granulozyten, Monozyten und Makrophagen sowie natürlich die sog. Killerzellen zur unspezifischen Abwehr bei.
Im Gegensatz zur unspezifischen Immunabwehr wird die spezifische Immunabwehr nur nach entsprechender Antigenpräsentation aktiv. Zum zellulären Teil der spezifischen Immunabwehr gehören die T-Lymphozyten. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die T-Helferzellen (CD4+) sowie die zytotoxischen T-Zellen (CD8+). Die T-Helferzellen produzieren Zytokine, durch welche zytotoxische T-Zellen und Makrophagen aktiviert werden. Diese Zytokine tragen bei rheumatischen Erkrankungen zur chronischen Entzündung bei. Neben den TLymphozyten gehören B-Lymphozyten zur spezifischen Immunabwehr. Sie bilden die Immunglobuline und dienen darüber hinaus für T-Lymphozyten als antigenpräsentierende Zellen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine B-Zell-Toleranz gegenüber körpereigenen Antigenen. Hierbei werden unreife B-Zellen, die körpereigene Antigene erkennen, normalerweise permanent entfernt, um keine Autoimmunantwort hervorzurufen. Bei den Autoimmunerkrankungen versagen jedoch diese Kontrollmechanismen auf unterschiedlichen Ebenen, mit der Folge, dass sog. Autoantikörper gebildet werden, die auch bei unterschiedlichen rheumatischen Erkrankungen nachweisbar sind. Solche Erkrankungen mit Autoimmunkomponente sind signifikant mit bestimmten MHC- bzw. HLA-Allelen assoziiert (MHC: »major histocompatibility complex«; HLA: »histocompatibility leukocyte antigen«). Es konnten Krankheitsassoziationen bezüglich HLA-B27-Trägern nachgewiesen werden. Die HLA-Allele DR-4, DR-10 und DR-14 sind gehäuft in Kombination mit der rheumatoiden Arthritis zu finden. Die molekulare Ähnlichkeit zwischen mikrobielle Antigenen (z. B. Darmbakterien) und körpereigenen Zellen führt häufig zu einer Kreuzreaktion, durch die T-Zellen aktiviert und autoimmunpathologische Prozesse ausgelöst werden. Diese Mechanismen spielen bei einer Reihe rheumatischer Erkrankungen eine bedeutende pathogenetische Rolle.
17.3
Diagnostik rheumatischer Erkrankungen
17.3.1
Anamnese
Eine ausführliche Anamnese ist unerlässliche Voraussetzung für die Diagnose rheumatischer Erkrankungen. Entscheidend sind Fragen hinsichtlich des Beginns der Beschwerden, der Lokalisation, der ersten Beschwerdeanzeichen und eventueller Begleiterkrankungen, des Weiteren eine detaillierte Medikamentenanamnese und Fragen bezüglich der bisherigen Diagnostik und Therapie. Zusätzlich sollte berücksichtigt werden, dass sich rheumatische Erkrankungen auch oft außerhalb des Bewegungssystems manifestieren. In diesem Zusammenhang sind Fragen nach Hautveränderungen, Augenbeschwerden, Magen-DarmSymptomen und Muskelschwächen erforderlich. Es sollten zudem Herzbeschwerden und pektangiöse Zustände erfragt und entsprechend abgeklärt werden. Anamnestisch sind weiterhin Zeckenstiche, Fieber und Gewichtsverlust relevant. Bei der häufig in Zusammenhang mit der Erstmanifestation auftretenden Morgensteifigkeit sind deren Ausprägung und Dauer relevant. Typisch für Schmerzen in Assoziation mit einer
301 17.3 · Diagnostik rheumatischer Erkrankungen
Arthritis sind eine Schmerzverstärkung in Ruhe und ggf. eine Besserung während Bewegung, darüber hinaus eine morgendliche Betonung der Beschwerden und eine Morgensteifigkeit über meistens >15 min. Bei der Anamnese und der nachfolgenden Untersuchung sollte des Weiteren berücksichtigt werden, dass Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises einzelne Gelenke im Sinne einer Monoarthritis, 2–5 Gelenke im Sinne einer Oligoarthritis oder aber mehr als 5 Gelenke im Rahmen einer Polyarthritis befallen können. Die Schmerzen oder Beschwerden können den gesamten Körper betreffen. Als typische Erkrankung wäre in diesem Zusammenhang die Fibromyalgie zu nennen. Es ist jedoch auch eine Fokussierung auf den Schulter-Arm- bzw. Becken-Bein-Bereich möglich (Polymyalgie bei älteren Patienten).
17.3.2
Klinische Untersuchung
An der Wirbelsäule sind inspektorisch die Haltung und der Beckenstand, eine eventuelle Beinlängendifferenz sowie pathologisch vermehrte Krümmungen im Sinne einer vermehrten Kyphose oder Hyperlordose oder einer Skoliose zu beurteilen. Es erfolgen eine Palpation über den Dornfortsätzen sowie eine Überprüfung des Muskeltonus. Bei der Funktionsprüfung sind an der Wirbelsäule die Bewegungsausmaße nach Ott (Brustwirbelsäule) sowie Schober (Lendenwirbelsäule) zu überprüfen, darüber hinaus an der Halswirbelsäule der Kinn-JugulumAbstand und in Hinblick auf die gesamte Wirbelsäule der sog. Fingerspitzen-Fußboden-Abstand. ! Cave Bei anamnestischen Hinweisen auf eine Instabilität im Bereich der Halswirbelsäule muss die Funktionsprüfung unterbleiben.
Bei der klinischen Untersuchung der Gelenke ist inspektorisch auf Schwellungen, Fehlstellungen, Deformierungen und Rötungen zu achten, darüber hinaus auf eine gelenknahe Muskelatrophie oder periartikuläre Hautveränderungen. Bei der Palpation können Temperaturunterschiede im Seitenvergleich, ein Gelenkerguss sowie eine Schmerzhaftigkeit von Sehnenansätzen wichtige Hinweise liefern. Die Konsistenz der Gelenkkapsel ist zu beurteilen, des Weiteren evtl. auftretende Krepitationen unter Bewegung oder tastbare Osteophyten. Bei der Funktionsprüfung ist das Augenmerk auf einen Kompressionsschmerz zu richten, z. B. im Bereich der Finger- oder Zehengrundgelenke (Gaensslen-Zeichen; ⊡ Abb. 17.1). Es müssen die Muskelkraft, der Muskeltonus sowie die Stabilität und die Bandführung der Gelenke beurteilt werden.
Bei der Weichteiluntersuchung sind inspektorisch Ödeme, Schwellungen und Gelenkergüsse relevant, darüber hinaus Knoten (⊡ Abb. 17.2) und Verhärtungen, verdickte Sehnenscheiden und Schleimbeutel sowie sog. Triggerpunkte und »tender points«. Da sich die Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises häufig auch außerhalb des Bewegungssystems manifestieren können, ist eine kardiale, pulmonale sowie gastrointestinale Abklärung einschließlich Untersuchung von Milz und Leber zwingend erforderlich, des Weiteren eine Beurteilung des Lymphknotenstatus sowie eine Hautuntersuchung, um z. B. Psoriasisherde (⊡ Abb. 17.3), Erytheme, Rheumaknoten, Petechien oder Nagelveränderungen festzustellen. Zusätzlich sollten eine Untersuchung und eine Abklärung eventueller augenärztlicher Befunde und Auffälligkeiten erfolgen, außerdem eine neurologische Abklärung.
⊡ Abb. 17.1 Gaensslen-Zeichen mit Druckschmerzhaftigkeit der Fingergrundgelenke bei seitlicher Kompression
⊡ Abb. 17.2 Ausgeprägte Rheumaknoten bei einer Patientin mit rheumatoider Arthritis
17
302
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
⊡ Abb. 17.4 Magnetresonanztomogramm eines Kniegelenks (sagittal) mit großer Baker-Zyste bei rheumatoider Arthritis
⊡ Abb. 17.3 Typische Hautveränderungen bei Psoriasis
17.3.3
Labordiagnostik
Laborchemisch sind die Entzündungsparameter und hier insbesondere die Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und die Konzentration des C-reaktiven Proteins sowie Autoantikörper und Rheumafaktoren zu bestimmen.
17.3.4
17
Bildgebende Verfahren
Die bildgebende Diagnostik dient bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises der Beurteilung und der Stadienklassifikation des Gelenkbefalls, darüber hinaus der Indikationsstellung für operative Eingriffe und der Beurteilung ihrer Erfolgsaussichten. Das Standarddiagnostikum ist das Röntgenbild in 2 Ebenen zur Beurteilung der Erosivität einer Arthritis und des Ausmaßes degenerativer Veränderungen oder zum Ausschluss von Frakturen oder einer Osteomyelitis. Bei bestimmten Fragestellungen kann eine CT zusätzlich erforderlich sein (z. B. bei der Sakroiliitis). Darüber hinaus gibt die MRT im frühen Stadium der Arthritis wichtige Hinweise (⊡ Abb. 17.4). Sie kann Auf-
⊡ Abb. 17.5 Sonogramm eines Sprunggelenks mit ausgeprägter Synovitis und Erguss
schluss über Nervenkompressionssyndrome, Weichteilrupturen oder Abszesse geben. Zur Basisdiagnostik gehört zusätzlich die Arthrosonographie zur Beurteilung einer Synovitis, eines Ergusses, einer Tenosynovitis, einer Sehnenruptur oder einer Bursitis (⊡ Abb. 17.5). Zur Beurteilung und Klassifikation der Gelenk- und gelenknahen Veränderungen bei Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises hat sich die Klassifikation nach Larsen durchgesetzt. Dieser unterscheidet insgesamt 6 Stadien (⊡ Tab. 17.1).
303 17.4 · Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
⊡ Tab. 17.1 Klassifikation nach Larsen zur Beurteilung radiologischer Veränderungen bei rheumatischen Erkrankungen Grad
Veränderungen im Röntgenbild
0
Keine
1
Indirekte Veränderungen: Weichteilschwellungen, periartikuläre Osteoporose
2
Erosionen, beginnende Gelenkspaltverschmälerung
3
Mittelschwere Destruktionen und Gelenkspaltverschmälerung
4
Schwere Destruktionen und Gelenkspaltverschmälerung
5
Mutilierende Destruktionen
⊡ Abb. 17.6 Vollständig destruiertes Kniegelenk bei einem Patienten mit langjähriger rheumatoider Arthritis
17.4
Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
17.4.1
Entzündliche Gelenkerkrankungen
Zu den entzündlichen Gelenkerkrankungen gehören die rheumatoide Arthritis, die juvenile rheumatoide Arthritis und die Arthritis psoriatica.
Rheumatoide Arthritis z
Definition
Die rheumatoide Arthritis oder auch chronische Polyarthritis ist eine klassische Autoimmunerkrankung, die v. a. die Gelenke betrifft. Die Entzündungsschübe an der Synovialis treten zunächst häufig im Bereich der Hand- und Fingergelenke auf. Im fortgeschrittenen Stadium können auch weitere kleinere oder größere Gelenke befallen sein. Unbehandelt führt die rheumatoide Arthritis zu schweren Gelenkzerstörungen, die neben dem Gelenkknorpel auch den angrenzenden Knochen, die periartikulären Weichteile sowie Sehnenscheiden, Schleimbeutel und selten auch innere Organe (Herz, Lunge) befallen können. z
Epidemiologie
Es wird eine Inzidenz von 35–65/100.000 Einwohner/Jahr mit einer Prävalenz von 1% angegeben, wobei Frauen ungefähr 2- bis 3-mal häufiger erkranken als Männer. Das Haupterkrankungsalter liegt zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. Letztendlich kann sich die Erkrankung jedoch in jedem Alter manifestieren. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie dieser Autoimmunerkrankungen ist nur in Ansätzen bekannt, neben einer genetischen Disposition ist ein bestimmter HLA-Typ (HLA-DRB) häufiger und schwerer betroffen. Als auslösende exogene Faktoren werden Infekte (durch Viren und Bakterien) diskutiert. Bei der rheumatoiden Arthritis ist die Aktivierung der CD4+-T-Zellen von zentraler pathogenetischer Bedeutung. Die entzündlichen Proliferationen im Bereich der Synovialis führen zur Ausbildung eines sog. Pannus, der durch ein zunehmendes Wuchern der Synovialis auf den Gelenkknorpel mit nachfolgender Destruktion gekennzeichnet
ist. Die chronisch-entzündliche Erkrankung manifestiert sich durch einen schubweisen Verlauf mit letztendlich ausgeprägten destruierenden Veränderungen (⊡ Abb. 17.6). z
Klinik
Klinisch kann sich die rheumatoide Arthritis sehr unterschiedlich äußern. In einem ersten sog. Prodromalstadium imponieren zumeist unspezifische Symptome wie ein allgemeines Krankheitsgefühl, Antriebslosigkeit, rasche Ermüdbarkeit, ggf. subfibrile Temperaturen, flüchtige Gelenkschmerzen und eine flüchtige Gelenksteifigkeit. Darüber hinaus können ein Schwellungs- und ein Hitzegefühl im Bereich der Gelenke vorhanden sein. Im sich anschließenden Frühstadium entwickeln sich spezifische Symptome, die z. T. bereits konstant vorhanden sind. Hierzu gehören die Morgensteifigkeit und eine Weichteilschwellung bzw. eine Arthritis von 3 oder mehr Gelenken, wobei häufig die proximalen Interphalangealgelenke und die Metakarpophalangealgelenke im Handbereich betroffen sind. Eine symmetrische Schwellung der Gelenke, Rheumaknoten und ggf. ein Rheumafaktornachweis bei der Laboruntersuchung können ebenfalls vorhanden sein. Im Röntgenbild sind u. U. erste Erosionen und/oder gelenknahe osteoporotische Veränderungen zu erkennen. Im fortgeschrittenen Stadium können alle Gelenke befallen sein. Dies äußert sich klinisch in Form einer Schwellung oder Auftreibung der Gelenke. Es können zudem zunehmende Fehlstellungen mit Lockerung des Kapsel-Band-Apparats auftreten. Alternativ sind Ankylosen oder Subluxationen der Gelenke möglich. Bei über 30% der Patienten mit einer fortgeschrittenen rheumatoiden Arthritis ist die Halswirbelsäule mit befallen. Hier kann es neben sog. Spondylarthritiden zu Subluxationen im Bereich des atlantookzipitalen oder atlantoaxialen Gelenks kommen (⊡ Abb. 17.7), mit der Folge einer vertikalen Dislokation des Dens bis hin zur subaxialen Luxation. Klinisch äußern sich diese Veränderungen in unspezifischer Form als Nackenschmerz, Schwindel oder Parästhesien der oberen Extremitäten.
17
304
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
4. 5. 6. 7.
Symmetrische Schwellung bzw. Arthritis Rheumaknoten Rheumafaktornachweis Gelenknahe Osteoporose und/oder Erosionen in Fingeroder Handgelenken im Röntgenbild verifizierbar ▬ Symptome 1–4 müssen mindestens 6 Wochen lang vorhanden sein. ▬ Sicherer Nachweis einer rheumatoiden Arthritis: Mindestens 4 Kriterien müssen erfüllt sein.
Aktualisierte, gemeinsame Klassifikation der rheumatoiden Arthritis des American College of Rheumatology (ACR) und der European League of Arthritis and Rheumatism (EULAR)
▬ Gelenkbefall:
⊡ Abb. 17.7 Halswirbelsäule mit rheumatoidem Befall und Instabilität des atlantoaxialen Gelenks
17
An extraartikulären Manifestationen können – über knöchernen Prominenzen v. a. streckseitig – Rheumaknoten auftreten. Im Bereich des Herzens kann es zu einer Perikarditis oder Myokarditis kommen, an der Lunge zu einer Pleuritis. An der Niere ist eine Amyloidose oder Glomerulonephritis möglich, an den Augen eine Episkleritis. Insgesamt treten diese extraartikulären Manifestationen – mit Ausnahme von Rheumaknoten – vergleichsweise selten auf. Wenn die Symptome bei der rheumatoiden Arthritis länger als 6 Monate anhalten, ist von einem chronisch-progredienten Verlauf auszugehen, sofern keine spezifische Therapie eingeleitet wird. Allerdings sind Vorhersagen über den individuellen Verlauf erst nach längerer Beobachtung möglich. In 40–60% der Fälle wird eine schleichende Progression beobachtet, teilweise mit kurzen Teilremissionen. In 10–15% der Fälle verläuft die Erkrankung schnell progredient und bei 15–30% der Patienten chronisch-rezidivierend mit längeren Teil- und kurzen Vollremissionen. Rapide Verläufe zeigen sich v. a. bei Erstmanifestation im jungen sowie im höheren Alter.
– ein mittleres oder ein großes Gelenk betroffen: 0 Punkte – mehr als ein mittleres oder großes Gelenk betroffen – nicht symmetrisch: 1 Punkt – mehr als ein mittleres oder großes Gelenk betroffen – symmetrisch: 1 Punkt – 1–3 kleine Gelenke betroffen: 2 Punkte – 4–10 kleine Gelenke betroffen: 3 Punkte – >10 Gelenke einschließlich kleine Gelenke betroffen: 5 Punkte ▬ Serologie (Rheumafaktor und antizytoplasmatische Antikörper): – weder Rheumafaktor noch antizytoplasmatische Antikörper nachweisbar: 0 Punkte – Rheumafaktor oder antizytoplasmatische Antikörper in geringer Menge nachweisbar: 2 Punkte – Rheumafaktor oder antizytoplasmatische Antikörper in hoher Konzentration nachweisbar (>3fach positiv): 3 Punkte ▬ Dauer der Synovialitis: – <6 Wochen: 0 Punkte – >6 Wochen: 1 Punkt ▬ Parameter einer akuten Entzündung (Konzentration des C-reaktiven Proteins und Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit): – keiner der beiden Parameter auffällig: 0 Punkte – einer der beiden Parameter auffällig: 1 Punkt Innerhalb jeder der 4 Rubriken wird nicht addiert, sondern es zählt der jeweils höchste Punktwert. Die Addition dieser Punktwerte aller Rubriken ergibt einen Gesamtwert von 0–10. Ab einem Gesamtwert von >6 erfolgt die Klassifikation als definitive rheumatoide Arthritis.
Bisherige Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) zur Diagnose der rheumatoiden Arthritis 1. Morgensteifigkeit in mindestens einem Gelenk, die mindestens eine Stunde lang anhält 2. Weichteilschwellung bzw. Arthritis in 3 oder mehr Gelenkregionen 3. Schwellung bzw. Arthritis von mindestens einem Interphalangeal-, Metakarpophalangeal- oder Handgelenk ▼
Juvenile rheumatoide Arthritis Die juvenile rheumatoide Arthritis ist ein Sammelbegriff für chronische Arthritiden mit einer Dauer von >3 Monaten und einem Erkrankungsbeginn vor dem 16. Lebensjahr. Es werden 5 Subtypen unterschieden: ▬ Die Polyarthritis mit systemischem Beginn, die sog. systemische juvenile chronische Arthritis, wurde früher auch als Still-Syndrom bezeichnet. Betroffen sind zumeist Kinder
305 17.4 · Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
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bis zum 6. Lebensjahr. Die Polyarthritis mit systemischem Beginn hat einen Anteil von ca. 10% an der Gesamtheit der juvenilen rheumatoiden Arthritiden. Die seronegative Polyarthritis kann in der gesamten Kindheit auftreten. Von dieser Form sind Mädchen häufiger betroffen als Jungen. Sie hat einen Anteil von insgesamt 20% an den juvenilen rheumatoiden Arthritiden. Die seropositive Polyarthritis tritt im Kindes- und Jugendalter auf. Die Kinder sind meistens älter als 10 Jahre. Auch von dieser Form sind Mädchen häufiger betroffen als Jungen. Die Erkrankung ist vergleichsweise selten und hat einen Anteil von 3–5%. Von der frühkindlichen Oligoarthritis Typ I sind meistens Kinder bis zum 6. Lebensjahr betroffen. Bei dieser Form sieht man an extraartikulären Manifestationen oft eine Iridozyklitis. Die Oligoarthritis Typ I ist vergleichsweise häufig und hat einen Anteil von 40% an allen Formen der juvenilen Arthritis. Die HLA-B27-assoziierte Oligoarthritis Typ II wird vorrangig bei Jungen ab dem Schulalter gesehen. Oft besteht bei diesen Patienten eine Sakroiliitis. Es ist ein Übergang in eine Spondylitis ankylosans möglich. Der Anteil an den juvenilen rheumatoiden Arthritiden liegt bei ca. 25%.
⊡ Abb. 17.8 Befall im Strahl bei Psoriasisarthritis (klinisch und radiologisch)
Kinder mit Verdacht auf eine juvenile rheumatoide Arthritis sollten zur weiterführenden Diagnostik und Therapie an spezialisierte Kinderärzte oder Zentren überwiesen werden. Die Therapie ist mit derjenigen bei Erwachsenen vergleichbar. > Bei der juvenilen rheumatoiden Arthritis sollten Kortikosteroide allerdings, wenn möglich, vermieden werden, da ihre Applikation mit der Gefahr eines vorzeitigen Wachstumsstillstands einhergeht, sofern man die Schwelldosis überschreitet.
⊡ Abb. 17.9 Typische Nagelveränderungen (Krümelnägel) bei Psoriasisarthritis
Psoriasisarthritis z
Definition
Die Psoriasisarthritis stellt eine seronegative Arthritisform in Zusammenhang mit einer Psoriasis unterschiedlichen Ursprungs dar. Kennzeichnend sind erosiv-destruierende, z. T. proliferativ-osteoplastische Gelenkerkrankungen insbesondere der distalen Finger- und Zehengelenke (Befall im Strahl; ⊡ Abb. 17.8). Darüber hinaus kann es zu einer Arthritis von Wirbelgelenken und der Iliosakralgelenke kommen. z
Epidemiologie
Die Psoriasisarthritis hat eine Prävalenz von bis zum 0,2% und tritt bei bis zu 10% der Psoriasispatienten auf. Die Manifestation kann prinzipiell in jedem Alter erfolgen, es besteht jedoch ein Altersgipfel zwischen dem 30. und dem 40. Lebensjahr. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiopathogenetisch ist eine genetische Disposition für die Ausbildung einer Psoriasis mit einer entsprechenden familiären Häufung beschrieben. Exogene Faktoren wie virale oder bakterielle Infekte können ein Auftreten ebenso begünstigen wie eine Immunsuppression, z. B. bei HIV-infizierten Patienten.
z
Klinik
Klinisch dominiert zunächst das Bild der Hautveränderungen, nur in ca. 20% der Fälle tritt die Arthritis vor entsprechenden Hautveränderungen auf. Typisch sind Nagelveränderungen, gekennzeichnet durch eine Tüpfelung oder sog. Krümelnägel (⊡ Abb. 17.9). Gegebenenfalls gehen diese mit weißen Flecken im Bereich der Nägel bzw. mit Querrillen oder einer subungualen Keratose einher. Bezüglich des Gelenkbefalls besteht oft nur eine Arthralgie mit Befall eines oder weniger Gelenke (Mono- bzw. Oligoarthritis) im Bereich der Finger oder der Zehen. Oft ist ein schleichender Beginn mit periartikulären Schwellungen und Rötungen zu beobachten. Bei einem Befall mehrerer Gelenke spricht man von einer Daktylitis, bei einem Befall im Strahl imponieren sog. Wurstfinger oder -zehen. Darüber hinaus können große Gelenke wie Kniegelenke, Handoder Sprunggelenke betroffen sein. Prinzipiell ist ein Befall aller Gelenke möglich. In ca. 20% der Fälle sieht man eine Spondylitis. Die Patienten klagen in diesem Fall über Rückenschmerzen in Zusammenhang mit einer akuten Sakroiliitis. Im Bereich der Sehnenansätze kann es zu Enthesiopathien
17
306
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
kommen, z. B. an der Ferse oder an den Trochanteren. An viszeralen Manifestationen sind eine Iritis, eine Amyloidose sowie eine Myositis als seltene und z. T. schwerwiegende Begleiterkrankungen möglich. z
Diagnostik
Diagnostisch kennzeichnend für eine Psoriasisarthritis sind – neben einem entsprechenden Hautbefall – ein negativer Rheumafaktor, eine häufige Endgelenkbeteiligung sowie im Röntgenbild ein Nebeneinander von Knochenabbau (Gelenkflächenerosionen und Osteolysen) und Knochenanbau. z
Prognose
Bei der Psoriasisarthritis sind unterschiedliche Verläufe und Prognosen beschrieben. Neben schweren, mutilierenden Verläufen werden nicht selten auch Spontanremissionen oder schubweise Verläufe beobachtet.
17.4.2 z
Spondylarthritiden
Definition
Die ankylosierende Spondylitis (Synonym: M. Bechterew) stellt eine chronisch-entzündliche rheumatische Allgemeinerkrankung mit ankylosierenden und destruierenden Veränderungen am Achsenskelett dar (⊡ Abb. 17.10). Sie ist mit stammnahen oder peripheren Arthritiden und Enthesiopathien vergesellschaftet. Selten bestehen viszerale Manifestationen. z
Epidemiologie
Für die Spondylitis ankylosans wird eine Inzidenz von 7/100.000 Einwohner/Jahr beschrieben. Die Prävalenz liegt in der Gesamtbevölkerung bei bis zu 0,5%. Männer sind häufiger
betroffen als Frauen. In 80% der Fälle liegt das Manifestationsalter zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr. z
Ätiologie und Pathogenese
Neben einer genetischen Disposition besteht eine Assoziation mit dem HLA-B27-Antigenkomplex. Dieser kann bei bis zu 90% der Patienten nachgewiesen werden. Häufig besteht darüber hinaus eine positive Familienanamnese. Infektion mit Entero- oder Urogenitalbakterien werden als Auslöser diskutiert. z
KliniK
Klinisch imponieren als Frühsymptome dumpfe morgendliche Kreuzschmerzen und ggf. gürtelförmige Thoraxschmerzen, darüber hinaus Schmerzen im Sehnenansatzbereich. Oft gehen diese Beschwerden mit einer allgemeinen Müdigkeit, depressiven Verstimmungen, einem Gewichtsverlust und subfebrilen Temperaturen einher. Im fortgeschrittenen Stadium kann eine Sakroiliitis diagnostiziert werden, die häufig beiderseits besteht. Darüber hinaus kommt es zu einem veränderten Erscheinungsbild mit Abschwächung der normalen physiologischen Lendenwirbelsäulenlordose und ggf. Verstärkung der Brustwirbelsäulenkyphose (⊡ Abb. 17.11). Hüft- und Kniegelenke weisen u. U. eine zunehmende Beugekontraktur auf. Im Extremfall resultiert ein deutlich vornübergebeugter Gang. An extraartikulären Manifestationen wird – neben einer Iritis und einer Iridozyklitis – im fortgeschrittenen Stadium eine Beeinträchtigung der Lungenfunktion bis hin zum obstruktiven Emphysem beobachtet. Darüber hinaus kann es zu einer Einschränkung der Herzfunktion bei Aorteninsuffizienz oder Reizleitungsstörungen kommen. Häufig sind auch Darmentzündungen, eine Prostatitis oder eine Urethritis. z
Diagnostik
Das Röntgenbild ist typischerweise durch einen Wirbelkörperumbau mit Schwund der Wirbelkanten, Usuren und Sklerosierung der Randleisten gekennzeichnet. Die entzündlichen Veränderungen setzen hierbei von kaudal nach kranial ein. Im fortgeschrittenen Stadium bilden sich sog. Kasten- oder Tonnenwirbel. Diese knöcherne Überbrückung des Intervertebralraums führt zu dem klassischen Röntgenbild des Bambusstabs. Röntgen- oder CT-Bilder der Iliosakralgelenke können das sog. bunte Bild mit einem Nebeneinander von osteolytischen und osteosklerotischen Herden als Zeichen einer chronischen Sakroiliitis aufweisen (⊡ Abb. 17.12). Bei der körperlichen Untersuchung ist die Beweglichkeit der Wirbelsäule im fortgeschrittenen Stadium deutlich eingeschränkt. Dies äußert sich in einem reduzierten Schober- und Ott-Zeichen und einem erhöhten Fingerspitzen-Boden-Abstand. Durch den Befall der Kostotransversalgelenke resultiert eine reduzierte Exkursion des Brustkorbs mit Beeinträchtigung der Atmung.
17
a
b
⊡ Abb. 17.10a,b Röntgendarstellung der Lendenwirbelsäule in zwei Ebenen mit Syndesmophytenbildung bei Bechterew mit dem typischen Bild der »Bambusstab-Wirbelsäule«
z
Prognose
Der Verlauf der Spondylitis ankylosans ist sehr unterschiedlich. Prinzipiell kann es in jedem Stadium zu einem Stillstand kommen. Es werden jedoch auch stark progrediente Verläufe mit hoher Entzündungsaktivität und einer Totalversteifung be-
307 17.4 · Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
obachtet. Dabei wird mittels antiinflammatorischer Medikation und intensiver Krankengymnastik versucht, einer Einsteifung entgegenzuwirken.
17.4.3 z
Enteropathische Arthropathien
Definition
Bei den enteropathischen Arthropathien handelt es sich meistens um Oligoarthritiden in Zusammenhang mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, insbesondere dem M. Crohn und der Colitis ulcerosa. z
Ätiologie und Pathogenese
In ca. 20% der Fälle haben Patienten mit M. Crohn oder Colitis ulcerosa auch eine Arthritis. Der Altersgipfel liegt bei 20 bis 45 Jahren. Ätiopathogenetisch relevant sind in diesem Fall eine genetische Disposition sowie eine Autoimmunreaktion mit einer Kreuzreaktion mit dem entsprechenden enteralen Antigen. z
⊡ Abb. 17.11 Ausgeprägte Brustwirbelsäulenkyphose bei M. Bechterew mit vornübergebeugtem Gang
Klinik
In Bezug auf das klinische Bild dominieren die gastrointestinalen Beschwerden. Bei der Colitis ulcerosa ist dies zumeist ein akuter Beginn mit einem sog. Kolitisschub, häufig mit einer asymmetrischen Oligoarthritis oder Arthralgie oder ggf. einer begleitenden Spondylarthropathie einhergehend. Bevorzugt sind die großen Gelenke der unteren Extremität betroffen. Darüber hinaus werden Enthesiopathien im Bereich der Ferse oder des Kniegelenks beobachtet. Oft werden diese durch Hautveränderungen in Form eines Erythema nodosum begleitet. Beim M. Crohn wird oft ein subakuter Beginn beobachtet. Im Vergleich zur Colitis ulcerosa sind die Schübe weniger von der Aktivität der Darmerkrankung abhängig. Im Vordergrund steht zumeist eine Spondylarthropathie (Sakroiliitis) mit peripherer Oligoarthritis, wobei das Kniegelenk in bis zu 75%
a
⊡ Abb. 17.12 Sakroiliitis bei M Bechterew in röntgennologischer Darstellung und im Kernspin
b
17
308
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
der Fälle betroffen sein kann. Auch bei der mit dem M. Crohn assoziierten enteropathischen Arthropathie werden häufig Enthesiopathien beobachtet. z
Prognose
Hinsichtlich des Verlaufs und der Prognose zeigen die peripheren Gelenkbeschwerden meistens einen selbstlimitierenden Verlauf mit Remissionsphasen unterschiedlicher Dauer. Ein chronischer Verlauf ist eher selten. Im Gegensatz hierzu verläuft die Spondylarthropathie überwiegend chronisch als dauerhafte Sakroiliitis, teilweise kann sie in eine Spondylitis ankylosans übergehen.
17.4.4
17
Reaktive Arthritiden
Reaktive Arthritiden können para- oder postinfektiös auftreten. Infrage kommen insbesondere enteritische, urethritische und respiratorische Infekte. Bei den postenteritischen Infektionen dominieren diejenigen durch Yersinien, Salmonellen, Campylobacter spp. und Shigellen. Hingegen sind bei den posturethritischen Infektionen in erster Linie Chlamydien, Mykoplasmen und Ureaplasmen zu beobachten. Reaktive Arthritiden bei respiratorischen Infekten können durch Streptokokken und ebenfalls Chlamydien ausgelöst werden. Als Sonderform der reaktiven Arthritiden sind das rheumatische Fieber und die Lyme-Borreliose anzusehen; diese werden gesondert dargestellt. Die Chlamydienarthritis ist eine reaktive Arthritis nach urogenitalen oder respiratorischen Chlamydieninfekten. In 40– 60% der Fälle ist sie mit dem HLA-B27-Komplex assoziiert. Sie hat eine Inzidenz von 5/100.000 Einwohner/Jahr. Das sog. Reiter-Syndrom ist eine reaktive Arthritis, die nach urogenitalen und/oder intestinalen Infektionen auftreten kann. Es ist durch die Symptomtrias aus Arthritis, Urethritis und Konjunktivitis gekennzeichnet. Bei den postenteritischen Arthritiden dominieren als Erreger Yersinien, Campylobacter spp., Salmonellen und Shigellen. Sie haben eine geschätzte Inzidenz von 5/100.000 Einwohner/ Jahr mit einem Altersgipfel bei 20–30 Jahren. Das klinische Bild der reaktiven Arthritiden unterschiedlicher Genese weist deutliche Gemeinsamkeiten auf. Meistens handelt es sich um eine oligo- oder monoartikuläre Arthritis, wobei die unteren Extremitäten häufiger betroffen sind. Eine Sakroiliitis ist bei den reaktiven Arthritiden vergleichsweise selten, hingegen ist eine Spondylitis eher möglich. Auch im Rahmen der reaktiven Arthritiden können Enthesiopathien (z. B. Fersenschmerzen) auftreten. Darüber hinaus wird häufiger eine Augenbeteiligung im Sinne einer Konjunktivitis, Iritis oder Uveitis beobachtet. Nur ca. 30% der Patienten mit einer reaktiven Arthritis weisen vor Beginn der Arthritis klinisch Infektionshinweise auf. Aus diesem Grund sollte auch bei zuvor asymptomatischen Patienten an eine reaktive Arthritis gedacht werden. Hinsichtlich des Verlaufs und der Prognose kommt es meistens innerhalb von Monaten zur Ausheilung, allerdings werden auch Rezidive und chronische Verläufe beobachtet.
Lyme-Borreliose Die sog. Lyme-Borreliose oder Borrelienarthritis stellt eine Sonderform der reaktiven Arthritiden dar. Es handelt sich hierbei um eine sehr variable Arthritis, die nach einem Zeckenstich durch Borrelien ausgelöst wird. Das klinische Bild der Arthritis bei Lyme-Borreliose gliedert sich in insgesamt 3 Phasen von unterschiedlicher Dauer (⊡ Tab. 17.2). Diagnostisch von Bedeutung sind: ▬ Zeckenstich in der Anamnese ▬ vorausgegangene neurologische Erkrankungen (z. B. eine Meningoenzephalitis), die bis zu 2 Jahre vor Erstmanifestation der Arthritis vorgelegen haben können ▬ evtl. Hauterscheinungen in Form eines Erythema chronicum migrans Laborchemisch bestehen eine Erhöhung der Entzündungsparameter und der Nachweis von Borrelienantikörpern im Serum. Unter einer entsprechenden Therapie, insbesondere einer Antibiotikagabe mit Doxizyklin oder Ceftriaxon, kann es zu einer Vollremission der Beschwerden kommen. Auch Spontanremissionen sind häufig, hingegen sind rezidivierende chronische Verläufe seltener.
Reaktive Poststreptokokkenarthritis Das sog. rheumatische Fieber stellt eine akute, systemische, entzündliche Erkrankung des rheumatischen Formenkreises dar, die ca. 10–20 Tage nach einer Infektion der oberen Luftwege mit β-hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A auftritt. Hierbei kann das Vollbild eines rheumatischen Fiebers mit Karditis und/oder neurologischen Symptomen vorliegen oder eine reine, streptokokkenreaktive Arthritis ohne entsprechende Herzbeteiligung. Hinsichtlich der Ätiopathogenese ist eine Kreuzreaktion zwischen Streptokokken und humanen Gewebeantigenen von Bedeutung. Das klinische Bild kann in Abhängigkeit von den befallenen Organen variieren. Es sind eine Angina, eine Pharyngitis und eine Lymphadenitis sowie Fieber möglich. Nach einer Latenzzeit von 10–20 Tagen kann es dann zu einem erneuten Fieberanstieg bis auf >40°C mit entsprechend stark beeinträch-
⊡ Tab. 17.2 Stadien der Lyme-Borreliose Stadium
Kennzeichen
I
Dauer: Tage bis Wochen Erythema chronicum migrans im Bereich der Zeckenbissstelle Grippeähnliche Begleitsymptomatik einschließlich Kopf- und Nackenschmerzen sowie Myalgien
II
Dauer: Wochen bis Monate Neurologische und kardiale Manifestationen Ausbildung einer Arthritis oder von Enthesiopathien
III
Dauer: Monate bis Jahre Arthritis (mono- oder oligoartikulär; kleine und große Gelenke betroffen, am häufigsten das Kniegelenk) Myalgien Enthesiopathien
309 17.4 · Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
tigtem Allgemeinbefinden kommen. Hierunter entwickelt sich eine akute, schmerzhafte Polyarthritis, insbesondere der großen Gelenke, einschließlich Erguss, Rötung und Überwärmung. Gleichzeitig kann es zur Ausbildung eines sog. Erythema marginatum mit subkutaner Knotenbildung kommen. Selten beobachtet man die Ausbildung neurologischer Symptome im Sinne einer Chorea minor. Bei dem Vollbild des rheumatischen Fiebers wird darüber hinaus eine Karditis, evtl. mit Herzklappenbeteiligung und nachfolgender Herzinsuffizienz, beobachtet. Diagnostisch relevant sind der vorhandene oder stattgehabte Streptokokkeninfekt sowie eine entsprechende Erhöhung der Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und der Konzentration des C-reaktiven Proteins. Im Serum wird ein Antistreptolysintiter nachgewiesen, wobei ein Titer-Anstieg in Zusammenhang mit der Infektion entscheidend ist. Die Erkrankung heilt meist folgenlos aus. Eine evtl. vorliegende Karditis bestimmt hierbei die Prognose. Entscheidend für die Therapie der Grunderkrankung ist eine Antibiotikatherapie mit Penicillin, alternativ (bei Unverträglichkeit) mit Erythromycin.
Gelenke mit aseptischer Hüftkopfnekrose oder die Ausbildung einer Tenosynovitis bis hin zur Sehnenruptur zu beobachten. Darüber hinaus berichten die Patienten oft über fibromyalgieartige Beschwerden und Myositiden. Als wichtige extraartikuläre Manifestationen werden angegeben: ▬ Augenbeteiligung (in bis zu 5% der Fälle) ▬ Beteiligung des Zentralnervensystems (bis zu 50%) ▬ Glomerulonephritis (bis zu 70%) ▬ Vaskulitiden und Hautbeteiligungen (bis zu 40%) Die Diagnosesicherung erfolgt durch den Nachweis antinukleärer Antikörper, insbesondere des Anti-ds-(»double-strain«-) DNS-Antikörpers. Darüber hinaus besteht eine Erhöhung der Entzündungsparameter, die leicht- bis mäßiggradig ausgeprägt sein kann. Der systemische Lupus erythematodes ist durch eine variable Prognose gekennzeichnet. Dabei bestimmt die Schwere der frühen Organmanifestation die Gesamtprognose. Die 10Jahres-Mortalitätsrate liegt bei bis zu 20%.
Systemische Sklerose 17.4.5
Entzündliche Systemerkrankungen
Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Krankheiten, die sich in generalisierter Form vorzugsweise am Bindegewebe manifestieren und ähnliche morphologische Veränderungen zeigen. Zu den Kollagenosen im engeren Sinne gehören der systemische Lupus erythematodes, die Sklerodermie, die Polymyositis und die Dermatomyositis, das Sjögren-Syndrom und die Mischkollagenosen
Systemischer Lupus erythematodes Hierbei handelt es sich um eine chronisch-rezidivierende, entzündliche Systemerkrankung (Kollagenose) mit unterschiedlicher klinischer Symptomatik bei einer Autoantikörperbildung gegen Zellkernantigene (antinukleäre Antikörper). Es wird eine Inzidenz von bis zu 8/100.000 Einwohner/ Jahr bei einer Prävalenz von bis zu 50/100.000 Einwohner angegeben. Die Manifestation erfolgt häufig zwischen dem 16. und dem 50. Lebensjahr, wobei Frauen bis zu 9-mal häufiger betroffen sind als Männer. Die Ätiologie des systemischen Lupus erythematodes ist unbekannt. Neben dem primären Krankheitsbild wird eine arzneimittelinduzierte Form beobachtet (z. B. durch Penicillin oder Hydralazin). Bei der klinischen Manifestation können nahezu alle Organsysteme beteiligt sein. Das klinische Bild ist durch Allgemeinsymptome wie Abgeschlagenheit, rezidivierendes Fieber und Hautveränderungen im Sinne von Erythemen gekennzeichnet. Diese Erytheme treten häufig im Gesicht auf (Schmetterlingserythem). Ferner beobachtet man orale und nasale Aphthen und eine Fotosensibilität. Als häufige Initial- und/oder Spätsymptome können in bis zu 80% der Fälle Arthralgien und Arthritiden auftreten, oft im Sinne eines symmetrischen Befalls kleinerer Gelenke mit z. T. starker Schwellung, Rötung und Morgensteifigkeit. In seltenen Fällen ist ein Befall größerer
Die progressive Systemische Sklerose (PSS; Synonym: systemische Sklerodermie) gehört ebenfalls zum Formenkreis der entzündlichen Systemerkrankungen. Hierbei kommt es zu einer zunehmenden Fibrosierung des Bindegewebes und zu einer Sklerosierung der Haut (Sklerodermie). Des Weiteren werden häufig Gelenkbeteiligungen sowie zahlreiche Organmanifestationen beobachtet. Die Inzidenz wird mit bis zu 2/100.000 Einwohner angegeben, die Prävalenz mit bis zu 14/100.000 Einwohner. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Das Hauptmanifestationsalter liegt zwischen dem 30. und dem 50. Lebensjahr. Das klinische Bild wird durch ein zunehmendes Engegefühl der Haut sowie eine Atrophie und eine Sklerosierung (Straffung) von Hautpartien bestimmt. Oft beginnt die systemische Sklerose im Bereich der Hände und Finger. Hier kann es zum Auftreten von Raynaud-Phänomenen kommen, gekennzeichnet durch eine diffuse Veränderung ganzer Finger und evtl. mit einer Beugekontraktur sowie mit Nekrosen an den Fingerkuppen einhergehend (⊡ Abb. 17.13). Darüber hinaus fällt in fortgeschrittenen Stadien ein maskenhafter Gesichtsausdruck mit Mikrostomie auf. Des Weiteren kommt es zu Kalzifikationen in der Subkutis sowie in Sehnenscheiden und Gelenken. Gelenkbeschwerden treten in 30–60% der Fälle auf. Sie können akut oder schleichend verlaufen. Oft sind sie mit Schmerzen, Schwellung und Steifigkeit der kleinen Gelenke verbunden. Bei der systemischen Sklerose kommt es häufig zu einer Lungenfibrose (in bis zu 90% der Fälle), einer Myokardfibrose (bis zu 50%) sowie einer Nierenbeteiligung mit Niereninsuffizienz, renaler Hypertonie und Proteinurie (bis zu 40%). Als diagnostischer Nachweis gilt – neben den erhöhten Entzündungsparametern (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und Konzentration des C-reaktiven Proteins) – in 90% der Fälle der Nachweis antinukleärer Antikörper, wobei Anti-SCL70- sowie Anti-Zentromer-Antikörper pathogenetisch sind. Der Rheumafaktor ist in 20–30% der Fälle nachweisbar.
17
310
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
a
stimmt, einschließlich Fieber und proximaler Myalgien. Bei 2/3 der Patienten bestehen Kopfschmerzen. Die Temporalarterie kann druckschmerzhaft sein. Augenschmerzen, Sehstörungen und plötzliche Erblindung (Amaurosis fugax) sind ebenfalls möglich (ohne Therapie in 15–20% der Fälle). Darüber hinaus kann es zu Schlaganfällen und einer Multiinfarktdemenz kommen. Diagnostisch relevant sind – neben einer Erhöhung der Entzündungsparameter (Blutkörperchensenkungsgeschwindigkeit und Konzentration des C-reaktiven Proteins) – die Duplexsonographie der A. temporalis und die Biopsie der Arterie. Ohne Therapie können sich schwerwiegende vaskuläre Komplikationen entwickeln. Unter einer adäquaten Glukokortikoidtherapie (Prednisolon, initial nach Akuität 20–50 mg/Tag, als Erhaltungsdosis 5–10 mg/Tag) kommt es nicht selten innerhalb von 1–2 Jahren zu einem selbstlimitierenden Verlauf.
Polymyalgia rheumatica
b
⊡ Abb. 17.13a,b Typische Nagel- und Fingerendgliedveränderungen mit Nekrosen bei einer Patientin mit systemischer Sklerose
Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Im Frühstadium kann ein Versuch mit Interferon unternommen werden. In späteren Phasen haben vasoaktive Substanzen (Kalzitonin, Ilomedin) positive Wirkungen.
Vaskulitiden Die Vaskulitiden stellen eine Subgruppe der entzündlichen Systemerkrankungen dar. Orthopädisch relevant sind hier insbesondere die Riesenzellarteriitis und die Polymyalgia rheumatica.
17
Riesenzellarteriitis Bei der Riesenzellarteriitis handelt es sich um eine systemische Vaskulitis großer Gefäße (Aorta, Abgänge am Aortenbogen), die meist bei älteren Menschen auftritt. Morphologisch überwiegt eine monozytische Reaktion auf die namensgebenden multinukleären Langerhans-Riesenzellen. Die ebenfalls verwendeten Bezeichnungen »Arteriitis temporalis« bzw. »Arteriitis cranialis« bezieht sich auf eine häufige Lokalisation der Riesenzellarteriitis im Bereich der A. temporalis. In 40–60% der Fälle entwickeln die Patienten im weiteren Verlauf die Symptome einer Polymyalgia rheumatica. Das klinische Bild der Riesenzellarteriitis wird im Prodromalstadium häufig durch respiratorische Symptome be-
Bei der Polymyalgia rheumatica handelt es sich um eine entzündliche Multiorganerkrankung meist des älteren Menschen, die zum chronischen Verlauf neigt. Gekennzeichnet ist die Polymyalgia rheumatica durch symmetrische Schmerzen und eine Steifigkeit der stammnahen Muskulatur. Bei mindestens 20–50% der Patienten geht eine Riesenzellarteriitis voraus. Die Inzidenz der Polymyalgia rheumatica wird bei den über 50-Jährigen mit bis zu 70/100.000 Einwohner angegeben, wobei Frauen deutlich häufiger betroffen sind. Das klinische Bild ist durch einen plötzlichen Erkrankungsbeginn mit allgemeinem Krankheitsgefühl, depressiver Verstimmung, Gewichtsverlust sowie evtl. Fieber und Schweißausbrüchen gekennzeichnet. Es besteht eine ausgeprägte proximale Extremitätenmyalgie im Bereich des Schultergürtels, der Schulter-Nacken-Muskulatur und der Hüft-Becken-Region. Die Beschwerden sind durch konstante Ruheschmerzen und häufige nächtliche reißende Schmerzen gekennzeichnet. Darüber hinaus besteht eine oft mehrstündige Morgensteifigkeit. Die Muskelkraft ist initial meist nicht eingeschränkt. Im späteren Krankheitsverlauf kommt es aufgrund der Bewegungseinschränkung und der Muskelatrophie zu einer entsprechend reduzierten Muskelkraft. Bei frühzeitig eingeleiteter Therapie hat die Polymyalgia rheumatica eine gute Prognose. Die meisten Patienten werden kurzfristig schmerzfrei. Allerdings sollte die Glukokortikoidtherapie für 1–2 Jahre fortgesetzt und dann allmählich ausgeschlichen werden (Dosierung wie bei der Riesenzellarteriitis).
17.4.6
Arthropathien bei metabolischen Störungen
Gicht Die Arthritis urica beruht auf einer Hyperurikämie (>380 μmol/l) und imponiert meist als akute Monoarthritis. Sie kann jedoch in rezidivierende, z. T. chronisch-destruierende Arthropathien übergehen. Daneben sind sog. Gichttophi und eine Uratnephropathie bzw. Uratnephrolithiasis möglich.
311 17.4 · Differenzialdiagnostik und klinisches Bild
Die Gicht ist eine wichtige Stoffwechselerkrankung des rheumatischen Formenkreises – aufgrund ihrer Häufigkeit, ihres Zusammenhangs mit den kardiovaskulären Risikofaktoren des metabolischen Syndroms und ihrer vom Lebensstandard abhängigen Genese. Es wird eine Inzidenz von bis zu 300/100.000 Männer/Jahr beschrieben, Frauen sind bis zu 10-fach seltener betroffen. Als Risikofaktor gilt eine vermehrte Purinzufuhr (fleischund fettreiche Mahlzeiten) im Sinne einer sekundären Hyperurikämie. Diese Hyperurikämie kann asymptomatisch vorliegen und schleichend zu Gelenkveränderungen führen oder sich in Form eines akuten Gichtanfalls äußern. Hierbei handelt es sich in 90% der Fälle um eine akute, hochgradig schmerzhafte Monoarthritis mit intensiver Schwellung, Rötung und Druckdolenz. In der Hälfte der Fälle ist zuerst das Großzehengrundgelenk befallen (Podagra), daneben können aber auch die Sprung-, Mittelfuß- oder Zehengrundgelenke sowie das Kniegelenk betroffen sein. Insgesamt dominieren Beschwerden an der unteren Extremität. Polyartikuläre Erkrankungen sind initial vergleichsweise selten, können im späteren Krankheitsverlauf jedoch auch häufiger vorliegen. Bei der chronischen (tophösen) Gicht dominieren sog. Gichttophi als Uratablagerung mit Fremdkörperreaktion das Krankheitsbild. Es geht normalerweise eine Krankheitsdauer von 5–15 Jahren voraus. Diese Weichteiltophi treten im Bereich stoffwechselarmer Lokalisationen auf, z. B. an Füßen, Ohrmuscheln, Bursen und Sehnen sowie subkutan (alternativ, aber auch in Gelenknähe im Sinne einer destruierenden Arthropathie). > Häufig ist der Übergang in eine chronische Gicht vermeidbar, da die Gicht unter Allopurinolgabe bei guter Compliance des Patienten heilbar ist.
Chondrokalzinose Die Chondrokalzinose wird auch als Pseudogicht bezeichnet. Es handelt sich um eine Arthropathie durch Ablagerung von Kalziumpyrophosphat im Gelenkknorpel. Die Erkrankung verläuft oft asymptomatisch und ist ggf. nur radiologisch als Chondrokalzinose erkennbar. Die Chondrokalzinose kann jedoch auch im Sinne einer Pseudogicht oder einer chronischen Arthritis symptomatisch werden. Das klinische Bild der Chondrokalzinose ist bei ¼ der Patienten durch einen akuten Pseudogichtanfall gekennzeichnet. Dieser kann eines oder mehrere Gelenke betreffen und Tage bis Wochen persistieren. Meist sind hiervon die Knie- oder Handgelenke betroffen. Seltener befällt die Pseudogicht die Ellenbogen- oder Fußgelenke. Die Diagnose wird durch den Nachweis charakteristischer Kalziumpyrophosphatkristalle in der Synovialis gesichert.
17.4.7
Weichteilrheumatismus
Bei der Fibromyalgie oder dem sog. Weichteilrheumatismus handelt es sich um generalisierte Tenomyopathien mit entsprechend generalisierten Muskelschmerzen. Charakteristisch sind schmerzhafte Druckpunkte an Muskelansätzen sowie vegeta-
⊡ Abb. 17.14 »Tender points« bei Fibromyalgie
tive (Ermüdung, Schlafstörungen) und psychische Symptome (Depressivität, Angst). Die Prävalenz wird in der Literatur mit bis zu 3% angegeben, Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Das Manifestationsalter liegt zwischen dem 30. und dem 60. Lebensjahr. Das klinische Bild wird durch z. T. diffuse Schmerzen am ganzen Körper bestimmt, die insbesondere als Bewegungsschmerzen auftreten. Begleitet werden sie von Muskelschmerzen und multiplen druckschmerzhaften Punkten, den »tender points« (⊡ Abb. 17.14). Die Patienten sind leicht ermüdbar. Sie klagen über Schlafstörungen sowie funktionelle gastrointestinale und kardiale Beschwerden. Es bestehen zusätzlich Kopfschmerzen und Migräne sowie Depressionen und Angstzustände. Die Diagnosesicherung erfolgt neben der entsprechenden Anamnese durch die Druckschmerzhaftigkeit von mindestens 12 der insgesamt 24 definierten »tender points«. Die gängigen Laboruntersuchungen, insbesondere die Entzündungsparameter, sind meistens unauffällig. Die Fibromyalgie zeigt meistens einen chronischen Verlauf, eine teilweise Besserung wird nur bei 10–25% der Patienten beobachtet. Aufgrund des hohen Leidensdrucks und der Therapieresistenz besteht bei bis zu 40% der Patienten eine Arbeitsunfähigkeit. Die Therapie der Fibromyalgie ist schwierig. Ein individuelles und komplexes Therapieprogramm ist oft erforderlich. Muskelrelaxanzien sind nur selten wirksam.
17
312
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
17.5
Konservative Therapie
17.5.1
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie rheumatischer Erkrankungen wirkt primär entzündungshemmend und schmerzlindernd. Ein Teil der Antirheumatika (nichtsteroidale Antirheumatika) erzielt sowohl eine analgetische als auch eine kurzfristige antiinflammatorische Wirkung. Ein anderer Teil (Basistherapeutika, Immunsuppressiva, Biologicals) zielt auf eine mehr oder weniger verzögert einsetzende langfristige immunsuppressive oder immunmodulatorische Kontrolle der zugrunde liegenden Entzündungsreaktionen ab. Im Folgenden wird die medikamentöse Therapie nur in ihren Grundzügen dargestellt. Sie ist die Domäne der internistischen Rheumatologie. Neben den bekannten und bewährten Therapieregimes haben in den letzten Jahren neue Substanzen zunehmend an Bedeutung gewonnen, hier sind insbesondere die sog. Biologicals zu nennen.
Anwendungsgebiete der Glukokortikoide sind die entzündlichrheumatischen Erkrankungen, wenn eine schnelle und sicher eintretende Wirkung erwünscht bzw. erforderlich ist. Darüber hinaus kommen sie bei den Kollagenosen und den Vaskulitiden sowie bei der rheumatoiden Arthritis mit hoher Entzündungsaktivität und ausgeprägten Allgemeinsymptomen zum Einsatz. Die niedrigdosierte Prednisolontherapie (2,5–7,5 mg/Tag) gehört bei vielen Patienten mit rheumatoider Arthritis weiterhin zur Grundmedikation. Bei akuten Krankheitsschüben kann eine Stoßtherapie mit bis zu 100 mg/Tag kurzzeitig erforderlich sein. > Häufige Nebenwirkungen der Glukokortikoide wie Hypertonie, Ödemneigung, Hypernatriämie, Verschlechterung eines Diabetes mellitus, erhöhtes Ulkusrisiko sowie Ausbildung von Osteonekrosen und einer Osteopororse sind bekannt und müssen beachtet werden.
Basistherapeutika Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) Die nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) entfalten ihre Wirkung durch Hemmung der Biosynthese von Postaglandinen, Thromboxanen und Prostazyklinen, die ihrerseits wichtige Entzündungsmediatoren im entzündeten Gelenk darstellen. Sie finden insbesondere Anwendung bei: ▬ akuten Arthritiden, inklusive des Gichtanfalls ▬ rheumatoider Arthritis ▬ Spondylitis ankylosans ▬ aktivierten degenerativen Gelenk- und Wirbelsäulenerkrankungen
17
Darüber hinaus kann ein Therapieversuch mit NSAR bei weichteilrheumatischen Schmerzsyndromen unternommen werden. Zu nennen sind hier die unselektiven Cyclooxygenase(COX-)1- und COX-2-Hemmer, deren entzündungshemmende Wirkung über die COX-2-Inhibition abläuft ( Abschn. 7.1.3). Hingegen sind die Thrombozytenaggregation und die gastrointestinalen Nebenwirkungen eine Folge der COX-1-Hemmung. COX-1-Hemmer mit kurzer Halbwertszeit (<5 h) sind z. B. Ibuprofen (Tagesdosis: 800–2400 mg) und Diclofenac (Tagesdosis: 50–150 mg). Bekannte gastrointestinale Nebenwirkungen (bei bis zu 30% der Patienten) sind Magenschmerzen, Ulzera und Blutungen. Zentralnervöse Störungen äußern sich in Form von Kopfschmerzen, Verwirrtheit und Schwindel. Bei den selektiven COX-2-Hemmern (Coxibe) ist die Häufigkeit der gastrointestinalen Nebenwirkungen um bis zu 50% reduziert. Zwischenzeitlich wurden einige Präparate wegen der Zunahme kardiovaskulärer Ereignisse vom Markt genommen. Weiterhin finden u. a. Etoricoxib und Celecoxib Anwendung.
Glukokortikoide Die Glukokortikoide sind entzündungshemmende Substanzen, die zudem antiproliferativ und immunsuppressiv wirken. Sie entfalten ihre Wirkung durch: ▬ Bindung an zelluläre Glukokortikoidrezeptoren ▬ Verringerung der Bildung proinflammatorischer Zytokine ▬ Hemmung der Kapillardilatation und der Ödembildung
Basistherapeutika sind chemisch sehr unterschiedliche Substanzen, die den Verlauf einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung langfristig günstig beeinflussen und in Frühphasen chronischer Arthritiden eine Remission induzieren können. Der gewünschte Effekt tritt bei Ansprechen erst innerhalb von Wochen und Monaten auf. Ist nach einem halben Jahr keine Wirkung ersichtlich, sollte auf ein anderes Basistherapeutikum umgestellt werden. Generell wird die frühzeitige Therapie mit Basistherapeutika empfohlen, um einem Verlust an Gelenkknorpel vorzubeugen. Die Auswahl des Basistherapeutikums hängt von der entzündlichen Aktivität, der Prognose und dem Krankheitsbild ab. Bei unzureichender Monotherapie können Basistherapeutika kombiniert werden. Für die Kombination der Basistherapeutika werden in der Literatur unterschiedliche Kombinationsschemata empfohlen. Die Monotherapie mit Chloroquin eignet sich generell für Frühfälle der rheumatoiden Arthritis bzw. für Arthritiden mit geringerer Aktivität. In Frühstadien der rheumatoiden Arthritis bzw. in späteren Stadien mit leichter bis mittelschwerer Aktivität kann alternativ Sulfasalazin zum Einsatz kommen. Ein häufig verwendetes Immunsuppressivum zur Therapie der rheumatoiden Arthritis und der juvenilen chronischen Arthritis ist Methotrexat. Es entwickelt seine Wirkung durch Hemmung der Purinbiosynthese mit entzündungs- und proliferationshemmendem Effekt. Es gilt als Mittel der Wahl bei mittelschwerer bis schwerer rheumatoiden Arthritis. Bewährt hat sich eine niedrigdosierte Therapie mit 7,5–20 mg/Woche (einmal wöchentlich verabreicht). Durch die zusätzliche Gabe von Folsäure (5–10 mg) am Tag nach der Methotrexateinnahme können insbesondere die gastrointestinalen Nebenwirkungen reduziert werden. Als weitere Nebenwirkungen sind bekannt: ▬ Stomatitis ▬ Erhöhung der Leberenzymwerte ▬ Leberfibrose ▬ Haarausfall ▬ interstitielle Pneumonie
313 17.5 · Konservative Therapie
Weitere Immunsuppressiva, die in der Therapie rheumatischer Erkrankungen zum Einsatz kommen, sind Leflunomid, Azathioprin und Cyclosporin A. Sie gelten insbesondere als Reservemittel, wenn die Methotrexatgabe nicht erfolgreich oder kontraindiziert ist. Die früher häufig angewendete orale oder parenterale Goldtherapie ist heute aufgrund von z. T. schwerwiegenden Nebenwirkungen kaum noch indiziert. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass zur Therapie der rheumatoiden Arthritis häufig eine Kombinationsmedikation erforderlich ist. Kombinationen mit Methotrexat waren dabei in der Vergangenheit oft wirksamer solche ohne. Die Dreierkombination aus Methotrexat, Sulfasalazin und Hydroxychloroquin gilt als besonders effektiv. Auch Zweierkombinationen aus Methotrexat und Sulfasalazin sowie Methotrexat und Hydrochloroquin sind wirksamer als die Monotherapie. Bei therapierefraktärer Arthritis mit eindeutigen klinischen und laborchemischen pathologischen Veränderungen sowie ausgeschöpfter konventioneller Basistherapie stehen sog. Biologicals als Reservemittel zur Verfügung. Hierbei handelt es sich um Medikamente, die ihre Wirkung z. B. über eine Tumornekrosefaktor-α-Rezeptor-Blockade entfalten. Sie verfügen über eine hohe Ansprechrate und eine schnellen Wirkungsantritt. Allerdings ist die Therapie mit Biologicals teuer und kann mit Nebenwirkungen wie einer erhöhten Infektanfälligkeit, der Verschlechterung einer Herzinsuffizienz und einem erhöhten Lymphomrisiko einhergehen. > Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass alle in der medikamentösen Therapie rheumatischer Erkrankungen eingesetzten Substanzen und Medikamentengruppen über mehr oder weniger ausgeprägte und schwerwiegende Nebenwirkungen verfügen. Aus diesem Grund ist eine regelmäßige klinische und laborchemische Kontrolle in Abhängigkeit von den medikamentenspezifischen Nebenwirkungen zwingend erforderlich.
17.5.2
Physiotherapie
Bei den Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises ist die Maxime der Physiotherapie der Erhalt bzw. die Wiedererlangung der Beweglichkeit, der Kraft und der Muskelkoordination, um die Funktion der betroffenen Gelenke und Körperregionen zu verbessern und entsprechende Einschränkungen in der privaten sowie beruflichen Lebensführung der Patienten zu minimieren. Es ist hierfür eine kontinuierliche, der jeweiligen Situation angepasste Krankengymnastik erforderlich. Die früher durchgeführte Ruhigstellung von Gelenken ist obsolet. Nach Abklingen eines akuten Entzündungsschubs ist eine tägliche, passive, assistierte und später zunehmend aktive Physiotherapie erforderlich. Der Patient muss nach Anleitung durch den Krankengymnasten ein auf sein persönliches Krankheitsbild und seine Einschränkungen abgestimmtes Selbstübungsprogramm durchführen, das in regelmäßigen Abständen durch einen erfahrenen Physiotherapeuten überprüft wird.
> Wichtig ist, dass die Krankengymnastik so an den individuellen Patienten angepasst wird, dass sie nicht zu einer Verstärkung der Entzündungs- und Schmerzsituation führt.
Eine mobilisierende Krankengymnastik sollte so lange Priorität haben, wie dadurch eine Funktionsverbesserung zu erwarten ist. Instabile oder zur Instabilität neigende Gelenke sollten mit einer stabilisierenden Krankengymnastik beübt werden. Die Krankengymnastik muss darüber hinaus die Belastbarkeit des Patienten insgesamt berücksichtigen, da sich die rheumatoide Arthritis nicht selten zusätzlich im Bereich von Herz, Lunge oder Gefäßen manifestiert. Eine detaillierte Darstellung und Beschreibung der verschiedenen Techniken erfolgt in Kap. 9.
17.5.3
Physikalische Therapie
Die physikalische Therapie repräsentiert in der Behandlung der rheumatischen Erkrankungen eine der 5 Säulen der Rheumatherapie. Neben der physikalischen Therapie zählen dazu: ▬ medikamentöse und operative Behandlung ▬ Erlernen psychologischer Strategien zur Krankheitsbewältigung ▬ Maßnahmen zur beruflichen und familiären Integration Die physikalische Therapie bildet dabei mit den beiden letztgenannten Säulen die Rehabilitation im eigentlichen Sinne. Die Ziele der physikalischen Therapie können gelenkbezogen oder auf das gesamte Bewegungssystem ausgerichtet sein. Bei der gelenkbezogenen Therapie steht die Reduktion der Entzündungsaktivität und des Schmerzes im Vordergrund. Die physikalische Therapie umfasst hierbei alle konservativen Behandlungsverfahren, deren entscheidende Wirkung durch die Applikation von physikalischen Reizen auf den menschlichen Organismus erreicht wird. Im Wesentlichen sind dies bei den rheumatischen Erkrankungen mechanische, thermische und elektrische Reize. Die Domäne der Massage ist die Behandlung der Begleitreaktionen der Gelenkentzündung in Form eines muskulären Hypertonus mit Sehnenansatzschmerzen. Hier kann eine detonisierende Massage ebenso sinnvoll sein wie eine Querfriktion bei lokalisierten Sehnenansatzschmerzen. Als Alternative bietet sich die Ultraschallbehandlung an, die ebenfalls lokal mechanisch wirkt, aber nicht schmerzhaft-reizend ist. Eine kurzzeitige Kälteapplikation führt durch Reizung der Kälte- und Schmerzrezeptoren der Haut zu einer Entzündungs- und Schmerzminderung und hat somit bei Patienten mit rheumatoider Arthritis einen positiven Effekt. > Im Gegensatz zur Kälte erscheint die Zufuhr von Wärme auf ein entzündlich gereiztes Gelenk im Allgemeinen nicht sinnvoll. Je aktiver eine rheumatoide Arthritis ist, desto weniger ist die Wärmetherapie indiziert.
Die Elektrotherapie wird bei Rheumapatienten ebenfalls zur Schmerzlinderung und weniger zur Verbesserung der Muskel-
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314
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
kraft eingesetzt. Falls sich Stanger-Bäder aufgrund kardialer Begleiterkrankungen oder Manifestationen der rheumatoiden Arthritis verbieten, sind 2- oder 4-Zellen-Bäder indiziert. Die einzelnen Techniken der physikalischen Therapie werden in Kap. 9 umfassend dargestellt.
17.5.4
Ergotherapie
Bei Patienten mit einer rheumatischen Erkrankung sind die Ziele der Ergotherapie die Erhaltung einer größtmöglichen Eigenständigkeit sowie das Aufzeigen von Hilfestellungen zur Bewältigung der Erkrankung. Die Ergotherapie stellt hierbei das Bindeglied zwischen Krankengymnastik und beruflicher Rehabilitation dar. Die funktionelle Ergotherapie ist eine Trainingsbehandlung mit einem Arbeitsmittel (z. B. Kufenwebstuhl, Hochwebstuhl, Fahrradsäge, Makramee). Sie hat die Stabilisation der durch die Krankengymnastik erreichten Gelenkfunktion und das Auftrainieren der zugehörigen Muskulatur zum Ziel. Des Weiteren stellt sie eine wichtige krankengymnastische Therapieerweiterung dar, die nach Einübung zu Hause selbstständig weitergeführt werden kann. Neben dieser Form der funktionellen Ergotherapie sind Gelenkschutzinformationen, eine Hilfsmittel- und Schienenversorgung sowie ggf. eine Arbeitsplatzadaptation weitere, für Patienten mit rheumatischen Erkrankungen notwendige Behandlungsformen.
17.5.5
17
Injektionen
In denjenigen Fällen, in denen die medikamentöse und physikalische Therapie ausgereizt ist, sollten zusätzliche lokale Maßnahmen in Erwägung gezogen werden. Am Anfang dieser lokalen, invasiven Maßnahmen steht i. d. R. der Versuch, die Aktivität des Entzündungsprozesses durch intraartikuläre Injektionsbehandlungen zu beeinflussen. Die Indikation zur Behandlung mit Kortikosteroiden ist bei der rheumatoiden Arthritis mit mono- und oligoarthritischem Befall ebenso gegeben wie bei der Spondylitis ankylosans und den seronegativen Spondylarthritiden. Weitere Indikationen sind die exsudativen Formen der Arthritis bei Gicht, Chondrokalzinose und aktivierter Arthrose. In Zusammenhang mit der Injektionsbehandlung ist das gewonnene Punktat von großer Bedeutung. Es muss eine Synoviaanalyse erfolgen, um die Diagnose zu sichern und aus der Zusammensetzung des Punktats evtl. weitere Schlüsse zu ziehen. Floride Affektionen und rezidivierende Ergussbildungen stellen vorrangig Indikationen zur intraartikulären Kortikoidtherapie dar, um den Exsudationsprozess lokal zu bekämpfen. Wegen der bestehenden Gefahr iatrogener Infektionen sind die sterilen Kautelen strengstens zu beachten. > Bei der Auswahl der Kortisonpräparate muss darauf geachtet werden, – wenn überhaupt – möglichst geringe Kristallgrößen zu verwenden, um jede mechanische Irritation der Gelenke zu vermeiden.
Systemisch sind nach intraartikulärer Injektion bei Diabetes mellitus Blutzuckerspiegelentgleisungen möglich. Störungen im Elektrolytstoffwechsel sowie das Auftreten von Ulzera im Magen-Darm-Bereich sind absolute bzw. relative Kontraindikationen. Trotzdem ist die intraartikuläre Kortisontherapie im Bereich der Rheumaorthopädie ein wichtiges therapeutisches Instrument, da bei ausgeprägtem polyartikulären Befall und hoher Aktivität oftmals Prioritäten in der operativen Behandlung gesetzt werden müssen. Kontraindiziert ist die Injektionstherapie mit Kortikoiden auf jeden Fall im Vorfeld geplanter operativer Intervention (Latenz von 3 Monaten bei künstlichem Gelenkersatz); sie führt hier bei Implantation von Endoprothesen oder auch bei präventiv durchgeführten Synovektomien zu einer erhöhten Infektionsgefährdung. Gelingt es nicht, nach 2- bis 3-maliger intraartikulärer Injektion eine lokale Verringerung des Entzündungsprozesses zu erreichen, ist – wiederum mit 3-monatigem Abstand – eine Chemo- oder Radiosynoviorthese angezeigt.
17.5.6
Synoviorthesen
Das Ziel der intraartikulären Synoviorthese ist die Verödung der Gelenkinnenhaut mittels chemischer oder radiologisch aktiver Substanzen. Bei der chemischen Synoviorthese mit Natrium-Morrhuat kommt es unmittelbar nach der Injektion zu einer heftigen Reaktion mit starker Schwellung, Ergussbildung, Rötung und Hyperthermie. Das Erscheinungsbild ist das einer massiven entzündlichen Reaktion. Aus diesem Grund sollte der Injektion ein Lokalanästhetikum zugesetzt werden. Die postoperativ durchgeführte Synoviorthese dient der Beseitigung von Synoviaresten, die mechanisch-operativ nicht ausgeräumt werden konnten. Nach operativer Synovektomie hat sich eine Synoviorthese 6 Wochen nach dem operativen Eingriff bewährt. Als Kontraindikation der Synoviorthese gelten die späten Stadien mit Usurenbildung an der Knorpel-Knochen-Grenze. Ferner stellt die Behandlung des Hüftgelenks per se eine Kontraindikation dar – wegen der extrem starken Kapselverhältnisse kann der hier intraartikulär auftretende Druck nicht ausreichend abgebaut werden. Bei der Radiosynoviorthese werden als Radiopharmaka Substanzen verwendet, die eine β-Energie abgeben. Sie sind in der Lage, das Synovialgewebe zu penetrieren, verbleiben aber weitgehend selektiv in diesem Gewebe und wirken nicht knochenzerstörend. An den großen Gelenken kommen Ytrium-90 sowie Renium-186 zum Einsatz, für kleinere Gelenke wird Erbium-169 verwendet. Der Nachweis frühzeitiger degenerativer Veränderungen in den behandelten Gelenken sowie von Neoplasien konnte nicht mit Sicherheit geführt werden. Allerdings beträgt die Eindringtiefe nur wenige Millimeter, wodurch die z. T. unbefriedigenden Ergebnisse zu erklären sind. Als absolute Kontraindikation wird die Behandlung von Frauen im gebärfähigen Alter angesehen. Darüber hinaus sollte die Altersgrenze von Patienten prinzipiell über 35 Jahren liegen.
315 17.6 · Operative Therapie
17.6
Operative Therapie
17.6.1
Wirbelsäule
Wegen ihrer typischen entzündlich-destruierten Gelenkveränderungen wird die Halswirbelsäule auch als 5. Extremität des Rheumatikers bezeichnet (Gschwend 1977). Ein Mitbefall der Halswirbelsäule bei Rheumatikern ist bei hoher Krankheitsaktivität während der ersten 5 Jahre, höherem Lebensalter und stärkerer Erosion der peripheren Gelenke wahrscheinlich. Gleichwohl sind die Prognose und die Indikation zum operativen Vorgehen oft schwer abzuschätzen. Grauer et al. (2004) präsentieren in einer retrospektiven Studie Röntgenparameter, anhand derer sich das Auftreten von myelopathischen Komplikationen voraussagen lässt. Die atlantoaxiale und die subaxiale Subluxation sowie die basiläre Impression werden als die 3 charakteristischen Manifestationen der zervikalen Instabilität beschrieben. Die Verwendung des
⊡ Tab. 17.3 Indikationen für verschiedene bildgebende Verfahren zur Untersuchung der Halswirbelsäule
a
Verfahren
Indikationen
Nativröntgenuntersuchung
Röntgenfunktionsaufnahmen als Basisdiagnostik unersetzlich
CT
Darstellung von Ankylosierungen und Fusionen von Bandscheibenfächern Beurteilung von knöchernen Stenosen und intraspinalen Raumverhältnissen
MRT
Frühzeitige diagnostische Möglichkeiten Darstellung inflammatorischer und weichteiliger Prozesse, die den nativradiologisch nachweisbaren Veränderungen vorausgehen
b
vorderen atlantodentalen Abstands als zuverlässigen prädiktiven Aussagewert wird von den Autoren bezweifelt. Eine differenzierte Darstellung zur Indikation der derzeit verfügbaren bildgebenden Diagnostik der Halswirbelsäule bei rheumatoider Arthritis geben Göttsche et al. (2004). Neben der Basisröntgendiagnostik mit den häufigsten pathomorphologischen Befunden werden die Indikationsmöglichkeiten der Schnittbildverfahren in Abhängigkeit von der klinischen Fragestellung aufgeführt (⊡ Tab. 17.3). Die Röntgenuntersuchung der Halswirbelsäule dient weniger der Diagnosesicherung der rheumatoiden Arthritis als vielmehr dem Erfassen therapierelevanter Komplikationen im langjährigen Verlauf. Die Domäne der CT liegt in der Darstellung knöcherner Details, die MRT ermöglicht hervorragende weichteilige Differenzierungen. Unter den in ⊡ Tab. 17.3 aufgeführten Gesichtspunkten kann die Entscheidung für das der Fragestellung am besten genügende Verfahren getroffen werden. Zur postoperativen Verlaufskontrolle dient die Röntgenuntersuchung als Routinediagnostik. Zur genauen Abklärung von Komplikationen kommen auch hier Schnittbildverfahren zum Einsatz. Neben der Beschränkung der Verfahren durch eine etwaige MRT-Inkompatibilität des Implantats richtet sich die Wahl der Methodik nach der Notwendigkeit einer nur mittels MRT möglichen Darstellung des zervikalen Myelons. Ansonsten wird die CT bevorzugt. Aufgrund der potenziellen Komplikationsmöglichkeiten hinsichtlich myelopathischer Schädigungen ist die Stabilisierung der Halswirbelsäule bei Patienten mit rheumatoider Arthritis von besonderer Bedeutung (⊡ Abb. 17.15). Grob (2004) beschreibt in einem Übersichtsartikel die pathoanatomischen Veränderungen, die diagnostischen Möglichkeiten sowie die generell zur Verfügung stehenden operativen Optionen. Der typische pathologische Ablauf beginnt mit einer translatorischen Instabilität des atlantoaxialen Gelenks. Eine im weiteren Verlauf
⊡ Abb. 17.15a,b Zustand nach atlantoaxialer Stabilisierung bei rheumatoider Arthritis
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17
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
folgende vertikale Instabilität – bedingt durch ein Hochsteigen des Dens axis – kann die im Rahmen der basilären Impression beschriebene myelopathische Symptomatik verursachen. Bei Befall der unteren Halswirbelsäule drohen subaxiale Luxationen sowie Antero- bzw. Retrolisthese und Kyphoskoliose der gesamten Halswirbelsäule. Klinische Veränderungen des Patienten sind auf ihre eventuelle Kausalität bezüglich myeolopathischer Schädigungen zu überprüfen. Hierfür sind regelmäßige neurophysiologische Untersuchungen und eine konventionelle Röntgendiagnostik erforderlich. Die Röntgenaufnahmen sind in Flexion und Extension anzufertigen. Schmerzen und Funktionsverluste gelten als die wichtigsten Indikationen zur Durchführung eines operativen Eingriffs. Der Zeitpunkt des Eingriffs ist insofern wichtig, als dass z. B. die frühe Stabilisierung zwischen C1 und C2 ein Sistieren der Krankheitsprogression erwarten lässt und sich somit aufwendigere und risikoreichere Operationen erübrigen. Als mögliches Verfahren der atlantoaxialen Stabilisation wird die dorsale transartikuläre Verschraubung nach Magerl mit gleichzeitiger Anbringung eines Knochenspans nach Gallie beschrieben. Als positiv wird die geringe Pseudarthroserate angeführt; die Operationstechnik wird als anspruchsvoll bewertet. Eine Alternativmethode stellt die sagittal ausgerichtete Fixation dar, die in ähnlicher Methodik in den distalen Anteilen der Wirbelsäule durchgeführt wird. Aussagekräftige Studienergebnisse liegen noch nicht vor. Um eine Anschlussinstabilität durch Dekompensation der noch freien Segmente zu vermeiden, wird die okzipitozervikale Fusion als langstreckige Versteifung mit Einschluss der oberen Brustwirbelsäule trotz daraus resultierender Bewegungseinschränkung empfohlen. Bei ventraler Kompression neurologischer Strukturen wird die transorale Dekompression als Verfahren der Wahl angeführt. Ist eine Densresektion notwendig, erfordert dies eine mehr oder weniger ausgeprägte Resektion des vorderen Atlasbogens. Die erforderliche Osteosynthese des Atlasbogens sollte aufgrund des erhöhten Infektionsrisikos des transoralen Zugangs von dorsal erfolgen. Wird die Dekompression von dorsal durchgeführt, erfolgt sie als Laminektomie von C1 und C2 mit begleitender Fusion der entstandenen Instabilität Operationen an der unteren Halswirbelsäule werden durch die osteoporotische Knochenstruktur erschwert. Bei der Notwendigkeit einer ventralen Dekompression wird der Knochendefekt nach der Korporektomie durch einen Beckenkammspan oder ein Implantat ersetzt. Eine zusätzliche dorsale Stabilisation ist notwendig. Auch bei Durchführung einer Laminektomie sind eine zusätzliche Instrumentation und eine Fusion notwendig. Die dorsale Stabilisierung erfolgt als Instrumentierung der Massae laterales, alternativ kann eine pedunkuläre Fixation erfolgen. Das Für und Wider einer frühen oder späten operativen Intervention wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Die Befürworter der abwartenden Haltung fordern das Auftreten progredienter Myelopathien bzw. therapierefraktärer Schmerzen. Die Befürworter einer schnellen Intervention argumentieren mit der positiven Beeinflussung des Krankheitsverlaufs und den erschwerten Operationsbedingungen bei Fortschreiten der Destruktionen.
Kothe et al. (2004) befürworten die atlantoaxiale Fusion nach Ausschluss einer vertikalen Instabilität bei einer vorderen atlantoaxialen Distanz von >8 mm, vorzugsweise in Form der transartikulären Verschraubung nach Magerl. Alternativ kann eine direkte Verschraubung von C1 und C2 erfolgen. Bei beiden Verfahren ist die Knochenqualität zu berücksichtigen, außerdem die mögliche Gefährdung der A. vertebralis. Ein Ausweichverfahren stellt die sublaminäre Fixation mit Drähten oder Kabeln dar. Die geringe biomechanische Stabilität bedeutet eine erhöhte Gefahr der Pseudarthrosebildung und des Repositionsverlusts. Die Indikation zur okzipitozervikalen Fusion sehen Kothe et al. (2004) bei vertikaler Instabilität oder Destruktion des Gelenks zwischen C0 und C1. Das mögliche Auftreten einer subaxialen Anschlussinstabilität begründet die meist langstreckig durchgeführte zervikale Fusion, die sich bis zur Brustwirbelsäule erstreckt. > Bei kurzstreckigen Fusionen sollte eine physiologische Stellung des kraniozervikalen Winkels erreicht werden, da eine vermehrte Kyphose das Auftreten einer Anschlussinstabiliät begünstigt. Ein zusätzliches ventrales Vorgehen ist selten notwendig.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Indikation zur Operation der Halswirbelsäule des Rheumatikers einzelfallbezogen bleibt und im Wesentlichen auf der Bewertung des erfahrenen Operateurs beruht. Prinzipiell lässt sich feststellen, dass die aufgezeigten radiologischen Parameter wegweisend sind, um einer drohenden oder manifesten Myelopathie zu begegnen und die Instabilität zu beseitigen. Die hohe Primärstabilität der transpedikulären Fixation steht dem Risiko der Nervenwurzelschädigung und der Verletzung der A. vertebralis, insbesondere in Höhe C3–C5, gegenüber. In diesem Bereich sind die anatomischen Gegebenheiten für die Verschraubung deutlich ungünstiger. Eine Navigationsunterstützung bringt zusätzliche Sicherheit. Ganz grundsätzlich sollte die transpedikuläre Fixation in diesem Bereich in den Händen eines erfahrenen Wirbelsäulenchirurgen liegen. Stets zu bedenken sind die ungünstige Knochenqualität des Rheumatikers sowie das häufigere Auftreten von Anschlussinstabilitäten aufgrund der insgesamt ungünstigeren Weichteilverhältnisse. Im Gegensatz zur Halswirbelsäule werden die diskovertebralen Verbindungen der Lenden- und Brustwirbelsäule sowie die Wirbelbogengelenke nur relativ selten von der rheumatoiden Arthritis befallen. Im Verlauf der Spondylitis ankylosans kann es jedoch zu einer erheblichen Kyphosenbildung der Wirbelsäule kommen. Hierdurch kann der Patient unter Umständen sogar den Blickkontakt mit seinem Umfeld verlieren. In diesem Fall sind Aufrichtungsosteotomien angezeigt. Bei der Totalkyphosierung der Brust- und Lendenwirbelsäule ist die Osteotomie im dorsolumbalen und lumbalen Bereich vorzunehmen. Bei den sehr hochsitzenden Kyphosen wird die zervikothorakale Osteotomie, die zuerst von Mason-Urist beschrieben wurde, angewandt. Sie ist aber in den seltensten Fällen als alleinige Methode ausreichend, um die Wirbelsäule wieder zu balancieren; in der Regel erfolgt sie zusätzlich zur lumbalen Osteotomie.
317 17.6 · Operative Therapie
Bei der Globalkyphosierung der Wirbelsäule wird heute vorzugsweise die von Zielke im Jahre 1983 beschriebene Multisegmentaltechnik mit mehrsegmentalen lumbalen Osteotomien angewandt. Hierbei wird die Korrektur – über mehrere zu schließende Osteotomien – auf viele Segmente verteilt. > Diese Form der aufrichtenden Osteotomien im Bereich der Wirbelsäule sollte allerdings nur in speziellen Wirbelsäulenzentren erfolgen, von denen in einem hohen Prozentsatz über gute und sehr gute Ergebnisse nach Aufrichtungsosteotomien berichtet wird. Hierdurch lässt sich für den betroffenen Patienten eine entscheidende Steigerung seiner Lebensqualität im Alltag erzielen.
17.6.2
Schulter, Ellenbogen und Hand
Schulter Smith et al. (2006) geben mit ihrer Untersuchung von 16 Schultern nach arthroskopischer Synovektomie nach Ausschöpfen aller medikamentösen Möglichkeiten erstmals eine Einschätzung zu diesem Operationsverfahren bei Rheumatikern ab. Sie berichten bei 16 Schultern mit rheumatischer Synovialitis bei intakter Rotatorenmanschette ohne andere Gelenkpathologien über eine hochsignifikante Schmerzreduktion und eine signifikant verbesserte Außenrotation (durchschnittlich 5 Jahre postoperativ). In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass eine radikale offene Synovialektomie am Schultergelenk rein technisch nicht möglich ist. Die Indikation zur arthroskopischen Synovektomie sollte bis zum Stadium Larsen III gestellt werden. An der Schulter besteht – neben den teilweise ausgeprägten knöchernen glenohumeralen Destruktionen – im fortgeschrittenen Stadium der rheumatoiden Arthritis oft das Problem der nicht rekonstruktionsfähigen Rotatorenmanschette. Hieraus resultieren erhebliche Probleme und Funktionseinschränkungen
a
b
bei den Aktivitäten des täglichen Lebens. Der Verlust der Rotatorenmanschette steht der Versorgung mit einer konventionellen Schulterprothese oft entgegen. Vorteilhaft sind sog. bipolare Prothesensysteme, z. B. nach dem Duokopfprinzip (Typ MVS; ⊡ Abb. 17.16). Ihre Funktion beruht auf einer Verbesserung des Hebelarms des Deltamuskels durch Lateralisierung und Kaudalisierung des Humeruskopfdrehzentrums. Diese Systeme können die präoperativ meist nahezu aufgehobene Beweglichkeit im Schultergelenk verbessern und führen zu einer deutlichen Schmerzreduktion. Alternativ besteht die Möglichkeit zur Versorgung mit sog. inversen Prothesen, die das Rotationszentrum des Glenohumeralgelenks lateralisieren und so – trotz defekter Rotatorenmanschette – unter vermehrtem Einsatz des Deltamuskels eine Abduktion im Schultergelenk erlauben. Durch die prothetische Versorgung der Schulter bei fortgeschrittener Destruktion kann eine gute Steigerung der Funktionsfähigkeit der Schulter erzielt werden, insbesondere bei den Beanspruchungen im Alltag. Die zementfreie Verankerung ist bei Schulterprothesen wegen der Lockerungsgefahr nicht weit verbreitet. Auch wenn die Verankerung bei aufwendiger Präparation des Oberarmschafts vergleichbar gut ist, besteht bei einem Prothesenwechsel eine erhöhte Frakturgefahr, wenn eine teilweise Osteointegration vorliegt. > Für die spezielle Versorgung des Rheumatikers ist herauszustellen, dass auch bei völliger Destruktion und Funktionsverlust der Rotatorenmanschette mit einer entsprechend dimensionierten Schulterendoprothetik neben der Schmerzlinderung auch eine entscheidende Funktionsverbesserung erreicht werden kann.
Ein spezielles Problem stellt die Schulterendoprothetik bei Patienten mit juveniler Arthritis dar. Aufgrund der Wachstumsstörungen im Humerus und am Glenoid sind übliche Prothesenimplantationen bzw. -größen nicht anwendbar. Der Beitrag von Thomas et al. (2005b) ist der bislang einzig verfügbare zu Patienten mit juveniler Arthritis. In einer prospektiven Studie wurden seit 1995 bei 13 Patienten mit juveniler Arthritis in einer
c
d
⊡ Abb. 17.16a–d Rheumatoide Omarthritis. a, b Präoperativ, c, d versorgt mit einem bipolaren Prothesensystem nach dem Duokopfprinzip (Typ MVS)
17
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Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
prospektiven Studie 15 Schulterprothesen erfasst. Die Verbesserungen im Constant-Score hinsichtlich Schmerz und Funktionsgewinn waren beachtlich, wobei zu berücksichtigen ist, dass mitbetroffene Nachbargelenke insgesamt eine Punktreduktion verursachten. Technische Schwierigkeiten waren v. a. aufgrund der geringen Größe und der Variabilität des Oberarmknochens bei juveniler Arthritis gegeben, mit zusätzlichen Problemen der steroidbedingten kortikalen Knochenschwächung.
Ellenbogen
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Bei langjährigem Verlauf münden 50% der Fälle einer Kubarthrits trotz adäquater konservativer Therapie in einer chronisch-rezidivierenden Form. Schon deswegen sollte rechtzeitig eine Synoviorthese oder Synovektomie durchgeführt werden, um Schmerz und Schwellung zu beseitigen, auch wenn das Fortschreiten der Gelenkdestruktion nicht verhindert werden kann. Bei einer Endoprothetik des Ellbogengelenks müssen gravierende Belastungsreduktionen ins Kalkül gezogen werden, sodass die Synovektomie und auch erweiterte Eingriffe mit arthroplastischer Umformung, z. B. mit Radiusköpfchenresektion, ihren festen Stellenwert haben. Generell muss festgestellt werden, dass die alte Faustregel, dass erst bei Versagen einer konservativen Therapie über 6 Monate eine invasive operative Behandlung indiziert ist, bei einem primär aggressiven Krankheitsverlauf nicht gilt. Bei den speziellen Verhältnissen des Ellbogengelenks muss darüber hinaus festgestellt werden, dass die Indikation zur Synovektomie gestellt werden sollte, sobald sonographisch eine verdickte Synovialis vorliegt. Es geht darum, möglichst frühzeitig gegen die progressive Destruktion anzuarbeiten. In ihrer Arbeit berichteten Mäenpää et al. (2003a) von 103 Ellenbogensynovektomien bei 88 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 53 Jahren zum Zeitpunkt der Operation und einem durchschnittlichen präoperativen Krankheitsverlauf von 19 Jahren. Im Rahmen eines Nachbeobachtungszeitraums von 5 Jahren zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen Frühsynovektomien (Larsen 0–2) und Spätsynovektomien (Larsen 3). Bei Larsen Grad 3 waren 8 Re-Synovektomien erforderlich und bei der Hälfte der Patienten Ellenbogenendoprothesen. Wertend wird angemerkt, dass bei fortgeschrittener Degeneration insbesondere die Weichteilverhältnisse mit unzureichender Bandführung für die Progression entscheidend sind. Zusammenfassend ist die Richtigkeit der frühzeitigen Synovektomie herauszustellen, was insbesondere durch diese Arbeit von Mäenpää und Mitarbeitern verdeutlicht wird, auch wenn die Autoren eine offene Synovektomie durchführen, die per se der arthroskopischen unterlegen ist. Bedeutsam ist eine ausreichende Bandstabilität. Auch im Stadium Larsen 4 wird durch die Synovektomie noch eine Verbesserung des Schmerzes und der Gebrauchsfähigkeit erreicht, allerdings sind die Ergebnisse deutlich schlechter als in der niedrigeren Larsen-Stadien. Ein besonderer Vorteil ist in der arthroskopischen Synovektomie zu sehen, da die Nachteile des größeren, offenen Eingriffs mit den Schwierigkeiten der postoperativen Mobilisation vermieden werden und die verschiedenen Kompartimente mit ihren einzelnen Ausstülpungen arthroskopisch – obwohl technisch anspruchsvoller – besser zu erreichen sind.
Das Fortschreiten der radiologisch nachweisbaren Destruktion nach erfolgter Synovektomie ist ein bekanntes Phänomen der rheumatischen Arthritis. Um rezidivierenden Synovialitiden vorzubeugen, hat es sich bewährt, 6 Wochen postoperativ eine Chemosynoviorthese durchzuführen. Damit können Rezidivraten vermindert und ein günstigerer langfristiger Verlauf erreicht werden. Bei fortgeschrittenen Destruktionen, insbesondere bei arthritisch und arthrotisch bedingten Kongruenzstörungen, besteht die Indikation zur erweiterten Synovektomie mit Radiusköpfchenresektion (Stellbrink 2004). Der Übergang zur sog. Resektionsarthroplastik mit zusätzlicher Gelenkflächenplättung bis hin zur Gelenkkörperneuformung ist dabei fließend. In den Spätstadien sind Eingriffe an der Synovialis palliativ. Hierbei muss die Indikation zur Endoprothetik abgewogen werden. Der Indikationsbereich für die Versorgung mit einer Ellbogenendoprothese hat sich deutlich ausgedehnt, insbesondere in den Bereichen der bislang mittels Resektionsinterpositionsarthroplastiken versorgten fortgeschrittenen destruktiven Zustände. Gleichwohl sind die Einschränkungen der Gebrauchsfähigkeit auch mit einer Endoprothese limitiert, und es sollte erfahrenen Operateuren vorbehalten bleiben, den Zeitpunkt der Operation sowie die Entscheidung über den Prothesentyp zu treffen. Woods et al. (1999) präsentieren eine vergleichende Studie zur Indikationsbegrenzung. Die Ergebnisse von Ellenbogenendoprothesen bei 45 Gelenken von 38 Patienten wurden in einer »Matched-pair«-Analyse mit den Ergebnissen einer Radiusköpfchenresektion verglichen. In der Endoprothesengruppe war die Schmerzbesserung signifikant besser als nach Radiusköpfchenresektion. Dagegen zeigten die Endoprothesenpatienten zahlreichere und schwerwiegendere Komplikationen (4 Dislokationen, 4 Irritationen des N. ulnaris) und eine schwerwiegende Wundheilungsstörung im Vergleich zu den Patienten mit Radiusköpfchenresektion (2 Irritationen des N. ulnaris, eine vorübergehende Wundheilungsstörung). Angst et al. (2005) haben eine systematische Analyse vorgenommen, um die verschiedenen Scores zu klinischen Ergebnissen und der »Quality-of-life«-Beurteilung nach Ellenbogenendoprothesen zu vergleichen. Es wurden 79 Patienten befragt, die in der Schulthess-Klinik, Zürich, von 1984 bis 1996 mit einer GSB-III-Ellenbogenprothese versorgt worden waren (⊡ Abb. 17.17). Bei 75% der Patienten handelte es sich um Rheumatiker, die durchschnittlich 64 Jahre alt waren. In 96% der Fälle wurde eine postoperative Beugefähigkeit des Ellenbogens von 120° und mehr erreicht, was für die Gebrauchsfähigkeit der Hand, beispielsweise für die Führung zum Mund, entscheidend ist. Siebenundachtzig Prozent der Patienten würden sich nochmals für die Operation entscheiden. Grundsätzlich war der Schmerz der Hauptgrund für die operative Versorgung. > Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Funktionsfähigkeit einer Ellenbogenprothese vorwiegend auf den Bewegungsradius im Ellenbogengelenk und damit auf einfache Verrichtungen, beispielsweise bei der Körperhygiene, ausgerichtet ist. Gewichtsbelastungen sind mit einer Ellenbogenprothese nicht möglich.
319 17.6 · Operative Therapie
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⊡ Abb. 17.17a,b Posttraumatische Ellenbogendestruktion mit Pseudoarthrose des Olekranons bei einer Patientin mit rheumatoider Arthritis. a Präoperativ, b versorgt mit einer GSB-Ellenbogentotalendoprothese
Über die Rate der Lockerungen, die klinisch inapparent sein können, und Revisionsprobleme wird nicht berichtet.
Hand Bekanntermaßen wird das Handgelenk bei der rheumatoiden Arthritis früh und progredient befallen. Die komplexen pathobiomechanischen Veränderungen verlangen, dass das Zusammenspiel der verschiedenen Gelenke in den Funktionsketten berücksichtigt und danach der Therapieplan mit lokalisationsund stadiengerechten Maßnahmen aufgestellt wird. Radiologisch finden sich die ersten Veränderungen am Caput und am Processus styloideus ulnae, verursacht durch die Synovialitis des Processus styloideus bzw. des Ulnokarpalgelenks und des distalen Radioulnargelenks. Klinisch treten die Veränderungen als Caput-ulnae-Syndrom mit einem ulnaren palmaren Absinken des Karpus und der Hand zutage. Bei Arrosion des Ulnakopfs kann eine Ruptur der Strecksehnen drohen. Durch Schwächung der radiokarpalen Bänder kann der Karpus nach palmar oder dorsal subluxieren und nach ulnar translatieren. Die Synovialitis des radioskapholunären Bandes kann über die skapholunäre Dissoziation einen Verlust der karpalen Höhe verursachen. Um eine Vermeidung oder zumindest Verzögerung von Folgeschädigungen zu erreichen, wird im frühen Stadium die Synovialektomie empfohlen. Bei isoliertem Befall des distalen Radioulnargelenks oder des Radiokarpalgelenks kann die Intervention vom erfahrenen Operateur arthroskopisch durchgeführt werden. Beim gleichzeitigen Befall der Strecksehnen
ist die offene Synovialektomie die Therapie der Wahl. Einzeitig sollte eine Subkutanverlagerung der Strecksehnen erfolgen. Der im angelsächsischen Sprachraum geläufige Begriff »dorsal wrist stabilization« schließt die Caput-ulnae-Resektion mit ein. Die Resektion sollte nicht erfolgen, solange das distale Radioulnargelenk stabil und das Caput ulnae gut erhalten ist (Borisch u. Haussmann 2002).
Handgelenk Zur Stabilisierung des Handgelenks dient bei Vorliegen einer ulnaren Translation und/oder einer dorsopalmaren Subluxation des Karpus die radiolunäre Arthrodese. Bei zerstörter skaphoidaler Radiusfacette muss die Operation als radioskapholunäre Arthrodese durchgeführt werden. Die von Chamay et al. (1983) vorangetriebene radiolunäre Arthrodese hat unter den verschiedenen operativen Eingriffen zur Stabilisierung des Handgelenks des Rheumatikers eine Schlüsselposition und im Laufe der Jahre einen zusehends weiteren Indikationsbereich eingenommen. Ihr besonderer Vorteil liegt in der Stabilität des Handgelenks gegen die ulnare Translation und die palmare Subluxation des Karpus bei noch teilweise erhaltender Beweglichkeit des Handgelenks. Im Rahmen einer Untersuchung von 91 Handgelenken bei 78 Patienten mit radiolunärer Arthrodese bei rheumatoider Arthritis haben Borisch et al. (2004) die Ergebnisse indikationsbezogen analysiert. Bei einer durchschnittlichen Nachuntersuchungszeit von 60 Monaten zeigte sich, dass das Mediokarpalgelenk in 28% der Fälle unverändert war; in 35% der
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320
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Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
Fälle bestand eine Sekundärarthrose, und bei 37% der Patienten waren arthritische Veränderungen nachweisbar. Dies korreliert mit der Zunahme des Larsen-Stadiums von durchschnittlich 3,2 auf 3,8. Gut ist der Funktionsgewinn durch diese Technik. Fünfundsiebzig Prozent der Handgelenke konnten in Neutralstellung stabilisiert werden. In den Larsen-Stadien 2 und 3 war der Verlauf der Gelenklinie im Mediokarpalgelenk unverändert. Schlussfolgernd ließ sich feststellen, dass in Zweidrittel der Fälle auch im mittelfristigen Verlauf ein sicheres Ergebnis der Stabilisierung der karpalen Situation, eine entscheidende Schmerzreduktion und eine verbesserte Funktionsfähigkeit des Handgelenks erreicht wurden. Die Operation nach Sauvé-Kapandji ist bei symptomatischem Caput-ulnae-Syndrom mit gut erhaltenem Ellenkopf und gut erhaltenem Radiokarpalgelenk indiziert. Die Operationstechnik besteht in einer Arthrodese des distalen Radioulnargelenks mit subkapitaler Segmentresektion. Deformierung, ausgeprägte Instabilität und Handgelenkschmerz stellen Indikationen zur vollständigen Arthrodese dar. Bei der Alloarthroplastik stehen grundsätzlich 2 Versorgungsmöglichkeiten zur Verfügung. Von der Verwendung von Silastik-Spacern wird aufgrund der schlechten Langzeitergebnisse zunehmend Abstand genommen. Neben dem Bruch der Implantate stellen die ausgeprägten Osteolysen, die über den Substanzverlust des Knochens zur Instabilität führen, einen besonderen Schwachpunkt dar. Schill et al. (2001) beschreiben die Probleme bei 87 Rheumatikern, die von 1984 bis 1992 mit 102 Swanson-SilastikSpacern des Handgelenks bei chronischer Polyarthritis versorgt worden waren. Indikationen zur Spacer-Versorgung waren schmerzhaft destruierte Handgelenke (Larsen-Stadien 4 und 5) mit ausreichendem Knochenlager, ausreichend intakten handgelenkübergreifenden Sehnen und korrigierbarer Weichteilbalance. Die Clayton-Bewertung verbesserte sich postoperativ durchschnittlich von 47 auf 70 Punkte. 51% der mit Spacern versorgten Handgelenke zeigten gute und sehr gute Ergebnisse. Siebzehn Prozent der Spacer erreichten eine zufriedenstellende Bewertung, 32% wurden als schlecht eingestuft. Das postoperative aktive Bewegungsausmaß stellte sich hierbei nahezu unverändert gegenüber dem präoperativen Ausgangsstatus dar. Spacer mit Implantatbruch zeigten keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Beweglichkeit. Eine Korrelation zwischen dem Auftreten postoperativer Belastungsschmerzen und einem radiologisch gesicherten Implantatbruch ließ sich allerdings verzeichnen. Es waren 11 Revisionen notwendig, davon 10 gebrochene Implantate und ein hämatogener Spätinfekt. Die Therapieoptionen bestanden in einem Spacer-Wechsel, einem Wechsel auf eine Handgelenkprothese und einer Arthrodese Auch die Indikation zur Handgelenkprothese wird zurückhalten gestellt. Die eigentlichen Gelenkendoprothesen sind wegen der Beanspruchung in 6 Freiheitsgraden und der jeweils einwirkenden Kräfte problematisch. Zudem verlangen alle Endoprothesen eine exakte karpale Rekonstruktion des KapselBand-Apparats und die genaue Einstellung des Rotationszentrums (Schmidt 2005). Als Nachfolgemodell der AHP-Prothese wurde von Thabe ein 2-gelenkiges Modell entwickelt, das als »modulare physio-
logische Handgelenksprothese (MHP)« bezeichnet wird. Schill und Thabe (2003) berichten über 39 Rheumatiker, die im Zeitraum von 1993 bis 1999 mit 46 dieser MHP-Prothesen versorgt worden waren. Es zeigte sich, dass sich die Clayton-Bewertung postoperativ von durchschnittlich 49,2 auf 77,3 Punkte verbesserte. Siebenundsiebzig Prozent der prothetisch versorgten Handgelenke erzielten eine gute oder sehr gute Ergebniswertung, 6 Prothesenversorgungen erreichten eine zufriedenstellende Bewertung, und 4 Handgelenke wurden als schlecht eingestuft. Dreiundsechzig Prozent der Patienten waren bei der Nachuntersuchung schmerzfrei, 23% hatten noch leichte Belastungsschmerzen ohne wesentliche Funktionseinschränkung. Bei der Bewertung der handgelenkabhängigen Alltagsfunktionen zeigte sich eine Verbesserung des Gesamt-Scores von 20 (präoperativ) auf 30 Punkte (zum Untersuchungszeitpunkt). Siebenundsechzig Prozent der Patienten hatten somit keine oder nur geringgradige Funktionseinbußen, und 84% würden sich nochmals für die Operation entscheiden. Welche Probleme bei einem Fehlschlag einer Handgelenkendoprothese auftreten, zeigt die Arbeit von Talwalkar et al. (2005): Neun Patienten, die nach Implantation einer biaxialen Totalhandgelenkendoprothese eines Revisionseingriffs bedurften, wurden über einen mittleren Nachuntersuchungszeitraum von 28 Monaten untersucht. Der häufigste Pathomechanismus war die Perforation des 3. Os metacarpale durch den distalen Schaft. Die proximale Komponente zeigte sich sehr selten als Fehlerquelle. Bei zu schlechtem Knochenlager für den Prothesenwechsel erfolgte die Versteifung mittels autologer Knocheninterposition. Bei zu starkem Knochenverlust wurde eine Exzisionsarthroplastik durchgeführt. Vier Patienten waren postoperativ beschwerdefrei, die übrigen hatten einen Schmerz-Score von 5, und lediglich die Exzisionsarthroplastik bedingte eine bessere Schmerzreduktion. Angesichts der grundsätzlichen Probleme beim endoprothetischen Ersatz des Handgelenks ist der Vergleich von Handgelenkersatz und Arthrodese (⊡ Abb. 17.18; ⊡ Abb. 17.19) beim Handgelenk des Rheumatikers interessant. Eine Arbeit hierzu haben Murphy et al. (2003) publiziert, und zwar mit 46 Patienten (51 Handgelenke), die sich zwischen 1997 und 2001 entweder einer Arthrodese (35) oder einem Gelenkersatz (16) unterzogen. Die Patienten wurden nach einem Zeitraum von 1–5 Jahren nachuntersucht. Die Ergebnisse der DASH- und PRWE-Scores waren nicht signifikant unterschiedlich. Allerdings zeigte die Gelenkersatzgruppe einen Trend zu einer besseren Funktion bei der täglichen Hygiene und beim Schließen von Knöpfen. Es zeigte sich eine Korrelation zwischen dem Alter der Patienten und der Funktion, der Händigkeit sowie der Funktion. Ältere Patienten hatten eine schlechtere Funktion der Hand, und die dominante Hand erreichte postoperativ ein schlechteres Ergebnis. 92% der Patienten waren mit dem Operationsergebnis zufrieden; 44% der Patienten aus der Arthrodesegruppe und 21% aus der Gelenkersatzgruppe gaben Einschränkungen durch ein reduziertes Bewegungsausmaß an. Dreißig Prozent der Patienten aus der Arthrodesengruppe und 44% aus der Gelenkersatzgruppe berichteten über Einschränkungen durch Schmerzen. Die Anzahl und die Schwere der Komplikationen waren in beiden Gruppen vergleichbar.
321 17.6 · Operative Therapie
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⊡ Abb. 17.18a,b Instabile rheumatische Destruktion des Handgelenks mit Ulnardrift. a Präoperativ, b versorgt mit einer radiolunären Arthrodese
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⊡ Abb. 17.19a,b Instabile rheumatische Destruktion des Handgelenk-Ardrifts und Bajonettstellung. a Präoperativ, b versorgt mit einer Handgelenkarthrodese
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Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
Daumensattelgelenk Für die Gebrauchsfähigkeit der Hand hat das Daumensattelgelenk eine essenzielle Bedeutung. Für Aktivitäten des täglichen Lebens wie das Halten eines Gegenstands, das Öffnen einer Flasche oder auch die Feinmotorik hat das Daumensattelgelenk eine Schlüsselfunktion. Entsprechend machen sich arthritische Veränderungen mit erheblichen Funktionseinschränkungen bemerkbar. Die von Epping und Noack (1983) beschriebene Resektionssuspensionsarthroplastik hat sich als funktionell beste operative Versorgung durchgesetzt. Zwischen 1996 und 1998 wurden 144 Patienten an der Schulthess-Klinik mit einer Epping-Plastik versorgt. Insgesamt 103 Patienten (72%) konnten zwischen Juni und November 2003 in der Klinik nachuntersucht werden. In der Gesamtbeurteilung gaben 60% der Patienten eine vollständige Zufriedenheit an, 5% waren unzufrieden; 88% würden die Operation nochmals durchführen lassen, 2 Patienten verneinten dies. Radiologisch zeigte sich in keinem Fall eine Dislokation des Os metacarpale I. Eine Stärke dieser Untersuchung ist die große Teilnehmerzahl von 103 Patienten mit 5- bis 8-jähriger postoperativer Nachuntersuchungszeit. Der günstige Effekt der Resektionsinterpositionsarthroplastik nach Epping für das Daumensattelgelenk wird eindrucksvoll bestätigt. Angesichts der guten Funktion sowohl in der subjektiven als auch in der objektiven Einschätzung ist dieses Verfahren auch für jüngere Patienten mit hohem funktionellen Anspruch an die Gebrauchsfähigkeit der Hand zu empfehlen. Im Unterschied zur Silikon-Spacer-Versorgung mit ihren Osteolysen zeigt sich eine knöchern-weichteilig inerte Struktur.
Finger- und Fingergrundgelenke
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Ist eine Synovialitis der Fingergrundgelenke medikamentös nicht supprimierbar, ist die Durchführung von operativen Maßnahmen in diesem Frühstadium indiziert. Die meisten operativen Eingriffe werden zu einem Zeitpunkt durchgeführt, wenn schleichende entzündliche oder abgelaufene entzündliche Prozesse durch Schädigung des Bandapparats zu Instabilität und Subluxation geführt haben. Aufgrund seiner schwächeren Konsistenz ist das radiale Seitenband früher und stärker betroffen, der Weg zur Ulnardeviation der Finger vorgezeichnet. Die verbesserten Möglichkeiten des prothetischen Gelenkersatzes führen oft zum unkritischen Einsatz. Da Gupta und Hausmann (2005) berichten, dass sie durch totale Synovialektomie der Grundgelenke sowie Rekonstruktion des radialen Seitenbands und des Streckzügels bei Gelenken mit fortgeschrittener Destruktion bis hin zur Subluxation den Gelenkersatz verzögern zu konnten. Der Bewegungsumfang der Fingergrundgelenke nahm von präoperativ 66° auf postoperativ 50° ab, was den Ergebnissen des endoprothetischen Ersatzes entspricht. Die Ulnardeviation verbesserte sich durchschnittlich um 19°, von präoperativ 26° auf postoperativ 7°. Die Prüfung der Seitenbandstabilität zeigte 71% stabile Gelenke und 14% instabile Gelenke. Die Rezidivrate der Synovialitis wird mit 18% angegeben. Hinsichtlich der Beurteilung der Funktionalität ist das Ausmaß des Bewegungsumfangs jedoch nur sekundär; bedeutend ist ein funktionell günstiges Bewegungssegment. Das physiologische Bewegungssegment der Fingergrundgelenke
liegt zwischen 33° und 77°. Ein Bewegungssegment zwischen 0° und 40° wird als Strecksteife gewertet, eines zwischen 40° und 90° als Beugesteife. Schmerzen, Schwäche, Deformität und begrenzter Bewegungsumfang des proximalen Interphalangealgelenks bei rheumatoider Arthritis bedingen häufig operative Interventionen. Gelenkversteifung, Silikon-Spacer und die Implantation einer Endoprothese stehen als therapeutische Maßnahmen zur Wahl (⊡ Abb. 17.20). Sauerbier et al. (2000) untersuchten Patienten, die mit einer an der Mayo-Klinik in Zusammenarbeit mit der Firma Avanta entwickelten Prothese versorgt wurden. Zur Auswertung gelangten 82 Fingermittelgelenkprothesen bei 60 Patienten, die im Zeitraum von 1980 bis 1999 operiert wurden. Das Durchschnittsalter betrug 57 Jahre. Nach Diagnosegruppen geordnet ergaben sich folgende Indikationsstellungen: degenerative Arthrose, posttraumatische Arthrose und rheumatoide Arthritis. Die proximale Prothesenkomponente bestand aus Kobaltchrom, die distale Gelenkfläche aus ultrahochmolekularem Polyethylen, der distale Schaft aus Titan. Der durchschnittliche aktive Bewegungsumfang war betrug präoperativ 31° und postoperativ 47°. Postoperativ waren 60 Finger komplett schmerzfrei, 8 Patienten klagten über gelegentliche Schmerzen und weitere 8 über das Auftreten von Schmerzen bei manuellen Tätigkeiten. Insgesamt wurde bei 40 Fingern (49%) ein gutes Ergebnis, bei 25 (30%) ein befriedigendes und bei 17 (21%) ein schlechtes Ergebnis erzielt. Bezogen auf die Finger mit Grunderkrankung »rheumatoider Arthritis« (2 Patienten) erreichten 8 Finger ein gutes, 6 ein befriedigendes und 5 ein schlechtes Resultat. Prothesenlockerungen traten bei 3 Fingern auf, und 2 Finger zeigten postoperativ Knopflochdeformitäten mit einem Streckdefizit von 50°. Bei 8 Fingern bestand ein Streckdefizit von bis zu 45°, und bei 11 Fingern waren aufgrund von meist weichteiligen Deformitäten oder Strecksehnenfunktionsdefiziten insgesamt 12 Revisionseingriffe notwendig. Es mussten 2 Spätamputationen durchgeführt werden. Zusammenfassend berichteten die Autoren über ein gutes funktionelles Ergebnis und eine gute Schmerzreduktion durch Implantation der Fingermittelgelenkprothese. Die Indikationsstellung bei rheumatischen Fingergelenken sollte an der Gewährleistung der Balance des Gelenks durch seine stabilisierenden tendinösen Strukturen festgemacht werden. Die weitere Entwicklung von Fingergelenkprothesen aus Karbon lässt erwarten, dass die bislang noch bestehende Polyethylenproblematik überwunden wird, sodass die Ergebnisse der endoprothetischen Versorgung der Fingermittelgelenke weiterhin verbessert werden können. Am Metarkarpophalangealgelenk des Daumens und an den Fingerendgelenken ist die Arthrodese das Verfahren der Wahl, das auch eine ausreichende Stabilität gewährleistet (⊡ Abb. 17.21). Für die technische Durchführung der Arthrodese haben Ahmed et al. (2003) die Methodik für ein schnell durchführbares Operationsverfahren mit präziser Einstellung der zu fusionierenden Gelenkpartner beschrieben. Nach zylindrischer Sägung des proximalen Knochens wird die proximale Oberfläche mit einer konkaven Fräse kegelförmig zugerichtet.
323 17.6 · Operative Therapie
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⊡ Abb. 17.20a,b Rheumatoide Arthritis mit Destruktion des Fingermittelgelenks. a Präoperativ, b versorgt mit einer Fingerprothese
⊡ Abb. 17.21 Rheumatoide Arthritis mit Destruktion des Fingermittel- und Fingerendgelenks, versorgt mit einer Doppelarthrodese
Mit einer konvexförmigen Fräse erfolgt die schalenförmige Modellierung der distalen Oberfläche. Die gewünschte Gelenkposition kann nun frei eingestellt und mit einer Schraube oder mit K-Drähten fixiert werden. Bei der postoperativen Kontrolle zeigte sich nach 6 Monaten keine Pseudarthrose. Zu diesem Zeitpunkt war nur ein Patient mit dem Ergebnis der Operation unzufrieden. Durch eine multifaktorelle Ätiologie mit Vaskulitiden, peripherer Ischämie und venöser Insuffizienz als Hauptfaktoren können sich bei Rheumatikern schlecht heilende Wunden im
Finger- und Zehenbereich entwickeln, die in besonderem Maße infektionsgefährdet sind und bei schlechter Heilungssituation bis zur Amputation führen (⊡ Abb. 17.22; ⊡ Abb. 17.23). Von November 1999 bis Dezember 2001 wurden an der Universität Osaka 15 Patienten mit tiefgehenden Wunden, die über 2 Monate mit herkömmlichen Therapiemaßnahmen nicht gebessert werden konnten, im Rahmen eines speziellen Regimes mit Freilegung des Wundbetts bis zum Knochenmark, anschließendem Okklusionsverband für 2 Wochen, sodann erfolgendem epidermalen Graft vom Oberschenkel und weiterem Okklu-
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Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
sionsverband für eine Woche behandelt. In Falldarstellungen zeigten Yamaguchi et al. (2005) die Ergebnisse der vollständigen Abheilung. Es wird herausgestellt, dass während einer Nachbeobachtung von 18 Monaten kein Rezidiv auftrat.
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⊡ Abb. 17.22a,b Typische Hand- und Fingerveränderungen bei einer Patientin mit langjähriger rheumatoider Arthritis: Ulnardeviation der Finger und 90-90-Deformität des Daumens
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⊡ Abb. 17.23 Typische Hand- und Fingerveränderungen bei einer Patientin mit langjähriger rheumatoider Arthritis: Knopfloch- und Schwanenhalsdeformität
17.6.3
Hüfte, Knie und Fuß
Hüfte Am Hüftgelenk sind konservative Behandlungsmöglichkeiten äußerst begrenzt. Da einerseits eine Entlastung kaum möglich ist und andererseits keine technischen Möglichkeiten zu arthroskopischen Therapien wie am Knie und am oberen Sprunggelenk bestehen, wird für die operative Versorgung im Bereich des Hüftgelenks unmittelbar der endoprothetische Ersatz gewählt. Diesbezüglich muss das Therapiespektrum in Zukunft ausgebaut werden. Welche Bedeutung Synovektomien auch am Hüftgelenk haben, zeigen Vastel et al. (2005) mit einer retrospektiven »Longterm«-Outcome-Studie. Es wurden die Daten von 16 Patienten ausgewertet, die im Zeitraum von 1970 bis 1996 operiert worden waren. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Operation betrug 36 Jahre. Der Eingriff bestand bei allen Patienten in einer totalen Synovialektomie, bei 8 Patienten erfolgte die Implantation eines Gelenkersatzes (4 zementierte Hüfttotalendoprothesen, 3 Cup-Prothesen, ein monopolarer Gelenkersatz bei intaktem Azetabulum). Das Ziel der Studie war die Evaluierung des therapeutischen Effekts der alleinigen Synovektomie im Vergleich zur Synovektomie in Kombination mit einem rekonstruktiven Eingriff hinsichtlich des weiteren Verlaufs der Erkrankung. Die mittlere Nachuntersuchungszeit betrug 17 Jahre. Die Patienten, die sich der alleinigen offenen Synovektomie unterzogen hatten, waren zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung klinisch sowie radiologisch frei von Rezidiven. Jedoch entwickelte sich bei ihnen eine sekundäre Arthrose, die in 4 Fällen in der Folge zum Gelenkersatz führte. Zum Zeitpunkt dieses Gelenkersatzes konnte bei einem Patienten eine rezidivierende bzw. persistierende pigmentierte villonoduläre Synovitis nachgewiesen werden. Die Cup-Prothesen zeigten Migrationen, die im Abstand von 9–14 Jahren eine Hüfttotalendoprothese erforderlich machten. Wegen einer aseptischen Lockerung war bei 2 Patienten, die initial mit einer Hüfttotalendoprothese versorgt worden waren, eine Revision erforderlich. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Synovektomie des Hüftgelenks bei Befall mit einer pigmentierten villonodulären Synovitis hinsichtlich der Besserung der Symptomatik sowie der Rezidivprophylaxe effektiv ist. Sie kann jedoch dem Voranschreiten der sekundären Arthrose keinen Einhalt gebieten. Das Risiko einer Hüftkopfnekrose bei offener Synovektomie mit Trochanterosteotomie und Hüftkopfluxation darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden. Der Wert der Hüftendoprothetik bei Rheumatikern zum Ersatz des destruierten Hüftgelenks ist unbestritten. Nach dem »Low-friction«-Prinzip von Charnley sind heute zahlreiche Endoprothesen verfügbar, die bei Rheumatikern – auch bei ungünstigen Knochenverhältnissen – in zementierter oder zementfreier Technik angewendet werden können (⊡ Abb. 17.24). Im Rahmen der Weiterentwicklung der Operationstechnik ist die Frage interessant, inwiefern eine minimale Inzisionstechnik Vorteile – zumindest für das frühe postoperative Ergebnis – erbringt. Zur Beantwortung dieser Fragestellung haben Ogonda et al. (2005) in einer prospektiven Studie 219 Patienten von
325 17.6 · Operative Therapie
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Dezember 2003 bis Juni 2004 mit einer unilateralen Hüfttotalendoprothese in Hybridtechnik versorgt. Der Eingriff erfolgte über einen hinteren Zugang, entweder mit einer Inzisionslänge von max. 10 cm oder mit der Standardinzisionslänge von 16 cm. Die Pfanne wurde zementfrei eingebracht, der Schaft wurde zementiert. Der Unterschied der Operationstechnik bestand außer in der Länge des Hautschnitts in einer kürzeren Inzision der Fascia lata in der minimal-invasiv versorgten Gruppe. Die mittlere Operationsdauer war in der Standardgruppe um 5 min länger. Hinsichtlich der postoperativen Transfusionsrate sowie des Hämatokritwerts bestand nach 8 h und bei der Entlassung kein signifikanter Unterschied. Gleiches galt für die postoperative Schwellung, den Anstieg der Entzündungsparameter, SchmerzScores, den postoperativen Analgetikaverbrauch, die Frühmobilisierung, die Gehgeschwindigkeit und die Krankenhausaufenthaltsdauer. Auch die radiologische Kontrolle der korrekten Positionierung der eingebrachten Komponenten ergab in beiden Gruppen keine Abweichung.
Knie Hinsichtlich der operativen Maßnahmen bei rheumatischen Veränderungen des Kniegelenks sind Indikationsstellung und Vorgehensweise für die Synovektomie ausreichend geklärt. Die arthroskopische Technik hat sich aufgrund der reduzierten postoperativen Morbidität und der guten Möglichkeit der vollständigen Schleimhautentfernung bei Synovialitiden durchgesetzt. Kim et al. (2006) weisen zu Recht darauf hin, dass auch die beiden dorsalen Kompartimente angegangen werden müssen. Wie auch an anderen Gelenken, ist nach der Synovialektomie eine Folgebehandlung erforderlich, welche die Autoren 6 Wochen postoperativ mittels einer Chemosynoviorthese mit Natriummorrhuate durchführen. Die Indikation zur endoprothetischen Versorgung ist in Abhängigkeit von der subjektiven Beschwerdesymptomatik des
⊡ Abb. 17.24a,b Rheumatoide Arthritis bei 70-jährigem Patienten. a präoperativ mit ausgeprägter Zystenbildung. Typischerweise keine vermehrte Sklerosierung der Gelenkpartner wie bei Arthrose, b Versorgt mit einer Pressfitpfanne und zementfreiem Schaft.
Patienten sowie dem objektiven Befund gegeben, insbesondere wegen Fehlstellung und Instabilität sowie einer Destruktion der Gelenkfläche. In der Regel kommt heute der bikondyläre Oberflächenersatz infrage (⊡ Abb. 17.25). Gekoppelte Prothesen, die eine freie Rotation zulassen, sind Fällen von Bandinstabilitäten und Revisionen mit ausgeprägten knöchernen Defekten vorbehalten. Bei Patienten mit juveniler rheumatischer Arthritis wird das geringe Alter bei Knieprothesenimplantation stets diskutiert. Zum einen liegt eine massiv reduzierte Gebrauchsfähigkeit bis hin zur Immobilität vor, zum anderen mahnt die Sorge um eine Prothesenlockerung und Folgekomplikationen zu einer zurückhaltenden Indikationsstellung. Parvizi et al. (2003) berichten über 13 Patienten (25 Kniegelenke), die sich zwischen 1982 und 1997 an der Mayo Clinic, Rochester, einer endoprothetischen Versorgung unterzogen haben und nach einem Zeitraum von durchschnittlich 10,7 Jahren (4–20 Jahre) nachuntersucht wurden. Es zeigte sich eine signifikante Verbesserung im Knie Society Pain Score von 27,6 auf 88,3 Punkte. Die postoperative Beinachse betrug 8° valgus (2–25°). Ein Lockerungssaum zeigte sich bei 7 femoralen und 2 tibialen Komponenten. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Knietotalendoprothesen trotz der höheren Komplikationsrate mit den Risiken einer vorzeitigen Lockerung und periprothetischen Infekten bei jungen, immunsupprimierten Patienten mit juveniler rheumatischer Arthritis zu einer Reduktion von Schmerzen, einer verbesserten Gelenkfunktion und einer verbesserten Lebensqualität verhelfen. Palmer et al. (2005) berichten über 8 Patienten (15 Kniegelenke), die sich zwischen 1986 und 1990 einer endoprothetischen Versorgung unterzogen und nach einem Zeitraum von durchschnittlich 16 Jahren (12–19 Jahre) nachuntersucht wurden. Zwölf von 15 Kniegelenken waren schmerzfrei. Zwei Patienten (3 Kniegelenke) erhielten eine Revisionsoperation.
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Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
⊡ Abb. 17.25a–d Rheumatoide Arthritis mit sekundärer Valgusgonarthrose und hochgradiger ligamentärer Instabilität, versorgt mit einer zementierten achsgeführten Prothese
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17 Ein Patient wies eine beidseitige aseptische Lockerung des Tibiaimplantats auf; es wurde 15 Jahre nach der Erstoperation gewechselt. Bei dem anderen Patienten kam es 17 Jahre nach der Erstoperation zu einer Lockerung des Implantats an der Patella. Beide Patienten waren nach der Revision beschwerdefrei. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Knietotalendoprothese bei diesen jungen Patienten mit juveniler rheumatoider Arthritis bei Versagen der konservativen Therapie angeraten ist. Sie konnten in dem Nachbeobachtungszeitraum von mehr als 12 Jahren gute Ergebnisse bezüglich Schmerzreduktion und Verbesserung der Funktion erzielen.
Fuß Bei der rheumatoiden Arthritis sind in bis zu 95% der Fälle die Metatarsophalangealgelenke betroffen, in bis zu 60% der Fälle die Fußwurzel- und Fußmittelgelenke und bei bis zu 50% der Patienten das obere und das untere Sprunggelenk (Akagi et al. 1997).
Oberes Sprunggelenk und Rückfuß Beim typischen Pes planovalgus der rheumatoiden Arthritis finden sich eine Synovialitis des Talonavikulargelenks sowie eine Dysfunktion der Tibialis-posterior-Sehne. Die Eversion
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b
⊡ Abb. 17.26a,b Rheumatoide Rückfußdeformität. a Präoperativ, b mit stellungskorrigierender Arthrodese des oberen und unteren Sprunggelenks mittels VersaNail
des Subtalargelenks verstärkt die valgische Einstellung der Ferse. Dies kann bis zum schmerzhaften Impingement der Fibulaspitze am lateralen Kalkaneus führen. Da das mediale Gewölbe aufgehoben ist, wird die gesamte Fußsohle angehoben, und der Vorfuß gerät in eine Supinationskontraktur. Bei einer Tenosynovialitis der Tibialis-posterior-Sehne kommt es begleitend zur Kompression des N. tibialis (Tarsaltunnelsyndrom). Mit konservativen Maßnahmen wie orthopädischem Schuhwerk kann versucht werden, Druckstellen zu entlasten und Stoßkräfte zu reduzieren. Allerdings lässt sich das Fortschreiten entzündlicher Veränderungen dadurch nicht beeinflussen. Die Indikation zur Synovialektomie, auch im Sehnenbereich, ist frühzeitig zu stellen, um damit die immunkompetente Synovialitis zu eliminieren und eine Funktionsverbesserung zu erreichen. Postoperativ bedarf es einer Orthesenversorgung, um zu stabilisieren und um insbesondere bei Weichteileingriffen mit Kapsel- oder Bandraffungen für eine ausreichende Heilung zu sorgen. Zur Synovialektomie im oberen Sprunggelenk ist die arthroskopische Technik dem konventionellen, offenen Vorgehen überlegen. Aufgrund der postoperativ zu erwartenden Neosynovialitis sollte eine Verödungsbehandlung stattfinden. Hierzu hat sich die Chemosynoviothese 6 Wochen postoperativ bewährt. Bei fortgeschrittenen Rückfußfehlstellungen sind Osteotomien und Arthrodesen erforderlich (⊡ Abb. 17.26). Diese müssen neben den Sprunggelenken auch das Talonavikulargelenk und ggf. das Kalkaneokuboidalgelenk berücksichtigen. Eine isolierte Arthrodese des oberen Sprunggelenks ist beim Rheumatiker aufgrund der komplexen Rückfußdeformität selten indiziert. Die Technik der Arthrodese der Sprunggelenke
hat sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt. Die bislang favorisierte Schraubenarthrodese mit guter interfragmentärer Kompression ist durch einen retrograd vorgebrachten Verriegelungsnagel weitgehend abgelöst worden. Bei einer isolierten Talonavikulararthritis und unauffälligem Rückfuß berichten Carl et al. (2006) über eine Technik mit Anbohrung der Sklerose, Beckenkammspongiosainterposition und Osteosynthese mit 2 Kompressionsschrauben. Nach 6-wöchigem Tragen eines Unterschenkelgipses und nochmals ebenso langer Schonungsphase beobachteten sie in allen 7 Fällen eine knöcherne Durchbauung und in 6 Fällen eine Beschwerdebesserung. Tipp
I
I
Da umschriebene Arthritiden an kleineren Rückfußgelenken die Ausnahme darstellen, sollte man die Mitbetroffenheit anderer Gelenke, v. a. des oberen und unteren Sprunggelenks, immer sorgfältig prüfen.
Endoprothesen haben den Vorteil einer weiterhin bestehenden Beweglichkeit, die für den Rheumatiker insbesondere bei beidseitiger Versorgung von Bedeutung ist und beispielsweise das Treppengehen erleichtert. Mittlerweile haben sich Prothesen für das obere Sprunggelenk durchgesetzt, die aus 3 Komponenten bestehen: Implantate für Talus und Tibia sowie eine zwischengelagerte, verschiebliche Polyethylenkomponente. Die Erfahrungen mit diesen Endoprothesen bei Rheumatikern sind bislang begrenzt. Zur Indikation wird i. A. eine gute knöcherne Struktur des Talus verlangt. Bei heutigem Stand muss noch abgewartet werden, wie die mittel- und langfristigen Ergebnis-
17
328
Kapitel 17 · Rheumatische Weichteil- und Gelenkerkrankungen
se der Sprunggelenkendoprothetik bei größeren Gruppen von Rheumatikern ausfallen.
Vorfuß Die rheumatische Vorfußdeformität ist durch das Auseinanderweichen der Mittelfußköpfchen im Sinne eines Spreizfußes und die multiplen Fehlstellungen der Zehen gekennzeichnet, die insgesamt das Bild eines breiten, dreieckigen Fußes verursachen (⊡ Abb. 17.27). Durch den synovialitischen Prozess an den Zehengrundgelenken entstehen Destruktionen der Mittelfußköpfchen. Unter dem Vorfuß bilden sich Bursitiden. Alleinige Synovialektomien der Zehengrundgelenke erbringen keine ausreichende Besserung, sondern ziehen im weiteren Verlauf fortschreitende Destruktionen nach sich (Belt et al. 1998). Die Autoren beschreiben für den Bereich des Großzehengrundgelenks die Resektionsarthroplastik als Goldstandard, favorisieren jedoch persönlich Osteotomien und die Arthrodese des Großzehengrundgelenks. Bei fortgeschrittenen Destruktionen der kleineren Mittelfußköpfchen wird die Resektion nach Hoffmann-Tillmann mit Dermodese beschrieben (⊡ Abb. 17.27), um über ein Alignment
a
17
die Rekonstruktion der plantaren Platte wie auch günstige Weichteilverhältnisse und eine ausreichende Standsicherheit zu erzielen. Von Hoffmann wurde im Jahre 1912 die Technik der Resektion aller 5 Metatarsaleköpfchen von plantar beschrieben. Eine Modifikation durch Verwendung von 3 dorsalen Inzisionen stellten Thomas et al. (2005a) vor. Bei allen Patienten handelt es sich um Defomitäten, bei denen kein Konfektionsschuhwerk mehr tragbar ist. Von 1994 bis 2001 wurden bei 23 Patienten 43 Füße nach dieser Methode operiert. Siebenunddreißig Füße von 20 Patienten konnten nach durchschnittlich 5 Jahren (22–108 Monate) nachuntersucht werden. Es kam zu 2 Wundinfektionen, bei keinem Patienten war eine Nachoperation erforderlich. Alle Patienten gaben bezüglich des präoperativen Zustands eine Beschwerdebesserung an, 60% berichteten über Balanceschwierigkeiten. Für 8 Füße war weiterhin orthopädisches Schuhwerk erforderlich. Die Funktionsbewertung erfolgte nach dem AOFAS-Score und reichte von 37 bis 90 Punkten (max. 100 möglich) mit durchschnittlich 64,5 Punkten. In der Literatur ist die Rate schmerzfreier Patienten unterschiedlich. Barton (1973) stellte lediglich in 45% der Fälle eine schmerzfreie Gehfähigkeit fest. Stockley et al. (1989) beschrieben 3 Jahre postoperativ bei plantarem Zugang eine Schmerzfreiheitsrate von 70%. Im Vergleich zu den Untersuchungen von Mann und Thompson (1984) schnitten die von dorsal operierten Patienten dieser Studie deutlich schlechter ab: Lediglich 30% der Befunde konnten als gut oder sehr gut bewertet werden, während 70% gemäß der AOFAS-Klassifikation als mäßig bzw. schlecht zu beurteilen waren. Bei den wechselnden Diskussionen über die Versorgung des ersten Strahles gilt nach wie vor, dass ein Alignement mit längerem ersten Os metatarsale oder gleich langem ersten und zweiten Os metatarsale und dann abfallender Linie der Metatarsalelänge angestrebt wird. Liegt bereits eine erhebliche Gelenkdestruktion vor, kommt eine modellierende Resektion des Mittelfußkopfs (Operation nach Hüter-Mayo) oder eine Arthrodese des Großzehengrundgelenks infrage. Auch wenn die Resektionsarthroplastik noch als Goldstandard verbreitet ist, bleibt zu berücksichtigen, dass die resultierende Instabilität im Großzehengrundgelenk keine Kraftentwicklung der Großzehe beim Zehenabstoß ermöglicht und im Stand das Ausbalancieren des Fußes durch mangelnden Bodenkontakt der Zehe erschwert. Diese Funktionen bleiben bei intaktem Interphalangealgelenk nach der Arthrodese des Großzehengrundgelenks erhalten. Die Resektionsarthroplastik in der Technik nach Keller-Brandes führt beim Rheumatiker im Vergleich zur modellierenden Resektion des Mittelfußkopfs zu deutlich schlechteren Ergebnissen und sollte deswegen nicht mehr eingesetzt werden (Fuhrmann 2002).
Literatur b
⊡ Abb. 17.27a,b a RA mit komplexer Vorfußdeformität und hochgradiger Destruktion, teils Subluxationsstellung in den Zehengrundgelenken. b Operation nach Hoffmann-Tillmann mit Resektion der Metatarsaleköpfchen II–V und Modellierung des Köpfchens I
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17
IV
IV
Traumatologie
18
Modernes Traumamanagement J.J. Osterwalder, D. Weber
19
Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen L. Harder, M. Kuster
20
Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität – 383 S. Weindel, J. Grünert
21
Verletzungen der peripheren Nerven und des Plexus brachialis – 395 J. Grünert
– 333
– 355
18
Modernes Traumamanagement J.J. Osterwalder, D. Weber
18.1
Einleitung
18.2
Allgemeiner »state of art«
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4 18.2.5
Klinisch-epidemiologische Grundlagen – 334 Pathophysiologische Grundlagen – 334 Grundlagen der Traumaversorgung – 336 Praktisches Trauma-ABC – 338 Hämorrhagischer Schock – 342
18.3
Spezieller »state of art«
18.3.1 18.3.2 18.3.3 18.3.4 18.3.5 18.3.6
Schädel-Hirn-Trauma – 344 Maxillofaziales Trauma – 347 Thoraxtrauma – 347 Abdominaltrauma – 348 Beckentrauma – 350 »Damage control orthopedics« – 351
18.4
Schweregradeinteilung von Verletzungen Literatur
– 334 – 334
– 344
– 352
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 351
334
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
Die erfolgreiche Versorgung von Patienten mit multiplem Trauma hängt nicht nur von den Kenntnissen der Unfallkinematik, lebensrettenden Sofortmaßnahmen sowie einem von einem Generalisten geführten interdisziplinären Team mit spezialisierten Ärzten für die Therapie von Einzelverletzungen und intensivmedizinischen Interventionen ab – eine große Rolle spielt auch die Respektierung pathophysiologischer Vorgänge in ihrem zeitlichen Ablauf. Daher ist das Verständnis der Traumapathogenese im Sinne einer systemischen Krankheit, deren Ausprägung u. a. mit der Behandlung in Zusammenhang steht, für den interdisziplinären Abklärungs- und Versorgungsplan entscheidend. Werden die entsprechenden Grundregeln nicht befolgt, kann es zu lebensgefährlichen Störungen primär nicht verletzter Organe und Organsysteme kommen.
18.1
Einleitung
Das Trauma ist weltweit und pandemisch verbreitet. Es hat enorme Auswirkungen auf das einzelne Individuum, seine Familie, die Umwelt sowie die Gesamtheit der Gesellschaft. Seine Größenordnung und Bedeutung zeigen sich u. a. darin, dass ▬ etwa 9% aller Todesfälle und etwa 12% der gesundheitsbedingten Probleme weltweit Folge von Verletzungen sind, ▬ das Trauma die erste Todesursache der unter 45-Jährigen ist, ▬ in den USA ca. 3% aller Verletzungen tödlich enden, ungefähr 6% zu einer dauerhaften Invalidität führen und das Trauma an erster Stelle der Ursachen für Hospitalisationstage steht. Glücklicherweise können geeignete präventive und therapeutische Maßnahmen die hohe Inzidenz, Mortalität und Morbidität senken. Das vorliegende Kapitel behandelt in erster Linie die Erstversorgung von Traumapatienten in der Notfallstation. Dabei liegt der Fokus auf den akutmedizinischen und taktischorganisatorischen Aspekten.
Wann? – Trimodale Verteilung der Todeszeiten Donald Trunkey (1983, 1985) hat in den frühen 1980er Jahren die Resultate zweier retrospektiver Untersuchungen aus San Francisco zu insgesamt 862 Todesfällen zusammengefasst. Er stellte eine trimodale Verteilung fest: ▬ 50% unmittelbare Todesfälle, d. h. innerhalb von Sekunden oder Minuten ▬ 30% frühe Todesfälle, d. h. in den ersten 2–3 h ▬ 20% späte Todesfälle, d. h. innerhalb von Tagen oder Wochen
Woran? – Todesursachen Man nimmt an, dass derzeit 40–50% der Patienten an einem Schädel-Hirn-Trauma (SHT) und 20–40% wegen des hämorrhagischen Schock sterben (Bouillon et al. 1998; Kauvar et al. 2006). Sowohl Trunkey (1983, 1985) als auch spätere Untersucher (Bouillon et al. 1998; Kauvar et al. 2006) machen die primären Schädigungen beim SHT, schwere Blutungen und eine Hypoxie für die unmittelbaren und frühen Todesfälle verantwortlich. Die späten Todesfälle stehen mit sekundären Hirnschädigungen sowie dem Multiorganversagen in Zusammenhang. Die entsprechenden Schlussfolgerungen von Trunkey haben – obwohl sich die Größenordnung der trimodalen Verteilung in Abhängigkeit von Zeit und Ort geändert hat – auch heute noch Gültigkeit (Trunkey 1983, 1985). So führen schwere Läsionen am Zentralnervensystem, am Herz und an den großen Gefäßen mit wenigen Ausnahmen sofort oder innerhalb von Minuten zum Tode. Verbesserungen im Management und in der Behandlung können nichts daran ändern, sondern nur die Prävention. > Durch zeitgerechte Stabilisierung, Stillung von Blutungen und Dekompression des SHT lässt sich die Mortalität in der Früh- und Spätphase reduzieren. Bei den späten Todesfällen spielen zusätzlich operationstaktische und intensivmedizinische Aspekte eine wesentliche Rolle.
18.2.2 18.2
Allgemeiner »state of art«
Das moderne Traumamanagement basiert auf den Ergebnissen klinisch-epidemiologischer Untersuchungen der vergangenen 30 Jahre sowie auf neuen Erkenntnissen pathophysiologischer Zusammenhänge.
18
18.2.1
Klinisch-epidemiologische Grundlagen
In den 1970er Jahren lag die Mortalität in Europa und Nordamerika je nach Traumakollektiv zwischen 20% und 40%. So starben z. B. in der Region Hannover etwa 2/5 aller Schwerverletzten (Regel et al. 1995). Konkrete Ansätze zur Verbesserung dieser schlechten Ergebnisse erhoffte man sich von klinisch-epidemiologischen Untersuchungen. Im Zentrum standen 2 Fragen, nämlich wann und woran Traumapatienten sterben.
Pathophysiologische Grundlagen
Das schwere Trauma löst komplexe Abwehrmechanismen aus. Sie werden unter dem Begriff »host defense response« zusammengefasst. Man unterscheidet 3 Reaktionen: ▬ SIRS-CARS (»systemic inflammatory response syndrome« – »compensatory antiinflammatory response syndrome«; ⊡ Abb. 18.1) ▬ neuroendokrine Reaktionen ▬ metabolische Reaktionen Dazu kommt neu eine primäre Koagulopathie, welche sich grundsätzlich von der sekundären oder meist »iatrogenen« Gerinnungsstörung unterscheidet (MacLeod 2008).
SIRS-CARS Das Multiorganversagen gilt nach einem Trauma als bedeutendste Komplikation (Nast-Kolb et al. 2001). Es entsteht auf der Grundlage eines irreversiblen MODS (»multiple organ dysfunktion syndrome«). Dabei weiß man, dass immer mehr
335 18.2 · Allgemeiner »state of art«
Trauma
Erster »hit« Gewebe-/Organschaden/Frakturen
Schmerz, Stress
Hypoxie/Hypotonie
Reversibles MODS
Stabilisierungsmaßnahmen
SIRS
CARS
⊡ Abb. 18.1 Pathophysiologie des Traumas (Dunham et al. 1995; Keel u. Trentz 2005; Lee et al. 2001; Napolitano et al. 2000; Ni Choileain u. Redmond 2006; Saadia u. Schein 1999). CARS »compensatory antiinflammatory response syndrome« (kompensierendes antiinflammatorisches Reaktionssyndrom); MODS »multiple organ dysfunction syndrome« (Multiorgandysfunktionssyndrom); MOF »multiple organ failure« (Multiorganversagen); SIRS »systemic inflammatory response syndrome« (systemisch-inflammatorisches Reaktionssyndrom
Zweiter »hit« Interventionen (Abklärungen, Chirurgie etc.)
Hypermetabolis mus
Spätes MODS
Frühes MODS
IschämieReperfusions-Schaden Infektionen/Sepsis
MOF
Patienten den prolongierten hämorrhagischen Schock dank standardisierter Stabilisierungsmaßnahmen sowie frühzeitiger operativer Eingriffe überleben. Sie sterben erst nach Tagen oder Wochen am Multiorganversagen. Die Forschung der vergangenen 10–20 Jahre hat sich intensiv mit diesen Phänomenen auseinandergesetzt. Seit Längerem sind immunologische Reaktionen – bedingt durch den Schockzustand, das Trauma selbst oder verschiedene therapeutische Maßnahmen – ins Zentrum der wissenschaftlichen Untersuchungen gerückt. Dabei kam es zu einem Paradigmawechsel. > Das Trauma wird heutzutage nicht mehr als rein mechanische Störung, sondern auch als systemische Krankheit begriffen.
Man spricht vom SIRS-MODS-CARS-Paradigma (SIRS = »systemic inflammatory response syndrome«, CARS = »compensatory antiinflammatory response syndrome«; Ni Choileain u. Redmond 2006) und postuliert ein »One«- bzw. »Two-hit«Modell (Lee et al. 2001; Saadia u. Schein 1999). Beide Modelle basieren auf einem komplexen Netz ineinandergreifender Vorstellungen (⊡ Abb. 18.1).
»One-hit«-Modell Der erste »hit«, d. h. die primären Verletzungen zusammen mit Hypoxie und Hypotension, bestimmen das Ausmaß der unmittelbaren und frühen Todesfälle. Die späten Todesfälle stehen mit dem zweiten »hit« in Zusammenhang. Überlebt der Patient dank Stabilisierungsmaßnahmen den ersten »hit«, reagiert der Körper mit einer systemischen Entzündung (SIRS).
SIRS und Sepsis
▬ SIRS: ≥2 der folgenden Kriterien vorhanden: – – – –
Atemfrequenz von >20/min Herzfrequenz von >90/min Körpertemperatur von <36°C oder >38,5°C Linksverschiebung des Blutbilds und >10% unreife Leukozyten ▬ Sepsis: SIRS und Nachweis einer Infektion
Im Zentrum des Geschehens stehen das Monozyten-Makrophagen-System sowie molekulare Mechanismen.
18
336
18
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
> Ziele dieser Reaktionen sind: ▬ Abschottung der Schadenszone ▬ Abbau von Nekrosen ▬ Aktivierung der immunologischen Abwehr ▬ Ingangsetzung reparativer Vorgänge
> Hypothermie, metabolische Azidose und Koagulopathie – im Ausdruck »tödliche Trias« zusammengefasst – sind die wichtigsten physiologischen Marker und beeinflussbaren Größen, welche ein MODS auslösen können (Rotondo u. Zonies 1997).
Dank proinflammatorischer Mediatoren wie Zytokinen, Arachidonsäuremetaboliten und Toxinen – freigesetzt im Rahmen der Gewebeschädigung – wird die plasmatische Kaskade, bestehend aus den Komplementfaktoren, dem KallikreinKinin-System und der Gerinnungskette, stimuliert (Keel u. Trentz 2005). Als Folge davon kann es zu einer disseminierten intravaskulären Koagulopathie sowie zur Zerstörung von Endothel- (»capillary leak«) und Parenchymzellen (Zelltod) mit konsekutiv irreversiblem MODS bzw. Multiorganversagen kommen. Die Ausprägung dieser Störungen sowie die Mortalität hängen vom Schweregrad des SIRS ab (Napolitano et al. 2000). Je nach Schwere des Traumas und postoperativem Verlauf werden auch antiinflammatorische Mediatoren produziert. Der Körper versucht mit Hilfe des CARS, sekundäre, SIRSverursachte Gewebeschädigungen in Grenzen zu halten. Eine Dysbalance zwischen SIRS und CARS begünstigt das MODS. Überwiegt das SIRS, kann es zu einer Autodestruktion vitaler Organe kommen. Überwiegt das CARS, nimmt die Abwehr ab. Das Auftreten von Infektionen und einer Sepsis wird begünstigt. Man vermutet aber auch, dass leichte bis mittelschwere SIRS-Formen den Heilungsprozess fördern und dass in diesem Fall höchstens reversible Organdysfunktionen entstehen. Das schwere Trauma führt jedoch primär zum ungebremsten SIRS und in der Folge zum frühen MODS (innerhalb von 72 h).
Ein vertieftes Verständnis der Pathophysiologie bildet daher die Basis für die neuen Versorgungskonzepte.
»Two-hit«-Modell
Die Traumaepidemiologie hat gelehrt, dass die rasche Stabilisierung von Atmung und Kreislauf sowie die schnelle Blutungskontrolle den größten Einfluss auf das Überleben und das Outcome von Traumapatienten haben. Diese Fakten lagen bereits in den 1980er Jahren vor. Sie führten zum Konzept der »golden hour« im Sinne einer »total preparedness for any life-threatening injury« (Cowley 1977). Es war bekannt, dass Schwerverletzte in den ersten 2–3 h starben, weil beim Eintreffen auf der Notfallstation aufgrund der Stabilisierung bereits ein großer Teil der »golden hour« tatenlos verstrichen war. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die Bedeutung des Faktors »Zeit« und damit die Forderung nach schnellstmöglichen therapeutischen Sofortmaßsnahmen zu verstehen. Die Idee der »golden hour« bzw. »golden period« (Boyd u. Cowley 1983) führte zu 2 Konzepten, nämlich dem Konzept »Traumasystem« und dem Konzept »ATLS« (»advanced trauma life support«). Das moderne Verständnis von Trauma als systemische Krankheit hatte ein weiteres Konzept, die »damage control«, zur Folge. Die 3 Konzepte basieren auf unterschiedlicher Evidenz. Zum Teil fehlen entsprechende Studien. Auch erschweren methodologische Probleme (Bias und Confounding) sowie gesellschaftliche Einflüsse nicht selten eine objektive Beweisführung (Osterwalder 2002, 2004). Aus diesem Grunde ersetzen unter-
Beim »Two-hit«-Modell gilt, dass leichte bis mittelschwere SIRS-Formen durch sekundäre, multiple oder sequenzielle »hits« in schwere oder irreversible Formen übergehen. Die Folge davon ist ein spätes MODS. Sowohl endogene als auch exogene Faktoren können sekundäre »hits« bewirken. Zu den endogenen Faktoren zählen beispielsweise (Dunham et al. 1995): ▬ respiratorischer Disstress (Hypoxie) ▬ wiederholte Kreislaufinstabilitäten ▬ metabolische Azidose ▬ Ischämie-Reperfusions-Schäden ▬ Gewebenekrosen ▬ Fremdkörper- und allgemeine Infektionen Die exogenen Faktoren stehen mit chirurgischen und anderen Interventionen in Zusammenhang: ▬ zusätzliche Gewebeschädigungen ▬ Hypothermie ▬ Blutungen ▬ Massentransfusionen ▬ inadäquate oder verspätete operative Eingriffe und Intensivtherapie ▬ übersehene oder unterschätzte Verletzungen
Neuroendokrine und metabolische Reaktionen Schmerz und Stress provozieren neuroendokrine und metabolische Reaktionen. Der Stoffwechsel stellt sich um, was zusätzlich das Immunsystem aktiviert. Die frühzeitige Behandlung von Schmerzen und Stress, d. h. während der initialen Phase, hilft, entsprechende Schädigungen zu vermeiden.
Koagulopathie Ein Viertel aller Mittel- bis Schwerverletzten zeigen bei der Notfallaufnahme eine Koagulopathie (MacLeod 2008). Diese frühe oder primäre Koagulopathie ist ein unabhängiger Mortalitätsprädiktor. Sie zeichnet sich durch eine systemische Gerinnungsstörung und eine Hyperfibrinolyse aus. Man nimmt an, dass Trauma und Hypoperfusion via Ausscheidung von Thrombomodulin zur Aktivierung von Protein C und damit zu Gerinnungsstörungen führen. Darum sei die primäre Koagulopathie gegenüber Frischplasma resistent. Von der primären Gerinnungsstörung unterscheidet sich die sekundäre. Deren Ursachen sind Verlust, Verdünnung und Verbrauch von Gerinnungsfaktoren sowie Azidose und Hypothermie.
18.2.3
Grundlagen der Traumaversorgung
337 18.2 · Allgemeiner »state of art«
schiedliche regionale und überregionale Konsensusempfehlungen die ausstehenden, evidenzbasierten Richtlinien.
Traumasystem Der Begriff »Traumasystem« wird als koordinierte Traumaversorgung definiert, welche in ein regionales Gesundheitssystem integriert ist (Gwinnutt et al. 2001). Drei Grundideen charakterisieren das moderne Traumasystem: ▬ Die Traumaversorgung beginnt bereits am Unfallort. ▬ Alle mittel- bis schwerverletzten Patienten werden direkt in einem Traumazentrum behandelt. ▬ Auf allen Stufen, d. h. vom Unfallort bis zur Rehabilitation, erfolgt eine zeitgerechte Versorgung durch den am besten geeigneten Arzt. Solche Traumasysteme sind in den USA, in Kanada, in Australien und in mehreren europäischen Ländern mit unterschiedlichem Realisierungsgrad etabliert. Es bestehen gute Hinweise darauf, dass die Einführung von regionalen Traumasystemen die Mortalität von Traumapatienten in den vergangenen 20–30 Jahren um 15–20% zu senken vermochte (Celso et al. 2006; Potenza et al. 2004; Regel et al. 1995). Zusätzlich dürften sich Traumasysteme auch positiv auf die Lebensqualität der Überlebenden (Rhodes et al. 1998) und andere Morbiditäts-Outcome-Größen auswirken (Davis et al. 1992; Shackford et al. 1985).
»Advanced trauma life support« Der Begriff ATLS (»advanced trauma life support«) bezeichnet alle frühen Maßnahmen, welche zur Lebensrettung sowie zur Organ- und Extremitätenerhaltung von Traumapatienten beitragen und welche Morbidität wie auch Komplikationen verhindern oder minimieren. Es ist ein umfassendes Konzept, das die Versorgung am Unfallort und in der Notfallaufnahme nach Prioritäten regelt. Die Grundphilosophie von ATLS orientiert sich an der Tatsache, dass bestimmte Verletzungsmuster in einem reproduzierbaren Zeitrahmen zum Tod führen (American College of Surgeons 2004). Dieser »Todesfahrplan« kann mit Hilfe eines systematischen, nach Prioritäten geordneten, diagnostisch-therapeutischen Stufenplans durchbrochen werden. ATLS beginnt mit der Phase der Erstbeurteilung und der Sofortmaßnahmen. Unter Monitorüberwachung folgt nach der fokussierten Anamnese die Zweitbeurteilung. Sollte sich der Patient verschlechtern, werden die Erstbeurteilung wiederholt und notwendige Sofortmaßnahmen ergriffen. Am Ende des ATLS stehen schließlich die Entscheidungen für die weitere kurz- und mittelfristige Versorgung des Patienten. Der präklinische ATLS, auch »prehospital trauma life support« (PHTLS) genannt, unterscheidet sich vom ATLS in der Notfallstation. Nebst den diagnostischen und therapeutischen Einschränkungen ist v. a. die Phase der Zweitbeurteilung verschieden. Am Unfallort besteht die Zweitbeurteilung im »globalen Bodycheck« und auf der Notfallstation in der kompletten Untersuchung des Patienten, d. h. von Kopf bis Fuß sowie unter Einbeziehung einer großen Palette von Hilfsuntersuchungen (z. B. Einsatz bildgebender Verfahren).
Trotz 30-jähriger Erfahrung ist der Einfluss des ATLS auf das Outcome von Traumapatienten noch unklar. Gemäß eines kürzlich veröffentlichten Chochrane-Reviews liegt keine strenge Evidenz dafür vor, dass die ATLS-Ausbildung des Krankenhauspersonals das Outcome von Traumapatienten positiv beeinflusst (Habibula et al. 2006); sie verbessert wahrscheinlich den theoretischen und praktischen Wissensstand und hilft zumindest in Notfallsituationen, sofort und einheitlich zu handeln. Zudem können jedem Teammitglied zuvor eingeübte und klar definierte Aufgaben zugeteilt werden. Im Gegensatz zum klinischen ATLS sind die Ergebnisse beim präklinischen ATLS widersprüchlich. Aus diesem Grund raten die Autoren einer Cochrane-Metaanalyse vom ATLS in der präklinischen Phase außerhalb kontrollierter und randomisierter Studien ab (Sethi et al. 2006). In der europäischen Praxis hält man sich jedoch mehrheitlich und mit guten Grund nicht an diese Empfehlungen. Es gilt vielmehr folgender Grundsatz: Wo angezeigt, »scoop and run«; wenn notwendig, »stay and play«.
»Damage-control«-Ansatz Immer mehr Traumapatienten sterben dank rascher Stabilisierung des Kreislaufs und früher chirurgischer Interventionen nicht mehr in der Frühphase, sondern erst nach Tagen oder Wochen am Organversagen (Ni Choileain u. Redmond 2006; Rotondo u. Zonies 1997; Saadi u. Schein 1999). Wie bereits dargestellt, vermutet man, dass ein Ungleichgewicht zwischen systemischer Entzündungsreaktion (SIRS) und kompensatorischer Antientzündungsreaktion (CARS) für einen Großteil der späten Mortalität und Morbidität verantwortlich ist (Ni Choileain u. Redmond 2006). Im Rahmen des daraus abgeleiteten »Two-hit«-Modells entstand das Konzept der »damage control« (Rotondo u. Zonies 1997; Sagraves et al. 2006). > Die anatomische Wiederherstellung wird zugunsten der Lebensrettung, der Stabilisierung und der Normalisierung der Physiologie aufgeschoben. Die pathophysiologische Erklärung ist einfach: Man will in erster Linie die Folgen der tödlichen Trias aus Azidose, Hypothermie und Koagulopathie durchbrechen, und zwar mithilfe alternativer Operationstechniken zur Verkürzung von Operationszeiten und zur Minimierung von Gewebeschäden sowie mittels einer nachfolgenden aggressiven Stabilisierung des Patienten auf der Intensivstation (Rotondo u. Zonies 1997; Sagraves et al. 2006).
Die »damage control« besteht aus 3 Phasen (Rotondo u. Zonies 1997): ▬ unverzügliche chirurgische Exploration sowie Blutungsund Kontaminationskontrolle ▬ aggressive, sekundäre Stabilisierung auf der Intensivstation mit Maximierung der Hämodynamik, zentraler Erwärmung, Kontrolle der Koagulopathie, optimaler Ventilation sowie »Second-look«-Operationen ▬ definitive chirurgisch-anatomische Rekonstruktion nach physiologischer Stabilisierung Im »Damage-control«-Ansatz sind die Kriterien für den Zeitpunkt, das Ausmaß und die Abfolge der chirurgischen Eingriffe
18
338
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
⊡ Tab. 18.1 Kriterien für den optimalen Zeitpunkt und die beste Abfolge von Operationen. (Mod. nach Keel et al. 2005) Kriterien (physiologischer Zustand)
Eingriffe
Zeitpunkt
In extremis
Lebensrettende Chirurgie
Tag 1
Instabil
»Damage control surgery«, »damage control orthopaedics«
Stabil
»Early total care«
SIRS
Nur »Second look surgery«
Tage 2–3
»Window of opportunity«
Geplante definitive Chirurgie
Tage 4–10
CARS
Keine elektive Chirurgie
Tage 11–21
Erholung
Sekundäre, rekonstruktive Chirurgie
≥4 Wochen
CARS »compensatory antiinflammatory response syndrome«; SIRS »systemic inflammatory response syndrome«
von großer Bedeutung (⊡ Tab. 18.1; Keel et al. 2005). Sie gelten nicht nur für abdominale Verletzungen, sondern auch für Verletzungen in anderen Körperbereichen wie Thorax, Wirbelsäule, Becken und Extremitäten (Giannoudis et al. 2002; Keel et al. 2005; Pape et al. 2002). So existieren z. B. Richtlinien für den optimalen Operationszeitpunkt zur Fixierung von Frakturen langer Röhrenknochen beim Polytrauma (i. d. R. früh, jedoch individualisiert bei schwerem SHT und Thoraxtrauma; Dunham et al. 2001). Auch hier bewegt man sich im Bereich von Annahmen und Hypothesen. Es fehlen nämlich weitgehend aussagekräftige klinische und biologische Studien, welche die Richtigkeit des »Two-hit«-Modells beweisen (Saadi u. Schein 1999).
18.2.4
18
Praktisches Trauma-ABC
Aufgrund zahlreicher klinisch-epidemiologischer Untersuchungen und pathophysiologischer Modelle (s. oben) weiß man, dass die Versorgung von Traumapatienten eine schnelle Beurteilung der Vitalfunktionen und Verletzungen sowie simultan dazu lebensrettende wie auch organ- und extremitätenerhaltende Sofortmaßnahmen erfordert (American College of Surgeons 2004; Keel et al. 2005). Weil der Faktor »Zeit« eine entscheidende Rolle spielt, ist ein systematisches, sofort abrufbares und leicht umzusetzendes Vorgehen von größter Bedeutung. Dieser Prozess wird im ATLS »initial assessment« genannt (American College of Surgeons 2004). Im initialen Assessment geht es darum, ▬ lebensbedrohliche Verletzungen und Störungen sofort zu erkennen und zu beheben, ▬ die Vitalfunktionen zu stabilisieren, ▬ das Ausmaß der Verletzungen einzuschätzen und ▬ die Patienten für die weitere Abklärung und Behandlung vorzubereiten und – falls notwendig – in ein Zentrumsspital zu verlegen. Dabei gelten folgende Grundsätze: immer ▬ vom Schlimmsten ausgehen, ▬ die ABCD-Prioritäten einhalten (Atemwegsprobleme → Probleme der Ventilation → Probleme der Zirkulation → SHT),
▬ lebensbedrohliche Zustände sofort behandeln (größte Lebensbedrohung zuerst abwenden) und ▬ bei Änderungen der Vitalfunktionen re-evaluieren und wieder von vorne beim A (Atemwege) beginnen. Das initiale Assessment besteht aus verschiedenen Schritten. Diese sind in ⊡ Abb. 18.2 zusammengefasst. Die wichtigsten Komponenten der einzelnen Schritte sind nachfolgend aufgelistet.
Anmeldung Die Anmeldephase ist kritisch und soll nach einem eingespielten Schema im Sinne einer Checkliste ablaufen. Nur so wird nichts vergessen, treten keine Verständnisprobleme auf und ist der zeitliche Aufwand optimal.
Checkliste »Anmeldung«
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Adressat? Anzahl Verletzter? Alter? Geschlecht? Unfallmechanismus? Schweregrad (leicht bis schwer)? ABC-Probleme? Patienten intubiert? Sofortmaßnahmen für die Notfallstation erforderlich? Ankunftszeit?
Vorbereitung Je nach Spitalgröße, Organisation und Verletzungsschweregrad soll anhand vorbestimmter Kriterien als Erstes ein entsprechendes Trauma-Team aufgeboten werden. Die Rollenverteilung sowie die Person des Trauma-Leaders müssen festgelegt sein. Die einzelnen Aufgaben im Rahmen der Erstbeurteilung (ABCDE) können simultan von verschiedenen Personen des Teams durchgeführt werden. Ein Beispiel ist in der nachfolgenden Übersicht aufgeführt.
339 18.2 · Allgemeiner »state of art«
Prähospitalphase
Initiale Spitalphase
Erstbeurteilung: Vitalfunktionen
Monitoring + Re-Evaluation
Sofortmaßnahmen
Zweitbeurteilung: Analgesie/Schienen
Wahl des Zielspitals
Anmeldung
Vorbereitung
Transport
Übergabe
Erstbeurteilung: Vitalfunktionen?
Sofortmaßnahmen (inklusive Chirurgie)
Effekt auf Vitalfunktionen? + Zweitbeurteilung mit weiteren Maßnahmen, Monitoring und Re-Evaluation
Frühe, definitive Versorgung
Zusammensetzung und Aufgaben des Traumateams am Kantonsspital St. Gallen während der Erstbeurteilung
▬ Team-Leader (klinischer Notallmediziner oder Allgemeinchirurg mit ATLS Ausbildung): – Organisation (Einbezug der notwendigen Spezialisten, Ablauf ) – Führung – Setzen von Prioritäten – E-FAST (»extended focused assessment with sonography for trauma«) – je nach Team-Zusammensetzung auch weitere praktische Aufgaben (s. nachfolgend) ▬ Anästhesie: – Atemwegsmanagement – Anlage eines i.v.-Zugangs – Analgesie – Sedierung ▼ – Relaxation
±(Transient) »Damage control« (»bail-out surgery«)*
Intensivstation
⊡ Abb. 18.2 Initiales Assessment (American College of Surgeons 2004; Keel et al. 2005). * Abrupte Beendigung der Operation bei unmittelbarem Todesrisiko
– Gabe von Flüssigkeit – Gerinnungsoptimierung – Verabreichung von Vasoaktiva ▬ chirurgische Disziplinen (Allgemeinchirurgie, Orthopädie, Neurochirurgie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde): – Anlage eines Halskragens – Koniotomie (zusammen mit Anästhesie) – Thorax- und Perikarddrainage – externe Blutstillung – Anlage eines Beckengurts oder evtl. einer Beckenzwinge – provisorische Erstbeurteilung und Erstversorgung ausgewählter Frakturen ▬ Pflegedienst: – Entkleiden des Patienten – Wärmen des Verletzten – Blutentnahme – Organisation von Blutprodukten ▬ Radiologie: Thorax- und Beckenröntgenuntersuchungen
18
340
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
Es folgen die Vorbereitungen für die Aufnahme im Schockraum mit Bereitstellung von:
Kinematik
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Im Zentrum der Anamnese steht die Kinematik des Traumas (NAEMT u. ASCOT 2003). Anhand der Unfallsituation und des Unfallhergangs, d. h. der einwirkenden Kräfte und Bewegungen, kann auf mögliche Verletzungen geschlossen werden. Dabei sind die Verletzungen nicht nur eine Funktion der Menge an kinetischer Energie, sondern auch der Toleranz verschiedener Körperteile und Organe auf die einwirkenden Kräften. Die Kinematik ist der Schlüssel zur Identifikation von äußerlich nicht erkennbaren inneren Verletzungen und damit ein wichtiger Faktor für die Verhinderung iatrogen bedingter Morbidität und Mortalität.
▬ ▬ ▬ ▬
angewärmten Infusionen 0-negativen Erythrozytenkonzentraten Fibrinogen Faktor XIII Tranexamsäure Prothrombinkomplex diagnostischen Apparaturen (für Thrombelastographie und Sonographie) Wärmedecke/-belüftung Schaufelbahre Bülau-Drainage-Set Beckengurt
Die Radiologie wird informiert und der CT-Raum sowie gegebenenfalls die Angiographieanlage freigehalten. Je nach Art und Schwere der Verletzungen muss man das laufende Operationsprogramm unterbrechen und einen Platz auf der Intensivstation reservieren. Schließlich sollen sich Ärzte und Pflegepersonen dank entsprechender Kleidung vor einer allfälligen Kontamination mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten schützen.
Übergabe Besonders kritisch und fehleranfällig ist die Schnittstelle der Patientenübergabe in der Notfallaufnahme. Dieser Prozess wird in den Lehrbüchern kaum besprochen. Wissenschaftliche Arbeiten dazu fehlen weitgehend. Am Kantonsspital St. Gallen geht man folgendermaßen vor: Als Erstes stellt sich der Team-Leader vor und begrüßt das Rettungsteam. Anhand des gemeinsam durchgeführten »ABCDE-Ablaufs« werden die notwendigen Sofortmaßnahmen (inklusive Analgesie) festgelegt und durchgeführt. Es erfolgt die Übergabe von Beatmung (Cave: Hyper- und Hypoventilation) und Monitoring an die Anästhesie. Je nach Situation schließt sich ein Kurzbericht oder ein ausführlicher Rapport an. Dieser Rapport sollte mindestens 4 Elemente enthalten: ▬ Traumamechanismus (s. Übersicht zur Kinematik) ▬ Verletzungen ▬ Symptome (ABCDE) und Behandlung ▬ falls vorhanden zusätzlich wichtige Angaben zur persönlichen Anamnese
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Der Patient wird vollständig entkleidet, das Monitoring-Instrumentarium mit Ausnahme des Pulsoxymetriegeräts entfernt und die Rückseite des Patienten mittels Log-roll (zum Schutz einer möglichen instabilen Wirbelkörperfraktur) beim Aufladen auf die Schaufelbahre untersucht. Nach der Umlagerung auf die Notfallliege richtet sich das Notfall-Team ein und wiederholt den ABC-Ablauf. Die Rettungsmannschaft vervollständigt bei Bedarf die Anamnese, dokumentiert den Einsatz, hinterlässt die Kontaktkoordinaten und verabschiedet sich.
Erstbeurteilung (ABC- und Sofortmaßnahmen) Die gemeinsame Basis lebensbedrohlicher Verletzungen ist der Mangel an Sauerstoff (NAEMT u. ASCOT 2003). Bei der Erstbeurteilung geht es daher um das Erkennen und die sofortige Behandlung des Sauerstoffmangels. Ein solcher kann durch Behinderungen im Bereich der Atemwege, Störungen von Oxygenierung, Ventilation und Perfusion sowie Blutungen entstehen. > Traumapatienten sollten immer nach dem ABCDESchema unter Einhaltung der prioritären Reihenfolge evaluiert und behandelt werden. Für Details sei auf das ATLS-Manual (American College of Surgeons 2004) hingewiesen.
Nachfolgend sind die wichtigsten Ziele der einzelnen ABCDESchritte aufgelistet: ▬ A – Atemwege freimachen und freihalten sowie Kontrolle der Halswirbelsäule. Beim Schritt A gilt es, Atemwegsverletzungen zu erkennen und zu beseitigen sowie eine Tetraplegie oder -parese durch unsachgemäße Manipulationen zu vermeiden. ▬ B – »breathing« und Ventilation. Beim Schritt B besteht das Ziel in einer ausreichenden Oxygenierung und Ventilation. Apnoe, Hypoventilation, Hypoxie, offener Pneumothorax, Spannungspneumothorax (E-FAST) sowie ein massiver Hämatothorax (E-FAST) sind sofort zu behandeln. ▬ C – »circulation« und – neu – »coagulation« (nicht Teil des offiziellen ATLS-Vorgehens). Beim Schritt C sollen massive Blutungen (E-FAST) erkannt und falls möglich gestoppt (z. B. Kompression externer Hämorrhagien und Beckenfrakturen vom Typ »open book«) sowie eine allfällige Perikardtamponade (E-FAST) drainiert werden. Weiterhin erfolgt ein erster Stabilisierungsversuch des Kreislaufs mittels Volumengabe (bedarfsgerecht mit auf 37°C vorgewärmten Infusionen), frühzeitiger, initial blinder Gerinnungsoptimierung (Fibrinogen, Faktor XIII, Tranexamsäure und bei Patienten mit Antikoagulation Aufhebung derselben) sowie in ausgewählten Fällen mittels zusätzlicher Katecholamingaben. ▬ D – »disability«. Beim Schritt D stehen das Erkennen und das Einschätzen von Hirn- und Rückenmarkläsionen in
341 18.2 · Allgemeiner »state of art«
Hinblick auf eine unverzügliche Behandlungsbedürftigkeit im Mittelpunkt. Es geht dabei um die hohe Tetraplegie mit drohender Atemlähmung oder neurogenem Schock sowie um den erhöhten Hirndruck mit drohender Einklemmung. ▬ E – Exposition. Schließlich wird beim Schritt E der gesamte Körper auf externe Blutungen (hinten, insbesondere im Bereich des Okziput, das durch den Halskragen oft verdeckt wird, und vorne) und größere Deformitäten (Frakturen/Hämatome) abgesucht. Äußere Blutungen sind sofort zu komprimieren. Von zentraler Wichtigkeit ist die Behandlung oder Prävention der Unterkühlung mittels Wärmedecke/-belüftung. Zur Erstbeurteilung und -versorgung gehören je nach Situation folgende technische Hilfsmittel/Parameter und Maßnahmen:
▬ Diagnostik und Überwachung: – Sauerstoffsättigung – endexspiratorische Kohlendioxidkonzentration – automatische Blutdruckmessung – EKG-Monitoring – Blutentnahme (bestimmte Parameter/durchgeführte Untersuchungen: Blutgruppe, Crossmatch, Basislabor, falls möglich Bedside-Quick-Wert, Blutgasanalyse, Thrombelastographie) – Anlage eines Urinkatheters ! Cave Bei Verdacht auf Urethraverletzung ist die Anlage eines Urinkatheters kontraindiziert ( Kap. 18.3.5).
– Anlage einer Magensonde ! Cave Bei Verdacht auf Schädelbasis-/Gesichtsfrakturen darf keine nasogastrale Sonde verwendet werden.
– Röntgenuntersuchung von Thorax und Becken (sowie allenfalls der Halswirbelsäule) – Sonographie (E-FAST; wird in St. Gallen rund um die Uhr vom Team-Leader oder vom diensthabenden Allgemein- und Viszeralchirurgen durchgeführt) ▬ Therapie und Prävention: – Anlage eines steifen Halskragens – Sicherung der Atemwege – adäquate Oxygenierung und Ventilation – Anlage eines Entlastungsvenflons bzw. eines Pneumocath bei Adipösen (für die Behandlung eines Spannungspneumothorax) – Anbringen eines Thoraxschlauchs (bei Pneumo- und Hämatothorax) – Anlage eines i.v.-Zugangs – differenzierter Volumenersatz – Analgesie – Sedierung und Relaxation (bei Intubierten) – Kontrolle externer Blutungen – Gerinnungsoptimierung – Anbringen eines Beckengurts
– provisorische Erstversorgung von ausgewählten Frakturen – Auflage einer Wärmedecke/-belüftung – Immobilisation der gesamten Wirbelsäule ▬ Zweitbeurteilung: Wenn Patienten stabil sind oder stabilisiert werden können, folgt die Zweitbeurteilung nach Vervollständigung der Anamnese. Die Phase der Zweitbeurteilung umfasst die komplette Untersuchung von Kopf bis Fuß, diverse Labortests, die gesamte Palette radiologischer Abklärungen und zusätzlich weitere diagnostische oder therapeutische Hilfsmittel, z. B. Arteriensondierung oder Anlage eines Zystofix. Das konkrete Vorgehen hängt von individuellen Faktoren ab. Insbesondere die Verfügbarkeit eines Mehrzeilen-CT-Geräts hat einen großen Einfluss auf den Ablauf dieser Phase. Eine Notfall-MRT wird derzeit nur bei Verdacht auf SCIWORA (»spinal cord injury without radiologic abnormalities«) empfohlen. Weiterhin gilt uneingeschränkt der Grundsatz, dass man bei Verschlechterung des Zustands sofort zum ABCSchema der Erstbeurteilung zurückkehrt. Schließlich steht am Schluss der Zweitbeurteilung die Entscheidung über das weitere Procedere, d. h. über die Verlegung in den Operationssaal, auf die Intensivstation oder in ein größeres Zentrum.
»Damage control surgery«und »damage control orthopedics« Unter »damage control surgery« (DCS) versteht man Abdominaleingriffe, welche auf die Blutungs- und Kontaminationskontrolle beschränkt sind. »Damage control orthopedics« (DCO) bezeichnet dieselbe Operationsidee (Blutungs- und Kontaminationskontrolle) am Becken, an den Extremitäten und an der Wirbelsäule mit Blutungsstillung, Kontaminationskontrolle und temporärer Stabilisierung von Frakturen (mittels Fixateur externe). Man will die Operationszeiten kurz und das zusätzliche Trauma möglichst gering halten. So benötigen Patienten, welche dank lebensrettender chirurgischer Sofortmaßnahmen wie z. B. Koniotomie oder Dekompression von Spannungspneumothorax und Perikardtamponade überleben, wegen assoziierter Verletzungen am Kopf, am Rumpf oder an den Extremitäten oft zusätzliche operative Eingriffe. Darunter fallen auch dringend durchzuführende und damit lebensrettende oder organ-/extremitätenerhaltende Operationen wie beispielsweise die Evakuation eines akuten Epiduralhämatoms, die Hämostase anhaltender Blutungen sowie die Fixation von Frakturen mittels Fixateur externe. > Die Entscheidung, ob primär die Blutstillung mit definitiver anatomischer Rekonstruktion möglich ist oder besser ein DC-Verfahren gewählt wird, hängt von der Klinik, den physiologischen Parametern sowie dem Ausmaß der Operation ab.
Entsprechende Empfehlungen aus der Literatur wurden in einer Übersichtsarbeit von der Zürcher Traumagruppe zusammengefasst und mit eigenen Erfahrungswerten belegt (Keel et al. 2005). Prospektive Studien dazu fehlen allerdings noch.
18
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Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
Indikationen für DC-Interventionen (Keel et al. 2005)
▬ Klinisches Bild: – transienter »responder« mit Hypotonie von <90 mmHg über 70 min Dauer oder Bedarf von >10–15 Erythrozytenkonzentraten – ISS >35/AISKopf >2/ISS >20 und AISThorax >2 (ISS: »injury severity score«; AIS: »abbreviated injury score«) – Mehrfachverletzungen mit Abdominal-/Beckentrauma und hämorrhagischem Schock – bilaterale pulmonale Kontusionen – geschätzte Operationsdauer von >60 min und vermuteter größerer Blutverlust ▬ Physiologische Parameter: – Hypothermie von <34°C – Koagulopathie (Quick-Wert von >19 s oder PTT von >60 s, Thrombozytenzahl von <90.000/μl) – Azidose (pH-Wert von <7,2 oder Laktatkonzentration von >5 mmol/l)
18.2.5
Hämorrhagischer Schock
Weil schwere Blutungen eine primäre Ursache für Todesfälle im Schockraum sind und geeignete Gegenmaßnahmen zur Verfügung stehen, wird das Vorgehen beim hämorrhagischen Schock gesondert besprochen. > Der Begriff »Schock« bezeichnet einen anormalen Kreislauf mit Minderperfusion und Minderoxygenierung des Gewebes. Das Schocksyndrom ist eine Folge der Kreislaufinsuffizienz und damit die Krankheit des hypoperfundierten Gewebes.
Nebst dem hämorrhagischen Schock kennt man weitere, beim Trauma jedoch eher seltenere Ursachen für einen Schockzustand: ▬ kardiogener Schock infolge eines myokardialen Pumpversagens bei Spannungspneumothorax, Perikardtamponade und direkte Verletzungen im Herzbereich ▬ neurogener Schock bei Sympathikusverlust im Rahmen eines hohen Querschnittsyndroms ▬ anaphylaktischer Schock ▬ septischer Schock (in der traumabedingten Notfallsituation kaum relevant) z
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Diagnostik
Am Anfang der Schockbehandlung steht die Diagnostik. Gleichzeitig müssen rasch therapeutische Sofort- oder Stabilisierungsmaßnahmen eingeleitet werden. Entsprechend der Definition »Schock« lässt sich die Diagnose nur mit Hilfe klinischer Zeichen stellen. Diese können subtil sein (Unruhe, Blässe, Hyperventilation, leichte Tachykardie oder relative Bradykardie sowie kleine Pulsamplitude), aber auch durch verschiedene Faktoren (Alter, Schwangerschaft, Trainingszustand, Hypothermie, Medikamente, Schrittmacher) verfälscht werden. Weil eine Hypotonie erst spät eintritt, erbringt ein damit in Zusammenhang stehender Schockindex (Pulsfrequenz/systolischer Blut-
druck) von <1 nur wenig Information. Der Schockindex ist bei Vorliegen einer relativen Bradykardie sogar falsch-hoch. > Mit Ausnahme von Basen-Exzess bzw. Laktatkonzentration und pH-Wert steht kein Laborparameter für die Schockdiagnostik zur Verfügung. Die Hämoglobinkonzentration und der Hämatokrit sind während der Blutungsdynamik unzuverlässig.
Alle 3 Größen erlauben es, das initiale Perfusionsdefizit (Davis et al. 1996), ein Ansprechen auf die Therapie sowie die Prognose abzuschätzen (Dunham et al. 1995). Wenn klinische Zeichen für einen Präschock (s. ATLS-Manual; American College of Surgeons 2004) oder einen manifesten Schock (systolischer Blutdruck von <90 mmHg) vorliegen, empfiehlt sich das folgende diagnostische Vorgehen: ▬ Sofortige Suche nach einer Blutung: Der entkleidete Patient wird hinten und vorne nach externen Hämorrhagien und Deformitäten/Schwellungen abgesucht. Weitere Hinweise auf Blutungen und Blutungslokalisationen geben die E-FASTUntersuchung (ergänzt durch eine Beurteilung der Hämodynamik mit Untersuchung der V. cava inferior und der Ventrikelfüllung) sowie die Thorax- und Beckenröntgendiagnostik. Kann eine Blutungsursache ausgeschlossen werden, muss man an die Möglichkeit eines obstruktiven, kardiogenen, neurogenen oder anaphylaktischen Schocks denken. ▬ Analyse der Gerinnungssituation (McKenzie et al. 1999): Die Thrombelastographie erlaubt innerhalb von 10–15 min die Unterscheidung zwischen plasmatischen Gerinnungsstörungen, einem Mangel an Thrombozyten oder Fibrinogen und einer schweren Hyperfibrinolyse. Auf diese Weise kann die Gerinnung durch Gabe der defizitären Komponenten (Fibrinogen, Faktor XIII, Prothrombinkomplex, Frischplasma, Thrombozyten bis zum Faktor VIIa und Antifibrinolytika) frühzeitig optimiert werden. > Die Globalparameter Quick-Wert und PTT erfassen im Gegensatz zur Thrombelastographie die Gerinnselbildung, -ausprägung, -festigkeit und -lyse nicht. Zudem sind die Befunde i. d. R. erst nach ca. 30–40 min verfügbar.
▬ Lokalisation und Feststellung der Aktivität der Blutung mittels CT mit Kontrastmittel: Bei Patienten, welche stabil sind oder stabilisiert werden können, folgt die CT. Dieses Prinzip wird allerdings durch die neuen, sehr schnellen Mehrzeilengeräte und Ganzkörperspiralen, welche im Schockraum integriert sind, aufgeweicht. Dabei lässt sich nicht nur die Lokalisation, sondern auch die Aktivität einer Blutung feststellen, und man kann daraus therapeutische Konsequenzen ziehen. Eine Alternative dazu ist die Sonographie mit Signalverstärker. z
Therapie
Die Behandlung des hämorrhagischen Schocks erfolgt stufenweise nach Prioritäten (⊡ Tab. 18.2; Boffard et al. 2005; Coimbra et al. 2005; Cook et al. 2002; Demetriades u. Velmahos et al. 2003; Dutton u. Carson 2006; Hagiwara et al. 2004; Healey e al. 2001; Hirshberg et al. 2006; Hoff et al. 2002; Holcomb 2003; Homma et al. 2005; Hoyt 2002, 2003; Kreimeier u. Messmer
343 18.2 · Allgemeiner »state of art«
⊡ Tab. 18.2 Therapieoptionen bei hämorrhagischem Schock (Literatur im Text) Phase Instabiler Zustand
Erster Stabilisierungsversuch
Zweiter Stabilisierungsversuch
Stabiler Zustand
Definitive Behandlung
Ziele
Maßnahmen
1. Verbesserung der Oxygenierung
Sauerstoffgabe Beutel-Masken-Beatmung
Blutstillung
Anlage eines Kompressionsverbands Anbringen eines Beckengurts
2. Verbesserung der Perfusion
Volumenersatz
3. Verbesserung der Oxygenierung
Intubation, kontrollierte Beatmung Gabe von Erythrozytenkonzentraten
4. Verbesserung der Perfusion
Vermeiden von Beatmungsfehlern Gabe von Katecholaminen (inklusive Vasopressin)
Optimierung der Gerinnung
Wärmung (Prävention einer Hypothermie) Gabe von Erythrozytenkonzentraten, Frischplasma, Fibrinogen, Gerinnungsfaktoren, Thrombozyten und Antifibrinolytika
Blutstillung
Blutstillung und definitive anatomische Rekonstruktion
Chirurgische Therapie Konservatives Vorgehen
2002; Kreimeier et al. 2002, 2003; Pepe et al. 2003; Pusateri et al. 2006; Stadlbauer et al. 2005; Voelckel et al. 2004). Ziele sind: ▬ Verbesserung von Oxygenierung und Perfusion ▬ Blutungskontrolle ▬ Gerinnungsoptimierung (initial blind) ▬ zentrale Erwärmung Die Besprechung der einzelnen Maßnahmen würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Weil jedoch die bisherigen Eckpfeiler der Therapie des hämorrhagischen Schocks, nämlich der aggressive i.v. Volumenersatz (s. ATLS-Empfehlungen; American College of Surgeons 2004) sowie die kontrollierte Beatmung mit PEEP (»positive end-expiratory pressure«, positiver endexspiratorischer Druck) und CPPV (»continuous positive pressure ventilation«, kontinuierliche positive Druckventilation), zunehmend infrage gestellt werden (Hirshberg et al. 2006; Pepe et al. 2003), wird darauf kurz eingegangen. Bei der Volumenersatztherapie bestehen Unklarheiten bezüglich optimalem Timing, Flüssigkeitszusammensetzung und Menge. Ziel ist es, Zeit für Diagnostik, Planung und Vorbereitung der Blutstillung (Chirurgie oder Angiographie/ Embolisierung) zu gewinnen, jedoch nicht um den Preis einer Zustandsverschlechterung. Es bestehen nämlich Hinweise darauf, dass der frühe Flüssigkeitsbolus die Gerinnselbildung verzögert oder verhindert und in der Folge den Blutverlust erhöht. Beim späten Flüssigkeitsbolus kann eine sistierte Blutung reaktiviert werden (Hirshberg et al. 2006; Holcomb 2003). Die sog. permissive Hypotonie, d. h. die Volumenersatztherapie mit dem Ziel, den systolischen Blutdruck maximal auf ein Niveau von 80–100 mmHg anzuheben und zu halten, soll für die Balance zwischen irreversiblem Schock (zu lange anhaltender zu
Lokale Gabe von Hämostatika Extension bei Frakturen langer Röhrenknochen »Damage-control«-Chirurgie Angiographie (Embolisierung) »Bail-out«-Chirurgie
tiefer Blutdruck) und erneuter Blutung (Abriss des Thrombus durch einen zu hohen Blutdruck) sorgen (Hoyt 2003; Kreimer et al. 2002). Ein bedarfsgerechtes und differenziertes Vorgehen, das die aktuelle Flüssigkeitskontroverse berücksichtigt, ist in ⊡ Abb. 18.3 dargestellt (Cooper et al. 2004; Doyle et al. 2001; Kreimeier et al. 2002). Holcomb 2003; Kreimeier et al. 2002, 2003; Voelckel et al. 2004). Bei der Notfallbeatmung sind die Verhältnisse etwas klarer. Man sollte möglichst auf die Einhaltung einer Normoventilation achten und die PEEP- bzw. CPPV-Ventilation so lange wie möglich hinauszögern (Pepe et al. 2003; Voelckel et al. 2004). Sowohl PEEP als auch CPPV und Hyperventilation erhöhen den intrathorakalen Druck. Sie reduzieren den venösen Rückstrom in das rechte Herz und lassen den Perfusionsdruck noch weiter absinken. Zusammenfassend können in der Stabilisierungsphase folgende Maßnahmen empfohlen werden (Dutton u. Carson 2006): ▬ aggressive Diagnostik und Behandlung ▬ Titration der Flüssigkeit bis Erreichen eines subnormalen Blutdrucks ▬ bei Massentransfusion auf ausgewogene Zusammensetzung achten: Erythrozytenkonzentrate und Frischplasma (aktuelle Empfehlung: Verhältnis von 1–2:1) sowie Thrombozyten, jedoch Fibrinogen, Faktor XIII, Tranexamsäure, Kalzium und andere Prokoagulanzien nicht vergessen ▬ Monitoring von Basen-Exzess, Serumlaktatspiegel und pHWert als Indikatoren der systemischen Perfusion ▬ Normothermie halten ▬ Ventilation; Ziele: – arterieller Sauerstoffgehalt: 99–100% – normale endexspiratorische Kohlendioxidkonzentration
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Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
Systolischer Blutdruck <90 mmHg
Hinweise für anhaltende Blutung? Ja
Nein
v t Partieller oder NonResponder auf Volumengabe
v Blutung steht (spontan, komprimiert)
v externe Blutung nicht kontrollierbar v CT-Befund (Kontrastmittelgabe)
Mit SHT und RMT: Zielblutdruck (systolisch): >90 mmHg v »Small volume resuscitation« (ggf. plus Katecholamine) v Blutprodukte
⊡ Abb. 18.3 Bedarfsgerechte Volumenersatztherapie bei hämorrhagischem Schock. RMT Rückenmarktrauma; SHT Schädel-Hirn-Trauma; »small volume«: hyperosmolare und hyperonkotische Lösung
Anfangs 2007 hat eine interdisziplinäre Gruppe von 15 Experten Richtlinien zum nichtoperativen Management des schweren hämorrhagischen Schocks bei Traumapatienten herausgegeben (Spahn et al. 2007). Diese Richtlinien werden von der European Society of Anaesthesiologists (ESA), der European Society of Intensive Care Medicine (ESCIM), der European Shock Society (ESS), der European Trauma Society (ETS) sowie der European Society for Emergency Medicine (EuSEM) unterstützt. Ein Update erschien im April 2010 (Rossaint et al. 2010).
18.3
Zielblutdruck (systolisch): nicht <80 mmHg und nicht >100 mmHg (abhängig von physiologischen Reserven) v Permissive Hypotension mit Kristalloiden, Kolloiden, Blutprodukten (Cave bei Älteren und Hypertonikern)
Adäquate Volumenersatztherapie v Kristalloide/Kolloide, »small volume resuscitation«, Blutprodukte (Abhängig von physiologischen Reserven)
Bedarfsgerecht heißt: abhängig von der Art der Blutung (kontrolliert/unkontrolliert), den physiologischen Reserven des Patienten und den zeitlichen Dimensionen
▬ graduell Narkosezustand anstreben (Reduzierung der endogenen Katecholaminausschüttung und Vasorelaxation anstelle von Vasokonstriktion) ▬ Erreichen eines Zielhämoglobinwerts von 7–8 g/dl für die Oxygenierung und wahrscheinlich etwas höher für die Gerinnung sowie Erreichen eines normalen Quick-Wertes, wenn die Blutung unter Kontrolle ist
18
Ohne SHT und RMT:
Spezieller »state of art«
In Ergänzung zum allgemeinen und übergeordneten Traumamanagement sind für den orthopädisch-traumatologisch ausgerichteten Chirurgen auch die Kenntnisse von und das
Verständnis für die Versorgung von Verletzungen im Schädel-Hirn-, Maxillofazial-, Thorax-, Abdominal-, Becken- und Extremitätenbereich von großer Relevanz. Davon, d. h. vom korrekten Ablauf und Setzen der richtigen Prioritäten, können das Leben und die weitere Funktionalität des Patienten abhängen. Besonders wichtige Aspekte im Ablauf und in der Versorgung der genannten Verletzungsregionen werden kurz besprochen. Für das Management der Wirbelsäulen- und Extremitätenverletzungen sei auf die jeweiligen speziellen Kapitel verwiesen.
18.3.1
Schädel-Hirn-Trauma
Die Schwierigkeiten bei der initialen Versorgung von Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (SHT) betreffen das Erkennen eines möglichen SHT, die angemessene Diagnostik, die zeitgerechte Evakuation eines epi- oder subduralen Hämatoms sowie die Verhinderung von Sekundärschäden. Damit ist das initiale Management der entscheidende beeinflussbare prognostische Faktor. z
Diagnostik
Eine Verletzung am Kopf bedeutet nicht automatisch auch eine Mitbeteiligung des Gehirns. Umgekehrt kann eine Hirn-
18
345 18.3 · Spezieller »state of art«
verletzung auch ohne äußere Zeichen am Schädel vorliegen. Zudem fehlen bei der Aufnahme von Patienten mit leichtem, stumpfem SHT nicht selten klinische Zeichen und Symptome. Als »stumpfes SHT« wird im weitesten Sinne irgendeine durch eine Kopfverletzung bedingte, auch nur kurzfristig auftretende Veränderung des mentalen Zustands bezeichnet. Diese Alterationen treten als Folge einer plötzlichen Beschleunigung, Dezeleration oder Rotation des Kopfes auf. Ein wichtiger Merkpunkt für die Diagnostik ist, dass Hypoxie, Schock, Medikamente, Intubation, Alkohol und Drogen ein SHT maskieren oder vortäuschen können. Der Traumatologe muss beim geringsten Verdacht auf ein SHT sorgfältig nach anamnestischen und klinischen Hinweisen sowie nach Risikofaktoren für ein SHT suchen.
SHT?
Ja
Schweregrad? (GCS)
Leichtes SHT (GCS 13–15)
Hinweise auf ein SHT
GCS 15
Mittleres SHT Schweres SHT
(GCS 9–12) (GCS 5–8)
Kritisches SHT
(GCS 3–4)
GCS 13–14
▬ Keine Aussage bezüglich eines SHT-Risikos möglich: – leichte Kopfschmerzen – Schwindel – Prellungen, Hämatome, Schürfungen und Lazerationen am Kopf ▬ Risiko für das Vorliegen eines SHT (Imhof u. Lenzlinger 2005): – unklares oder zweideutiges Unfallereignis – anhaltende posttraumatische Amnesie – retrograde Amnesie über >30 min – Trauma oberhalb der Klavikula – starke Kopfschmerzen – Erbrechen – fokales neurologisches Defizit – Anfälle – Alter von <2 oder >60 Jahren – Einnahme gerinnungshemmender Medikamente und Koagulationsstörungen – Unfall mit hoher Energie – Intoxikationen mit Alkohol/Drogen
Wird ein SHT in Betracht gezogen, stellt sich die Frage nach der Indikation zur CT (⊡ Abb. 18.4). Bei dieser Entscheidung hilft die Schweregradeinteilung der Bewusstseinsstörungen anhand der Glasgow Coma Scale (⊡ Tab. 18.3). Liegt ein mittleres oder schweres SHT vor, gehört die CT zum diagnostischen Standard. Beim leichten SHT hängt sie jedoch von speziellen Kriterien ab (⊡ Abb. 18.4; Imhof u. Lenzlinger 2005). Für eine vollständige klinische Beurteilung sind neben dem GCS-Wert weitere Untersuchungen notwendig, und zwar: ▬ Prüfung der Bulbusstellung und der Bulbusbewegungen ▬ Beurteilung von Pupillengröße und Pupillenreaktion ▬ Erfassung von Atemfrequenz und Respirationsmuster ▬ Messung von Puls und Blutdruck (Cushing-Trias) ▬ Beurteilung der Motorik ▬ Messung der Temperatur Schließlich gilt neu, dass konventionelle Röntgenaufnahmen zum Nachweis einer Schädelfraktur bei Patienten mit mildem
Risikofaktoren? (s. Übersicht »Hinweise auf ein SHT«)
Nein
Keine CT
Ja
Kraniozerebrale CT ohne Kontrastmittel ± koronare maxillofaziale CT CT der Halswirbelsäule/des zervikothorakalen Übergangs
⊡ Abb. 18.4 Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf Schädel-HirnTrauma (SHT). GCS Glasgow Coma Scale
SHT keinen praktischen Nutzen erbringen. Letztlich geht es ja um die Frage, ob eine intrakranielle Blutung vorliegt. In solchen Fällen ist daher eine CT mit Knochenfenster Standard (Perron et al. 2005). z
Therapie
Am ersten »hit«, d. h. am Schaden durch das Trauma selbst, lässt sich nicht viel ändern, außer in gewissen Fällen durch die Beseitigung der Ursachen im Operationssaal (Alderson et al. 2006; Báez u. Schiebel 2006; Biros u. Heegaard 2001; Chesnut et al. 1993; Cooper et al. 2004; Davis et al. 2004, 2006; Doyle et al. 2001; Forsyth et al. 2006; Roberts 2006; Roberts u. Schierhout 2006; Robertson et al. 1999; Sahuquillo u. Arikan 2006; Schierhout u. Roberts 2006; Writing committee 2005). > Die Auslöser des zweiten »hits« – ob systemisch oder intrakraniell (Biros u. Heegaard 2001) – und damit die Sekundärschäden können durch geeignete Maßnahmen verhindert oder zumindest minimiert werden.
346
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
⊡ Tab. 18.3 Glasgow Coma Scale (GCS) System
Punkte
Beste Reaktion Erwachsene und Kinder ab 4 Jahren
Augen
Verbales System
Motorik
⊡ Tab. 18.4 Systemische Therapie des Schädel-Hirn-Traumas in der Initialphase Kleinkinder und Säuglinge
4
Spontan offen
3
Öffnen auf Anruf
2
Öffnen auf Schmerzen
1
Keine Reaktion
5
Orientiert
Spontane Laute, Plappern
4
Desorientiert
Spontanes Schreien
3
Unzusammenhängende Worte
Schreien auf Schmerzreiz
2
Unverständliche Laute
1
Keine Reaktion
6
Auf Befehl
Normale Spontanbewegungen
5
Gezielte Abwehr
Wegziehen auf Berührung
4
Ungezielte Abwehr
3
Flexion
2
Extension
1
Keine Reaktion
Wegziehen auf Schmerzreiz
Maximal 15 Punkte, minimal 3 Punkte erreichbar
Ursachen für Sekundärschäden (zweiter »hit«) bei SHT. (Mod. nach Biros u. Heegaard 2001)
▬ Systemisch:
18
– Hypoxie – Hyper-/Hypokapnie – Hypotension – Anämie – Hyper-/Hypoglykämie – Hyperthermie ▬ intrakraniell: – erhöhter Hirndruck – Kompression durch Massenläsion – Ödem – Vasospasmen – Hydrozephalus – Infektionen – Anfälle
Mögliche frühe Interventionen (am Unfallort und in der Notfallaufnahme) sind entscheidend. Sie sind in ⊡ Tab. 18.4 und
Zielgröße
Maßnahmen
Arterieller Sauerstoffpartialdruck von >100 mmHg und arterieller Kohlendioxidpartialdruck von 35–40 mmHg (Davis et al. 2004, 2006; Robertson et al. 1999)
Sicherstellung freier und gesicherter Atemwege (Intubation) Sauerstoffgabe Normoventilation
Systolischer Blutdruck von >90 mmHg (Biros u. Heegaard 2001; Chesnut et al. 1993; Robertson et al. 1999)
Gabe von Kristalloiden und Kolloiden »small volume resuscitation« (Cooper et al. 2004; Doyle et al. 2001; Kreimeier et al. 2003) Gabe von Katecholaminen
Normoglykämie (Biros u. Heegaard 2001)
Keine Glukoseinfusion Glukosegabe bei Hypoglykämie
Normothermie (Biros u. Heegaard 2001)
Bei Blutungen wie z. B. Milzrupturen Hypothermie vermeiden
⊡ Tab. 18.5 kurz zusammengefasst. Die arterielle Hypotension
ist die wichtigste beeinflussbare Größe bezüglich eines Sekundärinsults. Schließlich sollen 3 Maßnahmen speziell besprochen werden – sie sind einerseits problematisch und anderseits nicht selten der Grund für falsche Schlussfolgerungen: ▬ Für alle Traumapatienten mit Bewusstseinseinschränkung, Zeichen einer Intoxikation, Schmerzen im Halswirbelsäulenbereich und neurologischem Defizit wird die Fixation der Halswirbelsäule mittels steifem Halskragen empfohlen. Der Halskragen schützt jedoch die Gelenke C0/C1 sowie C7/Th1 nicht und die übrigen Segmente nur teilweise. Bei schlechter Applikation können zudem Schädigungen infolge Kompromittierung der Atemwege, Aspiration, Erhöhung des Hirndrucks, Agitation sowie Druckulzera auftreten. Weil keine aussagekräftigen Studien vorliegen, welche für oder gegen die Immobilisation der Halswirbelsäule sprechen, und da – wie erwähnt – Schädigungen entstehen können, wird vor einer unüberlegten und ungerechtfertigten Anwendung des Halskragens gewarnt (Báez u. Schiebel 2006). ▬ Die universell propagierte Indikation zur Intubation von Patienten mit SHT ist missverständlich. Als entscheidendes Kriterium wird ein GCS-Score von ≤8 angegeben. Diese Indikation lässt sich auf eine retrospektive Studie aus den 1980er Jahren ohne direkten Zusammenhang mit der initialen akuten Notfallsituation zurückführen (Gildenberg u. Makela 1985). Daher stammt die irrige Auffassung, dass alle Patienten erst ab einem GCS-Wert von ≤8 zu intubieren sind. Sie stützt sich auf die Annahme, dass die Schutzreflexe bei Patienten mit einem GCS-Wert von >8 noch funktionieren. Man weiß jedoch, dass auch bei Patienten mit einem GCS-Wert von >8 Aspirationen möglich sind (Moulton u. Pennycook 1994).
347 18.3 · Spezieller »state of art«
⊡ Tab. 18.5 Intrakraniell orientierte Therapie des Schädel-Hirn-Traumas in der Initialphase Ziel
Maßnahmen
Evidenz
Intrakranieller Druck von <20 mmHg (Davis et al. 2006)
Monitoring (Drucksonde) Barbituratnarkose Elevation des Oberkörpers um 30°
Fraglich (Biros u. Heegaard 2001; Forsyth et al. 2006; Roberts 2006)
Verhinderung einer Herniation mit Einklemmung (Cushing-Trias mit Mydriasis, Hypertonie und Bradykardie)
Kurzfristige Hyperventilation Gabe von Mannitol (1 g/kgKG)
Unklar (Biros u. Heegaard 2001; Roberts u. Schierhout 2006)
Verhinderung eines Hirnödems
Keine Gabe von Steroiden kraniale Dekompression
Positiv (Biros u. Heegaard 2001; Writing committee 2005) bzw. unklar (Biros u. Heegaard 2001; Sahuquillo u. Arikan 2006)
Vorbeugung von Anfällen
Gabe von Antiepileptika
Unklar (Biros u. Heegaard 2001; Schierhout u. Roberts 2006)
Normothermie
Vermeidung einer Hypothermie
Unklar (Alderson et al. 2006)
> Gesicherte Indikationen für eine Intubation bei SHT sind: ▬ GCS-Wert von ≤8 ▬ ungeschützte und gefährdete Atemwege (unabhängig vom GCS-Wert) ▬ persistierender arterieller Sauerstoffpartialdruck von <100 mmHg und persistierender arterieller Kohlendioxidpartialdruck von >40 mmHg bei ausgeschöpften Basismaßnahmen
▬ Die unkontrollierte Hyperventilation führt zu Ischämien und sollte mit Ausnahme von »rescue situations« infolge einer Einklemmung (dilatierte Pupillen) unterlassen werden.
▬ retrobulbäres Hämatom und Orbitahämatom mit Entwicklung eines Kompartmentsyndroms und der Gefahr der Erblindung: unverzügliche laterale Kanthotomie ▬ Zahnausriss: schnellstmögliche Einlage der unverletzten Zähne in Milch, kristalloide Lösungen oder Spezialflüssigkeit, dabei den Zahn nicht an der Wurzel anfassen – auf diese Weise lässt sich Zeit für die Re-Insertion gewinnen Weiter erwähnenswert ist der Stellenwert der CT bei Gesichtsschädelfrakturen. Hier versagt die klinische Untersuchung häufig (Exadaktylos et al. 2003, 2005). Deshalb ist die Indikation für eine koronare CT des Gesichtsschädels bei Patienten mit SHT großzügig zu stellen.
18.3.3 18.3.2
Thoraxtrauma
Maxillofaziales Trauma
Im Rahmen von Gesichtsverletzungen können mehrere akute sowie teilweise lebensbedrohliche Probleme auftreten. Sie erfordern schnelle Maßnahmen und – je nach Situation – die Verstärkung durch einen entsprechenden Spezialisten: ▬ Verlegung der Atemwege vom Mundbereich bis in die Bronchien durch Erbrochenes, Blut, Zähne, Gebissanteile, Knochenfragmenten und Weiteres: Absaugen, manuelle Entfernung, Bronchoskopie ▬ Verlegung des nasalen Pharynx durch nach posteroinferior dislozierte Oberkieferfrakturen und Verlegung des oralen Pharynx durch Mandibulafrakturen oder Abriss der vorderen Zungeninsertion: Reposition, Intubation oder evtl. Koniotomie ▬ Schwellung (innere Blutung) und Ödeme, welche die Atemwege verlegen können: frühzeitige Intubation oder evtl. Koniotomie ▬ im Rahmen von Gesichtsverletzungen eher selten auftretende Verletzungen von Larynx und Trachea: Tracheotomie ▬ schwere Blutungen, welche nicht komprimierbar sind: Nasentamponade und Intubation
Das Thoraxtrauma ist für ca. 20% der Todesfälle verantwortlich (Hoyt 2003). Weil die Atemwege, die Lunge, das Herz, die Aorta und die großen Gefäße betroffen sind, hängt das Überleben der primär nicht verstorbenen Patienten von den prompt durchgeführten, initialen Sofortmaßnahmen ab. Dabei spielt die Chirurgie keine Hauptrolle – nur 10% der stumpfen und 15–30% der penetrierenden Thoraxtraumata bedürfen einer Operation (American College of Surgeons 2004). Die übrigen Fälle lassen sich mit relativ einfachen Mitteln behandeln. Die wichtigsten Sofortmaßnahmen und die weiteren lebensrettenden Maßnahmen, welche etwas mehr Zeit zulassen, sowie die Indikationen für eine Thorakotomie sind im Folgenden kurz aufgeführt: ▬ Intubation: Die Indikation zu Intubation und Beatmung soll bei Verletzungen des Brustkorbs großzügig gestellt werden. Hypoxie und Hyperkapnie sind nämlich nicht selten für die frühen Todesfälle mitverantwortlich. Die Hauptindikation ist das Versagen einfacher Maßnahmen zur Korrektur von schweren Defiziten der Oxygenierung und der Ventilation (z. B. bei instabilem Thorax). Dabei ist auf eine angemessene Beatmungstechnik und eine adäquate Ventilation zur Verhütung schädlicher Nebenwirkungen zu achten (Hirshberg et al. 2006; Pepe et al. 2003).
18
348
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
▬ Dekompression: – Der Schock infolge eines Spannungspneumothorax erfordert eine schnelle Entlastung mittels Venflon medioklavikulär im 2. Interkostalraum. Anschließend dürfen die Verhinderung einer erneuten Spannung sowie die Drainage des Pneumothorax durch einen Thoraxschlauch nicht vergessen werden.
Zeichen eines Spannungspneumothorax
▬ ▬ ▬ ▬
gestaute Halsvenen Deviation der Trachea vom Pneu weg asymmetrische Thoraxexkursionen Weichteilemphysem, hypersonorer Klopfschall und aufgehobenes Atemgeräusch der betroffenen Seite
– Der offene Pneumothorax führt ebenfalls schnell zu einem akuten lebensbedrohlichen Zustand. Therapeutisch ist ein Okklusivverband angezeigt, wobei eine Seite im Sinne eines Ventils offengehalten wird. Nach Einlage des Thoraxschlauchs in ausreichendem Abstand von der Wunde kann die vollständige Abdichtung des Verbands erfolgen. – Bei massivem Hämatothorax mit relevanter Einschränkung der Atmung ist eine dringende Entlastung durch eine Drainage angezeigt. – Die Perikardtamponade mit der modernen Trias aus Hypotonie, gestauten Halsvenen und positivem E-FASTBefund verlangt eine schnellstmögliche Perikardfensterung. ▬ Weitere dringende Maßnahmen: In der Phase der Zweitbeurteilung geht es in erster Linie um die möglichst frühe Diagnostik von 9 potenziell lebensbedrohlichen Verletzungen: einfacher Pneumothorax, Hämatothorax, Lungenkontusion, tracheobronchiales Trauma, stumpfes Herztrauma, Ruptur von Aorta, Ösophagus oder Zwerchfell, penetrierendes transversales Mediastinaltrauma (American College of Surgeons 2004). Speziell besprochen wird die Diagnostik von Verletzungen des Tracheobronchialsystems sowie von Aorten- und Zwerchfellrupturen, außerdem die Indikationen für eine Thorakotomie bei Hämatothorax.
Tracheobronchialtrauma
18
Stumpfe Verletzungen des Tracheobronchialbaums sind i. d. R. nicht mehr als 3–4 cm von der Carina entfernt (American College of Surgeons 2004). Solche Verletzungen kommen bei Patienten mit Hämoptoe und persistierendem Pneumothorax trotz funktionierender Thoraxdrainage in Betracht. Therapeutische Maßnahmen bestehen in der Anlage von 2 oder mehr Thoraxdrainagen und der Bronchoskopie (Cave: Intubation).
Aortenruptur Die häufigste Rupturstelle liegt am Ansatz des Lig. arteriosum. Das unmittelbare Überleben hängt von der Bildung und der Reißfestigkeit des falschen Aneurysmas ab. Spezifische klinische Zeichen und Symptome fehlen häufig. Es kann sowohl
eine Hypotension als auch eine Hypertension (aufgrund der Dehnung von sympathischen afferenten Nervenfasern im Aortenisthmus) vorkommen (Adewale et al. 2004). Wegweisend für den Verdacht sind der Unfallmechanismus (Dezelerationstrauma) und das Thoraxröntgenbild mit verbreitertem Mediastinum (>10 cm), aufgehobenem aortopulmonalen Fenster und aufgehobenem Aortenknopf, Abweichen der Trachea nach rechts, Depression des linken Hauptbronchus, epipleuralem Hämatom sowie linksseitigem Hämatothorax. Hingegen sind Frakturen der 1. und 2. Rippe unspezifisch. Die erforderlichen Maßnahmen bestehen in der Diagnostik mittels MehrzeilenCT und – bei positivem Befund – der Verlegung in ein Zentrum mit Herzchirurgie.
Traumatische Zwerchfellruptur Zwerchfellrupturen werden oftmals übersehen, insbesondere bei intubierten und beatmeten Patienten. Linksseitige Risse sind häufiger als rechtsseitige. Bei linksseitiger Lage ist die Magensonde, welche sich in der linken Thoraxhälfte darstellt, oder allenfalls ein oberer gastrointestinaler Kontrastmitteleinlauf hilfreich. Wird die Diagnose initial nicht gestellt, kann es zu Beeinträchtigungen der Atmung und/oder zu gastrointestinalen Strangulationen kommen (Brasel et al. 1996). Strangulationen haben i. d. R. eine schlechte Prognose.
Indikationen für eine Thorakotomie bei Hämatothorax Eine Thorakotomie ist in Erwägung zu ziehen, wenn (Schaider et al. 2003) ▬ die initiale Blutmenge >20 ml/kgKG oder >1 l beträgt, ▬ die kontinuierliche Blutungsrate ohne abnehmende Tendenz über 4 h einen Wert von 7 ml/kgKG/h (oder 250 ml/h) überschreitet und ▬ der Patient trotz adäquater Substitution hypotensiv bleibt oder nach initialer Stabilisierung erneut dekompensiert.
18.3.4
Abdominaltrauma
Das Vorgehen bei Abdominaltrauma hängt von der Art (stumpf oder penetrierend), der Lokalisation (intra-, retroperitoneal oder pelvin), den betroffenen Organen (solide oder Hohlorgane) und dem Blutungsstatus ab. Dabei haben große Fortschritte bei der CT und der endovaskulären Blutstillung den Ablauf und die Behandlung entscheidend verändert (Alonso et al. 2003; Becker u. Poletti 2005; Cook et al. 2002; Demetriades u. Velmahos 2003; Hagiwara et al. 2004; Hoff et al. 2002; Hurtuk et al. 2006; Shanmuganathan 2004; Shanmuganathan et al. 2000; Sido et al. 2005; Velmahos et al. 2000).
Stumpfes Trauma In Europa überwiegt das stumpfe Trauma. Die prinzipiellen Schritte und Überlegungen der Vorgehensweise sind in ⊡ Abb. 18.5 zusammengefasst. Am Anfang der Diagnostik steht die Sonographie. Anhand der Menge an freier intraperitonealer Flüssigkeit wird bei nicht stabilisierbaren Patienten die Indikation zur unverzüglichen Laparotomie gestellt. Weiterhin
349 18.3 · Spezieller »state of art«
Nach primärem Stabilisierungsversuch des Kreislaufs
Instabil
In extremis
Sonographie m mäßig/viel Flüssigkeit intraperitoneal
t Weiterer Stabilisierungsversuch t andere Blutungsquelle/andere Schockursache suchen t retroperitoneales Hämatom m Laparatomie? Angiografie/ Embolisierung? (Ishikawa et al. 2005)
Sonographie m mäßig/viel Flüssigkeit intraperitoneal
Sonographie m wenig/keine Flüssigkeit intraperitoneal
Sonographie m mäßig/viel Flüssigkeit intraperitoneal
Sonographie m wenig/keine Flüssigkeit intraperitoneal
m
m
m Laparatomie (»damage control«)
Sonographie m keine/wenig Flüssigkeit intraperitoneal
Stabilisiert
Laparatomie
Indikation für CT?
Hängt ab von: t anderen Blutungsquellen/andere Schockursache suchen t retroperitonealem Hämatom m Angiografie/Embolisierung? Laparatomie? Konservativ (Ishikawa et al. 2005)? t Hohlorganperforation m Laparatomie t Wiederholung Sonografie
Indikation für CT?
Hängt ab von: t Sistieren der Blutung m konservatives Vorgehen t anhaltender Blutung m Angiografie/ Embolisierung t Hohlorganperforation m Laparatomie
⊡ Abb. 18.5 Vereinfachtes Vorgehen bei stumpfem Abdominaltrauma. i.p. intraperitoneal
nimmt die Mehrzeilen-CT für den Nachweis aktiver Abdominalblutungen eine zentrale Rolle ein (Becker u. Poletti 2005; Shanmuganathan 2004) – ob das Vorgehen bei stabilen oder stabilisierbaren Patienten im Fall von Milz- und Leberrupturen (ca. 60–70% der Organläsionen im Abdomen; Sido et al. 2005) konservativ oder invasiv (endovaskulär/chirurgisch) geplant wird, hängt vom CT-Befund ab (Becker u. Poletti 2005; Shanmuganathan 2004; Shanmuganathan et al. 2000). Mehr als 80% der stumpfen Milzverletzungen und >90% der stumpfen Leberverletzungen werden in größeren Traumazentren der USA derzeit konservativ behandelt – dies bei gleichbleibender Mortalität im Vergleich zur operativen Ära (Hurtuk et al. 2006). Die Versagerquote, d. h. die Quote der Notwendigkeit des Umsteigens auf die chirurgische Sanierung, beträgt für Milzverletzungen ca. 5% und für Leberverletzungen etwa 2%. Problematisch ist das Erkennen von Perforationen im Gastrointestinaltrakt (Sido et al. 2005). Diese können mittels konventioneller CT übersehen werden. Es bestehen häufig nur subtile Zeichen wie z. B. eine diskrete Luftsichel. Im Zweifelsfall erfolgt der Nachweis mittels oraler und/oder rektaler Kontrastmittelgabe oder Peritoneallavage. Besondere Kenntnisse und Strategien verlangt das Pankreastrauma. Weiterhin ist der Stellenwert der diagnostischen Laparaskopie beim stumpfen Abdominaltrauma im Gegensatz zum penetrierenden Abdominaltrauma nicht gesichert (Sido et al. 2005). Noch zu erwähnen ist das abdominale Kompart-
mentsyndrom. Es wird definiert als intraabdominaler Druck von >25 mmHg, gemessen in der Harnblase, in Kombination mit einem MODS (Sido et al. 2005). Das abdominale Kompartmentsyndrom tritt häufig nach einem »packing« im Rahmen der »damage control surgery« auf. Weitere Ursachen sind gastrointestinale Ödeme nach ausgedehnter Volumentherapie bei größeren intraabdominalen und retroperitonealen Blutungen (Hämatom). Abschließend sei auf eine Arbeit aus dem Jahre 2005 hingewiesen (Ishikawa et al. 2005). Darin werden neue und differenzierte Behandlungsstrategien der retroperitonealen Blutung vorgeschlagen und Kriterien für die Laparatomie bzw. die chirurgische Eröffnung des Retroperitoneums präzisiert.
Penetrierendes Trauma Patienten mit penetrierenden Verletzungen im Bereich des Abdomens sollten unverzüglich laparatomiert werden, wenn ein Schock, eine Eviszeration oder eine Peritonitis vorliegt (American College of Surgeons 2004). Schussverletzungen, welche radiologisch nachweisbar das Abdomen traversiert haben, erfordern unabhängig vom Kreislaufzustand eine operative Exploration. Bei stabilen, asymptomatischen Patienten mit Stichverletzungen ist ein konservatives Vorgehen möglich, insbesondere wenn intraperitoneale Verletzungen mit Hilfe einer diagnostischen Laparaskopie ausgeschlossen worden sind (Ivatury et al. 1993).
18
350
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
18.3.5
Beckentrauma ▬ horizontal instabil (inkomplette Läsionen posteriorer
Siehe hierzu auch DiGiacomo et al. (2001). Die Klassifikation der Beckenringfrakturen nach Tile (1996) hat sich für die Notfallsituation bewährt.
Strukturen) – Typ B: – B1: »Open-book«-Frakturen – B2: laterale Kompressionsfrakturen – B3: Azetabulumfrakturen ▬ vertikal instabil (komplette Läsionen posteriorer Strukturen) – Typ C: – C1: unilateral – C2: bilateral mit einer Seite Typ B oder Typ C – C3: bilateral Typ C
Klassifikation der Beckenfrakturen nach Tile (1996)
▬ Stabil (intakte posteriore Strukturen) – Typ A: – A1: Abrissfrakturen – A2: Beckenschaufel- oder Schambeinastfrakturen ▼ – A3: transversale Frakturen des Os sacrum/Os coccygeum
Überrolltrauma/ Massenblutung infolge von einer Beckenfraktur?
1.
5 min
E N T S C H E I D U N G
Nein t Beckengurt t maximale Schockbekämpfung
10 min
Ja
18 15 min
⊡ Abb. 18.6 Vorgehen und Entscheidungen bei hämorrhagischem Schock infolge von Beckenfrakturen. (Nach Burkhardt et al. 2005)
Nein
Maximale Schockbekämpfung: Beckenzwinge (Typ-C-Fraktur) Fixateur externe (Typ-B-Fraktur)
Weitere Kreislaufinstabilität infolge einer Beckenfraktur?
3. E N T S C H E I D U N G
Operation
Weitere Kreislaufinstabilität infolge einer Beckenfraktur?
2. E N T S C H E I D U N G
Ja
Nein Ja
Maximale Schockbekämpfung und Tamponade des kleinen Beckens
Gemäß ATLS»damagecontrol«Konzept weiter
351 18.4 · Schweregradeinteilung von Verletzungen
> Bei Beckenverletzungen sind v. a. die damit in Zusammenhang stehenden lokalen und z. T. lebensbedrohlichen Blutungen (z. B. durch Zerreißung des venösen Plexus) sowie die urogenitalen Läsionen problematisch.
Blutungen Die Mortalität schwerer Beckenringverletzungen ist hoch. Haupttodesursache sind nicht kontrollierbare Hämorrhagien. Die Entscheidung zur operativen Versorgung (Frakturstabilisierung und Blutstillung) muss daher innerhalb der »golden hour of shock« gefällt werden (Burkhardt et al. 2005). Sie orientiert sich letztlich an der Kreislaufsituation. In St. Gallen hält man sich gemäß Tscherne an ein 3-stufiges Therapieschema (⊡ Abb. 18.6). In Zusammenhang mit Blutungen gilt es, 3 entscheidende Punkte zu beachten: ▬ Die Prüfung der Stabilität des Beckens erfolgt nur einmal. Bei wiederholten Manipulationen können zusätzliche Läsionen entstehen und bereits gestillte Blutungen erneut bluten. ▬ In der Phase der Erstbeurteilung soll die »Open-book«Fraktur mittels Beckengurt und Innenrotation der Beine oder allenfalls mit Hilfe eines Fixateur externe so schnell wie möglich geschlossen und stabilisiert werden. Ziele sind die Eindämmung der retroperitonealen Blutung durch Wiederherstellung der »Tamponadefähigkeit« des kleinen Beckens (Verkleinerung des Volumens und damit Ausschalten des »Kamineffekts«) sowie die Verhinderung von Fragmentbewegungen (Krieg et al. 2005). Die Beckenzwinge kommt v. a. bei Typ-C-Frakturen infrage. ▬ Die endovaskuläre Therapie spielt bei nicht kontrollierbaren arteriellen Blutungen eine wichtige Rolle. Handelt es sich um eine unstillbare venöse Blutung, kann eine chirurgische Tamponade helfen.
Urogenitale Verletzungen Bei Beckenfrakturen ist auf urogenitale Verletzungen zu achten. Im Vordergrund steht die Urethraruptur beim Mann. Zeichen einer solchen Läsion sind Blut am Meatus urethrae, Hämatome im Bereich des Perineums und eine hochsitzende, nicht palpierbare Prostata (allenfalls ultrasonographisch nachweisbar). In einer derartigen Situation ist die Einlage eines Urindauerkatheters kontraindiziert. Vorgängig ist eine Urethrozystographie durchzuführen. Zusätzlich lassen sich auf diese Weise Blasenrupturen nachweisen.
18.3.6
»Damage control orthopedics«
Die initialen Prioritäten des traumatologisch-orthopädischen Handelns sind: ▬ Kreislaufstabilisierung ▬ Gerinnungsoptimierung ▬ chirurgischen Blutungs- und Kontaminationskontrolle ▬ Organ- und Extremitätenerhaltung Weil sich Größenordnung und Dauer von chirurgischen Eingriffen auf das Ausmaß der Traumakrankheit (pro- und antiin-
flammatorische Reaktionen) auswirken (Nast-Kolb et al. 2005), hat man das Konzept der 1980er Jahre mit obligatorischer frühzeitiger definitiver Osteosynthese in St. Gallen verlassen. Im Zuge der Erstbeurteilung wird daher entschieden, ob der Patient eher von einem »Total-early-care«- oder einem DCOVorgehen profitiert. Für die Entscheidung sind die einfachen Kriterien von Nast-Kolb et al. (2005) hilfreich.
Kriterien von Nast-Kolb
▬ ISS von ≥16 und/oder ▬ schweres SHT (AIS ≥3), schweres Thoraxtrauma (AIS ≥3), instabile Beckenfrakturen, multiple Frakturen langer Röhrenknochen sowie ▬ persistierende Hypotonie (systolischer Blutdruck von <90 mmHg)
18.4
Schweregradeinteilung von Verletzungen
Abschließend folgt ein kurzer Abriss über den Stand der Diskussion zur Verletzungsschweregradeinteilung bei Traumapatienten. Schweregradeinteilungen dienen: ▬ der individuellen prognostischen Aussage für Triage- und Behandlungsentscheidungen ▬ als Instrument zur Einteilung von Traumapatienten in Gruppen mit identischer Prognose für Studienzwecke Derzeit verfügt man über keinen international anerkannten, prospektiven und generellen Trauma-Score mit guter individueller Aussagekraft. Für die Triage wird am häufigsten der revidierte Traumascore (RTS) nach Champion et al. (1981) verwendet. Problematisch sind jedoch die Erhebung der Atemfrequenz, die komplizierte Berechnungsformel sowie die Beschränkung auf physiologische Parameter. Auch für Studienzwecke fehlt ein unbestrittener Score. Aktuell weist der »trauma injury severity score« (TRISS; ⊡ Abb. 18.7) die höchste internationale Akzeptanz auf (Champion et al. 1989). Der TRISS besteht aus einem physiologischen Teil (dem bereits oben erwähnten RTS) und einem anatomischen Teil (»injury severity score«, ISS). Er berechnet die Überlebenswahrscheinlichkeit. Seine Schwachstellen liegen – wie schon beim RTS erwähnt – in der Praktikabilität, und zwar: ▬ Erheben der Atemfrequenz (wird kaum routinemäßig durchgeführt) ▬ fehlende Berücksichtigung der medizinischen Vorgeschichte ▬ Unterschätzung eines SHT und von Mehrfachverletzungen in der gleichen Körperregion, z. B. bilaterale Femurfrakturen (nur die schwerste Verletzung wird pro Körperregion einmal gezählt) ▬ fehlende lokale Referenzwerte Abschließend sei auf den einzigen Score hingewiesen, der in St. Gallen auch in der Notfallsituation verwendet wird, der »mangled extremity severity score« (MESS; Johansen et al.
18
352
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
P s = 1 / (1 + e –[b0 + b1 (RTS) + b2 (ISS) + b3 (Alter)] ) RTS (»revised trauma score«)
= a (Atemfrequenz) + b (systolischer Blutdruck) + c (GCS)
ISS (»injury severity score«)
= Summe der höchsten 3 AIS-Quadrate (1–75) aus den 3 am schwersten verletzten Regionen
AIS (»abbreviated injury scale«) = Liste von mehreren hundert Verletzungen mit Einteilung nach dem Schweregrad
⊡ Abb. 18.7 »Trauma injury severity score« (TRISS; Champion et al. 1981, 1989). BD Blutdruck; GCS Glasgow Coma Scale; PS »probability of survival« (Überlebenswahrscheinlichkeit)
Körperregionen und ISS
AIS-Werte
1
Kopf oder Hals
1
leicht
2
Gesicht
2
mäßig
3
Thorax
3
schwer, ohne Lebensbedrohung
4
Abdominal- oder Beckeninhalt
4
schwer, Überleben wahrscheinlich
5
Extremitäten oder Beckengürtel
5
kritisch, Überleben unsicher
6
äußerlich
6
maximum, tödlich
9
unbekannt
1990). Er hilft bei der Beurteilung einer schwer verletzten unteren Extremität, d. h. bei der Beurteilung, ob eine primäre Amputation oder ein Rekonstruktionsversuch sinnvoll ist.
»Mangled extremity severity score« (MESS; Johansen et al. 1990)
▬ A – Knochen- und Weichteilverletzung:
18
– niedrige Energie (Stichverletzung, einfache Fraktur, »Low-velocity«-Schusswunde): 1 Punkt – mittlere Energie (offene oder multiple Frakturen, Dislokation): 2 Punkte – hohe Energie (Nahschuss mit Schrot, »High-velocity«Schusswunde, Quetschtrauma): 3 Punkte – höchste Energie (plus schwere Kontamination, Ablederung der Weichteile): 4 Punkte ▬ B – Extremitätenischämie: – abgeschwächte oder fehlende Pulse, normale Perfusion: 1 Punkt* – pulslos, Parästhesien, verminderte Kapillarfüllung: 2 Punkte* – kühl, motorische Lähmung, Asensibilität: 3 Punkte* ▬ C – Schock: – systolischer Blutdruck immer >90 mmHg: 0 Punkte – transiente Hypotension: 1 Punkt – persistierende Hypotension: 2 Punkte ▬ D – Alter: – <30 Jahre: 0 Punkte – 30–50 Jahre: 1 Punkt – >50 Jahre: 2 Punkte * Doppelte Punktezahl für Ischämie über >6 h MESS-Score ≥7: positiver Voraussagewert von 100% für eine Amputation
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18
354
18
Kapitel 18 · Modernes Traumamanagement
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19
Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen L. Harder, M. Kuster
19.1
Aufbau und Physiologie des Knochens
19.1.1 19.1.2 19.1.3 19.1.4 19.1.5
Knochenaufbau – 356 Knochenbildung – 359 Ossifikationstypen – 360 Mechanische Eigenschaften des Knochens Durchblutung des Knochens – 361
19.2
Pathogenese der Frakturen – 362
19.3
Klassifikation der Frakturen
19.3.1 19.3.2
AO-Klassifikation – 365 Klassifikation der offenen Frakturen nach Gustilo und Anderson
19.4
Klassifikation der Weichteilverletzungen
19.5
Prinzipien der Frakturheilung – 366
19.5.1 19.5.2
Spontane Frakturheilung – 367 Knöcherne Heilungsvorgänge im Frakturspalt
19.6
Komplikationen der Frakturbehandlung – 369
19.6.1 19.6.2 19.6.3 19.6.4 19.6.5 19.6.6 19.6.7 19.6.8 19.6.9
Infektionen – 370 Kompartmentsyndrom – 372 Posttraumatische Weichteilschwellungen – 375 Sekundärdislokation – 376 Materialversagen – 376 Gefäß- und Nervenverletzungen – 376 Morbus Sudeck – 377 Pseudarthrose – 377 Arthrose – 380
19.7
Prinzipien der Frakturnachbehandlung – 380 Literatur
– 356
– 360
– 365
– 366
– 368
– 381
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 366
356
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
19.1
Aufbau und Physiologie des Knochens
19.1.1
Knochenaufbau
Makroskopisch Die Knochen sind das tragende Gerüst des Körpers und bilden Hebel, an denen die Muskulatur ansetzt. Zudem schützen sie das zentrale Nervensystem, beherbergen die Zellen der Hämatopoese und regulieren den Kalzium-Phosphat-Haushalt des Körpers; sie enthalten 99% des gesamten Kalziums und 90% des Phosphats. Das Periost umhüllt den Knochen, und das Endost kleidet den Knochen im Markraum mit osteogenen Zellen aus. Der Röhrenknochen gliedert sich in die in ⊡ Abb. 19.1 dargestellten Abschnitte. Form und Größe des Knochens, die Dicke der Kortikalis und des Markkanals sowie die Architektur der Spongiosa sind Ausdruck der mechanischen Funktion eines jeden Knochens. Mit einem Minimum an Material wird ein Maximum an Stabilität erzeugt (⊡ Abb. 19.2). Durch lebenslanges Remo-
deling passt sich der Knochen an die individuelle Funktion und Belastung an. Letztere haben makroskopisch folgende typischen Knochenformen des menschlichen Skeletts hervorgebracht: ▬ lange Röhrenknochen: Femur, Humerus,Tibia ▬ kurze Röhrenknochen: Ossa metacarpalia, Ossa metatarsalia ▬ Plattenknochen: Skapula, Neurokranium ▬ lufthaltige Knochen: Kieferknochen > Eine Gewichtsersparnis wird durch den trabekulären Aufbau des Knochens ermöglicht.
Mikroskopisch Man unterscheidet die Substantia compacta (Kortikalis) von der Substantia spongiosa (Spongiosa; ⊡ Abb. 19.3). Im ausdifferenzierten Knochen zeigt sowohl die Kortikalis als auch die Spongiosa einen lamellären Aufbau der extrazellulären Matrix; unterschiedlich ist nur deren Geometrie (⊡ Tab. 19.1). Die mechanischen Eigenschaften des Knochens sind lichtmikroskopisch am lamellären Aufbau und an der extrazellulären Substanz zu erkennen. Der Geflechtknochen zeigt eine
G Gegengewicht Last=konstant
Apophyse
Dickenreduktion
proximale Epiphyse
L
Gelenkknorpel Einfaches Balkensystem: 218 kg Eigenmasse
knöcherne Epiphysenlinie Substantia spongiosa mit rotem, blutbildendem Knochenmark a
L
189 kg Eigenmasse
b Zuggurtung
Substantia compacta
Gurtung ung Knick
Diaphyse
Dickenreduktion
L
Markhöhle mit Fettmark
164 kg Eigenmasse c
L 155 kg Eigenmasse
d
Substantia compacta Periost
Ausformung (Körper gleichen Festigkeit)
19
L
Gitterbauweise
Last=konstant 50kg Eigenmasse
115 kg Eigenmasse e
distale Epiphyse
L
f
knöcherne Epiphysenlinie Gelenkknorpel
⊡ Abb. 19.1 Abschnitte des Röhrenknochens
⊡ Abb. 19.2a–f Leichtbauprinzipien bei einem Kran: schrittweise Reduktion der Eigenmasse dank Modifikation des Kranes und Reduktion der Biegebelastung. Unterhalb der Zeichnungen ist der jeweilige Trägerquerschnitt dargestellt
357 19.1 · Aufbau und Physiologie des Knochens
ungeordnete Organisation der Kollagenbündel, hingegen ist diese beim Lamellenknochen geordnet. Die Lamellen mit einer Dicke von 3–7 μm weisen Schichten von parallelen Kollagenfibrillen in alternierenden Winkeln zur Knochenlängsachse auf, vergleichbar mit dem Aufbau von Sperrholz. > Knochen enthält Typ-l-Kollagen, welches relativ dicke Fibrillen mit einer Periodizität von 64 nm bildet.
Die extrazelluläre Matrix ist räumlich unterschiedlich organisiert – je nachdem, ob es sich um Geflecht- oder Lamellenknochen handelt. Während die Kollagenbündel im Geflechtknochen kreuz und quer miteinander verflochten sind, ist die Struktur des Lamellenknochens geordnet. Überall dort, wo neuer Knochen gebildet wird, entsteht primär Geflechtknochen – sowohl im Rahmen der Entwicklung als auch bei der Frakturheilung. Erst sekundär entsteht durch Ausdifferenzierung und später Re⊡ Tab. 19.1 Zusammensetzung der extrazellulären Matrix (Trockengewicht) Phase
Prozentualer Anteil
Bestandteile
Anorganische Phase (Mineralien)
60%
Hydroxylapaptit: [Ca10(PO4)6(OH)2] Karbonate Fluoride Magnesium Natrium Blei Schwefel
Organische Phase
40%
Kollagen Typ l (90% des Trockengewichts) Nichtkollagene Proteine: – Osteokalzin – Osteopontin – Fibronektin Proteoglykane
⊡ Abb. 19.3 Mikroskopischer Aufbau des Knochens. Knochenpräparat, HE-Färbung
modeling Lamellenknochen. Dieser besteht aus lamellär aufgebauter Spongiosa und Kompakta. In der Spongiosa breiten sich die Lamellen flächig und parallel zur Oberfläche aus, während sie in der Kompakta v. a. konzentrisch um ein Blutgefäß herum angeordnet sind. Die Kompakta ist aus Osteonen aufgebaut (⊡ Abb. 19.4). Diese wiederum bestehen aus 5–20 konzentrisch um ein Blutgefäß (Havers-Kanal) herum angeordneten Knochenlamellen. Quer verlaufende Gefäßverbindungen zwischen einzelnen Havers-Kanälen heißen Volkmann-Kanäle. Ein Osteon hat einen Durchmesser von 100–400 μm. Die einzelnen Osteozyten des Osteons kommunizieren untereinander direkt über Kanalikuli (Zellmetabolismus). Zwischen den Osteonen liegen häufig Schaltlamellen, Reste älterer, umgebauter Osteone. Zum Periost bzw. Endost hin richten sich die Lamellen nicht mehr konzentrisch, sondern zunehmend parallel zur Oberfläche aus und bilden die äußere bzw. innere Grenzlamelle.
Abschnitte des Knochens
▬ Makroskopisch: – Spongiosa (schwammartig): – Metaphyse – Epiphyse – Wirbelkörper – Kompakta (dicht): Diaphyse der langen Röhrenknochen – Periost – Endost ▬ Mikroskopisch: – Spongiosa (schwammartig): – Trabekel mit flächigen, parallelen Lamellen – Spongiosa (blutgefüllt) – keine Blutgefäße in den Trabekeln (Dicke: <300 μm) – Kompakta (dicht): – äußere und innere Grenzlamelle – Osteone mit konzentrischen Lamellen – zentral: Havers-Kanal – Volkmann-Kanäle – Schaltlamellen – Periost: – Stratum fibrosum (äußere Schicht) – Stratum osteogenicum (innere Schicht; entspricht Osteoprogenitorzellen) – Endost: flache Zellen mit osteogener Potenz
> Beim ausgewachsenen Skelett werden jährlich 10% der Knochenmasse umgebaut. Innerhalb von 10 Jahren ist das gesamte Skelett einmal erneuert worden. Dieses Remodeling findet v. a. in der Spongiosa zur funktionellen Anpassung an die jeweilige Belastung statt und dient folgenden Zwecken: ▬ Anpassung an die herrschende Belastung (WolffGesetz; Kap. 4.1.1) ▬ Prophylaxe gegenüber Materialermüdung ▬ Reparatur von Mikrotraumata ▬ Rasche Mobilisierung von Kalzium
19
358
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
Osteone
Komp
akta
Knochenmarkräume
HaversGefäß Endost (Knochendeckzellen)
Schaltlamelle Aktive Osteoblasten Osteoklasten
Spongiosatrabekel
a
VolkmannKanal
Osteon
Äußere Generallamelle
Foramen nutricium Schraubenförmig verlaufende Kollagenfasern
HaversKanal mit Gefäß Osteozyten mit Fortsätzen
c
Lamellen
A. und V. nutricia
19
Stratum fibrosum
Periost
Schaltlamelle
Kompacta
Osteozyten der Kambiumschicht Kittlinie (äußere Osteonbegrenzung)
Sharpey-Fasern b Osteozyten
⊡ Abb. 19.4a–d Ausschnitt aus einem Havers-Kanal mit Osteon
d
19
359 19.1 · Aufbau und Physiologie des Knochens
Zytologie Der zelluläre Aufbau des Knochengewebes setzt sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: ▬ Osteoprogenitorzellen. Mesenchymale pluripotente Stammzellen aus dem Periost differenzieren zu Knochenvorläuferzellen (Osteoprogenitorzellen). Diese wiederum bilden Präosteoblasten und Osteoblasten. ▬ Osteoblasten. Diese bilden die organischen Bestandteile des Knochens (Osteoid). Oberflächenrezeptoren steuern die Knochenproduktion via: – Parathormon – 1,25-Dihydroxy-Vitamin D – Glukokortikoide – Prostaglandine – Östrogen ▬ Osteozyten. Diese differenzieren sich aus Osteoblasten, welche in neu gebildetem Knochen »eingemauert« sind. Sie machen etwa 90% der zellulären Elemente des ausgereiften Knochens aus und sind für die Erhaltung des Knochens zuständig. Sie kommunizieren über zytoplasmatische Verbindungen. ▬ Osteoklasten. Diese leiten sich im hämatopoetischen Gewebe von der gleichen Stammzelle ab wie die Monozyten. Sie gelten als Sonderform der Makrophagen. Durch Fusion entstehen polynukleäre Riesenzellen (mit bis zu 50 Nuklei)
mit einer Größe von 10–100 μm. Ihre Aufgabe ist die Knochenresorption. Sie bohren einen Kanal in die Kortikalis und ziehen einen »Reparaturschweif« (Howship-Lakunen) hinter sich her. Die Regulation der Osteoklasten ist komplexer als diejenige der Osteoblasten. Eine direkte Wirkung hat nur das Hormon Kalzitonin. > Knochen ist ein hoch entwickeltes Stützgewebe mit 3 Hauptfunktionen: ▬ Dank seiner mechanischen Eigenschaften und seiner Stabilität erlaubt er den eigentlichen aufrechten Gang und die Kraftübertragung der Muskulatur. ▬ Aus metabolischer Sicht ist Knochen ein Kalziumspeicher zur Regulation der Kalziumhomöostase. ▬ Knochen beherbergt Zellen für Teile der Hämatopoese.
19.1.2
Knochenbildung
Die Knochenbildung läuft in 2 Phasen ab: ▬ Osteoblasten bilden saumartig Osteoid, welches später an der Verkalkungsfront mineralisiert. Mikroskopische Färbemethoden lassen frisch mineralisierten Knochen deutlich von reifem Knochen unterscheiden, was den Ablauf der
Umwandlungszone
Osteoklasten
Osteoblasten
Queransicht
Queransicht
Queransicht
Aufbauzone
Osteoid (unverkalkte Matrix)
Spitze des „Bohrkörpers”
Resorptionshöhle, -kanal
⊡ Abb. 19.5 Bildung eines Osteons
Osteoprogenitorzelle
Osteozyten im Geflechtknochen fertigen Lamellen- mit ungeordneten knochen Osteozyten
Queransicht
Osteon
Längsansicht
Havers-Gefäß im Havers-Kanal
360
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
Knochenheilung und des Remodelings verfolgbar macht. Osteoklasten resorbieren täglich mehr als 50 μm. Knochenbildung und Knochenheilung setzen eine gewisse mechanische Stabilität sowie eine ausreichende Durchblutung voraus, um korrekt ablaufen zu können. Bei gestörtem Ablauf können sich die Osteoblasten zu Chondroblasten oder Fibroblasten umwandeln. Im Erwachsenenalter befinden sich ca. 90% der Knochensubstanz in einem Ruhezustand; ungefähr 3–5% der Osteoblasten sind aktiv an der Knochenbildung und nur etwa 1% der Osteoklasten am Knochenabbau beteiligt. ▬ Die Knochenerneuerung beginnt mit der Aktivierung von Osteoklasten, welche in einem Resorptionskanal ein Gefäß hinter sich her ziehen. Aus den im Gefäß herbeigeführten Osteoprogenitorzellen entstehen Osteoblasten, welche wiederum einen Saum um den Bohrkanal bilden. Hier produzieren sie Osteoidlamellen, werden sukzessive als Osteozyten »eingemauert« und sind für den Erhalt des Knochens zuständig (⊡ Abb. 19.5). Das physiologische Remodeling variiert u. a. in Abhängigkeit von der Lokalisation sowie dem biologischen Alter. Knochenabbau und Knochenneubildung sind zeitlich und örtlich aneinander gekoppelt. Zur Bestimmung des Knochen-Turnovers oder um metabolische Knochenerkrankungen auszuschließen, eignen sich Biopsien an der Crista iliaca. Hierzu verwendet man eine Biopsiekanüle (Vertebroplastietroakar) mit einem Durchmesser von 8–13 Gauge (entspricht 4,06–2,34 mm), welche gute Knochenzylinder für die histologische Verarbeitung erzeugt. Der Durchmesser des Biopsiezylinders sollte 2 mm nicht unterschreiten. Das Knochen-Remodeling ist während des Wachstums systemisch aktiviert. Fördernd wirken Schilddrüsen- und Nebenschilddrüsenhormone (Parathormon) sowie Kalzitonin. Kortison und evtl. auch Kalzium wirken hemmend auf das Remodeling. Pharmakologisch lassen sich z. B. Osteoklasten durch Bisphosphonate hemmen, was den Knochenabbau reduziert. Einen intensiven Knochenumbau beobachtet man in Frakturzonen, nach chirurgischen Eingriffen, nach Fremdkörperimplantation (Prothesen, Osteosyntheseimplantate etc.) und bei entzündlichen Prozessen.
19.1.3
Ossifikationstypen
Die Knochenbildung wird in eine direkte (desmale) und eine indirekte (peri-/enchondrale) Ossifikation unterteilt. Bei der desmalen Ossifikation wird mesenchymales Gewebe direkt in Knochengewebe umgebaut. Im Unterschied dazu erfolgt die indirekte Ossifikation über eine knorpelige Vorstufe, im Bereich der Diaphyse beispielsweise durch perichondrale Ossifikation (Breitenwachstum). Die appositionelle Knochenbildung hat ihren Ursprung im Periost. Im Bereich der Epiphysen, der knorpeligen Wachstumszonen, entstehen sekundäre Ossifikationszentren, welche den Knorpel in Knochen umbauen (⊡ Tab. 19.2).
19.1.4
Mechanische Eigenschaften des Knochens
Knochen ist ein hochspezialisiertes biologisches Bindegewebe mit komplexen mechanischen Eigenschaften, die sich auf das Ausmaß und die Richtung der einwirkenden Kräfte einstellen. Der Aufbau aus Kompakta und Spongiosa bildet einen optimalen Kompromiss zwischen Stabilität und Gewicht und integriert platzsparend blutbildende Organe in spongiösem Knochen. Vier Aspekte beeinflussen die Festigkeit von humanem Knochen: ▬ Die Kombination von steifen Hydroxylapatitkristallen mit flexiblen Kollagenfasern verstärkt das Material im Vergleich zu jenem der einzelnen Komponenten allein. ▬ Die dominierende Ausrichtung der Kollagenfasern orientiert sich an der Richtung der maximalen und der minimalen Belastung. ▬ Der lamelläre Aufbau und dessen Ausrichtung beeinflussen die mechanischen (Material-)Eigenschaften. ▬ Die Kortikalisdicke und die Hauptausrichtung der Trabekel im spongiösen Knochen verbessern die statischen Eigenschaften des gesamten Knochens. Die Balance zwischen Kristall- und Kollagenanteil (»mineralcollagen ratio«) bestimmt ihrerseits die mechanischen Eigenschaften von Knochen in der Art, dass eine Demineralisation die Rigidität und den Elastizitätsmodul erniedrigt. Je geringer
⊡ Tab. 19.2 Knochenbildung Ossifikationstypen
Ablauf
Lokalisation
Desmale Ossifikation
Vaskularisiertes, primitives, embryonales Mesenchym, welches direkt zu Osteoblasten differenziert
Perichondrale Ossifikation (primäres Ossifikationszentrum)
Beginn im diaphysären Bereich des knorpeligen Modells durch Hypertrophie der Chondrozyten, die schließlich ossifizieren. Die Quelle ist das Periost. Das Modell besteht aus hyalinem Knorpel (Kollagen Typ ll), der definitive Knochen enthält v. a. Kollagen Typ l.
Extremitäten Becken Wirbelsäule
Enchondrale Ossifkation (sekundäres Ossifikationszentrum)
Ossifikation der sekundären Ossifikationskernen (Längenwachstum)
Epiphysenfugen Apophysenfugen
19
Schädelkalotte Maxilla Mandibula Einige Gesichtsknochen Teile der Klavikula
361 19.1 · Aufbau und Physiologie des Knochens
demgegenüber der Kollagen-Typ-l-Anteil wird, desto spröder verhält sich der Knochen, d. h. er frakturiert bereits bei geringer Energieabsorption. > Knochen ist das einzige menschliche Gewebe, welches eine Heilung ohne Narbenbildung zeigt.
Über die genaue Belastungsamplitude, welche zu einer bestimmten Ermüdungsfraktur führen kann, ist jedoch wenig bekannt. Beim osteoporotischen Knochen treten bereits unter »normalen« Belastungen des täglichen Lebens Frakturen auf (Insuffizienzfraktur).
19.1.5
Anisotropie des Knochens
Knochengewebe ist anisotrop, d. h. dass sein Materialverhalten sich in Abhängigkeit von der Belastungsrichtung ändert. Der Winkel der Kollagenfasern in den Lamellen bestimmt die maximale Belastbarkeit. So bedeutet eine rechtwinklige Ausrichtung der Kollagenfasern zur angreifenden Kraft eine Widerstandsfähigkeit gegenüber Kompression. Demgegenüber sind Fasern parallel zur einwirkenden Kraft maximal zugbelastbar. Dieselbe Gesetzmäßigkeit gilt für die Knochentrabekel (Beispiel: Schenkelhals; ⊡ Abb. 19.6). > Anisotrop strukturierter Knochen ist am stärksten belastbar für Kompression und am geringsten für Scherbelastung. Abnehmende Belastung: ▬ Kompressionsbelastung ▬ Zugbelastung ▬ Scherbelastung
Durchblutung des Knochens
Das gesamte Skelett beansprucht etwa 5–10% des Herzzeitvolumens. Die Durchblutung intakter langer Röhrenknochen basiert auf 3 arteriellen Versorgungssystemen (⊡ Abb. 19.7): ▬ Medulläres System. Die Hauptversorgung erfolgt durch die A. nutriens, welche von den systemischen Hauptarterien stammt. Die A. nutriens zeigt einen longitudinalen Schrägverlauf im Foramen nutriens innerhalb der Knochenkortikalis, ohne Äste abzugeben. Sie versorgt über das Havers-KanalSystem mindestens die inneren 2/3 der Kortikalis des gesamten Markraums und gilt als Hochdrucksystem. Im Markraum teilt sich die A. nutriens in aufsteigende und absteigende Äste auf, welche ein netzartiges Gefäßsystem bilden. ▬ Metaphysäres System. Dessen Ursprung liegt in den periartikulären Arterien (beispielsweise Aa. geniculares). Diese Arterien versorgen hauptsächlich den spongiösen Knochen
Das menschliche Skelett toleriert bei den unterschiedlichsten Beschäftigungen/sportlichen Aktivitäten stark variierende Belastungen. Kurze Extremwerte können ohne Knochenläsionen vertragen werden, während submaximale, aber repetitive Belastungen u. U. Ermüdungs- oder Stressfrakturen auslösen.
Stärkster Zug
Schwächster Zug
a
A. nutriens V. emissaria Schwächste Kompression
Stärkste Kompression
b Am stärksten
Am stärksten
Gleich Schwächer Gleich c
Am schwächsten
⊡ Abb. 19.6a–c Anisotropie des Knochens (Erläuterungen im Text)
⊡ Abb. 19.7 Knochendurchblutung
19
362
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
der jeweiligen Metaphyse. Es bestehen Anastomosen zum medullären System. Bei Kindern ist der epiphysäre Kreislauf vom metaphysären getrennt. Nach dem Schluss der Epiphysenfugen anastomosieren beide Kreisläufe und gelten als metaphysäres System. ▬ Periostales System. Dieses ist für die Blutversorgung des äußeren Kortikalisdrittels verantwortlich. Das periostale System ist ein Niederdrucksystem und entspringt aus kleinen Kapillaren im Periost. Diese werden von den Hauptarterien beliefert und zeigen einen transversalen Verlauf zur Längsachse. Es bestehen Gefäßverbindungen zu den Weichteilen (Muskel, Faszien etc.). Die nicht von Muskulatur bedeckte Tibia weist im Vergleich zum Femur eine schlechtere Durchblutung auf. Tipp
I
I
Die Durchblutung der Kortikalis stammt zu einem Drittel aus dem periostalen und zu zwei Dritteln aus dem endostalen System.
Pathogenese der Frakturen
Akutes Trauma Typischerweise können reine Kompressionsfrakturen an der Wirbelsäule, am Kalkaneus oder an metaphysären Abschnitten von Röhrenknochen wie Tibiakopf, distale Tibia (Pilon) und distaler Radius auftreten. Frakturen an langen Röhrenknochen entstehen selten durch eine unidirektionale Belastung; häufiger handelt es sich um Kompressionsbelastungen in Kombination mit Torsions- und/oder Biegungsbelastungen. So entstehen Spiralfrakturen, Schräg- oder Querfrakturen und Kombinationen mit einem Drehkeil (⊡ Abb. 19.8). > Typisch für Biegefrakturen im Röhrenknochen ist ein Keil. Der Röhrenknochen wird auf einer Seite komprimiert und auf der Gegenseite auf Zug belastet. Der Biegekeil findet sich auf der Kompressionsseite. Der Knochen frakturiert zuerst auf der konvexen Zugseite.
> Knochen mit ausgedehnten knorpelüberzogenen Gelenkflächen weisen keine oder nur eine geringe periostale Perfusion auf und sind im Fall einer Fraktur nekrosegefährdet (z. B. Talus, Os scaphoideum, Femurund Humeruskopf).
Querfrakturen sind im Schaftbereich das Resultat einer Biegebelastung. Sie können mit einem Biegekeil assoziiert sein; dieser bildet sich typischerweise auf der konkaven Seite. Wenn die Länge des Keils <10% des Knochenumfangs ausmacht, spricht man von einer einfachen Querfraktur, bei größerem Biegekeil von einer Wedge- oder Biegekeilfraktur. Schrägfrakturen sind ebenfalls häufig das Resultat von Biegebelastungen. Der Biegekeil bildet sich nicht voll aus und bleibt einseitig an einem der Hauptfragmente fixiert. Dort ist eine Fissur auf dem konventionellen Röntgenbild nicht immer sichtbar, möglicherweise aber intraoperativ. Spiralfrakturen entstehen bei Torsionsbelastungen. Stets ist auch eine gewisse axiale Last mitverantwortlich, zumindest die Schwerkraft. Häufig kann ein spiralförmiger Drehkeil entstehen. Trümmerfrakturen sind das Resultat einer hohen Belastungsgeschwindigkeit (Hochenergietrauma), welche uni- oder multidirektional gerichtet sein kann. Die gespeicherte Energie ist von der Belastungsgeschwindigkeit (»strain rate«) abhängig, d. h. je höher die Belastungsgeschwindigkeit ist, desto größer ist auch die gespeicherte Energie, welche schließlich bei einem Bruch freigesetzt wird (⊡ Abb. 19.9). Bei maximalen Belastungen ist eine explosionsartige Fraktur möglich. Zudem treten Weichteilschäden auf, welche durch den Unfallmechanismus selbst sowie durch scharfkantige Knochenfragmente (Durchspießung) hervorgerufen werden. Auch können dislozierte Frakturfragmente und ein Hämatom von innen die Weichteile komprimieren.
⊡ Abb. 19.8a–e Frakturtypen. Eine lateral einwirkende Biegekraft kann in einer Querfraktur (a), in Extrusions- oder Biegungskeilfrakturen (b) wie auch in Schrägfrakturen (c) resultieren, wobei der Extrusionskeil bei Letzteren u. U. an einem der Hauptfragmente anhaftet. Eine Dreh- oder Torsionskraft kann zu einer Spiralfraktur (d) oder zu einer Fraktur mit einem oder mehreren Spiralkeilfragmenten führen (e)
b
Der normale Blutfluss im intakten Knochen ist zentrifugal, d. h. von innen nach außen gerichtet. Im Frakturbereich entstehen in Abhängigkeit von der Dislokation und der Frakturart Modifikationen der knöchernen Durchblutung. Durch die Dislokation wird die längs verlaufende A. nutriens eher verletzt, was u. U. das Hochdrucksystem beeinträchtigt. So kann eine Hypertrophie der periostalen (quer verlaufenden) Durchblutung entstehen, und es resultiert ein zentripetaler Blutfluss. Venen
Der venöse Abfluss erfolgt medullär über die V. medullaris, die den Markraum via Foramen nutriens verlässt, und über periostale Venen. Anastomosen als Kurzschlüsse zwischen dem arteriellen und dem venösen Gefäßsystem sind bekannt. Dies sind Sinusoide im Markraum sowie Arteriolen im HaversKanal-System. Ein eigentliches Kapillarnetzwerk existiert nicht.
19
19.2
a
c
d
e
363 19.2 · Pathogenese der Frakturen
Knochen weist unter verschiedenen Belastungsgeschwindigkeiten ein unterschiedliches biomechanisches Verhalten auf, d. h. je höher die Belastungsgeschwindigkeit (»strain rate«) ist, desto steifer verhält sich Knochen, und desto größer ist die gespeicherte Energie – in anderen Worten: Die Kurve wird steiler, und die Fläche unter der Kurve, welche der gespeicherten Energie entspricht, nimmt zu. Unter experimentellen Bedingungen (Aufpralltrauma) konnten eine Steigerung der maximalen Belastbarkeit um den Faktor 3 und eine Erhöhung des Elastizitätsmoduls um den Faktor 2 nachgewiesen werden (Keaveny 1993). Die individuellen Merkmale einer Fraktur hängen von äußeren Einflüssen wie Geschwindigkeit, Beschleunigung, Richtung der einwirkenden Kräfte und Masse ab. Typische Beispiele sind Sportverletzungen. Spektakuläre Stürze können unverletzt überstanden werden (hohe »strain rate« → höhere Belastbarkeit des Knochen). Andererseits kann der langsame Sturz eines Skifahrers mit Torsionsbelastungen verbunden sein und zu Spiralfrakturen führen. Dazu kommen intrinsische Faktoren zum Tragen, beispielsweise Knochenstruktur (Osteoporose, systemische Erkrankungen), Prothesen und ein höheres Alter mit eingeschränkten Möglichkeiten, den Sturz abzufangen. Generell kann man niederenergetische (»low-velocity«-), unkomplizierte Frakturen von hochenergetischen (»high-velocity«-)Traumata mit häufig komplexen Knochen- und Weichteilverletzungen unterscheiden.
1500/sec
300
Stress (Mpa)
Definition
Die Stress- oder Ermüdungsfraktur ist generell auf eine chronische Überbelastung des Knochens sowie evtl. auch auf zu häufiges, zu langes oder zu intensives Training zurückzuführen. Mikrofrakturen induzieren Reparaturvorgänge mit gesteigerter Osteoklastenaktivität und lokalem Knochenabbau. Die Remodeling-Fähigkeit des Knochens wird überfordert. Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen Belastung und Belastbarkeit des Knochens. Bei andauernder Überbelastung wird der Knochen weiter bis zur Stressfraktur geschwächt. Stressfrakturen können sowohl bei normalen Belastungen und hoher Wiederholungszahl als auch bei intensiven Belastungen mit niedriger Wiederholungszahl auftreten. Konventionell-radiologisch ist bis 3 Wochen nach Schmerzbeginn i. d. R. keine Veränderung erkennbar. Gegebenenfalls kann die Verdachtsdiagnose früh mittels MRT bestätigt werden (⊡ Abb. 19.10). z
Epidemiologie
Stressfrakturen treten fast ausschließlich an der unteren Extremität auf.
Lokalisation von Stressfrakturen in abnehmender Häufigkeit
400
300/sec
0.1/sec 0.01/sec (fast walking) 0.001/sec (slow walking)
200
100
0 0
Stressfrakturen (Marschfrakturen) z
0, 5
1,0 Strain (%)
1, 5
2,0
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Tibia Mittelfußknochen (Os navicolare, Ossa metatarsalia) Oberschenkel (Femurdiaphyse, Schenkelhals) Fibula Becken (ischiopubischer Bogen, oberer Schambeinast symphysennah, Sakrum) ▬ Rippen ▬ Wirbelsäule: Pars interarticularis (Kunstturner) ▬ Obere Extremität (selten): – Ulna (Racket-Spieler) – Olekranon (Baseball- und Wurfspieler)
⊡ Abb. 19.9 »Strain rate«. (Nach McElhaney 1966)
a
b
c
⊡ Abb. 19.10a–c Stressfraktur der Tibia, konventionelle Röntgenbilder (anterior-posterior und lateral; a, b) und MRT-Befund (c). Röntgenkontrolle und MRT 2 Monate nach Beginn der Schmerzen. Links zeigt sich im Bereich der proximalen Tibia eine Kortikalisverdichtung. Eine Frakturlinie ist jedoch nicht eindeutig zu erkennen. Eine frühere Röntgenkontrolle war unauffällig. Entsprechend dazu stellt sich magnetresonanztomographisch neben dem Knochenödem auch eine feine Frakturlinie dar
19
364
z
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
Ätiologie und Pathogenese
Prädisponierende Faktoren sind (Bennell et al. 1996): ▬ Stoffwechselerkrankungen ▬ Diät ▬ Amenorrhö (Spitzensportlerinnen, Anorektikerinnen) ▬ Osteoporose ▬ Medikamente (Kortikoide) ▬ statische Abnormitäten (z. B. Hyperpronation des Fußes, Genua vara) ▬ Trainingsfehler, »falsche« Ausrüstung ▬ Geschlecht (kontrovers diskutiert) z
Klinik
Der Verlauf ist meistens schleichend. Anfangs wird lediglich ein leichter, lokaler Schmerz bemerkt. Zu Beginn treten die Schmerzen unter Belastung auf und klingen im Ruhezustand wieder ab. Typischerweise persistiert der Schmerz – im Gegensatz zu Sehnenerkrankungen und Reizungen – unter Belastung und verschwindet nicht nach der Aufwärmphase. Klinisch findet sich ein gut lokalisierbarer, fast punktförmiger Druck- und Klopfschmerz bei häufig bereits auffälliger, tastbarer Schwellung. Diese Weichteil-/Knochenschwellung ist oft das erste klinische Zeichen einer Umgebungsreaktion. Ein eigentlicher Funktionsverlust, wie er bei einer Fraktur üblich ist, besteht nur selten. Abklärungsbedürftig sind lokale Schwellungen, die sich über Wochen nicht zurückbilden und unter Belastung schmerzen. Sofern in einem solchen Fall nicht eine evidente Überbelastung besteht, sollte eine Stressfraktur diagnostisch ausgeschlossen werden. z
Klassifikation
Es wurden verschiedene Einteilungen beschrieben (Fredericson et al. 1997). Bei der Einteilung in 4 Grade nach Arendt u. Griffiths (1997) korreliert das klinische Bild mit dem MRT-Befund (⊡ Tab. 19.3). z
Diagnostik
60% der Patienten haben bei Schmerzbeginn in der konventionellen Röntgendiagnostik einen unauffälligen Befund. Als erstes radiologisches Merkmal ist eine lamelläre Periostreaktion zu erkennen. Ebenfalls als Frühzeichen zu werten ist das »Gray-cortex«-Zeichen, welches gelegentlich zu erkennen ist. Es entspricht einer Zone mit verminderter Kortikalisdichte
(Mulligan 1995). Später finden sich teils unscharf begrenzte Verdichtungslinien im Bereich der Spongiosa. Bei der CT lässt sich in vielen Fällen eine Frakturlinie darstellen (Becken, Wirbelsäule, Fuß). Aufgrund der Strahlenbelastung wird die CT zur Diagnosestellung der Stressfraktur jedoch durch die MRT verdrängt. Mittels 3-Phasen-Szintigraphie lässt sich die Verdachtsdiagnose bei noch unauffälligem konventionellen Röntgenbild früh erhärten. Die Szintigraphie ist wenig spezifisch und zeigt bei unterschiedlich gesteigertem Knochen-Turnover eine Anreicherung. Sie ist besonders für die Beurteilung komplexer Skelettabschnitte hilfreich. Der Vorteil der MRT ist die fehlende Strahlenbelastung, außerdem die Möglichkeit einer frühen Diagnosestellung. Der Einsatz von Gadolinium (Kontrastmittel) ermöglicht differenzialdiagnostisch eine Abgrenzung gegenüber Tumorveränderungen. z
Differenzialdiagnostik
Stressfrakturen treten vermehrt bei aktiven Sportlern auf. Differenzialdiagnostisch müssen generell Überbelastungsreaktionen an Knochen und Weichteilen in Betracht gezogen werden. Die Differenzialdiagnostik berücksichtigt die Lokalisation und sollte Neoplasien beinhalten. »Shin splints« als Überbelastungsreaktion im Bereich des mittleren Drittels der Tibia sind charakteristisch für Langstreckenläufer. Die Beschwerden sind v. a. bei Trainingsbeginn störend. Klinisch findet sich eine großflächige Druckdolenz über der Tibia und der anterolateralen Muskulatur. Im Vergleich dazu besteht bei der Stressfraktur eine sehr lokale Druckschmerzhaftigkeit. Ebenfalls v. a. im Bereich des Unterschenkels muss an das chronische Kompartmentsyndrom gedacht werden. Auch dieses tritt unter Belastung auf. Begleitend kann sich eine Schwellung bemerkbar machen. Zum Ausschluss des chronischen Kompartmentsyndroms sollte eine kontinuierliche Kompartmentdruckmessung in Ruhe und unter Belastung erfolgen. Nervenkompressionen wie das Morton-Neurom können sich insbesondere unter Belastung bemerkbar machen. Die genaue Anamnese und v. a. die klinische Untersuchung mit einer häufig vorhandenen interdigitalen Hyposensibilität sind beim Morton-Neurom wichtig. Selbstverständlich müssen ferner benigne und maligne Tumoren erwogen werden. Das Osteoidosteom mit oft typischem Nachtschmerz und häufiger Besserung unter einer Therapie
⊡ Tab. 19.3 Einteilung der Stressfrakturen
19
Grad
Nativradiologischer Befund
Szintigraphiebefund
MRT-Befund
1
Normal
Diffuser Bereich
Vermehrter »uptake« in STIR-Frequenz
2
Normal
Zunehmende, unscharfe Anreicherung
Positiv in STIR-Frequenz und T2-Wichtung
3
Diskrete Linie
Scharf definierte Anreicherungszone
Positiv in T1- und T2-Wichtung, kein kortikaler Defekt
4
Fraktur oder periostale Reaktion
Intensive transkortikale Anreicherung
Positiv in T1- und T2-Wichtung, Frakturlinie ersichtlich
STIR »short time inversion recovery«
19
365 19.3 · Klassifikation der Frakturen
⊡ Tab. 19.4 Stadienangepasste Therapie von Stressfrakturen Grad
Therapie
1/2
Vermeiden der Schmerzauslösung durch Anpassung aller Aktivitäten (Trainingspause) Anpassung von: – Laufstil – Schuhwerk – Bewegungsablauf/Technik
3/4
Therapie in Abhängigkeit von der Lokalisation der Läsion
mit Azetylsalizylsäure kann im konventionellen Röntgenbild zur Darstellung kommen. Typischerweise manifestiert sich das Osteoidosteom bei der Szintigraphie als »hot spot« oder als Nidus. Zur weiteren Abklärung von Tumoren dienen CT und MRI ( Kap. 15). Zum Ausschluss auch infektiöser Veränderungen wie der chronischen Osteomyelitis sind neben der Bildgebung auch die entsprechenden Laboruntersuchungen wichtig. z
Therapie
Die einzuschlagende Therapierichtung hängt vom Stadium der Erkrankung ab. Entscheidend ist die Lokalisation der Stressfraktur. Bei undislozierter Fraktur der proximalen und distalen Tibia ist eine konservative Therapie möglich (⊡ Tab. 19.4). Zusätzlich kann eine Ruhigstellung im Liegegips für 6–8 Wochen notwendig sein. Stressfrakturen an Fibula, Metatarsalia, Kalkaneus und Becken (undisloziert) können ebenfalls mittels Trainingspause bzw. Ruhigstellung für 6–8 Wochen zur Abheilung gebracht werden. Bei Metatarsale-V-Basisfrakturen, Jones-Frakturen und Frakturen des Os naviculare mag ein konservativer Therapieversuch im Frühstadium erfolgreich sein. Häufig ist eine Operation jedoch nicht zu umgehen. Stressfrakturen an der Tibiadiaphyse, v. a. im mittleren Drittel mit lokal eingeschränkter Durchblutung und somit Tendenz zur Entwicklung einer Pseudarthrose, erfordern teilweise eine Stabilisation. Im Femurbereich (Diaphyse und Schenkelhals) ist eine Osteosynthese fast obligat. z
Prognose
Im Allgemeinen ist eine Restitutio ad integrum zu erwarten. Der Zeitraum bis zur vollen sportlichen Leistungsfähigkeit beträgt jedoch nicht selten bis zu 6 Monate. Langfristig ist die für die Therapie erforderliche Anpassung (Training, Schuhwerk etc.) beizubehalten, um ein Rezidiv zu vermeiden.
wendbare, bis heute international anerkannte Klassifikation der Frakturen. Zusätzlich wurde eine zentralisierte Datenerfassung von der präoperativen Situation bis zum Abschluss der Nachsorge eingerichtet.
Ansprüche an eine gute Frakturklassifikation
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
19.3.1
Einfache Anwendbarkeit Logik internationale Verständlichkeit Reproduzierbarkeit gute Inter- und Intraobserverkorrelation Ableitbarkeit therapeutischer Konsequenzen prognostische Relevanz
AO-Klassifikation
Es gilt, die Fraktur zu beschreiben und in einem α-numerischen Code zu definieren. Primär wird der Schweregrad der Fraktur aufsteigend von Typ A bis Typ C erfasst: ▬ A: extraartikuläre Frakturen ▬ B partiell intraartikuläre Frakturen ▬ C: vollständig intraartikuläre Frakturen
91 9 - Kraniomaxillofaziale Knochen
92
15 - Klavikula
15 11 14 1 - Humerus
14 - Skapula
12 5
5 -Wirbelsäule
13 21 2 - Radius/ Ulna
45
22 23
6 - Becken/ Azetabulum
35
7-Hand 62
32 3 - Femur/ Patella 33
19.3
Klassifikation der Frakturen
Eine Frakturklassifikation dient als reproduzierbare, international verständliche Sprache der Diagnosestellung, außerdem als Therapiehilfe sowie zur Qualitätskontrolle und zu Forschungszwecken. Es wurden zahlreiche Klassifikationen erarbeitet, sei es für einzelne Knochen oder für einzelne Frakturen. So veröffentlichte die AO (Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen) im Jahre 1987 eine einheitliche, auf alle Skelettabschnitte an-
34 43 42
⊡ Abb. 19.11 AO-System für die Nummerierung der anatomischen Lokalisation einer Fraktur in 3 Knochensegmenten (1: proximal; 2: diaphysär; 3: distal)
4 -Tibia/Tibula 43 44 8- Fuß
366
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
Diagnose-»Essenz« der Fraktur Lokalisation
Morphologie
Knochen 1234
Segment 1 2 3 (4)
Typ ABC
Gruppe 123
Subgruppe . ..2 ..3
4 lange Knochen
3 oder 4 Segmente
3 Typen
3 Gruppen
3 Subgruppen
⊡ Abb. 19.12 Alphanumerische Struktur der AO-Klassifikation von Frakturen der langen Röhrenknochen
⊡ Tab. 19.5 Frakturklassifikationen, welche sich neben der AO-Klassifikation durchgesetzt haben Lokalisation Wirbelsäule
Höhe C1
Jefferson-Fraktur
Höhe C2
Anderson-Alonso
Brust- und Lendenwirbelsäule
Magerl
Glenoid
Ideberg (mod. nach Mayo)
Humeruskopf
Neer
Becken
19
Klassifikation
Azetabulum
Judet, Letournel
Beckenring
Tile
Femurkopf
Pipkin
Schenkelhals
Pauwel‘s, Garden
Tibiaplateau
Schatzker
Talus
Hawkins
Kalkaneus
Sanders, Essex-Lopresti, Zwipp (v. a. für Publikationszwecke geeignet)
Jeder Knochen bzw. jede Knochenregion wird mit Zahlen codiert. Die langen Röhrenknochen unterteilt man in jeweils 3 Segmente (proximale Metaphyse, Schaft, distale Metaphyse). Jeder Frakturtyp (A–C) wird nach den Gruppen 1–3 mit ihren jeweiligen Untergruppen, ebenfalls 1–3, definiert. Die Graduierung 1–3 folgt einer hierarchischen Einstufung entsprechend dem Schweregrad der Fraktur (⊡ Abb. 19.11; ⊡ Abb. 19.12). Eine präzise Klassifikation ist oftmals erst intra-/postoperativ möglich, da Feinheiten radiologisch teilweise nicht erfasst werden können. Zur Beurteilung stellen sich folgende Fragen: ▬ Welcher Knochen (z. B. 1)? ▬ Welches Segment (z. B. 3)? ▬ Welcher Frakturtyp (z. B. B)? ▬ Welche Gruppe (z. B. 1)? ▬ Welche Untergruppe (z. B. 2)? Das Beispiel entspricht einer partiell intraartikulären, distalen Humerusfraktur mit sagittaler lateraler Kondylenfraktur. Die Untergruppe 2 bedeutet die Beteiligung der Trochlea, simpel (1 für Kapitulum, 3 für Trochlea multifragmentär).
Die AO-Klassifikation ist für die meisten Knochen eine der weltweit gebräuchlichsten Klassifikationen. Einteilungen, welche sich außerhalb der AO-Klassifikation durchgesetzt haben, sind in ⊡ Tab. 19.5 dargestellt.
19.3.2
Klassifikation der offenen Frakturen nach Gustilo und Anderson
Zur Einteilung der offenen Frakturen hat sich die Klassifikation nach Gustilo und Anderson durchgesetzt (⊡ Tab. 19.6). Sie dient der Beurteilung der Fraktur und der Festlegung der Behandlungsstrategie. Zudem ermöglicht sie dank therapeutischer Konsequenzen bei der Primärversorgung offener Frakturen eine Reduktion der Komplikationsrate.
19.4
Klassifikation der Weichteilverletzungen
Der Schweregrad einer Weichteilverletzung in Kombination mit einer Fraktur ist diagnose- und therapierelevant. Darauf gründen verschiedene Einteilungen; am gebräuchlichsten ist jene von Tscherne (⊡ Tab. 19.7). Sie unterscheidet zwischen offenen (o) und geschlossen (g) Frakturen. Für die Beurteilung offener Frakturen hat sich die oben beschriebene Gustilo-AndersonKlassifikation durchgesetzt, sodass die Autoren sich hier auf die Einteilung der Weichteilverletzungen von geschlossenen Frakturen nach Tscherne beschränken. > Geschlossene Frakturen mit einer Einstufung als Gll–lll nach Tscherne müssen nach einer Erstbeurteilung engmaschig bezüglich eines Kompartmentsyndroms überwacht werden. Die Überwachung ist absolut indiziert, sofern nicht eine Primärversorgung mittels Fixateur externe und gleichzeitiger Kompartmentspaltung erfolgt.
19.5
Prinzipien der Frakturheilung
Eine Knochenfraktur bedeutet einen Verlust der mechanischen Integrität und der knöchernen Kontinuität. Es kommt zu einer lokalen Durchblutungsstörung mit Unterbrechung der Gefäßversorgung sowie Verletzung des Peri- und Endosts. Das Ausmaß des Defekts ist von der schwere des Traumas und dem Ausmaß der Dislokation abhängig.
367 19.5 · Prinzipien der Frakturheilung
⊡ Tab. 19.6 Klassifikation der offenen Frakturen nach Gustilo und Anderson Typ
Größe der Wunde [cm]
Weichteilverletzung
Art der Fraktur
Wundkontamination
Besonderheiten
l
<1
Geringe Energiezufuhr, keine Quetschung
Einfache Quer- oder Schrägfraktur, keine oder nur kleine Trümmerzone
Hautperforation durch Knochenfragment, geringe Kontamination
–
ll
1–10
Mittlere Energiezufuhr, mäßige Quetschung, Avulsion, Lappenbildung
Mäßig ausgeprägte Trümmerzone
Mäßige Kontamination
–
lll
>10
Hohe Energiezufuhr, ausgeprägter Weichteilschaden (Muskeln, Haut und neurovaskuläre Strukturen)
Große Trümmerzone
Ausgeprägte Kontamination
–
llla lllb
lllc
Knochen nach Débridement nicht mehr mit lokalen Weichteilen deckbar (Lappenplastik erforderlich) Jede offene Fraktur mit operationsbedürftiger neurovaskulärer Verletzung
⊡ Tab. 19.7 Klassifikation der geschlossenen Frakturen nach Tscherne und Oestern Grad
Beschreibung
0
Keine oder nur minimale Weichteilverletzung in Kombination mit einer einfachen Fraktur (indirektes Trauma)
l
Oberflächliche Schürfung oder Quetschung durch Fragmentdruck einfache bis mittelschwere Quer- oder kurze Schrägfraktur
ll
Tiefe kontaminierte Schürfung mit begrenzter Weichteilquetschung, verursacht durch direktes Trauma drohendes Kompartmentsyndrom Quer- oder komplexe Mehrfragmentfraktur
lll
Ausgedehnte Weichteilverletzung (Kontusion, Décollement) Zerstörung von Muskulatur und subkutanem Gewebe mit Verlust des Periosts manifestes Kompartmentsyndrom und Gefäßverletzungen assoziiert Defekt- oder Trümmerfraktur
19.5.1
Knochen noch mit lokalen Weichteilen deckbar
Spontane Frakturheilung
Die spontane Frakturheilung zeigt einen systematischen, geregelten Ablauf in 6 Phasen: ▬ Frakturhämatom – fibrinöse Überbrückung der Fraktur (Akutphase). Die Gefäßläsionen in der Frakturzone verursachen ein Hämatom mit Einschwemmung von Thrombozyten und Zellen der akuten Entzündungsreaktion sowie in der Folge Aktivierung der Gerinnungskaskade und Thrombusbildung (Thrombozyten, Fibrin). ▬ Entzündungsreaktion (1.–2. Woche). Bei der unmittelbar folgenden Entzündungsreaktion mit lokal gesteigerter Blutzirkulation nehmen Entzündungszellen wie Granulozyten, Mastzellen und Monozyten überhand. Der zur initialen Blutstillung gebildete Thrombus wird aufgelöst und durch Granulationsgewebe ersetzt.
▬ Angiogenese (2.–3. Woche). Es erfolgt eine lokale Gefäßeinsprossung, welche die Infiltration der Frakturzone mit Vorläuferzellen und Wachstumshormonen ermöglicht. Mesenchymale Zellen differenzieren sich zu Fibroblasten oder Chondrozyten aus. ▬ Knorpelkallus (4.–5. Woche). Die primäre Stabilisation der Fraktur wird durch einen knorpeligen Kallus, welcher in erster Linie aus Kollagen Typ l besteht, gewährleistet. Im Weiteren hypertrophieren die Chondrozyten und bilden Kollagen Typ X. ▬ Ossifikation (2.–4. Monat). Die Umwandlung von hypertrophem Knorpel zu Knochen ist ein komplexer Vorgang, bei welchem Chondrozyten ausdifferenzieren und untergehen (Apoptose) und extrazelluläre Matrix resorbiert wird. Schließlich folgt die Osteogenese. Wachstumsfaktoren haben eine regulatorische Wirkung auf diesen Prozess. Mit zunehmender Hypertrophie der Chondrozyten und Reifung des Knorpels kalzifiziert dieser am Übergang zum frisch gebildeten Geflechtknochen und wird von diesem schließlich vollständig ersetzt. ▬ Remodeling (erste 3 Jahre). Abschließend folgt die Remodeling-Phase, in welcher der Geflechtknochen entsprechend der wirkenden Kraftlinien in Lamellenknochen umgewandelt wird. > Ein erfolgreicher Ablauf der spontanen Frakturheilung ist von vielen Faktoren abhängig: ▬ Breite des Frakturspalts ▬ Dislokationsgrad und damit verbunden die lokale Schädigung und die eventuelle Kontamination der Weichteile (insbesondere Peri- und Endost) ▬ Bewegungsausmaß im Bereich des Frakturspalts bzw. Ausdehnung der Trümmerzone und damit verbunden der Grad der lokalen Durchblutung
Bei diesem Spontanverlauf der Frakturheilung in 6 Phasen, wie er v. a. bei der konservativen Behandlung von Frakturen beobachtet wird, können Fehlstellungen im Frakturbereich im Kin-
19
368
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
desalter in allen 3 Ebenen bis zu einem gewissen Grad durch die Umbauvorgänge kompensiert werden. Rotationsfehlstellungen können sich in beschränktem Maße während des Wachstums im Rahmen der physiologischen Torsionsveränderungen bis zum 5. Lebensjahr auskorrigieren. Ad-latus-Fehlstellungen um eine ganze Schaftbreite richten sich u. U. bis zum Alter von 12 Jahren vollständig ein. In der Sagittal- und in der Frontalebene lassen sich Fehlstellungen bis zum 10. Lebensjahr korrigieren. Abhängig von der Wachstumspotenz der nächstgelegenen Wachstumsfuge sowie von der Hauptbelastungsrichtung der Nachbargelenke werden Flexions- und Extensionsfehlstellungen besser korrigiert als Varus- und Valgusfehlstellungen. Auf das weitere Längenwachstum können kindliche Frakturen stimulierende oder hemmende Einflüsse haben. Eine definitive Beurteilung einer allfälligen Längendifferenz ist deshalb erst gegen Wachstumsabschluss möglich. Der Ablauf der spontanen Frakturheilung wird als sekundäre- oder indirekte Knochenheilung bezeichnet. Dies besagt, dass primär ein bindegewebiger Kallus die Fraktur überbrückt und stabilisiert und erst sekundär die Ossifikation stattfindet. Radiologische Merkmale der spontanen Frakturheilung sind die ausgeprägte Kallusbildung, die temporäre Verbreiterung der Frakturzone und die relativ lange Persistenz der Frakturlinie im Röntgenbild. Das Ausmaß der Kallusbildung mit Vergrößerung dessen Durchmessers spiegelt bis zu einem gewissen Grad die bestehende Instabilität im Frakturbereich wider. Der Kallus stellt den natürlichen Versuch dar, die Fraktur ruhigzustellen. Erst danach kann sich eine ungestörte Ossifikation entwickeln. Die Frakturheilung ist ein hochspezialisierter Prozess der Wundheilung zur Erlangung der knöchernen Integrität. In den meisten Fällen verläuft dieser Prozess optimal ab; in 5–10% der Fälle (entspricht 5,6 Mio. Frakturen/Jahr in den USA) ist die Heilung verzögert oder gar gestört (Praemer u. Dorothy 1999). Bei osteosynthetisch versorgten Frakturen werden verschiedene Heilungsmechanismen unterschieden ( Kap. 3). > Folgende Faktoren sind für die Spontankorrektur wichtig: ▬ Patientenalter ▬ Lokalisation der Fraktur (je näher an der Epiphysenfuge, desto besser)
▬ Geschlecht (Mädchen sind i. d. R. früher reif) ▬ Typ der Fehlstellung
19.5.2
Knöcherne Heilungsvorgänge im Frakturspalt
Generell wird zwischen einer osteonalen und einer nichtosteonalen Frakturheilung unterschieden (Aro u. Chao 1993). Die osteonale Frakturheilung kann primär (Kontaktheilung) oder sekundär ablaufen (⊡ Abb. 19.13). Die nichtosteonale Frakturheilung ist durch eine überschießende Kallusbildung mit periostalen und endostalen Heilungsvorgängen charakterisiert; eine primäre Kortikalisheilung findet nicht statt. Dies entspricht der bereits beschriebenen Kaskade. Der Knochenumbau läuft sehr langsam ab. Typisch ist ein großer Frakturspalt im Röntgenbild mit relativ starker Bewegung zwischen den Fragmenten, wie im Laufe einer Gipsbehandlung, bei einer Überbrückungsplattenosteosynthese oder bei einer Marknagelung zu beobachteten (⊡ Abb. 19.14). Der entstehende Kallus reduziert zunehmend die interfragmentäre Bewegung und ermöglicht danach die Knochenheilung. Demgegenüber bietet eine rigide Plattenosteosynthese Voraussetzungen für eine primäre osteonale Frakturheilung (stabiles Fraktursystem; ⊡ Abb. 19.15). Dabei können regenerierende Osteone durch den Frakturspalt direkt von einem Fragment in das andere Fragment migrieren. Auf diese Weise werden die Fragmentenden gegeneinander fixiert, was eine direkte Frakturheilung ermöglicht. Es bildet sich weder Kallus noch kommt es zu Umbauvorgängen. Treten bei einer nicht ganz rigiden Osteosynthese Mikrobewegungen eines gewissen Ausmaßes im Frakturspalt auf, werden zunächst eine periostale und eine endostale Kallusbildung beobachtet, gefolgt von einer osteonalen Frakturheilung. Dieser Typ der Frakturheilung wird als sekundäre osteonale Frakturheilung bezeichnet (⊡ Abb. 19.16). Bei direktem Knochenkontakt oder nur kleinem Frakturspalt (bis 1 mm) laufen die Umbauvorgänge dabei schnell ab. Es ist diese Art der Frakturheilung, welche heutige Osteosynthesemethoden mit den Zielen eines rapiden Remodelings und einer beschleunigten Knochenheilung anstreben.
Frakturheilung
Osteonal
Nichtosteonal
Frakturspalt wird durch Osteone überbrückt
19
Primär (ohne Kallusbildung) ⊡ Abb. 19.13 Ablauf der osteonalen und nichtosteonalen Frakturheilung
Kontaktheilung
Spaltheilung
Frakturspalt wird durch Kallus überbrückt
Sekundär (mit Kallusbildung)
Kontaktheilung
Spaltheilung
369 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
19.6
Komplikationen der Frakturbehandlung
Zu unterscheiden sind Früh- und Spätkomplikationen. Komplikationen
▬ Frühphase:
Endostaler Kallus
Periostaler Kallus
Frakturspalt
Spaltüberbrückung durch Kallus
⊡ Abb. 19.14 Nichtosteonale Frakturheilung. Es kommt zu peri- und endostalen Heilungsvorgängen mit überschießender Kallusbildung. Eine direkte Osteonmigration durch den Frakturspalt wird nicht beobachtet
– Hämatom – Kompartmentsyndrom – Infektion – Sekundärdislokation – Gefäß-/Nervenverletzungen ▬ Spätphase: – Myositis ossificans – Materialversagen – M. Sudeck – Malunion – Pseudarthrose – »delayed union« – »non union« – Arthrose
Osteone Frakturspalt Spaltüberbrückung durch Osteone
Primäre Kontaktheilung
Primäre Spaltheilung
⊡ Abb. 19.15 Primäre osteonale Frakturheilung. Die Kallusbildung bleibt aus. Regenerierende Osteone migrieren direkt von einem Fragment zum anderen, wobei die Fragmente direkten Kontakt haben (Iinks) oder durch einen nur kleinen Frakturspalt voneinander getrennt sind (rechts)
Spaltüberbrückung durch Kallus, später durch Osteone
Endostaler Kallus Periostaler Kallus Frakturspalt
Osteone
Sekundäre Kontaktheilung
Sekundäre Spaltheilung
⊡ Abb. 19.16 Sekundäre osteonale Frakturheilung. Auf die initiale Kallusbildung folgt eine osteonale Migration. Die Fragmente müssen einen direkten Kontakt haben (links) oder dürfen nur durch einen kleinen Frakturspalt (<1 mm) voneinander getrennt sein (rechts)
19
370
19.6.1
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
Infektionen
Die meisten Infektionen nach osteosynthetischer Frakturversorgung entstehen exogen durch Kontamination anlässlich des Traumas selbst (offene Frakturen) bzw. nach Spitaleintritt etwa durch fehlerhaftes Untersuchen offener Frakturen (vor und im Operationssaal). Auch postoperativ kann – v. a. bei verzögerter Wundheilung, ausgedehnten Hämatomen oder stark traumatisiertem Gewebe mit Nekrosebildung – eine Kontamination erfolgen (Arens u. Kraft 1999; Arens et al. 1996). Deren genauer Zeitpunkt bleibt meist unbekannt (⊡ Abb. 19.8). Entsprechend der Klassifikation von Willenegger und Roth (1986) wurde ein jeweils geeignetes Therapieregime entwickelt. Späte und verzögerte Infektionen werden zusammengefasst, da sie sich bezüglich Therapie und Prognose nicht unterscheiden. Die Inzidenz postoperativer Infektionen nach Osteosynthese geschlossener Frakturen liegt generell unter 4%, kann jedoch für offene Frakturen bis auf >30% ansteigen (Bach u. Hansen 1989; Perren 2002). Ungefähr Zweidrittel der offenen Frakturen werden beim Traumaereignis selbst kontaminiert. Bei knapp 60% der Frühinfektionen stammen die Erreger von der Hautflora. Implantatassoziierte Infektionen gehen typischerweise auf biofilmproduzierende Bakterien auf dem Implantat zurück (Stapylococcus aureus und koagulasenegative Staphylokokken wie Staphylococcus epidermidis; ⊡ Tab. 19.9). Einmal
⊡ Tab. 19.8 Klassifikation der implantatassoziierten Infektionen (Willenegger u. Roth 1986) Einteilung
Typischer Erreger
Virulenz
Infektionsbeginn [Wochen]
Frühe Erstmanifestation
Staphylococcus aureus, gramnegative Bakterien
Hoch
<2
Verzögert
Koagulasenegative Staphylokokken
Gering
2–10
Spät
Koagulasenegative Staphylokokken
Gering
>10
Verzögerte/ späte Erstmanifestation
⊡ Tab. 19.9 Implantatassoziierte Infektionen bei Frakturen: prozentuale Verteilung der identifizierten Keime (Trampuz et al. 2005)
19
im Biofilm »eingenistet«, begeben sich die Bakterien in eine Art stationären Zustand (Schlafmodus) mit stark erniedrigtem Stoffwechsel und eingeschränktem Wachstum. Dadurch ist die Wirksamkeit von Antibiotika stark eingeschränkt. Eine hämatogene Infektion, wie sie bei Protheseninfektionen vorkommen kann, ist hier viel seltener. Ausgangspunkt dafür können Haut, Atemwege, ableitende Harnwege und Mundhöhle sein (Law u. Stein 1993).
Osteomyelitis Sowohl ein Übergreifen von Weichteilinfekten auf den Knochen als auch eine primäre ossäre Kontamination (offene Fraktur) ist möglich. Jede Fraktur erzeugt lokale Knochennekrosen stark unterschiedlichen Ausmaßes. Besonders betroffen sind Hochrasanztraumata oder offene Frakturen mit Trümmerzone. Intakter, gesunder Knochen hingegen weist eine hohe Resistenz gegenüber Infektionen auf. Das iatrogene Trauma einer Osteosynthese mittels Platte oder Marknagelung ist zudem nicht zu vernachlässigen. Die Platte stört die lokale periostale Durchblutung; die Markraumbohrung sowie der Marknagel beeinträchtigen die endostale Durchblutung. Ossäre Nekrosezonen oder Knochensequester können entstehen und ein ideales Nährmedium für Bakterien bilden. Avitaler Knochen ist der körpereigenen Infektabwehr und einem Antibiotikum nur beschränkt zugänglich. Zwar ist auch bei der akuten Osteomyelitis der Staphylococcus aureus am häufigsten anzutreffen, doch sind Infektionen mit gramnegativen Keimen im Zunehmen begriffen. Ferner ist eine tuberkuloseassoziierte Osteomyelitis heute je nach Herkunftsland nicht zu vergessen. Hinzu gesellen sich patientenspezifische Faktoren (s. unten). z
Klassifikation
Die Einteilung nach akuten, subakuten und chronischen Infekten hat eher historischen Charakter, sie ist im klinischen Alltag jedoch weiterhin gebräuchlich (⊡ Tab. 19.10). Die subakute und die chronische Osteomyelitis betreffen mehrheitlich Erwachsene. Sie finden ihren Ursprung in offenen Wunden und offenen Frakturen, aber auch in Dekubiti und chronischen Ulzera bei diabetischem Fuß. Die heute gebräuchlichste Klassifikation der Osteomyelitis ist jene von Cierny und Mader. Erstens berücksichtigt sie sowohl lokale als auch systemische patientenspezifische Faktoren in den Untergruppen A–C, zweitens erfolgt eine anatomische Typisierung (Stadien l–lV), welche den Schweregrad und die Ausdehnung der Osteomyelitis im Knochen berücksichtigt (⊡ Tab. 19.11). Das klinische Stadium ergibt sich aus dem anatomischen Typ und der genannten Untergruppe.
Keim
Häufigkeit [%]
Staphylococcus aureus
30
Koagulasenegative Staphylokokken
22
Gramnegative Bakterien
10
Anaerobier
5
⊡ Tab. 19.10 Osteomyelitisklassifikation nach dem Verlauf
Enterokokken
3
Einteilung
Dauer der Osteomyelitis/Verlauf
Streptokokken
1
Akute Osteomyelitis
≤4 Wochen
Mehrere Keime gleichzeitig
27
Chronische Osteomyelitis
Unbekannt
2
A
>5–7 Wochen (gelegentlich Fistelbildung)
B
Rezidiv nach langem Intervall (Sequester)
371 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
Einteilungssystem der Osteomyelitis nach Cierny und Mader (Cierny et al. 2003)
⊡ Tab. 19.11 Einteilungssystem der adulten Osteomyelitis nach Cierny und Mader (Cierny et al. 2003)
▬ Systemische Faktoren:
Einteilung
– Unterernährung – Nieren-, Leberinsuffizienz – Alkoholabusus – Immundefizienz – chronische Hypoxämie – Karzinomerkrankung – Diabetes mellitus – hohes Alter – Immunsuppression – Nikotinabusus ▬ Lokale Faktoren: – chronisches Lymphödem – chronisch venöse Insuffizienz – Gefäßkrankheiten – Arteriitis – ausgedehnte Narbenbildung – Strahlenfibrose
Anatomische Typisierung
Merkmale
Stadium I
Markraumosteomyelitis
Stadium II
Oberflächliche Osteomyelitits
Stadium III
Begrenzte kortikale Osteomyelitis
Stadium lV
Diffuse, Gewebegrenzen überschreitende Osteomyelitis
Allgemeinzustand des Patienten/Risikofaktoren A
Keine Risikofaktoren
B
Lokale Risikofaktoren (Bl; vgl. Übersicht) Systemische Risikofaktoren (Bs; vgl. Übersicht) Kombiniert systemische und lokale Risikofaktoren (Bls; vgl. Übersicht)
C
Therapie schwerwiegender als Erkrankung Operation kontraindiziert
Klinische Einteilung Typ + Allgemeinzustand = klinisches Stadium
z
Diagnostik
Die klinischen Zeichen und Möglichkeiten der weiteren Abklärung sowie die Verlaufskontrollen sind in ⊡ Tab. 19.12 zusammengefasst. Ein Konzentrationsanstieg des C-reaktiven Proteins (CRP) ist nach jeder Frakturversorgung zu beobachten. Der Wert sollte sich jedoch innerhalb von 2–3 Wochen wieder normalisieren. Für gewisse standardisierte orthopädische Eingriffe (Hüftarthroplastik) sind relativ uniforme CRP-Verläufe bekannt (Okafor u. MacLellan 1998). In der Traumatologie hängen die CRPWerte neben dem Operationstrauma zusätzlich von der Lokalisation und der Schwere der Verletzung ab; absolute CRP-Werte sind nicht bekannt. Aussagekräftig ist der postoperative Verlauf. Allerdings liegen erst wenige Daten vor (Scherer et al. 2001). Bei der Osteomyelitis ergibt sich die Verdachtsdiagnose zunächst aus klinischen Befunden wie lokalen Infektzeichen und evtl. Fieber. Wichtig ist auch hier die Anamnese (Dauer der Beschwerden, Schwere des vorangegangenen Traumas, Operationen). Unspezifische Laborbefunde wie erhöhte Leukozyten-, Blutsenkungs- und CRP-Werte stützen einen Verdacht. Sie sind jedoch nicht obligat erhöht; ausschlaggebend ist vielmehr deren Verlauf. Blutkulturen fallen v. a. bei der akuten Form positiv aus. Zu den primären bildgebenden Untersuchungen gehört eine konventionelle Röntgenaufnahme, welche frühestens 2 Wochen nach Beginn der Beschwerden Veränderungen wie periostale Reaktionen, Osteolysen und Sequester zeigt. Weiterhin können Lockerungen von Osteosynthesematerial oder Frakturspaltverbreiterungen auffallen. Der Verdacht auf eine Osteomyelitis bei noch unauffälligem Röntgenbild verlangt nach weiteren bildgebenden Untersuchungen. Die CT eignet sich zur Darstellung des Durchbaus der Fraktur oder von isolierten Sequestern. Die Beurteilung kann jedoch durch Artefaktbildung (Implantate) erschwert sein (Boutin et al. 1998). Eine MRT kann mit einer Sensitivität von 96% und einer Spezifität von 95% bereits sehr
⊡ Tab. 19.12 Klinisches Bild und diagnostische Abklärung der Osteomyelitis Diagnostisches Vorgehen
Beispiele
Auswertung
Klinisches Bild
Rötung
Rubor
Schwellung
Tumor
Überwärmung
Calor
Schmerzen
Dolor
Leukozytose
Infektzeichen, unspezifisch
Anstieg der CRPKonzentration
Infektzeichen, unspezifisch
Röntgendiagnostik
Implantatlockerung, Periostreaktion
Sonographie
Flüssigkeitsansammlung
CT
Frakturdurchbau, Sequester
MRT
Knochenmarködem, Abszesse, Übergreifen auf Weichteile, avitale Knochensequester
Szintigraphie
Avitale Knochensequester
Punktion
Bakteriennachweis
Intraoperative Gewebeprobe
Bakteriennachweis
Labordiagnostik
Bildgebung
Mikrobiologische Diagnostik
CRP C-reaktives Protein
19
372
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
früh eine akute Osteomyelitis aufdecken (Morrison et al. 1993). Operationsbedingte Artefakte (z. B. Knochenödem) können allerdings für mindestens 6 Monate eine adäquate Beurteilung der MRT-Bilder verhindern. Auch bei subakutem bzw. chronischem Verlauf ist der Einsatz der MRT durch unspezifische Veränderungen eingeschränkt. Die Szintigraphie ist bis zu einem Jahr nach erlittener Fraktur nur eingeschränkt aussagekräftig. Bei der chronischen Osteomyelitis lassen sich jedoch minderdurchblutete Skelettareale oder Sequester darstellen. Zur Lokalisation von Flüssigkeits- oder Eiteransammlungen eignet sich die Sonographie. Die PET (Positronenemissionstomographie) bzw. PET-CT ist nicht überall verfügbar. Sie eignet sich zur Abklärung implantatassoziierter Osteomyelitiden (Schiesser et al. 2003). > Zur Diagnosebestätigung und v. a. zur Therapieplanung ist schließlich der Keimnachweis unerlässlich. Ein kontinuierlicher CRP-Konzentrationsanstieg, insbesondere nach postoperativ initial sinkendem Verlauf, begründet einen Infektverdacht. z
> Stabile Implantate sollten belassen werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit (Infektiologie, rekonstruktive Chirurgie) ist ein Muss.
Therapie
Ein Infektverdacht bedeutet ein »aggressives« Vorgehen: chirurgisches Débridement, Nekrosektomie und Jet-Lavage. Letztere sollte Lavasept (lokales Antiseptikum mit Biguanid-Polyhexanid) beinhalten, sofern kein Gelenkknorpel exponiert ist. Intraoperativ ist vor einer Antibiotikagabe eine Gewebe-/Flüssigkeitsprobe zur bakteriologischen Aufarbeitung zu entnehmen. ! Cave Es sind mindestens 3 Proben aus unterschiedlichen Lokalisationen zu entnehmen. Einfache Wattestäbchenabstriche genügen nicht!
19
gel ist durch einen Fixateur externe zu ersetzen. Bei ausgedehnten Weichteildefekten mit freiliegender Fraktur erfolgt wiederum eine frühzeitige Planung gemeinsam mit den Kollegen der rekonstruktiven Chirurgie. Der Rat der Infektiologen ist neben der wichtigen operativen Sanierung wertvoll. Bis das Ergebnis der Resistenzprüfung eintrifft, ist eine i. v. Therapie mit Augmentin (Amoxicillin plus Clavulansäure) entsprechend der Nierenfunktion ratsam. Danach wird die Antibiotikatherapie resistenzgerecht angepasst. Zusätzlich hat sich Rifampicin wegen seiner bakteriziden Wirkung und seiner Einwirkung auf biofilmbildende Bakterien bewährt (Bamberger et al. 1997; Chuard et al. 1991). In Verbindung mit einem frühen Revisionseingriff (<3 Wochen nach dem Primäreingriff) bei akuter Infektion kann bei stabilem Osteosynthesematerial eine Eradikation ohne Metallentfernung erreicht werden (Zimmerli et al. 1998).
Zusätzliches Gewebe dient einer evtl. später erforderlichen Abklärung mittels Polymerasekettenreaktion. Ferner ist eine histologische Untersuchung hilfreich. Sie gibt Aufschluss über den überwiegenden Zelltyp und ermöglicht ggf. einen spezifischen Keimnachweis. Bei zum Operationszeitpunkt bereits eingeleiteter Antibiotikatherapie sollte ein »Antibiotikafenster« von mindestens 2 Wochen eingeplant werden (Spangehl et al. 1999). Die Beherrschung des Infekts soll der Entwicklung einer Osteomyelitis entgegenwirken und die Konsolidierung der Fraktur unter stabilen Verhältnissen erlauben. Lockere bzw. lose Implantatteile sind vorzeitig auszutauschen (Trebse 2005). Dieses Management ist v. a. bei Plattenosteosynthesen möglich. Nekrosen, devitalisierte Knochenfragmente und Sequester müssen ebenfalls entfernt werden. Dies bedeutet häufig ein wiederholtes Débridement. Größere Defekte oder Hohlräume sollten mit autologer Spongiosa aufgefüllt werden, allerdings nicht während einer akuten, floriden Infektion. Je nach Defektgröße sind auch freie oder gestielte Knochentransplantationen (freie Fibulatransplantation) erforderlich. Eine adäquate Weichteildeckung kann gelegentlich nur mittels myokutanem Lappen erreicht werden. Eine Beurteilung durch die Kollegen der rekonstruktiven Chirurgie sollte frühzeitig erfolgen, um ein geplantes Vorgehen zu ermöglichen. Bei Infekten nach Marknagelung mit direkter Beteiligung des Markraums unterscheidet sich das Vorgehen: Der Markna-
19.6.2 z
Kompartmentsyndrom
Definition
Als Kompartmentsyndrom bezeichnet man einen pathologisch erhöhten Druck innerhalb eines durch Knochen und Faszien starr begrenzten Kompartiments. Der erhöhte intrakompartimentelle Druck führt unweigerlich zu einer Kompromittierung des venösen Abflusses bei noch erhaltener arterieller Durchblutung. Die Drucksteigerung hält an, bis der Arteriolendruck überschritten wird. Ohne chirurgische Intervention (Faszienspaltung) führt das akute Kompartmentsyndrom zu irreversiblen Nekrosen aller im Kompartiment enthaltenen Strukturen. Das Ausmaß der Nekrosen ist vom Druck und von der Dauer der Exposition abhängig. Der Endzustand mit ausgebildeten Nekrosen in der Akutphase des nicht therapierten oder des verkannten Kompartmentsyndroms ist die typische VolkmannKontraktur. Im Jahre 1914 wurde erstmals die Fasziotomie zur Entlastung eines betroffenen Kompartimets und als Prävention einer Volkmann-Kontraktur vorgeschlagen. Die anfänglichen Beschreibungen von Kompartmentsyndromen und Kontrakturen betrafen meist den Unterarm und erst später die untere Extremität mit den 4 Kompartimenten am Unterschenkel. Das Kompartmentsyndrom tritt auch am Fuß auf (Manoli 1990). Das Kompartmentsyndrom kann akut oder chronisch, d. h. reversibel verlaufen. > Beim akuten, traumatisch bedingten Kompartmentsyndrom handelt es sich stets um einen Notfall mit höchster Dringlichkeit. Die sofortige operative Dekompression ist absolut notwendig. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursachen, die zu einem akuten Kompartmentsyndrom führen, lassen sich in 2 Gruppen zusammenfassen. Sowohl eine
373 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
Verkleinerung des Kompartiments als auch eine intrakompartimentelle Druckerhöhung können ein Kompartmentsyndrom zur Folge haben.
▬ ▬ ▬ ▬
Druckschmerz Hypästhesie distal der Läsion (erstes Warnzeichen) Motorische Parese (Spätzeichen) Intrakompartimenteller Druck, der sich weniger als 30 mmHg an den diastolischen Druck annähert Der Pulsstatus ist nicht verwertbar!
Ursachen eines akuten Kompartmentsyndroms
▬ Verkleinerung des Kompartiments: – zirkuläre (Gips-)Verbände – Verschluss von Faszienhernien (v. a. Tibialis-anterior-Loge) – Lagerungsschaden – Extension von Frakturen – zirkuläre Verbrennungen/Erfrierungen ▬ Erhöhung des intrakompartimentellen Drucks: – Fraktur/Osteotomie – Blutung/Kontusion – erhöhte kapilläre Permeabilität (Verbrennungen) – postischämische Situation (Reperfusion) – Arthroskopie (Flüssigkeitsaustritt)
Tipp
I
I
Verschließe nie eine Faszienhernie an der Tibialis-anteriorLoge, sondern eröffne die Loge komplett (Gefahr eines Kompartmentsyndroms).
z
Klinik
Die klinische Diagnose wird häufig zu spät gestellt. Das akute Kompartmentsyndrom kann durch weitere Verletzungen (polytraumatisierter Patient, Bewusstseinstrübung) maskiert sein. Ein Kompartmentsyndrom ist bei offenen wie auch bei geschlossenen Frakturen möglich. Nach Reposition der Fraktur kann für einige Stunden eine Schmerzlinderung eintreten, und erst sekundär entwickelt sich das akute Kompartmentsyndrom. Klinisch wichtig ist der unverhältnismäßige Schmerz trotz adäquater Schmerztherapie. Die klinische Untersuchung zeigt ein prallelastisches Kompartiment. Weiterhin besteht eine Schmerzhaftigkeit bei passiver Mobilisation der Zehen sowie auf Druck (passiver Muskeldehnungsschmerz). Die Haut im betroffenen Skelettabschnitt ist glatt und glänzend. Eine regionale Hypästhesie ist bereits ein Zeichen hoher Dringlichkeit. Die motorische Parese stellt ein Spätzeichen des akuten Kompartmentsyndroms dar, das es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Tastbare Pulse dürfen und können bei Verdacht auf ein drohendes oder bestehendes Kompartmentsyndrom nicht als Ausschlusskriterium gewertet werden.
Klinische Zeichen bei drohendem/manifestem Kompartmentsyndrom
▬ Schmerzen, welche auf eine adäquate Analgesie nicht ansprechen (unverhältnismäßige Schmerzen)
▬ Schmerzen bei passiver Mobilisation der Zehen (passiver Muskeldehnungsschmerz)
> Wenn die Pulse bei Verdacht auf ein akutes Kompartmentsyndrom posttraumatisch nicht palpabel und mittels Dopplersonographie nicht zu lokalisieren sind, muss eine Gefäßverletzung ausgeschlossen werden. Eine begleitende Nervenverletzung ist klinisch oft einfacher zu erfassen. z
Diagnostik
Die Diagnose wird v. a. klinisch anhand der Symptome und der körperlichen Untersuchung gestellt. Von einem beginnenden Kompartmentsyndrom spricht man, wenn die Differenz zwischen diastolischem Blutdruck und intrakompartimentellem Druck <30 mmHg beträgt (McQueen u. Court-Brown 1996). Bei einem wachen und adäquat reagierenden Patienten mit einem klinisch voll ausgebildeten Kompartmentsyndrom erübrigt sich die Druckmessung. In diesem Fall muss unverzüglich die Faszienspaltung aller Kompartimente erzwungen werden. Das Vollbild des Kompartmentsyndroms sollte nie erreicht werden. Entscheidend wichtig sind Druckmessungen bei bewusstseinsgetrübten Patienten (Trauma, Medikamenten-, Drogenoder Alkoholeinfluss) und bei noch wirkender Regionalanästhesie. Da das klinische Bild in diesen Fällen nur bedingt verwertbar ist, muss die Diagnose mittels Druckmessung bestätigt werden. Im Zweifelsfall ist eine Faszienspaltung zu empfehlen. > Generell sollten Patienten mit absoluten Kompartmentdrücken von >30 mmHg engmaschig kontrolliert werden. Eine steigende Tendenz bzw. eine Differenz zwischen diastolischem Blutdruck und intrakompartimentellem Druck von <30 mmHg stellt eine Indikation zur Operation dar. z
Therapie
Bei beginnendem Kompartmentsyndrom sind (bei weiterem Druckanstieg) alle Maßnahmen zu ergreifen, welche die Weiterentwicklung bis zum manifesten Kompartmentsyndrom stoppen. Zirkuläre Verbände (Gips, Watte, Krepppapier etc.) sind zu entfernen, und die Position der Extremität soll neutral sein, da eine Elevation eine Ischämie verstärken kann. Bei manifestem Kompartmentsyndrom muss jedes Kompartiment des betroffenen Skelettabschnitts durch eine adäquate Faszienspaltung separat entlastet werden. Dies betrifft die Haut, das Fettgewebe und die Faszie selbst. Teilweise lassen sich über einen Hautschnitt mehrere Kompartimente spalten (⊡ Tab. 19.13). Die Faszienspaltung über einen kleinen Hautschnitt ist ungenügend.
▬ Prallelastische Schwellung ▼
> Die Faszienspaltung ist bei begründetem Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom nie falsch.
19
374
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
⊡ Tab. 19.13 Osteofasziale Kompartimente Lokalisation
Anzahl Kompartimente
Oberarm (⊡ Abb. 19.17)
2
Unterarm
3
Oberschenkel (⊡ Abb. 19.18)
3
Inhalt und Aufbau der Kompartimente
Ventral
M. biceps brachii M. brachialis M. coracobrachialis
Dorsal
M. triceps brachii Oberflächliche Flexoren tiefe Flexoren Extensoren
Ventral Dorsal
M. quadriceps Flexoren (Hamstrings) Adduktoren
Medial Unterschenkel (⊡ Abb. 19.19)
4
Peronealmuskulatur: Mm. peronei anteriore Loge: M. tibialis anterior, M. extensor digitorum longus, M. extensor hallucis longus, M. peroneus tertius oberflächliche Beuger: M. gastrocnemius tiefe Beuger: M. tibialis posterior, M. flexor hallucis longus, M. flexor digitorum longus
Fuß
9
Rückfuß (ein Kompartiment) Vorfuß (5 Kompartimente) Längsgewölbe (3 Kompartimente)
⊡ Abb. 19.17 Oberarmkompartiment (Aus: Tillmann 2005)
19
⊡ Abb. 19.18 Oberschenkelkompartiment (Aus: Tillmann 2005)
375 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
⊡ Abb. 19.19 Unterschenkelkompartiment (Aus: Tillmann 2005)
Tipp
I
I
Am Oberschenkel wird je nach dem zu entlastenden Kompartiment ein Längsschnitt angelegt (Druckmessung): anterolateral für den M. quadriceps, medial für die Adduktorenloge, dorsal für die Flexoren. Am Unterschenkel werden 2 Längsschnitte über die ganze Länge angelegt (Doppelinzisionstechnik): 2 cm ventral der Fibula für die Extensoren- und die Peronealloge (N. peroneus superficialis darstellen und schonen), 2 cm dorsal der medialen Tibiakante für die tiefe und die oberflächliche Beugerloge. Am Fuß werden 3 Längsschnitte angelegt: medial für die 4 plantaren Logen sowie je ein Zugang über dem 2. und dem 4. Mittelfußknochen für die 5 Vorfußlogen.
⊡ Abb. 19.20 Temporäre Weichteildeckung nach Kompartmentspaltung mittels Korsettnaht. (Mit frdl. Genehmigung von R. Babst, Kantonsspital Luzern)
z z Nachbehandlung
Die klaffende spindelförmige Läsion wird mit COLDEX (temporärer Hautersatz aus offenporigem Polyvinylalkoholhydroschaum) oder mit Bio Brane gedeckt und an den Hauträndern mittels Naht, Klammern oder Korsettnaht (Vessel-Loop und Klammern) fixiert (⊡ Abb. 19.20). Letztere Technik ermöglicht eine sukzessive Annäherung der Hautränder auf der Station bis zum vollständigen Verschluss. z
Komplikationen
Das nicht zeitgerecht (4–12 h) und nicht adäquat behandelte Kompartmentsyndrom führt als Folge der Gewebeischämie und der Nervenkompression unweigerlich zu Komplikationen (Muskel- und Weichteilnekrosen, passagäre oder definitive Nervenausfälle). Massive Muskelnekrosen (Rhabdomyolyse) können insbesondere bei polytraumatisierten Patienten mit schockbedingter Minderperfusion zur Crush-Niere führen. Dabei wird durch Myoglobinfreisetzung (nachweisbare Myoglobinurie) und Hypovolämie das renale Tubulussystem lädiert. Ein verkanntes Kompartmentsyndrom kann im Extremfall bis zum Extremitätenverlust führen. Bei der Fasziotomie selbst, welche zur Entlastung der betroffenen Kompartimente notfallmäßig
erfolgen muss, ist darauf zu achten, keine vermeidbaren Komplikationen auszulösen (Wundinfekt, iatrogene Nervenschädigung). Eine Spätfolge des akuten Kompartmentsyndroms am Unterschenkel – vergleichbar mit der Volkmann-Kontraktur am Unterarm (Flexionsstellung der Finger und des Handgelenks) – ist die ischämische Kontraktur v. a. der tiefen Flexoren und des M. tibialis anterior. Es entwickelt sich ein Spitz-Hohl-Fuß (Pes equinovarus) mit Krallenzehen (»short foot syndrome«).
19.6.3
Posttraumatische Weichteilschwellungen
Hämatom Eine Fraktur kann die umliegenden Weichteilstrukturen in unterschiedlichem Ausmaß schädigen (s. oben, Klassifikationen der geschlossenen und offenen Frakturen nach Tscherne bzw. Gustilo und Anderson). Es bilden sich blutige Imbibierungen und Hämatome im Frakturbereich, die womöglich operativ zu entlasten sind. Der Zugang selbst kann erneut zur Einblutung führen.
19
376
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
> Wundspreizungen haben in der Behandlung von Hämatomen nach osteosynthetisch versorgter Fraktur keinen Platz. Bei gesichertem Hämatom sind eine Revision und eine Hämatomausräumung unter aseptischen Bedingungen indiziert.
Myositis ossificans circumscripta Chronische Entzündungen mit Kalkablagerungen in traumatisierter Muskulatur mit Einblutung können bei inadäquater Behandlung (Wärme, Massage) oder bei zu früh einsetzender oder zu intensiver Physiotherapie (Danchik et al. 1993) entstehen. Daraus können wiederum Ossifikationen resultieren (Reiterknochen an den Adduktoren). Traumatisierte Muskulatur (Muskelfaserriss, stumpfes Trauma) sollte daher zunächst nach dem PECH-Schema (Pause, Eis, Compression, Hochlagerung) mit anschließender progressiver Belastungssteigerung behandelt werden.
Knochenqualität und Implantatdesigns können eine frühe Sekundärdislokation begünstigen. Konventionelle, nicht winkelstabile Implantate neigen eher als winkelstabile zur Lockerung im Knochen oder an der Platte. Dies sei am Beispiel einer osteoporotischen distalen Femurfraktur dargestellt. Die Verwendung eines winkelstabilen Implantats kann in diesem Fall einer frühen Sekundärdislokation entgegenwirken. Insbesondere müssen hier die varisierenden Muskelkräfte kompensiert werden. Das Erzielen einer Stabilität durch Kompression der Platte an den Knochen ist beim osteoporotischen distalen Femur erschwert und eine Implantatlockerung daher bei ungenügendem Verbund leicht möglich. Eine späte Sekundärdislokation kann die Folge einer Knochennekrose, einer Pseudarthrose oder eines Materialversagens sein.
Ursachen für Sekundärdislokationen z
Diagnostik
Kalkablagerungen sind frühestens 3 Wochen posttraumatisch im konventionellen Röntgen erkennbar und nach ca. 3–6 Monaten voll ausgebildet. Eine partielle Resorption ist möglich. Eine Myositis ossificans kann nach einem lokalen muskuloskelettalen Trauma, aber auch nach einem operativen Eingriff auftreten. Exponiert sind besonders Patienten mit SchädelHirn-Trauma. z
Therapie
Schonung, zurückhaltende physiotherapeutische Mobilisation und nichtsteroidale Antirheumatika sind primär indiziert. Eine operative Entfernung sollte frühestens 6–24 Monate nach Entwicklung der Myositis ossificans in Betracht gezogen werden. Wenn noch Einschränkungen und Schmerzen als Ausdruck einer noch aktiven Entzündung bestehen, sollte keine Exzision erfolgen. Wie bei heterotopen Ossifikationen haben nichtsteroidale Antirheumatika (Indometacin, Diclofenac) zusätzlich zur analgetischen und entzündungshemmenden Wirkung auch einen gewissen prophylaktischen Effekt bezüglich Ossifikationen. Zahlen bezüglich der prophylaktischen Wirkung durch diese Medikamente oder die Bestrahlung von heterotopen Ossifikationen sind v. a. im Rahmen von Hüftprothesenoperationen bekannt. Die Resultate werden hier jedoch kontrovers angegeben. Eine gute prophylaktische Wirkung wird durch eine mindestens 2-wöchige Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika erzielt. Während sich die fraktionierte frühpostoperative Bestrahlung im Vergleich zu den Medikamenten als nicht überlegen erwies (Handel et al. 2004), ließ die »Single-dose«-Bestrahlung (Kolbl et al. 1997) einen besseren Effekt erkennen.
19 19.6.4
Sekundärdislokation
Trotz korrekter Reposition und Retention mittels adäquatem Implantat sind Sekundärdislokationen jederzeit möglich. Man unterscheidet eine frühe von einer späten Sekundärdislokation.
▬ Früh: – osteoporotischer Knochen – Trümmerzone – fehlende Abstützung auf der Gegenkortikalis – Materialversagen – technischer Fehler bei der Osteosynthese ▬ spät: – Materialversagen – Knochennekrose – Pseudarthrose
19.6.5
Materialversagen
Jedes Osteosynthesematerial untersteht in situ einer zyklischen Belastung. Knochen widersteht besser Kompressionskräften und Metall besser Zugkräften. So sollten Platten möglichst auf der Zugseite, d. h. auf der den muskulären Hauptzugkräften (Muskelmasse, Schwerkraft) gegenüberliegenden Seite angebracht werden. Bei intakter Abstützung an der Gegenkortikalis (transkortikale Seite) entsteht unter axialer Belastung ein kräftiger Kontakt zwischen den Hauptfragmenten. Bei fehlender Abstützung (Trümmerzone, verzögerte Knochenheilung, Nekrose) wirken zyklische Biegekräfte auf die »schwingende« Platte ein, und deren Belastbarkeit wird überschritten. Ein Plattenbruch ist die Folge. Befindet sich zudem eine geschwächte Zone des Implantats im Hauptbelastungsbereich, erfolgt der Bruch typischerweise an jener Stelle, bei der LCP (»locking compression plate«) i. d. R. durch das Loch der dynamischen Kompressionsplatte (Frigg 2001; ⊡ Abb. 19.21).
19.6.6
Gefäß- und Nervenverletzungen
Die Gefäß- und Nervenverletzungen sind in Kap. 21 dargestellt.
19
377 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
a
b
c
⊡ Abb. 19.22a–c Vitale Pseudarthrosen. a Überschießend reagierende, hypertrophe, b kallusarme, c nicht reagierende, kalluslose
a
b
⊡ Abb. 19.21a,b Materialversagen. a Plattenausriss, b Plattenbruch
19.6.7
Morbus Sudeck
Die Therapie des M. Sudeck ist in Kapitel Kap. 14 dargestellt.
19.6.8 z
Pseudarthrose
Definition
Eine Fraktur heilt spontan oder nach Osteosynthese mit vollständiger Wiederherstellung der Integrität und der Funktion der Skeletteinheit innerhalb von 3–4 Monaten aus. Erfolgt dies erst innerhalb von 4–6 Monaten, spricht man von einer verzögerten Knochenheilung (»delayed union«). Fehlen klinische und radiologische Zeichen einer Frakturheilung über eine Zeitdauer von 6–8 Monaten, bezeichnet man dies als Pseudarthrose (»non union«). Eine Zunahme des Kallus bei einer hypertrophen Pseudarthrose bedeutet noch keine Frakturheilung. Dies stellt vielmehr den Versuch des Knochens dar, die exzessive Beweglichkeit im Frakturspalt auszugleichen. Einige Autoren verwenden eine von dieser gebräuchlichen Einteilung abweichende Definition (Bhandari et al. 2002). z
Klassifikation
Nach Weber und Cech (1976) unterscheidet man posttraumatisch zwischen vitalen und avitalen Pseudarthrosen (⊡ Abb. 19.22; ⊡ Abb. 19.23). Erstere heilen unter Stabilisierung ab. Bei den avitalen Pseudarthrosen müssen zuerst ungünstige biologische Bedingungen korrigiert werden.
a
b
c
d
⊡ Abb. 19.23a–d Avitale Pseudarthrosen. a, b Devitalisierter Knochenbereich, der durch lokale Deperiostierung oder Ausschluss aus dem durchbluteten Frakturverbund »toten« Knochen erzeugt, c, d Defekt – die biologischen Voraussetzungen können derart geschädigt sein, dass eine knöcherne Überbrückung der Frakturenden spontan nicht mehr möglich ist; lokale Durchblutung und vitale Knochensubstanz genügen den Anforderungen nicht
Einteilung der Pseudarthrosen nach Weber und Cech (1976)
▬ Kongenitale Pseudarthrose: Tibia, Klavikula ▬ Erworbene Pseudarthrose: – aseptisch/septisch – reaktiv (vital): – hypertroph – kallusarm – oligotroph – areaktiv (avital): atroph
378
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
⊡ Tab. 19.14 Pseudarthrose: prädisponierende Faktoren
z
Faktoren
Beispiele
Instabilität infolge inadäquater Fixation
Inadäquate Osteosynthese (zu rigide, zu flexibel) ungeeignete Gipsruhigstellung
Frakturzone
Weichteilinterposition iatrogene Distraktion Malposition infolge inadäquater Reposition Substanzverlust
Durchblutungsstörung
Verletzung der zuführenden Gefäße Ausgedehnte Denudierung des Knochens: Periost, Muskel, Weichteile iatrogene Durchblutungsstörung (operations-/implantatbedingt) sequestrierte Fragmente Trümmerzone
Infektion
Sequester infektbedingte Hemmung der Zelldifferenzierung im Kallusbereich durch Toxine Osteolyse Implantatlockerung
Allgemeine Faktoren
Alter, Ernährung, Stoffwechselerkrankungen Neuropathie arterielle Verschlusskrankheit Alkoholismus, Nikotinabusus Verbrennungen Bestrahlung Medikamente: Steroide, nichtsteroidale Antirheumatika, Antikoagulanzien
Ätiologie und Pathogenese
Posttraumatische Pseudarthrosen entstehen als Folge einer gestörten Frakturheilung (⊡ Tab. 19.14). Zu den ätiologischen Faktoren gehören: ▬ Lokalisation der Fraktur (Diaphyse/Metaphyse) ▬ Frakturtyp (hohe Energie, offene Fraktur) ▬ Weichteilschäden ▬ patientenspezifische Faktoren (Allgemeinzustand) Mechanische Faktoren
19
Die Stabilität einer Osteosynthese hängt vom Frakturtyp (hohe Energie, offene Frakturen) und vom verwendeten Implantat ab. Die Stabilität des Platten-Knochen-Konstrukts variiert je nach Plattenlänge und Schraubenposition (Stoffel, Dieter et al. 2003). Bei Marknagelosteosynthesen ist die Biegestabilität v. a. vom Nageldurchmesser in der 4. Potenz abhängig. Solide Implantate sind steifer als kanülierte (Allan u. Tencer 1994). Die Torsionsstabilität ist vom Nageldesign abhängig – solide, kanüliert oder geschlitzt. Bei Fixateur-externe-Montagen hängt die Stabilität von der Anordnung (unilaterale bzw. bilaterale Konfiguration), von Pin-Durchmesser und -Anzahl sowie von der Anzahl und der Position der Querstreben ab. Optimale Voraussetzungen herrschen, wenn Mikrobewegungen bei einer Frakturspaltbreite von 0,7–1,5 mm ablaufen (Kenwright u. Goodship 1989). Sowohl zu rigide als auch zu bewegliche Osteosynthesen können eine Pseudarthrose begünstigen. Biologische Faktoren
Dazu gehören: ▬ frakturspaltnahe kleine Knochennekrosezonen ▬ Weichteilschäden ▬ ungünstige Frakturform
▬ hoher Dislokationsgrad ▬ gestörte lokale Blutzirkulation (etwa bei Stück- oder Etagenfrakturen) ▬ Sequesterbildung infolge Abtrennung von der medullären Gefäßversorgung Gefäßverletzungen und ein Kompartmentsyndrom führen ebenfalls zu schweren Durchblutungsstörungen. Iatrogene Faktoren wie Operationstechnik (Weichteilbehandlung, Deperiostierung, Hitzeentwicklung beim Aufbohren vor Marknagelung), Blutsperre und die Implantatwahl (Evolution von der »dynamic compression plate« über die »low contact dynamic compression plate« bis zu winkelstabilen Implantaten, Marknageldesign) können sich negativ auf die Durchblutung auswirken. Eine bereits traumatisch bedingte Knochennekrose kann durch derartige Faktoren noch verstärkt werden und zur Pseudarthrose führen. So ist z. B. eine distale Tibiafraktur unter einem dünnen Weichteilmantel mit spärlicher Durchblutung pseudarthrosegefährdet (Goldhahn et al. 2000). Im Vergleich dazu ist das Femur bei dickerer Weichteilhülle und unkritischerer Durchblutung weniger gefährdet (Orler et al. 2002). Infektionen
Ein Infekt als solcher bedeutet nicht zwingend die Entwicklung einer Pseudarthrose. Zytolytische Produkte sowie Resorptionsvorgänge zur Beseitigung von infiziertem und nekrotischem Gewebe schädigen jedoch frisch gebildeten Knochen und verhindern die Differenzierung von Granulations- und Bindegewebe zu Faserknochen. Sie stören also die Frakturheilung. Eine infizierte Pseudarthrose, evtl. mit Sequesterbildung und Osteomyelitis, kann sich ausbilden.
379 19.6 · Komplikationen der Frakturbehandlung
Andere Faktoren
Weitere pseudarthrosefördernde Faktoren sind: ▬ hohes Alter ▬ Osteoporose ▬ katabole Stoffwechsellage ▬ Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus ▬ Neuropahtie ▬ arterielle Verschlusskrankheit ▬ Alkoholismus ▬ Nikotinabusus ▬ Mangelernährung ▬ Brandverletzungen ▬ vorangegangene Röntgenbestrahlung ▬ Medikamente wie Steroide, nichtsteroidale Antirheumatika (Burd u. Anglen 2002; Giannoudis et al. 2000; Simon et al. 2002), orale Antikoagulanzien und Zytostatika Gewisse Knochen oder Knochenregionen wie Talushals, Femurhals, Humeruskopf und das Os scaphoideum haben eine spezielle und empfindliche lokale Blutversorgung mit erhöhtem Risiko einer gestörten Frakturheilung oder Ausbildung einer Knochennekrose. Sonderformen Die kongenitale Tibiapseudarthrose ist die Folge einer gestör-
ten Knochenbildung im Bereich der distalen Tibia. Die Diagnose kann bereits bei der Geburt gestellt werden (Verkürzung und vermehrte Antekurvation der Tibia). Im distalen Drittel ist der Knochen durch hamartomartiges Fremdgewebe ersetzt worden. Bei Gehbeginn des Kindes lässt sich die zunehmende Fehlstellung der Tibia erkennen. Es kann zur Pseudarthrose kommen. Die Therapie ist erst nach Wachstumsabschluss operativ möglich, da Osteosynthesen im Kindesalter wenig erfolgversprechend sind. Eine Neurofibromatose und eine fibröse Dysplasie können assoziiert sein ( Kap. 10). Die Klavikulapseudarthrose fällt erst im Alter von 3–4 Jahren durch eine lokale Schwellung und eine Asymmetrie auf. Hier besteht keine Assoziation mit der Neurofibromatose. Die Ätiologie ist unbekannt (zur Therapie Kap. 10). z
Diagnostik
Der normale Heilungsverlauf einer Fraktur zeigt klinisch wie radiologisch zunehmende Stabilitätszeichen. Nach einer anfänglich leichten Verbreiterung des Frakturspalts verschwindet dieser unter Kallusbildung. Bei abweichendem Ablauf im konventionellen Röntgenbild und klinischem Verdacht einer Pseudarthrose sind weitere Abklärungen erforderlich: ▬ Bei der CT lässt sich der Durchbau der Fraktur genauer beurteilen, und man kann Sequester sowie nekrotische Knochenareale erkennen. Anatomisch komplexe Skelettabschnitte sind mittels CT ebenfalls besser beurteilbar als im konventionellen Röntgenbild. ▬ In besonderen Fällen kann mittels 3-Phasen-Skelettszintigraphie mit Technetium-99m-Phosphonat geklärt werden, ob eine vitale reaktive oder aber eine areaktive Pseudarthrose vorliegt. Sequester werden vom Technetium-Uptake ausgespart. Reaktive Pseudarthrosen wie auch
Infektpseudarthrosen (Differenzialdiagnose) zeigen eine vermehrte Aktivität. Im Rahmen der Labordiagnostik muss nach Entzündungszeichen gesucht werden. ▬ Mittels MRT lässt sich im Fall einer Infektpseudarthrose eine Mitbeteiligung der Markhöhle ausschließen. z
Therapie
> Die Behandlung muss die Beseitigung des oder der zur Pseudarthrose führenden Faktoren (Biologie, Mechanik, Infektion) anstreben, um eine Ausheilung zu erreichen. Dazu ist nach einer wohlgeplanten Diagnostik mit chronologisch korrekt und gezielt eingesetzten bildgebenden Verfahren vorzugehen. Hypertrophe Pseudarthrosen heilen meist unter einer stabile-
ren Osteosynthese ab. Im fibrokartilaginären Gewebe des Frakturspalts kann die Ossifikation einsetzen. Selten ist zusätzlich eine Spongiosaplastik erforderlich. Atrophe Pseudarthrosen bedürfen zusätzlich zur Re-Osteosynthese einer Spongiosaplastik, im Idealfall autolog. Defekte von >2 cm sollten in Verkürzung stabilisiert werden; eine Verlängerungsosteotomie im Sinne einer Kallusdistraktion ist erst nach sicherer Abheilung der Pseudarthrose möglich. Defektpseudarthrosen können aber auch mittels Segmenttransfer (Kallusdistraktion) behandelt werden. Über einen Fixateur externe wird ein vitales Knochensegment an die gegenüberliegende »Andockstelle« transportiert. Pseudarthrosen im Schaftbereich werden mittels aufgebohrter, verriegelter Marknagelosteosynthese mit größerem Nageldurchmesser behandelt, insbesondere dann, wenn zuvor bereits eine Marknagelosteosynthese durchgeführt worden ist (Grund: Schonung der periostalen Durchblutung; Court-Brown et al. 1995; Templeman et al. 1995). Für metaphysäre Pseudarthrosen eignen sich Plattenosteosynthesen. Bei Infektpseudarthrosen hat die Sanierung des Infekts mit anschließender Re-Osteosynthese und Rekonstruktion des knöchernen Defekts erste Priorität. Intraoperativ sind mehrere Gewebeproben zu entnehmen. Nekrotisches Material und Sequester müssen kompromisslos entfernt werden. Bei zu erwartenden größeren Weichteildefekten ist bereits präoperativ die Defektdeckung zu beurteilen. Das meist lockere Osteosynthesematerial, welches eine Infektion unterhalten kann, muss entfernt werden. Nach Entfernung eines septischen Marknagels sollte der Markraum im Sinne eines Débridements aufgebohrt und ausgiebig mittels Spülung gereinigt und von Nekrosen befreit werden. Lavasept ist so lange geeignet, wie keine Gelenksbeteiligung mit Knorpelexposition besteht. Eine lokale Antibiotikabehandlung mit temporärem Zement-Spacer, Garamycin-Zementketten und Antibiotikaschwämmen ist ebenfalls zu erwägen. Die Stabilität kann ggf. temporär mittels Fixateur externe gewährleistet werden. Dabei sollte man die Pins in ausreichender Distanz zur infizierten Stelle platzieren, sodass sie eine plastische Deckung nicht behindern. Eine »Second-look«Operation ist je nach lokalem Befund und Infektparametern (CRP-Konzentration, Leukozytenzahl) häufig erforderlich. Plastisch-rekonstruktive Eingriffe im Rahmen von posttraumatischen und Infektpseudarthrosen können lokale oder
19
380
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
freie Lappenplastiken und autologe gestielte Knochentransplantationen (Fibulatransfer, Verwendung der Crista iliaca) bedeuten. Nicht infizierte ausgedehnte Knochendefekte bzw. Pseudarthrosen mit einer Ausdehnung von >10 cm können direkt mittels gestieltem, autologem Knochentransplantat überbrückend osteosynthetisiert werden (de Boer et al. 1990). Ein infizierter Knochenabschnitt ist zunächst zu resezieren. Hier sollte die Knochentransplantation 2-zeitig nach Eradikation des Keimes erfolgen. Bei deutlichem Kalibersprung zwischen der Fibula und des zu überbrückenden Segments der Tibia wurde ein doppelter Transfer von der ipsilateralen Seite empfohlen (Banic u. Hertel 1993). Zusätzlich bewährt sich autologe Beckenkammspongiosa. Bei schlechten Weichteilverhältnissen kann ein gestielter Weichteiltransfer (myokutaner Lappen) erforderlich sein (Musharafieh et al. 1999). Alternativ zur Knochentransplantation kann auch ein Segmenttransport mittels Fixateur externe (Ilizarov 1990) oder kombiniert mittels Fixateur bei liegendem Marknagel erfolgen (Kocaoglu et al. 2006). Die von Kocaoglu vorgeschlagene Methode zur Behandlung der Osteomyelitis hat sich bereits in der Behandlung von Beinlängendifferenzen etabliert und bietet den Vorteil einer frühen Fixateur-externe-Entfernung im Anschluss an die Distraktionsphase. Die Lastübernahme für die Konsolidationsphase übernimmt der Marknagel (Paley et al. 1997). Es sei hier erwähnt, dass in der Chirurgie der Pseudarthrosen auch rekombinant hergestelltes humanes »bone morphogenic protein 7« (BMP-7) als Knochensubstitutionsprodukt zum Einsatz kommen kann. Während der genaue Wirkmechanismus noch nicht feststeht, ist eine osteoinduktive Wirkung gesichert (Govender et al. 2002). Erste klinische Resultate liegen vor. So konnten 22 von insgesamt 23 Pseudarthrosen langer Röhrenknochen durch Einsatz von BMP-7 (teils in Kombination mit einem Verfahrenswechsel, teils mit autologer Spongiosa) zur Abheilung gebracht werden (Zimmermann et al. 2006). Als zusätzliche Behandlung, auch bei eingeschränkter Operabilität, kam vereinzelt die Stoßwellenlithotripsie zum Einsatz (Ekkernkamp et al. 1992; Rompe et al. 1997). Klinische Bedeutung und Kostenübernahme sind noch unklar.
19.6.9
19
Arthrose
Die posttraumatische und die degenerative Arthrose stellen sich klinisch ähnlich dar, und ihre Behandlung unterscheidet sich im Endstadium nicht. Die posttraumatische Arthrose ist eine der häufigsten Langzeitfolgen nach intraartikulärer Fraktur an belasteten Gelenken. Sie macht in den USA 10% aller Arthrosen aus (Brown et al. 2006; Marsh 2004). Die Ätiologie der posttraumatischen Arthrose ist noch weitgehend unklar. Anders als die degenerative Arthrose betrifft sie auch junge Patienten nach intraartikulärer Fraktur. Die beste Prophylaxe ist die anatomische Rekonstruktion der Gelenkfläche (Hahn 2004). Traumatische Knorpelschädigung, Gelenksinstabilität und Gelenkinkongruenz begünstigen die Entstehung einer posttraumatischen Arthrose. Die intraartikuläre Fraktur führt zu einer Zerreißung der Knorpelschicht, teils mit Delamination vom darunter liegenden Knochen. Im
Knorpel können an mehreren Stellen Fissuren nachweisbar sein, welche keine Heilungstendenz zeigen. Diese Veränderungen finden sich in der frühen Entwicklung der Arthrose wieder. Deren Effekt auf die volle Ausbildung einer posttraumatischen Arthrose ist jedoch weitgehend unbekannt. Der subchondrale Knochen zeigt eine mehr oder weniger ausgedehnte Trümmerzone, zusätzlich besteht häufig eine Schädigung der Kapsel-Band-Strukturen. Diese direkt traumatisch bedingten mechanischen Schäden lösen die Entwicklung einer posttraumatischen Arthrose aus. Biomechanische Veränderungen können ferner (posttraumatisch, postoperativ) zu lokalen Lastumverteilungen im Gelenk führen, welche u. U. eine progressive Degeneration am Knorpel sowie Veränderungen am subchondralen Knochen bedingen. Eine sich etablierende chronische Entzündung spielt im Rahmen der weiteren Progression der posttraumatische Arthrose wahrscheinlich ebenfalls eine Rolle. Verschiedene Gelenke sind je nach Lokalisation posttraumatisch unterschiedlich arthrosegefährdet. Die genaue Inzidenz der posttraumatischen Arthrose ist schwierig zu bestimmen, da beim Unfall Arthrosezeichen im Röntgenbild bei völliger Beschwerdefreiheit vorbestehen können. Eine posttraumatische Arthrose kann sich in einem völlig gesunden Gelenk entwickeln, sie kann sich aber auch auf eine bereits bestehende klinische und/oder radiologische Arthrose aufpfropfen.
19.7
Prinzipien der Frakturnachbehandlung
Allein gefährdete Weichteile können eine temporäre Ruhigstellung rechtfertigen. Eine frühe postoperative funktionelle Mobilisation unter adäquater Analgesie ist zur raschen Wiedererlangung der normalen Funktion primordial. Letztere wird medikamentös und in der frühen postoperativen Phase mittels Schienung bzw. Ruhigstellung im Gilchrist-Verband erzielt. Wunddrainagen werden entsprechend der Fördermenge i. d. R. nach 1–2 Tagen entfernt und bei intraartikulärer Lage max. 24 h belassen. Der erste Verbandswechsel erfolgt nach 4 Tagen. Als abschwellende Maßnahmen kommen Elevation über Herzniveau, intermittierende Kühlung und mechanische Impulskompressionssysteme (A-V-Pumpe) zur Anwendung. Dier erste Röntgenkontrolle erfolgt unmittelbar postoperativ. Im Rahmen der funktionellen Nachbehandlung ist die Mobilisation benachbarter Gelenke im betroffenen Skelettabschnitt entscheidend. Die physiotherapeutische Mobilisation erfolgt sowohl manuell als auch mittels Motorschiene, sofern dies möglich ist. Anfänglich sollte die Physiotherapie nach Entfernung der Drainage »aus der Schiene heraus« stattfinden. Bei reizlosen Wunden werden die Patienten entlassen, sofern die selbstständige Mobilität auf ebenem Gelände und auf der Treppe möglich ist. Vor der Entlassung erfolgt i. d. R. eine weitere Röntgenkontrolle. Die Fadenentfernung ist nach 14 Tagen in der hausärztlichen Sprechstunde möglich. Röntgenkontrollen finden bei klinisch ungestörtem Verlauf nach 6 und 12 Wochen statt, im Normalfall bis eine stockfreie Vollbelastung erreicht ist. Die Metallentfernung erfolgt entsprechend dem Alter des Patienten sowie je nach betroffenem Skelettabschnitt nach
381 Literatur
⊡ Tab. 19.15 Schema zum postoperativen Management und zur Nachbehandlung Lokalisation Obere Extremität
Oberarm
Radius
Ulna
Untere Extremität
Femur
Rehabilitation
Metallentfernung
Proximal
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Nach 1 Jahr
Schaft
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 18 Monaten postoperativ
Distal
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 18 Monaten postoperativ
Schaft
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 1 Jahr postoperativ
Distal
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 1 Jahr postoperativ
Proximal
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 1 Jahr postoperativ
Schaft
Frühfunktionelle aktive Mobilisation ohne Belastung
Ab 1 Jahr postoperativ
Proximal
Teilbelastung für 8–10 Wochen
Ab 2 Jahre postoperativ, falls erforderlich
Schaft
Teilbelastung für 6–8 Wochen
Ab 2 Jahren postoperativ
Distal
Teilbelastung für 8–10 Wochen
Ungefähr 2 Jahre postoperativ
Axiale Vollbelastung, keine forcierte Flexion für 8–10 Wochen
Ab 12 Monaten postoperativ
Proximal
Teilbelastung für 8–10 Wochen
Ab 12 Monaten postoperativ
Schaft
Teilbelastung für 6–8 Wochen
Ab 18 Monaten postoperativ
Distal
Teilbelastung für 8–10 Wochen
Ab 12 Monate postoperativ
Teilbelastung für 6 Wochen, bei simplen B-Frakturen Vollbelastung
Ab 6 Monaten postoperativ
Patella
Tibia
Malleoli
1–2 Jahren (⊡ Tab. 19.15). Die modernen Osteosynthesen, welche eine gewisse Kallusbildung ermöglichen, erlauben eine etwas individuellere zeitliche Planung bezüglich der Metallentfernung. Die Beurteilung erfolgt klinisch und v. a. anhand der Röntgenkontrollen. Fühlt sich der Patient nicht beeinträchtigt, kann man das Metall belassen. Bei dorsaler oder lateraler Plattenlage am Außenknöchel können die Peronealsehnen und die Haut gereizt werden (Schuhwerk). In diesem Fall empfiehlt sich eine Metallentfernung. Gleiches gilt bei der Zuggurtung der Patella oder des Olekranons. Die Patienten müssen präoperativ bezüglich des Infektionsund Operationsrisiko aufgeklärt werden. Zudem ist postoperativ für 3 Monate auf Kontaktsportarten und auf Sportarten mit Sturzgefahr zu verzichten.
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19
382
19
Kapitel 19 · Frakturen, Gelenk- und Weichteilverletzungen
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20
Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität S. Weindel, J. Grünert
20.1
Einleitung
20.2
Pathophysiologie – 384
20.3
Klassifizierung
20.4
Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens – 385
20.4.1 20.4.2 20.4.3 20.4.4 20.4.5 20.4.6 20.4.7 20.4.8
Primärer Wundverschluss – 385 Offene Wundbehandlung – 386 Vakuumversiegelung – 386 Sekundärer Hautverschluss und Hautdehnung – 386 Hauttransplantate – 386 Lappenplastiken – 387 Zeitpunkt der definitiven Lappenplastik – 392 Lappenpflege und Lappen-Monitoring – 392
20.5
Evidenz und Kontroversen – 392 Literatur
– 384
– 384
– 393
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
384
20.1
Kapitel 20 · Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität
Einleitung
Hautweichteildefekte der unteren Extremität stellen unverändert eine plastisch-chirurgische Herausforderung dar. In der Vergangenheit galt der Perfektionierung von Frakturstabilisierungstechniken bei komplexen Extremitätenverletzungen das Hauptaugenmerk. Mittlerweile hat die Rekonstruktion des Haut-Weichteil-Mantels die ihr gebührende Aufmerksamkeit eingefordert. > Nur eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit mit allen involvierten Fachgebieten (z. B. Intensivmedizin, Unfallchirurgie, Plastische Chirurgie, Orthopädie) sowie ein konsequent infektverhütendes Vorgehen ermöglichen schlussendlich günstige Vorrausetzungen für einen wie auch immer gearteten Defektverschluss.
Der limitierende Faktor für den Extremitätenerhalt ist nachrangig das Ausmaß der knöchernen Schädigung eines Extremitätenabschnitts, sondern vielmehr die Rekonstruierbarkeit der Weichteile, deren störungsfreie, gute Vaskularisation für die Frakturheilung essenziell ist und welche dazu beiträgt, posttraumatische Komplikationen wie Infektionen oder Pseudarthrosen zu verhindern. Ist der spannungsfreie Primärverschluss bei einer ausgedehnten Weichteilwunde oder einem Defekt nicht möglich, hat die Weichteildeckung passager durch Hautersatzmaterialien oder definitiv durch lappenplastische Maßnahmen zu erfolgen. Durch die Weiterentwicklung und Perfektionierung mikrochirurgischer Techniken können selbst ausgedehnte Weichteildefektprobleme beherrscht werden. Unabdingbar sind jedoch eine entsprechende Infrastruktur sowie ein erfahrenes Operationsteam.
20.2
20
Pathophysiologie
Jede kinetische Energieeinwirkung, die an einem Skelettabschnitt zu einer knöchernen Kontinuitätsunterbrechung führt, wird zunächst vom umgebenden Weichteilmantel abgefangen und verursacht einen lokalen, qualitativ unterschiedlich ausgeprägten Haut-Weichteil-Schaden bzw. Defekt. Gewebeschädigung und Blutung führen als Reaktion darauf zur Aktivierung des extrinsischen und intrinsischen Gerinnungssystems sowie zur Freisetzung einer Vielzahl von Mediatoren, deren Funktionen zum einen in der Blutstillung und zum anderen in der Infektabwehr bestehen. Glukokortikoide, Katecholamine und aus Thrombozyten freigesetzte Amine wirken vasokonstriktorisch und verschließen einerseits zusammen mit aggregierten Plättchen traumatisierte Gefäße, führen aber andererseits im geschädigten Gewebe belastend zu lokaler Hypoxie und zu Azidose. Die parallel einhergehende Invasion von Makrophagen in das Wundgebiet dient der Hemmung und Abtötung eingedrungener Bakterien sowie der Beseitigung von Zelltrümmern. Da eine suffiziente Bakterienelimination bei erhöhter Makrophagentätigkeit nur unter einer physiologischen Sau-
erstoffkonzentration zu erwarten ist, verstärkt sich zwangsläufig die lokale Hypoxie, was nach Ausschüttung weiterer vielfältiger Entzündungsmediatoren rasch die kapillare Permeabilität stört, ein interstitielles Ödem induziert und über eine Gewebebinnendrucksteigerung Gefäße und Nerven komprimiert. Dieser Pathomechanismus begünstigt bei verletzungsbedingter exogener Kontamination das Infektrisiko im traumatisierten Gewebe, was schlussendlich zu einem sekundären Gewebeschaden führt. Zudem hat die Phagozytoseaufnahmekapazität der Makrophagen – vornehmlich bei Mehrfachverletzungen – zeitlich wie auch quantitativ als begrenzt zu gelten, was bei einem Zuviel an nekrotischem Gewebe deren antimikrobielle Abwehrfähigkeit deutlich vermindert. Als rationaler Therapieansatz zur Durchbrechung dieses Circulus vitiosus kann sich daraus nur die Forderung ableiten, zur Infektverhütung für eine Verbesserung, d. h. Optimierung des biologischen Umfelds zu sorgen. Dies bedeutet imperativ ein radikales Débridement unter strikter Einhaltung zeitlicher Limits. So stellen Frakturen mit Weichteilschaden chirurgische Notfälle dar. > Circulus vitiosus: primäres Gewebetrauma → lokale Hypoxie → Infekt → sekundäres Gewebetrauma
20.3
Klassifizierung
Im Bemühen, Therapierichtlinien aufzuzeigen und vergleichende Untersuchungen zu ermöglichen, haben zahlreiche Autoren unter Zugrundelegung des Schweregrads einer Verletzung allgemein akzeptierte Normierungen für den kombinierten Knochen-Weichteil-Schaden erarbeitet. Weit verbreitet sind die Klassifikation nach Gustilo für offene Weichteilschäden und die Klassifikation nach Tscherne für Frakturen mit geschlossenen Weichteilschäden. Die Beurteilung der Verletzungsschwere erfordert dennoch vom Operateur ein hohes Maß an Erfahrung und ist trotz zahlreicher Klassifikationssysteme schwierig geblieben, da trotz dieser unbestritten hilfreichen Bewertungsrichtlinien keine sicheren prognostischen Einschätzungen möglich sind. Neben der Aktualität des Geschehens sind zu bewerten: ▬ Ausdehnung des Weichteilschadens nach Fläche, Tiefe, Lokalisation und Kontamination ▬ Zustand der Umgebung ▬ Begleitschädigungen ▬ Skelett- und Durchblutungssituation ▬ Entstehungsursache ▬ Alter des Patienten Zusätzlich ist für alle offenen Frakturen festzuhalten, dass das Ausmaß des offenen Weichteilschadens in der Regel erst intraoperativ beim Débridement und der Versorgung erkannt werden kann. Infektverhütung und Frakturheilung bei einer Weichteilschädigung sind damit von einer frühzeitigen Kontrolle adäquat eingeschätzter Wundverhältnisse sowie von einer differenziert und konsequent betriebenen Weichteildeckung abhängig.
385 20.4 · Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens
Klassifikation von Frakturen mit geschlossenem Weichteilschaden nach Tscherne
Funktioneller zusammengesetzter Lappen
▬ G 0: keine, fehlende oder nur unbedeutende Weichteil-
Weichteilschaden nach Gustilo und Anderson
▬ I: reine Durchspießung ▬ II: Defektwunde (<2 cm), Durchspießung von innen nach
zusammengesetzter freier Lappen
Freier Lappen
Zunehmende Komplexität
verletzung – die Fraktur umfasst einfache Bruchformen, d. h. Frakturen, die durch indirekte Verletzungsmechanismen entstanden sind (z. B. pathologische Fraktur) ▬ G 1: oberflächliche Schürfung oder Kontusion durch Fragmentdruck von innen, einfache und mitteschwere Bruchformen (z. B. nicht reponierbarer Unterschenkelspiralbruch des Skifahrers) ▬ G 2: tiefe, kontaminierte Schürfung sowie lokalisierte Haut- und Muskelkontusion aufgrund eines entsprechenden direkten Traumas, ferner drohendes Kompartmentsyndrom; i. d. R. direktes Trauma mit mittelschweren bis schweren Bruchformen (z. B. Stoßstangenanprall) ▬ G 3: ausgedehnte Hautkontusion, Hautquetschung oder Zerstörung der Muskulatur, subkutanes Décollement, manifestes Kompartmentsyndrom oder Verletzung eines arteriellen Hauptgefäßes, schwere Bruchformen, Knochenzertrümmerungen
Rotationslappen
Lokaler Lappen
Hauttransplantat
Verzögerter Wundverschluss
Primärer Wundverschluss
⊡ Abb. 20.1 Rekonstruktive Leiter
fließen demnach mehrere Faktoren ein, welche individuell abzuwägen sind.
außen
▬ III: ausgedehnter Weichteildefekt – IIIA: Knochen noch von vitaler Muskulatur bedeckt – IIIB: Knochen deperiostiert, Kontaminationsgrad hoch – IIIC: offene Fraktur plus rekonstruktionspflichtige Arterienverletzung
Klassifikationen sind hilfreich, erlauben aber keine Prognoseabschätzung.
20.4
Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-WeichteilSchadens
Nach Beherrschung der Wundinfektion bzw. Herstellung eines adäquaten biologischen Umfelds muss der Defektverschluss geplant werden. Bewährt hat sich das Prinzip der rekonstruktiven Leiter (auch Eskalationsleiter), welche in aufsteigender Höhe eine zunehmende Komplexität des chirurgischen Eingriffs beschreibt (⊡ Abb. 20.1). Als strenger Algorithmus ist sie dennoch nicht zu verstehen, da auch einzelne Stufen übersprungen werden können oder Alternativen in absteigender Ordnung möglich sind. Prinzipiell gilt jedoch der Grundsatz, dass ein Haut-Weichteil-Verschluss so komplex wie nötig, aber auch so einfach wie möglich durchgeführt werden soll. Die Entwicklung neuer Techniken hat dabei die Auswahl an Möglichkeiten für ein und dieselbe Defektproblematik wesentlich bereichert. In die Planung eines Rekonstruktionskonzepts
Faktoren bei der Weichteildeckung
▬ Ursache des Haut-Weichteil-Defekts (Trauma, Tumor, arterielle Verschlusskrankheit) Lokalisation des Haut-Weichteil-Defekts Ausmaß der Gewebeschädigung (Tiefe, Oberfläche) erforderliche Zusatzmaßnahmen Gefäßstatus Zumutbarkeit des operativen Eingriffs (u. a. Lagerung) Kontaminationsgrad des Haut-Weichteil-Defekts Anspruch an Funktion, Stabilität, Sensibilität. Motorik und Ästhetik ▬ individuelle Faktoren (Grunderkrankungen, Alter, Beruf, Compliance) ▬ möglichst günstige Gestaltung der Hebedefektmorbidität
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Zunehmend wird die Therapieentscheidung jedoch auch durch ökonomische Faktoren beeinflusst.
20.4.1
Primärer Wundverschluss
Der primäre Wundverschluss ist zulässig, wenn vitale Weichteile und die Wunde unter Mitberücksichtigung einer potenziellen postoperativen Schwellung spannungsfrei verschlossen werden können. Sind diese Kriterien nicht erfüllt, ist der sekundäre Wundverschluss unabdingbar, und es kommen die vielfältigen Rekonstruktionsmöglichkeiten in Betracht, was u. U. auch die akute freie Gewebetransplantation mit einschließt.
20
386
Kapitel 20 · Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität
> Es darf kein primärer Wundverschluss unter Spannung durchgeführt werden.
20.4.2
Offene Wundbehandlung
Gelingt es nicht, die Wunde primär zu verschließen, bietet sich zwangsläufig die offene Wundbehandlung, evtl. mit temporärer Defektdeckung durch synthetisches Hautersatzmaterial, oder der passagere Einsatz einer Vakuumversiegelung an. Ziele sind die Vermeidung einer Sekundärinfektion sowie die Wundkonditionierung zur Vorbereitung für plastisch-chirurgische Sekundäreingriffe. > Auch die offene Wundbehandlung führt zum Ziel.
20.4.3
Vakuumversiegelung
Das Prinzip der Vakuumversiegelung beruht auf einem subatmosphärischen Druck, welcher auf eine Wundoberfläche einwirkt. Die Wunde oder der Haut-Weichteil-Defekt wird mit einem Polyvinylschwamm (Granufoam/KCI) bedeckt und mit einer Klebefolie (Opsite) verschlossen. Über einen Sogstempel mit Drainage wird nun in der Wunde über eine Vakuumpumpe ein kontinuierlicher oder wechselnder Unterdruck von 80–120 kPa erzeugt und gleichzeitig das Exsudat abgesaugt. Das feuchte Wundmilieu mit gleichzeitigem Unterdruck hat die Bildung eines Granulationsgewebes mit Ödemrückbildung zur Folge. Ein Vakuumversiegelungsverband wird bei einer frischen Wunde alle 3–5 Tage gewechselt und kann – bedingt durch den klinischen Zustand der Wunde – mehrere Versiegelungsintervalle durchlaufen, bis eine suffiziente Wundkonditionierung erreicht ist. Nach dem Rückgang des Ödems erfolgt der definitive Weichteilverschluss, im günstigsten Fall entweder durch eine Sekundärnaht, eine Spalthauttransplantation oder eine Lappenplastik. > Ein Wechsel des Vakuumversiegelungsverbands ist alle 3–5 Tage erforderlich.
20.4.4
20
20.4.5
Hauttransplantate
Bei gut konditioniertem Wundgrund sind kleinere und auch größere Hautdefekte am einfachsten mit einem Spalthauttransplantat zu behandeln. Hierzu wird Haut mit einem Dermatom abgenommen und nach Behandlung mit einer Inzisionswalze im Verhältnis 1 : 1,5 bis 6 : 1 gemesht, um eine größere Fläche zu bedecken. Als Entnahmeorte eignen sich der Oberschenkel, die Glutealregion, der Rücken und die behaarte Kopfhaut. Die Kopfhautentnahme hinterlässt im Gegensatz zu den anderen Arealen keine Narben und beeinträchtigt das Haarwachstum nicht. Diese »Meshgraft-Transplantate« werden dann in den Defekt eingebracht und mit einem Verband druckfixiert. Beispielsweise lassen sich auf diese Weise unregelmäßige Hautdefekte (z. B. Verbrennungen) am Unterschenkel decken (⊡ Abb. 20.2). Das Angehen eines Hauttransplantats ist immer von der Dicke (0,15–0,3 mm) und dem Wundbett, in das es eingebracht wird, abhängig. Es gilt: Je dünner das Transplantat ist, desto besser ist auch die Einheilung, umso größer ist aber auch die Gefahr von Narbenbildung und Kontraktur. Aus diesem Grund
a
Sekundärer Hautverschluss und Hautdehnung
Der zeitlich verzögerte Hautverschluss durch Vereinigung der Wundränder unter Ausnutzung der viskoelastischen Eigenschaften der Haut führt zu kosmetisch und funktionell günstigen Ergebnissen, da sich das Gewebe durch Sensibilität und vorhandenes Subkutangewebe als Isolierungs- und Puffersubstanz auszeichnet. Durch Größe und Lokalisation des Defekts erfährt diese Methode aber eine natürliche Einschränkung. Eine Variante stellt die Dermatotraktion dar. Analog dem Ilizarov-Prinzip bei der Kallusdistraktion können kleinere Hautdefekte über kontinuierlichen oder intermittierenden Zug an Haut und Unterhaut ebenfalls stabil verschlossen werden. Gut geeignet ist dieses Verfahren beispielsweise zum Hautverschluss am Unterschenkel nach Kompartmentspaltung.
b
⊡ Abb. 20.2a,b Spalthaut. a Intraoperativ, b als Spätbefund. Im Laufe der Zeit blasst der Befund noch weiter ab, die Maschenstruktur bleibt aber immer erkennbar
387 20.4 · Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens
ist der Einsatz von Transplantaten im Gesicht und am Handrücken strengen Indikationen vorbehalten. Obwohl Spalthaut sehr genügsam ist, wächst sie weder auf kortikalem Knochen noch auf Sehnen ohne Sehnengleitgewebe oder auf Gelenkknorpel an, findet jedoch auf dekortiziertem, blutendem bzw. mit Granulationsgewebe überwachsenem Knochen dauernden Halt. Die unter solchen Umständen erreichte Hautdeckung ist allerdings extrem vulnerabel und kann nur als temporäre Maßnahme gewertet werden. Derartige instabile Areale/lappenpflichtigen Defekte sollten zu einem späteren Zeitpunkt plastisch rekonstruiert werden.
20.4.6
Lappenplastiken
Die Chirurgie des ausgedehnten Haut-Weichteil-Defekts ist eine Domäne der Lappenplastik. Lappenplastik bedeutet die Verlagerung von gestielten oder freien Gewebeverbänden, entweder zum Verschluss von Defektwunden oder auch als Gewebeersatz zur Wiederherstellung von Form und Funktion. Sie können eingesetzt werden, um am gewünschten Ort eine bessere Durchblutungssituation zu schaffen (Osteitis), und eignen sich außerdem zum Erhalt physiologischer Gleiträume, z. B. über freiliegenden Sehnen, aber auch – bei Knocheneinschluss – zur Knochendefektüberbrückung. Das bedeutet: ▬ freie Lappen: vollständige Loslösung des übertragenen Gewebes vom Spendegebiet mit mikrovaskulärem Anschluss im Empfängergebiet ▬ gestielte Lappen: Gewebeübertragung bei erhaltener durchblutungsgesicherter Verbindung zur Entnahmestelle – über diesen Stiel erfolgt die Ernährung entweder nur für die Phase der Einheilung oder dauerhaft; aufgrund des anatomisch bedingten Schwenkradius ist nur ein regionaler Einsatz möglich
Beispiele der gebräuchlichsten Lappenplastiken für die untere Extremität
▬ Freie Lappen: – Latissimus-dorsi-Lappen – anterolateraler Oberschenkellappen – Radialislappen – Grazilislappen – Skapular- oder Paraskapularlappen – Dorsalis-pedis-Lappen – lateraler Oberarmlappen – Serratus-anterior-Lappen ▬ Gestielte Lappen: – Gastrocnemiuslappen – Suralislappen – Tensor-fasciae-latae-Lappen – Leistenlappen – Rectus-abdominis-Lappen – Propellerlappen – Tibialis-anterior-Lappen
Von einfachen gestielten Lappen mit zufälliger Anordnung der versorgenden Gefäße im Lappenstiel (z. B. Bauchlappen) differenziert man die axial gestielten Lappen mit definiertem versorgenden Gefäßpaar (z. B. Leistenlappen) sowie den vaskulär gestielten Insellappen. Die gesamtheitliche Darstellung aller möglichen Lappenplastiken und Gewebetransfers im Rahmen dieser Übersicht ist unmöglich, weswegen sich die Vorstellung auf die in der Klinik gebräuchlichsten Verfahren beschränken muss. > Behandlungsstrategie und Erfahrung sind die Schlüssel zum Erfolg.
Fasziokutane Lappen Wie aus dem Namen hervorgeht, umfassen diese Lappen Haut, Fettgewebe und Faszie. Aufgrund der Gefäßversorgung kann bei der Lappengestaltung eines »random pattern flap« (Lappen mit zufälliger Gefäßanordnung) häufig problemlos ein BreitenLängen-Verhältnis von 1 : 2 gewählt werden. Bei proximaler Basis und Längsorientierung lässt sich gefahrlos ein »axial pattern flap« (Lappen mit axialer Gefäßversorgung) mit großzügigeren Längenproportionen heben. Beim Design der Lappengröße ist zu beachten, dass nicht die gedachte Mittellinie des Lappens den notwendwendigen Schwenkbereich kennzeichnet, sondern der weitere Weg der Außenkurve. Damit eine Rotation des Lappens möglich wird, muss die Faszie proximal unter Schonung der perforierenden Gefäße eingekerbt werden. Bei größeren Schwenkradien entstehen obligat überschüssige Hautecken, die man nicht resezieren darf, da andernfalls eine Basisverschmälerung des Lappens resultiert und die Durchblutung gefährdet wird. Der fasziokutane Lappen eignet sich besonders am Unterschenkel zur Behandlung kleinerer Defekte. Er lässt sich nach medial, lateral und dorsal rotieren und kann deshalb dort abgehoben werden, wo ein großes Areal unbeschädigter Haut an den Defekt grenzt.
Gestielte Fernlappenplastiken Der fasziokutane Lappen erlaubt dank der längs orientierten Gefäßversorgung auch eine Verwendung als gestielter Fernlappen.
Crossleg-Lappen Die bekannteste Anwendungsform ist der schon fast historische Crossleg-Lappen, bei dem ein gestielter Lappen vom gesunden Bein (Spenderbein) zum Verschluss eines Hautdefekts am anderen Bein oder am Fuss dient (⊡ Abb. 20.3). Die Schwierigkeit dieses Verfahrens besteht in der Notwendigkeit, beide Beine über den Einheilungszeitraum von mindestens 3 Wochen von der Lappenhebung bis zur endgültigen Stieldurchtrennung immobil zu halten. Dies wird oft über eine Fixateur-externe-Montage erreicht. Der Nachteil der langen Immobilisation in Zwangsstellung wird durch die Sicherheit des Verfahrens aufgewogen, sodass der Crossleg-Lappen bei Verlust des prinzipiell vorzuziehenden freien Lappens als Ausweichmethode immer noch wertvolle Dienste zu leisten vermag und deswegen nicht vergessen werden sollte.
20
388
Kapitel 20 · Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität
a
b
⊡ Abb. 20.3a,b Defekt am Unterschenkel, Deckung mittels CrosslegLappen. Für diesen Defekt bestehen mittlerweile günstigere Alternativen
⊡ Abb. 20.4 Spätresultat eines Suralislappens, mit welchem ein Defekt über dem Außenknöchel gedeckt wurde
Suralislappen
Gestielte Muskel- und Haut-Muskel-Lappen
Der Suralislappen ist ein gestielter, fasziokutaner, antero- oder retrograd durchbluteter Lappen (⊡ Abb. 20.4). Als Gefäßstiel dient der Gefäßplexus des begleitenden Hautnervs (N. suralis). Der Suralislappen kann sowohl als Insellappen und als reiner Faszienlappen als auch als adipofaszialer Turnover-Lappen verwendet werden. Durch den anatomisch bedingten Schwenkradius kann man proximal die Tuberositas tibiae bis hin zur Ventralseite des Kniegelenks und distal die Knöchel- und Fersenregion zur Defektdeckung erreichen.
Die myokutane Lappenplastik beschreibt eine Technik, bei dem ein Muskel, ggf. mit der darüber liegenden Haut, verschoben wird. Im Gegensatz zu reinen Muskellappen sind diese Lappen weniger beweglich und hinterlassen ausgedehntere Narben, da der Hebedefekt mit Spalthaut gedeckt werden muss. Dagegen verbleibt die Haut beim Muskellappen in ihrer Position; lediglich der darunter liegende Muskel wird distal abgelöst und in den bestehenden Weichteildefekt eingeschwenkt. Gewöhnlich bleibt dem Muskel der proximale Gefäßeintritt erhalten, sodass die Lage des Muskelhilus den Drehpunkt des Schwenkbereichs festlegt, wobei sich der Längsachsenverlauf des Muskels beim Schwenken verändert. Der Muskellappen reduziert den drittgradigen zu einem zweitgradigen Weichteildefekt, indem er sofort einen gut durchbluteten Untergrund für Spalthauttranplantate bietet. Diese Maßnahme hat sich v. a. am Tibiakopf bei deperiostiertem Knochen unter Einsatz eines Gastrocnemiusschwenklappens bewährt, da auf diese Weise die lokale Immunabwehr verbessert wird und auch die systemische Antibiotikatherapie den Ort der Infektion erreicht.
Vor- und Nachteile des Suralislappens
▬ Vorteile:
20
– einfache und sichere Präparation – langer Stiel mit großem Schwenkradius – oft Primärverschluss des Hebedefekts möglich – geringer Funktionsverlust ▬ Nachteile: – keine sensible Innervation, gelegentlich Neurombeschwerden – nur kleine Hautinsel möglich – nur gestielte Verwendung möglich – lange Narbe an der Entnahmestelle
Gastrocnemiuslappen Mit zunehmender Anzahl der Knieendoprothesenimplantationen und der damit verbundenen gelegentlichen Weichteilprob-
389 20.4 · Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens
leme ist der Gastrocnemiuslappen einer der meistgebrauchten Lappen, um Defekte im Kniebereich oder am proximalen Unterschenkel zu decken (⊡ Abb. 20.5). Der laterale oder mediale Gastrocnemiuslappen ist ein proximal gestielter Muskellappen, welcher seine Gefäßversorgung über die A. suralis aus der A. poplitea, welche in Höhe der Tibiagelenkfläche von der Mittellinie her nach lateral und medial in jeden Muskelkopf ein dominantes Gefäß abgibt, erhält. Bedingt durch die gute Vaskularisation kann der Muskelbauch auch längs gespalten und in chimärer Form in beispielsweise 2 nahe beieinander liegende Defekte eingebracht werden. Der Muskel reicht mit seinem medialen oder lateral Anteil nach ventral um das Knie herum und erstreckt sich auf der Vorderseite über das proximale Drittel des Unterschenkels. Aufgrund der größeren Reichweite wird meistens der mediale M. gastrocnemius bevorzugt. Beide Muskeln lassen sich ohne großen funktionellen Verlust verlagern, und sogar wenn beide Anteile gleichzeitig zur Deckung großer Defekte am Tibiakopf benötigt werden, kompensieren der M. soleus und die Muskeln im tiefen dorsalen Kompartiment den Funktionsausfall fast vollständig. Darüber hinaus ist neben der Defektdeckung der Knieregion bei zeitgleichem infektbedingten Verlust des Lig. patellae durch den sehnigen Anteil der ehemaligen Achillessehne auch eine ligamentäre Rekonstruktion möglich.
a
b
Vor- und Nachteile des Gastrocnemiuslappens
▬ Vorteile: – einfaches Heben des Lappens – konstante Anatomie – voluminöser Muskel zur Defektauffüllung – kein funktioneller Defekt ▬ Nachteile: – geringe Reichweite – lange Narbe an der Unterschenkelrückseite – Konturdefekt der Wade nach Lappenhebung
Eine andere Form der Muskelplastik unter Beibehaltung der Längsachse findet als Jalousieplastik Anwendung: Der jeweilige Muskel wird nicht quer inzidiert und transportiert, sondern im Faserverlauf durch Inzision des Perimysiums längs gekerbt. Die vornehmlich längs orientierte Blutversorgung wird dadurch wenig tangiert, sodass sich mit dem auseinandergezogenen Muskel langstreckige Knochenanteile bedecken lassen. Am Oberschenkel eignet sich dafür der M. vastus lateralis, der einen kranial gelegenen Gefäßeintritt aufweist und über ausreichend Muskelmasse verfügt. Am Unterschenkel bietet sich in ähnlicher Technik der M. tibialis anterior an. Mit seiner Hilfe gelingt die Knochendeckung der proximalen Tibia für nicht zu breite, längs ausgerichtete Weichteildefekte.
Perforatorlappenplastiken Neben den vielfach beschriebenen, klassischen freien myound/oder fasziokutanen Lappenplastiken gewinnen zunehmend auch die Perforatorlappen an Bedeutung (⊡ Abb. 20.6). Durch die Entwicklung dieser Lappen konnte die Hebemorbidität in vielen Fällen gesenkt werden. Die Lappen basieren auf einem
c
d
⊡ Abb. 20.5a–d Bei einem prätibilalen Haut-Weichteil-Defekt (a) erfolgt die Weichteildeckung mit einem lateralen Gastrocnemiuslappen (b, c). Die Faszie kann zum Längengewinn inzidiert werden. Abschließende Deckung mit einem Hauttransplantat (d)
20
390
Kapitel 20 · Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität
1 Muskel
1 3 Quellgefäß
4
5
3
2
2 tiefe Faszie
4
a
5
6
a
7
b
b
⊡ Abb. 20.6a,b Perforatoren ziehen auf verschiedenen Wegen zur Haut (a). Die genaue Lokalisation erfolgt mit der Doppleruntersuchung (b)
Perforator, der beispielsweise eine Muskelgruppe durchstößt. Als freie Lappenplastik ist der anterolaterale Oberschenkellappen der gebräuchlichste. In der gestielten Form existieren verschiedene Varianten als Propellerlappen (⊡ Abb. 20.7). Vorteile dieser Lappen sind neben der gesenkten Hebemorbidität ihre gute Vaskularisation sowie die gute Form- und Modellierbarkeit. Speziell der anterolaterale Oberschenkellappen zeichnet sich durch eine sichere Gefäßanatomie mit einem langen Stiel und eine einfache Rückenlagerung bei der Entnahme aus. Der Verschluss des Hebedefekts ist mittels Primärverschluss möglich. Diese Lappeneigenschaften ermöglichen ein breites Einsatzspektrum zur Defektdeckung an der unteren Extremität, aber auch im Kopf-Hals-Bereich oder – in der gestielten Variante – in der Leiste.
Weitere Muskellappen am distalen Unterschenkel
20
Die Transposition von Tibialis-posterior-, Tibialis-anterior- und Flexor-hallucis-longus-Lappen ist möglich, allerdings sind die damit verbundenen Funktionsverluste schwerer akzeptabel. Die Extensoren und die langen Flexoren der Zehen können zwar ohne großen Funktionsverlust verwendet werden, sie sind aber von ihrer Muskelmasse her zu klein, um für eine ausreichende Deckung wertvoll zu sein. Der M. peronaeus brevis kann unter der Voraussetzung transponiert werden, dass die Eversion des Fußes mit Hilfe des M. peronaeus longus erhalten bleibt. Es ist ein langer, dünner Muskel, mit dem man einen ebenso geform-
c
d
⊡ Abb. 20.7a–d Ein prätibialer Haut-Weichteil-Lappen wird mit einem gestielten Perforatorlappen gedeckt (sog. Propellerlappen)
ten Defekt der vorderen Region des distalen Unterschenkels decken kann.
Freie mikrovaskuläre Lappentransplantation Die erste erfolgreiche Transplantation eines freien Lappens mit Hilfe eines mikrochirurgischen Gefäßanschlusses gelang Krizek Edall im Jahre 1965. Heute stehen eine Vielzahl verschiedener
391 20.4 · Überlegungen zur Strategieplanung und Behandlung des Haut-Weichteil-Schadens
a
c
d
b
⊡ Abb. 20.8a–d Latissimus-dorsi-Lappen. a–c Großer Haut-Weichteil-Defekt am Unterschenkel mit freiliegender Achillessehne, der mit einem Latissimus-dorsi-Lappen gedeckt wurde, d Spätresultat
Lappen zur Verfügung. Für die klinische Routine genügen allerdings weit weniger Verfahren, deren Beherrschung für fast alle Weichteildefektprobleme eine Lösung ermöglicht. Die Wahl des Lappens hängt vornehmlich von der Größe und der Lokalisation des zu bedeckenden Weichteildefekts ab. Für den Ersatz ausgedehnter Gewebeverluste eignet sich am besten der Latissimuslappen. Bei kleineren Defekten stehen der Radialis-, der Skapula-, der Oberarm- und der Fußrückenlappen sowie der Grazilislappen zur Verfügung. Voraussetzung für jede erfolgversprechende mikrovaskulär angeschlossene Gewebetransplantation sind intakte, weder durch Trauma noch Entzündung veränderte Blutgefäße im Empfangsareal, was obligat durch eine präoperative Angiographie abgeklärt werden sollte bzw. Gefäßinterponate erfordert oder – bei Nichterfüllung dieses Kriteriums – den Eingriff ganz verbietet.
Latissimus-dorsi-Lappen Als »Arbeitspferd« der mikrovaskulären Gewebeverpflanzung ist der auf dem größten Rückenmuskel basierende, myokutane Latissimus-dorsi-Lappen der am häufigsten sowohl gestielt als
auch frei verlagerte Lappen (⊡ Abb. 20.8). Durch Kombination mit dem Skapularlappen und dem M. serratus anterior können über einen Gefäßstiel (A. thoracodorsalis) auch ausgedehnteste Weichteildefekte beherrscht werden, sodass ein radikales Débridement vorgängig möglich ist. Durch die Innervation über den N. thoracodorsalis kann der Lappen auch als muskulärer Ersatz mit entsprechendem nervalen Anschluss eingesetzt werden. Die Hebetechnik des Lappens mit seinem zu präparierenden neurovaskulären Stiel, der eine Arterie und 2 Venen enthält, ist standardisiert. Bei der Arterienanastomose ist ein End-zu-Seit-Anschluss zu bevorzugen. Dies gewährleistet eine Perfusion distal des Anschlussgefäßes. Beim venösen Anschluss dominiert die End-zu-End-Technik. Tipp
I
I
Um die durch postoperative Lappenschwellung mögliche Kompression der den Lappen versorgenden Gefäße zu vermeiden, empfiehlt es sich, den Hautverschluss über dem Gefäßstiel primär auszusetzen und mit Spalthaut zu bedecken.
20
392
Kapitel 20 · Prinzipien der Hautweichteildeckung an der unteren Extremität
Vor- und Nachteile des Latissimus-dorsi-Lappens
▬ Vorteile: – einfache und sichere Präparation – langer Gefäßstiel mit großem Kaliber – großes Muskel- und Hautareal verfügbar – geringer Funktionsverlust – Primärverschluss der Entnahmestelle möglich – großer Schwenkradius als gestielter Lappen – motorische Ersatzfunktion ▬ Nachteile: – oft wulstiger Lappen mit dicker Haut – meist breite Narbe an der Entnahmestelle – keine suffiziente sensible Innervation
20.4.7
Zeitpunkt der definitiven Lappenplastik
Prinzipiell können für die Lappendeckung 3 mögliche Zeitpunkte unterschieden werden: ▬ akute Weichteildeckung: 4–6 h ▬ verzögert-akute Weichteildeckung: 24–72 h ▬ verzögerte Weichteildeckung
in Kombination mit Heparin) vermindert die Gefahr der Mikrothrombosierung in den Lappengefäßen. Eine thrombosierte Anastomose erfordert deren unverzügliche Revision, ein intraoder postoperativer Vasospasmus die Sympathikolyse. Betrug die Lappennekroserate Mitte der 1980er-Jahre noch etwa 25%, liegt sie mittlerweile deutlich unter 10%, was u. a. auf konsequent und schnell an den Gefäßanschlüssen durchgeführte Revisionseingriffe zurückzuführen ist; deren Inzidenz – vornehmlich wegen lokaler Thrombosierung – liegt bei ca. 15%. Durch die fortschreitenden technischen Möglichkeiten und die zunehmende Miniaturisierung existieren mittlerweile eine Vielzahl von Messsystemen, welche die Perfusionsprüfung des Gewebetransplantats erleichtern. Die einzelnen Hilfsmittel sind bezüglich ihrer Aussagekraft jedoch nur als Trend zu werten. > Das klinische Lappen-Monitoring, gepaart mit klinischer Erfahrung, ist nach wie vor apparativ nicht zu ersetzen.
Möglichkeiten des Lappen-Monitorings
▬ Klinische Kontrollen: kapillarer »refill«, Turgor, Farbe, Temperatur
▬ Metabolisches Monitoring: Szintigraphie, Mikrodialyse, pH-Monitoring, transkutanes Sauerstoff-Monitoring
Seit der viel zitierten Arbeit von Godina (1986) zeigen sich jedoch für die primäre Lappendeckung Vorteile bezüglich Infektverlauf und Lappenüberlebensrate. Begründet wird dies durch die fehlende, sekundär einsetzende Mikrofibrosierung, welche die Mikroanastomosierung zu einem späteren Zeitpunkt unsicherer macht. Aufgrund der Begleitverletzungen der häufig polytraumatisierten Patienten ist die Möglichkeit eines »emergency flap« Einzelsituationen vorbehalten. Nicht zuletzt auch durch die Infrastruktur bedingt, ist die frühsekundäre Deckung innerhalb der ersten 10 Tage in den meisten Fällen Realität.
20.4.8
20
Lappenpflege und Lappen-Monitoring
Lappenplastiken sind bezüglich der Nachbehandlung sehr anspruchsvoll, weswegen sie in vielerlei Hinsicht eine besondere Aufmerksamkeit benötigen. Zunächst ist eine ausreichende Drainage des Lappenbetts zur Hämatomvermeidung für die ersten Tage äußerst empfehlenswert, v. a. bei großen Lappen. Als medikamentöse Begleittherapie erfolgt in der Regel eine Antibiotikagabe, da dies eine seit Langem etablierte und akzeptierte Komponente bei der Behandlung offener Frakturen und begleitender Weichteilschäden darstellt. Die Dauer ist individuell zu entscheiden und von der Kontamination abhängig. Die Verabreichung beginnt ungezielt bereits in der Notaufnahme mit einem Breitspektrumantibiotikum und wird nach dem Ergebnis des beim Débridement entnommenen Abstrichs ggf. angepasst. Die Lagerung betreffend, ist eine ausreichende Ruhigstellung in einer den venösen Abfluss fördernden Position ebenso unerlässlich wie die regelmäßige (primär stündlich erfolgende) klinische Kontrolle der Lappenperfusion. Eine rheologische Begleittherapie (z. B. mit Voluven 6%, 500 ml/24 h über 5 Tage
▬ Kontrolle des Stielflusses: Arteriographie, Einsatz einer (implantierbaren) Dopplersonde
▬ Kontrolle der Gewebeperfusion: Pulsoxymetrie, Dermofluorometrie
20.5
Evidenz und Kontroversen
Weichteildefekte, die nicht primär verschlossen werden können und isoliert oder in Kombination mit Knochendefekten auftreten, stellen wegen ihrer unterschiedlichen Ätiologie und Ausprägung unverändert ein komplexes diagnostisches und therapeutisches Problem dar. Um das angestrebte Ziel, einen spannungsfreien, definitiven und langzeitstabilen Haut-Weichteil-Verschluss unter Wahrung der Verhältnismäßigkeiten zu erreichen, muss aus der Vielzahl der Therapiemöglichkeiten die individuell beste Lösung gefunden werden. Logische Behandlungskonzepte des kombinierten Knochen-Weichteil-Schadens unter Kenntnis der Pathophysiologie stellen dabei Entscheidungshilfen für den konkreten Einzelfall im klinischen Routineeinsatz dar. Unbestritten ist, dass hierbei das strikte Konzept der rekonstruktiven Leiter nicht mehr obligat eingehalten werden muss, da auch aufwendigere Deckungsverfahren durch die Weiterentwicklung von mikrochirurgischen Techniken und die Erweiterung von Anatomiekenntnissen (insbesondere für die Perforatorchirurgie) sehr sicher geworden sind. Trotz einer exakten Klassifizierung der Defekte ist eine Prognose für den Verlauf nur schwer abschätzbar. Kontroversen bestehen auch bezüglich des Operationszeitpunkts. Obwohl einige Zentren gute Erfahrungen mit frü-
393 Literatur
hen, »emergency free flaps« beschreiben, favorisieren andere Kliniken ein mehrzeitiges Vorgehen. Darüber hinaus tragen sicher auch das gegenseitige Fachverständnis und die frühe interdisziplinäre Kooperation dazu bei, die Problematik der Haut-Weichteil-Deckung der unteren Extremität als Teamwork anzusehen.
Literatur Argenta LC, Morywas MJ (1997) Vacuum assisted closure: A new method for wound control and treatment: clinical experience. Ann Plast Surg 38: 563–576 Godina M (1986) Early microsurgical reconstruction of complex trauma of the extremities. Plast Reconstr Surg 78: 285–292 Gustilo RB, AndersonJP (1976) Prevention of infection in the treatment of one thousand and twenty five open fractures of long bones. J Bone Joint Surg (Am) 58: 453–458 Gustilo RB, Mendoza RM, Williams (1984) Problems in the management of type III open fractures: A new classification of type III open fractures. J Trauma 24: 742–746 Krettek C (1998) Fraktur und Weichteilschaden. Chirurg 69: 684–700 Krizek T, Tami T, Desprez JD (1965) Experimental transplantation of composite grafts by microsurgical vascular anastomosis. Plast Reconstr Surg 36: 538–546 Masquelet AC, Gilbert A (1988) Atlas der Lappenplastiken in der Chirurgie der Extremitäten. Enke, Stuttgart Meyer C, Pavlidis T, Kraus R, Heiss C, Alt V, Schnettler R (2004) Die Deckung von Weichteildefekten am Unterschenkel mit der Suralislappenplastik. Akt Traumatol 34: 177–181 Ninkovic M, Schoeller T, Wechselberger G, Benedetto KP, Anderl H (1997) Infektprophylaxe bei komplexem Extremitätentrauma durch sofortige definitive Rekonstruktion mittels freiem Gewebetransfers. Chirurg 68: 1163–1169 Scott L (2008) Principles of definitive soft tissue coverage with flaps. J Orthop Trauma 22 (Suppl): 161–166 Tscherne H, Oestern H-J (1982) Die Klassifikation des Weichteilschadens bei offenen und geschlossenen Frakturen. Unfallheilkunde 85: 111–115
20
21
Verletzungen der peripheren Nerven und des Plexus brachialis J. Grünert
21.1
Vorbemerkungen
– 396
21.2
Diagnostische Voraussetzungen – 396
21.3
Einteilung der Nervenschäden – 397
21.4
Allgemeine Therapiegrundsätze – 397
21.5
Spezielle Therapie
21.5.1 21.5.2 21.5.3 21.5.4 21.5.5
Nervennaht – 397 Neurolyse – 397 Nerventransplantation – 397 Neurotisation – 397 Ersatzoperationen – 397
21.6
Therapieergebnisse
– 397
– 398
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
396
21.1
Kapitel 21 · Verletzungen der peripheren Nerven und des Plexus brachialis
Vorbemerkungen
An den Extremitäten liegen viele anatomische Strukturen auf engem Raum nahe beieinander. Scharfe Verletzungen, beispielsweise durch Stich-, Schnitt- oder Schusswunden, führen nicht selten – oft als Begleitverletzung von Frakturen oder anderen Weichteilläsionen – zu Durchtrennungen oder Schädigungen von peripheren Nerven. Proximale Verletzungen der Nervenwurzeln und des Plexus brachialis entstehen hauptsächlich bei Unfällen von jungen Motorradfahrern durch stumpfe Gewalteinwirkung. Andere Mechanismen umfassen Kompressions-, Traktions- oder Quetschtraumen. Bei Plexus-brachialisLäsionen finden sich häufig Begleitverletzungen wie Frakturen der Pp. transversales der Halswirbelsäule, Frakturen des Schultergürtels, insbesondere Klavikulafrakturen, oder Schulterluxationen. Diese weisen auf Hochenergietraumen hin. Hierbei sind Rupturen der Blutgefäße im Schulterbereich nicht selten. Verletzungen der peripheren Nerven, insbesondere die weiter proximal gelegenen, hinterlassen häufig problematische, bezüglich ihrer funktionellen Tragweite regelhaft unterschätze funktionelle Ausfälle. Diese oft schwer kurierbaren Verletzungen führen zu: ▬ Störungen des Steuer- und Kontrollsystems des Bewegungsapparats ▬ funktioneller Erblindung durch Sensibilitätsstörungen ▬ Einbußen beim Bewegungsablauf ▬ Ungeschicklichkeit ▬ vorzeitiger Ermüdung ▬ funktioneller Schwäche ▬ Bewegungsverlust mit Störungen des Muskelgleichgewichts > Kontrakturen, Dystrophien und Schmerzzustände bedingen oft einen Arbeitsplatzverlust und die psychosoziale Dekompensation des Patienten.
Da relevante Nervenverletzungen unvergleichlich stärker ausgeprägte Invaliditäten nach sich ziehen als Verletzungen anderer Strukturen des Bewegungsapparats und da sehr gute Heilungserfolge nicht einfach zu erzielen sind, muss bei der Abklärung, der Beurteilung und der Behandlung peripherer Nervenverletzungen besondere Sorgfalt walten. Dies bedeutet für den Erstbehandelnden, dass innerhalb kürzester Zeit eine »chirurgische«, d. h. operativ sanierbare Nervenverletzung ausgeschlossen werden muss. Sollte diese nachweisbar sein, muss eine adäquate Behandlung eingeleitet werden.
21.2
21
und des Kompartmentsyndroms. Bei schweren Verletzungen der Wurzeln C8 und Th1 findet man ein Horner-Syndrom. Extreme Schmerzen in einer anästhetischen Extremität zeigen eine Deafferenzierung der Gliedmaße mit Verdacht auf Wurzelavulsion an. Röntgenuntersuchungen der Halswirbelsäule, des Thorax (einseitiger Zwerchfellhochstand bei Lähmung des N. phrenicus) und des Schultergürtels sind ebenfalls erforderlich. Die klassische Myelographie wurde zugunsten der CT und der MRT mit Kontrastmittelgabe verlassen. Pseudomeningozelen werden mit Avulsionen der entsprechenden Wurzeln assoziiert. Zur Diagnose von Nervenwurzelläsionen sind neben der Standardelektromyographie sensibel oder motorisch evozierte Potenziale hilfreich. Wandert ein positives Hoffmann-TinelZeichen nicht weiter nach distal und bleibt die Regeneration von proximal gelegenen Muskeln aus, sollte der Plexus brachialis spätestens 4 Monate nach dem Trauma revidiert werden. Auch bei kompletten Armparesen zeigen <20% der Patienten Avulsionen aller 5 Wurzeln (⊡ Abb. 21.1). Bei intakter Nervenkontinuität sollte bei ausbleibender peripherer Regeneration eine Neurolyse mit Resektion des narbig komprimierenden Gewebes erfolgen. Geschlossene periphere Nervenläsionen, die nach 3 Wochen weiterhin funktionelle Lähmungen und Ausfällen bedingen und
⊡ Tab. 21.1 Klinische Untersuchung und Ausfälle bei Läsionen verschiedener Nervenwurzeln Nervenwurzel
Funktion
Betroffene Muskeln
C4
Atmung (N. phrenicus)
Diaphragma
C5
Ellenbogenbeugung
M. biceps, M. brachialis
C6
Handgelenkextension
M. extensor carpi radialis
C7
Ellenbogenextension
M. triceps brachii
C8
Fingerbeugung
M. flexor digitorum profundus
Th1
Fingerabduktion (bei Läsion: Horner-Syndrom)
Mm. interossei, Mm. lumbricales
Diagnostische Voraussetzungen
Durch Anamnese und klinische Untersuchung kann die Nervenläsion meist bereits lokalisiert werden. Eine gute anatomische Kenntnis der Nervenaufteilungen im Plexusbereich und ihrer distalen Aufzweigungen ist hierzu Voraussetzung (⊡ Tab. 21.1). Die Untersuchung von autonomen sensiblen Arealen und von wichtigen Kennmuskeln einzelner Nervenäste gibt Hinweise auf den Ort der Läsion. Begleitende Gefäßverletzungen, welche die Vitalität der Extremität gefährden, müssen frühestmöglich erkannt und versorgt werden. Hierbei besteht die Gefahr der Ischämie
⊡ Abb. 21.1 Obere Plexus-brachialis-Läsion nach Motorradunfall mit Abriss der Wurzeln C5, C6 und C7
397 21.5 · Spezielle Therapie
die bei der elektrophysiologischen Untersuchung zu Degenerationszeichen führen, sollten offen revidiert werden.
21.3
Einteilung der Nervenschäden
Die Nervenschädigungen werden folgendermaßen unterteilt: ▬ Neurapraxie. Hierbei handelt es sich um einen Nervenleitungsblock, der durch eine lokale Zirkulationsstörung zu einem funktionellen Ausfall ohne erkennbare morphologische Schädigung führt. Ohne die notwendigen Maßnahmen erholt sich die Funktion binnen kurzer Zeit komplett. ▬ Axonotmesis. Hierbei kommt es zu einer Unterbrechung der Axone bei erhaltener Nervenfaserhülle, meist durch eine mechanische Schädigung. Der komplette funktionelle Nervenausfall ist von einer distalen Waller-Degeneration der Nervenfasern begleitet. Ohne chirurgische Intervention kommt es je nach Lokalisation der Nervenschädigung nach Wochen bis Monaten zu einer nahezu vollständigen klinischen Erholung. ▬ Neurotmesis. Hierbei sind sowohl die Axone als auch die Nervenfaserhülle, d. h. der komplette Nerv, vollständig durchtrennt. Ohne Nervennaht kommt es bei einem kompletten distalen Funktionsausfall zur Ausbildung eines Neuroms. Die Prognose ist je nach der Qualität der Nervenwiederherstellung mäßig bis schlecht. Verbleibende Ausfälle sind die Regel.
21.4
Resultat möglich ist. Eine 2-wöchige Ruhigstellung in einer Schiene ist indiziert.
21.5.2
Neurolyse
Ist ein Nerv nach einer Verletzung von Narbengewebe umgeben, verliert er relativ rasch seine Leitfähigkeit. Durch Resektion des fibrotischen Paraneuriums wird der Nerv dekomprimiert (externe Neurolyse). Eine innere Neurolyse mit Eröffnung des epifaszikulären Epineuriums sollte nur nach strenger Indikationsstellung erfolgen, da die postoperative Vernarbung hierdurch ggf. noch verstärkt werden kann. Durch Längsspaltung des epifaszikulären Epineuriums (Epineurotomie) an umschriebener Stelle bei Kalibereinengung durch Fibrose oder Schrumpfung lässt sich der Nerv ebenfalls befreien.
21.5.3
Nerventransplantation
Lässt sich nach Mobilisierung der Nervenstümpfe und nach Aufhebung der elastischen Retraktion keine spannungsfreie Naht mehr erzielen, muss eine Nerventransplantation erfolgen. Je nach Länge der Defektstrecke ist ein entsprechender Spendernerv (meist N. suralis) erforderlich. Bei dickeren Nerven werden mehrere Spendernerven als sog. Kabeltransplantate interponiert. Zur Defektüberbrückung im Plexusbereich sind auch vaskularisierte Transplantate (meist gefäßgestielter N. ulnaris) verwendbar.
Allgemeine Therapiegrundsätze 21.5.4
Durchtrennungen von peripheren Nerven sollten durch direkte Naht des Nervs wiederhergestellt werden – nur so lassen sich eine Regeneration erzielen und ein schmerzhaftes Neurom wirksam verhindern. > Das bedeutet, dass Wunden bei klinischem Verdacht auf eine Nervenläsion in adäquater Anästhesie grundsätzlich exploriert werden sollten.
21.5
Spezielle Therapie
21.5.1
Nervennaht
Ist die Kontinuität eines peripheren Nervs unterbrochen, sollte der Nerv durch Naht readaptiert werden. Sind die Voraussetzungen für eine primäre Naht gegeben (fachkundiger und erfahrener Operateur, Operationsmikroskop, feines Nahtmaterial, Mikroinstrumente, pneumatische Blutleere), ist diese anzustreben. Sind die Voraussetzungen primär nicht so günstig, ist die verzögerte Primärversorgung oder eine frühsekundäre Nervennaht vorteilhafter. Bei einer spätsekundären Nervennaht (nach >6 Monaten) sind die Nervenstümpfe durch fibröse Retraktion auf eine derart große Distanz auseinander gewichen, dass keine spannungsfreie Naht mehr erfolgen kann und nur noch eine Nerventransplantation mit funktionell schlechterem
Neurotisation
Ist eine Wiederherstellung der Nervenkontinuität nicht mehr möglich, können durch eine Verlagerung von Nervenfasern funktionell wichtige Muskelgruppen neurotisiert werden. Bei Plexusläsionen hat die Rekonstruktion der Ellenbogenbeugung durch Wiederherstellung des N. musculocutaneus eine hohe Priorität. Hierzu werden meist 3 Interkostalnerven, evtl. durch ein Transplantat, verlängert und angeschlossen. Als Spendernerven kommen weiterhin infrage: ▬ N. accessorius ▬ Äste aus dem Plexus cervicalis ▬ N. hypoglossus ▬ Nervenfasen von der gegenseitigen Wurzel C7 Bei Plexusläsionen hat die Schulterkontrolle ebenfalls eine hohe Priorität. Hier sollte der N. suprascapularis und gelegentlich der N. axillaris neurotisiert werden. Zur sensiblen Neurotisation werden supraklavikuläre Hautnervenäste mit dem N. medianus verbunden.
21.5.5
Ersatzoperationen
Nach Abschluss der Nervenregeneration – meist nach 2–3 Jahren – werden die Funktionen der Extremität sorgfältig analysiert. Sollten die erreichten Funktionen noch nicht befriedigend
21
398
Kapitel 21 · Verletzungen der peripheren Nerven und des Plexus brachialis
sein, lassen sie sich durch Ersatzoperationen verbessern. Neben Arthrodesen des Schultergelenks können verloren gegangene Funktionen durch Muskeltranspositionen ersetzt werden (z. B. Verwendung des M. latissimus dorsi oder des M. pectoralis major für die Ellenbogenbeugung).
21.6
Therapieergebnisse
Bei Paresen an den Extremitäten können heutzutage wesentliche Verbesserungen erreicht werden, jedoch darf man die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen. Nach Verletzungen des Plexus brachialis sind die Erreichung einer motorischen Schulterkontrolle und die Möglichkeit der aktiven Ellenbogenbeugung anzustreben. Eine Schutzsensibilität im Handbereich ist wünschenswert. Infraklavikuläre Läsionen haben eine bessere Prognose als supraklavikuläre Verletzungen. Supraklavikuläre Verletzungen, bei denen wenigstens 2 Wurzeln wiederhergestellt werden können, haben eine günstige Prognose. Teilparesen wiederum haben eine bessere Prognose als komplette Lähmungen. Die Resultate von Neurotisationen sind unterschiedlich. Die Ergebnisse nach Wiederherstellungen peripherer Nerven sind umso besser, je weiter distal die Läsion gelegen war. Die direkte Nervennaht – ob primär oder früh sekundär ausgeführt – erbringt eine bessere Regeneration als eine Nerventransplantation. Bei ausbleibender sensibler oder motorischer Erholung kann durch eine Ersatzplastik noch eine brauchbare Funktion erreicht werden. Das Operationsergebnis nach einer Wiederherstellung wird durch vor- und nachbereitende physio- und ergotherapeutische Maßnahmen wesentlich beeinflusst. Besonderes Augenmerk gilt dabei der verloren gegangenen kortikalen Repräsentation der Extremität und der zerebralen Wiedererlernung von Funktionen Hierzu stellt die Spiegeltherapie eine wertvolle Hilfe dar. Gelenkeinsteifungen und Kontrakturen müssen vermieden, erhaltene Muskelfunktionen trainiert, andere Bewegungsmuster erlernt und neue Alltagsstrategien für die täglichen Aktivitäten erarbeitet werden.
21
V
V
Regionale Orthopädie und Unfallchirurgie
22
Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule – 401 O. Linhardt, J. Götz, T. Renkawitz, T. Forster, M. Kröber, J. Grifka
23
Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk J. Beckmann, M. Tingart, M.A. Kessler, T. Dobler, M. Kuster, J. Grifka
24
Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen – 555 E. Sendtner, P. Bodler, A. Hoffmann
25
Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern – 613 F.J. Winkler, G. Heers, M. Jakubietz, R. Jakubietz, J. Grünert
26
Verletzungen des Beckens – 687 K. Grob
27
Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel – 711 T. Renkawitz, M. Tingart, J. Beckmann, T. Kalteis, J. Grifka, R. U. Winkler, M. Ellenberger, K.-U. Lorenz
28
Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel – 759 C. Lüring, P. Baumann, H. Behrend, H. Bäthis, L. Harder, J. Grifka
29
Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen – 831 M. Handel, F.X. Köck, H. Durst, A. Rukavina, J. Grifka
– 477
22
Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule O. Linhardt, J. Götz, T. Renkawitz, T. Forster, M. Kröber, J. Grifka
22.1
Diagnostik
22.1.1 22.1.2 22.1.3
Anamnese – 402 Klinische Untersuchung – 402 Bildgebende Verfahren – 405
22.2
Erkrankungen der Wirbelsäule
22.2.1 22.2.2 22.2.3 22.2.4 22.2.5 22.2.6 22.2.7 22.2.8 22.2.9
Wirbelsäulenvariationen – 409 Wirbelsäulenfehlbildungen – 409 Spondylolyse und Spondylolisthesis – 414 Skoliose – 416 Morbus Scheuermann – 424 Kyphose – 426 Infektiöse Spondylodiszitis – 427 Morbus Bechterew – 431 Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule – 435
22.3
Verletzungen der Wirbelsäule
22.3.1 22.3.2
Verletzungen der HWS – 450 Verletzungen von BWS und LWS
Literatur
– 402
– 409
– 450 – 466
– 475
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
402
22.1
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Diagnostik
O. Linhardt, J. Götz, T. Renkawitz, J. Grifka Die Diagnostik an der Wirbelsäule besteht neben der Anamneseerhebung aus der körperlichen einschließlich einer neuroorthopädischen Untersuchung. Hierdurch kann eine sichere Diagnosestellung erfolgen. Zur differenzialdiagnostischen Abklärung sind häufig eine ergänzende laborchemische und apparative Funktionsdiagnostik sowie bildgebende Verfahren notwendig.
22.1.1
Anamnese
Die Vorgeschichte des Patienten ist sorgfältig und systematisch zu erheben. Sie gliedert sich in die Abschnitte Eigen-, Familien-, Berufs- und Freizeitanamnese.
22.1.2
Klinische Untersuchung
a
b
c
d
Die klinische Untersuchung der Wirbelsäule lässt sich in Inspektion, Funktionsprüfung der Gelenke, manuelle und neurologische Untersuchung unterteilen.
⊡ Abb. 22.1a-d Rückenformen. a Normaler Rücken, b hohlrunder Rücken, c Rundrücken, d Flachrücken. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
Inspektion, Funktionsprüfung und manuelle Untersuchung
Rumpfbeugung des Patienten. Zur Prüfung des Beckengeradstandes am barfuß stehenden Patienten legt der Untersucher
Zur Untersuchung sollte sich der Patient immer bis auf die Unterhose entkleiden. Bereits beim Entkleiden ist auf Funktionsbeeinträchtigungen der Bewegungsorgane zu achten. Zunächst wird das Gangbild beurteilt. Der normale Gang ist symmetrisch fließend, wobei die Breite der Gangspur nicht mehr als 3 Hand breit sein sollte. Auffällig sind asymmetrische Bewegungen, Hinken und Verkippungen des Beckens. Die Ausführung differenzierter Gangarten wie Fersen- und Zehenspitzengang testet selektiv die Fußheber- und Fußsenkermuskulatur. Die Betrachtung von vorne erlaubt die Beurteilung der Brustform (Trichterbrust, Kielbrust) und die Beschaffenheit der Bauchdecke. Von hinten können Becken- und Schulterstand inspiziert werden. Die Inspektion der Rumpfhaltung des Patienten wird in der Frontal- und Sagittalebene durchgeführt. Es ist auf Abweichungen der Körperachse und Muskelatrophien zu achten. Auffällig sind Abweichungen von der natürlichen Kyphose und Lordose in der Seitenansicht. Je nach Ausprägung der Schwingungsverläufe werden nach Staffel 4 Haltungsformen unterschieden (⊡ Abb. 22.1): Weder übermäßig ausgeprägte noch verminderte Wirbelsäulenverläufe kennzeichnen einen normalen Rücken. Der hohlrunde Rücken zeigt eine Verstärkung der BWS-Kyphose und der LWS-Lordose. Die Brustkyphose ist beim Rundrücken langgezogen und verstärkt, die Lendenlordose beschränkt sich auf einen kleinen Anteil. Beim Flachrücken sind die physiologischen Krümmungen jeweils abgeschwächt. Rotationsasymmetrien der Wirbelkörper bei Skoliosen, wie ein Rippenbuckel oder Lendenwulst, zeigen sich bei ventraler
von dorsal die Hände auf die Beckenkämme des Patienten. Tipp
I
I
Zum Ausgleich der Beinlängendifferenz wird das Unterlegen von Brettchen unter das verkürzte Bein empfohlen, bis die Längendifferenz ausgeglichen ist.
Die Höhe der Brettchenunterlage entspricht dem erforderlichen Beinlängenausgleich, wenn ein vollständiger Ausgleich mit Beckengeradstand angestrebt wird. Das Trendelenburg-Zeichen wird im Einbeinstand getestet und gibt Hinweise auf die Suffizienz der Glutealmuskulatur bei Hüfterkrankungen oder nervalen Störungen. Der Untersucher steht hinter dem Patienten und fordert ihn zum Anheben eines Beins auf. Das Augenmerk liegt auf dem Becken, das sich bei positivem Befund durch die Schwäche der Muskulatur auf die Seite des angehobenen Beines absenkt. Besteht eine Schwäche der Glutealmuskulatur, kann es beim Gehen auch zum Duchenne-Hinken kommen. Dabei wird der Körpermittelpunkt durch die Seitneigung auf das belastete Bein balanciert, was die Druckbelastung auf der Hüfte reduziert und die Muskulatur entlastet. Besteht eine beidseitige Schwäche, resultiert ein sogenannter Watschelgang. Wie von Krämer (2006) dargestellt sind mit der manuellen Untersuchung insbesondere die Dornfortsätze (Druck-, Klopfschmerz), die Ligg. interspinalia (Druck-, Klopfschmerz) sowie die paravertebrale Muskulatur (Tonus, Kontrakturen, Druckschmerz, Myogelosen) zu beurteilen.
403 22.1 · Diagnostik
Wirbelgelenken oder auf das Phänomen der »kissing spine« beim M. Baastrup hin. Die Entfaltbarkeit der Wirbelsäule wird durch das Schoberund Ott-Zeichen (⊡ Abb. 22.2) geprüft. An der BWS vergrößert sich im Normalfall eine Strecke von 30 cm, ausgehend vom Dornfortsatz C7, um etwa 3 cm. An der LWS nimmt eine Strecke von 10 cm, ausgehend vom untersten, gut tastbaren Dornfortsatz S1 bzw. L5, um etwa 5 cm zu. Die passive Beweglichkeit der HWS kann nach Grifka et al. (2001) in einem einzigen Untersuchungsgang getestet werden. Dabei sitzt der Untersucher hinter dem Kopfende des liegenden Patienten. Kopf und Hals des Patienten ragen über das Ende der Liege und werden vom Untersucher in horizontaler Lage gehalten. Der Untersucher bewegt den Kopf des Patienten in die maximale Inklination, Reklination, Seitneigung sowie Rotation zu beiden Seiten. Zum Schluss werden Komplexbewegungen getestet. Dabei wird der Kopf in Inklination zu beiden Seiten rotiert, anschließend erfolgt die Rotation in Reklination. Der Test dient zur Differenzierung von Blockierungen im oberen und unteren Anteil der HWS.
⊡ Abb. 22.2a-c Entfaltbarkeit der Wirbelsäule. a Ott-Zeichen: an der BWS vergrößert sich im Normalfall eine Strecke von 30 cm, ausgehend vom Dornfortsatz C7, um etwa 3 cm, b Schober-Zeichen: an der LWS nimmt im Normalfall eine Strecke von 10 cm, ausgehend vom untersten, gut tastbaren Dornfortsatz S1 bzw. L5, um etwa 5 cm zu, c FingerBoden-Abstand (FBA). (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
Durch Perkussion der Dornfortsätze von dorsal kann bei Wirbelprozessen oder Frakturen Klopfschmerz ausgelöst werden. Radikulär ausstrahlende Schmerzen während des Beklopfens deuten auf Bandscheibenerkrankungen mit Affektion der Nervenwurzel hin. Als Hilfe zur Lokalisation kann die Perkussion auch mit einem weichen Reflexhammer erfolgen. Durch Palpieren der paraspinalen Muskulatur des Patienten können morphologische Veränderungen wie Tonusveränderungen der Muskulatur oder Myogelosen erkannt werden. Auf die Angabe von schmerzhaften Druckstellen sollte dabei geachtet werden. Myogelosen lassen sich als umschriebene harte, schmerzhafte Knötchen im Muskelstrang tasten. Sie resultieren aus geweblichen Veränderungen durch lokale trophische Störungen und können nicht wegmassiert werden. Die Messung des Bewegungsumfangs geht aus von der aufrechten Haltung als Neutral-Null-Stellung. Die aktive Beweglichkeit von HWS, BWS und LWS wird in 3 Ebenen (Inklination/Reklination, Seitneigung und Rotation) geprüft, wobei zusätzlich der Kinn-Brustbein-Abstand sowie der FingerBoden-Abstand (FBA, ⊡ Abb. 22.2c) in Zentimetern gemessen wird. Nach Perret et al. (2001) ist der Finger-Boden-Abstand wegen ausgezeichneter Validität, Reliabilität und Response zur Verwendung bei der klinischen Untersuchung gut geeignet. Eine radikuläre Symptomatik durch einen Bandscheibenvorfall zeigt oft einen FBA von 40 cm und mehr. Schmerzangaben bei entsprechenden Bewegungen werden dabei dokumentiert. Reklinationsschmerzen deuten auf Affektionen an den kleinen
> In Inklination ist durch die Bandverspannungen der untere Teil der HWS fixiert, umgekehrt ist in Reklination der obere Teil eingeschränkt. Abweichungen von der Norm sowie Seitendifferenzen werden dabei dokumentiert.
Im Zusammenhang mit der Funktionsprüfung der HWS sollte auch immer der Extensionstest vorgenommen werden. Der Untersucher stellt sich hinter den Patienten, erfasst mit der flachen Hand die dorsolaterale Kopfpartie in der Gegend des Mastoids und drückt den Kopf nach oben. Dabei liegen die Ellenbogen den Schultern des Patienten an. Hierdurch kann durch axialen Zug der HWS ein eventuelles Nachlassen der Schmerzen erreicht werden, woraus sich Hinweise für die Therapie ergeben. Mit dem Dreistufenhyperextensionstest (⊡ Abb. 22.3) können Hüft-, ISG- und LWS-Beschwerden differenziert werden. Der Patient liegt auf dem Bauch. Bei der ersten Stufe fixiert der Untersucher mit einer Hand das Becken über dem Os ilium der zu prüfenden Seite und überstreckt dann das Bein im Hüftgelenk. Bei Affektionen im Hüftgelenk werden hierbei Schmerzen angegeben. In der zweiten Stufe werden Hüftgelenk und Iliosakralgelenk geprüft. Dabei fixiert der Untersucher mit der Hand das Sakrum und hyperextendiert wiederum das Bein. In der dritten Stufe legt der Untersucher seine Hand mit nur geringem Druck auf die untere Lendenwirbelsäule. ! Cave Bei diesem letzten Prüfungsschritt muss die Hand sehr dosiert auf die Lendenwirbelsäule aufgelegt werden und darf nicht wie bei den ersten beiden Stufen kraftvoll aufliegen, um die Wirbelsäule nicht zu verletzen.
Die Hyperextension des Beins kann hierbei durch Rotationsbelastung Schmerzen in den kleinen Wirbelgelenken auslösen.
Neurologische Untersuchung Durch die neurologische Untersuchung wird das Vorhandensein von sensomotorischen Ausfällen sowie Reflexverstärkungen, -abschwächungen oder -ausfällen geprüft. Beim Prüfen der
22
404
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Auch in der Perianalgegend muss die Hautsensibilität geprüft werden, um eine Reithosenanästhesie beim Kaudasyndrom nicht zu übersehen. Fragen nach Kribbelparästhesien oder Missempfindungen sind hilfreich, können aber nicht objektiviert werden. Die Prüfung der Muskelkraft bewertet sowohl am einzelnen Muskel als auch an Muskelgruppen den Ruhetonus und die maximale Anspannung im Seitenvergleich. Die Abstufung der Muskelkraft in Kraftgrade (KG) von V bis 0 hat sich bewährt: ▬ KG V= volles Bewegungsausmaß gegen starken Widerstand, unauffällige Kraft ▬ KG IV= volles Bewegungsausmaß gegen leichten Widerstand ▬ KG III= volles Bewegungsausmaß gegen die Schwerkraft ▬ KG II= volles Bewegungsausmaß ohne Einwirkung der Schwerkraft ▬ KG I= sicht- bzw. tastbare Aktivität, Bewegungsausmaß nicht vollständig ▬ KG 0= komplette Lähmung, Ausfall
22
a
b
c ⊡ Abb. 22.3a-c Dreistufenhyperextensionstest zur Differenzierung von Hüft-, ISG- und LWS-Beschwerden. a Erste Stufe, b zweite Stufe, c dritte Stufe
Sensibilität betastet der Untersucher beide Extremitäten entlang
des Dermatoms der zu untersuchenden Nervenwurzel. Dabei können Sensibilitätsstörungen wie Hypästhesien, Anästhesien oder Dysästhesien im Seitenvergleich festgestellt werden. Tipp
I
I
Wir empfehlen zur Prüfung der Algesie die Verwendung von Kanülen oder ein Nadelrad.
Die Reflexprüfungen zeigen neurologische Defizite an den Extremitäten (⊡ Tab. 22.1). Der Bizepssehnenreflex (BSR) wird durch das Beklopfen der Bizepssehne am proximalen Unterarm ausgelöst. Reflexerfolg ist eine Beugung des Unterarms. Der Trizepssehnenreflex (TSR) wird durch Schlag auf die distale Trizepssehne am Oberarm bei angewinkeltem Unterarm getestet, es folgt eine Streckung des Unterarms. Der Radiusperiostreflex (RPR) wird durch das Beklopfen der distalen Radiuskante ausgelöst, wodurch eine leichte Beugebewegung des Unterarms resultiert. Die Reflexe sollen seitengleich und lebhaft auslösbar sein. Für den Patellarsehnenreflex (PSR) wird bei angewinkeltem Bein der Punkt zwischen Patellaunterkante und Tibiavorderkante beklopft, das Bein wird bei der Reflexantwort etwas gestreckt. Die Sehne des M. tibialis posterior zieht dorsal und distal vom Malleolus medialis zum Os naviculare sowie den Ossa cuneiformia und Ossa metatarsalia. Durch Beklopfen der Sehne im Bereich des Malleolus medialis lässt sich der Tibialis-posterior-Reflex (TPR) auslösen. Der Achillessehnenreflex (ASR) wird getestet, indem der Fuß des Patienten dorsal flektiert und somit eine Vorspannung der Sehne erzeugt wird. Mit dem Reflexhammer wird durch Beklopfen der Achillessehne die Reflexantwort ausgelöst. Dabei wird der Fuß nach plantar flektiert. Nervendehnungstests an der unteren Extremität üben Zug auf die lumbalen Spinalnerven aus. Sind diese, z. B. durch einen Diskusprolaps, schmerzhaft gereizt, so löst der Zug ein typisches Schmerzbild im Nervenverlauf aus. Beim Femoralisdehnungstest (umgekehrter Lasègue) wird in Bauchlage das im Kniegelenk gebeugte Bein im Hüftgelenk hyperextendiert, es resultiert Zug auf den N. femoralis und somit auf die Nervenwurzeln L3 und L4, weniger auch auf L1 und L2. Ein positiver Test zeigt ein Schmerzband an der Vorderseite des Oberschenkels bis zum oder knapp unterhalb des Kniegelenks. Lokale Hüftgelenks- oder ISG-Beschwerden sprechen gegen eine Nervenwurzelirritation. Das Lasègue-Zeichen (⊡ Abb. 22.4) wird in Rückenlage geprüft. Das gestreckte Bein wird vom Untersucher langsam
405 22.1 · Diagnostik
⊡ Tab. 22.1 Wurzelreizsyndrome. (Nach Krämer 2006) Nervenwurzel
Peripheres Dermatom
Kennmuskel
Reflexabschwächung
C5
Schulter
M. deltoideus
Bizepssehnenreflex
C6
Daumen, Teil des Zeigefingers
M. biceps, M. brachioradialis
Bizepssehnen-, Radiusperiostreflex
C7
Zeige- und Mittelfinger, Teil des Ringfingers
Daumenballen, M. triceps, M. pronator teres
Trizepssehnenreflex
C8
Kleinfinger, Teil des Ringfingers
Kleinfingerballen, Fingerbeuger
Trizepssehnenreflex
L1/L2
Leistengegend
M. iliopsoas
–
L3
Vorderaußenseite Oberschenkel
M. quadriceps
Patellarsehnenreflex
L4
Vorderaußenseite Oberschenkel, Innenseite Unterschenkel und Fuß
M. quadriceps
Patellarsehnenreflex
L5
Außenseite Unterschenkel, medialer Fußrücken, Großzehe
M. extensor hallucis longus
Tibialis-posterior-Reflex
S1
Hinterseite Unterschenkel, Ferse, Fußaußenrand, 3.–5. Zehe
M. triceps surae, Glutäen
Achillessehnenreflex
Zervikal
Lumbal
a
angehoben. Bei einem positiven Test gibt der Patient beim Anheben einen rasch einschießenden Schmerz in das Bein entlang des der Nervenwurzel zugeordneten Dermatoms an. Der Winkelgrad der Beinstellung lässt sich abschätzen und ist ein Maß für die Schwere einer Wurzelaffektion. Bei einem akuten Discusprolaps sind Werte unter 30° typisch. Abzugrenzen sind Schmerzen durch Faserdehnung der ischiokruralen Muskulatur mit Schmerzen an der Oberschenkelrückseite und Kniekehle bei Anheben des Beines über 70°, lokale Rückenschmerzen oder Hüftprobleme. Je nach Sitz des verlagerten Bandscheibengewebes kann der Schmerz auch durch Anheben des gegenüberliegenden, nicht betroffenen Beins ausgelöst oder intensiviert werden (kontralaterales Lasègue-Zeichen). Dies ist häufig der Fall, wenn der Prolaps medial liegt und von kaudal auf die Nervenwurzel drückt. Zur Bestätigung des Lasègue-Tests kann der Bragard-Test (⊡ Abb. 22.4) direkt in Folge durchgeführt werden. Während dieser Untersuchung bewegt man den Fuß des Patienten in Dorsalextension, um eine zusätzliche Dehnung des N. ischiadicus um etwa 1–2 cm zu provozieren. Kann die Unterhaltung mit dem Patienten hierbei normal durchgeführt werden, so ist kein radikuläres Lumbalsyndrom anzunehmen.
22.1.3
b
⊡ Abb. 22.4a,b Nervendehnungstests. a Lasègue-Zeichen, b BragardZeichen. (Aus: Wottke 2004)
Bildgebende Verfahren
Neben den anamnestischen Angaben der Patienten, der klinischen Untersuchung und der laborchemischen Diagnostik sind bildgebende Verfahren für die Diagnostik und Therapieplanung sowie für Verlaufskontrollen von Erkrankungen der Wirbelsäule unabdingbar. In der bildgebenden Diagnostik der Wirbelsäule kommen konventionelles Röntgenbild, Diskographie, Myelographie, Szintigraphie, Computertomographie und Magnetresonanztomographie zum Einsatz.
22
406
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Konventionelles Röntgenbild
22
Jede bildgebende Diagnostik sollte mit einem konventionellen Röntgenbild beginnen. Die Röntgendiagnostik der Wirbelsäule erlaubt sowohl die Beurteilung der knöchernen Strukturen als auch teilweise die der Weichteile. Bei bandscheibenbedingten Erkrankungen dient das konventionelle Röntgenbild der Wirbelsäule vorwiegend zum Ausschluss anderer Erkrankungen. Zur Erhebung eines statikrelevanten Befundes empfiehlt es sich bei der Röntgendiagnostik, Fehlstellungen wie Rotationsfehlstellungen, Seitabweichungen und Achsenasymmetrien der Wirbelsäule nicht auszugleichen. Um den Einfluss eines haltungskorrigierenden Ansatzes festzustellen, sollte eine Röntgenaufnahme mit Haltungskorrektur erst im zweiten Schritt erfolgen.
Kraniometrie Zur Erkennung von Variationen, Fehlbildungen oder Erkrankungen im Bereich des kraniovertebralen Übergangs sind zahlreiche Messmethoden etabliert. Besonders wichtig sind genaue Messungen bei Platybasien, kondylären Hypoplasien, basiläre Impressionen und rheumatisch oder traumatisch bedingten Wirbeldislokationen.
Entwicklungs- und projektionsbedingte Variationen der Messpunkte und Bezugslinien wie Asymmetrie der Warzenfortsätze, variable Lage des harten Gaumens, verschiedene Ausbildungen der hinteren Schädelgrube, Unterschiede der Denslänge und Positionierung zum Atlas oder die Höhe der Massa lateralis sowie der Okzipitalkondylen haben starke Schwankungsbreiten des Normalkollektivs zur Folge. Deswegen sollten mehrere Messmethoden gleichzeitig zur Kontrolle angewendet werden. In einer Studie von Riew et al. (2001) konnte mit den in ⊡ Tab. 22.2 genannten Messungen im konventionellen Röntgenbild bei 6% von 131 Patienten mit rheumatoider Arthritis eine basiläre Impression nicht erkannt werden. Es ist daher zu empfehlen, bei unsicherem Befund im konventionellen Röntgenbild weitere bildgebende Verfahren wie CT und MRT durchzuführen. Die in ⊡ Abb. 22.5 und ⊡ Tab. 22.2 dargestellten Bezugslinien und Winkelbestimmungen sind für die praktische Diagnostik am a.p.-Röntgenbild geeignet. Kraniometrische Bezugslinien und Winkelbestimmungen am seitlichen Röntgenbild sind in ⊡ Abb. 22.6 und ⊡ Tab. 22.3 dargestellt.
⊡ Tab. 22.2 Messlinien im a.p.-Röntgenbild Nomenklatur
Definition
Normale Messwerte
Bimastoidlinie
Verbindung der Spitzen der Proc. mastoidae
Densspitze bis maximal 10 mm oberhalb
Biventerlinie
Verbindung der Incisurae mastoideae
Wird von der Densspitze nicht überschritten
Kiefergelenk-AtlasbogenAbstand
Abstand zwischen der Horizontalen durch die Kiefergelenke und dem oberen Rand des vorderen Atlasbogens
22–39 mm, im Mittel 30 mm
Atlantookzipitaler Gelenkachsenwinkel
Schenkel verlaufen durch die Mitte der Atlantookzipitalgelenke etwa parallel zur Kondylengelenkfläche
Im Mittel 124–127°
⊡ Tab. 22.3 Messlinien und Winkel im seitlichen Röntgenbild Nomenklatur
Definition
Normale Messwerte
McGregor-Linie
Verbindungslinie von der oberen Hinterkante des harten Gaumens zum tiefsten Punkt der Hinterhauptschuppe
Densspitze nicht mehr als 5 mm oberhalb dieser Linie
McRae-Foramen-magnumLinie
Verbindung vom Vorderrand (Basion) zum Hinterrand des Foramen magnum (Opisthion)
Densspitze überragt diese Linie nicht
4 II
III 3
I 2
1 IV ⊡ Abb. 22.5 Messlinien im a.p.-Röntgenbild. I Bimastoidlinie, II Biventerlinie, III KiefergelenkAtlasbogen-Abstand, IV atlantookzipitaler Gelenkachsenwinkel, 1 Proc. mastoidae, 2 oberer Rand des vorderen Atlasbogens, 3 Incisurae mastoideae, 4 Kiefergelenk
407 22.1 · Diagnostik
Mc Rae-Foramenmagnum-Linie
Palatum durum Mc GregorBasallinie Dens axis
⊡ Abb. 22.6 Messlinien und Winkel im seitlichen Röntgenbild
Diskographie Mit der Diskographie ergeben sich durch Einspritzen von Kontrastmittel in den Bandscheibeninnenraum Hinweise auf degenerative Bandscheibenerkrankungen. Ein lumbales Diskogramm wird nach Krämer (2006) nur dann im Hinblick auf eine Operationsindikation als positiv gewertet, wenn sich das Kontrastmittel bei Ruptur des Anulus fibrosus dorsal in den Epiduralraum entleert (Reflux) oder wenn sich ein Bandscheibensequester (Tissue-Sequester) im Bereich des dorsalen Anulus fibrosus zeigt. Alle anderen Diskographien werden als negativ bewertet. Das Diskogramm wird hinsichtlich der Kontrastmitteldarstellung dahingehend ausgewertet, ob ein operationsbedürftiger Bandscheibenprolaps vorliegt oder nicht. Unter dieser Vorgabe erhöht sich die diagnostische Treffsicherheit der lumbalen Diskographie auf 83%. > Wegen ihrer speziellen Aussage über die Rupturierung des Anulus fibrosus sowie zur Lage und Größe eventuell nach dorsal verlagerter Bandscheibensequester stellt die Diskographie in vielen Fällen eine wertvolle Ergänzung zu Myelogramm, CT oder MRT dar.
Über die radiologisch-optischen Befunde hinaus erhält man bei der Diskographie weitere Informationen über das Krankheitsgeschehen. So geben Injektionsandruck und injizierbare Flüssigkeitsmenge bei geschlossener Bandscheibe einen Hinweis, wie groß das Hohlraumsystem im Bandscheibeninnenraum ist bzw. wie weit die Bandscheibe degeneriert ist. Während der Injektion in die betroffene Bandscheibe kommt es im Allgemeinen auch zur Reproduktion oder Intensivierung der typischen Schmerzausstrahlung. Mit der Bestätigung des Patienten, dass genau der Schmerz provoziert wird, der seine Beschwerdesymptomatik prägt (»memory pain«), können differenzialdiagnostische Abgrenzungen vorgenommen werden.
Myelographie CT und MRT sind neben dem konventionellen Röntgenbild führende diagnostische Maßnahmen bei den meisten Wirbelsäulenerkrankungen. Untersuchungen mit Kontrastmitteln in Form der konventionellen Myelographie sind nach Reichelt (1993) in den Hintergrund gerückt. Diese wird meist nur noch ergänzend eingesetzt. Indikationen für eine Myelographie sind unklare Befunde im CT und MRT oder wenn die Durchführung eines CT oder MRT nicht möglich ist. Unter Myelographie wird die Kontrastdarstellung des spinalen Subarachnoidalraums verstanden. Mit Röntgenbildern im a.p.- und seitlichen Strahlengang durch die beiden Schrägaufnahmen oder im CT lässt sich eine ausreichend verlässliche Aussage darüber machen, ob ein raumverdrängender Prozess am lumbalen Wirbelkanal vorliegt oder nicht. Den diagnostisch wichtigen Teil der lumbalen Myelographie stellt die Auffüllung der Nervenwurzeltaschen mit Kontrastmittel dar. Aus der Darstellung der Wurzeltaschen ergeben sich indirekt wichtige Hinweise für die Lage, den Verlauf sowie Irritationen der Spinalnerven. Von einer Eindellung und Verdrängung der Wurzeltasche bis zur kompletten Kompression ohne Kontrastmittelauffüllung der Wurzeltasche oder des Duralsacks sind alle Übergänge möglich. > Bei der Darstellung der Wurzeltasche sind Höhe der Abzweigung vom Duralsack, Länge und peripherer Abschluss bei der Darstellung der Wurzeltasche von großer Bedeutung.
Szintigraphie Die Szintigraphie stellt die lokale Verteilung eines applizierten Radiopharmazeutikums im Körper bildlich dar. Unter einer statischen Szintigraphie wird die Abbildung einer abgeschlossenen oder vorübergehend konstanten Radionuklidverteilung verstanden. Eingesetzt werden Gammakameras, die entweder in planarer oder tomographischer Single-Photon-EmissionsCT-Technik (SPECT-Technik) messen und aufnehmen. Neben dem positiven Kontrast (Befund speichert vermehrt) wird auch der negative Kontrast (Befund speichert vermindert) in der Diagnostik von Skelettmetastasen, Knochennekrosen, Osteosklerosen oder Entzündungen an der Wirbelsäule gesucht und bewertet. Die regionale Anflutung jedes Radiopharmazeutikums kann unmittelbar nach der i.v.-Injektion durch die Mehrphasenszin-
22
408
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
tigraphie sequenziell abgebildet werden. Die Mehrphasenszintigraphie gilt als sensitiveres Verfahren. Bei der Dreiphasenszintigraphie erfolgen Aufnahmen während der Anflutung 0,5–2 min p.i., der stationären Phase 2–5 min p.i. sowie der Abflutung des Radiopharmazeutikums. In der dritten Phase der Szintigraphie werden 60–240 min p.i. sogenannte spätstatische Szintigramme erstellt. Eine hohe Floridität bei Spondylitiden geht mit massiver Anreicherung in den frühen Phasen der Mehrphasenskelettszintigraphie einher. Eine abschätzende Klassifizierung regionaler Spondylitiden in chronische, subakute oder akute Prozesse ist daher möglich. Bei unklaren Befunden werden zum Nachweis von Entzündungen markierte Granulo- bzw. Leukozyten in der Mehrphasentechnik eingesetzt (Leukozytenszintigraphie). Wirbelfrakturen speichern ab 4–7 h nach Verletzung vermehrt. Eine Fraktur an der Wirbelsäule kann ausgeschlossen werden, wenn später als eine Woche nach dem Ereignis keine spätstatische Mehranreicherung nachweisbar wird. Osteosynthesematerial zeigt bei regelrechtem Sitz nach ossärer Integration keine Mehrspeicherung. Bei primären Knochentumoren können die Befunde der Mehrphasenszintigraphie hinzugezogen werden. Die Einteilung des Verhaltens der betroffenen ossären Region während der Mehrphasenszintigraphie kann hinweisend auf Art und Dignität sein. Sie gestattet auch die Erkennung eines Therapieeinflusses. Wirbelsäulenmetastasen imponieren szintigraphisch als mehr-, gleich- oder minderspeichernd. Osteolysen, die vermehrt speichern, enthalten meist reichlich Knochengrundsubstanz, die rasch reossifizieren kann. Bei degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule findet sich eine subchondrale bzw. osteophytäre Mehrspeicherung. Dadurch entsteht ein typisches Verteilungsmuster, das Hinweise für eine Artdiagnose gibt. Spondylose oder Spondylisthesis als Ursache chronischer Rückenschmerzen sind in der Regel mit fokalen Anreicherungen in der Pars interarticularis vergesellschaftet. Als Nachteil kann die geringe Spezifität szintigraphischer Verfahren gesehen werden. Bei einem Herdnachweis ist die endgültige Differenzierung weder zwischen entzündlichen, neoplastischen oder traumatischen Geschehen noch zwischen spezifischer oder unspezifischer Spondylitis möglich. Erst seit kurzer Zeit hat die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) Verwendung in der Beurteilung von Erkrankungen des Skeletts gefunden. Dabei wird die Aktivitätsverteilung inkorporierter Positronenstrahlung emittierender Radiopharmaka (z. B. instabile Fluorisotope) computertomographisch aufgezeichnet. > Nach Schmitz et al. (2002) bietet die PET im Vergleich zu anderen nuklearmedizinischen Verfahren eine hohe Sensitivität bei schneller Bildgebung und hoher räumlicher Auflösung.
Die PET kann ergänzend bei der Diagnostik von Infektionen, Tumoren oder Frakturen der Wirbelsäule eingesetzt werden. Bei der Diagnostik der Spondylitis wird eine Sensitivität von nahezu 100% beschrieben. Vorteil der PET ist dabei die hohe Ortsauflösung von etwa 5 mm, sodass zwischen Knochenent-
zündung und Weichteilprozess unterschieden werden kann. Für primäre Knochentumoren kann die PET zur Differenzierung von benigenen und malignen Prozessen angewendet werden.
Computertomograpie Es handelt sich hierbei um Röntgenschichtaufnahmen in der Transversalebene. Eine um den Körper kreisförmig rotierende Röntgenröhre nimmt schichtweise Bilder auf, die computergestützt zusammengesetzt werden. Die CT kann zur Diagnostik des Bandscheibenvorfalls, spinaler Tumoren, des engen Spinalkanals unterschiedlicher Ätiologie, spinaler Traumen sowie entzündlicher Prozesse der Wirbelsäule eingesetzt werden. Im Gegensatz zur MRT werden dabei hauptsächlich die knöchernen Strukturen beurteilt. Vorteil dieser nicht invasiven Methode ist nach Krämer (2006) die direkte Beurteilung von Form und Weite des Spinalkanales. Mit der quantitativen Computertomographie (QCT) kann die wahre volumetrische Knochendichte trabekulären und kortikalen Knochens separat und an jeder skelettalen Lokalisation bestimmt werden. Am axialen Skelett hat die QCT aufgrund der hohen Empfindlichkeit des trabekulären Knochens im vertebralen Zentrum gegenüber osteoporotischen Veränderungen weite klinische Akzeptanz gefunden. Präzision und Genauigkeit der QCT am axialen Skelett sind nach Prevrhal und Genant (1999) niedriger als die entsprechenden Werte anderer densitometrischer Verfahren. Durch dreidimensionale Rekonstruktionen im CT, d. h. die räumliche Darstellung von anatomischen Strukturen, werden z. B. komplizierte Läsionen an Wirbelsäule oder Becken anschaulicher dargestellt. Hierdurch können operative Eingriffe genauer geplant werden. Tipp
I
I
Damit die CT-Schichten parallel zu den Wirbelkörpern und Bandscheiben liegen, muss die LWS möglichst entlordosiert eingestellt werden. Dies wird durch Unterlagerung des Knies erreicht. Durch die entstandene Hüftbeugung entwickelt sich eine Beckennormalstellung.
Eine pysiologische LWS-Lordose wird dadurch ermöglicht. Da im Segment L5/S1 dieser Lordoseausgleich nicht ausreicht, kann hier zusätzlich die Röntgenschichtebene um 20° gekippt werden (Gantry-Kippung). Die begrenzte Gantry-Kippung führt manchmal zur ungenauen parallelen Einstellung der Segmente, was einen Nachteil der Computertomographie darstellt.
Magnetresonanztomographie Wie bei Luterbey und Layer (1997) berichtet, zeichnet sich die Magnetresonanztomographie gegenüber den Röntgenverfahren dadurch aus, dass die Kontrastgebung nicht von der Dichte des Stoffes, sondern von seinem Gehalt an Wasserstoffprotonen abhängt. Sie werden in erster Linie zur Bildgebung herangezogen, wodurch keine nachweisbare Belastung durch Röntgenstrahlen für den Patienten besteht. Die unterschiedlichen Relaxationszeiten spiegeln die Variabilität des biochemischen Milieus wieder.
409 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
Die T1-Relaxationszeit beschreibt die Rückkehr des Kernspins nach dem Hochfrequenzimpuls in die Gleichgewichtsverteilung. Die Spin-Spin-Relaxationszeit T2 ist die Zeitkonstante des Abfalls der Quermagnetisierung. Je nach Überwiegen einer Relaxationszeit wird von T1- oder T2-gewichteten Bildern gesprochen. Erhöhter extrazellulärer Wassergehalt führt auf T1-gewichteten Bildern zur Hypointensität (geringes Signal = schwarz), auf T2-gewichteten Bildern zur Hyperintensität (hohes Signal = hell). Die Gabe des Kontrastmittels Gadolinium-DTPA (DTPA = Diethylentriaminoentaessigsäure) führt auf T1-gewichteten Bildern zu einer ausgeprägten Signalverstärkung. Durch die fettunterdrückende STIR-Sequenz (STIR = »short time inversion revovery«) ist insbesondere die Differenzierung von fetthaltigem und flüssigkeitsreichem Gewebe möglich. Das CT der Wirbelsäule ist heute nur noch bei traumatischen Veränderungen sinnvoll oder wenn ein MRT nicht durchgeführt werden kann. Alle anderen Fragestellungen, insbesondere die Beurteilung der Bandscheibenstrukturen, sind Indikationen zur MRT. Bei Wirbelsäulenfrakturen ist das MRT besonders zur Beurteilung des Alters der Fraktur und bei möglichen Weichteilverletzungen sinnvoll einzusetzten.
22.2
Erkrankungen der Wirbelsäule
⊡ Abb. 22.7 Hemisakralisation links
vertebralen Übergangsregion und bei der Segmentzuordnung erlangen. z z Bildgebende Verfahren
O. Linhardt, J. Götz, T. Renkawitz
22.2.1
Wirbelsäulenvariationen
Sind die Standardaufnahmen in 2 Ebenen nicht ausreichend, so empfiehlt sich eine Zielaufnahme oder eine Computertomographie. z
z
Definition
Variationen treten besonders im Bereich der ersten beiden Halswirbel sowie in den Übergangsbereichen von zervikal nach thorakal, thorakal nach lumbal oder lumbal nach sakral auf. Variationen werden deshalb als Übergangswirbel bezeichnet. Übergangswirbel sind Wirbel an den Abschnittsgrenzen, die die Form und den Charakter der angrenzenden Wirbelregion haben. Typische Beispiele sind rippentragende Halswirbel oder Lendenwirbel, die Sakralisation des 5. Lendenwirbels (⊡ Abb. 22.7) oder die Lumbalisation des 1. Sakralwirbels. Übergangswirbel stellen keine Fehlbildung dar. > Variationen kommen bei der Segmentation des Achsenorgans in der Fetalperiode durch Kranial- oder Kaudalverschiebung zustande. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Übergangswirbel sind in der Regel symptomfrei. Sie können jedoch eine mehr oder weniger ausgeprägte Veränderung der Wirbelsäulenstatik bewirken. Daraus folgen asymmetrische Belastungen der Bandscheibe. Deshalb können diese Variationen als prädiskotische Deformitäten angesehen werden, bei denen sich das Risiko für die Entwicklung degenerativer Erkrankungen erhöht. Des Weiteren können Übergangswirbel klinische Bedeutung durch Einengung (Skalenussyndrom) in der kranio-
Therapie
Asymptomatische Patienten bedürfen keiner Therapie. Beim Auftreten von Beschwerden in Kombination mit degenerativen Prozessen sind die generellen Behandlungskonzepte bei degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule ( Abschn. 22.2.9) indiziert. Bei symptomatischen Hals- und Lendenrippen, die eine Beschwerdepersistenz unter konservativer Therapie zeigen, kann eine Resektion der Rippen durchgeführt werden.
22.2.2 z
Wirbelsäulenfehlbildungen
Definition
Bei Fehlbildungen handelt es sich im Gegensatz zu Variationen um individuelle und primäre Differenzierungs- und Entwicklungsstörungen der embryonalen Anlage. Die Ursachen der Wirbelfehlbildungen sind nicht einheitlich. Neben erblichen Faktoren und Genmutationen spielen offenbar auch exogene Faktoren eine Rolle. Sowohl der Wirbelkörper als auch der Wirbelbogen kann betroffen sein, wobei schematisiert v. a. Block-, Keil- und Halbwirbel sowie Bogenspalten auftreten können. Die klinische Bedeutung von Fehlbildungen der Wirbelsäule ist vielschichtig. Statische Fehler des Achsenorgans wie Kyphose, Skoliose, Schiefhals, Beckenschiefstand oder dysproportionierter Kleinwuchs können dadurch verursacht werden. Durch asymmetrische Bealstungen steigt das Risiko für die frühzeitige Entstehung degenerativer Erkrankungen.
22
410
z
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Klassifikation
Bei der Klassifikation von Wirbelsäulenfehlbildungen kann zwischen Segmentations-, Formationsstörungen oder kombinierten Fehlbildungen unterschieden werden. Segmentationsstörungen
Bei Segmentationsstörungen wird der Bandscheibenzwischenraum nicht angelegt, und es fehlen dann auch an der entsprechenden Stelle die Wachstumsfugen. Das Fehlen des Bandscheibenzwischenraums wird als Blockwirbel bezeichnet. Fehlt die Segmentation nur in einem bestimmten Bereich der Wirbelkörper, so handelt es sich um eine unsegmentierte Spange. Diese Spange liegt meist anterolateral, sie kann aber auch seitlich, ventral oder dorsal lokalisiert sein (⊡ Abb. 22.8). Auch die zugehörigen Bögen, Gelenkfortsätze und Dornfortsätze können miteinander verschmolzen sein. Dies scheint überwiegend in der Zervikalregion vorzukommen. Häufig ist zwischen den Blockwirbeln eine rudimentäre Bandscheibenanlage als schmaler, von einem dünnen Sklerosesaum umgrenzter Spalt erkennbar. Hierdurch unterscheiden sich die kongenitalen von erworbenen Blockwirbeln, die z. B. durch eine Spondylitis entstehen. Eine Skoliose in der Folge einer einseitigen Segmentationsstörung zeigt die stärkste Progression von allen kongenitalen Wirbelsäulendeformitäten. Es ist nicht ungewöhnlich, dass diese Patienten eine schwere Krümmung bereits bei der Geburt aufweisen und bis zum Wachstumsabschluss eine Progression bis zu 100° oder mehr zeigen. Formationsstörung Bei Keilwirbeln handelt es sich um einen einseitig dysplastisch
ausgebildeten Wirbelkörper. Das komplette Fehlen einer Wirbelseite wird als Halbwirbel bezeichnet. Der Defekt kann dabei seitlich, dorsal oder ventral gelegen sein. Beim Fehlen des mittleren Abschnitts des Wirbelkörpers liegt ein Schmetterlingswirbel vor. Der verbleibende Teil des Wirbels kann normale Wachstumsfugen zeigen oder mit dem benachbarten Wirbel fusioniert sein, was als inkarzerierter Halb- oder Keilwirbel bezeichnet wird (⊡ Abb. 22.8 u. ⊡ Abb. 22.9)
a
b
d
f
⊡ Abb. 22.8a–f Wirbelsäulenfehlbildungen. a Ventrale Segmentationsstörung, b laterale Störung, c beidseitige Störung (Blockwirbel), d vordere Fehlbildung, e anterolaterale Störung, f Halbwirbel
Kombinierte Fehlbildungen
Nicht selten sind Formations- und Segmentationsstörungen kombiniert vorhanden. Besonders häufig findet sich eine anterolaterale unsegmentierte »Spange«, kombiniert mit einem gegenüberliegenden Halbwirbel. Diese Kombination ist prognostisch sehr ungünstig. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die allgemeine Untersuchung der Patienten mit angeborenen Fehlbildungen unterscheidet sich kaum von den Wirbelsäulendeformitäten anderer Ursache. Wesentlich erscheint jedoch die gründliche Untersuchung in Bezug auf folgende Punkte: ▬ neurologische Defizite ▬ Darm- und Blasendysfunktion ▬ Ganganomalien ▬ Beinlängendifferenzen ▬ Fußdeformitäten
e
c
⊡ Abb. 22.9 Vordere Fehlbildung der Wirbelsäule
411 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
▬ Hautveränderungen ▬ Körperasymmetrien ▬ Zeichen einer Myelomeningozele
gar nicht beeinflusst werden. Korsette können für eine Übergangszeit zur Kontrolle von kompensatorischen Krümmungen von Nutzen sein. Für die kongenitale Deformität ist jedoch eine operative Behandlung notwendig (Matussek et al. 2004).
z z Bildgebende Verfahren
Die Klassifikation von Fehlbildungen ist auf quantitativ sehr hochwertige Röntgenbilder angewiesen. Diese sind nicht nur für die Diagnostik wichtig, sondern auch für die Ausgangssituation zur Beurteilung der Progression bei den weiteren Röntgenkontrollen. Sowohl Ziel- als auch Schrägaufnahmen können in der Darstellung von Zonen mit Anomalien hilfreich sein. Bending-Aufnahmen sind bei kongenitalen Kyphosen und Skoliosen zur Bestimmung der Flexibilität und der kompensatorischen Krümmung sowie für die weitere Therapieplanung wichtig. Tipp
I
I
Zur Diagnostik von Fehlbildungen kann zusätzlich zur Nativröntegenaufnahme ein CT oder MRT notwendig werden.
z
z z Operative Therapie
Optimale Operationsresultate werden bei kongenitalen Wirbelsäulenfehlbildungen erzielt, wenn die Korrekturoperation vor Eintritt größerer Deformitäten durchgeführt wird. Ein möglichst frühzeitiger Termin bei noch weniger schweren Deformitäten vor Abschluss der Skelettreife ist anzustreben (⊡ Tab. 22.4).
Dysrhaphie z
Definition
Die Fehlbildungen dieser Gruppe beruhen auf einer Störung des Schließmechanismus einzelner oder mehrerer Wirbelbogenanlagen. Der Formenreichtum hinterer Bogenspalten ist groß und reicht von ausgedehnten Bogendefekten mit Missbildungen des Rückenmarks und der Cauda equina bis zur einfachen Dornfortsatzspalte.
Therapie
Das Ziel jeder Behandlung der kongenitalen Kyphose und Skoliose bei Fehlbildungen ist die Prävention einer Kurvenprogression im frühen Stadium. Die operative Therapie sollte erfolgen, bevor die Deformität nicht mehr akzeptabel ist und die Korrektur dann meist sehr risikoreich und schwierig wird. Im Allgemeinen weisen kongenitale Verkrümmungen im Gegensatz zu den ideopathischen eine deutliche Progression auf. Weiterhin ist die Verkrümmung meist rigide und kontrakt, einhergehend mit hohen neurologischen Risiken und oft massiven sekundären Ausgleichsverkrümmungen. z z Konservative Therapie
Da die Krümmung meist eine geringe Flexibilität aufweist und durch abnormales Wachstum bedingt ist, kann die Progredienz der Hauptkrümmung durch Orthesen, Krankengymnastik, Traktion oder auch Elektrostimulation nur unbefriedigend oder
z
Klassifikation
Die schwerste Form ist die Spina bifida aperta (Synonym: Rhachischisis, Arhaphie). Hierbei besteht ein durchgehender, breiter, offener und nicht überhäuteter rinnenförmiger Rückenmarkkanal. Auf dessen Grund liegt die Medullarplatte frei. Häufig besteht eine Anenzephalie. Die Mehrzahl dieser seltenen Fälle ist nicht lebensfähig. Die Spina bifida cystica ist fast immer mit einer hernienartigen Vorwölbung von Rückenmarkhäuten, des Rückenmarks oder von Nervenwurzeln verbunden. Bei geringster Ausprägung liegt lediglich eine Ausstülpung der Rückenmarkhäute vor (Meningozele; ⊡ Abb. 22.10a). Das Rückenmark ist dabei nicht beeinträchtigt. Bei der Meningomyelozele sind Rückenmarkhäute, Rückenmark und Nervenwurzeln in die Zele verlagert (⊡ Abb. 22.10b) Die Myelozele (⊡ Abb. 22.10c) zeigt eine Verlagerung von Rückenmark und Nervenwurzeln in die Zele. Ent-
⊡ Tab. 22.4 Richtlinien für die Behandlung kongenitaler Kyphosen und Skoliosen nach Hefti (1997) Anomalie
Therapie
Keilwirbel, Schmetterlingswirbel, Blockwirbel
Konservative Therapie
Einfacher seitlicher Halbwirbel der mittleren, unteren BWS oder LWS
Lokale ventrale und dorsale Fusion bei eindeutiger Progredienz, bei fortgeschrittener Progredienz (Skoliosewinkel >50°) auch Hemivertebrektomie
Einfacher dorsaler Halbwirbel der mittleren, unteren BWS oder LWS
Hemivertebrektomie mit ventraler und dorsaler Fusion
Einfacher Halbwirbel der HWS, oberen BWS oder lumbosakral
Hemivertebrektomie mit ventraler und dorsaler Fusion
Doppelter Halbwirbel der gesamten Wirbelsäule
Hemivertebrektomie mit ventraler und dorsaler Fusion
Einseitige knöcherne Spange
Osteotomie von ventral, evtl. Keilosteotomie und dorsale Instrumentierung ggf. mit Korrektur
Einseitige knöcherne Spange und gegenseitige Halb-/Keilwirbel
Hemivertebrektomie und Osteotomie von ventral, kombiniert mit Halodistraktion sowie dorsale Fixation und Fusion in Korrekturstellung
Intraspinale Missbildung
Neurochirurgische Resektion
22
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
22
Myelon
⊡ Abb. 22.10a–c Spina bifida cystica. a Meningozele, b Meningomyelozele, c Myelozele
a Meningozele
b Meningomyelozele
c Myelozele
kaudalen Wurzeln führen. Diese Fehlbildung ist am häufigsten in den thorakalen und lumbalen Wirbelsäulenabschnitten zu finden. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
⊡ Abb. 22.11 Diastematomyelie: sagittale Spaltung des Rückenmarks
sprechend finden sich bei Meningomyelozelen und Myelozelen periphere neurologische Defekte. Unter einer Spina bifida occulta wird eine hintere Bogenspalte verstanden, die ohne Zelenbildung und ohne größere neurologische Ausfälle einhergeht. Muskulatur, Faszie und Haut sind fest über ihr geschlossen. Sie findet sich am häufigsten in der Lumbosakralregion. Manchmal besteht als äußeres Kennzeichen über der Bogenspalte eine lokale Hypertrichose. Als Abortivformen der Spina bifida occulta können isolierte Dornfortsatzspalten angesehen werden, die klinisch ohne Bedeutung sind. Die Diastematomyelie (⊡ Abb. 22.11) ist durch eine sagittale Spaltung des Rückenmarks definiert. Dessen Hälften sind durch ein fibröses, knorpeliges oder knöchernes Septum des Wirbelkanals voneinander abgeteilt. Diese Fehlbildung kann mit anderen Entwicklungsstörungen, wie Missbildungsskoliosen, Rippenanomalien, Schulterhochstand oder Myelozele einhergehen. Neurologische Ausfälle sind meist nur geringfügig. Die Verwachsung kann zur Schmerzausstrahlung in die
Die pränatale Diagnostik umfasst Ultraschalluntersuchungen, Fruchtwasseruntersuchungen, Bestimmung des α-Fetoproteins im Serum sowie eine Probeentnahme von Chorionzotten. Insbesondere die Ultraschalldiagnostik hat dazu geführt, dass bereits ausgeprägte Formen der Spina bifida intrauterin durch ein Team von Gynäkologen und Neurochirurgen operativ verschlossen werden können. Von der Myelomeningozele müssen Spaltmissbildungen ohne Befall des Rückenmarks (Meningozele, rein knöcherne Defekte) abgegrenzt werden. Bei diesen Patienten sind keine neurologischen Defekte zu erwarten. Bei der Myelomeningozele beeinflussen 3 Elemente die Entwicklung der Wirbelsäulendeformität: ▬ asymmetrische schlaffe Lähmung der Muskulatur ▬ Veränderungen des anatomischen Verlaufs der Muskulatur ▬ Formations-, Segmentations- und kombinierte Störungen der Wirbelkörperbildung Aufgrund dieser Veränderungen können neurogene, osteopathische oder kombinierte Skoliosen vorliegen. Neben Lähmungen werden auch Hypästhesie oder Anästhesie auf Höhe der Zele oder distal davon beobachtet. Die Sehnenreflexe sind meist vermindert oder erloschen. Es besteht eine Urin- oder Darminkontinenz. Die neurologischen Symptome sind meist stationär oder bessern sich in den ersten Lebensmonaten geringfügig. Eine narbige Adhäsion des Rückenmarks oder einzelner Wurzeln im Sinne eines Tethered-Cord-Syndroms wird häufig beobachtet, ist jedoch meist asymptomatisch. Nach operativer Korrektur der Rückenmarkadhäsionen kann sich die neurologische Symptomatik zurückbilden. z z Bildgebende Verfahren
Zu den radiologischen Charakteristika der Spina bifida zählen in der Sagittalaufnahme spindelförmige Aufweitungen des Rückenmarkkanals mit breitem Abstand der Bogenwurzeln, das Fehlen der Dornfortsätze und Defekte der hinteren Bogenanteile. Im seitlichen Röntgenbild kann das Fehlen der Dornfort-
413 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
sätze und Defekte der hinteren Bogenanteile ebenfalls erkannt werden. Zur genaueren Abklärung der Fehlbildung ist ein CT und MRT oder ggf. eine Myelographie notwendig. z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie von Wirbelsäulenfehlbildungen bei Spina bifida hat nur einen sehr begrenzten Handlungsspielraum. Zum einen ist es schwierig, einem Kind mit hyposensibler Haut ein Korsett anzupassen. Zum anderen limitiert eine etwaige Oberschenkel- oder Beckenorthese die Anpassung eines Korsetts an der Wirbelsäule. Die Korsettversorgung ist v. a. im Wachstumsalter bei der paralytischen Form der Skoliose in Bereichen von 20° bis 40° nach Cobb und eindeutiger Progredienz sinnvoll. Bei osteopathischen Kyphosen und Skoliosen oder sekundären Lordosen ist eine Korsettbehandlung wirkungslos. z z Operative Therapie
Bei der operativen Behandlung sollte zwischen dem Skolioseund Kyphosemanagement unterschieden werden. Skoliosemanagement
Die Indikation zur Operation besteht bei gehfähigen Kindern mit distalen Läsionen, bei denen durch eine fortschreitende schwere skoliotische Deformierung der Wirbelsäule die Gehfähigkeit wegen der zunehmenden Rumpfimbalance bedroht wird. Bei gehunfähigen Kindern ist die Indikation zur Operation gegeben, wenn durch eine rasch progrediente lumbale Skoliose aufgrund der zunehmenden Beckenschieflage eine vermehrte Imbalance beim Sitzen besteht. Tipp
I
I
Das optimale Alter zur Operation wird für Mädchen ab dem 10. und für Jungen ab dem 12. Lebensjahr gesehen.
Die Deformitäten der Spina-bifida-Patienten werden durch eine möglichst kurzstreckige, ventrale Fusion mit Ausschaltung der Wachstumsfugen operativ versorgt. Hierauf folgt die Aufrichtung der Skoliose durch ventrale Instrumentation, beispielsweise mit dem Zielke-Instrumentarium. Wegen der hohen Infektionsraten bei Patienten mit Spina bifida sollte man sich in den meisten Fällen auf den ventralen Zugang mit ventraler Instrumentation beschränken. In Fällen, in denen die ventrale Fusion alleine aufgrund einer starken Deformität oder schlechter Knochenqualität nicht ausreicht, wird eine zusätzliche dorsale, transpedikuläre Instrumentation notwendig. Bei gehfähigen Patienten sollte die Versteifung des lumbosakralen Übergangs vermieden werden. Kyphosemanagement
Die Hauptindikation für die operative Therapie bei Kyphosen sind wiederkehrende Hautulzerationen. Durch die Operation werden Ulzerationen vermieden und Korsette und Orthesen sind leichter anzupassen. Das Kind kann mit einer stabilisierten Wirbelsäule besser Sitzen. Eine Verbesserung der Funktionalität distal des Gibbus ist durch die Operation nicht zu erzielen.
! Cave Die Indikation zur Operation sollte aufgrund der hohen postoperativen Sterblichkeitsrate eng gestellt werden und sich prinzipiell auf die Problematik der Druckstellen konzentrieren.
Spezielle Fehlbildungen im Bereich der Okzipitozervikalregion Unter Atlasassimilation versteht man die Verschmelzung des Atlas mit dem Okziput. Diese Verschmelzung ist nur selten komplett. Meist besteht eine Synostose zwischen dem Vorderrand des Foramen occipitale magnum und dem vorderen Atlasbogen oder zwischen den Massae laterales und den Hinterhauptkondylen. Die Mehrzahl dieser Synostosen ist asymmetrisch und kann klinisch einen Schiefhals bewirken. Die Atlasassimilation wird häufig von neurologischen Komplikationen begleitet. Die wichtigste Veränderung der Okzipitozervikalregion ist die basiläre Impression. Hierunter wird die trichterförmige Einstülpung des Foramen occipitale magnum in die hintere Schädelgrube verstanden. Diese kann symmetrisch oder asymmetrisch sein. Die Kondylen des Os occipitale sind eingesunken. Bei der asymmetrischen Form besteht klinisch ein Schiefhals. Das Foramen occipitale magnum kann entrundet oder verzogen sein. Das äußere Erscheinungsbild kann ein Kurzhals sein. Primäre Ursachen der Fehlbildung sind angeborene Abnormalitäten, die häufig mit anderen Wirbelveränderungen kombiniert sind wie atlantookzipitale Fusion, Atlashypoplasie, dysrhaphische Störungen, Anomalien des Dens oder Kippel-FeilSyndrom. Die basiläre Impression tritt öfter zusammen mit der Atlasassimilation und der Arnold-Chiari-Anomalie auf. Diese beruht auf einem Tiefstand der Kleinhirntonsillen und einer Verschiebung der Medulla oblongata nach kaudal unterhalb des Foramen occipitale magnum. Außerdem ist häufig die Vergesellschaftung mit Syringomyelie beobachtet worden. Sekundäre Ursachen sind Erweichungen der Schädelbasis infolge einer Grundkrankheit wie Osteomalazie, Rhachitis, M. Paget, Osteogenesis imperfecta, rheumatoider Arthritis und M. Bechterew. > Die basiläre Impression kann ohne klinisch-neurologische Symptome bestehen. Erhebliche Bedeutung erlangt sie jedoch, wenn sich neurologische Ausfälle entwickeln.
Die radiologische Erkennung der basilären Impression erfolgt unter Verwendung bestimmter Hilfslinien, mit denen die Position der Spitze des Dens im Verhältnis zur Hinterhauptsbasis bestimmt wird ( Abschn. 22.1.3). Für die Darstellung des Foramen occipitale magnum, welche Einengungen, Verziehungen, Asymmetrien und knöcherne Defekte aufdecken soll, ist die axiale Röntgenaufnahme der Schädelbasis erforderlich. Als zusätzliche Methode kann die Computertomographie bei radiologisch und klinisch begründetem Verdacht angewandt werden. Unter Manifestationen des Okzipitalwirbels werden verschiedene Fehlbildungen an der Schädelbasis zusammengefasst, die aufgrund von Verknöcherungsstörungen im Bereich des Os occipitale entstehen. Es handelt sich dabei um verschiedene Kanten, Leisten und Vorsprünge in den Randzonen des Fora-
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414
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
men magnum. Seltene Verknöcherungen zwischen Atlas und Okziput kommen hinzu. Eine häufige Variante am Atlas stellt das Foramen arcuale dar. Es ist auf der seitlichen Röntgenaufnahme gut erkennbar und entsteht durch die Verknöcherung des Bandes, das den Sulcus arteria vertebralis atlantis kranial abschließt. Klinische Symptome sind nicht bekannt. Beim Os odontoideum ist die knöcherne Verschmelzung zwischen Dens und Axiskörper nicht eingetreten, und es verbleibt zwischen beiden Teilen eine fibröse Brücke. Diese kann sich mit der Zeit spontan oder durch Trauma lockern und in eine Pseudarthrose übergehen. Klinisch sind neurologische Symptome wie Ataxie, sensomotorische Ausfälle, Schmerzen im Nacken, Nystagmus und Doppelbilder beschrieben. Bei der Densaplasie findet sich ein rudimentärer, breiter, stummelförmiger Zahnfortsatz. Ist im sagittalen Röntgenbild nach der Aufnahmetechnik von Ottonello ein Os odontoideum oder eine Densaplasie festzustellen, so ist durch seitliche Funktionsaufnahmen bei Inklination und Reklination des Kopfes eine atlantoaxiale Instabilität auszuschließen. Eine solche Instabilität bedeutet eine starke Gefährdung gegenüber Traumen und bedarf der operativen Stabilisierung. Das Ossiculum terminale an der Densspitze stellt einen separaten, zusätzlichen Verknöcherungskern dar, der im Alter zwischen 3 und 11 Jahren beobachtet wird. Seine röntgenologische Darstellung ist schwierig. Eine klinische Bedeutung kommt dieser Veränderung nicht zu. Sie ist hauptsächlich von differenzialdiagnostischer Bedeutung gegenüber knöchernen Verletzungen des Dens. Die Aplasie des Axisbogens ist eine sehr seltene Anomalie. In der Literatur sind hierzu Formvarianten der Gelenkflächen des Axis, sagittale Bogenspalten des Axis sowie Defekte eines gesamten Axisbogens beschrieben. Ein zusätzliches CT kann zur genaueren Diagnostik hilfreich sein. Synostosen des Axis können den ganzen Wirbel, die Wirbelkörper isoliert oder Bögen und intervertebrale Gelenke betreffen. Häufig kommen Synostosen zwischen Axis und drittem Halswirbel vor, seltener zwischen Atlas und Axis. Sie haben hauptsächlich differenzialdiagnostische Bedeutung gegenüber Verschmelzungen nach Spondylitiden.
22.2.3 z
Spondylolyse und Spondylolisthesis
Definition
Die Unterbrechung des Isthmus, d. h. der Pars interarticularis des Wirbelbogens, wird als Spondylolyse bezeichnet. Charakteristisch ist die Lage der Spondylolyse, die sich radiologisch als Spalt zeigt: Sie findet sich im ventralen Teil des Isthmus, dicht an der Basis des Proc. articularis cranialis. Als Spondylolisthesis (⊡ Abb. 22.12) wird die Ventralverschiebung des Wirbelkörpers mit den Proc. articulares craniales bezeichnet, die durch eine ossäre Kontinuitätsunterbrechung oder eine Verlängerung der Pars interarticularis bedingt ist. Spondyloptose bezeichnet das komplette Abgleiten vor den darunter gelegenen Wirbel. Die Einteilung erfolgt nach Ur-
⊡ Abb. 22.12 Spondylolisthesis Grad 2 nach Meyerding
sachen: dysplastisch, spondylolytisch, degenerativ, traumatisch oder kongenital. z
Epidemiologie
Die Spondylolisthesis ist bei 2–4% der kaukasischen Bevölkerung anzutreffen, am häufigsten bei Eskimos (40%). Sie tritt häufig bei Leistungssportlern mit Hyperlordosebelastung der Lendenwirbelsäule (LWS) auf (Speerwerfer ca. 50%, Judokas, Kunstturner und Ringer 25%). Bei 80% der Patienten ist der LWK 5 betroffen, bei 15% der LWK 4. z
Äthiologie und Pathogenese
Bei der Entstehung der Spondylolyse spielen mechanische Faktoren eine Rolle. Bei repetitiven Traumen, insbesondere bei forcierter Extension, kann es zur Frakturierung der Pars interarticularis und somit zur Spondylolyse des Wirbelbogens kommen. Neben den mechanischen sind auch genetische Faktoren für die Entstehung einer Spondylolyse von Bedeutung. Insbesondere können Dysplasien im Bereich der Wirbelbögen, die familiär gehäuft vorkommen, zur Spondylolyse führen. Die Spondylolisthesis entsteht durch übermäßige Belastung. Vor allem bei hochgradigen Lordosen wird die Interartikularportion zwischen oberen und unteren Gelenkfortsatz allmählich zermürbt. Besonders berufliche oder sportliche Belastung der Lendenwirbelsäule mit Hyperextension kann zu solchen Erscheinungen führen. Selten handelt es sich um eine Fraktur beider Isthmen (Spondylolisthesis traumatica) oder eine entzündliche oder tumoröse Zerstörung der Interartikularportion (pathologische Spondylolisthesis). Etwa die Hälfte aller Lysen führt nicht zur Spondylolisthesis. Auch wenn die Lyse eine Voraussetzung für die Spondylolisthesis ist, so spielen weitere Faktoren eine Rolle, damit es zur Olisthesis kommt. Als Ursachen für das Einsetzen des Gleitprozesses bei bestehender Spondylolyse kann ein vergrößerter Kreuzbeinbasiswinkel oder eine Formänderung des Gleitwirbels sowie des Sakralwirbels verantwortlich sein. Eine trapezo-
415 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
ide Form des LWK 5 mit abgerundeter Sakralbasis bietet ideale Voraussetzungen für das weitere Abgleiten. Auch eine lokalisierte Wirbelinstabilität mit abnorm starker Beweglichkeit des betreffenden Wirbels, d. h. eine übermäßige Laxität des betreffenden Diskus sowie mangelnde muskuläre oder ligamentäre Stabilität kann für eine Spondylolisthesis verantwortlich sein. In etwa 70% der Fälle betreffen Lysis und Olisthesis den LWK 5. Es lässt sich feststellen, dass der Gleitprozess meist in der Kindheit und Adoleszenz erfolgt und dass er sich zwischen dem 20. und 25. Jahr stabilisiert. Mit muskulärer Verschlechterung kann es im weiteren Verlauf, oft nach dem 40. Lebensjahr, zu fortgeschrittenem Gleiten kommen. z
Klassifikation
Der Schweregrad des Gleitens wird nach Meyerding (1932) wiefolgt eingeteilt: ▬ Grad I: <25% ▬ Grad II: 25–50% ▬ Grad III: 51–75% ▬ Grad IV: >75%
⊡ Abb. 22.13 Sprungschanzenphänomen bei Spondylolisthesis
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die Spondylolyse besteht meist ohne Symptome. Gelegentlich treten uncharakteristische Lumbalgien auf. Bei beginnendem Gleitprozess werden lokale, hauptsächlich bewegungsabhängige Schmerzen beobachtet. Typisch für die Spondylolisthesis ist eine Stufenbildung im Bereich der betroffenen Wirbel, das sogenannte »Sprungschanzenphänomen« (⊡ Abb. 22.13). Bei höhergradigen Gleitprozessen zeigen sich gelegentlich radikuläre Schmerzen und ggf. neurologische Ausfälle. z z Bildgebende Verfahren
Für das Ausmaß des Wirbelgleitens ist das Röntgenbild entscheidend. Die radiologische Diagnostik der Spondylolysis und Spondylolisthesis wird stehend in den Standardebenen einschließlich Funktionsaufnahmen in maximaler Ante- und Retroflexion durchgeführt. Zusätzliche Schrägaufnahmen zeigen am besten den Zustand einer Bogenspaltbildung. Sie erlauben eine Beurteilung, ob eine einseitige oder doppelseitige Lyse vorliegt (»scotty dog« = Wirbelbogen mit aufgehelltem Halsband, d. h. Wirbelbogen mit Lysezone). Bei degenerativen Prozessen kann ein Abgleiten der Wirbel gegeneinander ohne Lyse beobachtet werden. Dies wird als Pseudospondylolysthesis bezeichnet. Manchmal kann eine zusätzliche Computertomographie bei der Diagnosefindung hilfreich sein. Bei radikulärer Symptomatik sollte ein MRT durchgeführt werden. Spondyloptosen mit völligem Abkippen des Wirbels stellen sich im a.p.-Röntgenbild als »umgekehrter Napoleonhut« dar (⊡ Abb. 22.14). Der Schweregrad der Spondylolisthesis wird durch das Schema nach Meyerding im sagittalen Röntgenbild entsprechend des Ausmaßes der Verschiebung klassifiziert: ▬ Stadium I: 1–25% (⊡ Abb. 22.15a) ▬ Stadium II: 26–50% (⊡ Abb. 22.15b) ▬ Stadium III: 51–75% (⊡ Abb. 22.15c) ▬ Stadium IV: 76–100% (⊡ Abb. 22.15d)
a
b
⊡ Abb. 22.14a,b Röntgenbild einer Spondyloptose. a a.p., b seitlich
z Therapie z z Konservative Therapie
Jugendliche, die wegen Spondylolyse oder leichter Spondylolisthesis (bis Stadium II) symptomatisch werden, sollten mit Physiotherapie behandelt werden. Bei frisch aufgetretener Spondylolyse oder leichter Spondylolisthesis kann eine Korsettbehandlung sinnvoll sein. Lordosierende sportliche Betätigung wie beispielsweise Kunstturnen sollte vermieden werden. Tipp
I
I
Bei radikulären Beschwerden werden periradikuläre Injektionen empfohlen.
22
416
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
▬ Darstellen der Wirbelbögen, Facettengelenke und Quer-
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vortsätze. 1
2
▬ Transpedikuläres Einbringen der Pedikelschrauben. ▬ Distraktion der Segmente, wodurch auch eine Reposition
1
erzielt wird.
▬ Bei TLIF: transforaminales Einbringen des Cages oder Knochenspans nach Ausräumen des Bandscheibenfachs.
▬ Bei PLIF: primär beidseitige Dekompression, danach
a
3
2
epidurales Einbringen zweier Cages oder Knochenspäne nach Ausräumen des Bandscheibenfachs. ▬ Anschließend Kompression der Segmente und schichtweiser Wundverschluss. ▬ Bei der ALIF ist vor Einbringen der Pedikelschrauben eine Ausräumung des Bandscheibenfachs und Interposition eines autologen Knochenspans durch retroperitonealen Zugang notwendig. ▬ Im Falle einer Spondyloptosis kann die Resektion des komplett abgerutschten Wirbelkörpers notwendig werden.
b
1 4
3
2
1
Nachbehandlung c
d
⊡ Abb. 22.15a–d Klassifikation der Spondylolisthesis nach Meyerding. a Stadium I, b Stadium II, c Stadium III, d Stadium IV
Die Mobilisation des Patienten ist ab dem zweiten postoperativem Tag mit einer stabilisierenden Orthese möglich, die 6–8 Wochen getragen werden sollte. Eine isometrische krankengymnastische Beübung der Rückenmuskulatur ist 6–8 Wochen postoperativ zu empfehlen, danach vorsichtige Dynamisierung.
z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Therapie besteht bei persistierenden Beschwerden nach konservativer Therapie, Progredienz des Gleitprozesses im Wachstumsalter sowie bei motorischen Defiziten. Bei Jugendlichen mit einer Spondylolyse oder leichter Spondylolisthesis (bis Stadium II) kann eine Direktverschraubung der Lysezone mit einer Hakenschraube durchgeführt werden. Dabei wird eine Schraube über die Spondylolysezone eingesetzt, die Lysezone selbst wird mit autologer Spongiosa aufgefüllt. Ansonsten ist eine Spondylodese des betroffenen Segments zu empfehlen. Vor der Spondylodese sollten Funktionsaufnahmen zur Beurteilung der Segmentinstabilität angefertigt werden. Bei guter Reposition kann ein alleiniges dorsales Vorgehen durch transforaminale lumbale interkorporelle Fusion (TLIF) erfolgen. Ist eine zusätzliche spinale Dekompression notwendig, kann auch eine posterolaterale intervertebrale Fusion (PLIF) angewendet werden. Ein zusätzlicher ventraler Eingriff (anteriore lumbale interkorporelle Fusion, ALIF) wird notwendig, wenn die abgerutschten Segmente schwer zu reponieren sind oder Schwierigkeiten beim Einbringen der dorsalen Cages auftreten.
Operationstaktik
▬ Entlordosierende Lagerung des Patienten auf dem Bauch. ▬ Medianer Längsschnitt. ▼
22.2.4 z
Skoliose
Definition
Skoliose bedeutet pathologisch-anatomisch die seitliche Drehverbiegung der Wirbelsäule. Bei der groben, v. a. röntgenologischen Einteilung wird grundsätzlich eine funktionelle von einer strukturellen Skoliose unterschieden. Als funktionelle Skoliose wird der Zustand einer seitlichen Wirbelsäulenverkrümmung zusammengefasst, bei dem im Röntgenbild keinerlei Struktur- oder Formveränderungen an der Wirbelsäule nachweisbar sind. Darunter fallen z. B. ischiadische Schmerzskoliosen sowie statische Haltungsskoliosen durch Beckenasymmetrie und -schiefstand. Charakteristisch für die funktionelle Skoliose ist die einfache Biegung der Wirbelsäule ohne Rotationskomponente der Wirbel. Die Medianlinie wird hierbei, im Gegensatz zur strukturellen Skoliose, niemals mehrfach gekreuzt. Die funktionelle Skoliose ist reversibel, soweit die zugrunde liegende Störung der Haltungsasymmetrie zu beseitigen ist. Eine Sonderform der funktionellen Skoliose ist die Säuglingsskoliose. Diese Form tritt im Alter von wenigen Monaten auf und ist durch einen langgestreckten, meist linkskonvexen, thorakolumbalen C-förmigen Bogen gekennzeichnet. Die Prognose dieser Skolioseform ist gut, eine Spontanheilung kann in über 96% erwartet werden. Strukturelle Skoliosen hingegen sind fixiert, nicht reversibel und können aktiv wie passiv nicht korrigiert werden.
417 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
z
Epidemiologie
Idiopathische Skoliosen machen 90% aller Skoliosen im Wachstumsalter aus, wobei innerhalb dieser Gruppe die Adoleszentenskoliosen mit ca. 90% am häufigsten vorkommen. Bei 16jährigen Mädchen beträgt die Inzidenz 3–4% für Cobb-Winkel >10° und 0,5% für Cobb-Winkel >20°. Das Verhältnis weiblich zu männlich variiert: für kleine Kurven beträgt es 1:1, hingegen für Kurven >20° 4:1 und bei behandlungsbedürftigen Kurven gar 7:1. Infantile Skoliose
Seltener Typ der Skoliosen, in 98% thorakal lokalisiert. Die Prognose der infantilen Skoliose ist wegen der starken Progredienz trotz Korsettbehandlung sehr schlecht. Juvenile Skoliose
⊡ Abb. 22.16 Patient mit osteogener Skoliose
⊡ Abb. 22.17 Röntgenbild mit Keilwirbel als Ursache einer osteogenen Skoliose
Die komplette Fixation kann sich bei diesem Skoliosetyp erst in späteren progressiven Verschlimmerungsphasen entwickeln. Gemäß Cobb ist die pathologisch-anatomischen Einteilung der strukturellen Skoliosen wie folgt: ▬ Die idiopathische Skoliose ist der am häufigsten vorkommende Erkrankungstypus, die Ätiologie ist unbekannt. Hierzu zählen die infantile Skoliose (0–3 Jahre), die juvenile Skoliose (4–10 Jahre) sowie die Adoleszentenskoliose (ab dem 11. Lebensjahr). ▬ Die Ursachen für osteopathische oder osteogene Skoliosen (⊡ Abb. 22.16 u. ⊡ Abb. 22.17) können kongenitale oder erworbene Wirbelsäulendeformitäten inklusive der Myelodysplasie und Diastomatomyelie, Erkrankungen bei systemischen Skelettleiden sowie verschiedene Wirbelund Rippenabnormitäten darstellen ( Abschn. 22.2.2). ▬ Neuropathische Skoliosen entwickeln sich nach poliomyelitischen oder zerebral-spastischen Lähmungen, u. a. auch bei Syringomyelie oder Friedreich-Ataxie aufgrund neurologischer Störung mit muskulärer und knöcherner Auswirkung. ▬ Myopathische Skoliosen umfassen Erkrankungen mit progressiver Muskeldystrophie (spinale Muskelatrophie) und anderen kongenitalen Muskeldefekten. ▬ Die fibropathischen Skoliosen betreffen kyphoskoliotische Verbiegungen bei Pleuraschwarten, Narbenkontrakturen, Empyem, nach Traumen und nach Thorakoplastiken. ▬ Skoliosen bei Systemerkrankungen treten häufig bei Neurofibromatosen, Osteogenesis imperfecta, MarfanSyndrom und Achondroplasie auf. Probleme entstehen besonders durch die Grunderkrankung. ▬ Zu degenerativen Skoliosen durch abnutzungsbedingte Veränderungen (»De-novo«-Skoliosen) vergleiche Abschn. 22.2.9.
Je früher die Skoliose auftritt, desto größer ist die Wachstumsreserve und desto schlechter ist die Prognose. Neben der thorakalen Lokalisation kommen auch lumbale und S-förmige Krümmungen bei dieser Form der Skoliose vor. Jungen und Mädchen sind bei der juvenilen und infantilen Form der Skoliose gleich häufig betroffen. Adoleszentenskoliose
Bei der adoleszenten Form der Skoliose sind hauptsächlich Mädchen betroffen. Meist sind diese Skoliosen thorakal und dann überwiegend rechtskonvex lokalisiert. Adoleszentenskoliosen sind in der Regel mit Lordosen assoziiert (⊡ Abb. 22.18).
⊡ Abb. 22.18 Patientin mit rechtskonvexer thorakaler Skoliose (Lenke-Typ 1)
22
418
z
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Äthiologie
Die Ätiologie der idiopathischen Skoliose nach den Leitlinien der DGOOC und DGU ist nicht bekannt (idiopathisch). Diskutiert werden verschiedene Ursachen, wobei nur die genetischen Ursachen, v. a. hinsichtlich zukünftiger Evaluation des Progressionsrisikos, eine praktische Relevanz haben: ▬ genetisch Ursache ▬ muskuläre Dysbalancen ▬ neurologische Ursachen ▬ Bindegewebsveränderungen ▬ verminderte Knochendichte ▬ asymmetrisches überschießendes Wachstum ▬ Stoffwechselstörungen z
Klassifikation
Die Lenke-Klassifikation ist eine zweidimensionale Klassifikation, welche 6 Krümmungstypen umfasst (⊡ Tab. 22.5). Als strukturell gilt dabei eine Krümmung, die auf der reversen Bending-Aufnahme noch eine Restkrümmung von ≥25° aufweist. Hochthorakale und thorakolumbale Krümmungen sind auch dann strukturell, wenn sie eine Kyphosierung von >20° aufweisen, gemessen zwischen dem 2. und 5. Brustwirbel bzw. zwischen dem 10. Brustwirbel und dem 2. Lendenwirbel. Die nicht strukturellen Krümmungen richten sich in den reversen Bending-Aufnahmen auf (Restkrümmung von <25°). Bei mehrbogigen Skoliosen ist die primäre Krümmung stets die mit dem größten Cobb-Winkel aller Krümmungen. Ziel der Lenke-Klassifikation ist es, möglichst lückenlos jede mögliche adoleszente idiopathische Skolioseform klassifizieren zu können und dabei auch gleichzeitig operative Therapierichtlinien festzulegen.
dem Knochenalter ein wichtiger Parameter für die Entscheidung der weiteren Therapie. z z Klinische Untersuchung
Bei der Untersuchung von Säuglingen ist auf eine mögliche Säuglingsskoliose als Folge einer prä- oder postnatalen Zwangslage zu achten. Hierbei kann eine Abflachung des Hinterkopfes, eine Körperasymmetrie sowie ein Rippenbuckel vorliegen. Zur Untersuchung der idiopathischen Skoliosen gehört die Lotbestimmung der Wirbelsäule und die Symmetrie der Schultern und des Beckens sowie der Vorbeugetest mit Beurteilung des Rippenbuckels (⊡ Abb. 22.19) oder des Lendenwulstes. Diese Vorwölbung kann mit einem Höhenmessgerät, einem sog. Skoliometer (⊡ Abb. 22.20) gemessen werden. Mit dem Messgerät wird bei maximaler Inklination der Wirbelsäule der meistausgebildete Rippenbuckel oder Lendenwulst ausgemessen.
z Diagnostik z z Anamnese
Zur Anamneseerhebung der Skoliose gehört die Evaluation der Erstsymptome, der Progression und der bereits erfolgten Behandlung. Zusätzlich ist auch die Familienanamnese von Bedeutung. In der Adoleszenz sind die Skelettreife sowie ihre Entwicklung wichtig. Der Zeitpunkt der Menarche beim Mädchen weist darauf hin, dass das Wachstum sich etwas verlangsamt und etwa 2–2,5 Jahre nach der ersten Regelblutung sistieren wird. Das noch zu erwartende Wachstum ist zusammen mit
⊡ Abb. 22.19 Rippenbuckel rechts
⊡ Tab. 22.5 Lenke-Klassifikation der Skoliose Krümmungstyp
Beschreibung
Hochthorakale Krümmung
Thorakale Krümmung
Thorakolumbale/ lumbale Krümmung
1
Thorakal einbogig
Nicht strukturell
Strukturell (primär)
Nicht strukturell
2
Thorakal doppelbogig
Strukturell
Strukturell (primär)
Nicht strukturell
3
Doppelbogig
Nicht strukturell
Strukturell (primär)
Strukturell
4
»Triple curve«
Strukturell
Strukturell (primär)
Strukturell
5
Thorakolumbal/lumbal
Nicht strukturell
Nicht strukturell
Strukturell (primär)
6
Thorakolumbal/lumbal, thorakal
Nicht strukturell
Strukturell
Strukturell (primär)
419 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
An Zusatzuntersuchungen wird bei ausgeprägten Skoliosen eine Lungenfunktionsprüfung, eine Untersuchung der ableitenden Harnwege und des Herz-Kreislauf-Systems sowie eine neurologische Untersuchung bei atypischen Skolioseformen empfohlen.
Klinische Untersuchung der idiopathischen Skoliose nach den Leitlinien der DGOOC und DGU
▬ Inspektion: – – – –
Schulterstand Taillensymmetrie, Rumpfkontur sagittales Profil: BWS-Kyphose, LWS-Lordose kutane Hinweise für Rückenmarkpathologie (lumbale Grübchen, pathologische Behaarung »hairy patch«, Naevi) – Beinlängendifferenz, Beckenschiefstand ▬ Wirbelsäulen- und Rumpfmorphologie: Adams-Test: Vornüberneigen, Messung des Rippenbuckels und des Lendenwulstes bevorzugt mit einem Skoliometer; Werte über 5° sind als pathologisch zu betrachten und bedürfen einer radiologischen Abklärung
▬ Funktionsprüfung: – Finger-Boden-Abstand – manuelle Redressierbarkeit der Krümmung – Länge der Ischiokruralmuskulatur (Kniestreckdefizit bei 90° Hüftbeugung)
▬ kursorischer Neurostatus: – Bauchdeckenreflexe – periphere Eigenreflexe, Sensibilität, Kraftgrad der Kennmuskeln
▬ allgemein: – Steh- und Sitzgröße – Pubertätsstadium
z z Bildgebende Verfahren Optische Darstellung der Rückenoberfläche
Die optische Darstellung und Vermessung der Rückenoberfläche zur Verlaufsdokumentation bei Skoliosen kann durch die ISIS-Methode (»integrated shape imaging system«) durchgeführt werden, wobei Lichtstreifen auf die Rückenoberfläche projiziert werden. Mit Unterstützung einer Videokamera wird die Rückenoberfläche abgetastet und dreidimensional berechnet. Die Korrelation des hierdurch errechneten Skoliosewinkels mit dem im Röngenbild gemessenen Cobb-Winkel ist gering. Vielmehr eignet sich dieses Verfahren gut zur Registrierung von Veränderungen der Form der Wirbelsäule beim gleichen Patienten. Neuere Geräte wie das VideorasterstereometrieFormetric-System sollen allerdings bei der Vermessung von Skoliosen im Vergleich zum Röntgen eine bessere Korrelation aufweisen. Radiologische Diagnostik
Die laufende Röntgenuntersuchung und Vergleichsaufnahmen sind einerseits zur Beurteilung der Progredienz, anderseits zur Planung sowie zur Beurteilung des Erfolgs konservativer Behandlungsmaßnahmen oder operativer Methoden unerlässlich. Die genaueste Beurteilung der Gesamthaltung der Wirbelsäule erreicht man mit der Wirbelsäulenganzaufnahme in sagittaler und frontaler Projektionsebene. > Die Darmbeinkämme müssen am unteren Rand der Aufnahme mit einbezogen werden, um dort die Skelettreife beurteilen zu können.
Zur Ermittlung des Grades der Fixation sowie der Ausdehnung der Segmentblockierung müssen zusätzliche funktionelle a.p.-Aufnahmen in maximaler Lateralflexion nach links und rechts im Liegen durchgeführt werden (Bending-Aufnahmen). Ihr Aussagewert beschränkt sich auf die genauere Definition und Lokalisation der Fixationspunkte und der Bewegungsausfälle sowie auf die Festlegung der Primärkrümmung und der kompensatorischen Gegenkrümmung. Während die kompensatorische Gegenkrümmung bei Lateralflexion ausgeglichen wird, bleibt die Primärkrümmung bestehen. Die funktionelle Röntgenuntersuchung der Wirbelsäule stellt die Grundlage zur Planung operativer Spondylodesen dar. Des Weiteren erlaubt sie auch Rückschlüsse auf das zu erwartende operative Korrekturergebnis. Sollten im konventionellen Röntgenbild Fragen ungeklärt bleiben, können spezielle Darstellungen mit CT oder MRT angeschlossen werden. Durch Beurteilung des Spinalkanals und paravertebraler Weichteile im CT oder MRT werden Skoliosen nicht idiopathischer Herkunft erkannt bzw. ausgeschlossen.
Radiologische Diagnostik der idiopathischen Skoliose nach den Leitlinien der DGOOC und DGU
▬ Röntgen: Stehend Ganzwirbelsäule postero-anterior und ⊡ Abb. 22.20 Skoliometer zur Messung des Rippenbuckels rechts: Bei maximaler Inklination wird der meistausgebildete Rippenbuckel oder Lendenwulst ausgemessen
lateral. Die Beckenkämme sollen mitabgebildet werden, um das sogenannte Risser-Zeichen (Verknöcherung der ▼ Iliumapophyse) beurteilen zu können. So kann das Wir-
22
420
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
belsäulenrestwachstum und damit das Progressionsrisiko abgeschätzt werden. Festgelegt bzw. gemessen werden: – Krümmungsausmaß (Cobb-Winkel) – Apexwirbel, obere und untere Endwirbel der Krümmung – Haupt- und Nebenkrümmungen, Krümmungsmuster ▬ MRT: bei Verdacht auf intraspinale Pathologien (»tethered cord«, Diastematomyelie, Syringomyelie)
Je nach Ausbildung der Ossifikationslage der Darmbeinkammapophyse, die von lateral nach medial verläuft, werden 4 Stadien unterschieden. Bei einer Verknöcherung von 0–25% besteht Stadium I, ab 25–50% Stadium II, ab 50–75% Stadium III, ab 75–99% Stadium IV und bei 100%-iger Verknöcherung im Stadium V ist die komplette Fusion erreicht. Das Ende des Wirbelsäulenwachstums ist im Stadium V erreicht, ein Fortschreiten der skoliotischen Krümmung ist unwahrscheinlich. z
z z Messung der Skoliose
Bei der am häufigsten angewandten Skoliosemessung nach Cobb wird eine Linie durch die am stärksten gegeneinander verkippten Deck- und Grundplatten gezogen. Diese beiden Wirbelkörper werden als Neutralwirbel bezeichnet (⊡ Abb. 22.21). Der sich ergebende Komplementärwinkel an den Schnittpunkten beider Verlängerungslinien von Deck- und Grundplatten wird vermessen. Dieser Winkel wird als Cobb-Winkel oder Skoliosewinkel bezeichnet. Der Scheitelwirbel zeigt die stärkste Keilform und Torsion im Scheitelpunkt der Krümmung. Die Bestimmung der Skelettreife kann mit dem RisserTest in der Beckenübersichtsaufnahme oder einer LWS- Röntgenaufnahme mit Abbildung der Darmbeinkämme erfolgen (⊡ Abb. 22.22). Ebenso lässt sich die Skelettreife an Röntgenaufnahmen des Handskeletts durch Beurteilung der Wachstumsfugen bestimmen. Hierdurch können Aussagen über die Progredienz der Skoliose und der entsprechenden Therapie gemacht werden.
Therapie der idiopathischen Skoliose
Die Therapie ist von der Art der Skoliose, dem Ausmaß der Deformität und dem Alter des Patienten abhängig. Das Therapieschema unterteilt sich grob in 3 Stufen: ▬ Physiotherapie bei Skoliosen mit einem Cobb-Winkel bis zu 20° ▬ Korsetttherapie bei Skoliosen mit einem Cobb-Winkel zwischen 20° und 40° (lumbal) bzw. 50° (thorakal) ▬ operative Therapie bei Skoliosen über 40°(lumbal) bzw. 50° (thorakal)
Therapieziele der idiopathischen Skoliose nach den Leitlinien der DGOOC und DGU
▬ ▬ ▬ ▬
Verhinderung der Progression Korrektur der bestehenden Krümmung Erhalt der erreichten Korrektur Cobb-Winkel <40° bei Wachstumsabschluss, was eine Progression nach Wachstumsende und damit eine Operation mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert
z z Konservative Therapie
Skoliosen mit einem Cobb-Winkel bis zu 20° können mit alleiniger Physiotherapie auf neurophysiologischer Basis wie beispielsweise die Skoliosetherapie nach Schroth behandelt
I
⊡ Abb. 22.21 Skoliosemessung nach Cobb. N Neutralwirbel, S Scheitelwirbel. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
II
III
Verknöcherungsstadium IV
V (komplett)
⊡ Abb. 22.22 Risser-Test: Bei Verknöcherung von 0–25% besteht Stadium I, ab 25–50% Stadium II, ab 50–75% Stadium III, ab 75–99% Stadium IV, bei 100% Stadium V
421 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
werden. Bei Skoliosen zwischen 20° und 40° (lumbal) bzw. 50° (thorakal) ist eine Korsettbehandlung mit Tragezeiten von 23–24 h pro Tag bis zum Wachstumsabschluss, begleitend Physiotherapie sowie klinische Verlaufskontrollen alle 3–6 Monate zu empfehlen. Durch die Korsettbehandlung ist nur eine geringe Korrektur des Ausgangsbefunds möglich, eine Progression kann jedoch aufgehalten werden. Bei der Korsettversorgung wird zwischen Aktiv- und Passivkorsett unterschieden. Das bekannteste Aktivkorsett ist das Milwaukee-Korsett. Es besteht aus einem Beckenkorb, von dem aus am Rücken 2 und vorn 1 Metallstab kopfwärts zu einer Mahnpelotte geführt werden. Durch diese Mahnpelotte wird der Patient so gehalten, dass er eine aufrechte Haltung einnimmt. Das Milwaukee-Korsett wird heute nur noch vereinzelt bei zervikothorakalen Deformitäten angewendet (⊡ Abb. 22.23). Dem gegenüber werden Passivkorsetts heute am häufigsten zur Skoliosebehandlung eingesetzt. Das Bosten-Korsett ist ein
a
a
b
c
Derotationskorsett, welches die Wirbelsäule durch Pelottendruck passiv korrigiert. Das Cheneau-Korsett (⊡ Abb. 22.24) ist im deutschsprachigen Raum am weitesten verbreitet. Das CheneauKorsett ist ein Inspirations-/Derotationskorsett mit aktiver und passiver Komponente, welches nach dem Prinzip der queren transversalen Krafteinwirkung funktioniert. Eine passive Korrektur erfolgt über den Pelottendruck, entsprechend dem 3-PunktePrinzip an den jeweils konvexen Abschnitten der Krümmung. Als Vorteile gelten die besseren Anformungen an den Körper, die erhöhte Stabilität und die relative Unsichtbarkeit. Ergebnisse der Korsettbehandlung
Mit einer Korsettbehandlung kann eine vollständige Korrektur der Skoliose so gut wie nie errreicht werden. Laurnen und Mitarbeiter (1983) beschrieben ein mittleres Korrekturergebnis von 36-43% mit dem Boston-Korsett bei Beendigung der Korsettbehandlung. Bei der Cheneau-Korsett-Behandlung zeigt sich
d
b
⊡ Abb. 22.23a–d Milwaukee-Korsett
⊡ Abb. 22.24a,b Cheneau-Korsett
22
422
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
2 Jahre nach Abschluss der Abtrainierungsphase bei initialer thorakaler Verkrümmung von 20–30° ein weitgehender Erhalt der Primärkorrektur sowie bei initialer thorakaler Verkrümmung von 30–45° ein Korrekturverlust auf den Ausgangswert (Landauer et al. 2003). z z Operative Therapie
Durch die Operation kann nicht nur die Progredienz aufgehalten, sondern auch die Verkrümmung teilweise aufgerichtet werden, die Korrektur bleibt nach Festwerden der Spondylodese im Wesentlichen erhalten. Bei der infantilen und juvenilen Skoliose sollte versucht werden, mit konservativen Maßnahmen das Ausmaß der Verkrümmung bis mindestens zum 10. Lebensjahr in einem tolerablen Rahmen zu halten. Meist ist eine Korsettbehandlung notwendig. Bleib die Skoliose bei Kindern unter 10 Jahren über längere Zeit stabil, so kann das Korsett auch zeitweise weggelassen werden. Mit Beginn des pubertären Wachstumsschubes wächst das Risiko der Progredienz erheblich an. In der Regel wird dann auch eine Operation notwendig. Diese sollte, unabhängig von der Lokalisation, stets gleichzeitig von ventral und dorsal vorgenommen werden. Die operative Versorgung der adoleszenten Skoliose sollte rechtzeitig erfolgen, da mit Zunahme der Krümmung die Komplikationen überproportional ansteigen. Die Indikation zur Operation ist ab einem Cobb-Winkel >40°(lumbal) bzw. 50° (thorakal) gegeben. Eventuell sollte eine präoperative Lockerung der Weichteile mittels Halotraktion durchgeführt werden. Die dorsale Harrington-Instrumentation ist ein heute kaum mehr durchgeführtes operatives Verfahren, bei dem die Krümmung über einen langen Stab distrahiert wird und die Wirbelgelenke anschließend versteift werden. Hiernach folgt eine Gipsretention für 12 Monate. Cotrel-Dubousset entwickelte das von dorsal eingebrachte CD-Instrumentarium. Damit wurde von dorsalem Zugang eine segmentale Derotation sowie eine Traktion ermöglicht. Während die erste Version des CD-Instrumentariums vornehmlich auf der Hakenfixation beruhte, werden in den letzten Jahren mehr und mehr – bis in den oberen Thorakalbereich – die ausschließlich schraubenbasierten Instrumentationen favorisiert (⊡ Abb. 22.25). Die instrumentierte ventrale Skoliosechirurgie begann mit der Entwicklung der Dwyer-Instrumentation, welche die Seitenausbiegung der Wirbelsäule durch eine konvexseitige Kompression aufrichtet. Die von Zielke entwickelte, ventrale Derotationsspondylodese war das erste Implantat, mit dem die Wirbelsäule ventral dreidimensional korrigiert werden konnte. Die ventralen Spondylodesen sind segmentsparend, ermöglichen eine bessere Korrektur der Rotationskomponente und eine stabilere Versteifung. Kriterien zur Bestimmung des Fusionsbereichs
Gemäß der Lenke-Klassifikation sind alle Krümmungen einer Skoliose, die auf der reversen Bending-Aufnahme eine Restkrümmung von ≥25° oder eine pathologische Kyphosierung aufweisen, als strukturell einzustufen und sollten instrumentiert werden. Fusionsbereiche der einzelnen Krümmungstypen nach Lenke zeigt ⊡ Tab. 22.6.
a
b
⊡ Abb. 22.25a,b Röntgenaufnahmen einer Skoliose (Lenke-Typ 3) im a.p.-Strahlengang. a Vor, b nach operativer Aufrichtung
Seit der Entwicklung primär stabiler ventraler Instrumentationssysteme zur Skoliosekorrektur konkurrieren ventrale und dorsale Verfahren miteinander. In der ventralen Skoliosechirurgie stehen moderne Doppelstabsysteme mit Doppelverschraubung der Wirbel zur Verfügung. In der dorsalen Skoliosechirurgie hat sich eine segmentale Pedikelschraubenverankerung weitgehend durchgesetzt. Unbestrittene Vorteile der ventralen Korrektur sind die kurze Instrumentationsstrecke, die segmentale Derotationsmöglichkeit und die gegenüber dorsalen Verfahren bessere Korrektur des sagittalen Profils. Die Nachteile der ventralen Instrumentation umfassen zum einen die zugangsbedingte höhere Morbidität mit einer postoperativen Einschränkung der Lungenfunktion. Der dorsalen Korrektur ist insbesondere bei leichtgradigeren Skoliosen aufgrund der geringeren Morbidität des Zugangs der Vorzug zu geben. Auch strukturell doppelbogige Skoliosen wie Skoliosen vom Lenke-Typ 2, 3, 4 und 6 sind aufgrund der längeren Fusionsstrecken in der Regel von dorsal zu versorgen.
423 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
⊡ Tab. 22.6 Fusionsbereiche der einzelnen Krümmungstypen nach Lenke Krümmungstyp
Fusionbereich
Zugang
1
Thorakal
Ventral oder dorsal
2
Thorakal und hochthorakal
Dorsal
3
Thorakal und lumbal
Dorsal
4
Thorakal, hochthorakal und lumbal
Dorsal
5
Thorakolumbal/lumbal
Ventral oder dorsal
6
Thorakolumbal/lumbal und thorakal
Dorsal, ggf. kombiniert ventrodorsal
in das ausgeräumte Bandscheibenfach.
Hervorzuheben bleibt jedoch, dass der Versuch der Rotationskorrektur vom dorsalen Zugang über segmentale Pedikelschraubeninstrumentation zu Lasten des seitlichen Profils geht. Im Falle von stark ausgeprägten, rigiden Skoliosen können auch kombinierte ventrodorsale Spondylodesen durchgeführt werden.
Operationstaktik der dorsalen Spondylodese nach Cotrel-Dubousset
▬ Präoperative Bending-Aufnahmen zur Unterscheidung ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
von Primär- und Sekundärkrümmung und Bestimmung der Fusionsstrecke. Lagerung auf dem Traktionstisch in Bauchlage. Medianer Längsschnitt. Präparation der Wirbelbögen und -gelenke und Einbringen der Pedikelschrauben. Distraktion oder Kompression der Segmente. Anfrischen der restlichen Wirbelgelenke in der RisserTechnik. Einlegen des vorgebogenen Stabes auf der Konkavseite und Distraktion bzw. Kompression der Segmente. Derotation des Stabes und Festsetzen. Intraoperativer Aufwachtest zur Überprüfung der Neurologie. Einbringen eines gegenseitigen Stabes, danach Querverbindung beider Stäbe. Anlagerung von Spongiosa aus dem Beckenkamm nach Anfrischen der Wirbelbögen. Wundverschluss.
Operationstaktik der ventralen Spondylodese nach Zielke
▬ Im LWS-Bereich retroperitonealer Zugang, im thorakalen Bereich Thorakotomie, bei thorakolumbaler Lokalisation Zweihöleneingriff. ▼
▬ Exzision der Bandscheibe. ▬ Anfrischen der Wirbeldeck- und Bodenplatten. ▬ Einbringen eines autologen Knochens oder eines Cages ▬ Einbringen des ventralen Instrumentatiums unter Kontraktion auf der konvexen oder Distraktion auf der konkaven Seite der Skoliose. ▬ Wundverschluss.
Komplikationen
Mögliche spezifische Komplikationen bei der operativen Versorgung der Skoliose sind Lähmungen, Materialversagen, Pseudarthrosenbildung oder das Crankshaft-Phänomen. Hierunter versteht man den Korrekturverlust und die zunehmende Rotation durch Weiterwachsen von ventralen Anteilen der Wirbelsäule bei rein dorsaler Spondylodese. Dieses Phänomen ist hauptsächlich bei jungen Patienten (mit Risser-Zeichen 0) zu beobachten und kann durch eine kombinierte ventrodorsale Spondylodese verhindert werden. Nachbehandlung
Nach Stabilisierung der Kreislaufverhältnisse kann eine zügige Mobilisation begonnen werden. Die Frage nach einer postoperativen Orthesenbehandlung ist von der korrigierten Deformität, den Implantaten sowie der Knochenfestigkeit abhängig. Eine isometrische krankengymnastische Beübung der Rückenmuskulatur ist 6–8 Wochen postoperativ zu empfehlen, danach vorsichtige Dynamisierung. Ergebnisse der operativen Therapie
Mit dem Cotrel-Dubousset-Instrumentarium (CD-Instrumentarium) ergaben sich Korrekturergebnisse zwischen 48 und 69% (Takahashi et al. 2002, Roye et al. 1992, Lepsien et al 2002). Lenke und Mitarbeiter (1998) konnten bei einer Korrektur von 50% mit dem Cotrel-Dubousset-Instrumentarium nach durchschnittlich 3 Jahren einen Korrekturverlust von etwa 1° nachweisen. Für das ventrale Zielke-Instrumentarium werden Korrekturergebnisse von 62–87% bei Skoliosen im lumbalen Bereich berichtet (Giehl et al. 1992). Luk und Mitarbeiter (1989) beschrieben 6 Jahre nach ventraler Instrumentation einen Korrekturverlust von 4%, Kohler und Mitarbeiter (1990) stellten nach 10 Jahren einen Korrekturverlust von 9,7% fest. z
Therapie der osteopathischen Skoliose
Die Therapie der osteopathischen Skoliose ist in Abschn. 22.2.2 dargestellt. z Therapie der neuropathischen und myopathischen Skoliose z z Konservative Therapie
Wie bei idiopathischen Skoliosen ist bei neuropathischen und myopathischen Skoliosen mit einem Cobb-Winkel von bis zu 20° Physiotherapie erforderlich. Bei einer Progredienz von mehr als 20° ist eine Korsettbehandlung zu empfehlen. Eine Sitzschale nach Maß kann bei stehunfähigen Patienten, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, sinnvoll werden. Dadurch wird
22
424
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
eine externe Korrektur der Skoliose und des Beckenschiefstands ermöglicht. Zusätzlich dient die Schale zur Vorbeugung von Druckulzera.
und/oder Lendenwirbelkörper mit (teil)fixierter, vermehrter Kyphose bzw. verminderter Lordose bezeichnet. Das Manifestationsalter liegt während des Wirbelsäulenwachstums zwischen dem 9. und 13. Lebensjahr.
z z Operative Therapie
Eine operative Behandlung sollte dann erwogen werden, wenn ein Cobb-Winkel von 40° überschritten wurde. Grundzätzlich muss bei diesen Patienten zwischen gehfähigen und gehunfähigen Patienten unterschieden werden. Bei gehfähigen Patienten sollen folgende Ziele erreicht werden: ▬ Korrektur der Verkrümmung ▬ Verhinderung der Progredienz ▬ Verhinderung der Dekompension Bei gehunfähigen Patienten sind die Ziele anders definiert: ▬ Erhalt der Sitzfähigkeit ▬ Verbesserung der Dekompression ▬ Verbesserung der Pflegefähigkeit ▬ Vermeidung von Schmerzen ▬ Stabilisation der Wirbelsäule ▬ korsettfreie Behandlung Die operative Technik entspricht dabei im Wesentlichen denen der idiopathischen Skoliosen. z
Therapie der fibropathischen Skoliose
Primär sollten bei ausgeprägten fibropathischen Skoliosen ursächliche Narbenbildungen operativ angegangen werden. Ansonsten gilt das gleiche therapeutische Vorgehen wie bei idiopathischen Skoliosen. z
Therapie der Skoliose bei Systemerkrankungen
Hierbei gelten die gleichen Therapieprinzipien wie bei der idiopathischen Skoliose. z
Nachbehandlung
Klinische und radiologische Kontrollen der idiopathischen Skoliose nach den Leitlinien der DGOOC und DGU: ▬ bei Skoliosen <20° während des Wachstums: alle 3–6 Monate klinisch, bei klinischem Verdacht auf Zunahme auch radiologisch ▬ bei Skoliosen >20° während des Wachstums: alle 3–6 Monate klinisch, sicher einmal pro Jahr radiologisch ▬ nach Spondylodesen: die ersten 2 Jahre jährlich, bei stabiler Spondylodese und einem Cobb-Winkel <40° sind keine weiteren Routinekontrollen erforderlich
22.2.5 z
Morbus Scheuermann
Epidemiologie
z
Ätiologie und Pathogenese
Die Pathogenese ist nicht eindeutig geklärt. Als bedeutsam werden familiäre Häufungen mit autosomal dominantem Erbgang, mechanische Faktoren, Nekrosen und Anomalitäten der Wirbelkörperrandleisten, intraossäre Bandscheibenhernien, endokrine Faktoren und Fehlernährung (Vitaminmangelsyndrome) genannt. Letztlich tritt eine Imbalance im Wachstum ventraler und dorsaler Anteile des Wirbelkörpers auf, was die Ausbildung von Keilwirbeln zur Folge hat. Bandscheibengewebe bricht durch die osteonekrotisch veränderten knorpeligen Wirbelkörperabschlussplatten in den Wirbelkörper ein (SchmorlKnötchen), es kommt zu einer Verschmälerung der betroffenen Bandscheibenräume. Asymmetrische Wirbelkörpereinbrüche führen zu einer (teil-)fixierten Kyphosierung und skoliotischer Fehlhaltung, meist ohne Torsionskomponente. Die krankheitstypischen Veränderungen an den Wirbelkörpern sind zum Wachstumsende stabilisiert. Klinische und radiologische Veränderungen treten zumeist ab dem 11. Lebensjahr auf. z
Klinik
In Abhängigkeit von der Lokalisation unterscheidet man einen Thorakaltyp mit Hohl-Rund-Rücken, einen Thorakolumbaltyp mit einem totalen Rundrücken und einen Lumbaltyp mit einem Flachrücken. Zur genaueren Untersuchung gehört die Beurteilung des Fixationsgrades (fixiert, teilfixiert, flexibel), die Bestimmung einer begleitenden Skoliose sowie die Beurteilung von Intensität und Lokalisation des Klopf-, Druck- und Bewegungsschmerzes. > Die Schmerzsymptomatik zeigt typischerweise knapp unterhalb des Kyphosescheitels ihr Maximum, der Lumbaltyp des M. Scheuermann ist insgesamt schmerzanfälliger.
Sekundäre Phänomene durch die konsekutive kyphotische Wirbelsäulenfehlstellung können auch später noch manifest werden (⊡ Abb. 22.26). Im Erwachsenenalter trägt v. a. die Überlastung der Gelenkfacetten durch kompensatorische Hyperlordosierung der HWS und LWS beim thorakalen Typ bzw. Hypokyphosierung der BWS beim lumbalen Typ zur Schmerzsymptomatik bei.
Synonyme
Adoleszentenkyphose, juvenile Kyphose, juvenile Osteochondrose, Epiphysitis vertebralis, Lehrlingsbuckel. z
z
Häufigkeitsangaben in Bezug auf die Gesamtbevökerung schwanken zwischen 1 und 8%. Neuere Untersuchungen finden keine Unterschiede in der Geschlechtsverteilung.
Definition
Als Morbus Scheuermann wird die im Jugendalter auftretende Wachstumsstörung an Grund- und Deckplatten der Brust-
z Diagnostik z z Anamnese
Nur ca. ein Drittel der Erkrankten haben im Wachstumsalter Beschwerden. Belastungssituationen am Arbeitsplatz oder in der Freizeit, bisherige Behandlung, bekannte Vorerkrankungen (einschließlich tumoröse Erkrankungen, B-Symptomatik) und
425 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
die psychische Situation sollten geklärt werden. Spezielle Fragen über Schmerzmuster (Beginn, Anlass, Lokalisation, Ausstrahlung, Dauer, Intensität, Positionsabhängigkeit), mögliche Funktions- oder Bewegungseinschränkungen und mögliche neurologische Symptome schließen sich an.
ein kompensatorisches Wirbelkörperwachstum in Form eines in das Schmorl-Knötchen vorgebuckelten Knochenvorsprungs am gegenüberliegenden Wirbelkörper (Edgren-Vaino-Zeichen). Bei jugendlichen Patienten ist eventuell eine ergänzende Skelettalterbestimmung sinnvoll, um eine Aussage über das noch zu erwartende Skelettwachstum machen zu können.
z z Bildgebende Verfahren
Hierzu gehören Röntgenaufnahmen der BWS und LWS in 2 Ebenen und ggf. Wirbelsäulenganzaufnahmen a.p. und seitlich. Eine Hyperkyphose der BWS, Bandscheibenhernien in die spongiösen Wirbelkörperanteile (Schmorl-Knötchen), Keilwirbel (mind. 3 benachbarte Wirbelkörper, Keilform mind. 5°), Verminderung des Zwischenwirbelraums und Unregelmäßigkeiten der Grund- und Deckplatten gelten als typische radiomorphologische Zeichen der Erkrankung (⊡ Abb. 22.27). Oft zeigt sich
z
z
⊡ Abb. 22.26 M. Scheuermann: kyphotische Fixation der BWS aufgestützt auf Knie und Ellbogen
Röntgen
SchmorlKnötchen Keilwirbel Verschmälerte Bandscheiben
Grund- und Deckplatten unregelmäßig begrenzt
⊡ Abb. 22.27 Typische radiomorphologische Veränderungen bei M. Scheuermann
Differenzialdiagnose
Multiple Kompressionsfrakturen der BWS (Trauma, eosinophiles Granulom, Leukämie, aneurysmatische Knochenzysten) sind beim Heranwachsenden nur eingeschränkt von einem M. Scheuermann abgrenzbar. Eine Wirbelkörperfraktur kann noch Monate später zur Ausbildung einer Osteonekrose des betroffenen Wirbelkörpers führen (M. Kümmel-Verneuil). Selten kommen Chordarückbildungsstörungen differenzialdiagnostisch in Betracht. Der juvenile Rundrücken stellt eine korrigierbare Wirbelsäulendeformität bei Kindern unter 10 Jahren dar, bei der keine wesentlichen morphologischen Veränderungen an den Wirbelkörpern nachweisbar sind. Im frühen Kindesalter ist der M. Calvé vom M. Scheuermann abzugrenzen. Hierbei handelt es sich um eine Osteonekrose der Wirbelkörper (Vertebra plana) mit Therapieregime analog dem M. Scheuermann. Therapie
Die Therapie besteht in der Regel aus konservativen Therapiemaßnahmen. Ziel der konservativen Therapie ist die ventrale Wirbelkörperentlastung. Die Überbelastung der ventralen Bandscheiben- bzw. Wirbelkörperabschnitte wird als Faktor für die Progredienz der Erkrankung diskutiert. Krankengymnastisch stehen deshalb die Stärkung der antikyphosierenden Muskulatur, haltungskorrigierende Kräftigung der Rumpfmuskulatur und mobilisierende Übungen zur Verbesserung der Wirbelsäulenflexibilität im Mittelpunkt. Der Patienten sollte zur selbstständigen täglichen Durchführung angeleitet werden. Bei Progression oder kyphotischer Krümmung über 45° wird eine reklinierende Korsetttherapie empfohlen (Milwaukee-Boston-Korsett). Ziel ist dabei v. a. die Verhinderung der Progredienz. Eine Korsetttherapie hat dabei nur bei nicht fixierter, noch wachsender Wirbelsäule eine Chance auf Erfolg. Die Korsetttragedauer beträgt dabei im ersten Jahr bis 23 h am Tag, regelmäßige orthopädietechnische Kontrollen und Nachpassungen sind notwendig. Die intensive Korsetttragedauer im ersten Jahr wird dabei von vielen Jugendlichen als Stigmatisierung empfunden und führt nicht selten zur Ablehnung. > Eine individuelle Aufklärung der Patienten und Eltern über die Erkrankung, deren natürlichen Verlauf und dessen Beeinflussbarkeit durch konservative und/oder operative Therapie inklusive einer Beratung zu Berufswahl und sportlichen Freizeitaktivitäten (Vermeidung wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten) ist deshalb notwendig. z z Operative Therapie
Die operative Therapie ist bei ausgewachsener, fixierter Kyphose (Kyphosewinkel über 60°), gravierender Schmerzsymptomatik, neurologischer Symptomatik, Beeinträchtigung der Lungenfunktion und/oder gravierender Beeinträchtigung der
22
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Ästhetik indiziert. Insgesamt wird die Indikation zur operativen Wirbelsäulenkorrektur mit großer Zurückhaltung gestellt. Als operative Maßnahme wird die Kombination aus ventraler Bandscheibenausräumung mit autologer Knochenauffüllung und eine dorsale Stabilisierung (ein- oder zweizeitig) vorgeschlagen. Die alleinige dorsale Korrektur hat eine erhöhte Komplikationsrate (Stabbrüche, Korrekturverlust).
22.2.6 z
Kyphose
Definition
Bei Kyphosen handelt es sich um eine dorsal-konvexe Abweichung der Wirbelsäule in sagittaler Ebene. Die Abweichung wird durch den Cobb-Winkel bestimmt, der im seitlichen Röntgenbild durch die Abweichung der Deck- und Bodenplatten bestimmter Wirbelkörper von der Horizontalebene ermittelt werden kann (⊡ Abb. 22.28). Eine anatomische Kyphosierung der thorakalen Wirbelsäule kann beim Erwachsenen als physiologisch betrachtet werden. Das Ausmaß der Kyphose wird an der thorakalen Wirbelsäule von der Deckplatte BWK 4 bis zur Grundplatte BWK 12 ermittelt. Normwerte hierfür liegen bei Jugendlichen zwischen 20 und 40°, bei Erwachsenen zwischen 30 und 50°. Davon abzugrenzen ist die nicht physiologische, pathologische Kyphose mit einem Cobb-Winkel von mehr als 50°. Im zervikalen und lumbalen Bereich der Wirbelsäule besteht hingegen eine lordotische Formgebung. Nicht korrigierbare Abflachungen der HWS oder LWS stellen funktionell eine Kyphose dar, die als relative Kyphose oder Hypolordose bezeichnet werden. Die Schwingungsform wird als arkuäre Kyphose bezeichnet, wenn sich eine harmonische Krümmung über mehrere
Wirbel zeigt. Diese entsteht durch ein geschädigtes Wirbelsäulenwachstum (z. B. bei M. Scheuermann). Im Gegensatz dazu liegt bei angulären Kyphosen ein pathologisches Geschehen in einem kurzen Wirbelsäulenabschnitt vor (z. B. Fehlbildungen, Tumoren, Entzündungen), sodass klinisch und radiologisch eine knickförmige Krümmung imponiert. Die anguläre Kyphose wird auch als Gibbus bezeichnet. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Kyphose ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern das Ergebnis von Erkrankungen und Ereignissen, die Einfluss auf das Kräftegleichgewicht der Wirbelsäule nehmen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um Wirbeldestruktionen durch pathologische oder nicht pathologische Frakturen, postoperative Zustände, Lähmungen, Wirbeldeformitäten, rheumatische Erkrankungen, M. Scheuermann oder Entwicklungsstörungen. Das Ausmaß und die Progredienz der Kyphose sind vom Grad der Störung abhängig. Gemäß der Ursache kann die Kyphose in 3 Typen unterteilt werden: ▬ angeborene Kyphosen ▬ Kyphosen bei Systemerkrankungen ▬ erworbene Kyphosen Angeborene Kyphosen
Ursache der angeborenen Kyphosen sind Entwicklungs- oder Bildungsstörungen der verschiedenen Wirbelsäulenelemente während der Embryonal- und Fetalperiode. Beispielsweise kommt es durch Wirbelfehlbildungen wie Keilwirbel zur Kyphose. Kyphosen bei Systemerkrankungen
Systemerkrankungen, die das Skelettsystem betreffen, können sich an der Wirbelsäule manifestieren. Im Falle einer destruktiven Veränderung der ventralen Wirbelabschnitte oder der dorsalen Zugelemente kann eine Kyphose entstehen. Folgende Systemerkrankungen führen häufig zur Kyphose: Osteochondrodysplasien, Enzymopathien, Osteomalazie, Rachitis, Endokrinopathien, Osteoporose sowie generalisierte Muskel- und Nervenerkrankungen. Erworbene Kyphosen
Bei den erworbenen Kyphosen ist die posttraumatische Form die häufigste. Weitere Ursachen für Kyphosen sind pathologische Frakturen bei Tumoren und infektiösen oder nicht infektiösen Entzündungen der Wirbelsäule bei rheumatischen Erkrankungen wie beispielsweise dem M. Bechterew ( Abschn. 22.2.8). Auch postoperative Zustände, wie beispielsweise nach spinaler Dekompression, können zur Kyphose führen. Eine Sonderform der Kyphose stellt der M. Scheuermann dar, der den Kyphosen bei Systemerkrankungen sowie den angeborenen und erworbenen Kyphosetypen zugeordnet werden kann ( Abschn. 22.2.5).
⊡ Abb. 22.28 Cobb-Winkel zur Kyphosebestimmung: Bestimmung im seitlichen Röntgenbild durch die Abweichung der Deck- und Bodenplatten bestimmter Wirbelkörper von der Horizontalebene
z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie der Kyphose besteht grundsätzlich aus Physiotherapie und balneophysikalischen Maßnahmen.
427 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
Sportarten mit starker Belastung der Wirbelsäule sollten vermieden werden. Eine Aufrichtung der Kyphose kann dabei in den meisten Fällen nicht erreicht werden, wohl aber wird die Progredienz der Kyphosierung sowie die weitere Versteifung der Wirbelsäule aufgehalten. z z Operative Therapie
Indikationen zur Operation sind persistierende lokale oder radikuläre Schmerzen nach Ausschöpfung konservativer Therapiemaßnahmen, die zunehmende Kyphosierung oder progrediente neurologische Ausfälle. Grundprinzip der operativen Versorgung von Kyphosen sind korrigierende Stabilisierungen der Wirbelsäule durch dorsoventrale Spondylodesen. Eine Korrektur ist durch eine ventrale Verlängerung der Wirbelsäule (Opening-Wedge-Technik) und/oder eine dorsale Verkürzung (Closing-Wedge-Technik) möglich. Ziele einer operativen Behandlung sind: ▬ Korrektur der kyphotischen Deformität ▬ Fusion nur der geschädigten Segmente ▬ Wiederherstellung sofortiger belastungsfähiger Stabilität ▬ Reprofilierung der gesamten Wirbelsäule ▬ Dekompression der nervalen Strukturen Weitere spezielle konservative und operative Verfahren der Kyphosetherapie sind den Kapiteln der entsprechenden Grunderkrankung (M. Scheuermann Abschn. 22.2.5, M. Bechterew Abschn. 22.2.8, Wirbelfehlbildungen Abschn. 22.2.2, Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule Abschn. 22.3.1.1) zu entnehmen.
22.2.7 z
Infektiöse Spondylodiszitis
Definition
Trotz nahezu synonymen Gebrauchs im klinischen Alltag sollte zwischen der Spondylitis als Osteomyelitis eines Wirbelkörpers mit evtl. sekundärem Übergreifen auf den Bandscheibenraum und der Spondylodiszitis mit primärem Beginn in der Intervertebralregion und anschließendem Ausbreiten auf die benachbarte Grund- und Deckplatte unterschieden werden. Das Vorliegen eines zum Zeitpunkt der Diagnosestellung meist bereits fortgeschrittenen Stadiums mit Destruktionen und der damit verbundenen Schwierigkeit einer pathogenetischen Zuweisung führte zu einer Gleichsetzung der Begriffe. Neben der Einteilung in infektiöse und nicht infektiöse Spondylodiszitiden werden die infektiösen Entzündungen wiederum in bakterielle und nicht bakterielle (viral, mykotisch, parasitär) differenziert. Die bakteriell bedingten Krankheitsbilder werden zusätzlich hinsichtlich ihres Erregers in spezifische und unspezifische unterschieden. Bei Fortschreiten der Erkrankung kann durch Ausbreitung der Entzündung in das paravertebrale Weichteilgewebe eine chirurgische Intervention erschwert werden, es können vital bedrohende Verläufe auftreten. Eine reine Diszitis betrifft nur die Bandscheibe und tritt hauptsächlich im Kindesalter bei noch bestehender Vaskularisierung der Bandscheibe oder nach vorangegangener Bandscheibenoperation auf.
Allgemeines Die nach ihrem Erstbeschreiber Percival Pott ursprünglich als »Pott’s disease« benannte Spondylodiszitis oder Spondylitis vollzog in den letzten 200 Jahren eine erstaunliche Metamorphose. Trat die im 19. Jahrhundert verbreitete Spondylitis tuberculosa noch vorwiegend im ersten Lebensjahrzehnt auf, sind heute hauptsächlich die älteren Lebensdekaden betroffen. Das ehedem häufige Auftreten des Symptoms einer Rückenmarkkompression ist heute in den Hintergrund getreten. Bei ehemals hoher Letalität der Erkrankung war üblicherweise die BWS befallen, heute sind die Überlebenschancen deutlich höher, der Erkrankungsort hat sich in die untere LWS distalisiert. Die jährliche Inzidenz in West- bzw. Nordeuropa beträgt ca. 0,5–2,2/10.000 Einwohner, die Klinikletalität wird mit 2–17% angegeben.
Erregerspektrum der Spondylodiszitis
▬ Unspezifische Spondylodiszitis: – Staphylococcus aureus – Staphylococcus epidermidis – Streptokokken – Pneumokokken – Salmonellen – Escherichia coli – Haemophilus influenzae – Clostridium perfringens – Proteus mirabilis – mykotische Infekte bei Immunsuppression ▬ spezifische Spondylodiszitis: – Mycobacterium tuberculosis – Mycobacterium leprae – Treponema pallidum – Salmonella typhi – Brucella
Unspezifische bakterielle Spondylodiszitis Tritt die Erkrankung durch eine äußere Verletzung oder iatrogen auf, spricht man von einer exogenen Form, ist der Erreger hämatogen, lymphogen oder per continuitatem antransportiert worden, handelt es sich um eine endogene Form. Die gängigen Risikofaktoren wie Alter, Diabetes mellitus, Immunsuppression, Multimorbidität, Niereninsuffizienz, rheumatische Erkrankungen, chronische Steroideinnahme, chronische Hepatitiden, Tumorleiden, Sichelzellanämie, vorangegangene systemische Infektionen oder viszeralchirurgische Eingriffe, Drogenabusus und HIV begünstigen das Auftreten einer Infektion. > Das breite Erregerspektrum wird von Staphylococcus aureus dominiert (Inzidenz von 30–80%).
Durch Ausbreitung der Infektion in das paravertebrale Gewebe und Affektion benachbarter anatomischer Strukturen wie Urether, Gefäße, Peritoneum etc. wird das Krankheitsgeschehen kompliziert und die chirurgische Intervention erschwert. Neurologische Ausfälle und Komplikationen sind bei Einbruch des Abszesses in den Spinalkanal zu erwarten.
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Spezifische tuberkulöse Spondylodiszitis
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Die spezifische tuberkulöse Spondylodiszitis entsteht immer auf endogenem Weg. Die Wirbelsäule ist der Prädilektionsort für das Entstehen einer Skeletttuberkulose, etwa die Hälfte aller Skeletttuberkulosen manifestieren sich dort. Nach vorangegangener Tuberkulose – zumeist des urogenitalen oder respiratorischen Systems – kann es noch nach Jahren zu einem lymphatischen Wirbelsäulenbefall kommen. Die Manifestationsrate als Skeletttuberkulose beträgt bei HIV-negativen Patienten 3–5%, bei HIV-positiven Patienten bis zu 60%. Im Gegensatz zu dem enzyminduzierten, proteolytischen Geschehen bei der unspezifischen Spondylodiszitis erfolgt bei der spezifischen die Substanzzerstörung der Wirbelkörper durch eine langsame Immunreaktion mit dem Auftreten von Langerhans-Riesenzellen und der Ausbildung von Granulomen. Beim Eindringen von Abszess und nekrotischem Gewebe in den Spinalkanal kann eine Durakompression entstehen, ebenso ist eine Ausbreitung in die Bauchhöhle oder den Psoasmuskel möglich, als Senkungsabszess kann sich die Abszedierung unterhalb des Leistenbandes bis auf den Oberschenkel erstrecken. Letztlich kann eine Fistelung nach außen auftreten. Als Pott-Trias wird die Symptomentrias von Psoasabszess, Destruktion des Wirbelkörpers mit Gibbusbildung und Paraplegie bezeichnet. Aufgrund der Ausbreitung über das anteriore Longitudinalband und subperiostal ist bei der tuberkulösen Spondylodiszitis häufig ein mehrsegmentaler Befall zu sehen. z Diagnostik z z Anamnese
Das Frühstadium der Spondylodiszitis ist durch eine unspezifische klinische Symptomatik geprägt. Schwäche, Antriebslosigkeit, leichte Temperaturerhöhung und Gewichtsverlust kennzeichnen dieses Stadium. Eine Diagnosefindung in dieser Phase gelingt aufgrund der unspezifischen Symptome nur selten. Bei Fortschreiten der Erkrankung mit Übergang in eine akute Spondylodiszitis klagen die Patienten über starke belastungsunabhängige konstante Schmerzen, die durch Bewegung verstärkt werden können. Ruhe- und Nachtschmerzsymptomatik sind vorhanden, die Schmerzen bei Nacht werden oft stärker empfunden als die während des Tages. Allgemeine Symptome wie starkes Krankheitsgefühl, Gewichtsverlust und febrile Körpertemperatur können das Krankheitsbild vervollständigen. Im Gegensatz zur chronisch und oft subfebril verlaufenden Spondylodiszitis sind sowohl die Leukozytenzahl als auch die Blutsenkungsgeschwindigkeit stark erhöht. Das Auftreten von Nachtschweiß ist ein Leitsymptom für die tuberkulöse Spondylodiszitis. Eine spinale Abszedierung kann neurologische Ausfallserscheinungen zur Folge haben oder meningitische Beschwerden verursachen. Bei der unspezifischen Spondylodiszitis können allgemeine Risikofaktoren sowie ein entfernter Infektherd nachgewiesen werden, bei der spezifischen Spondylodiszitis lässt sich in der Anamnese meist eine Primärtuberkulose eruieren. z z Klinische Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung zeigen sich ein starker lokaler Stauchungs-, Rüttel- und Klopfschmerz sowie ein
Durchfederungsschmerz im betroffenen Segment. Der lokale Druckschmerz über dem betroffenen Segment kann diskret sein. Das Pseudo-Gower-Zeichen ist positiv, d. h. der Patient stützt sich beim Aufrichten des Oberkörpers aus gebückter Haltung mit seinen Händen am Oberschenkel ab. Das Bewegungsausmaß der Wirbelsäule kann eingeschränkt sein. Palpatorisch kann man einen paravertebralen Hartspann im Bereich des betroffenen Segments feststellen. Bei Befall der LWS kann das Lasègue-Zeichen bzw. das Femoralisdehnungszeichen positiv sein. Bei neurologischer Affektion kann sich dem Untersucher ein vielfältiges Bild an Symptomen bieten, das von radikulärer Ausstrahlung, Sensibilitätsdefizit, positivem Babinski-Zeichen bis hin zur Paralyse und inkompletter oder kompletter Paraplegie reichen kann. Bei retropharyngealer Abszedierung kann es zu Schluckbeschwerden kommen, bei intraspinaler zu Meningismus und bei retroperitonealer Abszedierung kann das Vollbild eines paralytischen Ileus auftreten. Während die laborchemischen Entzündungsparameter bei der unspezifischen Spondylodiszitis eine Erhöhung aufweisen, sind die Entzündungszeichen bei der tuberkulösen Spondylodiszitis diskreter, typisch ist eine Lymphozytose. Laborchemische Untersuchungen
Wie bereits angedeutet spielen die laborchemischen Entzündungsparameter in der Diagnostik eine große Rolle. Leukozytenzahlerhöhungen besitzen nur eine geringe Sensitivität für eine Spondylodiszitis. Normwertige Leukozytenzahlen bedingen hingegen keinen Ausschluss einer Spondylodiszitis. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit weist bei hoher Sensitivität nur eine geringe Spezifität auf. Das CRP bietet sich als guter diagnostischer Parameter an. Postoperativ konstant erhöhte CRPWerte 1–2 Wochen nach Durchführung des Eingriffs sollten an das Vorliegen einer Infektion denken lassen. Weitere Marker wie die PNM-Elastase (Polymorphonuklearelastase) oder der Mrakophagenmarker Neopterin stehen in der klinischen Routine zumeist nicht zur Verfügung. Mikrobiologie und Erregernachweis
Der Tine-Test wird gemäß den heutigen Therapiestandards nicht mehr empfohlen. Bei Temperaturerhöhung über 40°C oder Schüttelfrost sollte die Abnahme einer Blutkultur veranlasst werden. Nach heutigen Standards wird die Abnahme von mindestens 2–3 Blutkulturpaaren empfohlen. Mikrobiologische Untersuchungen des Urins, Liquor-, Sputum und Magensaftkulturen können gelegentlich Erfolg versprechend sein. Die Punktionsbiopsie bietet neben der Möglichkeit des Nachweiserregers zusätzlich die Option der histologischen und zytologischen Untersuchung. Zum Schutz von Aorta und V. cava inferior sollte die Punktion im BWS-Bereich von rechts, im LWS-Bereich von links erfolgen. In der Literatur ist der Zugangsweg von rechts oder links für die beiden letzten Brustwirbelkörper umstritten. Die an sich elegante Methode der CTgesteuerten Feinnadelbiopsie birgt den Nachteil einer Gewinnung von nur wenig Probenmaterial, sodass nur in rund 50% der Fälle ein Keimnachweis gelingt. Der Nachweis des Erregers bei intraoperativer Probenentnahme liegt bei 75%.
429 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
> Der Keimnachweis sowie die gezielte antibiotische Therapie stellen eine der wichtigsten Säulen der Spondylodiszitistherapie dar. Die Gewinnung von Untersuchungsmaterial für die mikrobiologische Diagnostik hat entsprechend höchste Priorität. Diese Chance darf nicht durch leichtfertigen Einsatz von Antibiotika vor Probengewinnung vertan werden. z z Bildgebende Verfahren
Die Routinediagnostik beginnt mit konventionellen Röntgenaufnahmen im a.p.- und seitlichen Strahlengang (⊡ Abb. 22.29). Schräg- und Funktionsaufnahmen sowie Tomographien können die erste Runde der bildgebenden Verfahren abschließen. Höhenverlust des Intervertebralraums sowie Arrosionen der Grund- und Deckplatten sind typische Frühzeichen, im weiteren Verlauf folgen Sklerosierung und knöcherne Proliferation. Das Vorhandensein von Abszessformationen kann sich durch paravertebrale Weichteilschatten nachweisen lassen. Keilwirbel sind für das Spätstadium charakteristisch. Nach Eysel und Peters (1997) lassen sich 4 Stadien des Krankheitsverlaufs unterscheiden: Im Stadium I verschmälert sich der Zwischenwirbelraum, im Stadium II sind knöcherne Erosionen der Grund- und Deckplatten sichtbar. Das Stadium III zeichnet sich durch eine zunehmende Ausbildung von Keilwirbeln und damit verbunden einer kyphotischen Deformierung aus, bis es im Stadium IV zu einer knöchernen Ankylosierung in kyphotischer Fehlhaltung kommt. > Die Röntgendiagnostik muss stets kritisch hinterfragt werden, da dass Verfahren in der Frühphase bedingt durch das mögliche Fehlen von Skelettveränderungen eingeschränkt aussagekräftig ist.
Kontrastmittel-Computertomographien besitzen bezüglich der Aussagekraft über die Infektausdehnung einen hohen Stellenwert, da sie eine Darstellung der Schichten in allen Ebenen erlauben. Gerade frühe Veränderungen können sehr gut zur Darstellung gebracht werden. Die Computertomographie ist der MRT-Diagnostik hinsichtlich Sensitivität und Spezifität unterlegen, die knöchernen Destruktionen und Veränderungen können jedoch genauer dargestellt werden. Der goldene Standard der Diagnostik bei Verdacht auf Spondylodiszitis liegt mit einer Sensitivität von 92% in der MRT (⊡ Abb. 22.30 u. ⊡ Abb. 22.31). Ein frühes Erkennen des Entzündungsgeschehens, von paravertebralen Abszessen sowie einer epiduralen Mitbeteiligung sind die Vorteile dieses Verfahrens und richtungweisend für das weitere therapeutische Prozedere. Zur exakten Darstellung sollten T1- und T2-gewichtete Sequenzen, STIR-Sequenzen und Sequenzen mit Fettsupression als Untersuchungssequenzen gewählt werden, eine Kontrastmittelsequenz mit Gadolinium (Gd-DTPA) ist empfehlenswert. Die Dreiphasenszintigraphie oder die Entzündungsszintigraphie können sowohl als diagnostische Verfahren als auch zur Feststellung weiterer Knochenherde Einsatz finden. Anzumerken bleibt, dass ein nicht pathologischer Befund eine tuberkulöse Spondylodiszitis nicht ausschließt und dass traumatisch, neoplastisch oder degenerativ bedingte Veränderungen nicht differenziert werden können. Die Positronenemissionstomographie mit Fluor-18-Fluorodesoxyglukose basiert auf der unter physiologischen Bedingungen nicht stattfindenden Anreicherung von F-18-FDG im Knochenmark der Wirbelsäule. Grundlage ist der erhöhte Glukosestoffwechsel der Entzündungszellen. Der schnellen Verfahrenstechnik, relativ geringen Strahlenexposition sowie der gut unterscheidbaren Abgrenzung von degenerativen Veränderungen steht die schlechte Spezifität gerade hinsichtlich maligner Erkrankungen gegenüber. z
Therapie
Die Prinizipien der nachfolgend näher erläuterten konservativen Therapie bestehen in konsequenter Ruhigstellung des entzündeten Bewegungssegments und chemotherapeutischer Medikation mit Antibiotika oder Tuberkulostatika. Bei den operativen Therapieverfahren wird durch eine Spondylodese eine Versteifung der betroffenen Region erzielt, je nach Operationsmethodik kann eine Entfernung entzündeten und nekrotischen Gewebes stattfinden. z z Konservative Therapie
a
b
⊡ Abb. 22.29a,b Lumbale Spondylodiszitis im Röntgenbild. a Strahlengang seitlich, b a.p.
Milder Krankheitsverlauf oder erhöhtes Operationsrisiko sind die Grundlagen für die Entscheidung zur konservativen Therapie. Konsequente Bettruhe mit Ruhigstellung des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts sowie antibiotische bzw. tuberkulostatische Therapie sind die beiden Pfeiler der konservativen Behandlung. Die Wahl des Antibiotikums bereitet insofern Schwierigkeiten, als Empfehlungen im Sinne einer »evidencebased therapy« fehlen. In Abhängigkeit des Keimspektrums sollte eine gezielte antibiogrammgerechte Antibiotikawahl getroffen werden. Ist kein Erregernachweis erfolgt, sollte ein staphylokokkenwirksames Breitbandantibiotikum Anwendung
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
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⊡ Abb. 22.30a,b Spezifische thorakale Spondylodiszitis im MRT. a Sagittale Schnittebene, b axiale Schnittebene
a
finden, das in seinem Wirkspektrum Escherichia coli einschließt. Tipp
I
I
Beim hochakuten Fall sollte der Erstgabe von Antibiotika zumindest die Entnahme von Blutkulturen vorangehen.
Im deutschsprachigen Raum wird nach vorherrschender Meinung der aktuellen Literatur Fosfomycin in Kombination mit einem anderen Antibiotikum – oft einem Cephalosporin der zweiten Generation – gegeben. Die parenterale Applikation sollte sich über mehrere Wochen (mindestens 2–4 Wochen) erstrecken, ehe eine Oralisierung der Medikation erfolgt. Bei Risikopatienten sollte die parenterale Therapie prolongiert und beispielsweise bis 6 Wochen nach Normalisierung der laborchemischen Entzündungsparameter fortgesetzt werden. Zur Behandlung der tuberkulösen Entzündung wird eine Drei- bzw. Vierfachtherapie mit Isoniazid, Rifampicin, Pyrazinamid und/oder Ethambutol empfohlen. Die Therapiedauer wird in der Literatur unterschiedlich angegeben und reicht von 6–18 Monate, in der aktuellsten Übersichtsarbeit sogar von 18–24 Monate. Evidenzbasierte Daten fehlen. Bei Pilzinfektionen gelingt der Nachweis nur schwer, entsprechend ist die antimykotische Therapie schwierig. Die frühzeitige operative Sanierung wird empfohlen. Laborchemische und radiologische Verlaufskontrollen während der Therapie sind obligat, unerwünschte medikamenteninduzierte Nebenwirkung sind ebenfalls in klinischen und laborchemischen Untersuchungen auszuschließen. Die Immobilisierung des Patienten beinhaltet die Einhaltung strikter Bettruhe. Die Anwendung von Gipsliegeschalen
b
mit Lordosierung zur Prophylaxe einer Kyphosenentwicklung, einfachen Liegeschalen und Korsetten oder deren bewusster Verzicht wird kontrovers diskutiert. Der Zeitpunkt der Mobilisierung sollte von bildgebenden Verfahren (Beginn der knöchernen Durchbauung), einem deutlichen Rückgang der Entzündungsparameter sowie dem klinischen Beschwerdebild des Patienten abhängig gemacht werden. Die Korsettbehandlung sollte über einen Zeitraum von mehreren Monaten fortgesetzt werden. Die minimalinvasive Therapie stellt in diesem Zusammenhang nur eine symptomorientierte Therapie bei Auftreten von Psoasabszessen oder paravertebralen Abszessen dar. Die Entlastung und Drainage der Abszessformation geschieht wahlweise durch CT- oder ultraschallgestützte Punktion und Drainageneinlage (⊡ Abb. 22.31). Die Fortführung der Antibiotikatherapie ist selbstverständlich. z z Operative Therapie
Im Vergleich mit dem konservativen Vorgehen bietet die operative Therapie durch direkten Erregernachweis, Ausräumung der entzündlich veränderten und nekrotischen Anteile, Stabilisierung und dadurch Vermeidung neurologischer Komplikationen, zügiger Mobilisierung mit Reduktion der Krankenhausaufenthaltsdauer sowie Schmerzreduktion zahlreiche Vorteile. Trotz der geschilderten Vorzüge und der zunehmenden Indikationserweiterung sollte die Operation erst bei therapieresistenter konservativer Therapie, Instabilität oder Deformierung der Wirbelsäule, drohenden neurologischen Komplikationen sowie Ausbildung von Abszessen oder beginnender Sepsis Anwendung finden. Das therapeutische Konzept ähnelt dem der Extremitätenchirurgie: radikales Débridement mit Keimnachweis, Rekonstruktion der Statik und operative Ruhigstellung des betroffenen Segments durch Versteifung.
431 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
⊡ Abb. 22.31 CT-gestützte Punktion des Spondylodiszitisherdes
Bei den operativen Verfahren gab es ursprünglich 2 konkurrierende Verfahren: Die dorsale Methode mit Eröffnung der kleinen Wirbelgelenke und Anlagerung und Fixierung von Beckenkammspongiosa oder -spänen sowie das rein ventrale Vorgehen mit Ausräumung des Infektes, Drainage und ggf. Interposition eines antibiotikahaltigen Trägers. Auch heute gibt es kein Standardoperationsverfahren. Es kommen weiterhin das ventrale Débridement mit interkoporeller Fusion sowie das dorsale Débridement mit Instrumentation zum Einsatz. Häufig finden beide Verfahren in Kombination Anwendung (⊡ Abb. 22.32), wobei wahlweise ein- oder zweizeitig vorgegangen wird. Die aktuell propagierte ventrale Instrumentation sowie die Einbringung von Wirbelkörperersatzimplantaten in ein florides entzündliches Geschehen muss vorläufig noch kritisch bewertet werden. Erste Studienergebnisse zeigen jedoch, dass die Verwendung von Titan-Cages gerade bei größeren Defekten im Vergleich zu autologen Knocheninterponaten zu keinem erhöhten Risiko einer Infektpersistenz oder eines Infektrezidivs führten. Postoperativ erfolgt eine zügige Mobilisierung des Patienten im Korsett sowie eine langfristige Antibiotiaka- bzw. Tuberkulostatikatherapie. z
Prognose
Keine der aufgeführten konservativen oder operativen Behandlungsoptionen bietet die Garantie, dass Restbeschwerden nicht in Erscheinung treten. Persistierende Destruktionen, Fehlstellungen sowie degenerative Prozesse in benachbarten Wirbelabschnitten können eine starke Beeinträchtigung darstellen. Sensomotorische Defizite können fortbestehen oder bilden sich erst über einen längeren Zeitraum zurück.
a
b
⊡ Abb. 22.32a,b Röntgenbild nach dorsoventraler lumbaler Spondylodese bei Spondylodiszitis. a a.p., b seitlich
22.2.8 z
Morbus Bechterew
Synonyme
Spondylitis/Spondylarthritis ankylosans, Spondylitis/Spondylarthritis ankylopoetica, M. Marie-Strümpell-Bechterew z
Definition
Die Bechterew-Krankheit – benannt nach dem erstbeschreibenden Lehrstuhlinhaber für Neurologie in St. Petersburg, Wladimir M. von Bechterew, Ende des 19. Jahrhunderts – gehört in den Formenkreis der rheumatischen Erkrankungen mit chronisch-entzündlichem Verlauf und Hauptmanifestationsort Achsenskelett, und zwar zur Gruppe der seronegativen Spondylarthropathien. Die Bechterew-Krankheit verläuft schleichend oder schubweise chronisch progredient und beginnt meistens am Iliosakralgelenk. An der Wirbelsäule verursacht sie von kaudal nach kranial aufsteigende, entzündlich-destruktive Veränderungen von Wirbelgelenken und spezifisch ossifizierende Veränderungen, sodass ganze Wirbelsäulenabschnitte und letztlich die ganze Wirbelsäule betroffen sein können.
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Es kommt zur Verkalkung der Longitudinalbänder, was den für das Krankheitsbild typischen klinischen und radiologischen Verlauf bewirkt. Die frühe Manifestation der Krankheit, vielfach bereits ab dem 20. Lebensjahr, verdeutlicht die Notwendigkeit einer frühen Diagnostik und eines raschen Therapiebeginns. > Charakteristisch ist das Auftreten von Enthesiopathien, peripheren, meist asymmetrischen Gelenkentzündungen und seltener eine viszerale Organmanifestation, z. B. an Herz und Augen.
Differenzialdiagnostische weitere Spondylarthritiden sind die Psoriasisarthritis, die reaktive Arthritis beim Reiter-Syndrom sowie die mit chronischen Darmerkrankungen assoziierten Arthritiden beim M. Crohn und seltener Colitis ulcerosa. a
z
Epidemiologisch lässt sich die Morbiditätsrate auf ca. 2% schätzen, Männer sind häufiger betroffen. Da die Verlaufsform bei Frauen oft milder ist, wurde die Inzidenz der weiblichen Erkrankungen aufgrund fehlender Diagnosestellung in der Vergangenheit fälschlicherweise zu niedrig angesetzt. Der Gipfel des Manifestationsalters liegt zwischen 25 und 30 Jahren. In Deutschland wird die Anzahl der Bechterew-Patienten mit 400.000 vermutet. z
b
Epidemiologie ⊡ Abb. 22.33a,b Patient mit M. Bechterew
Ätiologie und Pathogenese
Die Pathogenese der Erkrankung steht bis heute nicht sicher fest, einzig eine genetische Disposition scheint offensichtlich, da mehr als 95% der Bechterew-Patienten HLA-B27 positiv sind. Daraus darf aber nicht der Umkehrschluss erfolgen, dass der Nachweis von HLA-B27 (7% der Bevölkerung) zur Ausprägung eines M. Bechterew führt. Die Rheumafaktoren sind in der Regel negativ. Exogene Faktoren wie enterale oder urogenitale Infekte sowie Infektionen mit Klebsiellen scheinen eine weitere Rolle in der Ätiologie zu spielen, evtl. liegt eine Kreuzreaktion zwischen körpereigenen und bakteriellen Antigenen bei besonderer Disposition der HLA-B27-Träger zugrunde. Initial kommt es zu lymphozytären Entzündungsreaktionen im Bereich des Iliosakralgelenks mit erhöhter Menge an TNFα-kodierender mRNA, im Bereich der Facettengelenke und der Kostotransversalgelenken. Im Anschluss folgt eine Bindegewebeproliferation mit chondroider Umwandlung und abschließender enchondraler Ossifikation. Diese Prozesse ereignen sich im subligamentären Bindegewebe, am Anulus fibrosus sowie an den angeführten Gelenken und münden in eine knöcherne Ankylose. Die bereits erwähnten destruktiven Umwandlungen spielen sich an der Vorderkante und Vorderfläche des Wirbelkörpers ab sowie an der Grund- und Deckplatte (Spondylitis, Diszitis). Als Romanus-Läsion bezeichnet man das Auftreten einer Läsion der anterioren Wirbelkante im Rahmen einer Spondylitis anterior. Unter Andersson-Läsion versteht man entzündlich bedingte Knochendefekte im Bereich der Grund- und Deckplatten bei oder nach Vorhandensein einer Spondylodiszitis/Diszitis. Ungeachtet der knöchernen Destruktionen und Verschmälerung des Intervertebralraums kann durch periostale Reaktion auch Knochen angebaut werden. Dies erklärt die Entstehung der Kastenwirbel. Die Verkalkung der ventralen und dorsalen Longi-
a ⊡ Abb. 22.34a,b Röntgenbild der Wirbelsäule in 2 Ebenen: Vermehrte Kyphosierung der BWS. a Strahlengang seitlich, b a.p.
b
tudinalligamente mit überbrückenden Syndesmophytosen ergibt das klassische Bild der Bambusstabwirbelsäule. Die Ursache der Entwicklung einer kyphotisch fixierten Deformität der Rumpfund/oder Halswirbelsäule wird teils in einer Ankylosierung der Kostotransversalgelenke, teils in mangelnder physiotherapeutischer Behandlung vermutet (⊡ Abb. 22.33 und ⊡ Abb. 22.34). z
Diagnostik
Als Diagnosekriterien mit internationalem Konsensus dienen die aus dem Jahr 1984 stammenden modifizierten New-YorkKriterien: ▬ Kriterium 1: deutlich eingeschränkte Beweglichkeit der LWS in allen Ebenen ▬ Kriterium 2: Kreuzschmerzen oder -steifigkeit, die seit mehr als 3 Monaten andauern und sich durch Bewegung verbessern ▬ Kriterium 3: Reduktion der Atembreite (≤2,5 cm) in Höhe des 4. Interkostalraums
433 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
⊡ Tab. 22.7 Punktescore mit Frühdiagnosekriterien für M. Bechterew (nach Engel 2001) Kriterien
Punktwert
Genetisch
HLA-B27 positiv
1,5
Klinisch
Wirbelsäulenschmerz vom entzündlichen Typ
1
Ischialgiformer Spontanschmerz und/oder positives Mennel-Zeichen
1
Spontan- oder Kompressionsschmerz im knöchernen Thorax und/oder eingeschränkte Atembreite (<2,5 cm)
1
Periphere Arthritis und/oder Fersenschmerz
1
Iritis/Iridozyklitis
1
Eingeschränkte Beweglichkeit der HWS und/oder der LWS in allen Ebenen
1
Laborchemisch
BSG-Erhöhung
1
Röntgen
Wirbelsäulenzeichen, Syndesmophyten, Kasten-, Tonnenwirbel, Romanus-, Anderson-Läsion, Arthritis der Kostovertebral- und/oder der Intervertebralgelenke
1
BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit, HLA humanes Leukozyten-Antigen-System
Die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie teilt die Sakroiliitis wiefolgt ein: ▬ Grad 0: normal ▬ Grad 1: verwaschener Gelenkspalt, Pseudoerweiterung, mäßige Sklerosierung ▬ Grad 2: unregelmäßige Gelenkspalterweiterung, ausgeprägte Sklerosierung, Erosionen, »Perlschnurbild« ▬ Grad 3: Gelenkspaltverschmälerung oder -verengung, Erosionen, Sklerosierung ▬ Grad 4: totale Ankylose Eine gesicherte Diagnose eines M. Bechterew liegt vor, bei: ▬ beidseitiger Sakroiliitis Grad 3 oder 4 und ein klinisches Kriterium ▬ beidseitiger Sakroiliitis Grad 2 oder eine einseitige Sakroiliitis Grad 3 oder 4 und – Kriterium 1 – Kriterium 2 und 3 Da das Auftreten radiologisch evidenter Merkmale in einem Zeitfenster von 2,5–11 Jahren geschieht, sind die New-YorkKriterien für eine Frühdiagnose ungeeignet. Zu diesem Zweck wurde ein Punktescore mit Frühdiagnosekriterien für den M. Bechterew eingeführt (Engel 2001). Ab einem kumulativen Punktwert von 3,5 ist eine Frühdiagnose zu stellen. Sekundär durch andere Erkrankungen verursachte und nicht in ⊡ Tab. 22.7 aufgeführte Pathologien dürfen nicht gewertet werden (traumatisch, metabolisch, endokrin, rheumatisch, degenerativ etc.) z z Anamnese
Die Beschwerden, die eine erstmalige Arztkonsultation erforderlich machen, können vielseitig sein. Als Schmerzen werden beispielsweise tiefsitzende Rückenschmerzen, Schmerzen im Bereich der Brustwirbelsäule oder der Glutealregion angegeben, der Patient kann über Steifigkeitsgefühl oder pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung klagen. Die Kreuz- und Glutealschmer-
zen treten vorwiegend in der zweiten Nachthälfte auf. Ruheschmerz und Morgensteifigkeit sind weitere charakteristische Phänomene. Schmerzfreie bzw. -arme Intervalle bestimmen den schubweisen Charakter des Krankheitsverlaufs. Eine Mon- oder Oligoarthritis – charakteristischerweise der unteren Extremität – kann in 30 % des Patientenguts als Erstereignis auftreten oder sich im weiteren Verlauf einstellen. Eine stadienhafte Einteilung des Krankheitsverlaufs umfasst das Prodromal- oder Verdachtsstadium, das Stadium der Sakroiliitis, das versteifende Wirbelsäulenstadium sowie das Endstadium. z z Klinische Untersuchung
Zur genauen Bestimmung des Ausmaßes der Kyphosierung und der Abnahme der Wirbelsäulenbeweglichkeit kann bei vollständiger Extension in Knie- und Hüftgelenken der Hinterhaupt-Wand-Abstand (Fleche occipitale) oder der Vertebra-prominens-Wand-Abstand (Fleche cervicale) gemessen werden. Schober-Ott-Zeichen, Kinn-Manubrium-Abstand, Finger-Boden-Abstand und Atembreite sind weitere Distanzmessungen. Am Iliosakralgelenk lassen sich Druck- und Stauchungsschmerz auslösen. In der laborchemischen Diagnostik fallen eine erhöhte Blutsenkungsgeschwindigkeit und eine Erhöhung des C-reaktiven Proteins bei fehlendem Nachweis von Rheumafaktoren auf. Der Nachweis von HLA-B27-Antigen gelingt in 90% der Fälle. z z Bildgebende Verfahren
Radiologisch werden primär eine Beckenübersicht sowie Aufnahmen der LWS in 2 Ebenen angefertigt (⊡ Abb. 22.35). Gegebenenfalls folgen ISG-Zielaufnahmen und Tomographien. In Abhängigkeit der Beschwerden können zusätzliche Aufnahmen der BWS und/oder HWS sowie die Darstellung entzündlich affektierter peripherer Gelenke erfolgen. Das Ausmaß der Kyphose wird in einer seitlichen Ganzwirbelsäulenstandaufnahme mit Rasterkasette in der Methode nach Cobb ausgemessen.
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
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a
b
⊡ Abb. 22.35a,b Röntgenbild der LWS in 2 Ebenen. a a.p.-Strahlengang, typisches Bild einer Bambusstabwirbelsäule, b seitlicher Strahlengang mit Darstellung der Syndesmophyten
⊡ Abb. 22.36 CT mit Entzündungsreaktionen im Bereich der ISG, »buntes Bild« mit Nebeneinander von unscharfen Gelenkkonturen, Erosionen und Sklerosierung
Radiologisch werden 5 Kyphosetypen unterschieden: ▬ Versteifung in physiologischer Haltung ▬ lumbale Kyphose ▬ thorakale Hyperkyphose ▬ zerviko- bis hochthorakale Kyphose ▬ langbogige Totalkyphose
rung von Ossifikationen und Deformierungen im Sinne einer Prophylaxe und symptommodifizierenden Therapie. Eine Heilung der Erkrankung ist zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich. Dementsprechend erfolgt eine medikamentöse Therapie sowie Durchführung physikalischer und physiotherapeutischer Maßnahmen. Als Medikamente stehen die NSAR bzw. Coxibe im Vordergrund, Kortisonpräparate finden aufgrund ihres klassischen Nebenwirkungsprofils meist nur kurz Verwendung und können den Krankheitsverlauf im Gegensatz zur chronischen Polyarthritis nur gering beeinflussen. Sie finden v. a. beim Gelenkbefall zur lokalen intraartikulären Injektion erfolgreich Verwendung. Weiterhin können alternative Analgetika und Muskelrelaxanzien verordnet werden. Bei Befall der großen Gelenke können zusätzlich langfristig wirksame »disease-modifying drugs« wie Sulfalazin oder Methotrexat in Erwägung gezogen werden. Ihre Anwendung bei alleinigem Wirbelsäulenbefall stößt allerdings auf kritisches Echo und wird bei Sulfasalazin nur im Frühstadium positiv bewertet. Neue Möglichkeiten eröffnete die Anwendung von TNF-αBlockern. Die derzeitigen Therapieempfehlungen sprechen für den Einsatz beim gesicherten M. Bechterew (mind. seit 6 Monaten) mit einer dauerhaft hohen Krankheitsaktivität oder einem Versagen der bereits erwähnten Therapieoptionen. Der Erfolg der TNF-α-Blocker-Therapie ist umso deutlicher, je schneller der Therapiebeginn nach Manifestation der Erkrankung erfolgt. Eine endgültige Bewertung der Anwendung von TNF-αBlockern ist derzeit noch nicht möglich. Es bleibt abzuwarten, ob durch diese Therapie eine Modifizierung der Erkrankung oder nur der Symptome erreicht werden kann. Mit Physio- und Bewegungstherapie wird u. a. eine dem jeweiligen Krankheitsstadium angepasste sportliche Aktivität angestrebt. Haltungs- und Bewegungsschulung, Behandlung
Zur Beurteilung der Skolioseausprägung kann simile modo die Aufnahme im a.p.-Strahlengang erfolgen. Lassen sich die Iliosakralgelenke radiologisch nicht richtig beurteilen, kann eine computertomographische Untersuchung weiteren Aufschluss bringen (⊡ Abb. 22.36). Das MRT findet seine Anwendung v. a. in der Frühdiagnose. Die Sonographie dient der Diagnostik sowie der Verlaufskontrolle peripherer Arthritiden und Enthesiopathien. Aussagen bezüglich der Aktivität der Bechterew-Erkrankung der Wirbelsäule sind nicht möglich. Eine Szintigraphie sollte als Dreiphasenszintigraphie durchgeführt werden, um entzündungstypische Anreicherungen gegenüber degenerativ bedingten differenzieren zu können. In diesem Zusammenhang sollte die Aussagekraft der Szintigraphie immer kritisch hinterfragt werden (falsch-positiv mit Anreicherung im Iliosakralgelenk bei Überlastung, Beckenschiefstand oder bereits beim Gesunden; falsch-negativ bei bereits eingetretener Ankylosierung). > Sekundär kommt es in ca. 50% der Fälle zur Ausprägung einer Osteopenie oder Begleitosteoporose. z Therapie z z Konservative Therapie
Folgende Behandlungsziele sollten beachtet werden: Schmerzlinderung, Entzündungshemmung, Mobilitätserhalt, Verhinde-
435 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
der bestehenden muskulären Dysbalancen sowie Ausdauerund Atemtraining runden den Maßnahmenkatalog ab. Physikalische Maßnahmen mit Bestrahlung, Massagen, Kryo- oder Wärmeanwendungen dienen sowohl der Muskelrelaxation als auch als antiphlogistische Therapie. Alternative Therapieverfahren wie Homöopathie, Phytotherapie, TCM etc. finden ebenfalls breite Anwendung. z z Operative Therapie
Bei die Funktion innerer Organe beeinträchtigenden starken Deformierungen der Wirbelsäule, bei ausgeprägter Instabilität oder in massiver Fehlstellung erfolgten Wirbelsäuleneinsteifungen wird die Durchführung korrigierender operativer Wirbelsäuleneingriffe notwendig. Die bei Befall der großen peripheren Gelenke erforderlichen Therapiemaßnahmen entsprechen den Eingriffen bei rheumatischem Befall ( Kap. 16 und 17). Tipp
I
I
Aufgrund des vermehrten Auftretens heterotoper Ossifikation nach endoprothetischem Ersatz bei Bechterew-Patienten sollte die Entscheidung über eine Radiatio zur Ossifikationsprophylaxe erwogen werden.
Die angewandten Operationsverfahren hängen von der Lokalisation der Fehlstellung ab. Bei hochzervikalem Befall findet die C1-C2-Fusion in Harms-Technik Anwendung. Bei thorakozervikalem Auftreten wird die korrigierende zervikothorakale Extensionsosteotomie von C7/Th1 mit nachfolgender Stabilisierung im Halo-Gips favorisiert. Die Operation, die erstmals 1953 von Mason beschrieben wurde und in einer kompletten Osteotomie von Th1 nach Laminektomie von Th1 und Th2 besteht, wird mittlerweile in zahlreichen Varianten durchgeführt (Urist, Simmons). Um eine Verletzung der Vertebralarterien zu vermeiden, sollte die Osteotomie unterhalb C7 erfolgen. Bei thorakaler Manifestation erfolgt die Indikationsstellung zur Wahl des Operationsverfahrens in Abhängigkeit vom bestehenden Ossifikationstyp. Bei den Ossifikationstypen 1 und 2a wird die polysegmentale dorsale Lordosierungsspondylodese (DLS) nach Zielke angewendet. Damit kann ein Korrekturergebnis von 50–60° und eine Horizontalisierung der Blickachse des Patienten erreicht werden. Aufgrund der langbogigen Relordosierung konnte die Komplikationsrate im Vergleich zur konkurrierenden monosegmentalen Extensionsosteotomie deutlich gesenkt werden. Letztgenanntes monosegmentales Verfahren wurde 1945 initial von Smith-Peterson beschrieben, evtl. wurde die erste Korrekturosteotomie bereits 1933 von Tschaklin durchgeführt. Im angloamerikanischen Sprachraum ist die monosegmentale lumbale Extensionsosteotomie weiterhin akzeptiert, sie findet in Deutschland seltener Anwendung aufgrund der Schaffung einer kurzbogigen angulären Lordosierung mit Verlängerung der ventralen Säule und Open-Wedge-Situation mit Klaffen der ventralen Säule und den damit verbundenen Komplikationen (neurologische Defizite, Aortenrupturen, Magendilatationen, Darmatonien, Mesenterialarterienverschlüsse etc.).
Sind die ventralen Syndesmophyten zu ausgeprägt (Ossifikationsstadium 3a und b, ggf. auch schon 2b), können die dorsalen Korrekturkräfte keine harmonische langstreckige Lordosierung gewährleisten. In diesem Fall entscheidet man sich für die monosegmentale dorsale transpedikuläre Wirbelkörperteilosteotomie mit nachfolgender intravertebraler Osteoklasie (»closing wedge«). Bei nahezu eingesteifter Wirbelsäule können die wenigen verbliebenen Wirbelsäulensegmente durch Entzündung oder Lockerung das Syndrom der letzten Gelenke mit segmentaler Hypermobilität bedingen. In diesem Fall kann die Indikation zur operativen Versteifung gegeben sein. Dient die Operation einer Reduktion der Schmerzsymptomatik (z. B. Denervierung) und weniger der Sanierung, spricht man von einer palliativen Maßnahme.
22.2.9
Degenerative Erkrankungen der Wirbelsäule
J. Götz z
Definition
Die Intervertebralregion ist meist Ausgangspunkt degenerativer Wirbelsäulenerkrankungen. Mit etwa zwei Dritteln aller auftretenden Erkrankungen tritt das Lumbalsyndrom am häufigsten auf. Auf das Zervikalsyndrom entfallen etwa ein Drittel aller Erkrankungen, während nur ein geringer Anteil von ca. 2% der Patienten von einem Thorakalsyndrom betroffen sind. Beschränkt sich die Beschwerdesymptomatik auf die betroffene Wirbelsäulenregion ohne Ausstrahlung, bezeichnet man die Erkrankung als lokales Zervikal-, Thorakal- oder Lumbalsyndrom. Bei radikulärer oder pseudoradikulärer Ausstrahlung in die Extremitäten spricht man im Bereich der LWS von Lumboischialgie, im Bereich der HWS von Zervikobrachialgie, bei Ausstrahlung in den Hinterkopf von Zervikozephalgie. Der Ausdruck Interkostalneuralgie findet in der aktuellen Nomenklatur selten Verwendung, er wurde weitgehend durch den Begriff thorakales Wurzelsyndrom substituiert. Das radiologische Phänomen der Spondylose und Osteochondrose ist als ossäre Reaktion der betroffenen Wirbelanteile auf Bandscheibendegeneration zu werten. Die zugrunde liegende Diskose beruht oft auf biomechanischen und pathologischen anatomischen Veränderungen der Intervertebralregion. Besteht eine Vorwölbung bei noch erhaltenem Anulus fibrosus, spricht man von einer Protrusion, bei perforiertem Anulus fibrosus von einem Prolaps, bei Separierung des prolabierten Bandscheibenanteils von einem Sequester. Des Weiteren kann eine Höhenminderung des Intervertebralraums auch zu einem allseits vorgewölbten Bandscheibenring führen. Dann spricht man von »bulging disc«. Durch diesen breit vorgetretenen Bandscheibenring wird zugleich der Spinalkanal und die Foramina intervertebralia eingeengt. z
Ätiologie und Pathogenese
Das Auftreten von Bandscheibendegenerationen ist ein multifaktoriell bedingtes Geschehen. Aufrechter Gang, mangelnde
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Bewegung mit unzureichendem Stoffaustausch sowie übermäßige statisch-mechanische Belastung, insbesondere bei ungünstigen Muskelverhältnissen, führen bei den blutgefäßlosen, bradytrophen Bandscheiben zu Degenerationen. > Die entscheidende Rolle für den notwendigen Stoffaustausch im Zwischenwirbelabschnitt spielt der Wechsel zwischen Be- und Entlastung.
Genetische Faktoren und Gewebequalität sind ebenso als beeinflussende Größen zu nennen. Austrocknungen und Rissbildungen im Bereich des Bandscheibengewebes führen zur Erweiterung des den Gallertkern enthaltenden Raums und zu Rissbildungen, die in den Anulus fibrosus reichen (fissurale Chondropathie). Durch degenerative Prozesse (der Proteoglykangehalt der weichen, inneren Anteile der Bandscheibe nimmt bei vermehrtem Kollagengehalt ab, der gelatinöse Kern wird brüchig) kann es zur Ausbildung von Hohlräumen kommen. Dies ist die derzeit gängige Lehrmeinung zur Entstehung des sog. radiologischen Vakuumphänomens, wobei Gase, hauptsächlich Nitrogen, in hoher Konzentration in diesen Hohlräumen enthalten sein sollen. Sind die primären Veränderungen auf Bandscheibenebene im konventionellen Röntgen allenfalls als Höhenminderung des Intervertebralspatiums zu fassen, werden sekundäre knöcherne Reaktionen auch in der radiologischen Diagnostik evident. Dies äußert sich in der Ausbildung sklerotischer Verdichtungen und unregelmäßiger Konturierung im Grund- und Deckplattenbereich (Osteochondrose) sowie spondylotischen Randwülsten mit initial horizontalem, später dann vertikalem Verlauf (Spondylose). Ursprünglich verantwortlich für die Stabilität der Bewegungssegments sind die äußeren Ringschichten des Anulus fibrosus zusammen mit einstrahlenden Sharpey-Fasern. Ausgedehnte Risse bedingen eine unphysiologische Beweglichkeit innerhalb der Segmente, zusätzlich können die elastischen, flüssigkeitsgefüllten inneren Anteile der Bandscheibe den nicht mehr verankerten Faserring nach außen vorwölben. Durch den Versuch des anterioren Längsbandes die Instabilität zu kompensieren, kommt es an den knöchernen Insertionsstellen zu reaktiven ossären Zackenbildungen. Radikuläre Syndrome können bei osteophytär bedingter Einengung der Neuroforamina auftreten. Abzugrenzen hiervon sind die Erkrankungen des M. Bechterew und des M. Forrestier, die als eigene Krankheitsentitäten zur Ausbildung von knöchernen Osteophyten bzw. Syndesmophyten führen. Gefügelockerung der Gelenkkapseln im betroffenen Segment kann ebenfalls zu einer degenerativen Segmentinstabilität führen. Die nerval gut versorgten Gelenkkapseln können mit Schmerz auf diese Hypermobilität reagieren. Bei radiologisch sichtbaren Verschiebungen oder gar Dislokationen spricht man von einer degenerativ bedingten Pseudospondylolisthesis. Die beschriebenen Veränderungen bedingen eine Veränderung der Statik und Mechanik im betroffenen Bewegungssegment. Besondere Auswirkungen bringt dies für die Facettengelenke (Art. zygapophysealis). Sie dienen als Drehpunkt des Bewegungssegments zwischen vorderem Pfeiler – bestehend aus den durch die Bandscheiben verbundenen Wirbelkörpern
– und den dorsalen Anteilen des Bewegungssegments, die sich aus den Procc. transversi et spinosus, den Ligamenten und der Muskulatur zusammensetzen. Im physiologischen Zustand wird dies als diskoligamentäres Gleichgewicht bezeichnet. Durch statische Fehlbelastung reagieren diese Gelenke mit den bekannten arthrotischen Phänomenen: Osteophytenbildung, subchondrale Sklerosierung und Gelenkspaltverschmälerung. Bei ausgeprägter Osteophytenbildung kommt es zu einer Hypertrophie der Facettengelenke. Bei Einengung des Spinalkanals oder der Neuroforamina kommt es zur Ausbildung der häufigen degenerativen Spinalkanalstenose. Hiervon betroffen sind vor allem L4 und 5 und generell der laterale Recessus (Recessusstenose). Prinzipiell kann man bei allen degenerativ bedingten Wirbelsäulenerkrankungen ein 3-Stufen-Modell zugrunde legen, das von Kirkaldy-Willis als degenerative Kaskade beschrieben wurde.
3-Stufen-Modell degenerativer Wirbelsäulenerkrankungen
▬ Dysfunktion: Bandscheibendegeneration, Synovialitis, degenerative Veränderungen der Zwischenwirbelgelenke
▬ Gefügelockerung: Verminderung der Höhe des Zwischenwirbelraums, Listhese (in der Regel als Retrolisthesis), Zeichen aktivierter Arthrose der Wirbelgelenke ▬ Restabilisierungsversuch: osteophytäre Anbauten, Hypertrophie der Wirbelgelenke und Verdickung der Ligamente mit dem Ziel einer Ankylosierung des betroffenen Segments
Dieses Schema verdeutlicht die einheitliche Pathogenese bei letztlich durch individuelle Faktoren bedingter unterschiedlicher Morphologie der Enderkrankung, wie z.B. degenerativer Skoliose, Spinalkanalstenose oder Spondylolisthesis. Gleichzeitig kann durch Abstrahierung auf die wesentlichen kausalen Faktoren ein Verständnis für die im Folgenden abgehandelten konservativen und operativen Therapiemöglichkeiten abgeleitet werden. Die oftmals identische Behandlungsstrategie bei scheinbar unterschiedlicher Krankheitsentität wird somit leichter nachvollziehbar.
Degenerative Erkrankungen der HWS z
Klassifikation
Die Einteilung der degenerativen HWS-Erkrankungen erfolgt nach der Klinik: ▬ lokales HWS-Syndrom: – Zervikalsyndrom – akuter Schiefhals (Torticollis) ▬ zervikobrachiales Syndrom ▬ zervikozephales Syndrom ▬ zervikale Myelopathie z Klinik Lokales Zervikalsyndrom
Die Bezeichnung subsumiert Beschwerden, die sich primär auf die Halsregion beschränken. Ursächlich sind Degenerationen
437 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
oder segmentale Funktionsstörungen der HWS. Funktionsstörungen können ihre Grundlage einerseits in einer Blockierung, d. h. in einem reduzierten »joint play« nach Mennell, oder in einer Hypermobilität, also einem vermehrten »joint play«, haben. Bewegungs- bzw. positionsabhängige Schmerzsymptomatik im Schulter-Nacken-Bereich (v. a. in Reklination), Einschränkung des Bewegungsumfangs sowie Hartspann der Nackenmuskulatur sind klinische Zeichen. Ist der kraniale HWS-Abschnitt betroffen, werden die Schmerzen im Versorgungsgebiet der Rami dorsales am oberen Trapeziusrand vom Okziput bis zum Akromioklavikulargelenk angegeben. Bei Affektion der unteren zervikalen Bewegungssegmente sind die Beschwerden auch zwischen den Schulterblättern lokalisiert. In der Literatur wird häufig eine Koinzidenz mit Zustand nach Trauma, »low back pain«, Schlafstörungen, Depressionen, Dysthymien sowie niederem sozialen Status angegeben. In einigen Publikationen wird eine Geschlechterprävalenz zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts angeführt. Ein komplizierter Verlauf wird mit »Gelber Flagge« beschrieben. Dazu gehört ein länger als eine Woche dauernder Krankheitsverlauf, die Störung des Nachtschlafs sowie das Auftreten der Erkrankung in einem Lebensalter <20 oder >60 Jahren. Die Okzipitalisneuralgie wird als Sonderform des lokalen Zervikalsyndroms gewertet. Schmerzen und Druckempfindlichkeit werden in der Hinterhauptregion angegeben, wo sich die Austrittsstelle des N. occipitalis major aus der Kalotte in Höhe der Protuberantia occipitalis externa befindet. Akuter Schiefhals (Torticollis)
Er stellt eine Sonderform des lokalen Zervikalsyndroms und eine Frühform diskogener Erkrankungen der HWS dar. Das Krankheitsbild wird von Fehlhaltung und Bewegungseinschränkung bestimmt. Der Altersgipfel besteht bei Kindern und Jugendlichen. Der Verlauf ist meist selbstlimitierend und unter konservativer Therapie gutartig. Zervikobrachiales Syndrom
Bei Irritation des Spinalnervs ab der Nervenwurzel C5 kann es zur Ausbildung eines zervikobrachialen Syndroms kommen, d. h. einer regionalen HWS-Beschwerdesymptomatik, bestehend aus Schmerz und/oder Parästhesien mit radikulärer Ausstrahlung in das korrelierende Dermatom des Armes. Auch pseudoradikuläre Ausstrahlungen der Beschwerden ohne Dermatomzuordnung können auftreten. Die Beschwerden können dabei als Schmerz, Hyp- oder Parästhesie empfunden werden oder als neurologische Symptomatik mit Reflexdifferenzen oder Muskelhyp- bzw. -atrophien in Erscheinung treten. Dominierend im klinischen Alltag sind Beschwerden der Dermatome C6–C8. Ursächlich für die Schmerzentstehung kann entweder ein weicher Diskusvorfall oder das Vorhandensein harter knöcherner Appositionen am Proc. uncinatus verantwortlich sein. Das Beschwerdebild kann wellenförmig ablaufen. Langdauernde schmerzfreie Intervalle können sich mit hochakuten Schmerzperioden abwechseln. Durch einen Muskelhartspann können Beschleunigungsverletzungen (»whiplash injury«), Fehlhaltungen in ungünstiger Position oder lokale Unterküh-
⊡ Tab. 22.8 Etagendiagnostik des zervikobrachialen Syndroms Syndrom
Klinik
C5
Ausstrahlung in die ventrale Oberarmregion Kennmuskel: M. deltoideus ggf. Abschwächung des Bizepssehnenreflexes
C6
Ausstrahlung zum Daumen, Zeigefinger und radialseitigen Unterarm Kennmuskel: Ellenbogenbeuger ggf. Abschwächung des Bizepsehnenreflexes
C7
Ausstrahlung zum Mittelfinger Kennmuskel: palmarseitige Handflexoren, Thenarmuskulatur, M. triceps ggf. Abschwächung des Trizepssehnenreflexes
C8
Ausstrahlung zum Ring- und Kleinfinger Kennmuskel: Fingerbeuger und -spreizer Atrophie des Hyopthenars
lung (Zugluft, Klimaanlage) eine Exazerbation der Beschwerden bewirken. Als alarmierende Symptome gelten eine distale Beschwerdesymptomatik, die Störung des Nachtschlafs sowie das Auftreten von Paresen (gelbe Flagge). Zervikozephales Syndrom
Neben den Beschwerden des lokalen Zervikalsyndroms klagt der Patient über positionsabhängige Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen, gelegentlich werden Hör-, Seh- oder Schluckstörungen angegeben. Durch Reklination und Rotationen wird eine Beschwerdeexazerbation provoziert. Die Kausalität besteht meistens in einer Affektion der A. vertebralis sowie des Halssympathikus durch degenerative Veränderungen. Gelenkfehlstellung, Achsabweichung und degeneratives Wirbelgleiten können weitere schmerzauslösende Faktoren darstellen. Schluckbeschwerden können entweder auf Raumforderung durch knöcherne Anbauten oder auf neurogene Gründe zurückgeführt werden. Eine konsiliarische Vorstellung des Patienten beim neurologischen sowie HNO-ärztlichen Kollegen ist bei Angabe der aufgeführten Symptome erforderlich. Differenzialdiagnostisch müssen u.a. Migräne und der M. Menière ausgeschlossen werden. Zervikale Myelopathie
Bandscheibenvorfälle oder spondylotische Anbauten, traumatische oder entzündliche Alterationen führen zur Einengung des Spinalkanals. Da das zur Verfügung stehende Platzangebot im Bereich der mittleren und unteren HWS ohnehin begrenzt ist, können derartige Prozesse durch stetige und wachsende Kompression bei fehlender Ausweichmöglichkeit irreversible Schäden im Bereich des zervikalen Myelons bedingen. Neben dem Fehlen von Schmerzen ist das Auftreten von neurologischen Phänomenen wie Pyramidenbahnzeichen (pathologische Reflexe), dissoziierte Empfindungsstörungen sowie spastische Hemi- und Paraparesen charakteristisch. Bei längerem Beschwerdebild können sich Gangstörungen und Ataxien
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
entwickeln. Das Auftreten dieser Symptome wird als »Rote Flagge«, d. h. alamierende Symptomatik, bezeichnet. Als Therapieoption bleibt letztlich oft nur die Operation. Zusätzliche Rote-Flagge-Symptome sind Gewichtsverlust, Tumor- oder Traumaanamnese und pathologische Laborveränderungen. Durch Beachtung dieser klinischen und diagnostischen Parameter sollen wichtige differenzialdiagnostische Krankheitsbilder ausgeschlossen und eine Bagatellisierung des Nackenschmerzes vermieden werden. z
Diagnostik
Auf die allgemeinen Untersuchungstechniken wurde bereits Abschn. 22.1 näher eingegangen. z z Bildgebende Verfahren
Im Rahmen der Stufendiagnostik erfolgt primär die Anfertigung von konventionellen Röntgenaufnahmen des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts in 2 Ebenen. Dadurch können ossäre Pathologien sowie die Stellungsverhältnisse dargestellt werden. Das weitere Prozedere hängt vom konkreten Fall ab. Zur genaueren Diagnostik bei Radikulopathie oder Myelopathie oder bei Diskuspathologien ist eine MRT-Untersuchung zu veranlassen. CT-Untersuchungen haben ihre Indikation bei der genauen Darstellung von ossären Pathologien sowie beim HWS-Trauma mit Verdacht auf Fraktur. Bei besonderer Fragestellung sind ggf. konventionelle Spezialaufnahme wie Funktionsaufnahmen in Inklination und Reklination oder Schrägaufnahmen zur Darstellung der Foramina anzufertigen. Die Szintigraphie ist als Suchuntersuchung anzuführen, die Myelographie hat ihren Stellenwert weitgehend verloren. > Mit fortgeschrittenem Alter kommt es gehäuft zur Darstellung von pathologischen Befunden in der Bildgebung ohne konkrete Zuordnung zum aktuellen Beschwerdebild und ohne Relevanz. Dies muss bei der abschließenden Bewertung Berücksichtigung finden. z
⊡ Abb. 22.37 Zervikale Spinalnervenanalgesie (CSPA)
⊡ Abb. 22.38 Bildwandlergesteuerte Facetteninfiltration
Therapie
Obwohl den einzelnen Krankheitsentitäten unterschiedliche Ätiopathogenesen zugrunde liegen, erfolgt die Therapie nach den gleichen Grundsätzen. Die primäre Behandlung ist konservativ. z z Konservative Therapie
Hier hat sich in den letzten Jahren ein Therapiewandel ereignet, passive Maßnahmen wie Massagen, Chirotherapie und Halskrause wurden durch aktivierende Therapien ersetzt. Dazu zählt die Aufforderung an den Patienten, aktiv zu bleiben, leichte Bewegungsübungen durchzuführen sowie Schmerzbewältigungsverfahren zu erlernen. Minimalinvasive Verfahren benützen die zervikale Spinalnervenanalgesie (⊡ Abb. 22.37), Facetteninfiltrationen (⊡ Abb. 22.38 bis ⊡ Abb. 22.40) sowie zervikoepidurale Injektion. Bei persistierender Beschwerdesymptomatik im Rahmen eines Zervikobrachialsyndroms empfiehlt sich zusätzlich die Blockade des N. suprascapularis mit der daraus resultierenden Verbesserung der
⊡ Abb. 22.39 Palpatorische Orientierung bei Infiltration des N. occipitalis major und Vorschieben bis 2 Querfinger paramedian der Protuberantia occipitalis externa
Schulterbeschwerden. Die Infiltration des N. occipitalis major wird zusätzlich zu den Injektionen im Zervikalbereich bei Vorliegen eines Zervikozephalsyndroms durchgeführt. Maßnahmen zur Verbesserung der ergonomischen Situation am Arbeitsplatz müssen ebenfalls berücksichtigt werden.
439 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
a
b
⊡ Abb. 22.41a,b Röntgenaufnahme der HWS in 2 Ebenen: fortgeschrittene degenerative Veränderungen. a Strahlengang seitlich, b a.p.
⊡ Abb. 22.40 Injektion mit Richtung von kranial gegen die Scapula, Zielpunkt ist die Incisura scapulae am Margo superior der Scapula
z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Vorgehensweise sollte kritisch und mit Bedacht gestellt werden, zumal unter dem Gesichtspunkt, dass es gerade in diesem Abschnitt der Wirbelsäule im Alter zur »wohltätigen Versteifung« kommt (⊡ Abb. 22.41). Indikationen zur Operation bestehen bei Vorliegen einer Myelopathie, therapieresistenter Radikulopathie und zervikaler Radikulopathie mit motorischer Lähmung. Die klassische Operationsmethodik besteht in der ventralen Dekompression und interkorporalen Wirbelfusion durch ventral verplatteten Beckenkammspan oder Cage. Neben den operationsbedingten Risiken kann eine Anschlusssymptomatik in den (vorwiegend kranialen) Nachbarsegmenten auftreten. Der Vorteil des Einsatzes von Bandscheibenprothesen kann aufgrund fehlender Langzeitergebnisse nicht abschließend diskutiert werden. Alternativ kann auch von dorsal operiert werden. Diese Technik empfiehlt sich bei Vorliegen eines lateralen Bandscheibenprolapses und besteht in der Laminotomie oder Foraminotomie (Dekompression des Foramen intervertebrale). Aufgrund der hohen Dichte anatomisch bedeutender Strukturen im Bereich der Halsregion können intraoperative Komplikationen durch Verletzung derselben auftreten. Zu erwähnen sind hierbei Ösophagus, N. recurrens, Ganglion stellatum, Gefäß- und Duraverletzungen, Infektionsrisiko.
Degenerative Erkrankungen der BWS Häufig sind bei degenerativen Erkrankungen an der BWS die Wirbelbogen- oder Kostotransversalgelenke betroffen. Sie sind größtenteils für das Auftreten eines lokalen BWS-Syndroms
verantwortlich, während bandscheibenbedingte Beschwerden mit Ausbildung radikulärer oder myelopathischer Symptome eher Ausnahmen darstellen. Dies liegt einerseits darin begründet, dass selten relevante Kompressionen erreicht werden, da die Neuroforamina einen relativ großen Durchmesser besitzen und sich im Gegensatz zu den restlichen Vertebralabschnitten auf Höhe des Wirbelkörpers befinden. Andererseits treten aufgrund der geringen Beweglichkeit kaum Rotationsbelastungen in diesem Abschnitt der Wirbelsäule auf. Ein zusätzlicher anatomischer Schutz besteht in der Abstützung nach ventral durch die kostale und sternale Stabilisierung. z Klinik Lokales BWS-Syndrom
Das klinische Erscheinungsbild des lokalen BWS-Syndroms äußert sich meist in einer akuten, bewegungsabhängigen Schmerzsymptomatik und besteht in einer »Blockierung« der Wirbelbogen-, Kostotransversal- und/oder Kostovertebralgelenke. Chronifizierungen sind selten, konservative und chirotherapeutische Maßnahmen Therapie der Wahl. Radikuläres BWS-Syndrom und Myelopathie
An der BWS sind Interkostalneuralgie und Metastasen die häufigsten Beschwerdeursachen. Definitionsgemäß besteht bei einer radikulären Symptomatik eine Ausstrahlung in das betreffende Dermatom. Bei dorsolateralem Bandscheibenvorfall ist das Auftreten von radikulären Beschwerden typisch, am häufigsten ist das Dermatom Th10 betroffen. > Hohe thorakale Bandscheibenvorfälle können auch in die Arme ausstrahlen.
Druck- und Klopfschmerz ist auslösbar. Bei medialem Diskusprolaps können medulläre Symptome entstehen. Myelopathische Beschwerden können relativ uncharakteristisch und deswegen schwer zuzuordnen sein. Sensibilitätsstörungen der unteren Extremität, diffuse Muskelschwäche,
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
milde Paraparese, Blasen-Mastdarm-Störungen, Reflexanomalien (positives Babinski-Zeichen), Brown-Séquard-Syndrom und Gangbehinderungen können auftreten. Auf die anatomische Besonderheit der Lage des Conus medullaris auf Höhe BWK 12/LWK 1 muss hingewiesen werden. z Diagnostik z z Anamnese
Schmerzen und Bewegungseinschränkungen werden v. a. bei Rotationsbewegungen angegeben. Lokaler Klopfschmerz und atemabhängige Beschwerden werden ebenso wie paravertebraler Druckschmerz und Muskelhartspann erfasst, das Vorliegen einer skoliotischen oder kyphotischen Komponente muss ausgeschlossen werden. Die allgemeinen Untersuchungstechniken wurden bereits in Abschn. 22.1 eingehend beschrieben. ! Cave Differenzialdiagnostisch muss bei allen zur Wirbelsäule ausstrahlenden Schmerzen ein Aortenaneurysma ausgeschlossen werden. z z Bildgebende Verfahren
Das Nativröntgen der BWS in 2 Ebenen ist das richtungsweisende Standarddiagnostikum. Degenerative Veränderungen können erfasst, Osteopenien, Wirbelkörperfrakturen, Tumoren und entzündliche Veränderungen ausgeschlossen werden. Das MRT kann zwar mit großer Genauigkeit Pathologien aufweisen, doch finden sich gerade im Bereich der BWS häufig keine Korellationen zwischen Lokalisation, Größe des Prolapses und Klinik. Kompressionsbedingte Veränderungen des Myelons können jedoch frühzeitig detektiert werden. Auch für die Metastasendiagnostik ist das MRT geeignet. Für knöcherne Veränderungen findet das CT Verwendung. z Therapie z z Konservative Therapie
Konservative Therapieverfahren sollten ausgeschöpft werden, solange keine bedrohlichen Rückenmarksymptome mit progredienten Lähmungen oder myelopathischen Veränderungen auftreten. Dazu zählen medikamentöse Therapien mit Analgetika und Muskelrelaxantien, chirotherapeutische, physiotherapeutische und physikalische Maßnahmen sowie Verfahren aus dem Bereich der Komplementärmedizin wie Akupunktur, TENS etc. z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Verfahrensweise sollte aufgrund erhöhter Komplikationsraten äußerst streng gestellt werden: therapieresistente exazerbierte Schmerzen trotz länger als 6 Wochen dauernder effizienter konservativer Maßnahmen, progrediente Myelopathie oder Lähmung. Als Operationsverfahren finden zurzeit 4 unterschiedliche Techniken Anwendung. ▬ Am häufigsten wird der anteriore Zugang gewählt, dabei erfolgt die Entfernung der Bandscheibe des betroffenen Segments mit anschließender Fusion. Thoraxdrainage im postoperativen Verlauf ist obligat.
▬ Beim posterolateralen Zugang mit Resektion der Rippenköpfe oder gar Exstirpation einer gesamten Rippe ist die laterale Bandscheibe gut erreichbar. ▬ Der posteriore Zugang wird aufgrund der postoperativen Instabilität kritisch bewertet. Bei transpedikulärem Zugang können mediale Bandscheibenanteile schlecht eingesehen werden, bei Laminektomie können neurologische Komplikationen und eine inadäquate Kompression drohen. ▬ Die Operation in thorakoskopischer Technik erfordert einen erfahrenen Operateur und ist mit hohem Zeitaufwand verbunden.
Degenerative Erkrankungen der Bandscheiben im Bereich der LWS Einteilung der degenerativen LWS-Erkrankungen erfolgt nach der Klinik: ▬ Bandscheibendegeneration: – lokales Lumbalsyndrom (Lumbago) – pseudoradikuläres Wurzelsyndrom – lumbales Wurzelsyndrom (Wurzelreizsyndrom) ▬ Postdiskotomiesyndrom ▬ degenerative Spinalkanalstenose ▬ degenerative Skoliose ▬ degenerative Spondylolisthesis z
Ätiologie und Pathogenese
Eine anatomische Besonderheit der LWS liegt darin, dass sich die Neuroforamina mit den austretenden Spinalnerven auf Höhe der Bandscheiben befinden. Somit haben degenerative Veränderungen unmittelbare Auswirkungen auf die Nerven. Pathologische Prozesse können dabei sowohl von ventral als auch durch die Facettengelenke von dorsal in Erscheinung treten. Wie bereits einleitend beschrieben, kann es bei einer Diskose zu degenerativen Veränderungen im Bereich des Zwischenwirbelsegments mit Massenverschiebung, Vorwölbung nach dorsal bis zur Ruptur des Anulus fibrosus kommen. z
Klassifikation
Da auf diesem Krankheitsbild das Hauptaugenmerk des klinisch tätigen Orthopäden liegt und in Deutschland die Bandscheibenoperation mit über 20.000 Eingriffen die häufigste Operation an der Wirbelsäule darstellt, sei hier eine kurze, für die therapeutischen Überlegungen relevante Klassifikation der verschiedenen Stadien der Bandscheibendegeneration gegeben, die eine Unterdifferenzierung der bereits erläuterten Begriffe Protrusion und Prolaps ermöglicht (⊡ Abb. 22.42). Bei der Protrusion sive »contained disc« wird zwischen Vorwölbungen innerhalb des Anulus fibrosus und Vorwölbungen bis zur äußeren Anulusschicht unterschieden. Eine Therapierelevanz besteht hierin nicht. Betrachtet man in einem anatomischen Exkurs das hintere Längsband im Bereich der LWS, so zeigt sich, dass das straffe Längsband Wirbelkörper und Bandscheibe nur im medialen Bereich bedeckt. Nach Krämer schließt sich nach lateral, d. h. in der Region, in der die meisten Bandscheibenprotrusionen auftreten, nur die sog. ventrale epidurale Membran an. Befindet sich bei einem Vorfall der Sequester unter dieser Membran bzw.
441 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
Protrusion Bandscheibenvorwölbung I Innerhalb des Anulus
II Bis zur äußeren Anulusschicht
III Gedeckter Prolaps
Prolaps Bandscheibenvorfall IV Prolaps mit Bandscheibenverbindung
V Freier Sequester
Bulging Disk
Contained Disk
Non Contained Disk
⊡ Abb. 22.42 Einteilung von Protrusion und Prolaps nach Krämer
unter Anteilen des Ligaments, so wird er als submembranöser bzw. subligamentärer gedeckter Prolaps bezeichnet. Die eigentlich korrekten Bezeichnungen »gedeckte Perforation« oder »Hernie« haben keinen Einzug in den deutschen klinischen Sprachgebrauch gefunden. Sind die membranösen bzw. ligamentären Begrenzungsstrukturen zerstört, befindet sich das ausgestoßene Bandscheibenmaterial als Sequester im Epiduralraum (extraligamentärer Prolaps). Besteht noch eine Gewebebrücke mit der Bandscheibe, wird diese Situation im angloamerikanischen Raum als »transligamentous extrusion« bezeichnet. Liegt der Sequester als loses Fragment im Epiduralraum, spricht man von »free fragment«. Durch Diskosen bedingte sekundäre Veränderungen und dadurch initiierte pathologische Prozesse können entweder als Insuffizienzerscheinungen der Rumpfmuskulatur auftreten oder als Insertionstendinopatien sowie kompressionsbedingte Affektion der Nervenwurzel auf Höhe des Neuroforamens in Erscheinung treten. Durch Bandscheibenlockerung ausgelöste Verschiebungen von Wirbelkörpern gegeneinander werden bei einem Versatz des oberen Wirbels nach dorsal als Retrolisthesis, bei der Dislokation nach ventral als degenerative Spondylolisthesis bezeichnet. Tritt zusätzlich eine Seitenverschiebung oder Rotationskomponente auf, spricht man vom Drehgleiten. Eine Überdehnung der Facettengelenkkapsel verursacht eine weitere Schmerzgenese. Ergänzend zur radiologischen Diagnostik sei auf die kernspintomographische Einteilung der Osteochondrose in 3 Schweregrade nach Modic (1988) hingewiesen.
▬ Modic II beschreibt einen weiteren Flüssigkeits- und Höhenverlust bei fettiger Degeneration der an den Diskus grenzenden Spongiosa. ▬ Modic III weist eine Sklerose der Abschlussplatten, Spondylophytenbildung und starke Höhenminderung des Intervertebralraums auf.
Lokales Lumbalsyndrom (Lumbago) Unter diesem Krankheitsbild werden solche Störungen zusammengefasst, die auf degenerativen oder funktionellen Störungen der lumbalen Bewegungssegmente beruhen und ausschließlich Schmerzen im LWS-Bereich verursachen, ohne jegliche Ausstrahlung. Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich in der Regel eine Fehlhaltung mit Verspannung der lumbalen Rückenstreckmuskeln im Stehen, während bei Entlastungshaltung mit Hüft- und Knieflexion die Verspannung deutlich verbessert ist. Erfolgt eine suffiziente Anamnese zusammen mit einer sorgfältigen klinischen Untersuchung, so ist bei der Erstvorstellung eines einfachen Kreuzschmerzes eine bildgebende Diagnostik in der Regel ohne weiteren Aussagewert. Bei länger anhaltenden Kreuzschmerzen, dauerhafter Inklinationssperre sowie bei Vorliegen von Rote-Flagge-Symptomen, wie z. B. Gewichtsverlust, Auffälligkeiten der Laborparameter, Tumoranamese etc., muss eine Bildgebung erfolgen. Bei Patienten die das 60. Lebensjahr überschritten haben, muss beim neu einsetzenden Kreuzschmerz zur differenzialdiagnostischen Beurteilung immer eine Bildgebung erfolgen, um knöcherne Destruktionen, wie z.B. Metastasen oder Osteoporose, auszuschließen.
Osteochondrosegrade nach Modic
▬ Modic I stellt das Initialstadium mit Ödembildung in den
Pseudoradikuläres Wurzelsyndrom
Abschlussplatten und Flüssigkeitsabnahme der Band▼ scheiben mit Höhenverlust dar.
Typischer Ort der Schmerzentstehung sind die lumbalen Wirbelgelenkkapseln, nozizzeptive Fasern konnten hier identifiziert werden. Degenerative Prozesse werden sekundär durch Abnut-
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
zungserscheinungen der Bandscheiben eingeleitet. Durch die Höhenminderung der Bandscheibe und Instabilität des Bewegungssegments erhöht sich die Kraftübertragung durch die Facettengelenke, es kann zu Subluxationen und Veränderungen der Knorpeloberfläche kommen. Ähnlich den peripheren Gelenken äußert sich die Arthrose durch fokale und später diffuse Knorpelerosion, subchondrale Sklerosierung, Facettenhypertrophie und Osteophytenbildung mit sekundärer Verengung des Spinalkanals. Degenerativ bedingte Instabilitäten können zu degenerativer Spondylolisthesis und degenerativer Skoliose führen. Bei der klinischen Untersuchung ist durch Reklination und Überprüfung des Viererzeichens eine Schmerzverstärkung provozierbar. Die Ausstrahlung des Schmerzes ist diffus und stets ohne Segmentzuordnung. Beispielsweise können die Gluteal-, Inguinalregion, Unterbauch, Oberschenkel sowie Trochanterregion betroffen sein. Diese Schmerzausstrahlung wird als pseudoradikulär bezeichnet. Neuroanatomische und funktionelle Untersuchungen haben inzwischen dazu geführt, das Iliosakralgelenk als unterste Facette zu betrachten. Klinisch erweisen sich neben der lokalen Druckschmerzhaftigkeit das Mennell- und das Viererzeichen als positiv. Beim Mennell-Zeichen wird das gestreckte Bein des in Rücken- oder Seitlage befindlichen Patienten ruckartig extendiert. Wird dadurch ein Schmerz im Bereich des ISG ausgelöst, ist das Mennell-Zeichen positiv. Beim Vierer-Zeichen (Patrick-Test) wird der Fuß der zu untersuchenden Seite auf das kontralaterale Knie gelegt, sodass eine Flexion, Außenrotation und Abduktion der Hüfte von ca. 45° und eine Knieflexion von ca. 90° eingenommen wird. Anschließend wird das Knie der zu untersuchenden Seite der Unterlage maximal genähert. Auch hier wird eine Schmerzprovokation des ISG als positiv beschrieben. Pathologien der Hüfte müssen jedoch berücksichtigt werden. Das bildgebende Verfahren der Wahl zur Befundsicherung einer Facettengelenksarthrose ist die Computertomographie. Das MRT erleichtert die Unterscheidung in aktivierte und nicht aktivierte Arthrose. Im aktivierten Stadium zeigen sich eine erhöhte Menge an synovialer Flüssigkeit, ödematöse Veränderungen und Kontrastmittelanreicherung. Als seltene Besonderheit der Facettengelenksarthrose sei die Synovialzyste erwähnt. Flüssigkeitsgefüllte Ausstülpungen der Facettengelenke verursachen intraspinale, extradurale Raumforderungen. Ähnlich dem Auftreten einer Baker-Zyste sucht sich die Synovia aufgrund des erhöhten Gelenkbinnendrucks einen Locus minoris resistentiae und verursacht eine Ausstülpung in einem dünnen Bereich der Gelenkkapsel. Die Diagnostik erfolgt mittels MRT. Die Therapie besteht in einer operativen Entfernung der Zyste. Präoperativ muss der Patient darauf hingewiesen werden, dass durch die operative Intervention zwar eine Verbesserung der radikulären Symptomatik erzielt werden kann, die Beschwerden aber aufgrund von Facettengelenkarthrose und Bandscheibendegeneration bestehen bleiben können.
Lumbales Wurzelsyndrom (Wurzelreizsyndrom) Der Ischialgie als klassischem Vertreter des lumbalen Wurzelsyndroms mit Beteiligung der Nervenwurzel L5 und S1 sowie teilweise L4 und S2 wird das hohe lumbale Wurzelsyndrom
mit Beteiligung des N. femoralis (Nervenwurzeln L2 und L3 sowie teilweise L4) gegenübergestellt (⊡ Tab. 22.9). Die Beschwerden werden als Schmerzen und Hypästhesien im betroffenen Segment angegeben und betreffen typischerweise zu Beginn den proximalen Bereich, ehe sie sich im weiteren Verlauf auch auf den distalen Bereich erstrecken. Bewegungen und Aktionen, die einen erhöhten intraabdominellen Druck hervorrufen (Niesen, Husten etc.) können den Schmerz im distalen Anteil provozieren. Je nach Höhe des Vorfalls sind bei der klinischen Untersuchung das Lasègue-Zeichen, das umgekehrte Lasègue-Zeichen, das Bragard-Zeichen oder die Vallaix-Druckpunkte im Ischiadikusverlauf am dorsalen Oberschenkel positiv. Sphinktertonus sowie die Sensibilität im anogenitalen Bereich müssen überprüft werden. Beim sogenannten »Wurzeltod« kommt es durch eine vollständige Kompression des Nervs zu einer für den Patienten zunächst positiv interpretierten Schmerzfreiheit. Die Anästhesie im betroffenen Segment sowie die motorischen Ausfälle machen deutlich, dass dieses Stadium eine der wenigen Indikationen zur sofortigen Notoperation im orthopädischen Fachbereich darstellt. z Therapie z z Konservative Therapie
Nach Grasshof (2000) gibt es 5 Prinzipien der konservativen Therapie des Bandscheibenvorfalls: ▬ Analgesie ▬ antiphlogistische Therapie ▬ Entlastung der Bandscheibe und der irritierten Nervenwurzel ▬ Muskelrelaxation und Detonisierung der verspannten Muskulatur ▬ ggf. Therapie neurologischer Störungen Die symptomatische Therapie mit Wärmeapplikation, intermittierender Stufenlagerung mit daraus resultierender Druckentlastung (intradiskaler Druck 25 kp) und medikamentöser analgetischer Therapie stellt die erste evidenzbasierte und nahezu nebenwirkungsfreie Behandlungsstufe dar. Sie wird vom Patienten oft in Eigenregie durchgeführt, Informationen und Ratschläge aus Rückenschulebroschüren können inzwischen webbasiert beschafft werden. Bei Therapieresistenz oder Beschwerdeprogredienz erfolgt die ärztliche Vorstellung. Fachärztliche Therapiestrategien beinhalten Verordnung physiotherapeutischer und physikalischer Maßnahmen, lokale Injektionen, chirotherapeutische Maßnahmen oder Orthesenversorgung. Mit der Anwendung von Massagen sollte erst nach Abklingen der akuten Symptomatik begonnen werden. Die strikte Trennung zwischen traditioneller konservativer Therapie und operativer Intervention wurde in den letzten Jahren durch Einführung minimalinvasiver Verfahren aufgeweicht. Zusammenfassend wird bei diesen Techniken perkutan über Punktion oder Stichinzision der Locus mali aufgesucht anschließend über Nadeln oder endoskopische Technik behandelt.
443 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
⊡ Tab. 22.9 Etagendiagnostik der lumbalen Wurzelsyndrome Syndrom
Klinik
Hohes lumbales Wurzelsyndrom (L3 und L4)
Ausstrahlung in die Vorderinnenseite des Oberschenkels Kraftreduktion des M. quadriceps Femoralisdehnungsschmerz (umgekehrter Lasègue positiv, Lasègue negativ) Abschwächung des Patellasehnenreflexes L4-Kennmuskel: M. tibialis anterior
L5-Ischialgie
Ausstrahlung als »Generalstreifen« bis zum Außenknöchel und weiter bis zur Großzehe Fuß- und Zehenheberschwäche Abschwächung des M.-tibialis-posterior-Reflex Kennmuskel: M. extensor hallucis longus
S1-Ischialgie
Ausstrahlung zur Dorsalseite des Ober- und Unterschenkels über die Ferse bis zur 3. bis 5. Zehe reduzierte grobe Kraft bei Plantarflexion, ggf. Paresen der Glutealmuskulatur Abschwächung des Achillessehnenreflexes
S2-S5-Syndrom, Kaudasymptom
S3- bis S5-Sensibilität der Perianalregion (Reithosenanästhesie), fehlende Kontrolle der Schließmuskulatur von Blase und Mastdarm gemeinsames Auftreten aller Symptome beim Bandscheibenvorfall selten akute Kaudaläsionen meist durch mediane Massenprolapse L3/L4 und L4/L5, auf Höhe L5/S1 nur partielle Ausfälle aufgrund des verbreiterten Wirbelkanals
Bei der lokalen Injektionsbehandlung finden verschiedene Techniken Anwendung. Das schmerztherapeutische Prinzip besteht in der Blockade sensibilisierter Nozizeptoren durch niedrigkonzentrierte Lokalanästhetika. Daraus resultiert nach Krämer (2006) ein Abbau der Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung. Der lumbale Spinalnerv kann dabei entweder durch einen posterolateralen Zugang im Rahmen einer lumbalen Spinalnervenanalgesie am Austritt aus dem Foramen intervertebrale oder über einen dorsalen, interlaminären Zugang im Rahmen einer epidural-perineuralen Injektion erreicht werden. Bei der lumbalen Spinalnervenanalgesie (LSPA) wird ein Lokalanästhetikum im Bereich der foraminoartikulären Region des Bewegungssegments appliziert. Bei der lumbalen epiduralperineuralen Injektion wird mittels Zweinadeltechnik im anterolateralen Epiduralraum gezielt die Scheide der affektierten Wurzel umspült. Bei der ebenfalls über einen dorsalen Zugang durchgeführten epidural-dorsalen Injektion werden Steroide nach Überwindung des Lig. flavum (»loss of resistance«) in den Epiduralraum appliziert. Der Wirkmechanismus besteht in einem entzündungshemmenden und entquellenden Effekt. Die Facettengelenke werden bei Facetteninfiltrationen meist auf Höhe L4/L5 und L5/S1 mit Lokalanästhetikum, das ggf. mit Steroiden gemischt ist, durch dorsale Injektionen aufgesucht. Diese Technik wird in unserem Haus zur besseren Lokalisation in bildwandlergesteuerter Technik durchgeführt. Ziel ist die Ausschaltung der Nozizeptoren in den Gelenkkapseln. In ähnlicher Technik, jedoch mit länger anhaltender Wirkung können Kryotherapie sowie Thermoablation durchgeführt werden. Diese moderne Verfahren gewinnen immer mehr an Bedeutung. Ebenso bildwandlergesteuert erfolgt die Durchführung von Radikulographien unter Verwendung von Kontrastmittel zur selektiven Darstellung und Anästhesie einer Nervenwurzel, zumeist präoperativ zur Diagnosesicherung. Die Infiltration des ISG kann in sitzender oder liegender Position des Patienten erfolgen. Begleitend erfolgt eine adjuvante Therapie mit Schmerz-
therapie, körperlicher Aktivierung, physikalischen, balneophysikalischen und physiotherapeutischen Maßnahmen. z z Operative Therapie
Als Grundlage für die Entscheidung oder Ablehnung einer Operation ist immer der klinisch-neurologische Befund maßgeblich. > Die bildgebende Diagnostik dient der Vervollständigung des Gesamtbildes, sollte aber nie als alleiniger Indikator zur Durchführung einer Operation missverstanden werden.
Absolute Operationsindikation besteht bei bandscheibenbedingtem Kaudasyndrom oder beim Ausfall funktionell wichtiger Muskeln. Bei starker therapieresistenter Schmerzsymptomatik und eindeutigem radiologischem Befund sowie bei progredienter Lähmung ist auch die Indikation zur operativen Therapie gegeben. Weiter ist bei der Indikationsstellung zu beachten, das selbst extradiskale Sequester wasserhaltig sind und demzufolge schrumpfen bzw. durch direkten Kontakt mit der gut durchbluteten ventralen epiduralen Membran resorbiert werden können. Nimmt der Sequester weniger als ein Drittel des Wirbelkanaldurchmessers ein, bestehen meist ausreichende Ausweichmöglichkeiten für alle betroffenen Strukturen, die Chancen für einen konservativen Therapieerfolg stehen günstig. Folgende Operationsverfahren, die in Abhängigkeit des zugrunde liegenden Ausgangsbefunds Anwendung finden können, stehen zur Verfügung. ▬ Diskotomie (Nervenwurzeldekompression durch Entfernung von Bandscheibengewebe) ▬ Dekompression der Nervenwurzel durch Erweiterung des Wirbelkanals ▬ Spondylodese eines oder mehrerer Bewegungssegmente ▬ Dekompression mit Implantation einer lumbalen Bandscheibenprothese
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Die Entwicklungstendenz zur minimalinvasiven Chirurgie hat auch Einfluss in der Wirbelsäulenchirurgie. So werden Dekompressionen und Diskotomien fast ausschließlich durch offene mikrochirurgische Eingriffe durchgeführt. Die entscheidenden Operationsschritte in der Tiefe sind nahezu unverändert. Nach Darstellung des lateralen Dura- oder Wurzelrandes werden diese Strukturen medialisiert und der Prolaps extrahiert. Als Vorteile der mikrochirurgischen Verfahren sind das geringe Operationstrauma mit geringem Kollateralschaden an Muskeln und Nerven, die Frühmobilisation, die im Vergleich kleinere postoperative Morbidität sowie das geringere Risiko zur Entwicklung eines narbenbedingten Postdiskotomiesyndroms aufzuführen. Erschwerend wirkt sich das beschränkte Operationsfeld, die fehlende Orientierung an Nachbarstrukturen sowie die indirekte Betrachtung des Operationsgebietes durch das Mikroskop aus. > Mögliche Komplikation stellen das Aufsuchen der falsche Etage, Verletzungen von Blutgefäßen, Verletzungen von Dura und Nerven, Infektionen der Wunde und Spondylodiszitis dar.
Bezüglich der Nachbehandlung existieren verschiedene Meinungen, die von der sofortigen uneingeschränkten Mobilisierung bis zur strikten Bettruhe reichen. In unserem Haus kommt postoperativ eine Flexionsorthese zur Anwendung. Dadurch können die Facettengelenke, die durch die ventrale Höhenminderung eine neue biomechanische Belastung auszuhalten haben, der sie ad hoc nicht gewachsen sind, sich in einem Zeitraum von ca. 3 Monaten an die neue statische Belastung adaptieren. Spondylodesen
Bei der Durchführung einer Spondylodese (⊡ Abb. 22.43) stehen verschiedene Operationsverfahren und -techniken zur Verfügung: ▬ dorsaler Zugang mit Pedikelschrauben ▬ ventraler Zugang mit intrakorporaler Versteifung (TitanCage oder Knochenspan) ▬ kombinierter dorsoventraler Zugang (ein- oder zweizeitiger Eingriff) Ehe die Indikation zur Versteifungsoperation der lumbalen Instabilität bei bandscheibenbedingten Erkrankungen gestellt wird, müssen sämtliche konservative Therapieversuche ausgeschöpft werden. Eine akribische präoperative Diagnostik ist obligat und umfasst neben einer exakten Segmentdiagnostik, beispielsweise durch Radikulographie, evtl. auch die Versorgung mit einem Becken-Bein-Gips, um den Zustand einer Versteifung zu simulieren und zu eruieren, ob der Patient von der geplanten Operation letztlich überhaupt profitiert. Bandscheibenprothesen
Einen mittlerweile festen Stellenwert in der Wirbelsäulenchirurgie macht die Implantation von Bandscheibenprothesen aus. Die Indikation des lumbalen Bandscheibenersatzes wird kontrovers diskutiert, Langzeitergebnisse liegen derzeit nicht vor. Implantattechnologie, biomechanische Fragestellungen sowie klinische und radiologische Folgeerscheinungen im postope-
a
b
⊡ Abb. 22.43a,b Spondylodese im Röntgenbild. a Seitlicher Strahlengang, b a.p.
rativen Verlauf stehen derzeit im Fokus des wissenschaftlichen Interesses. Hinsichtlich des Designs werden Teilprothesen von Bandscheibentotalendoprothesen unterschieden. Teilprothesen ersetzen den Nucleus pulposus. Bandscheibentotalendoprothesen bestehen zumeist aus 3 Komponenten, je einer metallenen Deckund Grundbodenplatte mit einem Interponat, das zumeist aus Polyethylen besteht. Die Vorteile dieses Operationsverfahrens werden in der schnelleren Mobilisierung der Patienten, des Fehlens von Schmerzen und der »donor-site«-Morbidität bei Fusionen mit Knochenentnahme, der geringeren Schädigung der paravertebralen Muskulatur sowie dem Fehlen von Anschlussinstabilitäten der benachbarten Wirbelsegmente gesehen. Problematisch ist das Fehlen von Langzeitergebnissen, die komplizierte Revisionschirurgie, die korrekte Indikationsstellung sowie die wachsende Nachfrage durch unkritische Berichterstattung in den Massenmedien.
Postdiskotomiesyndrom z
Definition
Die Bezeichnung Postdiskotomiesyndrom (PDS) ist eine rein deskriptive Beschreibung eines Zustands nach einer oder mehreren Operationen im Bereich der LWS, die durch nicht befriedigende Langzeitverläufe bezüglich der Schmerzreduktion oder durch das Auftreten rezidivierender Low-Back-Pain-Symptomatik gekennzeichnet sind. Weder die Operation selbst (Bandscheiben- oder Fusionsoperation) noch die im postoperativen Verlauf entstandenen Beschwerden werden näher differenziert. z
Ätiologie und Pathogenese
Das Postdiskotomiesyndrom kann sich sowohl als frühe postoperative Komplikation manifestieren, es kann jedoch auch als chronisches Symptom oder als Komplikation nach längerer La-
445 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
tenzzeit in Erscheinung treten. Gemeinsam ist der Symptomengruppe die »lumbale Schmerzkrankheit«. Zugrunde liegende Faktoren sind Reprolaps, Narbenbildung sowie postoperative Segmentinstabilität. Als Gründe für eine fehlgeschlagene Operation kommen infrage: ▬ präoperativ: falsche Patientenselektion, falsche Indikation ▬ perioperativ: Verletzung von Nervenwurzeln oder Dura mit Liquor-Leak, nicht ausreichende Dekompression, Implantatfehllage, epidurale Blutungen, unbemerkter extraforaminaler Diskusprolaps, iatrogene Verletzungen des Rückenmarks, Lagerungsschäden ▬ postoperativ: Spondylodiszitis, Instabilität, Arachnopathie, epidurale Fibrose Eine weitere Komplikationsmöglichkeit besteht im Auftreten von duralen Fisteln mit Pseudomeningozelenbildung. Bei duraler Lazeration oder insuffizientem Verschluss nach Eröffnung des Thekalsacks kann sich entlang des chirurgischen Zugangs eine mit Liquor cerebrospinalis gefüllte Pseudokapsel vorwölben. Differenzialdiagnostisch muss das Vorliegen eines postoperativen Seroms in Erwägung gezogen werden. Tipp
I
I
Da im MRT der Fistelgang zum Teil nicht dargestellt werden kann, empfiehlt sich in solchen Fällen die Veranlassung einer Myelographie bzw. eines Myelo-CT.
Im HWS-Bereich kann eine durch die Operation verursachte Höhenminderung des Intervertebralraums eine Translation der Facettengelenke des kaudalen Wirbelkörpers nach oben und vorne verursachen. Es resultiert hieraus ebenso eine foraminäre Stenose wie bei progredienter Unkovertebralarthrose. Eine Stenose kann auch durch überschießendes appositionelles Knochenwachstum nach Fusion bedingt sein. Tritt bei einer Fusionsoperation nur eine unzureichende oder nicht vollständige Fusion der operierten Segmente ein, kann dies ebenfalls für das Auftreten postoperativer Beschwerden verantwortlich sein. Die Angaben über die Pseudarthrosenrate liegen bei manchen Autoren bei bis zu 50%. Selbst bei ausreichender knöcherner Durchbauung (strukturelle Integrität) kann noch keine Aussage über die Bewegungen der operierten Segmente als funktionelle Einheit (funktionelle Integrität) getroffen werden. z
Klassifikation
Die Einteilung erfolgt in 3 Schweregrade, bei Grad I treten Beschwerden nur bei starker Belastung auf, klinisch ist der Lasègue-Test negativ. Grad II kennzeichnet das Auftreten von Schmerzen bereits bei mäßiger Belastung, der Lasègue-Test ist positiv. Dauerschmerz sowie ein unter 30° positiver LasègueTest ist charakteristisch für das Vorliegen eines Grad III. z
Klinik
Der Patient klagt über eine persistierende Beschwerdesymptomatik nach einer oder mehreren vorangegangenen lumbalen Operationen an der Bandscheibe. Die mit wechselnder Inten-
⊡ Abb. 22.44 Ausgeprägte Vernarbung mit Verziehung der Dura im MRT
sität beschriebenen Schmerzen werden häufig im Bereich der Narbe angegeben, häufig wird eine Ausstrahlung in das Bein geschildert. Außer dem Vorliegen eines operativen Eingriffs sind Ätiologie und Pathogenese ebenso wie der Einfluss des Nachbehandlungsregimes sowie die individuelle Disposition unklar. z
Diagnostik
In jedem Fall ist eine genaue Evaluation der zugrunde liegenden Ursachen notwendig, auch wenn dies ein schwieriges diagnostisches Unterfangen darstellt. Neben einer kritischen Anamnese wird von Schoffermann (2003) eine fachgerechte Untersuchung und eine der klinischen Symptomatik angepasste moderne Bildgebung, ggf. in Kombination mit invasiven diagnostischen Verfahren (Facettengelenkinfiltration) gefordert. Damit sei eine Diagnosestellung in mehr als 90% der Fälle möglich. Zum Ausschluss einer psychosomatischen Komponente muss im Verdachtsfall die Durchführung neuropsychologischer Tests veranlasst werden. z z Bildgebende Verfahren
In der bildgebenden Diagnostik werden zumeist das konventionelle Röntgen sowie die Computertomographie eingesetzt. Zwar können ossäre Pathologien zur Darstellung gebracht werden, intraspinale Prozesse können jedoch nicht suffizient beurteilt werden. Deshalb sollte beim Auftreten von ernstzunehmenden Komplikationen ein kontrastmittelverstärktes MRT zum Einsatz kommen. Zur Unterscheidung zwischen narbigen Veränderungen und Reprolaps ist das MRT das beste bildgebende Verfahren, da Bandscheibengewebe aufgrund der fehlenden Vaskularisierung kein Enhancement aufweist (⊡ Abb. 22.44). z Therapie z z Konservative Therapie
Unter Berücksichtigung der wahrscheinlich zugrunde liegenden Ursache des Postdiskotomiesyndroms erfolgt die Einlei-
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
tung konservativer Therapiemaßnahmen mit analgetischer und antiphlogistischer Medikation, Injektionstherapie und ggf. transkutaner Nervenstimulation. Weiterhin muskuläre Kräftigung und Stabilisierung durch Physiotherapie, Rückenschule sowie ggf. Reduktion der Belastungsspitzen durch Orthesenversorgung. Eine psychosomatische Mitbetreuung des Patienten empfiehlt sich. z z Operative Therapie
Nach Ausschöpfen der konservativen Maßnahmen bleibt die Möglichkeit einer Spinal-Cord-Stimulation, die Facettendenervierung oder die Anlage eines Schmerzkatheters. Bei nachgewiesener Instabilität kann eine Stabilisierung durch Spondylodese erfolgen. Zur erneuten Rezidivprophylaxe können bei Neurolysen oder Adhäsiolysen Fettlappen interponiert werden. Bei ausgedehnten Eingriffen kann oft aufgrund des schwierigen Operationssitus eine Hemilaminektomie oder Laminektomie nicht vermieden werden. Bei ausgedehnter Knochenresektion sollte zur Vermeidung einer Folgeinstabilität eine dorsale Fusion in PLIF-Technik (»posterior lumbar interbody fusion«) angestrebt werden. Die Fusion scheint auch das Risiko eines Narbenrezidivs zu verringern. > Tritt eine Spondylodiszitis auf, ist Bettruhe und Immobilisierung des Patienten mit begleitender antibiotischer Medikation die Therapie der Wahl. Staphylococcus aureus ist der am häufigsten nachgewiesene Keim. Bei Infektpersistenz muss chirurgisch interveniert werden.
Trotz der hier aufgeführten therapeutischen Ansätze muss man sich vergegenwärtigen, dass eine Therapieversagerquote von bis zu 40% besteht. Die allererste Prophylaxe einer PDS beginnt daher bereits mit der sorgfältigen und kritischen Indikationsstellung des Primäreingriffs.
sammlung von Gelenkflüssigkeit entstehen. Eine seltene Ursache einer Spinalkanalstenose ist das Auftreten einer spinalen Lipomatose, z. B. bei Langzeitsteroidtherapie. Eine weitere Ursache stellt das degenerative Wirbelgleiten dar, bei dem es zu einer Verschiebung von Wirbelkörpern gegeneinander durch bandscheibenbedingte Gefügelockerung kommt. Bei dieser als Pseudospondylolisthesis bezeichneten Erkrankung ist im Gegensatz zur Spondylolisthesis die Interartikularportion intakt. In der Regel handelt es sich dabei um eine Retrolisthesis mit Einengung einer oder beider Foramina intervertebralia. Zusätzliche Einengungen können beim Drehgleiten dadurch entstehen, dass der untere Gelenkfortsatz auf der nach ventral rotierenden Seite das Platzangebot weiter beengt. Allen beschriebenen Mechanismen ist gemeinsam, dass sie in der Regel in 1–2 Segmenten ausgeprägter sind und dort die Symptomatik verursachen. Etwa 90% aller Spinalkanalstenosen sind degenerativ bedingt. Die restlichen 10% werden verursacht durch Wirbelfraktur, narbige Veränderungen nach Spondylodiszitis oder angeborene Erkrankungen, die mit Wirbelsäulenanomalien vergesellschaftet sind. Dadurch dass die Erkrankung bei allgemein steigender Lebenserwartung ihren Altersgipfel im 7. und 8. Lebensjahrzehnt aufweist, wird die klinische Relevanz der Spinalkanalstenose bei demografischer Veränderung mit Rechtsverschiebung der Alterskurve deutlich. Segmentationstörungen, dysraphische Störungen und die Achondroplasie seien als Beispiele für die nicht näher diskutierte kongenitale Spinalkanalstenose genannt.
Ursachen lumbaler Spinalkanalstenosen
▬ Angeborene Ursachen:
Degenerative Spinalkanalstenose z
Definition
Als Spinalkanalstenose bezeichnet man jede ossäre, fibröse oder diskoligamentär bedingte Einengung im Bereich des zentralen Wirbelkanals oder des Nervenwurzelkanals. z
▬ ▬
Ätiologie und Pathogenese
Degenerative Veränderungen führen dazu, dass ein ursprünglich ausreichend weiter Wirbelkanal sekundär eingeengt wird. Die Einengung kann sich auch auf den lateralen Recessus oder die Foramina intervertebralia erstrecken. Unterschiedliche Strukturen können diese Einengung bewirken. Knöcherne Raumforderungen entstehen durch arthrotische Prozesse in den Wirbelgelenken mit Entwicklung von osteophytären Anbauten. Kapselverdickungen der Facetten, Sinterung der Bandscheiben mit konsekutiver Hyperlordosierung der LWS und Verkürzung des interlaminären Abstands führen zu einer weichteiligen Vorwölbung des hypertrophierten Lig. flavum in den Spinalkanal. Aber auch die Höhenminderung des Intervertebralraums an sich mit ringsum vorgewölbtem Bandscheibenring (»bulging disc«) führt zur Einengung des Spinalkanals (⊡ Tab. 22.10). Als eigene Entität wird die Entwicklung von Ganglien klassifiziert, die durch Ausstülpung der Facettenkapsel mit An-
▬
▬
– Chondrodystrophie – Wirbelmissbildungen – idiopathische Wirbelkanalstenose – Hyperlordose – Spondylolyse, Spondylolisthesis posttraumatische Stenose degenerative Ursachen: – knöcherne Reaktionen an Wirbelkanten und -gelenken – Bandscheibenprotrusionen – Pseudospondylolisthesis postoperative Wirbelkanalstenose mit narbigen Stenosierungen – nach Bandscheibenoperationen (Postdiskotomiesyndrom , PDS) – nach Fusionsoperationen (Postfusionssyndrom, PFS) generalisierte Knochenerkrankungen: – Fluorose – M. Paget
Die Schmerzentstehung wird in der modernen Grundlagenforschung durch eine Radikulitis mit Veränderungen des Metabolismus von Neurotransmittern in der Nervenwurzel erklärt. Auslöser ist die Kompression der Kauda, einzelner Nerven, der Hirnhäute oder von intraspinalen Gefäßen. Ein Erklärungs-
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versuch des Auftretens der Claudicatio-Symptomatik wird auf Gefäßebene gesucht. Während eine arterielle Minderdurchblutung zur Ischämie führt, verursacht eine venöse Stauung eine Nervenkompression sowie eine Minderperfusion.
⊡ Tab. 22.10 Stadienverlauf der degenerativen Spinalkanalstenose
> Der Krankheitsverlauf kann sich über Jahre auf einem stabilen Niveau bewegen. Verschiedene Faktoren können das Auslösen einer Dekompensation bewirken, dazu gehören Trauma, abnorme Belastung, venöser Rückstau und Protrusionen. z
Klinik
Je nach Lokalisation der Einengung wird die symptomatische Spinalkanalstenose als zentrale, laterale, Foramenstenose oder gemischt zentral/laterale Spinalkanalstenose bezeichnet. Während bei der lateralen Form radikuläre Beschwerden im Vordergrund stehen, die ein- oder beidseitig ausstrahlen, stehen bei der zentralen Form die neurogene Claudicatio mit diffuser Schmerzsymptomatik, Taubheitsgefühl und Schwäche beim Gehen und Stehen im Mittelpunkt der Beschwerden. Reklination führt zu einer Schmerzprovokation, Inklination verbessert durch Erweiterung des Spinalkanals die Symptomatik ebenso wie die Einnahme einer liegenden oder sitzenden Position durch Erniedrigung des epiduralen Drucks. z
Beschreibung
1
Sinterung der Bandscheiben mit konsekutiver Hyperlordosierung der LWS, »bulging disc«, Synovialitis der Facettengelenke
2
Pseudospondylolisthesis durch bandscheibenbedingte Gefügelockerung
3
Manifestation der Spinalkanalstenose durch Osteophyten, Retrophyten, Ligamentum-flavum-Hypertophie
Klassifikation
Die verschiedenen Stadien der degenerativen Spinalkanalstenose sind in ⊡ Tab. 22.10 dargestellt. Da manche Spinalkanalstenosen nur unter bestimmten Bedingungen Beschwerden verursachen, sich sonst aber asymptomatisch verhalten, erfolgt eine weitere Differenzierung in kompensierte und dekompensierte Spinalkanalstenose. Die von Verbiest erfolgte Unterscheidung zwischen absoluter (<10 mm) und relativer (10–14 mm) Stenose hinsichtlich des anterior-posterioren Durchmessers ist heute aufgrund der fehlenden klinischen Relevanz nur noch von historischer Bedeutung. Bei der Benutzung dieser Begriffe wird heute der vorhandene Liquorraum sowie der Restsaum an epiduralem Fettgewebe beurteilt. z
Stadium
Diagnostik
Die im Bein beklagten Schmerzen sowie die Reduktion der Gehstrecke sind die Indikatoren für die Entscheidung des weiteren Behandlungsverlaufs. Der klinische Untersuchungsbefund ist oft unbefriedigend, da außer evtl. vorhandenen seitengleichen Reflexausfällen oft keine pathologischen Befunde erhoben werden können. Bei moderat beschriebener Stenosesymptomatik, bei Hochrisikopatienten sowie bei Patienten, die eine Operation ablehnen, empfiehlt sich das gezielte, orthopädischschmerztherapeutische konservative Vorgehen. Sind neurologische Ausfälle eingetreten, muss dem Patienten ein operativer Eingriff angeraten werden. z z Bildgebende Verfahren
Die radiologische Diagnostik umfasst die LWS in 2 Ebenen mit Funktionsaufnahmen. Wichtige Differenzialdiagnosen können damit bereits abgeklärt werden. Die Kernspintomographie ist
das radiologische Diagnostikum der Wahl. Vorteilhaft ist die Durchführung als Kernspinmyelographie: Durch eine kompressionsbedingte Radikulitis kommt es zum Auftreten eines intraradikulären Ödems, das applizierte Kontrastmittel Gadolinium reichert sich in der Nervenwurzel an. Als Nachteil ist das Fehlen von Funktionsaufnahmen zu erwähnen. Inwieweit die offene MRT in der diagnostischen Aussagekraft von dynamischen Untersuchungen in Zukunft eine Rolle spielt, bleibt abzuwarten. Beim Vorliegen von knöchernen Stenosen kann das CT dem MRT überlegen sein. Die Funktionsmyelographie kann den Einfluss von Hyperextension und -flexion auf die vorliegende Stenose am besten darstellen. Zusätzlich kann im Anschluss an die Myelographie eine CT-Untersuchung (postmyelografische CT) durchgeführt werden. Die Wertigkeit der beiden letzten Verfahren bringt keine signifikanten Vorteile gegenüber dem MRT, sodass die Indikation aufgrund der Invasivität kritisch zu stellen ist. z
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch muss das Vorliegen eines Bandscheibenvorfalls ebenso ausgeschlossen werden wie auch spinale Tumoren, Entzündungserscheinungen, ISG-Arthrose, Durchblutungsstörungen der Iliakal- und Femoralgefäße, Aortenaneurysma, alle retroperitonealen Schmerzprozesse und Neuropathien. Im Rahmen der Differenzialdiagnostik sollte weiterhin das Vorliegen einer lumbosakralen Arachnoidalzyste, Myeolpathien, Diastematomyelie, einer lumbosakralen Assimilationsstörung oder von »conjoined nerve roots«, d. h. dem gemeinsamen Durchtritt von 2 Nervenwurzeln durch eine einzige Öffnung im Duralsack, ausgeschlossen werden. Bei unklarem Befund empfiehlt sich eine gefäßchirurgische Abklärung, eine eingehende abdominelle Untersuchung, elektrophysiologische und laborchemische Untersuchungen sowie eine schmerzpsychologische Abklärung insbesondere beim Vorliegen eines chronischen Schmerzsyndroms. z Therapie z z Konservative Therapie
Durch Reduktion des Wurzelödems und des Venenstaus ist es möglich, die exazerbierte Beschwerdesymptomatik zu bessern oder zu beseitigen. Die gezielte intensive konservative Therapie ist als Methode der ersten Wahl für 6 Wochen gerechtfertigt, sofern keine Rote-Flagge-Problematik vorliegt, die Prognose einer ggf. im Verlauf doch notwendigen Operation wird dadurch nicht verschlechtert.
22
448
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Die Therapie erfolgt durch entlordosierende Würfellagerung sowie Einnahme analgetischer bzw. antiphlogistischer Medikamente. Therapie- und Trainingsprogramme müssen Übungen in Inklination (Fahrradergometer, Aquajogging etc.) sowie stabilisierende Übungen beinhalten. Physikalische Therapie, Verhaltenstherapie, Ergotherapie kommen ebenso zum Einsatz. > Die effektivste Therapie besteht in der gezielten Injektionstherapie, und zwar epidural, in der foraminoartikulären Region oder der Facetten.
Bei der lateralen Spinalkanalstenose kann diese Injektion auch als epidural-perineurale durchgeführt werden. Weiterhin finden die im Abschnitt Bandscheibendegeneration angesprochenen Therapiemaßnahmen Anwendung. Eine Miederversorgung wird kontrovers diskutiert, da mittelfristig mit einer Hypotrophie und damit Schwächung der Lendenwirbelsäulenmuskulatur zu rechnen ist. Der Patient muss über den natürlichen Langzeitverlauf der Spinalkanalstenose aufgeklärt werden. Eine multimodale konservative Therapie mit Schwerpunkt auf aktivierenden Therapien ist anderen Therapien eindeutig überlegen z z Operative Therapie
Ist nach Ausschöpfen der konservativen Therapiemaßnahmen nach mindestens 6 Wochen keine Beschwerdebesserung erzielt worden, klagt der Patient über stärkste Schmerzen mit deutlicher Einschränkung seiner Mobilität oder liegt eine progrediente Symptomatik vor, so muss die Indikation zur operativen Intervention gestellt werden. Steht bei der klinischen Symptomatik der Beinschmerz im Vordergrund, sollte eine kontinuitätserhaltende Dekompression durchgeführt werden. Gibt der Patient als Hauptsymptomatik Rückenschmerzen an, sollte beim Vorliegen einer Instabilität, Spondylolisthesis oder Skoliose eine zusätzliche mono- oder multisegmentale Fusion erfolgen. Präoperativ ist eine kernspintomographische oder computertomographische Befundverifizierung und Etagenidentifizierung erforderlich. Bei reiner Dekompressionsoperation wird entweder eine komplette Laminektomie durchgeführt, wobei der Proc. spinosus, das Lig. interspinosum sowie der ganze Wirbelbogen entfernt (großes Risiko der Instabilität) werden, oder es erfolgt eine Hemilaminektomie mit unilateraler Resektion der Lamina und des Lig. flavums. Eine weitere Möglichkeit ist die Hemilaminotomie als interlaminäre Mikrodekompression mit Entfernung des Lig. flavum sowie angrenzender Bogenteile (Laminae werden unterminiert, ggf. mit Resektion protrusionierter Bandscheibenanteile, eine Recessuserweiterung wird durchgeführt) unter Erhalt der stabilitätsgebenden Strukturen. Bei der bilateralen Hemilaminotomie bleiben die Dornfortsätze sowie die inter- und supraspinösen Ligamente erhalten. Wird zusätzlich der mediale Anteil der hypertrophen Facettengelenkfortsätze und deren Gelenkkapsel mit entfernt, spricht man von einer Recessuserweiterung. Laminoplastische Verfahren beinhalten die Dekompression und Rekonstruktion der knöchernen dorsalen Strukturen. Des Weiteren existieren die Verfahren der »undercutting decompression« mit Unterschneidung der Wirbelbögen und Wirbelbogengelenke der Gegenseite nach erfolgter unilatera-
ler Fensterung sowie die bilaterale Laminotomie. Interspinöse Implantate haben sich wegen des nur temporären Effekts nicht durchgesetzt. > Dekompressionseingriffe mit Fusion sind dann notwendig, wenn tragende Anteile von Facettengelenken reseziert werden müssen und sich intraoperativ eine Instabilität zeigt.
Für die Durchführung der Spondylodesen steht eine Vielzahl von Operationsmethoden zur Verfügung. Die instrumentierte Fusion wird in der aktuellen Literatur im Vergleich zur nicht instrumentierten Fusion bevorzugt verwendet. Bei der instrumentierten Fusion erfolgt durch Distraktion eine indirekte Erweiterung sowohl des Spinalkanals als auch der Intervertebralforamina. Als Techniken der instrumentierten Fusion sind zu nennen: ▬ anteriore lumbale interkorporelle Fusion (ALIF) ▬ posteriore lumbale interkorporelle Fusion (PLIF) ▬ transforaminale lumbale interkorporelle Fusion (TLIF) ▬ posteriore instrumentierte Fusion Weder für die Entscheidung konservatives versus operatives Vorgehen noch für die Wahl des Dekompressionsverfahrens existieren evidenzbasierte Daten. Deswegen ist die genaue Beachtung der Indikation (»red flag«) wichtig.
Degenerative Skoliose z
Definition
Die adulte Skoliose ist definiert durch einen um mehr als 10° betragenden Cobb-Winkel in der Koronarebene beim skelettreifen Erwachsenen. Zeigen sich bei der idiopathischen Skoliose eher strukturelle Veränderungen der Wirbelkörper, so erscheinen bei der degenerativen Skoliose abnutzungsbedingte Veränderungen, weshalb sie auch als »de novo« degenerative Deformität bezeichnet wird (⊡ Abb. 22.45).
a
b
⊡ Abb. 22.45a,b Degenerative Skoliose im Röntgenbild. a Strahlengang a.p., b seitlich
449 22.2 · Erkrankungen der Wirbelsäule
z
Ätiologie und Pathogenese
Degenerative Spondylolisthesis
Auslösender Faktor ist in der Regel eine zugrunde liegende Segmentinstabilität bei Diskusdegeneration. Die asymmetrische Diskusdegeneration führt zu einer Abweichung in der Frontalebene bei gleichzeitiger Rotation um die Facettengelenke mit nachfolgender asymmetrischer Belastung der Facettengelenke (»rotation on kyphosis«). Die asymmetrische Belastung betrifft schließlich nicht nur das einzelne Bewegungssegment, sondern einen ganzen Abschnitt der Wirbelsäule. Da dieser Prozess durch Fehlbelastung das Fortschreiten der Degeneration bewirkt, entsteht ein Teufelskreis. Oft ist die Erkrankung mit einer Spinalkanalstenose vergesellschaftet. Das Manifestationsalter befindet sich ab dem 50. Lebensjahr. Osteoporose oder Osteomalazie verursachen durch die fehlende Festigkeit des Knochens ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Instabilitäten, was zu einer erhöhten Koinzidenz der degenerativen Skoliose in diesem Patientengut führt.
z
z
Initial muss ein konservativer Therapieversuch unternommen werden, da dadurch bei einem Großteil der Patienten eine operative Intervention vermieden werden kann.
Klinik
Das klinische Bild kann von vollständiger Beschwerdefreiheit bis zu massiven in Rücken und Bein ausstrahlenden Schmerzen variieren. Die Radikulopathie kann sowohl unilateral als auch bilateral sein. Die Kompression an der konvexen Seite der Skoliose verursacht die Irritation der Nervenwurzel, an der konkaven Seite wird die Sensation des Nervs durch Zug bedingt. Neben Schmerzen können Hyp-, Dys- und Parästhesien, Schwäche, neurogene Claudicatio sowie Störungen des Gangbilds bestehen. Das Auftreten eines Kaudasyndroms ist möglich. z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie besteht aus antiosteoporotischer Therapie, Analgesie, Stärkung der Rumpfmuskulatur, physikalischer Therapie sowie gezielter orthopädischer Schmerztherapie, einschließlich Injektionen und Infiltrationen.
Ätiologie und Pathogenese
Das am häufigsten betroffene Segment ist L4/L5, konsekutiv folgen die sich nach oben anschließenden Segmente. Der Gleitvorgang überschreitet nur selten den Grad II nach Meyerding. Aufgrund der langsamen Progression bleibt die Erkrankung oft bis zum Auftreten einer manifesten Spinalkanalstenose asymptomatisch. Als Risikofaktoren für das Auftreten einer degenerativen Spondylolisthesis werden Diabetes mellitus, weibliches Geschlecht (erhöhte Bandlaxizität) und Amerikaner afrikanischen Ursprungs (erhöhte Inzidenz einer Sakralisation von L5) gewertet. Ätiopathogenetisch sind Degenerationen der Bandscheiben und Ligamente sowie die sagittale Stellung der Facettengelenke als Kausalitätsfaktoren zu nennen. Die pathologischen Veränderungen können mit einer Spinalkanalstenose oder einer degenerativen Skoliose einhergehen. z Therapie z z Konservative Therapie
z z Operative Therapie
Die operative Intervention bei der degenerativen Spondylolisthesis zielt wie bei der skoliotischen Erkrankung auf eine Schmerzreduktion und Stabilisierung der Wirbelsäule im Sinne einer Prävention des weiteren Voranschreitens der Erkrankung. Auch die operativen Verfahren weichen prinzipiell nicht von den beschriebenen ab: Dekompression, Dekompression mit nicht instrumentierter spinaler Fusion sowie Dekompression mit instrumentierter spinaler Fusion. In den aktuellen Publikationen wird der instrumentierten Fusion aufgrund der verbesserten Fusionsrate der Vorzug ge-
z z Operative Therapie
Indikation zur Operation besteht bei therapieresistenten starken Schmerzen, Instabilität und fortschreitender neurologischer Symptomatik mit pseudoradikulärer Ausstrahlung und/ oder radikulären Schmerzen aufgrund spinaler oder foraminaler Stenose. Als Operationsverfahren stehen die reine Dekompression, die Dekompression mit Fusion (bei drohender Instabilität) und die Dekompression mit langstreckiger Fusion (laterale Olisthese >5 mm, neurogene Claudicatio und Rückenschmerzen, progrediente Deformität) sowie die Aufrichtung zur Verbesserung der statischen Belastungssituation zur Verfügung. Ziele der Operation sind die Schmerzreduktion, die Wiederherstellung der Funktion und die Verhinderung einer Progression der Deformität. > Die Dekompression mit je nach Beschwerdebild durchgeführter Foraminotomie oder Laminektomie stellt das am geringsten invasive operative Verfahren dar. Sie kann aber eine Instabilität mit nachfolgender Verschlechterung der neurologischen Symptome verursachen.
⊡ Abb. 22.46 Degenerative Spondylolisthesis L5/S1, seitliches Röntgenbild des lumbosakralen Übergangs
22
450
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
geben. Diese wird zumeist als Distraktionsspondylodese mit Einbringen interkorporeller Cages und einer mit Fixateur interne erfolgten pedikulären Stabilisierung durchgeführt. Als Zugangswege für die Implantation der Cages steht entweder der dorsale (posterolumbale interkorporelle Fusion, PLIF) oder der ventrale Zugang (anterolumbale interkorporelle Fusion, ALIF) zur Verfügung. Die vergleichenden Ergebnisse beider Verfahren werden in einer publizierten retrospektiven Studie von Lemcke und Mitarbeitern (2007) mit gleich guten Ergebnissen beschrieben.
Spezielle degenerative Krankheitsbilder M. Baastrup Eine Höhenminderung der Bandscheiben führt bei Vorliegen einer Hyperlordose der LWS zu einer reaktiven Vermehrung von Knorpel und Knochen im Bereich der Proc. spinosi der LWS. Die Proc. spinosi können dabei ein verplumptes Aussehen erhalten. Kalzifikationen der supra- und interspinösen Ligamente führen schließlich zu einer Flexionseinschränkung der LWS. z
Synonyme
Osteoarthrosis interspinosa, »kissing spine disease«
Diffuse idiopathische Skeletthyperostose Ähnlich der Bechterew-Erkrankung kommt es bei der DISH zu einer breitbasigen Verkalkung und Ossifikation des Lig. longitudinale anterior. Dieser Prozess schließt in der Regel mehrere Segmente ein. Radiologisch erscheinen ISG, Facettengelenke und Intervertebralraum unauffällig. z
> Besondere Bedeutung für die Stabilität der oberen HWS haben das vom Okziput zu den Dornfortsätzen ziehende Lig. nuchae sowie den Dens axis stabilisierende Bänder, und zwar die zum Hinterhaupt ziehenden Ligg. alaria und das den Atlasbogen querende Lig. transversum.
Synonym
M. Forrestier
22.3
Verletzungen der Wirbelsäule
T. Forster, M. Kröber
22.3.1 z
len Querschnittslähmungen im Vergleich zu Verletzungen der thorakalen Wirbelsäule mit primärer Querschnittslähmung. Allerdings liegt bei angeborenem engen zervikalen Spinalkanal (Wirbelkörpertiefe > Spinalkanaltiefe) eine höhere Vulnerabilität des Rückenmarks und der Wurzeln vor. Insgesamt treten acht Nervenwurzelpaare seitlich über die Neuroforamen aus dem zervikalen Myelon aus. Für die Biomechanik der Wirbelsäule gelten als allgemeines Konstruktionsprinzip eine ventrale Säule und eine dorsale Gliederkette. Die ventrale Säule ist für die Kraftübertragung verantwortlich und kompensiert axiale Kompressionskräfte, denen vorwiegend Wirbelkörper und Bandscheiben ausgesetzt sind. Die dorsale Gliederkette wirkt im Sinne einer dorsalen Zuggurtung und bietet Widerstand gegen Distraktionskräfte. Die Biomechanik der HWS wird allerdings wesentlich durch die Weichteilverbindungen beeinflusst. Überspannende Strukturen sind neben der Muskulatur v. a. das dünnere vordere und das kräftig ausgeprägte hintere Längsband. Die Längsbänder haften jeweils an den Bandscheiben und den Endplatten an und ermöglichen so eine relativ hohe Segmentstabilität. Die dorsale Zuggurtung wird vom Lig. flavum zwischen den einzelnen Laminae und den kräftigen Kapselbändern der dorsalen kleinen Wirbelgelenke vermittelt.
Verletzungen der HWS
Anatomie und Biomechanik
Die Halswirbelsäule besteht aus 7 Wirbelkörpern, den dazwischen liegenden knorpeligen Bandscheiben sowie den ligamentomuskulären und den neurogenen Strukturen. Von klinischer Relevanz ist die Aufteilung in die obere (C0–C2) und untere HWS (C3–C7). Die obere HWS, insbesondere das C1/ C2-Gelenk, ist wesentlich für die Kopfrotation verantwortlich, während an der unteren HWS maßgeblich Flexion- und Extensionsbewegungen ausgeführt werden. Die enge Nachbarschaft der A. vertebralis ist von besonderer anatomischer Bedeutung und kann zu vaskulären Begleitverletzungen führen. Der zervikale Spinalkanal ist im Vergleich zur thorakalen Wirbelsäule etwas weiter und der Liquorreserveraum an der HWS daher ausreichend für geringe segmentale Verschiebungen. Dies ermöglicht eine etwas höhere Regenerationsrate von primären, insbesondere inkompletten zervika-
z
Ätiologie und Pathogenese
Halswirbelsäulenverletzungen machen ca. 15–20% aller Wirbelsäulenverletzungen aus. Allerdings gehen diese – anders als Verletzungen an der thorakolumbalen Wirbelsäule – mit einem hohen Anteil an neurologischen Begleitsymptomen einher (ca. 70%). Grund dafür ist die hohe Anzahl von diskoligamentären Verletzungen in diesem Bereich, die translatorische Dislokationen eher zulassen als axiale Stauchungen und damit das nahegelegene, empfindliche Rückenmark unmittelbar gefährden. Verletzungsschwerpunkte an der HWS sind jeweils die Übergänge vom Kopf zur oberen HWS und von der unteren HWS zum Thorax. Die Kenntnis bzw. Analyse des Unfallmechanismus ist daher für die Behandlung von Halswirbelsäulenverletzungen von großer Bedeutung. Folgende Verletzungsmechanismen der Halswirbelsäule werden unterschieden: Hyperextension, Hyperflexion, axiale Stauchung, Translation (⊡ Abb. 22.47). Häufige Ursachen dieser Verletzungsmechanismen sind: Zweiradunfälle, Reitunfälle, PKW-Unfälle, bei denen Insassen aus dem Auto herausgeschleudert werden, Stürze aus großer Höhe, Sportverletzungen und Kopfsprünge in seichtes Wasser. z Klassifikation AO-Klassifikation
Die Klassifikation von Halswirbelsäulenverletzungen ist im Vergleich zur Klassifikation von Verletzungen der übrigen Wirbelsäule komplex und vielfältig. Vorteilhafterweise erfolgt die
451 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
b
a
c
⊡ Abb. 22.47a–c Verletzungsmechanismen der Halswirbelsäule. a Hyperflexion, b Hyperextension, c axiale Stauchung
⊡ Tab. 22.11 Typ-A-Verletzungen der unteren HWS (AO-Klassifikation nach Magerl) A1
A2
A3
Impaktion
Spaltbildung
Berstung
A1.1 Deckplattenbruch
A2.1 Spaltung in der Frontalebene ohne Dislokation
A3.1 inkompletter Berstungsbruch
A1.2 Keilwirbelbildung
A2.2 Spaltung in der Frontalebene mit Dislokation
A3.2 kompletter Berstungsbruch
A1.3 Wirbelkörperkollaps
A2.3 Spaltung in der Sagittalebene mit/ohne Spaltung in der Frontalebene
–
⊡ Tab. 22.12 Typ-B-Verletzungen der unteren HWS (AO-Klassifikation) B1
B2
B3
Vorwiegend ligamentäre Verletzungen der hinteren Elemente
Vorwiegend ossäre Verletzungen der hinteren Elemente
Ventrale Dislokation durch die Bandscheibe mit Extension
B1.1 Zerreißung des hinteren Ligamentkomplexes mit Subluxation der kleinen Wirbelgelenke beidseits
B2.1 Querfraktur durch den Bogen
B3.1 Zerreißung der Bandscheibe mit knöchernem Ab-/Ausriss von Grund- und Deckplatten
B1.2 Zerreißung des hinteren Ligamentkomplexes mit Luxation der kleinen Wirbelgelenke beidseits (verhakte Gelenke)
B2.2 Fraktur durch die Facettengelenke beidseits
B3.2 Zerreißung der Bandscheibe
B1.3 Zerreißung des hinteren Ligamentkomplexes mit Luxation und/oder Fraktur der kleinen Wirbelgelenke beidseits und Translation nach vorne
B3.3 Fraktur durch die Pedikel
B3.3 Zerreißung der Bandscheibe mit Diskusfraktur und dorsaler Dislokation
Einteilung in Verletzungen der oberen (Atlas und Axis) und solche der unteren HWS (3.–7. Halswirbel). Vor allem die Frakturen an der oberen HWS werden aufgrund der anatomischen Individualität des ersten und zweiten Halswirbels in spezielle Klassifikationen (s. u.) eingeteilt. Die eher gleichförmige Anatomie der Halswirbelkörper C3–C7 erlaubt eine zusammenfassende Klassifikation der Verletzungstypen der unteren HWS anlehnend an die AO-Klassifikation der Frakturen an der thorakolumbalen Wirbelsäule, die von Magerl und Mitarbeitern (1994) auf der Basis der AO-Einteilung für lange Röhrenknochen entwickelt wurde. Die von der AO favorisierte detaillierte
Klassifikation der HWS-Verletzungen ist in den ⊡ Tab. 22.11 bis ⊡ Tab. 22.13 dargestellt. Andere häufig verwendete Klassifikationen
Die im Folgenden aufgeführten Frakturklassifikationen beschreiben Frakturen der oberen HWS. Frakturen der Okzipitalkondylen sind mit konventionellen Röntgenaufnahmen nur sehr schwer zu diagnostizieren, können aber durch gezielte multiplantare Rekonstruktion im CT aufgedeckt werden. Sie entstehen z. B. durch Rasanztraumen oder durch Sturz auf den Kopf mit direkter axialer Gewalteinwirkung. Die gängige
22
452
22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
⊡ Tab. 22.13 Typ-C-Verletzungen der unteren HWS (AO-Klassifikation) C1
C2
C3
Verletzungen vom Typ A und unifacettale Fraktur
Verletzungen vom Typ B und
Spezielle Verletzungen
–
C2.1 unifacettale Fraktur
C3.1 unilaterale Frakturdislokation der Massa lateralis
–
C2.2 unifacettale Subluxation
C3.2 »slice fracture«
–
C2.3 unifacettale Luxation mit Verhakung
C3.3 Trennung der Wirbelkörper über mehrere Segmente
Klassifikation im europäischen Sprachraum dieses Frakturtyps erfolgt nach Jeanneret in 4 Typen (⊡ Abb. 22.48): ▬ Typ I: Schädelbasisfraktur vom Foramen magnum ausgehend und durch eine Okzipitalkondyle laufend ▬ Typ II: Schädelbasisringfraktur ▬ Typ III: (einseitige) Kompressionsfraktur einer Okzipitalkondyle ▬ Typ IV: (einseitige) Abrissfraktur der Ligg. alaria, in einem Viertel der Fälle zusammen mit einer kompletten oder inkompletten atlantookzipitalen Dislokation
Typ I
Typ II
Atlantookzipitale Dislokation
Die AOD ist in der Regel tödlich oder wird nur wenige Stunden überlebt (⊡ Abb. 22.49). Kinder erleiden diese Verletzung häufiger als Erwachsene, da bei ihnen die Okzipitalkondylen im Verhältnis zu den Gelenkmassiven des Atlas kleiner sind als beim Erwachsenen und die Gelenkflächen mehr in der Horizontalebene liegen. Die Klassifikation erfolgt nach der Dislokation des Kopfes gegenüber der HWS und wurde von Traynelis und Mitarbeitern (1986) entwickelt: ▬ Typ I: ventrale Dislokation (häufigste Form) ▬ Typ II: dorsale Luxation ▬ Typ III: axiale Dislokation (meist in Kombination mit ventraler Dislokation)
Ligg. alaria Typ III
Dens Atlas
Os occipitale
Kompressionszone
Axis
Atlasfrakturen
Sie entstehen häufig durch eine indirekte Krafteinwirkung, bei der es durch eine Kombination aus axialer Kompression und Hyperextension zu einer Einklemmung des hinteren Atlasbogens zwischen Okziput und Dornfortsatz von C2 kommt.
Typ IV
> 30–70% der Atlasfrakturen sind mit anderen Läsionen der HWS kombiniert, besonders häufig mit C2-Frakturen.
Des Weiteren muss daran gedacht werden, dass Bogenschlussstörungen des Atlas als kongenitale Fehlbildungen nicht selten sind und als Frakturen des Atlasrings oder Fehlstellungen der Gelenke C1/C2 missinterpretiert werden können. Nach Fitzwilliams werden 5 Frakturtypen unterschieden: ▬ Typ I: isolierte Fraktur des vorderen Atlasbogens (stabil) ▬ Typ II: isolierte Fraktur des hinteren Atlasbogens, am häufigsten kombiniert mit anderen Läsionen der HWS (stabil) ▬ Typ III: kombinierte Frakturen des vorderen und hinteren Atlasbogens (Jefferson-Fraktur), bei intaktem Lig. transver-
⊡ Abb. 22.48a–d Frakturtypen nach Jeanneret. a Typ I, b Typ II, c Typ III, d Typ IV. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
sum (stabil), bei Ruptur oder Ausriss des Lig. transversum (instabil), dann dislozierte Massa lateralis ▬ Typ IV: seltene isolierte Fraktur einer Massa lateralis (stabil) ▬ Typ V: seltene isolierte Fraktur eines Proc. transversus (stabil)
453 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
Typ I
a
Typ II
Typ III
b
c
⊡ Abb. 22.49a–c Atlantookzipitale Dislokation. a Typ I, b Typ II, c Typ III. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Allgemein gilt für die Stabilitätsbeurteilung einer Atlasfraktur, dass eine instabile Fraktur immer dann vorliegt, wenn in der a.p.-Projektion der transoralen Röntgenaufnahme eine oder beide Massa lateralis die oberen Gelenkflächen des Axis um mindestens 5 mm überragen. Auch bei den Atlasfrakturen ist nach spezifischen neurologischen Läsionen zu suchen, die durch Beteiligung der N. glossopharyngeus, der N. occipitalis major und minor und der Chorda tympani bedingt sein können.
a
Atlantoaxiale Dislokationen
AAD werden in translatorische Verschiebungen des Atlas gegen den Axis und rotatorische Fehlstellungen unterteilt, wobei auch Kombinationen aus beiden Mechanismen vorkommen. Die translatorische atlantoaxiale Dislokation ist die seltenere Form und führt aufgrund des horizontalen Schermechanismus häufig zu schwerwiegenden neurologischen Ausfällen oder zum Tod. Eine translatorische AAD liegt vor, wenn der atlantodentale Abstand auf Funktionsaufnahmen im lateralen Strahlengang mehr als 3 mm beträgt. Die Verletzung ist instabil und entsteht bei gerissenem Lig. transversum (⊡ Abb. 22.50). Die rotatorische atlantoaxiale Dislokation tritt gehäufter im jugendlichen Alter auf und kann sowohl traumatisch als auch nicht traumatisch bedingt sein. Je nach Ausmaß der Dislokation kann sie bei den Betroffenen zu einer typischen Kopffehlhaltung führen. Die Klassifikation erfolgt nach Stärke ihrer Ausprägung in 4 Typen (⊡ Abb. 22.51): ▬ Typ I: rotatorische Dislokation ohne Verschiebung des Atlas nach ventral, schmerzhafte Subluxation mit Kopffehlhaltung, intaktes Lig. transversum, normaler atlantodentaler Abstand ▬ Typ II: rotatorische Dislokation mit Verschiebung des Atlas nach ventral um 3–5 mm als Folge einer Ruptur des Lig. transversum ▬ Typ III: rotatorische Dislokation mit Verschiebung des Atlas nach ventral um >5 mm, neurologische Ausfälle wahrscheinlich ▬ Typ IV: rotatorische Dislokation mit Verschiebung des Atlas nach dorsal, nur bei fehlendem oder insuffizientem Dens axis Die Diagnose der AAD wird klinisch über die typische Kopffehlhaltung und im CT gestellt.
b
⊡ Abb. 22.50a,b Translatorische atlantoaxiale Dislokation. a knöcherne Atlasbogenfraktur (stabil), b gerissenes Lig. transversum (instabil). (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Densfrakturen
Sie machen 7–15% aller HWS-Verletzungen im Erwachsenenalter aus. Bei Menschen über 70 Jahren stellen Frakturen des Dens axis sogar die häufigste isolierte HWS-Verletzung dar. In über 50% der Fälle sind zusätzliche Frakturen im weiteren Verlauf der HWS anzutreffen. Neurologische Ausfälle findet man statistisch in 12–42% der Patienten. Als typischen Verletzungsmechanismus spielen Hyperflexions- oder Hyperextensionstraumen meist in Kombination mit sagittalen Scherkräften nach frontalem Kopfanpralltrauma eine entscheidende Rolle (⊡ Abb. 22.47c). Tipp
I
I
Daher ist bei der klinischen Untersuchung besonders auf Stirnprellmarken zu achten.
Die Einteilung der Densfrakturen geschieht nach Anderson und D’Alonzo in 3 Typen, wobei diese Klassifikation sich nach
22
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
22
a
⊡ Abb. 22.51a–d Rotatorische atlantoaxiale Dislokation. a Typ I, b Typ II, c Typ III, d Typ IV. (Aus: Nerlich u. Berger 2003)
a
b
c
d
b
c
⊡ Abb. 22.52a–c Densfrakturen. a Typ I, b Typ II, c Typ III. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
dem anatomischen Verlauf der Frakturlinie richtet und dadurch einen prädiktiven Wert für die mögliche Entstehung einer Pseudarthrose besitzt. Allerdings gilt inzwischen als gesichert, dass vielmehr der Grad der Dislokation und weniger der Frakturtyp für eine eventuelle Pseudarthroseentwicklung verantwortlich ist. Folgende Frakturtypen werden unterschieden (⊡ Abb. 22.52): ▬ Typ I: Fraktur der Densspitze, sehr selten, entspricht eher einem knöchernen Ausriss der Ligg. alaria und tritt daher häufig in Kombination mit atlantookzipitalen Dislokationen (AAD) auf. ▬ Typ II: Fraktur des Proc. odontoideus oberhalb seiner Basis, häufigste Form, instabil, hohe Pseudarthroserate, die Frakturlinie läuft immer extraartikulär und kann horizontal oder schräg kaudokranial verlaufen, Dislokation des Dens nach dorsal (Extensionsfraktur), Dislokation des Dens nach ventral (Flexionsfraktur) ▬ Typ III: Frakturverlauf im Axiskörper, potenziell instabil, Übergang in traumatische Spondylolisthesis des 2. Halswirbels möglich.
Traumatischen Dislokationen des Axis
Die Klassifikation erfolgt am häufigsten nach Effendi und wurde im Verlauf von Levine u. Edwards modifiziert und präzisiert (⊡ Abb. 22.53): ▬ Typ I: nicht oder gering dislozierte traumatische Spondylolyse mit minimaler Verschiebung des Wirbelkörpers von C2, Bandscheibe ist nicht verletzt, häufigster Typ, kann durch sekundäre Dislokation in Typ II übergehen ▬ Typ II: Wirbelkörper von C2 ist nach ventral disloziert, Bandscheibe ist verletzt, instabil ▬ Typ III: Kombination einer Spondylolithesis mit verhakter Verrenkung der kleinen Wirbelgelenke, Wirbelkörper immer in Flexion, hohe Letalität (»hangman fracture«) Prinzipiell können die traumatischen Dislokationen des Axis mit Zusatzverletzungen der A. vertebralis einhergehen. Daher sollten diese beim Vorliegen einer traumatischen Spondylolisthesis angiographisch ausgeschlossen werden.
455 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
mit begleitendem Arzt möglichst in ein Wirbelsäulenzentrum, dem rund um die Uhr alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, durchgeführt werden. a
b
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die Diagnostik einer HWS-Verletzung beruht auf einer präzisen Anamnese, einer exakten körperlichen Untersuchung und gezielten bildgebenden Verfahren. Hieraus ergeben sich die Klassifikation der Verletzung und die folgenden therapeutischen Entscheidungen.
c
⊡ Abb. 22.53a–c Traumatische Dislokationen des Axis. a Typ I, b Typ II, c Typ III. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Isolierte Frakturen des Axiskörpers
Sie sind selten und entstehen v. a. durch Hyperextension. Brüche der Axisgelenkfortsätze
Sie können isoliert oder in Kombination mit anderen Frakturen der oberen HWS auftreten. Zu beachten ist, dass die Grenzen zwischen traumatischer Axisdislokation, Densfrakturen des Typ III und isolierten Axiskörperfrakturen unscharf sind. Je nach Verlauf der Fraktur sind verschiedene Einteilungen möglich. Die Computertomographie ermöglicht auch hier eine genaue Diagnose. z
Erstversorgung am Unfallort
Bewusstlose Unfallopfer müssen so lange als Halswirbelsäulenverletzte gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist. Wache Halswirbelsäulenverletzte klagen häufig über sehr heftige Nacken- und Kopfschmerzen oder weisen neurologische Defizite auf, die auf eine Halswirbelsäulenverletzung hindeuten. Liegt ein schweres Schädelhirntrauma vor, sollte wie bei einer Halswirbelsäulenverletzung vorgegangen werden, da die Kombination beider Verletzungen in etwa 20–45% der Fälle von schweren Schädelhirntraumen gegeben ist. Bei Bergung und Lagerung der Verletzten sollte mit einer ausreichenden Zahl an Helfern der Halsschienengriff und der Schaufel- bzw. Brückengriff angewendet werden. Weiterhin sollte bereits vor der Bergung eine steife Halskrawatte (Philadelphiakrawatte) angelegt werden. Zum Transport sollte der Halswirbelsäulenverletzte dann auf einer Vakuummatratze gelagert und so stabilisiert werden, dass er erst wieder in der Klinik umgelagert werden muss. Transportmittel der Wahl sollte bei allen Wirbelsäulenverletzten der Helikopter sein. Ist ein Hubschraubertransport nicht möglich, muss der Transport mit einem Notarztwagen
! Cave Die größte Gefahr besteht in der Fehleinschätzung des Verletzungsausmaßes und der daraus folgenden inadäquaten Therapie.
Die anamnestische Analyse des Unfallhergangs sollte am Anfang der klinischen Untersuchung stehen und Auskunft bezüglich Zeitpunkt des Unfalls sowie Art, Stärke und Richtung der Gewalteinwirkung geben. Danach folgt die körperliche Untersuchung, bei der zunächst die Bewusstseinslage eingeschätzt werden muss und dann eine erste grobe neurologische Orientierung zum Ausschluss eines motorischen Querschnittssyndroms erfolgen soll. Bei der weiteren Untersuchung sollte dann besonders auf ausgeprägte Nackenschmerzen, Schonhaltung, Gibbusbildung, Klaffen der Dornfortsätze, maximalen Druck- bzw. Schmerzpunkt sowie Stauchungs- und Ausstrahlungsschmerzen geachtet werden. Danach hat eine exakte neurologische Untersuchung zu folgen mit gleichzeitiger Befunddokumentation anhand der Standardklassifikation bei Querschnittsläsionen (z. B. ASIA-Score). Neben Sensibilität, Motorik und Reflexstatus sind dabei auch das Ausmaß und die Höhe eventueller Schädigungen zu erheben. Fehlender Bulbo-Cavernosus- oder Anal-Sphinkter-Reflex weisen auf eine komplette Querschnittsläsion hin. Liegt ein inkomplettes Querschnittssyndrom vor, findet man Restqualitäten von Sensibilität und Motorik und in der Regel eine sakrale Aussparung. Bei bewusstlosen Patienten sollte als Hinweis auf eine Rückenmarkverletzung auf Kontrakturen oder Beugung der oberen Extremitäten, Priapismus und Abdomenatmung geachtet werden. Da bei ca. 10–15% der neurologischen Ausfälle keine knöchernen Läsionen zu finden sind, sind diskoligamentäre Verletzungen sofort anzuschließen. > Eine Halswirbelsäulenverletzung mit neurologischen Ausfällen ist ein traumatologischer Notfall mit absoluter Indikation zur schnellst möglichen Reposition und/ oder Dekompression! Kennmuskeln
Die Kennmuskeln sind zu untersuchen und nach einer neurologischen Standardklassifikation, z. B. nach dem Erhebungsbogen der American Spine Injury Association (ASIA-Score), zu dokumentieren.
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
z z Bildgebende Verfahren
tertomographie an. Die CT als Spiral-CT mit multiplanarer
> Wichtig für die Beurteilung der bildgebenden Diagnostik ist die Kenntnis von Variationen der Halswirbelsäule (wie z. B. Blockwirbel, Bogenschlussanomalien, Os odentoideum).
Rekonstruktion ermöglicht v. a. die genaue Darstellung von Wirbelbogen- und Gelenkfrakturen sowie mittels der sagittalen Rekonstruktion die Beurteilung der Wirbelkörperhinterkante. Überdies können Einengungen des Spinalkanals aufgedeckt werden. Insbesondere sichert die CT-Untersuchung auch die exakte Beurteilung des auf dem konventionellen Röntgenbild oft schlecht einsehbaren zervikothorakalen Übergangs. Die CT ermöglicht eine hohe Sicherheit in der Diagnostik und eine eindeutige Klassifikation der Verletzung sowohl an der oberen als auch an der unteren HWS. Sie stellt damit für die präoperative Frakturdiagnostik die Methode der Wahl dar. Bei Patienten allerdings mit Verdacht auf intrakranielle Verletzungen, bei denen aus neurochirurgischer Sicht sofort kranielle CT-Untersuchungen durchgefürt werden, sollte dann auch gleich ein CT der Halswirbelsäule mitgefahren werden, es kann dann auf native HWS-Röntgenaufnahmen verzichtet werden. Bei rein diskoligamentären Läsionen an der HWS oder bei Vorliegen von knöchernen Verletzungen ohne Dislokation auf konventionellen Röntgenaufnahmen müssen funktionelle Röntgenuntersuchungen der seitlichen HWS zum Ausschluss von möglichen Instabilitäten ergänzt werden. Hierzu wird unter Bildwandlerkontrolle in passiv geführter maximaler Flexions- und Extensionsbewegung eine Subluxation bzw. das Aufklappen des Zwischenwirbelraums geprüft (⊡ Abb. 22.55).
Konventionelle Röntgenaufnahmen in a.p.- und seitlicher
Projektion mit Abbildung des zervikothorakalen Übergangs sowie transorale a.p.-Aufnahmen von Atlas und Axis bilden die Standarddiagnostik jeder HWS-Verletzung. Da am zervikothorakalen Übergang ein Verletzungsschwerpunkt liegt (s. o.), ist es zur Erstellung der seitlichen Aufnahmen v. a. bei kräftigen Patienten mit kurzem Nacken wichtig, durch Zug an beiden Armen die Schultern nach kaudal zu mobilisieren, um eine Abbildung einschließlich des 7. Halswirbels und der Deckplatte Th1 zu ermöglichen. Wenn das Herunterziehen der Arme nicht ausreichend gelingt oder aufgrund von Verletzungen an den oberen Extremitäten nicht möglich ist, stehen als alternative Techniken die Schwimmer- oder Fechteraufnahme, bei der ein Arm nach kranial, der andere nach kaudal gezogen wird, oder die sogenannte Traumaschrägaufnahme in Rückenlage zur Verfügung. Allerdings haben diese Techniken durch die sensitivere Computertomographie (CT) an Bedeutung verloren. Anhand dieser konventionellen Aufnahmen können nun das Alignement, die Knochenintegrität sowie etwaige Dislokationen beurteilt werden. Hilfslinien und standardisierte Messwerte (⊡ Abb. 22.54) geben darüber hinaus wertvolle Hinweise über das mögliche Vorliegen von Instabilitäten. An die konventionellen Röntgenaufnahmen als Standarddiagnostik schließt sich dann entweder bei nicht sicherem Ausschluss frischer knöcherner Verletzungen oder zur weiteren Klassifizierung erkannter knöcherner Läsionen die Compu-
nicht <13mm
! Cave Diese Untersuchung muss am wachen und kooperativen Patienten durchgeführt werden, da die Gefahr einer sekundären Dislokation besteht.
Halswirbelsäulenverletzte mit Verdacht auf diskoligamentär bedingte neurologische Ausfälle müssen bereits im Rahmen der Notfalldiagnostik einer Magnetresonanztomographie (MRT)
4 – 5 mm 4
10mm nicht > 3 mm
5 – 2° + 20° – 4°
4mm
6 7
> 3,5mm d b
15mm
D a
C
B
A
c
⊡ Abb. 22.54a–d Hilfslinien und standardisierte Messwerte. a Sagittales Alignement ventraler und dorsaler Wirbelsäulenstrukturen, b ventraler Dens-Atlas-Abstand: darf nicht >3,0 mm betragen, c Hinterkantendifferenz: eine Differenz zweier benachbarter HWK >3,5 mm gilt als Zeichen einer Subluxation, d Segmentkyphose als Zeichen einer Sublaxtion oder Luxation
457 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
zugeführt werden. Die Vorzüge der MRT liegen in der guten Darstellung der Weichteilstrukturen und der strahlungsfreien Bildgebung. Sie ermöglicht daher Untersuchungen auch über längere Wirbelsäulenabschnitte zur Diagnostik von ligamentären Instabilitäten, Bandscheibenverletzungen, epiduralen und subduralen Hämatomen sowie Rückenmarkverletzungen. Des Weiteren stellt die MRT-Untersuchung bei Verdacht auf Vorliegen von B- oder C-Verletzungen (⊡ Tab. 22.12 u. ⊡ Tab. 22.13) eine wichtige Methode zur Abklärung der dorsalen Weichteilkomponenten dar und damit zur Planung der entsprechenden operativen ventralen und/oder dorsalen Vorgehensweise. Allerdings ist die MRT in der Akutdiagnostik auch heute noch nur bedingt einsetzbar, da ein spezielles Equipment für intubierte Patienten notwendig ist. Die Knochenspezifität der MRT liegt deutlich niedriger als beim CT, sodass ihr Einsatz in der Akutdiagnostik exakt abgewägt werden muss und nur bei den oben genannten Indikationen erfolgen sollte. Der traumatologische Goldstandard zur Diagnostik von Halswirbelsäulenverletzungen bleibt somit bei der Computertomographie.
Liegt eine selten auftretende penetrierende Halsverletzung vor, so ist schon in der Akutdiagnostik eine Angiographie der arteriellen Halsgefäße zu fordern. Ansonsten sind Angiographien v. a. der A. vertebralis nur indiziert, wenn im Anschluss an Reposition oder Operation Zeichen einer basalen Insuffizienz aufgetreten sind. Nach radiologischer Diagnostik von Frakturen der Okzipitalkondylen muss nach neurologischen Ausfällen des N. hypoglossus gesucht werden, der durch einen Knochenkanal im Kondylenbereich austritt und damit bei einer Kondylenfraktur besonders gefährdet ist. z Therapie Auf der Notfallstation
Bei der primären Behandlung von HWS-Verletzungen auf der Notfallstation gilt als oberste Prämisse eine rasche und zielorientierte Diagnostik durchzuführen. Liegt eine HWS-Verletzung mit neurologischen Ausfällen vor, ist Folgendes zu beachten: Ein hoher Anteil an HWS-Verletzungen geht mit zerebralen oder lebensbedrohlichen inneren Verletzungen einher. Daher ist bei Vorliegen entsprechender Begleitverletzungen vor der endgültigen Therapiewahl immer auch eine Prognose für die Gesamtsituation des Verletzten abzuschätzen, da beispielsweise durch eine in der akuten Traumaphase durchgeführte operative Therapie ein sogenannter »second hit« verursacht werden kann, der den Allgemeinzustand des Verletzten dramatisch verschlechtern kann. Verletzte, die intubiert in die Notfallstation eingeliefert werden und deren neurologischer Status nicht beurteilt werden kann, müssen bis auf Weiteres wie Verletzte mit neurologischer Symptomatik behandelt werden. Vordringlichste Maßnahme bei dislozierten Halswirbelsäulenverletzungen ist die Reposition. > Insbesondere wenn eine Rückenmarkverletzung vorliegt, ist ohne Zeitverlust umgehend eine Reposition durchzuführen. Dabei bedeutet Reposition Dekompression der neuralen Strukturen.
a
Dies kann entweder durch eine geschlossene Reposition unter Bildwandlerkontrolle auf der Notfallstation mit anschließender äußerer Ruhigstellung oder besser im Operationssaal mit der zusätzlichen Möglichkeit einer offenen Reposition und einer endgültigen inneren Stabilisierung durchgeführt werden. Hochdosierte, intravenöse Steroidgaben werden heute weder im angloamerikanischen Sprachraum noch in den meisten europäischen Ländern appliziert, da ihre Wirksamkeit nicht nachgewiesen werden konnte, eine hohe Rate an Nebenwirkungen aber wahrscheinlich ist. z z Konservative Therapie
b ⊡ Abb. 22.55a,b Bildwandlergestützte Prüfung auf Subluxation bzw. Aufklappen des Zwischenwirbelraums am wachen und kooperativen Patienten. a Maximale passive Flexionsuntersuchung, b maximale passive Extensionsuntersuchung
Ob eine Halswirbelsäulenverletzung konservativ oder operativ zu behandeln ist, hängt von der Verletzungsform und der neurologischen Symptomatik ab. Durch die Verletzungsform werden die Stabilität und die mögliche Fehlstellung bestimmt. Während der neurologische Status klinisch und die Fehlstellung radiologisch beurteilt werden, wird die Stabilität mithilfe valider Klassifikationstypen (s. o.) charakterisiert und in der Folge auch die Art und Dauer der Ruhigstellung. Das Vorliegen einer neurologischen Ausfallssymptomatik – sowohl zentral als
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
auch peripher –, knöcherne oder diskoligamentäre Instabilitäten und Fehlstellungen sind Operationsindikationen. Die konservative Therapie der Halswirbelsäulenverletzungen unterscheidet sich in vorläufig konservative (mit anschließender operativer Versorgung) und definitiv konservative Therapie. Die externe Fixation bildet hierbei die Grundlage der konservativen Behandlung. Sie ist eingebettet in die manuelle Reposition und Extension. Die rasche geschlossene Reposition einer dislozierten HWS-Verletzung kann nur unterbleiben, wenn umgehend operative Reposition und Stabilisation erfolgen. > Bei Vorliegen einer Dislokation mit nach dorsal luxierter Diskushernie muss ein geschlossenes Repositionsmanöver unterbleiben, die Reposition darf erst nach offener ventraler Ausräumung der Diskushernie erfolgen.
Für Luxationen ohne Dorsalverlagerung von Diskusgewebe und ohne neurologische Ausfälle wird die geschlossene Reposition mit anschließender Extension empfohlen. Je nach Verletzungsart können verschiedene externe Fixationssysteme angewendet werden (⊡ Abb. 22.56). Mit dem weichen Kragen (sog. Schanz-Krawatte) kann nur eine extreme Flexion verhindert werden. Der steife Kragen (sog. Philadelphia-Krawatte oder Stifneck), in den auch das Kinn gelagert ist, reduziert Flexion, Extension und Rotation, während die Halo-Weste diese Bewegungen idealerweise verhindert und zusätzlich noch die Möglichkeit einer Längsextension bietet. Bei Kindern ist darüber hinaus ein Kopf-Brust-Gipsverband (sog. Minerva-Gips) möglich, der Kopf und Schultern sowie den Thorax einbezieht. Aufgrund der hygienischen Problematik sollte er bei Erwachsenen eher weniger Anwendung finden. Zu beachten ist, dass bei allen diesen externen Fixationen nur die obere HWS ruhig gestellt werden kann, während die untere HWS mit einer externen Fixation nicht sicher ruhig gestellt wird. Diese Einschränkungen müssen bei der Indikationsstellung für diese Verfahren berücksichtigt und gegen die eventuellen Vorzüge abgewogen werden. z z Operative Therapie
Indikation und Vorbedingungen Die Indikation zur operativen Therapie an der Halswirbelsäule stützt sich auf die 3 Kriterien neurologische Symptomatik, Fehlstellung und Instabilität. Sie verfolgt die Behandlungsziele: ▬ Reduzierung neurologischer Ausfälle ▬ anatomische Reposition ▬ Wiederherstellung der Stabilität ▬ Wiederherstellung einer schmerzfreien Funktion Die operative Stabilisierung verkürzt darüber hinaus die Behandlungszeit wesentlich und führt zu einer Pflegeerleichterung bei Mehrfachverletzten und Tetraplegikern. Sie erspart außerdem die Extensionsbehandlung und die anschließende externe Fixation mit Halo-Weste oder Minerva-Gipsverband über mehrere Monate, die v. a. für ältere Patienten eine deutliche Belastung bedeutet. Allerdings gehören Eingriffe v. a. an der oberen HWS zu den schwierigsten und komplikationsträchtigsten Operationen überhaupt. Unabdingbare Voraussetzungen sind daher ein in
der Wirbelsäulenchirurgie erfahrener Operateur, spezifische Instrumente und ein hochauflösender Bildwandler. Für die Densverschraubung sollten günstigerweise 2 Bildwandler simultan verwendet werden. Vor dem Eingriff sollte auf eine exakte Lagerung geachtet und der Versuch unternommen werden die Dislokation zunächst geschlossen einzurichten. Bei manchen HWS-Operationen, v. a. bei dorsalem Zugang, ist mit einem größeren intraoperativen Blutverlust zu rechen, daher ist als weitere Vorbedingung die Bereitstellung eines »cell-savers« vorteilhaft. Bei Myelondekompressionen und Präparationen an den Proc. uncinati ist der Einsatz von Lupenbrillen und Kopfleuchten oder eines Operationsmikroskops von Vorteil, da sie ein atraumatisches Operieren und eine bessere Beleuchtung des Operationsfeldes erlauben. Operationsverfahren
Den komplexen und vielfältigen Verletzungen der HWS steht eine ebenso große Vielfalt individueller dorsaler und ventraler Stabilisations- und Spondylodeseverfahren gegenüber. Für die Wahl des idealen operativen Verfahrens gelten folgende biomechanische Grundsätze: Ziel der jeweiligen operativen Technik sind Reposition/Dekompression und Stabilität. Dabei sind sowohl ventrale als auch dorsale Zugänge möglich. Zur Stabilisation der oberen HWS kommen im Gegensatz zur unteren HWS auch direkte Verschraubungen von dorsal oder ventral infrage. ! Cave Diese direkten Osteosynthesen sind anspruchsvoll und komplikationsträchtig.
Transorale Zugänge zur oberen HWS haben sich nicht bewährt. Stabilisationen der unteren HWS sollten vorwiegend von ventral durchgeführt werden. Die biomechanische Stabilität ist bei ventraler Fusion höher und die Rekonstruktion der physiologischen Lordose in der unteren HWS einfacher zu erzielen. Des Weitern ist die Implantatfixation von ventral technisch einfacher durchführbar. Eine eventuell zusätzlich erforderliche Myelondekompression kann außerdem uneingeschränkt von ventral durchgeführt werden. Auch ist die anschließende funktionelle Therapie gerade beim Querschnittsgelähmten leichter durchführbar. Rein dorsale Verfahren sind in der Akuttherapie nur bei besonderen Verletzungskonstellationen (s. u.) indiziert und setzen als Einzelverfahren immer eine intakte vordere Säule voraus. Drahtcerklagen sollten nur unterstützend, z. B. in Kombination mit Direktverschraubungen, angewand werden. Sie setzen intakte dorsale Elemente voraus. Kombinierte dorsoventrale Stabilisationsverfahren sind v. a. bei hoch instabilen, komplexen Verletzungen indiziert. Sie werden vorzugsweise am zervikothorakalen Übergang oder bei Verletzten mit M: Bechterew angewendet und können ein- oder zweizeitig durchgeführt werden (s. u.). Ventraler Zugang
Über den ventralen Zugang können die Wirbelkörper von C2 bis Th2 erreicht werden. Lagerung des Patienten auf dem Rücken. Wenn keine wesentlichen Repositionsmanöver erfolgen müssen, wird der Kopf auf einer Kopfschale gelagert, mit Pflasterverband am OP-Tisch fixiert und eine Lordosierung der
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a
b
c
d
HWS durch Unterlegen einer Nackenrolle bewirkt. Wenn präoder intraoperative Repositionen erfolgen sollen, wird der Kopf mittels Mayfield-Klemme fixiert, die an einem speziellen Arm am OP-Tisch befestigt ist und eine freie Durchleuchtung in 2 Ebenen ermöglicht. Wenn an der unteren HWS operiert werden soll und der Verletzte einen kurzen Nacken hat, empfiehlt sich zur besseren intraoperativen radiologischen Darstellung des zervikothorakalen Übergangs, die Arme des Patienten mit Längszug nach kaudal am OP-Tisch zu fixieren. Für die Intubationsnarkose – oral oder nasotracheal – sollte ein Tubus ohne Metallanteile verwendet werden, der seitlich im Mund und Rachenraum verlaufen sollte und gut fixiert sein muss. Der Anästhesist und sein Equipment stehen am Fußende des Patienten. > Der ventrale Zugang sollte bei Verletzungen oberhalb von C5 für Rechtshänder von rechts verlaufen, bei Verletzungen unterhalb von C5 von links wegen des dort tiefer verlaufenden N. laryngeus recurrens.
⊡ Abb. 22.56a–d Fixationssysteme. a, Weicher Kragen, b steifer Kragen, c, d Halo-Weste,
Des Weiteren hängt die Höhe des Zugangs davon ab, welche Segmente erreicht werden sollen. Der halbe Kragenschnitt – möglichst in der Hautfalte – ist bei mono- oder bisegmentalen Prozeduren zu bevorzugen. Eine Längsinzision am Vorderrand des M. sternocleidomastoideus ist nur bei einer Darstellung der HWS von mehr als 2 Segmenten notwendig. Nach scharfer Durchtrennung von Kutis und Subkutis erfolgt die Darstellung des Platysma durch Ablösen von der Subkutis nach kranial und kaudal. Danach folgt die Längsspaltung des Platysma im Faserverlauf mit der Schere. Anschließend erfolgt die Inzision der oberflächlichen Halsfaszie entlang des medialen Vorderrands des M. sternocleidomastoideus unter Schonung der V. jugularis externa. Die weitere Präparation erfolgt stumpf. Unter Mobilisation nach kranial und kaudal wird das Gefäß-Nerven-Bündel zusammen mit dem M. sternocleidomastoideus nach lateral und Schilddrüse, Pharynx und Larynx nach medial verschoben und mit jeweils einem Haken weggehalten. Die unter der mittleren
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Halsfaszie verlaufende A. thyroidea sowie kreuzende Venen können ligiert werden. Nun gelangt man auf die Mm. longi colli, die jeweils zur Seite abgeschoben werden und auf das vordere Längsband, das nur im zu operierenden Segment inzidiert werden soll. Danach erfolgt die Diskektomie bzw. Teil- oder Komplettspondylektomie der verletzten Bewegungssegmente und, falls notwendig, die Dekompression nervaler Strukturen. Anschließend wird entweder ein endsprechend passgenauer trikortikaler Span aus dem vorderen Beckenkamm oder ein Cage eingebracht. Zur ventralen Abstützung werden die jeweils benachbarten Wirbelkörper mit einer winkelstabilen Verriegelungsplatte instrumentiert. Die Schraubenwinkel sind hierbei stabil gegenüber der Platte fixiert. Auf eine exakte Lage der Platte muss geachtet werden, da Fehlbohrungen zu Verletzungen der A. vertebralis führen können. Die verwendeten Schrauben haben Standardlänge und die Bohrer einen Tiefenanschlag, sodass auf stetiges Röntgen zur Beurteilung einer Hinterwandperforation beim Bohren und Einbringen der Schrauben verzichtet werden kann. Bei Vorliegen einer radikulären Symptomatik ohne präoperativen Nachweis von Komressionen durch ventral gelegene Strukturen wie Bandscheibengewebe oder Korpusfragmenten und Ausschluss einer Facettengelenkfraktur kann durch ventrale Instrumentierung eine leichte Distraktion des Zwischenwirbelraums und damit eine Erweiterung des Foramen intervertebrale erzeugt werden. Dadurch kann die geschädigte Nervenwurzel entlastet werden. Gegebenenfalls kann dies auch mit einer Erweiterungsforaminotomie (Unkotomie) kombiniert werden. Postoperativ sollte für die ersten Tage ein weicher Kragen angelegt werden, um eine unkontrollierte Flexion und damit verstärkte ventrale Segmentbelastungen zu vermeiden. Dorsaler Zugang
Der dorsale Zugang zur HWS eignet sich prinzipiell für Eingriffe vom Okziput (C0) bis zum zervikothorakalen Übergang. Indikationen zu dorsalen Halswirbelsäulenoperationen stellen sich z. B. bei Luxationsfrakturen mit Brüchen der Gelenkfortsätze oder verhakten Luxationen. Bei diesen Verletzungen besteht einerseits eine hohe Instabilität, andererseits kann beim Bruch des oberen Anteils des Gelenkfortsatzes des unteren Wirbels das Fragment in das Foramen intervertebrale verschoben werden und dort auf die Nervenwurzel drücken. Bei alleinigem ventralem Zugang würde dieses Fragment nicht erreicht und die Nervenwurzellähmung nicht beeinflusst werden. Über den dorsalen Zugang kann der abgebrochene Gelenkfortsatz reponiert und verschraubt oder reseziert werden. Weitere Indikationen für einen dorsalen Zugang sind Mehretagenfrakturen mit hauptsächlicher Frakturierung der Gelenk- und Bogenanteile, Kompressionen mehrer Wurzeln oder des Myelons, notwendige Stabilisierungen nach Laminektomie oder Infektion nach ventraler Fusion. Des Weiteren muss ein dorsaler Zugang gewählt werden zur Direktverschraubung von Atlas und Axis. Der Eingriff wird in Bauchlage auf einem Spondylodeserahmen durchgeführt, wodurch Thorax und Abdomen für die Beatmung frei sind. Durch sichere Stirnauflagerung und
Fixierung des Kopfes auf dem OP-Tisch muss eine intraoperative Dislokation vermieden werden. Falls Repositionsmanöver durchgeführt werden müssen, ist die Anlage einer MayfieldKlemme zur besseren Manipulation des Kopfes von Vorteil. Um die intraoperative Blutung etwas zu reduzieren, sollte der OP-Tisch an der Kopfseite des Patienten leicht angehoben werden. Eine intraoperative Durchleuchtung in 2 Ebenen der zu operierenden Segmente muss sichergestellt sein. Wenn hierfür nötig, müssen die Schultern mit Klebestreifen nach kaudal gezogen werden. Vor dem Hautschnitt kann ein Vasokonstringens s.c. und i.m. injiziert werden. Die Inzision wird in der Medianlinie durchgeführt. Nach scharfer Durchtrennung von Kutis und Subkutis erfolgt die Spaltung der Fascia nuchae mit dem Elektrokauter. Danach folgt die Abtragung der am Proc. spinosus von C2 ansetzenden Muskulatur mit einer Knochenschuppe (zur besseren späteren Readaption) und die weitere subperiostale Präparation der paravertebralen Muskulatur unter subtiler Blutstillung bis an die Gelenkfortsätze. Nach Darstellung der Pathologie und evtl. Reposition oder Resektion der Gelenkfortsatzfragmente kann, falls von dorsal noch eine Kompromittierung neuraler Strukturen gegeben ist, entweder eine Laminotomie, Laminektomie oder Laminoplastik erfolgen. Dabei muss beachtet werden, dass je nach Ausmaß der dorsalen Dekompression evtl. die Instabilität erhöht wird und dann mit einer dorsalen Stabilisierung ergänzt werden muss. Die dorsale Instrumentierung mit Schrauben und 2 paraspinalen Stäben als Längsträger ist Rekonstruktions-, Hakenplatten und Drahtcerklagen vorzuziehen. Die Schraubenapplikation ist allerdings technisch anspruchsvoll. Sie erfolgt im Bereich der oberen HWS entsprechend der individuellen Anatomie von C1 und C2 und an der unteren HWS in den Massae laterales oder transpedikulär (s. u.).
Indikationen für den dorsalen Zugang
▬ Luxationsfrakturen mit Brüchen der Gelenkfortsätze ▬ Luxationsfrakturen verhakter Luxationen ▬ Mehretagenfrakturen mit hauptsächlicher Frakturierung ▬ ▬ ▬ ▬
der Gelenk- und Bogenanteile Kompressionen mehrer Wurzeln oder des Myelons notwendige Stabilisierungen nach Laminektomie Infektion nach ventraler Fusion Direktverschraubung von Atlas und Axis
Kombinierter dorsoventraler Zugang
Eine dorsoventrale Operation an der Halswirbelsäule ist selten erforderlich. Neben den bereits oben erwähnten Indikationen für dorsale Operationen bei Luxationsfrakturen mit Gelenkfortsatzdislokation ist ein Kombinationseingriff bei Translationsverletzungen mit Luxation im zervikothorakalen Übergang indiziert, aufgrund der hier besonders stark wirkenden biomechanischen Kräfte. Ein Kombinationseingriff ist außerdem indiziert bei Restinstabilitäten bzw. weiterbestehenden Sub-
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luxationen im Anschluss an eine einseitige Versorgung oder bei Halswirbelsäulentumoren in mehreren Halswirbelkörpern mit notwendiger langstreckiger Laminektomie. Des Weiteren kann eine zusätzliche dorsale Stabilisierung gerechtfertigt sein bei älteren Patienten mit relativ steifen, degenerativ veränderten Nachbarsegmenten oder mit ankylosierender Spondylitis (M. Bechterew) und zervikothorakaler Kyphose.
Indikationen für den dorsoventralen Zugang
▬ Translationsverletzungen mit Luxation im zervikothorakalen Übergang
▬ Restinstabilitäten bzw. weiterbestehende Subluxationen im Anschluss an eine einseitige Versorgung
▬ Halswirbelsäulentumoren in mehreren Halswirbelkörpern mit notwendiger langstreckiger Laminektomie
▬ ältere Patienten mit relativ steifen, degenerativ veränderten Nachbarsegmenten
▬ ankylosierende Spondylitis (M. Bechterew) und zervikothorakale Kyphose
OP-Verfahren bei atlantookzipitalen Luxationen
Die Abtrennung der Schädelbasis von der HWS ist in der Regel wegen der praktisch immer vorliegenden Durchtrennung des Rückenmarks und der hirnversorgenden Gefäßen tödlich. Wird die Verletzung überlebt, ist meistens eine okzipitozervikale Spondylodese mit einem speziellen Schrauben-Stab-System über einen dorsalen Zugang indiziert. Hierzu werden Schrauben mit kurzer Laufstrecke zur okzipitalen Plattenfixierung in die Schädelkalotte eingedreht. Die zervikale Verankerung sollte je nach Knochenbeschaffenheit mindestens bis auf C3 erfolgen. Sie wird durch eine Positionierung der Schrauben transartikulär von C2 nach C1 und in die Massae laterales von C3 und evtl. darunter erzielt. Die verankerten Schrauben werden dann mit 2 endsprechend vorgebogenen paraspinalen Längsträgerstangen verbunden (⊡ Abb. 22.57). Zum Erzielen einer ausreichenden knöchernen Fusion muss spongiöser Knochen an die entknorpelten Facettengelenke gelagert werden. Eine konservative Behandlung empfiehlt sich nur bei Kindern und einer geringen Instabilität, da eine bindegewebige, stabile Heilung bei Kindern im Unterschied zu Erwachsenen möglich ist (Woodring et al. 2006). Es sollte dann eine leichte Extension unter Bettruhe sowie eine ca. 2-monatige MinervaGipsbehandlung durchgeführt werden. OP-Verfahren bei Atlasfrakturen
Die nicht dislozierten, stabilen Atlasfrakturen (Typen I, II, IV, V und die stabile Jefferson-Fraktur) können konservativ mit harter Zervikalstütze für 4–6 Wochen behandelt werden. Bei Vorliegen einer Atlasringsprengung (Typ-III-Fraktur) mit Ruptur des Lig. transversum atlantis und nach au?en getriebenen Massae laterales kann zunächst eine geschlossene Reposition durch axialen Längszug versucht werden. Lässt sich die Dislokation nachweislich gut reponieren, kann durch Fortführung der Extensionsbehandlung in der Halo-Weste für 6 Wochen
⊡ Abb. 22.57 Schrauben-Stab-System
und anschließender weiterer 6-wöchiger äußerer Ruhigstellung in Neutralstellung eine konserative Therapie durchgeführt werden. Stellungskontrollen haben jedoch engmaschig zu erfolgen. Kommt es im weiteren Verlauf zu einem neuerlichen Verbreitern des Atlasrings oder möchte man eine mehrwöchige Halo-Behandlung primär vermeiden, bietet sich als Methode der Wahl die offene Reposition von dorsal und die direkte transartikuläre Verschraubung von C1/C2 nach Magerl an. Dieses Verfahren sollte durch eine sublaminäre Draht-Cerclage zur Fixierung eines trikortikalen kortikospongiösen Spans zwischen den Bögen von C1 und C2 ergänzt werden (Technik nach Gallie, ⊡ Abb. 22.58). Hierzu wird zunächst subperiostal mit einem gebogenen Disektor die Membrana atlantoaxialis vom hinteren Bogen des Atlas und vom inneren, dem Spinalkanal zugewandten Rand der Lamina von C2 abgeschoben. Anschließend wird eine Draht-Cerclage um den hinteren Atlasbogen gelegt. Es erfolgt die Reposition am Atlasring entweder direkt mit Repositionszange oder indirekt durch axialen Längszug am montierten Halo-Fixateur oder der Mayfield-Klemme. Anschließend folgt die Präparation der Gelenke C2/C3, deren Darstellung wichtig ist für das Festlegen der Schraubeneintrittspunkte. Diese befinden sich im unteren medialen Quadranten des Gelenkfortsatzes C2, parallel zu den darunterliegenden Intervertebralgelenken C2/C3. Tipp
I
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Während des Bohrens sollte sicherheitshalber mit dem Disektor der mediale Rand des Spinalkanals palpiert werden, um eine Perforation der medialen Wand des Spinalkanls zu vermeiden.
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⊡ Abb. 22.58a–c Verfahren bei Atlasfrakturen: Technik nach Gallie. (Aus: Nerlich u. Berger 2003)
Die Bohrzielrichtung verläuft in der a.p.-Ebene ca. 5° konvergent (Cave: A. vertebralis) und im seitlichen Bild genau auf den Oberrand des Atlasbogens zu. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass die Funktion im Segment C0/C1 unberührt bleibt und schmerzhafte Funktioneinschränkungen in diesem Bereich vermieden werden können. Eine Schraubenplazierung in C1 entweder von dorsal oder transoral zur direkten Wiederherstellung eines offenen Atlasrings ist wegen der Dimension des Atlaswirbelkörpers in der Regel nicht indiziert und nur in Ausnahmefällen technisch durchführbar. OP-Verfahren bei atlantoaxialen Luxationen
Wie oben erwähnt werden bei der atlantoaxialen Dislokation (AAD) 2 Typen unterschieden. Die häufigere rotatorische AAD des Atlas, die auch als Torticollis spontan oder nach einer Infektion des Rachenraums auftreten kann, entsteht durch eine Lockerung oder Ruptur des Lig. transversum. Liegt keine Ruptur des Lig. transversums vor und lediglich eine schmerzhafte Subluxation, empfiehlt sich eine chiropraktische Manipulation, gefolgt von einer vorübergehenden Ruhigstellung im weichen Kragen. Wenn durch geschlossene Manipulation und kurzzeitige Ruhigstellung die Fehlstellung nicht beseitigt werden kann, sollte mit der Halo-Weste extendiert und ruhiggestellt werden. ! Cave Wird die Subluxation allerdings zu lange belassen, kann sie nicht mehr konservativ korrigiert werden.
Die seltenere translatorische AAD ist instabil, da eine Ruptur des Lig. tranversum vorliegt. Sie zeigt auf den Funktionsaufnahmen im lateralen Strahlengang einen atlantodentalen Abstand von mehr als 3 mm. Da bei dieser Instabilität eine neurologische Ausfallserscheinung leicht eintreten kann und die Bänder durch alleinige äußere Ruhigstellung nicht sicher ausheilen, kann diese Verletzung nicht konservativ ausbehandelt werden. Die operative Therapie der Wahl ist hier die oben beschriebene dorsale transartikuläre Direktverschraubung von C1/C2 nach Magerl, kombiniert mit einer sublaminären Drahtcerklage und
Knochenspaninterposition nach Gallie. Die Reposition erfolgt offen durch vorsichtigen Zug an der um den hinteren Atlasbogen vorgelegten Draht-Cerclage. OP-Verfahren bei Densfrakturen
Wichtigste Kriterien zur Beurteilung der optimalen Therapiewahl bei Densfrakturen sind der Dislokationsgrad der Fraktur und die Pseudarthrosewahrscheinlichkeit. > Je größer die Dislokation, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Pseudarthrose.
Die sehr seltenen Typ-I-Frakturen nach Anderson und D’Alonzo kommen meist nur in Kombination mit atlantookzipitalen Instabilitäten vor. Ihre Therapie richtet sich daher nach der Läsion im Segment C0/C1. Die häufigeren Typ-II-Frakturen sind instabil, oft disloziert und gehen daher mit einer hohen Pseudarthroserate einher. Dislozierte Typ-II-Frakturen sollten daher notfallmäßig reponiert und bis zur entgültigen operativen Versorgung in einer Halo-Weste reteniert werden. Die Reposition erfolgt unter Bildwandlerkontrolle im seitlichen Strahlengang durch leichten Längszug des Kopfes zur Lösung einer etwaigen Verhakung, gefolgt von einer der Dislokation entgegengesetzten Bewegung des Kopfes. Verläuft die Frakturlinie horizontal, kann eine direkte Kompressionsspondylodese von ventral durchgeführt werden (⊡ Abb. 22.59). Die Kompressionsspondylodese mit Schrauben setzt die Fraktur unter Druck. Die knöcherne Heilung erfolgt in der Regel in 6–8 Wochen. Eine postoperative äußere Ruhigstellung mit einem weichen Kragen ist für 4–6 Wochen ausreichend. Durch die direkte Verschraubung von ventral bleibt das atlantookzipitale Drehgelenk voll funktionsfähig. Für die Operation sollten möglichst 2 Kleinfragment- oder Herbert-Schrauben verwendet werden. Vor dem chirurgischen Eingriff sollte der Kopf mit der Mayfield-Klemme fixiert werden. Vor der sterilen Abdeckung werden 2 Bildverstärker positioniert. Der operative Eingriff erfolgt in Intubationsnarkose in Rückenlage. Nach Längstraktion wird der Kopf unter Beibehaltung des Längszugs mithilfe der Mayfield-Kopfhalterung
463 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
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b
⊡ Abb. 22.59a,b Direkte Kompressionsspondylodese von ventral. (Aus: Nerlich u. Berger 2003)
positioniert. Bei der Lagerung ist zum einen auf den Erhalt des Repositionsergebnisses, zum anderen auf einen möglichst großen Kinn-Sternum-Abstand zu achten. Vor dem sterilen Abdecken muss die Zugangsmöglichkeit geprüft werden. Der Zugang erfolgt von ventral rechts – wie oben beschrieben – auf Höhe C3/C4. Nach Erreichen des Intervertebralraums C3/C4 wird nach kranial stumpf an der Vorderfläche des vorderen Längsbandes die HWS bis an den unteren vorderen Rand des Wirbelkörpers C2 präpariert. Anschließend werden auf beiden Seiten die Weichteile mit Langenbeck-Haken zur Seite gehalten, um den Zugang von der Hautinzision zur Unterkante des Axiskörpers offen zu halten. Danach werden von hier die Bohrlöcher unter Bildverstärkerkontrolle tangential in Richtung Densspitze gesetzt und zwei 3,5-mm-Zugschrauben in leicht konvergierender Richtung eingebracht. Die Verwendung zweier Metallunterlegscheiben ist empfehlenswert, wenn keine Herbert-Schrauben verwendet werden. ! Cave Während des chriugischen Vorgehens ist ständig auf einen wirkungsvoller Gewebeschutz zu achten, um eine Beschädigung der Weichteilstrukuren, besonders von Karotis und Ösophagus, zu vermeiden.
Vor allem bei Verletzten im höheren Alter bringt die direkte Densverschraubung eine wesentliche Erleichterung der Behandlung. Die Verletzten können einen Tag nach der Operation aufstehen und nach wenigen Tagen die Klinik verlassen. Flexionsfrakturen des Typ II mit schräg kaudokranial verlaufendem Frakturspalt erfordern entweder zusätzlich eine Antigleitplatte oder eine transartikuläre Verschraubung von C1/C2 von dorsal. Typ-III-Frakturen verlaufen im spongiösen Bereich des Axiskörpers und besitzen daher bei nicht Vorliegen einer Dislokation und äußerer Ruhigstellung entweder im steifen Kragen oder mit der Halo-Weste für 6 Wochen gute Heilungschancen. Handelt es sich allerdings um eine abgerut-
sche Typ-III-Fraktur, so ist diese als instabil zu beurteilen und muss nach Reposition mit einer dorsalen Direktverschraubung behandelt werden.
OP-Verfahren bei Denspseudarthrose Bleibt der Frakturverlauf entweder nach konservativer Therapie oder nach ventraler Direktverschraubung ohne nachweisbare Instabilität in den Funktionsaufnahmen lange sichtbar, ist eine klinische Überprüfung in 6-monatigen Abständen gerechtfertigt, ohne dass weitere operative Maßnahmen absolut indiziert sind. Entsteht allerdings Leidensdruck durch Schmerz bei Rotationsbewegung oder Tetraspastik bei Extrembewegungen, ist bei nachgewiesener Instabilität der Denspseudarthrose die Indikation zur Operation gegeben. Die alleinige ventrale Schraubenosteosynthese ist nun allerdings nicht mehr geeignet. Die Verblockung des Gelenks von C1/C2 nach Magerl und Gallie (s. o.) ist Therapie der Wahl.
Indikationen zur C1/C2-Verschraubung nach Magerl und Gallie bei Pseudarthrose
▬ Nachweis einer instabilen Pseudarthrose durch Funktionsaufnahmen
▬ Leidensdruck durch Schmerz bei Rotationsbewegung oder Tetraspastik bei Extrembewegungen
OP-Verfahren bei traumatischer Spondylolyse des Axis
Bei den nicht oder gering dislozierten C2-Spondylolysen (Typ I) ist die Bandscheibe nicht verletzt. Allerdings sollte durch Funktionsaufnahmen eine verdeckte Typ-II-Verletzung ausgeschlossen werden. Die adäquate Behandlung der Typ-IVerletzungen besteht in einer 6-wöchigen Ruhigstellung in der weichen Zervikalstütze. Typ-II-Verletzungen mit ventraler Verschiebung bis 5 mm und Kyphosierung unter 10° sollten unter Bildverstärkerkon-
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
22
b a ⊡ Abb. 22.60a,b Schraubenosteosynthese der abgebrochenen Pedikel am Wirbelkörper. (Aus: Nerlich u. Berger 2003)
trolle geschlossen reponiert und dann entweder in der Halo-Weste für 8–12 Wochen ausbehandelt oder durch direkte Schraubenosteosynthese der abgebrochenen Pedikel am Wirbelkörper von dorsal fixiert werden (⊡ Abb. 22.60). Ist der Diskus C2/C3 jedoch mitverletzt (MRT-Kontrolle), ist eine ventrale Spondylodese C2/C3 mit Abstützplatte zu empfehlen. Bei Typ-III-Verletzungen (Hangman-Fraktur) besteht eine Kombination aus Spondylolisthesis und verhakter Verrenkung der kleinen Wirbelgelenke. Der Wirbelkörper befindet sich dabei immer in Flexion. In seltenen Fällen gelingt eine geschlossene Reposition. Dann kann diese Verletzung durch alleinige ventrale interkorporelle Spondylodese C2/C3 behandelt werden. Ist eine geschlossene Reposition primär nicht möglich, muss zunächst von dorsal eine offene Reposition erfolgen, um die luxierten Wirbelgelenke zu reponieren. Dann folgt von dorsal eine direkte translaminäre Verschraubung (Isthmusverschraubung) sowie eine einzeitig oder zweizeitig durchgeführte ventrale Spondylodese mit Ausräumung des beschädigten Diskus und Anlage einer Abstützplatte. OP-Verfahren bei Wirbelkörperfrakturen der unteren Halswirbelsäule
Die Frakturen zwischen dem 3. und 7. Halswirbel können wie in ⊡ Tab. 22.11 bis ⊡ Tab. 22.13 dargestellt aufgrund ihrer gleichförmigen Anatomie zusammenfassend auf der Basis der AOEinteilung klassifiziert werden. Typ-A1-Verletzungen sind stabile Impressionsfrakturen und können in der Regel konservativ im weichen Kragen ausbehandelt werden. Ausnahme stellt die keilförmige Deformierung mit einer segmentalen kyphotischen Knickbildung von mehr als 15–20° dar. Diese sollte von ventral aufgerichtet und monosegmental fusioniert werden. Typ-A2-Läsionen sind Spaltbrüche. Sagittale Spaltbrüche können konservativ behandelt werden. Frontale Spaltbrüche hingegen sollten von ventral bisegmental fusioniert werden, wenn die Hinterkante des Wirbelkörpers nach dorsal verlagert ist, ein Abrutschen in eine kyphotische Fehlstellung (>15–20°) besteht oder droht oder sich neurologische Symptome entwickeln. Typ-A3-Verletzungen sind instabile Berstungsbrüche und müssen operativ versorgt werden. Inkomplette Berstungsbrüche können monosegmental von ventral fusioniert werden, wenn der kaudale, intakte Anteil des Wirbelkörpers eine Mindest-
höhe von 1 cm aufweist. Beträgt diese Mindesthöhe weniger als 1 cm, liegen bisegmentale Bandscheibenläsionen vor oder handelt es sich um eine komplette Berstungsfraktur, müssen 2 Segmente fusioniert werden. Es wird dann eine Korporektomie durchgeführt und der zu ersetzende Wirbelkörper entweder durch einen trikortikalen Knochenspan aus dem vorderen Beckenkamm oder ein Wirbelersatzkörbchen aufgefüllt und mit einer ventralen Platte abgestützt. Typ-B-Verletzungen sind immer Distraktionsverletzungen mit Zerreißung der dorsalen Strukturen (⊡ Abb. 22.61). Nach Magerl werden die rein ligamentären als B1 und die ossären Zusatzverletzungen als B2 bezeichnet. Die Instabilität von B1 nach B2 nimmt zu. Hyperextensionsverletzungen werden als Typ B3 bezeichnet. Neurologische Begleitverletzungen sind bei Typ-B-Verletzugen häufig und entweder durch die hohe Instabilität oder durch eine Bandscheibenkompression auf das Myelon oder die Nervenwurzeln bedingt. Daher ist bei diesem Verletzungstyp eine geschlossene Reposition nicht zu empfehlen. Nach computertomographischer Diagnostik einer B-Verletzung sollte vielmehr zunächst ein MRT durchgeführt werden, um einen möglichen primär nach dorsal dislozierten Diskusanteil zu identifizieren, der ohne ausreichende Extension während einer geschlossenen Reposition in den Spinalkanal gedrückt werden könnte. Danach erfolgt zunächst die ventrale Dekompression und vollständige Entfernung von prolabiertem Gewebe über eine (Teil-) Vertebrektomie und erst dann die Reposition und Spondylodese. Bei Verletzungen vom Typ C kommt es durch einen Rotationsluxationsmechanismus zur Beteiligung der vorderen und hinteren Elemente der Halswirbelsäule in Rotationsfehlstellung. C1-Verletzungen sind Typ-A-Frakturen kombiniert mit unilateralen Facettengelenkfrakturen. Typ C2 sind Verletzungen vom Typ B kombiniert mit unifacettaler Luxation mit Verhakung. Die Typ-C3-Verletzungen sind Kombinationen aus einem knöchernen Berstungsbruch und unilateraler Frakturdislokation der Massa lateralis (⊡ Abb. 22.62). Da alle Typ-C-Verletzungen hochinstabil und disloziert sind, müssen sie operativ therapiert werden. Allerdings ist bei der Wahl der operativen Strategie differenziert vorzugehen. Beim Vorliegen einer dorsalen Verhakung ist diese in der Regel geschlossen nicht zu lösen. Es sollte zunächst ein MRT durchgeführt werden, um zu klären, ob zerissenes und disloziertes Bandscheibengewebe bei Reposition von dorsal zu einer Einklemmung des Myelons führen könnte. Besteht diese Gefahr, muss zunächst von ventral die Bandscheibe ausgeräumt und eine offene Reposition von ventral versucht werden. Gelingt die Reposition, wird die ventrale Spondylodese durchgeführt und dann eine dorsale Spondylodese entweder in gleicher Sitzung oder zweizeitig ergänzt. Scheitert nach kompletter Resektion der Bandscheibe die Reposition und Lösung der Verhakung von ventral, muss der Patient gedreht und die Reposition über einen dorsalen Zugang vorgenommen werden. Danach wird die dorsale Spondylodese durchgeführt und anschließend der Patient erneut gedreht, um die ventrale Spondylodese zu komplettieren (ventral-dorsal-ventrales Vorgehen).
465 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
B2
Subluxation
B1-dorsale Igamentäre Zerreißung
Luxation a
B3-Hypusextensionsverletzung
Ventrale Dislokation mit Abbruch des Proc. articulares
Ventrale Dislokation mit Abbruch des Proc. articulares kombiniert mit Typ A ventral: transdistal
kombiniert mit Typ A
c
b
⊡ Abb. 22.61a–c Typ-B-Verletzungen. a B1, dorsale ligamentäre Zerreißung, b B2, ventrale Dislokation mit Abbruch des Proc. articularis, c B3Hyperextensionsverletzung
OP-Verfahren bei Quer- und Dornfortsatzfrakturen
a C1-Unilaterale ventrale Luxation
Wenn Quer- und Dornfortsatzfrakturen isoliert und nicht als zusätzliche Verletzung bei anderen diskoligamentären Verletzungen auftreten, können sie im weichen Kragen konservativ behandelt werden. Eine kurzzeitige schmerzbedingte Ruhigstellung für etwa 14 Tage ist ebenso wie für die Behandlung von Distorsionen der Halswirbelsäule ausreichend. Kommt es zu einer Ausheilung in eine Pseudarthrose, ist das bei diesem Frakturtyp ohne Bedeutung. z
C3-Unilaterale Dislokation mit b C2-Rotatorische B-Verletzungen c Bostungsbruch des Wirbelkörpers
⊡ Abb. 22.62a–c Typ-C-Verletzungen. a C1, unilaterale ventrale Luxation, b C2, rotatorische B-Verletzung, c C3, unilaterale Dislokation mit Berstungsbruch des Wirbelkörpers
Ist durch das MRT eine Kompression des Myelons durch die Bandscheibe ausgeschlossen, kann man zuerst von dorsal die offene Reposition und dorsale Spondylodese durchführen und dann eine ventrale anschließen.
Komplikationen
Intra-, peri- und postoperative Komplikationen nach HWSOperationen erfordern zügiges und geplantes Handeln. Je nach Art und schwere der Komplikation empfiehlt sich folgendes Vorgehen: starke Blutungen aus dem epiduralen Plexus sollten durch Kopfhochlagerung und Blutstillung mittels Bipolator oder Kollagenvlies mit Fibrin kontrolliert werden. Verletzungen der A. vertebralis werden möglichst geklippt oder, falls dies nicht möglich ist, die Einstrombahn mit Kompressen abgestopft. Ein Duraleck mit Liquoraustritt muss mit einem DuraPatch, der mit einer Naht oder Fibrin fixiert wird, abgedichtet werden. Eine Ösophagusläsion wird übernäht und mit einer Drainage versehen. Bei einer irreponablen verhakten Luxation, die auch über einen dorsalen Zugang nicht direkt reponiert werden kann, müssen die Gelenkfortsätze reseziert werden. Kommt es zu einer Nachblutung mit Ventilationsstö-
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22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
rungen ist umgehend eine Revision mit blutstillenden Maßnahmen durchzuführen. Gelockerte Implantate bergen die Gefahr einer Ösophagusperforation oder einer Infektion mit der zusätzlichen Gefahr einer Mediastinitis und müssen ausgetauscht werden. Kann die Infektion nicht beherrscht werden, müssen die Implantate vollständig entfernt und eine Halo-Fixation angelegt werden. Eine zusätzliche Komplikation stellt die Verletzung des N. recurrens dar. Sie ist meist durch Überdehnung am Wundhaken bedingt. Die daraus resultierende Insuffizienz der Stimmbänder, einhergehend mit Heiserkeit, muss logopädisch behandelt werden. z
z
HWS-Distorsion Ätiologie
Der HWS-Distorsion liegt häufig ein Beschleunigungstrauma zugrunde (z. B. beim PKW-Aufprall). Je unkontrollierter im Moment der Krafteinwirkung die Kopfhaltung ist, desto größer ist die Verletzungsschwere. Das heißt, bei Wahrnehmung der aufkommenden Gefahr kann die Verletzungsschwere eher abgedämpft werden, als bei einem Überraschungseffekt. Prinzipiell können alle HWS-Abschnitte betroffen sein, häufig ist das HWS-Beschleunigungstrauma ein multisegmentales Geschehen an der HWS. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Bei der klinischen Untersuchung unterscheidet man zwischen subjektiven und objektiven klinischen Beschwerden. Zu dem subjektiven Beschwerdebild gehören: Schmerzen und Spannungsgefühl im Nacken mit oder ohne schmerzfreiem Intervall, Übelkeit und Brechreiz, Schwindel sowie optische Sensationen. Objektive diagnostische Parameter sind: Bewegungseinschränkung der HWS, neurologische Defizite, Steilstellung der HWS aufgrund eines reflektorischen Muskelhartspanns. z z Bildgebende Verfahren
Neben der körperlichen Untersuchung sollten zunächst konventionelle Röntgenaufnahmen der HWS in 2 Ebenen und
Therapie
Nach Ausschluss von knöchernen und/oder Luxationsverletzungen kann dann je nach Ausmaß der subjektiven Beschwerdesymptomatik mit oralen Analgetika und/oder intermittierender Ruhigstellung im weichen Kragen behandelt werden. Tipp
I
I
Die weiche Halskrawatte sollte allerdings nur stundenweise zur temporären Entlastung getragen werden, damit die autochthone stabilisierende Funktion der Nackenmuskulatur nicht verloren geht.
Prognose
Ähnlich wie bei Verletzungen der thorakolumbalen Wirbelsäule können bei rechtzeitiger notfallmäßiger Dekompression und Stabilisierung von Patienten mit primären neurologischen Schädigungen optimale Bedingungen für das Rückenmark geschaffen werden, sodass zumindest teilweise Remissionen erreicht werden können. Perfusionsschäden oder direkte traumatische Läsionen des Myelons können nicht beeinflusst werden. Allerdings können schon scheinbar geringfügige Verbesserungen der neurologischen Läsion zu einer deutlichen Steigerung der Lebensqualität der Betroffenen führen. Daher hat die notfallmäßige Versorgung von Wirbelsäulenverletzungen nach den modernsten Kenntnissen der Wirbelsäulenchirugie zu erfolgen. Da dies meist jedoch mit hohem logistischem und technischem Aufwand verbunden ist, sollten diese Versorgungen Wirbelsäulenzentren vorbehalten bleiben, die im Sinne der Verletzten rund um die Uhr eine optimale Versorgung gewährleisten können.
z
eine transorale Denszielaufnahme durchgeführt werden. Die seitliche Röntgenaufnahme lässt eine Steilstellung der HWS erkennen.
Der Verletzte sollte engmaschig ambulant nachkontrolliert werden. Bei weiterem Fortbestehen von Schmerzen, Schwindel und vegetativen Symptomen für mehr als eine Woche sollten Funktionsaufnahmen erfolgen. Kann hiermit eine Segmentinstabilität nicht sicher ausgeschlossen werden, muss ein MRT angefertigt werden. Bei Hinweis auf strukturelle Schäden im bildgebenden Verfahren sind stabilisierende Verfahren zu ergreifen.
22.3.2 z
Verletzungen von BWS und LWS
Anatomie und Biomechanik
Der thorakolumbale Abschnitt der Wirbelsäule weist meist 12 Brustwirbel und 5 Lendenwirbel auf. Übergangsanomalien im Sinne einer Lumbalisation (der unterste Lendenwirbel ist mit dem Sakrum verschmolzen) oder Sakralisation (es existiert ein zusätzlicher 6. Lendenwirbel) sind möglich. Ein Wirbelkörper besteht aus den vorderen Anteilen vorderes Längsband, Wirbelkörper, und hinteres Ländsband sowie den dorsalen Elementen Pedikel, Proc. tranversus, Facettengelenke, Lamina und Proc. spinosus (⊡ Abb. 22.63). Der überwiegende Teil der Druckkräfte wird über den ventralen Anteil der Wirbelsäule (die Wirbelkörper) übertragen. Der hintere Anteil der Wirbelsäule, mit den Ansätzen von multiplen Muskeln, dient v. a. der Zuggurtung. Im Inneren der Wirbelsäule verläuft gut geschützt das Rückenmark bzw. unterhalb des 2. Lendenwirbelkörpers die Cauda equina. Bei axialer Belastung einer nicht degenerativ veränderten Wirbelsäule kommt es primär zu einer Fraktur des Wirbelkörpers und nicht zu einer Zerstörung der Bandscheibe. z
Ätiologie und Pathogenese
Die häufigsten Ursachen für eine Fraktur der Wirbelsäule sind Sport- und Verkehrsunfälle, Stürze aus großer Höhe und Haushaltsunfälle. Im Ramen der Osteoporose kann es auch ohne Trauma zu einer Fraktur kommen. Je nach Schweregrad der Verletzung kann auch das Rückenmark oder die Cauda equina mitverletzt sein, sodass es zu einem Querschnittsyndrom kommt. Pro Jahr erleiden, inklusive der fatal verlaufenden Fälle,
467 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
a
⊡ Abb. 22.63a,b Brustwirbelkörper. (Aus: Schiebler u. Korf (2007)
b
⊡ Tab. 22.14 AO-Klassifikation nach Magerl: A-Frakturen (Kompressionsverletzungen) A1
A2
A3
Impressionsfrakturen
Spaltfrakturen
Berstungsfrakturen
A1.1 Endplattenimpressionsfraktur
A2.1 sagittale Spaltfraktur
A3.1 inkomplette Berstungsfrakturen
A1.2 Keilimpressionsfraktur
A2.2 koronare Spaltfraktur
A3.2 Berstungsspaltfrakturen
A1.3 Wirbelkörperkollaps (Fischwirbel)
A2.3 Kneifzangenfraktur
A3.3 komplette Berstungsfrakturen
⊡ Tab. 22.15 AO-Klassifikation nach Magerl: B-Frakturen (Distraktionsverletzungen) B1
B2
B3
Verletzung der hinteren Elemente vorwiegend ligamentär
Verletzung der hinteren Elemente vorwiegend ossär
Vordere Verletzung durch die Bandscheibe (Hyperextensionsverletzung)
⊡ Tab. 22.16 AO-Klassifikation nach Magerl: C-Frakturen (Rotationsverletzungen) C1
C2
C3
Typ A Verletzung mit Rotation
Typ B Verletzung mit Rotation
Rotationsscherverletzung
20–70 Personen pro 1 Million Einwohner eine traumatische Rückenmarkverletzung. z Klassifikation AO-Klassifikation
Bei dieser Klassifikation wird die Wirbelsäule in 2 Säulen eingeteilt. Die vordere Säule besteht aus dem Wirbelkörper und den Bandscheiben, die hintere aus den hinteren ossären Elementen und den dorsalen Bändern. Wie üblich in der AO-Klassifikation gibt es 3 Typen entsprechend der Kraft, die auf die Wirbelsäule eingewirkt hat:
▬ Typ A: Kompressionskräfte ▬ Typ B: Distraktionskräfte ▬ Typ C: Rotationskräfte Diese Typen werden wiederum in 3 Gruppen und diese nochmals in 2 Subgruppen eingeteilt (⊡ Tab. 22.14 bis ⊡ Tab. 22.16; ⊡ Abb. 22.64). Es gilt auch hier das allgemeine AO-Schema, dass der Schweregrad (und die Instabilität) von A nach C und innerhalb der Gruppen zunimmt. Entsprechend nehmen auch die neurologischen Ausfälle von 14% bei den A-Frakturen auf 32% bei den B-Frakturen und 55% bei den C-Frakturen zu.
22
468
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
22
a
⊡ Abb. 22.64a AO-Klassifikation. a Kompressionsverletzungen (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
ASIA-Klassifikation
Bei einer Fraktur mit neurologischen Ausfällen wird dies üblicherweise mit dem ASIA-Schema dokumentiert. Die Motorik für die Kennmuskeln wird in Grade von 0–5 eingeteilt: ▬ 0 = keine Motorik ▬ 1 = spür- oder sichtbare Muskelkontraktion ▬ 2 = aktive Bewegung im Gelenk, wenn die Schwerkraft ausgeschaltet wird ▬ 3 = aktive Bewegung gegen die Schwerkraft ▬ 4 = aktive Bewegung gegen Widerstand ▬ 5 = volle Kraft Müller-Mai_T2.indd Müller-Mai_T2.indd 262 Müller-Mai_T2.indd 262 262
Der Grad der Parese wird mit der ASIA Impairment Scale festgehalten: ▬ A = komplette Läsion, keine Motorik oder Sensibilität in den sakralen Segmenten S4–S5 ▬ B = keine Motorik, aber erhaltene Sensibilität unterhalb der Läsion in den Segmenten S4–S5 ▬ C = erhaltene Motorik unterhalb der Läsion, wobei mehr als die Hälfte der Muskeln einen Kraftgrad <3 aufweisen ▬ D = erhaltene Motorik unterhalb der Läsion, wobei mindestens die Hälfte der Muskeln einen Kraftgrad ≥3 aufweisen
29.07.2010 12:32:04 29.07.2010 12:
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469 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
b
c
⊡ Abb. 22.64b,c AO-Klassifikation. b Flexions-Distraktions-Verletzungen (oben) und Extensions-Distraktions-Verletzung (unten), c Rotationsverletzungen. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Andere häufig verwendete Klassifikation
z
Häufig wird auch die Klassifikation nach Denis angewandt 263 (⊡ Abb. 22.65). Hierbei handelt es sichMüller-Mai_T2.indd um ein 3-Säulen-Model, mit einer mittleren Säule bestehend aus dem hinteren Drittel des Wirbelkörpers und dem hinteren Längsband. Es werden 4 Typen unterschieden: 1. Kompressionsfrakturen, 2. Berstungsfrakturen, 3. Seatbelt-Frakturen und 4. »fracture dislocations«. Denis unterscheidet 3 Grade der Instabilität: 1. mechanische Instabilität (meist bei Kompressionsfrakturen und Seatbelt-Frakturen), 2. neurologische Instabilität ( bei Berstungsfrakturen) und 3. mechanische und neurologische Instabilität (bei »fracture dislocations«).
Die Bergung des Patienten soll ohne grobe Erschütterung der Wirbelsäule erfolgen, um eine weitere Dislokation von Fragmenten oder eine Verschiebung der Wirbelsäule zu vermeiden. Idealerweise wird der Patient mit einer Schaufelbahre geborgen. In unwegsamem Gebiet erfolgt die Bergung und der Transport ins Spital meist mit dem Helikopter.
Müller-Mai_T2.indd 263
z
Erstversorgung am Unfallort
Diagnostik
Sofern möglich wird der genaue Unfallhergang erfragt, insbesondere die Richtung und Art der Krafteinwirkung, woraus sich
29.07.2010 12:32:07
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
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A
P
⊡ Abb. 22.65 Klassifikation nach Denis: mittlere Säule (weiße Anteile). A vordere Säule, P hintere Säule
evtl. Hinweise auf die Art der Verletzung ergeben (z. B. Flexion/ Distraktion). Bekannte Veränderungen wie alte Frakturen oder ein M. Scheuermann sowie vorbestehende Beschwerden sollen erfragt werden, um die Rötgenbilder unter diesen Gesichtspunkten zu beurteilen. z z Klinische Untersuchung
Beim Drehen des Patienten von der Transportbahre auf die Untersuchungsliege wird der Rücken inspiziert und auf Wunden und Hämatome untersucht. Die Dornfortsätze werden abgetastet, wobei auf Lücken im Lig. supraspinale oder eine sehr lokalisierte Druckdolenz geachtet wird, was für eine FlexionsDistraktions-Verletzung spricht. > Eine Lücke im Lig. supraspinale oder eine lokalisierte Druckdolenz über oder zwischen den Dornfortsätzen ist verdächtig auf eine instabile Flexions-DistraktionsVerletzung. z z Bildgebende Verfahren Konventionelles Röntgen
Primär wird ein Röntgenbild des schmerzhaften Wirbelsäulenabschnitts in 2 Ebenen durchgeführt. Besondere Beachtung gilt dabei dem thorakolumbalen Übergang. In diesem Bereich sind Frakturen der Wirbelsäule weitaus am häufigsten, andererseits geben die Patienten ihre Schmerzen nicht selten deutlich tiefer an als die Frakturhöhe selbst. > Bei einer Fraktur des thorakolumbalen Übergangs werden die Schmerzen oft tief lumbal angegeben. Der thorakolumbale Übergang muss deswegen immer mit abgebildet sein oder separat im Röntgen dargestellt werden.
Auf dem a.p.-Bild wird nach unregelmäßigen und seitlich komprimierten Deck- und Bodenplatten gesucht. Die interpedikuläre Distanz wird mit dem oberen und unteren Wirbelkörper verglichen, ein weiterer Abstand in einem Segment weist auf eine Berstungsfraktur mit einer Längsfraktur der Lamina hin. Der Abstand zwischen den Dornfortsätzen sollte in etwa konstant sein, ein lokal weiterer Abstand erweckt den Verdacht
einer Flexion-Distraktions-Verletzung. Eine Asymmetrie der Pedikel weist auf eine Rotationsverletzung der Wirbelsäule hin, ebenso Processus-transversus-Frakturen, typischerweise am Wirbelkörper oberhalb der Wirbelkörperfraktur auf der einen Seite und am kaudal der Wirbelkörperfraktur liegenden Wirbel auf der kontralateralen Seite. Im seitlichen Bild wird nach keilförmig deformierten Wirbelkörpern gesucht. Die Abgrenzung zwischen einer frischen Fraktur und einem anlagebedingten oder erworbenen Keilwirbel kann schwierig sein, wenn nicht eine Unterbrechung der Vorderkannte oder eine Verdichtung unter der Deckplatte sichtbar ist. Hilfreich sind frühere Röntgenbilder zur Unterscheidung von frischen Veränderungen. Das Alignement der Wirbelsäule, insbesondere der Hinterkanten der Wirbelkörper, wird abgesucht, um eine Verlagerung von Hinterkantenfragmenten oder Olisthesen zu erkennen. Computertomographie
Wird auf dem konventionellen Röntgenbild eine Fraktur gesehen und ist eine genaue Klassifikation der Fraktur nicht möglich, wird von diesem Bereich eine CT-Untersuchung durchgeführt. Insbesondere ob eine Beteiligung der Hinterkante vorliegt und wie stark der Spinalkanal eingeengt ist, kann anhand des CT besser beurteilt werden. Auch Spaltbrüche des Wirbelkörpers, Frakturen der Pedikel, Laminae und Proc. spinosus als Zeichen einer Distraktionsverletzung sind im CT besser als auf dem konventionellen Röntgenbild zu sehen. Bei Polytrauma, das im Rahmen der Abklärung ein thorakoabdominales CT brauchen, kann die Diagnostik der Wirbelsäule, bei den modernen CT durch Rekonstruktion dieser Bilder vorgenommen werden, sodass auf eine konventionelle Röntgenuntersuchung evtl. verzichtet werden kann. MRT
Falls der Verdacht auf eine diskoligamentäre Verletzungen besteht ist eine MRI Untersuchung hilfreich zur Unterscheidung, ob es sich um eine A- oder B-Verletzung handelt (⊡ Abb. 22.66). Hierbei werden die supra- und interspinalen Ligamente beurteilt. Als ein indirektes Zeichen kann man ein Hämatom unmittelbar über der Faszie sehen, da die Ruptur der Ligamente selbst in reponiertem Zustand nicht immer zu sehen ist. Wenn unklar ist, ob es sich um eine alte oder frische Fraktur handelt (insbesondere bei Patienten mit Osteoporose), ist das MRT ebenfalls sehr hilfreich. Bei frischen Frakturen ist das Ödem im Wirbelkörper gut sichtbar. z Therapie Auf der Notfallstation
Bis zum Abschluss der Diagnostik sollte der Patient liegen und en bloc gedreht werden, bis die Art der Fraktur bekannt ist und die entsprechende Therapie eingeleitet wird. In der NASCIS-Studie wurde bei traumatischen Rückenmarkverletzungen unter hochdosierter Methylprednisontherapie ein besseres Outcome gefunden, wenn die Verabreichung innerhalb der ersten 6 nach Trauma erfolgte. Diese Studie ist jedoch aus methodischen Gründen, wie z. B. Bildung von Untergruppen im Nachhinein, umstritten. Weitere Studien konn-
471 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
z z Operative Therapie Dorsaler Zugang
Der Zugang zur Wirbelsäule dorsal erfolgt in der Medianlinie. Die dorsalen Elemente werden subperiostal dargestellt, da üblicherweise eine dorsale Spondylodese durchgeführt wird. Wenn lediglich eine Stabilisation ohne wesentliche Reposition durchgeführt werden muss, kann die Operation auch perkutan unter Bildverstärker-(BV-)Kontrolle oder navigiert erfolgen. Ventraler Zugang
⊡ Abb. 22.66 Frische Fraktur im MRT (STIR-Sequenz)
ten die Resultate nicht bestätigen, fanden aber häufiger Nebenwirkungen wie Infekte und Femurkopfnekrosen bei den mit Steroiden behandelten Patienten. Methylprednison wird deswegen bei traumatischen Querschnittläsionen von den meisten Fachgesellschaften nicht mehr routinemäßig empfohlen. ! Cave Eine Kontraindikation für Methylprednison ist ein Schädel-Hirn-Trauma, da hierbei ein schlechteres Outcome festgestellt wurde. z z Konservative Therapie
Bei leicht eingestauchten Keilimpressionsfrakturen kann eine rein funktionelle Therapie mit Instruktion des Patienten für rückengerechtes Verhalten und Vermeidung einer stärkeren Kyphosierung durchgeführt werden. Auch Patienten mit einer pulmonalen Beeinträchtigung, also v. a. ältere Menschen, müssen in dieser Weise behandelt werden, da durch eine Orthese die pulmonale Funktion zu stark beeinträchtigt werden kann. Bei den meisten Keilimpressionsfrakturen (AO-Klassifikation A2.1) wird ein reklinierendes 3-Punkte-Korsett für 2–3 Monate verordnet, um eine stärkere Zunahme der Kyphose zu vermeiden, wenngleich sich eine gewisse Zunahme der Kyphose meist nicht vermeiden lässt. Ist die Kyphose bereits inital stärker ausgebildet (ca. 20° Keildeformität des betroffenen Wirbelkörpers), mehrere Wirbelkörper frakturiert oder handelt es sich um eine inkomplette Berstungsfraktur ohne oder mit nur leichter Verlagerung der Hinterkante, kann im dorsalen Durchhang eine partielle Reposition erreicht werden und in dieser Position ein Gipskorsett angelegt werden. Das Gipskorsett sollte für 3 Monate getragen werden. Im Verlauf kommt es meistens zu einem gewissen Verlust der Reposition, sodass häufig wieder der Ausgangswert der Kyphose erreicht wird.
Der ventrale Zugang gliedert sich in lumbal L3–S1, lumbal L1–L4, thorakolumbal und thorakal. ▬ Lumbal L3–S1: Der Zugang erfolgt in der Mittellinie oder pararektal. Wenn nur das Segment L5/S1 erreicht werden soll, kann die Hautinzision quer durchgeführt werden, um kosmetisch weniger störend zu wirken. Der Zugang erfolgt dann zwischen den Muskeln, sodass diese nicht denerviert oder in der Durchblutung gestört werden. Der weitere Zugang erfolgt retroperitoneal, rechtseitig oder linksseitig. Der Ureter muss mit dem Peritonealsack nach medial weggehalten werden. Die Präparation im Segment L5/S1 muss sehr schonend stumpf erfolgen, um den Plexus lumbosacralis nicht zu schädigen, was zu einer retrograden Ejakulation führen würde. ▬ Lumbal L1–L4: Der Zugang erfolgt über eine Lumbotomie unterhalb der Rippen und des Zwerchfells. Die Bauchwandmuskulatur (Mm. obliquus externus, obliquus internus und transversus) kann durchtrennt oder, wenn nur eine kürzere Strecke dargestellt werden muss, entsprechend der unterschiedlichen Faserrichtung gespreizt werden. Der weitere Zugang zur Wirbelsäule erfolgt dann retroperitoneal. An der Wirbelsäule sollte der Grenzstrang geschont werden, die Patienten beklagen sonst ein kälteres Bein auf der Gegenseite (eigentlich ist das Bein auf der Zugansseite wegen der besseren Durchblutung wärmer). ▬ Thorakolumbal: Um den thorakolumbalen Übergang darzustellen, wird eine Thorakotomie im Bereich der unteren Rippen vorgenommen. Um den Wiebelkörper L1 zu erreichen, muss das Zwerchfell inzidiert werden. Wenn eine längerstreckige Darstellung der Wirbelsäule nötig ist, kann das Zwerchfell ca. 1 cm vom Rand ganz durchtrennt werden. ▬ Thorakal: Hier erfolgt der Zugang ebenfalls über eine Thorakotomie auf der gewünschten Höhe. Üblicherweise wird 1–2 Rippen oberhalb des frakturierten Wirbelkörpers eingegangen und evtl. eine Rippe reseziert, die gleich zur Knochenanlagerung verwendet werden kann. Als oberster Wirbelkörper kann mit diesem Zugang Th4 erreicht werden. Mit speziellen Retraktoren kann dieser Zugang auch mit einem kurzen Schnitt »mini-open« oder auch thorakoskopisch durchgeführt werden. Zeitpunkt der Operation
Wenn neurologische Ausfälle vorhanden sind und eine Kompression neuraler Elemente vorliegt, versuchen wir eine Stabilisation und Dekompression so rasch als möglich durchzuführen. Bei Polytrauma oder Patienten mit schwerem Schädelhirntrauma ohne neurologische Ausfälle ist es aufgrund
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22
Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
der Belastung für den Patienten oft sinnvoll, die Versorgung postprimär in den folgenden Tagen durchzuführen. Falls bei bewusstlos aufgefundenen Patienten die Neurologie nicht beurteilt werden kann, muss die Dringlichkeit der Operation davon abhängig gemacht werden, ob eine Kompression neuraler Elemente vorliegt. Therapiemöglichkeiten Von den A-Frakturen werden die Frakturen mit einer Ky-
phosierung von über 20° sowie Berstungsfrakturen mit einer deutlichen Einengung des Spinalkanals bei jungen Patienten üblicherweise operativ versorgt. Ebenso werden Kneifzangenfrakturen operativ von ventral versorgt, da in diesen Fällen das Bandscheibenmaterial im Wirbelkörper eine knöcherne Heilung der Fraktur verhindert. B- und C-Frakturen sind höhergradig instabile Verletzungen, die diskoligamentären Verletzungen heilen nicht stabil aus und bedürfen einer Spondylodese. Daher sind diese Frakturen immer operativ zu versorgen. Eine Ausnahme sind die rein ossären Distraktionsverletzungen (Chance-Fraktur), wenn der Wirbelkörper keine wesentliche Kyphosierung zeigt. Grundsätzlich kann eine Operation von dorsal, ventral oder als 360°-Fusion dorsoventral durchgeführt werden. Als Implantate werden von dorsal fast nur noch Pedikelschrauben verwendet, da diese eine direkte Manipulation der Wirbelsäule erlauben und eine kurzstreckige Spondylodese vorgenommen werden kann. Ventral werden zur Abstützung und Fusion meist mit Knochen gefüllte Cages oder allenfalls trikortikale Knochenspäne verwendet. Zur Erhöhung der Stabilität können zusätzlich entweder (winkelstabile) Platten oder Schrauben-StabSysteme implantiert werden. Wird auf eine zusätzliche dorsale Stabilisation verzichtet, wird ventral ein Doppelstabsystem oder eine winkelstabile Platte gewählt um eine belastungsstabile Versorgung zu ermöglichen. > Liegt eine Kompression neuraler Elemente vor, ist die Dekompression vordringlich.
Wenn die Kompression bei B- oder C-Verletzungen aufgrund der Dislokation der Wirbelsäule zustande kommt, bringt die Reposition der Wirbelsäule auch gleichzeitig eine (partielle) Dekompression. Bei A-Frakturen ist die Kompression durch das Hinterkantenfragment des Wirbelkörpers bedingt. Durch das Wiederaufrichten der Wirbelsäule kann es durch die Ligamentotaxis zu einer partiellen Reposition des Fragments kommen. Wenn keine genügende Reposition erfolgt, kann das Hinterkantenfragment mit speziellen Stößeln unter vorsichtiger Schonung des Rückenmarks nach ventral gehämmert werden. Eine Entfernung des Hinterkantenfragments und damit vollständige Dekompression nimmt man am besten von ventral vor. Bei älteren Patienten mit Osteoporose kann bei stark schmerzhaften Frakturen ohne neurologische Ausfälle eine Vertebro- oder Kyphoplastie durchgeführt werden. Bei der Vertebroplastie wird niedrigvisköser Knochenzement durch 1 oder 2 Kanülen pro Wirbelkörper injiziert. Bei der Ballonkyphoplastie werden über die eingeführten Kanülen zuerst expandierbare Ballone eingebracht. Diese werden mit Kontrast-
mittel unter hohem Druck gefüllt und der Wirbelkörper so wieder aufgerichtet. Die Ballone werden nach der Reposition wieder entfernt, und der entstandene Hohlraum wird mit PMMA (Polymethylmetacrylat) oder allenfalls auch (resorbierbarem) Kalziumphosphat gefüllt. Solange der Wirbelkörper noch keine ausgeprägte ventrale Sinterung aufweist und keine Beteiligung der Hinterkante vorliegt, kann eine Vertebroplastie durchgeführt werden. Wenn ein Wiederaufrichten des Wirbelkörpers erreicht werden soll oder eine Fraktur der Hinterkante vorliegt, ist eher eine Kyphoplastie indiziert. Die Verlagerung der Hinterkante sollte hierbei relativ gering sein. Die dazu benötigten Ballone verteuern das Verfahren im Vergleich zur Vertebroplastie erheblich. Alternativ kann auch eine Lordoplastie durchgeführt werden. Hierbei wird zuerst eine Vertebroplastie der Wirbelkörper oberhalb und unterhalb des frakturierten Wirbelkörpers mit insgesamt 4 Kanülen vorgenommen. Anschließend wird der frakturierte Wirbelkörper durch eine Lordosierung der 4 in situ belassenen Kanülen vorgenommen und dann die Vertebroplastie des frakturierten Wirbelkörpers durchgeführt. Bei relativ frischen Frakturen gelingt eine gute Wiederaufrichtung, und die Behandlung ist relativ kostengünstig, es müssen dabei aber 2 zusätzliche Wirbelkörper mit Knochenzement gefüllt werden (Orler et al. 2006). Evidenz und Kontroversen der verschiedenen Therapien
Kontroversen bezüglich operativer bzw. konservativer Therapie bestehen v. a. bei der Behandlung von Berstungsfrakturen ohne neurologische Ausfälle (AO-Klassifikation A3). Durch eine operative Therapie kann eine Wiederaufrichtung der Wirbelsäule erreicht werden, im Verlauf kommt es v. a. bei rein dorsalen Spondylodesen zu einem Verlust der Korrektur, es tritt postoperativ eine Zunahme der Kyphose um etwa 10° auf. In etlichen Studien wird dabei kein Zusammenhang zwischen einer verstärkten Kyphosierung und Schmerzen gefunden (Shen et al. 2001, Wood et al. 2003). In einer neueren randomisierten Studie wurde die operative Therapie mit Pedikelschraubenfixation mit der konservativen Terapie mittels Orthese verglichen. Dabei zeigte die operative Gruppe ein besseres sagittales Profil und bessere funktionelle Resultate sowie geringere Schmerzen. Auch war der Anteil der Patienten, die ihre vorherige Arbeit wieder aufnahmen, in der operierten Gruppe höher (Siebenge et al. 2006). Kontroversen bestehen auch bezüglich der Art der operativen Frakturversorgung. Reicht eine reine Aufrichtung des Wirbelkörpers ohne Spondylodese oder muss, auch aufgrund der zerstörten Bandscheibe bei Berstungsfrakturen, eine Spondylodese durchgeführt werden? Reicht auch bei stark fragmentiertem Wirbelkörper und damit fehlender ventraler Abstützung eine alleinige dorsale Spondylodese? Nicht durchgesetzt hat sich die transpedikuläre Spongiosaplastik, wobei versucht wurde, die nach der Wiederaufrichtung des Wirbelköpers verbleibende imprimierte Deckplatte anzuheben und die ventrale Höhle mit Spongiosa zu füllen. Mit einem Cage oder kortikalen Span kann wieder eine ventrale Abstützung hergestellt werden, gleichzeitig wird die zerstörte
473 22.3 · Verletzungen der Wirbelsäule
und im Verlauf meist schmerzhafte Bandscheibe entfernt. Da es bei trikortikalen Spänen häufig zu einer Sinterung des Spans kommt und aufgrund der meist benötigten Größe des Spans ein erheblicher Hebedefekt entsteht, werden zunehmend Cages verwendet. Kontroversen bestehen auch, ob eine thorakoskopische Operation gegenüber einer offenen oder »mini-open«Operation für den Patienten einen Vorteil bringt. z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Keilimpressionsfrakturen geringen Ausmaßes bis 10° versorgen wir mit einem 3-Punkte-Korsett für 3 Monate. Keilimpressionsfrakturen mit einem Keilwirbel zwischen 10–20° erhalten ein Gipskorsett im dorsalen Durchgang. Die Tragedauer des Gipskorsetts beträgt ebenfalls 3 Monate. Tipp
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Das Gipskorsett wird angelegt, sobald die Patienten das erste Mal abgeführt haben, um abdominelle Probleme bei der inital oft bestehenden Darmparalyse zu vermeiden.
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Keilimpressionsfrakturen mit einer Kyphose von weniger als 20° und nur minimaler Verlagerung der Hinterkante können auch mit einem reklinierenden Gipskorsett behandelt werden. Wir kontrollieren dabei nach ca. 2 Wochen, ob nicht eine stärkere Kyphosierung eingetreten ist und evtl. auf eine operative Therapie gewechselt werden sollte. Bei Keildeformitäten von über 20° empfehlen wir bei jungen Patienten bei lumbalen und thorakolumbalen Frakturen eine operative Wiederaufrichtung und Spondylodese. Kyphosen werden im BWS-Bereich besser ertragen, sie haben hier eine geringere statische Konsequenz, da sie das Lot von C7 weniger nach ventral verschieben. Bei Frakturen dieses Ausmaßes im BWS-Bereich handelt es sich aber oft um FlexionsDistraktions-Verletzungen, die operativ versorgt werden. Inkomplette Berstungsfrakturen mit deutlicher Verlagerung der Hinterkante versorgen wir operativ, in der Regel dorsoventral, 1- oder 2-zeitig. Wir instrumentieren dorsal den Wirbelkörper oberhalb der Fraktur, im frakturierten Wirbelkörper werden die Pedikelschrauben nach kaudal in den intakten Wirbelkörper gesetzt.
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⊡ Abb. 22.67a–d Inkomplette Berstungsfraktur Th12 (AO-Klass: A3.1). a Präoperativ seitlich, b a.p., c Postoperativ, seitlich, d a.p., e nach Segmenfreigabe seitlich, f a.p.
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
Tipp
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Der kaudale Wirbelkörper wird zum sicheren Halten des Repositionsergenisses ebenfalls mitgefasst, eine Spondylodese wird aber nur monosegmental vorgenommen.
Meist sekundär (nach 2–4 Tagen) wird dann eine ventrale interkorporelle Spondylodese mit Meshcages und autologer Spongiosa durchgeführt. Die Pedikelschrauben im kaudalen Segment werden nach ca. 5 Monaten wieder entfernt, um das nicht spondylodesierte Segment wieder freizugeben (⊡ Abb. 22.67). In diesen 5 Monaten sollte die Bandscheibe noch keinen Schaden durch die Ruhigstellung erlitten haben. Bei kompletten Berstungsfrakturen werden im frakturierten Wirbelkörper kurze Pedikelschrauben verwendet, die nur bis zur Hinterkante reichen, und ventral eine Teilkorporektomie mit Entfernung des Hinterkantenfragments durchgeführt. Zur ventralen Abstützung wird ein expandierbarer Cage benützt. B- und C-Verletzungen werden operativ versorgt. Wenn die ventrale Komponente der Verletzung eine Berstungsfraktur mit erheblichem Substanzdefekt oder Einengung des Spinalkanals zeigt, wird eine ventrale Abstützung mit einem Cage vorgenommen. Betrifft die ventrale Verletzung vorwiegend die Bandscheibe, wird im BWS-Bereich nur eine dorsale Spondylodese durchgeführt. Im Bereich der oberen BWS werden zur besseren Stabilisierung oft 2 Niveaus oberhalb und unterhalb der Verletzung in die Spondylodese mit einbezogen, da der Ausfall der
⊡ Abb. 22.68a–c Posttraumatische Kyphose nach verkannter Flexions-Distraktions-Verletzung. a Präoperativ, b postoperativ seitlich nach ventrodorsaler Aufrichtespondylodese, c postoperativ a.p. nach ventrodorsaler Aufrichtespondylodese
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zusätzlich spondylodesierten Segmente funktionell weniger eine Rolle spielt als im lumbalen und thorakolumbalen Bereich. Alte, in Kyphose verheilte Frakturen mit Schmerzen und gestörter Statik weisen meist keine Flexibilität mehr auf, sodass zur Aufrichtung ein ventrales Release durchgeführt werden muss (⊡ Abb. 22.68). Das Repositionsergebnis wird entweder mit einem ventralen Platten- oder Doppelstabsystem gehalten oder es wird zusätzlich eine dorsale Instrumentation und Spondylodese vorgenommen. Wenn der Spinalkanal auf der Korrekturhöhe eng ist und eine große Korrektur durchgeführt wird, muss zuvor dorsal die Lamina unterschnitten werden, um zu verhindern, dass diese bei der Aufrichtung auf das Rückenmark drückt. Alternativ kann eine solche Aufrichtung auch alleine von dorsal via Kostotransversektomie und (partieller) Korporektomie durchgeführt werden. Nachbehandlung
Das Ziel nach operativer Versorgung einer Wirbelkörperfraktur ist die funktionelle Nachbehandlung ohne Korsett. Forcierte Flexion und das Heben von schweren Lasten sollen während 3 Monaten vermieden werden. Muskelkräftigungsübungen der Extensoren können postoperativ begonnen werden. z Komplikationen Neurologische Komplikationen
Das Rückenmark oder Nervenwurzeln können bei der Instrumentation mit den Pedikelschrauben verletzt werden, wenn
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475 Literatur
diese zu medial oder durch das Neuroforamen platziert werden, dies kann durch eine sorgfältige Operationstechnik vermieden werden. Die Pedikel weisen auf der Höhe Th5/Th6 den geringsten Durchmesser auf. Die Platzierung der Pedikelschrauben muss hier entsprechend vorsichtig vorgenommen werden. Es kann auch eine extrapedikuläre Verankerung gewählt werden, wobei die Schrauben lateral den Pedikel perforieren. Diese Schraubenlage zeigt biomechanisch leicht geringere Ausrisswerte als transpedikuläre Schrauben (White et al. 2006, Fu et al. 2006). Infekte
Sie können wie bei allen Operationen insbesondere mit Implantaten auftreten. Die Infektionsgefahr ist erhöht bei posteriorem Zugang und bei bettlägerigen bzw. plegischen Patienten, bei denen die Infektrate über 40% erreichen kann (Rechtine et al. 2001). Mechanische Komplikationen
Vor allem bei Osteoporose kann es zum Ausriss der Pedikelschrauben kommen. Es muss dann eine längerstreckige Stabilisation vorgenommen und evtl. Knochenzement zur Augmentierung der Schrauben verwendet werden. Beim Ausbleiben einer knöchernen Durchbauung der Spondylodese kommt es im Verlauf zu einer Lockerung oder zum Bruch der Schrauben. z
Prognose
Die Prognose nach einer Wirbelsäulenverletzung ist v. a. von den bleibenden neurologischen Ausfällen abhängig. Für die Prognose der neurologischen Erholung ist der ASIA Impairment Scale wichtig. Die größte neurologische Erholung zeigen Patienten mit einem Grad C. Grad B (sakrale Aussparung) zeigt eine bessere Erholung und eine größere Chance, Grad D zu erreichen, als Patienten mit initialem Grad A (komplette Läsion). Junge Patienten zeigen eine bessere Erholungstendenz als ältere (Scivoletto et al. 2004).
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Kapitel 22 · Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule
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Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk J. Beckmann, M. Tingart, M.A. Kessler, T. Dobler, M. Kuster, J. Grifka
23.1
Anatomie und Biomechanik der Schulter – 478
23.1.1 23.1.2
Morphologie und Topographie – 478 Funktionelle Anatomie und Kinematik – 485
23.2
Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk – 486
23.2.1 23.2.2 23.2.3 23.2.4 23.2.5 23.2.6 23.2.7 23.2.8 23.2.9
Diagnostik der Schultererkrankungen – 486 Angeborene Fehlbildungen – 499 Plexusläsionen – 501 Subakromialsyndrome – 502 »Frozen shoulder« – 513 Degenerative Erkrankungen des Glenohumeralgelenks Instabilitäten des Glenohumeralgelenks – 516 Erkrankungen des Akromioklavikulargelenks – 524 Erkrankungen des Sternoklavikulargelenks – 526
23.3
Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk – 526
23.3.1 23.3.2 23.3.3 23.3.4 23.3.5 23.3.6
Klavikulafrakturen – 526 Skapulafrakturen – 532 Frakturen des proximalen Humerus – 540 Schulterluxation – 548 Kapsel-Band-Verletzungen des Akromioklavikulargelenks Pathologie des Sternoklavikular-gelenks – 549
Literatur
– 550
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– 514
– 548
478
23.1
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Anatomie und Biomechanik der Schulter
J. Beckmann, M. Tingart, J. Grifka
23 23.1.1
Morphologie und Topographie
Die Funktion der Schulter ist als Leistung einer Gelenkkette zu sehen. Sie basiert auf der Anatomie und dem Zusammenspiel des eigentlichen Schultergelenks (Glenohumeralgelenk), den Schultergürtelgelenken (Akromioklavikular- und Sternoklavikulargelenk) und den »Nebengelenken« der skapulothorakalen und der subakromialen Gleitschicht.
Knöcherne Strukturen Die beteiligten knöchernen Strukturen sind der Humerus, die Skapula mit ihren knöchernen Fortsätzen, die Klavikula und der knöcherne Thorax. Am Humerus unterscheidet man als proximale Epiphyse den Humeruskopf mit der Gelenkfläche, der durch das Collum anatomicum von der Diaphyse und den beiden Apophysen, den Tubercula majus und minus, getrennt ist (⊡ Abb. 23.1). Zwischen den beiden Tubercula liegt der Sulcus intertubercularis, in dem die lange Bizepssehne verläuft. Die Tiefe des Sulcus sowie seine Lage in Bezug auf die Retrotorsion sind individuell stark variabel. Die Tubercula dienen den Sehnen der Rotatorenmanschette als Insertion. In der Frontalebene ist der Humeruskopf gegenüber der Schaftachse im Mittel um 140° geneigt und weist gegenüber der Epikondylenachse im Mittel eine Retrotorsion um 20° auf, bei starker geographischer Streuungsbreite. Das Bogenmaß der
⊡ Abb. 23.1a,b Anatomie der Schulter: knöcherne Strukturen des Humerus. (Aus: Zilles u. Tillmann 2010)
Gelenkfläche des Humerus beträgt im Mittel 115°. Das Zentrum der Gelenkfläche liegt hierbei zum Diaphysenzentrum um einige Millimeter mediodorsal, was eine »virtuelle Halslänge«, das sog. Offset des Humeruskopfes ergibt. Die flache Skapula weist eine annähernd dreieckige Form auf (⊡ Abb. 23.2). Die dorsale Fläche bildet kranial die Spina scapulae und einen lateralen Fortsatz, das Akromion. Die laterale Skapula geht in den Skapulahals und das Glenoid über. Am oberen ventralen Rand des Glenoids bildet die Skapula einen weiteren Fortsatz mit dem Korakoid. Medial davon befindet sich die in ihrer Tiefe individuell stark variable Incisura scapulae, durch die der N. suprascapularis zieht. Das birnenförmige Glenoid ist im Vergleich zum Humeruskopf schmal und flach, das Bogenmaß beträgt im Mittel nur 80°. Diese Größenunterschiede werden durch einen in der Peripherie etwas dickeren Knorpel und das am knöchernen Rand entspringende Labrum glenoidale zum großen Teil ausgeglichen. Die Höhe des Labrums ist jedoch individuell variabel. Die längliche, in sich torquierte, Klavikula ist die einzige direkte Verbindung der Schulter zum knöchernen Thorax. Die Klavikula kann sich um eine sagittale Achse in der Vertikalebene im Sternoklavikulargelenk um 45° drehen, in der Transversalebene um je 30° nach ventral und dorsal schwenken und in ihrer Längsachse um 45° rotieren.
Gelenke, Kapsel und Bänder Das Glenohumeralgelenk weist die Form und Funktion eines Kugelgelenks auf, jedoch mit einem deutlichen Größenunterschied der Gelenkflächen sowie einer streng genommen geringen »Eiform« des Humerus (⊡ Abb. 23.3). Das Größenverhältnis des Glenoids zum Humeruskopf wird mit 1:3 bis 1:4
b a
479 23.1 · Anatomie und Biomechanik der Schulter
angegeben. Im Vergleich zur Humeruskopfgelenkfläche beträgt der Durchmesser der Gelenkfläche des Glenoids in der Transversalebene nur etwa 60%. Das Labrum glenoidale bildet die faserknorpelige zirkuläre Umrandung des Glenoids und geht sowohl in den hyalinen Knorpel als auch in die Kapsel mit ihren einstrahlenden ligamentären Verankerungen über. Insbesondere am anterosuperioren Labrum ist die Verankerung am Glenoid oft locker oder weist sogar einen kleinen Rezessus auf, das sog. sublabrale Foramen oder » sublabral hole«. Die Gelenkkapsel des Schultergelenks zieht vom Labrum glenoidale zum Collum anatomicum des Humerus, wobei die Tubercula majus und minus extrakapsulär zu liegen kommen. Verstärkt wird die Kapsel durch einstrahlende Fasern der Sehnen der Rotatorenmanschette sowie 3 ventral gelegene ligamentäre Verstärkungen, die Ligg. glenohumeralia superior, medius und inferior. Form und Lage dieser Verstärkungen variieren in-
a
dividuell stark, teilweise inserieren sie separat vom Labrum am Glenoidrand. Das hängemattenartige ventrokaudale Lig. glenohumerale inferior weist zudem meist eine anteroinferiore und posteroinferiore Verstärkung auf. Zwischen diesen venralen Ligamenten sowie zusätzlich nach kaudal bildet die Gelenkkapsel Aussackungen, die Recessus. Ferner kommuniziert die Kapsel häufig mit den umliegenden Bursae. Die Kapsel besteht wie üblich aus einem äußeren Stratum fibrosum und einem inneren Stratum synoviale. Einzige direkte Verbindung des Schultergürtels zum Rumpfskelett ist das Sternoklavikulargelenk. Dieses Gelenk ist neben seiner straffen Gelenkkapsel durch die Ligamenta sternoclaviculare anterius und posterius, costoclaviculare und interclaviculare insbesondere gegen Luxation gesichert. Es besteht aus 2 Gelenkanteilen und weist als Besonderheit einen 3–5 mm dicken Discus articularis auf, der die Gelenkinkongruenz ausgleicht und so dem Sattelgelenk die Bewegungsmöglichkeiten eines Kugelgelenks verleiht. Das Schultereckgelenk oder Akromioklavikulargelenk besteht ebenfalls aus 2 Gelenkanteilen und kann zusätzlich einen Discus articularis aufweisen. Die straffe Gelenkkapsel wird durch die Ligg. acromioclavicularia superius und inferius, das Lig. coracoclaviculare (ventrales Lig. conoideum, dorsales Lig. trapezoideum) sowie einstrahlende Sehnen der Mm. deltoideus und trapezius gegen Translation, Distraktion und Luxation verstärkt. Trotz der ligamentären Bewegungseinschränkung sind die Bewegungsmöglichkeiten eines Kugelgelenks gegeben. Der Gelenkspalt des Akromioklavikulargelenks ist sehr variabel, in der überwiegenden Anzahl jedoch von kranial-lateral nach kaudal-medial geneigt, wobei die klavikuläre Fläche in der Regel überragt. > Die Bewegungen der beiden Schultergürtelgelenke sind stets mechanisch gekoppelte Rotationsbewegungen.
Als skapulothorakales »Nebengelenk« gleitet die Skapula bei allen Bewegungen der Schulter auf dem Thorax als eine bindegewebige Verschiebung zwischen den Mm. serratus anterior und subscapularis auf dem Thorax mit. Das sog. Schulterdach oder die Fornix humeri wird gebildet aus dem Akromion, dem Korakoid und dem dazwischenliegenden Lig. acromioclaviculare. Als subakromiales »Nebengelenk« wird hier die Verschiebeschicht zwischen Humeruskopf und Schulterdach verstanden, die durch bindegewebige Verschiebung und die häufig konfluierenden Bursae subacromialis sowie subdeltoidea ermöglicht wird.
Muskeln
b ⊡ Abb. 23.2a,b Anatomie der Schulter: knöcherne Strukturen der Skapula. (Aus: Zilles u. Tillmann 2010)
An der Skapula inserieren und entspringen diverse Muskeln: kaudal der Spina von der Facies dorsalis die Mm. infraspinatus, teres major und minor, kranial der Spina aus der Fossa supraspinata der M. supraspinatus, von der Facies ventralis der M. subscapularis und der M. serratus anterior. Am Oberrand des Glenoids entspringt die Sehne des Caput longum des M. biceps vom Tuberculum supraglenoidale sowie dem posterosuperioren Labrum, am Unterrand des Glenoids die Sehne des Caput longum des M. triceps vom Tuberculum infraglenoidale. Des Weiteren inserieren hier die Mm. trapezius, deltoideus,
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480
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Bursa synovialis des Ligamentum coracoclaviculare
Ligamentum acromioclaviculare (superius)
Clavicula
Articulatio acromioclavicularis und Discus articularis
23
Ligamentum conoideum
Ligamentum acromioclaviculare (inferius) Caput longum des M. biceps brachii Acromion
Ligamentum trapezoideum
Labrum glenoidale
Ligamentum coracoclaviculare
Scapula
Caput longum des M. triceps brachii a
Acromion Spatium subacromiale M. supraspinatus Labrum glenoidale
Articulatio acromioclavicularis Bursa subacromialis Bursa subdeltoidea Tuberculum majus
A. und V. suprascapularis Caput humeri Cavitas glenoidalis M. subscapularis Recessus axillaris
Capsula articularis
N. axillaris, A. und V. circumflexa humeri posterior b
Ligamentum coracoacromiale Acromion Ligamentum coracohumerale Ligamentum glenohumerale superius Bursa subtendinea musculi subscapularis Ansatzsehne des M. subscapularis Vagina tendinis intertubercularis
Processus coracoideus Caput longum des M. biceps brachii Labrum glenoidale Bursa synovialis subcoracoidea Öffnung in der vorderen Kapselwand Ligamentum glenohumerale medium Ligamentum glenohumerale inferius
Scapula Humerus c
⊡ Abb. 23.3a–c Anatomie der Schulter: Gelenke, Kapsel und Bänder (Frontalschnitt). (Aus: Tillmann 2005)
481 23.1 · Anatomie und Biomechanik der Schulter
Clavicula Acromion Ligamentum coracoacromiale Bursa subacromialis
Processus coracoideus Bursa subcorac
Ansatzsehne des M. supraspinatus Ursprungssehn M. pectoralis m
Bursa subdeltoidea Ligamentum coracohumerale
Ursprungssehnen des des M. biceps brachii M. coracobrachialis Vagina tendinis intertubercularis Ursprungssehne des Caput longum des M. biceps brachii Ansatzsehne des M. pectoralis major
Bursa subtendinea mu subscapularis M. subscapularis Ansatzsehne des M. latissimus dorsi
a
Ligamentum coracoacromiale Acromion Bursa subacromialis Ansatzssehne des M. supraspinatus
M. infraspinatus
Ursprungssehne des Caput longum des M. biceps brachii Processus coracoideus Ligamentum coracoglenoidale Bursa subtendinea musculi subscapularis Ligamentum glenohumerale superius Foramen Weitbrecht Ligamentum glenohumerale medium
Capsula articularis Cavitas glenoidalis
Synovialmembranfalte
M. teres minor Labrum glenoidale Recessus axillaris
M. subscapularis
Caput longum des M. triceps brachii
b
⊡ Abb. 23.4a,b Gelenkverbindungen. a Aufsicht auf die Kapsel, Schulter von ventrolateral, b Aufsicht auf das Glenoid. (Aus: Tillmann 2005)
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482
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
23
⊡ Abb. 23.5 Muskuläre Strukturen der Schulter. (Aus: Tillmann 2005)
teres major und minor, levator scapulae, rhomboidei major und minor, pectoralis minor sowie coracobrachialis. Die 4 Muskeln der sog. Rotatorenmanschette (Mm. supraspinatus, infraspinatus, subscapularis und teres minor) ziehen durch den subakromialen Raum unter der Fornix humeri und setzen als einheitliche Sehnenmanschette an den Tubercula majus und minus humeri an. Die Sehnen des M. supraspinatus setzt kranial, die des M. infraspinatus dorsal am Tuberculum majus an, die Sehne des M. subscapularis setzt am Tuberculum minus an. Neben einer allen gemeinsamen Kopfzentrierung ins Gelenk bewirken die Muskeln aufgrund ihrer topographischen Lage verschiedene Bewegungen am Humerus. Der M. supraspinatus ist in der Regel zweigeteilt und wirkt in erster Linie abduzierend und geringer außenrotierend, der M. infraspinatus außenrotierend und geringer adduzierend, der M. subscapularis innenrotierend und gering adduzierend. Die adduzierende Wirkung der letzten beiden Muskeln kann bei Elevation oder
entsprechender Rotation des Arms auch in eine geringe abduzierende Wirkung übergehen. Von besonderer Bedeutung sind ferner die muskuläre mediale und die laterale Achsellücke, die von Gefäßen und Nerven durchlaufen werden. Die mediale dreieckige Achsellücke wird gebildet durch den kranialen M. teres minor, den kaudalen M. teres major und das laterale Caput longum des M. triceps brachii. Durch sie penetriert die A. circumflexa scapulae. Die laterale Achsellücke wird gebildet durch den kranialen M. teres minor, den kaudalen M. teres major, das nun mediale Caput longum und das laterale Caput laterale des M. triceps brachii. Sie wird penetriert vom N. axillaris und der A. circumflexahumeri posterior (⊡ Abb. 23.5 und ⊡ Abb. 23.4b).
Rotatorenmanschette Die vier Muskeln der Rotatorenmanschette (Mm. supraspinatus, infraspinatus, subscapularis und teres minor) bilden ge-
483 23.1 · Anatomie und Biomechanik der Schulter
M. supraspinatus Ligamentum transversum scapulae superius
M. subscapularis Processus coracoideus
Tuberculum supraglenoidale Acromion Ligamentum coracoacromiale Ansatzsehne des M. supraspinatus Ansatzsehne des M. infraspinatus
Ansatzsehne des M. teres minor
Ligamentum coracoglenoidale (Var.) Labrum glenoidale Ursprungssehne des Caput longum des M. biceps brachii Rotatorenintervall Caput humeri Ansatzsehne des M. subscapularis Ligamentum transversum humeri Caput breve des M. biceps brachii
⊡ Abb. 23.6 Rotatorenmanschette. (Aus: Tillmann 2005)
meinsam mit der superioren Gelenkkapsel, in die sie einstrahlen, eine gemeinsame Sehnenkappe am Humerus (⊡ Abb. 23.6). Eine Kapselverstärkung erfolgt durch einen Zügel des Lig. coracohumerale, der annähernd senkrecht zur Verlaufsrichtung der Sehnen der Mm. supra- und infraspinatus verläuft und damit Querspannungen dieser Sehnen auffängt. Teile der superioren Kapsel verdicken sich im höheren Lebensalter zum sog. »rotator cable«, sie können dadurch teilweise die sich ausdünnende Sehne des M. supraspinatus kompensieren. Die Sehnen der Mm. supra- und infraspinatus vereinigen sich etwa 15 mm vor ihrem Ansatz am Tuberculum majus. Der gelenknahe Anteil der Rotatorenmanschette weist als Besonderheit eine faserknorpelähnliche Struktur auf und kann so als Gleitsehne fungieren. > Schwachstelle und Ort von gehäuften Defekten ist eine Zone, in der sich Fasersysteme der Kapsel und der Supraspinatussehne überkreuzen. Hier ist die Rotatorenmanschette Scherkräften gegenüber stärker anfällig als in den restlichen mehr parallel verlaufenden Anteilen.
Als Rotatorenmanschettenintervall wird die Übergangszone zwischen dem Vorderrand der Supraspinatussehne und dem kranialen Rand der Subskapularissehne bezeichnet. Es stellt das Dach der langen Bizepssehne dar und weist als Verstärkungen das Lig. glenohumerale superius sowie das Lig. coracohumerale auf. Diese Verstärkungen haben eine stabilisierende Wirkung
auf das Glenohumeralgelenk in Abduktion und Außenrotation. Das Lig. coracohumerale stellt eigentlich eine Kapselfalte dar, die in Außenrotation als Ligament erscheint. Es besteht aus 2 Anteilen, die in die Kapsel und die Supraspinatussehne einstrahlen. Im lateralen Rotatorenmanschettenintervall bilden das Lig. glenohumerale superius und Anteile der Subskapularissehne eine Art fibröse Schlinge für die lange Bizepssehne mit Auskleidung des Sulcus intertubercularis. Das Intervall selbst besteht aus zartem kapsulärem Gewebe, jedoch sind die Sehnen und Bänder sowie die Kapsel in diesem Areal dreidimensional verwoben und gewährleisten so die Stabilisierung der langen Bizepssehne. Als »fünfte« Sehne der Rotatorenmanschette kann die lange Bizepssehne angesehen werden, die aufgrund ihrer topographischen Lage und Fixierung im Sulcus intertubercularis ebenfalls eine stabilisierende Wirkung auf das Glenohumeralgelenk aufweist. Im Sulcus besitzt die Sehne als Gleitsehne eine Vagina synovialis sowie knochennah eine fibrokartilaginäre Struktur.
Gefäße und Nerven Die versorgenden Arterien der Schulter (⊡ Abb. 23.7) gehen aus der A. subclavia bzw. im weiteren Verlauf aus der A. axillaris hervor. Als früher Abgang geht die A. suprascapularis vom Truncus thyreocervicalis ab, verläuft über dem Lig. transversum scapulae superius zur Fossa supraspinata und weiter in die Fossa infraspinata, versorgt die Mm. supraspinatus und
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484
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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a
⊡ Abb. 23.7a,b Gefäß- und Nervenversorgung der Schulter. a Übersicht, b Detail. (Aus: Schiebler u. Korf 2007)
b
infraspinatus und ferner die Skapula. Hierfür bildet sie mehrere Anastomosen mit der A. thoracoacromialis und der A. circumflexa scapulae. Letztere versorgt zudem den M. teres major. Aus der A. axillaris geht die A. thoracoacromialis für den M. pectoralis und Anteile des M. deltoideus sowie der Klavikula und des Schultereckgelenks hervor. Im Weiteren gibt sie die A. thoracica lateralis für die Mm. pectoralis minor und serratus anterior ab, nach dorsal die A. subscapularis, die sich in die A. circumflexa scapulae und die A. thoracodorsalis aufzweigt. Ebenfalls aus der A. axillaris gehen die beiden Aa. circumflexa humeri posterior und anterior hervor. Die beiden
Aa. circumflexa verlaufen im Collum chirurgicum ventral und dorsal und sind hier insbesondere bei Frakturen gefährdet. Die posteriore Arterie versorgt die Mm. teres, caput longum und caput laterale des M. triceps, den M. deltoideus, Teile der sehnigen Rotatorenmanschette und den posteroinferioren Anteil des Humeruskopfes sowie das Tuberculum majus. Die anteriore Arterie versorgt den anterosuperioren und zentralen Anteil des Humeruskopfes, den M. subscapularis sowie Teile der sehnigen Rotatorenmanschette und die lange Bizepssehne. Darüber hinaus bestehen diverse Anastomosen zu anderen Arterien.
485 23.1 · Anatomie und Biomechanik der Schulter
Wie die Skapula sind das Akromion und das Glenoid durch ein Anastomosengeflecht diverser Arterien versorgt. Am Glenoid ist jedoch das Labrum, vergleichbar dem Meniskus im Knie, im freien Randbereich schlecht durchblutet, der superiore Anteil schlechter als die restlichen Anteile. Ein weiteres Areal schlechter Durchblutung ist eine Zone der sehnigen Rotatorenmanschette etwa 1 cm proximal des Ansatzes am Tuberculum. Diese gelenkseitig als Gleitsehne fungierende fibrokartilaginäre Zone weist deswegen häufiger Schäden auf als andere Anteile. Als wichtigste Vene ist die V. cephalica zu nennen. Sie stellt die Leitstruktur der Schulterchirurgie dar und verläuft in der Mohrenheim-Grube zwischen den Mm. pectoralis und deltoideus im Sulcus deltoideopectoralis nach distal. Die versorgenden Nerven der Schulter (⊡ Abb. 23.7) gehen aus den Rami ventrales der Spinalnerven C4 bis Th2 hervor, die den Plexus brachialis bilden. Sie vereinigen sich noch oberhalb der Klavikula zu den Trunci superior, medius und inferior, die die Nn. dorsalis scapulae, thoracicus longus, suprascapulares, subscapulares, thoracodorsalis und subclavius abgeben. Unterhalb der Klavikula gehen sie unter Querverbindungen über in die Fasciculi lateralis, posterior und medialis, die dann die Nn. ulnaris, radialis, axillaris, medianus, musculocutaneus, pectoralis sowie cutaneus brachii und antebrachii medialis bilden. Der N. suprascapularis zieht mit der gleichnamigen Arterie auf die Dorsalseite der Skapula und tritt durch die Incisura scapulae in der Regel entgegen der Arterie unterhalb des Lig. transversum scapulae in die Fossa supraspinata, wo er den M. supraspinatus innerviert. In seinem weiteren Verlauf um die Basis der Spina gelangt der N. suprascapularis in die Fossa infraspinata zur Versorgung des gleichnamigen Muskels. Der M. subscapularis wird von mehreren Nn. subscapulares versorgt, die mediokaudal von Glenoid und Korakoid direkt aus dem Fasciculus posterior hervorgehen. Der N. axillaris verläuft am Unterrand des M. subscapularis nach dorsal und nach Passage der lateralen Achsellücke an der Unterfläche des M. deltoideus wieder nach ventral. Er versorgt die Mm. teres minor und deltoideus sowie autonom sensibel ein Hautareal am dorsolateralen Oberarm. Die sensorische Innervation des Schultergelenks mit Kapsel, Rotatorenmanschette und Subakromialraum erfolgt durch die Nn. suprascapularis, subscapulares und axillaris, wobei die Versorgungsgebiete individuell stark variieren.
Das differenzierte Zusammenspiel der einzelnen Gelenke, die komplexe neuromuskuläre Führung sowie der besondere Aufbau des Kapsel-Band-Apparates ermöglichen den großen Bewegungsumfang der Schulter bei gleichzeitiger Stabilisierung. Ganze 12 Freiheitsgrade der Bewegung sind für die gesamte Gelenkkette der Schulter und 5 allein für das Schultergelenk beschrieben, da neben dem reinen Gleiten und Rotieren um die x-, y- und z-Achse auch ein Rollen sowie eine Translation entsteht. > Die größte Amplitude der Bewegung erfolgt zwar im Glenohumeralgelenk, der volle Bewegungsumfang der Schulter kann jedoch nur durch das zusätzliche skapulothorakale Gleiten und Verkippen der Skapula (»skapulohumeraler Rhythmus«) unter Rotation der Klavikula erreicht werden.
Die Skapula bewegt sich hierbei in 3 in der Regel kombinierten Bewegungsebenen (kranial-kaudal, lateroventral-mediodorsal und rotatotorisch in der sagittalen Achse). Das Akromioklavikulargelenk ist schon bei initialen Bewegungen beteiligt. Die ersten 30° der Abduktion gehen mit sehr variablen Bewegungsausschlägen der Skapula einher. Bei weiterer Abduktion von 30–90° rotiert die Skapula auf dem Thorax um etwa 30° und die Klavikula führt eine anguläre Bewegung von etwa 30° aus, die Rotation um die Längsachse ist noch zu vernachlässigen. Zwischen 90 und 180° der Abduktion besteht ein kontinuierliches Verhältnis der skapulohumeralen Bewegung von 2:1. Gleichzeitig rotiert die Klavikula um ihre Längsachse um 30–50° nach hinten. Diese Rotation ist eine nockenwellenähnliche Bewegung. > Je geringer der Anteil des Akromioklavikulargelenks an der Bewegung der Skapula, umso größer ist der Anteil des Sternoklavikulargelenks, in der Regel jedoch werden etwa 40% der Skapulabewegung über das Akromioklavikulargelenk und etwa 20% über das Sternoklavikulargelenk ausgeglichen.
Ein Ausfall eines der beiden Gelenke kann nicht vollständig durch das andere kompensiert werden und bedeutet eine Bewegungseinschränkung. Die Hebung und Senkung der Klavikula beträgt bei großer individueller Varianz zwischen 30 und 60°. Die maximale Abduktion des Arms erfolgt in einem Verhältnis von etwa 2:1 der glenohumeralen zur skapulothorakalen Beweglichkeit.
Kräfte 23.1.2
Funktionelle Anatomie und Kinematik
Beweglichkeit und Kinematik Die Funktion der Schulter ist als Leistung der Gelenkkette aus Glenohumeral-, Akromioklavikular- und Sternoklavikulargelenk sowie den beiden »Nebengelenken« der skapulothorakalen und der subakromialen Gleitschicht zu sehen. Sie basiert auf dem Zusammenspiel des eigentlichen Schultergelenks (Glenohumeralgelenk), den Schultergürtelgelenken (Akromioklavikular- und Sternoklavikulargelenk) und den »Nebengelenken« der skapulothorakalen und der subakromialen Gleitschicht.
Die Muskeln der Rotatorenmanschette und die übrigen Schultermuskeln müssen koordiniert zusammenarbeiten, um einerseits die komplexen Bewegungen zu ermöglichen und andererseits dabei gleichzeitig den Humeruskopf im Glenoid zu stabilisieren. Die Komplexität der Bewegung bedeutet auch, dass einzelne Muskeln mehrere Gelenke bewegen und sich Zug- und Aktionssrichtung der einzelnen Muskeln während der Bewegung ändern können. In Abhängigkeit von der Position kann so die Aktion desselben Muskels sogar in einer entgegengesetzten Richtung oder Wirkung resultieren. Ferner sind nahezu immer mehrere Muskeln an der Durchführung einzelner Bewegungen beteiligt.
23
486
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Die im Glenohumeralgelenk wirkende Gesamtkraft resultiert aus Schwerkraft, Lastkraft und Beschleunigungsmomenten. Die Gesamtkraft weist eine Komponente in Richtung Glenoid und eine in Richtung Fornix humeri auf. Die stärksten Kräfte treten für beide Komponenten bei 90º Abduktion und gleichzeitiger Innenrotation auf.
23.2
Stabilität
23.2.1
Der große Bewegungsumfang zusammen mit der besonderen Anatomie bedingen eine geringe Formschlüssigkeit des Glenohumeralgelenks mit großem stabilisierendem Weichteilmantel und im Vergleich zu anderen Gelenken deutlich häufiger auftretenden Luxationen. Zu den anatomischen Besonderheiten zählen hier die flache und im Verhältnis zum Humeruskopf kleine Glenoidfläche, die zudem noch einen größeren Krümmungsradius als der Humeruskopf aufweist, sowie die erst bei endgradigen Bewegungen angespannte Kapsel. Die Verschieblichkeit des Humeruskopfes gegenüber dem Glenoid wird als Laxität bezeichnet. Eine Instabilität liegt jedoch erst vor, wenn die Laxität zu Symptomen führt. Die gegenüber dem Humeruskopf kleine Glenoidfläche wird durch das zirkuläre Labrum und die Kapsel funktionell erweitert. Die Kapsel jedoch wirkt aufgrund ihres Aufbaus mit zirkulären Fasern und bandartigen Verstärkungen bei Verwringung sowie unter Distraktion auch zentrierend und stabilisierend auf das Glenohumeralgelenk. Weitere Stabilisatoren sind die luxationssichernde kranioventrale Fornix humeri und die intraartikulär vorherrschende Adhäsion und Kohäsion der synovial benetzten Gelenkflächen. Insbesondere wird die Stabilität jedoch dynamisch durch die Muskulatur und hier v. a. durch die Muskeln der Rotatorenmanschette gewährleistet. Die einzelnen Muskeln entfalten entsprechend ihres topographischen Verlaufs eine komprimierende und zentrierende Wirkung auf den Humeruskopf in Bezug auf das Glenohumeralgelenk. Am entscheidendsten für die Stabilität sind hierbei die Koordination der Schultermuskulatur und die Propriozeption im Glenohumeralgelenk. > Insgesamt ist das Glenohumeralgelenk also ein mehr kraft- als formschlüssiges Gelenk, für die Feineinstellung und dauernde sowie größte Stabilisierung sorgen aktive Stabilisatoren, für endgradige Positionen dann aktive und passive Stabilisatoren.
Das Akromioklavikulargelenk übernimmt die Kraft- und Lastübertragung vom Arm auf den Rumpf und umgekehrt. Die kapsuläre Struktur wird durch die kräftigen korakoklavikulären Bänder unterstützt und gewährleistet zusammen mit der Deltotrapezoidfaszie die funktionelle Integrität des SchultergürtelArm-Komplexes. Diese straffe Verbindung zwischen Skapula und Klavikula legt den Drehpunkt der Skapula gegenüber der Klavikula fest. Neben der muskulären Führung verhindert sie ein seitliches Abkippen der Skapula mit dem Arm gegenüber der Klavikula sowie ein dorsales Abweichen der Skapula vom Rumpf. Sie entfaltet diese Wirkung zusätzlich zu den skapulospinalen und skapulothorakalen muskulären und ligamentären Verbindungen insbesondere beim Abstützen oder Fallen auf den vorgehaltenen Arm.
Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
J. Beckmann, M. Tingart, J. Grifka
Diagnostik der Schultererkrankungen
Anamnese Eine umfassende strukturierte Anamnese ist Grundlage der medizinischen Diagnostik. Hinsichtlich der Beschwerden müssen Dauer und Intensität, Provozierbarkeit oder Funktionsabhängigkeit, spontanes oder traumatisches Auftreten erfragt werden. Es gibt klassische Konstellationen von Anamnese und Befunden, nicht selten jedoch werden auch diffus ausstrahlende Schmerzen beschrieben. So werden bei Subakromialsyndromen typischerweise Nachtschmerzen beim Liegen auf der betroffenen Schulter oder die für die jeweilige Instabilität oder Impingement auslösende Bewegung beschrieben. Ferner sind das Alter, die subjektive Einschränkung und die Ansprüche des Patienten zu berücksichtigen.
Klinische Untersuchung Die klinische Untersuchung hat einen ausgesprochen hohen Stellenwert in der Diagnostik der Schultererkrankungen. Durch die Beurteilung der Beweglichkeit der Schulter und des Zusammenspiels der Bewegungen mit den spezifischen Muskel- und Provokationstests kann nach der Anamnese und der klinischen Untersuchung eine Diagnose zumeist gestellt oder zumindest stark eingegrenzt werden. Es muss jedoch erwähnt werden, dass die einzelnen Untersuchungsbefunde oft vieldeutig sein können und nur durch exakte Ausführung und Kombination verschiedener Tests eine Aussagen zulassen. Häufiger liegen rein funktionelle Schulterbeschwerden vor, strukturelle Beschwerden sind im Verhältnis zu den funktionellen deutlich seltener. Eine in der Regel sonographische Bildgebung dient der Diagnosesicherung bzw. -bestätigung, Erstes Kriterium der Untersuchung ist die Inspektion des Patienten und der Schulter in Ruhe und Funktion. Sowohl die Gesamtstatik, die Symmetrie, Arm- und Skapulastellung als auch die einzelnen Bewegungen und die Harmonie des Zusammenspiels müssen beurteilt werden. Die Palpation der Schulter schließt sich an. Lokale Druckschmerzen an Triggerpunkten der Halswirbelsäule und Schulter sowie Myogelosen werden überprüft. Die Rotatorenmanschette kann ansatznah durch Schulterrotation palpiert werden, die lange Bizepssehne supratuberkulär sowie im Sulcus bicipitalis. Beim Akromio- und Sternoklavikulargelenk kann neben einem lokalen Druck ein Verschiebeschmerz provoziert werden. Durch Druck auf die laterale Klavikula kann ein Hochstand in Relation zum Akromion als Klaviertastenphänomen evaluiert werden (⊡ Abb. 23.8). > Bei Schulterbeschwerden sind auch zur Schulter ausstrahlende Beschwerden wie zervikogene Beschwerden immer auszuschließen.
487 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
▬ Wright-Test: Palpation der A. radialis bei Kopfrotation und -extension sowie endgradiger Abduktion des Arms. Im Anschluss erfolgt die eigentliche Schulteruntersuchung, wobei hier eine Bewegungs- und Kraftmessung vor den schmerzhaften Provokationstests durchgeführt werden sollte, da in umgekehrter Reihenfolge nach Schmerzprovokation die Beweglichkeit und Kraft deutlich eingeschränkt sein kann.
Aktive und passive Bewegungsmessung und NeutralNull-Methode
⊡ Abb. 23.8 Klaviertastenphänomen: Hochstand der Klavikula in Relation zum Akromion
Es müssen isolierte und kombinierte Bewegungen im Seitenvergleich sowie im Vergleich zum Normalbefund beurteilt werden. Die isolierten Bewegungen werden anhand der Neutral-Null-Methode erfasst, für die Kombinationsbewegungen des Nackengriffs (Abduktion und Außenrotation) sowie des Schürzengriffs (Retroversion, Innenrotation) wird die erreichbare Körperregion (Gesäß, Sakrum, Höhe LWS/BWS) erfasst (⊡ Abb. 23.9). Die Neutral-Null-Methode an der Schulter beschreibt am hängenden Arm mit nach ventral gerichtetem Daumen folgende Bewegungen und Bewegungsumfänge: ▬ Flexion oder Anteversion mit 160–180°, Extension oder Retroversion mit 30–50° ▬ Abduktion mit 160–180°, Adduktion mit 30–50° ▬ Horizontalflexion in 90°-Abduktion mit 130–150°, Horizontalextension in 90°-Abduktion mit 40–60° ▬ Außenrotation mit 40–70°, Innenrotation mit 80–100° ▬ Hochrotation in 90°-Abduktion mit 60–90° und Tiefrotation in 90°-Abduktion mit 60–90°
Spezifische Muskeltests Eine grob orientierende Untersuchung der Halswirbelsäule durch Beachtung der Beweglichkeit in Inklination und Reklination, Seitneigung und Seitdrehung sowie ein Provokationstest mit axialer Kompression und geringer Seitneigung und Seitdrehung nach rechts wie links ist neben der Begutachtung der Sensibilität und des Reflexstatus obligat. Bei Verdacht müssen durch spezifische Tests neuromuskuläre Irritations- und Kompressionssyndrome, sog. »Thoracicoutlet«-Syndrome, ausgeschlossen bzw. eingegrenzt werden. Dazu dienen folgende Tests: ▬ Roos-Test: beide Arme werden aus 90° Abduktion und Außenrotation weiter extendiert, wobei Schmerzen, Schwäche oder Sensibilitätsstörungen als positiver Test gewertet werden ▬ Adson-Test: Palpation der A. radialis bei Kopfrotation zur Untersucherseite, Extension und Außenrotation des Arms sowie tiefer Inspiration ▬ Allen-Test: Palpation der A. radialis bei weiterer Außenrotation des 90° abduzierten und außenrotierten Arms bei Kopfrotation zur Gegenseite ▬ Halstead-Test: Palpation der A. radialis bei Armlängszug und Rotation des extendierten Kopfes zur Gegenseite ▬ Kostoklavikularsyndrom-Test/Military-Brace-Test: Palpation der A. radialis bei Längszug am Arm und gleichzeitigem Druck von kranial auf die Schulter
Die Beurteilung der spezifischen Muskeltests dient einerseits der Prüfung der symmetrischen Muskelkraft und andererseits der Beurteilung tendomyopathischer Anspannungsschmerzen im Sinne eines Provokationstests. Die Tests versuchen die einzelnen Muskeln und Funktionen soweit möglich zu isolieren, was aufgrund der komplexen Anatomie jedoch nur teilweise gelingen kann. Der Neutral-Abduktionstest in der Skapulaebene testet durch Abduktion aus der Nullstellung insbesondere die Mm. supraspinatus und deltoideus isometrisch gegen Widerstand des Untersuchers im Seitenvergleich (⊡ Abb. 23.10). Der Neutral-Außenrotationstest mit 90° gebeugtem Ellenbogen testet durch Außenrotation aus der Nullstellung insbesondere den M. infraspinatus (z. T. Mm. supraspinatus und teres minor) isometrisch gegen Widerstand des Untersuchers im Seitenvergleich (⊡ Abb. 23.11). Selektiver für die Beurteilung der Außenrotationsdefizite ist der Abduktions-Außenrotations-Test. In der Skapulaebene (30° nach ventral aus der Frontalebene) soll der 90° abduzierte Arm außenrotiert werden. Ab 45° Außenrotation wird vorwiegend der M. teres minor getestet. Bei Unmöglichkeit der Außenrotation durch meist größere Defekte von Mm. supra- und infraspinatus wird kompensatorisch der Ellenbogen angehoben bzw. der Arm abduziert, es resultiert das sog. Hornblower-
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a ⊡ Abb. 23.10 Neutral-Abduktionstest
b ⊡ Abb. 23.9a,b Kombinationsgriff an der Schulter. a Nackengriff, b Schürzengriff
⊡ Abb. 23.11 Neutral-Außenrotationstest
Zeichen (⊡ Abb. 23.12), Trompeterzeichen oder »signe du clairon«. Der Neutral-Innenrotationstest mit ebenfalls 90° gebeugtem Ellenbogen testet durch Innenrotation aus der Nullstellung insbesondere die Mm. subscapularis, latissimus dorsi und teres
major isometrisch gegen Widerstand des Untersuchers im Seitenvergleich (⊡ Abb. 23.13). Im Lift-off-Test kann der M. subscapularis aus der Innenrotationsgruppe selektiver beurteilt werden. Der Arm muss aus dem Schürzengriff nach dorsal vom Rücken weggeführt wer-
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⊡ Abb. 23.12 Hornblower-Zeichen
⊡ Abb. 23.13 Neutral-Innenrotationstest
⊡ Abb. 23.14 Lift-off-Test
den, ohne jedoch im Ellenbogen zu extendieren. Eine Unmöglichkeit der Bewegung ist pathognomonisch für eine Ruptur des M. subscapularis, eine Schwächung im Seitenvergleich Hinweis auf Partialläsionen (⊡ Abb. 23.14). Der »Belly-press«-Test mit dem »Belly-off«- oder Napoleon-Zeichen gibt ebenfalls Hinweise auf Pathologien der Innenrotatoren, insbesondere des M. subscapularis. Der Patient muss die Hände der 90° im Ellenbogen gebeugten Arme auf den Bauch gedrückt halten, während er die Ellenbogen nach ventral schiebt. Eine entsprechende Läsion führt zum Abweichen der Hand vom Bauch. Beim »Belly-off«-Zeichen resultiert diese Abweichung bei passiv nach ventral geführten Ellenbogen. Rückschlüsse auf die Ausdehnung der Partialläsionen von M. subscapularis als Innenrotator und M. infraspinatus als Außenrotator sind durch die Lag-Zeichen möglich. Hier wird der Arm in die Gelenkendstellungen der Außenrotation aus der Neutralstellung oder der Innenrotation aus dem Schürzengriff geführt. Das Maß des Zurückweichens des Arms aus diesen Endstellungen korreliert mit der Größe des Defekts, wobei ein endgradiges seitengleiches geringes Abweichen als Ausdruck der Kapselspannung physiologisch ist (⊡ Abb. 23.15). Der Jobe-Test in der Skapulaebene (30° nach ventral aus der Frontalebene) testet den M. supraspinatus durch isometri-
sche weitere Abduktion bei bereits 90° vorabduziertem und innenrotiertem Arm (Daumen weisen nach unten; ⊡ Abb. 23.16). Dieser Test ist jedoch auch bei Impingement und Affektion der langen Bizepssehne positiv und wird durch Wiederholung aus nur 45° Vorabduktion selektiver für die tendomyopathische Komponente. Beim »Drop-arm«-Zeichen senkt der Patient seinen in der Skapulaebene abduzierten Arm von 150° langsam ab. Bei größeren Rotatorenmanschettendefekten kann der Arm in gewissen Bewegungssektoren nicht aktiv gehalten werden, bei kleineren Defekten können Schmerzen auftreten. Dieser Test kann jedoch auch bei Impingement positiv ausfallen (⊡ Abb. 23.17). Mit dem Yergason-Test lassen sich Rückschlüsse auf die lange Bizepssehne ziehen. Der Patient beugt den Arm aus der Pronation gegen Widerstand des Untersuchers und führt so eine Supination und Flexion im Ellenbogen durch (⊡ Abb. 23.18). Im »Palm-up«-/Speed-Test wird durch isometrische Anteversion des Arms gegen Widerstand aus 90° vorantevertiertem und supiniertem Arm (Handflächen nach oben) ebenfalls die lange Bizepssehne getestet, aber auch Pathologien des Rotatorenmanschettenintervalls fallen positiv aus. Die genaue Schmerzlokalisation ist daher für die Differenzierung nötig (⊡ Abb. 23.19).
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⊡ Abb. 23.16 Jobe-Test
a
⊡ Abb. 23.17 »Drop-arm«-Zeichen
b ⊡ Abb. 23.15a,b Lag-Zeichen. a Innenrotation aus dem Schürzengriff, b Außenrotation aus der Neutralstellung
Mit dem O‘Brien-Test können SLAP-Läsionen diagnostiziert werden (⊡ Abb. 23.20). Der leicht adduzierte und 90° antevertierte Arm soll gegen Widerstand des Untersuchers weiter antevertiert werden. Der Test ist jedoch auch bei Akromioklavikulargelenksaffektion und (insbesondere subkorakoidalem) Impingement positiv, zur Differenzierung bedarf es weiterer Tests.
Impingement-Tests Die Impingement-Tests sind klassische Provokationstests. Durch Einengung des Subakromialraums provozieren sie die
typischen Schmerzen. Sie können aktiv und passiv durchgeführt werden. Passiv am hängenden Arm durchgeführt ermöglichen sie ferner eine Dezentrierung durch Entspannung der Rotatorenmanschette. Als aktiv wie passiv durchführbarer Test kann die reine Abduktion in der Frontalebene oder auch Skapulaebene erfolgen. Hierbei kann das Vorliegen eines schmerzhaften Bogens (»painful arc«) zwischen 60 und 120° beurteilt werden (⊡ Abb. 23.21). Bei Schmerzen über 120° kann auch ein Akromioklavikulargelenks- oder ein Dehnungsschmerz vorliegen. Beim Impingement-Test nach Neer wird der leicht innenrotierte Arm aus der hängenden Stellung abrupt flektiert (⊡ Abb. 23.22). Der Test kann in einem Bereich von etwa 50– 120° positiv gewertet werden und setzt eine mögliche Flexion der Schulter von mindestens 120° voraus. Schmerzen unterhalb 50° sind meist kapsulärer Genese, bei etwa 150° kann ein Dehnungsschmerz oder Endanschlagsschmerz vorliegen. Beim Vorbeugetest nach Kölbel kann das Neer-Zeichen weiter differenziert werden. In Oberkörpervorbeuge bei hängendem Arm bleibt eine schmerzhafte Flexion bei kapsulärer Genese, hingegen wird sie bei Impingementsymptomatik durch Zugentlastung zumindest abgemildert.
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a
⊡ Abb. 23.18 Yergason-Test b ⊡ Abb. 23.20a,b O-Brien-Test. a Test in Außenrotation, b Test in Innenrotation
⊡ Abb. 23.19 »Palm-up«-/Speed-Test
Beim Impingement-Test nach Hawkins wird der Arm im Ellenbogen 90° gebeugt und in der Schulter abduziert. Der Untersucher führt den entspannten Arm und führt rasche Innenrotationsbewegungen durch (⊡ Abb. 23.23). Ferner kann eine zunehmende Adduktion in der Horizontalebene erfolgen. Die Gruppe der Impingement-Tests prüft v. a. die Enge des Subakromialraums. Außerdem stellen sie auch die Impingement-artigen Provokationstests des Akromio- und Sternoklavi-
kulargelenks dar. Durch endgradige Adduktion des Arms über die Gegenschulter im »Cross-over«-Test (horizontaler Adduktionstest; ⊡ Abb. 23.24) oder auch durch endgradige passive Anteversion wird durch eine forcierte Bewegung das Akromioklavikulargelenk quasi komprimiert. Ein oberer schmerzhafter Bogen bei aktiver Anteversion der Schulter über 120° ist ebenfalls hinweisend auf eine Akromioklavikulargelenksaffektion. Eine Akromioklavikulargelenksarthrose mit kaudalem Sporn kann zusätzlich eine Impingementsymptomatik durch Einengung des subakromialen Raums provozieren. Eine lokale Druckschmerzhaftigkeit liegt dabei meist vor. Neben lokalen Druckschmerzen können bei Pathologie des Sternoklavikulargelenks ebenfalls im »Cross-over«-Test Schmerzen durch eine Komprimierung provoziert werden.
Instabilitätstests Die Instabilitätstests sind Translationstests und Provokationstests. Sie zeigen Verschiebungen des Humeruskopfes relativ zur Pfanne. Durch entsprechenden Druck wird eine vordere Translation (Leffert-Test) und eine hintere Translation (Fuku-
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b
a
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⊡ Abb. 23.21a–c Schmerzhafter Bogen. a Unterer, b mittlerer, c innerer Bogen
⊡ Abb. 23.22a,b Impingement-Test nach Neer. a Ausgangsstellung, b Endstellung in Innenrotation und leichter Adduktion
493 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
da-Test) begutachtet, wobei die hintere Translation in der Regel deutlich größer ist (⊡ Abb. 23.25). Eine untere Translation wird durch Zug am hängenden Arm untersucht. Durch Tiefertreten des Humeruskopfes bei vermehrter Laxität tritt typischerweise eine Einziehung des Deltamuskels unter dem Akromion auf, das sog. Sulkuszeichen (⊡ Abb. 23.26). Dieses Zeichen kann bei ausgeprägter Laxität und dünnen Patienten auch spontan auftreten. Als klassische Provokationstests sind die ApprehensionTests zu nennen. Beim vorderen Apprehension-Test wird der Arm 90° abduziert und durch eine Außenrotation des Arms unter Druck nach dorsal eine vordere Translation provoziert (⊡ Abb. 23.27). Der Test ist positiv, wenn eine wahrnehmbare
a
b ⊡ Abb. 23.23a,b Impingement-Test nach Hawkins. a Ausgangsstellung, b Endstellung in Innenrotation und Adduktion
a
b
⊡ Abb. 23.24 »Cross-over«-Test
⊡ Abb. 23.25a,b Vordere und hintere Schublade/Translation. a Vordere, b hintere Schublade
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⊡ Abb. 23.27 Vorderer Apprehension-Test
a
b ⊡ Abb. 23.26a,b Sulkustest. a Übersicht: Zug am Arm, b positives Sulkuszeichen links (mit Einziehung unter dem Akromion)
(Sub-)Luxation oder reflektorische muskuläre Anspannung des Patienten auftritt. Durch die Abduktion und Außenrotation kommt es insbesondere bei Läsionen des ventralen KapselLabrum-Komplexes zu einer Entwringung der Kapsel mit vermehrter Translation, wodurch eine plötzliche Kapselanspannung und Dehnungsirritation erfolgt. Bei nicht eindeutigem Apprehension-Test kann eine vordere Instabilität durch den Fulkrumtest (Jerk-Test) überprüft
werden. Der Apprehension-Test wird hierbei in Rückenlage durchgeführt. Zwecks vermehrter vorderer Translation des Humeruskopfes legt der Untersucher die Hand im Sinne eines Hypomochlions unter den proximalen Oberarm. Ein positiver Test fordert eine Anspannung oder (Sub-)Luxation, eine reine Schmerzprovokation kann auch bei alleinigem Impingement vorliegen. Im Falle einer Schmerzangabe kann im Anschluss durch den Repositionstest (»relocation test« nach Jobe und Moynes) bei Durchführung des Apprehension-Tests in Rückenlage eben dieses falsch-positive Kontaktphänomen beim Impingement durch ventralen Druck auf den Humeruskopf ausgeschlossen werden. Im »Load-and-shift«-Test nach Hawkins wird die anterioposteriore Translation des Humeruskopfes am hängenden Arm des sitzenden Patienten graduiert. Grad I beschreibt eine Transation <25%, Grad II eine Translation von 25–50%, Grad III eine Luxation mit spontaner Reposition und Grad IV eine notwendige manuelle Reposition. Üblicherweise wird sie in Neutralstellung geprüft. Eine weitergehende Evaluation der Lokalisation der Instabilität kann durch Testung in unterschiedlichen Rotationsstellungen des Arms erfolgen. Der Hyperabduktionstest nach Gagey gilt als spezifisch für die Stabilität des unteren glenohumeralen Bandes. Bei fixierter Skapula wird der Arm in Neutralrotation passiv in der Frontalebene abduziert. Werte über 95° weisen auf eine Instabilität oder Laxizität hin. Beim hinteren Apprehension-Test wird am liegenden oder stehenden Patienten eine Translation nach dorsal am horizontaladduzierten und flektierten Arm ausgeübt (⊡ Abb. 23.29).
Diagnostische Infiltrationen Es gibt klassische Anamnese-Befund-Konstellationen, die für die Diagnostik richtungsweisend sind. Jedoch können die Angaben diffus und die Befunde diskrepant oder überschneidend sein. Werden solche positiven Provokationstests nach gezielten diagnostischen Infiltrationen wiederholt, können vorherige
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b
c
a
⊡ Abb. 23.28a–c Fulkrumtest und Repositionstest a Übersicht Fulkrumtest, b Naheinstellung beim Fulkrumtest, c Repositionstest
Überschneidungen ausgeschaltet werden. So wird eine Akromioklavikulargelenksinfiltration bei einer -gelenksarthrose lokale Beschwerdefreiheit erzielen, eine subakromiale Impingement-Symptomatik jedoch unbeeinflusst lassen. > Die Infiltrationen sollten mit gezielter Applikation geringer Mengen von Lokalanästhetika unter sterilen Kautelen durchgeführt werden.
Sie können gut sonographisch geführt bzw. kontrolliert werden. Gängige diagnostische Infiltrationen sind subakromiale, intraartikuläre glenohumerale oder akromioklavikuläre Infiltrationen. Auch muskel- oder sehnennahe sowie seltener auch zervikale Infiltrationen sind zu erwägen.
Bildgebende Verfahren Generell dienen die bildgebenden Verfahren der Diagnosesicherung oder weiterführenden Beurteilung hinsichtlich Ausprägung, Art oder Ausmaß von Pathologien. Sie können niemals eine strukturierte Anamnese oder die genaue klinische Untersuchung ersetzen.
Sonographie ⊡ Abb. 23.29 Hinterer Apprehension-Test
Die Sonographie ist bildgebendes Verfahren erster Wahl. Es ist ein schnelles, verfügbares, günstiges und strahlungsfreies Ver-
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fahren, das außerdem eine dynamische Untersuchung ermöglicht und einen schnellen Seitenvergleich zulässt. Die Domäne der Ultraschalldiagnostik sind Weichteilveränderungen. Die schulterumgreifende Muskulatur, die Rotatorenmanschette, die lange Bizepssehne sowie die Bursa subacromialis können zuverlässig beurteilt werden, ebenso knöcherne Oberflächen und Gelenkoberflächen. Dies beinhaltet knöcherne Irregularitäten wie Impressionen, Konturunterbrechungen, Kallus, osteophytäre Anbauten oder Gelenkergüsse. Eingeschränkte Aussagen können über das Labrum glenoidale getroffen werden. Zur Anwendung kommt in der Regel ein 7,5-MHz-Schallkopf, um eine gute Strukturauflösung zu erreichen. Für eine größere Eindringtiefe kann ein 5-MHz-Schallkopf und für die Darstellung oberflächlicher Strukturen ein 10-MHz-Schallkopf verwendet werden. Sie erzeugen Schnittbilder durch Aussendung und Verarbeitung reflektierter Schallwellen, wobei nur senkrecht auftreffende Schallwellen annähernd ohne Verlust reflektieren, schräg auftreffende hingegen im 90°-Winkel. Je
a
mehr Schallwellen reflektiert werden, desto heller und echoreicher erscheint die Struktur. Die Knochenkortikalis erscheint deshalb als weiße Linie mit dahinterliegendem Schallschatten. Zur Standardisierung der sonographischen Untersuchung insbesondere nach Hedtmann wurde vereinbart, dass medial, proximal und ulnar gelegene Schallareale am assoziierten Bildschirm links zur Darstellung kommen. > Die Nomenklatur umfasst echofrei/echoarm und echoreich zu Beschreibung der Echogenität, homogen/ inhomogen zur Beschreibung der Binnenstruktur und scharf/unscharf zur Beschreibung der Abgrenzbarkeit.
Die Untersuchung erfolgt am sitzenden, leicht zurückgelehnten Patienten. Klassische bzw. standardisierte Schallkopfpositionen sind die korakoakromialen Positionen I und II, die den transversalen Schnitt (parallel unter dem korakoakromialen Band) sowie den senkrecht darauf stehenden longitudinalen Schnitt erzeugen (⊡ Abb. 23.30 u. ⊡ Abb. 23.31). Sie stellen den Hu-
b
⊡ Abb. 23.30a,b Korakoakromiale Schallkopfposition I (transversaler Schnitt)
a
b
⊡ Abb. 23.31a,b Korakoakromiale Schallkopfposition II (longitudinaler Schnitt)
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meruskopf, die Rotatorenmanschette, die Bursa, das glenohumerale obere Band sowie den intraartikulären Teil der langen Bizepssehne dar. Weitere Positionen sind die ventral-transversale Position über dem Sulcus intertubercularis (sog. Sulkusschnitt) sowie darauf senkrecht stehend der Bizepssehnenlongitudinalschnitt. Ein dorsaler Schnitt in Verlängerung der Infraspinatusgrube stellt den M. infraspinatus sowie dorsale Kapsel- und Labrumanteile dar, ein ventraler Schnitt parallel zum Oberrand des M. pectoralis major lässt beim liegenden Patienten die anterioren Kapsel- und Labrumanteile beurteilen. Ferner kann der Schallkopf parallel zur Klavikula auf das Akromioklavikulargelenk gesetzt werden. Beurteilt werden knöcherne Konturen, muskuläres Kaliber und Struktur insbesondere der Rotatorenmanschette, intraartikuläre, intrabursale oder intramuskuläre Flüssigkeitsansammlungen, intratendinöse Schallauslöschungen bei Kalkdepots und Labrumbeschaffenheit. Auffällige Befunde können im Seitenvergleich weiter abgeklärt werden. Hierbei bietet die Sonographie die Möglichkeit einer dynamischen Untersuchung. Insbesondere in den korakoakromialen Positionen I und II wird der Arm systematisch rotiert und abduziert und Verklebungen, Rotatorenmanschettendefekte und lokale Flüssigkeitsverhalte beurteilt. Ferner ermöglicht die Sonographie dadurch die Darstellung gezielter Punktionen bzw. Infiltrationen.
MRT Der höchste Weichteilkontrast und die höchste Kontrastmittelempfindlichkeit aller bildgebenden Verfahren sowie die multiplanare Darstellung haben der Magnetresonanztomographie einen hohen Stellenwert in der Diagnostik von Pathologien des Schultergelenks verschafft. Nebenwirkungen der verwendeten Feldstärken und Magnetfeldgradienten sind nicht bekannt. Klaustrophobie, Adipositas permagna und Metall an sensiblen Stellen können jedoch zu Kontraindikationen der MRT werden. Das Verfahren beruht auf einer Ausrichtung oder Änderung der Magnetresonanz von Wasserstoffprotonen, deren Resonanzänderung nach Abschalten der Hochfrequenz eine Ortskodierung ermöglichen. Die Darstellungsgüte wird proportional bestimmt von der Protonendichte und der Magnetfeldstärke, ferner durch die T1- und T2- Relaxationszeit sowie verschiedenen Akquisitionsparametern (Repetitionszeit [TR], Echozeit [TE]) und Echosequenzen (Spin-Echo-Sequenz [SE], Gradienten-Echo-Sequenz [GE]). Für die Schultergelenksdiagnostik kommen v. a. Spin-EchoSequenzen zur Anwendung. Gradienten-Echo-Sequenzen haben ihre Bedeutung in der Knorpeldarstellung, sind aber für die Darstellung der Rotatorenmanschette nicht geeignet. T1gewichtete Sequenzen (mit kurzer TR und TE) zeigen insbesondere Kontrastmitteleffekte, protonengewichtete Sequenzen (mit langer TR, aber kurzer TE) werden zur Diagnostik der Rotatorenmanschette eingesetzt. T2-gewichtete Sequenzen (mit langer TR und TE) weisen zwar ein hohes Signal-RauschVerhältnis auf, sind jedoch als sensitive »Detektionssequenz« unabdingbar, da viele pathologische Prozesse durch eine verlängerte T2-Relaxationszeit auffallen.
> Von der Bundesärztekammer wird eine Schichtdicke von <3 mm bei einer Ortsauflösung von <0,5×1 mm gefordert.
Neben der Beurteilung von knöchernen Strukturen und Gelenkknorpel ermöglicht das MRT die Diagnostik bzw. Diagnosesicherung insbesondere der komplexen muskulotendinoligamentären Läsionen und damit der Subakromial- und Impingement-Syndrome sowie von Instabilitäten. Gelenkergüsse und Bursitiden kommen ebenso zur Darstellung wie Tendinosen, Partial- und Komplettrupturen der Rotatorenmanschette, der langen Bizepssehne und deren Aufhängung, Läsionen des knorpeligen oder knöchernen Labrums sowie des kapsuloligamentären Bandapparates. Partialrupturen der Rotatorenmanschette werden in 3 Grade eingeteilt (Grad I: < 3 mm, Grad II: weniger als die Hälfte, Grad III: mehr als die Hälfte der Sehnendicke). Sie zeigen sich als kontinuierliche intratendinöse Signalerhöhung. Die Defekte können bursaseitig, intratendinös und am häufigsten gelenkseitig auftreten. Komplette Rupturen mit vollständiger Kontinuitätsunterbrechung zeigen sich v. a. in T2-gewichteten Sequenzen, indem die direkte Kommunikation des Gelenks mit der Bursa zur Darstellung kommt (⊡ Abb. 23.32 u. ⊡ Abb. 23.33). Es werden 4 Grade unterschieden, Grad I: <1 cm, Grad II: 1–3 cm, Grad III: 3–5 cm und Grad IV: >5 cm. Ferner lassen sich das Ausmaß der Retraktion und der Atrophie im Vergleich zur Sonographie besser beurteilen, die im Hinblick auf operative Rekonstruktion von entscheidender Bedeutung sind. Eine Graduierung der zumeist fettigen Degeneration ist eher schwierig, die Atrophie kann am Zanetti-Tangentenzeichen abgeschätzt werden. Hierbei wird die Höhe des M. supraspinatus in der Fossa supraspinata in einer quasi Y-Ansicht in Bezug zu Spina scapulae und Proc. coracoideus gesetzt. Schwieriger zu diagnostizieren sind Läsionen des Rotatorenmanschettenintervalls, insbesondere die seltenen isolierten Läsionen, die nur mit Kontrastmittelaustritt nach ventral bei (Sub-)Luxation der Bizepssehne vermutet werden können. Die
⊡ Abb. 23.32 MRT: unauffällige Darstellung der Rotatorenmanschette.
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⊡ Abb. 23.33 Vollständige Ruptur der Rotatorenmanschette im MRT
a
⊡ Abb. 23.34 Klassische Bankart-Läsion im MRT
b
⊡ Abb. 23.35a,b Knöcherne Bankart-Läsion. a MRT, b intraoperativ
SLAP-Läsionen (»superior labral anterior to posterior«) werden je nach Lokalisation, Ausprägung und Mitbeiteiligung von Labrum, Bizepssehne, Bizepssehnenanker und Lig. glenohumerale medius in 7 Typen unterteilt. Schwierig kann die Abgrenzung zum physiologisch vorkommenden sublabralen Rezessus sein. Im Hinblick auf Instabilitäten hat das MRT insbesondere Relevanz in der Beurteilung von Kapsel-Band- und Labrumläsionen sowie Knochenmarködemen und knöchernen Impressionen wie eine Hill-Sachs-Delle. Eine direkte MR-Arthrographie ist anzustreben, Normvarianten der glenohumeralen Bänder und des Labrums (Pseudo-SLAP, Foramen sublabrum, Buford-Komplex) häufig. Sicher diagnostiziert werden können vordere Labrum-Kapselläsionen (klassische Bankart-
Läsion und die Bankart-ähnlichen Läsionen (⊡ Abb. 23.34 u. ⊡ Abb. 23.35).
Eine hintere Instabilität zeigt sich mit weiter dorsaler kapsuloperiostaler Tasche, dorsaler Kapselruptur, reverse Hill-SachsDelle oder reverser Bankart-Läsion. Hierbei zeigt sich eine Labrumläsion insbesondere im posteroinferioren Quadranten. Bei professionellen Wurfsportlern kommt es zur Auffaserungen der posteroinferioren Rotatorenmanschette und des dorsalen Labrums. Zudem sind eine ventrale Überdehnung des anteroinferioren Komplexes mit Läsionen des vorderen Labrums sowie der langen Bizepssehne und deren Aufhängung häufig. Auch für die Beurteilung der Ausprägung der Omarthrose mit Knorpelstatus, Lokalisation von Zysten, Nekrosearealen und
499 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Osteophyten hat das MRT einen hohen Stellenwert insbesondere im Hinblick auf die endoprothetische Versorgung, da auch der Zustand der Rotatorenmanschette und die Anatomie des Glenoids wie Neigung und Krümmung dargestellt werden können. Außerdem kommt die Durchblutungssituation des Humeruskopfes zur Darstellung und lässt Ausmaß und Verläufe von Knochenmarködemen wie traumatischem »bone-bruise« und Nekrosen begutachten. Mit der avaskulären Nekrose des Humeruskopfes als zweithäufigste Lokalisation nach der Nekrose des Femurkopfes hat das MRT als sensitivstes Verfahren in der Detektion insbesondere von Frühstadien einen hohen diagnostischen Wert. Ferner können Anomalien von Humeruskopf und Glenoid beurteilt werden, des Weiteren Ausmaß und Ausbreitung von tumurösen und zystischen Veränderungen durch den guten Weichteilkontrast des MRT.
Konventionelles Röntgen Das Standardröntgen in 2 (wenn möglich senkrecht aufeinanderstehenden) Ebenen hat neben den modernen bildgebenden Verfahren seinen Stellenwert behalten. Wegen der komplexen Schulteranatomie werden folgende klassische Aufnahmen angefertigt: ▬ a.p.-Aufnahme in 30° Außenrotation und 20° kraniokaudaler Neigung ▬ axiale/transaxilläre Aufnahme mit Abduktion des Arms von möglichst 90° ▬ Outlet- oder Y-Aufnahme in der Skapulaachse, bei der die Skapula als Y zur Darstellung kommt Weitere Aufnahmen für spezielle Fragestellungen sind: ▬ a.p-Aufnahmen in verschiedenen Rotationsstellungen des Arms (neutral, außenrotiert, innenrotiert) ▬ West-Point-Aufnahme zur Darstellung des anteroinferioren Glenoidrandes (in Bauchlage je 25° kraniokaudal und lateromedial zur Unterlage) ▬ gezielte Akromioklavikulargelenksaufnahme, Panoramaaufnahme beider Schultern bzw. Akromioklavikulargelenke auf einem Film (mit 10 kg Gewicht an jedem Arm) ▬ gezielte Klavikulaaufnahme sowie gehaltene Aufnahmen zur Evaluation einer (Sub-)Luxation > Nicht selten sind jedoch bei frischen Traumen die Schmerzen des Patienten bei der Durchführung einiger Aufnahmen und damit hinsichtlich der Beurteilung limitierend. Arthrographien haben gegenüber den modernen bildgebenden Verfahren ihren Stellenwert verloren. Sie sind in Doppelkontrasttechnik (Kontrastmittel und gefilterte Raumluft) für größere und komplette Rotatorenmanschettendefekte oder Bizepssehnenrupturen aussagekräftig. Es kommt zu einem Kontrastmittelaustritt in die Bursa. Für inkomplette, intratendinöse oder gelenkseitige Rupturen ist die Arthrographie deutlich weniger sensitiv.
CT Die Computertomographie hat ihren primären Stellenwert in der Diagnostik von speziellen knöchernen Pathologien wie
angeborenen Fehlbildungen und traumatischen Läsionen. Besondere Bedeutung hat das CT in der Beurteilung von Frakturen, (reversen) Bankart-Läsionen oder (reversen) Hill-SachsLäsionen. Des Weiteren können Größenrelation und Krümmungswinkel von Glenoid und Humeruskopf gut beurteilt und klassifiziert werden, dies insbesondere im Hinblick auf eine endoprothetische Versorgung.
Differenzialdiagnosen des Schulterschmerzes Sehr häufig haben Schulterschmerzen ihre Ursache lediglich in fortgeleiteten Funktionsstörungen. Ursachen sind z. B. muskuläre Dehnungsphänomene durch Verkürzungen von Muskeln und Sehnen im Schulter- wie im Hals- und Nackenbereich oder muskuläre Insuffizienzen bzw. Imbalancen. Folge ist ein gestörter skapulohumeraler Bewegungsrhythmus. Diese können auch strukturell nach Paresen von Plexus, N. accessorius, N. thoracicus longus oder anderen Nerven auftreten. > Wichtigste Differenzialdiagnose ist der zervikogene Schulterschmerz.
Ursächlich ist z. B. eine arthrogene, diskogene oder ossär bedingte pseudoradikuläre oder radikuläre Symptomatik. Eine C4- oder C5-Symptomatik projeziert sich in die Schulterregion, eine C6- und C7-Symptomatik nur bei inkompletter Ausstrahlung. Kraftminderungen an der Schulter können vorliegen. Eine Untersuchung der Halswirbelsäule mit Beweglichkeitsprüfung und Prüfung der Sensibilität und des Reflexstatus der oberen Extremität ist deswegen obligat. Ferner sind die »Thoracicoutlet«-Syndrome neurovaskulärer Genese zu differenzieren. Diese sind das Halsrippensyndrom, das Scalenus-anterior-Syndrom, das kostoklavikuläre Syndrom, das Hyperabduktionssyndrom sowie das Pectoralis-minor-Syndrom. Äußerst seltene Differenzialdiagnosen sind die Neuroborreliose, die Zosterneuralgie, die Neurolues sowie die neuralgische Schulteramyotophie, die wahrscheinlich viraler Genese ist und mit anfänglich ausgeprägten Schmerzen und nachfolgenden Paresen einhergeht.
23.2.2
Angeborene Fehlbildungen
Skapulafehlbildungen Die Sprengel-Deformität ist eine angeborene Deformität und Lageanomalie der Skapula (⊡ Abb. 23.36). Die Skapula ist zumeist zu weit kranial an der Halswirbelsäule über das Os omovertebrale sowie über bindegewebige Stränge ausgehend vom M. subscapularis fixiert und weist hierbei eine inferior zu starke Krümmung auf. Die Sprengel-Deformität stellt die häufigste Schulteranomalie dar und ist fast immer mit weiteren Fehlbildungen wie Skoliosen, Rippenanomalien, Klippel-FeilSyndrom, Spina bifida oder Hand-, Fuß- und Organfehlbildungen vergesellschaftet. Klinisch zeigt sich ein Schulterblatthochstand mit im Seitenvergleich klein wirkender Skapula. Bei Rotation nach oben und vorne ist die Schulterabduktion auf ca. 90°eingeschränkt wegen der fehlenden skapulären Mitbewegung. Der Hochstand kann nach Cavendish in 4 Schweregrade eingeteilt werden.
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⊡ Abb. 23.36a,b Sprengel-Deformität
a
Operative Verfahren sind wegen der hohen Komplikationsrate nur bei mäßiger Deformität im Alter zwischen 3 und 6 Jahren angeraten. Resektionen, Fixierungen und Teilresektionen sowie Transpositionen sind beschrieben. Eine dynamische Kaudalisierung mit Resektion der zumeist vorliegenden bindegewebigen Stränge und Mobilisation der skapulothorakalen Gleitschicht wird unsererseits favorisiert. Fehlbildungen des Akromions können als persistierende Spaltbildungen zumeist im lateralen Teil auftreten, seltener als übermäßige Verlängerung. Als Os acromiale wird eine auch über das 25. Lebensjahr persistierende Spaltbildung bezeichnet, die Inzidenz wird mit 7–15% angegeben. Symptomatische »mobile« Os acromiale werden meistens mittels Zuggurtungsosteosynthese versorgt, zum Teil auch verschraubt oder seltener reseziert. Corpus-Fehlbildungen sind selten, ebenso Fehlbildungen des Proc. coracoideus. Glenoiddysplasien können zusammen mit weiteren Anomalien auftreten. Sie gelten als präarthrotische Deformität und bedingen zumeist eine glenohumerale Instabilität. Korrekturosteotomien und Knochenspananlagen sind therapeutische Optionen.
Klavikulafehlbildungen Die angeborene Pseudarthrose tritt meist unilateral rechts im mittleren Drittel auf und ist häufig asymptomatisch. Sie kann primär angelegt sein oder infolge einer Traumatisierung bei Hypoplasie entstehen und kann durch eine abnorme Schulterbeweglichkeit, Schwellung, Prominenz und Druckschmerzhaftigkeit auffallen. Therapeutisch kann bei Beschwerden eine Resektion der Pseudarthrose mit Interposition eines Knochenspans zumeist im Vorschulalter erfolgen. Die Dysostosis sternocleidocranialis ist eine zumeist mit anderen Anomalien vergesellschaftete uni- oder bilaterale Fehlbildung der Klavikula, die von partiellen Defekten bis zu einer kompletten Aplasie reicht (⊡ Abb. 23.37). Neben charakteris-
b
⊡ Abb. 23.37 Dysostosis sternocleidocranialis
tischen Schädelveränderungen fällt eine deutlich vermehrte Schulterbeweglichkeit auf, in ausgeprägten Fällen können die Schultern vor der Brust aneinandergelegt werden. Des Weiteren gibt es kostoklavikuläre Synostosen, kostoklavikuläre Gelenkbildungen sowie kongenitale bilaterale Akromioklavikulargelenkssubluxationen.
Humerusfehlbildungen Die Fehlbildungen des Humerus sind meist mit anderen Anomalien oder Syndromen vergesellschaftet, selten liegt ein Humerus varus mit und ohne Verkürzung vor.
Muskuläre Fehlbildungen Aplasien und Defekte der schulterumgreifenden Muskulatur sind selten. Liegen sie vor, so sind sie meist mit weiteren
501 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Fehlbildungen vergesellschaftet. Zumeist sind der M. pectoralis major, der M. deltoideus und der M. serratus anterior betroffen. Ebenso gibt es zusätzliche Muskeln (M. axillopectoralis, M. subscapularis-teres-latissimus), Formvarianten, Ansatz- und Ursprungsvariationen sowie fibröse Strangbildungen mit eventueller neurovaskulärer Kompressionssymptomatik.
23.2.3
Plexusläsionen
ist die Humeruskopf(sub)luxation bei gleichzeitiger Skapulaverkippung. Die Bandbreite umfasst Kontrakturen, Subluxationen und Dislokationen. Diese können zu rein knorpeliger und später ossärer Deformierung der Gelenkanteile mit plattem dorsal (sub-)luxiertem Humeruskopf sowie bikonkaver und retrovertierter Fossa glenoidalis führen. Im Weiteren können Anomalien der Skapula bis hin zu Skeletthypoplasie der gesamten oberen Extremität auftreten. z
z
Definition
Unterschieden werden geburtstraumatische Plexusläsionen mit oder ohne wachstumsbedingten sekundären Deformitäten sowie traumatische Plexusläsionen. Der Plexus brachialis wird aus den Rami ventrales der Spinalnerven C5 (C4) bis Th1(Th2) gebildet. Diese vereinigen sich zu den 3 Trunci (oberer C5–C6, mittlerer C7 und unterer C8–Th1) und bilden im weiteren Verlauf die 3 Fasciculi (medialis, lateralis und posterior) und schließlich die peripheren Stammnerven. > Es werden eine obere und eine untere Plexuslähmung unterschieden. Die obere Armplexusparese (Typ ErbDuchenne) betrifft C5–C6 und ist mit 80% die häufigste Variante.
Weitere 20% entfallen auf die erweiterten Formen. Es wird zwischen einer erweiterten oberen Armplexusläsion (C5–C7) und einer fast kompletten Plexuslähmung (C5–C8) unterschieden. Die untere Armplexusparese (Typ Dejerdin-Klumpke) mit C8–Th1 ist selten. Die obere Armplexusläsion fällt auf durch einen schlaff herabhängenden Arm mit Ausfall der aktiven Abduktion (Mm. deltoideus und supraspinatus) und Außenrotation (Mm. infraspinatus und teres minor) im Schultergelenk sowie einer Beugung (Mm. biceps und coracobrachialis) und Supination (Mm. biceps und supinator) im Ellenbogengelenk. Bei der erweiterten Form sind zusätzlich die Streckmuskeln von Ober- und Unterarm, die Pronation sowie teilweise die Handgelenksmuskeln paretisch. Ein Horner-Syndrom mit Miosis, Ptosis und Enophthalmus tritt bei Beteiligung von Th1 auf.
Geburtstraumatische Plexusläsionen z
Ätiologie und Pathogenese
Die Schädigung bei der geburtstraumatischen Plexusläsion erfolgt durch Zug am Säugling beim Geburtsvorgang, ein erhöhtes Risiko besteht bei schweren Säuglingen mit Schulteranomalien oder Steißlage. Hierbei kann es durch Längszug zu (unvollständigen) Rissen kommen. Betroffen sind zumeist die Trunci oder distalen Spinalnerven, in der Häufigkeit abnehmend C5, N. suprascapularis, C6, C7 usw. Begleitende Verletzungen können Frakturen des Humerus oder der Klavikula sein sowie ein späterer Torticollis. Die Inzidenz der geburtstraumatischen Plexuslähmung wird mit bis zu 2/1000 Geburten angegeben. z
Klinik
Aus den Paresen resultierende Muskeldysbalancen führen schon früh zu Gelenkfehlstellungen mit strukturellen knöchernen Veränderungen und sekundären Deformitäten. Klassisch
Diagnostik
Klinische Untersuchung und radiologische Diagnostik, insbesondere MRT, sind wegweisend für die Therapie. Ein Röntgenthorax zum Ausschluss einer Beteiligung des N. phrenicus mit Zwerchfellhochstand sowie begleitenden Frakturen sollte durchgeführt werden. z
Differenzialdiagnosen
Abzugrenzen sind die Sprengel-Deformität, posttraumatische Zustände oder die Athrogryposis multiplex congenita. z
Therapie
Bei inkompletten Läsionen kann von einer Spontanheilung durch Regeneration des M. biceps ausgegangen werden. Bei ausbleibender Regeneration oder kompletten und schweren Läsionen besteht die Therapie in einer frühzeitigen mikrochirurgischen Revision mit Reanastomosierung und ggf. Nerveninterponaten. Priorität hat hierbei die Reinnervation der Hand, da die Handfunktion Grundvoraussetzung für die Benutzung der Extremität und damit die Integration ins kindliche Körperschema ist. 57–96% aller Plexusläsionen regenerieren sich durch intensive konservative Therapie annähernd vollständig. Das Ziel der Therapie ist die Vermeidung der Ausschaltung der betroffenen Hand mit resultierender sekundärer Kontrakturen sowie die Wiederherstellung der Funktion der Extremität. > Der Physiotherapie kommt im gesamten Behandlungsverlauf eine entscheidende Rolle zu. Im Schulterbereich müssen insbesondere Außenrotation und Abduktion beübt werden.
Operative Therapieansätze sind Weichteil-Release, MuskelSehnen-Transpositionen (zur Wiederherstellung von Außenrotation, Innenrotation oder Abduktion), offene Repositionen und Osteotomien (innen- oder außenrotierend). Das klassische Weichteil-Release ist die Z-förmige Verlängerung des M. subscapularis nach Birch, die klassischen Transpositionsoperationen sind die L’Episcopo-Technik mit Transfer von Mm. latissimus dorsi und teres major nach dorsal bei paretischen Mm. infraspinatus und teres minor. Sie verbessern die Außenrotation sowie die Humeruskopfsubluxationen. Die Humerusosteotomien verbessern v. a. die Außenrotation und Anteflexion des Oberarms sowie die Stellung des Unterarms und damit die Funktionalität der Hand.
Traumatische Plexusläsionen z
Ätiologie und Pathogenese
Die traumatische Plexusläsion wird meist durch Verkehrsunfälle verursacht, deutlich führend sind Zweiradunfälle. Die
23
502
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Schädigungen können einerseits durch Kompression des Plexus in seinem Verlauf über die erste Rippe entstehen oder durch Distraktion infolge relativer Überbewegung des Kopfes bei stabilisierter Schulter bzw. durch Längszug am Oberarm. Bei adduziertem Arm werden eher die oberen Plexusanteile, bei zunehmender Abduktion eher die unteren Plexusanteile geschädigt. Auch direkte Traumen und Frakturen, iatrogene Schädigungen oder Schuss- und Stichverletzungen können Plexusläsionen bedingen.
durchgeführt werden. Postoperativ werden vorübergehend orthetische Ruhigstellungen vorgenommen.
z
Subakromialsyndrome sind erkrankungs- und/oder verletzungsbedingte Affektionen im Sub(korako)akromialraum. Der Subakromialraum wird begrenzt vom Schulterdach, der sog. Fornix humeri aus Akromion, Korakoid und Lig. coracoacromiale, sowie dem Humeruskopf. Dazwischen liegen die Strukturen der Rotatorenmanschette, der langen Bizepssehne und der Bursa subcoracoacromialis. Als pathologische (einengende) Kontaktphänomene rufen sie daher klassischerweise eine sub(korako)akromiale Impingement-Symptomatik hervor. Bereits 1872 wies Duplay darauf hin, dass in der Regel keine relevante Pathologie der knöchernen, sondern der periartikulären Strukturen vorliegen. Der von ihm geprägte und verschwommene Begriff der PHS (Periarthropathia humeroscapularis) wurde mittlerweile durch diverse klinisch, morphologisch und pathogenetisch unterschiedlich charakterisierte Entitäten ersetzt. Die reine Schmerzhaftigkeit bei intakter Rotatorenmanschette und erhaltener Beweglichkeit wird als einfaches Subakromialsyndrom bezeichnet. Bei zusätzlichen bewegungseinschränkenden Verklebungen oder Verwachsungen spricht man vom adhäsiven Subakromialsyndrom. Ferner wird der Symptomenkomplex des posterior-superioren Impingements bei professionellen Wurfsportlern inzwischen als eigene ätiopathogenetische Entität abgegrenzt.
> Physiotherapeutische und ergotherapeutische Maßnahmen müssen die gesamte Therapie begleiten.
23.2.4 z
Diagnostik
Von entscheidender Bedeutung ist die exakte Evaluation des neurologisch-muskulären Ausfallmusters. Am häufigsten und stärksten betroffen sind die Nn. axillaris und suprascapularis mit den Mm. deltoideus, infraspinatus, teres minor und supraspinatus, gefolgt vom N. subscapularis mit den Mm. subscapularis und teres major. Die Schulterblattmuskeln Mm. trapecius, levator scapulae, serratus anterior sowie rhomboidei sind seltener und in der Regel deutlich schwächer betroffen. Eine präzise klinische Untersuchung sowie neurologische Abklärung, ggf. mittels EMG, ist neben dem radiologischen Ausschluss von Begleitverletzungen obligat. z
Therapie
Allgemeines Ziel der Therapie ist ein Zuwachs an Stabilität und Funktion. Innerhalb der ersten 6 Monate werden neurochirurgische und konservative Maßnahmen ausgeschöpft. Weichteilig oder ossär korrigierende Maßnahmen erfolgen sekundär. Als Transpositionsoperationen sind neben der schon erwähnten L’Episcopo-Technik ein Trapezius-Akromion-Transfer auf den Humerus bei multidirektionaler Instabilität und fehlender Abduktion möglich. Für den Trapeziustransfer werden eine Verbesserung der Abduktion und Anteversion von bis zu 30–40° beschrieben. Ossäre Eingriffe wie Rotationsosteotomien und Arthrodesen sind bei fortgeschrittenen und therapieresistenten Fällen indiziert. Die Schultergelenksarthrodese wird in einer Oberarmposition von 20° Abduktion, 30° Anteversion und 40° Innenrotation vollzogen und kann bei schweren posttraumatischen Fehlstellungen, komplexen Schultergürtelparesen oder fehlgeschlagenen Transpositionen einen enormen Kraft- und Stabilitätsgewinn bedeuten. Grundvoraussetzung ist eine gut erhaltene skapulothorakale Beweglichkeit und Funktion der distalen Gelenke. Eine durchschnittliche postfusionelle Abduktion und Anteversion von 55–75° kann erreicht werden. Bei starker Innenrotation des Arms und ungenügender Beugung des Unterarms durch Anschlagen am Thorax ist eine Außenrotationsosteotomie des Humerus zu erwägen. Die Osteotomie muss unterhalb der an der Rotation beteiligten Muskeln erfolgen und ermöglicht eine physiologischere Ruheposition des Arms sowie die Fähigkeit, die Hand zum Mund zu führen. Im Vordergrund der Sekundärtherapie steht die Verbesserung von Stabilität und Funktion der Schulter, da sie Grundvoraussetzung für eine regelrechte Armkontrolle und Funktionalität der distalen Gelenke sind. Tertiär können funktionsverbessernde Eingriffe an Ellenbogen, Hand und Fingern
z
Subakromialsyndrome
Definition
Ätiologie und Pathogenese
Bei Störungen der Formschlüssigkeit und Zentrierung des Humeroglenoidalgelenks kann es zu einem pathologischen Kontakt der Rotatorenmanschette mit der Fornix humeri kommen. Daraus können stellungsabhängig das häufigere subakromiale oder das seltenere subkorakoidale Impingement resultieren. Erste pathologisch-anatomische Veränderungen sind Bursitiden der Bursa subacromialis, subdeltoidea und subcoracoidalis. Gefolgt werden diese von entzündlichen Reaktionen der Rotatorenmanschettensehnen, den Tendinosen. Ausziehungen oder Spornbildungen an der Akromionkante bzw. Ossifikationen des Lig. coracoacromiale können bei länger bestehendem Fehlkontakt folgen. Tendinosen werden meist als fettige oder mukoide Degenerationen und Desorganisation der Kollagenstruktur mit Ausdünnung und Mikrorupturen beschrieben. Für Degenerationen prädisponiert ist eine »critical zone« der Sehnen etwa 1 cm vor ihrer Insertion, da hier die Vaskularisation durch Aufeinandertreffen der Endstrecken von muskulärer und ossärer Blutversorgung eingeschränkt ist. Die Degenerationen können bis zu Defekten der Rotatorenmanschette fortschreiten. Das Ausmaß der Degeneration korreliert hierbei negativ mit der rupturbe-
503 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
⊡ Abb. 23.38 Defektarthropathie der Rotatorenmanschette
a
b
⊡ Abb. 23.40a,b Bigliani-Typ III. a Röntgenbild im a.p.-Strahlengang, b »outlet view«
I
II
III
⊡ Abb. 23.39a–c Akromiontypen nach Bigliani. a Typ I, b Typ II, c Typ III
dingenden Kraft. Bei ca. 30% der über 70-Jährigen finden sich Rotatorenmanschettendefekte. Gut 70% aller Defekte sind jedoch symptomlos. Die Rupturen können bursaseitig, intratendinös oder gelenkseitig auftreten, gelenkseitige Rupturen sind hierbei mehr als doppelt so häufig wie bursaseitige. > Bei Rotatorenmanschettendefekten ist die Supraspinatussehne in ca. 95%, die Infraspinatussehne in ca. 40% und die Subskapularissehne in ca. 10% beteiligt. Etwa 50% aller kompletten Rupturen betreffen die Supraspinatussehne, isolierte Rupturen der Subskapularis- oder Infraspinatussehne treten nur in ca. 1–2% auf.
Die synonym verwendeten Begriffe der kompletten bzw. inkompletten oder Total- bzw. Partialruptur beziehen sich auf die Tiefenausdehnung der Defekte, haben aber keine Aussage zu deren Fläche. Erst bei kompletten oder totalen Defekten kommunizieren Gelenk und Bursaraum. Eine bogenartige, wulstige und gelenkseitig sichtbare Verstärkungsstruktur der Rotatorenmanschette wird als »rotator cable« beschrieben. Sie erstreckt sich von der Oberkante des Tuberculum minus zur Hinterkante des Tuberculum majus und dient im Sinne eines Brückentrageseils der Lastverteilung. Rotatorenmanschettendefekte im schwächeren und dünneren distalen Anteil können oft jahrelang symptomlos und unverändert bleiben. Bei einer Ausdehnung über diese Verstärkung hinweg können sich die Defekte durch den Muskelzug der Rotatorenmanschette und durch gedehnte oder verlagerte Bänder meist dreieckig ausweiten, sodass bei großen Defekten die lange Bizepssehne und der Humeruskopf selbst
Kontakt zur Fornix humeri haben und somit Schaden erleiden können. Der Humeruskopfhochstand wird begünstigt durch den Zug des M. deltoideus. Bei starken degenerativen Veränderungen mit Sekundärarthrose und teilweise Ausbildung einer zum Humeruskopf konkaven Fläche des Schulterdachs spricht man von der Rotatorenmanschettendefektarthropathie (⊡ Abb. 23.38). Als Ursache für Subakromialsyndrome existieren heute verschiedene teils kontroverse Theorien, die diskutierten Faktoren sind jedoch nicht monokausal, sondern letztlich in ihrem Zusammenspiel für die Subakromialsyndrome als verantwortlich zu sehen. Die insbesondere von Neer geprägte ImpingementTheorie sieht mechanische Gegebenheiten als ursächlich an. Der an sich schon enge sub(korako)akromiale Raum kann demzufolge entweder durch angeborene oder erworbene Veränderungen der randbildenden (knöchernen) Strukturen oder aber durch Volumenvermehrung der im Raum gelegenen Strukturen eingeengt werden. Neer leitete 3 Impingement-Stadien ab, die über ein Ödem zur Fibrose und letztlich zum Sehnendefekt führen. Unterstützt wird diese Theorie von Bigliani, der eine Korrelation von bestimmten prominenten Akromionformen mit gehäuften Rotatorenmanschettendefekten feststellen konnte (Typ I–III nach Bigliani; ⊡ Abb. 23.39 u. ⊡ Abb. 23.40). Andererseits werden die ossären Ausziehungen bzw. Akromionmorphologien und Ossifikationen des Lig. coracoacromiale infolge einer chondroiden Metaplasie auch als Sekundärfolge des pathologischen Kontaktes beschrieben. Ferner wären nach ausschließlicher Annahme der Theorie von Neer auch gehäufter bursaseitige Läsionen zu erwarten. Die von Uhthoff geprägte Theorie der Sehnendegeneration basiert auf der von Codman als »critical zone« beschriebenen Sehnenregion mit kritischer Vaskularisation, die für degenerative Schäden prädisponierend wäre. In diesem Zusammenhang ist die Arbeite von Riley (1994) zu nennen, der zeigen konnten, dass die Zusammensetzung des gelenkseitigen Sehnenanteils der einer Gleitsehne entspricht, der bursaseitige Anteil hingegen der
23
504
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
23
⊡ Abb. 23.41a,b Tendinosis calcarea. a a.p.-Projektion, b »outlet view«
a
einer Zugsehne, die entsprechend reißfester ist. Die inneren Anteile sind demzufolge vermehrten Scher- und Druckkräften ausgesetzt und eher faserknorpelig angelegt. Nach der von Nirschl geprägten Theorie der neuromuskulären Insuffizienz geht eine funktionelle Dezentrierung des Humeruskopfes durch mechanische, gewebliche und insbesondere neuromuskuläre Insuffizienz dem strukturellen Schaden voraus. Die Insuffizienz resultiert im pathologischen Kontakt mit dem Schulterdach und weiter in einer Impingement-Symptomatik. Insbesondere konstitutionell oder trainingsbedingte Dysbalancen zwischen Innen- und Außenrotatoren oder Rotatoren und Deltamuskel sind hier ausschlaggebend. Dysbalancen oder Muskelermüdungen können zu einer (kranialen) Translation des Humeruskopfes führen. Eine Verkürzung der Außenrotatoren oder eine Schrumpfung der hinteren Kapsel können insbesondere in Flexion ein anterosuperiores Höhertreten des Humerskopfes bewirken mit nachfolgender repetitiv-mikrotraumatischer Degeneration der Sehne und/oder Gelenkinstabilität. Umgekehrt kann eine konstitutionelle Laxität oder eine Gebrauchshypermobilität durch repetitive Überdehnung oder Traumatisierung ebenfalls zu einem generell oder lokal vermehrten Kapselvolumen und infolge dessen zu einer pathologischen Humeruskopftranslation führen. Aus diesem Grund kann bei professionellen Wurfsportlern, neben einer Auffaserung der posterosuperioren Rotatorenmanschettenunterfläche und posteroinferioren Labrumläsionen, oft der Symptomenkomplex des posterosuperioren Impingements beobachtet werden. Es ist gekennzeichnet durch eine ventrale Überdehnung des anteroinferioren Komplexes und durch begleitende Läsionen des vorderen Labrums und der langen Bizepssehne. Eine klassische Impingement-Symptomatik kann ferner bei der Tendinosis calcarea durch die Einengung des subakromialen Raums aufgrund des intratendinösen Kalkdepots ein-
b
schließlich seiner ggf. entzündlichen Umgebungsreaktion ausgelöst werden. Die Tendinosis calcarea stellt eine Sonderform der Rotatorenmanschettenerkrankungen dar. Sie hat einen Häufigkeitsgipfel zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr und betrifft fast ausschließlich die bursaseitige Supraspinatussehne, selten die Infraspinatus- oder Subskapularissehne. Die Verkalkungen sind zumeist monotop, können jedoch auch polytop, u. a. mit periartikulären Verkalkungen der Hüften sowie in einem höheren Prozentsatz beidseits vorkommen. Als pathogenetische Ursache wurde früher eine dystrophe Verkalkung von geschädigtem Gewebe gesehen, inzwischen wird eine Metaplasie von Tenozyten der Gleitsehnenzone in faserknorpeliges Gewebe als Ursache angesehen. Die bursaseitige Lokalisierung bleibt jedoch ungeklärt. Diese in der Regel selbstlimitierte Erkrankung verläuft in verschiedenen Phasen von indivuell unterschiedlich langer Dauer über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Unterschieden werden eine Formationsphase, eine Ruhephase und eine Resorptionsphase, die Depots bestehen aus gering kristallinem Kalziumhydroxylapatit. Schmerzen treten typischerweise in der Resorptionsphase auf. Die Läsionen im Bereich des Rotatorenmanschettenintervalls zwischen Supraspinatus und Subskapularis einschließlich der darin verlaufenden langen Bizepssehne werden gesondert betrachtet. Dabei wird die lange Bizepssehne auch als »fünfte Rotatorensehne« bezeichnet. Sie nimmt an den Alters- und Degenerationsprozessen der Rotatorenmanschette teil. Auch die lange Bizepssehne weist analog der Supraspinatussehne in den Kontaktzonen mit dem Humeruskopfknorpel und dem Sulkus eine wohl funktionell adaptierte faserknorpelige Beschaffenheit auf. Die Intervallzone stabilisiert die Schulter gegen eine vermehrte inferiore und posteriore Translation. Bei einem Riss der angrenzenden Supraspinatus- oder Subskapularissehne unter Beteiligung der Ligg. coracohumerale und glenohumerale superius kann die lange Bizepssehne durch Verlust ihrer intra-
505 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
▬ Subakromialsyndrom bei Rotatorenmanschettendefektarthropathie mit Sekundärathrose und Humeruskopfkranialisierung.
3 2 4
1
5
⊡ Abb. 23.42 Klassifikation nach Patte mit den Sektoren 1–5
artikulären Führung aus dem Sulcus bicipitalis (sub-)luxieren und schmerzhafte Reizzustände oder Rupturen aufweisen. Der Sulkus kann ferner anlagebedingt oder im Falle längerer vollständiger Luxation abgeflacht sein. z
Klassifikation
In der Literatur finden sich verschiedene Klassifikationen. Uhthoff grenzt ein primäres Impingement bei intrinsischen Veränderungen der im Subakromialraum gelegenen Strukturen (Bursa und Rotatorenmanschette) oder deren Begrenzungen (Akromion) von einem sekundären Impingement nach Traumen oder Frakturen ab. Neer grenzt ein Outlet-Impingement bei Einengung des subakromialen Raums von oben (Fornix humeri) von einem »Non-outlet«-Impingement durch Einengung des subakromialen Raums von unten (Frakturen, Schwellungen) ab. Die 3 Impingement-Stadien von Neer (Ödem, Fibrose, Sehnenläsion) wurden von Jobe ergänzt zu 5 Stadien, wobei Stadium III als Sehnenläsion <1 cm, Stadium IV als Sehnenläsion >1 cm und Stadium als Rotatorenmanschettendefektarthropathie klassifiziert wurden. Mehr klinisch-praktisch orientiert ist die folgende Einteilung der Subakromialsyndrome: ▬ einfaches Subakromialsyndrom mit klinischen Impingement-Zeichen ohne Bewegungseinschränkung ▬ adhäsives Subakromialsyndrom mit Bewegungseinschränkung ▬ Subakromialsyndrom bei Tendinosis calcarea mit und ohne Bewegungseinschränkung und Kalknachweis ▬ Subakromialsyndrom bei Rotatorenmanschettendefekt mit und ohne Bewegungseinschränkung
Es existieren unterschiedliche Einteilungen der Rotatorenmanschettendefekte: Nach Bateman wird ausschließlich die Ausdehnung des Defektes parallel zum Tuberculum majus gemessen (kleine Defekte bis 1 cm, mittelgroße von 1–3 cm, große bis 5 cm und massive Defekte größer 5 cm). Nach Patte (⊡ Abb. 23.42) erfolgt die Einteilung nach Lokalisation (Sektor 1–5, Gruppe I–IV) und Retraktiongrad (Grad IIII). Sektoren 1–3 sind anterosuperior, 2 und 3 superior, 4 und 5 posterosuperior, Gruppe I umfasst Partial- oder Komplettrupturen bis 1 cm sagittaler Ausdehnung, Gruppe II Totaldefekte des Supraspinatus, Gruppe III Totaldefekte von mehr als einer Sehne und Gruppe IV massive Defekte mehr als 2 Sehnen. Die Retraktionsgrade I–III beschreiben die Lage des Sehnen-KapselStumpfes zwischen Tuberculum majus und Humeruskopfkuppel, zwischen Humeruskopfkuppel und Gelenoidrand bzw. hinter dem Glenoidrand. Ersatzplastiken werden für Grad III benötigt. Nach Ellman werden Größe und Partial- sowie Totaldefekte berücksichtigt (Partialdefekte Grad I–III, Totaldefekte Stadium I–IV). Grad I beschreibt Defekte von weniger als 3 mm Weite und weniger als einem Viertel der Dicke, Grad II weniger als 6 mm und weniger als der Hälfte der Dicke und Grad III von mehr als der Hälfte der Dicke mit Angabe der Defektgröße als Fläche in mm2. Stadium I beschreibt einen Befall ausschließlich des Supraspinatus, Stadium II die Einbeziehung des Infraspinatus, Stadium III einen Defekt von 3 Sehnen und Stadium IV die Rotatorenmanschettendefektarthropathie. Bei der einfachen Gruppierung nach Snyder werden die Defekte nach A (artikularseitig), B (bursaseitig) und C (komplett) sowie nach Defektgröße I (bis 1 cm), II (bis 2 cm), III (bis 3 cm) und IV (größer 3 cm) eingeteilt. Die Läsionen der langen Bizepssehne beziehen sich auf die Topographie der Läsion (Zone I–IV). Zone I beinhaltet die Ursprungsläsionen bei SLAP-Läsionen I–IV, Zone II die intraartikulären Läsionen mit (Partial-)Rupturen mit oder ohne Rotatorenmanschettenläsionen, Zone III die im Sulkus gelegenen Läsionen wie (Sub-)Luxation mit oder ohne Intervallläsion und Zone IV die postsulkalen peripheren Rupturen. z
Klinik
Klassische anamnestische Angaben umfassen schmerzauslösende Bewegungen (insbesondere bei Abduktion und Überkopfarbeit oder bei kombinierter Außenrotation und Abduktion bei Wurfbewegungen), Schwäche bei bestimmten Bewegungen (insbesondere der Abduktion) und Nachtschmerzen, v. a. beim Liegen auf der betroffenen Schulter. Eine Schmerzausstrahlung kann nach proximal wie distal erfolgen. > Klassische klinische Zeichen sind ein gestörter skapulohumeraler Rhythmus mit Heben des Arms über verfrühte und vermehrte Skapulabewegung, ein mittlerer schmerzhafter Bogen, positive Impingement-Zeichen und isometrische Anspannungstests sowie gelegenlich Hypotrophien.
23
506
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
23
a
b
Positive Tests gehen mit Schmerz und/oder Schwäche einher. Eine schmerzbedingte Schwäche kann durch eine subakromiale Lokalanästhetikainfiltration ausgeschlossen werden. Klassische Impingement-Tests sind die Tests nach Neer und nach Hawkins. Klassische isometrische Tests sind der Jobe-Test, der »Palm-up«-Test und die Rotationen gegen Widerstand. Größere Defekte treten mit Lag-Zeichen, »Belly-off«- oder »Bellypress«-Zeichen oder einem »Drop-arm«-Zeichen in Erscheinung (Schultertests Abschn. 0). Insbesondere bei der Tendinosis calcarea sind Nachtschmerzen typisch, größere Kalkdepots gehen mit zumeist größeren Beschwerden einher und Depots unter 5 mm Größe sind häufig symptomlos. Schmerzbedingte Bewegungseinschränkungen sind häufig. Insgesamt sind die Verläufe jedoch sehr unterschiedlich und variabel. Neben hochakuten Formen existieren chronische Verläufe mit oder ohne rezidivierende akute Attacken. Differenzialdiagnostisch besonders wichtig sind die hochakuten Resorptionsphasen der Tendinosis calcarea, die mit Überwärmung und Rötung sowie auch mit Erhöhung von Temperatur und Entzündungslabor bei kristallinduzierter Tendinitis und Bursitis einhergehen können. Am Ende des Krankheitsprozesses steht fast immer ein funktionsfähiges schmerzfreies oder -armes Gelenk. Eine deutliche Schmerzreduktion nach subakromialer (möglichst sonographisch gesteuerter) intrabursaler Infiltration ist charakteristisch für Subakromialsyndrome. Ebenso können das Akromioklavikulargelenk oder das Glenohumeralgelenk selbst infiltriert werden, auch zervikale Wurzelblockaden kommen differenzialdiagnostisch in Betracht. Intraartikulär gelegene Impingement-artige Pathologien oder gelenkseitige Partialrupturen sprechen auf intraartikuläre Injektionen an. Eine proximale Ruptur der langen Bizepssehne tritt zumeist spontan oder nach Bagatelltraumen in der 6. oder 7. Lebensdekade auf. Die Oberarmkontur präsentiert sich mit einem prominenten, schlaffen distalisierten Muskelbauch. Eine signifikante Funktionseinbuße tritt in der Regel nicht auf oder geht zumeist nach kurzer Zeit in einen beschwerdefreien oder -armen Zustand über. Nicht selten bemerken die Betroffenen die Rupturen nicht einmal. Anhaltende Beschwerden sind meist Ausdruck einer Begleitpathologie der Rotatorenmanschette. z Diagnostik z z Bildgebende Verfahren
c ⊡ Abb. 23.43a–c Rotatorenmanschettenruptur. a Sonographie, b Arthroskopie, c intraoperativ
Standardbildgebung in der Schulterdiagnostik ist die Sonographie, die strahlenunabhängig und kostengünstig einen ersten Anhalt für pathologische Flüssigkeitsansammlungen (Bursitiden, Ergüsse), Schallschatten (Kalkdepots), Unregelmäßigkeiten oder Kaliberschwankungen der Rotatorenmanschette (Rupturen; ⊡ Abb. 23.43) und langen Bizepssehne geben kann. Ein weiterer großer Vorteil der Sonographie ist die dynamische Darstellung im Seitenvergleich. Bei Totalrupturen hat die Sonographie eine Sensitivität und Spezifität von über 90%. Konventionell radiologisch werden klassischerweise eine a.p.-, eine transaxilläre und/oder eine Y-Aufnahme als axiale Skapulaaufnahme durchgeführt. Zur Darstellung kommen Kalkdepots und Akromionpathologien wie Sporne, die insbesondere in der Y-Aufnahme beurteilt werden können, sowie pathologische Sklerosierungen oder ein Humeruskopfhochstand
507 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Subakromialsyndrom, (keine Verkalkung der RM) Nachtschmerz
NSAR ggf. in Kombination mit schwachen Opioiden
Funktionsschmerz
physikalische Therapie (v.a. Wärme und Ultraschall)
Krankengymnastik
keine Besserung innerhalb von 2 Wochen oder starke Beschwerden > 1 Monat
signifikante Besserung innerhalb von 3 Monaten (VAS<50%); Fortsetzung
subakromiale Steroidinjektion (1-ca. 3x / 6 Monate)
subjektiv unzureichende Besserung innerhalb von 6 Monaten: Aktivitätsmodifikation (z.B. Sport) oder OP- Indikation prüfen
keine signifikante Besserung innerhalb von 3 Monaten (VAS>50%): OP-Indikation prüfen
subjektiv unzureichende Besserung innerhalb von 6 Monaten: OP-Indikation prüfen
⊡ Abb. 23.44 Algorithmus zur konservativen Therapie der Subakromialsyndrome nach Gohlke und Hedtmann. RM Rotatorenmanschette, VAS visuelle Analogskala
bei ausgeprägten Subakromialsyndromen. Die Kalkdepots können dicht und scharf begrenzt bis tranparent und unscharf erscheinen (Typ I–IV).
Glenohumeralgelenks ist Ziel der Therapie der Subakromialsyndrome. z z Konservative Therapie
Phasen der Tendinosis calcarea nach Uhthoff
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
I: gesunde Sehne II: präkalzifizierende Phase, fibrokartilaginäre Metaplasie III: Kalzifizierungsphase IV: Ruheperiode V: Resorptionsphase VI: Postkalzifizierungsphase, Regenerationsphase
Arthrographien sind nur bei kontinuitätsdurchtrennenden Totaldefekten aussagekräftig und wurden durch die MRT und hier insbesondere die Möglichkeit der zusätzlichen Kontrastmittelapplikation verdrängt. Die MRT stellt zuverlässig alle Weichteil- und Knochenstrukturen mit deren Pathologien dar. Ein CT kann allenfalls ergänzend bei Subakromialsyndromen mit instabilitätsassoziierten Syndromen oder posttraumatischen knöchernen Veränderungen sinnvoll sein. z
Therapie
Die Restitution einer schmerzfreien und insbesondere balancierten Funktion der Schulter mit permanenter Zentrierung des
Der Großteil der Subakromialsyndrome kann konservativ mit analgetisch-antiphlogistischen Maßnahmen und insbesondere physiotherapeutischer Anleitung angegangen werden (⊡ Abb. 23.44). Bei Tendinitiden oder Bursitiden sind orale und topische Gabe von NSAID und insbesondere lokale Infiltrationen Erfolg versprechend. Ziel der Krankengymnastik ist ein Ausgleich der auslösenden Dysbalancen mit Verbesserung des skapulothorakalen Rhythmus und Kräftigung oder auch Detonisierung der primären und sekundären Stabilisatoren. Die primären Stabilisatoren sind die Muskeln der Rotatorenmanschette selbst. Zu den sekundären Stabilisatoren zählen die Mm. pectoralis major, latissimus dorsi und teres major. Letztere wirken insbesondere durch ihre kaudalisierende Funktion auf den Humeruskopf. Letztlich sind alle für die Zentrierung des Humeruskopfes verantwortlich, jedoch nur in einem abgestimmten Zusammenspiel effektiv. Bei großen Defekten müssen Ersatzmuster geübt werden. Eine begleitende physikalische Therapie mit Ultraschallbehandlung, Iontophorese oder Elektrotherapie ist unterstützend sinnvoll. Die Extrakoporale Stosswellentherapie (ESWT) wird insbesondere in der Therapie der syptomatischen Tendinosis
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
calcarea neben nozizeptiven Effekten mit dem Ziel der Desintegration von Kalkdepots mit guten Erfolgen eingesetzt. Zur konservativen Therapie zählt das sog. »needling« bei der Tendinosis calcarea, einer sonographisch kontrollierten Nadelpunktion der Kalkdepots mit Versuch der Aspiration. Das »needling« kann die Resorption beschleunigen oder den Eintritt in die akute Resorptionsphase auslösen und ist insbesondere für bereits transparente oder unscharf begrenzte Depots zu empfehlen. Die klinischen Erfolge des »needlings« liegen bei über 70%. Mit der Resorption sind typischerweise Schmerzen oder eine Schmerzverstärkung verbunden. Die Erfolge der konservativen Therapie werden in der Literatur mit 30–90% beziffert. Sie ist insbesondere bei Patienten unter 60 Jahren mit Symptomdauer unter 4 Wochen vielversprechend.
AHA q 7mm
Faktor Alter: „zu alt“
Rekonstruktion
Arthroskopie/ASAD
Ausnahmen u SSP+ISP-Atrophie u keine Motivation u refraktäre Frozen shoulder
z z Operative Therapie > Operative Maßnahmen sollten bei Subakromialsyndromen zurückhaltend und erst nach frustraner mindestens mehrwöchiger konservativer Therapie gestellt werden.
Sie umfassen klassische Dekompressionsoperationen, Bursektomien, Entfernung von Kalkdepots und Rekonstruktionen der Rotatorenmanschette (⊡ Abb. 23.45).
AHA < 7mm
Faktor Alter: „zu jung“
Ausnahmen
Dekompressionsoperationen
Die Dekompressionsoperationen werden zumeist arthroskopisch durchgeführt. Sie umfassen die einfache Dekompression mit Bursektomie und ggf. Resektion des Lig. coracoacromiale, die erweiterte Dekompression mit anteriorer Akromioplastik (Resektion der anterioren Akromionunterfläche) bis hin zur globalen Erweiterung mit Resektion von kaudalen Akromioklavikulargelenksosteophyten bzw. des Akromioklavikulargelenks. Die einfache Dekompression bleibt meist jüngeren Patienten ohne akromiale Spornbildung vorbehalten. Die arthroskopische Akromioplastik erfolgt mit dem »acromionizer«, einer scharfen Tannenzapfenfräse, meist über ein laterales Portal. Die offene Vorgensweise kann über einen Wechselschnitt (Hautschnitt genau lateral der korakoakromialen Linie mit Längsspaltung der Deltafaszie) oder einen Längsschnitt im Verlauf der Deltafasern erfolgen. Sie umfasst nach Abschieben der Deltotrapezoidfaszie eine Resektion von 5–10 mm des Lig. coracoacromiale sowie tangentiale Abmeißelung eines Keils mit ventraler Basis von 5–10 mm am anterokaudalen Akromion. Nach reinen Dekompressionsoperationen ist eine frühfunktionelle Nachbehandlung möglich. Das arthroskopische oder offene Ausschälen von Kalkdepots ist für größere, scharf begrenzte Depots mit entsprechender Klinik zu empfehlen. Therapie der Rotatorenmanschettendefekte
Die operative Therapie der Rotatorenmanschettendefekte steht in der Regel ebenfalls hinter konservativen Therapieansätzen zurück und erfolgt bei persistierender Schwäche und Schmerzen trotz konservativer Therapie. Die Defektgröße, der Unfallmechanismus, das Alter des Patienten und die entsprechende Motivation in Anbetracht der aufwendigen Nachbehandlung
Arthroskopie
u AHA 5-7mm u gute Motivation u passiv frei u hoher Funktionsanspruch
u ASAD u AHA > 5mm
Ausnahme
Hemiarthroplastik u Defektarthropathie u AHA < 5mm u CAVE: OSAD
⊡ Abb. 23.45 Algorithmus zur operativen Therapie der Subakromialsyndrome nach Habermeyer. AHA akromiohumeraler Abstand, ASAD arthroskopische subakromiale Dekompression, ASK Arthroskopie, ISP Infraspinatus, OSAD offene subakromiale Dekompression, RMR Rotatorenmanschettenruptur, SSP Supraspinatus
müssen bei der Indikationsstellung mit einbezogen werden. Kleinere, biomechanisch kompensierbare Defekte (»functional tears«) können bei entsprechender Symptomatik und reduzierter Anspruchshaltung des Patienten auch durch reine Dekompression angegangen werden. Prognostisch ungünstige Voraussetzungen im Hinblick auf den Operationserfolg sind eine bereits bestehende Muskelhypotrophie und starke Retraktion der defekten Sehne, eine Mitbeteiligung des M. subscapularis und eine bereits eingetretene
509 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
a
deutliche Humeruskopfdezentrierung nach kranial (akromiohumeraler Abstand im a.p.-Röntgenbild <7 mm) sowie eine Defektentstehung durch Bagatelltraumen bei vorgeschädigten Sehnen, insbesondere beim älteren Menschen. Bei massiven Defekten von 2 oder mehr Sehnen wiederum sind operative Maßnahmen meist gewinnbringend. Die Rekonstruktionen können eine einfache intratendinöse Wiederherstellung der Kontinuität, Reinsertion am Ansatz, Transposition von intakten Rotatorenmanschettenanteilen oder benachbarten Muskeln (M. latissimus dorsi oder pectoralis major) bedeuten. Bei Transpositionen ist eine vollständige Funktionsübernahme meist nicht zu erwarten und bei Nahtinsuffizienz die Restfunktion des zuvor nicht betroffenen Rotatorenmanschettenanteils gefährdet. Ziele der Rekonstruktion sind die Wiederherstellung der Funktion (durch Naht oder Reinsertion), die Zentrierung des Humeruskopfes und die Revitalisierung von Sehnen und Kapsel. > Die Rekonstruktionen werden erst nach 2–3 Monaten ausreichend stabil, daher ist eine konsequente Nachbehandlung entscheidend. Die volle urspüngliche Festigkeit kann jedoch zumeist nicht erreicht werden. Rotatorenmanschettenrekonstruktion
b
c ⊡ Abb. 23.46a,b Zugang zum Subakromialraum und zur Rotatorenmanschette. a Säbelschnitt, b im Verlauf der Deltafasern. (Aus: Kohn u. Pohlemann 2009)
Bei der Rotatorenmanschettenrekonstruktion kommen rein arthroskopische, arthroskopisch-assistierte mini-offene und rein offene Verfahren (⊡ Abb. 23.49) zum Einsatz. Der Zugang (⊡ Abb. 23.46) der offenen Verfahren erfolgt im Verlauf der Spaltlinien der Haut oder über den Standardzugang nach Kölbel von vorne und oben durch den Deltamuskel bzw. durch Schnitte in Faserrichtung des Deltamuskels wie den Säbelschnitt. Letztere sind technisch einfacher, aber wegen fehlender Berücksichtigung der Spalthautlinien kosmetisch ungünstiger. Bei der Spaltung des Deltamuskels muss ein Abstand von 4–5 cm zum humeralen Ansatz gewährleistet sein, um den N. axillaris zu schonen. Bei großen Defekten mit Beteiligung des M. subscapularis ist ein zusätzlicher Zugang im Sulcus deltoideopectoralis (kombinierter Zugang nach Kölbel) zu erwägen. Eine Bursekomie ist nur bei entsprechender Entzündung angeraten, das »viszerale« Blatt am Bursaboden sollte im Hinblick auf ihre Mitbeteiligung an der Gefäßversorgung der Rotatorenmanschette erhalten bleiben. Eine Dekompression wird als klassische vordere Akromioplastik oder limitierte Dekompression mit Abtrennung des Lig. coracoacromiale, ggf. mit Abtragung von akromioklavikulären Osteophyten arthroskopisch oder über einen minioffenen Zugang vorgenommen (⊡ Abb. 23.47). Eine zusätzliche Bizepstenodese oder Resektion der lateralen Klavikula wird nur bei entsprechender Symptomatik empfohlen, entgegen der früher standardmäßig empfohlenen Vorgehensweise von Nevasier (»4-in-1-procedure«) oder Patte. Entscheidend für die Rekonstruktion der Rotatorenmanschette ist die manuelle und visuelle Identifikation aller beteiligten Strukturen und Schädigungen. Durch Rotation des Arms muss die Ausdehnung des kompletten Defekts mit Größe, Ansatz und Form sowie ferner die Bizepssehne hervorgezogen und
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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⊡ Abb. 23.47a–c Dekompression. a, b Endoskopisch subakromial, c mini-offene anteriore Akromioplastik. (Aus: Kohn u. Pohlemann 2009)
b
c
inspiziert werden (zur Einteilungen siehe oben im Kapitel Klassifikation). Als nächster Schritt folgt die Mobilisation der retrahierten, hypotrophierten, teils bindegewebig fixierten Strukturen. Dazu wird die Rotatorenmanschette an ihrer Oberseite von dorsal nach ventral und von lateral nach medial von allen umgebenden Strukturen und Adhäsionen befreit. Gegebenfalls kann auch eine Mobilisation an der Unterseite mit Abschieben der Kapsel erfolgen, was einen zusätzlichen Gewinn von bis zu 1 cm Länge bedeuten kann.
! Cave Vorsicht ist bei Mobilisationen jenseits 2 cm des Glenoidrands und am Glenoidhals geboten, da hier eine Schädigung des N. suprascapularis erfolgen kann.
Eine Anfrischung der Sehnenränder ist zumeist nicht nötig oder nur äußerst sparsam durchzuführen. Gegebenenfalls müssen Längsinzisionen der Rotatorenmanschette vorgenommen werden, um eine spannungs- und wulstfreie Adaptation zu ermöglichen. Stark ausgedünnte Partialdefekte müssen vor
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a
b
c
⊡ Abb. 23.48a–c Mobilisation der retrahierten Sehne über einen Entlastungsschnitt
ihrer Rekonstruktion vervollständigt werden (⊡ Abb. 23.48 u. ⊡ Abb. 23.49). Die Verankerung der Sehnen mit allen Schichten erfolgt am Humeruskopf über transossäre Nähte (klassische Matratzennaht, schlingenartige Naht nach Allen-Mason oder Flaschenzugnähte nach Kölbel) oder spezielle Fadenanker. Die Verankerung sollte hierbei möglichst spannungsfrei sein. Nach Refixation der Sehnenränder erfolgt der Verschluss der gesamten Rotatorenmanschette. Dies beinhaltet Längsinzisionen sowie Lücken zwischen den ventralen Sehnen und dem Lig. coracohumerale, die durch Mobilisation und ggf. nach Loslösung von der Korakoidbasis wieder verschlossen werden müssen. Bei Sehnentranspositionen muss der Nutzen einer eventuellen Ablösung einer intakten Sehne der Gefahr einer Nahtinsuffizienz gegenübergestellt werden. Die Sehnentranspositionen mit lyophilisierter Dura, Fascia lata oder Leichensehnen beitzen historischen Charakter. Auch der Einsatz synthetischer Materialien wie Dacron hat sich nicht bewährt. Die Transposition von extrinsischen Muskeln und Sehnen ist schwierig und nur großen Defekten und Funktionsverlusten vorbehalten. Hier kann der Transfer des M. latissimus dorsi nach Gerber als Außenrotator für den M. supra- oder Infraspinatus bei intaktem M. subscapularis erfolgen, der Transfer des M. pectoralis major kann bei Defekten des M. subscapularis und anterioren Instabilitäten erwogen werden. Der Transfer anderer extrinsischer Muskeln hat sich nicht bewährt. Insgesamt sind die Fallzahlen klein. Zum Abschluss muss die subakromial freie sowie spannungsfreie Rotation unter der Fornix humeri begutachtet werden oder ggf. um eine ausgedehntere Akromioplastik oder eine Korakoidplastik (Abmeißeln des laterodorsalen Randes) erweitert werden. Hierbei wird das Ausmaß der postoperativ möglichen Bewegungsumfänge unter Berücksichtigung der Qualität der Gewebe festgelegt.
Die Nachbehandlung der Rekonstruktionen erfordert eine frühe Mobilisation unter ausreichender Analgesie (orale Analgetika und Infusionspumpen oder subakromiale bzw. interskalenäre Verweilkatheter) zur Verhinderung von Adhäsionen. Die Mobilisation erfolgt in den ersten 6 Wochen vorwiegend passiv mit allenfalls leichten isometrischen oder aktiv-assistiven Übungen. Nach dieser primären Phase kann dann mit zunehmender aktiv-assistiver oder aktiver Mobilisation begonnen werden. > Die Festigkeit der Sehnen-Knochen-Verankerung erreicht nach 12 Wochen etwa 50%. Kräftigende Maßnahmen werden daher frühestens 3 Monate postoperativ empfohlen. Da die Festigkeit der Sehnen-KnochenVerankerung erst nach etwa 6 Monaten 90% erreicht, sollten sportliche und körperliche Aktivitäten erst nach dieser Zeit aufgenommen werden.
Eine Protektion vor aktiven Bewegungen wird durch die konsequente Lagerung des Arms in speziellen Verbänden gewährleistet. Im Falle einer gänzlich spannungsfreien Rekonstruktion kann dies mit einem konfektioniertem Gilchrist-Verband bei am Körper angelegtem Arm gewährleistet werden, zur weiteren Spannungsreduktion kann die Anlage von Verbänden mit Abduktionseinrichtungen (Schaumstoff- oder luftgefüllte Kissen) erwogen werden. Abduktionen über 30° bringen hierbei jedoch keine weitere Spannungsreduktion. Die Dauer der Behandlung in Abduktion beträgt in der Regel 6 (4–8) Wochen (außer bei Körperpflege und Krankengymnastik), gefolgt von 2–3 Wochen nur nachts. Therapie der Intervalläsion
Sie erfolgt durch einen Verschluss über Nähte in Außenrotation des Arms.
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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b
d
c e ⊡ Abb. 23.49a–e Rotatorenmanschettenrekonstruktion – offene Operationstechnik. a L-förmige Supraspinatussehnenruptur. Blick auf die rechte Schulter von vorne oben. b Beurteilung der langen Bizepssehne. c Armierung der Sehne, Knochennut und Bohrlöcher im Tuberculum majus. Das Insert zeigt Nut und Bohrlöcher im Frontalschnitt und die Armierungstechnik nach Mason-Allen. d Schnürsenkelnaht und Mason-Allen-Nähte. e Reinserierte, verschlossene Supraspinatussehen. Das Insert zeigt den in die Knochennut gezogenen Sehnenstumpf und den transössären Fadenverlauf im Frontalschnitt. (Aus: Kohn u. Pohlemann 2009)
513 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Therapie der luxierten Bizepssehne
Die Therapie der luxierten Bizepssehne oder deutlich degenerativ veränderten langen Bizepssehne besteht in einer Tenotomie oder Tenodese. Für die Tenodese werden in der Literatur unterschiedliche Verfahren empfohlen. In der Technik nach Froimson wird das Sehnenende mit sich selbst verknotet und in einem schlüssellochartigen Kortikalisfenster im Sulkus eingehängt. Alternativ kann die Sehne mit transossären Nähten durch das Tuberculum minus refixiert werden oder nach knöcherner Anfrischung mit einem Fadenanker im Sulkus befestigt werden. Die Technik nach Post und Benca stellt eine Kombination aus transossärer Fixierung und Kortikalisfenster dar, allerdings erfolgt in diesem Fall keine Verknotung des Sehnenendes (⊡ Abb. 23.50). Bei allen Techniken wird der intraartikuläre Teil der langen Bizepssehne resiziert. Eine vereinzelt beschriebene Tenodese auf die kurze Bizepssehne kann funktionell nicht empfohlen werden. Die Therapie bei SLAP-Läsionen wird weiter unten beschrieben ( Abschn. 23.2.7). Therapie der Rotatorenmanschettendefektarthropathie
Schwierigkeit bereitet die Therapie der Rotatorenmanschettendefektarthropathie mit kranialer Subluxation des Humeruskopfes, großen, weit retrahierten Sehnenstümpfen und sekundärarthrotischen Veränderungen. Da rekonstruktive Verfahren zumeist scheitern, wird inzwischen der Einsatz einer inversen Prothese (inzwischen meist Großkopfprothese) favorisiert, die durch Verlagerung des Drehzentrums den Hebelarm des M. deltoideus verbessert und somit sowohl funktionell als auch symptomatisch eine Verbesserung bringt. Demgegenüber stehen ein relativ großer glenoidaler Substanzverlust und das Problem der Lockerung. Erfolgsraten
Der Vergleich der Erfolgsraten nach konservativer (42–82%) versus operativer (82–94%) Therapie wird in der Literatur zumeist mit besseren Ergebnissen für die operative Therapie an-
gegeben, wobei die Ausgangskollektive oft differieren. Operative Maßnahmen sind zurückhaltend zu stellen und in der Regel erst nach mindestens mehrwöchiger, frustran verlaufener konservativer Therapie indiziert. Ausnahmen sind frische traumatische Rotatorenmanschettenrupturen von Patienten unter 40 Jahren. Patienten zwischen 40 und 60 Jahren sowie generell auch die gelenkseitigen Partialrupturen stellen eine Grauzone dar. Hier muss individuell anhand von Defektgröße, funktionellem Defizit und Anspruch des Patienten entschieden werden. Partialrupturen weisen zwar unter konservativer Therapie deutliche klinische Besserungen auf, neigen jedoch in der Vielzahl der Fälle zu Größenzunahme. Auch ist die Rekonstruktion von Partialdefekten den reinen Dekompressionsoperationen deutlich überlegen. Grundsätzlich gilt für das funktionelle Outcome, dass die Größe des Defekts mit dem Endergebnis negativ korreliert. Die Dekompressionsoperationen bei intakter Rotatorenmanschette liefern arthroskopisch wie offen identisch gute bis hervorragende Ergebnisse von über 80%, sodass nur wegen der Vorteile der frühfunktionellen Therapie den endoskopischen Verfahren der Vorzug zu geben ist. Bei Partialdefekten fällt die Erfolgsrate mit 70–80% etwas geringer aus, bei professionellen Wurfsportlern beträgt sie jedoch nur um die 50%. Bei kompletten Rotatorenmaschettendefekten werden operativ nur in gut 60% der Fälle erfolgreiche Resultate beschrieben, wobei hier die rekonstruktiven Verfahren den reinen dekomprimierenden Verfahren deutlich überlegen sind. Dekomprimierende Maßnahmen sollten insbesondere bei Partialdefekten begleitend durchgeführt werden. Präoperativ ist generell bei rekonstruktiven Maßnahmen ein zumindest passiv freier Beweglichkeitsumfang ideal, was durch physiotherapeutische Maßnahmen oder ggf. durch Distensionsarthroskopie angestrebt werden sollte. > Die Erfolgsrate der Operation wird leider auch deutlich durch Ansprüche auf Arbeitsunfallentschädigung beeinflusst. Deren Ergründung ist nicht immer klar und erfordert besondere Sensibilität. z z Komplikationen
Als Komplikationen der Operationen sind (ungewollte) Destabilisierungen des Akromioklavikulargelenks und Infektionen möglich, insbesondere aber Rezidive oder sekundäre Einsteifungen. Auf der anderen Seite stehen Fehlschläge aufgrund ungenügender operativer Intervention, die aus unterbliebener Rekonstruktion der Rotatorenmanschette, übersehener (zusätzlicher) Pathologie des Akromioklavikulargelenks oder der langen Bizepssehne resultieren. Ferner kann eine unzureichende wie auch eine zu ausgedehnte Akromioplastik, letztere durch resultierende Ursprungsinsuffizienz des Deltamuskels, eine postoperative Beschwerdepersistenz hervorrufen. a
b
23.2.5 z
⊡ Abb. 23.50a,b Refixierung der langen Bizepssehne im Sulkus in der Technik nach Post und Benca
»Frozen shoulder«
Definition
Der Begriff der »frozen shoulder« wurde 1934 von Codman eingeführt und beschreibt ein bis heute in Ätiologie, Pathoge-
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
nese und letztlich sogar Terminologie unklares, zumeist selbstlimitierendes Syndrom, bei dem eine aktive und passive Bewegungseinschränkung im Vordergrund steht und dafür keine weiteren Ursachen gefunden werden. Terminologisch wurden zeitweise Begriffe wie die adhäsive oder irritative Kapsulitis oder »painful shoulder stiffness« synonym verwendet. Abzugrenzen sind jedoch diverse Differenzialdiagnosen, die einer anderen Therapie bedürfen ( Abschn. 0, Differenzialdiagnosen). Vorgeschlagen wird die Unterscheidung einer primären »frozen shoulder« ohne Hinweise auf vorangegangene Traumen von einer sekundären »frozen shoulder« nach Prellungen, Luxationen, Frakturen oder Operationen. z
Epidemiologie
Die Inzidenz beträgt 2–5% in der Normalbevölkerung und bis zu 36% bei insulinpflichtigen Diabetikern. Es besteht keine sinifikante Geschlechts- oder Seitenbevorzugung. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologisch konnte bis heute nur eine signifikant erhöhte Inzidenz bei Patienten mit Hyperlipidämie sowie Diabetes mellitus, insbesondere insulinpflichtigem Diabetes, aufgezeigt werden. Dispositionell wurden ferner gehäuft psychische oder auch genetische Konstitution beschrieben und natürlich die (Schulter-) Immobilisation an sich. Pathogenetisch führt eine Synovitis zu Adhäsionen und Kapselkontrakturen, die insbesondere im Bereich des Rotatorenmanschettenintervalls sowie des Lig. coracohumerale auftreten. Histologisch wurden Vergleiche zum M. Dupuytren gestellt. z
Klinik
In der Regel verläuft die Erkrankung in 3 Phasen, der »freezing shoulder«, der »frozen shoulder« und der »thawing shoulder«. Die »freezing shoulder« stellt eine anfängliche Schmerz- und Einsteifungsphase unterschiedlicher Länge und Ausprägung dar. Sie ist insbesondere durch nächtliche Schmerzen gekennzeichnet. In der Folge kommt es meist zu einer rasch zunehmenden Bewegungseinschränkung in der klassischen Reihenfolge: zunächst Außenrotation, dann Abduktion und zuletzt Innenrotation. Die Phase der »frozen shoulder« ist von starker Bewegungseinschränkung und abnehmender glenohumeraler Schmerzhaftigkeit gekennzeichnet. Die ausgeprägte funktionelle Einschränkung bedingt jedoch häufig Hypotrophien der Schultermuskulatur und fehlhaltungs- bzw. kompensationsbedingte zervikogene oder thorakogene Schmerzen. Eine glenohumerale Abduktion unter 40° und erhebliche Außenrotationsdefizite bis hin zur Innenrotationskontraktur fallen auf. Druckschmerzen sind in der zweiten Phase selten oder rückläufig. Die Rückbildung der Bewegungseinschränkung in der Phase der »thawing shoulder« ist hinsichtlich Dauer und Endresultat individuell sehr unterschiedlich. Es können deutliche Bewegungsdefizite zurückbleiben. z
Diagnostik
Laborchemisch finden sich meist unauffällige Parameter, allerdings sollte ein Diabetes mellitus geprüft werden. Die Diagnose stellt sich anamnestisch und klinisch.
z z Bildgebende Verfahren
Nativradiologisch zeigen sich außer einer möglichen geringen Osteopenie in der Regel unauffällige Verhältnisse, auch sonographisch lassen sich nur geringe Veränderungen darstellen. MRT und Arthrographie hingegen lassen diagnostischpognostische Aussagen zu, die Szintigraphie ist für die »frozen shoulder« eher unspezifisch, kann jedoch differenzialdiagnostisch in Abgrenzung zu einer Reflexdystrophie hinzugezogen werden. z
Differenzialdiagnosen
Abgegrenzt werden müssen sekundäre Schultersteifen beim adhäsiven Subakromialsyndrom, bei adaptiven Muskelverkürzungen, chronischer Fehlhaltung, Kontrakturen, nicht bursogenen Weichteiladhäsionen, Kalkdepots mit bursomechanischer Wirksamkeit, Frakturen, Dislokationen, Omarthrose, Arthritiden anderer Genese (Rheuma, Psoriasis etc.), Zervikalsyndromen, Osteonekrosen, Tumoren, psychosomatoformen Störungen und Reflexdystrophien. z
Therapie
Die Therapie orientiert sich an der klinischen Symptomatik und den Ansprüchen und Voraussetzungen der Patienten. ! Cave Physiotherapeutische Maßnahmen sind der Grundpfeiler der Therapie. Allerdings muss die Intensität insbesondere in der Frühphase vorsichtig und schmerzadaptiert erfolgen, da ein zu aggressives Vorgehen durch Irritation zur Verschlimmerung führen kann.
Eine konsequente begleitende Analgesie ist daher meist unverzichtbar. Mittel der Wahl in der Frühphase sind intraartikuläre oder auch intrabursale (Kortikoid-)Infiltrationen, die eine schnelle Symptomlinderung erbringen. Operative Maßnahmen wie die (meist arthroskopische) Kapseldistension sind zurückhaltend zu stellen, eine Narkosemobilisation mit Durchtrennung diverser Kapsel- und Bandanteile ist nicht mehr indiziert. Die operativen Maßnahmen bleiben nur bei ausgeprägten, langen und konservativ frustranen Verläufen zu erwägen, da sie mit deutlichen Risiken vergesellschaftet sind (Frakturen, intraartikuläre Flurschäden, iatrogene nervale Läsionen). Sie verbessern zwar die Schmerzen und Beweglichkeit, verkürzen aber in der Regel nicht den Krankeitsverlauf.
23.2.6
z
Degenerative Erkrankungen des Glenohumeralgelenks
Ätiologie und Pathogenese
Die Arthrose des Glenohumeralgelenks entsteht vorwiegend bei einem Missverhältnis zwischen Beanspruchung und Beschaffenheit der einzelnen Gelenkanteile. Man unterscheidet eine primäre von einer sekundären Arthrose. Die häufigsten Ursachen der sekundären Arthrose sind eine proximale Humerusfraktur, eine Humeruskopfnekrose, die rheumatoide Arthritis, die glenohumerale Instabilität sowie die Rotatorenmanschettendefektarthropathie.
515 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Die genauen Mechanismen insbesondere der primären Arthrose sind nach wie vor nicht geklärt, diskutiert wird ein multifaktorielles Geschehen. Gemeinsam ist beiden Formen der Arthrose eine fortschreitende Chondromalazie des Humeruskopfes und des Glenoids. Am Humeruskopf ist vor allen Dingen die glenohumerale Kontaktzone zwischen 60° und 90° Abduktion betroffen, da bei diesem Bewegungsbogen der größte Anpressdruck herrscht. Im Bereich des Glenoids manifestiert sich die Arthrose insbesondere im posterioren Anteil: Hier kann sich ein vermehrter sog. hinterer Abrieb entwickeln. Die Rotatorenmanschette ist bei der primären Arthrose oft intakt. Wie bei Arthrosen an Knie-, Hüft- und Ellenbogengelenk kann es auch im Rahmen der Omarthrose zur Bildung seltener freier oder adhärenter Gelenkkörper kommen. Diese finden sich vorrangig im axillären Recessus oder in der Bursa subscapularis oder subcoracoidea. Die Veränderungen im Rahmen einer sekundären Omarthrose sind abhängig von der zugrunde liegenden Ursache. Nach einer proximalen Humerusfraktur kann es zu einer Ausheilung in Fehlstellung kommen, in deren Folge sich eine vorzeitige Arthrose aufgrund einer möglichen Stufenbildung im Bereich der Gelenkflächen entwickelt. Selbst bei einer nur minimal dislozierten Fraktur der Tuberkula (3–5 mm) können sich in der Folge, aufgrund der veränderten Biomechanik des Glenohumeralgelenks, Beschwerden im Sinne eines ImpingementSyndroms einschließlich einer Verschlechterung der aktiven Beweglichkeit entwickelt. Die rheumatischen Arthritiden führen über chronisch rezidivierende Aktivitätsschübe zu einer eher langsam fortschreitenden Ausbildung von Erosionen und Chondromalazie. Die Luxationsarthropathie stellt eine spezielle Form der Sekundärarthrose bei glenohumeraler Instabilität dar. Sie kann auch postoperativ auftreten, z. B. bei schwierigen Rekonstruk-
tionen sowie Probemen in der Nachbehandlungsphase mit mechanischen Folgen der Operationstechnik oder Komplikationen durch eingebrachtes Material. Als Defektarthropathie bezeichnet man die Sekundärarthrose bei großen Defekten der Rotatorenmanschette. Sie entsteht im Rahmen eines Massendefekts, der zusätzlich zur Supraspinatussehne auch die Infraspinatussehne und die Subskapularissehne einschließen kann. Es resultiert eine zunehmende kraniale Instabilität mit Kranialisierung des Drehzentrums unter den Deltamuskel und das Akromion. In der Folge entwickelt sich eine zunehmende sekundäre Arthrose des Glenohumeralgelenks. z
> Die Patienten können trotz fortgeschrittener Veränderungen im Röntgenbild zum Teil klinisch beschwerdefrei oder -arm sein, da das Schultergelenk in der Regel hängend, also distrahierend beansprucht wird. z
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⊡ Abb. 23.51a,b Omarthrose. a, Präoperativ, b Schulterendoprothese
Diagnostik
Bei der bildgebenden Diagnostik steht als Routinediagnostik die Röntgendarstellung des Schultergelenks in mindestens 2 Ebenen im Vordergrund. In der a.p.-Aufnahmetechnik können v. a. der Grad der Arthrose und die Zentrierung des Humeruskopfes beurteilt werden. Die axiale Aufnahme ist zur Darstellung des posterioren Abriebs des Glenoids notwendig. Ferner lassen sich subchondrale Knochenzysten in dieser Technik gut beurteilen. Die Y-Aufnahme ermöglicht zusammen mit den anderen Ebenen eine bessere Lokalisation freier Gelenkkörper. Die sonographische Darstellung der Rotatorenmanschette empfiehlt sich insbesondere vor einer endoprothetischen Versorgung zur präoperativen Planung. z
a
Klinik
Die Klinik der Omarthrose ist tendenziell unspezifisch. Es kommt, wie bei den Arthrosen der anderen großen Gelenke, zum vermehrten Auftreten von Belastungsschmerzen bei Kompression der beiden Gelenkpartner sowie bei fortgeschrittener Arthrose zu Nacht- und Ruheschmerzen. Ebenso ist ein schubweiser Verlauf mit wechselnden Aktivitätszuständen typisch. Wie bei einer fortgeschrittenen Arthrose anderer Gelenke kann auch bei der Omarthose nicht von den radiologischen Veränderungen auf die Klinik geschlossen werden.
Therapie
Durch konservative Maßnahmen wie ein intensives Training der den Humeruskopf deprimierenden Muskulatur kann bei einer leicht- bis mäßiggradigen Arthrose eine deutliche Schmerzlinderung erzielt werden. Bei konservativ nicht mehr zu beherrschender Schmerzsymptomatik ist dem Patienten ein endoprothetischer Gelenkersatz zu empfehlen (⊡ Abb. 23.51). In der Regel wird ein Kopfersatz durchgeführt. Bei einem vermehrten posterioren Abrieb des Glenoids fehlt der mechanische Widerhalt. In diesem Fall muss die Kavität des Glenoids im Rahmen der Operation verbessert werden. Dieses kann durch einen Wiederaufbau mitels autologen Knochens erfolgen, alternativ sollte das Glenoid entsprechend gefräßt werden. Des Weiteren besteht die Möglichkeit der Implantation einer Glenoidkomponente. Diese kann sich jedoch im Zeitverlauf lockern und eine
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Revision erforderlich machen, insbesondere bei vergleichsweise schlechter Knochensubstanz. Im Falle einer fortgeschrittenen Rotatorenmanschettenarthropathie kann durch großvolumigen endoprothetischen Ersatz des Humeruskopfes eine signifikante Schmerzreduktion bei jedoch meist nur mäßiger Verbesserung der Funktion erreicht werden. In Abhängigkeit von den Erwartungen des Patienten können zur Verbesserung der Funktion verschiedene chirurgische Lösungen infrage kommen. Neben übergroßen humeralen Komponenten können dies bipolare oder reverse Prothesen sein. ! Cave Insbesondere bei der Defektarthropathie geht die Implantation einer Glenoidkomponente mit dem Risiko der Luxation der Komponenten sowie der Glenoidlockerung einher, da per definitionem normalerweise ein nicht rekonstruierbarer Defekt der Rotatorenmanschette vorliegt.
Die Implantation einer Schulterprothese erfolgt in BeachChair-Lagerung mit ca. 40° angehobenem Oberkörper. Ausgehend von der Vorderkante der Klavikula wird ein deltopektoraler Hautschnitt angelegt. Der M. deltoideus wird nach lateral und die V. cephalica sowie der M. pectoralis major werden nach medial weggehalten. In maximaler Innenrotation wird die Sehne des M. subscapularis angeschlungen und senkrecht zum Faserverlauf abgelöst. Der Humeruskopf wird nach ventral luxiert. Die Resektion wird in 30–40° Außenrotation entsprechend der Retroversion des Humeruskopfes durchgeführt. Der Markraum wird mit den entsprechenden Raffeln eröffnet und die Probeprothese wird ebenfalls in 30–40° Außenrotation eingeführt. Die Beweglichkeit, Luxationstendenz und ein eventuelles Impingement werden überprüft bzw. ausgeschlossen. Die Originalprothese wird zementfrei oder zementiert fixiert. Durch eine Innenrotation des Arms erfolgt die Reposition der Prothese. Die Sehne des M. subscapularis wird in leichter Außenrotation refixiert und die Wunde schichtweise verschlossen. Die funktionellen Ergebnisse nach Humeruskopf- und Glenoidersatz sind denen des alleinigen Humeruskopfersatz überlegen. Radiologisch finden sich im Langzeitverlauf Lockerungszeichen am Glenoid in bis zu 44%. Trotzdem wird eine Revision des Glenoids nur selten, langfristig in etwa 5% der Fälle, notwendig. Wie beschrieben, sind Risikofaktoren für eine Glenoidlockerung – neben der Implantationstechnik – die Integrität der Rotatorenmanschette, die Knochenqualität sowie die funktionelle Beanspruchung insbesondere in Scherbewegung durch den Patienten. Bei korrekter Implantation lockert sich die humerale Komponente seltener als die Glenoidkomponente. Tipp
I
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Bei älteren Patienten und schlechterer Knochenqualität bietet die zementierte Technik Vorteile in der Verankerung.
Die Resektionsinterpositionsarthroplastik des Glenohumeralgelenks ist gekennzeichnet durch eine Osteophytenentfernung
am Humeruskopf und Glenoid, verbunden mit einer Interposition von lyophilisierter Dura. Sie wurde in ausgewählten Fällen z. B. bei einer schweren rheumatischen Omarthritis durchgeführt und mittlerweile ganz verlassen. Die Arthrodese des Glenohumeralgelenks ist hingegen kein alternatives Verfahren zu den rekonstruktiven Verfahren. Im Rahmen einer degenerativen Omarthrose findet sie keine Anwendung mehr, da mit den modernen endoprothetischen Verfahren bessere funktionelle Ergebnisse erreicht werden.
23.2.7 z
Instabilitäten des Glenohumeralgelenks
Definition
Entgegen der klar definierten Luxation des Glenohumeralgelenks ist der Begriff der Subluxation oder Instabilität schwerer zu fassen. Instabilitäten bedeuten eine Dezentrierung des Humeruskopfes relativ zum Glenoid, die Beschwerden verursachen kann. Voraussetzung hierfür ist eine fehlende Stabilisierung der beteiligten knöchernen, bindegewebigen oder neuromuskulären Strukturen. Die gebräuchlichen Klassifikationen berücksichtigen die Richtung der Instabilität, anamnestische Angaben und zugrunde liegende Veränderungen. Demzufolge gibt es eine vordere, eine hintere und eine bidirektionale sowie multidirektionale Instabilität, die habituell, postraumatisch, akut, rezidivierend oder chronisch auftreten kann. Ferner wird die willkürliche von der unwillkürlichen (Sub-)Luxation abgegrenzt. Eine Einteilung nach traumatisch-anamnestischen und assoziierten morphologischen Gesichtspunkten wurde von Matsen vorgenommen. Er unterscheidet die Akronyme TUBS (»traumatic, unidirectional, bankart-lesion, surgery«) und AMBRII (»atraumatic, multidirectional, bilateral, rehabilitation, inferior capsular shift, interval lesion«). Für die erste Gruppe muss eine traumatische Erstluxation vorliegen, ferner sind dieser Gruppe auch die nach traumatischer Erstluxation gehäuft resultierenden rezidivierenden (Sub-)Luxationen zuzurechnen. Die zweite Gruppe umfasst diejenigen mit einer atraumatischen Erstluxation, konstitutioneller Kapsellaxität sowie Wurfsportler mit repetitiven Mikrotraumen und Überdehnungen. Entsprechend der Luxationsrichtung werden verschiedene Formen der vorderen Luxation unterschieden. Die weitaus häufigste ist die Luxatio subcoracoidea, seltener sind die Luxationes inferiores mit Luxatio subglenoidalis oder gar erecta (mit abduziertem Arm), subclavicularis sowie intrathorakale. Unter allen Instabilitäten bildet die posttraumatische vordere Schulterinstabilität mit Abstand den größten Anteil. Die assoziierten pathologisch-morphologischen Veränderungen wie (reverse) Bankart-Läsion, (reverse) Hill-Sachs-Läsion und Akronyme wie ALPSA-Läsion, GLAD-Läsion, HAGLLäsion und SLAP-Läsion werden weiter unten (vgl. Abschn. Ätiologie und Pathogenese) näher beschrieben. Eine multidirektionale Instabilität liegt vor, wenn die Instabilität in mehr als 2 Richtungen existiert. In der Regel liegt eine inferiore Komponente der Instabilität und eine Laxität in alle Richtungen vor. Der vordere und der hintere ApprehensionTest sind positiv, und es zeigt sich eine abnorme Außenrotation.
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a
Klassische BankartLäsion
d
Extra-labrale Ligamente läsion
b
PerthesLäsion
c
ALPSALäsion
HAGLLäsion
f
GLADLäsion
Abgegrenzt werden willkürliche oder unwillkürliche vordere oder hintere Instabilitäten bei multidirektionaler Laxität. Bei Laxität tritt beidseitig eine vermehrte Translation in mehrere Richtungen auf. Die Instabilitätsrichtung kann jedoch unidirektional sein, die Übergänge sind fließend. Die Abgrenzung zur multidirektionalen Instabilität ist oft schwierig, die in der Regel eine noch ausgeprägtere inferiore Komponente aufweist. Die willkürliche Instabilität setzt in der Regel eine erheblich begünstigende Kapsellaxität voraus. Ein positionsabhängiger Typ (Luxation in bestimmter Stellung des Arms zur Skapula) und ein muskulärer Typ werden beschrieben, wobei individuell unterschiedliche Muskeln an der Dezentrierung beteiligt sind. Die willkürlichen Luxationen können ferner Ausdruck psychischer Störungen sein. z
Epidemiologie
Traumatische Luxationen des Schultergelenks sind häufig. In der Literatur wird eine Inzidenz von 0,1–1,7% angegeben. Die Rezidivrate nach stattgehabter traumatischer Erstluxation ist altersabhängig. Sie liegt bei unter 20-Jährigen bei 50–90% und sinkt bei über 40-Jährigen auf unter 10%.Genaue Angaben zur Inzidenz habitueller Instabilität fehlen, jedoch ist eine beidseitige Betroffenheit mit über 80% angegeben. Das Risiko beidseitiger Instabilitäten ist auch bei traumatischer Genese deutlich erhöht, sodass von prädisponierenden Faktoren ausgegangen werden muss.
z
⊡ Abb. 23.52a–f Formen der Labrumläsion
Ätiologie und Pathogenese
Ätiopathologisch liegt den Instabilitäten eine fehlende Stabilisierung durch die beteiligten aktiven und passiven Strukturen zugrunde. Sie wirken kräfteneutralisierend und zentrierend. Die aktiven Stabilisatoren sind die neuromuskulären Strukturen, die passiven die knöcherne Formgebung, das Labrum glenoidale, die Gelenkkapsel mit ihren ligamentären Verstärkungen, ferner der negative intraartikuläre Druck mit zusätzlichen Adhäsionskräften der Gelenkkörper durch die Synovialflüssigkeit. > Ausschlaggebend für die Stabilität sind eine funktionierende Propriozeption und das stimmige Zusammenwirken der beteiligten Strukturen.
Die Geschwindigkeit beim Einwirken traumatischer Kräfte kann aber auch bei intakter Propriozeption durch die physiologische Latenz der neuroreflektorischen Stabilisierung zu Luxationen führen. Begleitschäden sind insbesondere mit traumatischen Luxationen vergesellschaftet. Diese sind in der Regel Komplexverletzungen und betreffen mehrere Strukturen, die nach Lebensalter verschiedene Läsionsmuster aufweisen (⊡ Abb. 23.52). Bei jüngeren Patienten sind dies typischerweise ein vorderer Labrumabriss, eine Bankart-Läsion, zusammen mit einer anteroinferioren Kapselzerreissung. Seltener die Kapselzerreißung mit Abriss des Lig. glenohumerale inferior am anteroinferioren
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
humeralen Ansatz (HAGL-Läsion = »humeral avulsion of glenohumeral ligament«). Je nach Gelenkposition und Schwere der einwirkenden Kräfte kann es auch zu einer Mitbeteiligung der anterosuperioren oder auch dorsalen Kapsel kommen. In der Regel übersteigt die Reißfestigkeit der Kapsel die der knöchernen Strukturen. Aus diesem Grund treten auch gehäuft knöcherne BankartLäsionen auf. Nach dem 40. Lebensjahr treten bevorzugt Rupturen der intermediären Kapsel oder am humeralen Ansatz sowie Rupturen der Rotatorenmanschette auf. Begleitend können Abrisse der Tubercula resultieren. Die Rotatorenmanschettenläsionen gehen zumeist vom Rotatorenintervall aus. Bei der posttraumatischen vorderen Instabilität finden sich gehäuft die knöchernen Läsionen des vorderen Glenoidrandes bis hin zu großen Abscherfragmenten. Diese knöchernen Läsionen heilen in der Regel pseudarthrotisch. Die Läsionen des vorderen Labrums sind äußerst komplex. Abzugrenzen sind u. a. die Bankart-ähnlichen Läsionen der ALPSA-Läsion (»anterior labroligamenteous periosteal sleeve avulsion«) als veraltete, nach medial retrahierte Ablösung mit erhaltenem Periost, die Perthes-Läsion mit Labrum- und Kapselabriss sowie die GLAD-Läsion (»glenoid labral articular disruption«), bei der ein labrumnaher Knorpeldefekt bei allerdings nur inkomplettem Labrumeinriss ensteht. Der Abriss des Lig. glenohumerale medius bei intaktem Labrum wird als Non-Bankart-Läsion (oder »pseudo-sleeve avulsion«) bezeichnet. Die Ausdehnung einer anterioren Labrumläsion im Sinne einer Korbhenkelläsion nach kranial oder dorsal entlang des Glenoidrandes oder als Lappenriss können als erweiterte SLAP-Läsionen (»superior labral anterior to posterior«) gesehen werden. Die SLAP-Läsionen werden je nach Lokalisation, Ausprägung und Mitbeiteiligung von Labrum, Bizepssehne, Bizepssehnenanker und Lig. glenohumerale medius in 4 Typen unterteilt, Modifikationen unterscheiden 7 Typen (⊡ Abb. 23.53). Schwierig kann die Abgrenzung zu den
⊡ Abb. 23.53 SLAP-Läsion: MRT-Befund
häufigen, physiologisch vorkommenden Normvarianten der glenohumeralen Bänder und des Labrums sein (Pseudo-SLAP, Foramen sublabrum, Buford-Komplex). Abkürzungen: ALPSA: anterior labral periostal sleeve avulsion, Labrum und IGHL sind vom Limbusrand abgelöst; IGHL: inferiores glenohumerales Ligament; HAGL: Absatz der Kapsel am Humerus bzw. am anteriorinferioren Ansatz; GLAD: glenolabral articular disruption Läsion Als Folge einer Druckwirkung des Glenoidrands im luxierten Zustand kommt es zu Impressionen des Humeruskopfes, die bei der vorderen Instabilität dorsokranial oder bei der hinteren Instabilität ventral liegen. Die häufigere dorsokraniale Impression wird als Hill-Sachs-Defekt, die ventrale als reverse Hill-Sachs-Läsion bezeichnet. Die seltene verhakte hintere Luxation mit entsprechender Impression ist fast immer Folge einer traumatischen Einwirkung auf den flektierten innenrotierten Arm oder eines Krampfanfalls. Die Ursachen der rezidivierenden hinteren (Sub-)Luxationen hingegen sind mannigfaltig, eine anlage- oder trainingsbedingte Überdehnung dorsaler Strukturen (Wurfsport, Bankdrücken) ist jedoch die Regel. Gelegentlich werden auch zurückliegende willkürliche Instabilitäten im Kindesalter berichtet. Bei professionellen Wurfsportlern kommt es zu Auffaserungen der posteroinferioren Rotatorenmanschette und des dorsalen Labrums. Die Bennet-Läsion ist eine extraartikuläre posteroinferiore Verkalkung mit Labrumläsion nach Abriss des posterioren Kapselansatzes. Gleichzeitig sind eine ventrale Überdehnung des anteroinferioren Komplexes mit Läsionen des vorderen Labrums sowie der langen Bizepssehne und deren Aufhängung häufig. Der Übergang zur multidirektionalen Instabilität mit bevorzugter hinterer Instabilitätsrichtung ist fließend. Viele Fälle können als hintere Instabilität bei multidirektionaler Laxität klassifiziert werden. Die Reposition der hinteren (nicht vehakten) Luxation geschieht aufgrund anatomischer Verhältnisse und resultierender Muskelkräfte zumeist spontan. Die laxitätsbedingte multidirektionale Instabilität kann anlagebedingt oder aber in einem Großteil der Fälle auch durch repetitive Mikrotraumatisierung sportbedingt sein. Hier ist der Übergang einer unidirektionalen Instabilität mit inferiorer Komponente zur multidirektionalen Instabilität fließend. In seltenen Fällen kann eine komplette Ruptur der kaudalen Hälfte der kapsuloligamentären Strukturen auch ohne Laxität zu einer multidirektionalen Instabilität führen. Abzugrenzen ist die sekundäre Laxität infolge Kapselausweitung durch rezidivierende Luxationen. Diese ist nur im Seitenvergleich von einer konstitutionell bedingten Laxität zu unterscheiden. Die Instabilität bei Kindern und Jugendlichen ist anders einzuordnen. In der überwiegenden Mehrzahl handelt es sich um atraumatische Instabilitäten bei konstitutioneller Hyperlaxität, die sich mit der Pubertät zurückbilden. Eine abwartende konservative Therapie steht im Vordergrund. Selten sind traumatische Instabilitäten und Frakturen bei Kindern. > Die Wahrscheinlichkeit eines Rezidivs nach traumatischer Erstluxation ist im Jugendalter deutlich höher als im Erwachsenenalter und nimmt mit zunehmendem Alter ab.
519 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Aus diesem Grund muss bei Patienten unter 25 Jahren, die sehr oft auch beruflich und sportlich aktiv sind, zu einer operativen Versorgung geraten werden. Bei älteren Patienten ist, nach Abschätzung des persönlichen Risikoprofils (beruflich, sportlich), meistens ein abwartendes Vorgehen indiziert. Allerdings muss bei rezidivierenden Luxationsereignissen auch mit diesen Patienten eine operative Therapie diskutiert werden. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Bei einer Schulterinstabilität muss anamnestisch das Vorliegen eines adäquaten Traumas, eine Sportanamnese, die Willkürlichkeit und nach Möglichkeit die Richtung der (Sub-)Luxation erfragt werden. Luxationen fallen schon beim ersten Anblick im Seitenvergleich durch ein typisch verändertes Schulterrelief und einen in Schonhaltung gehaltenen Arm (i.d.R. mit dem kontralateralen Arm vor dem Bauch gehalten) auf. Es sei jedoch vor einer voreiligen Beurteilung gewarnt, denn der inspektorische Aspekt kann z. B. bei subkapitaler Humerusfraktur identisch sein. Bewegungsprüfungen sind bei der klinischen Untersuchung von Luxationen schmerzbedingt nicht möglich, allerdings muss eine genaue neurologische Untersuchung vor und nach jedweder Maßnahme durchgeführt werden, um traumabedingte sowie iatrogene Schädigungen von N. axillaris (autonomes Areal am lateralen Oberarm) und Plexus brachialis auszuschließen. Die klinische Untersuchung von Instabilitäten provoziert deutliche Schmerzen in bestimmten Positionen des Arms sowie die Translation des Humeruskopfes im Glenoid. Klassische Tests hierfür sind die Apprehension-Tests und die Translationstests ( Abschn. 23.2.1). Einen Stellenwert hat auch die Untersuchung in Narkose, die jedoch ein hohes Maß an Erfahrung verlangt. Translationen und (Sub-)Luxationen werden hier in verschiedenen Gelenkpositionen überprüft und die Intaktheit bzw. das Ausmaß der Ausweitung des inferioren Kapselkomple-
xes durch Beurteilung der Rezentrierung luxierter Gelenke bei Rotation untersucht. z z Bildgebende Verfahren
Bei anamnestisch und klinisch eindeutiger posttraumatischer (rezidivierender) Luxation sind Sonographie und Nativradiologie als bildgebende Diagnostik ausreichend. Präoperativ sowie bei unklaren Befunden, Verdacht auf knöcherne Fehlformen, Begleitläsionen oder atraumatische Luxationen sind zusätzliche bildgebende Verfahren notwendig. Die Sonographie sollte insbesondere bei allen älteren Patienten zum Ausschluss einer Rotatorenmanschettenpathologie durchgeführt werden. Auch Hill-Sachs-Läsionen können sonographisch erfasst werden, hingegen ist die Beurteilung des vorderen Labrums artefaktanfällig. Nativradiologisch müssen knöcherne Begleitverletzungen wie Frakturen, eine Hill-Sachs-Delle und insbesondere eine knöcherne Bankart-Läsion ausgeschlossen werden. ! Cave Besondere Aufmerksamkeit muss bei Verdacht auf eine hintere Luxation herrschen, da diese bei Erstvorstellung in über 50% der Fälle übersehen werden.
Bei Instabilitäten ist das MRT wichtig, um Kapsel-Band- und Labrumläsionen sowie Knochenmarködeme zu beurteilen (⊡ Abb. 23.54). Eine knöcherne Hill-Sachs-Delle des Humeruskopfes oder Glenoidhypoplasien kommen ebenfalls gut zur Darstellung. Eine direkte MR-Arthrographie ist anzustreben, Normvarianten der glenohumeralen Bänder und des Labrums (Pseudo-SLAP, Foramen sublabrum, Buford-Komplex) kommen häufiger vor, allerdings schwanken die Angaben in der Literatur hierzu stark. Das CT hat noch zur Beurteilung knöcherner Pathologien Relevanz und ermöglicht als Arthro-CT mit Doppelkontrast auch eine Beurteilung des Labrums, es ist jedoch im Gegensatz zum Arthro-MR mit einer hohen Strahlenbelastung verbunden. z Therapie Reposition der vorderen Schulterluxation
⊡ Abb. 23.54 Bankart-Läsion im MRT
Traumatische vordere Schulterluxationen müssen nach radiologischem Ausschluss von Frakturen und Dokumentation der Neurologie reponiert werden. Am Unfallort kann bei klarer Luxation nach Prüfung der Neurologie auch eine sofortige Reposition erfolgen. Eine (dann zumindest postrepositionelle) radiologische Befundung ist jedoch allein aus forensischer Sicht dringend zu empfehlen. Es existieren verschiedene Repositionsverfahren, von denen einige nur noch historischen Wert besitzen. Grundprinzip ist die Überwindung schmerzbedingter Muskelanspannung durch konsequenten, langsam zunehmenden Zug am Arm. Gegebenenfalls können Verhakungen durch vorsichtige Rotationsbewegungen unter Zug gelöst werden. Bei der Reposition nach Hippokrates (⊡ Abb. 23.55a) erfolgt in ihrer eigentlichen Technik der Zug am Arm über den am Brustkorb abgestützen Fuß (ursprünglich an der Achsel abgestützt, aber Cave: Plexusläsionen). In einer schonenderen mo-
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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⊡ Abb. 23.55a,b Repositionsmanöver. a Nach Hippokrates, b nach Arlt. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
a
difizierten Technik zieht eine zweite Person als Gegenzug an in Achselnähe angebrachten Tüchern oder gepolsterten Gurten. Bei der Reposition nach Arlt sitzt der Patient seitlich auf einem Stuhl, der Arm hängt über der gepolsterten Stuhllehne (⊡ Abb. 23.55b). Die Traktion nach unten erfolgt langsam zunehmend unter geringen Rotationsbewegungen, wobei die Stuhllehne als Hypomochlion dient. Die Reposition nach Stimson erfolgt in Bauchlage, wobei der Arm über manuellen Zug oder mit Gewichten mehrere Minuten über die Kante nach unten hängt. Die Reposition erfolgt über manuelle Verschiebung des Angulus inferior der Skapula nach kraniomedial und geringe Rotation des Arms. Die Reposition nach White/Milch erfolgt in Rückenlage, wobei der Ellenbogen 90° flektiert, der Arm unter vorsichtigem Zug in Elevation gebracht und über dem Kopf auf einem Polster abgelegt wird. Meist tritt die Reposition nach einigen Minuten spontan ein oder muss durch geringen Druck von kaudomedial unterstützt werden. Diese Technik kann allerdings bei begleitenden Frakturen oder Verhakungen nicht durchgeführt werden. Tipp
I
I
Generell sind ein allmählicher und konstanter Zug zu empfehlen und ruckartige Bewegungen zu vermeiden.
Der kontinuierliche Zug hebt die reflektorische Gegenspannung des Patienten auf und ist zumeist nicht oder kaum schmerzhaft. Eine Analgosedierung kann bei Schmerzen, ggfs. unter Kontrolle der Vitalparameter, erfolgen. Postrepositionell muss ein erneuter radiologischer Frakturausschluss sowie eine Dokumentation der Neurologie erfolgen. Reposition der hinteren Schulterluxation
Sie geschieht aufgrund der anatomischen Verhältnisse und resultierender Muskelkräfte zumeist spontan, außer bei verhakten Luxationen mit Humeruskopfimpressionen. Bei ausbleibender spontaner Reposition oder verhakter Luxation erfolgt die Reposition unter axialem Zug und zunehmender Abduktion. Eventuelle Verhakungen können unter leicht schaukelnder Innenrotation gelöst und der Humeruskopf dann durch Außenrotation über ein Hypomochlion lateralisiert und reponiert werden, dies sollte jedoch in Narkose und Operationsbereitschaft geschehen.
b
Postrepositionelle Therapie
Sie ist abhängig vom Alter und den Begleitverletzungen (⊡ Abb. 23.56). In der Regel ist sie primär konservativ, außer bei begleitenden Frakturen oder jungen sportlich sehr aktiven Patienten. Bei Patienten unter 30 Jahren wird die Durchführung eines Arthro-MR und eine (arthroskopische) Kapsel-Labrum-Refixation empfohlen, da hier eine hohe Rezidivrate nach einer konservativen Therapie vorliegt. Bei älteren Patienten sind operative Maßnahmen meistens erst nach einem Rezidiv gerechtfertigt. Die Entscheidung muss aber individuell getroffen werden und hängt nicht zuletzt von den beruflichen oder sportlichen Ansprüchen des Patienten ab. Bei Patienten über 40 Jahren sollte eine versorgungswürdige Rotatorenmanschettenruptur ausgeschlossen werden. In die Diskussion geraten ist die Armposition der Ruhigstellung. Hat man früher alle Patienten mit Gilchrist-Verband mit innenrotiertem Arm versorgt, wird von Ito und Mitarbeitern (2001) postuliert, dass nur durch Außenrotation eine Reposition des Labrums erfolgt. Die Ruhigstellungsdauer sollte bei Patienten unter 30 Jahren 4–6 Wochen betragen und bei Patienten über 30 Jahren aufgrund der Gefahr einer drohenden Einsteifung bei nur ca. 2 Wochen liegen. Die Ruhigstellung nach Reposition einer hinteren Luxation wird in der »handshake«Position in leichter Extension, ca. 20° Außenrotation und 20° Abduktion in einer Orthese durchgeführt. Therapie der vorderen Instabilität
Die Therapie der posttraumatischen vorderen Schulterinstabilität mit rezidivierenden Luxationsereignissen ist in der Regel operativ, da konservative Maßnahmen wenig Erfolg versprechend sind. Hingegen haben konservative Maßnahmen bei der atraumatischen vorderen Schulterinstabilität einen hohen Stellenwert mit hohen Erfolgsraten (⊡ Abb. 23.57). Bei den konstitutionell bedingten Instabilitäten sollte die operative Korrektur am Ende aller therapeutischen Maßnahmen stehen. Grundprinzip der konservativen Therapie ist die dynamische Stabilisierung mit Kräftigung der Muskulatur und Verbesserung der neuromuskulären Kontrolle. > Nur eine konsequente Therapie und Fortführung des Trainings kann einen Erfolg und dessen Erhalt gewährleisten.
Die Operationsindikation wird nach Art und Größe der Läsion sowie dem Alter und der Aktivität des Patienten gestellt. So
521 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Traumatische Erstluxation
Jugendliche und Hochrisikogruppe
ab dem 30. Lebensjahr
über dem 40. Lebensjahr
Arthro-MRT: Labrumabriss, Hill-SachsImpression?
zunächst konservative Behandlung: Ruhigstellung (konsequent mindestens 4 Wochen) danach Rehabilitation
Sonographie: RM-Abriss? MRT: DD degenerativer RM-Defekt mit Muskelatrophie
bevorzugt operative Stabilisierung: bei Glenoidrandfrakturen
operative Rekonstruktion nach dem 2. Rezidiv (bevorzugt modifizierte Bankart-Operation mit Kapselshift
bevorzugt konservative Behandlung: Gilchrist-Verband für 1-2 Wochen, falls traumatischer RM-Abriss: operative Rekonstruktion
ist eine Operationsindikation bei einem Jugendlichen oder jungen sportlichen Mann nach Erstluxation mit nachgewiesener Bankart- oder Hill-Sachs-Läsion angesichts der hohen Rezidivgefahr sofort gegeben, während bei Patienten über 35 Jahren ohne sportliche Aktivität ein Abwarten gerechtfertigt ist. Spätestens nach dem zweiten Rezidiv sollte jedoch auch hier die Indikation zur operativen Versorgung gestellt werden. Bei ausgeprägter Kapsellaxität und psychischen Auffälligkeiten sollten operative Maßnahmen äußerst zurückhaltend gestellt werden. Die operativen Maßnahmen müssen zugrunde liegende pathologische Veränderungen beseitigen, wobei Maßnahmen zurückhaltend ergriffen werden müssen, die eine Änderung der anatomischen Verhältnisse bedingen (Drehosteotomien, Knochentransfer, Muskeltransfer). Generell haben sich nur 4 Konzepte mit jedoch vielen Modifikationen durchgesetzt. Prinzipiell ist die Methode nach Perthes-Bankart zu favorisieren, da sie einer anatomischen Rekonstruktion am nächsten kommt. Die Indikationen für die anderen Verfahren sind individuell zu stellen: ▬ Refixation des kapsuloligamentären Komplexes am Glenoidrand in Modifikationen nach Perthes-Bankart (transossär, Fadenanker) ▬ Methoden der Kapselraffung (unilateral nach Putti-Platt oder konzentrisch über T-Shift nach Neer, Warren und Jobe) ▬ Drehosteotomien des proximalen Humerus ▬ Knochenblocktranspositionen an den Glenoidrand (Spananlage, Transfer des Proc. coracoideus)
⊡ Abb. 23.56 Therapiealgorithmus bei traumatischer Erstluxation in Abhängigkeit vom Alters nach Gohlke u. Hedtmann
> Da in der Regel eine Insuffizienz der kapsuloligamentären Sicherung vorliegt, beinhaltet die Versorgung eine Raffung und Doppelung der geweiteten Kapsel sowie einen Verschluss des Rotatorenmanschettenintervalls.
Die Refixation einer Bankart-Läsion sollte zunächst durch Standardvorgehensweisen wie transossäre Naht, Durchzugsnaht oder Fadenanker oder eine Verschraubung bei knöcherner Läsion vorgenommen und erst nach deren Versagen durch weitere Maßnahmen wie Spaneinbolzung etc. ergänzt werden. Der klassische Zugang ist von ventral unter Ablösung des kranialen M. subscapularis. Eine vorhergehende Anfrischung des Knochens an der Anheftungsstelle ist zu empfehlen. Die Kapselraffungen erfolgen bevorzugt konzentrisch, da unilaterale Raffungen wie nach PuttiPlatt zu höheren Rezidivraten, Verdrängung des Humerus und damit Prädisposition von Sekundärarthrosen führen. Die konzentrischen Verfahren der inferioren Kapsel-Shift nach Neer (⊡ Abb. 23.58): Die Kapsel wird T-förmig inzidiert und entsprechend der notwendigen Korrekur gerafft. Dem Prinzip des selektiven Shifts entsprechend, kann die Kapselanteilfixierung und somit Raffung individiuell über unterschiedliche Rotation und Abduktion dosiert werden. Über einen ventralen Zugang mit Ablösung des kranialen M. subscapularis wird nach der Methode nach Neer der vertikale Schenkel der T-förmigen Inzision humerusseitig, nach Warren glenoidseitig angelegt, in sehr ausgeprägten Fällen kann auch eine Kombination als H-förmige Inzision erfolgen. Diese Kapselraffung bewirkt eine Reduktion des Gelenkvolumens, eine Verkürzung der ligamentären Verstärkungen und
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
posttraumatische Instabilität
atraumatische Instabilität
bevorzugt operativ
zunächst konservativ (konservativer Therapieversuch über 6 Monate
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operative Verfahren: (in abnehmender Häufigkeit der Anwendung
operative Verfahren: (in abnehmender Häufigkeit der Anwendung)
Bankart-Läsion und sekundäre Kapselerweiterung
Glenoidabschliff
Glenoidrandfraktur
sehr große Hill-SachsImpression
bei Kapselerweiterung
Anomalien der Gelenkkörper (sehr selten)
modifizierte BankartOperation und T-Shift
Spanplastik
Verschraubung
Drehosteotomie und Kapselraffung oder Spanauffüllung des Defektes
offen: Kapselraffung mittels T-Shift
knöcherne Korrekturoperationen (z.B. Drehosteotomie)
arthroskopisch: thermische Schrumpfung oder modifizierte Caspari-Technik
⊡ Abb. 23.57 Therapiealgorithmus der vorderen Schulterluxation in Abhängigkeit der Genese (posttraumatisch, atraumatisch) nach Gohlke u. Hedtmann
eine Doppelverstärkung der geschwächten vorderen Kapsel. Im Gegensatz zur unilateralen Raffung lässt sich eine symmetrische Einschränkung der Rotationsbewegungen erreichen. Zudem kann bei gleichem Zugang auch eine Bankart-Läsion versorgt werden. Die Raffung kann sowohl über die Überlappung der horizontalen als auch der vertikalen Anteile erfolgen. Nach Jobe wird die Kapsel über eine reine horizontale Kapselinzision nach Anfrischen des Glenoidrandes über Fadenanker medialisiert und eine ventrale Kapseldoppelung erreicht, indem der superiore Anteil über den inferioren Anteil genäht wird. Vorteil ist, dass die Kapsel ihre Verbindung zum Periost behält und die Medialisierung bzw. Raffung dosiert ist, Nachteil ist der eingeschränkte Zugang zum Labrum. Ein Verschluss des Rotatorenmanschettenintervalls sollte in allen Fällen erfolgen. > Jeder Zentimeter Raffung der vorderen Kapsel verursacht einen Verlust der Außenrotation in Neutralstellung des Arms um 10–15° und im Extremfall eine Verdrängung des Humeruskopfes nach dorsal.
⊡ Abb. 23.58 Ventraler Kapsel-Shift nach Neer
523 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Die subkapitale Drehosteotomie des proximalen Humerus ist heutzutage nur noch selten indiziert. Sie wird als Außenrotationsosteotomie kaudal der Vasa circumflexa humeri durchgeführt und über eine Plattenosteosynthese fixiert. Angesichts erhöhter Reluxationen bei alleiniger Osteotomie wird sie in Kombination mit einer ventralen Raffung von M. subscapularis und Kapsel vollzogen. Ziel ist die Begrenzung der Außenrotation, um ein Einrasten einer Hill-Sachs-Läsion mit Aushebeln am Pfannenrand zu vermeiden. Ziel der Spanplastiken oder Knochenblocktranspositionen ist eine Stabilisierung durch die Verlegung des Luxationsweges oder die Erweiterung der Pfanne. Spanresorptionen und Pseudarthosen sind jedoch häufig, ebenso die Entstehung von Früharthrosen durch die Verhinderung von physiologischen Gleitbewegungen und Translationen, insbesondere im jungen Alter. Eine Variante ist die Anlagerung oder Einbolzung eines Knochenspans am Glenoidrand als Modifikation der Technik von Eden-Hybinette. Eine andere Möglichkeit stellen die Modifikationen der Kortikoidtranspositionen dar. Diesen gemeinsam ist die Versetzung der Korakoidspitze auf den anteroinferioren Glenoidrand. Zum einen wird das Glenoid verbreitert, zum anderen eine dynamisch stabilisierende Muskelschlinge aus den transponierten Ansätzen des M. coracobrachialis und des Caput brevis des M. biceps brachii geschaffen. Um mechanische Probleme zu vermeiden, darf der Knochenblock nicht überstehen. Die arthroskopische Stabilisierung findet immer weitere Verbreitung und beinhalten eine transossäre Kapsel-LabrumRefixation und Raffung nach dem Prinzip der Operation nach Perthes-Bankart (⊡ Abb. 23.59). Hierzu werden verschiedene Naht- und Verankerungstechniken angewendet. Das »stapling« mit Metallklammern wurde aufgrund hoher Komplikationsraten (hohe Versagerrate und intraartikuläre Sekundärschäden durch »freie Gelenkkörper«) wieder verlassen. Neben extraartikulären Verfahren, wie z. B. nach Resch mit zusätzlicher Kapselraffung über glenoidale Verschraubung, kommen transglenoidale Nahttechniken (z. B. nach Caspari, Landsiedl oder Yoneda) sowie intraartikuläre Verfahren zur Anwendung. Am häufigsten werden heute nicht resorbierbare, stärkere Fäden und Anker verwendet, um der verminderten Reißfestigkeit entgegenzuwirken. Ferner muss in der Regel eine postoperative Ruhigstellung im Gilchrist-Verband erfolgen. Auch resorbierbare Dübel werden eingesetzt, die jedoch das Risiko einer abriebinduzierten fibrosierenden Synovialitis bergen. Das Risiko der transglenoidalen Verankerung ist eine Schädigung des in der Nähe des dorsalen Glenoidrandes verlaufenden N. suprascapularis. Ein weiteres arthroskopisches Verfahren ist die thermische Kapselschrumpfung, die sich der Tatsache bedient, dass Kollagenfasern thermisch um etwa 70% ihrer ursprünglichen Länge verkürzt werden können. Das Verfahren scheint sich im Langzeitverlauf jedoch nicht zu bewähren. Kritische Stimmen beschreiben eine Schädigung der Propriozeption durch Schädigung sensorischer Rezeptoren, die Gefahr der Schädigung des N. axillaris und eine verminderte Reißfestigkeit des geschrumpften Gewebes.
a
b ⊡ Abb. 23.59a,b Arthroskopische Labrumrefixierung in der Technik nach Bankart. (Aus: Kohn u. Pohlemann 2009)
> Allgemeine Gefahren und Probleme der arthroskopischen Verfahren sind v. a. die ungenügende Mobilisierung des Kapsel-Band-Komplexes, die unzureichende Anfrischung des knöchernen Glenoidrandes, die falsche Platzierung der Anker und Nähte oder eine unzureichende Nahttechnik.
Die Versorgung von Begleitverletzungen erfolgt simultan, z. B. die Refixation von Rotatorenmanschettenrupturen, die Refixation der Tubercula oder einer knöchernen Bankart-Läsion. Aufgrund ungünstiger Zugverhältnisse wird ein abgerissenes Tuberculum minus fast immer operativ fixiert, wohingegen un- oder nur gering dislozierte Abrisse des Tuberculum majus auch durch reine Ruhigstellung in Abduktion therapiert werden können. Therapie der hinteren Instabilität Die Versorgung der traumatischen hinteren Luxation mit
posteroinferiorer Bankart-Läsion erfolgt analog der traumatischen vorderen endoskopisch oder offen. Die verhakte hintere
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Luxation bedarf meist weiterer operativer Maßnahmen, insbesondere bei veralteten Luxationen. Hier sind postrepositionell weitere Luxationen durch Verkürzung der ventralen und Überdehnung der dorsalen Strukturen sowie v. a. Impressionen häufig. Impressionen bis 20% der Zirkumferenz rechtfertigen eine konservative Therapie, Impressionen ab 20% einen Sehnenansatztransfer des M. subscapularis nach McLaughlin mit oder ohne Tuberculum minus oder die Auffüllung mit einem Knochenspan. Ab 40% sind entweder Knochenaufbauplastiken, Drehosteotomien oder arthroplastische Verfahren indiziert. Kapselplastiken müssen grundsätzlich zusätzlich erfolgen. Therapie der posttraumatischen hinteren Instabilität erfolgt analog der vorderen, mit dem Ziel der anatomischen Rekonstruktion. Besonderes Risiko ist eine Schädigung des in der Nähe des dorsalen Glenoidrandes verlaufenden N. suprascapularis. Bei allen konstitutionell bedingten Instabilitäten sollte eine operative Korrektur am Ende aller therapeutischen Maßnahmen stehen, und es sollte eine konsequente Durchführung von Übungsprogrammen über mindestens 6 Monate erfolgt sein. Bei der atraumatischen willkürlichen hinteren Instabilität sind operative Maßnahmen in der Regel zum Scheitern verurteilt. Auch die atraumatische unwillkürliche hintere Instabilität bedarf einer genauen präoperativen Analyse der zugrunde liegenden pathologischen Veränderungen. Der Ausschluss von Anomalien bedarf einer umfassenden (intraartikulären) Bildgebung. Analog der vorderen Instabilität kann die Therapie endoskopisch oder offen erfolgen. T-Shift-Kapselraffungen sind in der Mehrzahl der Fälle zu bevorzugen, jedoch sind auch thermische Kapselschrumpfung, Spanplastiken, Skapulahalsosteotomien oder reverse Drehosteotomien beschrieben, insbesondere letztere stellen allerdings Ausnahmen dar. Der Zugang erfolgt über einen annähernd vertikalen Schnitt von mediokaudal über die hintere Ecke des Akromions schräg nach kranial. Spaltung des Deltamuskels in Längsrichtung und ggf. Ablösung von der Spina sowie Spaltung oder Ansatzablösung des M. infraspinatus. Analog der vorderen Kapsel-Shifts kann der hintere Kapsel-Shift ebenfalls humerusseitig nach Neer oder glenoidseitig erfolgen, jedoch wird im Unterschied zum ventralen Shift empfohlen, zuerst den superioren und dann den inferioren Lappen zu refixieren. Auch hier kann dem Prinzip des selektiven Shifts entsprechend die Kapselanteilfixierung und somit Raffung individiuell über unterschiedliche Rotation und Abduktion dosiert werden. Spanplastiken können bei Glenoidhypoplasien und/oder pathologischer Glenoidneigung >30° nach dorsal durchgeführt werden. Die operative Therapie der multidirektionaler Instabilität bevorzugt bei zumeist erheblicher Kapsellaxität nach genauer Abklärung der zugrunde liegenden Pathologie die Techniken der T-Shift-Kapselraffungen. Nicht selten ist eine Kombination von ventralen und dorsalen Verfahren nötig. z z Komplikationen
Die Komplikationen nach operativer Versorgung umfassen, abgesehen von den allgemeinen operativen Komplikationen, neurologische Schäden in 8%, Rezidive (insbesondere bei arthroskopischen Verfahren), Arthrofibrose und Bewegungseinschränkung sowie Arthroseenstehung.
Die Ergebnisse der operativen Versorgung sind unterschiedlich. Bei der offenen Bankart-Operation werden inzwischen durchschnittliche Rezidivraten zwischen 2 und 5% angegeben. Beim offenen Kapsel-Shift wurden selbst bei Überkopfsportlern nur in knapp 3% Rezidive beschrieben, wobei im Allgemeinen die Erfolgsraten bei posttraumatischer Instabilität deutlich höher liegen, als bei atraumatischer Instabilität. Die seltenere Drehosteotomie des Humerus ist mit durchschnittlichen Rezidivraten von 5–10% vergesellschaftet, allerdings werden auch deutlich höhere Rezidivraten beschrieben. Weiterhin ist das Risiko einer Rotationseinschränkung, einer Pseudarthrose, einer Osteonekrose und insbesondere der Arthroseentstehung groß. Die Rezidivraten nach Spanplastiken oder Knochenblockoperationen liegen ebenfalls bei etwa 5–10%, jedoch ist das Risiko einer Sekundärarthrose enorm hoch (Krümmung der Gelenkfläche, knöchernes Impingement) und die Einschränkung der Rotation liegt bei etwa 10–20°. Die Langzeitergebnisse der arthroskopischen Stabilisierungsverfahren stehen insgesamt hinter denen der offenen Verfahren zurück, allerdings berichten spezialisierte Zentren über vergleichbare Rezidivraten. Neben höheren Rezidivraten im längeren Verlauf treten insbesondere Subluxationen in Erscheinung. Eine striktere Patientenselektion der endoskopischen Versorgung auf vornehmlich posttraumatische Instabilitäten ohne wesentliche knöcherne Begleitverletzungen und ohne Notwendigkeit größerer Kapselraffung ist erforderlich.
23.2.8
z
Erkrankungen des Akromioklavikulargelenks
Definition
Die Arthrose des Akromioklavikulargelenks gehört zu den häufigsten des menschlichen Körpers mit den typischen Veränderungen subchondraler Sklerosierung, osteophytärer Anbauten, Gelenkspaltverschmälerung und Zystenbildung. Auch Diskopathien oder Früharthrosen mit Chondropathien können noch vor radiologisch sichtbaren Veränderungen eine typische Akromioklavikulargelenkssymptomatik hervorrufen. Die laterale Klavikulaosteolyse ist eine seltene Osteonekrose mit Resorption und Defektbildung. Die Mitbeteiligung des Akromioklavikulargelenks bei rheumatischen Grunderkrankungen ist häufig und kann mit fortschreitender Destruktion, Instabilität und (Sub-)Luxation einhergehen. Schmerzhafte Schwellungen und Erosionen können im Rahmen des rheumatischen Formenkreis auftereten. Infektionen des Akromioklavikulargelenks sind selten und treten zumeist nach Injektionen auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Grundsätzlich wird wie bei allen Arthrosen eine Überlastung als Ursache für eine sekundäre Akromioklavikulargelenksarthrose angenommen. Beim Akromioklavikulargelenk liegt v. a. bei Bewegungen über der Horizontalebene eine ungünstige Druckbelastung vor. Laxitäten und vermehrte Scherbelastungen erhöhen die Gefahr der Arthroseentstehung. Bei Operationen findet sich fast immer ein defekter Discus articularis, der auch eine kausale Rolle in der Arthroseentstehung spielt.
525 23.2 · Erkrankungen von Schultergürtel und Schultergelenk
z z Bildgebende Verfahren
Die Sonographie kann Sekundärveränderungen wie Ergussbildung oder osteophytäre kraniale Anbauten sicher darstellen (⊡ Abb. 23.60). Radiologisches Standarddiagnostikum ist das konventionelle Röntgen, wobei hier neben den Standardschulteraufnahmen eine Zielaufnahme des Akromioklavikulargelenks vorgenommen werden kann. Die typischen radiologischen Veränderungen der Arthrose können in Form einer Osteoporose, Rarefizierung oder Osteolyse, insbesondere jedoch als osteophytäre Anbauten sicher beurteilt werden. Das MRT ist Frühdiagnostikum der präradiologischen Osteolyse, gibt aber wenig zusätzliche Information bei der gesicherten Arthrose. Es kann jedoch zum Ausschluss einer begleitenden Rotatorenmanschettenaffektion oder Impingement-Symptomatik durch kaudale Osteophyten hinzugezogen werden. ⊡ Abb. 23.60 Sonographie einer Akromioklavikulargelenksarthrose
Wegen des gehäuften gleichzeitigen Auftretens von Akromioklavikulargelenksarthrose und Rotatorenmanschettendefekten wird eine Kausalität kaudaler osteophytärer Anbauten diskutiert, wegen der zur Sehne des Supraspinatus an sich zu medialen Lage wird andererseits eine altersbedingte Assoziation vermutet. In jedem Fall kann jedoch eine ImpingementSymptomatik resultieren. Die laterale Klavikulaosteolyse kann posttraumatisch, in Zusammenhang mit neurologischen, chronischen oder entzündlich-rheumatischen Erkrankungen oder auch idiopathisch auftreten. Zumeist tritt die Erkrankung bei jungen Männern auf und ist insbesondere mit Kraftsport assoziiert.
z Therapie z z Konservative Therapie
Als konservative Maßnahme hat die Injektionstherapie, neben medikamentös analgetischen Maßnahmen, einen hohen Stellenwert, wobei zusätzlich zu einem Lokalanästhetikum geringe Mengen eines kristallinen Kortikosteroids mit dem Effekt der retrahierten Freisetzung und damit längeren Wirkdauer appliziert werden. Die Durchführung unter sonographischer Kontrolle ist angeraten. Krankengymnastisch und physikalisch können manuelle Mobilisierung und insbesondere Detonisierung der verkürzten Nackenmuskulatur sowie hyperämische Maßnahmen und Elektrotherapie unterstützend wirken. z z Operative Therapie
z
Klinik
> Klassische Schmerzen bei Akromioklavikulargelenksaffektionen werden beim Tragen von Lasten und insbesondere beim Hinübergreifen zur anderen Körperseite und beim Überkopfarbeiten beschrieben.
Die Schmerzen können in den proximalen Oberarm und nach proximal zum Nacken ausstrahlen, selten nach pektoral. Klassische Projektionsfelder sind der Pars descendens des M. trapecius sowie der M. sternocleidomastoideus, die meist deutlich verkürzt und druckschmerzhaft sind. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Inspektorisch kann bei schlanken Patienten eine Prominenz des Akromioklavikulargelenks bzw. deren osteophytären Anbauten und ergussbedingte Kapselschwellung auffallen. Entsprechend den anamnestisch erhobenen Angaben zu schmerzauslösenden Bewegungen sind die klinischen Zeichen ein oberer schmerzhafter Bogen, eine Schmerzprovokation bei endgradiger Abduktion und Anteversion sowie insbesondere Adduktion vor dem Körper im »Cross-over«-Test. Falsch-positive Befunde können beim O‘Brien-Test und Hawkins-Test auftreten. In Zweifelsfällen hilft die diagnostische Gelenksinfiltration mit prompter Beschwerdelinderung oder -freiheit.
Bei Versagen der konservativen Therapie kann operativ eine endoskopische Resektionsarthroplastik über einen subakromialen Zugang, eine offene Resektionsplastik des Akromioklavikulargelenks (nach Gurd-Mumford) oder die offene Resektionstranspositionsarthroplastik mit Versetzung des Lig. coracoacromiale auf den lateralen Klavikulastumpf nach Weaver-Dunn durchgeführt werden. Das Prinzip ist die Resektion der lateralen Klavikula mit Abtragung kaudaler Osteophyten, ggf. erweitert um eine zusätzliche subakromiale Dekompression. Kapselplastische Maßnahmen durch Einschlagen von Kapsel-Periost-Anteilen können ergänzt werden. Tipp
I
I
Nach aktuellen Empfehlungen sollte die Größe der Resektion bei 5–6 mm liegen und 10 mm nicht überschreiten, da sonst sekundäre Destabilisierungen und Instabilitäten auftreten.
Die horizontale Instabilität kann hierbei zu schmerzhaften spinoklavikulären Kontaktphänomenen bei Horizontaladduktion und gleichzeitiger Protraktion der Skapula führen. Nach offener Resektion muss mit dem eingelegten Finger überprüft werden, ob es bei hoher Abduktion oder horizontaler Adduktion noch zu Kontakt kommt. Insbesondere muss man
23
526
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
die stabilisierenden oberen und unteren akromioklavikulären Bändern sowie die korakoklavikulären Bänder beachten. Bei posttraumatischen Zuständen sowie Hypermobilität oder bei Patienten mit vermehrter Überkopfbeanspruchung ist der Methode nach Weaver-Dunn angesichts der zusätzlichen Stabilisierung Vorzug zu geben. Eine weitere Variante ist die Methode nach Shoji, bei der das Lig. coracoacromiale mit einem kleinen Knochenblock von der Akromionkante intramedullär in die Klavikula transponiert wird. Die Nachbehandlung kann nach operativen Maßnahmen am Akromioklavikulargelenk funktionell durchgeführt werden. Einzig bei Ligamenttranspositionen sollten stärkere Belastungen für 8 Wochen vermieden werden.
23.2.9
Erkrankungen des Sternoklavikulargelenks
z
Definition Die Arthrose des Sternoklavikulargelenks findet sich in der 5.
Lebensdekade zu über 90% mit den klassischen radiologischen Arthrosezeichen. Sie ist in der Regel jedoch nur gering ausgeprägt und klinisch unauffällig. Die 1974 von Brower erstmals beschriebene kondensierende Osteitis betrifft meist Frauen über 40 Jahre mit ausgeprägter Sklerose und Dickenzunahme der medialen Klavikula bei typischerweise erhaltenem Gelenkspalt und unauffälligem Sternum. Schmerzhafte Schwellungen und Erosionen können im Rahmen des rheumatischen Formenkreises bei M. Bechterew, Psoriasis, M. Reiter und Sklerodermie auftreten. Weitere Syndrome mit Beteiligung des Sternoklavikulargelenks und fließenden Übergängen sind die chronisch rekurrierende multifokale Osteomyelitis (CRMO), die sternokostoklavikuläre Hyperostose (SCCH) und das SAPHO-Syndrom (Synovitis, Akne, Pustulose, Hyperostose und Osteomyelitis). Eine seltene Erkrankung ist der M. Friedrich, die aseptische Knochennekrose der medialen Klavikula, benannt nach ihrem Erstbeschreiber von 1924. Infektionen sind selten und treten zumeist nach Injektionen auf, noch seltener sind Tumoren. z
lossifikation von medialer Klavikula, erster Rippe und Sternum. Je nach Ausprägung werden 3 Stadien abgegrenzt. Zusätzliche Hautveränderungen mit insbesondere palmoplantarer Pustulose beim CRMO und SCCH machen die Abgrenzung zum SAPHO-Syndrom schwierig. z
Klinik
Prominenz der Sternoklavikulargelenkskontur, Schwellungen oder Rötungen können imponieren, oft mit lokalem Druckschmerz. In der Regel werden Beschwerden bei Bewegungen berichtet, die einen Druck auf das Sternoklavikulargelenk ausüben. Insofern können Schmerzen beim horizontalen Hyperadduktionstest oder beim Schulterhochzug gegen Widerstand (»shoulder-shrug test«) provoziert werden. Schmerzen können jedoch auch durch Distension bei horizontaler Hyperabduktion hervorgerufen werden. z Diagnostik z z Bildgebende Verfahren
Die klassische nativradiologische Aufnahme ist die Einstellung nach Rockwood, bei der am liegenden Patienten mit um 40% kaudokranial gekipptem Zentralstrahl auf das Sternum gezielt wird. CT, MRT und Skelettszintigraphie dienen der weiterführenden Diagnostik. Die Sonographie erlaubt die Beurteilung der knöchernen Randkontur (Osteophyten), von Kapselverdickungen und Ergussbildung. z
Therapie
In der Regel sind konservative Maßnahmen mit lokal thermischen und physiotherapeutischen Behandlungen und NSAID ausreichend, je nach Erkrankung können systemische Kortisongaben erfolgen. Intraartikuläre Kortisoninfiltrationen zeigen gute Erfolge. In seltenen therapieresistenten Fällen kann die Resektion der medialen Klavikula vorgenommen werden, meist mit zusätzlichen gelenkstabilisierenden Maßnahmen. Fusionen sind nicht möglich oder sinnvoll. Beim SAPHO-Syndrom sind auch systemische Gaben von Kortison, Methotrexat oder Sulfasalazin und Cyclosporin üblich, eine antibiotische Therapie ist nur bei Infektionen indiziert.
Ätiologie und Pathogenese
Zu den vermehrten Belastungen des Sternoklavikulargelenks wird insbesondere Überkopfarbeit gerechnet. Resultierende erhöhte Druckbelastung und Scherkräfte begünstigen die Arthroseentstehung. Die Ätiopathogenese der kondensierenden Osteitis wie auch der Krankeitsbilder der chronisch rekurrierenden multifokalen Osteomyelitis (CRMO), der sternokostoklavikulären Hyperostose (SCCH) und des SAPHO-Syndroms ist ungeklärt. Aufgrund fließender Übergänge wird diskutiert, ob es sich bei den letzteren um unterschiedliche Erscheinungformen einer Erkrankung handelt. Allen gemeinsam ist ein fehlender Erregernachweis. Beim SAPHO-Syndrom findet sich gehäuft Propionibacterium acnes. Bei der CRMO werden unifokale und mulifokale Läsionen mit rezidivierenden Schwellungen beschrieben, wobei auch die gesamte Klavikula betroffen sein kann. Osteolysen kommen ebenso wie Sklerosen vor. Bei der SCCH kommt es meist beidseitig zu überschießender Knochenneubildung mit Weichtei-
23.3
Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
23.3.1
Klavikulafrakturen
M.A. Kessler z
Epidemiologie
Die Klavikulafraktur ist mit einer Inzidenz von 60/100.000 eine häufige Verletzung. Sie beträgt ca. 3% aller Frakturen des Körpers, wobei sie einen Anteil von ca. 30% aller Schulterfrakturen darstellt (Nordquist u. Petersson 1994). Der Anteil offener Frakturen ist vergleichsweise gering und beträgt nur ca 1–2% aller Klavikulafrakturen. Aufgrund des veränderten Freizeitverhaltens (Trendsportarten/Risikosportarten) ist eine Zunahme der Inzidenz der Frakturen zu verzeichnen.
527 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
z
Ätiologie und Pathogenese
Überdurchschnittlich häufig (90%) ist das mittlere Drittel der Klavikula betroffen. Eine Häufung ist am Übergang vom runden zum ovalen Bereich (mediales zu laterales Drittel) zu verzeichnen. Meist handelt es sich um einen weitergeleiteten Kompressionsmechanismus bei von anterolateraler Richtung einwirkender Kraft auf die Schulter. Eine direkte Kontusion des Os claviculare als Ursache einer Fraktur ist eher selten. Bei der Fraktur erfolgt eine Dislokation des mediales Fragments nach kraniodorsal durch Zug des M. sternocleidomastoideus und M. trapezius sowie eine Dislokation des lateralen Fragments nach mediokaudal durch Zug des Arms und des M. pectoralis (ähnlich dem Klaviertastenphänomen bei einer Akromioklavikulargelenkluxation). z
Klassifikation
Verschiedene Systeme können zur Klassifikation herangezogen werden. Diese sind manchmal in weiten Teilen identisch, von den verschiedenen Autoren werden oftmals partiell gleiche Verletzungskriterien beschrieben. Zur Übersicht sind hier die 3 gängisten Klassifikationen aufgelistet. International bewährt hat sich die Einteilung nach Allman mit einer Modifikation nach Neer (⊡ Tab. 23.1), wobei im deutschen Sprachraum oftmals Jäger und Breitener (1984) zitiert werden (⊡ Abb. 23.61, ⊡ Tab. 23.2). Die Einteilung nach Craig (1990) ist in ⊡ Tab. 23.3 dargestellt. z
Klinik
Im Seitenvergleich kann besonders beim schlanken Patienten eine Dislokation der Fragmente schon inspektorisch imponie-
ren. Bei der klinischen Untersuchung ist bei vorsichtiger a.p.Translation häufig eine Krepitatio zu vernehmen. Wie bei den meisten Frakturen kommt es zu einer schmerzhaften Schonhaltung und Schwellung, verursacht durch das Hämatom über der Frakturregion. > Bei kräftigeren oder adipösen Patienten ebenso wie bei polytraumatisierten Patienten kann eine Fraktur mit Verschiebung der Fragmente v. a. in der a.p.-Ebene leicht unterschätzt oder gar übersehen werden. Eine adäquate radiologische Untersuchung ist daher unerlässlich. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung umfasst das Schultergelenk, das Akromioklavikulargelenk, das Sternoklavikulargelenk, den Ausschluss von Begleitverletzungen großer Gefäße (A. und V. subclavia), die neurologische Untersuchung zur Evaluation des Plexus brachialis sowie den Ausschluss eines Pneumothorax oder Hämatothorax bei adäquater Traumaanamnese. z z Bildgebende Verfahren
Bei der radiologischen Beurteilung der Fraktur bei Kindern oder Jugendlichen ist zu beachten, dass es erst ab dem 25. Lebensjahr zu einer Verknöcherungen der Epiphysenfugen kommt. Obligat ist eine konventionelle Röntgendiagnostik des Schlüsselbeines in 2 Ebenen (»true« a.p. und axial). Besonderer Bedeutung wird dabei der exakten axialen Aufnahme beigemessen. Hierfür wird eine Röntgenplatte unter den leicht
⊡ Tab. 23.1 Einteilung der Klavikulafraktur nach Allman, Modifikation nach Neer Gruppe
Fraktur
I
Frakturen des mittleren Drittels
II
Frakturen des distalen Drittels
III
Typ I
Minimal oder nicht disloziert, interligamentär
Typ II
Dislozierte Fraktur medial der korakoklavikulären Bänder
Typ IIA
Beide Bänder (Ligg. conoideum und trapezoideum) bleiben mit dem distalen Fragment in Verbund
Typ IIB
Eines der beiden Bänder ist gerissen (Lig. conoideum oder Lig. trapezoideum)
Typ III
Intraartikuläre Fraktur
Typ IV
Bänder intakt, mit dem Periost verbunden, Dislokation zum proximalen Fragment
Typ V
Trümmerfraktur
Frakturen des proximalen Drittels Typ I
Nicht oder nur minimal disloziert
Typ II
Disloziert
Typ III
Intraartikuläre Frakturen
Typ IV
Epiphysenfraktur (nur bei Patienten <25 Jahre)
Typ V
Trümmerfraktur
23
528
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
⊡ Tab. 23.2 Einteilung der Klavikulafraktur nach Jäger und Breitner (1984) Typ
23
Fraktur
I
Fraktur lateral des Lig. coracoclaviculare ohne Ruptur
II
Fraktur auf Höhe des Korakoids (interligamentäre Fraktur)
IIa
Fraktur auf Höhe des Korakoids (interligamentäre Fraktur), Abriss der Pars conoidea, daher instabile Fraktur
IIb
Fraktur auf Höhe des Korakoids (interligamentäre Fraktur), Abriss der Pars trapezoidea, Pars conoidea intakt, daher weinger instabile Fraktur
III
Fraktur medial des Lig. coracoclaviculare ohne Ruptur
IV
Auch als Pseudoluxation bezeichnet, kommt ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen vor
⊡ Tab. 23.3 Einteilung der Klavikulafraktur nach Craig (1990) Gruppe
Fraktur
I
Fraktur des mittleren Drittel
II
Fraktur des distalen Drittel
III
Typ I
Interligamentär, minimale Dislokation, die intakten Ligamente halten die Fragmente ortsständig
Typ IIA
Dislokation medial der korakoklavikulären Bänder, das Lig conoideum und Lig. trapezoideum sind erhalten
Typ IIB
Dislokation medial der korakoklavikulären Bänder, Lig. conoideum gerissen, Lig. trapezoideum erhalten
Typ III
Intraartikuläre Frakturen (in das Akromioklavikulargelenk einlaufende Fraktur)
Typ IV
Kindliche Frakturen, Bänder intakt, Dislokation des proximalen Fragments
Typ V
Trümmerbruch
Fraktur des proximalen Drittels Typ I
Minimale Dislokation
Typ II
Dislokation (Bänder rupturiert)
Typ III
Intraartikulär
Typ IV
Epiphysenlösung
Typ V
Trümmerbruch
a
Typ I
b
Typ II
c
Typ III
d
Typ IV
⊡ Abb. 23.61a–d Fraktureinteilung nach Jäger und Breitner. a Typ I: Fraktur lateral des Lig. coracoclaviculare ohne Ruptur, b Typ II: Fraktur befindet sich auf Höhe des Korakoids (interligamentäre Fraktur), c Typ III: Fraktur medial des Lig. coracoclaviculare ohne Ruptur, d Typ IV: ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
abduzierten Arm geschoben und Röntgenstrahlung im Strahlengang von kranial nach kaudal appliziert. In der Regel ist diese Untersuchung gut durchführbar, sollte dies jedoch aus Gründen der Compliance nicht möglich sein, so stehen eine Reihe alternativer Röntgeneinstellungen zur Verfügung (siehe Fachliteratur Radiologie). Eine unzureichende Darstellung, sog. Behelfstechnik, unterschätzt meist die Dislokation der Frakturenden und somit die Verletzungsschwere. Erst mit Erhalt der exakt eingestellten Röntgenbilder und den damit gelieferten Informationen lässt sich das Schadensausmaß exakt erfassen und ein pathologiekonformes therapeutisches Konzept festlegen. Bei Bedarf erfolgt eine weiterführende radiologische Diagnostik der angrenzenden Gelenkregionen (Röntgen des Schultergelenks in 3 Ebenen, Sternoklavikulargelenk in 2 Ebenen, Thorax), die Sonographie der Schulter und des Akromioklavikulargelenks sowie die Computertomographie beim schwerverletzten polytraumatisierten Patienten.
529 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
z
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostisch müssen eine Akromioklavikulargelenkluxation, eine Sternoklavikulargelenkluxation, eine Schultergelenkluxation, Frakturen der Schulterregion, des Sternums oder der Rippen oder gar eine »floating shoulder« ( Abschn. 23.3.2) in Betracht gezogen werden. z
Therapie
Ziel, ob konservativ oder operativ, ist eine rasche Schmerzlinderung bei früher Belastungsstabilität. Neben einem langfristig guten funktionellen Ergebnis spielt oftmals auch der ästhetische Aspekt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Bei bestimmten Verletzungsmustern herrscht weitgehende Übereinstimmung bezüglich des weiteren therapeutischen Vorgehens. In den letzten Jahren unterlag jedoch das therapeutische Verfahren aufgrund neuer operativer Verfahren und Studiendaten einem Paradigmenwechsel. Besondere Bedeutung wird dabei einer durch die Fraktur bedingten Verkürzung beigemessen. Patienten profitieren durch die Wiederherstellung der originären Länge durch eine Verbesserung der Beweglichkeit und einer Reduktion der Pseudarthroserate (Kettler et al. 2007, Zlowodski et al. 2005). Einigkeit über das optimale Therapieverfahren, ob konservativ oder operativ, bei der am häufigsten vorliegenden Pathologie, der medialen Klavikulafraktur, wurde bislang noch nicht erzielt.
Als Implantate verwenden wir bei einfachen Frakturen (2 Fragmente) einen intramedullären Nagel, z. B. Prevot-Nagel, ECMES (⊡ Abb. 23.62 u. ⊡ Abb. 23.63) oder TEN-Nagel (»titanium elastic nail«). Bei komplexeren Frakturformen (>2 Fragmente) kommt meist ein winkelstabiles oder nicht winkelstabiles Plattensystem (LCP, LCDCP, Reko-Platte, Drittelrohrplatte) zum Einsatz. Bei Frakturen im lateralen Drittel kann eine Kombination von Kirschner-Draht mir Cerclage (Faden oder Draht) oder in Sonderfällen eine Hakenplatte (Balser-Platte) verwendet werden. z z Nachbehandlung
Posttraumatisch wird eine orale Schmerzmedikation (Paracetamol 4-mal 1 g, Novalgin 4-mal 20 Tropfen, Ibuprofen 4-mal 400 mg) nach Bedarf verschrieben. Aufgrund der gastrointestinalen Nebenwirkungen sowie der unklaren Auswirkungen auf die Ossifikation können NSAR nicht uneingeschränkt empfohlen werden. Alle Patienten erhalten eine Armschlinge. Den theoretischen biomechanischen Vorteil eines Rucksackverbands eliminieren die Nachteile bezüglich des Tragekomfort (Druckbe-
z z Konservative Therapie
Die Indikation besteht bei der nicht verkürzten und wenig oder nicht dislozierten Fraktur. Die Dauer bis zur ossären Konsolidierung beträgt ca. 6–8 Wochen. Zur Schmerzentlastung und Redression kann ein Rucksackverband oder besser eine Gilchrist-Schlinge rezeptiert werden. Die Wirksamkeit des Rucksackverbands ist umstritten. Er verhindert hauptsächlich eine Verkürzung, fördert aber oftmals die Dislokation der Fragmente. > Wird ein Rucksackverband angelegt, muss die Position regelmäßig kontrolliert werden. z z Operative Therapie
Ein entscheidender, jedoch oft unterschätzter Aspekt in Hinblick auf die Indikationsstellung stellt die Lage der Fragmente dar. Dabei wird ein Versatz in der a.p.-Ebene aufgrund insuffizienter Röntgendarstellung häufig übersehen. Entscheidend ist daher die Abbildung der Fraktur auch in der »true« anteroposterioren Projektion (Fulkrumaufnahme) und v. a. in der exakten axialen Ebene. Häufig zeigt sich hier erst das Ausmaß der Fraktur und die genaue Größe des Frakturspalts (Braunstein et al. 2009). Die ursprünglich zurückhaltende Indikation pro operativer Versorgung hat sich aufgrund der Gewichtung neuer röntgendiagnostischer Aspekte und der guten operativen Ergebnisse mit jüngeren Verfahren (intramedulläre Nagelung) nachhaltig verändert. Wir empfehlen ein operatives Vorgehen bei dislozierten Frakturen, Vorliegen eines Zwischenfragments (z-förmiges Schaltfragment), bei polytraumatisierten Patienten sowie offenen Frakturen oder zusätzlichen Gefäß-Nerven-Verletzungen.
⊡ Abb. 23.62 Entscheidung für die Anwendung eines intramedullären Verfahrens (ECMES). Das intraoperative Bild zeigt die Einführung des Titannagels von lateral nach medial
⊡ Abb. 23.63 Postoperative Röntgenkontrolle in der schräg axialen Aufnahme. Die Verkürzung ist aufgehoben und die originäre Länge wieder hergestellt. Es zeigt sich nur noch eine geringe Dislokation. Ein kleines zusätzliches dorsales Fragment hat sich im Rahmen der Reposition selbständig angelegt
23
530
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
schwerden auf die Frakturregion). In einer Studie von Anderson und Mitarbeitern zeigte sich der Rucksackverband im Vergleich zur einfachen Armschlinge bezüglich der Patientenzufriedenheit deutlich unterlegen (Andersen et al. 1987). In unserer Einrichtung wird daher primär standardmäßig eine einfache Armschlinge und nur auf Wunsch des Patienten eine GilchristBandage angelegt. Nach gesicherter Wundheilung wird von manchen Autoren eine schmerzadaptierte unlimitierte Bewegung im Schultergelenk beschrieben. Wir empfehlen die Bewegung bis zur Horizontalebene für 6 Wochen zu limitieren. Schulterbelastende Sportarten sollten erst nach radiologisch nachgewiesener Konsolidierung, frühestens jedoch nach 12 Wochen begonnen werden. Im Profisportbereich muss die Belastungsreduktion an die entsprechende Tätigkeit angepasst werden. Als spezifische postoperative Nachbehandlung erfolgt die Implantatentfernung nach radiologisch gesicherter Durchbauung planmäßig nicht vor Ablauf des 3. Monats. Bei komplexen Frakturen sollte bei komplikationslosem Verlauf mindestens bis zum 6. Monat abgewartet werden. z z Evidenz und Kontroversen
Das optimale Therapieverfahren bei der Klavikulafraktur ist umstritten. Die Auswahl des Therapieverfahrens verteilt sich nach aktuellen Literaturangaben in etwa wie folgt: konservativ (50%), Plattenosteosynthese (30%), intramedulläres Verfahren (20%) (Zlowodzki et al. 2005).
gegenüber standen 3 Wundinfekte und ein Implantatversagen sowie eine störende Prominenz des Implantats mit späterer Revision zur Metallentfernung (Canadian Orthopaedic Trauma Society 2007) In einer nicht randomisierten Metaanalyse aus mehreren Studien bei insgesamt 635 Patienten zeigte sich nach Plattenosteosynthese eine deutlich niedriger Pseudarthroserate (2%) verglichen mit der nach konservativen Behandlung (15%; Zlowodzki et al. 2005). In einer prospektiv randomisierten Studie an 100 Patienten zeigte sich diese Tendenz noch deutlicher. Nach konservativer Therapie entwickelten 24% der Patienten (12/50) eine Pseudarthrose, im Vergleich dazu kein Patient (0/50) nach Plattenosteosynthese. Jedoch forderten 30% der Patienten eine Operation zur Metallentfernung (Smith et al. 2001). Die Ergebnisse und Komplikationen nach offener Versorgung mittels Plattenosteosynthese (ORIF) von dislozierten Klavikulafrakturen des mittleren Drittels beschreiben Böstman und Mitarbeiter (1997) in einer Untersuchung an 103 Patienten. Bei lediglich 77% aller Patienten zeigte sich ein komplikationsloser Verlauf. Bei 23% der versorgten Patienten trat mindestens eine Komplikation wie tiefer Wundinfekt, Plattenbruch, Pseudarthrose oder Refraktur auf. Die Infektionsrate wird mit 7,8% angegeben. Aufgrund der genannten Komplikationen wurden 14 Revisionsoperationen erforderlich. Die Autoren der Studie empfehlen daher eine zurückhaltende Indikationsstellung der operativen Methode mittels Plattenosteosynthese bei dieser Art von Frakturen (Böstman et al. 1997).
Konservatives Verfahren
Nach konservativer Therapie wird eine höhere Rate von Pseudarthrosen (»nonunion«) oder Fehlheilungen (»malunion«) proklamiert. Zlowodzki und Mitarbeiter (2005) beschreiben bei 1145 konservativ therapierten Fällen eine Pseudarthroserate von 6%, wobei sich diese Komplikation bei dislozierten Frakturen nach konservativer Therapie bis auf 15% steigert. In einer konsekutiven Untersuchung an 242 Patienten mit dislozierten Frakturen zeigten Hill und Mitarbeiter (1997) nach konservativer Behandlung eine Pseudarthrose bei 15% und ein subjektiv unbefriedigendes Ergebnis bei 30% der Patienten. > Das Risiko einer Pseudarthrose unter konservativer Therapie steigt mit Anzahl der Frakturfragmente an. Zu bedenken ist, dass eine unzureichende Röntgendiagnostik das Ausmaß der Dislokation eher unterschätzt. Konservatives Verfahren versus Plattenosteosynthese
Diese Fragestellung wurde in einer Multicenterstudie im Jahr 2007 von der Canadian Orthopaedic Trauma Society an Hand von 132 Fällen bei Frakturen im mittleren Drittel untersucht. Dabei wurde eine Versorgung mittels Plattenosteosynthese einer konservativen Versorgung mittels Armschlinge gegenübergestellt. Die Funktion war nach Plattenosteosynthese zu jedem Untersuchungszeitpunkt besser. Der Zeitpunkt, bis eine radiologische ossäre Durchbauung nachgewiesen werden konnte, war nach Osteosynthese signifikant kürzer (28 Wochen vs. 16 Wochen). Die Rate der Pseudarthrose und Fehlheilung war bei der operativ versorgten Gruppe signifikant niedriger. Dem-
Konservatives versus intramedulläres Verfahren
Eine weitere Therapieoption ist die Versorgung mit einer intramedullären Schienung (ESIN: elastisch stabile intramedulläre Nagelung, TENS: »titanium elastic nail«). Im Rahmen einer Metaanalyse wurden die Daten von 364 Patienten nicht randomisiert erfasst. Dabei zeigte sich eine fehlende Durchbauung bei nur 2% der Patienten im Gegensatz zu 6% nach konservativer Therapie. Dieser Trend zeigt sich bei der Gruppe der dislozierten Brüchen (154 Patienten) noch erheblich verstärkt (intramedullärer Nagel 2% vs. konservative Therapie 15%; Zlowodzki et al. 2005). Ein Vergleich zwischen ESIN und Rucksackverband wurde von Jubel und Mitarbeitern bei 53 Patienten durchgeführt. Dabei wurde nach operativem Vorgehen eine bessere Funktion, höhere Zufriedenheit, bessere Retention sowie schnellere Rückführung in den Arbeitsprozess beobachtet. Schwerwiegende Komplikationen wurden nicht beschrieben. Eine schwerwiegende, wenn auch seltene Komplikation ist die Drahtmigration, bei der sich das Fremdmaterial bis in Regionen mit vital bedrohlichen Folgen vorarbeiten kann (Hegemann et al. 2005). Aufgrund spezifischer Komplikationen wird von manchen Autoren ein konservatives Vorgehen empfohlen. Grassi und Mitarbeitern (2001) berichten in ihrer vergleichenden Untersuchung (Kirschner-Draht vs. konservative Behandlung) an 40 Patienten über eine hohe Komplikationsrate (8 Infektionen, 3 Refrakturen, 4 Pseudarthrosen mit Drahtbruch) und empfehlen daher eine konservative Therapie.
531 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Auf die Tatsache, der axialen Aufnahme mehr Bedeutung beizumessen, wurde in diesem Abschnitt bereits mehrmals hingewiesen. Wird diese Aufnahme nur unzureichend durchgeführt, so wird die Dislokation in der a.p.-Ebene häufig übersehen, was nach persönlicher Meinung des Autors als Faktor für die hohe Pseudarthroserate nach konservativer Therapie spricht. Nachdem wir mit besonderem Augenmerk diese Aufnahme betrachten, meinen wir eine erhöhte Rate an dislozierten Frakturen in der a.p.-Ebene zu erkennen. Anhand neuerer Daten wird die Indikation zur operativen Versorgung großzügiger gestellt als noch vor einigen Jahren, wobei sich dieser Trend auch in der eigene Abteilung bestätigt. Eine konservative Therapie führen wir durch, wenn es sich um eine in allen Ebenen nicht dislozierte Fraktur (weniger als eine Schaftbreite) handelt. Standardmäßig wird eine einfache Armschlinge angelegt. Die Fraktur wird in regelmäßigen Abständen (1., 2. und 4. Woche) radiologisch nachkontrolliert. Für die Dauer von 6 Wochen soll auf Bewegung über der Horizontaleben verzichtet werden.
(mehr als 2 Fragmente) durchgeführt. Als Implantat verwenden wir eine LCDCP-Platte mit 3,5-mm-Schrauben oder eine winkelstabile Rekonstruktionsplatte, die von kranial (superior) oder wahlweise von ventral (anterior) an die Klavikula angelegt wird. Das postoperative Prozedere folgt keinem festgelegten Standard, sondern wird in diesen Fällen individuell angepasst. z
Prognose
Allgemein wird der Klavikulafraktur eine günstige Prognose zugeschrieben. Die verletzungsbedingte Behinderung wird in der posttraumatischen Phase jedoch oftmals unterschätz. Auch im Langzeitverlauf entstehen in bis zu 30% der Fälle suboptimale Ergebnisse mit funktionellem oder ästhetischem Defizit. z
Komplikationen
Absolute Operationsindikation
Als Komplikationen müssen erwähnt werden: ausbleibende Knochenheilung, Repositionsverlust, Kallusbildung, Verkürzung, Schmerzen, Armschwellung, Kribbelparästhesien, verminderte Schulter-Arm-Funktion. Zudem sind operationsspezifische Komplikationen zu nennen, z. B. Wundheilungsstörung, Infekt, Implantatversagen, Implantatbruch, Implantatwanderung, Zweiteingriff zur Materialentfernung, Narbenbildung, Hyposensibilität.
▬ Offenen Frakturen ▬ Dislokation von mehr als einer kompletten Schaftbreite
Sonderform: sternoklavikuläre Instabilität
▬ ▬ ▬ ▬
und Verkürzung von mehr als 2 cm Frakturen mit Zwischenfragment mit Verkippung (Z-Form, sog. Schaltfragment) polytraumatisierten Patienten »floating shoulder« Gefäß-Nerven-Verletzungen
Eine intramedulläre Nagelung wird bei einfachen Frakturen (2 Fragmente) mit Dislokation um mehr als eine Schaftbreite oder beim Patienten mit sportlich sehr hohem Anspruch durchgeführt. Dafür Lagern wir den Patienten in Rückenlage mit frei beweglichem abgedecktem Arm auf einem röntgendurchlässigen Operationstisch mit Karbonplatten. Wahlweise kann nach persönlicher Präferenz ein Zugang von lateral oder medial erfolgen. Der Zugang von lateral mit Eintrittspunkt an der dorsalen Klavikulakante (Portal nach Neviaser) wird empfohlen, da dieser den nicht zu unterschätzenden kosmetischen Vorteil einer Narbenbildung in nicht prominenter Körperregion (versus Dekolleté) bietet. Zudem ermöglicht er die Option eines relativ kleinen Erweiterungsschnitts zur offenen Darstellung der Fraktur bei Notwendigkeit einer offenen Reposition. Wie bei der konservativen Therapie wird standardmäßig eine einfache Armschlinge angelegt. Die Fraktur wird postoperativ nach der 1., 2. und 6. Woche radiologisch nachkontrolliert. Für die Dauer von 6 Wochen soll auf Bewegung über der Horizontaleben verzichtet werden. Die Metallentfernung sollte nach radiologisch gesicherter Durchbauung und nicht vor der 12. postoperativen Woche erfolgen. Eine offene Rekonstruktion mittels Plattenosteosynthese wird in unserer Einrichtung nur bei komplexen Frakturen
Eine isolierte Verletzung des sternoklavikulären Gelenks ist eine Rarität. Eine Verletzung entsteht meist im Rahmen eines Hochrasanztraumas in Kombination mit potenziell lebensbedrohlichen Verletzungen. Das Sternoklavikulargelenk weist als Sattelgelenk einen großen klavikulären und kleinen sternalen Anteil (Fossa manubria) auf. Das Gelenk wird hauptsächlich durch einen rigiden anterioren und posterioren Kapselteil stabilisiert (Spencer et al. 2002, Spencer u. Kuhn 2004). Weitere ligamentäre Strukturen wie die kostoklavikluären Bänder spielen bei der Stabilisierung nur eine untergeordnete Rolle. Verletzungen des Sternoklavikulargelenks werden unterteilt nach Luxationsrichtung (anterior vs. posterior), Chronizität (akut, subakut, chronisch) und Schweregrad (selbständige spontane Reposition, reponierbar, nicht reponierbar) (Bahk et al. 2010). Für eine genaue bildgebende Diagnostik ist die konventionelle Röntgentechnik bedingt durch Überlagerungsartefakte meist nur unzureichend verwertbar. Falls in zeitlich absehbarem Rahmen eine computertomographische Untersuchung mit Kontrastmittel zur Gefäßdarstellung zur Verfügung steht, sollte diese auch zum Ausschluss weiterer Begleitverletzungen durchgeführt werden. Eine Luxation der Klavikula nach anterior ist häufiger als eine Luxation nach posterior. ! Cave Bei einer Luxation in posteriorer Richtung besteht die Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen wie Kompression der Trachea, der großen Gefäße oder des Mediastinums (Jougon et al. 1996).
Unbehandelte Luxationen können zu schwerwiegenden Spätfolgen wie Erosionen der Gefäße, Fistelbildung des Ösophagus, Kompression des Plexus oder »Thoracic-outlet«-Syndrom füh-
23
532
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
ren. Der Unfallmechanismus wird als Hebelmechanismus der Klavikula bei zurückgenommenen Schultergürtel über die erste Rippe beschrieben (Bahk et al. 2010). Verschieden Repositionstechniken wurden bislang veröffentlicht. Einigkeit besteht in der Literatur weitgehend darüber, dass eine akute Luxation sofort reponiert werden sollte. Bei einer Luxation nach anterior kann dies ohne spezielle Vorsichtsmaßnahme erfolgen, wohingegen bei einem Repositionsmanöver bei posteriorer Luxation erhöhte Vorsicht geboten ist. Falls die Luxationsstellung mit einer Kompression von rupturierten Gefäßen vergesellschaftet ist, kann das Repositionsmanöver aus der posterioren in die Neutralstellung zu einer lebensbedrohlichen Blutung führen. Daher wird geraten bei dieser Konstellation einen thoraxchirurgischen Bereitschaftsdienst anzufordern (Bahk et al. 2010). Chronische anteriore Luxationen erreichen meist auch ohne Reposition ein akzeptables klinisch-funktionelles Ergebnis, wohingegen bei der chronischen posterioren Luxation eine Reposition empfohlen wird, um einer Erosion von Gefäßen, der Trachea oder des Ösophagus vorzubeugen. Eine Vielzahl verschiedener operativer Techniken zur Therapie der sternoklavikularen Instabilität sind beschrieben. Die Resektionen der medialen Klavikular ist mit schlechten Resultaten assoziiert (Rockwood et al. 1997, Acus et al. 1995). Spencer und Kuhn (2004) verglichen die biomechanischen Eigenschaften der gängigsten operativen Verfahren wie Transfer der Subklaviussehne, Resektion der medialen Klavikular mit Interposition des Discus articularis und der Kapsel-BandAnteile sowie den autologen Sehnenersatz (Semitendinosustransplantat, ⊡ Abb. 23.64) mittels Achterschlinge (»figure-ofeight reconstruction«). Dabei zeigte sich dieses Verfahren den anderen Techniken deutlich überlegen.
23.3.2
M. A. Kessler z
a
Definition
Frakturen des Schulterblatts sind seltene Verletzungen. Sie betragen nur ca. 3% aller Schulterverletzungen und ca. 0,5% aller Frakturen. Dies wird zum einen der morphologischen Knochenform und zum anderen der guten Ummantelung mit Weichteilgewebe zugeschrieben. Die Angaben über die Lokalisation der Frakturen sind je nach Quelle sehr unterschiedlich, in ca. 40% ist das Schulterblatt betroffen, in 30% der Skapulahals und in 30% das Glenoid (⊡ Abb. 23.65). Die Therapie der Skapulafrakturen variiert je nach Frakturform und Lokalisation sowie nach Ausmaß der Dislokation. Selten müssen Brüche des Schulterblatts operativ behandelt werden, sind jedoch häufig Hinweis auf ein schweres Thoraxtrauma mit Begleitverletzungen, dabei sind vorrangig Brüche der Rippen, Hämatothorax, Pneumothorax oder Gesichtsschädelverletzungen zu erwähnen. > In ca. 10% ist ein begleitender Gefäß-Nerven-Schaden vorhanden (Goss 2004).
Die operative Therapie der Skapulafrakturen erfolgt daher oftmals erst sekundär nach primärer Versorgung entsprechend den Algorithmen des Polytraumamanagements. z
Epidemiologie
Bei Verletzungen des Schulterblatts handelt es sich überwiegend um junge Patienten (25–50 Jahre), das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre (Goss 2004, Wiedemann 2004). z
! Cave Aufgrund der Gefahr einer Fremdkörpermigration und somit der Verletzung vital bedeutender Strukturen ist der Einsatz von Kirschner-Drähten oder Steinmannnägeln kontraindiziert.
Skapulafrakturen
Ätiologie und Pathogenese
Meist ist ein direktes Kontusionstrauma die Ursache, in 50% in Zusammenhang mit Verkehrsunfällen. Dabei sind die Frakturen oftmals mit Polytraumen assoziiert. Vereinzelt wird in der Literatur auch von Frakturen des Schulterblatts nach schnellen Schulterbewegungen berichtet. Es handelt sich dann um ein
b
⊡ Abb. 23.64a–c Stabilisierungsverfahren durch Achterschlinge mittels autologem Semitendinosustransplantat
c
533 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Anschlagen der Thoraxwand gegen das Schulterblatt bei indirekter Krafteinleitung. Dieser Traumamechanismus wurde als »Recoil-Mechanismus« beschrieben. Das häufigste Verletzungsmuster ist eine Fraktur mit Schulterluxation, wobei eine
≈7% –8 %
– 5% ≈ 10 %
Fraktur des Glenoids (Typ-D1nach Euler oder »Bankart Fraktur«) entsteht. z
z
– 25%
≈45 %
⊡ Abb. 23.65 Verteilungsmuster der Skapulafrakturen
⊡ Tab. 23.4 Klassifikation von Brüchen des Schulterblatts nach Euler und Rüedi Gruppe
Fraktur
A
Corpusfrakturen: Skapulablattfrakturen (einfach oder mehrfach)
B
Fortsatzfrakturen B1
Spina
B2
Korakoid
B3
Akromion
C
Klassifikation
Noch immer sind die Bezeichnungen der Frakturformen und somit die Einteilungen nicht genau abgegrenzt. Prinzipiell sollte unterschieden werden zwischen Frakturen des Schulterblatts (Korpus-, Fortsatz-, Collumfrakturen) oder Frakturen des Glenoids. Bei Brüchen in der Glenoidregion muss unterschieden werden, ob diese unter Krafteinwirkung auf das Schulterblatt entstanden sind oder ob es sich um eine Randabsprengung des Glenoids als Folge einer Schulterluxation handelt. Hier stehen dann meist die periartikulären ligamentären Strukturen im Focus der Behandlung. Zu unterscheiden ist daher zwischen Bankart-Fraktur (mit spongiösen Anteilen) und Bankart-Luxation (nur Kortikalisschuppe). Klassifikation nach Euler und Rüedi
Zur Klassifikation von Brüchen des Schulterblatts hat sich im deutschsprachigen Raum die Klassifikation nach Euler und Rüedi durchgesetzt. 1996 wurde eine Einteilung der Skapulafrakturen in 5 Gruppen publiziert. Die Einteilung erfolgt nach den Kriterien intra- oder extraartikulär und berücksichtigt darüber hinaus die Morphologie, die Schwere und die Prognose der Fraktur (⊡ Tab. 23.4, ⊡ Abb. 23.66). Klassifikation nach Goss
Unterschieden werden 9 Bruchformen des Schulterblatts in 6 Klassen. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt im Verlauf der Bruchlinie im Verhältnis zur Gelenkpfanne (⊡ Abb. 23.67). Bei dieser Bruchklassifikation ist die Interobserver-Reliabilität nur als gering einzustufen.
Collumfrakturen C1
Collum anatomicum
C2
Collum chirurgicum
C3
Collum chirurgicum mit Klavikula, Lig. coracoclaviculare, Lig. coracoacromiale (»floating shoulder«)
D
E
Klinik
Wie bei den meisten Frakturen kommt es zu einer durch Schmerzen verursachten Schonhaltung und zu Schwellung, verursacht durch das Hämatom über der Frakturregion. Als Sonderform gilt die »floating shoulder«, bei der das laterale Fragment der Skapula, der sog. »korakoglenoidale Block«, von allen Strukturen getrennt wurde (s. unten). Die Schulterfunktion ist dann nahezu aufgehoben. Eine Schulterluxation sollte ausgeschlossen werden.
Gelenkfrakturen D1
Pfannenrandfrakturen (Bankart-Frakturen)
D2
Fossa glenoidales
D3
Kombinationsfrakturen Kombinationsfrakturen mit Humeruskopffrakturen
Intraartikuläre Glenoidfrakturen nach Ideberg
Frakturen der Gelenkpfanne (Typ D nach Euler) können zudem nach Ideberg unterteilt werden (⊡ Abb. 23.68). Frakturen des Glenoids gelten als seltene Form der Schulterverletzung. Umso höher ist daher die Wertigkeit der Einteilung von Ideberg anzusiedeln, die basierend auf 200 Fällen an 25 Krankenhäusern durchgeführt wurde (Ideberg 1984). Dabei wurden 5 Unterteilungen vorgenommen, unter Beachtung von Traumamechanismus und Therapie. ▬ Typ I betrifft den anterioren Rand, das Fragment ist manchmal disloziert. Dies ist die häufigste Frakturform (65%). Ideberg beschreibt diesen Typ als einzige Glenoidfraktur, die aufgrund eines indirekten Traumas der Schulter auftritt.
23
534
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
B2
B3
23 B1
M. biceps
A
M. deltoideus Typ A: Korpusfrakturen Typ B1: Brüche der Spina Typ B2: Processus-coracoideus-Frakturen Typ B3: Brüche des Acromions
⊡ Abb. 23.66 Skapulafrakturen: Klassifikation nach Euler. Unterschieden wird nach dem Frakturverlauf anhand anatomischer Landmarken in Korpus-, Fortsatz-, Kollum- und Gelenkfrakturen sowie Kombinationsverletzungen
Ia
Ib
II
Va
▬ Typ II (»transverse«) zeigt eine transversale Frakturlinie durch die Fossa glenoidale, die den inferioren Anteil des Glenoidhalses als dreieckiges Fragment absprengt. Der Humeruskopf ist dabei disloziert (3%). ▬ Typ II (»oblique«) zeigt eine schräg verlaufende Frakturlinie, bei der das Fragment nach posterorinferior dislozieren kann (3,5%). ▬ Typ III ist oft kombiniert mit einer Fraktur des Akromions oder der Klavikula, mit Dislokationen des Akromioklavikulargelenks oder mit Kombinationen dieser zusätzlichen Läsionen. Der Frakturspalt läuft dabei schräg von Glenoid und Hals bis etwa zur Mitte des superioren Rands der Skapula. Gelenkinkongruenz entsteht dabei durch Rotation des großen Fragments, das den Processus coracoideus beinhaltet (8,5%). ▬ Typ IV läuft horizontal durch Hals und Korpus, zeigt manchmal mehrere Fragmente und eine Gelenkinkongruenz (11,5%). ▬ Typ V ist eine Kombination aus Typ IV mit einer transversalen Fraktur durch den Hals oder nur durch den inferioren Frakturanteil am Hals des Glenoids (10%).
III
Vb
IV
Vc
VI
⊡ Abb. 23.67 Skapulafrakturen: Klassifikation nach Goss. Unterschieden werden 9 Bruchformen in 6 Klassen. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf dem Verlauf der Bruchlinie im Verhältnis zur Gelenkpfanne
535 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
transverse
Typ1
Typ3
Typ2
Typ4
oblique
Typ2
Typ5
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Aufgrund der meist starken Gewalteinwirkung muss eine umfassende Diagnostik von Begleitverletzungen durchgeführt werden. Dabei beinhaltet die klinische Untersuchung die Evaluation des Schultergelenks, des Akromioklavikulargelenks, des Sternoklavikulargelenks, den Ausschluss von Begleitverletzungen großer Gefäße (A. und V. subclavia), die neurologische Untersuchung zur Evaluation des Plexus brachialis sowie den Ausschluss eines Pneumothorax oder Hämatothorax bei adäquater Traumaanamnese. Auch ein epileptischer Krampfanfall oder ein Stromunfall sollten anamnestisch in Erwägung gezogen werden. z z Bildgebende Verfahren
Obligat ist eine konventionelle Röntgendiagnostik, die sog. Traumaserie in 3 Ebenen (true a.p., transskapulär, axial), sofern dies schmerzbedingt durchführbar ist. Kann die Fraktur mittels der konventionellen Bildgebung nicht ausreichend eingeordnet werden, bringt eine CT-Aufnahme meist zusätzliche Informationen. Zu indizieren ist bei Bedarf eine weiterführende Diagnostik mittels radiologischem Schnittbild und Kontrastmitteldarstellung. Dabei ist ein Röntgen-Thorax sowie die CT entsprechend des Polytraumamanagements beim schwerverletzten polytraumatisierten Patienten besonders hervorzuheben. z
Differenzialdiagnosen
Es müssen Frakturen des proximalen Humerus, der lateralen Klavikula, des Sternums und der Rippen sowie eine Schultergelenkluxation in Betracht gezogen werden. z Therapie Schulterblattfrakturen (Typ A nach Euler)
Das Schulterblatt ist umgeben von der periskapulären Muskulatur, welche die Fraktur schient und somit gute Voraus-
⊡ Abb. 23.68 Glenoidfrakturen: Klassifikation nach Ideberg
setztungen für eine rasche Heilung bietet. In der Regel erfolgt eine konservative Therapie, ein operatives Vorgehen ist nur bei symptomatischer Pseudarthrose erforderlich. Mehr als 90% aller Skapulafrakturen erreichen nach konservativer Behandlung gute bis sehr gute Ergebnisse, von Pseudarthrosen wird nur in Einzelfällen berichtet (Mayo 1998, Nordqvist 1992). Zur konservativen Behandlung wird die betroffene Extremität mittels Gilchrist-Verband für die Dauer von 7–10 Tagen ruhiggestellt. Im Anschluss erfolgen Pendelübungen und passiv-assitive Bewegungsübungen bis nach der 6. Woche nach Trauma. Ab der 7. Woche kann aktiv das freie Bewegungsausmaß mit Gewichtsübungen auch über der Horizontalebene begonnen werden. Ein Therapieabschluss ist in der Regel nach 9–12 Wochen erreicht. Fortsatzfrakturen (Typ B nach Euler)
Frakturen der Spina (Typ B1) werden in der Regel konservativ behandelt. Bei ausgedehnten Dislokationen ist in Einzelfällen eine offene Rekonstruktion mittels Rekonstruktionsplattensystem indiziert. Die meisten Brüche des Korakoids sind einer konservativen Therapie zugänglich. Die ansetzenden Bänder bilden ähnlich der Verspannung eines Zirkuszeltes eine stabile Verankerung. Bei einer Dislokation oder einer zusätzlichen Fraktur in der skapuloklavikulären Region sollte eine Schraubenosteosynthese in Erwägung gezogen werden. Dies kann mit einer kanülierten Schraube über einen zuvor eingebrachten Zieldraht erfolgen. Brüche des Akromions (Typ B3) sollten mittels Osteosynthese versorgt werden. ! Cave Frakturen in dieser Region sind streng von einem Os acromiale zu unterscheiden, eine versehentliche Verschraubung dieser Normvariante führt postoperativ zu erheblichen Beschwerden.
23
536
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Skapulahalsfrakturen (Typ C nach Euler)
23
Bei Brüchen, die den Skapulahals betreffen, ist das Ausmaß der Dislokation und der Verkippung für die weitere Behandlung entscheidend. Dabei wird zwischen undislozierten Frakturen (<1 cm und <40° Verkippung) und dislozierten Frakturen unterschieden (>1 cm und/oder >40° Verkippung). Bei den meisten Bruchformen in dieser Region (>90%) handelt es sich um undislozierte Frakturen, die – sofern keine zusätzliche Läsion der Bänder oder anderer Knochen besteht – konservativ behandelt werden können. Für das therapeutische Regime benutzen wir das gleiche Protokoll wie für Schulterblattfrakturen. Die betroffene Extremität wird mittels Gilchrist-Verband für die Dauer von 7–10 Tagen ruhiggestellt. Im Anschluss erfolgen Pendelübungen und passiv-assitive Bewegungsübungen bis nach der 6. Woche nach Trauma. Ab der 7. Woche kann aktiv das freie Bewegungsausmaß mit Gewichtsübungen auch über der Horizontalebene begonnen werden. Ein Therapieabschluss ist in der Regel nach 9–12 Wochen erreicht. Dislozierte Frakturen werden meist operativ versorgt. Entscheidend für das Vorgehen ist dabei das Repositionsergebnis unter Berücksichtigung der Ligamentotaxis. Aus diesem Grund ist eine sekundäre Versorgung mit einem größeren operativen Aufwand verbunden. Zur Stabilisierung wird eine AO-Rekonstruktionsplatte an den posterioren Rand des Glenoids angelegt und über den lateralen Rand der Skapula fixiert. Für diese Art der Versorgung ist ein dorsaler Zugang (s. unten) notwendig. Eine Prognose ist nur schwer zu stellen. Es existieren nur wenige Studien mit niedrigem Evidenzgrad, es scheint jedoch ein besseres postoperatives Ergebnis nach sorgfältiger anatomischer Rekonstruktion zustande zu kommen. Gelenkfrakturen (Typ D nach Euler)
Eine Fraktur des anteroinferioren Pfannenrands kann zu einer nachhaltigen Instabilität des Glenohumeralgelenks führen. In Abhängigkeit von der Größe des ossären Defekts sollte entschieden werden, ob eine knöcherne Refixation stattfindet. Dabei wird in der lateralen Aufsicht auf die Gelenkfläche (»enface-view«) die Fragmentgröße berechnet. > Ein Defekt von mehr als 6 mm oder 20% der Gelenkfläche an der 3- Uhr-Position führt in der Folge zu einer signifikanten Reduktion der glenohumeralen Stabilität (Itoi 2000, Yamamoto 2009). Daher wird ab dieser Defektgröße ein operatives Vorgehen empfohlen. Zudem sollten Frakturen mit einer Stufenbildung von mehr als 2 mm aus Gründen der Arthroseprophylaxe ebenfalls rekonstruiert werden.
Bestimmte Pfannenrandfrakturen vom Typ I nach Ideberg stellen somit eine Indikation zur Glenoidrekonstruktion dar. Eine Versorgung in arthroskopischer Technik bleibt jedoch den TypI-Frakturen vorbehalten. Das Schema der Nachbehandlung richtet sich nach dem Operationsausmaß. Die Grenze des aktiven und passiven Bewegungsausmaßes sollte vom Operateur für jede Woche explizit festgelegt werden. Generell empfehlen wir, die Außenrotation und Abduktion für 3 Monate zu limitieren und frühestens nach 4–6 Monaten in den Wettkampfsport zurückzukehren (Tauber 2010, Sugaya 2005).
⊡ Abb. 23.69 Ansicht auf die Skapula von dorsal. Zu sehen ist die Incisura scapulae mit der Durchtrittspforte des N. suprascapularis. Kommt es zu einer Fraktur in dieser Region kann der Nerv durch eine Schwellung, ein Hämatom oder eine Fragmentverschiebung geschädigt werden
Kombinationsverletzungen (Typ E nach Euler)
Die Versorgung richtet sich nach dem Ausmaß der Verletzung der Skapula. Hier wird entsprechend der bereits beschriebenen Kriterien Verfahren. Die Verletzung des Humerus wird nach den dargelegten Kriterien ( Abschn. 23.3.3) unter Berücksichtigung der traumatologischen Gesichtspunkte versorgt. Akute Nervenkompression (Incisura-Scapulae-Syndrom)
Ein Trauma in der Schulterregion kann zu einer primär latenten Schädigung des N. suprascapularis führen (⊡ Abb. 23.69). Eine besondere Gefahr stellen Frakturen des Collum chirurgicum dar. Dabei kann eine Gewebeschwellung ein Hämatom oder gar ein disloziertes Fragment den Nerv an der Inzisur komprimieren und nachhaltig schädigen. Eine Kompression des N. suprascapularis führt zu einer Lähmung der Mm. supra- und infraspinatus. Die Besonderheit dieser Verletzung ist der fehlende Schmerz, da der Nerv über keine sensiblen Fasern verfügt, und die klinische Symptomatik (Testung der Mm. supra- und infrapsinatus), die durch die Skapulafraktur maskiert wird. Der Nachweis gelingt nur mittels Elektromyogramm und wird für eine ursächliche Therapie meist zu spät erbracht. Besteht klinisch oder radiologisch (CT, MRT) der Verdacht eines akuten Nervenkompressionssyndroms, so muss eine operative Neurolyse erfolgen. Unterbleibt eine Druckentlastung, kann dies zu irreversiblen motorischen Defiziten mit Atrophien der Mm. supra-und infraspinatus führen. z z Evidenz und Kontroversen
Bei der Skapulafraktur handelt es sich um eine schwere, aber seltene Verletzung. Aus diesem Grund existiert nur eine begrenzte Anzahl an Studien mit niedrigem Evidenzlevel. Gosens und Mitarbeiter konnten in einer retrospektiven Untersuchung über einen Zeitraum von 6 Jahren lediglich 22 Patienten mit Frakturen der Korpusregion (Typ A nach Euler und Rüedi) in die Untersuchung einschließen (Gosens et al. 2009).
537 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
⊡ Abb. 23.70 Dorsaler Zugang zum Ablösen der großen Muskelstrukturen (Mm. deltoideus, infraspinatus, teres major und minor)
Als anatomische Besonderheit ist die Skapula von einem Muskelmantel umgeben, der auftreffende Stöße absorbiert. Das Ausmaß der einwirkenden Kraft, die für eine Frakturierung der Skapula notwendig ist, führt oftmals zu schweren thorakalen Begleitverletzungen. Daher wird eine Skapulafraktur als Indikator für ein schweres Thoraxtrauma angesehen. Ob eine Skapulafraktur bei gleichem ISS mit einer höheren Mortalität korreliert, wird je nach Autor unterschiedlich interpretiert (Vesy 2003, Weening 2005). Traditionell wurden Frakturen des Korpus konservativ behandelt. Hierbei wird von funktionell guten Ergebnissen mit wenig Funktionsverlust berichtet. In bis zu 86% der Fälle werden gute oder exzellente Ergebnisse beschrieben (Zlowodzki 2005, Nordquist 1992). Gosens und Mitarbeiter (2009) untersuchten in ihrer Studie das funktionelle Ergebnis mittels DASH- (»disabilities oft the arm, shoulder and hand«) und SST-Score (STT = »simple shoulder test«). Dabei zeigte sich, dass isolierte Brüche der Skapula bei Patienten ohne schwere Begleitverletzungen nahezu ohne Einschränkungen ausheilen. Bei Patienten mit schweren Begleitverletzungen war die Schulterfunktion im Verhältnis zur gesunden Gegenseite deutlich schlechter. Gosens erklärt dies mit der Vermutung, dass bei zusätzlichen Begleitverletzungen der Verletzung in der Schulterregion zu wenig Beachtung geschenkt wird und es somit zu verzögerter oder insuffizienter Therapie der Skapularegion kommt (Gosens 2009).
⊡ Abb. 23.71 Schnittführung kraniokaudal in Projektion der glenoidalen Gelenklinie
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen Der ventrale Zugang zum Schultergelenk wird sowohl im
Nahezu in Vergessenheit geraten ist dabei der dorsale Zugang nach King und Brodsky (1987). Der Vorteil dieses Zugangs
Rahmen von Stabilisierungsoperationen als auch bei der Frakturversorgung des Humeruskopfes häufig durchgeführt und hat sich als Standard bewährt. Im Gegensatz dazu wird der dorsale Zugang zum Schultergelenk bei Stabilisierungsoperationen, in der Tumorchirurgie sowie in der Frakturversorgung nur selten verwendet. In der Literatur wird der dorsale Zugang häufig mit dem Ablösen von großen Muskelstrukturen (Mm. deltoideus, infraspinatus, teres major und minor) dargestellt (⊡ Abb. 23.70). Dies bedingt ein relativ großes Weichteiltrauma mit verlängerter Rekonvaleszenz.
sind der Verzicht auf das Ablösen von Muskelstrukturen und somit eine weichteilschonende Operationstechnik mit verkürzter Operationszeit, deutlich weniger Blutverlust und schnellere postoperativer Genesung. Der Patient wird dabei in Bauchlage mit frei beweglichem Arm gelagert. Die Schnittführung erfolgt in kraniokaudaler Richtung in Projektion der glenoidalen Gelenklinie (⊡ Abb. 23.71). Dabei wird der Unterrand (kaudaler Rand) des Deltamuskels identifiziert (⊡ Abb. 23.72). Ist dies gelungen, muss der Arm über die Horizontalebene (>90° Abduktion, Elevation) gehoben werden.
23
538
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
23
b a
⊡ Abb. 23.72 Darstellen des Unterrands (kaudaler Rand) des Deltamuskels
Caput laterale (M. triceps)
laterale Achsellücke für A. circumflexa humeri und N. axillaris
M. deltoideus M. infraspinatus M. teres minor
N. suprascapular
Caput longum (M. triceps)
Gelenkkapsel M. teres major dreieckige laterale Achsellücke
⊡ Abb. 23.73 Blick auf den dorsalen Anteil der Rotatorenmanschette (Mm. infraspinatus und teres minor) sowie in die Achsellücken (Mm. teres major und latissimus dorsi)
⊡ Abb. 23.74 Muskellücke zwischen M. infraspinatus und M. teres minor, stumpfe Präparation in die Tiefe bis zur Identifikation der ossären Strukturen
Zur Verbesserung der Sicht kann nun der Deltamuskel mit Operationshaken nach kranial zur Seite gehalten werden. Bei schlechter Übersicht kann nun, wie in der Originalarbeit von Brodsky dargestellt, der Deltamuskel am medialen Rand der Spina scapulae eingekerbt werden. Von diesem Manöver wird nach unserer Erfahrung nur sehr selten Gebrauch gemacht. Ist der Deltamuskel retrahiert, bietet sich ein hervorragender Blick
auf den dorsalen Anteil der Rotatorenmanschette (Mm. infraspinatus und teres minor) sowie in die Achsellücken (Mm. teres major und latissimus dorsi; ⊡ Abb. 23.73). Je nach Operationsplanung kann nun das weitere Vorgehen modifiziert werden. Bei Frakturen der Glenoidregion oder der lateralen Skapularegion müssen die Rotatoren nicht abgelöst werden. Es wird die Muskellücke zwischen dem M. infraspina-
539 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
a
b
⊡ Abb. 23.75a,b Nach aktuellem Verständnis kommt es beim Verletzungsmuster der »floating shoulder« zu einer Zerstörung des SSSC (»superior shoulder suspensory complex«), was eine Zerstörung der medialen Ringstruktur (gestrichelter Kreis) und somit auch der korakoklavikulären und akromioklavikulären Bänder (gestrichelte Linien) beinhaltet. a Ansicht von a.p., b seitlich
»Floating shoulder«
⊡ Abb. 23.76 Fraktur des medialen glenoidalen Hals (Typ C nach Euler). Dies ist die häufigste Frakturform im Zusammenhang mit einer »floating shoulder«. Es besteht noch eine partielle Stabilität bei erhaltenen Bandstrukturen (Ligg. coracoacromiale, coracoclaviculare). Sind diese jedoch rupturiert kommt es auch ohne Fraktur der Klavikula zur »floating shoulder«
tus und M. teres minor gesucht und in dieser stumpf in die Tiefe präpariert, bis darunter die ossären Strukturen identifiziert werden (⊡ Abb. 23.74). Ein Ablösen am humeralen Ansatz ist optional durchführbar, es kann aber in den meisten Fällen darauf verzichtet werden. Ein weiterer Vorteil dieses Operationszugangs ist der Verschluss. Nachdem die Instrumente entfernt wurden, schließen sich die Muskellücken selbstständig. Wir verzichten auf jegliche Art von Fasziennaht, somit kann unmittelbar mit der subkutanen und kutanen Naht begonnen werden.
Als Sonderform muss die »floating shoulder« und die »skapulothorakale Dissoziation« genannt werden. Bei der skapulothorakalen Dissoziation kommt es aufgrund maximaler Gewalteinwirkung bei Traktion zu einer geschlossenen inneren Amputation mit Zerstörung der neurovaskulären Strukturen (Brucker 2004). Die »floating shoulder« wurde früher als Kombinationsverletzung des Skapulahalses und der ipsilateralen Klavikula und somit als Instabilität des skapulokorakoidalen Blocks verstanden. Nach aktuellem Verständnis setzt sich die Stabilität des lateralen Schultergürtels aus knöchernen und ligamentären Strukturen zusammen. Dies beinhaltet die Klavikula, den skapulären korakoakromialen Block sowie die Ligg. coracoacromiale und coracoclaviculare. Diese ringförmige Struktur wird auch als »superior shoulder suspensory complex« (SSSC) bezeichnet (Goss 1995; ⊡ Abb. 23.75). Diese Anschauung macht auch deutlich, warum es nach einer Fraktur des medialen glenoidalen Halses (Typ C2 nach Euler; ⊡ Abb. 23.76) zwar zu einer partiellen Instabilität kommt, dies jedoch nur in Zusammenhang mit Läsionen der Bandstrukturen in einer kompletten Instabilität – somit »floating shoulder« – mündet. Daher kann sich in diesen Fällen auch ohne Fraktur der Klavikula das klinische Bild einer »floating shoulder« ausbilden. Diese Tatsache konnte in einer Kadaverstudien belegt werden (Williams 2001). Die adäquate Therapie der »floating shoulder« wird noch immer kontrovers diskutiert, Studien berichten meist nur von Einzelfällen mit insgesamt niedrigem Evidenzgrad. Eine Reihe von Autoren berichten von guten Ergebnissen nach konservativer Therapie (Edwards 2000, Hersovici 1992). Die operative Therapie bietet den Vorteil der sofortigen Stabilisierung der Schulterstruktur mittels offener Reposition und interner Fixation (ORIF). Diese Behandlungsmethode hat sich jüngst zunehmend durchgesetzt. Auch hier besteht jedoch Uneinigkeit,
23
540
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
ob eine Stabilisierung der Klavikula mittels Plattenosteosynthese ausreicht oder ob auch die Reposition und Korrekturen der Malrotation des Glenoids mittels offener Rekonstruktion durchgeführt werden sollte (Ada 1991, Ramos 1997, Herscovici 1992, Edwards 2000, Wiliams 2001, Egol 2001, Labler 2004). Sind die Bänder (Ligg. coracoacromiale und coracoclaviculare) rupturiert, verhindert dies eine indirekte Reposition der periglenoidalen Strukturen mittels Ligamentotaxis. Aus diesem Grund wird eine Stabilisierung der Skapula bzw. des Glenoids von einigen Autoren nur bei zusätzlich rupturierten Bandstrukturen empfohlen, wohingegen bei intakter Bandstruktur eine Stabilisierung der Klavikular als ausreichend erachtet wird. Im Wesentlichen handelt es sich jedoch um Erfahrungsberichte und persönliche Meinungen einzelner Experten, ein wissenschaftlicher Nachweis steht bislang noch aus (De Franco 2006).
23.3.3
Frakturen des proximalen Humerus
T. Dobler, M. Kuster z
Definition
Fraktur im Bereich der Kalotte, des Tuberculum majus und/ oder minus und/oder des proximalen Humerusschaftes. z
z Diagnostik z z Anamnese
Eine gründliche Anamnese ist wesentlich bei der Verdachtsdiagnose einer proximalen Oberarmverletzung. Wichtig sind in diesem Zusammenhang vorbestehende Beschwerden wie Bewegungseinschränkung, Schmerzen, vorangegangene Luxationen etc., u. a. auch für die spätere Therapieentscheidung. z z Klinische Untersuchung
Die Diagnose einer proximalen Humerusfraktur lässt sich häufig aufgrund des Unfallhergangs, der Bewegungseinschränkung mit Schonhaltung und der lokalen Druckdolenz vermuten. Differenzialdiagnostisch muss v. a. an eine Schulterluxation gedacht werden. Wichtig ist die Feststellung und die Dokumentation evtl. vorhandener Nerven- und Gefäßverletzungen. Hier ist insbesondere auf eine Läsion des N. axillaris sowie eine Plexusläsion zu achten. z z Bildgebende Verfahren
Epidemiologie
Humeruskopffrakturen sind mit ca. 5% aller Frakturen die dritthäufigste Frakturlokalisation. Sie treten häufig nach Bagatelltraumen (einfacher Sturz) beim älteren Menschen auf, seltener bei jüngeren Patienten als Folge von Rasanztraumen. 70% aller Patienten mit Humeruskopffrakturen sind älter als 60 Jahre, weshalb die verminderte Knochendichte neben der Gefahr der gestörten Durchblutung die Hauptproblematik bei dieser Fraktur darstellt. z
und ihren Endast die A. arcuata sowie durch die A. circumfelxa humeri posterior (⊡ Abb. 23.7). Diese versorgt einen kleinen Bereich inferioposterior am Humeruskopf und spielt bei der Nekrosenentstehung nur eine untergeordnete Rolle. Für die Prognose ist die medialseitige Dislokation des Humerushalses zur Kalotte entscheidend. Vom Frakturverlauf lässt sich auf das Nekroserisiko schließen (⊡ Tab. 23.5).
Ätiologie und Pathogenese
Als Ursache kommen direktes Trauma, Luxationsfraktur, Sturz auf die ausgestreckte Hand, Epilepsieanfall oder ein Stromunfall infrage. Die Gefahr in der Humeruskopffraktur liegt in der begleitenden Gefäßverletzung mit nachfolgender Osteonekrose des Humeruskopfes. Die Blutversorgung des Humeruskopfes erfolgt hauptsächlich durch die A. circumflexa humeri anterior
⊡ Tab. 23.5 Nekroserisiko bei Frakturen des proximalen Humerus Frakturlinie
Gefäßversorgung
Nekroserisiko
Kalotte (Collum anatomicum)
Versorgt durch die A. arcuata
Stark erhöht
Tuberculum majus
Randständige Äste der A. arcuata
Gering
Tuberculum minus
A. circumflexa anterior
Niedrig
Hals (Collum chirurgicum)
A. circumflexa anterior bleibt meist intakt
Niedrig
Initial sollte immer eine konventionelle radiologische Diagnostik mit Röntgenaufnahmen der Schulter in 3 Ebenen (sog. Traumaserie: a.p., y, axial) durchgeführt werden. Falls sich eine korrekte axiale Aufnahme aufgrund der Schmerzsituation nicht durchführen lässt, bietet sich als Ersatz die Velpeau-Aufnahme an, die auch mit ruhiggestellter Extremität angefertigt werden kann. Damit lässt sich in den meisten Fällen der Frakturnachweis vollziehen und eine Luxation des Glenohumeralgelenks ausschließen. Zusätzlich können Informationen bezüglich der Anzahl und der Dislokation der frakturierten Anteile (Tuberculum majus/minus, Kalotte, Luxation, Impaktion) erhoben werden sowie Frakturen anderer ossärer Strukturen (Glenoid, laterale Klavikula etc.) ausgeschlossen werden. ! Cave Die hintere Luxationsfraktur und seltener die (nicht dislozierte) Fraktur des Tuberculum majus werden häufig übersehen.
Zur Stabilitätsprüfung einer diagnostizierten Fraktur kann eine Bildwandleruntersuchung im a.p.-Strahlengang erfolgen, wobei der im Ellenbogen flektierte Arm nach außen rotiert wird. Bei stabiler Fraktur dreht sich der Oberarmkopf bei der Rotationsbewegung des Schaftes mit. Ein CT (mit 3D-Rekonstruktion) dient vornehmlich der räumlichen Analyse der Fraktur sowie der Operationsplanung. Hier sollte jedoch bei jeglicher diagnostischer Unsicherheit die Indikation großzügig gestellt werden. Als weitere diagnostische Optionen, die allerdings nur bei speziellen Fragestellungen notwendig sind, stehen das MRT zur Analyse des Weichteilschadens (Ruptur von Rotatorenmanschetten und der langen Bizepssehne, Labrumabriss), die
541 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Angiographie (digitale Subtraktionsangiographie) zur Verifizierung und Lokalisation einer Gefäßläsion sowie ein EMG (subakut) zum Ausschluss einer Schädigung des N. axillaris bzw. einer Läsion des Plexus brachialis zur Verfügung. z
Klassifikation
Es gibt verschiedene Einteilungen der Oberarmkopffrakturen, die anatomische, biomechanische und auch prognostische Faktoren berücksichtigen. AO-Klassifikation
Sie wurde unterscheidet verschiedene Typen je nach Lokalisation und Anzahl der Fragmente. Es werden dabei 3 Gruppen (A, B, C) mit aufsteigendem Schweregrad und zunehmendem Nekroserisiko differenziert. ▬ Typ A: extrakapsulär, 2-Fragment-Fraktur, Nekrose unwahrscheinlich ▬ Typ B: partiell intrakapsulär, 3-Fragment-Fraktur, erhöhtes Nekroserisiko ▬ Typ C: komplett intrakapsulär, 4-Fragment-Fraktur, hohes Nekroserisiko
11-A Humerus proximal, extraartikuläre unifokale Fraktur
A 1 tubukulär
11-B Humerus proximal, extraartikuläre bifokale Fraktur
B 1 mit metaphysärer Impaktion
11-C Humerus proximal, artikuläre Drei- und Vierfragmentfrakturen
C 1 wenig disloziert
Zudem werden die Hauptgruppen in weitere Frakturtypen unterteilt, woraus sich 27 morphologisch definierte Frakturtypen ergeben: ▬ Typ-A-Frakturen: – extrakapsulär – 2 von 4 Fragmenten – geringes Nekroserisiko ▬ Typ-B-Frakturen: – partiell intrakapsulär – 3 von 4 Fragmenten – mittleres Nekroserisiko ▬ Typ-C-Frakturen: – komplett intrakapsulär – alle 4 Fragmente – hohes Nekroserisiko Klassifikation nach Neer
Bei dieser Einteilung werden 4 Hauptfragmente und deren Dislokationsgrad unterschieden. Als Kriterium einer relevanten Dislokation wird die Verschiebung eines Hauptfragments von mehr als 1 cm oder mehr als 45° angenommen. Daher werden
A 2 metaphysär impaltiert
B 2 ohne metaphysäre Impaktion
C 2 disloziert und impaktiert
⊡ Abb. 23.77 Frakturen des proximalen Humerus: AO-Klassifikation (Aus:Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
A 3 metaphysär nicht impaktiert
B 3 kombiniert mit scapulohumeraler Luxation
C 3 disloziert (luxiert)
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542
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
nicht oder nur gering dislozierte Frakturen, selbst wenn es sich dabei um mehrere Fragmente handelt, als »one part fractures« betitelt. Bei den dislozierten Frakturen wird unterschieden in: ▬ 2-Fragment-Frakturen ▬ 3-Fragment-Frakturen ▬ 4-Fragment-Frakturen ▬ Luxationsfrakturen (dorsal, ventral) ▬ »Head-splitting«-Frakturen (Frakturen, bei denen das Kopffragment in sich frakturiert ist) Neer betont, dass es sich bei seiner Klassifikation eher um ein therapeutisches Konzept als um eine starre Schematisierung handelt. Die prognostische Wertigkeit der Einteilung nach Neer ist jedoch v. a. bei der 3- und 4-Fragment-Fraktur sowie der Bruchhöhe umstritten (Brunner u. Schweiberer 1995). ▬ Typ-O-Frakturen: – nicht dislozierte Frakturen – geringes Nekroserisiko ▬ Typ-A-Frakturen: – 2-Fragment-Frakturen – Abriss von Tuberculum majus (Typ AI) – Abriss von Tuberculum minus (Typ AII) ▬ Typ-B-Frakturen: – Verlauf im chirurgischen Hals – können als 2-, 3- oder 4-Fragment-Frakturen vorliegen ▬ Typ-C-Frakturen: – Verlauf im anatomischen Hals – können als 2-, 3- oder 4-Fragment-Frakturen vorliegen – hohes Nekroserisiko
1
2
3
▬ Typ-X-Frakturen: – vordere oder hintere Luxationsfrakturen – geringes Nekroserisiko Lego-Klassifikation nach Hertel
Nach Hertel (2005) werden bei einer Fraktur der proximalen Humerusregion die frakturierten Anteile gemäß Schema unterteilt in: ▬ H: »head fragment« (Humeruskopf) ▬ G: »greater tuberosity« (Tuberculum majus) ▬ L: »lesser tuberosity« (Tuberculum minus) ▬ S: »shaft« (Schaft) Es wird somit ein tragender Anteil (Schaft), 2 stützende Anteilen (»greater »und »lesser tuberosity«) sowie eine aufsitzende Komponente (Kopf) unterschieden. Aus der Kombination der Frakturebenen und Fragmente ergeben sich 12 »Basisfrakturmuster«, wobei die Basisfrakturebenen zwischen Tuberculum majus und Kopf, Tuberculum majus und Schaft, Tuberculum minus und Kopf und/oder Tuberculum minus und Schaft liegen. z Therapie z z Auf der Notfallstation
In der Akutsituation stehen die Schmerzbehandlung sowie das Vermeiden einer zusätzlichen Schädigung im Vordergrund. ! Cave Kein Repositionsversuch bei Luxationsverdacht ohne vorhergehende Bildgebung!
Nach Anamnese sowie klinischer und apparativer Diagnostik erfolgt das Festlegen der weiteren Behandlung. Ist eine operative Behandlung indiziert, muss bei der chirurgischen Aufklärung im besonderen auf die Möglichkeit der Bewegungseinschränkung, der Oberarmkopfnekrose, des Risikos der sekundären Dislokation und Pseudarthrosenbildung sowie der Verletzung des N. axillaris hingewiesen werden.
4
z z Konservative Therapie
5
12
6 11
10
9
8
⊡ Abb. 23.78 Lego-Klassifikation nach Hertel. Grün Humerusschaft, blau Tuberculum majus, gelb Tuberculum minus, rot Humeruskopf
7
Als Indikation zur konservativen Therapie gelten nicht oder nur gering dislozierte Frakturen (Verschiebung <1 cm, Rotation <45°), dies sind etwa 60–80% aller Frakturen (Habermeyer 1997). Kontraindikationen für eine konservative Therapie sind eine Dislokation der Fragmente >1 cm oder die Rotation des Kopfes >45° sowie offene Frakturen bzw. begleitende Gefäßund/oder Nervenverletzungen. Eckpunkte der Nachbehandlung sind die initiale Ruhigstellung in der Gilchrist-Bandage (7–10 Tage), begleitet von physikalischen Anwendungen (Kryotherapie). Mit der frühfunktionellen Übungsbehandlung kann nach einer Woche begonnen werden, wobei hier nicht in den Schmerzbereich beübt werden sollte (beginnend mit Pendelübungen, dann Übergang auf passive Mobilisation, zuletzt aktiv-assistierte Beübung). Röntgenkontrollen sollten nach einem Tag, 10 Tagen und dann nach 6 Wochen durchgeführt werden, initial zum frühzeitigen Nachweis einer Dislokation, abschließend zur Kontrolle der Konsolidierung. Eine stabile Durchbauung wird nach 6 Wochen erwartet.
543 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
> Kontraindiziert sind Abduktionsgips und Hanging-Cast, da sie die Zugwirkung und somit das Risiko einer Dislokation verstärken. z z Operative Therapie
Die klassischen Indikationen für eine operative Behandlung sind ein Tuberkulumversatz >5 mm (Patienten <65 Jahre) bzw. >10 mm (Patienten >65 Jahre), ein Schaftversatz >10 mm, eine metaphysäre Trümmerzone, eine Achsenabweichung >45° und/ oder Stufenbildung innerhalb der Gelenkfläche >2 mm. Zusätzlich besteht eine Indikation zur operativen Therapie bei Erfüllung der Instabilitätskriterien gemäß des in St. Gallen praktizierten Konzepts (s. unten). Dies bezieht sich v. a. auch auf eine Dislokation zwischen den beiden Tuberkula. Therapieziel ist die anatomische Wiederherstellung und der Erhalt der Reposition mittels Osteosynthesematerial, um eine frühfunktionelle Schultermobilisation zu ermöglichen (»reduction, retention, rehabilitation«). Operationszeitpunkt
Grundsätzlich stellt eine Humeruskopffraktur eine dringliche, jedoch keine Notfallindikation zur operativen Therapie dar. Sie sollte im Gilchrist- oder Desault-Verband ruhiggestellt und innerhalb von 10 Tagen operativ versorgt werden. Ausnahmen, die eine sofortige operative Versorgung notwendig machen, sind begleitende Gefäß- oder Nervenverletzungen, stark dislozierte Frakturen v. a. im Bereich des Collum anatomicum (Durchblutung!) sowie irreponible Luxationsfrakturen. Zugänge
Entsprechend der gebräuchlichsten Operationsverfahren stehen hauptsächlich 2 verschiedene Zugangswege zum proximalen Humerus zur Verfügung, der deltoideopektorale und der transdeltoidale Zugang. Der Standardzugang ist der deltoideopektorale Zugang, der v. a. für die Plattenosteosynthesen Verwendung findet. Über eine etwa 10 cm lange Inzision vom Proc. coracoideus in Richtung Ansatz des M. deltoideus wird zur deltoideopektoralen Furche eingegangen. Die darin verlaufende V. cephalica wird geschont und nach lateral weggehalten. Nach Eröffnen der Fascia clavipectoralis stumpfe Präparation des subdeltoidalen Raums, der durch Abduktion erweitert werden kann, sodass der Zugang zum Tubeculum majus erleichert wird. Wichtig bei diesem Zugang ist die Schonung des medialseitigen Periosts sowie der A. circumflexa humeri am Unterrand des M. subscapularis. Der transdeltoidaler Zugang eignet sich für Operationsverfahren, bei denen das Tuberculum majus und der proximale Humerus erreicht werden müssen. Hierzu zählen die Marknagelimplantation und die Refixation von isolierten Abrissfrakturen des Tuberculum majus. Außerdem wird er in letzter Zeit auch als perkutaner Zugang bei minimalinvasiver Implantationstechnik von winkelstabilen Platten beschrieben. Von der anterolateralen Akromionspitze erfolgt eine ca. 4 cm lange Inzision nach distal und anschließend stumpfes Spalten des M. deltoideus bis auf den Knochen.
> Wichtig ist bei diesem Zugang die genaue Kenntnis des Verlaufs des N. axillaris, der in diesem Bereich subdeltoidal verläuft und v. a. bei einer Erweiterung dieses Zugangs nach distal gefährdet ist (ca. 5 cm unterhalb des Akromionrands). Operationsverfahren
Grundsätzlich stehen 2 Arten der operativen Versorgung zur Verfügung, je nach Lokalisation und Läsion: die Osteosynthese und die prothetische Versorgung. Je nach Frakturtyp und Lokalisation kann eine geschlossene oder offene Reposition der Fragmente mit nachfolgender möglichst beübungsstabiler Fixation des Repositionsergebnisses erfolgen. Bis vor einigen Jahren konnte die osteosynthetische Versorgung nur mit Implantaten ohne winkelstabile Platten-Schrauben-Verbindung (T-, L-Platte, Kleeblattplatte, Winkelplatte) durchgeführt werden. Aufgrund des schlechten Schraubenhalts im osteoporotischen Knochen kam es häufig zum Auswandern der Schrauben und zur Frakturredislokation. Mit den neuen winkelstabilen Implantaten lässt sich eine bessere Abstützung auch bei verminderter Knochenqualität erreichen, was zu einer Reduktion der sekundären Dislokation führt. Eine primäre prothetische Versorgung sollte nur bei alten Patienten mit schlechter Knochenqualität und hohem Nekroserisiko erfolgen. Bei jüngeren Patienten sollte zunächst immer eine kopferhaltende Therapie mit anatomischer Reposition der Tuberkula angestrebt werden, da deren anatomisches Einheilen für eine evtl. notwendige sekundäre prothetische Versorgung bei avaskulärer Kopfnekrose essenziell für ein gutes postoperatives Ergebnis ist. CRIF (»closed reduction internal fixation«): Die geschlossene Reposition mit nachfolgender Osteosynthese eignet sich v. a. für instabile 2-Fragment-Frakturen, 3- und 4-Fragment-Frakturen mit geringer Dislokation der Fragmente und valgusimpaktierte Frakturen. Von Vorteil ist bei dieser Art der operativen Versorgung v. a. die geringe Weichteilschädigung, limitierend sind die geringe Repositionsmöglichkeit sowie das Risiko der Implantatwanderung v. a. bei schlechter Knochenqualität. Zusätzlich lässt sich nicht immer eine Übungsstabilität erreichen. Als typische Operationsverfahren sind die endomedulläre elastische Nagelung von distal, die intramedulläre Verriegelungsmarknagelung von proximal sowie perkutane KirschnerDraht- oder Schraubenosteosynthesen zu erwähnen. Während die elastische Marknagelosteosynthese und die perkutanen Verfahren als typische Komplikation v. a. die Implantatwanderung und die Gelenkperforation zeigen, tritt bei der proximalen Marknagelosteosynthese eine Traumatisierung der Rotatorenmanschette und der Gelenkfläche im Bereich des Nageleintrittspunktes auf. ORIF (»open reduction internal fixation«): Bei der offenen Reposition mit nachfolgender Osteosynthese ist zwar ein erweiterter Operationszugang notwendig, es lässt sich jedoch in den meisten Fällen auch bei stark dislozierten Frakturen und mehreren Fragmenten eine anatomische Reposition sowie eine übungsstabile Situation erreichen. Eine relative Limitation für diese Operationsverfahren stellen Luxationsfrakturen und »Head-split«-Verletzungen dar.
23
Als Operationsverfahren sind hier die Platten- oder Schraubenosteosynthese sowie die Zuggurtungsosteosynthese zu erwähnen. In den letzten Jahren haben sich jedoch besonders winkelstabile Plattensysteme bewährt, die auch bei osteoporotischem Knochen meist eine ausreichende Stabilität gewährleisten. Bei Frakturtypen mit einer hohen Redislokationsgefahr sollten die Rotatorenmanschettenansätze zusätzlich im Sinn einer Zuggurtung an der Platte gesichert werden.
H L
G
M
S b H
> Als wichtigste Komplikation ist die Dislokation der Schraubenköpfe im Bereich des Gelenks zu sehen (»screw cutout«), einzelne Autoren berichten von bis zu 25% Dislokationsrate (Owsley 2008).
Die primäre endoprothetische Versorgung ist nur bei stark dislozierten Frakturen (v. a. »head split«) beim älteren Patienten mit schlechter Knochenqualität sowie eingeschränktem funktionellem Anspruch gerechtfertigt. Sie bietet zwar häufig ein gutes Ergebnis bezüglich der Schmerzfreiheit, ist jedoch meistens limitiert in Bezug auf funktionelles Ergebnis sowie Belastbarkeit und Haltbarkeit. Als spezielle endoprothetische Versorgung bei der proximalen Humerusfraktur ist die inverse Prothese zu nennen, es liegen jedoch bisher nur einzelne Fallbeispiele vor (Tischer 2008). Als Implantate stehen folgende Varianten zur Verfügung: ▬ nicht winkelstabil: hierzu zählen diverse Platten, die z. T. speziell für den proximalen Humerus anatomisch vorgeformt sind (z. B. Kleeblattplatten) sowie universell einsetzbare Implantate wie T-Platten oder Drittelrohrplatten ▬ winkelstabil: neuere, anatomisch adaptierte Plattensysteme, z. B. Philos® oder NCB® (»non contact bridging plate«) ▬ intramedullär: spezielle Marknägel für den proximalen Humerus wie der proximale Humerusnagel oder elastische Nägel (z. B. Ender-Nagel) ▬ Prothetik: Frakturprothesen (z. B. Aequalis®) und inverse Prothesen (z. B. Delta Xtend®) ▬ sonstige: Zuggurtungen, Schraubenosteosynthesen, Fixateur externe (nur bei speziellen Frakturformen) z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Zur Beurteilung einer proximalen Humerusfraktur und insbesondere zur Indikationsstellung einer möglichen operativen Versorgung verwenden wir das sog. »chair concept«. Die Idee beruht auf den statischen Verhältnissen eines Melkschemels mit 3 stützenden Elementen (Stuhlbeinen). Dabei wird die Kalotte (H-Fragment) von 3 Beinen (G-Fragment, L-Fragment und MFragment) getragen. Neu im Vergleich zur Klassifikation nach Neer oder Hertel ist die ausdrückliche Berücksichtigung eines dritten stützenden Anteils, der medialen Abstützung, repräsentiert durch die mediale Kortikalis (»medial hinge«) und die Metaphyse (»medial support«). Kommt es zu einer Destruktion dieser Region, muss die Strategie der Osteosynthese (winkelstabiles Implantat) geändert werden. Das »chair concept« ist jedoch keine Klassifikation im eigentlichen Sinn, sondern soll der Einschätzung einer Fraktur dienen und Hinweise für eine optimale Therapieentscheidung geben. Insgesamt sind 5 Komponenten an der Stabilität beteiligt, die in⊡ Abb. 23.79 graphisch dargestellt sind. Dabei ist zu beach-
M. subscapularis
G
L
M
N. axillaris S
a
⊡ Abb. 23.79a,b Beurteilung einer proximalen Humerusfraktur nach dem »chair concept«. a Anatomische Übersicht, b schematisch mit den Fragmenten H, G, L und M
H G
L M
Metaphysäre Unterstützung
23
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
Metaphysäre Unterstützung
544
S ⊡ Abb. 23.80 H-Fragment: Bei der Bewertung des H-Fragments (dunkel eingefärbt) sind die Größe des Fragments, die Dislokation und ein etwaiger metaphysärer Ausläufer von Bedeutung
ten, dass jede Komponente einzeln, jedoch auch alle möglichen Kombinationen der einzelnen Anteile frakturieren können. Die einzelnen Komponenten werden nach folgendem Schema beurteilt: ▬ Kopffragment (H-Fragment; ⊡ Abb. 23.80): – Größe: – klein (⊡ Abb. 23.81a): chirurgischer Hals, kein metaphysärer Ausläufer – groß (⊡ Abb. 23.81b): anatomischer Hals, metaphysärer Ausläufer – Dislokation – Ausmaß – valgus/varus – dorsal
545 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
H G
⊡ Abb. 23.81a,b Fraktur im H-Fragment. a Kleines Fragment, b großes Fragment
b
L M
Metaphysäre Unterstützung
a
S ⊡ Abb. 23.82 M-Fragment: Das metaphysäre Fragment ist für die Einschätzung der Fraktur und besonders für ihre Stabilität von entscheidender Bedeutung
> Bei Fraktur des H-Fragments (»Head-split«-Fraktur) wird die Versorgung mittels Endoprothese angeraten, denn es besteht eine biomechanische instabile Situation der Abdeckung (entspricht einem Bruch der Sitzfläche im »chair concept«).
▬ Metaphysäres Fragment (M-Fragment; ⊡ Abb. 23.82) – mediale Kontur intakt, metaphysäre Abstützung intakt (⊡ Abb. 23.83a) – mediale Kontur unterbrochen, metaphysäre Abstützung intakt (⊡ Abb. 23.83b) – metaphysäre Abstützung fehlt: medialseitige Trümmerzone oder fehlende Reposition postoperativ (⊡ Abb. 23.83c) Das metaphysäre Fragment hat für uns die entscheidende Bedeutung bei der Humeruskopffraktur. Vier Punkte verdeutlichen dies: Durchblutung: Die A. circumflexa humeri posterior läuft direkt entlang der Metaphyse und trägt zur Durchblutung des Kopfes bei. Besonders wichtig wird ihre Funktion bei einer Verletzung der A. circumflexa humeri anterior. Dies ist auch der Grund, warum in einer Studie gezeigt werden konnte, dass bei Diskontinuität im Bereich der Metaphyse eine vermehrte Nekroserate zu beobachten ist (Hertel 2004).
Reposition: Bei intaktem Periost dient das mediale Scharnier als Widerlager bei der Reposition des Kopfes. Das bedeutet, dass bei unterbrochener periostaler Verbindung die Wiederherstellung der anatomischen Kontinuität deutlich schwieriger ist. In einer Kadaverstudie konnte nachgewiesen werden, dass bei einer Distanz >3 mm am medialen Schaft-Kopf-Übergang das Periost partiell rupturiert ist, bei einer Distanz >30 mm besteht eine komplette Ruptur (Kralinger 2009). Stabilität: Das »medial hinge« dient der mechanischen metaphysären Abstützung. Fehlt diese, besteht ein deutlich erhöhtes Risiko der sekundären medialseitigen Dislokation bzw. Abkippung in Varusfehlstellung im Rahmen der Fraktursinterung. Zusätzlich besteht dann auch die Gefahr des Schrauben»cut-in« am Humeruskopf. Tipp
I
I
Aus diesem Grund befürworten wir zusätzlich zur anatomischen Reposition am Kopf-Hals-Übergang die Stabilisierung in diesem Bereich durch eine inferiomediale Schraube.
Funktionelle Einheit: Bei Frakturen im Bereich der Metaphyse besteht die Gefahr der Verklebung bzw. Fibrose des axillären Pouch (Tasche der Gelenkkapsel) mit konsekutiver Bewegungseinschränkung, v. a. für die Abduktion. ▬ G-Fragment (Tuberculum-majus-Fragment; ⊡ Abb. 23.84): Dislokation zum – Kopf, zum Schaft intakt (⊡ Abb. 23.85, ⊡ Abb. 23.83a) – Schaft, zum Kopf intakt (⊡ Abb. 23.85b) – Kopf und Schaft (⊡ Abb. 23.85c) – Tuberculum minus ▬ L-Fragment (Tuberculum-minus-Fragment; ⊡ Abb. 23.86), – Dislokation zum Kopf – Dislokation zum Schaft – Dislokation zu Kopf und Schaft – Dislokation zum Tuberculum majus
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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a
b
c
⊡ Abb. 23.83a–c M-Fragment. a Mediale Kontur intakt, metaphysäre Abstützung intakt, b mediale Kontur unterbrochen, metaphysäre Abstützung intakt, c metaphysäre Abstützung fehlt: medialseitige Trümmerzone oder fehlende Reposition postoperativ
Bei isolierten Frakturen des Tuberculum majus führen wir eine Zuggurtungsosteosynthese durch, falls das Fragment ausreichend groß ist, kann es auch mit 1–2 Schrauben (3,5 mm) fixiert werden. Bei Humeruskopffrakturen mit intaktem »me-
Schwierigkeiten bei der Einteilung bzw. Einschätzung der proximalen Oberarmfrakturen anhand der bestehenden Klassifikationen konnten nachgewiesen werden (Sjoden et al. 1997). Bezüglich der Versorgung wurde in biomechanischen Studien
G
M
Metaphysäre Unterstützung
In der primären radiologischen Diagnostik Nachweis einer sukapitalen Humerusfraktur mit frakturiertem Tuberculum majus und minus, jedoch zunächst noch im Verbund stehend (⊡ Abb. 23.87). In der zeitversetzt durchgeführten Röntgenkontrolle zeigte sich eine Dislokation der Tubercula mit konsekutiver Dislokation des Kopffragments, die eine prothetische Versorgung notwendig machte. Es musste angenommen werden, dass bei der initialen Verletzung eine Dislokation zwischen Tuberculum majus und minus stattfand. Somit war die Stabilität des »Sessels« nicht mehr gegeben (⊡ Abb. 23.88).
dial hinge« ist in der Regel eine nicht winkelstabile Versorgung ausreichend. Als »key point« bei der Reposition sehen wir das Tuberculum majus an. Ist es nur zum Schaft hin disloziert (⊡ Abb. 23.81b), genügt in der Regel eine Reduktion in diesem Bereich, um eine vollständig anatomische Stellung zu erreichen. Besteht eine Dislokation zum Kopf (⊡ Abb. 23.81a), muss zunächst das Kalottenfragment wieder angehoben werden, bis das Tuberkulumfragment eingepasst werden kann. Bei einer Dislokation zu Kopf und Schaft (⊡ Abb. 23.85c) empfehlen wir, zunächst den Kopf anzuheben und nachfolgend das Tuberkulumfragment zu refixieren. In der Regel bevorzugen wir bei der operativen Versorgung von proximalen Humerusfrakturen winkelstabile Plattensysteme, die auch bei schlechter Knochenqualität eine anatomische Reposition sowie eine ausreichende Stabilität für eine frühfunktionelle Nachbehandlung gewährleisten. Bei wenig dislozierten Frakturen führen wir diesen Eingriff minimalinvasiv über einen kleinen Deltasplitzugang und perkutane Schraubenimplantation am Schaft durch. Aufgrund der polyaxialen Winkelstabilität der NCB-Platte bietet dieses System unseres Erachtens eine bessere Möglichkeit der optimalen Schraubenplatzierung, wobei v. a. auf eine Abstützung der medialen Kalotte zu achten ist. Um die Gefahr eines Schrauben-«cut-out« zu reduzieren, empfehlen wir subchondral platzierte Schrauben nicht winkelstabil zu verriegeln bzw. bei erwünschter Winkelstabilität die Schrauben nicht direkt subkortikal zu verankern. Bei dislozierten Frakturen besteht als zusätzlicher Vorteil die Möglichkeit der indirekten Reposition der Fraktur an die Platte.
H L
S ⊡ Abb. 23.84 G-Fragment: Bei der Bewertung des Tuberculum majus ist die Dislokation des Fragments entscheidend
Zur Beurteilung der Fraktur sind eine a.p.-Aufnahme und eine transskapuläre Aufnahme (nach Neer) erforderlich. Um die genaue Lage und die Beteiligung der entsprechenden Strukturen zu beurteilen wird die Durchführung einer Computertomographie angeraten. Bei Verdacht auf Fraktur des Tuberculum minus wird die Durchführung einer CT empfohlen.
Fallbeispiel
z z Evidenz und Kontroversen
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547 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
a
b
c
⊡ Abb. 23.85a–c G-Fragment: Dislokation des Tuberculum majus. a Zum Kopf, b zum Schaft, c zu Kopf und Schaft
G
L M
H
Metaphysäre Unterstützung
H
G M
L
a
S ⊡ Abb. 23.86 L-Fragment: Entsprechend dem G-Fragment wird auch beim Tuberculum minus die Dislokation beurteilt
gezeigt, dass neue winkelstabile Implantate den bisher verwendeten Osteosynthesematerialien am proximalen Oberarm in Bezug auf die Stabilität überlegen sind (Füchtmeier 2006). Dabei erscheinen die intramedullären Kraftträger gegenüber den extramedullären biomechanisch im Vorteil zu sein (Kitson 2007, Füchtmeier 2007). Einzelne Studien bezüglich zeigen gute bis exzellente klinische Ergebnisse für bestimmte Operationsverfahren bei akzeptabler Komplikationsrate (Kettler 2006, Linhart 2007), wobei zuletzt auch minimalinvasive Implantationsverfahren von winkelstabilen Implantaten diskutiert werden (Röderer et al. 2007). Grundsätzlich scheint dabei weniger die Art des verwendeten Osteosynthesematerials als vielmehr die korrekte Klassifikation und entsprechende Indikationsstellung eine Bedeutung für den Behandlungserfolg zu haben (Fakler 2008). Es fehlen jedoch derzeit noch prospektive, randomisierte Untersuchungen, um eine vergleichende Aussage zu den einzelnen Osteosyntheseverfahren bezüglich des klinischen Behandlungserfolgs und der Komplikationsrate treffen zu können (Lanting 2008). Eine primäre arthroplastische Versorgung ist nur bei älteren Patienten mit dislozierten Mehrfragmentfrakturen (»head split«) zu befürworten und kann dann eine hohe subjektive Zufriedenheit des Patienten mit weitgehender Schmerzfreiheit bei eingeschränkter Funktion erreichen (Kralinger 2004).
b ⊡ Abb. 23.87a,b Sukapitale Humerusfraktur mit frakturierten Tubercula majus und minus, jedoch zunächst noch im Verbund stehend. a Schematisch, b im Röntgenbild
z
Komplikationen
Eine wichtige und abhängig vom Frakturtyp auch relativ häufige Komplikation der proximalen Humerusfraktur ist die Humeruskopfnekrose. Bei in Fehlstellung verheiltem Tuberculum majus besteht das Risiko eines sekundären Impingement. Als
548
Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
z G
23
Ätiologie und Pathogenese
Häufig direktes Trauma der Schulter, meist bei Sturz auf den angelegten Arm, seltener bei Sturz auf den ausgestreckten Arm.
H L M a
> Bei Verletzungen des Akromioklavikulargelenks kommt es hauptsächlich zu einer Rotationsbewegung der Skapula bei nur geringfügiger Stellungsänderung der Klavikula.
Grund: Bei Durchtrennung der korakoklavikulären Bänder (vertikale Stabilisatoren) bleibt das Gefüge weitgehend intakt, erst das Durchtrennen des Lig. acromioclaviculare und der Deltotrapezoidfaszie (horizontale Stabilisatoren) verursacht eine komplette Luxation. Der Begriff Klavikulahochstand ist irreführend, besser ist Schultertiefstand (relativer Klavikulahochstand). z
Klassifikation
Die Klassifikation nach Tossy ist bei Operationsindikation nur bedingt brauchbar. Besser eignet sich die Klassifikation nach Rockwood (Grad I–VI; ⊡ Tab. 23.6) z
b
⊡ Abb. 23.88a,b Dislokation zwischen Tuberculum majus und minus, die Stabilität des »Sessels« ist nicht mehr gegeben. a Schematisch, b im Röntgenbild
Diagnostik
Klinisch bestehen Druckschmerz, Pseudohochstand der Klavikula (s. oben), Schonhaltung und eingeschränkter Bewegungsumfang. Bei der Untersuchung fällt eine federnde Klavikula (Klaviertastenphänomen) auf. Das Klaviertastenphänomen ist bei akuten Verletzungen schmerzbedingt nicht immer auslösbar. Besser ist das Anheben des Schulterblatt-Arm-Komplexes mit Niederdrücken der Klavikula im mittleren Drittel (»das Klavier wird gehoben«). Es besteht eine anteroposteriore Instabilität mit Verschieblichkeit im Seitenvergleich (Test der horizontalen Instabilität). z z Bildgebende Verfahren
Begleitverletzung kann eine Labrumläsion oder eine Rotatorenmanschettenruptur auftreten. Zusätzlich bestehen die typischen, aufklärungspflichtigen Komplikationen wie posttraumatische Fehlstellung, Pseudarthrose und neurologische Defizite bei Läsion des N. axillaris oder des Plexus brachialis. Eine Bewegungseinschränkung im Vergleich zur Gegenseite tritt in 15–20% aller Fälle auf.
23.3.4
Schulterluxation
Zur Therapie der Schulterluxation vgl. Abschn. 23.2.7.
23.3.5
Kapsel-Band-Verletzungen des Akromioklavikulargelenks
M.A. Kessler z
In der Röntgendiagnostik erfolgt eine Schulteraufnahme in 3 Ebenen zur Abklärung eventueller Begleitverletzungen. Die Panoramaaufnahme unter Belastung (5 kg) dient dem Ausmessen des korakoklavikulären Abstands im Seitenvergleich. Schilddrüsenschutz verwenden! Die Gewichte werden an Schlaufen am Handgelenk angebracht, nicht in der Hand gehalten, sonst kann eine muskuläre Kompensierung erfolgen. Anstelle der Panoramaaufnahme kann zur Reduktion der Strahlenbelastung die gehaltene a.p.-Aufnahme im Seitenvergleich angefertigt werden. Eine Sonographie (7,5 Mhz, linearer Schallkopf) erfolgt zum Ausschluss einer Rotatorenmanschettenruptur, zum Messen der Distanz zwischen Akromion und Klavikula im Seitenvergleich sowie zur Darstellung von M. deltoideus, M. trapezius und Deltotrapezoidfaszie. z
Differenzialdiagnosen
Frakturen der angrenzenden knöchernen Elemente, Os acromiale, dorsale Schulterluxation, akute Rotatorenmanschettenruptur.
Definition
Verletzung der stabilisierenden Strukturen des Akromioklavikulargelenks, d. h. von Lig. coracoacromiale, Lig. trapezoideum, Lig. conoideum, Lig. acromioclaviculare mit Gelenkkapsel, Discus articularis oder Deltotrapezoidfaszie.
z Therapie z z Konservative Therapie
Indikation für die konservative Therapie ist eine Verletzung vom Rockwood-Typ I–III. Das Prozedere ist schmerzabhängig
549 23.3 · Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
⊡ Tab. 23.6 Kapsel-Band-Verletzungen des Akromioklavikulargelenks: Klassifikation nach Rockwood Grad
Kapsel
Bänder
Dislokation
I
Nicht komplett zerrissen
Intakt
Bei Belastung: keine
II
Zerrissen
Gedehnt
Subluxation, ca. halbe Klavikulabreite
III
Zerrissen
Zerrissen
Luxation, mehr als eine Schaftbreite
IV
Zerrissen
Zerrissen
Luxation der Klavikula nach dorsal hinter oder unter das Akromion
V
Zerrissen, zusätzlich rupturierte Deltotrapezoidfaszie
Zerrissen
Luxation mit hochstehender Klavikula und horizontaler Instabilität
VI (selten)
Zerrissen, zusätzlich rupturierte Deltotrapezoidfaszie
Zerrissen
Luxation der Klavikula unter das Korakoid
(bis zu 4 Wochen) und besteht aus lokalen und systemischen Antiphlogistika, kombiniertem Tape-Gilchrist-Verband (2 Wochen), Watson-Jones-Tapeverband (2 Wochen, Cave: Spannungsblasen!) sowie Physiotherapie. Dabei erfolgen die Bewegungen für 4–6 Wochen nur bis zur Horizontalebene.
23.3.6
M.A. Kessler z
z z Operative Therapie
Indikation ist eine Verletzung vom Rockwood-Typ IV–VI, Typ III evtl. bei Überkopfsportlern bzw. -arbeitern. ! Cave Auf Begleitverletzungen und Schürfwunden ist zu achten.
Ziel ist die Gelenkreposition, die Entfernung von Interponaten, die Rekonstruktion der Deltotrapezoidfaszie und das Schaffen stabiler Gelenkverhältnisse. Die Rekonstruktion der zerrissenen Bänder gelingt nur bedingt. Bei stabilen Gelenkverhältnissen bilden sich diese jedoch wieder neu aus. Verschiedene Operationstechniken stehen zur Auswahl (Auszug): ▬ Fixation des Akromioklavikulargelenks mittels KirschnerDraht ▬ Fixation des Akromioklavikulargelenks mittels KirschnerDraht und Zuggurtung ▬ Fixation des Akromioklavikulargelenks mittels Hakenplatte (Balser-Platte, Wolter-Platte) ▬ korakoklavikuläre Fixation mittels Bosworth-Schraube ▬ korakoklavikuläre Fixation mittels Fadenanker ▬ Korakoidtransfer nach Dewar/Barington ▬ Transfer des Lig. coracoacromiale nach Kawabe ▬ Klavikularesektion nach Mumford z
Prognose
Bei konservativer Behandlung (Typ I–III) ist die Prognose gut. Nur selten persistieren Bewegungs- oder Belastungsschmerzen. Oftmals besteht ein störender Klavikulahochstand unmittelbar nach dem Trauma, jedoch liegt meist bereits nach 4 Wochen ein sehr gutes kosmetisches Ergebnis vor. Zu den individuellen Nachteilen der operativen Verfahren zählen Metallentfernung, Dislokation oder Bruch, großer Zugang, schlechtes kosmetisches Ergebnis (Kallus oder Keloidbildung), persistierende Bewegungs- und Belastungsschmerzen.
Pathologie des Sternoklavikulargelenks
Anatomie
Das Sattelgelenk besitzt eine hohe Inkongruenz der Gelenkflächen, daher wird die Stabilität über den Kapselbandapparat (Ligg. intraarticulare, costoclaviculare, interclaviculare und Gelenkskapsel) gewährleistet. Das Sternoklavikulargelenk ist an der Schulterbewegung beteiligt, und zwar 35° bei Flexion, 35° bei Rotation entlang der Längsachse und ca. 45° bei Armabduktion. z
Klassifikation
Klassifikation der Instabilität des Sternoklavikulargelenks: ▬ Grad I: Distorsion, ligamentäre Strukturen intakt ▬ Grad II: Subluxation ▬ Grad III: ventrale/dorsale Luxation, ligamentäre Strukturen rupturiert ▬ Sonderform: Epiphysiolysis, Cave: Fugen schließen sich erst ab dem 25. Lebensjahr z
Diagnostik
Anamnestisch zeigen sich lokaler Schmerz mit Ausstrahlung und Schmerz beim Tragen von schweren Gegenständen. In der klinischen Untersuchung ist der Hyperadduktionstest positiv, Schmerzen bestehen bei aktiver und passiver Bewegung, der lokale Infiltrationstest ist positiv. In der Bildgebung erfolgt eine a.p.-Röntgenaufnahme des Thorax sowie tangentiale Aufnahme in 2 Ebenen (vor und rückgebeugter Patient), CT und MRT. z
Differenzialdiagnosen
Eine seltene Differenzialdiagnose ist die Arthrose des Sternoklavikulargelenks. Wie im Akromioklavikulargelenk können beim asymptomatischen Patienten radiologisch häufig Veränderungen nachgewiesen werden. Eine Therapie ist nur selten erforderlich. Des Weiteren ist an ein SICA-Syndrom zu denken, eine rheumatische entzündliche Erkrankung mit nicht trauma-
23
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
tischer Instabilität mit konstitutionell bedingter Laxizität. Eine operative Therapie ist nicht sicher erfolgreich.
23
z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie bei atraumatischer Genese besteht aus intraartikulären Injektionen (Lokalanästhetikum, evtl. Kortikosteroide), nichtsteroidalen Antiphlogistika sowie physikalischen Anwendungen (Kryotherapie, Wärme). Bei traumatische Genese Grad I und II: Rucksackverband für 5–7 Tage, frühfunktionell, kein Bewegungslimit. Epiphysenverletzungen heilen fast immer komplikationslos. z z Operative Therapie
Indikation zur operativen Therapie besteht bei Versagen der konservativen Maßnahmen. Therapie bei traumatischer Instabilität Grad III: ▬ ventrale Luxation: primär konservativ, Repositionsversuch binnen 3 Tagen ▬ dorsale Luxation: Reposition in Narkose unter Operationsbereitschaft ! Cave Dorsale Luxationen sind häufig mit Gefäßverletzungen assoziiert. Eine Abklärung sollte vor Reposition erfolgen, da die Gefahr der Einblutung infolge Druckentlastung nach Reposition besteht. Operationstechnik
Durchtrennung des Lig. costoclaviculare führt zur Instabilität, eine rigide Fixation mittels Metallimplantaten hingegen zu schlechten Ergebnissen, zudem besteht die Gefahr der Migration in das Mediastinum. Besser ist die dynamische Stabilisierung der medialen Klavikula an die erste Rippe. Es bestehen folgende Möglichkeiten: ▬ Fascia-lata-Streifen nach Bunnell ▬ Perioststreifen des M. sternoleidomastoideus nach Booth und Roper ▬ M.-subclavius-Tenodese nach Burrows z z Nachbehandlung
Nach Resektion Anlegen ▬ Gilchrist-Verbands für 7 Tage ▬ 1.–6. Woche: Erarbeiten des freien ROM ohne Belastung ▬ 6.–12. Woche: Steigerung der Belastung ▬ ab 12. Woche: Vollbelastung Nach operativer Stabilisierung: ▬ 0.–4. Woche: Rucksackverband ▬ ab 4. Woche: Erarbeiten des freien ROM ohne Belastung ▬ ab 12. Woche: Vollbelastung z
Komplikationen
Insgesamt ist mit einer guten Prognose zu rechnen, dorsale Repositionen ohne Operation reluxieren häufig. Veraltete dorsale Luxationen haben eine schlechte Prognose, hier evtl. subtotale Resektion der Klavikula
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Kapitel 23 · Erkrankungen und Verletzungen von Schultergürtel und Schultergelenk
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23
24
Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen E. Sendtner, P. Bodler, A. Hoffmann
24.1
Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen – 556
24.1.1 24.1.2 24.1.3 24.1.4
Arthrose des Ellenbogengelenks – 556 Insertionstendinopathien am Ellenbogengelenk – 565 Osteochondrosis dissecans im Ellenbogengelenk – 566 Chondromatose des Ellenbogengelenks – 567
24.2
Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen – 568
24.2.1 24.2.2 24.2.3 24.2.4 24.2.5 24.2.6 24.2.7 24.2.8 24.2.9
Frakturen des proximalen Humerus – 568 Frakturen des diaphysären Humerus – 568 Frakturen des distalen Humerus – 575 Frakturen des proximalen Radius – 581 Frakturen der proximalen Ulna – 584 Radius- und Ulnaschaftfrakturen – 589 Ellenbogenluxation – 598 Distale Bizepssehnenruptur – 604 Distale Trizepssehnenruptur – 607
Literatur
– 608
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556
24.1
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
E. Sendtner
24
24.1.1
Arthrose des Ellenbogengelenks
z Anatomie und Biomechanik Knöcherne Strukturen
Im Ellenbogengelenk treffen sich 3 Gelenkkörper: der distale Humerus mit der sanduhrförmigen Trochlea und dem runden Kapitulum, die Ulna mit Olekranon und Proc. coronoideus und der Radius mit dem Radiusköpfchen. Alle 3 Gelenkpartner befinden sich innerhalb einer Gelenkkapsel. Die Ulna artikuliert mit ihrer zangenförmigen Gelenkfläche mit der sanduhrförmigen Trochlea des Humerus und gibt durch die knöcherne Führung und die Kollateralligamente die Scharnierfunktion des Gelenks vor. Die Trochlea befindet sich nicht in Verlängerung der Humerusschaftachse, sondern ventral versetzt davon (HumerusTrochlea-Winkel), genauso wie die zangenförmige Gelenkfläche der Ulna. Dadurch wird die Beugung gegenüber der Streckung begünstigt, und es ergibt sich das typische Bewegungsausmaß (Streckung/Beugung): 0-0-140°. Das Radiusköpfchen artikuliert mit seiner pfannenförmigen Gelenkfläche mit dem kugelförmigen Kapitulum des Humerus und nach medial mit der radförmigen Gelenkfläche mit einer Inzisur der Ulna, sodass durch Drehung des Köpfchens die Umwendbewegung im Unterarm, zugleich auch durch die Artikulation im distalen Radioulnargelenk, möglich wird. Das typische Bewegungsausmaß für die Umwendbewegung (Pronation/Supination) ist 90-0-90°. Ligamentäre Strukturen
Das ulnare Kollateralband hat die Form eines Dreiecks. Es zieht vom humeralen Epikondylus mit seinem vorderen starken
Zügel zum Koronoid, sodass es in Streckung mit beiden verbundenen Knochen fluchtet, vom Koronoid zieht es mit seinem queren schwächeren Zügel zum Olekranon und von dort mit dem hinteren Zügel, der in Beugung gespannt ist, wieder zum Epikondylus. > Morrey (1991) untersuchte die Widerstandsfähigkeit des Ellenbogengelenks gegen Valgusstress und fand 20% Instabilität bei Entfernung des Radiusköpfchens, aber 100% Instabilität bei gleichzeitigem Release des ulnaren Seitenbands.
Das radiale Seitenband zieht vom radialen humeralen Epikondylus ebenfalls zur Ulna, aber über den Umweg des Ringbandes, das das Radiusköpfchen umschließt und an die Ulna fesselt (⊡ Abb. 24.1). Im weiteren Verlauf sind beide Unterarmknochen durch die Membrana interossea und durch das distale Radioulnargelenk verbunden, sodass physiologischerweise in dieser Rahmenkonstruktion keine Längenverschiebung möglich ist. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursache für eine Gelenkdestruktion ist am häufigsten die rheumatoide Arthritis, weniger häufig die posttraumatische Arthrose und selten die primäre Arthrose. Die sog. primäre Arthrose scheint assoziiert zu sein mit starker Beanspruchung des Gelenks und betrifft v. a. jüngere männliche Patienten und den dominanten Arm (Antuña 2002, Cheung 2008). z
Klinik
Zu Beginn werden nur leichte Schmerzen beklagt, später Schmerz bei maximaler Beugung und Streckung und im fortgeschrittenen Stadium Im gesamten Bewegungsbereich. Damit geht eine Verringerung des Bewegungsumfangs einher. Eine deutliche Beeinträchtigung entsteht, wenn der gesamte Bewegungsumfang weniger als 100° beträgt und dies v. a. die Beugung betrifft. Dadurch sind die Aktivitäten des täglichen Lebens deutlich eingeschränkt, z. B. wenn die Hand nicht mehr zum Mund geführt werden kann oder Körperpflege nicht mehr möglich ist. Mit etwas Verzögerung wird dann auch die Umwendbewegung schlechter, dies ist meist Ausdruck einer fortgeschrittenen Arthrose. Das Schmerzmuster beim Rheumatiker umfasst eher den gesamten Bewegungsbereich, während der Schmerz bei primärer Arthrose zunächst durch das Impingement der Gelenkpartner gegen die Osteophyten entsteht. Die Klinik der postraumatischen Arthrose hängt in hohem Maß von dem Verletzungsmuster (Gelenkbeteiligung) ab und betrifft dann eher den gesamten Bewegungsumfang. Nach Osteosynthese, möglicherweise verzögerter Heilung und ggf. starken Verknöcherungen ist hier die Einsteifung beschwerdeführend. Im Gegensatz dazu präsentiert sich der Rheumatiker mit Instabilität, bedingt durch Knorpel-, Knochen- und Weichteildestruktion. z Diagnostik z z Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 24.1 Beide Ellenbogengelenke in Streckung von ventral, links ist der Radius entfernt
Standard ist die röntgenologische Darstellung des Ellenbogens in 2 Ebenen, ggf. ergänzt durch Radiusköpfchenzielaufnahme. Morphologisch imponiert bei der primären Arthrose eher eine
557 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
Osteophytenbildung und eventuell freie Gelenkkörper. Auffallend ist der gut erhaltene Knorpelbelag und die nur geringe Gelenkspaltverschmälerung. Davon ist eher das radiohumerale Gelenk betroffen. Biomechanisch ist das radiohumerale Gelenk stärker belastet als das ulnohumerale Kompartiment. Computertomographisch ist die Inzidenz von Osteophyten aber humeroulnar deutlich höher (Lim 2008). Die Computertomographie kann Osteophyten erkennen, die sich in den jeweiligen Fossae vor der nativen Röntgendiagnostik verbergen (⊡ Abb. 24.2). Eine echte Indikation besteht dann, wenn Osteophyten im Sulkus des N. ulnaris von diesem abgegrenzt werden müssen. Beim rheumatischen Ellenbogen ist die symmetrische Gelenkspaltverschmälerung typisch, die Schwellung der periartikulären Weichteile und eine diffuse Osteoporose bis hin zur völligen Destruktion der Gelenkpartner. z Therapie z z Konservative Therapie
Der therapeutische Algorithmus (⊡ Tab. 24.1) sieht bei geringen Schmerzen und wenig Bewegungseinschränkung zunächst eine
konservative Therapie vor. Nicht steroidale Antiphlogistika, intraartikuläre Injektionen, physikalische Therapie und Vermeiden der schmerzauslösenden Aktivität sind die Basis des nicht operativen Vorgehens. z z Operative Therapie
Wenn Schmerz und Bewegungseinschränkung bzw. Instabilität fortschreiten, ist die operative Therapie indiziert: die arthroskopische oder offene Arthroplastik oder der Gelenkersatz (⊡ Tab. 24.1). > Generell ist eine gelenkerhaltende Maßnahme nur sinnvoll, wenn bewegungslimitierende Osteophyten abgetragen werden können und ein ausreichender Gelenkspalt vorhanden ist.
Bei der rheumatischen Arthritis ohne Veränderung der subchondralen Knochenstruktur kommt auch die alleinige Synovektomie in Betracht. Eine seltene Indikation besteht für die Distraktions-Interpositions-Arthroplastik, bei der im Prinzip dieselbe Remodellierung der Gelenkflächen wie bei der Arthroplastik erfolgt, dann aber die Gelenkflächen mit einem Interpo-
a
c
b
⊡ Abb. 24.2a–c Bildgebung. a Osteophyten im CT bei primärer Arthrose, b Röntgenbild einer rheumatischen Arthrose, c Zustand nach Fraktur und Osteosynthese des distalen Humerus mit posttraumatischer Arthroseentwicklung
24
558
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
⊡ Tab. 24.1 Therapiealgorithmus bei Arthrose im Ellenbogengelenk
24
Therapie
Indikation
Konservativ
Milde Arthrose oder Arthritis
Synovektomie
Synovialitis, Gelenkspaltverschmälerung, intakte Knochenstruktur
Arthroskopische Arthroplastik
Moderate Arthrose, Osteophytenbildung, Operateur ist mit dem Verfahren vertraut
Offene Arthroplastik
Moderate und fortgeschrittene Arthrose, Osteophytenbildung, ggf. zweiter medialer Zugang nötig bei Ulnarissymptomatik
Totalendoprothese
Schwere Arthrose oder Arthritis, Patient >60 Jahre, keine funktionellen Ansprüche, Rheumapatient >30 Jahre
Arthrodese
Rettungsoperation, funktionell beanspruchbar
nat (Fascia lata) überzogen werden. Die Mobilisierung erfolgt über 4 Wochen mit Bewegungsfixateur in leichter Distraktion (Morrey 1990). Dieser Eingriff ist reserviert für junge Patienten mit Ellenbogenarthrose im Endstadium, bei denen die Arthroplastik nicht mehr ausreicht und die Totalendoprothese den funktionellen Ansprüchen nicht genügt. Die Arthrodese ist in seltenen Fällen als letzte Rückzugsmöglichkeit in Betracht zu ziehen. Sie gilt als Rettungsprozedur, z. B. nach (multiplen) fehlgeschlagenen Eingriffen, in der Infektsituation oder auch beim »Dreschflegelellenbogen«. Meist wird die Arthrodese von dorsal durchgeführt, falls nötig mit Autograft, die Fixation wird mit Kompressionsplatte durchgeführt, soweit es die Vorgeschichte erlaubt. Tipp
I
I
Eine allgemeine Empfehlung zur Versteifungsposition geht von 90–110° Beugung aus, dies sollte aber individuell festgelegt werden, ggf. auch durch präoperative Simulation im Probegips.
Eventuell muss auch die dominante Seite beachtet werden. Die Patientenzufriedenheit angesichts der präoperativen Situation ist gut, Schmerzfreiheit kann oft erreicht werden (Koller 2008). Synovektomie
70–90% der offen durchgeführten Eingriffe haben ein zufriedenstellendes Ergebnis nach über 5 Jahren. Die Synovektomie wird technisch leichter durch die Radiusköpfchenresektion, die Ergebnisse mit und ohne Resektion sind vergleichbar (Smith 1993). Bei der Mehrheit der Patienten verbessert sich der Bewegungsumfang nachhaltig, auch die Umwendbewegung ist durchgehend besser. Die Langzeitergebnisse der arthroskopischen Synovektomie sind noch nicht abschließend beurteilbar. Trotz der theoretischen Vorteile der arthroskopischen Technik muss die höhere Gefahr eines neurovaskulären Schadens berücksichtigt werden.
> Wichtig ist eine frühzeitige Synovektomie. Die Ergebnisse im Larsen-Stadium IV sind deutlich schlechter als in den niedrigeren Larsen-Stadien (Mäenpää 2003).
Das Fortschreiten der radiologisch nachweisbaren Destruktion nach erfolgter Synovektomie ist ein bekanntes Phänomen der rheumatoiden Arthritis. Um rezidivierenden Synovialitiden vorzubeugen, hat es sich bewährt, eine Chemosynoviorthese 6 Wochen postoperativ durchzuführen. Damit können Rezidivraten vermindert und ein langfristig günstigerer Verlauf erreicht werden. Arthroskopie
Bei der arthroskopischen Arthroplastik wird die Abtragung der bewegungseinschränkenden Osteophyten angestrebt, ein Release der kontrakten Kapsel und, wenn nötig, eine Umformung der Gelenkkörper inklusive Entfernung freier Gelenkkörper (⊡ Abb. 24.3b). Der Patient wird in Bauch- oder Seitlage gebracht, sodass nach Anlegen der Blutleere der Oberarm in einer Stütze gelagert werden kann und der Unterarm frei nach unten hängt. Prinzipiell kann auch in Rückenlage mit Handtisch arthroskopiert werden, es gibt dazu spezielle sterile Aufhängevorrichtungen in der Art einer Extensionshülse (»Mädchenfängers«). Die Seitlagerung bietet einige Vorteile, kann aber nicht immer angewendet werden, z. B. bei gegenseitigen Schulterproblemen. Die Anatomie des Ellenbogens wird mit einem Marker angezeichnet: die Epikondylen, Radiusköpfchen, Olekranon und N. ulnaris, der als einzige wichtige Struktur streckseitig verläuft (⊡ Abb. 24.3a). Der streck- und beugeseitige Gelenkanteil werden getrennt gespiegelt, der streckseitige wird dabei anatomisch der posteriore genannt, obwohl er beim Arthroskopieren dem Operateur zugewandt vorne liegt. Das Gelenk wird dann im Bereich des sog. »soft spot«, der Mitte eines Dreiecks aus Epikondylus, Olekranon und Radiuköpfchen, mit Arthroskopieflüssigkeit aufgefüllt und gedehnt. Der Trokar für die Optik wird stumpf (Cave: N. cutaneus antebrachii lateralis!) über das anterolaterale Portal proximal des radialen Epikondylus eingebracht. Hierbei ist darauf zu achten, dass das Portal nicht zu ventral angelegt wird und den N. radialis gefährdet. Er verläuft 4–11 mm (bei guter Gelenkdistension) ventral dieses Zugangs (Strobel 1998). Sein Leitmuskel ist der M. brachioradialis, der gut palpabel ist. Das weitere Portal für die Instrumente wird anteromedial unter Sicht geschaffen (Cave: N. ulnaris, möglicherweise Voroperation mit Verlagerung). Im vorderen Kompartiment erfolgt nun eine Bestandsaufnahme und fotographische Dokumentation. Anschließend erfolgt die Bearbeitung des Proc. coronoideus und der zugehörigen Fossa, ggf. auch der Fossa des Radiusköpfchens. Die vordere Kapsel wird released, eingedenk der Tatsache, dass sich A. brachialis, N. medianus und N. radialis in unmittelbarer Nachbarschaft befinden. Anschließend wird die Optik und das Instrument auf der dorsalen Seite über einen posterolateralen und einen zentralen Zugang eingebracht. Der posterolaterale Zugang findet sich etwa auf Höhe der Olekranonspitze am lateralen Rand der Trizepssehne. Der zentrale Zugang für das
559 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
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Der Patient soll intensiv den vollen Bewegungsumfang ausschöpfen. Gerade in den ersten Tagen muss darauf geachtet werden, dass dies auch durch entsprechende Analgetikagabe erreicht werden kann.
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⊡ Abb. 24.3a,b Arthroskopie. a Patient in Seitenlage mit Platzierung des Ellenbogens über einer gepolsterten Schiene als Hypomochlion mit nach unten hängendem Unterarm; Landmarken am linken Ellenbogen: Epikondylen, Radiusköpfchen, Olekranon, N. ulnaris. Cave: Landmarken verschieben sich nach Distension mit Spülflüssigkeit, b freier Gelenkkörper, ventrales Kompartiment
Instrument ist 10 mm oberhalb der Olekranonspitze. Hier erfolgt nun analog die Bearbeitung des Olekranons und seiner Fossa. Auch am dorsalen Rand des Kapitulums finden sich oft Osteophyten. Der Plexuskatheter wird belassen und postoperativ kontinuierlich über Infusomat bedient. Diese Regionalanästhesie sollte einmal kurz unterbrochen werden, um den neurovaskulären Status zu erheben. Meist wird der Katheter 2–3 Tage belassen, je nach Schmerzintensität (VAS-Skala). Währenddessen wird bereits die krankengymnastische Beübung begonnen.
Der Patient soll erst entlassen werden, wenn man sich seiner Compliance sicher und die ambulante Weiterbetreuung gewährleistet ist. Manchmal ist es auch nötig, die Anfertigung von Quengelschienen in maximaler Beugung und Streckung zu veranlassen. Eine entsprechende Prophylaxe gegen heterotope Ossifikationen ist einzuleiten. Die Ergebnisse nach Arthroskopie sind mittelfristig gut: Der Zugewinn an Beweglichkeit beträgt etwa 40°, das intraoperativ erreichte Bewegungsausmaß hat dabei prädiktiven Wert (Phillips 1998, Kim 2000). Es werden sogar Verbesserungen der Beweglichkeit um über 80° berichtet (Savoie 1999) bei arthroskopischer Fenestrierung des Humerus und gleichzeitiger Radiusköpfchenentfernung (bei entsprechendem Befall des radiohumeralen Kompartiments). Andere Arbeitsgruppen bevorzugen den Erhalt des Radiusköpfchens, da die Belastung des ulnohumeralen Gelenks durch die Radiusköpfchenresektion zunimmt, und berichten auch hier über gute Ergebnisse (Kelly 2007). Im direkten Vergleich zur offenen Operation scheint die Arthroskopie in puncto Schmerzfreiheit besser zu sein und das offene Verfahren mehr Bewegungsfreiheit zu bringen (Cohen 2000). Bei der Entscheidung für ein offenes oder arthroskopisches Vorgehen sind v. a. die jeweils möglichen Komplikationen zu berücksichtigen. Prinzipiell besteht ein Risiko für alle neurovaskulären Strukturen einschließlich der Nn. interossei (Kelly 2001). Bei der Verfahrenswahl muss die Erfahrung des Chirurgen genauso berücksichtigt werden wie patientenorientierte Gesichtspunkte. Die Arthroskopie des Ellenbogengelenks erfordert Erfahrung mit der Arthroskopie an anderen Gelenken (Witt 2007) und Vertrautheit mit der speziellen Anatomie. Arthroplastik
Bei der offenen Technik sind die Ziele ähnlich der arthroskopischen Arthroplastik: Osteophyten werden entfernt, ggf. Ausziehungen von Olekranon und Koronoid, die Kapsel wird released und freie Gelenkkörper entfernt (⊡ Abb. 24.4). Beim radialen Zugang (»lateral column procedure«) liegt der Patient in Rückenlage, und der Arm wird nach Anlegen der Blutleere auf dem Handtisch gelagert. Die Hautinzision erfolgt längs über dem Epicondylus humeri radialis (etwa 8 cm). Nach Durchtrennen der Subkutis Inzision der Muskelfaszie am ventralen Rand der Knochenleiste, die auf den Epikondylus zuläuft (»lateral column«). Dann weitere Inzision am beugeseitigen Rand der vom Epikondylus entspringenden Fingerstrecker, das Kollateralband läuft hierzu parallel und wird geschont. Nach dem Abheben des M. extensor carpi radialis longus wird unter der Muskulatur dann beugeseitig die Gelenkkapsel sichtbar. Sie wird reseziert oder mit dem Raspatorium direkt am Humerus abgeschoben. Nach Setzen von Hohmann-Hebeln und durch Beugung im Gelenk kann so die gesamte Fossa co-
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Arthroplastik, der Zugang zum radiohumeralen Gelenk ist begrenzt; ggf. kann auch der ulnare Nerv freigelegt werden. Die postoperative Behandlung entspricht hier wie auch nach dem radialen Zugang dem Vorgehen nach arthroskopischer Umformung. Die Ergebnisse nach offener Umformung (ulnohumerale Arthroplastik) zeigen nach 6–7 Jahren eine Verbesserung der Beweglichkeit von etwa 20–30° sowie Schmerzfreiheit bzw. geringen Schmerz bei 76% der Patienten (Antuña 2002, Phillips 2003). Im weiteren Verlauf (8–16 Jahre) sind es noch 61% der Patienten, die Beweglichkeit nimmt analog dazu ab (Minami 1996).
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Für Patienten mit vorbestehender Neuropathie oder sehr schlechter Beweglichkeit (kleiner als 0-60-100°) wird die Ulnarisdekompression von vorneherein empfohlen. ⊡ Abb. 24.4 Offene Arthroplastik: Resektate nach lateralem Zugang
ronoidea eingesehen werden. Bei Inzision der Muskelfaszie am dorsalen Rand des Epikondylus kann nun zwischen Hinterrand des Fingerstreckers und des M. anconaeus bzw. proximal davon am Trizepsrand eingegangen und nach Abheben der Muskeln die dorsale Kapsel sichtbar gemacht werden. Nach deren Resektion überblickt man die Fossa olecrani und das dorsale Kapitulum. > Der radiale Zugang erlaubt die Umformung von dorsal und ventral, ist aber limitiert bei gleichzeitig vorhandener Ulnarissymptomatik. Hier ist dann eine zweite mediale Inzision nötig (Neurolyse und Transposition).
Die Notwendigkeit einer Radiusköpfchenresektion ergibt sich aus der vorbestehenden schmerzhaften Einschränkung der Umwendbewegung und der entsprechenden Deformierung des Radiusköpfchens. Die Ergebnisse sind trotz limitiertem Zugang gut: Im Durchschnitt ist der mittelfristige Zugewinn an Bewegung 45°, der Benefit ist umso größer, je schlechter die präoperative Situation war (Mansat 1998). Beim Vorgehen nach Kashiwagi-Outerbridge (⊡ Abb. 24.5) wird der Patient auf dem Rücken gelagert und der Arm nach Blutleere und Abdeckung über den Thorax gelegt. Die Hautinzision erfolgt dorsal, dann kann die Trizepssehne median gespalten oder mit einem Hebel vom medialen Rand (an der Grenze zum N. ulnaris) nach lateral gehoben werden. Darunter befindet sich direkt die Gelenkkapsel, die entfernt wird, sodass die Osteophyten der Fossa und am Olekranon sichtbar werden und entfernt werden können, etwaige freie Gelenkkörper entleeren sich spontan. Genau am Boden der Fossa olecrani wird dann mit einer Hohlfräse ein Fenster durch den Humerus auf die Beugeseite geschaffen. Bei maximaler Beugung wird dann das Koronoid dadurch sichtbar und kann ebenfalls reseziert werden, weitere Osteophyten und freie Gelenkkörper beugeseitig müssen ertastet werden. Das Vorgehen eignet sich für eine ulnohumerale
Die tatsächliche Patientenzufriedenheit ist größer, als die gebräuchlichen funktionellen Scores vermuten lassen (Tashjian 2006). Die Indikation ist auch gut bei freien Gelenkkörpern und Chondromatose: Durch die persistierende Lücke fluktuieren etwaige weitere freie Gelenkkörper ohne Einklemmungserscheinungen. Distraktionsarthrolyse
Dieser Eingriff (Mader 2004) erfolgt auf dem Handtisch ohne Blutsperre bzw. -leere. Er eignet sich besonders, wenn die schlechte Beweglichkeit aus geschrumpften Kapselbandstrukturen resultiert, auch nach Fehlschlagen anderer Methoden, bei Kindern und Jugendlichen nach Trauma, bei chronischer traumatischer Subluxation und als Begleitmaßnahme bei rekonstruktiven Eingriffen wie der Distraktions-InterpositionsArthroplastik oder als Zusatzmaßnahme bei offener oder geschlossener Arthrolyse. Das Prinzip besteht in der langsamen Aufdehnung der Kapsel-Band-Strukturen über einen Distraktor und der anschließenden Mobilisation im Bewegungsfixateur, wobei die Distraktion aufrechterhalten wird (⊡ Abb. 24.6). > Das Wichtigste beim Bewegungsfixateur ist die genaue Bestimmung der Rotationsachse. Dazu muss auf dem Handtisch der Bildwandler ein exakt laterales Bild vom Kondylenmassiv zeigen, die Kondylen überlappen sich und das Kapitulum projiziert sich auf die Trochlea.
Der durch die Mitte dieses Kreises eingebrachte KirschnerDraht würde die Gelenkachse repräsentieren. Der Orientierungsdraht wird aber 10–15 mm proximaler eingebracht, um die geplante Distraktion zu berücksichtigen. Falls der Draht nicht genau fluchtet, kann er noch in situ gebogen werden. Der vormontierte unilaterale Fixateur wird dann mit seinem Drehzentrum auf diesen Draht gefädelt und als Schablone für die beiden humeralen und ulnaren Schrauben benutzt. Humeral ist der Weichteilmantel über dem Deltoideusansatz am geringsten. Auf den distal davon kreuzenden N. radialis muss geachtet werden. Ulnar ist der dorsale Aspekt des Knochens in
561 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
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⊡ Abb. 24.5a–c Kashiwagi-OuterbridgeProzedur (Blick auf den distalen Humerus von dorsal). a Großer Olekranonosteophyt, b Koronoidosteophyt bei maximaler Beugung im Fossafenster, c freier Gelenkkörper und Osteophyten an Olekranon und Koronoid
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Pronation mit den Schrauben gut erreichbar, und der N. ulnaris ist nur gefährdet, wenn die Schraubenspitzen sehr weit nach ventral ragen. Zur Distraktion wird nun der Fixateur wieder abgenommen und 2 zusätzliche Schanzschrauben im lateralen Aspekt des Olekranons befestigt. Mit dem Distraktor wird zwischen den Humerus- und Olekranonschrauben nun in Beugung Druck aufgebaut, sodass im Bildwandler die Separation der Gelenkflächen nach ausreichender Einwirkzeit sichtbar wird. Danach
⊡ Abb. 24.6a–d Distraktionsarthrolyse. a Bewegungsfixateur in situ, b Distraktor in situ, c Distraktion im Bildwandler, d Bewegungsfixateur am Knochenmodell
kann mit dem Bewegungsfixateur alleine eine gewisse Distanz gehalten werden. Postoperativ erfolgt ebenfalls intensive Krankengymnastik, nachts soll das Gelenk in der jeweils maximal erreichbaren Beuge-/Streckstellung arretiert werden. Die Erfolge nach knapp 3 Jahren bei Jugendlichen mit posttraumatischer Ellenbogensteife sind ermutigend: Das Bewegungsausmaß von durchschnittlich 37° präoperativ verbesserte sich auf 108° postoperativ. Dabei waren die meisten Patienten mehrfach voroperiert.
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
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Eine routinemäßige Freilegung und Beobachtung des N. ulnaris während der Distraktion wird empfohlen (Mader 2007).
Gelenkersatz
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Beim Gelenkersatz unterscheidet man prinzipiell geführte und ungeführte Prothesen. Die geführte Prothese hat eine mechanisch feste Verbindung zwischen Humerus und Ulna im Sinne eines Scharniergelenks. Deswegen werden die auftretenden Rotationskräfte auf die Humeruskomponente übertragen und können am Prothese-Knochen-Interface zur Lockerung führen. Die ungeführte Prothese hat keine derartige mechanische Verbindung, sodass die Stabilität durch Muskeln und Bänder gewährleistet sein muss. Insbesondere die humerale Komponente wird dann weniger durch Rotationskräfte beansprucht. In der Praxis spielen teilgekoppelte Prothesen eine große Rolle, wobei der Kopplungsgrad vom Design der Gelenkflächen abhängt. Auch gekoppelte Prothesen mit Scharniergelenk und Achse sind so gearbeitet, dass ein gewisses Spiel möglich ist (»lockeres« Scharniergelenk, »floppy hinge«; ⊡ Abb. 24.7). Dadurch ist eine geringe Varus- bzw. Valgusbewegung des Unterarms in Beugung möglich und wird nicht vollends als Rotationskraft in die Humeruskomponente eingeleitet. Auch die mechanische Verbindung kann so gestaltet werden, dass ne-
ben der Scharnierfunktion grundsätzlich eine Rotationsbewegung zwischen Humerus und Ulna zugelassen wird (»rotating hinge«; ⊡ Abb. 24.8). Darüber hinaus gibt es Prothesen, deren Kopplungsgrad intraoperativ nach Bedarf eingestellt werden kann. Die ulnare Gelenkfläche, die die künstliche Trochlea halb umfasst, wird durch ein zusätzliches Bauteil zum Ring geschlossen. Das Radiusköpfchen wird reseziert und kann optional durch eine Komponente ersetzt werden (⊡ Abb. 24.9). Dadurch besteht ein zusätzliches Komplikationsrisiko, ein praktischer Nutzen ist nicht bewiesen. Die Indikation wird meist beim rheumatischen Ellenbogengelenk gestellt, wenn die medikamentöse Therapie und die Synovektomie nicht mehr Erfolg versprechend sind. Das ist häufig der Fall, wenn die knöcherne Gelenkstruktur nicht mehr intakt ist, was Instabilität zur Folge hat, und selten beim Gegenteil, der entzündlichen arthrofibrotischen Einsteifung. > Moderne Zementiertechnik ist auch und gerade bei den relativ engen Markräumen an Humerus und Ulna eine wichtige Voraussetzung für dauerhaft gute Fixierung (Faber 1997).
Der Erfolg der Totalendoprothese hängt vom Operateur, vom Implantat, aber hauptsächlich von der Ursache der Arthrose und der richtigen Patientenauswahl ab: Die Endoprothese ist
b
⊡ Abb. 24.7a–c Coonrad-Morrey-Prothese: »floppy hinge«. a Gelenkersatz a.p., b seitlich, c in situ
a
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563 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
eine gute Option für den älteren Patienten mit schwerer Arthritis und wenn die funktionellen Ansprüche gering sind (<5 kg Maximalbelastung). Für junge und männliche Patienten mit schwerer primärer oder posttraumatischer Arthrose werden erheblich höhere Lockerungsraten und niedrigere Standzeiten berichtet (Kozak 1998, Morrey 2003). Außerdem sind für dieses Patientengut die funktionellen Restriktionen (<5 kg Maximalbelastung) kaum akzeptabel. Bei ungekoppelten Prothesen beträgt die Wahrscheinlichkeit für ein zufriedenstellenden Ergebnisses für 5 Jahre bei Patienten mit rheumatoider Arthritis 90% (Morrey 2003). Im einzelnen werden aber auch hohe Komplikationsraten an radiologischen Lockerungszeichen von bis zu 30% (Sjoden 1995) und Revisionsraten von 20% nach 5 Jahren (Andreassen 1997) berichtet. Bei den teilgekoppelten Prothesen werden für die GSBIII-Prothese (Gschwend-Scheier-Bähler, Scharnier- und Rotationsmechanismus, Schnappverschluss; ⊡ Abb. 24.8) aufgrund von Lockerung nach 10–15 Jahren Revisionsraten von 2,8% bei rheumatoiden Patienten und von 6,5% bei posttraumatischen Patienten berichtet (Gschwend 1996). Der Schnappverschluss kann Probleme verursachen, indem er sich entkoppelt. Das passiert bei posttraumatischen Patienten häufiger (15,6%) als bei rheumatischer Grunderkrankung (3,5%). Zur Lösung dieses Problems gibt es einen Verlängerungszapfen, der zugleich die Weichteilspannung erhöht.
Für die teilgekoppelte Coonrad-Morrey-Prothese (»floppy hinge«; ⊡ Abb. 24.7) wird eine 12-Jahres-Überlebensrate bei rheumatischen Patienten von 92,4% berichtet (Gill 1998). Eine Reintervention war in 13% der Fälle nötig, die Gründe waren Trizepsruptur, tiefe Infekte, Ulnafrakturen, Bruch der Ulnakomponente, aseptische Lockerung. Beim posterioren Zugang wird die Trizepssehne in der Mittellinie nach Campbell gespalten (⊡ Abb. 24.10a). Dabei wird die Muskulatur von Humerus und Ulna subperiostal abgehoben und beiseite gehalten. Bei einer späteren Modifikation wurde der Trizepsansatz zusammen mit Knochenschuppen vom Olekranon abgehoben (Gschwend 1996). Beim posteromedialen Zugang nach Bryan und Morrey wird der Trizeps nicht gespalten, sondern als Ganzes von medial nach lateral subperiostal (auch vom Olekranon) abgehoben und am Ende wieder dort transossär refixiert (⊡ Abb. 24.10a). ! Cave Eine Schwachstelle dieser Zugänge ist die Refixation der Trizepssehne. Eine Schwäche des Trizeps oder die Ruptur der Sehne sind die möglichen Folgen. Deshalb wurden Zugänge ohne Trizepsablösung beschrieben.
Zu den trizepserhaltenden Zugängen gehört der Zugang über ein posteromediales und posterolaterales Fenster (Pierce 1998; ⊡ Abb. 24.10b). Hier bleibt die Trizepsinsertion intakt. Der Tri-
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⊡ Abb. 24.8a–c GSB-Prothese III: »rotating hinge«. a a.p., b seitlich, c in situ
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N. ulnaris
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⊡ Abb. 24.9 Latitude: Kopplungsgrad vom Chirurgen frei wählbar (»convertible«), optional zusätzlich mit Radiusköpfchenkomponente
⊡ Abb. 24.10a,b Gelenkersatz: Zugänge. a Übersicht: N. ulnaris, 1 posteriorer Zugang (nach Campbell), 2 posteromedialer Zugang (nach Bryan und Morrey, Prokopis), 2+3 posteromedialer und posterolateraler Zugang (nach Pierce), b posteromediales und posterolaterales Fenster (nach Pierce)
zeps wird entlang der intermuskulären Septen mobilisiert. Im ulnaren Fenster wird dann das ulnare Seitenband und die Flexoren vom Epikondylus gelöst, im radialen Fenster wird das radiale Seitenband und die Extensoren vom Epikondylus gelöst. Einen trizepserhaltenden Zugang über nur ein Fenster, nämlich das mediale (»medial-only approach«), beschreibt Prokopis (2008). Der Zugang erfolgt wie beschrieben über das ulnare/mediale Fenster, die Hautinzision ist etwas medialer, fast über dem N. ulnaris, anschließend wird durch Hyperpronation des Unterarms ein weiteres Weichteilrelease durchgeführt, an dessen Ende nur noch die Trizepsinsertion am Olekranon übrig bleibt. Durch die Hyperpronation ist
dann das Gelenk vollständig aufgeklappt, die Ulna kommt lateral des distalen Humerus zu liegen, der Proc. coronoideus weist nach dorsal. Beim Vermessen von anatomischen Präparaten und Röntgenbildern kann man feststellen, dass auch am Ellenbogengelenk signifikante Geschlechtsunterschiede bestehen (Fink 2008). Anatomische Besonderheiten wie die Neigung der Bewegungsachse zum Humerusschaft (4,5°) und zum Ulnaschaft (8°) werden zum Teil beim Prothesendesign ignoriert. Ebenso wird offensichtlich der Humerus-Trochlea- und der HumerusKapitulum-Winkel (Offset-Schaft-Gelenk-Achse) von den wenigsten Prothesentypen nachgebildet.
565 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
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Messdaten zeigen, dass der Epikondylenabstand am meisten mit allen anderen anatomischen Dimensionen korreliert und deshalb bei der Planung der Prothesengröße berücksichtigt werden sollte. Um der Anatomie gerecht zu werden, sollte eine Prothese in mindestens 5 Größen vorliegen. Die Schäfte sollten ebenfalls in 5 verschiedenen Kalibern und 3 Längen erhältlich sein.
24.1.2
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Insertionstendinopathien am Ellenbogengelenk
Synonyme
Epicondylitis radialis und ulnaris, Tennisellenbogen und Golferellenbogen. Die Begriffe mit der Endsilbe -itis führen jedoch eher in die Irre, da eine Entzündung histologisch nicht nachgewiesen werden kann. Auch der Hinweis auf Tennis und Golf lenkt eher vom Wesentlichen ab, da jede repetitive Überlastung, auch im Arbeitsleben, zur Insertionstendinopathie führen kann. z
Definition
Die Schmerzen am radialen oder ulnaren Epikondylus weisen auf eine Überlastung der dort entspringenden Sehnen hin. Am radialen Epikondylus betrifft dies die Finger- und Handstrecker (Tennisellenbogen), am ulnaren Epikodylus betrifft es die Finger- und Handbeuger (Golferellenbogen). Die Erstbeschreibung des Krankheitsbildes durch Runge erschien 1873 unter dem Titel »Zur Genese und Behandlung des Schreibekrampfes«. z
Epidemiologie
Die Inzidenz der lateralen Insertionstendinopathie wird mit 1–3% der Erwachsenen pro Jahr angegeben (Calfee 2008). Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen, gewöhnlich treten die Symptome am dominanten Arm auf. Prädisponierend wirken handwerkliche Tätigkeit und sich ständig wiederholende Bewegungsabläufe (Haahr 2003). z
Ätiologie und Pathogenese
Tendinosen (Achillessehne, Rotatorenmanschette, Epikondylus) treten häufig als Überlastungsschäden auf. Dabei wird das Gefüge und die Struktur der Kollagenfasern gestört (Jarvinen 1997), es entsteht ein Nebeneinander von Mikrorissen, Reparaturprozessen, Auflösung von Fasern und irregulär angeordnete Fasern. Die mechanische Festigkeit wird durch das Einwachsen von Blutgefäßen reduziert. Mit den Blutgefäßen wachsen Nervenendigungen ein, die das Hauptsymptom – Schmerz – erst verursachen (Petersen 2005). Eine wichtige Rolle hierbei spielt der Angiogenesefaktor VEGF (»vascular endothelial growth factor«). Er lässt sich durch mechanischen Stress, Hypoxie und inflammatorische Zytokine stimulieren. Im Gegensatz dazu vermutete Winckworth schon 10 Jahre nach der Erstbeschreibung des Krankheitsbildes ein neuroirritatives Geschehen im Sinne einer Nervus-radialis-Kompression im Supinatormuskel.
Eine andere Beobachtung geht davon aus, dass die Schmerzen durch das Impingement einer Synovialfalte zustande kommen, einer Kapselausstülpung, die sich degenerativ bildet. Bosworth beschrieb 1955 diesen Zusammenhang, nachdem viele Patienten durch die Ablösung der Extensoren nicht schmerzfrei wurden. Er beobachtete, dass Synovialfalten durch das Lig. annulare in den Gelenkspalt gedrückt wurden. Den relativen Erfolg der Extensorenablösung erklärte er mit der daraus resultierenden Verminderung der Weichteilspannung und damit der Druckentlastung auf die eingeklemmte Falte. Die histologische Untersuchung der resezierten Plica zeigt hyaline Degeneration und Fibrose, aber keine Entzündungszellen. Die Häufigkeit des Auftretens dieser Plicae konnte auch bei anatomischen Untersuchungen nachgewiesen werden (Mullett 2005). Garden machte 1961 die Überlastung des Extensor carpi radialis brevis für die Symptome verantwortlich, da bei Kontraktion des Muskels die Schmerzen am Ursprung desselben auszumachen sind. Deshalb schlug er eine Z-Plastik zur Verlängerung vor. z
Klinik
Der Patient mit lateraler Tendinopathie klagt über starke Schmerzen distal und ventral des lateralen Epikondylus, genau über dem Ursprung des M. extensor carpi radialis brevis. Der Schmerz verstärkt sich bei Dehnung, also Streckung des Ellenbogengelenks und bei Extension des Handgelenks gegen Widerstand. Obwohl in der Anamnese oft wiederkehrende Bewegungen beschrieben werden, ist ein auslösendes Ereignis meist nicht zu eruieren. Eine typische Beschwerde ist, dass einfache Gegenstände nicht mehr gehalten werden können. > Der typische Patient mit Insertionstendinopathie ist erwachsen und zwischen 30 und 50 Jahre alt. Differenzialdiagnostisch kommt eine Osteochondrosis dissecans des Kapitulums daher schon aus Altersgründen kaum infrage.
Die Abgrenzung zur Kompression des tiefen Radialisastes gelingt durch die Extension des Handgelenks gegen Widerstand (schmerzhaft bei Insertionstendinopathie) und bei Supination gegen Widerstand (schmerzhaft bei Kompression des Nervs im Supinatormuskel). Beim Impingement einer Plica findet sich der Schmerz bei Extension im Ellenbogengelenk eher dorsal über dem Gelenkspalt. z Diagnostik z z Bildgebende Verfahren
Röntgenbilder in 2 Ebenen zeigen ggf. Verkalkungen im Ansatzbereich. Das MRT ist angezeigt zum Ausschluss intraartikulärer Veränderungen. Eine Signalanhebung in der T2-Wichtung korreliert nicht mit den Symptomen (Potter 1995). Die Sonographie kann Flüssigkeitsansammlungen, Sehnenverdickung und Ähnliches zeigen, ist aber in Abhängigkeit vom Untersucher nicht sehr spezifisch. z
Therapie
Einigkeit besteht darin, dass die konservative Therapie im Vordergrund steht. Etwa 80% der Patienten berichten über
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Besserung der Symptome in Jahresfrist. Nur bei 4–11% der Patienten, die zur Behandlung kommen, ist eine operative Therapie nötig.
Pathologie im Sinne eines Impingements ist die Arthroskopie mit Resektion der lädierten Kapsel indiziert (Baker 2000). Bei der arthroskopischen Therapie kann aber auch der Extensorenansatz reseziert werden (Smith 2003).
z z Konservative Therapie
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Die konservative Behandlung besteht in Ruhigstellung, lokalen Injektionen, nicht steroidalen Antiphlogistika und Physiotherapie. Der Effekt der lokalen Steroidinjektionen übertrifft den der oralen nicht steroidalen Antiphlogistika, aber das Ergebnis nach einem Jahr ist gleich (Calfee 2008). Orale nicht steroidale Antiphlogistika können eine assoziierte Synovialitis mildern. Unter Studienbedingungen zeigen sich zum Teil positive Wirkungen auf den Schmerz, nicht aber auf die Funktion (Labelle 1997), zum Teil ist die NSAID-Gabe wirkungslos (Hay 1999). Die Nebenwirkungen sind zu berücksichtigen. Bei der Physiotherapie dominieren Dehnübungen, isometrische Anspannung und konzentrische, aber auch exzentrische Übungen. Vor allem in der exzentrischen Phase wird die Kollagenproduktion optimal angeregt und die vaskuläre Proliferation unterdrückt. Stoßwellentherapie
Bei diesem Verfahren wird eine Druckwelle erzeugt, die an der Grenze zwischen Geweben mit unterschiedlicher Impedanz (akustischer Widerstand) Energie abgibt. Der genaue Wirkmechanismus ist unklar. Die Studienlage dazu zeigt widersprüchliche Ergebnisse, methodische Unterschiede erlauben keinen direkten Vergleich (Rompe 2007). So wurden zum Teil Akutpatienten mit eingeschlossen oder nur chronisch Erkrankte behandelt; einen Unterschied macht offenbar auch die Durchführung der Stoßwellentherapie mit und ohne Lokalanästhesie. Bei Letzterem ist kein Benefit gegenüber Placebo festzustellen (Haake 2002). Akupunktur
Bei dem Versuch einer Metaanalyse fand Green (2002), dass dies wegen methodischer Schwächen der Einzelstudien nicht möglich ist. Generell fand er keinen Benefit, der länger als 24 h anhielt. Mögliche Nebenwirkungen wurden nicht erfasst. z z Operative Therapie
So vielfältig die Modelle zur Genese der lateralen Tendinopathie sind, so breitgefächert ist auch das Therapieangebot. Die Überlastung der Extensoren, insbesondere ihres Ursprungs, lenkte schon immer die Aufmerksamkeit auf den lateralen Epikondylus, dort wurde der Sehnenansatz abgelöst. Garden identifizierte 1961 den M. extensor carpi radialis brevis als die überlastete Struktur und verlängerte ihn Z-förmig (in der Nähe des Handgelenks). Die Empfehlungen reichen von der perkutanen Ablösung der Extensoren (Knudsen 2008) bis hin zur offenen direkten oder indirekten Denervierung aller Radialisäste, die den Epikondylus versorgen. Die Annahme eines Nervenengpasssyndroms erfordert die Dekompression des N. radialis profundus unter Resektion der Supinatorarkade (Wilhelm 1999). Neben der Ablösung gibt es auch das Débridement am lateralen Epikondylus und Dekortikation des Epikondylus. Bei Annahme einer intraartikulären
24.1.3
z
Osteochondrosis dissecans im Ellenbogengelenk
Definition
Die Osteochondrosis dissecans (OD) des Ellenbogens ist eine juvenile aseptische Knochennekrose des Capitulum humeri. Ähnlich wie bei der Osteochondrosis dissecans der Femurrolle oder des Sprungbeins ist auch hier der konvexe Gelenkpartner betroffen. Diese avaskuläre Nekrose des sich entwickelnden radialen epiphysären Knochenkerns am distalen Humerus wird auch M. Panner genannt. Panner selbst sprach 1929von einer »eigentümlichen Erkrankung« und zog den Vergleich mit der Perthes-Erkrankung, der aseptischen juvenilen Hüftkopfnekrose. Die Erkrankung ist selbstlimitierend und reagiert positiv auf Entlastung. Obwohl Trauma und Ischämie als Ursachen diskutiert werden, bleibt die Pathogenese unklar. Ein Bezug zu vorangegangener stärkerer, meist sportlicher Belastung, insbesondere Valgusstress, wie er bei Wurfsportarten wie Baseball auftritt, ist unübersehbar (Cain 2003). z
Epidemiologie
Nach der Originalarbeit von Panner sind Patienten im Alter von 7-12 Jahren betroffen. In Studien mit großen Patientenzahlen war das Durchschnittsalter 15 Jahre zum Zeitpunkt der ersten Vorstellung (Takahara 2007). Pappas erstellte 1981sogar eine altersbezogene Einteilung der OD des Ellenbogens und fand eine altersabhängige Prognose und bessere Ergebnisse bei jüngeren Patienten mit konservativer Therapie. z
Klinik
Patienten mit M. Panner klagen über Schmerz bei Belastung, auch Ruheschmerz. Der Schmerz wird im radialen Ellenbogen lokalisiert. Im fortgeschrittenen Stadium kommen Bewegungseinschränkungen bis hin zu Gelenkblockaden hinzu. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Bei der Untersuchung findet sich ein Druckschmerz über der radialen Seite des Gelenks und ggf. eine Schwellung. Beim Durchbewegen kommt es evtl. zu Streck- und Beugedefizit, Knirschen oder Einklemmung. z z Bildgebende Verfahren
Die Standarduntersuchung ist das Röntgenbild in 2 Ebenen. Dort findet sich in Abhängigkeit vom Stadium eine schüsselförmige Demineralisation, die analog den aseptischen Knochennekrosen alle Stadien von der Kondensation, Fragmentation bis zur Reparation durchläuft. Analog zum M. Perthes kann der Befall klein sein, die Hälfte des Kapitulums einnehmen oder aber den gesamten Knochenkern betreffen.
567 24.1 · Erkrankungen von Oberarm und Ellenbogen
Nach Ausheilung findet sich entsprechend ein normales oder abgeflachtes Kapitulum, wobei diese Abflachung variabel in der Größe ist und das gesamte Kapitulum einnehmen kann. Daneben kann sich auch ein abgrenzbares Fragment finden, losgelöst oder in situ. > Prognostisch ist beim Erstbefund darauf zu achten, ob die Wachstumsfuge geschlossen ist. Arthroskopisch findet sich gemäß der Einteilung der Interna-
tional Cartilage Repair Society (ICRS) eine geschlossene Knorpeldecke mit Erweichung (Stadium I), partieller (Stadium II) oder vollständiger (Stadium III) Diskontinuität oder ein entsprechender Defekt, bis ins Subchondrale reichend, meist mit Fibrin und Bindegewebe gefüllt (Stadium IV). Im MRT sieht man in der T1-Wichtung den signalveränderten Bereich mit Signalabschwächung im Randbezirk der Läsion. Dies lässt aber keinen weiteren Rückschluss auf das Stadium der Läsion zu. In der T2-Wichtung jedoch kann man bei den instabilen Läsionen einen signalstarken Saum sehen, der die Läsion begrenzt (Kijowski 2005). Die instabilen Läsionen heilen, selbst wenn sie undisloziert sind, nur selten aus (Takahara 2000). So ist das MRT eine wichtige Entscheidungshilfe für oder gegen chirurgische Intervention. Im MRT sind die Läsionen immer anterolateral zu finden. Das erklärt, dass die OD im a.p.-Röntgenbild oft nicht randständig getroffen wird, also von Kapitulum überlagert ist. Deshalb sollte der Ellenbogen in 45° geröntgt werden (ähnlich der Tunnelaufnahme nach Frick bei der OD am Femurkondylus). z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie besteht im Wesentlichen im Unterlassen einer belastenden Tätigkeit. Darüber hinaus können immobilisierende Verbände bis hin zur Gipsschiene angelegt werden. > Die nicht operative Therapie als alleinige Option führt zu unbefriedigenden Ergebnissen. Über die Hälfte der Patienten klagen mittelfristig (>5 Jahre) über Schmerzen bei alltäglichen Bewegungen.
Die Röntgenbilder zeigen bei den fortgeschrittenen Stadien kein Einheilen der OD, selbst bei Frühstadien ist die Heilungsrate gering (Takahara 1999). Wichtig für die Entscheidung zur konservativen Therapie ist das Alter des Patienten, das Röntgenbild, die Klinik und die Stabilität des Dissekats. Eine grundsätzlich bessere Prognose haben junge Patienten mit noch offener Wachstumsfuge. Das Röntgenbild sollte nur eine begrenzte Abflachung des subchondralen Knochens zeigen. Klinisch darf keine Bewegungseinschränkung vorliegen. Im MRT sollte die T2-Wichtung keinen signalstarken Saum um den signalveränderten Bereich zeigen. z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Behandlung besteht, wenn die Fugen geschlossen sind, die Ellenbogenbeweglichkeit eingeschränkt ist oder das Röntgenbild eine Fragmentation zeigt.
Die Instabilität wird bestätigt im MRT durch den signalstarken Saum in der T2-Wichtung. Auch Dislokation oder freie Gelenkkörper sind Indikationen für das operative Vorgehen. Die Größe des Kapitulumdefektes entscheidet darüber, ob die Gelenkfläche wiederhergestellt werden muss. Bei einem resultierenden kleinen Defekt (<50% des Kapitulums) reicht die Entfernung des instabilen Fragments aus (Takahara 2007), dieser Eingriff ist am günstigsten arthroskopisch durchzuführen (Michiels 1992, Pill 2003). Bei einem größeren Defekt (>50% des Kapitulums) kommen verschiedene Methoden in Betracht: Anbohrung, Mikrofrakturierung, autologe Chondrozytentransplantation, autologe matrixinduzierte Chondrogenese unter Verwendung einer porcinen Kollagenmembran inklusive Spongiosaplastik oder osteochondrale Transplantation (OCT). Nur bei den letzteren Verfahren wird nicht nur die Knorpeloberfläche, sondern auch der subchondrale Knochen wiederhergestellt. Die Schäden im Spendebereich der OCT sind zu berücksichtigen. Die Refixation einer schon länger bestehenden Gelenkmaus kommt meist nicht infrage. Ziel ist die anatomische Wiederherstellung des Kapitulums. Ein alternativer Versuch, die OD des Ellenbogens operativ anzugehen, ist die schließende Osteotomie des lateralen Pfeilers. Dabei wird der laterale Pfeiler ventral exponiert und dann osteotomiert. Es wird ein Keil mit proximaler Basis entnommen, sodass der laterale Pfeiler angelegt werden kann und sich die Kapitulumgelenkfläche vom Radiusköpfchen etwas zurückzieht. Dadurch wird die Gelenkfläche entlastet. Die langfristigen Ergebnisse sind klinisch und radiologisch gut, es fällt regelhaft eine reaktive Vergrößerung des Radiusköpfchens auf (Kiyoshige 2000). z
Prognose
Bei der Ausheilung bildet sich neuer Knochen von lateral her, die Ossifikation schreitet nach medial fort. Sobald aber die Röntgenbilder langfristig noch Veränderungen zeigen, tritt in etwa der Hälfte der Fälle später eine Arthrose auf (Bradley 2001). ! Cave Durch Nichteinhalten der an sich indizierten konservativen Therapie bei jungen Patienten im Frühstadium und mit freier Beweglichkeit kann sich die Prognose durch fortgesetzte Belastung schnell verschlechtern.
24.1.4 z
Chondromatose des Ellenbogengelenks
Definition
Die primäe synoviale Chondromatose kann in jedem Gelenk auftreten. Durch Metaplasie der Synovialis zu Knorpel entstehen freie Gelenkkörper mit ossifizierendem Kern, die sich in Gruppen anordnen und beim Ellenbogengelenk ventral am meisten Platz finden. Häufig ist Überlastung in der Anamnese (körperlich anstrengender Beruf) und Rechtshändigkeit zu finden. Die sekundäre Chondromatose (freie Gelenkkörper) ist eine Begleiterscheinung der Arthrose.
24
568
z
24
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Diagnostik
Die Symptome der Chondromatose sind zunehmende Bewegungseinschränkung, intermittierende sehr schmerzhafte Gelenkblockaden und ggf. Symptome durch Nervenkompression. Der Befund zeigt eine entsprechende Schwellung am Gelenk. Die Bildgebung in Form von Röntgenbildern in 2 Ebenen ist eindeutig. z
Humerus
Therapie
Die Therapie der Wahl ist die operative Entfernung. Dies geschieht am schonendsten mittels Arthroskopie (Byrd 2000). Zugleich muss im Sinne einer kausalen Therapie eine Synovektomie durchgeführt werden. Gleichwertig ist aber auch die offene Entfernung (Flury 2008). z
Fasciculus lateralis Fasciculus medialis
Prognose
Nach Entfernung der freien Gelenkkörper besteht eine gute Prognose hinsichtlich Schmerz und Funktion bei der primären Chondromatose. Es besteht mittelfristig keine Rezidivgefahr, die Entstehung einer Arthrose ist unwahrscheinlich (Mueller 2000). Bei der sekundären Chondromatose bleiben die Beschwerden zum Teil bestehen, auch weitere Gelenkkörper werden gebildet, die Prognose ist entsprechend eingeschränkt.
24.2
24.2.1
Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen Frakturen des proximalen Humerus
N. radialis N. ulnaris
Faszie des hinteren Kompartments
Intermuskuläres Septum (lateral)
N. musculocutaneus N. medianus A. brachialis Faszie des vorderen Kompartments N. ulnaris
N. radialis
M. brachioradialis M. brachialis N. cutaneus antebrachii lateralis N. radialis Sehne des M. biceps
Fasciculus posterior
Intermuskuläres Septum (medial) M. brachialis M. biceps Faszie des vorderen Kompartments Intermuskuläres Septum (medial) Epikondyles medialis N. ulnaris N. medianus
A. brachialis
Die Frakturen des proximalen Humerus werden in Abschn. 23.3.3 beschrieben.
24.2.2
Frakturen des diaphysären Humerus
P. Bodler z
Epidemiologie
Humerusschaftfrakturen machen mit einer Inzidenz von 14/100.000 etwa 1% aller Frakturen aus. Es besteht eine zweigipflige Altersverteilung mit einem Gipfel im 3. Lebensjahrzehnt bei Männern, verursacht durch mittlere bis schwere Traumen, und einem Gipfel bei Frauen im 7. Lebensjahrzehnt, verursacht durch geringe Traumen. Weniger als 10% der Frakturen sind offene Frakturen. Bei einer Gruppe von 249 Frakturen über einen Zeitraum von 10 Jahren fanden sich, eingeteilt nach AO-Klassifikation, 63,3% A-Frakturen, 26,2% B- und 10,4% C-Frakturen (Tytherleigh-Strong et al. 1998). z
⊡ Abb. 24.11 Humerus mit Verlauf der Nerven
Anatomie und Biomechanik
Als diaphysäre Humerusfraktur wird eine Fraktur die zwischen der oberen Begrenzung des Ansatzes des M. pectoralis major und dem suprakondylären Übergang bezeichnet. An der Humerusrückseite, distal und medial der Tuberositas deltoidea, befindet sich zwischen dem medialen und lateralen Trizepskopf
der Sulcus nervus radialis. Der N. radialis kreuzt hier gemeinsam mit der A. profunda brachii die Humerusrückfläche 20–21 cm proximal des ulnaren Epikondylus und 14–15 cm des radialen Epikondylus (Gerwin et al. 1996). Nachdem er durch das laterale intermuskuläre Septum hindurchgetreten ist, verläuft er zwischen dem M. brachialis und M. brachioradialis nach distal. In Höhe des Radiusköpfchens teilt sich der Nerv in den oberflächlichen und den tiefen Ast. Der für den anterolateralen Zugang wichtige M. brachialis wird zu einer Hälfte vom N. musculocutaneus und einer Hälfte vom N. radialis versorgt. Der N. medianus verläuft ventral im Sulcus bicipitalis. Er wird begleitet von der A. brachialis. Der N. ulnaris begleitet ebenfalls zunächst die A. brachialis und tritt dann durch das Septum intermusculare brachii mediale auf die Streckseite (⊡ Abb. 24.11). Zwischen der Gelenkebene des Humeruskopfes und der distalen transepikondylären Achse besteht ein Torsionswinkel von ca. 20°. z
Klassifikation
Die Einteilung der Frakturen erfolgt deskriptiv und nach AOKlassifikation (⊡ Abb. 24.12).
569 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
1
2
3
A ≥ 30°
< 30°
B
C
z Diagnostik z z Anamnese
Patienten unter 50 Jahren weisen in der Anamnese meist ein mittleres bis schweres Trauma auf. Hierzu zählen Stürze aus mittlerer bis großer Höhe, Verkehrsunfälle, direkte Traumen im Rahmen von körperlicher Gewaltanwendung und Arbeitsunfällen sowie pathologische Frakturen. Bei Patienten über 50 Jahren kann es osteoporosebedingt bereits bei einem geringen Trauma zur Fraktur kommen. z z Klinische Untersuchung
Bei der klinischen Untersuchung findet sich beim wachen Patienten eine schmerzbedingte Schonhaltung mit passiver Unterstützung des verletzten Arms. Beim bewusstlosen Patienten ist bei der körperlichen Untersuchung eine pathologische Beweglichkeit palpabel. Die Untersuchung des neurovaskulären Status ist von großer Bedeutung. ! Cave Ein Kompartmentsyndrom des Arms ist selten, es muss aber zwingend ausgeschlossen werden.
⊡ Abb. 24.12a–c Diaphysäre Humerusfrakturen: AO-Klassifikation. a Einfache Fraktur: A1 Spiralförmig, A2 schräg, A3 quer, b Keilfraktur: B1 Drehkeil, B2 Biegungskeil, B3 Keil fragmentiert, c komplexe Fraktur: C1 spiralförmig, C2 etagenförmig, C3 irregulär. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Klinisch finden sich dabei die typischen Symptome wie starke Schmerzen mit aktivem und passivem Bewegungsschmerz, der nur inadäquat auf Analgetika reagiert, harte Muskellogen und im fortgeschrittenen Stadium neurovaskuläre Symptome. > Die Prävalenz der Radialisparese bei Humerusschaftfrakturen beträgt 11,8%. Signifikant gehäuft tritt die Radialisparese bezogen auf den Frakturtyp bei Spiralfrakturen und bezogen auf die Lokalisation im mittleren Drittel auf.
Die Ausfälle bei Läsion des N. radialis sind abhängig von der Verletzungshöhe. ▬ Ramus profundus: Fallhand (dorsale Muskelgruppe) und Aufhebung der Supination (M. supinator) bei gestrecktem Ellenbogen ▬ Ramus superficialis: Sensibilitätsausfall der radialen Hälfte des Handrückens, Grundglied Dig. I –II und radiale Hälfte Dig. III streckseitig ▬ Proximal der Bifurcation: zusätzlich erschwerte Radialabduktion (radiale Muskelgruppe) der Hand und Sensibilitätsverlust am dorsoradialen Unterarm
24
570
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
▬ Proximal des Sulcus radialis: zusätzlich Ausfall der aktiven Ellenbogenstreckung (M. triceps) und Sensibilitätsverlust am dorsoradialen Oberarm
24
Verletzungen des N. medianus und ulnaris sowie Gefäßverletzungen sind selten. Vor allem bei distalen Frakturen muss auch gezielt auf eine mögliche Verletzung des N. ulnaris geachtet werden (Shao et al. 2005). z z Bildgebende Verfahren
Der Humerus in 2 Ebenen stellt die Standardröntgenuntersuchung der diaphysären Humerusfraktur dar (⊡ Abb. 24.13). Ein CT oder MRT ist nur selten bei Verdacht auf pathologische Frakturen und zur Beurteilung von Pseudarthrosen notwendig. z Therapie z z Auf der Notfallstation
Eine angepasste medikamentöse und durch Lagerung zu erreichende Analgesie stellt die initiale Therapie auf der Notfallstation dar. Die optimale Lagerung richtet sich mehr nach der Schmerzreduktion als nach der korrekten anatomischen Stellung. Bei sitzenden Patienten empfiehlt sich hier ein Gilchrist-Verband oder ein Ortho-Gilet. Beim liegenden Patienten ist evtl. die Lagerung auf einem Sandkissen von Vorteil. Bei offenen Frakturen sollte eine sterile Abdeckung und eine i.v.Antibiose erfolgen.
⊡ Abb. 24.13a,b Spiralfraktur des proximalen Humerusschafts
a
z z Konservative Therapie
Die Mehrzahl der Humerusschaftfrakturen können konservativ behandelt werden. Dabei können Achsenabweichung bis zu 20– 25° akzeptiert werden. Günstig ist die konservative Therapie v. a. bei Spiralfrakturen. Die Therapie gliedert sich in die 3 Phasen Gilchrist-Verband, Sarmiento-Brace und Physiotherapie. Immobilisation im Gilchrist-Verband, bei Verkürzung und/ oder ausgeprägtere Achsenabweichung ggf. auch initial unter Längszug. Auf eine Manipulation sollte wegen des Risikos der sekundären Radialisverletzung verzichtet werden. Die Anpassung eines Sarmiento-Braces erfolgt nach Abschwellung (⊡ Abb. 24.14). Dieser Brace besteht aus einem ventralen und einem dorsalen Teil, die mit Klettbändern verbunden sind. Der Brace sollte von ca. 5 cm distal der Axilla bis 5 cm proximal des Olekranons reichen. In den ersten Tagen kann der Arm zusätzlich in einer Armschlinge ruhiggestellt werden. In Abhängigkeit der Abschwellung und der Muskelathrophie muss der Brace regelmäßig nachgezogen werden. Der Brace darf nur zum Duschen abgenommen werden. Die Physiotherapie besteht initial aus Pendelübungen, passiver Mobilisation der Schulter und aktiver Mobilisation des Ellenbogens. Auf eine aktive Elevation und Abduktion sollte in den ersten 4 Wochen verzichtet werden. Anschließend erfolgt die funktionell freie Mobilisation der Schulter im Brace. Nach klinisch und radiologischer Frakturheilung wird der Brace entfernt und es beginnt die intensivierte physiotherapeutische
b
571 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Behandlung zur Wiederherstellung eines möglichst vollen Bewegungsumfanges. z z Operative Therapie
Die Indikationen zur operative Therapie sind in der Übersicht dargestellt.
Indikationen zur operativen Therapie
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
a
Achsenfehlstellung >25° Fragmentdiastase >10 mm »floating ellbow« penetrierende Verletzungen offene Fraktur Querfraktur progrediente Radialisparese Plexusschaden oder zervikale Plegie Pseudarthrose
Zur Auswahl stehen die Behandlung mit Fixateur externe, die Plattenosteosynthese sowie die ante- oder retrograde Marknagelosteosynthese. Die Notwendigkeit der operativen Revision und Osteosynthese sowie der Zeitpunkt der Revision bei Verletzungen des N. radialis werden kontrovers diskutiert (s. u.) Zeitpunkt der Operation
Wenn die Weichteilsituation es zulässt, sollte eine diaphysäre Humerusfraktur sobald als möglich operiert werden. Das gilt v. a. für offene Frakturen. Fixateur externe
Die Versorgung mit einem Fixateur externe stellt in der Regel eine passagere Behandlung, v. a. beim polytraumatisierten Patienten dar. Zum Einsatz kommt hier ein AO-Fixateur. Proximal sollten die Pins anterolateral am Vorderrand des M. deltoideus und distal posterolateral neben der Trizepssehne eingebracht werden. Insbesondere distal muss dabei auf den Verlauf des N. radialis geachtet werden. Tipp
I
I
Es empfiehlt sich, proximal und distal jeweils zwei 5,0-ApexPins einzubringen und diese jeweils mit kurzen Carbonstäben zu verbinden.
Über diese kurzen Stäbe kann die Fraktur reponiert werden. In der gewünschten Stellung werden die Stäbe dann mittels »tube to tube«-Schellen verbunden. Plattenosteosynthese
b
⊡ Abb. 24.14a,b Sarmiento-Brace. a Mit, b ohne Schulterkappe
Zur Auswahl stehen der anterolaterale, der dorsale und der mediale Zugang. Der anterolaterale Zugang stellt den Standardzugang dar. Über ihn können 80–90% des Humerus dargestellt werden. Er eignet sich besonders gut für Frakturen im proximalen und mittleren Drittel. Der Hautschnitt zieht vom Proc. coracoideus in Richtung Epicondylus radialis. Proximal
24
572
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
24
a
b
c
⊡ Abb. 24.15a–c Plattenosteosynthese bei Querfraktur des distalen Humerusschaftes. a Präoperativ, b, c Osteosynthese mit dorsaler schmaler 4,5-LC-DCP-Platte; intraoperativ muss der N. radialis dargestellt werden
a
b
⊡ Abb. 24.16a,b Zustand nach Versorgung einer proximalen diaphysären Humerusfraktur mit einer 4,5-LC-DCP-Platte
gelangt man durch das deltoidopektorale Intervall zum Humerus. Nach distal muss der Deltaansatz partiell vom Knochen abgelöst werden. Für die weitere distale Darstellung muss der M. brachialis längs gespalten werden. Entsprechend seiner
Doppelinnervation durch den N. radialis und den N. musculocutaneus werden ein Drittel nach lateral und zwei Drittel nach medial weggehalten. Im distalen Humerusdrittel muss der anteriore Durchtritt des N. radialis durch den M. brachialis und den M. brachioradialis beachtet werden. Die anteriore Plattenlage wird distal durch die Fossa coronoidea begrenzt. Der dorsale Zugang eignet sich für distale Humerusschaftfrakturen und sollte zur Exploration des N. radialis verwendet werden. Dabei liegt der Patient in Bauchlage. Nach dem dorsomedianen Hautschnitt und der Faszieninzision wird der Trizeps zwischen den beiden Köpfen längs gespalten. Proximal kommt man dann auf den N. radialis. Sollte eine weiter proximale Darstellung notwendig sein, so kann der Trizeps auch gesamt vom intermuskulären Septum separiert werden. Der mediale Zugang empfiehlt sich bei Frakturen mit Gefäßverletzung. Des Weiteren ist er kosmetisch vorteilhaft und eignet sich auch gut bei adipösen Patienten. Die Hautinzision zieht dabei von unterhalb der Axilla bis zum Epicondylus ulnaris. Bei der Präparation muss oberflächlich auf Äste des N. cutaneus brachii und in den weiteren Schichten auf den N. medianus, die A. brachialis und den N. cutaneus antebrachii geachtet werden. Implantatwahl: Die schmale 4,5-LC-DCP-Platte (»limited contact dynamic compression plate«) stellt das Standartimplantat zur Plattenosteosynthese des Humerus dar (⊡ Abb. 24.15 u. ⊡ Abb. 24.16). Will man ein Ablösen des Deltaansatzes vermeiden, so können anatomisch vorgeformte periartikuläre Platten verwendet werde. Bei osteoporotischem Knochen empfiehlt sich die Verwendung winkelstabiler Platten bzw. die Verbundosteosynthesetechnik. Diese Technik sollte auch, wenn man sich hier nicht zu einem intramedullären Verfahren entschließt, bei der Osteosynthese von pathologischen Frakturen durchgeführt werden.
573 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
a
b
c
d
> Grundsätzlich sollte eine möglichst lange Platte verwendet werden. Im proximalen und distalen Fragment sollten jeweils 6 Kortikales gefasst werden. Diese Grundsätze gelten insbesondere bei der Versorgung mehrfragmentärer Frakturen. Intramedulläre Verfahren
Marknägel können ante- und retrograd eingebracht werden (⊡ Abb. 24.17). Die Antegrade Marknagelosteosynthese erfolgt in halb sitzender Position. Nach Hautinzision wird der M. deltoideus im Faserverlauf gespalten und die Rotatorenmanschette längs inzidiert. Dann erfolgt die Eröffnung des Markraums mit dem Pfriem. Zur retrograden Marknagelung muss der Patient in Bauchoder Seitenlage und der Arm auf einer Armbank gelagert werden. Der Zugang zum Eintrittspunkt erfolgt proximal des Epicondylus radialis oder proximal der Fossa olecrani durch die Trizepssehne. Zur Auswahl stehen rigide und flexible Nägel, die antegrad oder retrograd eingebracht werden. Flexible Nägel sind einfach einzubringen. Aufgrund der nicht sicheren Rotationsstabilität bedarf es bei diesen jedoch häufig eines zusätzlichen Braces zur
⊡ Abb. 24.17a–d Humerusschaftfraktur. a, b Präoperativ, c, d Marknagelosteosynthese
funktionellen Nachbehandlung. Sie haben ihre Domäne v. a. in der Versorgung kindlicher und jugendlicher Frakturen. Es stehen verschiedene rigide Implantate zur antegraden und retrograden Nagelung zur Verfügung. Die antegrade Nagelung ist das am häufigsten eingesetzte intramedulläre Verfahren. Bei beiden Verfahren wird nach Eröffnung des Markkanals mit dem Pfriem der Nagel über einen Führungsdraht oder direkt in den Humerus eingeführt. Gegebenenfalls ist das Aufbohren des Markkanals notwendig. Die Verriegelungsbolzen werden dann über Stichinzisionen eingebracht. Das Verfahren ist anspruchsvoll. z z Evidenz und Kontroversen
Die Therapie der diaphysären Humerusfraktur ist nach wie vor eine Domäne der konservativen Therapie. Unter BraceBehandlung kommt es bei 87–97% der behandelten Frakturen zu einer Konsolidation der Fraktur. In der von Sarmiento untersuchten Gruppe von 620 Patienten waren 25% der Frakturen offen. Die mittlere Konsolidationszeit betrug 11,5 Wochen. Bei 2% der geschlossenen und 6% der offenen Frakturen kam es zur Entstehung einer Pseudarthrose (Sarmiento et al. 2000).
24
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
In einer anderen Gruppe von 67 konservativ therapierten Frakturen (Monotrauma n=54 und Polytrauma n=13) über einen Zeitraum von 15 Jahren versagte die konservative Therapie bei 11% der Monotraumagruppe und bei 23% der Polytraumagruppe. Bei 4 Patienten bestand eine primäre Radialisparese, die sich bei allen Patienten wieder zurückbildete. Bei 6 der 9 Frakturen, die nicht heilten, handelte es sich um Querfrakturen. 52% der konservativ konsolidierten Fakturen hatten ein funktionell exzellentes und 43% ein gutes Ergebnis (Koch et al. 2002). Ob bei der operativen Versorgung die Plattenosteosynthese oder die Marknagelosteosynthese die Therapie der ersten Wahl darstellt, wird kontrovers diskutiert. In einer randomisierten prospektiven Studie von Chapman und Mitarbeitern (2000) kam es bei 93% der mit Plattenosteosynthese und bei 87% der mit Marknagel versorgten Frakturen zu einer primären Bruchheilung. In einer anderen Studie kam es bei 96% der mit Plattenosteosynthese und bei 91% der mit Marknägeln versorgten Frakturen zu einer primären Bruchheilung. Patienten mit antegrad eingebrachten Nägeln zeigten im Vergleich vermehrt Schulterschmerzen und Einschränkungen der Schulterbeweglichkeit. Für eine Metaanalyse zum Vergleich der Plattenosteosynthese mit der Marknagelung konnten unter 215 Veröffentlichungen über den Zeitraum von 1969–2000 nur 3 randomisierte Arbeiten gefunden werden. Dabei zeigte sich ein um 74% geringeres Risiko einer Reoperation bei den mit Plattenosteosynthese versorgten Patienten. Diese Patienten zeigten des Weiteren ein reduziertes Risiko für Schulterbeschwerden (Bhandari et al. 2006). Aufgrund der Zugangspathologie der antegraden Nägel kommen nun vermehrt retrograd einzubringende Nägeln zum Einsatz. Bei diesen scheint es zu keiner wesentlichen Einschränkung der Schulter- und Ellenbogenbeweglichkeit zu kommen. Das Loch zur Nagelinsertion stellt jedoch einen nicht unbedenklichen »stress riser« dar. > Insgesamt sind die Unterschiede des Outcomes der Plattenosteosynthese und der Marknagelungen nicht statistisch signifikant.
Die Wahl der Verfahren ist somit Abhängig von der genauen Frakturlokalisation, der Frakturart sowie der Präferenz des Chirurgen. Bei den sehr guten Ergebnissen der konservativen Therapie ist die Indikation zur operativen Therapie grundsätzlich sehr kritisch zu stellen. Die Notwendigkeit der operativen Revision und Osteosynthese sowie der Zeitpunkt bei Verletzungen des N. radialis werden kontrovers diskutiert. Die Radialisparese bildete sich bei 88,1% von 1045 Patienten zurück. Bei 70,7% davon ohne operative Revision. Es konnte kein signifikanter Unterschied zwischen den Patienten mit früher und später Nervenrevision gefunden werden. Shao beschreibt einen möglichen Algorithmus bei einer humerusfrakturassoziierten Radialisparese (Shao et al. 2005).
gesamt wird aufgrund der guten Ergebnisse der konservativen Therapie die Indikation zur operativen Therapie sehr zurückhaltend gestellt. Wenn die Indikation gestellt ist, werden die Frakturen wegen der nicht zu vernachlässigenden Zugangspathologien der Marknagelung in der Regel mit einer Plattenosteosynthese versorgt. Bei einer Verletzung des N. radialis favorisieren wir die frühzeitige operative Exploration des Nervs und die Osteosynthese, da der Nerv initial wesentlich besser dargestellt werden kann, die Frage nach einer Kontinuitätsunterbrechung geklärt ist und im Falle einer Läsion die sofortige operative Versorgung erfolgen kann. Zudem begünstigt die Stabilisation des Humerus die Erholung des Nervs. z
Tipp
Die Entscheidung über die Therapie wird in St. Gallen im Wesentlichen nach den oben genannten Kriterien gestellt. Ins-
I
I
Das Osteosynthesematerial muss nicht zwingend entfernt werden. Insbesondere bei der dorsalen Plattenlage besteht hier ein erneutes Risiko zur iatrogenen Verletzung des N. radialis.
z
Komplikationen
Das Risiko einer »non union« oder einer Pseudarthrose ist erhöht bei der konservativen Therapie von Querfrakturen, Fragmentdiastase >10 mm, Frakturen des proximalen und distalen Drittels und Weichteilinterposition. Bei der Brace-Behandlung nach Sarmiento muss besonders auf die Integrität der Weichteile geachtet werden. Ein zu straffes Anziehen kann zu Druckläsionen führen. In Abhängigkeit der Hautfeuchtigkeit besteht des Weiteren die Gefahr der Mazeration bzw. der Bildung eines Schweißexanthems. ! Cave Das Hauptrisiko der Plattenosteosynthese liegt in der Verletzung des N. radialis, v. a. beim dorsalen Zugang.
Bei der Marknagelung besteht aufgrund des meist sehr engen Markkanals die Gefahr der iatrogenen Frakturierung und der Fragmentdistraktion. Beim Aufbohren des Markkanals kann der N. radialis direkt oder durch die Hitze verletzt werden. Hierbei können auch Hitzenekrosen des Knochens entstehen. Bei der antegraden und bei der retrograden Einbringung besteht ein nicht zu vernachlässigendes Risiko der Zugangspathologien. z
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Nachbehandlung
Die Nachbehandlung der Brace-Behandlung besteht in der Physiotherapie (s. o.). Bei mit flexiblen Nägeln versorgten Frakturen ist in Abhängigkeit von der Rotationsstabilität eine zusätzlich Brace-Behandlung notwendig. Operativ versorgte Frakturen sollten sobald als möglich funktionell nachbehandelt werden. Das erlaubte Bewegungsausmaß und die Belastung sind abhängig von der operativ erreichten Stabilität und vom klinischen und radiologischen Verlauf.
Prognose
Bei regelrechter Indikationsstellung kommt es sowohl nach konservativer als auch nach operativer Therapie in über 85% der behandelten Frakturen zu einer primären Bruchheilung.
575 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
24.2.3
Frakturen des distalen Humerus
Das gesunde Ellenbogengelenk erlaubt einen Bewegungsumfang für die Extension/Flexion von 0/0/140° und bis 90/0/90°für die Pronation/Supination. In endgradiger Extension und Supination besteht ein humeroradialer Winkel von 10–15° (Meyer-Marcotty et al. 2002).
P. Bodler z
Epidemiologie
Die Inzidenz der distalen Humerusfraktur beträgt 5%. Die Altersverteilung ist mit einer Häufung bei Männern im Alter von 12–19 Jahren und bei Frauen über 80 Jahren zweigipflig. Die A-Fraktur ist mit >38% die häufigste, die C-Fraktur mit >32% die zweithäufigste Gruppe (Robinson et al. 2003). Die Anzahl der offenen Frakturen beträgt etwa 7%. Die Ulnarisläsion stellt mit 2,5% die häufigste neurologische Komplikation dar. Verletzungen der Nn. radialis und medianus sind selten. Die Inzidenz der Arterienverletzung liegt bei 5–10% (Moneim u. Garst 1995). Die Anzahl der distalen Humerusfrakturen wird sich in den nächsten 30 Jahren verdreifachen. Mit 68% ist ein einfacher Sturz die häufigste Ursache einer distalen Humerusfraktur (Palvanen et al. 1998). z
Anatomie und Biomechanik
Der distale Humerus kann in eine radiale und eine ulnare Säule eingeteilt werden. Der Epicondylus radialis und der Epicondylus ulnaris stellen die beiden wesentlichen Ursprungsorte der ellenbogenstabilisierenden Bänder sowie der Flexoren und Extensoren des Unterarms dar. Die Trochlea humeri bildet mit dem Olekranon der Ulna das Humeroulnargelenk, das Capitulum humeri mit dem Radiuskopf das Humeroradialgelenk. Die Trochlea ist in a.p.-Richtung etwa 20° gegen die Humerusachse nach ventral geneigt. Die korrespondierenden Gelenkflächen für den Radiuskopf und für das Olekranon befinden sich ventral und distal. Die Anlage des Osteosynthesematerials ergibt sich somit dorsal, medial und lateral. Um den Epicondylus ulnaris läuft direkt am Knochen der N. ulnaris. Ventral des Ellenbogens verlaufen die A. brachialis und der N. medianus, lateral der N. radialis in unmittelbarer Nähe zum Gelenk. 1
2
> Für die im Alltag notwendigen Tätigkeiten genügt ein Bewegungsumfang für Extension/Flexion von 0/30/130° und für Pronation/Supination von 50/0/50°.
Die biomechanische Besonderheit des distalen Humerus liegt v. a. in der ventralen Abkippung der Tochlea von 20°. Diese begünstigt bei Stürzen auf den extendierten Ellenbogen sog. Abscherfrakturen. z
Klassifikation
Distale Humerusfrakturen werden am gebräuchlichsten nach der AO-Klassifikation eingeteilt (⊡ Abb. 24.18): ▬ A: extraartikuläre Fraktur – A1: apophysäre Avulsionsverletzung – A2: metaphysär einfach – A3: metaphysär multifragmentär ▬ B: partielle artikuläre Fraktur – B1: lateral-sagittal – B2: medial-sagittal – B3: frontal ▬ C: vollständige artikuläre Fraktur – C1: artikulär einfach, metaphysär einfach – C2: artikulär einfach, metaphysär, multifragmentär – C3: artikulär multifragmentär Eine weitere Einteilung wurde von Jupiter und Mehne (1992) veröffentlicht. Bei beiden Klassifikationen besteht jedoch eine signifikante Inter- und Intraobserver-Differenz, was sich insbesondere auf die Planung des operativen Vorgehens auswirken kann. 3
A
B
C
⊡ Abb. 24.18 Distale Humerusfrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
24
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Davies und Mitarbeiter stellten eine Klassifikation vor, die in der Inter- und Intraobserver-Übereinstimmung den oben genannten Klassifikationen überlegen war. Zusammen mit einem Therapiealgorithmus stellt diese Einteilung einen interessanten Ansatz zur Entscheidung über das operative Verfahren dar (Davies u. Stanley 2006; ⊡ Abb. 24.19 u. ⊡ Abb. 24.20). Die Kapitulumfrakturen werden bezüglich der Klassifikation gesondert behandelt und allgemein gültig in Typ I–III nach Bryan und Morrey eingeteilt. Die Abscherfraktur des Kapitulums und eines Großteils der Trochlea in der Koronarebene wurde von McKee als Typ IV der Bryan-Morrey-Klassifikation angefügt (McKee et al. 1996; ⊡ Abb. 24.21). z Diagnostik z z Anamnese
Die häufigste Ursache einer distalen Humerusfraktur ist ein Sturz. Bei jungen Patienten oft im Rahmen eines Sport- oder
1
Verkehrsunfalls mit einem adäquaten Trauma, bei älteren Patienten gehäuft ohne adäquates Trauma aufgrund einer Osteopenie. z z Klinische Untersuchung
Auf forcierte Palpation und Bewegungsprüfung sollte bei Verdacht auf eine distale Humerusfraktur verzichtet werden. Umso wichtiger ist die Überprüfung des sensomotorischen Status (⊡ Tab. 24.2). z z Bildgebende Verfahren
Zu initialen Bildgebung wird der Ellenbogen in 2 Ebenen geröntgt. Zur genaueren Beurteilung und zur weiteren Planung der Therapie sollte nach Möglichkeit ein CT mit zwei- und dreidimensionaler Darstellung durchgeführt werden. Dreidimensionale Darstellungen verbessern zwar nicht die Genauigkeit, aber die Reliabilität der Frakturklassifikation und Charakterisierung (Doornberg et al. 2006).
2
3 AP
Lateral
⊡ Abb. 24.19 Distale Humerusfrakturen: Einteilung nach Davies. 1 extraartikulär, 2 vorwiegend intraartikulär, 3 vorwiegend artikulär
Management algorithm Type I (Solely extra-articular)
ORIF Posterior approach No olecranon osteotomy
Type II (Predominantly intra-articular)
ORIF with olecranon osteotomy
Fit & active
ORIF with olecranon osteotomy
Type III (Solely intra-articular)
⊡ Abb. 24.20 Distale Humerusfrakturen: Behandlungsalgorithmus
Elderly Osteopenia Arthritis
Total elbow arthroplasty
577 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
z Therapie z z Auf der Notfallstation
Eine angepasste medikamentöse und durch Lagerung zu erreichende Analgesie stellt die initiale Therapie auf der Notfallstation dar. Die optimale Lagerung richtet sich mehr nach der Schmerzreduktion als an der korrekten anatomischen Stellung. Eine Oberarmgipsschiene mit Einschluss des Handgelenks sollte zur initialen Ruhigstellung angelegt werden. z z Konservative Therapie
Die Indikation zur rein konservativen Therapie besteht nur, falls der Allgemeinzustand des Patienten keinerlei operative Therapie zulässt. Es sollte dann die Ruhigstellung in einer dorsalen Gipsschiene, bzw. in einem zirkulären Oberarmgips erfolgen. ! Cave Die Ruhigstellung über mehrere Wochen hat immer eine deutliche bleibende Bewegungseinschränkung zur Folge. z z Operative Therapie Zugänge
Aufgrund der anterior verlaufenden Gefäße und Nerven ist ein übersichtlicher anteriorer Zugang zum distalen Humerus nicht
Typ 1
Typ 2
möglich. Bei lateralen Einsäulen- und Kapitulumfrakturen ist ein radialer Zugang in Rückenlage möglich. Wenn der radiale Epikondylus frakturiert ist, kann das Fragment mobilisiert und so das Gelenk dargestellt werden. Ansonsten kann zur Darstellung des Gelenks das laterale Kollateralband subperiostal abgelöst oder der Epikondylus osteotomiert werden. Bei Avulsionsverletzung des Epicondylus ulnaris kann ein direkter medialer Zugang gewählt werden. Die Osteosynthese isolierter Frakturen der medialen Säule sollte ansonsten über den dorsalen Zugang erfolgen. Der dorsale Zugang ist der Standardzugang zur Versorgung distaler Humerusfrakturen. Der Patient muss hierzu auf der Seite oder besser auf dem Bauch gelagert werden. Die Haut wird median vom distalen Oberarm leicht bogenförmig bis über den proximalen Unterarm inzidiert. Extraartikuläre und einfache artikuläre Frakturen können über einen bilaterotrizipitalen Zugang, den sog. Alonso-Llames-Zugang, dargestellt werden. Muss die Gelenkfläche zu Rekonstruktion komplett dargestellt werden, so kann dies entweder über eine Osteotomie des Olekranons erfolgen oder der Trizepssehnenansatz wird subperiostal vom Olekranon abgelöst (Bryan-Morrey-Zugang). Über den Bryan-Morrey-Zugang können die Gelenkflächen jedoch weniger gut eingesehen werden.
Typ 3
a
b
⊡ Abb. 24.21a,b Kapitulumfrakturen: Morrey-Klassifikation. a Typ I: Komplette osteochondrale Fraktur des Kapitulums, Typ II: osteochondrales Fragment mit dünnem subchondralem Knochenanteil, Kapitulumtrümmerfraktur, b Typ IV nach McKee: koronare Abscherfraktur des Kapitulums mit einem Teil der Trochlea
⊡ Tab. 24.2 Überprüfung des sensomotorischen Status Läsion
N. ulnaris
N. medianus
Distal
Ausfall der M. interossei und der ulnaren 3 lumbricales, Krallenhand Ausfall des M. adductor pollicis > positives Frommet-Zeichen, d. h. beim Greifen wird das Daumenendglied als Ersatz für die fehlende Daumenadduktion flektiert Minderung der Griffkraft 60–80% Sensibilitätsverlust des Kleinfingers
Ausfall des M. opponens digiti minimi, Kleinfinger kann dem Daumen nicht genähert werden
Proximal
Wie oben, zusätzlich: Abschwächung der Ulnarabduktion und der Beugung der Hand
Nahezu komplette Abschwächung der Unterarmpronation, Palmarflexion und Radialabduktion Parese der Fingerbeuger I–III in den Interphalangealgelenken, Schwurhand Sensibilitätsverlust der radialen 3 ½ Finger
24
578
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
> Obligatorisch wird bei jedem dorsalen Zugang der N. ulnaris dargestellt. Der Nerv muss proximal des Sulkus gesucht und bis in den Sulkus dargestellt werden. Eine Subkutanverlagerung ist abhängig von der Anlage des Osteosynthesematerials und der Rekonstruierbarkeit des Sulcus ulnaris.
24
Die Olekranonosteotomie erfolgt am Apex des Olekranons und sollte V-förmig nach distal geneigt verlaufen. Nach der Osteotomie des Knochens mit der oszillierenden Säge wird der subchondrale Knochen und der Knorpel frakturiert. Die Osteotomie kann mit einer Zuggurtung oder einer Plattenosteosynthese stabilisiert werden (⊡ Abb. 24.22). Zeitpunkt der Operation
Die Operation sollte sobald als möglich innerhalb der ersten 24 h erfolgen. Komplexe Frakturen sollten in Anwesenheit eines erfahrenen Operateurs und eines guten Teams versorgt werden.
niert werden. Das Kapitulum wird dann durch den Radiuskopf in reponierter Stellung gehalten. Die Stellung wird zusätzlich durch 0,6- oder 1,0-Kirschner-Drähte gesichert. Die Osteosynthese erfolgt dann mit von posterolateral als Zugschraube eingebrachten 3,5-Kortikalis- oder 4,0-Spongiosaschrauben. Mit Herbert-Schrauben kann das Kapitulum von ventral direkt verschraubt werden. Typ-II-Frakturen eignen sich aufgrund der oft nur marginalen Knochenschicht nicht oder nur schlecht zur Osteosynthese. Bei ausreichender Fragmentgröße sollte das Fragment mit transossären Nähten refixiert werden. Ist dies nicht möglich, sollte das Fragment arthroskopisch oder offen exzidiert werden. > Eine Osteosynthese einer Typ-III-Fraktur ist nicht möglich. Hier ist nach der Resektion der Fragmente eine rasche Mobilisation anzustreben. Das Risiko einer Instabilität und einer Valgusfehlstellung ist bei Typ III Frakturen erhöht. Extra- und intraartikuläre distale Humerusfrakturen
Kapitulumfrakturen
Bei Typ-I-Frakturen kann das Kapitulum durch eine Extension/ Supination und Varisierung mit nachfolgender Flexion repo-
Das Ziel der Osteosynthese ist eine möglichst stabile Verbindung der distalen Fragmente mit dem metadiaphysären Knochen. Dies kann über Platten, die der Knochenkontur gut
Triceps
N. ulnar Trochlea Chevron
Ulna
a
b
c
⊡ Abb. 24.22a–c Olekranonosteotomie nach Morrey. a Markierung der V-förmigen Osteotomie über dem Apex der Fossa olecrani, b Osteotomie zunächst mit der oszillierenden Säge, c Vervollständigen der Osteotomie mit einem Klingenmeisel und Wegklappen des proximalen Fragments
579 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
angepasst und ausreichend stabil sind, erreicht werden. Hierzu können sowohl angebogene Standard-3,5-LC-DCP- oder LCPPlatten, 3,5-Rekonstruktionsplatten als auch vorgeformte periartikuläre Platten verwendet werden (⊡ Abb. 24.24). Aufgrund der reduzierten Stabilität sollten Rekonstruktionsplatten nicht ausschließlich verwendet werden. Typ-A-Frakturen können mit einer einseitig angelegten Platte versorgt werden, v. a. wenn es sich um einfache Schrägfrakturen handelt. Sobald die Frakturzone jedoch mehrfragmentär ist, sollte eine winkelstabile Platte oder besser eine Doppelplattenversorgung angestrebt. Alternativ, v. a. bei sehr weit distalen Frakturen und bei osteoporotischem Knochen, kann auch eine ein- oder beidseitige Zuggurtung erfolgen.
a
b
> Typ-C-Frakturen bedürfen immer eine Doppelplattenversorgung.
Nach Darstellung der Fraktur sollte zunächst der distale Gelenkblock rekonstruiert werden. Ziel muss die Wiederherstellung einer stufenlosen Gelenkfläche sein. Bei einfachen Frakturen genügt hierzu eine von ulnar nach radial eingebrachte Zugschraube. Zur primären Reposition komplexer Frakturen werden 1,0-Kirscher-Drähte und Repositionszangen verwendet. Die Kirschner-Drähte sollten nicht zur definitiven Osteosynthese verwendet werden. Hier ist eine gute Assistenz unabdingbar. Der rekonstruierte Gelenkblock wird dann mit dem metadiapysären Knochen verbunden. Ossäre Defekte können
c
d
⊡ Abb. 24.23a–e Kapitulumfraktur: kombinierte Kapitulumfraktur Typ I und partielle Trochleafraktur. a CT präoperativ, axial, b Röntgenbild präoperativ, a.p.-Projektion, c Röntgenbild präoperativ, seitlich, d a.p.-Röntgenbild postoperativ nach Versorgung mit Herbert-Schrauben, 2,0-AOSchrauben und Kirschner-Drähten, e postoperativ, seitlich
a
b
c
d
⊡ Abb. 24.24a–d Distale intraartikuläre Humerusfraktur Typ 13 C3. a Präoperativ, a.p.-Projektion, b präoperativ, seitlich, c postoperativ nach Versorgung mit einer 3,5-Rekonstruktionsplatte radial, einer Drittelrohrplatte ulnar sowie einer freien Spongiosaschraube, a.p.-Projektion, d seitlich
24
580
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
24
a
b
c
d
⊡ Abb. 24.25a–d C3-Fraktur bei Osteoporose. a, b Präoperativ, c, d nach Versorgung mit einer Bryan-Morrey-Ellenbogenprothese
mit autologer Spongiosa oder Knochenersatzmaterial aufgefüllt werden. Sollte der Defekt zu langstreckig sein, kann eine metaphysäre Verkürzung in Erwägung gezogen werden. Die Fraktur muss zur frühfunktionellen Mobilisation sowohl in der koronaren als auch in der sagittalen Ebene stabilisiert werden. Dies wird durch die Anlage der Platten im rechten Winkel zueinander erreicht. In der Regel wird hierzu radial eine angepasste Rekonstruktionsplatte dorsal angelegt. Diese Platte sollte möglichst weit nach distal reichen. Sie darf aber auf keinen Fall bis in die Fossa olecrani reichen. Die ulnare Platte wird dann medial 90° zur radialen Platte auf der ulnaren Kante angelegt. Bei einfachen Frakturen kann hier auch eine Drittelrohrplatte ausreichend sein. Ulnar sollten möglichst weit nach radial reichende Schrauben verwendet werden. Der Nachteil dieser Plattenanlage liegt darin, dass radial nur sehr kurze Schrauben eingebracht werden können. Außerdem können bei sehr distalem Frakturverlauf häufig nur eine oder zwei Schrauben distal eingebracht werden. Einige Autoren empfehlen deswegen eine sowohl ulnar als auch radial laterale Plattenanlage. Bei dieser Plattenlage kann die primäre Stabilität durch die Verwendung winkelstabiler Implantate verbessert werden. Kann eine Fraktur mit 2 Platten nur insuffizient stabilisiert werden, kann zusätzlich radial-lateral eine weitere Platte angelegt werden. In diesem Fall kann jedoch der Wundverschluss problematisch werden. Bei sehr distalem Frakturverlauf kann die Zuggurtung eine bessere Osteosyntheseform darstellen. Zum Ende der Operation muss der Bewegungsumfang klinisch und unter Durchleuchtung kontrolliert werden. Bei alten Patienten mit osteoporotischen und weit distalen Frakturen sowie vorbestehenden rheumatoiden Veränderungen kann eine stabile Osteosynthese mit korrekt rekonstruierten Gelenkflächen manchmal nicht erreicht werden. Dann muss die primäre Versorgung mit einer Ellenbogenprothese in Erwägung gezogen werden.
z z Evidenz und Kontroversen
Zur konservativen Therapie der distalen Humerusfraktur liegen nur sehr wenige Daten vor. Bei den konservativ versorgten Patienten kommt es vermehrt zu einer verzögerten Bruchheilung und zu einer deutlich vermehrten Pseudarthrosenausbildung. Des Weiteren zeigten die konservativ versorgten Frakturen sowohl bezüglich des Bewegungsumfangs als auch der Schmerzen ein deutlich schlechteres Ergebnis (Robinson et al. 2003; Srinivasan et al. 2005). Bezüglich der Stabilität der verschiedenen Osteosynthesetechniken wurden mehrere Faktoren biomechanisch untersucht. Werden die Platten 90° zueinander angelegt, so besteht kein signifikanter Unterschied zwischen winkelstabilen und nicht winkelstabilen Implantaten bei A-Frakturen (Korner et al. 2004). Bei osteoporotischem Knochen und/oder metaphysärer Defektläsion kann mit winkelstabilen Implantaten jedoch eine größere Primärstabilität erreicht werden (Korner et al. 2003). > Ob die Platten 90° oder 180° zueinander angelegt werden, zeigt in vitro keinen signifikanten Unterschied der mechanischen Stabilität. Es gibt hierzu jedoch keine aussagekräftige In-vivo-Untersuchung (Schwartz et al. 2006).
Die Subkutanverlagerung des N. ulnaris wird nur von wenigen Autoren standardmäßig empfohlen. Sie sollte von einer eventuellen Schädigung des Nervs und einer zu erwartenden Kompromittierung durch das Osteosynthesematerial abhängig gemacht werden. Die primäre Implantation einer Ellenbogenprothese bei einer distalen Humerusfraktur stellt eine alternative Therapie zur Osteosynthese dar. In einer retrospektiven Studie wurden 12 mit einer Osteosynthese versorgte Patienten gegen 12 mit einer Prothese versorgte Patienten untersucht. Das Ergebnis gemäß dem Mayo Ellbow Score war in der Osteosynthesegruppe 4-mal exzellent, 4-mal gut, 1-mal mäßig und 3-mal schlecht, in der
581 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Prothesengruppe 11-mal exzellent und 1-mal gut (Frankle et al. 2003). In einer Gruppe von 16 primär mit einer Prothese versorgten Patienten, von denen keiner eine entzündlichen Gelenkerkrankung hatte, hatten gemäß Mayo Ellbow Score 11 ein exzellentes und 5 ein gutes Ergebnis (Garcia et al. 2002).
Patienten betrug sie 49%, aber nur 8% hatten eine auf die Ossifikation zurückzuführende Bewegungseinschränkung. Bei Patienten, die innerhalb der ersten 24 h operiert wurden, kam es signifikant seltener zu heterotropen Ossifikationen (Kundel et al. 1996). Das Pseudarthroserisiko der Olekranonosteotomie beträgt 0–6% (Srinivasan et al. 2005).
> Die primäre Implantation einer Ellenbogenprothese kann als alternative Therapie bei Patienten über 65 Jahren durchgeführt werden, insbesondere wenn zusätzlich rheumatoide Veränderungen vorliegen.
Die Operation sollte aber nur von in der Ellenbogenendoprothetik erfahrenen Operateuren durchgeführt werden. Sie stellt keine alternative Therapieform bei jungen Patienten dar (Cobb u. Morrey 1997). z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Zur bildgebenden Diagnostik wird in St. Gallen standardmäßig ein CT mit Rekonstruktionen durchgeführt. Isolierte Kapitulumfrakturen sowie ulnare Avulsionsverletzungen werden gemäß den oben genannten Empfehlungen versorgt. Distale Humerusfrakturen werden in Abhängigkeit von der Fraktur mit einer Plattenosteosynthese oder einer kombinierten Platten-Zuggurtungs-Osteosynthese versorgt. Wir bevorzugen die 90° zueinander versetzte Plattenlage. Zum Einsatz kommen sowohl Drittelrohrplatten und 3,5-Rekonstruktionsplatten als auch 3,5-LCP- und LCP-Rekonstruktionsplatten sowie vorgeformte periartikuläre Platten. Die primäre Implantation einer Ellenbogenprothese wird primär bei ausgewählten Fällen mit osteoporotischen Frakturen durchgeführt (⊡ Abb. 24.25). z
Nachbehandlung
Um eine möglichst gute Funktion des Ellenbogengelenks wiederherzustellen, sollte die Nachbehandlung in Abhängigkeit von der Stabilität der Osteosynthese so funktionell wie möglich sein. Eine Gipsschiene sollte allenfalls zur initialen Ruhigstellung, maximal bis zur gesicherten Wundheilung angelegt werden. Bereits ab dem ersten postoperativen Tag sollte mit aktiv assistiver Mobilisation begonnen werden. Auf passive Dehnung und Mobilisation gegen Widerstand sollte für 4–6 Wochen verzichtet werden. z
Komplikationen
Die Pseudarthrosenrate nach Osteosynthese einer distalen Humerusfraktur beträgt 4,7%. Das Pseudarthroserisiko scheint v. a. bei sehr distalen Frakturen, den A2.3- und den C1-Frakturen erhöht zu sein. Bei 5,2% der Patienten kommt es nach der Osteosynthese zu einer Infektion. Oberflächliche Wundinfektionen können dabei sehr gut mit Antibiotika behandelt werden. Tiefe Infektionen bedürfen dagegen in der Regel einer operativen Revision. In der Literatur liegt die Inzidenz eines temporären neurologischen Defizits nach distaler Humerusfraktur bei 12,3% und des bleibenden neurologischen Defizits bei 5,4% (Robinson et al. 2003). Die Inzidenz heterotroper Ossifikationen wird unterschiedlich angegeben. In einer Gruppe von 77 operativ versorgten
I
Tipp
I
Wird die Olekranonosteotomie mit einer Kombination aus 6,5-mm-Spongiosaschraube und Zuggurtung stabilisiert, so kann dieses Pseudarthroserisiko reduziert werden.
z
Prognose
Ein exzellentes bis gutes Ergebnis wird in der Literatur in 50– 92% der operierten Patienten angegeben. Es besteht keine Korrelation des Ergebnisses mit dem Alter (Srinivasan et al. 2005). Das funktionelle Ergebnis ist abhängig von einer möglichst bald postoperativ beginnenden Mobilisation. Die Voraussetzung hierzu ist wiederum die stabile Osteosynthese. Bei den meisten Patienten muss postoperativ aber mit einer Einschränkung des Bewegungsumfangs gerechnet werden. Hierüber muss der Patient unbedingt aufgeklärt werden.
24.2.4
Frakturen des proximalen Radius
P. Bodler z
Epidemiologie
Die Inzidenz der Radiusköpfchenfraktur beträgt 3/100.000. Sie macht etwa 25% aller Ellenbogenverletzungen aus (Herbertsson et al. 2004). In einem Kollektiv von 429 Patienten betrug das Durchschnittsalter der Patienten mit Radiusköpfchenfraktur 57 Jahre bei Frauen und 34 Jahre bei Männern. > Bei einem Drittel der Radiuskopffrakturen kommt es zu zusätzlichen Verletzungen wie Olekranonfrakturen, Ellenbogenluxationen, Frakturen des Proc. coronoideus und Kapitulumfrakturen (Gebauer et al. 2005)
In 0,3–5% aller Radiusköpfchenfrakturen kommt es zusätzlich zu einer Zerreißung der Membrana interossea, einer sog. Essex-Lopresti-Verletzung (Neuber et al. 2000). z
Anatomie und Biomechanik
Der Radiuskopf bildet mit dem Capitulum humeri und dem Sulcus capitulotrochlearis das Humeroradial- und mit der Incisura radialis ulnae das proximale Radioulnargelenk. Im Humeroradialgelenk findet bei der Beugung und Streckung v. a. eine Scharnierbewegung, im Radioulnargelenk eine Kreiselbewegung statt. Die dritte Bewegungsrichtung ist durch das Lig. anulare aufgehoben. Das Radiusköpfchen ist zu 30% für die Valgusstabilität des Ellenbogengelenks zuständig und sichert das Gelenk ab einer Flexion von 90° gegen eine dorsale Luxation. Des Weiteren überträgt der Radiuskopf einen Großteil der distal einwirkenden Kraft auf den Humerus.
24
582
z
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Klassifikation
Wie für jede Fraktur, besteht auch für die Radiusköpfchenfraktur eine AO-Klassifikation. Im klinischen Alltag werden die Frakturen jedoch nach der von Broberg und Morrey modifizierten Mason-Klassifikation eingeteilt (⊡ Abb. 24.26).
24
z Diagnostik z z Anamnese
Zu einer Fraktur des Radiuskopfes kommt es in der Regel bei einem Sturz auf den pronierten ausgestreckten Arm. Eine Radiusköpfchenfraktur wird selten durch ein direktes Trauma verursacht. z z Klinische Untersuchung
Bei dem Verdacht auf eine Verletzung im Bereich des Ellenbogens sollte die Palpation sehr vorsichtig erfolgen. Dies gilt ebenfalls für die Bewegungsprüfung. Wichtig ist hingegen die exakte Untersuchung des peripheren sensomotorischen Status. Zur klinischen Untersuchung gehört des Weiteren die Untersuchung des Unterarms und des Handgelenks, um eine zusätzliche Essex-Lopresti-Verletzung nicht zu übersehen. Eine Überprüfung der ligamentären Stabilität, v. a. hinsichtlich einer Valgusinstabilität gehört ebenfalls zur klinischen Untersuchung.
z z Bildgebende Verfahren
Ein Röntgen des Ellenbogens in 2 Ebenen stellt die Standardbildgebung bei Verdacht auf eine Radiusköpfchenfraktur dar. Sollte mit diesen Aufnahmen eine Fraktur nicht sicher ausgeschlossen werden können, so muss eine Radiusköpfchenzielaufnahme durchgeführt werden. Bei Frakturen vom Mason-Typ I und II ist diese Bildgebung ausreichend. Besteht der Hinweis auf eine Typ-III- oder –IV-Verletzung oder kann die Fraktur konventionell radiologisch nicht sicher beurteilt werden, sollte eine Computertomographie mit Rekonstruktionen zur genauen Beurteilung des Verletzungsausmaßes veranlasst werden. Die Röntgen- und CT-Bilder müssen des Weiteren hinsichtlich knöcherner Begleitverletzungen wie einer Proc.-coronoideus-Fraktur oder einem knöchernen ulnaren Bandausriss beurteilt werden. Das wichtigste indirekte Zeichen für eine intraartikuläre Verletzung ist das sog. »fat pad sign« (⊡ Abb. 24.34). z Therapie z z Auf der Notfallstation
Eine angepasste medikamentöse und durch Lagerung zu erreichende Analgesie stellt die initiale Therapie auf der Notfallstation dar. Zur Ruhigstellung sollte eine Oberarmgipsschiene angelegt werden. z z Konservative Therapie
Frakturen vom Mason-Typ I und evtl. auch undislozierte TypII-Frakturen werden konservativ behandelt. Zunächst wird zur Ruhigstellung eine Oberarmgipsschiene angelegt. Aus dieser Schiene heraus sollte so früh wie möglich, spätestens aber ab dem 7. Tag mit der aktiv-assistiven und aktiven Mobilisation mit schmerzabhängig freiem Bewegungsumfang begonnen werden. Entscheidet man sich bei Typ-II-Frakturen zur konservativen Therapie, so sollte nach der initialen Mobilisation eine radiologische Verlaufskontrolle erfolgen. Tipp
⊡ Abb. 24.26 Radiusköpfchenfraktur: Broberg-Morrey-Modifikation der Mason-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
I
I
Ist man sich bei einer Typ-II-Fraktur über die Möglichkeit der konservativen Therapie unsicher, so kann das Hämarthros abpunktiert und Lokalanästhetikum infiltriert werden (⊡ Abb. 24.27). Lässt sich anschließend ohne Widerstand und schmerzfrei eine Extension/Flexion von 0/20/140° und eine Pronation/Supination von 70/0/70° durchführen, so kann eine konservative Therapie versucht werden.
z z Operative Therapie Zugänge
⊡ Abb. 24.27 Ellenbogenpunktion von radial
Die Operation erfolgt in axillärer Plexusanästhesie oder Vollnarkose in Rückenlage. Der Arm wird auf einem Armtisch gelagert. Die Hautinzision beginnt in Höhe und direkt dorsal des Epikondylus radialis und verläuft bogenförmig direkt über dem Radiohumeralgelenk zur Ulna. Nach Spaltung der Unterarmfaszie kann sowohl zwischen dem M. anconeus und dem M. extensor carpi ulnaris als auch weiter anterior zwischen dem M. extensor carpi ulnaris und dem M. extensor digitorum auf das Gelenk zugegangen werden.
583 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Zeitpunkt der Operation
Die Osteosynthese sollte sobald als möglich innerhalb 24 h erfolgen. Die Radiusköpfchenresektion oder die Implantation einer Radiuskopfprothese sollte, wenn man sich dazu entscheidet, ebenfalls sobald als möglich erfolgen, um die Mobilisation nicht zu verzögern. Therapiemöglichkeiten
Nach Darstellung des Gelenks erfolgt zunächst die Spülung. Dann werden die einzelnen Fragmente lokalisiert. Hierzu sollte der Ellenbogen etwas varisiert werden, um unter Pro- und Supination möglichst den ganzen Radiuskopf inspizieren zu können. Bei einfachen Zweifragmentfrakturen wird das dislozierte Fragment mit einem 1,0-Kirschner-Draht oder der Weberzange an das Hauptfragment reponiert und mit mindestens zwei 1,5- oder 2,0-Kleinfragmentzugschrauben osteosythetisiert. Die Schrauben sollten parallel zur Gelenkfläche platziert werden. Zur Versenkung der Schraubenköpfe sollte eine Kopfraumfräse verwendet werden. ! Cave Damit die Schraubenspitzen die radiäre Gelenkfläche nicht perforieren, muss unbedingt auf die korrekte Schraubenlänge geachtet werden. Dies sollte nach Möglichkeit visuell kontrolliert werden.
Handelt es sich um eine mehrfragmentäre Radiusköpfchenfraktur, so können kleine Fragmente entweder zwischen größeren Fragmenten eingepasst und eingeklemmt oder entfernt werden. Die Fragmente werden zunächst reponiert und mit 1,0-Kirschner-Drähten transfixiert. Anschließend erfolgt die schrittweise Osteosynthese der Fragmente mit 1,5- oder 2,0-Kleinfragmentschrauben als Zugschrauben. Bei großem dislozierten TypII-Fragmenten sowie bei Typ-III-Frakturen sollte zur Verbesserung der Stabilität ein T- oder L-Plättchen (1,5 oder 2,0)
a
b
verwendet werden. In der Praxis haben sich des Weiteren winkelstabile Kleinfragmentplättchen bewährt (⊡ Abb. 24.28). Eine Platte sollte in Neutral-Null-Stellung nach Möglichkeit lateral angebracht werden, sodass größtmögliche Pro- und Supination erhalten bleibt. Ist eine suffiziente Radiusköpfchenosteosynthese nicht zu erreichen, so muss die Resektion überlegt werden. Diese sollte aber nur durchgeführt werden, wenn sicher keine mediale Instabilität vorhanden ist. Dies gilt es prä- und intraoperativ zu überprüfen. Ist der Ellenbogen stabil, wird das Radiusköpfchen am Übergang zum Radiushals mit der oszillierenden Säge abgesetzt. Ist der Ellenbogen instabil oder besteht zusätzlich eine Essex-Lopresti-Verletzung, sollte primär eine Radiusköpfchenprothese implantiert werden. Da das mediale Seitenband der Hauptstabilisator des Ellenbogens bezüglich der Valgusinstabilität ist, sollte dieses im Fall einer Verletzung rekonstruiert werden. Bei einer gleichzeitigen Luxation des Ellenbogens kann es zu einer zusätzlichen Fraktur des Proc. coronoideus kommen. Man spricht dann von einer sog. »unhappy triad«. In diesem Fall muss der Proc. coronoideus in Abhängigkeit von der Fragmentgröße osteosynthetisiert, das laterale Seitenband immer und in Abhängigkeit von der dann bestehenden Stabilität auch das mediale Seitenband rekonstruiert werden. Der Proc. coronoideus kann sowohl indirekt von dorsal als auch direkt über einen zusätzliche anterioren Zugang versorgt werden. z z Evidenz und Kontroversen
Die bisher veröffentlichten Studien lassen keine suffizient evidenzbasierten Empfehlungen zur Therapie von Typ-II- bis -IVFrakturen zu. In der Zusammenschau von 24 Studien mit insgesamt 825 Patienten beklagten bei Typ-II-Frakturen 42% nach konservativer und 32% nach operativer Therapie einen residuellen Schmerz. Gemäß dem Broberg-Morrey Elbow Score erreich-
⊡ Abb. 24.28a,b Subkapitale Radiusköpfchenfraktur vom Mason-Typ III: Osteosynthese mit winkelstabiler Kleinfragmentplatte. a Seitlich, b a.p.
24
584
24
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
ten bei den Typ-II-Frakturen 52% der konservativ therapierten und 88% der operierten Patienten ein gutes bis exzellentes Ergebnis. Für Typ-III- und -IV-Frakturen sind keine konservativen Therapieergebnisse beschrieben (Struijs et al. 2007). Die primär konservative Therapie von Typ-II-Frakturen mit einer Fragmentdislokation von 2–5 mm und einer Fragmentgröße von >30% untersuchten Akesson und Mitarbeiter (2006) bei 49 Patienten mit einem mittleren »long term follow up« von 19 Jahren. Bei 6 Patienten wurde aufgrund eines unbefriedigenden primären Therapieergebnisses im Verlauf eine Radiusköpfchenresektion durchgeführt. 40 Patienten hatten subjektiv keine Einschränkung und keine Schmerzen des Ellenbogens. 34 Pateinten konnten zusätzlich klinisch und radiologisch nachkontrolliert werden. Sie zeigten eine geringe Einschränkung des Bewegungsumfangs, jedoch keine Kraftminderung für Pro- und Supination sowie Griffkraft im Vergleich zur gesunden Gegenseite. Degenerative Veränderungen wurden bei 82% radiologisch nachgewiesen, ohne dass ein negativer Zusammenhang mit dem klinischen Ergebnis bestand (Akesson et al. 2006). Ring und Mitarbeiter (2002) nahmen 30 Patienten mit einer Typ-II- und 26 mit einer Typ-III-Fraktur nach Osteosynthese Nachuntersuchungen vor. Bei 27 Patienten wurde zusätzlich zur Radiusköpfchenfraktur eine Dislokation des Ellenbogens, des Unterarms oder eine Verletzung des medialen Seitenbands diagnostiziert. Die Autoren kamen zu der Schlussfolgerung, dass das beste Ergebnis einer Osteosynthese bei Frakturen mit 3 oder weniger Fragmenten zu erwarten ist (Ring et al. 2002). Bezüglich der primären Resektion des Radiusköpfchens werden unterschiedliche Aussagen gemacht. 17 von 21 Patienten mit einem Follow-up von 16–30 Jahren hatten ein exzellentes, 3 ein gutes und 1 ein mäßiges Ergebnis nach primärer Radiusköpfchenresektion (Janssen u. Vegter 1998). In einer weiteren Arbeit wurden 28 Patienten mit einem mittleren Follow-up von 3 Jahren nach operativer Therapie einer Mason-Typ-III-Fraktur verglichen. Bei 15 Patienten erfolgte die primäre Resektion, bei 13 die offene Osteosynthese. Die Patienten nach Osteosynthese zeigten sowohl bezüglich des Bewegungsumfangs mit Extension/Flexion (0/7,1/133, 8° versus 0/15,5/131,4°) als auch bezüglich der Kraft für Extension, Pronation und Supination ein besseres Ergebnis. Nach Osteosynthese erreichten die Patienten einen durchschnittlichen Broberg-Morrey Elbow Score von 90,7 versus 81,4 (Ikeda et al. 2005). Eine sekundäre Radiusköpfchenresektion nach mehr als 14 Tagen scheint ein schlechteres Behandlungsergebnis zur Folge zu haben (Ambacher et al. 2000). Nach einer Radiusköpfchenresektion kann es aufgrund einer Radiusproximalisierung zu einer Subluxation des distalen Radioulnargelenks kommen (Morrey 1995). Über Auswirkungen dieser Subluxation bestehen jedoch widersprüchliche Aussagen (Janssen u. Vegter 1998).
fragmentschrauben, da es bei der Verwendung von Platten häufig zu einer Einschränkung der Pro- und Supination kommt. Bei nicht rekonstruierbaren Frakturen und stabilem ulnarem Bandapparat wird das Radiusköpfchen reseziert, bei ligamentärer Instabilität wird eine Radiusköpfchenprothese implantiert. z
Nachbehandlung
Nach der Osteosynthese sollte zur Sicherung der Wundheilung und zur Abschwellung initial eine Oberarmgipsschiene angelegt werden. Aus dieser heraus sollte ab dem 7. Tag mit passiver Mobilisation begonnen werden, im Verlauf folgen aktivassistive und aktive Mobilisation. Auf Belastung und Übungen gegen Widerstand sollte für 6 Wochen verzichtet werden. Wenn ein oder beide Seitenbänder rekonstruiert werden mussten, darf für 6 Wochen kein Varus- oder Valgusstress auf das Gelenk ausgeübt werden.
I
Tipp
I
Um trotzdem eine Mobilisation für Extension/Flexion zu ermöglichen empfiehlt sich die Anlage einer Ellenbogenschiene mit Gelenk.
z
Komplikationen
Nach Radiusköpfchenfrakturen kommt es gehäuft zu einer Einschränkung des Bewegungsumfangs, insbesondere zu einem Extensionsdefizit. Heterotrope Ossifikationen sind radiologisch ersichtlich, stehen aber häufig nicht in Zusammenhang mit einem schlechten Ergebnis. Zu einer Valgusabweichung kann es nach Radiusköpfchenresektion kommen. Radiologisch finden sich bei der Mehrzahl der Patienten nach Radiusköpfchenfraktur degenerative Veränderungen. Diese korrelieren aber wie die heterotropen Ossifikationen weder mit Schmerzen noch mit Bewegungseinschränkung. Eine Instabilität des Ellenbogens kann aus einer verpassten Seitenbandverletzung resultieren. Eine übersehene Essex-Lopresti-Verletzung führt zu einer Proximalisierung des Radius und im Verlauf zu ulnokarpalen Schmerzen, bedingt durch einen Ulnavorschub. z
Prognose
Die Prognose nach Radiusköpfchenfraktur ist abhängig vom Grad der Fraktur. Typ-I-Frakturen sowie Typ-II- und -III-Frakturen mit weniger als 4 Fragmenten weisen eine gute Prognose auf. Mehrfragmentäre Frakturen weisen eine schlechtere Prognose auf. Die Prognose nach Radiusköpfchenresektion wird bezüglich der objektiven Kriterien unterschiedlich beurteilt. Subjektiv haben auch diese Patienten eine gute Prognose, wenn keine Seitenbandverletzung vorliegt oder diese adäquat therapiert wird.
24.2.5
Frakturen der proximalen Ulna
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Mason-Typ-I- und nicht dislozierte TypII-Frakturen mit einer Fragmentgröße <30% werden in St. Gallen konservativ behandelt. Typ-II-Frakturen mit Fragmentdislokation oder mit einer Fragmentgröße >30% sowie alle Typ-III-Frakturen werden operativ behandelt. Nach Möglichkeit verwenden wir nur Klein-
P. Bodler z
Epidemiologie
Die Inzidenz der Olekranonfraktur beträgt 1,1/100.000. Sie machen ca. 10% aller Ellenbogenfrakturen aus. Am häufigsten
585 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
ist das mittlere Drittel betroffen. Zu einer mehrfragmentären Fraktur kommt es in 20% der Fälle, v. a. bei osteoporotisch verändertem Knochen. Frakturen des Proc. coronoideus sind selten und treten v. a. in Verbindung mit einer Ellenbogenluxation auf. z
Anatomie und Biomechanik
Das Humeroulnargelenk ist ein reines Scharniergelenk. In der konvexen Incisura ulnae humeri läuft die proximale Ulna. Die ulnare Gelenkfläche wird distal vom Proc. coronoideus und proximal von der Olekranonspitze begrenzt. Die Olekranonspitze taucht bei endgradiger Extension in die Fossa olecrani
und der Poc. coronoideus bei Flexion in die Fossa coronoidea ein. Bedingt durch die Zangenform der Ulna sowie der konvexen ulnaren und konkaven humeralen Gelenkflächen ist die ossäre Führung des Humeroulnargelenks sehr gut. Sie stabilisiert den Ellenbogen gegen Luxationen und sorgt für eine genaue und stabile Führung im Bewegungsablauf. z
Klassifikation
In der AO-Klassifikation des proximalen Unterarms werden das Olekranon und der Radiuskopf gemeinsam beurteilt (⊡ Abb. 24.29):
⊡ Abb. 24.29a–c Frakturen der proximalen Ulna: AO-Klassifikation. a Extraartikuläre Fraktur (A) b Gelenkfraktur eines Knochens (B) c Gelenkfraktur beider Knochen (C). (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
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586
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
▬ A: extraartikuläre Fraktur – A1: extraartikuläre Fraktur der Ulna, Radius intakt – A2: extraartikuläre Fraktur des Radius, Ulna intakt – A3: extraartikuläre Fraktur beider Knochen ▬ B: Gelenkfraktur eines Knochens – B1: artikuläre Fraktur der Ulna, Radius intakt – B2: artikuläre Fraktur des Radius, Ulna intakt – B3: ein Knochen artikulär, der andere extraartikulär frakturiert ▬ C: Gelenkfraktur beider Knochen – C1: einfach – C2: ein Knochen einfach, der andere mehrfragmentär frakturiert – C3 mehrfragmentär Die Einteilung nach Schatzker bezieht neben den morphologischen Gegebenheiten die Stabilität der Fraktur mit ein und eignet sich somit gut zur Entscheidungsfindung über die Art und Weise der operativen Therapie (⊡ Abb. 24.30). Das Ausmaß der Fragmentdislokation und die Stabilität der Fraktur sind die Hauptkriterien der Mayo-Klassifikation (⊡ Abb. 24.31). ▬ Typ I (undislozierte Frakturen): – Bruchspalt <2 mm – per Definition stabile Fraktur ▬ Typ II (dislozierte, stabile Frakturen): – kein Zeichen einer Subluxation im Ellenbogengelenk – Frakturfragmente sind >2–3 mm verschoben, Kollateralbänder sind intakt – Typ IIA: ohne Trümmerzone, Type IIB: mit Trümmerzone ▬ Typ III (dislozierte Frakturen, häufig!): – Unterarm ist instabil gegenüber Humerus
⊡ Abb. 24.30 Frakturen der proximalen Ulna: Klassifikation nach Schatzker. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
z Diagnostik z z Anamnese
Der häufigste Unfallmechanismus ist der direkte Sturz auf den gebeugten Ellenbogen (⊡ Abb. 24.32). Dabei trifft die Trochlea humeri wie ein Keil auf die ulnare Gelenkfläche, die an ihrer schwächsten Stelle frakturiert. Der reflektorische Zug des M. triceps führt zu einer Frakturdislokation. Durch die direkte Krafteinwirkung und den geringen Weichteilmantel sind zusätzliche Weichteilverletzungen häufig. Bei einem Sturz auf den gestreckten Arm kann es in Verbindung mit einer Trizepsanspannung zu einer Hyperextension des Ellenbogens und durch die einwirkende Kraft zu einer Schrägfraktur kommen (⊡ Abb. 24.33). Zu Trümmerfrakturen des Olekranons kommt es bei Hochenergietraumen, z. B. Sturz aus großer Höhe. Besteht zusätzlich eine Luxation des Radiusköpfchens, liegt eine Monteggia-Fraktur vor. z z Klinische Untersuchung
Im Rahmen der klinischen Untersuchung erfolgt eine vorsichtige Palpation des Olekranons. Ein Frakturspalt ist häufig zu tasten. Dieser kann durch die Aufforderung zur Trizepsanspannung noch verdeutlicht werden. Funktionell zeigt der Patient
⊡ Abb. 24.31a–c Frakturen der proximalen Ulna: Mayo-Klassifikation. a Typ I, b Typ II, c Typ III. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
587 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
z z Konservative Therapie
⊡ Abb. 24.32 Unfallmechanismus Querfraktur
⊡ Abb. 24.33 Unfallmechanismus Schrägfraktur
Die Indikation zur konservativen Therapie besteht nur bei Frakturen ohne Dislokation und Stufenbildung. Bei der klinischen Untersuchung müssen die Patienten eine aktive Ellenbogenextension demonstrieren können. In diesem Fall verhindert ein intaktes Periost eine Dislokation der Fragmente. Patienten, bei denen eine operative Versorgung aufgrund des Allgemeinzustands oder der lokalen Weichteilsituation eine Operation nicht möglich ist, wird ein Oberarmgips in 45° Flexion angelegt. Nach einer Woche sollte die erste radiologische Stellungskontrolle erfolgen. Spätestens ab der dritten Woche muss mit zunächst geführter passiver Mobilisation des Ellenbogens begonnen werden. Auf eine Aktivierung des M. triceps muss verzichtet werden. Nach 4–5 Wochen kann der Gips abgenommen und mit aktiver Mobilisation des Ellenbogens begonnen werden. Frakturen des Proc. coronoideus können bis zu einer Fragmentgröße von 50% konservativ therapiert werden. Ist das Fragment >50%, kann dadurch die Stabilität des Ellenbogens beeinträchtigt sein. Dann sollte die Osteosynthese angestrebt werden. z z Operative Therapie Zugänge
eine fehlende oder deutlich abgeschwächte aktive Ellenbogenstreckung. Wie bei jeder Ellenbogenverletzung muss die Varusund Valgusstabilität überprüft werden. Das Olekranon hat nur einen dünnen Weichteilmantel. Somit muss besonders auf die Schwere und Tiefe einer evtl. zusätzlichen Weichteilverletzung geachtet werden. > N.-ulnaris-Läsionen können in Verbindung mit einer Olekranonfraktur auftreten. Die Funktion des Nervs muss somit zwingend untersucht und dokumentiert werden.
Zur Operation wird der Patient in Seitenlage gelagert. Bei offener Fraktur richtet sich der Zugang nach der bestehenden Hautläsion. Bei geschlossener Fraktur erfolgt die Hautinzision beginnend über dem distalen Trizepsansatz leicht bogenförmig distal zur Ulna ziehend. Bei einer Fragmentdislokation kann das Gelenk direkt über die Fraktur inspiziert und gespült werden. Die Arthrotomie erfolgt radial. Der Proc. coronoideus kann sowohl indirekt von dorsal als auch direkt über einen anterioren Zugang zum Ellenbogen osteosynthetisiert werden. Zeitpunkt der Operation
z z Bildgebende Verfahren
Ein Röntgenbild des Ellenbogens in 2 Ebenen genügt in der Regel zur Diagnose einer Olekranonfraktur und zur Beurteilung zusätzlicher knöcherner Verletzungen. Bei konventionell radiologisch nicht sicher zu beurteilender Fraktur und Verdacht auf eine mehrfragmentäre Fraktur sollte eine Computertomographie mit Rekonstruktionen durchgeführt werden. Diese eigenen sich sowohl zu Beurteilung der Gelenkflächen als auch zur genauen Beurteilung einer zusätzlichen Proc.-coronoideusFraktur. z
Therapie
Ziel der Therapie ist eine genaue Wiederherstellung der Gelenkkongruenz. Erschwerend für die Stabilität der Osteosynthese ist der konstante Muskelzug des M. triceps humeri. z z Auf der Notfallstation
Eine angepasste medikamentöse und durch Lagerung erreichte Analgesie stellt die initiale Therapie auf der Notfallstation dar. Zur Ruhigstellung sollte eine Oberarmgipsschiene angelegt werden.
Die operative Therapie sollte sobald als möglich innerhalb der ersten 24 h erfolgen. Auch bei offenen Frakturen sollte eine primäre Osteosynthese unter adäquater antibiotischer Abschirmung erfolgen. Allenfalls bei starker Verschmutzung und / oder ausgedehntem Weichteilschaden sollte die Osteosynthese zweizeitig erfolgen. Therapiemöglichkeiten
Zur Auswahl stehen die Exzision des proximalen Fragments, die Zuggurtungsosteosynthese, die Plattenosteosynthese und rein intramedulläre Osteosynthesen. > Aufgrund der schlechten funktionellen Ergebnisse sollte eine Exzision des proximalen Fragments nicht mehr durchgeführt werden.
Die Indikation zur Zuggurtung besteht bei zweifragmentären Querfrakturen, falls der Frakturspalt den Apex der Olekranongrube nicht überschreitet. Nur bei diesen kann das Prinzip der Zuggurtung zur Frakturspaltkompression ausgenutzt werden. Wird eine Schrägfraktur mit einer Zuggurtung osteosynthetisiert, wird die Zuggurtung nicht in eine Kompressionskraft
24
588
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
sondern in Scherkraft umgeleitet. Somit besteht bei allen anderen Frakturen die Indikation zur Plattenosteosynthese oder zur intramedullären Osteosynthese. Die intramedulläre Osteosynthese kann mit einer Zuggurtung kombiniert werden. Schraubenosteosynthese des Proc. coronoideus
24
Der Proc. coronoideus kann indirekt von dorsal mit einer 2,7oder 3,5-Schraube, die als Zugschraube platziert wird, osteosynthetisiert werden. Eine direkte Verschraubung erfolgt über den Henry-Zugang. Hierzu wird ebenfalls eine 2,7- oder 3,5Zugschraube verwendet. Zuggurtungsosteosynthese
Nach sparsamer Darstellung und Reinigung des Frakturspalts erfolgt die Reposition am besten mit einer Weber-Zange. Dann werden parallel zwei 1,8- oder 2,0-Kirschner-Drähte von der Olekranonspitze den Frakturspalt überbrückend eingebracht. Die Drähte sollten distal beugeseitig die Kortikalis perforieren. Anschließend wird mindestens distal der Fraktur mit einem 2,0-Bohrer die Ulnakortikalis quer durchbohrt. Die Distanz des Bohrkanals zur Fraktur sollte der Distanz der Olekranonspitze zur Fraktur entsprechen. Ein Cerclage-Draht wird dann in einer Achtertour durch dieses Bohrloch und unter den KDrähten und der Trizepssehne durchgezogen und angezogen. Der Quirl muss versenkt werden. Tipp
I
I
Eine Doppelquirlung ist nicht zwingend notwendig, führt jedoch zu einer symmetrischen Kompression.
Zuletzt werden die K-Drähte 180° umgebogen und das daraus resultierende U mit einem Stößel versenkt. Wichtig ist dabei, das U so zu drehen, dass der Cerclage-Draht mit dem U gefasst und das Abrutschen des Cerclage-Drahtes verhindert wird. Alternativ zu den Kirschner-Drähten kann eine 7,3-mm-Spongiosaschaftschraube axial eingebracht werden (⊡ Abb. 24.34).
a
c
b
d
⊡ Abb. 24.34a–d Olekranonschrägfraktur mit typischem »fat pad sign«. Versorgung mit kombinierter Schrauben- und Zuggurtungsosteosynthese. Die Schraube muss zur Neutralisation der Scherkräfte eingebracht werden. a Präoperativ a.p., b präoperativ seitlich, c postoperativ a.p., d postoperativ seitlich
Schrägfrakturen zusätzlich komprimiert werden. Einzelne Fragmente können mit Fibre-Wire-Cerclagen an die Gewindedrähte fixiert werden. Frakturen des Proc. coronoideus können über Draht-Cerclagen oder mittels einer am Nagel vorbeigeführten Zugschraube versorgt werden (Gehr u. Friedl 2006).
Plattenosteosynthese
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Als Implantat können Drittelrohr-, 3,5-LC-DCP oder LCP-Platten sowie vorgeformte periartikuläre Platten verwendet werden. Die Reposition erfolgt ebenfalls mit einer Weber-Zange und/ oder K-Drähten. Wichtig ist dabei v. a. die Rekonstruktion der Gelenkfläche, was klinisch und unter Bildwandlerkontrolle zu kontrollieren ist. Anschließend werden die Schrauben mit dem Ziel eingebracht, möglichst alle Fragmente zu fassen. Eine axial von der Olekranonspitze eingebrachte Schraube erhöht die Stabilität.
Olekranonquerfrakturen werden bei uns mit der klassischen Zuggurtungsosteosynthese versorgt. Bei Schräg- und Mehrfragmentfrakturen erfolgt eine zusätzlich intramedulläre Verschraubung oder eine Plattenosteosynthese. Wir verwenden dazu Drittelrohr oder vorgeformte periartikuläre Platten.
Intramedulläre Verfahren
Seit kurzer Zeit steht ein intramedullärer Kompressionsverriegelungsnagel zur Versorgung von Olekranonfrakturen zur Verfügung. Nach Reposition wird zunächst ein Führungsdraht leicht radial in den Markraum eingebracht. Dieser wird anschließend überbohrt und der Nagel mit einem Zielbügel eingebracht. Die Verriegelung erfolgt über 2,0-mm-Gewindedrähte. Über eine in den Nagel eingebrachte Schraube könne Quer- oder leichte
z z Evidenz und Kontroversen
Die bisher veröffentlichten Studien lassen keine suffizient evidenzbasierten Empfehlungen zur Therapie von Frakturen des Olekranons und des Proc. coronoideus zu. Ist bei einer Fraktur des Proc. coronoideus das Fragment größer als 50%, kommt es insbesondere bei einer Flexion >60° zu einer posterioren Verschiebung des Olekranons (Closkey et al. 2000). Eine prospektiv randomisierte Studie verglich die Plattenosteosynthese mit der Zuggurtungsosteosynthese des Olekranons. Ein gutes klinisches Ergebnis wurde in 37% bei Zuggurtung versus 63% bei Plattenosteosynthese erreicht. Das gute radiologische Ergebnis betrug 47 versus 86% (Hume u. Wiss 1992).
589 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Ein retrospektiver Vergleich der Zuggurtung mit 2 KDrähten und einer Achter-Draht-Cerclage (n=35) mit einer alleinigen Zuggurtung (n=32) über einen mittleren Follow-upZeitraum von 18 Jahren zeigte einen Unterschied nur bezüglich der Notwendigkeit der Osteosynthesematerialentfernung von 81% bei alleiniger Zuggurtung und 43% bei der Achterschlinge (Karlsson et al. 2002a). Hutchinson und Mitarbeiter (2003) verglichen die Stabilität der Zuggurtungsosteosynthese mit intraossärer KirschnerDraht-Lage, der Zuggurtungsosteosynthese mit transkortikaler Kirschner-Draht-Lage, einer alleinigen intraossären 7,3-Spongiosazugschraube und einer Kombination einer Spongiosaschraube mit Achterschlingenzuggurtung. Dabei zeigte die Kombination der Spongiosaschraube mit zusätzlicher Achterschlingenzuggurtung die größte Stabilität. Verschiedene Techniken der Plattenosteosynthese bei Olekranonfrakturen wurde von Gordon und Mitarbeitern in vitro verglichen. Dabei zeigte die dorsal angelegte Platte mit einer intramedullären axillaren Schraube die größte Stabilität (Gordon et al. 2006). z
Nachbehandlung
Zur Sicherung der Wundheilung kann initial für einige Tage eine Oberarmgipsschiene angelegt werden. Bei stabiler Osteosynthese sollte nach 2–5 Tagen mit aktiv-assistiver und im Verlauf aktiver Mobilisation, zunächst ohne Belastung, begonnen werden. Bei instabiler Osteosynthese und schlechten Weichteilverhältnissen kann eine komplette Ruhigstellung für 2 bis maximal 3 Wochen erfolgen. Die Fraktur sollte bei regelrechtem Verlauf nach 8–12 Wochen konsolidiert sein. Der Ellenbogen kann dann auch für eine belastete aktive Mobilisation freigegeben werden. > Eine Metallentfernung ist bei störendem Osteosynthesematerial indiziert. Dies ist gehäuft nach einer Zuggurtung der Fall. Die Entfernung sollte frühestens nach doppelter Konsolidationszeit erfolgen. z
Komplikationen
Wundheilungsstörungen, Pseudarthrosen, Metalllockerung, Infekte, Nervenirritationen und Arthrosen sind die wesentlichen Komplikationen nach Olekranonfrakturen. Die Arthroseentwicklung ist abhängig von der Gelenkflächenverletzung und der postoperativ bestehenden Stufenbildung. Die Nervenirritation betrifft v. a. den N. ulnaris. Die Irritation kann sowohl durch direkte intraoperative Kompromittierung des Nervs, durch den Sulcus ulnaris einengendes Osteosynthesematerial, durch Dehnung des Nervs durch Valgusfehlstellung als auch durch im Rahmen einer Arthrose entstehenden Osteophyten verursacht sein. z
Prognose
In der Veröffentlichung mit dem längsten Follow-up von durchschnittlich 18 Jahren bei 73 Patienten mit einer isolierten Olekranonfraktur hatten 84% ein exzellentes Ergebnis mit keinerlei Beschwerden, 12% ein gutes mit gelegentlichen Schmerzen und 4% ein schlechtes mit täglichen Schmerzen. Der Bewegungs-
umfang war bei 38% der Patienten mit dislozierter Zweifragmentfraktur und 43% der Patienten mit Mehrfragmentfraktur eingeschränkt. Radiologisch wurden degenerative Veränderungen in mehr als 50% der Patienten gefunden. Eine manifeste Arthrose zeigte sich bei 6%. Die radiologischen Veränderungen korrelierten nicht mit dem Ergebnis (Karlsson et al. 2002b). Rommens und Mitarbeiter (2004) Untersuchten retrospektiv 58 Patienten nach Osteosynthese einer Olekranonfraktur mit einem mittleren Follow-up von 3 Jahren. Als prognostische Faktoren für das Ergebnis stellten sich eine initiale Instabilität des Ellenbogens, die Frakturmorphologie und die Qualität der Osteosynthese heraus.
24.2.6
Radius- und Ulnaschaftfrakturen
P. Bodler z
Definition
Unterarmfrakturen kommen in der traumatologischen Praxis relativ häufig vor. Bei 60% handelt sich um komplette Unterarmfrakturen. Etwa10% sind Luxationsfrakturen, 20% sind offene Frakturen. Mit 50% kommen Unterarmfrakturen am häufigsten im mittleren Drittel vor. 1–2% der Unterarmfrakturen sind Monteggia-Verletzungen. z
Epidemiologie
Bei 15% der Frakturen kommt es zu einer begleitenden Nervenschädigung. Am häufigsten ist der N. radialis betroffen. Der Altersgipfel der Unterarmfrakturen im Erwachsenenalter liegt im 4. Lebensjahrzehnt. Das Verhältnis Männer zu Frauen beträgt 3:1. z
Anatomie und Biomechanik
Damit unsere Hand als Werkzeug vollumfänglich in allen Bewegungsrichtungen eingesetzt werden kann, ist die Rotation des Unterarms um seine Achse notwendig. Das proximale Humeroulnargelenk lässt keine Rotation zu. So muss der Radius um die Ulna rotieren. Ermöglicht wird dies durch die Radform des proximalen Radius und durch seine Doppelkurvatur. Geführt wird der Radius dabei durch das Lig. annulare proximal, durch die Membrana interossea diaphysär und den triangulären fibrokartilaginären Komplex distal. Muskulär verbunden sind Radius und Ulna durch die Mm. supinator, pronator quadratus und pronator teres. > Die Muskulatur des Unterarms wird, im Gegensatz zum Oberarm, von einer gemeinsamen Faszie umschlossen. Dies ist im Fall eines Kompartmentsyndroms von großer Bedeutung.
Aufgrund seines Verlaufs um den Radiushals ist der N. interosseus posterius v. a. bei Radiuskopfluxationen bei der Monteggia-Fraktur in Gefahr. Die Kraftübertragung vom Handgelenk über den Radius und die Ulna zum Ellenbogen ist komplex und wird von der Position des Unterarms, der Anatomie des Handgelenks und den Weichteilverbindungen zwischen Radius und Ulna
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
beeinflusst. Die Kraftübertragung durch den Unterarm wird wesentlich von der Varus- bzw. Valgusstellung des Ellenbogens beeinflusst. In Valgusstellung erfolgt die Kraftübertragung nahezu ausschließlich über den Radius. In Neutralposition beträgt die an der distalen Ulna übertragene Kraft ca. 3% und an der proximalen Ulna ca. 12% der am Handgelenk eingeleiteten Kraft. Das bedeutet, dass kaum eine Kraftumleitung über die Membrana interossea stattfindet. In Varusstellung werden 93% der Kraft über die Membrana interossea vom Radius auf die Ulna übergeleitet. z
Klassifikation
Die Einteilung der Unterarmfrakturen erfolgt gemäß der AOKlassifikation (⊡ Abb. 24.35):
▬ A: extraartikuläre Fraktur – A1: extraartikuläre Fraktur der Ulna, Radius intakt – A2: extraartikuläre Fraktur des Radius, Ulna intakt – A3: extraartikuläre Fraktur beider Knochen ▬ B: Gelenkfraktur eines Knochens – B1: artikuläre Fraktur der Ulna, Radius intakt – B2: artikuläre Fraktur des Radius, Ulna intakt – B3: ein Knochen artikulär, der andere extraartikulär frakturiert ▬ C: Gelenkfraktur beider Knochen – C1: einfach – C2: ein Knochen einfach, der andere mehrfragmentär frakturiert – C3 mehrfragmentär
1
A
B
C
⊡ Abb. 24.35 Unterarmfrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
2
3
591 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Die Monteggia- und die Galeazzi-Frakturen stellen Sonderformen der Unterarmfrakturen dar. Dementsprechend existieren für beide eigenständige Klassifikationen. I
Monteggia-Frakturen
Die Einteilung erfolgt nach Bado (⊡ Abb. 24.36). Es werden 4 Typen entsprechend der Luxationsrichtung des Radiusköpfchens und der dadurch bedingten Angulationsrichtung der Ulnafraktur unterschieden: ▬ Typ I: anteriore Radiusköpfchenluxation (Extensionsverletzung) ▬ Typ II: posteriore/posterolaterale Radiusköpfchenluxation (Flexionsverletzung) ▬ Typ III: laterale/anterolaterale Radiusköpfchenluxation (Adduktionsverletzung) ▬ Typ IV: anteriore Radiusköpfchenluxation bei gleichzeitiger proximaler Ulna- und Radiusfraktur (Extensionsverletzung)
II
III
IV
⊡ Abb. 24.36 Monteggia-Frakturen: Bado-Klassifikation. (Aus: Konrad et al. 2008)
IIA
Bei der Typ-II-Fraktur besteht eine posteriore/posterolaterale Radiusköpfchenluxation mit einer meist metaphysären Fraktur der Ulna mit posteriorer Abknickung derselben. Zur besseren Differenzierung erstellte Jupiter eine Unterklassifikation der Typ-II-Fraktur (⊡ Abb. 24.37): ▬ Typ IIA: Fraktur des distalen Olekranons und des Proc. coronoideus ▬ Typ IIB: Ulnafraktur am diametaphysären Übergang ▬ Typ IIC: diaphysäre Ulnafraktur ▬ Typ IID: Trümmerfraktur der proximalen Ulna
IIB Hum
Rad UIn
IIC
IID
⊡ Abb. 24.37 Monteggia-Frakturen: JupiterTyp IIA-D. (Aus: Konrad et al. 2008)
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Galeazzi-Frakturen
24
Zur Einteilung der Galeazzi-Frakturen existieren im Wesentlichen 2 Klassifikationen, die sich aus der Höhe der Radiusfraktur ableiten. Die Macule-Klassifikation teilt wie folgt ein: ▬ Typ I: Fraktur 0–10 cm proximal des Proc. styloideus radii ▬ Typ II: Fraktur 10–15 cm proximal des Proc. styloideus radii ▬ Typ III: Fraktur >15 cm proximal des Proc. styloideus radii Rettig und Raskin (2001) beschreiben eine therapieorientierte Klassifikation: ▬ Typ I: Fraktur 0–7,5 cm proximal der distalen Radiusgelenkfläche ▬ Typ II: Fraktur >7,5 cm proximal der distalen Radiusgelenkfläche Diese Einteilung beruht auf der Tatsache, dass Typ-I-Frakturen eine signifikant höhere Instabilität des distalen Radioulnargelenks aufweisen. Bei Typ-II-Frakturen muss das distale Radioulnargelenk nur in 6% der Fälle stabilisiert werden z Diagnostik z z Anamnese
Isolierte Frakturen der Ulna entstehen meist durch ein direktes Trauma, sog. Parierfrakturen. Zu Frakturen beider Knochen kommt es meist im Rahmen eines Sturzes oder einer Abstützreaktion. Isolierte Radiusschaftfrakturen sind selten. Eine Monteggia-Fraktur kann ebenfalls durch eine direkte Krafteinwirkung auf die proximale Ulna sowie bei axialer Krafteinwirkung auf den gebeugten Ellenbogen entstehen. Als Pathomechanismus
M. flexor pollicis longus Ramus superficialis des N. radialis A. radialis
z z Klinische Untersuchung
Komplette Unterarmfrakturen sind aufgrund der schmerzhaften Instabilität leicht zu erkennen. Soweit schmerzabhängig möglich sollten das proximale und distale Radioulnargelenk einschließlich des Ellenbogen- und des Handgelenks immer mit untersucht werden. Dies gilt besonders bei einer isolierten Fraktur von Radius oder Ulna. Obligatorisch ist die Beurteilung der peripheren Durchblutung und Sensomotorik. ! Cave Ist die Therapie nicht sofort möglich, müssen Durchblutung, Motorik und Sensibilität fortwährend beurteilt werden, um ein drohendes Kompartmentsyndrom rechtzeitig zu erkennen.
Gegebenenfalls müssen die Logendrücke gemessen werden. Die Beurteilung der Nn. radialis, medianus und ulnaris ist auch bei ruhiggestelltem Ober- und Unterarm möglich (⊡ Abb. 24.38): ▬ N. ulnaris: Überkreuzen von Dig. III über Dig. II (M. interossei palmares III und interossei dorsales III, innerviert durch den Ramus profundus) ▬ N. medianus: Opposition von Daumen und Kleinfinger (M. opponens pollicis) ▬ N. radialis: Fingerextension in den Grundgelenken (M. extensorum digitorum, extensor pollicis longus und brevis, innerviert durch Ramus profundus)
M. extensor carpi: radialis longus und brevis
Frohse‘sche Sehnenarkade Ramus superficialis des N. radialis M. flexor digitorum superficialis (Ursprung)
der Galeazzi-Fraktur wird von den meisten Autoren ein Sturz auf die gestreckte Hand bei proniertem Arm vermutet. Eine direkte Krafteinwirkung auf den dorsoradialen Unterarm kann ebenfalls zu einer Galeazzi-Fraktur führen.
M. supinator Mm. extensor carpi: radialis longus und brevis
M. brachioradialis Gelenkspiel des Ellenbogens
N. interosseus posterior
N. ulnaris
A. brachialis
M. pronator teres (Ansatz)
N. ulnaris M. flexor digitorum profundus M. flexor carpi ulnaris M. pronator quadratus
⊡ Abb. 24.38 Verlauf der Nerven und Gefäße des Unterarms
M. biceps N. medianus
M. pronator quadratus
M. palmaris longus M. flexor digitorum superficialis
M. brachialis
A. ulnaris N. interosseus anterior N. medianus A. interossa anterior
Intermuskuläres Septum (medial) M. triceps N. radialis M. pronator teres (Ursprung) M. common flexor (Ursprung) A. ulnaris recurrens Sehne des M. biceps
593 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
z z Bildgebende Verfahren
Operationsverfahren
Zur primären Diagnostik wird der Unterarm in 2 Ebenen mit Einschluss des Ellenbogen- und des Handgelenks geröntgt. Bei isolierter Ulnafraktur muss zum Ausschluss einer MonteggiaFraktur die Stellung im proximalen radiohumeral Gelenk beurteilt werden. Wenn die Verlängerung der Radiuslängsachse nicht in beiden Ebenen auf das Kapitulum zentriert ist, muss von einer Radiusköpfchenluxation ausgegangen werden. Zur Beurteilung der Achsenverhältnisse sowie der ossären Konsolidation empfiehlt sich ein CT. Ein MRT kann zur Beurteilung der Membrana interossea notwendig sein.
Zur Auswahl stehen: ▬ Fixateur externe ▬ intramedulläre Verfahren ▬ Plattenosteosynthese
z
Therapie
Aufgrund der Rotation des Radius um die Ulna kann der Unterarm als Gelenk angesehen werden. Um dieses Gelenk so physiologisch wie möglich wieder herzustellen, ist das Ziel der Therapie die Wiederherstellung der anatomischen Länge, Achse und Rotation von Ulna und Radius sowie der Stellung der Knochen zueinander. > Ziel der Behandlung von Unterarmfrakturen ist die Wiederherstellung anatomischer Verhältnisse. z z Auf der Notfallstation
Zur Analgesie empfehlenswert ist die Ruhigstellung in einer Oberarmschiene mit Einschluss des Handgelenks. Unter dieser Ruhigstellung sollte die Kontrolle von Durchblutung, Motorik und Sensibilität weiterhin möglich sein. z z Konservative Therapie
Indikationen für die konservative Therapie sind: ▬ isolierte, stabile Ulnaschaftfraktur ▬ Frakturdislokation <25%, Abkippung <10–15° Isolierte Radiusfrakturen und komplette Unterarmfrakturen können auch bei regelrechter Reposition und Anlage eines Oberarmgipses nicht ausreichend stabilisiert werden. Diese Art der Ruhigstellung macht zudem eine funktionelle Behandlung unmöglich. Nicht oder nur gering dislozierte isolierte Ulnaschaftfrakturen können konservativ behandelt werden. Zunächst kann für wenige Tage zur Abschwellung eine Oberarmgipsschiene angelegt werden. Anschließend erfolgt die funktionelle Therapie unter Ruhigstellung im Unterarmgips oder im Brace. Eine Ausbehandlung im Oberarmgips ist nicht notwendig und funktionell sehr ungünstig. z z Operative Therapie Zeitpunkt der Operation
In Abhängigkeit von der Weichteilsituation und des Zustands des Patienten sollte die operative Versorgung so zeitnah wie möglich erfolgen. Durch die Reposition der Fraktur und die Entlastung des Frakturhämatoms kann das Weichteiltrauma minimiert werden. Insbesondere bei Luxationsfrakturen, offene Frakturen sowie Frakturen mit Gefäß- oder Nervenverletzungen sollte eine sofortige Versorgung angestrebt werden. Bei offenen Frakturen muss je nach Kontamination der Wunde ein Revisionseingriff geplant werden.
Zugänge
Am Unterarm bestehen 3 Standardzugänge. Für alle Zugänge wird der Patient in Rückenlage positioniert. Erleichternd für das Operationsteam ist ein zusätzlicher Armtisch. Somit kann in Extension und Supination palmar und in Flexion oder Pronation dorsal zugegangen werden. Wenn möglich sollte in Oberarmblutsperre operiert werden. Ulna und Radius werden über 2 separate Zugänge versorgt. Die Ulna ist aufgrund ihrer subkutanen Lage leicht zugänglich. Bei flektiertem Ellenbogen und in leichter Pronation erfolgt die Hautinzision 1 cm dorsal und parallel zur Ulnakante. Zur weiteren Darstellung muss der M. extensor carpi ulnaris vorsichtig nach dorsal und der M. flexor carpi ulnaris nach palmar mobilisiert werden. Um die periostale Blutversorgung möglichst wenig zu kompromittieren, sollte dies nur so weit als unbedingt notwendig erfolgen. Am distalen Drittel muss auf den Ramus dorsalis nervus ulnaris geachtet werden, der hier subkutan nach palmar verläuft. Für die Versorgung des Radius haben sich 2 Zugänge etabliert. Über den dorsolateralen Zugang nach Thompson können Frakturen des mittleren und des distalen Drittels versorgt werden (⊡ Abb. 24.39). Der Hautschnitt verläuft auf der Verbindungslinie zwischen Epicondylus radialis zum Proc. styloideus radii entlang der dorsalen Begrenzung des »mobile wad of Henry« (= Mm. extensor carpi radialis longus und brevis und M. brachioradialis). Die Faszie wird dann zwischen dem M. extensorum digitorum und dem »mobile wad« inzidiert. Die Mm. abductor pollicis longus und extensor pollicis brevis werden unterfahren, der Vorderam supiniert und der M. supinator dargestellt. Der M. supinator kann dann an seinem ventralen Ansatz vom Radius abgelöst werden. > Proximal muss dabei auf den Ramus profundus des N. radialis geachtet werden, der etwa 3 Fingerbreit distal des Radiusköpchens durch den M. supinator tritt. Aufgrund der Verletzungsgefahr des Ramus profundus sollte der Thompson-Zugang bei Frakturen des proximalen Radiusdrittels nicht angewendet werden.
Distal muss der Ramus superficialis nervi radialis in seinem Verlauf durch den M. brachioradials und extensorum digitorum geschont werden. Über den anterioren Zugang nach Henry kann der Radius in seiner gesamten Länge dargestellt werden (⊡ Abb. 24.40). Bei supiniertem Arm beginnt die Hautinzision hierfür proximal lateral im Sulcus bicipitalis und zieht in Richtung des Proc. styloideus radii. Die Faszie wird entlang der medialen Begrenzung des M. brachioradialis inzidiert. Proximal muss dabei der N. cutaneus lateralis antebrachii geschont werden. Der M. brachioradialis wird lateral weggehalten. An seiner Unterseite kann der Ramus superficialis des N. radialis identifiziert werden. Nach radial abgehende Äste der A. radialis müssen ligiert werden.
24
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
a
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⊡ Abb. 24.39a,b Thompson-Zugang. a Landmarken: lateraler Kondylus des Humerus (1), Proc. styloideus radii (2), b Tiefenpräparation: Zugang durch das Septum intermusculare zwischen M. extensor carpi radialis brevis und (3) M. extensor digitorum communis (4). Im proximalen Drittel bedeckt der M. supinator den Radiusschaft sowie den motorischen Ast des N. radialis. Es ist wichtig, den Verlauf des Nerven zu identifizieren, um eine Verletzung auszuschließen. 6 N. radialis superficialis, 7 M. proantor teres
b
Der M. supinator wird nun an seinem Ursprung subperiostal abgelöst. Proximal muss hier auf den Ramus profundus des N. radialis geachtet werden, der durch die Arcade de Frohse um den Radiushals zieht. Zum Ablösen des M. pronator teres wird der Arm proniert. Um den Radius weiter distal darzustellen, muss der M. flexor pollicis longus und der M. pronator quadratus in leichter Supination vom Radius abgelöst werden. > Beim Henry-Zugang muss der Unterarm zu Darstellung des proximalen Radiusdrittels supiniert, des mittleren Drittels proniert und des distalen Drittels wieder supiniert werden. Die Arterie wird nach ulnar und der Nerv nach radial weggehalten. Fixateur externe
Die Osteosynthese mit einem Fixateur externe ist nur sehr selten notwendig. Meist ist auch bei offenen Frakturen ein ausreichender Weichteilmantel vorhanden. Der Einsatz des Fixateur externe kann bei ossären Substanzdefekten indiziert sein, wenn eine Plattenosteosynthese nicht direkt möglich ist. In der Akutsituation kommt der AO-Fixateur zum Einsatz. Die Fixateur-externe-Behandlung ist in der Regel eine passagere Therapie. Ist auch im Verlauf der Verfahrenswechsel auf eine Plattenosteosynthese nicht möglich, so kann eine Ausbehandlung der Fraktur mit dem Ilizarov-Fixateur diskutiert werden. Die Möglichkeiten des Ilizarov-Systems können bei ossären Substanzdefekten von Vorteil sein, da mit diesem ein Segmenttransfer durchgeführt werden kann.
stabilität ermöglichen. »Rush pins«, Prevot- oder Ender-Nägel führen hier, anders als beim Kind, zu unbefriedigenden Ergebnissen und lassen wegen der fehlenden Torsionsstabilität keine funktionelle Nachbehandlung zu. Die Vorteile des wenig weichteil- und periostal traumatisierenden Zugangs für den Unterarm lassen sich mit dem Unterarmverriegelungsnagel nutzen (⊡ Abb. 24.41). Zur Verfügung stehen Nägel mit 4 und 5 mm Durchmesser und einer Länge von 20–26 cm. Präoperativ müssen die Nägel anhand des Röntgenbilds der gesunden Gegenseite vorgebogen werden. Zuerst sollte die Ulna versorgt werden. Der Eintrittspunkt ulnare befindet sich zentral über dem Olekranon. Nach Eröffnung des Markkanals erfolgt das Aufbohren in 0,5-mm-Schritten bis 1 mm über den gewünschten Nageldurchmesser diaphysär und 6 mm proximal. Bei mehrfragmentären Brüchen muss ggf. eine offene Reposition erfolgen. Der Nagel wird schließlich über einen 2,4-mm-Führungsdraht eingebracht. Anschließend erfolgt die Marknagelung des Radius. Der radiale Eintrittspunkt befindet sich zwischen dem 2. und 3. Strecksehnenfach über dem Tuberculum listeri. Die Markraumpräparation und das Einbringen des Nagels entsprechen dem ulnaren Vorgehen. Nach Kontrolle der anatomischen Reposition unter Bildwandler erfolgt proximal die Verriegelung über einen Zielbügel mit einer 2,7-mm-Schraube. Distal werden die Nägel freihändig unikortikal ebenfalls mit 2,7-mm-Kortikalisschrauben verriegelt. Die Nachbehandlung erfolgt funktionell. Plattenosteosynthese
Intramedulläre Verfahren
Zur Wiederherstellung der Unterarmfunktion muss die Osteosynthese eine anatomische Reposition bei maximaler Torsions-
Die Plattenosteosynthese stellt den Goldstandard der Versorgung der Unterarmfraktur beim Erwachsenen dar. Zum Einsatz kommen 3,5-mm-LC-DCP- und LCP-Platten (⊡ Abb. 24.42 u.
595 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
⊡ Abb. 24.40a–c Henry-Zugang. a Landmarken: Proc. styloideus radii (1), Grube zwischen M. brachioradialis und Ansatz der Bizepssehne (2). Die Inzision erfolgt zunächst gerade, über der Ellenbeuge s-förmig. b Stumpfes Eingehen zwischen M. brachioradialis und M. flexor carpi radialis. Cave: N. radialis superficialis (3) und N. cutaneus antebrachii laterlis dürfen nicht verletzt werden! Ligieren der abgehenden Äste der A. radialis (4). Weitere distale Ablösung des M. supinator (6) – Cave: Verlauf des Ramus profundus des N. radialis – ebenso wie des M. pronator zur Knochendarstellung auf dieser Höhe. c Die Pronation des Vorderarms ist zur besseren Freilegung des Radius ratsam. 7 Abgelöste Sehne des M. brachioradialis, 8 vollständig freigelegter Radius
a
a
b
c
a
b
⊡ Abb. 24.41 Unterarmverriegelungsnagel. (Aus: Weckbach et al. 2001)
⊡ Abb. 24.43). DCP-Platten sollten wegen der Kompromittierung der periostalen Durchblutung nicht mehr verwendet werden. Sind beide Knochen zu versorgen, wird mit der leichteren Fraktur begonnen. Um beidseits der Fraktur mindestens 6
Kortikales fassen zu können, muss mindestens eine 7-Lochplatte gewählt werden. Mit der Länge der Platte nimmt die Torsionsstabilität zu. Die Ausnahme stellen hier weit distale oder proximale Frakturen dar. Die Reposition erfolgt nach periostschonender Darstellung der Fraktur direkt mit feinen Repositionszangen oder indirekt über die Platte. Zur besseren Kraftübertragung sollte die Platte an der Ulna dorsoulnar angebracht werden. Radial ist die Plattenlage durch den Zugang vorgegeben. Bei einfachen Querund Schrägbrüchen wird die Stabilität über das Vorbiegen und die Konturierung der Platte erreicht. Eine Zugschraube ist nicht zwingend notwendig. Die Platte sollte zunächst mit 2 bikortikalen Schrauben proximal und distal der Fraktur angebracht werden. Für die zweite Fraktur gelten die gleichen Prinzipien der Osteosynthese. Auch diese Fraktur wird temporär stabilisiert. > Das Alignement beider Knochen muss bezüglich Länge, Achse und Rotation klinisch und unter Bildwandler kontrolliert werden. Pro- und Supination müssen frei möglich sein.
Ist das Gewünschte Repositionsergebnis erreicht, kann die Platte definitiv fixiert werden. Liegt eine mehrfragmentäre Fraktur vor, so muss die Platte zunächst nach der Kontur des
24
596
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Knochens vorgebogen werden. Die Platte wird dann zunächst am proximalen oder distalen Fragment fixiert. Die weiteren Fragmente können nun indirekt über die Platte reponiert werden. Die einzelnen Fragmente sollten dabei so wenig wie möglich freigelegt werden. Bei 1° und 2° offenen Frakturen erfolgt die Behandlung wie bei geschlossenen Frakturen. 3° offene Frakturen müssen
⊡ Abb. 24.42a–c Plattenosteosynthese einer isolierten distalen diaphysären Radiusfraktur. a Präoperativ, b seitliche Röntgenaufnahme nach Osteosynthese mit 3,5-mm-LCDCP-Platte, c a.p.-Projektion
⊡ Abb. 24.43a–d Komplette Unterarmfraktur mit Ein-Etagen-Radius- und Zwei-Etagen-Ulnafraktur. a Präoperativ, a.p.-Projektion, b präoperativ, seitlich, c a.p.-Aufnahme nach Osteosynthese mit 3,5-LC-DCP-Platte, d seitlich
in Abhängigkeit des Weichteildefekts ggf. zunächst mit einem Fixateur externe versorgt werden. Freiliegender Knochen wird vorübergehend mit einem Coldex-Schwamm oder einem Vakuumverband abgedeckt. Sobald die Weichteilsituation es zulässt, erfolgt der Verfahrenswechsel auf die Plattenosteosynthese. Durch eine stabile Osteosynthese wird die Grundlage für die Weichteilrekonstruktion geschaffen.
a
a
b
b
c
c
d
597 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Ossäre Defekte bis zu einer von Länge von 5 cm können mit Spongiosa oder einem kortikospongiösen Span aus dem Beckenkamm aufgefüllt werden. Ist der Defekt länger als 5 cm, muss er mit einem gefäßgestieltem Knochentransplantat aufgefüllt werden. Alternativ kann bei ausgedehntem Weichteildefekt eine initiale Verkürzung von Radius und Ulna diskutiert werden. Die Verkürzung nur eines Knochens sollte vermieden werden, da dadurch das Alignement und damit Pro- und Supination gestört werden und es im Verlauf zu einer Fehlbelastung des Handgelenks kommen kann.
Gipsschiene ruhiggestellt werden. Eine funktionelle Nachbehandlung ist so früh wie möglich anzustreben. Die Metallentfernung sollte, soweit überhaupt notwendig oder gewünscht, frühestens nach 18 Monaten erfolgen. Besondere Empfehlungen gelten für die Nachbehandlung der Monteggia- und der Galeazzi-Verletzung. Bei Galeazzi-Verletzung sollte postoperativ zur Sicherung der periartikulären Weichteilheilung eine Ruhigstellung im Oberarmgips bei flektierten Ellenbogen und in Unterarmsupination für 4–6 Wochen erfolgen. Die zur Stabilisation des distalen Radioulnargelenks eingebrachten Kirschner-Drähte werden nach 4 Wochen entfernt.
Therapie der Monteggia-Verletzung
Die Monteggia-Fraktur beim Erwachsenen sollte grundsätzlich operativ versorgt werden. Die Osteosynthese der Ulna erfolgt nach dem oben beschriebenen Vorgehen. Sehr proximale Ulnafrakturen können mit einer Zuggurtungsosteosynthese versorgt werden. Durch die anatomische Reposition der Ulna kommt es in der Regel auch zu einer Spontanreposition des Radiusköpfchens. Die Stabilität des Radiusköpfchens muss in allen Bewegungsrichtungen und für Pro- und Supination überprüft werden. Kommt es nicht zu einer Spontanreposition des Radiusköpfchens, kann dies durch eine nicht anatomische Reposition der Ulnafraktur oder durch ein Interponat bedingt sein. Interponieren können die Gelenkkapsel, das Lig. anulare, ein osteochondrales Fragment, der N. interosseus posterius und die Bizepssehne. In diesem Fall muss eine offene Reposition des Gelenks erfolgen. > Das Lig. anulare sollte wegen des Risikos der periartikulären Ossifikation nicht rekonstruiert werden.
Bei Fraktur vom Bado-Typ IV müssen Radius- und Ulnaschaftfraktur osteosynthetisiert werden. Die Versorgung einer begleitenden Radiusköpfchenfraktur richtet sich nach dem Typ der Fraktur ( Abschn. 24.2.4). Gleiches gilt für die Fraktur des Proc. coronoideus. Die Nachbehandlung richtet sich nach der Stabilität des proximalen Radioulnargelenks. Sie sollte so funktionell wie möglich sein. Therapie der Galeazzi-Verletzung
Campell bezeichnete 1932 die Galeazzi-Fraktur als »fracture of necessitiy«. Um ein gutes Ergebnis zu erreichen, ist die Osteosynthese der Radiusfraktur notwendig. Die Osteosynthese erfolgt gemäß den oben genannten Empfehlungen. Die anatomische Reposition der Ulna führt in den meisten Fällen zur spontanen Reposition des Ulnokarpal- und distalen Radioulnargelenks. Die Stabilität muss klinisch und unter Bildwandler kontrolliert werden. Ist das Gelenk weiter instabil, muss es offen reponiert und der TFCC Komplex rekonstruiert werden. Nach Reposition erfolgt die radioulnare Transfixation mit Kirschner-Drähten. Ist bei instabilem distalem Radioulnargelenk der Proc. styloideus ulnae frakturiert, sollte dieser mittels Zugschraube oder Zuggurtung refixiert werden. Ist das Gelenk nicht zu reponieren, muss ein Interponat ausgeschlossen werden. z z Nachbehandlung
Nach der operativen Versorgung kann der Unterarm zur Abschwellung und zur Sicherung der Wundheilung auf einer
z z Evidenz und Kontroversen
Bislang gibt es keine Evidenz bezüglich der optimalen Therapie der isolierten Ulnafraktur beim Erwachsenen. Bei korrekter Indikationsstellung zeigt die konservative Therapie bei der isolierten Ulnafraktur bessere Ergebnisse als die operative. Die kürzeste Konsolidationszeit findet sich bei der funktionellen Brace-Behandlung und der schienenfreien Behandlung. Die funktionell besten Ergebnisse können mit der funktionellen und der Brace-Therapie erreicht werden. Mit Ausnahme der isolierten Ulnafraktur kann mit der konservativen Therapie der Unterarmfraktur kein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht werden. Die Plattenosteosynthese und die Marknagelung mit einem modernen verriegelbaren Nagel zeigen mit >95% vergleichbare Resultate bezüglich der ossären Konsolidation. Ob eine initiale Spongiosaplastik bei Frakturen mit ossärem Defekt notwendig ist, wird unterschiedlich diskutiert. Mehrere Autoren fanden keinen Unterschied in der Heilungsrate. z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Die Therapie der Unterarmfrakturen des Erwachsenen richtet sich nach den oben genannten Kriterien. Da der HenryZugang ein sehr anatomischer Zugang ist und problemlos nach proximal und distal erweitert werden kann, wird er bei uns bevorzugt verwendet. Zur Osteosynthese werden 3,5-mm-LCDCP und LCP-Platten verwendet. Isolierte Unterarmfrakturen werden, wenn die Kriterien zur konservativen Therapie erfüllt sind, im Brace funktionell behandelt. z Komplikationen Kompartmentsyndrom
Die Inzidenz des Kompartmentsyndroms bei diaphysären Unterarmfrakturen beträgt 3,1%. Es tritt gehäuft bei Patienten unter 35 Jahren und bei Hochenergietraumen auf. Die Diagnose des Kompartmentsyndroms wird primär klinisch gestellt. Zur Bestätigung der Diagnose kann eine Logendruckmessung erfolgen. Ein Kompartmentsyndrom gilt bei einem Logendruck von 30 mmHg als gesichert. ! Cave Auf keinen Fall darf mit der Kompartimentspaltung bis zur Erfüllung aller 5 P (»pain, pallor, pulselessness, pain with passive stretch of muscles and paresthesias«) gewartet werden. Die Pulslosigkeit ist als Zeichen für den Spät- oder Endzustand zu werten. Zu diesem Zeitpunkt liegen meist schon irreversible Schäden vor.
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598
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Pseudarthrose
24
Bei adäquater Indikationsstellung und Operationstechnik beträgt das Pseudarthroserisiko <5%. Neben einer Infektion sind v. a. operationstechnische Fehler wie die Verwendung einer zu kurzen Platte oder die Fehlplatzierung der Platte und der Schrauben für die Entstehung einer Pseudoarthrose verantwortlich zu machen. Eine primäre Spongiosaplastik scheint keinen Einfluss auf die Pseudarthrosenentstehung zu haben. Radioulnäre Synostosen
Das Risiko für die Entstehung einer posttraumatischen radioulnären Synostose ist erhöht bei Frakturen beider Knochen auf der gleichen Höhe, bei überlangen Schrauben, Kontakt einer evtl. Spongiosaplastik mit der Membrana interossea und bei verzögerter Therapie. Nach der Resektion der Synostose ist eine adjuvante Therapie wie die Gabe von NSAR oder die Radiation nicht zwingend notwendig. Wichtiger scheinen die
a x y ⊡ Abb. 24.44 Berechnung des maximalen radialen Bogens
Lig. collaterale mediale, Pars posterior Lig. collaterale mediale, Pars anterior Lig. anulare radii Lig. collaterale mediale, Pars transversa
ausgedehnte Resektion und die sofortige postoperative Mobilisation zu sein. Refraktur nach Osteosynthesematerialentfernung
Die Inzidenz der Refraktur nach Entfernung des Osteosynthesematerials (OSME) wird mit bis zu 22% angegeben. Erhöht ist das Risiko bei OSME früher als 12 Monate postoperativ, nach Osteosynthesen mit 4,5-mm-Platten und bei Mehrfragmentund Defektfrakturen. Die Entfernung des Osteosynthesematerials sollte nur bei störenden Implantaten empfohlen werden. Infektion und neurovaskuläre Verletzungen
Das Risiko und die Inzidenz von Infektionen und neurovaskulären Verletzung ist v. a. abhängig von der Lokalisation, der Ausdehnung und der Kontamination der Weichteilverletzung. z
Prognose
Eine ossäre Konsolidation wird sowohl mit der Plattenosteosynthese als auch mit einem verriegelbaren Marknagel in >95% der Fälle erreicht. Bei korrekter Indikationsstellung und Operationstechnik wird auch funktionell mehrheitlich ein gutes bis exzellentes Ergebnis erzielt. Das funktionelle Ergebnis bezüglich der Rotation ist abhängig von der Deformität des Radius in der Koronarebene. Beträgt die Deformität mehr als 20°, so resultiert daraus eine Rotationseinschränkung von mindestens 30%. Fehlstellungen von bis zu 10° hingegen haben nur eine geringe Einschränkung von Pro- und Supination zur Folge. Ein weiterer wichtiger prädiktiver Faktor für das funktionelle Ergebnis ist die Rekonstruktion der Höhe und der Lokalisation des maximalen radialen Bogens (⊡ Abb. 24.44). Beträgt die Abweichung seiner Lage maximal 4% und seiner Höhe maximal 1,5 mm im Vergleich zur gesunden Gegenseite, so kann eine Rotation von mindesten 80% der gesunden Seite erreicht werden. Liegt der maximale radiale Bogen innerhalb 5%, beträgt die maximale Griffkraft ebenfalls mindestens 80%.
24.2.7 a
Ellenbogenluxation
A. Hoffmann Anatomie und Biomechanik Lig. collaterale radiale Lig. anulare radii Lig. collaterale laterale
b ⊡ Abb. 24.45 Ellenbogenbänder. a Mediale, b laterale Bänder
Die primären passiven Stabilisatoren sind das ulnohumerale Gelenk, das mediale Seitenband und das laterale Seitenband (von diesem v. a. der ulnare Anteil, das Lig. collaterale laterale; ⊡ Abb. 24.45). Die sekundären passiven Stabilisatoren beinhalten das Radiusköpfchen, Ansätze der Extensoren und Flexoren und die Gelenkkapsel. Die Muskeln, die das Gelenk kreuzen, sind die dynamischen Stabilisatoren, v. a. M. anconeus, M. triceps und M. brachialis. Diese erzeugen kompressive Kräfte auf das Gelenk, wodurch dieses zusätzlich stabilisiert wird (»concavity compression«). > Als stabil wird das Ellenbogengelenk dann bezeichnet, wenn alle 3 primären passiven Stabilisatoren intakt sind.
599 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Der Hauptstabilisator des ulnohumeralen Gelenks ist der Proc. coronoideus. Mindestens 50% des Proc. coronoideus sind nötig, um ein funktional stabiles Gelenk nahe der Streckstellung zu erhalten. Bei dessen Fraktur wird das Radiusköpfchen zum kritischen Stabilisator und sollte erhalten werden, solange der Proc. coronoideus und die Bänder nicht wiederhergestellt sind. Fehlt das Koronoid und zusätzlich das Radiusköpfchen, ist das Gelenk auch bei einer Flexion >100° instabil. Fehlt das Radiusköpfchen und ist gleichzeitig das mediale Seitenband insuffizient, kommt es zu einer Subluxationstendenz. Das Lig. collaterale laterale ist der primäre Stabilisator gegenüber der posterolateralen Rotationsinstabilität.
Klassifikation Die Beurteilung der Ellenbogenluxation kann auf der Basis von verschiedenen Kriterien erfolgen. Zunächst kann das Vorhan-
⊡ Tab. 24.3 Stadien der Weichteilverletzung bei Ellenbogenluxation
densein von Frakturen in Betracht gezogen werden. Liegt eine begleitende Fraktur vor, spricht man von komplexen Luxationen. Ellenbogenluxationen ohne Frakturen werden als einfach bezeichnet. Der zweite wichtige Aspekt ist die Richtung der Luxation. Hier werden dorsale von ventralen, lateralen und divergenten Luxationen unterschieden. Die divergenten Luxationen betreffen das proximale Radioulnargelenk und sind äußerst selten. Bei den ventralen Luxationen kommt es entweder zur Olekranonfraktur oder zur Trizepssehnenruptur. Diese müssen operativ angegangen werden. Auch das Ausmaß der Dislokation (Subluxation oder Luxation), die involvierten Gelenke sowie der Zeitpunkt bzw. die Wiederholung des Ereignisses (akut, chronisch oder rezidivierend) sind wichtige Klassifikationsmerkmale. Die Unterteilung in einfache und komplexe Luxationen sowie die Beurteilung der Luxationsrichtung werden zur Beschreibung der Verletzung am häufigsten gebraucht. Außerdem wird zur genaueren Beurteilung des Weichteilschadens, zur Planung der therapeutischen Schritte und zur prognostischen Abschätzung die Verletzung in 3 Stadien eingeteilt (⊡ Tab. 24.3; ⊡ Abb. 24.46).
Stadium
Weichteilverletzung
1
Zerreißen des Lig. collaterale laterale
2
Zerreißen der übrigen lateralen Bandstrukturen und der ventralen und dorsalen Kapsel
3
Zerreißen des Lig. collaterale ulnare
3A
Partielles Zerreißen des Lig. collaterale ulnare
3B
Vollständiges Zerreißen des Lig. collaterale ulnare
Ätiologie und Pathogenese
3C
Abriss der Weichteile vom distalen Humerus, schwere Instabilität, die in Luxation oder Subluxation resultiert
Die Verletzung tritt am häufigsten im Zusammenhang mit Sportaktivitäten auf. Andere häufige Ursachen sind Autounfälle, die oft Hochenergietraumen verursachen. Begleitende Frakturen, v. a. des Radiusköpfchens und des Olekranons, kommen bei Hochenergietraumen, bei Älteren oder bei Kindern vor. Der übliche Mechanismus ist der Sturz auf den ausgestreckten Arm. In den meisten Fällen (80–90%) resultiert eine posterolaterale Luxation. Mit Hyperextension des Ellenbogens weicht der distale Humerus nach ventral aus. Dabei werden die Weichteile und/oder knöchernen Anteile des Ellenbogens von lateral nach medial beschädigt. Dies erfolgt in 3 Stadien, in der englischsprachigen Literatur »Horii circle« genannt (⊡ Tab. 24.3, ⊡ Abb. 24.46).
2 1 3 Lig. collaterale mediale
Lig. collaterale laterale 2
⊡ Abb. 24.46 Ellenbogenluxation: Stadien 1–3 (»Horii circle«)
Epidemiologie Die Ellenbogenluxation ist nach der Schulterluxation die zweithäufigste Gelenkluxation und betrifft v. a. ältere Kinder, Adoleszente und junge Erwachsene. Die Inzidenz beträgt 6–13 pro 100.000.
> Der Mechanismus der Ellenbogenluxation folgt dem sog. »Horii circle«, einer Abfolge von Bandverletzungen, die von lateral nach medial schrittweise reißen.
In der ersten Phase kommt es zur Ruptur des Lig. collaterale laterale. Diese Bandläsion führt zu einer posterolateralen Rotationsinstabilität, die spontan reponieren kann. Im zweiten Stadium subluxiert das Gelenk, wobei sich der konkave mediale Anteil der Ulna an der Trochlea abstützt. Dabei zerreißen zunächst die übrigen lateralseitigen Strukturen, anschließend zusätzlich die ventrale und dorsale Gelenkkapsel. Im seitlichen Röntgenbild stützt sich der Proc. coronoideus an der Trochlea ab. Die Reposition kann in diesem Fall mit minimaler Kraft durchgeführt werden. Das Verletzungsmuster des Stadiums 2 kommt am häufigsten vor.
24
600
24
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Im Stadium 3 ist das Lig. collaterale ulnare entweder teilweise (3A) oder komplett zerrissen (3B). Im Stadium 3A sind alle Weichteile, inklusive des dorsalen Anteils des Lig. collaterale ulnare zerrissen. Nur das wichtige ventrale Bündel des Lig. collaterale ulnare ist intakt. Dies erlaubt eine dorsale Luxation durch einen posterolateralen Rotationsmechanismus. Dabei pivotiert das Gelenk über das intakte Band. Der ventrale Anteil des Lig. collaterale ulnare ist der primäre Stabilisator gegen den bestehenden Valgusstress und wirkt als Drehpunkt bei der Luxation des Radius und der Ulna nach dorsal, nachdem die lateralen Bandstrukturen nachgegeben haben. Das intakte ventrale Bündel des Lig. collaterale ulnare sichert die Stabilität bei proniertem Gelenk, da die posterolaterale Subluxation während des Valgusstresses verhindert wird. Im Stadium 3A sind Frakturen des Radiusköpfchens und des Proc. coronoideus häufig, im Stadium 3B ist der gesamte mediale kollaterale Komplex zerrissen, sodass Varus-, Valgusund Rotationsinstabilität resultieren. Im Stadium 3C ist die Instabilität so ausgeprägt, dass das Gelenk auch in 90° Flexion im Gips luxieren kann. In diesem Fall sind die gesamten Weichteile vom distalen Humerus abgerissen. Stabilität kann nur durch Immobilisation in 90–110° Flexion erreicht werden. Der Ursprung des Flexoren-Pronatoren-Komplexes sowie des M. extensor digitorum longus, wichtiger sekundärer Stabilisatoren, ist ebenfalls häufig zerrissen. Die sehr seltenen, rein ventralen Luxationen, gehen ebenfalls mit einer Hyperextension einher. Dabei kann es zu einer exzessiven Verletzung des M. brachialis oder einer neurovaskulären Verletzung kommen. Laterale Luxationen sind ebenfalls selten und sind vergesellschaftet mit ausgedehnter Verletzung der medialen Bandstrukturen. Ähnliches gilt umgekehrt für die seltenen medialen (Sub-)Luxationen. Divergente Luxationen sind Hochenergietraumen, die mit extensiven Weichteilverletzungen von Membrana interossea, Gelenkkapsel sowie der Seitenbänder und des Lig. anulare einhergehen. Üblicherweise hält der kräftige muskuloligamentäre Komplex die beiden Knochen fest zusammen, sodass diese gemeinsam linear dislozieren. Deshalb ist eine isolierte Luxation eines der Knochen unüblich und wenn, dann bricht häufig einer der Partner, wie z. B. die Fraktur der proximalen Ulna bei Luxation des Radiusköpfchens (Monteggia-Typ I). Bei Kindern kann sich die Ulnafraktur unter Umständen nur in einem vermehrten Verbiegen in Assoziation mit der ventralen (gelegentlich auch dorsalen oder lateralen) Luxation des Radiusköpfchens äußern. Betreffend der begleitenden Frakturen wurde der Begriff der »Terrible-triad«-Verletzung eingeführt, einer instabilen Situation bei Ellenbogenluxation mit Fraktur des Radiusköpfchens und des Proc. coronoideus ( Abschn. 24.2.4).
neurovaskulären Funktionen sollten routinemäßig überprüft werden. Es werden gelegentlich Verletzungen des N. ulnaris und N. medianus beobachtet. > Die Pulse der A. radialis und A. ulnaris können trotz einer Gefäßverletzung aufgrund der zahlreichen Anastomosen weiterhin peripher tastbar sein. Bei Verdacht auf eine solche Gefäßverletzung muss eine Notfallarteriographie durchgeführt werden.
Krepitation und subkutanes Hämatom deuten auf Frakturen hin. Offene Ellenbogenluxationen sind untypisch. Die Untersuchung des Ellenbogens sollte wegen der Schmerzhaftigkeit bei Bedarf in Narkose erfolgen. Die Überkopfuntersuchung hat den Vorteil, dass sie einfach durchzuführen ist und die Orientierung ähnlich wie der Knieuntersuchung ist. Der Unterarm entspricht dabei dem Unterschenkel, das Ellenbogengelenk dem Knie. Der Valgusstress wird in voller Pronation durchgeführt, da sonst die posterolaterale Rotationsinstabilität als Valgusinstabilität missverstanden werden kann. Ist das Gelenk posterolateral instabil, bewegen sich Ulna und Radius wegen des rupturierten lateralen Seitenbandes gemeinsam weg vom Humerus. Während der maximalen Pronation werden die intakten medialen Weichteile als Scharnier bzw. Drehpunkt benutzt. Varusstress wird bei maximal innenrotierter Schulter getestet. Die Tests werden bei voller Extension, aber auch bei 30° Flexion durchgeführt, denn damit wird das Olekranon aus der Fossa olecrani »entsperrt«. Die posterolaterale Rotationsinstabilität wird durch den lateralen Pivot-Shift-Test (⊡ Abb. 24.47) geprüft. Der Patient liegt auf dem Rücken, der Arm wird über seinem Kopf gehalten, der Unterarm maximal supiniert, der Ellenbogen wird in ca. 40° Flexion gebracht. Der Test gilt dann als positiv, wenn entweder ein Schnappen der subluxierten Ulna oder des Radiusköpfchens oder ein Apprehension vorhanden ist.
axiale Kompression
Valgus Valg gus
Supination
Subluxation
Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Klinisch dominiert ein starker Schmerz und Schwellung des betroffenen Ellenbogens. Dieser wird üblicherweise in leichter Flexion gehalten, unterstützt durch die gesunde Hand. Der Unterarm ist verkürzt und das Olekranon sowie das Radiusköpfchen in typischer posteriorer Fehlposition tastbar. Die
⊡ Abb. 24.47 Pivot-Shift-Test
601 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Beim »posterolateral rotatory drawer test« wird in 40° Flexion eine anteroposteriore Kraft auf den Unterarm eingeleitet. Eine Subluxation des Ellenbogens weg vom Humerus auf der lateralen Seite deutet auf intakte mediale Seitenbänder hin.
Chronische Ellenbogeninstabilität In den meisten Fällen ist eine persistierende Insuffizienz des lateralen Seitenbandkomplexes, die zu einer chronischen posterolateralen Rotationsinstabilität führt, für diesen Zustand verantwortlich. Gelegentlich kann der Patient die Instabilität demonstrieren. In manchen Fällen bemerkt der Patient lediglich den Schmerz und Diskomfort, Instabilität bemerkt er jedoch nicht. Zusätzlich kann schmerzhaftes Schnappen bei Flexion/Extension auftreten. Der Patient berichtet möglicherweise über das Herausund Hereingleiten des Gelenks. Die meisten Symptome treten typischerweise bei 40° Flexion und gleichzeitiger Supination auf. Die Subluxation reponiert in Pronation. Die Instabilitätssymptome werden meistens bei spezifischen Belastungen wie das Abstützen an den Stuhllehnen beim Aufsitzen provoziert. z z Bildgebende Verfahren
Radiologische Stressaufnahmen werden in a.p.-Ausrichtung bei Überkopflage (wie oben beschrieben) unter Valgus- und Varusstress angefertigt. Seitliche Stressaufnahmen zur Erkennung der posterolateralen Rotationsinstabilität werden bei 90° Abduktion und maximaler Außenrotation der Schulter bei proniertem und supiniertem Unterarm angefertigt. Öffnet sich der mediale Gelenkspalt bei Pronation, wird von einer Ruptur der medialen Weichteile ausgegangen. Röntgenaufnahmen in a.p.- und seitlicher Projektion werden vor und nach Reposition angefertigt und nach begleitenden ossären Läsionen abgesucht (v. a. des Radiusköpfchens, des Proc. coronoideus und des medialen Epicondylus humeri). Bei chronischer Ellenbogeninstabilität erfolgt eine normale Darstellung oder eine leichte Verbreitung des radiohumeralen Gelenkspaltes im a.p.-Röntgenbild. In der seitlichen Projektion kann sich das Radiusköpfchen dorsal des Capitulum humeri projizieren. z
den und ein leichter axialer Zug auf den Unterarm bei 90° Ellenbogenflexion ausgeübt werden. Gleichzeitig wird der distale Humerus mit der anderen Hand gehalten und mit dem Daumen Druck auf das dorsal prominente Olekranon ausgeübt. Bewährt hat sich ebenfalls die Reposition in Rückenlage. Dabei wird der Unterarm unter axialen Zug gebracht. Der Gegenzug am Oberarm wird durch einen Assistenten ausgeübt. Der Ellenbogen wird leicht flektiert (ca. 25°) und supiniert. Gleichzeitig wird mit der anderen Hand ein nach distal und ventral gerichteter Druck auf das Olekranon ausgeübt. Die ventralen Luxationen werden in leichter Flexion und leichter Traktion durch einen dorsal ausgerichteten Zug auf den Unterarm reponiert. Die seltenen divergenten Luxationen erfordern üblicherweise eine separate Reposition der Ulna und des Radius. > Nach Reposition sollte der Ellenbogen leicht flektiert/ extendiert werden um sich der kompletten Reposition zu versichern sowie die Stabilität des Gelenks unter Durchleuchtung überprüft werden, sodass jegliche Varus-, Valgus- oder posterolaterale Instabilität erfasst werden kann.
Ist das Gelenk stabil, kann eine Ruhigstellung mittels Schiene erfolgen und eine klinisch-radiologische Reevaluation nach ca. 5 Tagen geplant werden. Wenn eine (Sub-)Luxationstendenz festgestellt wird, muss ein Verfahrenswechsel erwogen werden. Ist das Gelenk in allen Rotationsbewegungen des Unterarms stabil, muss kein mobiles Ellenbogen-Brace verwendet werden. Ist der Ellenbogen unter Valgusstress nur bei Unterarmpronation stabil (3A), wird die Behandlung mit einem mobilen Ellenbogen-Brace in maximaler Pronation fortgesetzt. Bei weiterhin instabiler Situation muss zusätzlich eine Extensionsbegrenzung auf 30° Flexion eingestellt werden. Hilft diese Maßnahme nicht,
Therapie
Frakturen des medialen Epikondylus des distalen Humerus kommen v. a. bei Kindern vor und reponieren normalerweise mit der Gelenkreposition. Gelegentlich interponieren die Fragmente jedoch im Gelenk und erfordern eine offene Reposition. Ein Therapiealgorithmus nach O›Driscoll findet sich in ⊡ Abb. 24.49.
a
b
z z Konservative Therapie
Erste Maßnahme bei Ellenbogenluxationen ist die geschlossene Reposition (⊡ Abb. 24.48). Diese sollte bei supiniertem Unterarm durchgeführt werden, sodass der Proc. coronoideus möglichst problemlos an der Trochlea vorbei kann und die medialen Weichteile geschont werden. Die Reposition ist nicht schwer und kann meistens bereits im Notfallambulatorium unter leichter Sedation oder nach intraartikulärer Anästhetikagabe durchgeführt werden. Verschiedene Techniken sind beschrieben worden. Zum Beispiel kann der Ellenbogen in Bauchlage weich gepolstert wer-
⊡ Abb. 24.48a,b Repositionstechnik: Patient in Bauchlage, der Ellenbogen wird in 90° Flexion gelagert. Unter axialem Zug (a) wird zusätzlich Druck auf das prominente Olekranon ausgeübt (b)
24
602
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Luxation
Reposition + Stabilitätstest
24
stabil
Oberarmschiene oder Schlinge, frühe Mobilisation
instabil
Erneuter Stabilitätstest in Pronation
stabil
Mobiler Oberarm-Brace, Unterarm max. proniert
instabil Stabilitätsprüfung ab 30° Flexion
stabil
Mobiler Oberarm-Brace mit limitierter Extension bei <30°
instabil
Operation
Können alle Stabilisatoren rekonstruiert werden?
JA
Band- und
Osteosynthese
Sehnenrekonstruktion
NEIN
Ist das ulnohumerale Gelenk
JA
Exzision oder Prothese des nicht rekonstruierbaren Radiusköpfchens
JA
Osteosynthese des Proc. coronoideus, des Olekranons und des Radiusköpfchens; Exzision oder Prothese des nicht rekonstruierbaren
intakt?
NEIN
Kann das ulnohumerale Gelenk rekonstruiert/stabilisiert werden?
Radiusköpfchens
NEIN
Typ der Proc.-coronoideusFraktur?
III
I oder II
Refixation des Proc. coronoideus, Osteosynthese, Prothesenversorgung, partielle o. vollständige Exzision des Radiusköpfchens
Osteosynthese des Proc. coronoideus + mobiler Fixateur externe
⊡ Abb. 24.49 Ellenbogenluxationen: Therapiealgorithmus nach O’Driscoll (2000)
Frühe Mobilisation und mobiler Brace
603 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
stabile Verhältnisse zu schaffen, sollte die Therapie operativ fortgesetzt werden. Die Einschränkung der Extension sollte schrittweise aufgehoben werden, sodass das Gelenk nach 3 Wochen den vollen Bewegungsumfang erreicht. Die Ruhigstellung sollte einen Zeitraum von 3 Wochen nicht überschreiten, da dann der Aufwand, eine weitgehend normale Funktion wiederherzustellen, steigt. Nachdem der Ellenbogen freigegeben worden ist, wird er im Rahmen des Patientenkomforts in allen Richtungen mobilisiert (O‘Driscoll et al. 2000; Mehta u. Bain 2004). Ist keine Subluxation feststellbar, wird der Arm mittels Schlinge und/oder Schiene ruhiggestellt und der Patient 5–7 Tage später reevaluiert. z z Operative Therapie
Im Zusammenhang mit der Ellenbogenluxation sollten die meisten Frakturen operativ versorgt werden. Der Proc. coronoideus ist ein wichtiger Bestandteil der krafttragenden Gelenkfläche und somit wichtig für die Stabilität. Typ-I-Frakturen (kleine Avulsionen der Spitze) bedürfen keiner operativen Therapie. Frakturen vom Typ II (50% der Gelenkfläche) und III (Abriss des gesamten Processus) sollten osteosynthetisch stabilisiert werden werden. Frakturen des Radiusköpfchens, die während einer Ellenbogenluxation entstehen, sollten, wenn technisch möglich, osteosynthetisch oder mittels Prothese versorgt werden. Die Bänder, v. a. auf der lateralen Seite, sollten bei dieser Gelegenheit rekonstruiert werden. Die Bänder sollten außer bei Frakturversorgung des Radiusköpfchens und des Proc. coronoideus auch im Falle einer Instabilität, die eine frühzeitige Mobilisation verhindert oder bei der das Gelenk trotz Ruhigstellung instabil ist, rekonstruiert werden (O‘Driscoll et al. 2000). Für den Einsatz eines mobilen externen Fixateurs sehen wir folgende Indikationen: ▬ eine persistierende Instabilität trotz Frakturbehandlung und Rekonstruktion der Weichteile ▬ eine schwere Instabilität bei Patienten, die nicht für eine Operation geeignet sind ▬ eine verzögerte Behandlung (mehr als 4 Wochen nach Trauma) einer Ellenbogenluxation
Isometrischer Punkt a (Rotationsachse)
Eine relative Indikation für dieses Implantat ist die Gewährleistung der Stabilität und der Frakturreposition während der postoperativen Phase bei instabilen Gelenken. Der mobile Fixateur externe wird meistens dann benutzt, wenn eine äußere Stabilisierung zum Schutz der heilenden Strukturen bei gleichzeitiger Mobilität des Gelenks erforderlich ist. > Die medialen Seitenbänder heilen meist durch mechanische Integrität des Gelenks, die lateralen sollten operativ angegangen werden.
Der alleinige Einsatz des Fixateurs kann beim polytraumatisierten Patienten, bei dem die Möglichkeit einer definitiven Versorgung fehlt, zur temporären Versorgung geeignet sein (O‘Driscoll et al. 2000). Eine häufige Ursache für eine Gelenkinkongruenz nach geschlossener Reposition sind Weichteilinterponate, entweder des Lig. anulare oder eines der Seitenbänder, oder eine »Knopflochfehlstellung« des Radiusköpfchens durch Penetration der posterolateralen Kapsel, was eine offene Reposition und Rekonstruktion der Weichteile erfordern.
Chronische Ellenbogeninstabilität Die diagnostische Arthroskopie kann bei Untersuchung der Gelenklaxität radiohumeral, Suche nach freien Gelenkkörpern etc. hilfreich sein. Zur Gelenkstabilisierung wird die laterale Bandplastik mittels Palmaris-longus-Sehne durchgeführt (⊡ Abb. 24.50). z z Evidenz und Kontroversen
Übereinstimmung herrscht bezüglich der Vorteile der schnellen Primärversorgung von Ellenbogenluxationen (Lill et al. 2001; Royle 1991). Die konservative Therapie hat ihren Stellenwert bei den einfachen Luxationen in mehreren Studien gezeigt (Kotter et al. 1999; Schippinger et al. 1999). Die korrekte Behandlung (sofortige Reposition, Immobilisation von weniger als 3 Wochen, gefolgt von intensiver Gelenkmobilisation) ermöglicht die Wiederherstellung der vollen Gelenkfunktion (Maggi et al. 1992). Über enttäuschende Ergebnisse 9 Jahre nach konservativer Behandlung von Ellenbogenluxationen berichten dagegen
1 cm, ø=3mm b
⊡ Abb. 24.50a,b Rekonstruktion der lateralen Bänder mittels Palmaris-longus-Sehne. a Der isometrische Punkt befindet sich in der Nähe des Epicondylus lateralis humeri, b je 2 ossäre Kanäle werden humeral und ulnar gebohrt und das Sehnentransplantat (z. B. Plantaris-longus-Sehne) durchgezogen
24
604
24
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Eygendaal und Mitarbeiter (2000). Von 50 Patienten zeigten 24 Anzeichen einer medialen Instabilität, die eine Korrelation mit ektopen Ossifikationen und persistierenden Schmerzen zeigte. Bei 21 Patienten wurden Anzeichen von Degenerationen dokumentiert. Auch Farron und Menetrey (1997), die über einen Anteil von 86% exzellenter oder guter Ergebnisse berichten, sprechen bei 27% der Fälle von einer »gewissen Laxität«. > Die Dauer der Ruhigstellung hat direkte Auswirkungen auf Arbeitsunfähigkeit, Schmerzen und das spätere Extensionsdefizit.
Je aggressiver das Nachbehandlungsprotokoll, desto besser die Gesamtbeweglichkeit des Gelenks (Rafai et al. 1999). Ross und Mitarbeiter (1999) zeigten, dass eine Rückkehr zu einer Ellenbogenfunktion, die sich nur um 5° von der gesunden Seite unterschied, innerhalb eines Zeitraumes von 19 Tagen möglich ist, dies allerdings zum Preis einer Reluxation (in einer Gruppe von 20 Patienten). Wird eine zurückhaltende Nachbehandlung gewählt, können ebenfalls sehr gute Ergebnisse erzielt werden. Es muss jedoch mit einer weit längeren Nachbehandlungszeit gerechnet werden (Schippinger et al. 1999; Riel u. Bernett 1993). Da Ellenbogenluxationen mit begleitenden Frakturen ohnehin eine schlechtere Prognose haben, sollte ein aggressiveres Therapieprotokoll gewählt werden (Royle 1991). Das Radiusköpfchen sollte rekonstruiert oder ersetzt werden. Ansonsten resultiert, v. a. im Zusammenhang mit Verletzungen des medialen Kapsel-Band-Apparates, eine instabile Situation (Popovic et al. 2000). Die sog. »Terrible-triad«-Verletzung (Ellenbogenluxation im Zusammenhang mit Fraktur des Radiusköpfchens und des Proc. coronoideus) ist höchst instabil. Sie tendiert zu Komplikationen und langfristig unbefriedigenden Ergebnissen. Es sollte deshalb aggressiv chirurgisch angegangen werden. Das Radiusköpfchen sollte auch hier rekonstruiert oder ersetzt, der Proc. coronoideus sollte osteosynthetisch versorgt werden. Die lateralen Kollateralbänder sollten wiederhergestellt werden. Von Vorteil ist der Einsatz des mobilen externen Fixateurs (Ring et al. 2002a; Ring et al. 2004; Pugh et al. 2004). Bei chronischer Instabilität nach Ellenbogenluxationen mit und ohne begleitende Frakturen hat sich eine geführte Immobilisation (z. B. durch einen mobilen externen Fixateur oder die dynamische Gelenkdistraktion) bewährt (Cobb u. Morrey 1995; McKee et al. 1998; Ruch u. Triepel 2001; Jupiter u. Ring 2002). Die chronische posterolaterale Ellenbogeninstabilität kann alternativ durch eine Trizepssehnen-, Palmaris-longusoder Flexor-digitorum-superficialis-Plastik angegangen werden (Olsen u. Sojbjerg 2003; King et al. 2002; Nestor et al. 1992). Tipp
I
I
Bei älteren Patienten bietet sich die totalprothetische Versorgung mittels einer teilgeführten Prothese an (Ramsey et al. 1999).
Diese zeigt v. a. bei der stark verbesserten Funktion ihre Vorteile. Die Nachteile liegen in frühem Abrieb bzw. Lockerung sowie periprothetischen Frakturen, die zum Teil während der
Primärimplantation auftreten (Ramsey et al. 1999; Mighell et al. 2005). Die periartikuläre Ossifikation wird zwar relativ häufig beobachtet, der klinische Wert dieser Komplikation ist jedoch noch nicht abschließend geklärt. Eine gewisse chronische Restinstabilität wird gut toleriert. Abschließend muss erwähnt werden, dass die Anzahl prospektiver, randomisierter Studien betreffend der Ellenbogenluxation sehr gering ist. Ebenfalls unbefriedigend sind die häufig kleinen Patientenzahlen. Hier besteht Nachholbedarf, v. a. angesichts der Tatsache, dass es sich um die zweithäufigste Gelenkluxation handelt.
24.2.8
Distale Bizepssehnenruptur
A. Hoffmann z
Epidemiologie
Die distale Bizepssehnenruptur ist mit einer Inzidenz von 1,2/100.000 eine seltene Verletzung und betrifft am häufigsten die dominante Extremität athletischer Männer im Alter von 30–60 Jahren (Arbeiter, Bodybuilder etc.; Rantanen u. Orava 1999; Ramsey 1999; Safran u. Graham 2002). z
Ätiologie und Pathogenese
Die Verletzung resultiert dann, wenn im Moment einer Bizepsanspannung eine plötzliche, extendierende Kraft auf den Ellenbogen einwirkt, z. B. beim Heben oder Ziehen eines schweren Gegenstands (Safran u. Graham 2002; Bernstein et al. 2001; Catonne et al. 1995). Außerdem kann eine chronische Entzündung der Sehne zu degenerativen Vorgängen führen. Es wird angenommen, dass diese bei entsprechendem Impuls eine Ruptur begünstigen können (Ramsey 1999). Rauchen erhöht das Risiko einer Ruptur um das 7,5-Fache (Safran u. Graham 2002). z
Anatomie und Biomechanik
Die distale Bizepssehne bildet die gemeinsame Sehne der beiden Bizepsköpfe und setzt am ulnaren Aspekt der Tuberositas radii an (⊡ Abb. 24.51). Damit entsteht ein Flaschenzugeffekt bei der Radiusrotation. Nahezu die gesamte Kraft wird über die distale Bizepssehne übertragen. Einen Teil der Flexionskraft trägt unterstützend die Aponeurosis musculi bicipitis brachii (syn. Lacertus fibrosus), eine Sehnenaponeurose, die dorsomedial an der Ulna ansetzt. Der tangential ausgerichtete Zug der distalen Bizepssehne bewirkt eine Rotation des Radius gegenüber der Ulna, die in der Supination des Unterarms resultiert. Prominente Knochenvorsprünge an der Tuberositas radii sowie eine Hypovaskularität der Sehne können zu erosiven Vorgängen an der Sehne während der Unterarmrotation führen (⊡ Abb. 24.52). Dies kann zu einer ausgeprägteren Vulnerabilität der Sehne führen, zumal es in Pronation zu einer Einengung des proximalen radioulnaren Raums um 50% kommt (Seiler et al. 1995; Mazzocca et al. 2007b). Distal des M.-biceps-/M.-brachialis-Intervalls ist der N. cutaneus antebrachii lateralis anzutreffen. Radialseitig unter dem
605 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
Radius
a
a
anterior
b
ulnar
c
radial
⊡ Abb. 24.51a–c Ansatz der Bizepssehne an der Tuberositas radii. a Anterior, b ulnar, c radial
c
b
M. brachioradialis liegt der N. radialis mit seinen Ästen, ulnarseitig findet sich im Intervall zwischen dem M. biceps und dem M. brachialis der N. medianus und die A. brachialis, die weiter distal den Lacertus fibrosus unterlaufen. Der N. medianus penetriert dann den M. pronator teres (Hoppenfeld 2003). z
⊡ Abb. 24.52a–c Degenerative Vorgänge am Sehnenansatz durch Irregularitäten im Bereich der Tuberositas radii. Prominente Knochenvorsprünge an der Tuberositas radii sowie eine Hypovaskularität der Sehne können zu erosiven Vorgängen an der Sehne während der Unterarmrotation führen
Diagnostik
Typischerweise beschreiben die Patienten einen plötzlich einsetzenden Schmerz in der Ellenbeuge, der mit zunehmender Schwellung und Hämatom und gelegentlich einem »Knallerlebnis« einhergeht. In der klinischen Untersuchung imponieren Schmerzen und Schwäche bei Flexion und Supination. Initial findet sich eine Druckschmerzhaftigkeit entlang der distalen Bizepssehne, der Muskel kann eine Deformierung aufweisen. Die klinische Untersuchung kann allerdings durch das Hämatom erschwert sein und ein intakter Lacertus fibrosus kann für die Sehne gehalten werden. Im Zweifelsfall ist die Anfertigung eines MRT indiziert (Chew u. Giuffre 2005). > Besteht eine distale Bizepssehnenruptur länger, retrahiert der Muskel zunehmend nach proximal. Aktivitäten, die mit repetitiver Flexion (hämmern) und Supination (Schrauben eindrehen) verbunden sind, erzeugen Schmerzen (Ramsey 1999). z
a
b
⊡ Abb. 24.53a,b Zustand nach Bizepssehnenrefixation mittels 3 Fadenankern. a Anordnung der Fadenanker im a.p.-Röntgenbild, b seitlliche Projektion
Therapie
Die distale Bizepssehnenruptur stellt eine Operationsindikation dar, da sonst mit Funktionseinbußen zu rechnen ist (Klonz u. Reilmann 2000). Will man eine gute Funktion erreichen, ist die anatomische Refixation der Sehne anzustreben. Verwendet wird entweder der ventrale Zugang zur Ellenbeuge (s-förmiger Zugang, von medial/proximal nach lateral/distal, sog. »boatrace incision«) oder seltener die Zweiinzisionentechnik mit zusätzlichem dorsalen Zugang zur proximalen Ulna. Die Refixation der Sehne kann mittels Ankern mit nicht resorbier-
barem Faden erfolgen. Wir glauben, dass die Anordnung der insgesamt 3 Anker im Bereich der Tuberositas radii für ein flächenhaftes Anliegen der Sehne und ein besseres Anheilen sorgt (⊡ Abb. 24.53). Postoperativ wird der Ellenbogen in leichter Pronationsstellung sowie 90° Flexion für 6 Wochen ruhiggestellt. Aus der Oberarmschiene heraus kann nach 2 Wochen mit passiver Mobilisation in Flexion oder Pro- und Supination begonnen werden. Zu beachten ist, dass Flexions- bzw. Pro- und Supina-
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24
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
tionsübungen getrennt durchgeführt werden. Nach 6 Wochen kann der Arm freigegeben werden. Die volle Belastung ist nach 3–5 Monaten erlaubt. Ältere Rupturen der distalen Bizepssehne können entweder an der Tuberositas radii mittels Anker oder mittels Flexorcarpi-radialis-Transplantat rekonstruiert werden. Aber auch die Fixation an der Muskelplatte des M. brachialis und des M. brachioradialis ist möglich und zeigt gute Resultate. z z Evidenz und Kontroversen Konservative versus operative Therapie
Ist die Sehne partiell gerissen, kann konservativ mit Reduktion der Belastung und Rehabilitation behandelt und nur im Falle persistierender Schmerzen operativ vorgegangen werden (Aldridge et al. 2000). Der Verlust der Kraft nach konservativer Behandlung einer komplett gerissenen Sehne beträgt 30–40% für Flexion und >50% für Supination. Soll die Supinationskaft wiederhergestellt werden, muss eine anatomische Refixation durchgeführt werden (Aldridge et al. 2000; Klonz et al. 2003b). Baker und Bierwagen (1985) zeigten eine Rückkehr zur normalen Flexions- und Supinationskraft bei Patienten, die mittels Zweiinzisionentechnik versorgt wurden. Im Gegensatz dazu zeigte er ein bleibendes Defizit der Flexion und Supination bei konservativ versorgten Patienten. Im Rahmen einer Metaanalyse von 147 Fällen hatten nur 14% der Patienten mit konservativer Behandlung ein gutes oder exzellentes Ergebnis (Rantanen u. Orava 1999). Rasches versus verzögertes operatives Vorgehen
Der Vorteil der raschen Sehnenrefixation besteht in der Wiederherstellung der optimalen Funktion (Bernstein et al. 2001). Morrey und Mitarbeiter (1985)verglichen die Resultate nach sofortiger, verspäteter und konservativer Behandlung und fanden die besten Ergebnisse bei den anatomisch akut refixierten Sehnen. Rantanen und Orava (1999) verglich Patienten mit akuter (bis 8 Tagen nach Trauma) und verspäteter (3 Wochen bis 5 Monate nach Trauma) operativer Versorgung der distalen Bizepssehne und stellte keine signifikanten Unterschiede bezüglich Ergebnis und sportlichen Aktivitäten der beiden Gruppen fest. Gute oder exzellente Ergebnisse sowie eine Rückkehr zur ursprünglichen Aktivität wurde bei der Mehrheit der Patienten möglich. Für chronische Läsionen mit Retraktion bietet sich eine Rekonstruktion mit freiem Sehnentransplantat, z. B. Flexor-carpiradialis-Sehne an(Aldridge et al. 2000). Levy und Mitarbeiter (2000) berichteten über 5 solche Fälle, fixiert mit Fadenankern über eine ventrale Inzision. Alle hatten exzellente Ergebnisse (Levy et al. 2000). Ryhanen und Mitarbeiter (2006) berichtete über spät (durchschnittlich 35 Wochen nach Trauma) versorgte Sehnenrupturen, die anatomisch refixiert wurden. Bei 3 von 16 Patienten musste ein Sehnentransplantat verwendet werden. Die Zufriedenheit der Patienten sowie die Wiederherstellung der allgemeinen Muskelkraft war sehr gut und erreichte bei der Flexion 90% und Supination 78% der gesunden Seite.
anatomischer Reinsertion, aber nur bei 60% mit nicht anatomischer Reinsertion. Die nicht anatomische Refixation der Sehne, z. B. am M. brachialis, resultiert in einer schwächeren Supinationskraft (bis zu 42% der gesunden Seite). Die Flexionskraft kann mit dieser Methode hingegen zu 96% wiederhergestellt werden (Klonz et al. 2003b). Ein- versus Zweiinzisionentechniken und Art der Fixation
Bereits 1961 beschrieben Boyd und Anderson eine Zweiinzisionentechniken zur Refixation der distalen Bizepssehne. Dabei wurde die abgerissene Sehne über einen ventralen Zugang mittels Faden angeschlungen und über einen dorsalen Zugang transossär an der Tuberositas radii verankert. Die Risiken der Präparation der Tuberositas radii sind die heterotope Ossifikation, radioulnare Synostose und Nervenläsionen (Martens 1997; Strauch et al. 1997). Dies kann durch ventrale Eininzisions- bzw. Mini-offen-Techniken sowie eine konsequente Drainage des Hämatoms reduziert werden. Wird eine Zweiinzisionentechniken angewandt, soll der dorsale Zugang zum Radius über eine Spaltung der Extensoren anstatt eine subperiostale Ulnapräparation erfolgen (Aldridge et al. 2000; Klonz et al. 2003a; Martens 1997; Strauch et al. 1997). Alternativ zur transossären Refixation kann die Sehne mittels Interferenzschrauben, Fadenankern oder Endobuttons fixiert werden (Martens 1997; Strauch et al. 1997). Bezüglich der Festigkeit ist der Endobutton (gefolgt vom Fadenanker) allen anderen Verfahren überlegen. Vergleicht man die Festigkeit der Implantate mit der intakten Sehne, sind Endobutton und Fadenanker der Sehneninsertion überlegen (Mazzocca et al. 2007a). Allerdings hängt das Ausrissverhalten der Anker stark vom Herstellungstyp ab
Anatomische versus nicht anatomische Refixation
Rantanen und Orava (1999) zeigten in ihrer Metaanalyse ein gutes oder exzellentes Ergebnis bei 90% der Patienten mit
⊡ Abb. 24.54 Reinsertion der Trizepssehne mittels »anatomic repair technique« nach Yeh et al. (2010)
607 24.2 · Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
(Karlsson et al. 2002b; Berlet et al. 1998). Die Festigkeit der Interferenzschraube ist vergleichbar mit der Festigkeit der intakten Sehne (Idler et al. 2006). Die Festigkeit der Fadenanker ist bei verminderter Knochendichte schlechter (Lemos et al. 2004). Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Festigkeit aller Verfahren für die passive Mobilisation des Ellenbogens ausreichen sollte und für gute Primärstabilität der Sehnenrefixation sorgt (Berlet et al. 1998). z
Komplikationen
Die Art und Häufigkeit der Komplikationen ist vom Zugang und der Fixationsart der Sehne abhängig. Grundsätzlich dominieren bei der konservativen Versorgung Krafteinbußen der Supination (um >50% vermindert) und Flexion (um 30–40% gegenüber der gesunden Seite reduziert). Beim isolierten ventralen Zugang wurden v. a. Nervenläsionen und heterotope Ossifikationen, bei der Zweiinzisionentechnik zusätzlich vereinzelt radioulnare Synostosen beobachtet (Klonz u. Reilmann 2000; Kelly et al. 2000).
24.2.9
Distale Trizepssehnenruptur
P. Bodler z
Ätiologie und Pathogenese
Weniger als 1% aller Sehnenverletzung der oberen Extremität sind Trizepssehnenrupturen. Pathogenetisch kann es im Rahmen einer exzentrischen Trizepskontraktion zu einer distalen Trizepssehnenruptur kommen, am häufigsten im Rahmen eines Sturzes auf den ausgestreckten Arm. Des Weiteren sind einzelne Fälle beim Rollstuhltransfer sowie direkte Traumen beschrieben. Gehäuft findet sich die Verletzung bei Gewichthebern und in Zusammenhang mit Anabolikaeinnahme. Systemische Erkrankungen wie eine rheumatoide Arthritis, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, hypokalkämische Tetanie und chronische Niereninsuffizienz mit sekundärem Hyperparathyreodismus gehen mit einem erhöhten Sehnenrupturrisiko einher. Als lokale Risikofaktoren gelten eine chronische Bursitis olecrani, ein Status nach Kortisoninfiltration sowie ein Status nach operativer Trizepssehnenablösung, z. B. im Rahmen einer Ellbogenprothesenimplantation. Meist kommt es zu einer Avulsion der Sehneninsertion am Olekranon. Intramuskuläre und myotendinöse Läsionen sind selten (van Riet et al. 2003, Sierra et al. 2006). z
Anatomie und Biomechanik
Die distale Trizepssehne besteht aus 2 aponeurotischen Blättern, die sich vor der Insertion am Olekranon vereinen. Der M. triceps ist ein zweigelenkiger Muskel und der wesentliche Strecker des Ellbogens. Er wird vom N. radialis innerviert. z
Diagnostik
Eine Kraftminderung bei oder die völlige Unfähigkeit zur aktiven Ellbogenextension sind das typische klinische Zeichen der distalen Trizepssehnenläsion. Lokal kann eine Kontinuitätsunterbrechung der Sehne palpiert werden. Konventionell radiolo-
gisch sollte ein ossärer Sehnenausriss ausgeschlossen werden. Zur weiteren Weichteildiagnostik werden ein MRT oder eine Ultraschalluntersuchung empfohlen, insbesondere wenn die klinische Diagnose nicht eindeutig ist. Die Läsion kann sowohl partiell als auch komplett sein. z Therapie z z Konservative Therapie
Ein konservativer Therapieversuch sollte nur bei partieller Sehnenläsion erfolgen. Mair und Mitarbeiter (2004) empfehlen eine konservative Therapie bei einer Partialruptur bis zu einer Läsionsgröße von 75%. z z Operative Therapie Zeitpunkt der Operation
Um eine Muskelretraktion bzw. eine -degeneration zu vermeiden, sollte die operative Versorgung sobald als möglich erfolgen. Van Riet (2003) empfiehlt eine Versorgung innerhalb 3 Wochen. In diesem Zeitfenster konnten alle Läsionen primär genäht werden. Therapiemöglichkeiten
Das operative Verfahren richtet sich nach der Qualität und der Rekonstruierbarkeit der Sehnenstümpfe. Bei frischen Läsionen kann die Sehne direkt genäht oder readaptiert werden. In einer biomechanischen Studie wurden 3 Operationstechniken verglichen. Hinsichtlich der anatomischen Rekonstruktion und der Stabilität im Bereich der Naht bzw. Reinsertion zeigte die sog. »anatomic repair technique« die besten Ergebnisse. Das Ziel ist eine möglichst anatomische Rekonstruktion mit besonderer Beachtung der großflächigen ossären Insertion, dem sog. »footprint« (Yeh et al. 2010). Hierzu wird der Insertionsbereich dekortiziert. Die Sehne wird mit Krakow-Stichen medial und lateral gefasst. Dann werden zunächst 2 resorbierbare Anker (3.0) im proximalen Ende der Insertionsfläche medial und lateral eingebracht. Tipp
I
I
Wichtig ist dabei, die Anker in Richtung der distalen Gelenkfläche einzubringen.
Nun wird von jedem Anker eine Matratzennaht durch die Sehne 2 cm vor ihrem distalen Ende vorgelegt. Anschließend werden 2 Ankerlöcher distal der Insertionsfläche gebohrt. Ein Ende des Krakow-Fadens und ein Ende des Ankerfadens werden jeweils durch das Auge der distalen Anker geführt, diese versenkt und geknüpft. Tipp
I
I
Wichtig ist es, bei der Platzierung der Anker und der Durchstechung der Sehne stets darauf zu achten, dass der »footprint« die Anatomie so gut wie möglich rekonstruiert. (108)
Bei verzögerter operativer Versorgung bzw. bei Defekten muss die Sehne augmentiert werden. Hierzu können die Palmaris-
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608
Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
longus- oder die Semitendinosussehne verwendet werden. Die Verwendung eines Achillessehnenallografts ist ebenfalls möglich. z z Nachbehandlung
24
Bezüglich der Nachbehandlung gibt es unterschiedliche Empfehlungen. Eine Ruhigstellung in ≤90° Flexion sollte nicht länger als 2–3 Wochen erfolgen. Passive Extension sowie limitierte aktive Flexion aus dem Brace heraus kann ab dem ersten Verbandswechsel erfolgen. Mit aktiver Extension gegen Wiederstand sollte frühestens nach 6–8 Wochen begonnen werden. z z Evidenz und Kontroversen
Aufgrund der Seltenheit der Verletzung wurden in der Lieratur v. a. Fallberichte veröffentlicht. Über die größte Fallzahl mit n=23 Sehnenversorgungen berichten van Riet und Mitarbeiter (2003). Bisher gibt es keine Level-1-Studien die eine Aussage über eine evidenzbasierte Therapieempfehlung zulässt. z
Komplikationen
Die Hauptkomplikation stellt die Reruptur dar. z
Prognose
Postoperativ kommt es zu einer durchschnittlichen Reduktion des Bewegungsumfangs auf Extension/Flexion von 0/10/136° nach primärer Versorgung und 0/13/133° nach sekundärer Rekonstruktion. Die isokinetische Maximalkraft beträgt im Mittel 82% des nicht betroffenen Arms. Bei der Maximalkraft zeigt sich ein Unterschied von 92% nach primärer Refixation zu 66% nach sekundärer Rekonstruktion (van Riet et al. 2003).
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Kapitel 24 · Erkrankungen und Verletzungen von Oberarm und Ellenbogen
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24
25
Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern F.J. Winkler, G. Heers, M. Jakubietz, R. Jakubietz, J. Grünert
25.1
Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern – 614
25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8 25.1.9 25.1.10
Diagnostik des schmerzhaften Handgelenks – 614 Angeborene Fehlbildungen der Hand – 624 Morbus Dupuytren – 631 Nervenkompressionssyndrome – 633 Sehnenerkrankungen – 636 Degenerative Erkrankungen an der Hand – 638 Aseptische Knochennekrosen der Hand – 648 Ganglien – 651 Rheumatoide Arthritis der Hand – 652 Infektionen an der Hand – 656
25.2
Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern – 660
25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4
Weichteilverletzungen – 660 Sehnenverletzungen – 664 Gefäß- und Nervenverletzunge – 667 Verletzungen der Knochen und Gelenke
Literatur
– 670
– 684
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614
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25.1
Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
F.J. Winkler, G. Heers
25.1.1
25
z
Diagnostik des schmerzhaften Handgelenks1
Anatomie
Das Handgelenk (Carpus) beinhaltet mehr als 20 verschiedene Einzelgelenkabschnitte vom Unterarm bis zur Mittelhand und stellt somit ein höchst komplexes anatomisches Gebilde dar. Vier wesentliche Gelenkabschnitte werden unterschieden: ▬ Radiokarpalgelenk (Articulatio radiocarpalis) ▬ Mediokarpalgelenk (Articulatio mediocarpalis) ▬ Karpometakarpalgelenke (Articulatio carpometacarpales) ▬ distales Radioulnargelenk (Articulatio radioulnaris distalis) Die proximale Handwurzelreihe (bestehend aus Skaphoid, Lunatum, Triquetrum und Pisiforme) artikuliert mit dem distalen Radius und seiner ulnaren Verlängerung, dem TFCC (»triangular fibrocartilage complex«) im Radiokarpalgelenk. Bewegung findet auch statt innerhalb der proximalen Handwurzelreihe, im skapholunären und lunotriquetralen Gelenkabschnitt. Die proximale und die distale Handwurzelreihe (Trapezium, Trapezoideum, Kapitatum, Hamatum) artikulieren im sog. mediokarpalen Gelenkanteil. Die Mittelhandknochen bilden mit den distalen Anteilen der distalen Handwurzelreihe die Karpometakarpalgelenke. Im distalen Radioulnargelenk rotiert der Radius um das Ulnaköpfchen und ermöglicht die Pro- und Supination des Unterarms (⊡ Abb. 25.1). Das diffizile Zusammenwirken der Einzelgelenke mit Ligamenten, Sehnen und Muskeln ermöglicht der an das Handgelenk angrenzenden Hand Stabilität, Kraftübertragung und eine enorme Beweglichkeit in Extension/Flexion, Radial-/Ulnarduktion sowie Pro- und Supination. z
Ätiologie und Pathogenese
Grundsätzlich können Schmerzen im Bereich des Handgelenks hinsichtlich ihrer Ursache in 3 verschiedene Kategorien eingeteilt werden: mechanisch, neurologisch und systemisch (⊡ Tab. 25.1). Daneben müssen auch psychosoziale Faktoren als Ursachen in Betracht gezogen werden. Die gesellschaftliche Entwicklung mit immer größerer Bedeutung von Computerarbeitsplätzen führt vermehrt zu Handgelenkbeschwerden als dem häufigsten Leiden im Bereich der oberen Extremität (Forman et al. 2005). z Diagnostik z z Anamnese
Die detaillierte Anamneseerhebung allein führt bei ca. 70% der Fälle von Handgelenksschmerzen zur spezifischen Diagnose
1
Nach: Winkler FJ, Heers G,Hartung W, Grifka J (2009) Diagnostik des schmerzhaften Handgelenks. Orthopäde 38: 213–228
(Almquist 2001). Sie beinhaltet die allgemeinen Fragen zu Alter und Beruf des Patienten, nach dominanter Hand und Freizeitaktivitäten. Nach Sturz auf das dorsal extendierte Handgelenk wird je nach Alter des Betroffenen ein anderes Verletzungsmuster erwartet: Bei Kleinkindern sind Grünholzfrakturen häufig, bei Jugendlichen treten vermehrt Verletzungen mit Beteiligung der Wachstumsfuge auf. Junge Erwachsene zeigen häufiger Skaphoidfrakturen, wohingegen Extensionsfrakturen vom Colles-Typ des distalen Radius typisch sind für das höhere Lebensalter mit begleitender Osteoporose (Forman et al. 2005). Bei der Anamnese sollten auch frühere Verletzungen oder Operationen im Hand- bzw. Handgelenkbereich eruiert werden. > Es bleiben nicht zuletzt manche traumatisch bedingten skapholunären Bandläsionen über einen langen Zeitraum nach Trauma klinisch stumm, bis sie bei bereits fortgeschrittener Radiokarpal- oder sogar Mediokarpalarthrose wieder symptomatisch werden.
Daneben steht die spezifische Befragung durch den Untersucher nach einem auslösenden Ereignis und dem Hauptschmerz, der möglichst durch einen Fingerzeig des Patienten genau lokalisiert werden sollte. Weitere Angaben zu Intensität, Frequenz, Ausstrahlung und schmerzverstärkenden oder –lindernden Aktivitäten vereinfachen die Diagnosefindung. Menschen, die bei ihrer Arbeit wiederholt eine Ulnarduktion des Handgelenks unter gleichzeitiger Stabilisierung ausüben (Hammer schlagen, Skistockeinsatz, Dosen öffnen etc.), sind prädisponiert für eine Tendosynovitis des ersten Strecksehnenfachs (DeQuervain), die mit Schmerzen und Schwellung im Verlauf der Sehnen der Mm. abductor pollicis longus und extensor pollicis brevis einhergeht. Spezielle Fragestellungen, die auf systemische Ursachen des Handgelenkschmerzes abzielen, gehören ebenfalls zu einer ausführlichen Patientenbefragung. So stellt das Handgelenk häufig die Erstmanifestation einer rheumatoiden Arthritis dar (van Vugt et al. 1999). Daneben sind gichttypische Veränderungen zwar seltener als an den unteren Extremitäten zu finden, können jedoch als typische Gichttophi auch regional gehäuft an den Händen und Handgelenken auftreten. Die Frage nach dem momentanen Beschäftigungsverhältnis und eventuellen Rentenanträgen, die v. a. bei unklaren, aggravierten oder zweifelhaften Beschwerden gestellt werden sollte, komplettiert die Anamneseerhebung. z z Klinische Untersuchung
Im Anschluss an die Anamnese sollte neben einer orientierenden vaskulären und neurologischen Evaluation auch eine orientierende, differenzialdiagnostische Untersuchung der Halswirbelsäule und der anderen Gelenke der oberen Extremität angeschlossen werden, um ausstrahlende Schmerzen, z. B. ausgehend von einem zervikalen Diskusprolaps, abzugrenzen. Hierbei gilt, dass schon eine detaillierte Anamnese dem Arzt klare Hinweise auf verschiedene Regionen und Strukturen des Handgelenks gibt, um dann gezielt die klinische Untersuchung durchzuführen. Beispielsweise lässt ein seit
615 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
der Articulatio radioulnaris distalis 3 Gelenkhöhle Gelenkhöhle der Articulatio radiocarpalis 3 = proximales Handgelenk der Articulationes intercarpales und 3 Gelenkhöhle Articulatio mediocarpalis = distales Handgelenk der Articulationes carpometacarpales 3 Gelenkhöhle Gelenkhöhle der Articulationes intermetacarpales der Articulatio carpometacarpalis pollicis 3 Gelenkhöhle = Daumensattelgelenk
Ulna Radius Articulatio radioulnaris distalis Discus articularis = Discus ulnocarpalis
Articulatio radiocarpalis Articulatio mediocarpalis
Ligamenta intercarpalia interossea
Articulatio carpometacarpalis Articulatio intermetacarpalis
Ligamentum carpometacarpale interosseum
Articulatio carpometacarpalis pollicis
Ligamenta metacarpalia interossea
Zur Demonstration der Gelenkhöhlen wurde der dorsale Teil der Hand durch einen Sägeschnitt abgetragen.
⊡ Abb. 25.1 Einzelne Abschnitte des Handgelenks, Ansicht von dorsal. (Aus: Tillmann 2005)
⊡ Tab. 25.1 Ursachen von Schmerzen im Handgelenk Mechanisch
Neurologisch
Systemisch
Knöchern: – Fraktur – primäre/sekundäre Arthrosen – avaskuläre Knochennekrosen (M. Kienböck/M. Preiser) – Pseudarthrosen ligamentär: – Läsionen im Bereich des TFCC – skapholunäre Bandläsionen – Tendovaginitis De Quervain – Intersektionssyndrom Raumforderungen: – Ganglien – Neoplasien
Rheumatisch: – rheumatoide Arthritis – Psoriasis u. a. metabolisch: – Hyperurikämie/Gicht – Diabetes mellitus – Hyperparathyroidismus u. a. infektiös: – Erysipel – Osteomyelitis u. a. CRPS (Reflexdystrophie)
N. medianus: Karpaltunnelsyndrom N. ulnaris: Guyon-Logensyndrom N. radialis: Wartenberg-Syndrom Polyneuropathie, z. B. im Rahmen eines Diabetes mellitus
CRPS »complex regional pain syndrome«, TFCC »triangular fibrocartilage complex«
1–2 Jahren bekannter Handgelenkschmerz radial (z. B. nach Trauma vor mehr als 10 Jahren) auf eine andere Diagnose schließen als der ulnare Handgelenkschmerz ohne Traumaanamnese. Inspektion
Bei der Inspektion des Handgelenks wird zunächst auf etwaige Rötungen, Schwellungen, Hautläsionen, Narben, Muskelatrophien oder Fehlstellungen bzw. Deformitäten geachtet.
Funktionsüberprüfung
Die Überprüfung der Handgelenksbeweglichkeit sollte vergleichend an beiden Handgelenken durchgeführt werden. In unserer Erfahrung hat sich hierbei eine standardisierte Untersuchungssituation bewährt: Der Untersucher sitzt dem Patienten, der bei angelegtem Oberarm den Ellenbogen auf dem Untersuchungstisch oder der -liege aufgestützt hat, gegenüber (⊡ Abb. 25.2). In dieser Position lassen sich nun die aktive und passive Palmarflexion und Dorsalextension vergleichen, ge-
25
616
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25 b
a
c
⊡ Abb. 25.2a–c Funktionsüberprüfung in 3 Bewegungsebenen. (Aus: Winkler et al. 2009)
nauso die Ulnar- und Radialduktion. Anschließend werden bei an den Thorax angelegten Ellenbogen die Pro- und Supinationsfähigkeit beider Unterarme untersucht und verglichen. > Nach Weinzweig und Watson (2001) können bei endgradig möglicher und dabei schmerzfreier Pro- und Supinationsbewegung das distale Radioulnargelenk (DRUG) und der TFCC als Schmerzursachen ausgeschlossen werden. Palpation markanter Punkte (»landmarks«)
Zunächst sollten markante Punkte im Bereich des Handgelenks orientierend palpiert und dabei auf Schmerzhaftigkeit untersucht werden. Die genaue Kenntnis der topographischen Anatomie des Handgelenks ist hierzu Grundvoraussetzung. Bereits in diesem Abschnitt der klinischen Diagnostik empfiehlt es sich, orientierend nach Gelenkregionen getrennt vorzugehen. ⊡ Tab. 25.2 fasst die Landmarks und typische Pathologien der einzelnen Regionen zusammen. z z Dynamische Untersuchung der radialen Region
Bei einem überwiegenden Anteil der degenerativen Veränderungen des Handgelenks ist das Skaphoid involviert. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich ein systematischer klinischer Untersuchungsgang, bestehend aus den folgenden klinischen Tests: ▬ Druckschmerz im skapholunären Gelenkbereich (SL): Zum Auffinden des SL-Bereichs folgt man dem 3. Strahl
nach proximal, bis zum Erreichen eines »Softspots« zwischen den Sehnen des 4. Fachs und der Sehne des M. extensor carpi radialis brevis. Am proximalen Rand dieses Spots, ca. 1,5 cm distal des Tuberculum listeri, tastet man den SL-Bereich. Pathologien, die entweder den SL-Bereich oder isoliert das Lunatum betreffen, führen hier zu einem Druckschmerz, z. B. SL-Bandläsionen oder Lunatummalazie (M. Kienböck). ▬ Druckschmerz im Gelenkabschnitt zwischen Skaphoid, Trapezium und Trapezoideum (STT): Hierzu folgt man im Verlauf dem 2. Mittelhandknochen nach proximal, bis in einem weiteren »Softspot« das STT-Gelenk getastet werden kann. Die STT-Arthrose führt typischerweise zu einer positive Schmerzwiedergabe. ▬ Druckschmerz am Skaphoid in der Tabatière (Fovea radialis): Die Tabatière wird gebildet von den Sehnen der Mm. extensores pollicis longus et brevis. Hier ist u. a. der Proc. styloideus radii leicht aufzufinden. Idealerweise versucht man nun, den für pathologische Prozesse wichtigen Knorpel-Knochen-Übergang des Kahnbeins zu finden. Der Untersucher palpiert mit seinem Zeigefinger hierzu das Handgelenk unmittelbar distal des Radiusstyloids und bringt es dabei zunächst in die Radialduktion (⊡ Abb. 25.3a) und anschließend in die Ulnarduktion. Man erwartet, dass sich hierbei das Skaphoid bei der Bewegung in die Ulnarduktion aufrichtet, streckt und unter den Zeigefinger des Untersuchers schiebt (⊡ Abb. 25.3b), wohingegen in Radialduktion das Skaphoid selten distal
617 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
b
a
⊡ Abb. 25.3a–c Skaphoiddruckpunkt. a Palpation des Handgelenks unmittelbar distal des Proc. styloideus radii in Radialduktion. b Bei der Ulnarduktion schiebt sich das Skaphoid unter den Zeigefinger des Untersuchers. c Skaphoiddruckpunkt in der Fovea radialis. (Aus: Winkler et al. 2009)
c
⊡ Tab. 25.2 Palpation markanter Punkte Region
»Landmarks«
Pathologien
Radial
Sehnen des 1./2. Strecksehnenfachs Sehne des M. extensor pollicis longus A. radialis Proc. styloideus radii STT Daumensattelgelenk
Tendovaginitis De Quervain Intersektionssyndrom Wartenberg-Syndrom Skaphoidpathologien STT-Arthrose Rhizarthrose u. a.
Dorsal
Radiokarpaler Gelenkanteil proximale Handwurzelreihe Mediokarpalgelenk distale Handwurzelreihe karpometakarpaler Übergang
Tenosynovitis Ganglien mediokarpale Instabilität »carpal bossing« (»Handwurzelbuckel«) u. a.
Palmar
Daumensattelgelenk Caput scaphoidei FCR-Sehne Lig. carpi transversum Sehne des M. flex. carpi ulnaris
Sattelgelenkarthrose palmares Handgelenkganglion Tenosynovitis der FCR-Sehne Karpaltunnelsyndrom rheumatische Beugesehnensynovialitis u. a.
Ulnar
Caput ulnae Proc. styloideus ulnae ECU-Sehne FCU-Sehne Os pisiforme Os hamatum Lunotriquetralgelenk
Caput-ulnae-Syndrom Ellenvorschub TFCC-Läsion LT-Instabilität Synovialitis Pisotriquetralgelenkarthrose Ganglion Pseudarthrose des Hamulus ossis hamati u. a.
ECU M. extensor carpi ulnaris, FCR M. flexor carpi radialis, FCU M. flexor carpi ulnaris, LT Lunotriquetralgelenk, STT Skaphoid/Trapezium/Trapezoideum, TFCC »triangular fibrocartilage complex«
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618
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
des Proc. styloideus radii aufgefunden werden kann. Bei Vorliegen diverser Pathologien des Skaphoids (z. B. Fraktur, Pseudarthrose, aseptische Knochennekrose) ist eine Schmerzwiedergabe zu erwarten.
25
> Es gilt zu beachten, dass dieser Test auch bei fehlender Pathologie falsch positiv ausfallen kann, da das Palpieren der Knorpel-Knochen-Grenze manchmal als unangenehm empfunden wird. Deshalb ist es ratsam, bei diesem Test die Gegenseite mit zu untersuchen
Watson-Test (Skaphoid-Shift-Test)
Der Untersucher fixiert das Skaphoid mit seinem Daumen palmar auf dem Tuberculum scaphoidei und seinem Zeigefinger dorsal am proximalen Skaphoidpol (Handgelenk des Patienten in Ulnarduktion). Die zweite Hand des Untersuchers führt die Hand des Patienten nun in die Radialduktion (mit leichter Flexion) mit konstantem Druck des Daumens auf das Kahnbein (⊡ Abb. 25.4). In endgradiger Ulnarduktion des Handgelenks ist das Skaphoid in sagittaler Ebene aufgerichtet. In maximaler Radialduktion kippt der distale Pol nach palmar. Bei diesem Test
a
b
c
d
⊡ Abb. 25.4a–d Watson-Test. Der Untersucher palpiert mit dem Daumen das Tuberculum scaphoidei, mit dem Zeigefinger dorsal den proximalen Skaphoidpol. Der Untersucher führt nun die Hand des Patienten in Radialduktion. Bei positivem Test kann hierbei durch den Druck des Daumens nach dorsal eine Subluxation des Kahnbeins provoziert werden. (Aus: Winkler et al. 2009)
619 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
drückt der Untersucherdaumen auf den distalen Pol und provoziert bei positivem Verlauf eine Subluxation des Kahnbeins, manchmal mit anschließend hörbarem »Zurückspringen« in die Fossa scaphoidea des Radius. Ein positives Ergebnis des Tests ist bei skapholunären Instabilitäten zu erwarten. > Der Test ist häufig falsch-positiv und sollte deshalb an der Gegenseite vergleichend durchgeführt werden. Ein positiver Watson-Test allein reicht nicht zur Diagnosestellung.
Die Rhizarthrose als eine der häufigsten arthrotischen Veränderungen der Hand zeigt typischerweise einen lokalen Druckschmerz im Bereich des Daumensattelgelenks, in fortgeschrittenen Stadien mit einer typischen Adduktionskontraktur des ersten Mittelhandknochens. Nicht selten kommt es hierbei zu einer kompensatorischen Hyperextension im Daumengrundgelenk. Grind-Test
Der Untersucher übt durch axiale Stauchung und gleichzeitiges Rotieren des Daumens Druck auf das Daumensattelgelenk aus. Dies führt bei Vorliegen einer Rhizarthrose zu einer oft deutlichen Schmerzprovokation. Neben Skaphoid und Daumensattelgelenk sind insbesondere Sehnenpathologien häufig für radiale Handgelenkschmerzen verantwortlich.
Finkelstein-Test
Der Patient umfasst auf der zu prüfenden Seite den Daumen mit seinen Fingern. Der Untersucher bringt das Handgelenk nun in die endgradige Ulnarduktion, was bei positivem Test einen deutlichen Schmerz im Bereich des ersten Strecksehnenfachs provoziert. Positiver Test typischer Weise bei Vorliegen einer Tendovaginitis stenosans de Quervain. Differenzialdiagnostisch sollte hierbei neben dem Intersektionssyndrom das sog. Wartenberg-Syndrom« in Betracht gezogen werden (⊡ Abb. 25.5a). Hoffmann-Tinel-Zeichen
Bei vorliegendem Wartenberg-Syndrom kommt es durch Beklopfen der Kompressionsstelle des Ramus superficialis des N. radialis am Rand des M. brachioradialis am distalen Unterarm zu einem elektrisierenden Schmerz (⊡ Abb. 25.5b). z z Dynamische Untersuchung der dorsalen Region Schubladentest
Der Schubladentest kann sowohl radiokarpal als auch mediokarpal eingesetzt werden, um etwaige anterior-posteriore Instabilitäten nachzuweisen. Unter axialem Zug wird Druck in a.p.-Richtung an den entsprechenden Gelenkabschnitten ausgeübt. (⊡ Abb. 25.6)
a
b ⊡ Abb. 25.5 a Finkelstein-Test als Zeichen der Tendovaginitis De Quervain. b Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen des distalen Rands des M. brachioradialis; positiv bei Wartenberg-Syndrom. (Aus: Winkler et al. 2009)
⊡ Abb. 25.6 Schubladentest. (Aus: Winkler et al. 2009)
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
z z Dynamische Untersuchung der palmaren Region Hoffmann-Tinel-Zeichen
ulnae-Syndroms bei rheumatoider Arthritis und Instabilität im distalen Radioulnargelenk.
Beklopfen des Handgelenks proximal des Lig. carpi transversum führt zu einem elektrisierenden Schmerz bis in die medianusinnervierten Finger. Positiv bei Karpaltunnelsyndrom.
Impaction-Test
Phalen-Test
25
Der Untersucher hält das Handgelenk des Patienten in maximaler Beugung. Ein Auftreten von Parästhesien im Medianusgebiet nach ca. 15–20 s spricht für das Vorliegen eines Karpaltunnelsyndroms. z z Dynamische Untersuchung der ulnaren Region Klaviertastenphänomen des Ulnaköpfchens
Es zeigt sich eine auf Druck federnde Palmarverschiebung der distalen Ulna gegenüber dem Radius als Zeichen eines Caput-
Der Untersucher bringt die Hand des Patienten in Dorsalextension und gleichzeitige Ulnarduktion. Bei Vorliegen eines UlnaImpaction-Syndroms verläuft dieser Test positiv. TFCC-Load/Stress-Test
Radius und Ulna des Patienten werden vom Untersucher in einer Hand gehalten, die Metakarpalia in der anderen. Dann wird zunächst das Handgelenk ulnarduziert, dann flektiert und im Anschluss extendiert. Erfolgt eine Schmerzwiedergabe bei alleiniger Ulnarduktion, so spricht man von einem positiven Load-Test. Treten Schmerzen und ggf. ein Schnappphänomen bei Dorsalextension und Palmarflexion auf, so ist der StressTest positiv. > Dieser Test ist äußerst unspezifisch. Er ist nicht ausreichend für die Diagnosestellung einer TFCC-Läsion. Shear-Test
Der Daumen des Untersuchers wird an der radialen Kante des Os pisiforme eingehakt und das Os pisiforme nach ulnar geschoben (⊡ Abb. 25.8). Hierbei kann bei pisotriquetraler Arth-
a
b ⊡ Abb. 25.7a,b Klinische Untersuchung bei Verdacht auf Karpaltunnelsyndrom. a Hoffmann-Tinel-Zeichen, b Phalen-Test. (Aus: Winkler et al. 2009)
⊡ Abb. 25.8 Shear-Test des Os pisiforme. (Aus: Winkler et al. 2009)
621 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
rose zum einen eine pisotriquetrale Instabilität festgestellt, zum anderen Schmerz provoziert werden. Grind-Test
Durch axialen Druck auf das Pisotriquetralgelenk können Schmerzen und Krepitation ausgelöst werden. Der Grind-Test ist auch positiv bei Vorliegen von Synovialitis oder Arthrose im Pisotriquetralgelenk. ECU-Instabilitätstest
genverlauf geben Hinweise auf Alignement-Veränderungen der einzelnen Karpalia. Zur Anfertigung einer Röntgenaufnahme des Handgelenks im seitlichen Strahlengang hält der Patient seinen Arm angelegt am Thorax im Ellenbogen 90° gebeugt. Auch muss hierbei die 0°-Position für Pro- und Supination eingenommen werden, wozu der zu Untersuchende die ulnare Handkante auflegt. Es lassen sich insbesondere das radiolunokapitäre Alignement, die Position von Skaphoid zum Radius sowie von Skaphoid zum Lunatum beurteilen.
Der Ellenbogen des Patienten ist ca. 90° gebeugt und liegt auf dem Untersuchungstisch auf. Hierbei palpiert der Untersucher die Sehne des M. extensor carpi ulnaris (ECU) und versucht, diese während Pro- und Supinationsbewegung des Patienten über das Ellenköpfchen zu luxieren. Dieser Test zeigt dem Untersucher eine Instabilität der ECU-Sehne. Lunitriquetrales Ballotement (Instabilitätstest)
Der Untersucher drückt mit seinem Daumen von dorsal auf das Lunatum, während der Untersucher mit dem Zeigefinger von palmar auf das Triquetrum drückt. Provoziert werden können Schmerzen oder eine tastbare Instabilität. z z Bildgebende Verfahren Konventionelle Röntgendiagnostik
Die konventionelle Radiographie ist das erste bildgebende Verfahren, das bei Handgelenksbeschwerden eingesetzt werden sollte. Hierbei stehen je nach Fragestellung und klinischer Beschwerdesymptomatik verschiedene Aufnahmetechniken zur Verfügung: Handgelenk im p.a.- und im seitlichen Strahlengang:
Diese Aufnahmen dienen als Grundlage für jegliche weiterführende Bildgebung am Handgelenk. Auf eine bestmögliche Einstelltechnik ist in jedem Fall zu achten. Zur Durchführung der p.a.-Aufnahme des Handgelenks wird der entsprechende Arm in 90°-Schulterabduktion und 90° Ellenbogenflexion gelagert. Die Handfläche liegt hierbei auf der Lagerungsvorrichtung auf (Neutralstellung in Pro-/Supinationsebene), sodass der Mittelfinger die Verlängerung der Unterarmachse darstellt (Schmitt u. Lanz 1996). Die knöcherne Architektur sowie das Alignement der einzelnen Handwurzelknochen zueinander können nun genauso wie die Weite und Symmetrie aller Interkarpalgelenke beurteilt werden. In der p.a.-Aufnahme stellt sich der Griffelfortsatz der Ulna an der ulnaren Kante des Ulnaköpfchens dar. Entsprechend dem Längenverhältnis zwischen Radius und Ulna unterscheidet man folgende Varianten: ▬ Ulna-Plus-Variante ▬ Ulna-Null-Variante ▬ Ulna-Minus-Variante Der radioulnäre Neigungswinkel (⊡ Abb. 25.9) beträgt zwischen 20 und 25°. In der p.a.-Projektion bilden die einzelnen Karpalia die 3 sog. »Gilula-Bögen«: Demnach bilden die Gelenkflächen der proximalen Handwurzelreihe den ersten Bogen. Der 2. und 3. Bogen werden durch die proximale und distale Begrenzung des Mediokarpalgelenks gebildet. Unregelmäßigkeiten im Bo-
Tipp
I
I
Idealerweise kann man in der erstellten Aufnahme eine Gerade durch die Mitte des Radiusschaftes, Lunatum, Kapitatum und Metakarpale III ziehen.
Die Radiusgelenkfläche neigt sich 10–15° von dorsal nach palmar. Der Winkel zwischen Lunatum und Skaphoid beträgt physiologischerweise 50–60°. Abweichungen von diesen Positionen zueinander implizieren das Vorliegen von interossären Bandverletzungen, die zu karpalen Instabilitäten bis hin zum karpalen Kollaps führen können. Spezialeinstellungen
Zur ergänzenden Röntgendiagnostik stehen eine Vielzahl von speziellen Ziel- und Belastungsaufnahmen zur Verfügung, deren Anfertigung streng von der klinischen Symptomatik abhängig gemacht werden sollte. Im Einzelfall sollte unserer Meinung nach auch die Frage nach der Mehrinformation durch die Spezialaufnahme gestellt werden, da Schichtbildverfahren bei manchen Fragestellungen in Bezug auf Sensitivität und Spezifität als überlegen angesehen werden müssen.
a
b
⊡ Abb. 25.9a,b Konventionelle Röntgendiagnostik. a Der radiokarpale Neigungswinkel beträgt 20–25°; daneben sind die »Gilula-Bögen« dargestellt, b die Radiusgelenkfläche ist 10–15° nach palmar geneigt; der skapholunäre Winkel beträgt physiologischerweise 50–60°
25
622
25
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Kapandji-Aufnahmen: Diese Spezialaufnahmen eignen sich insbesondere zur Darstellung des Daumensattelgelenks (⊡ Abb. 25.10). Stecher-Aufnahme: Hierbei handelt es sich um eine Röntgenaufnahme im p.a.-Strahlengang, wobei unter Faustschluss die Hand in maximaler Ulnarduktion gehalten wird. Üblicherweise richtet sich das Skaphoid bei Ulnarduktion auf (s. o. klinische Tests des Skaphoids). Wird dies durch eine skapholunäre Bandläsion verhindert, so zeigt sich bei dieser Röntgenaufnahme ein erweitertet skapholunärer Gelenkspalt. »Faustschlussaufnahme«: Auch diese Röntgenaufnahme wird in p.a.-Projektion durchgeführt, wobei mit einem kräftigen Faustschluss eine Belastungssituation simuliert wird. Hierbei kann es ebenfalls zu einer erweiterten Darstellung des skapholunären Spalts kommen. Skaphoidquartett: Das Skaphoid wird in 4 Projektionsebenen abgebildet. Die Indikation zur Anfertigung dieser Aufnahmen besteht bei Verdacht auf Skaphoidfraktur oder einer Pseudarthrose. Neben Stecher-Aufnahme, die auch als »erste« Aufnahme des Skaphoidquartetts gilt, wird eine Aufnahme nach Schreck (45° schräg) und eine Projektion nach Bridgeman (45° schräg, bei gleichzeitiger Dorsalextension des Hand-
gelenks) durchgeführt. Komplettiert wird das Skaphoidquartett durch eine Aufnahme des Handgelenks bei vollständigem Faustschluss und ca. 30° Pronation. Pisiformezielaufnahme: Das Handgelenk wird in 30° Pronation und endgradiger Extension auf einem Keil gelagert (ca. 60°, mit dem Handrücken aufliegend). Zur Darstellung kommen das Os psiforme und das Pisotriquetralgelenk. Bei Verdacht auf Pisiformefraktur oder Pisotriquetralarthrose ist diese Spezialaufnahme indiziert (⊡ Abb. 25.11) Durchleuchtung (Kinematographie)
Bei dieser dynamischen Untersuchung des Handgelenks ist ebenfalls die Projektion in palmodorsalem und in ulnoradialem Strahlengang möglich. Sinnvoll ist die Kinematographie bei Verdacht auf eine dynamische, ligamentäre Instabilität des Karpus bzw. der einzelnen Handwurzelknochen zueinander. Arthrographie
Sie ist insbesondere durch die Arthroskopie immer mehr in den Hintergrund getreten. Der Vorteil der Arthroskopie liegt v. a. in der einzeitigen Therapieoption. Die Methodik lässt diagnostische Rückschlüsse auf karpale Bandverletzungen oder
a
c
b
d
⊡ Abb. 25.10a–d Kapandji-Aufnahmen a Einstelltechnik der Röntgenaufnahme Kapandji 1. Die ulnare Handkante liegt in leichter Pronation auf dem Tisch auf. Das Handgelenk wird mit ca. 15° Extension positioniert, die Achse des Daumens folgt der des Unterarms. Der Strahlengang wird um ca. 30° nach distal gekippt und das Daumensattelgelenk zentrierend eingestellt. b Röntgenaufnahme Kapandji 1 bei Rhizarthrose. c Einstelltechnik für die Röntgenaufnahme Kapandji 2. Pronationsstellung der Hand mit Ulnarduktion des Handgelenks. Mit einem Schaumstoffkeil wird die Hand ca. 20–30° angehoben, der Daumen kommt seitlich auf der Unterlage zu liegen. Der Zentralstrahl wird direkt senkrecht auf das Daumensattelgelenk zentriert. d Röntgenaufnahme Kapandji 2 bei vorliegender Rhizarthrose
623 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
TFCC-Läsionen (»triangular fibrocartilage complex«) zu, durch pathologische Kontrastmittelverteilungen bzw. -durchtritte. Sonographie
Die Sonographie des Handgelenks liefert nicht nur bei Weichteilprozessen wichtige diagnostische Erkenntnisse (⊡ Abb. 25.12). Durch die Verwendung von 7,5- bis 12-MHz-Schallköpfe (mit Gelvorlauf) bietet diese Methode auch die Möglichkeit der dynamischen Untersuchung. Die DEGUM (Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin) sieht für die sonographische Untersuchung des Handgelenks die in ⊡ Tab. 25.3 dargestellten Standardschnittebenen vor. Zu den typischen Indikationen für die Ultraschalldiagnostik des Handgelenks gehören Synovialitiden und Tenosynovitiden z. B. im Rahmen einer rheumatoiden Arthritis. Die zusätzliche Verwendung eines Farbdopplers lässt indirekt Rückschlüsse auf die Durchblutungssituation und rheumatische Aktivität des Synovialgewebes und somit die Notwendigkeit einer eventuellen Synovialektomie zu. Eine weitere wichtige Indikation stellt die Diagnostik bei Verdacht auf eine Stener-Läsion (Ruptur des ulnaren Kollateralbands am Daumengrundgelenk, »Skidaumen«) dar (Hahn et al. 2001). Weitere mögliche Indikationen für die Sonographie zur Diagnostik des Handgelenks zeigt die Übersicht.
Indikationen für die Sonographie des Handgelenks
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Gelenkerguss Ganglion Karpaltunnelsyndrom Osteophyten Fremdkörper Frakturen Tumor
Computertomographie
Die Domäne des CT als bildgebendem Verfahren am Handgelenk liegt in der Frakturdiagnostik. Hochauflösende Spiral-CT liefern hierbei wichtige Informationen über Frakturverläufe, Positionen einzelner Fragmente oder pseudarthrotischer Knochenanteile. In der Weichteildiagnostik oder Vitalitätsbestimmung etwaiger Pseudarthrosen oder Nekroseherde ist die CT dem MRT deutlich unterlegen. Magnetresonanztomographie
Die MRT gewährleistet eine weitere diagnostische Darstellung der Weichteile im Schnittbildverfahren. Eine optimale Bildqualität bei der Untersuchung des Handgelenks wird durch die
⊡ Tab. 25.3 Standardschnittebenen zur sonographischen Untersuchung des Handgelenks
⊡ Abb. 25.11 Röntgenologische Zielaufnahme einer Pisotriquetralarthrose
Dorsale Region
Palmare Region
Transversalschnitt ulnarer Longitudinalschnitt radialer Longitudinalschnitt
Transversalschnitt Longitudinalschnitt
⊡ Abb. 25.12 Transversalschnitt der palmaren Region des Handgelenks. Die Verwendung des Farbdopplers ermöglicht eine genaue Darstellung aktiver synovialitischer Herde bei vorliegender rheumatoider Arthritis
25
624
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Verwendung von sog. Handspulen erreicht. Hierbei ist es nicht mehr nötig, dass der Patient mit dem ganzen Körper innerhalb des Kernspintomographen liegen muss. Die Indikation zur Durchführung einer MRT ist gegeben zur Diagnostik avaskulärer Knochennekrosen/Pseudarthrosen, rheumatoider Arthritiden/Tenosynovitiden, ligamentärer Läsionen (TFCC-Komplex, karpale Ligamente), Sehnenpathologien und Tumoren.
I
Tipp
25
Klassifikation nach Swanson 1. Fehlende Bildung von Teilen: – transversale Defekte – longitudinale Defekte 2. fehlende Differenzierung von Teilen 3. Doppelbildungen 4. Überentwicklung 5. Unterentwicklung 6. Schnürfurchenkomplex 7. generalisierte Skelettdeformitäten
I
Hierbei empfiehlt sich die Verwendung von GadoliniumDPTA als intravenös verabreichtes Kontrastmittel.
z
Insbesondere zur Darstellung der Durchblutungssituation im Hinblick auf Vitalität bei Pseudarthrosen oder avaskulären Knochennekrosen ist dies unserer Meinung nach unerlässlich. Handgelenkarthroskopie
Die Arthroskopie erlaubt dem durchführenden Arzt einen direkten diagnostischen Blick in den radio-, ulno- und mediokarpalen Abschnitt des Handgelenks. Die chirurgischen Therapieoptionen bestehen in der primären Behandlung von Diskusläsionen (Teilresektion oder Refixation), intraartikuläre Synovektomien, Knorpelglättung (Abrasionsarthroplastik), Entfernung freier Gelenkkörper oder etwaiger Bandstümpfe. Die Indikation für eine diagnostische Arthroskopie des Handgelenks besteht in der Abklärung des Handgelenkschmerzes, wenn dieser durch nicht invasive Methodik nicht zu diagnostizieren ist. Die Indikation ist auch zur weiteren Abklärung bei bereits bekannter skapholunärer Bandverletzung oder Knorpelschädigung gegeben. Hierbei dient die Arthroskopie der Überprüfung des genauen Ausmaßes des Schadens, um weitere therapeutische Maßnahmen festzulegen. Ferner kann die Arthroskopie zur Unterstützung bei der Reposition intraartikulärer Frakturen eingesetzt werden.
Therapie
Ziel der Therapie ist die Verbesserung der Funktion (und der Ästhetik, wobei man bei einer Operation nur aufgrund der Ästhetik zurückhaltend sein sollte). Grundsätzlich ist bei der Therapie angeborener Fehlbildungen von Hand und Unterarm zu bedenken, ob weiterführende medizinische Maßnahmen, wie z. B. operative Korrekturmaßnahmen, für das Kind sinnvoll sind. Es ist ein Unterschied, ob Kinder mit Defekten geboren werden und die Situation gar nicht anders kennen oder ob sie durch einen Unfall ihre Handfunktion verlieren. Die betroffenen Kinder kommen mit der Situation oft erstaunlich gut zurecht, und es sind mehr die Eltern, die sich an die Situation gewöhnen müssen. Die konservative Therapie versucht durch Dehnungs- und Bewegungsübungen Fehlstellungen anzugehen. Schienen und Prothesenversorgungen sollen die Gebrauchsfähigkeit der Extremitäten verbessern, aber keinesfalls die Aktivität behindern. Der Kontakt zu Selbsthilfegruppen kann für die Kinder und Eltern eine große Hilfe darstellen. > Wichtig ist, isolierte Fehlbildungen der Hand von kombinierten Fehlbildungen, z. B. im Rahmen von Syndromen (z. B. Apert-Syndrom), zu unterscheiden.
Generell sollten operative Korrekturmaßnahmen früh erfolgen. 25.1.2
Angeborene Fehlbildungen der Hand
Syndaktylie z
z
Definition
Defekt aufgrund eines Fehlers in der Morphogenese, der zum Zeitpunkt der Geburt vorliegt (Martini 2002). z
Ätiologie und Pathogenese
Genetischer Defekt, exogene Noxe, die in den meisten Fällen nicht zu eruieren ist (Medikamente). Oft Teil eines Syndroms. Die genetischen Ursachen kongenitaler Fehlbildungen werden in den letzten Jahren zunehmend untersucht und verstanden. Viele Mechanismen sind jedoch weiter unklar und der Phänotypus unterschiedlich ausgeprägt (Schwabe 2004). Die Klassifikation von angeborenen Fehlbildungen der Hand ist schwierig, und manche Fehlbildungen lassen sich nicht genau einordnen. Eine häufig gebrauchte Klassifikation ist die nach Klassifikation Swanson, die von der Internationalen Föderation der Gesellschaften für Handchirurgie (IFSSH) modifiziert wurde.
Definition
Zusammengewachsene Finger. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Syndaktylie kann ohne (kutane Form) oder mit Verschmelzung der Knochen (ossäre Form) einhergehen und dabei einen Teil der Fingerlänge betreffen oder komplett ausgeprägt sein. Die Extremform ist die sog. Löffelhand beim Apert-Syndrom. Sehnen und Gefäße können bei der ossären Form Anomalien zeigen. Man unterscheidet die isolierte von der kombinierten Syndaktylie als Teil einer komplexen Fehlbildung (z. B. Symbrachydaktylie). Ein Nagelband (ein gemeinsamer Nagel von 2 Fingern) weist auf eine ossäre Verbindung hin. z
Therapie
Operationszeitpunkt: Vor dem Kindergarten. Bei Fehlbildungen, die die Greiffunktion der Hand behindern, z. B. eine Syndaktylie zwischen dem Daumen und Zeigefinger, auch früher
625 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
Kamptodaktylie z
Definition
Beugekontraktur des Fingermittelgelenks. Sie betrifft häufig den Kleinfinger. z
Ätiologie und Pathogenese
Es gibt hierzu unterschiedliche Auffassungen. Es werden Anomalien der Streckaponeurose, des M. lumbricalis, der Sehne des M. flexor digitorum superficialis (FDS-Sehne) und der Gelenkflächen des PIP-Gelenks (proximales Interphalangealgelenk), der Haut und Ligamente beschrieben (Smith 1998). McFarlane (1992) fand bei allen 74 von ihm operierten Patienten immer eine abnorme Insertion des M. lumbricalis und begleitend in einigen Fällen eine abnorme Insertion der FDS-Sehne oder eine fixierte Kontraktur des PIP-Gelenks. > Differenzialdiagnostisch sind posttraumatische Fehlstellungen, ein digitaler M. Dupuytren und andere Erkrankungen, die mit einer Kontraktur einhergehen können, zu bedenken (z. B. Sklerodermie). z
Klassifikation nach Frank (1997)
▬ Typ I: Streckdefizit ohne oder mit geringer Hautverkürzung ▬ Typ II: Kontraktur <50° ▬ Typ III: Kontraktur >50° z
Diagnostik
In einigen Fällen sieht man die Abflachung des dorsalen Grundphalanxkopfes auf dem Röntgenbild. z
A
B B
A
⊡ Abb. 25.13 Mögliche Schnittführung zur Trennung einer Synodaktylie. (Aus: Martini 2008)
Klinodaktylie z
(Säuglingsalter), da die Kinder den Gebrauch des Daumens noch erlernen müssen. Operationsziel ist die Bildung einer breiten Kommissur mit spannungsfreier Deckung. Es erfolgen zickzackförmige Schnitte dorsal und palmar, die über die Mittellinie hinausgehen und sich so gegenüber liegen müssen, dass sie nach der Trennung wie ein Reißverschluss ineinander greifen müssen (⊡ Abb. 25.13). Verbleibende Hautdefekte werden durch Vollhauttransplantate gedeckt. Keine Operation an beiden Seiten gleichzeitig wegen der Blutversorgung. Zwischen den Operationen sollten 6 Monate vergehen (Martini 2002, Martini 2008).
Therapie
Konservativ kann versucht werden, die Kontraktur aufzudehnen. Das Ergebnis einer operativen Korrektur ist unsicher. Häufig wird eine Verbesserung der Streckung auf Kosten der Beugung erzielt. Die Empfehlungen zur Operationsindikation sind unterschiedlich. Smith (1998) empfiehlt eine Operation erst bei 60° Beugekontraktur. Möglich ist die Hautverlängerung (ZPlastik mit Hauttransplantat), die Korrektur von Sehnenfehlinsertionen, die Arthrolyse des PIP-Gelenks und die Versetzung der Superficialis-Sehne auf die Streckseite (McFarlane 1992).
Definition
Angeborene seitliche Abwinklung eines Fingers oder Daumens. Bis zu 10° sind normal. z
Ätiologie und Pathogenese
Fehlwachstum der Mittelphalanx. Eine Deltaphalanx mit bogenförmiger Epiphysenfuge, die sich longitudinal an der kurzen Seite der Mittelphalanx erstreckt, kann vorkommen. Die Klinodaktylie kommt jedoch auch im Rahmen komplexer Handfehlbildungen (Symbrachydaktylie) vor. z
Diagnostik
Auf a.p.-Röntgenaufnahmen können die Lokalisation der Störung (ggf. eine Deltaphalanx) und begleitende Veränderungen
25
626
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
diagnostiziert werden. Differenzialdiagnostisch sind Wachstumsstörungen der Fuge nach Traumen oder Infektionen auszuschließen. z
Therapie
▬ Korrekturosteotomie mit Keilentnahme ▬ Teilresektion der Epiphysenfuge und Fettinterposition (Vickers-Prozedur)
25
Eingeschlagener Daumen z
Synonym
»Clapsed thumb« z
Definition
Im Grundgelenk gebeugter und in die Hohlhand eingeschlagener Daumen (⊡ Abb. 25.14). z
Ätiologie und Pathogenese
⊡ Abb. 25.14 Klinisches Bild eines eingeschlagenen Daumens. Der Daumen ist im Grundgelenk gebeugt und hat eine verengte erste Kommissur
Hypo- oder Aplasie der Daumenstrecksehnen in unterschiedlichem Ausmaß. z
Differenzialdiagnose
Bei dem angeborenen, schnellenden Daumen steht der Daumen im Interphalangealgelenk (IP-Gelenk) gebeugt und die erste Kommissur ist nicht verengt. z
Therapie
Wenn sich die Kinder früh vorstellen, sind die Hände meistens noch zu klein für eine Schienenbehandlung. Passives kontinuierliches Aufdehnen sollte in diesen Fällen zunächst durch die Eltern durchgeführt werden. Bei ausgeprägtem Befund kann ein Sehnentransfer durchgeführt werden (z. B. Indicisplastik) oder man transferiert die oberflächliche Beugesehne des Ringfingers durch die Membrana interossea auf die Streckseite und verknotet sie dann mit dem distalen Anteil der Daumenstrecksehne. Begleitend muss die erste Kommissur erweitert werden, z. B. durch eine doppelte Z-Plastik (⊡ Abb. 25.15 u. ⊡ Abb. 25.16).
⊡ Abb. 25.15 Schnittführung doppelte Z-Plastik zur Erweiterung der ersten Kommissur
Kirner-Deformität z
Definition
Fehlstellung der Kleinfingerendphalanx. z
Ätiologie und Pathogenese
Schädigung der Wachstumsfuge der Endphalanx durch abnorme Insertion der tiefen Beugesehne an der Metaphyse mit allmählich zunehmender Fehlstellung nach palmar. Die KirnerDeformität ritt vorwiegend beidseits bei Mädchen zwischen 9 und 13 Jahren auf. z
Therapie
Bei Beschwerden Therapie durch Epiphyseodese oder Korrekturosteotomie (nach Wachstumsabschluss; Dubrana 1995).
Synostosen der Handwurzelknochen z
Definition
Knöcherne oder fibröse Verbindung zwischen 2 oder mehreren Handwurzelknochen.
⊡ Abb. 25.16 Zustand nach doppelter Z-Plastik
627 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
b
⊡ Abb. 25.17a,b Ulnare Polydakytlie mit knöchern vollständig angelegten Kleinfinger. a Klinisches Bild, b Röntgenbild. Durchgeführt wurde die Amputation des zusätzlichen Kleinfingers
z
Ätiologie und Pathogenese
Mangelhafte Differenzierung der Handwurzelknochen. z
Diagnostik
Röntgenbild. Meist Zufallsbefund, da selten Symptome bestehen. Die Symptome sind meist bedingt durch die unvollständige Fusion. z
Therapie
Bei schmerzhafter unvollständiger Synostose erfolgt eine Arthrodese.
Symphalangie z
besteht eine Verdoppelung des Kleinfingers, vom funktionslosen weichteiligen Fingeranhängsel bis zu einem ausgebildeten zusätzlichen Kleinfinger (⊡ Abb. 25.17).
Definition
z
Therapie
Entfernung des hypoplastischen Anteils, Syndaktylietrennung. Bei zwei hypoplastisch annähernd gleich ausgebildeten Daumen können beide zu einem Daumen zusammengefügt werden (Operation nach Bilhaut-Cloquet). Nach Trennung besteht häufig eine Gelenkinstabilität, mit der Notwendigkeit der Stabilisierung (z. B. Seitenbandersatz). Korrekturosteotomien werden bei Fehlstellungen notwendig. Die Operationen sind schwieriger als sie zunächst erscheinen und verlangen eine präzise präoperative Planung (Benatar 2004).
Hypo- bis Aplasie eines Fingergelenks (meistens PIP-Gelenk).
Spiegelhand z
Ätiologie und Pathogenese
Fehlende Differenzierung des Gelenks in unterschiedlicher Ausprägung. z
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der vorliegenden Anomalie. Möglich sind beispielsweise Interpositionsarthroplastiken oder eine freie mikrochirurgische Gelenktransplantation. Auch Arthrodesen bzw. Korrekturarthrodesen sind möglich, insbesondere wenn Sehnenfehlbildungen und Fehlinsertionen vorliegen.
z
Definition
Seltene Verdoppelung ulnarer Anteile der Hand (und Finger) und Verdoppelung der Ulna ohne Daumen. Diese Fehlbildung ist so selten, dass auf Kongressen immer nur einzelne Fallberichte vorgestellt werden. z
Ätiologie und Pathogenese
Differenzierungsstörung. Es besteht eine Radiusaplasie, ein verdoppelter Karpus und 8 Finger. Der erste Strahl, Skaphoid und Trapezium fehlen, Pro- und Supination sind aufgehoben. Das Handgelenk steht in Flexionsstellung.
Polydaktylie z
Definition
Von Polydaktylie spricht man bei mehr als 5 Fingern an der Hand. Unterschieden wird zwischen radialer (Dig. I), zentraler (Dig. II-D IV) und ulnarer (Dig. V) Polydaktylie. Es können funktionslose Anhängsel bis hin zu voll ausgebildeten Fingern/ Daumen vorliegen. Die radiale Polydaktylie (Doppeldaumen) ist eine häufige Fehlbildung (⊡ Abb. 25.18). Der Doppeldaumen kann auch als triphalangealer Daumen ausgebildet sein. Die zentrale Polydaktylie kommt häufig als verdeckte Polydaktylie bei Syndaktylie der Finger vor. Bei der ulnaren Polydaktylie
z
Differenzialdiagnose
Polydaktylie: Hierbei ist der Radius normal ausgebildet. z
Therapie
Pollizisation eines überzähligen Fingers mit Amputation der übrigen überzähligen Finger. Die Entfernung überzähliger Handwurzelknochen ist möglich. Die Korrektur der Handgelenkfehlstellung und der fehlenden Unterarmwendbewegungen, z. B. durch eine partielle Resektion der proximalen Ulna, ist möglich, aber schwierig (Irani 2007, Harpf 1999)
25
628
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25 ⊡ Abb. 25.18a,b Radiale Polydaktylie (Doppeldaumen) mit radialseitig hypoplastischem Daumen. a Klinisches Bild, b Röntgenbild. Der hypoplastische radiale Anteil wurde entfernt
a
Triphalangie des Daumens z
Definition
b
Zeige- und Kleinfinger verkürzt. Die Mittelphalanx ist der am häufigsten betroffene Knochen (Nguyen 2009).
Dreigliedrigkeit des Daumens. z z
Ätiologie und Pathogenese
Möglicherweise handelt es sich beim ersten Strahl tatsächlich um einen Daumen, nicht um einen Langfinger, dafür spricht der Nachweis von Daumenmuskulatur, welche vom N. medianus innerviert wurde (Koebke 1980). Der Daumen kann zusätzlich eine Polydaktylie (Doppeldaumen) aufweisen. z
Klassifikation nach Buck-Gramcko (1998)
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Typ I: rudimentäre Dreigliedrigkeit Typ II: brachymesophalangeale Form Typ III: trapezoidförmige Mittelphalanx Typ IV: dolichophalangeale Form Typ V: hypoplastischer dreigliedriger Daumen Typ VI: dreigliedriger Daumen mit/ohne Polydaktylie
z
Makrodaktylie z
Therapie
Dreieckförmige Knochen zwischen der Grund- und Endphalanx können entfernt werden, ggf. mit Gelenkstabilisierung. Bei der brachymesophalangealen Form mit seitlicher Abwinkelung sind Korrekturosteotomien und Arthrodesen möglich. Bei der Dolichophalangealen Form ohne Sattelgelenk erfolgt die Pollizisation.
Definition
Abnorme Größe eines Fingers. z
Mit zunehmender Länge der zusätzlichen Mittelphalanx ähnelt der Daumen immer mehr einem Langfinger, er verliert zunehmend die charakteristische Muskulatur und Beweglichkeit (Opponierbarkeit). Der erste Metakarpalknochen zeigt meistens eine Überlänge. Bei der dolichophalangealen Form besteht kein Sattelgelenk mehr.
Therapie
Bei gering ausgeprägtem Befund und unauffälliger Gelenkfunktion ist keine Therapie notwendig. Bei hochgradig kurzem Finger, der keine Funktion mehr besitzt, ist der nicht vaskularisierte Zehen-Phalangen-Transfer, die Kallusdistraktion und der mikrochirurgische Zehentransfer möglich. Für die Kallusdistraktion muss der Knochen lang genug sein, daher kommt diese Technik erst bei älteren Patienten oder bei sekundären Wachstumsproblemen bei primär normal ausgebildeten Fingern in Betracht (Hierner 1998).
Ätiologie und Pathogenese
Die statische Form ist bei Geburt vorhanden, der Finger wächst danach proportional zu den übrigen Fingern. Die dynamische Form beginnt in der frühen Kindheit und wächst dann überproportional. z
Therapie
Therapeutisch sind Epiphysenresektionen mit Arthrodese des distalen Interphalangealgelenks (DIP-Gelenk) und longitudinale und transversale Osteotomien zur Kürzung des Knochens beschrieben. Die überschüssigen Weichteile werden reseziert, wobei jeweils Haut an den neurovaskulären Bündeln verbleibt, die zur Deckung des Fingers herangezogen werden kann. Auch Amputationen sind möglich (Kakinoki 2008, Akinci 2004).
Schnürfurchensyndrom Brachydaktylie
z
z
Ringartig verlaufende Furchen mit Verdickungen der Weichteile distal davon mit zum Teil amputationsähnlichen Defekten und Syndaktylien.
Definition
Kurzfinger. Das Spektrum reicht von der geringen Hypoplasie einer Phalanx bis hin zur kompletten Aplasie. Meist sind der
Definition
629 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
b
⊡ Abb. 25.19 Spalthände, rechts Typ III, links Typ II. a Klinisches Bild, b Röntgenbild. Man beachte die Bildung des Transversalknochens Dig. I an Dig. II links sowie die Syndaktylie Dig. II mit Dig. III beidseits
z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist unklar. Lokale Störungen der Gewebsdifferenzierung und Amnionabschnürungen werden diskutiert. Die Furchen können unterschiedlich tief sein das distal davon liegende Gewebe einen unterschiedlichen Schädigungsgrad aufweisen. Nerven und Gefäße können Anomalien oder Aplasien aufweisen. Eine Akrosyndaktylie kann vorkommen. z
Therapie
hung von Polydaktylie, Syndaktylie und einer Spalthand, sodass er diese Fehlbildungen in eine eigene Gruppe einordnet. z
Klassifikation
Es existieren mehrere Klassifikationssysteme: Von Falliner wurde 2004 eine neue Klassifikation vorgeschlagen: ▬ Typ I: medianer Spalthände mit vollständig erhaltenem Daumen und Kleinfinger ▬ Typ II: medioradiale Spalthände mit verändertem, aber zumindest teilweise erhaltenem Daumen ▬ Typ III: radiale Spalthände mit fehlendem Daumen ▬ Typ IV: medioulnare Spalthände mit verändertem, aber zumindest teilweise erhaltenem Kleinfinger ▬ Typ V: ulnare Spalthände mit fehlendem Kleinfinger
Bei Nekrosegefahr der Finger distal der Schnürfurchen sofortige operative Therapie nach Geburt durch Resektion des Rings und der nekrotischen Anteile mit nachfolgender Hautplastik zur Deckung des entstandenen Defekts. Syndaktylietrennung mit Kommissurvertiefung. Daumenrekonstruktion bei Daumendefekt, z. B. durch Transposition des Zeigefingers oder Zehentransfer.
z
Spalthand
Häufig bestehen begleitende Syndaktylien, Polydaktylien oder Kamptodaktylien.
z
Definition
Keilförmiger Defekt der zentralen Strahlen der Hand mit der Tendenz der Defektausbreitung nach zentral und radial. z
Ätiologie und Pathogenese
Vererbung, dominanter Erbgang. Die Spalthand kann doppelseitig vorkommen, auch in Kombination mit Spaltfüßen und assoziierten Fehlbildungen (⊡ Abb. 25.19 u. ⊡ Abb. 25.20). Es gibt aber auch sog. atypische Spalthände, die einseitig und sporadisch auftreten. Es handelt sich um einen während der Entwicklung auftretenden Defekt des Weichteilblastoms, an den sich Differenzierungsstörungen der benachbarten knöchernen Strukturen anschließen. Diese Strukturen können auch verlagert werden und bilden dann sog. Transversalknochen (meistens abgedrängte Grundphalangen). Die benachbarten Finger können eine Syndaktylie oder Polydaktylie zeigen. Untersuchungen von Ogino (1990) zeigen beispielsweise Zusammenhänge in der Entste-
Diagnostik
> Die Syndaktylie ist vererbbar, kommt oft beidseits und mit Beteiligung der Füße vor. Es finden sich Transversalknochen, und der Defekt breitet sich ulnarwärts aus. Bei der Symbrachydaktylie besteht dagegen kein Erbgang, es finden sich Fingerbürzel mit Nägeln, der Defekt ist eher U-förmig und breitet sich nach ulnarwärts aus. Er tritt einseitig auf, die Füße sind nicht beteiligt. z z Bildgebende Verfahren
Im Röntgenbild steht die Aplasie ganzer Phalangen oder ganzer Fingerstrahlen im Vordergrund. Auch Synostosen oder Verlagerungen einzelner Knochen kommen vor (sog. Transversalknochen). z
Therapie
Die Therapie ist abhängig vom Typ. Grundsätzlich ist die Funktion der Spalthände besser als ihr Aussehen. Ziel ist die
25
630
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25
a
⊡ Abb. 25.20a–c Mädchen mit Spalthänden und Spaltfüßen
b
Wiederherstellung der Funktion und Verbesserung der Ästhetik: Wenn ein Daumen vorhanden und die erste Zwischenfingerfalte zu eng ist oder eine Syndaktylie vorliegt, sollte diese beseitigt werden und eine Verbreiterung der Daumenkommissur zur Verbesserung der Daumenopposition (und damit der Greiffunktion/Spitzgriff) durchgeführt werden. Auch die Spalte kann verschlossen und weitere funktionell störende Syndaktylien getrennt werden. Die Operationsindikation richtet sich nach der vorliegenden Pathologie und der Funktion. Fehlt beim medianen Typ I nach Falliner der dritte Strahl, kann ein vorhandener Rest des dritten Mittelhandknochens entfernt und in der von Upton (2004) angegebenen Technik der Zeigefinger von der Basis des Metakarpalknochens abgelöst und auf den dritten Metakarpalknochen versetzt werden. Mit den entstehenden Hautlappen wird die Kommissur zwischen Daumen und versetztem Zeigefinger vertieft. Der Muskelansatz des M. adduktor pollicis sollte hierbei nach Möglichkeit intakt bleiben. Begleitende Fehlbildungen werden mitbehandelt (z. B. Syndaktylietrennung).
Symbrachydaktylie z
Fehler in der Bildung oder um eine Hypoplasie handelt. Es scheint sicher eher um einen intersegmentalen Formationsfehler zu handeln mit einer Reduktion der knöchernen Anlage, die dazu führt, dass die Weichteile sich nicht normal entwickeln können. Meist sind die mittleren Strahlen betroffen, wobei sich der Defekt nach ulnarwärts ausbreiten kann. Je nach Schweregrad kommt eine Brachymesophalangie der Mittelphalangen bis hin zum Fehlen der Mittelhandstrahlen vor. Es bleiben nur nageltragende Bürzel zurück. Es kommen gleichzeitig Syndaktylien, Symphalangien und Klinodaktylien vor (Martini 2002, Tonkin 2004). Bei ausgeprägten Fällen bestehen abnorme Verhältnisse bei den Sehnen und Nerven. z
Klassifikation nach Blauth
▬ Typ I: Kurzfingertyp, Brachymesophalangien und/oder Aplasie bzw. Hypoplasie der Mesophalangen ▬ Typ II: Spalthandtyp, Fehlen eines Fingers oder mehrerer Mittelhandstrahlen ▬ Typ III: monodaktyler Typ, nur der Daumen ist erhalten, Dig. II–V fehlen ▬ Typ IV: peromeler Typ, alle Finger fehlen
Definition
Brachydaktylie und Syndaktylie der Finger (einseitig, Füße nicht beteiligt). z
c
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie unklar, kein bekannter Vererbungsmechanismus. Es besteht Uneinigkeit darüber, ob es sich um einen transversalen
z
Diagnostik
Das Fingerendglied ist vorhanden (mit Nagel). Die Syndaktylie breitet sich nach radial aus und der Knochendefekt nach ulnar. Im Röntgenbild zeigen sich Hypo- oder Aplasie der Phalangen, der Metakarpalia und Handwurzelknochen. Keine ossäre Syndaktylie.
631 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
z
Therapie
Die Therapie ist abhängig vom Typ. Bei Typ I erfolgen Syndaktylietrennung, Arthrodesen, Drehosteotomie und Oppensplastik. Bei höhergradigen Deformitäten ist der Aufbau eines Kleinfingers oder Gegengreifers durch Zehentransfer oder Kallusdistraktionsverfahren (Matsuno 2004, Kanauchi 2003) möglich.
Hypoplasie des Daumens z
Klassifikation
Die Klassifikationen der Daumenhypoplasie basieren auf der Einteilung von Blauth, die noch einmal modifiziert wurde von Manske (1995). Er differenzierte den Typ III noch einmal, wobei beim Typ IIIa noch ein Karpometakarpalgelenk besteht. ▬ Typ I: Verschmächtigung des Daumens und der Daumenballenmuskulatur ▬ Typ II: Adduktionskontraktur des Daumens mit Hypoplasie der Daumenballenmuskulatur und Instabilität des Metakarpophalangealgelenks (MP-Gelenk) ▬ Typ IIIa: abnormale Muskel- und Sehnenkonfiguration (Fehlinsertion), zusätzlich zu Typ II ▬ Typ IIIb: partielle Aplasie des ersten Metakarpalknochens mit fehlendem Karpometakarpalgelenk ▬ Typ IV: Aplasie des ersten Metakarpalknochens mit »Daumenanhängsel« ▬ Typ V: fehlender Daumen (Aplasie) z
Therapie
Während eine Behandlung beim Typ I nicht notwendig ist, wird beim Typ II und IIIa versucht, die Funktion zu verbessern, indem die Adduktionskontraktur durch eine Hautplastik verbreitert wird, ggf. mit Inzision der kontrakten Muskelansätze. Bei nicht ausreichender Muskelfunktion des Thenars kommen motorische Ersatzoperationen in Betracht (z. B. Opponensplastik nach Huber). > Die instabilen Gelenke müssen stabilisiert werden, entweder durch Bandplastiken oder durch Arthrodesen (ohne die Epiphysenfugen).
Das Spektrum der Fehlbildungen vom Typ II und IIIa ist jedoch groß, sodass eine individuelle Lösung gefunden werden muss. Ab Typ IIIb wird von Manske die Pollizisation empfohlen, also die Bildung eines Daumens aus einem Langfinger. Die funktionellen Ergebnisse nach Pollizisation werden generell als gut bis ausreichend beschrieben (Foucher 2004).
25.1.3 z
Morbus Dupuytren
Definition
Primär schmerzlose, knotige und strangförmige Fibromatose der Hand (Palmaraponeurose und digitale Faszienstränge sind betroffen), die zu einer Streckhemmung der Fingergelenke führt. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist unklar, es existieren mehrere Theorien, z. B. Autoimmunreaktion. Es gibt Fälle mit autosomal dominantem Vererbungsmodus, aber auch ein sporadisches Auftreten.
Assoziationen zur Epilepsie und zum Alkoholismus werden in neuen Studien infrage gestellt (Loos 2007). Häufigstes Auftreten in der 5. bis 6. Lebensdekade, nordeuropäische Herkunft scheint ein prädisponierender Faktor zu sein. Die Pathogenese verläuft in 3 Phasen: ▬ Phase I – Proliferationsstadium: Proliferation von Myofibroblasten und Knotenbildung ▬ Phase II – Involutionsstadium: Alignment von Myofibroblasten entlang der Spannungslinien ▬ Phase III – Residualstadium: azelluläres Stadium, Verdickung und Kontraktur der Stränge Ausbildung von longitudinal ausgerichteten Strängen unter Einbeziehung von faszialen Strukturen (prätendinöses Band, Lig. metacarpale transversum superficiale, laterale Fingerfaszie, Grayson-Ligamente, Cleeland-Bänder werden meistens ausgespart). Im Verlauf nehmen die Beugekontrakturen der Fingergelenke zu. Histologisch kommt es im Verlauf zu einer zunehmenden Verdrängung des subkutanen Fettgewebes mit Atrophie durch das pathologisch veränderte und vermehrte Kollagen. z
Klassifikation
Der Schweregrad der Fingergelenkkontrakturen ist die Basis der vorgeschlagenen Stadieneinteilung nach Tubiana: ▬ Stadium 0: keine Krankheitszeichen ▬ Stadium I: Summe der Kontrakturen zwischen 0 und 45° ▬ Stadium II: Summe der Kontrakturen zwischen 45 und 90° ▬ Stadium III: Summ der Kontrakturen zwischen 90 und 135 Grad ▬ Stadium IV: Summe der Kontrakturen über 135° z
Diagnostik
Die Diagnostik erfolgt klinisch. Es kommt zu schmerzlosen knotigen Verdickungen im Bereich der Finger oder der Hohlhandstrahlen der Palmarfaszie mit Umwandlung in Stränge im weiteren Verlauf. Schmerzen treten nur auf, wenn Druck auf die Nerven entsteht. Es kommt zur Beugekontraktur der Fingergrund-, mittel- und selten auch der -endgelenke. Die Röntgendiagnostik wird zum Ausschluss anderer Erkrankungen (z. B. Fingerpolyarthrose) durchgeführt. z Therapie z z Konservative Therapie
Lediglich Verlaufskontrolle (jährlich) bei singulärem Knoten und fehlender Fingerkontraktur. Die präoperative Dehnungsbehandlung kann bei höhergradigem M. Dupuytren sinnvoll sein (Beyermann 2002) z z Operative Therapie Indikationen
Analog der Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie (DGH) kann eine Operation ab einer Beugekontraktur eines oder mehrerer Fingergelenke von 20° durchgeführt werden, manche Autoren empfehlen diese erst ab 40–50° (DelFrari 2005). Auch ein störender ausgedehnter knotiger Befall der Hohlhand oder das Auftreten von Schmerzen können eine Operationsindikation darstellen.
25
632
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Kontraindikationen
Klinisch erkennbare Durchblutungsstörungen der Finger, erkennbar mangelnde Fähigkeit des Patienten zur anhaltenden Mitarbeit in der Nachbehandlungsphase, unbehandeltes Interdigitalekzem, induriertes Handödem. Operationsprinzipien
Quere Strangdurchtrennung (perkutane Nadeldissektion, Chordotomie).
25
! Cave Die Rezidivrate ist hoch, ebenso die Gefahr der Gefäßund Nervenverletzung. Partielle oder totale Aponeurektomie
Bei der totalen Aponeurektomie wird die Palmaraponeurose komplett entfernt, bei der partiellen Aponeurektomie nur das befallene Gewebe. Mehrere Schnittführungen sind möglich. Eine Hautverlängerung (bei fortgeschrittenen Kontrakturen) ist durch die Anlage von Z-Plastiken bei primär longitudinaler Schnittführung und durch die VY-Technik möglich.
Hierbei wird jeweils Länge auf Kosten der Breite gewonnen und kann daher nur durchgeführt werden, wenn auch genügend verschiebliche Haut in der Breite verfügbar ist. Bei großen Hautdefekten kann eine Vollhauttransplantation erfolgen. Als Alternative bei Defekten in der Hohlhand wurde von McCash die »Open-palm«-Technik propagiert, wobei auch andere Autoren gute Ergebnisse beschreiben (Lubahn 1999). Diese Technik ist jedoch aufgrund der sekundären Wundheilung belastend für den Patienten. Während sich das MPGelenk durch die Operation in der Regel gut aufdehnen lässt, bereitet ein kontraktes PIP-Gelenk erheblich mehr Schwierigkeiten. Die Technik der operativen Arthrolyse des PIP-Gelenks ist schwierig (Hintringer 2002). Operativ lässt sich durch die Arthrolyse eine gewisse Reduktion der Kontraktur erzielen, das intraoperative Ergebnis ist jedoch meistens nicht zu halten (Hasselbacher 2002). McFarlane (1990) rät daher bei PIPKontrakturen unter 30° von einem operativen Vorgehen ab. Alternativ kann bei ausgeprägten Kontrakturen im Rezidivfall auch eine Arthrodese oder eine Strahlresektion in Betracht gezogen werden.
a
b
c
d
⊡ Abb. 25.21a–d Kontraktur des Dig. V mit Auflösung durch Z-Plastik. a Schnittführung. Es erfolgt ein gerader Schnitt in der Mitte des Fingers (b), der nachfolgend durch eine Z-Plastik aufgelöst wird (c, d). Die jeweiligen Schnittkanten sind gekennzeichnet (a). A–D korrespondierende Hautlappen vor und nach Verschiebung
633 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
Nachbehandlung
Kompressionsverband und/oder Wunddrainage, Hochlagerung. Nach einer Vollhauttransplantation erfolgt die Anlage eines Überknüpfverbands, der 5 Tage belassen wird. Intensive tägliche eigentätige und krankengymnastische Bewegungsübungen und Eisanwendungen sind angezeigt. Nach erfolgter Arthrolyse einer PIP-Gelenkkontraktur wird eine kontinuierliche Schienenbehandlung für 6 Wochen empfohlen (ggf. danach für 3 Monate noch nachts). Bei Bedarf Ergotherapie. Bei anhaltender Schwellung sind Lymphdrainage, Kompressionsfingerling oder Kompressionshandschuh indiziert.
25.1.4
Nervenkompressionssyndrome
An der oberen Extremität passieren die Nerven mehrere potenzielle Engstellen, an denen es zu einer Kompression kommen kann. Die Kompressionsmechanismen sind unterschiedlich. Während der N. medianus im Karpalkanal eher einem kontinuierlichen Druck ausgesetzt ist, wird der N. radialis beim Supinatorsyndrom nur intermittierend durch Kontraktion des M. supinator bei repetitiven Umwendbewegungen des Unterarms irritiert. Die Kompression der Nerven führt zunächst zu einer Störung des Blutab- und später auch des Blutzuflusses. Es folgt eine Ischämie, wobei das Ausmaß der Nervenschädigung von der Dauer und Stärke der Kompression abhängt.
Pronator-teres-Syndrom z
Definition
Bewegungs- und belastungsabhängig auftretendes Kompressionssyndrom des N. medianus, am ehesten durch den scharfen Rand der Aponeurosis musculi bicipitis brachii, den hypertrophierten Muskelbauch des M. pronator teres oder den sehnigen Ursprung des M. flexor digitorum superficialis ausgelöst.
Pronator-teres- oder Karpaltunnelsyndrom? Beide können ähnliche Schmerzen und sensomotorische Störungen aufweisen. Neurophysiologische Werte und das Hoffmann-Tinel-Zeichen sind beim Pronator-teres-Syndrom am Handgelenk normal.
Nervus-interosseus-anterior-Syndrom z
z
Diagnostik
Klinisch stehen Schmerzen in der Ellenbeuge mit Ausstrahlung im Versorgungsgebiet des Nerven im Vordergrund, sensible oder motorische Störungen können auftreten. Häufig bestehen Schwächegefühle im gesamten Arm. Druckschmerz mit Hoffmann-Tinel-Zeichen an der Kompressionsstelle. Die Schmerzen können durch wiederholte Pro- und Supinationsbewegungen ausgelöst werden. Neurophysiologische Untersuchungen sind häufig unauffällig (Olehnik 1994), wahrscheinlich, weil die Symptome nur intermittierend auftreten und von Unterarmstellung und Muskelkontraktion abhängen. > Als Hoffmann-Tinel-Zeichen bezeichnet man Parästhesien, die bei der Perkussion eines geschädigten Nerven in dessen Versorgungsgebiet auftreten ( Abschn. 25.1.1). z
Therapie
Die konservative Therapie besteht in kurzzeitiger Anlage einer Oberarmgipsschiene und NSAR. Bei Persistenz oder Progredienz erfolgt die operative Neurolyse.
Diagnostik
Klinisch bestehen Schmerzen im proximalen Unterarm und, je nach Grad der Nervenschädigung, motorische Ausfälle. Typisch ist die Beugeschwäche im Daumen- und Zeigefingerendgelenk, sodass der Spitzgriff nicht normal vorgeführt werden kann. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen pathologische Befunde in den betroffenen Muskeln (M. flexor pollicis longus, M. flexor digitorum profundus II und III). z
Therapie
Bei signifikanter muskulärer Schwäche und eindeutigem klinischem und neurographischem Befund ist die operative Neurolyse indiziert.
Karpaltunnelsyndrom z
Definition
Durch Druck ausgelöste Irritation des N. medianus im Karpalkanal. z
z
Definition
Dieser rein motorische Nerv entspringt ca. 2–8 cm distal des medialen Epikondylus aus dem N. medianus und kann durch den Muskelbauch des M. pronator teres, des M. flexor digitorum superficialis III oder durch akzessorische Muskeln komprimiert werden. Auch in Fehlstellung verheilte Frakturen sind als mögliche Ursachen in Betracht zu ziehen.
Epidemiologie
Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) ist das häufigstes Nervenkompressionssyndrom mit einer Inzidenz von 3,5 Fällen auf 1000 Einwohner und Jahr (Nordstrom 1998). Es tritt bevorzugt bei Erwachsenen zwischen dem 40. und 70. Lebensjahr auf, kommt aber auch bei Jugendlichen vor (Assmus et al 2007). z
Ätiologie und Pathogenese
Die Auslöser für die Druckzunahme im Karpalkanal sind multifaktoriell. Es kommen beispielsweise hormonell oder entzündlich bedingte Schwellungszustände der Sehnen (bei rheumatoider Arthritis oder Gicht) und tumor- oder tumorähnliche Raumforderungen (Ganglien, Gichttophi) in Betracht. z
Diagnostik
Im Anfangsstadium klagen die Patienten über ein Einschlafen der Hände (vorwiegend nachts, aber auch bei bestimmten Tätigkeiten). Später kommt es zu einer verminderten Gefühlsempfindung im Versorgungsbereich des N. medianus mit elektrisierenden Missempfindungen und zu einer Daumenballenatrophie mit Muskelschwäche für die Abduktion und Opposition.
25
634
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25 a ⊡ Abb. 25.23 Zeichen der chronischen Kompression des N. medianus im Karpalkanal nach Spaltung des Retinaculum flexorum. Gelber Pfeil N. medianus mit deutlicher Kompression unterhalb des Retinaculum flexorum, grüner Pfeil radialer Rand des Retinaculum flexorum
> Die sensible und motorische Neurographie sind zuverlässige Methoden zum Nachweis des chronischen KTS, die klinische Symptomatik muss jedoch zum Bild eines KTS passen. Dabei ist zu bedenken, dass die klinische Symptomatik den neurographisch messbaren Veränderungen vorausgeht. z Therapie z z Konservative Therapie
Im Frühstadium ist ein konservativer Behandlungsversuch durch eine palmare Handgelenkschiene oder durch eine lokale Infiltration mit Kortikoiden gerechtfertigt. z z Operative Therapie
b ⊡ Abb. 25.22a,b Offene Spaltung des Retinaculum flexorum. a Der Schnitt erfolgt von ventral in der Hohlhand. b Nach der Spaltung der Palmaraponeurose wird das Retinakulum dargestellt und das subkutane Areal bis zur Unterarmfaszie untertunnelt. Nach Einsetzen der Haken ist das Retinakulum komplett nach proximal einsehbar und kann gefahrlos gespalten werden (Pfeil)
Beim Phalen-Test wird das Handgelenk in Beugung gehalten und die Zeit bis zum Auftreten der Parästhesien gemessen. Ein positiver Test nach 15 s spricht für das Vorliegen eines KTS. Beim Hoffmann-Tinel-Zeichen wird der N. medianus proximal der Handgelenksbeugefurche beklopft. Bei positivem Zeichen kommt es zu einem Elektrisieren bis in die Fingerspitzen im Versorgungsbereich des Nerven. Diese Provokationstests sind im Frühstadium der Erkrankung von klinischem Wert, auch wenn sie weniger verlässlich sind als die elektrophysiologische Diagnostik (Buch-Jaeger 1994).
Bei eindeutigem klinischem Befund (nach Möglichkeit neurographisch bestätigt) mit erheblichen Beschwerden und konservativ frustraner Behandlung sollte eine Neurolyse durchgeführt werden. Zwei Verfahren haben sich etabliert: ▬ Die offene Retinakulumspaltung mit ausreichend großer Inzision, um eine gute Übersicht zu gewährleisten (⊡ Abb. 25.22 u. ⊡ Abb. 25.23). Die Operation sollte in Blutsperre oder Blutleere erfolgen, der Ramus palmaris sowie der motorische Ast zum Daumen müssen geschont werden. Eine interfaszikuläre Neurolyse führt zu schlechteren Ergebnissen (Chapell 2003) und sollte daher unterbleiben. ▬ Bei der endokopischen Retinakulumspaltung werden entweder in der monoportalen Technik nach Agee oder in der biportalen Technik nach Chow jeweils unter endoskopischer Sicht das Retinakulum gespalten. Die bisherigen Ergebnisse in der Literatur (Benson 2006) zeigen keinen Vorteil der offenen gengenüber der endoskopischen Technik im Hinblick auf Komplikationen (Nerven- oder Gefäßschäden), wobei zu bedenken ist, dass die endoskopischen Methoden mehr Erfahrung vom Operateur verlangen und mehr Operationszeit in Anspruch nehmen.
635 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
Sulcus-ulnaris-Syndrom z
Definition
Das Sulcus-ulnaris-Syndrom ist das zweithäufigste Nervenkompressionssyndrom an der oberen Extremität. z
Ätiologie und Pathogenese
Der N. ulnaris muss bei der Ellenbeugung und -streckung über eine Strecke von 5 mm gleiten. Er ist daher weniger einer permanenten Kompression als vielmehr einer ständigen Reibung und Dehnung ausgesetzt. Daher kann es zu einer Irritation im Sulkus oder am Eintritt unter die enge Faszie des M. flexor carpi ulnaris kommen. Eine Luxation des N. ulnaris kann, muss aber nicht, zur chronischen Irritation führen. Sie ist bei 16% der Normalpersonen vorhanden (Borisch 1996). Zur Einengung des Sulkus kann es posttraumatisch, durch Synovialitis bei rheumatoider Arthritis oder aber durch Ganglien kommen. z
Diagnostik
Klinisch bestehen Schmerzen mit Ausstrahlung in den ulnarseitigen Unterarm und Parästhesien von Klein- und Ringfinger und Hypothenar mit Atrophie der Mm. interossei. Positives Fromment-Zeichen (der Patient ist nicht in der Lage, ein Blatt Papier zwischen gestrecktem Daumen und Zeigefingergrundgelenk einzuklemmen, da der M. adductor pollicis paretisch ist). Neurophysiologische Untersuchungen sind in der Regel positiv. z
⊡ Abb. 25.24 Zustand nach Neurolyse des N. ulnaris im Sulkus. Der Nerv wird bis zu seinem Eintritt in den M. flexor carpi ulnaris freigelegt. Gelber Pfeil N. ulnaris, grüner Pfeil Epicondylus ulnaris
Therapie
Bei geringen Beschwerden wird konservativ behandelt. Die operative Therapie ist bei Persistenz oder Progredienz und relevanten sensomotorischen Störungen indiziert. Eine relative Operationsindikation besteht bei älteren Patienten mit rein sensiblem Defizit. Die Operation kann als Neurolyse mit und ohne palmare Verlagerung des Nerven durchgeführt werden (⊡ Abb. 25.24). Die routinemäßige palmare Verlagerung des Nerven wird von einigen Autoren kritisch gesehen (Balogh 1997).
Proximales Radialiskompressionssyndrom z
Definition
Druckschädigung des N. radialis am Septum intermusculare radiale, z. B. durch Tumoren oder Kallusbildung. z
Diagnostik
Klinisch bestehen ziehende Schmerzen am radialen Oberarm, es kann zu sensiblen oder motorischen Ausfällen kommen (Fallhand). Druckschmerz , evtl. positives Hoffmann-Tinel-Zeichen bei Beklopfen des Radialisstammes. Sensibilitätsminderung am radialen Ellenbogengelenk und auf der Unterarmstreckseite. z
Therapie
Konservative Therapie kurzzeitig durch eine Oberarmgipsschiene und NSAR. Bei Persistenz oder Progredienz operative Neurolyse.
Guyon-Logensyndrom
Supinatorsyndrom
z
z
Definition
Kompression in der Guyon-Loge oder des motorischen Astes des N. ulnaris im distalen Bereich. z
Definition
Druckschädigung des Ramus profundus des N. radialis im Bereich der Abzweigung vom Radialisstamm (meist durch den Sehnenspiegel der Frohse-Arkade, selten im M. supinator.
Diagnostik
Die Patienten klagen über Schmerzen in Kombination mit Parästhesien von Klein-, Ringfinger und Hypothenar. Die Symptome sind die gleichen wie beim Sulcus-ulnaris-Syndrom, bis auf ein über der Guyon-Loge positives Hoffmann-Tinel-Zeichen und eine intakte Sensibilität am Handrücken. Typisch ist auch eine rasch progrediente komplette Lähmung des N. ulnaris. Die neurophysiologische Untersuchung erlaubt in der Regel eine Höhenlokalisation der Störung.
z
Diagnostik
Klinisch bestehen Schmerzen am Ort der Kompression mit Ausstrahlung in den Ober- und Unterarm. Motorische Ausfälle sind selten (Fallhand). Es kommt zu Druckschmerz (Seitenvergleich), Kraftminderung und Schmerzen bei Supination. Die ektrophysiologische Untersuchung ist nicht sehr spezifisch (Völlinger 1998), sodass die Diagnostik klinisch erfolgt.
> Häufig tritt das Syndrom in Kombination mit einem KTS auf und führt zu Parästhesien in allen Fingern!
> Viele Patienten mit bleibenden Schmerzen nach Epikondylitisoperation haben ein gleichzeitiges Supinatorsyndrom!
z
z
Therapie
Operative Therapie bei Progredienz der motorischen Störungen.
Therapie
Kurzzeitig Oberarmgipsschiene und NSAR. Bei Persistenz oder Progredienz operative Neurolyse.
25
636
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Wartenberg-Syndrom Verteilung der Tendovaginitis stenosans (Assmus 2000)
Druckschädigung des Ramus superficialis des Nervus radialis zwischen proximalem und distalem Unterarmdrittel. Der Nerv durchdringt hier die Unterarmfaszie und verläuft zwischen M. brachioradialis und M. extensor carpi radialis longus nach dorsal. z
25
I
Tipp
I
Es sollte auf jeden Fall versucht werden, ein positives Hoffmann-Tinel-Zeichen über der vermuteten Kompressionsstelle auszulösen.
z
Ätiologie und Pathogenese
Die Streckhemmung ist das Ergebnis eines Missverhältnisses zwischen dem Querschnitt der Beugesehne(n) und dem Ringband A1. Die Pathogenese ist primär idiopathisch (überwiegende Mehrheit), diskutiert werden u. a. wiederholte Mikrotraumen, Einzeltraumen und hormonelle Veränderungen. Sekundär kommen entzündliche Prozesse, wie z. B. Gicht, Rheuma, und Stoffwechselerkrankungen, z. B. Diabetes mellitus und Hypothyreose, in Betracht (Newport 1990).
Therapie
Die konservative Therapie besteht aus kurzzeitiger Unterarmgipsschiene und NSAR. Bei Persistenz oder Progredienz operative Neurolyse. Die möglichen sensiblen/motorischen Störungen leiten sich aus der Anatomie ab.
25.1.5
Sehnenerkrankungen
Ringbandstenose z
– Mittelfinger 75-mal – Ringfinger 50-mal – Daumen 47-mal – Kleinfinger 17-mal – Zeigefinger 16-mal ▬ Tendovaginitis stenosans de Quervain (n=18)
Diagnostik
Klinisch bestehen Schmerzen am Ort der Kompression mit Ausstrahlung in den Unterarm. Es zeigen sich Druckschmerz (Seitenvergleich) und Sensibilitätsminderung im Versorgungsgebiet. Die Diagnostik erfolgt durch das Hoffmann-Tinel-Zeichen, elektrophysiologische Untersuchung und Hypästhesieareal.
z
▬ Beugesehnen (n=205)
Synonyme
z
Diagnostik
Häufig zeigt sich dem Untersucher ein typisches Schnappphänomen beim passiven Bewegen des Fingers. Dies ist v. a. in den Morgenstunden sehr ausgeprägt. Im Bereich des Ringbands äußert der Patient nicht selten einen Druckschmerz, der sich beim Bewegen des Fingers verstärken kann. Palmarseitig kann am Mittelhandköpfchen gelegentlich ein verschiebbarer Knoten getastet werden. Im Zweifel besteht die Möglichkeit das Gleitverhalten der Beugesehne(n) per Sonographie genauer zu überprüfen bzw. eine Stenose zu verifizieren.
Tendovaginitis stenosans, schnellender Finger, Trigger-Finger; Pollex flexus congenitus beim Säugling.
z
z
Tenosynovitiden (insbesondere rheumatischer Genese) sind von der Tendovaginitis stenosans abzugrenzen.
Definition
Diese Erkrankung, erstmals veröffentlicht von Notta 1850, stellt eine Einschränkung der Gleitfähigkeit der Beugesehnen, zumeist auf Höhe des A1-Ringbands, dar. Die Extension des Fingers ist typischerweise mit einem erhöhten Kraftaufwand verbunden, es kommt zum »Herausschnellen« des Fingers aus der Beuge- in die Streckstellung. Beim »trigger thumb« des Säuglings handelt es sich um eine angeborene Verdickung der Flexor-pollicis-longus-Sehne. z
Epidemiologie
Die Inzidenz liegt bei 28/100.000 Einwohnern, das Risiko, im Laufe des Lebens eine Tendovaginitis stenosans zu entwickeln, beträgt 2,6%. Es erhöht sich auf 10% bei Diabetikern. Bezogen auf das gesamte Lebensalter sind 2 Peaks zu verzeichnen: Der erste vor dem 9. Lebensjahr, der zweite, größere, in der 5. und 6. Lebensdekade (Akhtar 2005). Frauen im mittleren Lebensalter sind besonders häufig betroffen (Verhälnis Männer zu Frauen 1:6). Die Verteilung auf die einzelnen Finger ist in der Übersicht dargestellt. Eine Komorbidität mit anderen Engpasserkrankungen, z. B. einer Tendovaginitis de Quervain oder einem Karpaltunnelsyndrom, beschreibt Assmus (2000).
Differenzialdiagnose
z Therapie z z Konservative Therapie
Bis dato existiert in der Literatur kein Nachweis, dass NSAR, mit Ausnahme einer temporären Schmerzreduktion, einen weiteren Benefit bei der Tendovaginitis stenosans bewirken (Akhtar 2005). Die Steroidinfiltration erbrachte in durchgeführten Studien eine Erfolgsrate zwischen 38 und 93%. Bessere Ergebnisse wurden hierbei erzielt beim Daumen oder wenn ein Knötchen im Bereich des A1-Ringbands tastbar war. Wiederholte intravaginale Injektionen sind dabei nur halb so effektiv und können zu Sehnenrupturen führen (Newport 1990). Auch eine vorübergehende Schienenbehandlung zur Ruhigstellung kann bei der Behandlung der Tendovaginitis stenosans zum Erfolg führen. Je länger jedoch die Symptomatik besteht, desto geringer sind die Aussichten. z z Operative Therapie
Eine definitive Behandlung des schnellenden Fingers ist nur durch eine Operation möglich: Hierbei erfolgt eine ca. 2–2,5 cm lange quere Inzision im Bereich der distalen Hohlhandfalte.
637 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
Nachdem sowohl das radiale als auch das ulnare Gefäß-Nerven-Bündel dargestellt sind und zur Seite gehalten werden, wird das proximale und distale Ende des Ringbands dargestellt. Schließlich wird es komplett gespalten. Die Sehnen werden im Anschluss auf freies Gleiten überprüft. ! Cave Die Verletzung des Gefäß-Nerven-Bündels ist die häufigste Komplikation.
Postoperativ sollte keinerlei Ruhigstellung erfolgen. Der entsprechende Finger sollte sofort aktiv mobilisiert werden. Perkutanes Needling
Diese verhältnismäßig neue Methode sollte nur bei hyperextendiertem Metakarpophalangealgelenken durchgeführt werden, um hierdurch eine Trennung des A1- vom A2-Ringband zu gewährleisten. Die Erfolgsraten liegen bei über 90%, weshalb diese Methode eine echte Alternative zum offenen operativen Vorgehen darstellt (Park 2004). Problematisch erscheint lediglich die Anwendung am Zeigefinger, da hier das radiale Gefäß-NervenBündel sehr nah gelegen ist. Weitere Komplikationen sind selten.
tal. Der Beschwerdezeitraum beträgt dabei oft mehrere Wochen oder sogar Monate. Zudem finden sich in der Anamnese oft vorausgehende Ereignisse starker Be- oder Überlastung von Handgelenk und Hand. Jegliche Bewegung des Daumens kann schmerzhaft sein, insbesondere jedoch bei zusätzlicher Ulnarduktion des Handgelenks (z. B. Auswringen eines Handtuches). Selten ist bei der Daumenextension ein »Schnappphänomen« erkennbar (Alberton 1999). z z Klinischen Untersuchung
Bei der klinischen Untersuchung zeigt sich inspektorisch eine lokale Weichteilschwellung im Bereich des ersten Strecksehnenfachs. Palpatorisch ist neben dem lokalen Druckschmerz manchmal auch ein Krepitieren der Sehnen erkennbar. Finkelstein-Test
Der Patient umfasst auf der zu prüfenden Seite den Daumen mit seinen Fingern. Der Untersucher bringt das Handgelenk nun in die endgradige Ulnarduktion, was bei positivem Test einen deutlichen Schmerz im Bereich des ersten Strecksehnenfachs provoziert (⊡ Abb. 25.5a).
Tendovaginitis stenosans de Quervain
Brunelli-Test
z
Bei Radialduktion des Handgelenks und endgradiger Abduktion des Daumens werden die Sehnen des ersten Strecksehnenfachs gegen das Extensorenretinakulum »gerieben« (Brunelli 2003).
Synonyme
Quervain-Krankheit, »Hausfrauendaumen«. z
Definition
Strukturelles Engpasssyndrom des ersten Strecksehnenfachs am Handgelenk, bezeichnet nach seinem Erstbeschreiber, dem Schweizer Chirurgen Fritz de Quervain (1895). z
Epidemiologie
Frauen sind wesentlich häufiger betroffen als Männer (Verhältnis Männer zu Frauen 6:1; Ilyas 2007). Weitere Risikofaktoren für eine Tendovaginitis de Quervain sind Alter (>40 Jahre) und Rasse (1,6-fach höheres Risiko bei schwarzer Hautfarbe; Wolf 2009). z
Ätiologie und Pathogenese
Bei entsprechender Prädisposition können Überbeanspruchungen mit wiederholten Abduktions- und Extensionsbewegungen des Daumens sowie Seitwärtsbewegungen des Handgelenks ursächlich für die Entstehung einer Tendovaginitis de Quervain sein, z. B. wiederholte Hammerschläge oder bei professionellen Volleyballspielern (Rossi 2005). In vielen Fällen bleibt die Ätiologie unklar. Die genaue Entstehung dieser Erkrankung ist unklar. Betroffen sind die Sehnenscheiden der Mm. abductor pollicis longus und extensor pollicis brevis. In den jüngsten Untersuchungen zur Histopathologie der Tendovaginitis de Quervain fand man myxoiddegenerierte, verdickte Sehnenscheiden ohne Hinweis für einen inflammatorischen Prozess (Clarke 1998). z Diagnostik z z Anamnese
Patienten äußern streng radialseitig am Handgelenk lokalisierte Schmerzen, häufig mit Ausstrahlungen nach proximal und dis-
z z Bildgebende Verfahren
Eine ergänzende röntgenologische Darstellung des Handgelenks in 2 Ebenen ist sinnvoll. Hierbei können Knochenvorsprünge lokalisiert werden, die eine Tendovaginitis de Quervain begünstigen. Ebenso kann differenzialdiagnostisch z. B. periskaphoidäre arthrotische Veränderungen abgegrenzt werden. z
Differenzialdiagnosen
Bei der Rhizarthrose (Daumensattelgelenkarthrose) besteht ein eindeutig lokalisierbarer (Druck-)Schmerz im Daumensattelgelenk, klinisch oft mit bereits ausgeprägter Adduktionskontraktur des ersten Mittelhandknochens. Rhizarthrose wie auch radiokarpale arthrotische Veränderungen lassen sich radiologisch verifiziren ( Abschn. 25.1.6). Bei der Styloiditis radii (Insertionstendopathie des M. brachioradialis) existiert ein isolierter Druckschmerz am Proc. styloideus radii, ohne Ausstrahlung zum Daumen, der Finkelstein-Test ist negativ. Schmerzprovokation bei Handgelenksextension und ein lokaler Druckschmerz (evtl. Schwellung) ca. 2–3 cm proximal der Tabatière ist differenzialdiagnostisch hinweisgebend für ein (seltenes) Intersektionssyndrom (Tendovaginitis der Sehnen des zweiten Strecksehnenfachs, ausgelöst an der Überkreuzungsstelle der radialen Handgelenkstrecksehnen über die Sehnen des ersten Strecksehnenfachs). Das Wartenberg-Syndrom (distales Radialiskompressionssyndrom) ist durch ein negatives Hoffmann-Tinel-Zeichen sowie eine fehlende Hypästhesie im Radialisgebiet gut abgrenzbar. Darüber hinaus gilt es, weitere Ursachen für eine Tendovaginitis des ersten Strecksehnenfachs abzugrenzen. Auch hor-
25
638
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Verletzungen des Ramus superficialis des N. radialis als häufigste Komplikationen beschrieben.
25.1.6
Degenerative Erkrankungen an der Hand
Rhizarthrose z
Synonyme
Arthrose des Karpometakarpalgelenks I, Daumensattelgelenkarthrose, »thumb basal joint arthritis«.
25
z
⊡ Abb. 25.25 Vollständige Spaltung des ersten Strecksehnenfachs
monelle Einflüsse können hierbei eine Rolle spielen. So kommt es zu einem gehäuften Auftreten insbesondere in Schwangerschaft und Stillzeit, wenngleich die Schmerzsymptomatik in diesen Fällen oft selbstlimitierend verläuft (Avci 2002). Formveränderungen des ersten Strecksehnenfachs (z. B. nach distalen Radiusfrakturen) oder Veränderungen rheumatischer Genese können ebenfalls zur Symptomatik einer Tendovaginitis de Quervain führen. Die Therapie richtet sich dabei nach der Ursache. z Therapie z z Konservative Therapie
Im Frühstadium ist neben lokaler Eisanwendung auch eine systemische antiphlogistische Therapie möglich. Zudem kann eine kurzzeitige Ruhigstellung (z. B. mittels einer palmaren Gipsschiene) zum Therapieerfolg führen. Additiv zur Schienenbehandlung kann eine lokale Kortikoidinfiltration (z. B. unter Verwendung von Triamcinolon) durchgeführt werden. z z Operative Therapie
Bei anhaltender Beschwerdesymptomatik trotz konservativer Therapiemaßnahmen ist ein operatives Angehen indiziert, und zwar die Spaltung des ersten Strecksehnenfachs. Die Inzision erfolgt in Längsrichtung, beginnend über dem Proc. styloideus radii im Sehnenverlauf auf einer Länge von ca. 4 cm. Subkutan sind insbesondere die Endäste des Ramus superficialis des N. radialis zu beachten. Nach Darstellung des ersten Strecksehnenfachs wird dieses mit allen Septierungen komplett längs gespalten (⊡ Abb. 25.25) und die Sehnen einzeln exploriert. > Im Rahmen der Nachbehandlung ist keine Ruhigstellung mehr notwendig, es kann sofort mit freifunktioneller Beübung des Handgelenks und des Daumens begonnen werden. Komplikationen
Neben einer unvollständigen Spaltung des Strecksehnenfachs bzw. dem Nichterkennen eines akzessorischen Fachs werden
Ätiologie und Pathogenese
Die primäre, idiopathische Form betrifft v. a. Frauen in der Postmenopause. Nicht selten besteht ein beidseitiger Befall. Bei der sekundären Form unterscheidet man die posttraumatische Rhizarthrose nach Frakturen der Basis des Metakarpale I (z. B. Typ Bennett oder Rolando) von der entzündlichen Daumensattelgelenkveränderung bei rheumatoider Arthritis oder Arthritis urica. Insbesondere biomechanische Untersuchungen haben sich in den letzten Jahren mit der Entstehung der Daumensattelgelenkarthrose auseinandergesetzt. Die genaue Pathogenese ist jedoch bis heute nicht eindeutig geklärt. Aufgrund seiner biomechanischen und anatomischen Besonderheiten muss das Sattelgelenk enormen mechanischen Ansprüchen genügen. Eine überdurchschnittliche Bandlaxizität, wie sie u. a. bei Frauen nach der Menopause durch hormonelle Einflüsse häufig auftritt, kann eine Subluxation der Basis des Metakarpale I begünstigen. Hierbei gilt v. a. das Lig. metacarpeum dorsale I als wichtigster Stabilisator des Metakarpale I. Koebke und Mitarbeiter (1982) berichten von einer kompensatorischen Verknöcherung des genannten Bands an der Basis des Metakarpale II als Zeichen der Überbeanspruchung des Sattelgelenks und somit als frühradiologisches Zeichen der Rhizarthrose. Im Gegensatz zum kongruenten Aufeinandergleiten der Sattelflächen bei Flexion/Extension und Abduktion/Adduktion kommt es bei der Oppositionsbewegung zu einer Inkongruenz der Gelenkflächen. Diese artikulieren dann punktförmig aufgrund einer Rotationsbewegung des ersten Mittelhandknochens. Die Folge ist eine hohe Druckbelastung, was konsekutiv zur Degeneration des Gelenkknorpels führen kann. Brunelli und Mitarbeiter (1989) sahen daneben auch ein primäres Ungleichgewicht der Muskulatur des Daumens als mögliche Ursache für die Entstehung einer Rhizarthrose an. In der Entstehung der Rhizarthrose führt eine zunehmende Degeneration zu einer fortschreitenden Subluxationsstellung mit Adduktionskontraktur des Daumensattelgelenks. Zusätzlich erkennt man häufig eine kompensatorische Hyperextension im Grundgelenk (⊡ Abb. 25.26). z
Epidemiologie
Die Rhizarthrose ist nach der Fingerendgelenkarthrose die zweithäufigste Arthroseform an der Hand. Die Inzidenz liegt bei 10,5%. Hierbei ist das weibliche Geschlecht ca. 10-mal häufiger betroffen. Die Arthrose des Daumensattelgelenks betrifft mehr als 30% der Frauen jenseits des 50. Lebensjahres.
639 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
b
⊡ Abb. 25.26a,b Klinisches Bild der Rhizarthrose mit Adduktionskontraktur des Metakarpale I und kompensatorischer Hyperextension im Daumengrundgelenk a
b
⊡ Abb. 25.28a,b Röntgenaufnahmen einer Rhizarthrose mit Markierung der radiologischen Darstellungskriterien. a Kapandji I, b Kapandji II
Mittelhandknochens und zu einer Hyperextensionsstellung im Daumengrundgelenk. Diese Zusatzkriterien radiologisch darzustellen, muss das Ziel einer guten Röntgenaufnahmetechnik sein. Aus diesem Grund empfehlen wir die Aufnahmetechnik nach Kapandji (⊡ Abb. 25.28). Die radiologischen Stadien der Rhizarthrose sind in ⊡ Tab. 25.4 dargestellt. ⊡ Abb. 25.27 Ausgeprägte Hypotrophie der intrinsischen Thenarmuskulatur
Anforderungen an die radiologische Darstellung des Daumensattelgelenks Dargestellt sein sollten: ▬ konvexer und konkaver Trapeziumanteil ▬ Subluxationsstellung der Metakarpale-I-Basis ▬ erster Intermetakarpalspalt ▬ Daumengrundgelenk ▬ STT-Gelenk (differenzialdiagnostisch)
z Diagnostik z z Anamnese
Zunächst treten belastungsabhängige Schmerzen im Bereich des Daumensattelgelenks auf, später sogar Ruheschmerzen. Dies betrifft insbesondere den Alltag der Patienten, wenn beispielsweise Gegenstände aus der Hand fallen. Typisch sind Schwellungen und Druckschmerz im Bereich des Daumensattels, häufig mit einer typischen Adduktionskontraktur des ersten Mittelhandknochens. In fortgeschritteneren Stadien kann die Repositionsbewegung deutlich eingeschränkt bzw. schmerzhaft sein. Hierbei erkennt man oft eine Hyperextension im Daumengrundgelenk, nicht selten mit einer bereits hypotrophierten, intrinsischen Daumenmuskulatur (⊡ Abb. 25.27).
z
Differenzialdiagnose
Bei der STT-Arthrose zeigt sich eine freie Beweglichkeit im Daumensattel, radiologisch ist eine eindeutige Abgrenzung möglich. Bei der rheumatoiden Arthritis sind v. a. die Grundgelenke und das Handgelenk befallen, eine serologische Abklärung ist nicht immer positiv.
z z Bildgebende Verfahren
z Therapie z z Konservative Therapie
Die Röntgenaufnahmen zeigen die charakteristischen Arthrosezeichen im Daumensattelgelenk, mit einer häufig erkennbaren Osteophytenbildung des Os trapezium im ersten Intermetakarpalspalt. In fortgeschrittenen Stadien kommt es darüber hinaus zu einer zunehmenden Subluxationsstellung des ersten
Nichtsteroidale Antirheumatika, Wärmeapplikation und physikalische Therapiemaßnahmen wie auch Steroidinfiltrationen können in frühen Stadien Linderung bringen. Auch können Daumenabduktions- und Mittelhandorthesen eine Beschwerdebesserung bewirken.
25
640
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Tab. 25.4 Radiologische Stadien der Rhizarthrose Stadium
Beschreibung
I
Geringe Erweiterung des Gelenkspaltes, normale Gelenkkonturen, weniger als 1⁄3 der Metakarpale I-Basis stehen subluxiert
II
Signifikante Laxizität der Gelenkkapsel, leichte Osteophytenbildung, mindestens 1⁄3 der Metakarpale-I-Basis stehen subluxiert
III
Subluxation beträgt mehr als 1⁄3 der Gelenkfläche, geringe Gelenkspaltverschmälerung, größere Osteophyten sind erkennbar (>2 mm)
IV
Ausgeprägteste Subluxation, sehr enger Gelenkspalt mit zystischen und sklerotischen Veränderungen der Gelenkflächen, signifikante Erosionen an der dorsoradialen Facette des Trapeziums
25
z z Operative Therapie
In fortgeschrittenen Stadien oder nach frustranem, konservativem Behandlungsversuch sollte eine operative Behandlungsstrategie unternommen werden. Deutlich bessere Erfolgsaussichten ergeben sich hierbei, wenn die operative Versorgung vor dem Auftreten einer ausgeprägten Adduktionskontraktur sowie einer Hyperextension im Daumengrundgelenk durchgeführt wird. Die Indikation zu einem bestimmten operativen Verfahren ist stadienabhängig zu stellen (⊡ Tab. 25.4). Im Stadium I der Rhizarthrose (Frühstadium) sind ggf. Ligamentrekonstruktionen möglich. Bei fortgeschrittenen Veränderungen sind Resektionsarthroplastiken die Therapie der Wahl. Der endoprothetische Sattelgelenkersatz und die Arthrodese sind als alternative Therapien möglich und können unter gewissen Voraussetzungen zu guten Ergebnissen führen. Unser Verfahren der Wahl ist die Resektions-SuspensionsArthroplastik nach Epping: Nach Trapezektomie erfolgt eine Suspension der Basis des Metakarpale I mit einem distal gestielten Sehnenstreifen des M. flexor carpi radialis (FCRSehne). Der operative Ablauf der Resektions-/Suspensionsarthroplastik nach Epping ist in den ⊡ Abb. 25.29 bis ⊡ Abb. 25.35 dargestellt. Tipp
I
⊡ Abb. 25.29 Dorsoradialer Hautschnitt, leicht nach palmar geschwungen
MC-I-Basis
I
R. superf. N. radialis
Unser Schema der Nachbehandlung umfasst postoperativ ein 3-wöchiges Tragen eines Daumeneinschluss-Casts sowie im Anschluss einer Daumenmittelhandhülse bis zum abgeschlossenen dritten postoperativen Monat.
Skaphotrapeziotrapezoidale Arthrose z
Synonyme
STT-Arthrose, »triscaphe joint osteoarthritis«. z
Definition
Arthrotische Veränderungen der Handwurzel im Bereich zwischen Os scaphoideum, Os trapezium und Os trapezoideum. z
⊡ Abb. 25.30 Darstellung des Ramus superficialis des N. radialis
Epidemiologie
Arthrotische Veränderungen im STT-Gelenk gelten als zweithäufigste Lokalisation für degenerative Erkrankungen am Handgelenk. Der isolierten STT-Arthrose, vornehmlich bei postmenopausalen Frauen auftretend, wird eine Inzidenz von 2% zugeschrieben (Armstrong 1994).
z
Ätiologie und Pathogenese
Von einer primären, idiopathischen Form der STT-Arthrose mit unklarer Ursache unterscheidet man das sekundäre Auftreten, z. B. als Folge von Frakturen benachbarter Knochen. Auch skapholunäre Bandläsionen) oder Skaphoidfrakturen
641 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
A. radialis MC-I-Basis
FCR-Sehnenstreifen
MC-I-Basis
⊡ Abb. 25.31 Darstellung und Anschlingen der A. radialis
⊡ Abb. 25.34 Nach Präparation des distal gestielten Sehnenstreifens der FCR-Sehne, erfolgt ein stufenweises Aufbohren der Basis des Metakarpale I (MC-I-Basis)
⊡ Abb. 25.32 Axiales Durchtrennen der Gelenkkapsel des Daumensattelgelenks
⊡ Abb. 25.35 Durchfädeln des Sehnenstreifens, der in der Tiefe mit sich selbst vernäht wird
Gelenkfläche zum Trapezoid
FCR-Sehne
Distale Scaphoidgelenkfläche
bzw. -pseudarthrosen (vgl. »SNAC-Wrist«, Radiokarpalarthrosen, s. unten) können sekundär zu STT-Arthrosen führen. Beide letztgenannten Folgeerscheinungen führen zu einer Rotationssubluxationsfehlstellung des Skaphoids (RSS) und somit zu einer Inkongruenz u. a. der STT-Gelenkanteile. z Diagnostik z z Anamnese
Die idiopathische STT-Arthrose bleibt meistens klinisch stumm oder zeigt sich als radiologischer Zufallsbefund. Bei symptomatischem Verlauf werden Schmerzen im Bereich der radialen Handwurzel geäußert, insbesondere beim Grobgriff. Bei den sekundären Formen stehen andere klinische und radiologische Symptome im Vordergrund. z z Klinische Untersuchung
⊡ Abb. 25.33 Trapezium vollständig entfernt
Klinisch imponiert zumeist eine Schwellung in der Tabatière sowie Druck- und Bewegungsschmerz im Bereich des distalen
25
642
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25
a
b
⊡ Abb. 25.36a,b Röntgenaufnahmen einer STT-Arthrose in der Technik nach Kapandji. a Kapandji I, b Kapandji II
Skaphoidpols. Die Beweglichkeit des Daumensattelgelenks ist (schmerz-)frei. Auch der Bewegungsumfang des Handgelenks ist in der Regel nicht eingeschränkt. z z Bildgebende Verfahren
Röntgenaufnahmen des Handgelenks zeigen meist ausgeprägte Sklerosierungen bei nahezu aufgehobenem Gelenkspalt zwischen Skaphoid, Trapezium und Trapezoideum (⊡ Abb. 25.36). z
Differenzialdiagnose
Bei der Rhizarthrose ist der Bewegungsumfang im Bereich des Daumensattelgelenks zumeist deutlich schmerzhaft eingeschränkt. Darüber hinaus bietet sich dem Untersucher das Bild der typischen Adduktionskontraktur des Daumens. z
Therapie
Bei entsprechender Schmerzsymptomatik ist die operative Behandlung mittels STT-Arthrodese indiziert, welches hinsichtlich Griffstärke, Beweglichkeit und Schmerzfreiheit das Verfahren der Wahl darstellt (Meier 2003, Srinivasan 1996). Tritt gleichzeitig eine Daumensattelgelenkarthrose auf, so ist eine Versorgung mit Resektions-Suspensions-Arthroplastik in Verbindung mit einer Teilresektion des Trapezoideum möglich.
Arthrosen der Langfingergrundgelenke z
⊡ Abb. 25.37 Röntgenbild einer Fingergrundgelenkarthrose
z
Ätiologie und Pathogenese
Selten vorkommende primäre Arthrose. Bei einer Beteiligung der MP-II- und -III-Gelenke sollte eine weitere Abklärung hinsichtlich einer Hämochromatose erfolgen. Demgegenüber stehen die wesentlich häufigeren sekundären Arthroseformen: Sie entstehen im Wesentlichen entweder posttraumatisch (z. B. nach Frakturen mit Fingergrundgelenkbeteiligung) oder im Verlauf der rheumatoiden Arthritis. z
Diagnostik
Geschildert werden v. a. Schmerzen und Beweglichkeitseinschränkungen in den betroffenen Gelenken. Klinisch zeigen sich neben der Bewegungseinschränkung auch zum Teil ausgeprägte Schwellungen mit Schmerzprovokation, z. B. beim Händedruck. Die Röntgenaufnahmen zeigen arthrosetypische Veränderungen in den entsprechenden Fingergrundgelenken (⊡ Abb. 25.37). z
Therapie
Nichtsteroidale Antirheumatika und intraartikuläre Steroidinfiltrationen können in frühen Stadien zu einer Beschwerdelinderung führen. In fortgeschrittenem Arthrosestadium und nach Ausschöpfen der konservativen Therapie ist die Implantation einer Endoprothese indiziert (⊡ Abb. 25.38). Alternativ sind die Implantation von Silikon-Spacern oder Resektionsarthroplastiken mit Kapselinterposition möglich.
Synonyme
Metakarpophalangealgelenkarthrose der Dig. II–DV, MP-Gelenkarthrose
> Fingergrundgelenkarthrodesen sind aufgrund der damit verbundenen Bewegungseinschränkung kontraindiziert.
643 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
arthrotische Veränderungen auf als an den Fingerendgelenken (Wilder 2006). z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist seit der Erstbeschreibung von 1887 durch Bouchard nach wie vor unbekannt. Eine alleinige, primäre Fingermittelgelenkarthrose ist selten, häufiger tritt sie im Rahmen einer Fingerpolyarthrose auf. Wie bei der Arthroseentstehung an anderen Gelenken sind auch die Veränderungen des Fingermittelgelenks zunächst reduziert auf Knorpelschäden in Verbindung mit Gelenkschwellungen. Im Verlauf treten neben osteophytären Anbauten an der Knorpelknochengrenze auch gelegentlich Zystenbildungen sowie Sklerosierungen auf. Die Knochenanbauten sind besonders seitlich und dorsal zwischen den Strecksehnenzügeln und den Kollateralbändern zu finden (Alexander 1999). z
Diagnostik
Das klinische Bild zeigt ein spindelförmig aufgetriebenes PIPGelenk, zum Teil mit seitlicher Deviation oder Rotationsfehlstellung. Beugekontrakturen und Beugehemmungen nehmen im Verlauf zu. Druck- und Bewegungsschmerzen werden von den Patienten beklagt. Das Röntgenbild zeigt die typischen arthrotischen Veränderungen: Gelenkspaltverschmälerungen bis -aufhebungen, subchondrale Sklerosierung, osteophytäre Anbauten und Geröllzysten.
a
z
Differenzialdiagnosen
▬ Posttraumatische Arthrose: Traumaanamnese, in der Regel auf ein Gelenk beschränkt ▬ rheumatoide Arthritis: befällt v. a. die Fingergrundgelenke; begleitende destruierende, lytische Prozesse sind radiologisch zu erkennen (z. B. Usuren); gelenknahe osteoporotische Veränderungen ▬ Psoriasisarthritis: Befall eines Strahls, entsprechende dermatologische Veränderungen sind hinweisgebend (z. B. Tüpfelnägel, Auspitz-Phänomen etc.) z Therapie z z Konservative Therapie
b ⊡ Abb. 25.38a,b Implantierte Pyrocarbonprothese am Grundgelenk des Mittelfingers. a Intraoperatives Bild, b postoperative Röntgenkontrolle in 2 Ebenen
In frühen Stadien können konservative Therapiemaßnahmen wie Wärmeanwendungen, NSAR oder intraartikuläre Steroidinjektionen Schmerzfreiheit und Linderung bringen. z z Operative Therapie
Bouchard-Arthrose z
Definition
Idiopathische, primäre Arthrose des Fingermittelgelenks (PIP). z
Epidemiologie
Ein doppelseitiges, symmetrisches Auftreten ist gehäuft zu finden. Die Geschlechterverteilung ist ausgeglichen. Im Vordergrund steht der Befall von Zeige- und Ringfinger. Die Prävalenz an der dominanten Hand wird von manchen Studien als höher eingestuft, auch treten an den Fingermittelgelenken seltener
Als therapeutische Lösung können die Arthrodese, Endoprothese (⊡ Abb. 25.39) oder Resektionsarthroplastiken in Betracht gezogen werden. Je nach Anforderungen des Patienten gibt die Arthrodese mehr Stabilität. Die Winkelstellung sollte im Gespräch mit dem Patienten gemeinsam bestimmt werden. Die Flexion sollte zunehmend von Dig. II bis Dig. V zwischen 20° und 40° betragen. Zur Osteosynthese können Platte, Zugschraube oder Zuggurtung verwendet werden. Zum alloarthroplastischen Ersatz bietet der Markt verschiedenste Endoprothesenmodelle. Die Entwicklung hinsichtlich Materialien und Implantiertechnik schreitet auch hier stetig
25
644
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
z
Epidemiologie
Etwa 13% der Bevölkerung sind davon betroffen. Bei Frauen tritt die Heberden-Arthrose ca. 10-mal häufiger auf als bei Männern, wobei oft ein symmetrischer Befall zu beobachten ist. z
Diagnostik
Zu Beginn treten schubweise, zum Teil belastungsabhängige Schmerzen. Im weiteren Verlauf steht die Bewegungseinschränkung und die fortschreitende Deformierung im Vordergrund. Schmerzen können in späteren Stadien rückläufig sein. Radiologisch zeigt sich anfangs eine Verschmälerung des Gelenkspaltes, später sind zum Teil massive Osteophyten und eingebrochene Geröllzysten erkennbar, die indirekt zur Fehlstellung führen können.
25
z
⊡ Abb. 25.39 Fingermittelgelenkendoprothese (Pyrocarbon)
voran, befindet sich aber noch nicht auf dem Stand der Knieoder Hüftendoprothetik.
Heberden-Arthrose z
Definition
Idiopathische, primäre Arthrose des Fingerendgelenks. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologie bis dato nicht eindeutig bekannt. Erstbeschreibung durch Heberden 1802. Folgende Einflussfaktoren spielen bei der Entstehung eine Rolle: ▬ Belastung: Wie auch bei der Fingermittelgelenkarthrose tritt ein häufigerer Befall an der dominanten Hand auf. Eine größere Leistung bei gleicher Tätigkeit führt nach einer Studie von Nakamura und Mitarbeitern zu häufigerem Auftreten einer Fingerendgelenkarthrose (Nakamura 1993). ▬ Genetik: Bereits 1941 erkannte Stecher eine familiäre Häufung der Heberden-Arthrose. ▬ Hormonhaushalt: Vermehrtes Auftreten bei Frauen nach der Menopause (Nevitt und Felson 1996). Lawrence (1977) zeigte in seiner Studie eine ausgeglichene Geschlechterverteilung bis zum Alter von 54 Jahren. ▬ Rasse: Dunkelhäutige Menschen sind weniger betroffen. Im Frühstadium entstehen Knoten (ganglienähnlich) dorsalseitig im Bereich des Endgelenks. Später treten Geröllzysten sowie osteophytäre Anbauten auf. Beides führt zum Teil zu einer ausgeprägten Fehlstellung und Bewegungseinschränkung.
Differenzialdiagnosen
▬ Gichtarthropathie: selten, isolierter Befall der Fingerendgelenke; eine Kontrolle der Harnsäure im Blut kann weitere Aufschlüsse geben ▬ rheumatoide Arthritis: befällt v. a. die Fingergrundgelenke; begleitende destruierende, lytische Prozesse sind radiologisch zu erkennen (z. B. Usuren); häufig ausgeprägte, osteoporotische Veränderungen ▬ Psoriasisarthritis: Befall eines Strahls; entsprechende dermatologische Veränderungen sind hinweisgebend (z. B. Tüpfelnägel, Auspitz-Phänomen etc.) z
Therapie
Im entzündlichen Anfangsstadium können konservative Therapieversuche mit Wärme- oder Kälteanwendungen unternommen werden, ggf. in Kombination mit intraartikulären Kortikoidinfiltrationen. > Eine operative Abtragung der Osteophyten dient lediglich der Ästhetik und hat eine sehr hohe Rezidivquote.
Bei Fehlstellung in Kombination mit ausgeprägter Bewegungseinschränkung und Schmerzen sollte eine Arthrodese durchgeführt werden. Hierbei empfiehlt es sich, die Winkelstellung vor der Operation im Gespräch mit dem Patienten festzulegen. Als Osteosyntheseverfahren bieten sich die Zuggurtung oder die axiale Schraubenosteosynthese an. Letztere ist in den letzten Jahren immer mehr in den Vordergrund getreten, nicht zuletzt weil im Anschluss zumeist früher belastet werden kann.
Arthrose des Daumengrundgelenks z
Synonyme
MP-I-Osteoarthritis. z
Definition
Arthrotische Veränderung des ersten Metakarpophalangealgelenks. z
Ätiologie und Pathogenese
Sehr selten kommt es am Daumengrundgelenk zu einer primären, idiopathischen Arthrose. Diese entsteht vorwiegend post-
645 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
traumatisch nach Kollateralbandrupturen (»Skidaumen«) oder (Sub-)Luxationen mit chronischer Gelenkinstabilität. Auch die rheumatoide Arthritis zeigt häufig Befallsmuster mit Beteiligung des Daumengrundgelenks. z
Diagnostik
Neben der zu erwartenden Traumaanamnese bestehen insbesondere Bewegungs- und Belastungsschmerzen beim Greifen. Je nach Stadium zeigt sich das Daumengrundgelenk verdickt mit einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung. Auffällig ist ein oft ausgeprägtes Streckdefizit (Subluxationsstellung). Bei stattgehabter Kollateralbandruptur zeigt sich ggf. die persistierende Instabilität. Röntgenaufnahmen des Daumens in 2 Ebenen zeigen oft nur geringe Gelenkspaltverschmälerungen bei häufiger Subluxationsstellung.
z
z
Tipp
I
I
Zur genaueren Diagnoseverifizierung kann u. a. eine sonographische Untersuchung der Beugesehne vorgenommen werden.
Bei kurzer Schmerzanamnese können systemisch nichtsteroidale Antiphlogistika sowie intraartikuläre Steroidinjektionen (z. B. Triamcinolon 5 mg) zur Anwendung kommen. z z Operative Therapie
Das Daumengrundgelenk hat das geringste Bewegungsausmaß aller Fingergelenke. Die Arthrodese bewirkt somit nur einen relativ geringen Funktionsverlust, vorausgesetzt das Gelenk wird in der richtigen Position fixiert. Steiger und Segmüller propagieren eine Fixierung in 15° Flexion und 10° Pronation (Steiger 1989). Als Osteosyntheseverfahren kommen u. a. kanülierte Schrauben oder die Zuggurtungsosteosynthese zur Anwendung (Schmidt 2004).
I
Differenzialdiagnosen
Eine Daumengrundgelenkarthrose zeigt während der Untersuchung des fixierten Daumens in der Regel keinen Druckschmerz am Sesambein. Bei der Tendovagintis stenosans imponiert das Phänomen des »schnellenden Daumens«.
z Therapie z z Konservative Therapie
Tipp
Diagnostik
Ananmnestisch besteht ein chronischer (Bewegungs-)Schmerz im Bereich der Sesambeine auf Höhe Daumengrundgelenks. In der klinischen Untersuchung zeigt sich ein palmarer Druckschmerz auf Höhe der proximalen Beugefalte des Daumens. Röntgenzielaufnahmen der Sesambeine können evtl. Deformierungen der Sesambeine darstellen, bleiben aber auch häufig ohne Aussagekraft.
I
Für beide Verfahren wird eine sofortige Übungsstabilität in der postoperativen Nachbehandlung propagiert, um Bewegungseinschränkungen der Nachbargelenke zu vermeiden.
z
Therapie
Neben einer Immobilisation können systemisch nichtsteroidale Antiphlogistika sowie lokale Steroidinfiltrationen und physiotherapeutische Maßnahmen zur Anwendung kommen. Bei konservativem Therapieversagen gilt die Resektion des betroffenen Sesambeins als Standardtherapieoption. Intraoperativ sollte dabei aber auf die palmare Platte geachtet werden.
Pisotriquetrale Arthrose z
Definition
Arthrose des ulnaren Handwurzelanteils im pisotriquetralen Gelenkabschnitt. z
Ätiologie und Pathogenese
Eine akute oder chronische Schädigung des Pisotriquetralgelenks kann zu einer Instabilität dieses Gelenkkomplexes führen, was eine arthrotische Veränderung zur Folge haben kann (Jameson 2002).
Sesambeinarthrose z
Synonyme
Sesamoiditis. z
Diagnostik
Die Patienten geben Schmerzen in der Hypothenarregion der Handwurzel und der Hand an.
Definition
Seltener chronischer Schmerz im Bereich des Daumens (auf Höhe des Grundgelenks), zurückzuführen auf eine Pathologie der Sesambeine. z
z
Ätiologie und Pathogenese
Neben einer posttraumatischen Genese (Fogerty 2007), welche als häufigste Ursache der Sesamoiditis angesehen wird (Van der Voort 1990), sind Sesambeinveränderungen auch im Rahmen der rheumatoiden Arthritis möglich. Primäre arthrotische Veränderungen wie idiopathische Sesamoiditiden wurden ebenfalls beschrieben. Am häufigsten von degenerativen oder arthritischen Veränderungen betroffen ist das radiale Sesambein auf Höhe des MP-Gelenks des Daumens.
Tipp
I
I
Um isoliert das Pisotriquetralgelenk zu diagnostizieren, sollte das Handgelenk in Flexionsstellung untersucht werden, um die über das Os Pisiforme verlaufende Sehne des M. flexor carpi ulnaris zu entspannen (Winkler 2009).
▬ Grind-Test: Kompressionsschmerz des Pisotriquetralgelenks (ggf. Krepitation) ▬ Shear-Test: der Untersucherdaumen hakt an der radialen Kante des Os pisiforme ein und schiebt es nach ulnar, um eine eventuelle Instabilität erkennen zu können; ggf. Schmerzprovokation (⊡ Abb. 25.8)
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
z z Bildgebende Verfahren
25
Zur radiologischen Darstellung des Pisotriquetralgelenks (⊡ Abb. 25.40) existieren verschiedene Empfehlungen hinsichtlich der Einstellungstechnik: ▬ Handgelenk in endgradiger Extension, 30° Supination des Unterarms ▬ Handgelenk in Neutralstellung, 30° Supination des Unterarms ▬ Handgelenk in endgradiger Flexion, 45° Supination des Unterarms, bei maximaler Abduktion des Daumens (Rayan 2005) Bei unklarem klinischen und radiologischen Befund kann eine diagnostische Infiltration mit Lokalanästhetikum die Diagnosefindung erleichtern. z
Therapie
Nichtsteroidale Antirheumatika und ggf. intraartikuläre Kortikoidinfiltrationen (z. B. Triamcinolon 5 mg) sollten bei kurzer Schmerzanamnese zuerst zur Anwendung kommen. Bei konservativem Therapieversagen und Beschwerdepersistenz besteht die Indikation zur Exzision des Os pisiforme, was als Methode der Wahl angesehen wird (Weiss u. Rodner 2007). Lam und Mitarbeiter (2003) erkannten bezüglich der Kraft und Beweglichkeit nach Pisiformektomie keinen Unterschied zum kontralateralen Handgelenk.
⊡ Abb. 25.40 Röntgenbild einer Pisotriquetralarthrose
Radiokarpalarthrose z
Definition
Arthrotische Veränderungen des Handgelenks zwischen der distalen Radiusgelenkfläche und der proximalen Handwurzelreihe. z
Ätiologie und Pathogenese
Neben einer seltenen primären, idiopathischen Ursache treten v. a. sekundäre Radiokarpalarthrosen auf. Diese entstehen als Folge von: ▬ posttraumatischen Veränderungen (häufigste Ursache) ▬ entzündlichen Veränderungen, z. B. der rheumatoiden Arthritis ▬ einer idiopathischen karpalen avaskulären Knochennekrose (Akhtar 2005) ▬ kongenitalen Handgelenkdeformitäten (z. B. MadelungDeformität; Arora 2006) Insbesondere Läsionen des skapholunären Bands (SL-Band) und Skaphoidpseudarthrosen können durch die gestörte Biomechanik zu einer Handgelenkarthrose führen. z
Biomechanik
Skaphoid, Lunatum und Triquetrum bilden die proximale Handwurzelreihe. Sie besitzen feste interossäre Ligamente und werden als funktionelle, bewegliche Einheit angesehen (Sauerbier 2000). Bei ligamentärer (SL-Bandruptur) oder knöcherner (Skaphoidpseudarthrose) Unterbrechung der funktionellen Einheit folgen die beteiligten Knochen ihrer »natürlichen Bewegungstendenz«: Das Lunatum, welches anatomisch keilförmig aufgebaut ist und sich von dorsal nach
palmar verbreitert, folgt der nach palmar abfallenden Radiusgelenkfläche. Es gleitet dabei nach palmar ab und rotiert zudem in eine Extensionsposition. Diese Stellung wird auch als DISI-Stellung (»dorsal intercalated segment instability«) beschrieben (Sauerbier 2000). Das Skaphoid stellt sich in endgradiger Ulnarduktion des Handgelenks gestreckt extendiert dar, wohingegen es in Radialduktion mit seinem distalen Pol palmar flektiert und auf der Radiusgelenkfläche nach ulnar gleitet. Bei Unterbrechung der proximalen Handwurzelreihe kommt es zu einer »natürlichen« Flexionstendenz des Kahnbeins. In der Folge tritt das Kapitatum tiefer, es kommt zur karpalen Höhenminderung und zum karpalen Kollaps. Die SL-Bandläsion mit Instabilität und die Skaphoidpseudarthrosen folgen einem ähnlichen Arthroseverlauf, der in Stadien verläuft (⊡ Abb. 25.41): ▬ Stadium I: Arthrosezeichen zwischen Radiusstyloid und Skaphoid (»Schliffarthrose«; Krimmer 1997); selten bei SLAC-Wrist-Veränderungen ▬ Stadium II: arthrotische Veränderungen am gesamten radioskaphoidären Gelenkabschnitt ▬ Stadium III: neben dem gesamten radioskaphoidären Gelenkabschnitt ist nun auch das Mediokarpalgelenk betroffen ▬ Stadium IV: die Handgelenkarthrose schließt zusätzlich die radiolunäre Gelenkfläche mit ein Je nach Ursache spricht man von SLAC-Wrist (»scapholunate advanced collapse«) oder SNAC-Wrist (»scaphoid-nonunion advanced collapse«).
647 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
b
⊡ Abb. 25.42a,b Röntgenaufnahmen eines Handgelenks. a d.p.-Strahlengang: SLAC-Wrist Stadium III mit arthrotischen Veränderungen radioskaphoidär und mediokarpal, b seitlicher Strahlengang: DISI-Stellung des Lunatums mit pathologischem SL-Winkel von ca. 70°, physiologisch: ca. 45°
⊡ Abb. 25.41 Stadieneinteilung von SLAC- und SNAC-Wrist nach dem Ausmaß der Arthrose. gelb Stadium I, grün Stadium II, orange Stadium III, rot Stadium IV
z
Differenzialdiagnosen
Von der Radiokarpalarthrose müssen insbesondere rheumatische Veränderungen abgegrenzt werden. Hierbei geben jedoch zumeist eine ausführliche Anamnese sowie das Nativröntgenbild entscheidende Aufschlüsse.
z Diagnostik z z Anamnese
z Therapie z z Konservative Therapie
Zumeist werden Bewegungs- bzw. Belastungsschmerzen beschrieben. Daneben sind Bewegungseinschränkungen und Kraftminderungen häufig. Daneben sollte bei vorliegendem Verdacht auch eine Rheumaanamnese erhoben werden.
Bei beginnender Symptomatik kann ein Versuch mit intraartikulären Kortikoidinfiltration (z. B. Triamcinolon) in Kombination mit einem Lokalanästhetikum (z. B. Scandicain) versucht werden. Von einem Fortschreiten der arthrotischen Veränderung ist aber auszugehen.
> Auch länger zurückliegende Traumen sollten abgefragt werden, da sich sekundäre posttraumatische Handgelenkarthrosen oft erst viele Jahre nach einem entsprechenden Unfall klinisch bemerkbar machen können. z z Klinische Untersuchung
Inspektorisch zeigt sich zumeist eine radiodorsal betonte Schwellung des Handgelenks. Die Beweglichkeit ist insbesondere passiv in Extension und Flexion eingeschränkt und schmerzbehaftet. Gelegentlich kann hierbei auch eine Krepitation beobachtet werden. Druckschmerzen sind hauptsächlich radiokarpal zu provozieren. z z Bildgebende Verfahren
Das bildgebende Mittel der Wahl sind Nativröntgenaufnahmen des Handgelenks in 2 Ebenen (⊡ Abb. 25.42). Hierin zeigen sich Sklerosierungen und Gelenkspaltverschmälerungen abhängig von Ätiologie und Graduierung der arthrotischen Veränderung. Weiterführende bildgebende Verfahren, wie z. B. die Computertomographie, können zur zusätzlichen Beurteilung herangezogen werden (Krimmer 1992).
z z Operative Therapie
Das operative Therapiekonzept richtet sich nach Lokalisation bzw. Stadium des SNAC- oder SLAC-Wrist. Im Stadium I sind rekonstruktive Verfahren noch in Betracht zu ziehen: Bei einem SNAC-Wrist kann das Skaphoid mithilfe eines Knochenblocks rekonstruiert werden, zugleich sollte jedoch eine Resektion des Proc. styloideus radii erfolgen (Baumeister 2005). Ein SLACWrist kann therapeutisch mit einem Rekonstruktionsversuch, z. B. durch eine Bandplastik, angegangen werden (Sauerbier 2000). Im Stadium II sollte aufgrund der arthrotischen Veränderungen radioskaphoidär auf Rekonstruktionsversuche verzichtet werden. Als mögliche Therapieoptionen stehen die »proximal row carpectomy« (PRC) oder die Skaphoidexstirpation mit mediokarpaler Teilarthrodese (»four-corner-fusion«) zur Verfügung (Cohen 2001, Lukas 2003). Bei letztgenanntem Verfahren wird nach Exstirpation des Skaphoids eine Fusion von Lunatum, Triquetrum, Kapitatum und Hamatum durchgeführt. Beide Verfahren können die Handgelenkbeweglichkeit zumindest teilweise erhalten.
25
648
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25
⊡ Abb. 25.43a,b Röntgenbild nach operativer Versorgung eines SLAC-Wrist im Stadium III mittels Skaphoidexstirpation und mediokarpaler Teilarthrodese durch KDrähte a a.p.-Projektion, b seitlich
a
Im Stadium III ist eine PRC nicht mehr als sinnvoll zu erachten, da die arthrotische Veränderung bereits den mediokarpalen Gelenkanteil miteinbezogen hat. Die »four-cornerfusion« bleibt als Therapieoption erhalten (⊡ Abb. 25.43). Im Stadium IV bleibt die Möglichkeit einer operativen Versorgung mittels kompletter Handgelenkarthrodese. Mit dem Verlust an Beweglichkeit geht jedoch zumeist eine gute Kraftentwicklung und Schmerzfreiheit einher (Martini 1999). Bei Arthrose und erhaltener guter Funktion des Handgelenks ist die Denervierung nach Wilhelm eine weitere Therapieoption. Diese ist nach erfolgreicher vorheriger Testinjektion technisch einfach durchzuführen und führt zu keiner langwierigen postoperativen Nachbehandlung. Spätere operative Eingriffe bleiben möglich (Schweizer 2006). Die Alloarthroplastik des Handgelenks wird vielfach diskutiert. Die meisten Patienten mit posttraumatischen Handgelenkarthrosen sind jung und aktiv. Die bis dato vorliegenden Handgelenkendoprothesen können den Anspruch in Sachen Belastung und Kraft nicht gerecht werden. Für Patienten mit geringeren Ansprüchen könnten diese jedoch zu befriedigenden Ergebnissen führen (Anderson 2005).
25.1.7
Aseptische Knochennekrosen der Hand
Lunatummalazie z
Synonym
M. Kienböck, Lunatumnekrose. z
Definition
Aseptische Knochennekrose des Mondbeins (Os lunatum). z
b
⊡ Tab. 25.5 Stadieneinteilung nach Lichtman Stadium
LunatumStruktur
Nachbarknochen/ Handgelenk
Besonderheiten
I
Normal
Normal
Nur im MRT nachweisbar: T1: signalarm T2: signalreich
II
Sklerosierung
Normal
Evtl. beginnender Zusammenbruch radial proximal
IIIa
Fragmentation
Normal
Karpale Architektur erhalten
IIIb
Fragmentation
Malrotation des Skaphoids
Beginnender karpaler Kollaps
IV
Sinterung
Arthrose
Karpaler Kollaps
Berufskrankheit 2103 ist die Lunatumnekrose anerkannt als Folge von Arbeiten mit bestimmten Werkzeugen oder Maschinen, die durch Vibrationen mit vorrangig tiefen Frequenzanteilen Schwingungsenergie auf das Handgelenk übertragen. Es sind vorwiegend Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren betroffen. Die Nekrose beginnt im proximalen Anteil des Lunatum. Es kommt zu einem Knochenödem, einem lokalen Untergang von Knochenmatrix, zu einem frustranen Versuch der Knochenneubildung und schließlich zu einem Zusammenbruch der Knochenstruktur. Später entwickelt sich hieraus aufgrund der veränderten Biomechanik eine Handgelenkarthrose.
Ätiologie und Pathogenese
Unbekannt. Es werden diskutiert: anlagebedingte Minderdurchblutung, gestörte venöse Drainage, repetitives Mikrotrauma und veränderte Handgelenkanatomie (überlanger Radius). Als
z
Klassifikation
Es gibt mehrere Einteilungen, gebräuchlich ist die nach Lichtman wie in ⊡ Tab. 25.5 dargestellt.
649 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
⊡ Abb. 25.44 a,b Lunatummalazie Stadium II mit Sklerosierung, aber normaler Form des Lunatums und der übrigen Handwurzelknochen. a a.p.-Strahlengang, b seitlich
b
z
Diagnose
Die Klinik ist unspezifisch mit Schmerzen im Handgelenksbereich. Röntgendiagnostik (⊡ Abb. 25.44 u. ⊡ Abb. 25.45). Wenn diese nicht richtungsweisend ist: MRT mit Kontrastmittel (i.v.). Das MRT hilft bei der Differenzierung zwischen Ödem, partieller und kompletter Nekrose (⊡ Abb. 25.46). z
Therapie
Es gibt nach wie vor keinen allgemein akzeptierten Standard. Auch die Studienlage ist nicht eindeutig. Die konservative Therapie durch temporäre Ruhigstellung ist im Frühstadium möglich. Sie zeigt jedoch im Stadium II und III schlechtere Ergebnisse als die Verkürzungsosteotomie (Salmon et al. 2000). Bis zum Stadium IIIa kann die Erkrankung noch zum Stillstand kommen, ab Stadium IIIb entwickelt sich unbehandelt eine Arthrose des Handgelenks. Die nachfolgenden Therapierichtlinien sind eine Zusammenfassung aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Handchirurgie (DGH) und eines Literaturvergleichs: Stadium I–IIIa bei Ulna-Plus-Variante: Dekompression durch Anbohrung, Revaskularisationsoperation (z. B. durch die Transplantation eines gefäßgestielten Knochenspans aus dem Os pisiforme in der Technik nach Beck) und interkarpale Teilarthrodesen (STT-Arthrodese). a
b
⊡ Abb. 25.45a,b Röntgenbild einer Lunatummalazie Stadium IIIb nach Lichtman mit beginnendem karpalen Kollaps (Flexionsstellung des Skaphoids). a a.p.-Strahlengang, b seitlich
Stadium I–IIIa bei Ulna-Minus- und Ulna-Null-Variante:
Niveauoperationen (Radiusverkürzung oder Ulnaverlängerung). Bei der Radiusverkürzungsosteotomie (RVO) empfiehlt die DGH 2 mm. Die RVO ist technisch einfacher und zeigt bessere Heilungsraten als die Ulnaverlängerungsosteotomie.
25
650
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
25
⊡ Abb. 25.46 MRT-Befund (T2) einer Lunatummalazie im Stadium I a
Hierdurch soll die Druckbelastung des Lunatums reduziert werden. Watanabe und Mitarbeiter (2008) zeigen hierbei gute Ergebnisse bei Patienten in den Stadien II, IIIa und IIIb nach Lichtman, auch im Langzeitverlauf. Auch intrakarpale Arthrodesen (STT-Arthrodese) sind in der Lage, die Druckbelastung vom Lunatum zu reduzieren. Stadium IIIb: Druckentlastung des Mondbeins und Korrektur der Fehlstellung des Kahnbeins durch intrakarpale Teilarthrodesen. Alternativ in den Stadien II–IIIb: Exzision der proximalen Handwurzelreihe (»proximal row carpectomy«). Im fortgeschrittenen Stadium IIIb führt der Lunatumkollaps zu einem Tiefertreten des Kapitatums, und das Os scaphoideum kippt in eine Palmarflexion (karpaler Kollaps). Die STT-Arthrodese führt zu einer partiellen Korrektur dieser Fehlstellung (⊡ Abb. 25.47). Sie schränkt die Beweglichkeit des Handgelenks ein, führt aber zu einer deutlichen Schmerzreduktion (Meier et al. 2004). Um eine zu starke Bewegungseinschränkung zu vermeiden, sollte das Skaphoid in ca. 60°-Beugestellung eingestellt werden. Tipp
I
I
Eine zusätzliche Entfernung des Proc. styloideus radii wird empfohlen, wenn intraoperativ eine Impaktion des Os trapezium bei Radialduktion beobachtet wird.
b
⊡ Abb. 25.47a,b Zustand nach STT-Arthrodese bei Lunatummalazie Stadium IIIb. a a.p.-Strahlengang, b seitlich
Nach einer Entfernung der proximalen Handwurzelreihe (PRC) im Stadium IIIb konnten Lumsden u. Mitarbeiter (2008) mit Langzeitergebnissen zeigen, dass diese Operation nicht von einem deutlichen Kraftverlust begleitet wird. Als Voraussetzung für diesen Eingriff müssen jedoch der Gelenkknorpel von Kapitatum und korrespondierender Radiusgelenkfläche erhalten sein. Der Einsatz von vaskularisierten Spänen zeigte bei ca. zwei Dritteln der Patienten in den Stadien II, IIIa und IIIb verbesserte Durchblutungsraten im MRT 20 Monate postoperativ (Moran et al. 2005). Im Stadium IV: Handgelenkarthrodese, STT-Arthrodese nur sofern die Arthrose noch auf den radiolunären Gelenkabschnitt beschränkt ist und eine weitgehende Korrektur der Hyperflexionsstellung des Os scaphoideum möglich ist (DGH). In allen Stadien der Lunatumnekrose kann eine teilweise oder vollständige Denervation des Handgelenks vorgenommen werden, sowohl als alleiniger als auch als zusätzlicher Eingriff. Eine Handgelenkarthrodese ist als Ultima Ratio durchzuführen. Eine begleitende Handgelenkdenervierung ist in allen Phasen der Erkrankung auch als begleitende operative Maßnahme möglich.
Kahnbeinnekrose Im Stadium IIIa und IIIb können Das Gupta und Mitarbeiter (2003) keine signifikanten postoperativen Unterschiede zwischen der Radiusverkürzungsosteotomie und der STT-Arthrodese feststellen, empfehlen aber bei Wunsch der besseren postoperativen Beweglichkeit oder bei Ulnar-Minus-Variante die RVO.
z
Synonym
M. Preiser z
Definition
Aseptische Knochennekrose des Skaphoids, wobei der proximale Pol betroffen ist.
651 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
z
Ätiologie und Pathogenese
Unklar, wahrscheinlich ähnlich der Lunatummalazie. z
Diagnostik
Die Klinik ist mit Schmerzen im Handgelenkbereich unspezifisch. Differenzialdiagnostisch ist immer an eine Kahnbeinpseudarthrose nach Fraktur zu denken. Wenn die Röntgendiagnostik nicht richtungsweisend ist: MRT mit Kontrastmittel (i.v.). z
Therapie
Es gibt bislang keinen allgemein akzeptierten Standard, auch da das Krankheitsbild selten ist. Die konservative Therapie durch Ruhigstellung in Frühstadien wird vorgeschlagen. Auch der Ersatz des Skaphoids durch ein Silikoninterponat soll gute Ergebnisse erbracht haben (Herbert 1994).
a
> Sehr selten sind aseptische Nekrosen der Metakarpaleköpfe, die Kapitatumnekrose sowie Nekrosen von Hamatum, Trapezium, Triquetrum und des Os pisiforme.
25.1.8 z
Ganglien
Definition
Mit Mucopolysacchariden gefüllte ein- oder mehrkammerige Zysten. z
Ätiologie und Pathogenese
Es sind die häufigsten gutartigen Tumoren der Hand (Berghoff 1993). Die Genese dieser Zysten ist bislang nicht eindeutig geklärt. Es könnte sich um Ausstülpungen der Gelenkinnenhaut oder des Sehnengleitgewebes handeln. Eine weitere Theorie geht von einer extraartikulären Formation von muzinhaltigen Tropfen, die sekundär eine Verbindung zu synovialen Strukturen bekommen, aus (Gude 2008). Diese mit dem Gelenk in Verbindung stehenden Ganglien bilden sich meistens am dorsalen Handgelenk (⊡ Abb. 25.48) und entstehen im Bereich des dorsalen skapholunären Bands (Berghoff 1993). Sie kommen auch palmarseitig vor und haben dann meistens ihren Stiel zwischen M. flexor carpi radialis und A. radialis. Ebenfalls häufig sind die Ringbandganglien. b
z
Diagnostik
Es besteht eine gut abgrenzbare prall elastische Schwellung, die sich unterschiedlich rasch entwickeln kann. Durch die Kompression benachbarter Gewebe können Schmerzen oder Nervenirritationen auftreten. Die Sonographie hilft bei der Diagnostik insbesondere kleiner okkulter Handgelenkganglien, an die differenzialdiagnostisch bei Handgelenkschmerzen bei Dorsalextension gedacht werden muss. Ringbandganglien können für einen schnellenden Finger oder lokale Schmerzen am Finger (durch Druck auf einen Nerven) verantwortlich sein und sollten dann entfernt werden. z
Therapie
Etwa 30% der Ganglien bilden sich spontan und ohne Therapie zurück (Berghoff 1993). Aspiration mit anschließender
⊡ Abb. 25.48a,b Dorsales Handgelenksganglion. a Typisches klinisches Bild, b entferntes Ganglion aus dem dorsalen Handgelenk mit Stiel
Kortisoninjektion scheint mit Rezidivraten von mehr als 50% bei Handgelenkganglien nicht sehr effektiv (Thornburg 1999). Bei solitären Ganglien (diagnostiziert im Ultraschall) scheint im Fingerbereich die Aspiration wesentlich erfolgreicher mit nur geringen Rezidivraten – die Rezidivrate nach chirurgischer Therapie beträgt ca. 15% (Berghoff 1993). Bei der chirurgischen Therapie sollte unter optimalen Operationsbedingungen das gesamte Gewebe, ggf. mit Stiel zum Handgelenk, entfernt werden.
25
652
25.1.9
25
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Rheumatoide Arthritis der Hand
Zur Ätiologie und Pathogenese der Erkrankung siehe Abschn. 17.4.1. Im Verlauf der rheumatoiden Arthritis kommt es in mehr als Zweidritteln der Fälle zu einer Beteiligung der Handund Fingergelenke. Unbehandelt führt die Progredienz der Erkrankung zum Verlust der Handgelenk- und Fingerfunktion. Dies wird allerdings von den Patienten in der Regel erst spät bemerkt, da die Veränderungen schleichend geschehen und die Patienten an den Zustand adaptiert sind. Die Schmerzen korrelieren nicht mit der Schwere der Erkrankung. Zudem sind manchmal massiv geschwollene Gelenke komplett schmerzfrei. Dies bedeutet, dass sich die Patienten häufig erst in einem Stadium vorstellen, in denen gelenkerhaltende Maßnahmen nicht mehr möglich sind. Aber auch bei präventiven Maßnahmen wie beispielsweise der Synovektomie darf man nicht vergessen, dass die medikamentöse Therapie die Basis der Behandlung darstellt. > Die medikamentöse Therapie muss frühzeitig und ausreichend hoch dosiert beginnen, um Schäden vorzubeugen. Chirurgische Maßnahmen alleine schützen nicht vor einer Destruktion der Gelenke.
Grundsätzlich ist keine auch noch so exakt und vollständig durchgeführte Synovektomie der Gelenke und Sehnen in der Lage, eine Progression der Erkrankung sicher zu verhindern. Die operative Therapie dient neben der Verbesserung oder Wiederherstellung von Funktion und Stabilität v. a. der Verhinderung von Destruktionen oder Verlangsamung der destruktiven Prozesse an Sehnen und Gelenken sowie der Verbesserung des ästhetischen Aspektes. Der Krankheitsverlauf ist variabel und erfordert die Verlaufsbeobachtung. Eine Alternative zu häufigen Röntgenaufnahmen – allerdings nur in frühen Stadien – ist die Sonographie. Bei bereits eingetretener Gelenkdestruktion ist dies nicht möglich, da die Art der Gelenkdestruktion die operative Therapie vorgibt. Eine genaue Vorhersage der Krankheitsprogression und damit die Aufstellung eines langfristigen Therapieplans ist schwierig und erfordert viel Erfahrung. > Bei bleibender Schwellung eines Gelenks über einen Zeitraum von 3 Monaten trotz adäquater medikamentöser Therapie sollten operative Maßnahmen erfolgen, um eine fortschreitende Gelenkdestruktion zu vermeiden.
Eine Entfernung der Gelenkschleimhaut (Synovektomie), ggf. mit Weichteilrekonstruktionen, kommt in den frühen Stadien zur Anwendung. Bei fortgeschrittener Destruktion des Gelenks kommen nur noch rekonstruktive Eingriffe (z. B. Endoprothesen, Arthrodesen) zum Einsatz.
Handgelenk Das Handgelenk spielt bei der Entstehung und Behandlung der rheumatischen Handdeformitäten eine zentrale Rolle. Es ist fast immer und frühzeitig betroffen (⊡ Abb. 25.49). Es kommt zu einem Gleiten des Handgelenks nach ulnar und einer Drehung nach radial, was die Ulnardeviation der Langfinger durch eine
⊡ Abb. 25.49 Deutliche synovialitische Schwellung radiokarpal und im Strecksehnenbereich
veränderte Sehnenzugrichtung verstärkt. Dies führt zur sogenannten Handskoliose. Eine alleinige Korrektur der Langfingergrundgelenke würde damit die Deviation nur unzureichend korrigieren, sodass der Behandlung des Handgelenks eine gewisse Priorität zukommt. Das Handgelenk ist mit Synovia ausgekleidet, zudem befinden sich die Strecksehnen und ihre Fächer in unmittelbarer Nähe des Handgelenks. Der Boden der Extensor-carpi-ulnaris(ECU-)Sehne grenzt sogar direkt an die Handgelenkkapsel. Der Zerstörungsprozess kann also entweder von extern, häufig über eine Synovialitis der ECU-Sehne, seinen Ausgang nehmen oder sich aber von intern – zunächst entlang des radioskapholunären Bands – zu den Bandverbindungen im Handgelenk vorarbeiten. In den frühen Stadien ist die Synovektomie sinnvoll und notwendig. Sie kann, wenn die Strecksehnen nicht betroffen sind, auch arthroskopisch erfolgen (Kim 2006). Bei geplanten zusätzlichen Eingriffen, wie etwa der Synovektomie der Strecksehnen oder einer Teilarthrodese des Handgelenks, ist der offenen Methode der Vorzug zu geben. Die synovialitische Zerstörung kann im weiteren Verlauf zu mehreren Verlaufsformen führen, die von Simmen und Huber (1992) zusammengefasst wurden. Hierbei wird eine sekundärarthrotische, eine ankylosierende und eine mutilierende Form unterschieden, die natürlich nicht immer so klar abzugrenzen sind (⊡ Abb. 25.50). Wichtig ist die Unterscheidung im Hinblick auf therapeutische Gesichtspunkte. Bei der sekundär-arthrotischen Verlaufsform wird der Knorpel zerstört, aber die Bandstrukturen bleiben zumindest noch so weit intakt, dass das Handgelenk nicht instabil wird. Der karpale Kollaps (durch die intraartikuläre Bandzerstörung) und die veränderte Biomechanik führen zu Schmerzen und einer Bewegungseinschränkung. Bei der ankylosierenden Verlausform kommt es zu einer knöchernen Überbrückung der Gelenke und damit zu einem Einsteifen des Handgelenks und meistens auch angrenzender Gelenke. Wenn die Zerstörung der stabilisierenden Weichteilstrukturen im Vordergrund steht, kommt es zu einem Verlust der Sta-
653 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
bilität und der karpalen Höhe, was die Effektivität der Sehnen beeinträchtigt. Die ECU-Sehne kann nach palmar dislozieren, sodass der M. extensor carpi radialis longus ohne Gegenspieler das Handgelenk nach radial dreht, was wiederum zu einer Ulnardeviation der langen Fingerbeuger führt. Es kommt zur typischen Handskoliose mit Abgleiten des Karpus nach ulnar (und evtl. nach palmar). Dies kann zur vollständigen Luxation des Karpus vom Radius führen. Es kommt zu Schmerzen und einer Minderung der Kraft. Bei der mutilierenden Verlaufsform schreitet dieser Verlust der Stabilität schnell voran, begleitet von Resorptionsvorgängen der Handwurzelknochen, was unbehandelt zu einem kompletten Verlust der Handfunktion führt. a
b
c ⊡ Abb. 25.50a–c Verlaufstypen der rheumatoiden Arthritis. a Ankylosierende, b sekundär-arthrotische, c mutilierende Form
> Die Synovektomie des Handgelenks erfolgt in frühen Stadien als präventive Maßnahme oder aber als begleitender Operationsschritt bei rekonstruktiven Eingriffen.
Dieser Eingriff erfolgt offen von dorsal, wobei zunächst die Strecksehnen synovektomiert werden. Schwieriger ist die Synovektomie um den Ellenkopf herum, also die Synovektomie des distalen Radioulnargelenks, da ohne Ellenkopfresektion nicht alle Kompartimente problemlos erreicht werden können. Eine Resektion des Ellenkopfes ist nicht automatisch bei jeder Handgelenksynovektomie erforderlich. Eine Ellenkopfresektion sollte bei einer Instabilität des Ellenkopfes oder aber bei Destruktion des Gelenks mit Schmerzen erfolgen. Der Ellenkopf bildet im Rahmen der ossären, rheumatisch bedingten Destruktion scharfe Kanten, die die Strecksehnen schnell zerreiben können. Generell sollten scharfe Knochenkanten, die die Strecksehnen beeinträchtigen könnten, wie z. B. ein Tuberculum listeri, im Rahmen der Operation abgetragen werden. Wir lösen bei der Synovektomie das Retinaculum extensorum von ulnar beginnend über der ECU-Sehne bis einschließlich des zweiten Strecksehnenfachs ab. Das erste Strecksehnenfach ist nur selten befallen. Nach vollständiger Synovektomie wird das Retinakulum unter die Strecksehnen gelegt. Mit dem ulnaren Rand wird eine Schlaufe um die ECU-Sehne herumgelegt, womit sich ein neuer Gleitkanal für die Sehne ausbildet und diese das Handgelenk stabilisieren kann. Das Retinakulum schützt nun zudem die Strecksehnen vor scharfen Knochenkanten. Postoperativ kommt es relativ rasch zu einer neuen Ausbildung von stabilen Gleitkanälen für die Strecksehnen, sodass ein Bogenphänomen bei Sehnenanspannung nicht befürchtet werden muss. Bei fortgeschrittener ossärer Destruktion (Larsen-Stadium III–V) oder aber in frühen Stadien, wenn weichteilige Stabilisierungen nicht ausreichen, um die Ulnartranslation aufzuhalten (frühzeitig bei der mutilierenden Verlaufsform), erfolgen in Kombination mit der Synovektomie Teil- oder Komplettarthrodesen. Die radioulnäre Teilarthrodese ist eine bewährte Methode, um die ulnare/palmare Translation des Handgelenks zu behandeln (⊡ Abb. 25.51 u. ⊡ Abb. 25.52). Studien zeigen, dass die Stabilität des Handgelenks auch längerfristig bei einer Vielzahl von Patienten gewährleist werden kann (Borisch 2002). Die Mobilität ist in diesen Fällen zwar reduziert, aber für die Patienten zufriedenstellend. Indiziert ist dieser Eingriff bei noch er-
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
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a
b
a
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⊡ Abb. 25.51a,b Ulnare Translation des Karpus. a Seitlich, b a.p.Projektion
⊡ Abb. 25.52a,b Zustand nach radiolunärer Arthrodese. a Seitlich, b a.p.-Projektion
haltener Karpusarchitektur, aber deutlichen Instabilitätszeichen mit Abgleiten des Karpus nach ulnar/palmar. Bei knöchern erhaltenem Ellenkopf und Radiokarpalgelenk ohne Instabilitätszeichen und symptomatischem Caput-ulnaeSyndrom kann die Indikation zur Versteifung des distalen Radioulnargelenks mit Segmentresektion der Ulna (Sauvé-Kapandji) gestellt werden. Dies ist allerdings bei Patienten mit rheumatoider Arthritis selten der Fall. Die Indikation zur kompletten Versteifung des Handgelenks besteht bei der fortgeschrittenen Destruktion des Handgelenks (Larsen-Stadium IV und V) mit Instabilität und Fehlstellung, bei der fortgeschrittenen mutilierenden Verlaufsform, um eine progressive Resorption des Carpus zu verhindern, und als Rückzug nach fehlgeschlagener Arthroplastik, wobei hierbei große Beckenkammspäne benötigt werden, um den entstandenen Knochendefekt aufzufüllen. Die Implantation von Silikon-Spacern in das Handgelenk wird von einigen Autoren als Alternative zur Fusion gesehen (Kistler 2005). Spacer-Bruch sowie Osteolysen um das Implantat als Folge der Silikonsynovialitis müssen jedoch berücksichtigt werden. Die Ergebnisse nach Implantationen von Handgelenkendoprothesen wurden früher aufgrund hoher Lockerungsraten kritisch gesehen, die neuen Prothesentypen schneiden in den Beurteilungen deutlich besser ab (Stegeman 2005), wobei Langzeitergebnisse noch ausstehen.
Beugesehnen An den Beugesehnen manifestiert sich die Erkrankung ausgesprochen häufig und kann unbehandelt rasch zu Sehnenrupturen führen. Im Anfangsstadium kommt es zu einer Schwellung mit aktivem Beugedefizit des Fingers. Tipp
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Bei unsicherem klinischen Bild hilft die Sonographie weiter, die sogar die befallenen Sehnen darstellen kann.
Es gilt unbedingt, Beugesehnenrupturen zu vermeiden, denn hier gelingt aufgrund des langstreckigen Defekts keine End-zu End-Naht mehr, und es werden dann aufwendige Rekonstruktionen erforderlich. Bei einer einzelnen Ruptur einer tiefen Beugesehne eines Langfingers reicht auch eine Versteifung des Endgliedes. Häufig treten diese Rupturen jedoch bei fehlender Therapie als Massenruptur auf, wobei dann gute funktionelle postoperative Ergebnisse nur schwer zu erzielen sind. Möglich ist in solchen Fällen beispielsweise ein Interponat durch die Palmaris-longus-Sehne. Um diesen Zustand zu verhindern, ist die frühzeitige Synovektomie bei inadäquatem Ansprechen auf die Basistherapie erforderlich. Die Ringbänder A2 und A4 sollten bei der Synovektomie der Finger erhalten bleiben, da es sonst zu einer
655 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
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⊡ Abb. 25.53 Synovialitis der Beugesehne Dig. II. a Intraoperativer Befund, b Zustand nach Synovektomie mit weitestgehendem Erhalt der Ringbänder
erheblichen Beeinträchtigung der Fingerfunktion kommt (Bogenphänomen). Dies ist jedoch manchmal gar nicht so einfach, da die Synovialitis durch infiltratives Wachstum frühzeitig die Bänder zerstört (⊡ Abb. 25.53).
Fingergrundgelenke Die Synovektomie der Fingergrundgelenke soll – wie an anderen Gelenken auch – frühzeitig erfolgen, um eine weitere Progression der Erkrankung bis zum vollständigen Funktionsverlust zu bremsen. Schmerzen haben die Patienten beim Befall der Grundgelenke nur selten oder erst in späten Stadien. Da bei einer ausgeprägten Synovialitis begleitend immer die radialen Seitenbänder geschwächt sind, die Streckerhaube über dem Grundgelenk massiv ausgeweitet und von ihrer Substanz her geschwächt ist, führen wir die Synovektomie als Kombinationseingriff durch (in der Regel an allen betroffenen Grundgelenken gleichzeitig). Hierzu wird das radiale Seitenband an seinem Ansatz am Metakarpalekopf abgetrennt und das Gelenk aufgeklappt. Erst nach Durchtrennung der Seitenbänder ist eine vollständige Synovektomie, die unbedingt auch an der Innenseite des ulnaren und radialen Seitenbandansatzes erfolgen muss, möglich. Die radialen Seitenbänder sind bereits frühzeitig instabil und ausgeweitet, daher bietet es sich an, diese in leichter Überkorrektur zu raffen und, wie von Das Gupta und Haussmann (2005) beschrieben, dorsal zu refixieren. Die bei dem Zugang am radialen Rand der Strecksehne abgetrennte Streckerhaube wird abschließend radial gerafft, um die Ulnardeviation der Langfinger auszugleichen. Das Gupta und Haussmann (2005) konnten zeigen, dass auch durchschnittlich 5 Jahre nach der Operation über Zweidrittel der Patienten keine Rezidivsynovialitis und stabile Gelenke zeigten. Bei fortgeschrittener Destruktion der Gelenke aber noch erhaltenen Seitenbändern ist ein endoprothetischer Gelenkersatz mit nicht gekoppelten Modellen möglich. Ersten Erfolgsmeldungen mit Prothesen aus Pyrocarbon durch Cook und Mitarbeitern (1999) stehen die Ergebnisse anderer Autoren
(Hilker 2007) und die eigenen Erfahrungen entgegen, die eine hohe Revisionsquote bereits nach 4 Jahren zeigen. Die Beobachtung von periprothetischen Lysesäumen bei ca. der Hälfte der Patienten werden durch Versuche am Tiermodell gestützt, die ein fehlendes Einwachsen der Prothesen zeigen. Über andere Modelle liegen noch keine aussagekräftigen Publikationen vor. Bei ausgeprägter Gelenkzerstörung ist der endoprothetische Gelenkersatz mit Silastik-Spacern von Swanson in Kombination mit Synovektomie und Strecksehnenrezentrierung notwendig. Eine Silikonsynovialitis und die begrenzte Haltbarkeit (Spacer-Bruch) müssen als Nachteile bedacht werden (⊡ Abb. 25.54). Es gibt jedoch für die fortgeschrittenen Fälle mit Subluxations- oder Luxationsfehlstellung im MP-Gelenk bislang keine nachweislich bessere endoprothetische Alternative. > Da systembedingt die postoperative Beweglichkeit in den Grundgelenken nach Spacer-Implantation reduziert ist, sollte man vor dem Ersatz die Beweglichkeit der Nachbargelenke überprüfen, da sonst ein zwar ästhetisch schönes, funktionell aber wertloses Ergebnis folgt.
Neu entwickelte Silikonprothesen zeigen in Studien nach durchschnittlich 3,4 Jahren eine Schmerzfreiheit bei nahezu allen Patienten, aber bereits bei 13% einen Bruch des Implantates (Hilker 2007). Die Resektions-Interpositions-Arthroplastik bleibt als letzte Rückzugsmöglichkeit nach mehrfachem SpacerWechsel oder nach Infektion.
Fingermittelgelenke An den Fingermittelgelenken wird in den frühen Stadien eine offene Synovektomie durchgeführt. Für eine vollständige Synovektomie ist es auch im Bereich der Mittelgelenke notwendig, ein Seitenband abzulösen und es später zu reinserieren. Bei fortgeschrittener Zerstörung der Gelenke hat die Arthrodese die am besten vorhersagbaren Langzeitergebnisse (⊡ Abb. 25.55 u. ⊡ Abb. 25.56).
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
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25 ⊡ Abb. 25.54 Bruch von Swanson-Spacern 8 Jahre postoperativ
Für die Endoprothetik des PIP-Gelenks gilt das Gleiche wie für das MP-Gelenk. Langfristige Nachuntersuchungsergebnisse sind hierzu allerdings noch nicht verfügbar. Möglich ist in fortgeschrittenen Stadien auch die Verwendung von Silastik-Spacern.
Fingerendgelenke An den Fingerendgelenken kann in frühen Stadien eine Synovektomie versucht werden. In späten Stadien wird eine Arthrodese (z. B. mit einer Zuggurtungs-Cerclage oder einer Schraube) durchgeführt.
Daumen Synovektomien sind auch hier möglich, praktisch werden sie
jedoch nur am Daumengrundgelenk durchgeführt, wobei sich dann meistens schon eine Knopflochdeformität ausgebildet hat (s. unten). Bei fortgeschrittener Gelenkdestruktion im Daumensattelgelenk ist die Arthroplastik möglich (z. B. als Resektions-Suspensions-Arthroplastik nach Epping mit transossärer Verlagerung der Sehne des M. flexor carpi radialis zur Stabilisierung des ersten Mittelhandknochens). Die Implantation von Endoprothesen wird aufgrund hoher Komplikationsraten (Osteolyse, Bruch, Luxation, persistierende Schmerzen) kritisch gesehen (Schmidt 2005). Am Daumengrundgelenk wird in fortgeschrittenen Larsen-Stadien die Arthrodese favorisiert. Sie gewährleistet eine gute Funktion durch Stabilität und Schmerzreduktion auch als Kombinationseingriff mit einer Resektions-SuspensionsArthroplastik. Bei fortgeschrittener Destruktion des Daumenendgelenks mit Instabilität und Schmerzen besteht auch an diesem Gelenk die Indikation zur Versteifung. Selbst bei kombinierter Versteifung im Daumengrund- und -endgelenk ist die Beweglichkeit bei funktionierendem Daumensattelgelenk noch akzeptabel und der Gewinn der Stabilität beim Greifen das entscheidende Argument.
b
⊡ Abb. 25.55a,b Technik der Zuggurtungs-Cerclage. Hierzu werden 2 Kirschner-Drähte parallel von der dorsalen Kortikalis des Grundglieds in die palmare Kortikalis des Mittelglieds vorgebohrt. Die Cerclage wird parallel zur Osteotomie durch das Mittelglied geführt, der Draht anschließend in einer Achtertour um die Drahtenden herumgeführt und unter Zug verzwirbelt
xion im Fingerendgelenk. Lässt sich die Hyperextension im Fingermittelgelenk noch aktiv überwinden, kann anfangs noch konservativ therapiert werden (Schwanenhalsringe). Bei symptomatischem Schwanenhalsschnappen oder kontrakten, aber nicht destruierten Gelenken kann operativ versucht werden, die Sehnenspannung palmar zu stärken (z. B. durch eine LittlerTenodese, ⊡ Abb. 25.57). Bei kontrakten und destruierten Gelenken hilft nur die Arthrodese. Die primäre Pathologie bei der Schwanenhalsdeformität des Daumens liegt im Daumensattelgelenk mit dorsoradialer Gelenksubluxation und Adduktionskontraktur des Metakarpale, sodass auch hier die Korrektur vorgenommen wird (Resektions-Interpositions-Arthroplastik mit Abduktionseinstellung des ersten Metakarpale, ggf. mit temporärer KirschnerDraht-Fixierung). Bei kontrakten Gelenken hilft nur noch die Korrekturarthrodese.
Knopflochdeformität des Daumens Die Streckaponeurose (»Streckerhaube«) dorsal des Daumengrundgelenks weitet sich aus, und die darüberliegenden Strecksehnen rutschen zu beiden Seiten ab. Das führt, wenn sie unterhalb des Drehzentrums zu liegen kommen, dazu, dass das Daumengrundgelenk überbeugt. Kompensatorisch muss das Daumenendgelenk überstrecken, um eine Greiffunktion gewährleisten zu können. Ist die Fehlstellung im Gelenk noch flexibel, kann versucht werden, mit Eingriffen, die die Sehnenspannung dorsal verstärken sollen, das Gleichgewicht wieder herzustellen (z. B. Tenodese nach Nalebuff, bei der die dorsalseitige Tenodese mit der Sehne des M. extensor pollicis longus, transossär verankert oder auf sich selbst vernäht, erfolgt). Ist das Grundgelenk kontrakt, ist eine Arthrodese notwendig (auch ggf. in Kombination mit einer Endgelenkarthrodese).
25.1.10
Infektionen an der Hand
Schwanenhalsdeformität Es handelt sich um eine palmare Subluxation des Fingergrundgelenks mit Hyperextension im Fingermittel- und Hyperfle-
Die Hand ist aufgrund ihrer besonderen Funktion als Tast- und Greiforgan im besonderen Maß einer Verletzungsgefahr ausge-
657 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Abb. 25.56 Zustand nach Arthrodese des PIP-Gelenks durch eine Zuggurtungs-Cerclage
⊡ Abb. 25.58 Schnittführung bei Paronychie. (Aus: Martini 2008)
⊡ Abb. 25.57 Littler-Tenodese mit hälftigem, proximalseitig abgesetztem lateralen Extensorenzügel, der unter den Cleland-Ligamenten durchgezogen und auf sich selbst vernäht wird, begleitend erfolgt eine temporäre Kirschner-Draht-Fixation des PIP-Gelenks
Keimverschleppung. Eine Fingerblockade an der Fingerbasis sollte nicht durchgeführt werden, da sie die Fingerdurchblutung kompromittieren kann, zudem sind Lokalanästhetika an infiziertem Gewebe aufgrund der Azidose weniger wirksam (Pillukat 2008). Bei lokal auf die Endphalanx begrenzten Infekten (Paronychie) ist eine Operation in Oberst-Anästhesie möglich. Bei einem Panaritium ist dies jedoch nicht immer sicher zu beurteilen, sodass im Zweifelsfall (z. B. bei Verdacht auf eine beginnende Sehnenscheideninfektion) eine höher gelegene Anästhesie (z. B. Plexusanästhesie) erfolgen sollte.
Paronychie setzt. Zu Beginn oft unscheinbar wirkende Verletzungen können durch das Eindringen von Erregern tiefreichende Infektionen auslösen. Der orthopädische Chirurg muss die Anatomie von Finger und Hand mit den verschiedenen Kompartimenten genau kennen, um den Infekt korrekt behandeln zu können. Grundsätzlich gilt bei allen eitrigen Finger- und Handinfektionen, dass eine frühzeitige Entlastung des Eiterherdes durchgeführt wird. Konservative Therapie (Ruhigstellung und Antibiotikagabe) erfolgt bei (Brug 2002): ▬ Lymphangitis (bei der der primäre Herd noch nicht bekannt ist) ▬ Entzündung der Nagelregion, die noch nicht eingeschmolzen ist ▬ Furunkel ▬ Erysipel und Erysipeloid ▬ nicht pyogene Entzündung der Finger (z. B. Arthritis urica)
Die Infektion betrifft das an den Nagel angrenzende Gewebe und das Nagelbett mit Nagelmatrix. Klinisch ist der Nagelwall geschwollen und gerötet. Bis zur Einschmelzung oder aber bis zur ersten schlaflosen Nacht aufgrund der Schmerzen ist eine konservative Behandlung möglich, ansonsten muss inzidiert werden. Hierbei erfolgt die Inzision entweder von der Nagelplatte aus oder senkrecht zum Nagelwall (⊡ Abb. 25.58).
Panaritium Der Begriff Panaritium wird in der Regel für alle subkutanen pyogenen Infektionen der Fingerbeugeseite benutzt, obwohl er nicht sehr genau ist. Ein subungual gelegener Infekt erfordert zur Therapie eine partielle oder manchmal auch eine komplette Nagelentfernung, gelegentlich reicht auch eine Trepanation (⊡ Abb. 25.59; Brug 2002, Pillukat 2008).
Subkutaner Infekt im Bereich des Fingerendglieds Bei operativer Therapie erfolgen die Eingriffe in Oberarmblutsperre ohne Auswickeln des Arms wegen der Gefahr der
Hierbei ist die Fingerpulpa betroffen. Die Fingerpulpa zeigt nach distal hin kleine, keilförmige, aus Bindegewebe und Fett
25
658
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
tiefen Beugesehnen) und – im Falle eines Infektes – zu einer V-Phlegmone führen. z
Ätiologie und Pathogenese
Sehnenscheideninfektionen entstehen entweder durch eine direkte traumatische Penetration von keimhaltigem Gewebe in die Beugesehnenscheide (z. B. Nadelstichverletzung) oder durch ein sekundäres Durchbrechen des subkutan gelegenen Eiterherds. Häufig entwickelt sich das Vollbild der Infektion rasch (innerhalb von wenigen Stunden).
25
Klassische Zeichen der Beugesehnenphlegmone
▬ Beugehaltung des Fingers (Funktionsstellung zur Entlastung)
▬ Druckschmerz über der gesamten Beugesehnenscheide ▬ Schmerzen bei massivem Strecken des Fingers ▬ Schwellung des gesamten Fingers Am Daumen und Zeigefinger können die Zeichen aufgrund der Drainage in Richtung Unterarm schwächer ausgeprägt sein. ⊡ Abb. 25.59 Mögliche Schnittführung bei Panaritium der Fingerpulpa. (Aus: Martini 2008)
aufgebaute Kompartimente, die durch straffe Faserplatten begrenzt werden. Sie absorbieren den Druck beim festen Zugreifen mit der Fingerkuppe, ohne dass Gegenstände abrutschen können. Möglich ist hier eine mediolaterale Längsinzision oder eine Inzision von palmar über den Punctum maximum. Ein froschmaulartiger, also bilateraler Schnitt sollte vermieden werden, da er zu Verletzungen der Gefäße und Nerven an der Fingerkuppe führen kann, was später Beschwerden macht (Stepanovic 2005). Die Inzisionsstelle sollte 3–4 Tage mit einer Drainage offengehalten werden.
Sehnenscheideninfektion z
Anatomie
Die Beugesehnenscheiden verbessern die Gleitfähigkeit der Sehnen. Die innere Schicht der Beugesehnenscheiden, das Stratum synoviale, besitzt ein inneres viszerales Blatt, das unmittelbar um die Sehne gelegen ist und mit dem parietalen Blatt über das Mesotendineum verbunden ist. Zwischen dem viszeralen und parietalen Blatt befindet sich die Synovia und verbessert die Gleitfähigkeit. Nach außen schließt sich ein Stratum fibrosum an das Stratum synoviale an. Dieses Stratum fibrosum ist abschnittsweise zu Ring- und Kreuzbändern verstärkt. Die Beugesehnenscheiden der Dig. II–IV reichen proximal bis auf Höhe der Mittelhandköpfe und distal bis zu den Endphalangen. Die Beugesehnenscheide des Kleinfingers setzt sich kontinuierlich in die ulnare Bursa fort, die sich bis in Höhe des Handgelenks erstreckt. Die Beugesehnenscheide des M. flexor pollicis longus setzt sich in die radiale Bursa fort, die ebenfalls bis zum Handgelenk zieht. Diese beiden Sehnen können in dem sog. Parona-Raum miteinander kommunizieren (dieser befindet sich zwischen dem M. pronator quadratus und den
z
Differenzialdiagnostik
Beim Abszess wird der Finger in Streckstellung gehalten, ein subkutaner Abszess hat keine Allgemeinsymptome wie Fieber, und es besteht eine lokale Schmerzangabe. z Therapie z z Operative Therapie
Es sollte möglichst frühzeitig operiert werden. Je nach Ausmaß der Infektion und Vorliebe des Operateurs werden mehrere Vorgehensweisen beschrieben: ▬ Singuläre Inzision mit Antibiotikainstillation durch einen Schnitt auf Höhe des Ringbands A1: Hierbei werden über einen 16-G-Katheter Antibiotika alle 2 h instilliert. ▬ Proximale Instillation von Antibiotika kombiniert mit einer distalen Drainage: Hierbei wird eine transverse Inzision knapp distal der Endgelenkbeugefurche durchgeführt und die Beugesehnenscheide eröffnet. Das proximale Ende der Sehnenscheide wird mit einer Nadel punktiert und die Beugesehne mit einer antibiotikahaltigen Lösung gespült. Dieser Vorgang wird so lange durchgeführt, bis die Spülflüssigkeit klar wird. Dann wird die Wunde verschlossen und die Nadel herausgezogen. ▬ Intermittierende Spülung mit antibiotikahaltiger Flüssigkeit: Das Verfahren ist wiederum ähnlich. Es erfolgt die transverse Inzision distal der Beugefurche des Handgelenks sowie die Inzision auf Höhe des Ringbands A1 (⊡ Abb. 25.60). Ein Katheter wird von proximal nach distal hineingeschoben und die Beugesehnenscheide gespült, was in schweren Fällen oft kontinuierlich nötig ist. Entfernt wird der Katheter nach 2–3 Tagen. ▬ Ausgedehnte offene Revision mit Nekrosektomie: Dies ist bei einer Beugesehnensynovektomie möglich. Die Inzision kann entweder von lateral oder von palmar in Form von Bruner-Inzisionen erfolgen.
659 25.1 · Erkrankungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Abb. 25.60 Mögliche Schnittführung bei Sehnenscheideninfektion. (Aus: Martini 2008)
Die Eintrittspforte – wenn erkennbar – sollte mit exzidiert und ein möglicher Fremdkörper entfernt werden. Dies gelingt in der Regel nur über einen zusätzlichen offenen Schnitt. Wurde an 3 Stellen inzidiert, empfiehlt sich ohnehin die Eröffnung des gesamten Fingers. Die Ringbänder A2 und A4 sollten beim offenen Vorgehen und bei ausgedehnter Revision nach Möglichkeit erhalten werden. Sind die Ringbänder oder auch das Sehnengewebe bereits nekrotisch, müssen sie komplett entfernt werden. Ein Ersatz (ggf. mit Sehnentransplantat) muss dann später durchgeführt werden. Pillukat (2008) empfiehlt bei Anlage einer Spül-Saug-Drainage die Einlage eines zentralvenösen Venenkatheters von distal und proximal die Verwendung einer Redondrainage. Über diese Spül-Saug-Drainage wird eine kontinuierliche Lavage mit 1.000–1.500 ml Kochsalz pro 24 h für maximal 3 Tage empfohlen. Nach Absetzen der Spülung sollte die Drainage für weitere 1–2 Tage verbleiben, bei persistierenden Infektzeichen wird eine »Second-look«-Operation empfohlen. Brug und Langer (2002) raten dagegen von einer Spül-Saug-Drainage aufgrund erheblicher Schmerzsymptomatik ab. Der operierte Finger sollte für 2–4 Tage mobilisiert und anschließend krankengymnastisch beübt werden, damit es nicht zu einer Einsteifung des Fingers kommt. Es ist zu bedenken, dass die Sehnenscheide sich weiter nach proximal ausdehnt. Wird die Infektsituation der Sehnenscheide nicht adäquat therapiert, so kann die Bursa ebenfalls mit in den Prozess einbezogen werden. Beide Infektionsarten fordern separate Inzisionen zur geschlossenen oder offenen Spülung der Bursa.
Hohlhandphlegmone Bindegewebige Septen und Muskelfaszien unterteilen die Hohlhand in 3 weitgehend abgeschlossene Kammern. Der Thenarraum wird von der Faszie des Daumenballens umhüllt, die proximal an den Handwurzelknochen und dem Retinaculum flexorum, distal an den Sesambeinen des Daumengrundgelenks ansetzt. Radial reicht die Faszie bis an die radiale Kante des
Schafts vom ersten Mittelhandknochens, nach ulnar dehnt sie sich bis zum dritten Mittelhandknochen aus und bedeckt das Caput transversum des M. abductor pollicis. Infolge seines schrägen Verlaufs wird dieser Faszienanteil als Septum oblicum beschrieben. Der Hypothenarraum wird ebenfalls von einer Faszie allseitig umschlossen, die vom Os pisiforme bis zur Basis der Grundphallanx des kleinen Fingers reicht. Entzündliche Prozesse bleiben sowohl im Thenar- als auch im Hypothenarraum in der Regel zunächst auf diese begrenzt. Der Mittelhandraum wird von der Palmaraponeurose fast vollständig abgedeckt. Proximal beginnt er an den distalen Ausläufern des ulnaren karpalen Sehnenscheidensacks, während er nach distal in 8 Gleiträume für die Beugesehnenfinger sowie für die Mm. lumbricales und die digitalen Leitungsbahnen ausläuft. Radial und ulnar bilden marginale Septen Trennwände gegenüber dem Daumen und Kleinfingerballenfach. Man kann sie als Fortsetzungen der Seitenwände des Karpaltunnels auffassen. Das radiale marginale Septum beginnt am distalen Rand des Retinaculum flexorum. Es quert über den M. adductor pollicis und dem M. interosseus dorsalis I und formt die radiale Begrenzung des Lumbricaleskanals für den Zeigefinger. Es wird von der Sehne des M. flexor pollicis longus, dem Ramus thenaris des N. medianus, dem Radialisast für die Oberfläche der arteriellen Hohlhandbogen und Leitungsbahnen für den Daumen durchbohrt. Digitale Arterien- und Nervenäste für die radiale Zeigefingerseite sind dagegen in das Septum eingebettet. Das ulnare marginale Septum ist mit dem Schaft des fünften Metakarpaleknochens verheftet. Es wird von den digitalen Ästen des N. ulnaris und der A. ulnaris durchquert, die dann in den Arcus palmaris superficialis übergeht. Den Boden des Mittelhandraums decken die tiefe Hohlhandfaszie, die Faszie des M. adductor pollicis sowie das Lig. metacarpale transversum profundum ab. Die Kenntnis dieser Räume ist wichtig, um unter Schonung von Gefäßen und Nerven den Abszess drainieren zu können.
25
660
25
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Die Hohlhandphlegmone ist eine eitrige Entzündung der Hohlhand. Sie kann nach direkter Verletzung oberflächlich unterhalb der Palmaraponeurose lokalisiert sein oder sich in die Tiefe fortsetzen. Klinisch kommt es zu einer Rötung und Schwellung der betroffenen Stelle mit Schmerzen und Fieber. Bei Infektionen des Mittelhandraums kommt es zu einer sog. Intrinsic-Minus-Stellung, die Grundgelenke stehen hierbei in Streckstellung, während die Mittel- und Endgelenke gebeugt gehalten werden. Bei der Infektion im Bereich des Thenarraums wird der Daumen stark abgespreizt gehalten. Die erste Zwischenfingerfalte ist hierbei prall gespannt und vorgewölbt.
Septische Arthritis Klinisch besteht ein schmerzhaft geschwollenes Gelenk, das Gelenk wird in leichter Beugestellung gehalten. Radiologisch zeigt sich bei länger bestehenden Infekten eine Verschmälerung des Gelenkspalts mit der Ausbildung von Osteolysen. Differenzialdiagnostisch kommen hierbei auch rheumatologische Erkrankungen, die rheumatoide Arthritis, Gicht, Chondrokalzinose oder andere Erkrankungen infrage. Das operative Vorgehen erfolgt von dorsal durch eine Y-förmige Inzision im Endgelenk, eine bogenförmige Inzision an den Mittel- und Grundgelenken sowie eine gerade Inzision über dem dorsalen Handgelenk. Der destruierte Knorpel wird entfernt und – wenn beide Gelenkflächen zerstört sind – der Gelenkflächenknochenanteil im Gesunden abgetragen. Es folgt eine Spülung des Gelenks mit einer antiseptischen Lösung. Pillukat und Schoonhoven (2008) empfehlen bei resezierten Gelenkflächen die Einlage von Gentamicin-haltigen PMMAKetten und die Einlage eines Gentamicin-haltigen Schwammes bei intakten Knorpelflächen. Nach Spülung wird das Gelenk verschlossen und eine Antibiotikatherapie zunächst mit einem Breitspektrumantibiotikum und wird später nach mikrobiologischer Keimbestimmung fortgeführt. Das betroffene Gelenk muss beispielsweise durch einen Fixateur extern ruhiggestellt werden. Bei persistierendem Infekt soll die Indikation zu »Second-look«-Eingriffen großzügig gestellt werden. Bei entsprechend destruierten Karpalia im Handgelenk sollten diese entfernt werden. Falls ein primärer Wundverschluss nicht zu erzielen ist, muss ggf. die Wunde mit einem Polyurethanschwamm temporär verschlossen und später, wenn ein sekundärer Wundverschluss nicht möglich ist, eine Lappenplastik durchgeführt werden.
25.2
Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
M. Jakubietz, R. Jakubietz, J. Grünert
25.2.1
Weichteilverletzungen
Behandlung unkomplizierter Verletzungen Schnittverletzungen im Bereich der oberen Extremität sind extrem häufig, sie stellen einen nicht unerheblichen Anteil der Verletzungen dar, die in einer Notfallambulanz versorgt wer-
den. In jedem Fall sind sie ernst zu nehmen, und aufgrund der anatomischen Besonderheiten der Hand und des Unterarms muss bei jeder Verletzung des Hautmantels eine Verletzung tieferer Strukturen wie Blutgefäße, Nerven und Sehnen ausgeschlossen werden (⊡ Abb. 25.61 und ⊡ Abb. 25.62). Eine neurologische Untersuchung muss vor dem Setzen der Lokalanästhesie durchgeführt und dokumentiert werden. Im Zweifelsfall kann die Spitz-Stumpf-Diskrimination mit einer Kanüle am effektivsten getestet werden. Neben der klinischen Untersuchung ist immer eine Exploration der Wunde durchzuführen. Neben den allgemeinen chirurgischen Voraussetzungen fordern Eingriffe an der Hand weitere besondere Voraussetzungen wie geeignete Anästhesietechniken, Beherrschung atraumatischer Operationstechniken, Lupenbrillenvergrößerung bzw. Operationsmikroskop und grundlegende Anatomiekenntnisse. > Die Lokalanästhesie muss am Finger, wie in allen Bereichen von Endarterien, immer ohne Adrenalinzusatz erfolgen.
Einfache Schnittverletzungen können nach Anfrischen der Wundränder bei der Exploration primär verschlossen werden. Im Bereich der Hohlhand und der Finger sollte kein Subkutanfaden verwendet werden, am Unterarm und Handrücken kann Subkutanmaterial nebst Hautfäden eingesetzt werden. Weiterhin ist eine Lascheneinlage zur besseren Drainage zu empfehlen. Bei größeren Schnittverletzungen, die unter Umständen auch eine Schnitterweiterung erfordern, müssen die Gesetze der Schnittführung an der Hand beachtet werden. An der Hand sind Narben besonders kritisch, da diese zu Schrumpfungen neigen, die letzten Endes in Narbenkontrakturen resultieren können. Im Bereich der Gelenkbeugefurchen darf eine Inzision daher niemals senkrecht über die Beugefurche geführt werden. Tipp
I
I
Die bevorzugten Schnitte in der Hohlhand und an den Fingern laufen bogenförmig bzw. zickzackförmig (BrunnerSchnitt), sodass hier keine Kontrakturen entstehen können. Im Bereich des Handrückens, der Fingerrücken und des Unterarms sind längsgerichtete Schnitte zu empfehlen, dies verhindert unnötige Zerstörung von venösen und lymphatischen Abflusswegen und Nerven.
Bei tiefergehenden Verletzungen müssen die verletzten Strukturen durch einen handchirurgisch versierten Operateur versorgt werden.
Plastisch-chirurgisches Vorgehen bei Weichteilverletzungen Defektverletzungen, die nicht primär verschlossen werden können, fordern Lappendeckungen nach den Gesetzen der plastischen Chirurgie. Kleine Defekte können durch lokale Lappenplastiken wie Transpositionslappen, Dehnungslappen, Rotationslappen oder VY-Plastiken versorgt werden. Bei diesen Lappen ist insbesondere auf einen spannungsfreien Verschluss zu achten, da der Weichteilmantel der Hand straff ist und daher
661 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
b
⊡ Abb. 25.61 a Äußerlich harmlos imponierende Verletzung, b intraoperativer Befund mit Durchtrennung beider Beugesehnen
a
b
⊡ Abb. 25.62 a Minimale Eintrittsstelle, b radiologische Ausbreitung der Verletzung
nicht viele lokale Rekonstruktionsmöglichkeiten nach fehlgeschlagenen Lappenplastiken ermöglicht. Sämtliche Defekte, die nicht sicher verschlossen werden können, sollten einem plastischen Chirurgen oder Handchirurgen zugewiesen werden. Im Zweifelsfall ist eine Wunde eher mit einem temporären Hautersatz zu decken, um so nicht durch falsche Schnittführung die rekonstruktiven Möglichkeiten zu verbauen. Lappenplastiken wie gestielte myokutane, fasziokutane sowie muskuläre Lappen sollten prinzipiell von einem plastischen Chirurgen nach Ausschöpfung der lokalen Maßnahmen durchgeführt werden. > Spalthaut- und Vollhauttransplantationen sind auf der Beugeseite mit äußerster Zurückhaltung einzusetzen, da keine gute Sensibilität im Bereich der transplantierten Areale erreicht werden kann.
Die Sensibilität der palmaren Handanteile ist von großer Bedeutung, da unsensible Areale die Funktion der Hand einschränken und sehr verletzungsanfällig sind, was zu Infektionen und letztlich Amputationen führen kann. Am Handrücken und im Bereich der Fingerrücken sind Hauttransplantationen prinzipiell möglich, stellen aber aufgrund der Transplantatschrumpfung ein Risiko für die Beweglichkeit dar. Ein Sonderfall sind an der Hand tangentiale oberflächliche Messerschnittverletzungen, da in diesen Fällen die abgetrennte Hautpartie als ein sofortiges Vollhauttransplantat eingesetzt wird. Hier sollte eine sorgfältige Entfettung und eine Stichelung der Oberfläche zum verbesserten Sekretabfluss durchgeführt werden. Diese Vollhauttransplantate können dann an die ursprüngliche Stelle zurückgenäht werden. Nach Weichteileingriffen sollten die Fäden wie nach allen Handoperationen für 14 Tage belassen werden. Erst nach gesicherter Wundheilung sollte mit der Mobilisation begonnen und ggf. eine Handtherapie inklusive Narbenbehandlung durchgeführt werden. Narbenverhärtungen können durch Massieren behandelt werden, die Patienten sollten angehalten werden, 12 Monate lang eine Sonnenexposition zu vermeiden, um permanenten Hyperpigmentierungen vorzubeugen. Narbenkorrekturen werden erst nach diesem Zeitraum, in Einzelfällen schon nach 6 Monaten, durchgeführt.
Verbrennungen Verbrennungen der Hand sind immer als schwere Verletzungen einzuordnen. Sie können durch direkte Einwirkungen von Hitze, Feuer etc., aber auch durch Stromverletzungen bedingt sein. Verbrennungen werden nach Eindringtiefe klassifiziert (⊡ Tab. 25.6). Neben weiteren Faktoren kann die Schmerzhaftigkeit als Hilfe beigezogen werden. Wegen der unmittelbaren Exposition der Nervenenden sind IIa-Verbrennungen am schmerzhaftesten, der Schmerz nimmt bei tieferen IIb-Verbrennungen ab und hört bei drittgradigen Verbrennungen ganz auf. Verbrennungen werden weiter nach Anteil der betroffenen Körperoberfläche gewichtet. Nach der sogenannten 9er-Regel
25
662
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Tab. 25.6 Einteilung der Verbrennungen
25
Grad
Tiefe
Eigenschaften
I
Epidermis
Narbenfreie Abheilung
IIa
Oberflächliche Dermis
Narbenfreie Abheilung, schmerzhaft
IIb
Tiefe Dermis
Narbenbildung, schmerzhaft
III
Subkutis
Schmerzlos
IV
Tiefe Strukturen
Zerstörung von Sehnen und Muskeln bis auf die Knochen
⊡ Abb. 25.63 Blasenbildung bei Grad IIa
stellt ein Arm 9% der Oberfläche dar. 1% entspricht dem Handteller. Handverbrennungen erfordern immer die Behandlung durch einen Spezialisten. Neben der Abschätzung des Schweregrads muss eine frühzeitige Therapie erfolgen. Oberflächliche Verbrennungen der Grade I und IIa werden konservativ behandelt und heilen ohne Narbenbildung ab (⊡ Abb. 25.63). Tiefere Verbrennungen der Grade IIb, III und IV müssen operativ versorgt werden (⊡ Abb. 25.64). Eine Nekrektomie und weiteres Débridement sind nötig. Bei allen Brandverletzungen muss im Bereich der oberen Extremität ein Kompartmentsyndrom ausgeschlossen werden. In der Hand ist ein Druck von 20–30 mmHg ausreichend, um ein Kompartmentsyndrom zu erzeugen. Besonders zirkuläre Verbrennungen oder Verbrennungen der einzelnen Finger sind kritisch im Hinblick auf die Durchblutung. Bei vaskulärer Kompromittierung ist eine frühzeitige Escharotomie indiziert, um eine Malperfusion zu beheben. Die operative Behandlung besteht aus einem Débridement, Wundkonditionierung und der Rekonstruktion (⊡ Abb. 25.65). Neben der Rekonstruktion bei tiefen Wunden stellt v. a. der Hautverschluss im Bereich der Hand ein Problem dar. Gelenküberbrückende Defekte mit freiliegenden Sehnen, Knochen und Gefäßen werden mit Lappen versorgt, um die Beweglichkeit nicht einzuschränken und eine adäquate Polsterung zu sichern. Nur bei oberflächlichen Defekten ohne Exposition tiefer Strukturen können Hauttransplantate benutzt werden. Diese sollten aufgrund der Bewegungsanforderungen einer Hand immer als Vollhauttransplantate entnommen werden, da die Transplantatschrumpfung geringer als bei Spalthauttransplantaten ausfällt. Insbesondere im Bereich der Hohlhand und der Greifflächen der Finger müssen die Transplantate eine ausreichende Dicke von mehr als 0,5 mm aufweisen, um spätere Kontrakturen zu verhindern.
Verletzungen durch Strom Ein Sonderfall der Verbrennungen sind elektrische Verletzungen der oberen Extremität. Bei Stromverletzungen gibt es oberflächliche Befunde, die eher Verbrennungen zuzurechnen sind und dementsprechend therapiert werden. Bei tiefen Verletzungen mit hohem Stromfluss sind Muskulatur, Fett,
⊡ Abb. 25.64 Zerstörung aller Hautschichten und Strecksehnen
⊡ Abb. 25.65 Ergebnis nach Débridement, Amputation und Leistenlappen
Sehnen und sogar Knochen stärker als die Haut geschädigt. Äußerlich sind diese Verletzungen meist wenig eindrucksvoll, Ein- und Austrittsstellen erscheinen trocken und können sogar übersehen werden, eine Blasenbildung ist untypisch. Klinisch sind dies jedoch sehr anspruchsvolle Verletzungen. Initial steht die intensivmedizinische Behandlung im Vordergrund.
663 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Abb. 25.66 Amputation ohne freiliegenden Knochen
! Cave Das akute Nierenversagen stellt aufgrund der massiven Myonekrosen eine gefürchtete Komplikation dar, die mittels Diurese und Alkalisierung des Urins behandelt werden muss.
Operativ müssen insbesondere ein Kompartmentsyndrom und ausgedehnte Nekrosen behandelt werden. Mehrmalige Débridements sind notwendig, bevor ein definitiver Verschluss und die Rekonstruktion erfolgen können.
Amputationen Traumatische Amputationen betreffen häufig die oberen Extremitäten. Bei unauffindbaren Amputaten und bei Kontraindikationen zur Replantation muss eine Stumpfversorgung durchgeführt werden. Eine Stumpfbildung darf nicht als Versagen gesehen werden, sondern als eine gute Alternative. Asensible, kälteempfindliche und steife replantierte Strukturen können die Funktion der Resthand stärker beeinträchtigen als es beispielsweise das Fehlen eines Langfinger vermag. Die Ziele der Stumpfbildung sind Erhaltung der Länge, stabile Deckung, Sensibilität, Vermeidung von Neuromen, uneingeschränkte Funktion und eine eventuelle Prothesenanpassung. Eine Stumpfbildung ist v. a. ein Weichteileingriff, da die Deckung die Funktionalität entscheidend bestimmt. Es wird unter Beachtung folgender Grundsätze behandelt: ▬ Narben sollen bevorzugt dorsal, nicht jedoch palmar im Greifbereich liegen. ▬ An Langfingern kann eine Knochenkürzung durchgeführt werden. ▬ Dorsale Defekte sind günstiger als palmare. Weiterhin muss die funktionelle Wertigkeit der Finger berücksichtigt werden. Der Daumen, als einziger Opponent zu den Langfingern, entspricht funktionell einer halben Hand und muss besonders behandelt werden. > Der Daumen darf nicht zurückgekürzt werden, vielmehr sollte durch plastische Maßnahmen die Länge
⊡ Abb. 25.67 Neurovaskulärer Segmüller-Lappen an Dig. II nach Teilamputation mit freiliegendem Knochen
konserviert werden. Kuppendefekte können durch neurovaskuläre Lappen wie den Moberg-Lappen gedeckt werden.
Der entstandene Längenverlust kann auch rekonstruiert werden. Ein relativer Längengewinn durch Vertiefung des ersten Interphalangealraums mit einer Z-Plastik stellt die kleinste Maßnahme dar. Die Daumenlänge kann durch Distraktion oder durch Transplantation eines Zehs optimiert werden. Bei einer kompletten Daumenamputation ist auch die Zeigefingerpollizisation möglich. Dabei wird im metakarpalen Anteil der Zeigefinger abgesetzt und auf das Metakarpale I umgesetzt. An den Langfingern werden je nach Höhe der Amputation unterschiedliche Verfahren gewählt. Amputationsverletzungen der Fingerkuppe kommen am häufigsten vor. Ihre Behandlung wird sehr kontrovers diskutiert. Es muss zwischen Amputationen mit und ohne freiliegendem Knochen unterscheiden werden. Insbesondere bei nicht freiliegendem Knochen kann die Heilung per secundam durch Granulation abgewartet werden (⊡ Abb. 25.66). Obwohl der Heilungsverlauf sich langwieriger gestaltet, sind die Ergebnisse dem operativen Vorgehen überlegen. Durch Granulation entsteht eine Fingerkuppe, die im Hinblick auf Funktion, Kosmetik und Sensibilität hervorragend ist. Der am häufigsten angewandte Verband ist ein Okklusivverband, der mehrmals wöchentlich gewechselt werden muss. Auch ein Semiokklusivverband stellt eine gute Option dar. Bei freiliegendem Knochen sollte eine operative Versorgung angestrebt werden, um eine gute Weichteildeckung und Sensibilität sicherzustellen. Hier können kleine, neurovaskuläre Lappen entweder als Moberg-Lappen am Daumen oder Segmüller-Kutler-Lappen der Langfinger indiziert sein (⊡ Abb. 25.67). Auch kann eine minimale Rückkürzung des Knochens durchgeführt werden, wodurch eine Verletzung ohne freiliegenden Knochen geschaffen wird, die sekundär granulieren kann. Granulationsgewebe über freiliegendem Knochen ist in Hinblick auf Belastbarkeit und Sensibilität gesundem Gewebe eines neurovaskulären Lappens unterlegen und stellt daher nicht die erste Wahl dar.
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Bei Amputation mit schweren Nagelverletzungen und bei denen der verbleibende Knochen keine adäquate Stützung des Nagels mehr darstellt, sollte der Restnagel inklusive Nagelwachstumszone entfernt werden, um Probleme mit Nagelresten zu vermeiden. Bei Amputationen durch das DIP-Gelenk sollte eine Rückkürzung und Entfernung der kondylären Anteile erfolgen. Die Knorpeloberfläche muss ebenfalls entfernt werden, sodass eine feste Verbindung zwischen Knochen und bedeckenden Weichteilen zustande kommt und die Bildung einer Bursa verhindert wird. > Die Beuge- und Strecksehne sollten zurückgekürzt werden, ein Vernähen beider Sehnen miteinander darf auf keinen Fall erfolgen. Dies würde zum Quadriga-Effekt führen, wobei durch die unphysiologische Vorspannung einer Sehne die Beweglichkeit und Kraft der unverletzten Finger eingeschränkt sind.
Die Gefäß- und Nervenbündel werden auf beiden Seiten freipräpariert. Die Arterien werden unterbunden, während die Nerven zurückgekürzt und so von der Narbe separiert werden, um schmerzhafte Neurome zu vermeiden. Der Hautverschluss kann nach der Rückkürzung primär erfolgen. Bei Amputationen im Mittelglied kann ebenso verfahren werden. Da hier der Profundusansatz nicht mehr gegeben ist, kann es aufgrund der Vorspannung im Profundus zur sog. LumbrikalPlus-Erscheinung kommen: Es wird bei Beugung paradoxerweise eine Streckung im PIP-Gelenk auftreten, da durch die Mm. lumbricales die Streckerhaube gespannt wird. Dies kann durch ein Absetzen der Profundussehne proximal der Lumbrikalansätze oder eine Durchtrennung des radialen Seitenzügels verhindert werden. Liegt die Amputation im Bereich der Insertion der FDSSehne, kann im PIP-Gelenk nicht mehr aktiv gebeugt werden, und eine Erhaltung der Länge hat nur kosmetischen Wert. Amputationen im PIP-Gelenk werden wie diejenigen im DIP-Gelenk behandelt. Bei Amputationen im Grundglied kann eine Flexion von ca. 45° durch die intrinsische Muskulatur erfolgen. Dennoch sollte hier die Länge erhalten werden, damit kleine Objekte nicht zwischen den Fingern hindurchfallen. Dies ist bei Amputationen an Dig. III und IV häufig der Fall. Bei randständigen Fingern wie Dig. II und V tritt dieses Problem nicht auf. Bei kompletten Fingeramputationen sollte eine Handverschmälerung diskutiert werden, um das Handbild zu harmonisieren. Dabei wird der betroffene Strahl bis zur Metakarpalebasis entfernt. Eine Transposition eines intakten Fingers auf die Metakarpalebasis schließt dann die durch die Amputation entstandene Lücke. Insbesondere bei Amputationen der Mittelstrahlen ist funktionell die Indikation zur Verschmälerung gegeben, während die Indikation an Dig. II und V kosmetisch gestellt wird. ! Cave Dieses Verfahren ist für manuell arbeitende Patienten nicht geeignet, da durch den Verlust von Breite in der Hohlhand auch die Stabilität beim Greifen verringert wird.
Amputationen durch den Karpus und weiter proximal sind schwere Verletzungen, die bei nicht sinnvoller Replantation die
genaue Planung erfordern. Da die Prothesenversorgung der oberen Extremität und Hand bis dato funktionell oft unbefriedigend ist, sollte auf eine maximale Länge des Stumpfs geachtet werden, um so dem Patienten Klemmbewegungen, wie das Halten einer Flasche im Ellenbogen oder gegen den Körper, zu ermöglichen. Um die maximale Länge zu erhalten, sind in vielen Fällen plastische Lappendeckungen die einzige Alternative. Im Bereich der oberen Extremität können gestielte Latissimusdorsi-Lappen den Bereich des Ellenbogens erreichen, während weiter distal gelegene Defekte in der Regel mit freien Lappen versorgt werden.
25.2.2
Sehnenverletzungen
Sehnenverletzungen können an der Hand in Streck- und Beugesehnenverletzungen und weiter in offene und geschlossene Verletzungen unterteilt werden. Geschlossene Sehnenrupturen sind meistens indirekte Verletzungen, offene Verletzungen kommen durch Schnitt- und Stichverletzungen zustande. Die Sehnenchirurgie der Hand wurde lange Zeit kontrovers diskutiert, insbesondere die Beugesehnen stellten aufgrund der sehr schlechten Ergebnisse nach Sehnennähten ein Behandlungsproblem dar. Erst in den letzten Dekaden gelang es aufgrund von verfeinerten Nahttechniken und v. a. Nachbehandlungsmethoden die Ergebnisse deutlich zu verbessern. Sämtliche Stich- und Schnittverletzungen im Bereich der Hand und des Unterarms, bei denen die Möglichkeit einer Sehnenverletzung besteht, müssen exploriert werden. Eine kulissenartige Verschiebung der Weichteile kann eine nur oberflächliche Verletzung simulieren. Auch eine unauffällige Klinik mit kompletter Beugung und Streckung schließt eine Verletzung einer Sehne nicht aus. Tipp
I
I
Eine übersehene Teilruptur einer Sehne kann sekundär zur kompletten Ruptur der Sehne führen mit deutlich erschwerter Rekonstruktion. Daher ist bei allen palmaren und dorsalen Stichverletzungen zu einer gründlichen Exploration mit Schnitterweiterung unter Blutsperre zu raten.
Im Zweifelsfall sollte die Wunde verschlossen und eine sekundäre Exploration spätestens nach 7 Tagen durch einen Handchirurgen durchgeführt werden.
Strecksehnenverletzung Strecksehnenverletzungen werden fälschlicherweise als einfachere Verletzungen im Vergleich zu Beugesehnenverletzungen empfunden. Im Bereich der Streckersysteme sind die Strukturen jedoch feiner, dünner und mit weniger guten Verschiebeschichten ausgestattet, daher dürfen solche Verletzungen keinesfalls unterschätzt werden. Auch die Anatomie der Strecksehnen ist deutlich komplexer im Vergleich zu den Beugesehnen. Die Strecksehnen können in verschiedene Zonen eingeteilt werden. Diese Zoneneinteilung wurde zuerst von Bunnell beschrieben und später von Kleinert und Verdan modifiziert
665 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
worden. Sie ist im Hinblick auf die Nachbehandlung der Strecksehnenverletzungen wichtig (⊡ Tab. 25.7). > Distale Verletzungen (Zone I–IV) haben schlechtere Ergebnisse als proximale (Zonen V–VIII) Verletzungen.
Strecksehnenverletzungen werden in geschlossene und offene Verletzungen eingeteilt.
Geschlossen Strecksehnenverletzungen Bei geschlossenen Strecksehnenverletzungen sind v. a. die subkutanen Strecksehnenausrisse über dem Endgelenk zu erwähnen, sie sind die häufigste geschlossene Sehnenverletzung überhaupt. Diese Verletzung kommt durch Gewalteinwirkung auf die Fingerspitze mit Gelenkstauchung und abrupter Beugung im Endgelenk zustande. Es kommt zu einem subkutanen Sehnenausriss am Ansatz der Sehne im Endglied. In einigen Fällen kommt es zur sog. Busch-Fraktur, einem knöchernen Strecksehnenausriss an der Basis des Endgliedes. Subkutane Strecksehnenausrisse werden konservativ durch Schienenbehandlung mit einer Überstreckschiene, evtl. auch mit einer Stack-Schiene, für 8 Wochen behandelt. Knöcherne Strecksehnenausrisse werden bei Beteiligung von mehr als einem Drittel der Gelenklinie operativ versorgt. Hierbei kommen sowohl die offene Reposition mit DrahtCerclage oder Schraubenosteosynthese infrage als auch eine perkutane Kirschner-Draht-Osteosynthese nach Iselin. Weitere subkutane Strecksehnenverletzungen sind die Verletzungen des M. extensor pollicis longus. Diese Spontanruptur kann durch Scheuern an Osteophyten bei radiokarpaler Arthrose, durch ein direktes Trauma oder nach zurückliegender Radiusfraktur durch Druckerhöhung im dritten Streckerfach mit nachfolgender avaskulärer Nekrose auftreten. In diesen Fällen ist ausnahmslos eine operative Therapie indiziert. Neben der Entfernung von Osteophyten sollte hier eine Transposition der Sehne des M. extensor indicis auf den distalen Extensor-pollicis-longus-Anteil mit einer Durchflechtungsnaht erfolgen. Eine primäre Sehnennaht ist nur in ausgewählten Fällen indiziert, da durch das langsame Aufscheuern eine Defektstrecke der Sehne entstanden ist.
Offene Strecksehnenverletzungen Offene Strecksehnendurchtrennungen sollten immer exploriert und auf Begleitverletzungen besonders des dorsalen Ulnarisastes und des Radialisendastes hin untersucht werden. Weiterhin müssen Infekte, die durch Zahnschlagverletzungen (»clenched fist syndrome«) über den MP-Gelenken verursacht werden, immer in Betracht gezogen werden (⊡ Abb. 25.68). Die Nahttechnik der Strecksehnennaht variiert je nach Durchmesser des Strecksehnenanteils. Im Bereich des dorsalen Handgelenks und weiter proximal findet man elliptische Querschnitte der Sehnen, die in flache, breite, bandartige Strukturen im Bereich der Finger übergehen. Diese Durchmesseränderung ist nicht abrupt sondern allmählich und verlangt unterschiedliche Nahttechniken. Im Bereich des elliptischen Sehnenanteils kommen ähnliche Nahttechniken wie bei der Beugesehnennaht zur Anwendung, es wird hier eine Kessler-Kernnaht mit einem resorbierbaren Faden der Stärke 4,0 empfohlen. Eine Umwendelungsnaht kann mit 5,0-Faden nach Kleinert durchgeführt werden. In den distalen flachen Anteilen der Strecksehne kann eine Kernnaht technisch nicht mehr sinnvoll durchgeführt werden. Hier kommen mehrere sorgfältig platzierte Kreuzstiche mit Fäden der Stärke 5,0 zum Einsatz. Es muss auf eine gute Adaptation ohne Aufwerfen der Sehnenstümpfe geachtet werden. Durchtrennte Sehnen sind nur bei Avulsionsverletzungen anzufrischen, bei glatten Schnitträndern ist dies nicht notwendig. Verkürzungen der Strecksehnen durch übermäßiges Anfrischen sollten vermieden werden, um spätere Beugedefizite zu minimieren. Die Nachbehandlung der Strecksehnendurchtrennung kann statisch für 6 Wochen erfolgen, allerdings hat die aktive Nachbehandlung von Strecksehnennähten deutliche Vorteile gegenüber der Ruhigstellung. Ähnlich wie bei Beugesehnenverletzungen kann eine aktive, kontrollierte Nachbehandlung durch Verhinderung von Verklebungen eine verbesserte Beweglichkeit der Sehne und der Gleitschichten bewirken (Newport et al. 1990). Generell ist eine dynamische Nachbehandlung proximal der Zone V zu empfehlen, distal davon ist die statische
⊡ Tab. 25.7 Zoneneinteilung der Strecksehnenverletzungen nach Kleinert u. Verdan (1983) Zone
Langfinger
Daumen
I
DIP-Gelenk
IP-Gelenk
II
Mittelglied
Grundphalanx
III
PIP-Gelenk
MP-Gelenk
IV
Grundglied
V
MP-Gelenk
VI
Metakarpale
VII
Dorsales Retinakulum
VIII
Distaler Unterarm
IX
Proximaler Unterarm
⊡ Abb. 25.68 Strecksehnendurchtrennung in Verbindung mit Gelenkinfekt nach Zahnschlagverletzung
25
666
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Tab. 25.8 Zoneneinteilung der Beugesehnenverletzungen nach IFSSH
25
Zone
Langfinger
Daumen
I
Endglied proximal
TH I
Endglied
II
Mittelglied distal bis MP-Gelenk
TH II
Grundglied
III
Hohlhand
TH III
Thenar
IV
Karpalkanal
V
Unterarm
Die einzelnen Sehnen verlaufen im Unterarm nicht parallel, sondern übereinander, wobei die Sehnen zu Dig. III und IV am oberflächlichsten liegen, die von Dig. II und V unter ihnen. Dies ist besonders auf Handgelenkhöhe wichtig, um bei einer Verletzung die korrekte Zuordnung der Sehnenstümpfe zu erleichtern. Erst distal des Karpalkanals liegen die oberflächlichen Beugesehnen parallel zueinander und über den tiefen Beugesehnen. Auf Höhe der Grundgelenke teilt sich die oberflächlich Beugesehne dann in die Seitenzügel und umschließt distal als sog. Camper-Chiasma wieder die tiefe Beugesehne, bevor sie in das Mittelglied inseriert. Die tiefe Beugesehne hat keine Bifurkation, sondern setzt direkt am Endglied an.
Offene Beugesehnenverletzungen Nachbehandlung Standard. Insgesamt sollte eine dynamische Extension für 6 Wochen erfolgen, dann wird die dynamische Schiene entfernt und der Patient mit aktiver Fingerstreckung weiterbehandelt. Eine volle Belastung der genähten Strecksehne ist erst nach 3 Monaten gegeben.
Beugesehnenverletzungen Im Gegensatz zu historischen Ansichten werden Beugesehnen heute primär versorgt. Die in der Vergangenheit empfohlene sekundäre Beugesehnentransplantation ist nur bei Defektverletzungen indiziert. Bei Verdacht auf eine Beugesehnendurchtrennung ist allerdings keine Notfallindikation zu stellen. Mehrere Studien zeigen, dass ebenso gute Ergebnisse auch bei einer bis zu 10 Tagen verzögerten Primärnaht zu erwarten sind. Beugesehnennähte sollten nur von erfahrenen Handchirurgen durchgeführt werden, da genaue Kenntnis über die Anatomie der Hand und technische Fertigkeiten gegeben sein müssen. Neben einer korrekten Naht der Sehne müssen ebenfalls geschädigte Strukturen wie Ringbänder rekonstruiert werden. Eine Beugesehnennaht kann auch 1–2 Tage nach dem eigentlichen Unfall durchgeführt werden. Eine Kontraindikation zur primären Sehnennaht kann auch vorliegen, wenn eine deutliche Kontamination der Wunde vorliegt. Die IFSSH (International Society of Surgery of the Hand) teilt Beugesehnen in verschiedene Zonen eingeteilt (⊡ Tab. 25.8). Zone I entspricht der Insertion der tiefen Beugesehne in den Knochen, Zone II dem osteofibrösen Kanal mit der tiefen und oberflächlichen Beugesehne bis zur Insertion der oberflächlichen Beugesehne in die Basis der Mittelphalanx. Zone III umfasst die Hohlhand, Zone IV den Karpalkanal, der Unterarm wird als Zone V klassifiziert. Der Daumen wird separat eingeteilt. Zone I entspricht dem Endglied, Zone II dem Mittelglied, Zone III dem Thenargebiet, eine Zone IV existiert am Daumen nicht. Zone V entspricht wie bei den Langfingern dem Karpalkanal. Die Beugesehnen entspringen aus den oberflächlichen und tiefen Beugern im Unterarm. Die tiefe Beugergruppe entspringt von Radius und Membrana interossea. Die Sehnen ziehen parallel nebeneinander Richtung Handgelenk und Karpalkanal. Die Muskelgruppe des M. flexor digitorum superficialis zählt zu den komplexesten Muskeln des Körpers. So können die einzelnen oberflächlichen Beuger unabhängig voneinander bewegt werden.
Die meisten Verletzungen der Beugesehnen sind offen. Sie müssen operativ versorgt werden. Der Zugang über BrunnerSchnitte muss hier vorsichtig präpariert werden, um die GefäßNerven-Bündel zu schonen. Bei Verletzungen im Bereich der Langfinger muss weiterhin das System der Ringbänder beachtet werden. Wenn Teile des Ringbandapparats durchtrennt sind, kommt es zum sog. »Bowstringing-Phänomen«, wobei die Beugesehnen bei Flexion vom Knochen abgehoben werden und äußerlich sichtbar einen Flitzbogen bilden. Dies führt zu einem massiven Funktionsverlust wie auch zu lokalen, stark einschränkenden Druckdolenzen. Daher müssen die Ringbänder rekonstruiert werden. Das Bandsystem wird in Ring- und Kreuzbänder unterteilt. > Besonders wichtig sind das A2- und das A4-Ringband. Einzig das A1-Ringband auf Höhe des Metakarpalköpfchen muss nicht rekonstruiert werden. Bei einer Sehnennaht dürfen die Ringbänder niemals zerstört werden.
Oftmals ist es dennoch notwendig, Teile des Ringbandsystems zu eröffnen, um die Sehnenstümpfe fassen zu können. Dies muss zickzackförmig geschehen, um die Ringbänder erweitert rekonstruieren zu können. Eine Längsinzision darf nicht durchgeführt werden, da sonst ein Verschluss unmöglich gemacht wird. Bei kompletter Zerstörung der Ringbandstrukturen müssen diese primär durch ein ausreichend weites Transplantat mit einem Sehnenstreifen des M. palmaris longus ersetzt werden. Prinzipiell darf das rekonstruierte Ringbandsystem die Gleitfähigkeit der genähten Sehne nicht beeinträchtigen, da dies unweigerlich zu Bewegungseinschränkungen führt. Bei der Exploration sollte die Schnittführung im Sinne von Brunner-Schnitten gewählt werden, sodass eine Narbenkontraktur verhindert wird. Da sich Beugesehnen weit retrahieren können, muss eine Exploration zum Teil auch bis in den Bereich des Unterarms erfolgen. Es gibt eine große Anzahl unterschiedlicher Nahttechniken. Eine Beugesehnennaht besteht aus einer Kernnaht und einer epitendinösen Naht (⊡ Abb. 25.69 u. ⊡ Abb. 25.70). Zum Einsatz kommen sowohl resorbierbare als auch nicht resorbierbare Nahtmaterialen. Für Kernnähte sollten Nähte der Stärke 3,0 verwendet werden. In den meisten Fällen wird eine zweifache Kernnaht, modifiziert nach Kessler, verwendet. Vierfache und auch sechsfache Kernnähte werden ebenfalls von einigen Autoren beschrieben. Diese haben eine deutlich
667 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Abb. 25.69 Durchtrennung der tiefen und oberflächlichen Beugesehnen in der Zone II
⊡ Abb. 25.70 Zustand nach Beugesehnennaht
höhere Reißfestigkeit, erhöhen allerdings auch den Anteil von Fremdmaterial im Sehnenquerschnitt. Die Knoten sollten nicht in der Schnittstelle liegen. Die Kernnaht sollte im dorsalen, knochennahen Sehnenanteil eingebracht werden, da hier eine um bis zu 50% höhere Haltekraft erzielt werden kann. In diesem Sehnenanteil erfolgt auch die größte Zugbelastung.
Die häufigsten Komplikationen sind eine Reruptur, Gelenkkontrakturen und Sehnenverklebungen. Rupturen nach Beugesehnennähten kommen hauptsächlich in der 2.–9. Woche vor. Zu diesem Zeitpunkt lässt die Festigkeit der Naht bei noch instabiler Narbenbildung nach, während der Patient bereits das Gefühl einer stabilen Sehne hat. Eine erneute Naht wird immer mit einer deutlichen Bewegungseinschränkung verheilen. Hier ist ein schlechteres Ergebnis als nach einer Primärnaht zu erwarten, PIP-Kontrakturen sind die Regel. Korrektureingriffe sind erst nach Ausschöpfung aller handtherapeutischen Möglichkeiten und nach kompletter Einheilung, d. h. frühestens nach 4–6 Monaten sinnvoll. Geschlossene Rupturen treten gegenüber den offenen Beugesehnenverletzungen in den Hintergrund. Geschlossene Beugesehnenverletzungen sind typisch für einige Sportarten wie Fußball. Der sog. Jersey-Finger (entsteht häufig wenn das Trikot [= Jersey] des Gegenspielers festgehalten wird) ist ein knöcherner Ausriss der tiefen Beugesehne am Endglied. Diese geschlossene Sehnenverletzung sollte durch transossäre Ausziehnähte, Schraubenosteosynthese oder Kirschner-Draht-Fixation operativ behandelt werden. Die Nachbehandlung wird mit einer Ruhigstellung von 6 Wochen durchgeführt.
Tipp
I
I
Neben der Kernnaht wird zur besseren Adaptation der Stümpfe eine epitendinöse Naht empfohlen.
Die epitendinöse Naht ist für die Stärke der Gesamtnaht sehr wichtig. Epitendinöse Nähte können bis zu 40% der Gesamthaltekraft einer Sehnennaht ausmachen. In den einzelnen Zonen müssen unterschiedliche Nahttechniken eingesetzt werden. In der Zone I, der Zone, in der die FDP-Sehne in den Knochen einstrahlt, kann eine normale Naht bei einer verbliebenen Stumpflänge von weniger als 1 cm distal nicht durchgeführt werden. Hier muss eine transossäre Ausziehnaht durch den Fingernagel erfolgen. Eine epitendinöse Naht kann allerdings wie bei der klassischen Beugesehnennaht eingesetzt werden. In den Zonen II, III, IV und V wird die klassische Sehnennaht mit Kessler-Naht und Umwendelungsnaht nach Kleinert durchgeführt. Eine solche Naht hat eine Zugfestigkeit von ca. 2600 g. Dieser Wert kann bei der aktiven Flexion des Fingers bereits überschritten werden. Die Nachbehandlung einer Beugesehnennaht ist daher sehr komplex und erfordert eine hohe Compliance des Patienten. Generell ist die Nachbehandlung der Beugesehne die schwierigste überhaupt in der Handchirurgie, und das Ergebnis hängt maßgeblich hiervon ab. Der heutige Standard ist die dynamische Nachbehandlung nach Kleinert, bei welcher der betroffene Finger aktiv gestreckt werden darf, die Beugung allerdings durch einen Gummizügel übernommen wird. Nach 6 Wochen kann dann auf eine aktive, allerdings weiterhin belastungsfreie Behandlung übergegangen werden. Je nach Beruf ist eine volle Belastbarkeit erst nach 3 Monaten erreicht. Maximalbelastungen wie Sportklettern sollten erst nach 6 Monaten wieder durchgeführt werden.
25.2.3
Gefäß- und Nervenverletzunge
Gefäß- und Nervenverletzungen kommen v. a. an den Fingern vor und sind mit deren Exposition zu begründen. Verletzungen einzelner Gefäße werden in den meisten Fällen nicht klinisch symptomatisch, hier sind es v. a. die Begleitnerven, die klinisch einen Sensibilitätsausfall distal der Wunde zur Folge haben. Alle Gefäß-Nerven-Verletzungen fordern mikrochirurgisch geschulte Operateure, da zu beurteilen ist, ob die Rekonstruktion von Gefäßen und Nerven erforderlich sind. Nerven müssen immer genäht werden, auch da die Nervennaht die beste Neuromprophylaxe darstellt. Hierbei hat die Exploration unter mikroskopischer Vergrößerung bzw. mit Lupenbrille zu erfolgen. Mikrochirurgische Nahttechniken sind die Voraussetzung zur erfolgreichen Behandlung von Gefäß- und Nervenverletzungen.
25
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
> Die Versorgung von Nervenverletzungen im Bereich der Hand ist von enormer Bedeutung, da eine asensible Hand nur eine unzureichende Funktion übernehmen kann.
25
Im Fingerbereich ist besonders die Rekonstruktion des ulnaren Daumennervs, radialen Zeigefingernervs und des ulnaren Kleinfingernervs wichtig, um die Sensibilität der ersten Kommissur und der ulnaren Handkante zu sichern. Die Anatomie der peripheren Nerven ist komplex. Ein peripherer Nerv ist von Epineurium und Perineurium umgeben, innerhalb des Perineuriums liegt der vom Endoneurium umgebene Faszikel. Mehrere Faszikel sind zu Gruppen zusammengefasst. Nach einer Nervendurchtrennung kommt es zunächst zur Waller-Degeneration distal der Verletzung, gefolgt vom Auswachsen der Schwann-Zellen, die sich dann longitudinal als Büngner-Bänder gruppieren. Die Schwann-Zellen ermöglichen so die Regeneration der Axone. Eine überschießende Narbenbildung durch endoneurales Kollagen verhindert ein erneutes Auswachsen der einzelnen Axone und Faszikel. Daher ist möglichst akkurate Adaptation bei einer Nervennaht Voraussetzung zur Wiederherstellung der Axone.
Nervenverletzungen Nervenverletzungen sollten, wenn möglich, primär versorgt werden, insbesondere die Primärversorgung von N. ulnaris und N. medianus bringt deutlich bessere Ergebnisse als die sekundäre Versorgung (Brushart 1998). Eine primäre Nervenversorgung kann innerhalb einer Woche durchgeführt werden. Alle Nervennähte nach einer Woche werden als sekundär klassifiziert. Kontraindikationen zu einer primären Nervennaht sind starke Kontamination der Wunde und das Vorliegen einer Defektverletzung. > Bei Defektverletzungen muss auf eine spannungsfreie Naht Wert gelegt werden. Bei nicht spannungsfreier Adaptation sollte zu einem Nerventransplantat übergegangen werden.
Eine Ruhigstellung der versorgten Strukturen sollte für 2 Wochen erfolgen. Die Ergebnisse nach Nervennaht eines Digitalnervs hängen v. a. vom Alter ab. Patienten unter 20 Jahre erreichen eine sehr gute Nervenregeneration mit fast normaler Zweipunktdiskrimination, d. h. unter 6 mm, wogegen nur ein Viertel der Erwachsenen ein derart gutes Ergebnis erreicht (Efstathopoulos 1995). An einem Digitalnerv sind die Ergebnisse nach epineuraler und faszikulärer Naht gleich. Die Ergebnisse nach Naht des N. medianus sind schwieriger einzuschätzen. Ein hervorragendes Ergebnis kann hier nur bei ca. 10% der Patienten erreicht werden (Birch et al. 1991). Die Regeneration kann bis 5 Jahre posttraumatisch eintreten. Ergebnisse des N. ulnaris weichen nicht von den Ergebnissen des N. medianus ab, obwohl die Sensibilität bei N.-ulnaris-Verletzungen sich besser als bei N.-medianus-Verletzungen erholt. Gute Ergebnisse werden allerdings ebenfalls nur bei 10% erreicht. Die Nahttechnik hängt von der Verletzungshöhe ab. An Digitalnerven ist eine epineurale Naht ausreichend. Bei N.-ulnaris- und N.-medianus-Verletzungen auf Unterarm- und Handgelenkhöhe sollten auch faszikuläre Nähte durchgeführt wer-
den, da hier motorische und sensible Fasern im Nerv verlaufen. Anhaltspunkte zur korrekten Positionierung der Nervenenden bei der Nervennaht können Begleitgefäße und Faszikelquerschnitte sein. Voraussetzungen zum erfolgreichen Durchführen einer Nervennaht sind mikrochirurgisches Instrumentarium und adäquate Vergrößerung. Die Approximation der Nerven muss 2 Ziele verfolgen: bestmögliche Adaptation und Vermeidung einer Naht unter Spannung. Dazu sollten die Einzelnähte nicht zu eng geknüpft und überstehende Faszikel mit der Schere gekürzt werden, sodass sämtliche Faszikel innerhalb der Epineuriumhülle zu liegen kommen. Aus der Hülle prolabierende Faszikel führen zu einer Neurombildung. Diese gekürzten Faszikel können nach Retraktion im epineuralen Schlauch adaptieren und regenerieren. Empfohlene Fadenstärken liegen zwischen 9-0 und 11-0. Die Nervennaht ist zudem nicht nur im Handbereich die beste Neuromprophylaxe.
Gefäßverletzungen Gefäßverletzungen der oberen Extremität kommen in den meisten Fällen durch Penetration zustande. Es können 3 Gruppen eingeteilt werden: komplette Durchtrennung, Teildurchtrennung und Verletzungen ohne Durchtrennung. Weiter wird in kritische Verletzungen mit Ischämiezeichen und inadäquatem Kollateralkreislauf und nicht kritische Verletzungen unterteilt. Traumen des Unterarms können v. a. die A. radialis, die im Bereich des Handgelenks sehr oberflächlich liegt, betreffen. Diese ist oftmals bei Suizidversuchen partiell oder komplett durchtrennt. Verletzungen der A. ulnaris sind seltener. > Gefäßverletzungen erfordern immer einen mikrochirurgisch geschulten Operateur. Arterienverletzungen sollten reanastomosiert werden, um Trophik und Wetterfühligkeit zu verbessern, auch wenn ein ausreichender Umgehungskreislauf besteht.
Insbesondere die Revaskularisation der Fingerarterien lindert eine Kälteintoleranz der betroffenen Finger signifikant. Die sekundären Thromboseraten bei Anastomosen im Bereich des Unterarms liegen bei 60% bei der A. radialis. Dennoch sollte hier primär immer eine Anastomosierung durchgeführt werden. Eine posttraumatisch thrombosierte A. radialis muss bei fehlenden Ischämiezeichen nicht durch ein Interponat ersetzt werden. Repetitive Mikrotraumen können durch Fibrose der Intima zu lokalisierten Thrombosen führen. Rekanalisierungen und Thrombektomien kommen nur bei kurzstreckigen, unmittelbar zurückliegenden Verschlüssen infrage.
Replantation Amputationsverletzungen der oberen Extremität und der Finger können unter gewissen Umständen replantiert werden. Replantationen werden an spezialisierten Zentren durchgeführt. Trotz großer mikrochirurgischer Fortschritte sind Replantationen nur zum Teil erfolgreich und bedürfen einer gezielten Indikationsstellung. Die Indikation zu einer Replantation hängt nicht nur vom Verletzungsmuster, sondern auch von Lebensund Arbeitsumständen des Patienten ab. Absolute Indikationen zur Replantation sind Daumenamputationen, Mehrfingeram-
669 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Tab. 25.9 Absolute und relative Indikationen sowie Kontraindikationen der Replantation Absolute Indikation
Relative Indikation
Kontraindikation
Einzelner Langfinger Avulsionsverletzung proximal des FDSAnsatzes Ellenbogen Oberarm
Mehretagenverletzung schwere Quetschverletzung schwere Kontamination Systemerkrankung Selbstverstümmelung
Daumen Hand Handgelenk Unterarm kindliche Amputationen
putationen, einzelne Finger, die distal des FDS-Ansatz amputiert sind, und prinzipiell alle Amputationen bei Kindern (⊡ Tab. 25.9). Auch Amputationen auf Höhe des Unterarms, des Handgelenks und der Hohlhand sollten replantiert werden (⊡ Abb. 25.71 bis ⊡ Abb. 25.73). Bei Amputationen im Ellenbogenbereich und weiter proximal ist die Indikation aufgrund der begleitenden Quetschverletzungen sehr selektiv zu stellen. Dem Verletzungsmechanismus wird bei der Indikationsstellung eine extrem wichtige Rolle zuteil. Avulsions- und Quetschmechanismen sind mit schlechten Resultaten behaftet, während glatte Schnittverletzungen die günstigste Variante sind. Besonders Avulsionsverletzungen durch Ringe, bei denen es zu einer Skelettierung kommt, haben die ungünstigste Prognose (⊡ Abb. 25.74). Kontraindikationen sind auch Mehretagenverletzungen, lange warme Ischämiezeit sowie schwere Begleitverletzungen und -erkrankungen. Finger können auch noch nach 12 h Ischämiezeit erfolgreich replantiert werden. Ideal ist jedoch eine Ischämiezeit von unter 6 h. Amputationen proximal des Karpus tolerieren aufgrund des Muskelanteils eine warme Ischämiezeit von maximal 6 h. Ein Replantationsversuch nach dieser Zeit ist nicht erfolgversprechend. Eine Replantation stellt erhebliche Anforderungen an das Personal und den Patienten. Es muss mit mehreren Revisionseingriffen, die auch eine erhebliche Belastung des Patienten darstellen, gerechnet werden. Der Erfolg einer Replantation ist nicht im Überleben der Struktur gesehen, vielmehr wird der Erfolg nur an der Funktion der replantierten Struktur definiert. Patienten sollten immer über die lange Hospitalisationsdauer, Transfusionsbedürftigkeit und den Heilungsverlauf aufgeklärt werden. Leider sind die Erwartungen der Patienten kaum mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen.
⊡ Abb. 25.71 Mittelhandamputat
⊡ Abb. 25.72 Hand nach Amputation
> Die meisten replantierten Strukturen sind durch signifikante Bewegungseinschränkung, Einsteifung, Sensibilitätsminderung, Kälteintoleranz und Schmerz gekennzeichnet.
Ein einzelner replantierter Finger kann unter Umständen die Funktionsfähigkeit der gesamten Extremität einschränken, daher muss vor einem Replantationsversuch immer die Lebenssituation des Patienten beachtet werden. Bei manuell tätigen Patienten ist oftmals die Stumpfbildung eines Fingers die funktionell bessere Alternative. Zudem kann auch nach erfolgreicher Replantation bei einem funktionslosen Finger sekundär eine Amputation indiziert sein.
⊡ Abb. 25.73 Replantationsergebnis
25
670
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
radiokapitale und radiotriquetrale Band sind für die Stabilität ebenfalls wichtig. Die dorsalen radioskaphoidalen und radiotriquetralen Bänder sind deutlich schwächer ausgeprägt. Durch das aufwendige Bandsystem wird die korrekte Lagebeziehung der einzelnen Gelenkflächen zueinander auch während Bewegungen sichergestellt. Die Gelenkfläche des Radius besitzt eine normale ulnare Inklination von 22° und eine palmare Angulation von 11° (Böhler-Winkel). Das Bewegungsausmaß im Radius beträgt für Flexion und Extension 120° sowie jeweils 50° für Radial- und Ulnarduktion.
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⊡ Abb. 25.74 Avulsionsverletzung durch Ring als Kontraindikation zur Replantation
> Die funktionell besten Ergebnisse nach Replantationen findet man bei distalen Verletzungen, also distal des Ansatzes der FDS-Sehne, aber auch bei Amputationen im Bereich des Handgelenks, des distalen Unterarms und des Daumens.
Replantationen im Bereich des Oberarms, des Ellenbogens und des proximalen Unterarms führen zu schlechten funktionellen Ergebnissen.
25.2.4
Verletzungen der Knochen und Gelenke
Verletzungen von Radius und Ulna Radiusfrakturen sind mit 10–25% aller Frakturen der häufigste Knochenbruch der oberen Extremität. Radiusfrakturen stellen komplexe Verletzungen dar, deren Prognose sehr von der Frakturform und der Behandlung abhängt. Langfristige Probleme wie mediokarpale Instabilitäten, Gelenkstufen, Arthrosen, Ulnaimpaktionssyndrome und der M. Sudeck (»complex regional pain syndrome«, CRPS, Kap. 14) haben dazu geführt, dass zunehmend Handchirurgen auch die akute Frakturbehandlung übernehmen, um spätere Komplikationen zu mildern. Die distale Radiusfläche kann als Widerlager, auf dem der Karpus gleitet, gesehen werden. Der Verbund von Radius und Karpus rotiert wiederum um die Ulna. Am Radius existieren 3 ausgeprägte Gelenkflächen: Die Fossa scaphoidea, die Fossa lunata und der »sigmoid notch« als Gelenkfläche zur Ulna. Zwischen Ulna und Karpus liegt der triangulofibrokartilaginäre Komplex (TFCC), ein Diskus, der die Verlängerung der radialen Gelenkfläche nach ulnar darstellt. Der TFCC stabilisiert das Radioulnargelenk und zieht vom ulnaren Radiusrand zum Proc. styloideus ulnae. Distal inseriert der TFCC am Os lunatum, Triquetrum, Hamatum und der Basis des Os metacarpale V. Von der palmaren Radiuskante entspringen die wichtigsten Bandverbindungen zum Karpus, namentlich das radioskapholunäre Band. Weitere palmare Bandverbindungen wie das
> Bei axialen Traumen in Neutralstellung fängt der Radius ca. 80%, die Ulna über den TFCC 20% der Last ab. Alle davon abweichenden Handstellungen erhöhen die Belastungen auf Werte jenseits der physiologischen Grenzen und führen zu Frakturen und/oder Bandverletzungen.
Je nach Sturzmechanismus wird in die »klassische« Extensionsfraktur und die seltenere Flexionsfraktur eingeteilt. Einzelne Frakturtypen werden auch mit Eigennamen beschrieben. Durch Sturz auf die dorsalflektierte Hand (Colles-Fraktur) kommt es jeweils zu einer Einstauchung und einer Abkippung nach dorsal. Die seltenere Flexionsfraktur wird als Smith-Fraktur bezeichnet. Bei der Barton-Fraktur kommt es zu einer Subluxation des Fragments und des Karpus nach palmar oder nach dorsal. Die Chauffeur-Fraktur stellt einen Abriss des Radiusstyloids und Verschiebung des Karpus dar. Eine seltene Fraktur ist die Die-Punch-Fraktur, bei der es durch die Einstauchung des Os lunatum in die Fossa lunata zu einer Impression der Gelenkfläche der Fossa lunata kommt. Die heute gebräuchlichste Klassifikation ist die der Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthesefragen (AO). Hier werden intraund extraartikuläre Frakturen unterschieden. Insgesamt wird in 3 Hauptgruppen (A, B, C) mit jeweils 3 Untergruppen unterteilt: Gruppe A beinhaltet extraartikuläre Frakturen, Gruppe B einfache intraartikuläre Frakturen, Gruppe-C-Frakturen sind intraartikuläre Mehrfragmentbrüche (⊡ Abb. 24.35). Die Klassifikation nach Fernandez beruht auf dem Unfallmechanismus und bezieht Bandverletzungen mit ein (Fernandez 2005). Diese Klassifikation korreliert mit dem radiologischen und dem CT-Befund, was bei der AO-Klassifikation nicht der Fall ist. Hier werden Bewegungs-, Abscher-, Kompressionsfrakturen usw. unterschieden. Unabhängig von den Klassifikationsmethoden ist eine Einteilung in stabile und instabile Frakturen sinnvoll, da dies die Therapiemodalitäten beeinflusst. Instabilitätskriterien sind eine dorsale Trümmerzone, Mehrfragmentfraktur, intraartikuläre Stufenbildung von mehr als 2 mm, Verlust von mehr als 2 mm Länge, Dorsalabkippung von mehr als 20°, dorsal oder palmar verschobene Kantenfragmente sowie Begleitfrakturen der Ulna, Instabilität im distalen Radioulnargelenk und sekundäre Dislokation nach Reposition (Fernandez 2005). Radiusfrakturen gehen oft mit erheblichen Begleitverletzungen einher. Bei der Hälfte aller Radiusfrakturen kommt es zu einer Abrissfraktur des Ulnastyloids. Des Weiteren kommt es auch zu skapholunären Dissoziationen und Einrissen im tri-
671 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
angulären fibrokartilaginären Komplexe (TFCC). Das distale Radioulnargelenk ist oft mitbetroffen. Eine klinische Kompressionssymptomatik des N. medianus liegt in 15–20% der Fälle vor. Diese ist nach Reposition meist rückläufig und bedarf keiner operativen Versorgung. Eine operative Dekompression muss bei einem persistierenden Karpaltunnelsyndrom durchgeführt werden. Weitere häufige Begleitverletzungen sind Frakturen des Handwurzelskeletts, insbesondere des Os scaphoideum. Die Therapie der Radiusfraktur hängt zum großen Teil vom Ausmaß der Dislokation, den Zusatzverletzungen und von der Stabilität der Fraktur ab. Die konservative Therapie sollte v. a. nicht verschobenen oder nur geringfügig dislozierten Frakturen vorbehalten sein. Fernandez unterscheidet bei nicht dislozierten Frakturen junge, aktive und ältere, weniger aktive Patienten (Fernandez 2005). Bei jungen Patienten ist eine Ruhigstellung von 6 Wochen in einer Gipsschiene, gefolgt von einer intermittierenden Ruhigstellung für 3 Wochen in einer abnehmbaren Manschette nötig. Bei älteren Patienten verkürzt sich die Gipsruhigstellung auf 5 Wochen bei gleicher Weiterbehandlung. Gering dislozierte Radiusfrakturen, die die Instabilitätskriterien nicht erfüllen, können ebenfalls konservativ behandelt werden. Zunächst sollte eine Reposition der Fraktur unter Plexusanästhesie durchgeführt werden. Tipp
I
I
Es müssen v. a. die Böhler-Winkel bestmöglich korrigiert werden, da insbesondere der Verlust der palmaren Angulation zu frühzeitiger Arthrose führt. Brüske, wiederholte Repositionsversuche unter unzureichender Anästhesie sollten unterbleiben, da dadurch das Risiko eines CRPS erhöht wird.
Bei stabilem Repositionsergebnis werden die Patienten wie bei einer nicht dislozierten Fraktur nachbehandelt. Im Fall einer ungenügenden Reposition, die sich durch Stufen von über 2 mm, Verkürzung des Radius von mehr als 2 mm und Dorsalabkippung von über 15° zeigt, muss die operative Versorgung angestrebt werden. Eine engmaschige Röntgenkontrolle nach 3, 7, 14, 28 und 42 Tagen ist erforderlich, um eine sekundäre Dislokation frühzeitig erkennen zu lassen. Ein zirkulärer Gips sollte erst nach ca. 1–2 Wochen angepasst werden. Während der Gipsruhigstellung ist auf eine gute Mobilisation der Finger und der Schulter zu achten. Bei sehr alten, inaktiven Patienten kann auch bei stärker dislozierten Frakturen die konservative Behandlung vertreten werden. Hier sollte eine Gipsbehandlung nach Reposition für 6 Wochen erfolgen. Die operative Behandlung ist v. a. für die instabilen Frakturen von Vorteil. Kirschner-Draht-Osteosynthesen stellen die einfachste operative Option dar. Sie sind extraartikulären und einfachen intraartikulären Frakturen ohne signifikante Verkürzung bei guter Knochenqualität vorbehalten. Es gibt verschiedene Techniken, wobei meist 1,6-mm-Kirschner-Drähte verwendet werden. Kapandji beschreibt eine Technik der doppelten, intrafokalen Fixation, wobei mit den Kirschner-Drähten von radial reponiert und gleichzeitig fixiert wird.
Ein weiteres operatives Verfahren ist die Versorgung mit einem Fixateur externe. Aufgrund der Ligamentotaxis kann durch Zug die Gelenkfläche wieder aufgerichtet werden. Dennoch ist diese Behandlung mit einer hohen Rate an CRPS assoziiert. Durch verbesserte Systeme und Weiterentwicklungen der Nachbehandlung konnte eine deutliche Senkung dieser Komplikation erreicht werden. Ein Nachteil der Fixateur-externe-Behandlung ist, dass imprimierte Gelenkflächen nicht durch Traktion angehoben werden. In solchen Fällen muss eine offene Reposition des Fragments erfolgen, die Verwendung von Knochentransplantaten vom Beckenkamm bzw. Knochenersatzmaterialien ist indiziert. Die Nachbehandlung bei liegendem Fixateur externe kann erst nach 3–5 Wochen erfolgen. Die Indikationen sind v. a. bei Trümmerfrakturen (AO-Gruppe CIII), bei massiven Weichteilschwellungen und offenen verschmutzten Wunden bei polytraumatisierten Patienten zu finden. Tipp
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I
Eine Kombination mit perkutanen Kirschner-Draht-Osteosynthesen senkt das Risiko einer sekundären Dislokation nach Abnahme des Fixateur externe.
Die alleinige Versorgung durch Fixateur externe wird zunehmend durch eine interne Osteosynthese ersetzt, da die lange Ruhigstellung bei der Fixateure-externe-Behandlung oft zu Bewegungseinschränkungen führt. Auch ist bei der Behandlung mit dem Fixateur externe weiterhin ein erhöhtes Auftreten des CRPS bekannt. Innerhalb der verschiedenen Methoden zur Behandlung distaler Radiusfrakturen haben sich v. a. Plattenosteosynthesen als vorteilhaft erwiesen. Während Frakturen mit einem einzelnen Fragment auch mit Schrauben fixiert werden können, sind Plattenosteosynthesen bei Mehrfragmentfrakturen, die einen dorsalen und palmaren Zugang erfordern, zu bevorzugen (⊡ Abb. 25.75 bis ⊡ Abb. 25.77) Die Plattenosteosynthese ermöglicht eine schnellere Mobilisation im Vergleich zur Fixateur-externe- oder Gipsbehandlung. Knochentransplantationen sind ebenfalls möglich. Die offene Reposition ermöglicht eine Visualisierung der Fragmente, eine exakte anatomische Reposition und teilweise eine direkte Beurteilung der Gelenkfläche. Begleitverletzungen wie Sehnenrupturen, Karpaltunnel- oder Kompartmentsyndrome können so durch Schnitterweiterung mitversorgt werden. Dorsale Plattenosteosynthesen sind v. a. bei dorsal dislozierten, intraartikulären Frakturen indiziert. In gleicher Weise werden palmare Plattenosteosynthesen bei palmar dislozierten Frakturen bevorzugt. Die dorsale Plattenosteosynthese kann als bevorzugte Methode für Colles-Frakturen mit intraartikulärer Stufenbildung angesehen werden. Der Vorteil dorsaler Platten besteht in einer direkten Visualisierung der Gelenkfläche. Imprimierte Fragmente können direkt angehoben werden. Weiterhin können Knochentransplantate oder Ersatzmaterialien leicht eingebracht werden. Unter Verwendung ausreichender Distraktion (5 kg) kann die palmare Angulation der Gelenkfläche rekonstruiert und die Länge wiederhergestellt werden.
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672
Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Tipp
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Es wird empfohlen, in gleicher Sitzung immer eine Exzision des N. interosseus posterior zur Verringerung postoperativer Schmerzen im Handgelenk durchzuführen.
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⊡ Abb. 25.75 Mehrfragmentfraktur: 3D-Rekonstruktion
⊡ Abb. 25.76 Mehrfragmentfraktur: CT-Befund
⊡ Abb. 25.77 Intraartikuläre Radiusfraktur: CT-Befund
Obwohl damit sehr gute Repositionsergebnisse unter Distraktion erreicht werden können, muss die Inzidenz von Strecksehnenrupturen als nachteilig angesehen werden. Aufgrund der anatomischen Gegebenheiten des dorsalen Handgelenks kann es zu einem Durchscheuern der Strecksehnen an der Platte kommen. Daher wird immer eine Metallentfernung nach 4–6 Monaten durchgeführt. Weiterhin ist bei dorsalen Plattenosteosynthesen die Extension im Handgelenk meist dauerhaft eingeschränkt, weswegen parallel zur Metallentfernung immer eine Arthrolyse empfohlen wird. Die palmare Plattenosteosynthese mit winkelstabilen Schrauben ist in der letzten Zeit sehr populär geworden und verdrängt zunehmend die dorsale Plattenosteosynthese (⊡ Abb. 25.78 u. ⊡ Abb. 25.79). Zunächst nur bei Smith-Frakturen eingesetzt, findet die palmare Osteosynthese mittlerweile bei fast allen Frakturtypen Anwendung (Orbay et al. 2002). Palmare Platten führen kaum zu Strecksehnenrupturen und weisen weitere Vorteile auf: ▬ einfache Reposition ▬ anatomische Reposition mit Wiederherstellung der Radiuslänge ▬ keine Präparation im dorsalen Bereich, keine Beeinträchtigung der Vaskularisation in der dorsalen Trümmerzone ▬ räumliche Trennung der Platte von den Beugesehnen durch den M. pronator quadratus ▬ seltener Einsatz von Knochenersatzmaterialien durch winkelstabile Systeme ▬ keine obligatorische Metallentfernung Aus diesen Gründen hat die winkelstabile, palmare Platte große Verbreitung und ein zunehmendes Indikationsspektrum gefunden. Palmare Platten können nicht bei massiver dorsaler Trümmerzone eingesetzt werden. Hier muss ein dorsaler Zugang zusätzlich erfolgen und im Zweifelsfall eine dorsale Osteosynthese durchgeführt werden. Ein weiterer Nachteil gegenüber der dorsalen Platte ist die fehlende direkte Visualisierung der Gelenkfläche und des SL-Bands. Es scheint sich allerdings zu bestätigen, dass eine direkte Visualisierung nicht zwingend notwendig für ein gutes Repositionsergebnis ist. Der Vorteil der palmaren Osteosynthese ist die leichte Orientierung, da palmar keine Trümmerzone vorliegt und anhand der größeren Fragmente eine gute optische Kontrolle gegeben ist. Die Platte kann unter dem M. supinator quadratus platziert werden, wodurch ein Polster zu den Beugesehnen geschaffen wird. Bei Osteosyntheseverfahren erfolgt eine Gipsruhigstellung für 2 Wochen, woran sich eine 4-wöchige kontrollierte Mobilisation in einer abnehmbaren Schiene anschließt. Röntgenkontrollen sind nach 2, 6, 12 und 24 Wochen erforderlich. Die Belastung kann bei adäquater ossärer Durchbauung nach 6 Wochen erfolgen.
673 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
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⊡ Abb. 25.78a,b Intraartikuläre Radiusfraktur. a a.p.-Projektion, b seitlich
b
b
Begleitverletzungen Radiusfrakturen sind Folge eines schweren Traumas der oberen Extremität. Daher muss immer die gesamte Extremität untersucht werden. Schulter-, Ellenbogen- und Fingerluxationen und -frakturen müssen neben Weichteilverletzungen ausgeschlossen werden. Ein Sonderfall sind offene Radiusfrakturen. Sie sind meist Folge von Hochrasanztraumen bei polytraumatisierten Patienten und stellen daher eine komplexe Unterarmverletzung dar. Das Vorgehen beinhaltet die Exploration der Weichteilverletzung, das rigorose Débridement und die Inspektion der Radiusfraktur. Bei stark verschmutzten Wundverhältnissen ist die Behandlung durch Fixateur externe sinnvoll. Bei nicht dislozierten Frakturen kann ganz auf eine Osteosynthese verzichtet werden, um möglichst wenig Fremdmaterial im Bereich der verschmutzten Wunde einzubringen.
⊡ Abb. 25.79a,b Korrekte Stellung der intraartikulären Stufe. a In a.p.-Projektion, b seitlich
> Bei stark verschmutzten Wundverhältnissen verbietet sich ein sofortiger Wundverschluss, dieser sollte erst nach mehrmaligen Débridements durchgeführt werden. Bei lappenpflichtigen Defekten muss die plastische Deckung in nicht infizierten Verhältnissen erfolgen. Weitere Knocheneingriffe dürfen erst nach Weichteilheilung geschehen.
Auch ein akutes Karpaltunnelsyndrom ist eine häufige Begleitverletzung. Jede Radiusfraktur geht mit einer neurovaskulären Kompromittierung einher. Klinisch symptomatisch werden erst stark dislozierte Frakturen. Nach Reposition ist die Medianussymptomatik meistens rückläufig und bedarf keiner operativen Intervention. Eine Indikation zur Karpaldachspaltung liegt nur bei schwerem präoperativem Karpaltunnelsyndrom oder bei
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
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⊡ Abb. 25.80a,b Radius- mit begleitender Ulnafraktur. a Präoperativ, b nach Zuggurtungsosteosynthese
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beginnendem Kompartmentsyndrom vor. In solchen Fällen sollte prinzipiell eine palmare Osteosynthese erwogen werden. Verletzungen des distalen Radioulnargelenks (DRUG) führen im Verlauf zu deutlichen Bewegungseinschränkungen v. a. bei der Pro- und Supination. Daher muss diesem Gelenk bei der Versorgung einer Radiusfraktur besondere Beachtung geschenkt werden. Der Hauptaugenmerk liegt auf intraartikulären Stufen, Subluxationen nach unzureichender Reposition des Radius, TFCC-Ausrissen, Kapselverletzungen und fortbestehender Avulsion des Ulnastyloids. Eine gewisse radioulnare Instabilität liegt bei jeder Radiusfraktur vor, sie kann allerdings nach anatomischer Reposition mit einer 6-wöchigen Ruhigstellung zum Ausheilen gebracht werden. Verletzungen des DRUG können in 3 Typen eingeteilt werden. Die Einteilung erfolgt erst nach Reposition, d. h. unter bestmöglicher anatomischer Stellung des Radioulnargelenks und des Radiusfragments (Fernandez 2005): ▬ Typ 1 fasst stabile Gelenkverletzungen zusammen, bei denen das Gelenk klinisch stabil, die Gelenkfläche glatt und der TFCC sowie die Kapsel intakt sind. ▬ Typ 2 umfasst instabile Verletzungen mit klinischer Instabilität, Gelenkstufen, Subluxationen aufgrund von Kapselund TFCC-Rupturen und dislozierte Ulnastyloidfrakturen. ▬ Typ 3 beinhaltet potenziell instabile Verletzungen wie Mehrfragmentverletzungen des Radius. Die Behandlungsoptionen richten sich nach dem Verletzungstyp. Funktionelle Nachbehandlung mit früher Mobilisation sollte bei stabilen Verletzungen durchgeführt werden. Auch nach operativer, stabiler Fixation kann funktionell nachbehandelt werden. Komplexe Trümmerfrakturen im DRUG müssen auch funktionell nachbehandelt werden, um ein Remodeling zu fördern. Die sechswöchige Ruhigstellung wird regelhaft bei den meisten DRUG-Verletzungen durchgeführt, insbesondere
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um die Radiusfrakturen ebenfalls ruhigzustellen. Trotz eines Restrisikos einer Instabilität kann die überwiegende Anzahl konservativ durch Ruhigstellung zur Ausheilung gebracht werden. Eine operative Versorgung sollte bei dislozierten Frakturen angestrebt werden, bei Abrissfrakturen des Ulnastyloids muss eine Zuggurtungsosteosynthese durchgeführt werden, da diese Fragmente zu klein für Platten- und Zugschraubenosteosynthesen sind (⊡ Abb. 25.80). Eine Dislokation von mehr als 2 mm sollte operativ versorgt werden, um das Risiko einer Pseudarthrose zu minimieren. Weiter proximal gelegene Schaftfrakturen werden durch Plattenosteosynthesen versorgt (⊡ Abb. 25.81). TFCC-Rupturen werden im akuten Stadium konservativ behandelt. Der TFCC sollte nur genäht werden, wenn es zu einer Interposition gekommen ist. Die arthroskopische Behandlung wird erst bei persistierenden Beschwerden empfohlen. In diesem Zusammenhang sei auf die Essex-Lopresti-Läsion hingewiesen. Hierbei handelt es sich um eine dislozierte Radiusköpfchenfraktur, eine Zerreißung der Membrana interossea und eine Verletzung des DRUG mit Zerreißung des TFCC oder Abriss des Ulnastyloids. Eine Verkürzung des Radius von mehr als 7 mm weist auf eine Zerreißung des TFCC und der Membrana interossea hin (Rabinowitz et al. 1994). Vorrangig muss hier das Radiusköpfchen versorgt werden, um die Längenbeziehungen wiederherzustellen. Parallel dazu ist das DRUG zu stabilisieren. Karpale Bandverletzungen kommen bei intra- und extraartikulären Radiusfrakturen vor. Die Inzidenz von SL-Bandrupturen liegt bei 30%, die von lunotriquetralen Rupturen bei 15% (Fernandez 2005). SL-Bandrupturen müssen immer operativ mitversorgt werden, um einen karpalen Kollaps mit nachfolgender DISI-Fehlstellung zu vermeiden. Insbesondere in Kombinationen mit Luxationen des Karpus müssen Bandverletzungen nach Reposition offen versorgt werden. Neben
675 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
a
⊡ Abb. 25.81a,b Begleitende Ulnafraktur. a Präoperativ, b nach Zuggurtungsosteosynthese
b
der Kirschner-Draht-Fixation der luxierten Knochen muss immer der Versuch einer Bandnaht unternommen werden.
Komplikationen Radiusfrakturen können als Problemfrakturen bezeichnet werden. Der Behandler wird häufig mit Komplikationen bzw. unbefriedigenden Ergebnissen konfrontiert. Die Komplikationsrate liegt bei ca. 30%. Nur 2,9% der Patienten haben keine dauerhaften Funktionseinschränkungen, der durchschnittliche Funktionsverlust ohne Berücksichtigung von Alter und Schwere der Fraktur liegt bei 24%. Zu den gefürchtetsten Komplikationen zählt das CRPS. Obwohl es nur selten zu einer vollen Ausprägung kommt, sind leichte Verläufe häufig. Patienten mit übermäßigen Schmerzen, Bewegungseinschränkungen und Parästhesien müssen frühzeitig behandelt werden. Dies beinhaltet Hochlagerung, intensive Handtherapie, passende Schienenversorgung und adäquate Schmerzmedikation. Bei Beschwerdepersistenz kommen auch Plexusblockaden zum Einsatz. Eine weitere Komplikation sind Bewegungseinschränkungen der Finger. Es wird empfohlen, insbesondere bei inkomplettem Faustschluss und Fingerstreckung intensiv zu therapieren. Auch dynamische Supinationsschienen können nach Konsolidierung der Fraktur eingesetzt werden. Operative Arthrolysen sollten nur als letzte Maßnahme durchgeführt werden, da hier keine deutliche Bewegungsverbesserung erreicht werden kann. Sehnenrupturen sind eine anerkannte Komplikation bei Radiusfrakturen, insbesondere dorsale Plattenosteosynthesen erhöhen das Risiko von Strecksehnenrupturen, aber auch bei konservativ versorgten Radiusfrakturen kommt es zu Spontanrupturen, v. a. der Extensor-pollicis-longus-(EPL-)Sehne. Über eine Druckerhöhung im dritten Strecksehnenfach aufgrund des Frakturhämatoms kommt es zu Degeneration und nachfolgender Ruptur der EPL-Sehne.
Tipp
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Die Therapie von Strecksehnenrupturen ist operativ, eine Strecksehnennaht ist nicht sinnvoll, es wird stattdessen eine Durchflechtung der EPL-Sehne mit der Extensor-indicisSehne empfohlen.
Die Nachbehandlung ist konservativ. Vereinzelt sind Beugesehnenrupturen nach palmaren Platten beschrieben worden. Das häufigste Problem der Radiusfrakturen sind persistierende Fehlstellungen nach unzureichender Reposition. Diese sind für andauernde Handgelenkschmerzen, verminderte Beweglichkeit, Instabilität und letztlich radiokarpale und radioulnare Arthrosen verantwortlich. Um Arthrosen zu vermeiden, sollten bei persistierenden Fehlstellungen Korrekturosteotomien durchgeführt werden. Dabei werden die Böhler-Winkel korrigiert, oftmals unter Verwendung von Beckenkammtransplantaten. Bei korrekter Stellung des Radius und einer UlnaPlus-Variante ist eine Ulnaverkürzungsosteotomie zu empfehlen. Weitere Komplikationen wie Neuropathien und die Volkmann-Kontrakturen können durch frühzeitige operative Intervention verhindert werden.
Verletzungen der Handwurzelknochen Frakturen der Handwurzelknochen sind meist Folge eines Sturzes auf die gestreckte Hand. Aufgrund der Komplexität der Handwurzel ist eine systematische Einteilung schwierig, dennoch können 3 Verletzungsmechanismen unterschieden werden. Perilunäre, axiale und lokale Verletzungsmechanismen führen zu unterschiedlichen Frakturen, die meist als Luxationsfrakturen bezeichnet werden. Perilunäre Verletzungen sind die häufigste Verletzungsart. Dazu zählen unter anderem Skaphoid- und Kapitatumfrakturen. Diese Verletzungen gruppieren sich um das Os lunatum. Eine Fraktur des Skaphoids
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
muss daher immer unter dem Gesichtspunkt einer perilunären Luxationsfraktur untersucht und dieselbe ausgeschlossen werden. Axiale Verletzungen kommen durch Druckeinwirkung in anteroposteriorer Richtung zustande. Diese Verletzungen gruppieren sich um das Os capitatum. Lokale Verletzungen sind nicht mit weiterreichenden Verletzungen im karpalen Bereich assoziiert. Hier sind v. a. Hamulusfrakturen und dorsale Absprengungen des Os triquetrum zu nennen.
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Frakturen des Kahnbeins Die Skaphoidfraktur ist bei Frakturen der Handwurzelknochen die häufigste Fraktur, was durch die anatomische Lage des Skaphoids erklärt wird. Hier wird die Kraft zwischen Radius sowie erstem und zweitem Strahl übertragen. Bei Extension über 90° und Radialdeviation ist eine Skaphoidfraktur zu erwarten. Die Skaphoidfraktur ist mit 60–80% die häufigste Fraktur im Bereich der Handwurzel (Amadio u. Taleisnik 1998). Das Os scaphoideum hat eine komplexe Anatomie mit 5 einzelnen Gelenkflächen. Es hat Kontakt zu Radius, Os lunatum, Os capitatum, Os trapezium und Os trapezoideum. Das wichtigste Band der Handwurzel ist das skapholunäre Band, das am proximalen Pol des Skaphoids ansetzt und zum Os lunatum zieht. Das Os scaphoideum erhält seine Blutversorgung v. a. von distal. > Der proximale Pol wird im Gegensatz zu den distalen Zweidritteln des Skaphoids nur sehr schlecht versorgt. Daher sind bei Frakturen im proximalen Drittel Durchblutungsstörungen und damit verzögerte Heilung und Pseudarthrosen zu erwarten.
Frakturen in dieser Höhe konsolidieren 6–11 Wochen später als weiter distal gelegene. Die Rate von avaskulären Nekrosen liegt hier mit 14–40% dementsprechend hoch. Die Diagnosestellung einer Kahnbeinfraktur ist schwierig, nicht selten werden Kahnbeinfrakturen auf Röntgenbildern übersehen. Die Häufigkeit falsch-negativer Befunde im Röntgen liegt bei bis zu 25%. Unverschobene Frakturen sind im a.p.-Röntgenbild oftmals nicht zu erkennen. Daher sollte bei eindeutiger Klinik wie Schmerzen über der Tabatière und bei longitudinaler Kompression immer eine Stecher-Aufnahme angefertigt werden, bei der auch eine Vergrößerung des SLAbstands zu erkennen ist. Ist auch bei der Stecher-Aufnahme bei frischem Trauma eine Skaphoidfraktur nicht zu erkennen, so sollte dennoch eine Gipsruhigstellung für 8–10 Tage erfolgen. Bei einer Fraktur zeigt sich dann meistens ein Resorptionssaum, d. h. eine Demineralisierung im Frakturbereich, die in einer Stecher-Aufnahme sichtbar ist. Eine CT-Untersuchung kann die Diagnose sichern. Bei weiter unklaren Fällen sollte eine MRT-Untersuchung durchgeführt werden. Die Klassifikation nach Herbert ist die heute gebräuchlichste, andere Klassifikationen wie die nach Russe werden seltener verwendet. Herbert unterteilt in akute Frakturen (A und B) und verzögerte Heilung (»delayed union«, C) sowie Pseudarthrose (»nonunion«, D). Akute Frakturen werden weiterhin in stabile (A) und instabile (B) unterteilt. Als A1 wird die Fraktur des Tuberkels, als A2 die inkomplette Fraktur des mittleren Drittels bezeichnet. Als B1 werden distale Schrägfrak-
⊡ Abb. 25.82 Herbert-Schrauben-Osteosynthese bei Skaphoidfraktur
turen, als B2 komplette Frakturen des mittleren Drittels, als B3 Frakturen des proximalen Pols und als B4 die transskaphoidalen, perilunären Luxationsfrakturen definiert. D1 stellen fibröse Verbindungen, D2 Pseudarthrosen dar. Die Therapie der Kahnbeinfrakturen ist umstritten. Sie richtet sich nach der Frakturlokalisation. Die häufigsten Frakturen treten im mittleren Drittel auf und ziehen eine hohe Rate von verzögerter Heilung und »nonunion« nach sich. Die Gründe dafür werden einerseits im verzögerten Aufsuchen eines Arztes (Bagatellverletzung), andererseits aber in der aus einer Skaphoidfraktur resultierenden karpalen Instabilität gesehen. Aufgrund der Fraktur ist das karpale Gefüge gestört, wodurch die radiokarpalen Gelenkflächen gegeneinander verschoben werden. Dies verhindert eine Approximation der Fraktur, wodurch die hohe Pseudarthroserate erklärbar wird. Jegliche Rotation der Frakturanteile deutet auf eine karpale Gefügestörung hin und umgekehrt. Die Therapie orientiert sich am Frakturtyp. Stabile, nicht dislozierte Frakturen können konservativ durch Ruhigstellung behandelt werden. Diese muss allerdings bis zu einer Durchbauung des Skaphoids aufrechterhalten werden. Das ist meist nach 12 Wochen gegeben. Die Durchbauung kann am besten mit einem CT beurteilt werden. Tipp
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Aufgrund der langen Immobilisationszeit wird heute gerade bei jungen Patienten auch bei nicht dislozierten Frakturen eine operative Versorgung empfohlen, um so eine schnellere Mobilisation zu ermöglichen. Erste Wahl ist die perkutane Verschraubung mit einer Herbert-Schraube (⊡ Abb. 25.82).
Alle dislozierten Frakturen, insbesondere bei Rotationsfehlern müssen offen reponiert und fixiert werden. Rotationsfehler müssen immer eine weitere Abklärung des Karpus nach sich ziehen. Solange bei einer frischen Fraktur keine Trümmerzone vorliegt, wird auch kein Knochentransplantat benötigt. Die heute gebräuchlichste Methode ist die Herbert-SchraubenOsteosynthese. Vorteil dieser Methode ist eine ausreichende
677 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
⊡ Abb. 25.83 Frakturen des proximalen Pols: Versorgung mit Beckenkamminterponat und Herbert-Schraube.
Kompression beider Fragmente durch unterschiedliche Gewindesteilheit der Schraube. Weiterhin fehlt ein Schraubenkopf, sodass die Schraube unter der Knorpelfläche zu liegen kommt. Daher kommt es zu weniger Irritationen der Gelenkflächen, und eine Metallentfernung ist nicht notwendig. Andere Osteosyntheseverfahren werden nur selten eingesetzt. Frakturen des proximalen Pols haben aufgrund der schlechten Vaskularisierung geringere Heilungsraten. Neben der Vaskularisierung ist dabei auch die Größe des Fragments entscheidend. Frische Frakturen können nach langer Immobilisation heilen. Wenn die Fragmentgröße 30% des Skaphoids unterschreitet, kann auch bei einer frischen Fraktur ein Knochentransplantat verwendet werden (Fernandez 1995; ⊡ Abb. 25.83). Nur bei größeren Fragmenten kann hier eine Herbert-Schraube eingesetzt werden, ansonsten muss die Fixation mit KirschnerDrähten erfolgen. Frakturen des distalen Drittels sind seltener. Tuberkelfrakturen sollten konservativ behandelt werden, insbesondere da sie aufgrund der guten Blutversorgung sehr gut heilen. Tuberkelfrakturen können als extraartikulär angesehen werden und heilen nach 4–6 Wochen Immobilisationszeit aus. Bei dislozierten Frakturen kann analog zu den Frakturen des mittleren Drittels die Herbert-Schrauben-Osteosynthese erfolgen.
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Frakturen weiterer Handwurzelknochen Weitere Handwurzelfrakturen wie die von Os lunatum, Os trapezium und Os capitatum sind extrem selten (⊡ Abb. 25.84; Amadio u. Taleisnik 1998). Die meisten dieser Frakturen erfordern spezifische Röntgenaufnahmen, da sie in Standardröntgenaufnahmen oft übersehen werden. Isolierte Frakturen treten am Os triquetrum auf. Die häufigste Fraktur ist die dorsale, kortikale Absprengung. Eine solche Fraktur bedarf keiner operativen Behandlung und verheilt nach 6-wöchiger Immobilisation im Allgemeinen gut. Frakturen des Os capitatum werden
c ⊡ Abb. 25.84a–c Lunatumfraktur. a Präoperatives CT lateral, b, c Versorgung mit 2 Mini-Herbert-Schrauben
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
meist bei schweren Verletzungen der Handwurzel gefunden, es sind aber auch vereinzelt isolierte Frakturen beschrieben. Isolierte Frakturen können zu einer avaskulären Nekrose führen. Weiterhin sind die meisten dieser Frakturen mit ligamentären Verletzungen assoziiert, die durch eine karpale Gefügestörung sichtbar werden. Bei inadäquater Versorgung entsteht ein erhebliches Risiko für eine sekundäre karpale Instabilität.
Karpale Gefügestörungen
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Karpale Gefügestörungen entstehen aufgrund einer Zerreißung des Bandapparats der Handwurzelknochen und/oder Frakturen bzw. Pseudarthrosen im Bereich der Handwurzel. Es gibt viele Ansätze zu einer Klassifikation karpaler Gefügestörungen, keine erfüllt alle Voraussetzungen (Garcia-Elias 1998). Deswegen wurde von Larsen ein analytisches Schema entwickelt, das 6 wichtige Ursachen berücksichtigt (Larsen et al. 1995). Die Zeitspanne seit dem Trauma gibt über die Heilungschancen der Bänder Auskunft, schon nach 6 Wochen sind sie minimal. Die Beständigkeit der Beschwerden zeigt, ob nur unter Belastung oder permanent Beschwerden vorliegen. Die Ätiologie, die Lokalisation, das Muster und die Richtung der Gefügestörung werden ebenfalls beurteilt. Die Richtung wird unterteilt in: ▬ dorsal (DISI = »dorsal intercalated segmental instability«, DT = dorsal translation) ▬ palmar (PISI = palmar intercalated segmental instability) ▬ ulnar (UT = ulnar translation) Karpale Gefügestörungen können weiterhin nach der Pathomechanik unterschieden werden. Direktes Trauma im Handgelenkbereich, wie z. B. Quetschungen oder Explosionen, gehen meist mit Frakturen der Handwurzelknochen einher, indirekte Traumen bei Stürzen etc., bei denen die Belastung indirekt übertragen wird, eher mit Bandverletzungen. Die Gefügestörung tritt meist graduell auf, beginnend mit einer SL-Dissoziation bzw. Skaphoidfraktur, die dann zu einer lunokapitalen Dislokation führt (Garcia-Elias 1998; ⊡ Abb. 25.85). Daraus resultiert eine lunotriquetrale Instabilität, die letztlich zu einer Lunatumdislokation führt. Wesentlich für die Diagnostik ist die Röntgenaufnahme, auf der die Beziehung der einzelnen Handwurzelknochen zueinander beurteilt werden muss. Neben a.p.-Aufnahmen und streng seitlichen Aufnahmen sollten immer eine Skaphoidaufnahme (nach Stecher) und eine Aufnahme in 45° Pronation angefertigt werden. Wichtig ist die Kenntnis der normalen karpalen Bögen nach Gilula. > Jegliche Unterbrechung der Gilula-Bögen weist auf eine Gefügestörung hin.
Gefügestörungen am Kahnbein Die häufigste Gefügestörung ist die skapholunäre Dissoziation. Diese kann aufgrund einer Elongation, Teil- oder Komplettruptur des SL-Bands entstehen. Das SL-Band verbindet das Os scaphoideum und das Os lunatum miteinander. Bei einer Schädigung dieser Bandverbindung kommt es zu einem Auseinanderweichen beider Strukturen. Dadurch entsteht eine radioskaphoidale Instabilität mit einer daraus folgenden Rotati-
⊡ Abb. 25.85 SL-Dissoziation
⊡ Abb. 25.86 DISI-Fehlstellung
onssubluxation des Os scaphoideum. Der distale Pol kippt nach palmar, der proximale Pol nach dorsal. Radiologisch wird das Ringzeichen sichtbar, nebst einem gegenüber der Gegenseite erweiterten SL-Spalt (Terry-ThomasZeichen). Dadurch wird die Kontaktfläche zwischen Os scaphoideum und Radius verkleinert, was bei Druck auf den distalen Skaphoidpol von palmar bei Flexion zu einer Subluxation über die dorsale Kante des Radius führen kann (Watson-Test). Frische Bandrupturen können mit Kirschner-Draht-Transfixation und Bandnaht behandelt werden. Auch das Os lunatum ändert seine Position im Sinne einer DISI-Fehlstellung (⊡ Abb. 25.86).
679 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Bei Gefügestörungen der Handwurzelknochen können die dorsale und palmare Instabilität unterschieden werden (s. oben); die dorsale Handwurzelinstabilität (DISI) ist die häufigste Variante, sie ist durch eine Abkippung des Mondbeins nach dorsal bei gleichzeitiger Abkippung des Kahnbeins nach palmar gekennzeichnet. Bei der selteneren palmaren Instabilität (PISI) wird das Mondbein nach palmar verkippt (Garcia-Elias 1998). Letztlich resultiert eine erhebliche Gefügestörung der Handwurzelknochen, die zu einem »SLACwrist« (»scapholunate advanced collapse«) führt, was zu einer Arthrose des Handgelenks führt. Bei beginnender Arthrose in verschiedenen Gelenkanteilen sind Bandnähte nicht mehr sinnvoll, sondern Teilversteifungen, wie z. B. die mediokarpale Arthrodese.
Weitere Gefügestörungen Weitere Gefügestörungen können durch eine Os-lunatum-Luxation verursacht werden. Dies ist ebenfalls im Röntgenbild zu erkennen. Hier ist neben einer Unterbrechung der GilulaLinien das »spilled teacup sign« zu erkennen, während die anderen Handwurzelknochen in regelrechter Position zueinander stehen. In der Literatur werden dorsale perilunäre und palmare lunäre Luxationen als unterschiedliche Entitäten wahrgenommen. Luxationen ohne Fraktur werden als »Lesser-arc«Verletzungen bezeichnet (Garcia-Elias 1998). Vom Pathomechanismus her sind beide Luxationen auf die gleiche Ursache zurückzuführen und stellen nur unterschiedliche Stadien der durch eine »Lesser-arc«-Luxation verursachten Folgen dar. Die operativen Maßnahme gleichen sich folglich. > Die Behandlung muss auch hier unverzüglich erfolgen. Nach Reposition sollte das Mondbein mit KirschnerDrähten stabilisiert werden.
Die geschlossene Reposition und Gipsruhigstellung wird nur in Ausnahmefällen bei inoperablen Patienten als definitive Therapie angesehen.
Luxationsfrakturen Eine weitere Entität beinhaltet die perilunäre transskaphoidale Handwurzelluxationsfraktur. Sie wird als »Greater-arc«-Verletzung oder Quervain-Läsion definiert. Diese Kombination einer Skaphoidfraktur mit einer perilunären Luxation stellt mit 60% die häufigste aller perilunären Luxationen (Herzberg et al. 1993). Die Skaphoidfraktur läuft meist quer durch das mittlere Drittel. Das proximale Fragment bleibt über das meist noch intakte SL-Band mit dem Lunatum verbunden. Lediglich das Lunatum bleibt in der normalen anatomischen Position, der Rest der Handwurzel ist in den meisten Fällen nach dorsal luxiert. Das therapeutische Vorgehen gleicht dem der »Lesser-arc«Verletzungen. Zunächst erfolgt die Reposition, die definitive Therapie ist mit einer Osteosynthese des Skaphoids und Stabilisieren der Handwurzelreihe mit Kirschner-Drähten operativ (⊡ Abb. 25.87). Gleichzeitig kann auch die Herbert-Schraube eingebracht werden. Eine alleinige geschlossene Reposition und Immbolisation ist nur bei inoperablen Patienten sinnvoll. Weitere Luxationen sind selten.
⊡ Abb. 25.87 »Greater-arc«-Verletzung: Versorgung mit K-Drähten und Herbert-Schraube
Verletzungen der Mittelhandknochen Frakturen der Mittelhandknochen können isoliert oder als Serienfrakturen, meistens als Folge von Rasanztraumen, auftreten. Ähnlich wie bei Fingerfrakturen wurden diese Frakturen traditionell nicht operativ versorgt. Erst seit einigen Jahrzehnten hat die operative Versorgung an Einfluss gewonnen. Dennoch kann ein Großteil dieser Frakturen konservativ durch Reposition und Ruhigstellung behandelt werden. Die operativen Verfahren gewinnen allerdings immer größere Popularität, nicht zuletzt durch deutlich verbesserte Osteosynthesematerialien. Indikationen für eine operative Vorgehensweise sind nicht reponierbare Frakturen, Rotationsfehler, intraartikuläre Frakturen, offene Frakturen, Substanzverlust und polytraumatisierte Patienten mit multiplen weiteren Frakturen. Daneben müssen auch die sozioökonomischen Anforderungen und die Patienten-Compliance berücksichtigt werden. Das Ziel der Behandlung ist eine bestmögliche und schnelle funktionelle Wiederherstellung. Durch operative Verfahren kann die Dauer der Ruhigstellung reduziert werden, was sich insbesondere auf die Fingerbeweglichkeit positiv auswirkt.
Frakturen des Os metacarpale I Aufgrund der funktionellen Exposition nimmt der Daumen eine Sonderstellung ein. Der erste Mittelhandknochen ist mit 20% der Mittelhandfrakturen ein häufig betroffener Knochen. Hierbei werden die Frakturen an der Basis in Bennett- und Rolando-Fraktur unterschieden. Bei der Bennett-Fraktur handelt es sich um ein Verrenkungsbruch des Gelenks, bei dem ein ulnopalmares Fragment an anatomischer Stelle bleibt, während das Hauptfragment durch den Sehnenzug des M. abductor pollicis longus nach proximal abrutscht. Da die Fraktur pathophysiologisch mit einer Subluxation einhergeht, ist immer eine intraartikuläre Stufe vorhanden.
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
> In Fehlstellung verheilte Frakturen führen zwangsläufig zu posttraumatischen Arthrosen.
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Ziel der Behandlung ist, durch die korrekte Reposition die intraartikuläre Stufe auszugleichen und die korrekte Anatomie des Karpometakarpalgelenks wieder herzustellen. Die geschlossene Reposition und Ruhigstellung resultiert vermehrt in sekundären Dislokationen. Bennett-Frakturen werden daher vornehmlich operativ versorgt, und zwar über perkutane Kirschner-Drähte, entweder als intermetakarpale Transfixation zum Metakarpale II oder als Verdrahtung des eigentlichen Fragments (⊡ Abb. 25.88). Kleine Fragmente können auch durch eine Transfixation des Daumensattelgelenks mit einem Kirschner-Draht behandelt werden. Hierbei wird ein Kirschner-Draht in das Os trapezium eingebracht, während das eigentliche Fragment nicht gefasst wird. Weiterhin bestehen die Möglichkeiten der Versorgung mit Zugschrauben oder winkelstabilen Plattenosteosynthesen. Insbesondere die Entwicklung von Niederprofilplatten hat dieser Methode zunehmende Popularität verschafft. Die Rolando-Fraktur ist eine y-förmige intraartikuläre Fraktur. Daneben werden heute auch andere Trümmerfrakturen der Basis des ersten Metakarpale als Rolando-Fraktur bezeichnet. Aufgrund der Instabilität der Gelenkfläche ist bei einer Rolando-Fraktur immer eine operative Indikation gegeben, da Gipsimmobilisation unzureichende Ergebnisse hervorgebracht hat. Bei Rolando-Frakturen kann über intermetakarpale KirschnerDrähte eine gute Reposition erreicht werden. Dieses Verfahren ist insbesondere bei Trümmerfrakturen der Basis einzusetzen. Eine weitere Option stellt die Behandlung mit Fixateure externe dar. Bei Trümmerfrakturen ist die geschlossene Reposition der offenen vorzuziehen. Plattenosteosynthesen sind v. a. für große Fragmente indiziert. Ähnlich wie bei Bennett-Frakturen sind hier winkelstabile Platten zu bevorzugen. Eine weitere Fraktur ist die sogenannte Winterstein-Fraktur, eine Querfraktur im Schaftbereich, die das Sattelgelenk nicht betrifft. Die Winterstein-Fraktur wird operativ durch Plattenosteosynthesen versorgt.
Frakturen der übrigen Metakarpalia Die Mittelhandfrakturen der übrigen Finger Dig. II–V werden eingeteilt in Basisfrakturen mit und ohne Gelenkbeteilungen,
⊡ Abb. 25.88a,b Bennet-Fraktur. a Präoperatives Röntgenbild, b Versorgung mit Kirschner-Drähten
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Schaftfrakturen und die subkapitalen Kopffrakturen. Die Indikation für die operative Versorgung von Metakarpalefrakturen sind nicht reponierbare Frakturen, Fehlstellung intraartikulärer Frakturen, offene Frakturen, Polytrauma, begleitende Weichteilverletzungen und Rekonstruktionen (Stern 1998). Reine Kopffrakturen sind selten gegenüber den subkapitalen Frakturen. Diese entstehen v. a. durch direkte Einwirkungen bei Quetschverletzungen. > Neben a.p.- und seitlichen Aufnahmen sollte auch eine Schrägaufnahme angefertigt werden, da in der Seitaufnahme die anderen Metakarpalia oft die Fraktur verdecken.
Die Therapie der Kopffrakturen muss auf den Patienten abgestimmt sein. Kopffrakturen mit intraartikulärer Beteiligung von mehr als 25% und intraartikulären Stufen von über 1 mm sollten operativ behandelt werden. Die Osteosynthesen können hier durch Schrauben oder Platten bzw. durch Kirschner-Draht-Fixation erfolgen. Imprimierte Frakturen mit multiplen Trümmern können kaum zufriedenstellend operativ behandelt werden. Daher sollten diese nach Reposition 2 Wochen ruhiggestellt und dann funktionell mit einem Mittelhand-Brace nachbehandelt werden, um das Remodeling zu fördern. Subkapitale Frakturen der Metakarpalia sind häufig. Hierbei ist die subkapitale Köpfchenfraktur des fünften Mittelhandknochens eine eigene Entität, die sog. Boxerfraktur.
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Tipp
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Bei subkapitalen Frakturen und Hinweisen auf Handgemenge sollte immer eine Zahnschlagverletzung mit einem daraus resultierenden hohen Infektionsrisiko (»clenched fist syndrome«) ausgeschlossen werden.
Die optimale Behandlung ist bis heute umstritten (Porter et al. 1998). Eine Pseudarthrose tritt bei diesen Frakturen nur selten auf. Allerdings können in Fehlstellung verheilte Frakturen mit einer verminderten Beweglichkeit, einem palmar palpablen Metakarpalekopf und einer Rotationsfehlstellung nebst optischem Fehlen des dorsalen Metakarpalekopfs zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Am Metakarpale IV und V kön-
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681 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
nen stärkere palmare Abkippungen als am Metakarpale II und III toleriert werden (Stern 1998). Studien haben gezeigt, dass palmare Angulationen bis 70° ohne signifikanten Funktionsverlust einhergehen. Kontroversen existieren auch hinsichtlich einer Reposition. Einige Autoren lehnen eine Reposition bei weniger als 40° ab. Eine Reposition sollte mit dem Jahss-Manöver durchgeführt werden, dazu wird im MP-Gelenk 90° gebeugt und so die intrinsische Muskulatur entspannt, was die Reposition aufgrund der Stabilisation des Metakarpalekopfs erleichtert. Die meisten Boxerfrakturen können nach Reposition konservativ mit Gipsschiene behandelt werden. Operationsindikation sind eine Abkippung von mehr als 70° und Rotationsfehler. Hier können Kirschner-Draht-Osteosynthesen und Plattenosteosynthesen eingesetzt werden. Erste Methode ist die intramedulläre Schienung mit bouquetförmig gebogene, antegrad eingebrachte Kirschner-Drähte (⊡ Abb. 25.89). Der frakturferne Zugang vermeidet das Eröffnen des Frakturbereichs, wo es in Folge häufig zu Strecksehnenadhäsionen kommen kann. Die Plattenosteosynthese ist primär nicht indiziert, da hier Bewegungseinschränkungen zu erwarten sind. Schaftfrakturen können in Quer-, Schräg- und Spiralfrakturen unterteilt werden. Auch hier werden neben a.p.- und Seitaufnahmen Schrägaufnahmen empfohlen. Querfrakturen kommen durch axiales Trauma zustande. Wie bei subkapitalen Frakturen kann eine deutliche palmare Angulation toleriert werden, obwohl bei 30° für den Kleinfinger, bei 20° für den Ringfinger und bei jeglicher Angulation an Zeige- und Mittelfinger die Indikation zur Reposition gestellt werden muss (Stern 1998). Schräg- und Spiralfrakturen werden durch exzessive Torsionskräfte verursacht. Diese Frakturen führen generell zu Rotationsfehlern. Ein Rotationsfehler von 1° im Frakturbereich führt zu einem Rotationsfehler von 5° am Finger. Rotationsfehler werden klinisch diagnostiziert. Die Reposition und Immobili-
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sation ist nur bei Querfrakturen und Schrägfrakturen ohne Rotationsfehler indiziert. Da insbesondere Schrägfrakturen auch nach Reposition sekundär dislozieren, sollte hier im Zweifelsfall die Operationsindikation großzügig gestellt werden. Schaftfrakturen werden bei deutlicher Dislokation und Rotationsfehlstellung operiert. Neben Plattenosteosynthesen können auch Kirschner-Draht-Osteosynthesen eingesetzt werden. Transmetakarpale Spickungen sind die Methode der Wahl. Insbesondere bei Rotationsfehlern ist die offene Reposition indiziert. Bei Randstrahlen (Dig. II und V) sollte immer eine Plattenosteosynthese durchgeführt werden, während Schrägund Spiralfrakturen an Metakarpale III und IV auch durch Zugschrauben stabilisiert werden können. Tipp
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Eine Ruhigstellung der Finger sollte nur für wenige Tage durchgeführt werden, die weitere Ruhigstellung durch einen Mittelhand-Brace verhindert Strecksehnenadhäsionen.
Basisfrakturen kommen oft in Kombination mit Dislokationen der Karpometakarpalgelenke vor. Aufgrund der Rigidität der Karpometakarpalgelenke von Dig. II und III sind dort isolierte Basisfrakturen selten. Am häufigsten treten Basisfrakturen an Metakarpale IV und V auf. Insbesondere intraartikuläre Basisfrakturen am Metakarpale V sind häufig und mit dorsalen Subluxationen assoziiert. Aufgrund der Ähnlichkeit mit einer Bennett-Fraktur wird diese Fraktur auch als reverse BennettFraktur bezeichnet. Diese können auf a.p.- und seitlichen Röntgenbildern leicht übersehen werden, das ganze Ausmaß der Fraktur wird oft erst im CT erkannt. Basisfrakturen sollten operativ versorgt werden, insbesondere um die Gelenkfläche und die Länge wiederherzustellen. Die empfohlene Methode ist die intermetakarpale Aufhängung mit Kirschner-Drähten nach adäquater Reposition der Fraktur.
⊡ Abb. 25.89a,b Fraktur von MC IV und V. a Das präoperative Röntgenbild zeigt die Abkippung, b Versorgung mit intramedullären Kirschner-Drähten
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Plattenosteosynthesen sind in Verbindung mit offener Reposition bei Luxationen einzusetzen. Oftmals begleitend vorliegende Dislokation in den Karpometakarpalgelenken werden meist offen behandelt, da sie eine hohe Tendenz zur erneuten Luxation nach konservativer Reposition haben.
Verletzungen der Fingerknochen Frakturen der Fingerknochen
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Fingerfrakturen können in Grund-, Mittel-, und Endgliedfrakturen eingeteilt und in intra- und extraartikuläre Frakturen unterschieden werden, ferner werden im Bereich des Endgliedes die Nagelkranzfrakturen ausgegliedert. Diese Frakturen entstehen wie die Querfrakturen überwiegend durch direkte Gewalteinwirkung. Indirekte Gewalteinwirkungen wie Distorsion oder Überstreckung führen meist zu Gelenkfrakturen. Bei einer Fingerfraktur muss neben dem Röntgenbild immer die Klinik beurteilt werden. Insbesondere Frakturen mit Rotationsfehlstellungen und Verschiebungen müssen reponiert und bei instabilem Ergebnis operativ versorgt werden. Primär instabile Frakturen haben eine hohe Tendenz, unter Gipsbehandlung sekundär erneut abzurutschen. Daher muss hier wie bei Radiusfrakturen eine engmaschige radiologische Kontrolle erfolgen. Fingerfrakturen müssen in der »Intrinsic-plus«-Stellung ruhiggestellt werden. Diese erfordert eine Beugung von 70–90° im MP-Gelenk und eine Streckung in den PIP- und DIP-Gelenken. Es kann im weiteren Verlauf auf Fingerschienen und Twin-Tape umgeschwenkt werden. Das funktionelle Ergebnis hängt neben dem Frakturtyp (extraartikulär günstiger) v. a. von den Begleitverletzungen ab. Mitverletzungen des Beuge-Streck-Mechanismus sowie Weichteilschäden führen zu einer schlechteren Prognose. Sekundär dislozierte und instabile Frakturen werden operativ versorgt. Schaftfrakturen treten v. a. in Grund- und Mittelphalanx auf, während Schräg- und Spiralfrakturen eher in den Grundphalangen zu finden sind. Querfrakturen treten v. a. in den Mittelphalangen auf. Bei Schräg- und Spiralfrakturen ist operativ eine exakte anatomische Reposition notwendig, da minimale Abweichungen zu deutlichen Rotationsfehlern führen. Bei solchen Frakturen wird zunehmend die offene Reposition und Osteosynthese favorisiert. Perkutane Kirschner-Draht-Versorgungen sind mittlerweile die Ausnahme, da hier nur selten eine Übungsstabilität erreicht werden kann. Platten- und Schraubenosteosynthesen werden hauptsächlich über dorsale Zugänge durchgeführt. Die Strecksehne muss der Länge nach gespalten werden, wobei die Ansätze an Mittel- und Endglied unverletzt belassen werden müssen. Viele langstreckige Spiral- und Schrägfrakturen lassen sich durch Zugschraubenosteosynthesen versorgen, während kurzstreckige Schrägfrakturen genauso wie Schrägfrakturen mit Plattenosteosynthesen behandelt werden (⊡ Abb. 25.90 u. ⊡ Abb. 25.91). Bei Querfrakturen nach direktem Trauma mit Trümmerzone und Substanzverlust sind Plattenosteosynthesen mit winkelstabilen Systemen die Therapie der Wahl. Dorsale Plattensysteme führen oftmals zu Strecksehnenadhäsionen, was sich in Bewegungsstörungen manifestiert. Hier muss eine Metallentfernung und Strecksehnentenolyse erfolgen.
⊡ Abb. 25.90 Spiralfraktur: Versorgung mit Zugschrauben
Intraartikuläre Abrissfrakturen im MP-Gelenk werden, ähnlich wie ein ossärer »Skidaumen« (s. unten), durch Schraubenosteosynthesen behandelt. Bei intraartikulären Frakturen im PIP- und DIP-Gelenk können sowohl Schrauben- als auch Kirschner-Draht-Osteosynthesen eingesetzt werden. Hierbei wird über einen Zugang in der Mediolaterallinie die Fraktur versorgt. Uni- und bikondyläre Frakturen im PIP-Gelenk haben oft eine Trümmerkomponente. Daher sollten zunächst die Kondylen und damit die Gelenkfläche und erst im zweiten Schritt der Kondylenanteil gegen den Schaft fixiert werden. Bei zentralen Impressionsfrakturen muss die Gelenkfläche mit einem Stößel angehoben werden, hier kann auch die Spongiosatransplantation indiziert sein. Ein weiteres Verfahren ist ein dynamischer Fixateur, z. B. nach Suzuki, der insbesondere bei Trümmerfrakturen indiziert ist. Durch Traktion erfolgt die Achsausrichtung, durch die Beübung wird das Remodeling der Gelenkfläche gefördert. Frakturen der Endphalanx kommen meist durch direkte Traumen zustande. Daher ist ein hoher Prozentsatz offener Verletzungen zu sehen. Im Bereich der Endglieder ist neben der Schienenbehandlung meist nur die Kirschner-Draht-Osteosynthese sinnvoll. Da das Knochenvolumen sehr gering ist, drohen bei inadäquater Technik Knochennekrosen. Die Ruhigstellung von Endgliedfrakturen kann über einen Zeitraum von 2–3 Monaten erforderlich sein, da die Heilung gerade bei Trümmerfrakturen nur langsam fortschreitet. Auch bei Pseudarthrosen der Fraktur sind die meisten Patienten asymptomatisch und bedürfen keiner weiteren Behandlung. Die meisten Endgliedfrakturen sind assoziiert mit Nagelverletzungen.
Nagelverletzungen Nagelverletzungen sind sehr häufig und werden meistens unterschätzt. Insbesondere da der Erfolg rekonstruktiver Eingriffe am Nagelbett nur schwer vorauszusagen ist, sollten Nagelverletzungen konsequent behandelt werden. Nach Zook können Nagelbettverletzungen in einfache Lazerationen, Quetsch- und
683 25.2 · Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
eigentliche Nagelbettnaht. Bei komplettem Fehlen des Nagelbetts sollte ggf. eine Nagelbetttransplantation von der Großzehe erfolgen.
Luxationen und Bandverletzungen der Finger
⊡ Abb. 25.91 Spiralfraktur: Versorgung mit Plattenosteosynthesen
Avulsionsverletzungen unterteilt werden (Zook u. Brown 1998). Die einfachste Verletzung eines Nagels und Nagelbetts ist das subunguale Hämatom. Tipp
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Es sollte immer entlastet werden, um Druckschäden des Nagelbetts zu verhindern. Empfohlen werden 2 Entlastungslöcher von ausreichendem Durchmesser.
Bei den meisten Nagelverletzungen kommt es zu einem Abscheren des Nagels vom Nagelbett. Dieser Nagel sollte, falls noch vorhanden, immer zur Protektion des Nagelbetts aufgehoben werden, um ihn später wieder einsetzen zu können. Einfache Lazerationen sollten durch 6,0-Vicrylfäden genäht werden. Hier ist besonders auf eine gute Adaptation der Ränder zu achten, um eine möglichst glatte Oberfläche des Nagelbetts zu schaffen. Oftmals kommt es bei Nagelbettverletzungen zu Ausrissverletzungen, bei denen Teile des Nagelbetts ausgerissen wurden. Diese sollten soweit möglich ebenfalls wieder eingepasst und zurückgenäht werden. Bei vielen Quetschverletzungen kommt es gleichzeitig zu einer Nagelkranzfraktur, dies ist bei ca. 50% aller Nagelbettverletzungen der Fall. Bei nicht dislozierten Nagelkranzfrakturen sollte nur das Nagelbett genäht werden und der Nagel bzw. ein Kunstnagel zur Schienung der Fraktur und zum Schutz des Nagelbetts zurückgelegt werden. Zurückgelegte Nägel sollten durch U-Nähte für mehrere Wochen fixiert werden. Bei Avulsionsverletzungen, d. h. Verletzungen, bei denen der Nagel inklusive des Nagelbetts abgetrennt wurde, erfolgt ein Rücknähen des Nagels in die ursprüngliche Position ohne
Luxationen der Finger treten sehr häufig auf. Durch Hyperextension, ulnare oder radiale Duktion kommt es zu Luxationen und Teil- oder Komplettrupturen der ligamentären Strukturen. Das PIP-Gelenk ist für die Fingerfunktion am wichtigsten. Dementsprechend kommen hier die meisten Luxationen vor. Dorsal wird die Stabilität durch den Mittelzügel gesichert, während die 2–3 mm dicken Kollateralbänder seitliche Deviationen verhindern. Beugeseitig sorgt die palmare Platte für die Stabilität. Zusammen mit den Seitenbändern wird durch sie eine dreidimensionale Stabilität erzeugt, die nur durch Rupturen gestört werden kann. Bei Luxationen kommt es immer zu einer Zerreißung des Bandapparates. Die Seitenbänder reißen v. a. proximal aus, während die palmare Platte distal rupturiert. Die dorsale Luxation ist am häufigsten. Sie entsteht durch axiale Gewalteinwirkung auf den gestreckten oder leicht gebeugten Finger. Oftmals ist auch eine knöcherne Abrissverletzung am distalen Anteil der palmaren Platte sichtbar. In seltenen Fällen kommt es zu einem proximalen Ausriss der palmaren Platte und einem Einschlagen in den Gelenkraum. Bei diesem Repositionshindernis muss eine offene Reposition der palmaren Platte durchgeführt werden. Laterale und palmare Luxationen kommen extrem selten vor. Luxationen sollten nach Reposition nur kurz in leichter Beugestellung ruhiggestellt werden. Bei ligamentären und knöchernen Luxationen, die nicht mehr als 40% der Gelenklinie betreffen, sollte die Ruhigstellung 2–3 Tage nicht überschreiten. Danach erfolgt die Freigabe und Beübung mit Twin-Tape, eventuell kann auch eine Extensionsblockadeschiene für 2 Wochen eingesetzt werden. Eine operative Therapie mit Schraubenosteosynthesen ist bei Beteiligung von mehr als 40% der Gelenkfläche indiziert (Glickel et al. 1998). Offene PIP-Gelenkluxationen müssen aufgrund der Infektgefahr im Gelenkraum immer operativ versorgt und gespült werden. Bei erneuter Subluxation ist eine temporäre Transfixation mit Kirschner-Drähten indiziert. Luxationen im DIP- bzw. IP-Gelenk des Daumens sind mit PIP-Luxationen vergleichbar, kommen aber aufgrund des kürzeren Hebelarms seltener vor. Diese Luxationen sind häufiger offen, da der Hautmantel in diesem Bereich straff anliegt. Repositionshindernisse durch palmare Plattenanteile sind extrem selten. Luxationen der MP-Gelenke sind wegen der starken Stabilisierung durch die intrinsische Muskulatur eine Rarität. Wenn Luxationen auftreten, so betreffen diese aufgrund der Randstellung entweder Zeige- oder Kleinfinger. MP-Gelenkluxationen können häufig nicht reponiert werden, da die proximal ausgerissene palmare Platte in den Gelenkraum disloziert und vom Zurückgleiten durch die eng am Metakarpaleköpfchen verlaufenden Sehnen gehindert werden. Solche Luxationen müssen schnellstmöglich offen reponiert werden, um eine Nekrose der palmaren Platte zu verhindern. Palmare MP-gelenkluxationen sind extrem selten.
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
Bandverletzungen
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Bandverletzungen durch Distorsionen sind häufiger als Luxationen und führen erst bei persitierender Bewegungseinschränkung zu einer ärztlichen Konsultation. Bei der Untersuchung fällt eine Schmerzhaftigkeit und Schwellung über dem betroffenen Band auf. Zur Diagnosestellung führen gehaltene Aufnahmen, die eine vermehrte Aufklappbarkeit des Gelenkspalts zeigen. Die am häufigsten betroffenen Finger sind der Daumen und der Kleinfinger aufgrund ihrer exponierten Lage. Bandverletzungen im Bereich der MP- oder PIP-Gelenke werden nur für wenige Tage ruhiggestellt, eine baldige Mobilisation unter Twin-Tape verhindert Bewegungsdefizite. Eine eigene Entität ist der sog. Skidaumen. Diese Verletzung resultiert aus einer plötzlichen Radialdeviation im Daumengrundgelenk. Dadurch wird das ulnare Seitenband knöchern oder ligamentär ausgerissen. Es kommt neben Schmerz und Schwellung zu Instabilität, die klinisch durch eine vermehrte Aufklappbarkeit offensichtlich wird. Die Diagnose wird klinisch und radiologisch gestellt. Bei knöchernem Ausriss kann es zu einer Dislokation über die Adduktoraponeurose kommen, die irreversibel ist, da die Aponeurose ein Zurückgleiten des Seitenbands verhindert (Stener-Läsion). Typischerweise ist das Fragment klein. Eine Stener-Läsion kann nur bei kompletten Bandrupturen auftreten. Klinisch muss eine komplette Ruptur ohne knöchernen Abriss bei einer Aufklappbarkeit von mehr als 20° im Vergleich zur Gegenseite angenommen werden (Glickel et al. 1998). Eine Teilruptur mit geringer Aufklappbarkeit von weniger als 20° Differenz zur Gegenseite kann konservativ mit einer 6-wöchigen Daumenruhigstellung behandelt werden. Jede größere Aufklappbarkeit, dislozierte ossäre Ausrisse und Stener-Läsionen sollten operativ versorgt werden. Eine Bandnaht bzw. Schraubenrefixation eines ossären Ausrisses stellen die ursprünglichen Verhältnisse wieder her. Auch hier ist eine 6-wöchige Ruhigstellung indiziert. Verletzungen des radialen Seitenbands sind seltener, Diagnose und Behandlung ähnelt der der ulnaren Seitenbands.
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25
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Kapitel 25 · Erkrankungen und Verletzungen von Unterarm, Hand und Fingern
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26
Verletzungen des Beckens K. Grob
26.1
Beckenringfrakturen
26.2
Azetabulumfraktur Literatur
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– 708
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688
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
26.1 z
Beckenringfrakturen
Anatomie
Das Becken entspricht einem Knochenring, bestehend aus Os sacrum und den beiden Beckenhälften (Hemipelvis). Jede Beckenhälfte setzt sich aus den 3 ursprünglichen Ossifikationszentren zusammen: Os ilium, Os ischium und Os pubis. Ventral an der Symphyse sind die beiden Beckenhälften über einen fibrokartilaginären Diskus miteinander verbunden. Diese Verbindung ist nicht rigide und dient lediglich als Stütze. Die Symphyse ist somit keine wesentliche Gewicht tragende Struktur,
im Gegensatz zu dem dorsal mit dem Os ilium artikulierenden Os sacrum. Das Os sacrum besitzt in der Frontalebene eine Dreieckform, in axialer Projektion eine Trapezoidform. Die Form des Os sacrum reflektiert seine wichtige mechanische Rolle bei der Übertragung von Kräften des Achsenskeletts auf die unteren Extremitäten (⊡ Abb. 26.1). Dementsprechend kräftig ist die Artikulation zwischen dem Os sacrum und den beiden Beckenhälften. Der dorsale iliosakrale Bandapparat ist der wichtigste mechanische Stabilisator des Beckens (⊡ Abb. 26.2)
26
aa
⊡ Abb. 26.1a,b Projektion der Beckenringeingangsebene. a Von kranial, b von kaudal (Outlet-Ansicht). Beachte die Position und Form des Os sacrum ähnlich einem Schlüsselstein im Zentrum eines Torbogens. Diese Position unterstreicht die Bedeutung des Os sacrum als »Zentrum« des Beckenrings. Eine vertikale Krafteinwirkung führt zu einer tendenziellen Verschiebung des Os sacrum nach anterior. Entsprechend stark ist der dieser Tendenz entgegenwirkende lumbosakrale und dorsale iliosakrale Bandapparat ausgebildet (vgl. ⊡ Abb. 26.02)
Lig. iliolumbale
b
Lig. interossea
Lig. interossea Spina iliaca posterior superior
Lig. sacroiliaca dorsalia Spina iliaca posterior superior
Lig. sacrospinale Lig. sacrotubale a
b
Ansicht von kranial, Becken in Höhe der Beckeneingangsebene
⊡ Abb. 26.2a,b Der dorsale iliosakrale Bandapparat ist der wichtigste mechanische Stabilisator des Beckens. Entsprechend kräftig sind diese Bänder ausgebildet. Eine Ruptur ist nur bei großer Krafteinwirkung möglich und führt zu einer Instabilität des hinteren Beckenrings
689 26.1 · Beckenringfrakturen
Die interossären iliosakralen Bänder sind die primären Stabilisatoren des Iliosakralgelenks (ISG). Ventral ist die Gelenkkapsel des ISG durch vordere iliosakrale Bänder verstärkt. Dieser Bandapparat ist im Vergleich zu den dorsalen Bandstrukturen schwach ausgebildet und somit mechanisch weniger wichtig. Der Beckenboden wird verstärkt durch die Lig. sacrotuberale und Lig. sacrospinale. Diese Bänder sind wichtige Stabilisatoren des Beckenrings in dorsaler, kranialer sowie in rotatorischer Richtung. Das dreieckförmige Lig. sacrospinale ist dünner als das Lig. sacrotuberale und teilt das dorsale Becken in die Foramen ischiadicum majus und minus. Eine Sprengung der Symphyse über 2,5 cm ist ein indirektes Indiz für eine Ruptur des Lig. sacrospinale. Nicht selten reißt das Lig. sacrospinale ossär am Proc. spinosus aus. Bei solchen sog. »Open-book«Verletzungen kommt es zu einer Mitverletzung des vorderen ISG-Bandapparates. Ein weiteres kräftiges Band, das Lig. iliolumbale, spannt sich zwischen dem Os ileum und dem Querfortsatz L5. Eine Dislokation der einen Beckenhälfte nach kranial und lateral kann über dieses Band zu einer Fraktur des Querfortsatzes L5 führen. > Eine Fraktur des Querfortsatzes L5 ist immer Ausdruck einer größeren Krafteinwirkung. Nach möglichen Begleitverletzungen muss gesucht werden.
⊡ Abb. 26.3 Avulsionsfrakturen des Beckenrings. Avulsionsfrakturen findet man gelegentlich beim Adoleszenten am Ende der Wachstumsperiode
a
Zahlreiche Muskeln setzen am Beckenring an. Abrupte Muskelkontraktionen bei sportlichen Aktivitäten können insbesondere in der Adoleszenz bzw. am Ende der Wachstumsperiode zu Avulsionsfrakturen führen. Die wichtigsten Avulsionsfrakturen sind (⊡ Abb. 26.3): ▬ Spina iliaca anterior superior: M. sartorius ▬ Spina iliaca anterior inferior: M. rectus femoris ▬ Tuberculum pubicum: M. pectineus ▬ Tuber ischiadicum: Caput commune des M. biceps femoris, M. semimembranosus und M. semitendinosus ▬ Crista iliaca: Abdominalmuskulatur (Mm. obliquus internus und externus abdominis) z
Klassifikation
Verschiedene Klassifikationen mit unterschiedlicher Gewichtung sind im Gebrauch. Wir beschränken uns im Folgenden auf die in der Literatur am häufigsten erwähnten Einteilungen. Es zeigen sich zahlreiche Überschneidungen und Gemeinsamkeiten. Buchholz fasst die Beckenfrakturen in 3 Hauptkategorien zusammen (⊡ Abb. 26.4): Typ I ist eine stabile Beckenringfraktur mit isolierter Sprengung der Symphyse oder mit einfacher undislozierter Fraktur des oberen und unteren Schambeinastes. Gleichzeitig zeigt sich eine minimale Öffnung des ISG oder allenfalls eine undislozierte Sakrumfraktur. Typ II umfasst die rotationsinstabile Beckenringfraktur mit Innen- oder Außenrotationsfehlstellung der einen Beckenhälfte im Verhältnis zum Sakrum. Diesem Typ liegt eine anteroposteriore Gewalteinwirkung (Unfallmechanismus vom Typ »open book«) zugrunde, was zu Verletzungen einerseits der Ligg. sacrospinale und sacrotuberale sowie des ventralen ISG-
b
c
⊡ Abb. 26.4a–c Beckenfrakturen: Klassifikation nach Buchholz. a Typ I, b Typ II, c Typ III
26
690
26
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
Bandapparats führt. Die vertikale Stabilität des Beckenrings bleibt erhalten. Typ III umschreibt eine komplette Instabilität des Beckenrings sowohl für Rotation als auch in vertikaler Richtung. Eine zusätzliche vertikale Instabilität des Beckenrings ist Ausdruck einer Diskontinuität des vorderen und hinteren Beckenrings (globale Instabilität). Dies ist frakturbedingt oder durch eine gleichzeitige Ruptur des dorsalen ISG-Bandapparats möglich. Die Ruptur des dorsalen ISG-Bandapparats erlaubt erst eine Verschiebung des Heimipelvis nach dorsal bzw. kranial. Gleichzeitg besteht eine Instabilität für Rotation in Sagittal- und Horizontaleben. Tile (1986) klassifiziert die Beckenfrakturen je nach Schweregrad in A, B und C. Diese Einteilung berücksichtigt zum einen den Unfallmechanismus, zum anderen die potenzielle Instabilität. Typ A: Dabei handelt es sich um eine stabile Beckenringfraktur. Die Kontinuität des Beckenrings bleibt erhalten, wie z. B. bei einer isolierten Fraktur der Ala osis ilii. Sämtliche Avulsionsfrakturen fallen in diese Kategorie (⊡ Abb. 26.3). Typ B: Diese Verletzungen werden nochmals unterteilt in: ▬ Typ B1: »open book« oder auch anteroposteriore Kompressionsverletzung ▬ Typ B2: laterale Kompressionsverletzung Bei beiden Untergruppen ist die Verletzung des hinteren Beckenrings (wie beim Buchholz-Typ II) inkomplett. Beide Frakturtypen B1 und B2 gelten somit als rotationsinstabil. Die vertikale Stabilität des Beckenrings bleibt erhalten. > Bei Verletzungen vom Typ B entscheidet die klinische Untersuchung über die Stabilität des Beckenrings und darüber, ob eine operative Therapie nötig ist. Typ C umschreibt eine in sämtliche Richtungen komplette Instabilität des Beckenrings (vgl. Buchholz-Typ III). Die OTA/AO-Klassifikation (Orthopaedic Trauma Association/Arbeitsgemeinschaft für Osteosynthese) ist mit der Klassifikation von Tile identisch. Es besteht lediglich eine numerische Modifikation, indem die Zahl 61 vorangesetzt wird. Die Klassifikation lautet somit 61A, 61B oder 61C.
Young und Burgess gewichten in ihrer Einteilung den Unfallmechanismus stärker. Ihre Modifikation der Tile-Klassifikation teilt die Beckenringverletzungen somit in 4 Gruppen ein, die teilweise wiederum in 3 Schweregrade unterteilt werden (⊡ Abb. 26.6). APC I ist eine stabile Beckenringverletzung mit isolierter Symphysenverletzung oder seltener Fraktur des oberen und unteren Schambeinastes (Ramus superior und inferior ossis pubis). Bei APC II ist der Beckenring rotationsinstabil und assoziiert mit einer Symphysensprengung oder seltener mit Frakturen des oberen und unteren Schambeinastes, Ruptur des Lig. sacrotuberale und Lig. sacrospinale sowie des anterioren ISG-Bandapparats. APC III sind Beckenringverletzungen mit vertikaler und rotatorischer Instabilität. Dies ist Ausdruck einer Ruptur auch des dorsalen ISG-Bandapparats. Verletzungen vom Typ LC I zeigen horizontale Frakturverläufe des Ramus superior und inferior ossis pubis am vorderen Beckenring (Ramus superior und inferior ossis pubis ) bei gleichzeitiger Impaktionsfraktur am Os sacrum. Sämtliche wichtigen Bandstrukturen bleiben intakt und der Beckenring bleibt stabil. Verletzungen vom Typ LC II zeigen eine Ruptur des dorsalen Bandapparats oder einen knöchernen Ausriss am hinteren Ileum. Daraus resultierte eine Instabilität für Rotation. Der Bandapparat des Beckenbodens (Ligg. sacrotuberale und sacrospinale) bleibt intakt, was eine gewisse vertikale Stabilität erhält. Verletzungen vom Typ LC III kommen bei Überrolltraumen vor. Beim Auftreffen des Rades auf das Becken erfolgt primär eine laterale Kompressionsverletzung mit Dislokation der betroffenen Beckenhälfte nach innen. Im weiteren Überrollmechanismus kommt es schließlich zusätzlich zu einem APC-Unfallmechanismus mit Außenrotationsverletzung des kontralateralen Hemipelvis. Bei der VS-Verletzung wir nur ein Typ beschrieben. In diesem Fall sind sämtliche Bandstrukturen zerrissen, was zu einer vertikalen und rotatorischen Beckeninstabilität (globalen Beckenringinstabilität) führt. CMI fasst verschiede, ineinander übergehende Verletzungsmechanismen zusammen. Neben den oben genannten Klassifikationen kommen auch Einteilungen zur Anwendung, die primär den Ort der Fraktur anatomisch beschreiben. Kellam und Browner (1998) teilen die
Querfortsatz L5
Abrißfraktur der Spinae ischiadica a
b
c
⊡ Abb. 26.5a–c Beckenfrakturen: Klassifikation nach Tile. a Typ A (stabil), b Typ B (rotationsinstabil), c Typ C (global instabil). Das Ausmass der Verletzung spiegelt sich in der Beteiligung des Bandapparats wider
691 26.1 · Beckenringfrakturen
a
LC I
LC II
LC III
b
APC I
APC II
APC III
c
VS
d
CMI
⊡ Abb. 26.6a–d Beckenfrakturen: Klassifikation nach Young und Burgess. a LC: »lateral compression«, b APC: »anteroposterior compression«, c VS: »vertical shear«, d CMI: »combined mechanical injury«. ▬ LC: »lateral compression« – LC I: Impaktion sakral mit Fraktur des oberen und unteren Schambeinastes – LC II: laterale Kompressionsverletzung mit Fraktur durch die Ala ossis ilii bzw. Dislokation des ISG und horizontaler Schambeinastfraktur – LC III: »Schmetterlingsfrakur« des vorderen Beckenrings bzw. bilaterale Schambeinastfraktur. Laterale Kompressionsverletzung wie in LC II, assoziiert mit einer kontralateralen Außenrotationsverletzung am hinteren Beckenring. Dieser Verletzungstyp erfolgt im Falle eines seitlichen Überrolltraumas. ▬ APC: »anteroposterior compression« – APC I: anteroposteriore Krafteinwirkung mit Sprengung der vorderen Symphyse. Der hintere Beckenring sowie der Bandapparat des Beckenbodens bleiben intakt. – APC II: Öffnung und Ruptur des vorderen Beckenrings mit Weichteilbeteiligung, Ruptur von Lig. sacrospinosum und Lig. sacrotuberale sowie des vorderen ISG-Bandapparats – APC III: APC II und zusätzliche Ruptur des dorsalen ISG-Bandapparats sowie dadurch bedingte globale Instabilität des Beckenrings. ▬ VS: »vertical shear injury«. Vertikal-axiale Krafteinwirkung mit Ruptur des vorderen und hinteren Beckenrings. Häufig zeigt sich eine Verschiebung des Hemipelvis nach superior und posterior. ▬ CMI: »combined mechanical injury«. Dieser Verletzungstyp lässt sich nicht nur einem Unfallmechanismus zuordnen.
26
692
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
Beckenverletzungen in vordere und hintere Beckenringverletzungen ein (⊡ Abb. 26.7). Vordere Beckenringverletzungen beinhalten: ▬ reine Symphysensprengung ▬ obere und untere Schambeinastfraktur (Fraktur durch das Foramen obturatorium bzw. Ramus superior und inferior ossis pubis oder Fraktur durch das angrenzende Os pubis) ▬ Azetabulumfraktur
▬ Zone 1: lateral der Foramina sacralia ▬ Zone 2: transforaminal, Foramina involviert ▬ Zone 3: die sakralen Wirbelkörper sind betroffen, die Fraktur kann horizontal, vertikal oder schräg verlaufen > Frakturen der Zone 3 kombiniert mit einer Fraktur vom Tile-Typ C sind besonders häufig mit einem neurologischen Defizit vergesellschaftet (Pohlemann et al. 1994a). ⊡ Tab. 26.1 zeigt, wie die einzelnen Klassifikationen zu einander
korrelieren.
26
Hintere Beckenringverletzungen beinhalten: ▬ transiliakale Fraktur: Fraktur durch die Ala osis ilii ohne Gelenkbeteiligung (vertikaler oder horizontaler Frakturverlauf) ▬ Frakturen durch das ISG mit Frakturausläufer entweder ins Os sacrum oder in die Ala ossis ilii ▬ isolierte ISG-Sprengung ▬ transsakrale Fraktur Denis teilt Frakturen am Os sacrum in 3 Frakturzonen auf
(⊡ Abb. 26.8):
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Bei jedem Patienten mit Hochenergietrauma muss das Becken mit untersucht werden. Die erste klinische Untersuchung zusammen mit einer radiologischen Übersichtsaufnahme des Beckens ergeben wichtige Informationen für das weitere Vorgehen. Generell müssen beim polytraumatisierten Patienten die Richtlinien des ATLS (Advanced Trauma Life Support, Guidlines entwickelt von der Americain College of Surgeons’ Committee on Trauma) beachtet werden.
1
⊡ Abb. 26.7 Beckenfrakturen: Einteilung unter Beschreibung der Frakturlokalisation am vorderen bzw. hinteren Beckenring. Vordere Beckenringverletzungen umfassen die Sprengung der vorderen Symphyse, Frakturen des oberen und unteren Schambeinasts, Frakturen des Os pubis und Azetabulumfrakturen. Hintere Beckenringverletzungen beinhalten Frakturen der Ala ossis ilii, Frakturen durch das Iliosakralgelenk, iliosakrale Dislokationen oder Sakrumfrakturen
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3
⊡ Abb. 26.8 Beckenfrakturen: Frakturzonen nach Denis. Mit zunehmender zentraler Lage der Fraktur steigt die Wahrscheinlichkeit eines neurologischen Defizits (6% Zone 1, 30% Zone 2, bis 60% Zone 3). Neurologische Schäden umfassen Läsionen der 5. Lumbalnervenwurzel, Läsionen des N. ischiadicus kombiniert mit Wurzelschäden L5, S1 und S2. Nach Blasen-, Darm und Sphinkterdysfunktionen muss insbesondere bei Frakturen der Zone 2 und 3 gesucht werden. Für Frakturen der Zone 3 sind sog. Sattelanästhesien typisch
⊡ Tab. 26.1 Klassifikationssysteme der Beckenfrakturen Beckenring
Buchholz
Tile
OTA/AO
Young/Burgess
Stabil
I
A, B2
61A, 61B2
APC I, LC I, CMIa
Partiell instabil
II
B1, B2
61B1, B2
APC II, LC II, LC III, CMIa
Komplett instabil
III
C
61C
APC III, LC III, VS, CMIa
APC »anteroposterior compression«, CMI »combined mechanical injury«, LC »lateral compression«, VS »vertical shear« a CMI können mit jeder Art der Stabilität assoziiert sein.
26
693 26.1 · Beckenringfrakturen
Inspektion
Inspektorisch werden gröbere Fehlstellungen des Beckens (Asymmetrien, Beinlängendifferenzen, Rotations- und Beugefehlstellungen im Hüftgelenk) ausgeschlossen. Hämatome und Kontusionsmarken geben Aufschluss über die stattgefundene Gewalteinwirkung (laterale oder anteroposteriore Kompressionskräfte), dies in Kenntnis des Unfallhergangs. Skrotale bzw. labiale Hämatome sind suggestiv für eine vordere Beckenringfraktur. Diese sind wiederum häufig vergesellschaftet mit Verletzungen des Urogenitaltrakts. ! Cave Das Ausmaß einer Weichteilverletzung lässt sich häufig nicht genau abschätzen. Verletzungen von Haut und Muskulatur werden gerne unterschätzt, da sie nicht immer offensichtlich in Erscheinung treten.
Das erlittene Trauma kann zu Nekrosen der Glutealmuskulatur sowie der darüber gelegenen Haut führen. Häufig wird auch die sog. Morel-Lavalee-Läsion übersehen (Kottmeier et al. 1996). Ursache dieser Weichteilverletzung sind kombinierte Druckund Scherkräfte auf die Haut, wie sie bei einem Überrolltrauma auftreten können. Dabei kommt es zu einer Ablösung des Unterhautfettgewebes von der Faszie mit nachfolgender Ausbildung eines Hämatoseroms. Dieses kann sich im weiteren Verlauf infizieren. Anfänglich einziges Zeichen kann eine Asensibilität der Haut über der Verletzungsstelle sein.
geschlossen werden. Eine mögliche Verletzung der Harnblase (Hämaturie) kann mit intravenöser Pyelographie bzw. transuretraler Zystographie ausgeschlossen werden. Ein pathologischer Sphinktertonus oder eine Kaudasymptomatik kann für das Vorliegen einer Sakrumfraktur sprechen. Eine Instabilität des Hüftgelenks wird nicht selten erst radiologisch sichtbar. Subluxationen sind klinisch nicht zwingend erfassbar. Ein luxiertes Hüftgelenk ist an der Beinstellung erkennbar. > Die häufigere dorsale Hüftluxation (85–90%) zeigt sich klassischerweise durch eine Flexion, Adduktion und Innenrotation im Hüftgelenk. Die seltenere vordere Hüftluxation (10–15%) zeigt sich in einer typischen Adduktion und Außenrotationsfehlstellung mit leichter Beinverkürzung.
In jedem Fall sollte die sensorische und motorische Funktion des N. ischiadicus und N. femoralis geprüft werden. z z Bildgebende Verfahren Konventionelle Röntgenuntersuchung
Sie ist wichtiger Bestandteil der Abklärung von Beckenringfrakturen (⊡ Abb. 26.9). Die a.p.-Beckenübersicht im Schockraum liefert zusammen mit der klinischen Untersuchung die ersten wichtigen Informationen zur Beurteilung der Becken-
Manuelle Untersuchung
Gleichzeitig zur Inspektion erfolgt eine bimanuelle Untersuchung. Durch seitliche Kompression der Beckenschaufeln und eine Stauchung in anterolateraler bzw. anterodorsaler Richtung lässt sich einfach eine abnorme Mobilität des Beckens feststellen. Durch Palpation des verletzten Hemipelvis und vorsichtigen Zug bzw. Schub am ipsilateralen Bein wird eine vertikale Verschieblichkeit diagnostiziert. Eine vergleichende Palpation der Sitzbeinhöcker lässt eine Verschiebung der einen Beckenhälfte nach dorsal erkennen. Bei nicht allzu adipösen Patienten kann möglicherweise eine Lücke der gesprengten Symphyse getastet werden. Durch eine rektale und vaginale Untersuchung lassen sich mögliche Fragmente tasten; außerdem können Verletzungen des unteren Rektums bzw. Urogenitalsystems erkannt werden. Blut am Fingerling spricht für eine Durchspießung der Rektum- bzw. der Scheidenwand. Dies sollte nicht mit einer Menstruationsblutung verwechselt werden. Die Durchführung einer Rektoskopie und oder vaginalen Untersuchung mittels Spekulum ist nötig. Eine abnorme Beweglichkeit oder eine Dislokation der Prostata nach kranial spricht für einen möglichen Harnröhrenabriss. Rektal tastet man die Spitze der Prostata inmitten eines »teigigen« Hämatoms, verlagert in Richtung Bauchhöhle. Dieses Zeichen der »hochstehenden Prostata« ist hämatombedingt und bei jüngeren Patienten mit kleiner Prostata nicht immer zu erfassen. Frischblut am Harnröhrenausgang spricht für eine Verletzung der Urethra. Eine solche Verletzung muss vor der Einlage eines Dauerkatheters mittels retrogradem Urethrogramm aus-
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5 6
4 3
⊡ Abb. 26.9 Röntgendiagnostik: schematische a.p.-Aufnahme der rechten Beckenhälfte. Mit der Beurteilung der Linea iliopectinea, Linea ilioischiadica, des hinteren Pfannenrands und unteren Schambeinasts lässt sich eine Azetabulumfraktur im Wesentlichen einteilen. 1 Linea iliopectinea, 2 Linea ilioischiadica, 3 Tränenfigur nach Köhler, 4 Pfannendach, 5 vorderer Pfannenrand, 6 hinterer Pfannenrand
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
ou t le
t le in
t
694
45°
26
45°
⊡ Abb. 26.10 Röntgeneinstellung zur Durchführung einer Inlet- bzw. Outlet-Aufnahme
ringfraktur. Die Integrität der Schambeinäste, der Symphyse, des hinteren Beckenrings, des Iliosakralgelenks, der Ala ossis ilii sowie des vorderen und hinteren Azetabulumpfeilers (Linea iliopectinea bzw. Linea ilioischiadica) sind im a.p.-Strahlengang gut beurteilbar. Sakrale Frakturen lassen sich häufig abbilden oder zumindest erahnen. Wichtige zusätzliche Röntgenuntersuchungen zur Beurteilung einer Beckenringfraktur sind die Inlet- und Outlet-Aufnahmen (⊡ Abb. 26.10) sowie die Aufnahme des Sakrums im seitlichen Strahlengang. Inlet-Aufnahme: Bei Rückenlagerung des Patienten wird der Zentralstrahl in 45° vom Kopf in Richtung Beckenmitte auf die Röntgenplatte gerichtet. Der Zentralstrahl steht damit etwa senkrecht zum Beckeneingang. Diese Aufnahme zeigt die Ringkonfiguration des Beckens am besten (⊡ Abb. 26.11a). Eine Einengung (z. B. bei lateraler Kompressionsverletzung) oder Erweiterung (z. B. bei anteroposteriorer Kompressionsverletzung vom Typ »open book«) des Beckenrings ist direkt sichtbar. Die Inlet-Aufnahme ist die beste Aufnahme zur Darstellung einer möglichen Diskontinuität des Beckenrings. Sie zeigt eine Verschiebung des Beckenrings gegenüber dem ISG in a.p.-Richtung. Eine Rotationsfehlstellung der Beckenschaufeln sowie Frakturlinien durch das Sakrum lassen sich gut erkennen. Bei der Outlet-Aufnahme ist der Zentralstrahl – bei Rückenlagerung des Patienten – vom Fuß auf die Symphyse in einem Winkel von 45° zur Röntgenplatte gerichtet und damit senkrecht zur Ebene des Os sacrum (⊡ Abb. 26.11b). Dieses erscheint in seiner längsten Ausdehnung. Die Outlet-Aufnahme zeigt eine mögliche Dislokation der Beckenhälfte nach oben bzw. unten. Weiterhin kommen Flexions- oder Rotationsfehlstellungen des Hemipelvis in Sagittalebene zur Darstellung. Die sakralen Foramina sind im Outlet-Strahlengang besonders gut sichtbar und bieten somit die beste Visualisierung einer Fraktur durch das Sakrum. Die laterale Sakrumaufnahme zeigt Frakturen durch das Sakrum in der Transversalebene sowie Frakturen der Os coccygeum auf. Frakturen distal des dritten Sakralwirbelkörpers resultieren nicht in einer Beckeninstabilität; sie sind dagegen sehr schmerzhaft und werden oft übersehen. Bei Frakturen
anterior/ posterior
b a
kranial
kaudal
b
⊡ Abb. 26.11a,b Schematische Röntgenaufnahmen des linken Hemipelvis. a Die Inlet-Aufnahme zeigt eine Dorsalverschiebung, b Die Outlet-Aufnahme zeigt eine Vertikalverschiebung
des Beckenrings stellt sich stets die Frage nach Beteiligung des Azetabulums. Folgende Röntgenaufnahmen geben Aufschluss:
695 26.1 · Beckenringfrakturen
⊡ Abb. 26.12a,b Ala-Aufnahme des rechten Hemipelvis. a Einstellung, b schematische Darstellung: Der hintere Pfeiler in der Struktur der Linea ilioischiadica sowie der vordere Pfannenrand lassen sich gut beurteilen. 1 hinterer Pfeiler, 2 Vorderer Pfannenrand
1
45°
a
b
▬ Ala-Aufnahme: Der Patient wird um 45° auf die verletzte Seite gedreht (Schmerz bedingt nicht immer möglich). Der Zentralstrahl ist auf die betroffene Hüfte gerichtet. Die Beckenschaufel kommt in der ganzen Größe zur Darstellung. Der dorsale Pfeiler sowie der nach lateral projizierte vordere Pfannenrand lassen sich gut beurteilen (⊡ Abb. 26.12). ▬ Obturator-Aufnahme: Der Patient befindet sich in Rückenlage und dreht sich um 45° zur kontralateralen Seite. Der Zentralstrahl zielt auf die verletzte Hüfte. Das Foramen obturatorium ist gut einsehbar. Frakturen des ventralen
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⊡ Abb. 26.13a,b Obturator-Aufnahme des rechten Hemipelvis. a Einstellung, b schematische Darstellung: Der vordere Pfeiler in der Struktur der Linea iliopectinea sowie der hintere Pfannenrand lassen sich gut beurteilen. 1 Vorderer Pfeiler, 2 hinterer Pfannenrand
Pfeilers und des dorsalen Pfannenrands können dadurch nachgewiesen werden (⊡ Abb. 26.13). Computertomographie
Die CT ist wichtiger Bestandteil bei der Beurteilung von Beckenring- und insbesondere Azetabulumfrakturen. Mittels CT lässt sich der hintere Beckenring, wo sich das Ausmaß einer Beckenringverletzung entscheidet, am besten darstellen. Anhand der Lokalisation der Beckenringverletzung lässt sich die Fraktur einteilen. Assoziierte Frakturen des Azetabulums, die
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696
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
mit der konventionellen Röntgentechnik übersehen werden können, werden in der CT sichtbar. Die CT ist unerlässlicher Bestandteil in der Beurteilung der ISG-Instabilität. Eine uniforme Dissoziation der iliosakralen Gelenkfläche in a.p.-Richtung weist auf eine Ruptur des starken interossären und posterioren Bandapparats hin und ist Indiz für eine globale Instabilität. Eine Sprengung des ISG lediglich anterior mit Absprengungen am dorsalen ISG sprechen für eine alleinige Rotationsinstabilität. Der dorsale Bandapparat ist in diesem Fall intakt.
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> Jede Sprengung des hinteren Beckenrings von 1 cm und mehr in der CT-Untersuchung spricht für eine globale Instabilität. z Therapie z z Konservative Therapie
Alle stabilen Beckenfrakturen (⊡ Tab. 26.1) können konservativ behandelt werden. Dazu gehören Frakturen, bei denen der Beckenring als solches intakt bleibt. Beispiele sind isolierte, Frakturen der Ala ossis ilii sowie Frakturen des distalen Os sacrum. Bei diesen Frakturen ist nur bei starker Frakturdislokation mit Kompromittierung der Weichteile oder störender Fehlstellung – was selten ist – eine operative Therapie nötig. Eine konservative Therapie ist auch dann indiziert, wenn der dorsale Beckenring stabil (intakter dorsaler ISG-Bandapparat) bleibt. Ein typisches Beispiel ist die laterale Kompressionsfraktur mit impaktierter Fraktur des Os sacrum und des oberen und unteren Schambeinastes. Frakturen dieser Kategorie (Tile B2, AO 61B2, Buchholz I, LC I) findet man häufig beim alten Menschen nach einem Sturz auf eine Körperseite. Bei diesen Patienten wird die Fraktur dorsal häufig übersehen bzw. ist erst im CT sichtbar. Wegen mangelnder Konsequenzen muss nicht in jedem Fall zwingend eine CT-Untersuchung durchgeführt werden. Eine radiologische Verlaufsbeobachtung mit Blick auf den hinteren Beckenring genügt. > Generell muss bei einer Instabilität des vorderen Beckenrings eine Mitbeteiligung des hinteren Beckenrings vermutet werden.
Bei stabilem Becken ist eine unmittelbare Mobilisation unter anfänglicher Stockentlastung möglich. Bei Verletzungen vom Tile-Typ B entscheidet letztlich die klinische Untersuchung über das Ausmaß der Stabilität und darüber, ob eine operative Therapie nötig ist. Dies zu beurteilen ist nicht immer einfach und zeigt sich oft erst im weiteren klinischen Verlauf. Wesentlich ist stets die Frage, ob neben einer Rotationsinstabilität eine vertikale Instabilität vorliegt. Im Zweifelsfall muss eine Teilentlastung der betroffenen Extremität mit engmaschiger klinischer und radiologischer Kontrolle erfolgen. Bei Anzeichen einer vertikalen Instabilität muss eine Stabilisation des dorsalen Beckenrings erfolgen, meist in Kombination mit einer ventralen Stabilisation. Der Vorteil der operativen Therapie liegt sicher in der frühen Mobilisation unter Vollbelastung und damit verbundener geringerer Morbidität (Griffin et al. 2003). Bei Verletzungen vom Typ »open book« (Tile-Typ B1) mit Symphysensprengung von >2,5 cm bzw. stark dislozierter Fraktur des vorderen Beckenrings ist von einer
Ruptur des Beckenbodens und damit der Lig. sacrospinale und Lig. sacrotuberale auszugehen. Bei jüngeren Patienten kommt es allenfalls zu einem ossärer Ausriss des Lig. sacrospinale. > Einer Sprengung der Symphyse um >2,5 cm spricht für eine Rotationsinstabilität des Beckens. Der vordere Beckenring sollte stabilisiert werden
Eine Dissoziation der Symphyse von weniger als 2,5 cm schließt dagegen eine wesentliche rotatorische Instabilität nicht aus. Durch die Lagerung kann sich eine Symphysensprengung spontan reponieren. Dies unterstreicht die Bedeutung der klinischen Beurteilung. z z Operative Therapie
An und für sich erfordern alle instabilen Beckenringfrakturen eine operative Therapie. Eine Sprengung des hinteren Beckenrings von >1 cm in der CT-Untersuchung weist auf eine wesentliche Instabilität des Beckens hin. Eine Dislokation der frakturierten Schambeinäste >1,5 cm spricht für eine größere Krafteinwirkung mit Ruptur der Membrana obturatoria und möglicherweise des Leistenbands. Eine starke Außenrotationsfehlstellung des Hemipelvis ist ebenfalls Zeichen einer dorsalen Instabilität. Der Zeitpunkt und die Art und Weise der operativen Therapie hängt im Wesentlichen von der Verletzungsform (⊡ Tab. 26.1) sowie von Patientenfaktoren ab. Primäre Versorgung Die akute Blutung ist die Haupttodesursache bei Patienten mit
Beckenfrakturen (30–50%; Pohlemann et al. 1994b, 1996; Sadri et al. 2005; Tiemann et al. 2004). Nicht immer ist das Becken die Hauptblutungsquelle. Blutungen, die von abdominalen Begleitverletzungen ausgehen (22–45%), spielen eine wesentliche Rolle. > Bei instabiler Beckenringfraktur ist mit einem Blutverlust von 9–15 Blutkonserven zu rechnen (Burgess et al. 1990). Darin ist der mögliche Blutverlust durch Begleitverletzungen nicht enthalten.
Die Blutungsneigung bei LC-Verletzungen ist gegenüber anderen Frakturtypen etwas geringer. Bis zu einem Blutverlust von 30% (1500 ml bei Patienten mit einem Körpergewicht 75 kg) kann eine relevante Hypotension ausbleiben. Der hypovolämische Schock kann in der Folge dann sehr abrupt eintreten. Bei einer Hypotension mit einem systolischen Blutdruck von 90 mmHg ist von einem Blutverlust bis 2000 ml auszugehen (Van Vugt et al. 2006). Die Blutung stammt dabei hauptsächlich aus dem präsakralen Venenplexus sowie der Frakturfläche selbst. Dies gilt im besonderen Maße für die Verletzungen nach anteroposteriorer Krafteinwirkung. Durch die Öffnung des Beckens und damit Vergrößerung des Beckenvolumens kann besonders viel Blut verloren gehen. Bei fehlender Tamponade kann sich das Hämatom aus dem Becken in das Retroperitoneum nach kranial ausdehnen (Kamineffekt). Beim Tod infolge akuter Blutung ist in lediglich 20% der Fälle eine relevante arterielle Blutung die Ursache. Die Behandlung instabiler Beckenfrakturen mit hämodynamisch relevanter Blutung wird immer noch kontrovers diskutiert. Allgemeine akzeptiert ist die sofortige Reduktion und ex-
697 26.1 · Beckenringfrakturen
terne Fixation des instabilen Beckens. Der Beckengurt oder das Beckenband sind einfache, nicht invasive Hilfsmittel, um den Beckenring schnell und wirkungsvoll zu stabilisieren (Bottlang u. Krieg 2003, Ramzy et al. 2003). Sie können bereits vor dem Eintreffen des Patienten auf der Notfallstation angelegt werden. Bei »Open-book«-Verletzungen kann der Verschluss des vorderen Beckenrings durch Innenrotation in beiden Hüftgelenken unterstützt werden. Vorsicht beim Anlegen des Beckengurtes ist lediglich bei einer Begleitverletzung der Wirbelsäule geboten. > Effektiv in der Behandlung und Prävention des hypovolämischen Schocks ist die Beckenzwinge (Ertl et al. 2001, Ganz et al. 1991). Sie dient der notfallmäßigen Stabilisation des hinteren Beckenrings und gehört in den Notfallbehandlungsraum eines jeden Spitals mit entsprechendem Versorgungsauftrag.
Der Einsatz und die Montage der Beckenzwinge müssen geübt werden. Dies soll regelmäßig am anatomischen Präparat geschehen. Die genaue Positionierung der entsprechenden Pins kann bei adipösen Patienten schwierig sein. Bei falscher Positionierung der Pins kann die Fehlstellung des Beckenrings gar verstärkt und dadurch die Wirkung verfehlt werden. Die Hauptindikation der Beckenzwinge liegt in der Stabilisation des hinteren Beckenrings. Die Anlage der Beckenzwinge hat 2 Ziele. Zum einen soll eine direkte Blutstillung durch die Reposition der Fraktur und Kompression der Frakturflächen erfolgen, zum anderen kann der Verschluss des vorderen Beckenrings mit beeinflusst werden. Die Beckenzwinge kann allenfalls zum Verschluss des vorderen Beckenrings mit einem Fixateur externe kombiniert werden. Vor der Anlage der Beckenzwinge ist eine radiologische Beurteilung des Beckens im a.p.-Strahlengang zwingend. Bei transiliakalen Beckenfrakturen ist die Anwendung der Beckenzwinge kontraindiziert. Weitere relative Kontraindikationen sind offene Beckenringfrakturen, ausgedehnte Decollementverletzungen sowie zusätzliche Azetabulumfrakturen. Eine weit verbreitete und einfach zu applizierende Beckenzwinge ist die Beckenzwinge nach Ganz (1991). Die Einstichstellen der Pins liegen im Kreuzungspunkt der Verlängerung der Femurachse und dem Lot über der Spina iliaca anterior superior. Die Hauptkräfte der Zwinge liegen nahe dem ISG mit optimaler Kompression des dorsalen Beckenrings. Als ungünstig kann sich die Lage der Pins der Beckenzwinge bei nachfolgenden transkutanen Verschraubungen des ISG erweisen. In diesem Fall muss die Ausheilung der Pineinstichstellen abgewartet werden. Andere Autoren bevorzugen Beckenzwingen mit einem supraazetabulären Pineintritt (Frosch et al. 2007). Die Pins werden bei dieser Methode 2–3 Querfinger oberhalb der Trochanterspitze platziert. Durch diese Lage ist die Krafteinwirkung auf den vorderen Beckenring etwas größer und damit auch die Gefahr einer Überkorrektur. Die supraazetabuläre Beckenzwinge kann bei gleichzeitiger Azetabulumfraktur nicht angewandt werden. > Da sich die Hüftgelenkkapsel bis 2 cm nach kranial über den Azetabulumrand fortsetzt, dürfen die Pins, um eine intraartikuläre Lage zu vermeiden, nicht zu nahe ans Gelenk gesetzt werden. Dies gilt auch für die Anlage anderer externer Stabilisatoren am Becken.
Durch den Verschluss des Beckenrings gelingt es nicht immer, die Blutung zu stillen. Der Patient bleibt hämodynamisch instabil. In solchen Fällen muss nach Ausschluss einer anderen Blutungsquelle eine direkte Blutstillung angestrebt werden (Sadri et al. 2005). Dies kann durch eine selektive Angiographie und arterielle Embolisation erfolgen. Bei diffuser Blutung ist ggf. eine bilaterale Embolisation der A. iliaca interna in Erwägung zu ziehen. Ein solches Vorgehen hängt in großem Maße von den örtlichen Möglichkeiten ab. Als Alternative und von gewissen Autoren bevorzugt gilt die Laparotomie und temporäre Tamponade mit operativen Bauchtüchern (»pelvic packing«; Ertl et al. 2001). Bei einem hämodynamisch instabilen Patienten kann man nicht auf eine spontane Tamponade hoffen. Das Fassungsvermögen des Beckens ist zu groß, als dass das ausgeflossene Blut selbsttamponierend wirken könnte. Sekundäre Versorgung
Ist der Patient hämodynamisch stabil und außer Lebensgefahr können weitere Schritte zur Stabilisation des Beckenrings folgen. Bei der primären Versorgung müssen immer auch strategische Überlegungen der späteren Versorgung mit einfließen (z. B. bei der Platzierung von Fixateur-Pins). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Verletzungen vom Buchholz-Typ I konservativ behandelt werden. Bei Buchholz-Typ II genügen häufig eine Reduktion und Stabilisation des vorderen Beckenrings. Verletzungen vom Buchholz-Typ III erfordern eine Stabilisation des hinteren und vorderen Beckenrings. In der Literatur besteht eine gewisse Uneinigkeit im Ablauf der Versorgung komplett instabiler Beckenringverletzungen. Die einen Autoren bevorzugen in einem ersten Schritt die Reposition und Stabilisation des hinteren Beckenrings, wenn nötig in offener Repositionstechnik (Matta u. Tornetta 1996). Die Stabilisation des vorderen Beckenrings erfolgt im Anschluss. Andere Autoren favorisieren wiederum das gegenteilige Vorgehen (Griffin et al. 2003). Perkutane Fixation
Zur perkutanen Fixation stehen der Fixateur externe, die perkutane Schraubenfixation und die offene Stabilisation zur Verfügung. Der Fixateur externe ist eine weit verbreitete Maßnahme zur operativen Stabilisierung des vorderen Beckenrings. Die Anlage erfordert allerdings eine gewisse Zeit, sodass bei hämodynamisch instabilen Patienten die Beckenzwinge verwendet werden soll (vgl. primäre Versorgung). Der Fixateur externe allein genügt nicht, um einen Tamponadeeffekt für retroperitoneale Blutungen zu erzielen (Grimm et al. 1998). Die Beckenzwinge mit der Möglichkeit der direkten Kompression der dorsalen Frakturflächen hat hier Vorteile. Für den Fixateur externe spricht die einfache Handhabung und die Verfügbarkeit in den meisten Kliniken. Die biomechanische Stabilität allerdings ist begrenzt. Der Beckenfixateur eignet sich im Wesentlichen für rotationsinstabile »Openbook«-Verletzungen. Auch zur Korrektur einer vertikal stabilen LC- Verletzung kann der Fixateur angewandt werden. Für zusätzlich vertikal instabile C-Verletzungen ist der Fixateur nicht ausreichend. Die Platzierung der Pins beim Beckenfixateur erfolgt entweder am Beckenkamm oder supraazetabulär, um bessere Haltekräfte zu erzielen (⊡ Abb. 26.14).
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Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
Bei komplett instabiler Beckenringfraktur ist eine alleinige ventrale Stabilisation ungenügend. Die großen vertikalen Kräfte können so nicht gehalten werden. Der dorsale Beckenring muss mitversorgt werden. Eine Alternative und häufig angewandte Methode zur offenen Reposition und Osteosynthese ist die perkutane Schraubenfixation des ISG. Dies kann nach Versorgung des Beckenrings – sei dies durch einen Fixateur externe oder eine Plattenosteosynthese der Symphyse – in gleicher Lagerung des Patienten auf dem Rücken erfolgen (Griffin et al. 2003, Rout et al. 1997). Einige Autoren favorisieren in einem ersten Schritt die dorsale Stabilisierung des Beckens und dies in Bauchlage.
Insbesondere bei stark disloziertem dorsalem Beckenring ist in Bauchlage eine Reposition einfacher. Kann die Reposition geschlossen nicht vollständig erreicht werden, besteht zudem die Möglichkeit der offenen Versorgung. Die Versorgung des vorderen Beckenrings wird dann in einem zweiten Schritt durchgeführt. Vor der Verschraubung des ISG muss eine möglichst exakte Reposition erfolgen (⊡ Abb. 26.15). > Eine fehlende Reposition von 1 cm vermindert die sichere Zone zur Schraubenplatzierung um 50% (Reilly et al. 2003).
Der Patient wird auf einem vollständig für Röntgenstrahlen durchlässigen Tisch gelagert. Die Röntgeneinstellung des Beckens muss für Inlet- und Outlet-Aufnahmen sowie für seitliche Aufnahmen möglich sein (⊡ Abb. 26.10 u. ⊡ Abb. 26.11). Einige Autoren empfehlen die perkutane Verschraubung des ISG mithilfe der Fluoroskopnavigation (Kahler 2004) und unter neurologischem Monitoring (Vrahas et al. 1992). Besonders bei adipösen Patienten mit balloniertem Abdomen ist diese Technik eine große Erleichterung. Die Platten- oder Schraubenosteosynthese ist die stabilste Montage zur Stabilisierung des vorderen Beckenrings. Sie ist, wenn auch für den Patienten etwas invasiver, weniger störend als der Fixateur externe.
26
> Wie der Fixateur externe ist auch die Osteosynthese am vorderen Beckenring als alleiniger Stabilisator bei kompletter Beckenringinstabilität ungenügend.
bb aa
⊡ Abb. 26.14a,b Platzierung der Pins beim Beckenfixateur. a Supraazetabulär Pinlage. Ein Abstand zwischen Pineintritten und Gelenk von 2 cm soll eingehalten werden. Das Einbringen der Pins erfolgt unter Röntgenbildwandlerkontrolle in wechselndem Strahlengang zwischen Ala- und Obturator-Aufnahme. b Pinlage am Beckenkamm
»inlet«
a
⊡ Abb. 26.15a,b Perkutane ISG-Verschraubung. Perkutane Verschraubung des ISG und Röntgenbildwandlerkontrolle. Das Einbringen der Schraube geschieht nach Lokalisation des Schraubeneintritts im seitlichen Strahlengang im Wechsel zwischen Inlet- und Outlet-Aufnahme. Dieser Eingriff ist in Bauch- oder Rückenlage möglich. (Aus: Nerlich M, Berger A 2003)
b
Bei vertikal stabilen Frakturen ist die ventrale Stabilisation ausreichend. Die Plattenanlage erfolgt über einen PfannenstielZugang von kranial her hinter dem Ansatz des M. rectus abdominis auf die Symphyse bzw. den Ramus superior ossis pubis.
»a.-p.«
»outlet«
699 26.1 · Beckenringfrakturen
Als Komplikation kommen selten Plattenbrüche und Schraubenlockerung vor. Um dem vorzubeugen, wurden spezielle Symphysenplatten mit zentraler Verstärkung entwickelt. Der Bruch einer an der Symphyse angelegten Platte ist nicht selten Indiz einer nicht erkannten vertikalen Instabilität des Beckenrings. Einige Autoren empfehlen eine doppelte Plattenanlage an der Symphyse von kranial und ventral (Tile u. Kellam 2003). Die ventrale Plattenanlage sollte allerdings nach Möglichkeit vermieden werden. Sie ist für die Patienten stark störend und kann eine vertikale Beckeninstabilität in keiner Weise kompensieren. Die notfallmäßige Stabilisation des hinteren Beckenrings ist häufig temporär und erfordert im weiteren Verlauf eine definitive Versorgung. Dies geschieht über eine perkutane ISG-Verschraubung bzw. Plattenosteosynthese von ventral oder dorsal. Stabilisation von ventral: Folgende Frakturen des hinteren Beckenrings können von vorne versorgt werden: ▬ Sprengung des ISG ▬ Frakturdislokation des ISG mit großen Fragmenten beidseits des Gelenkspaltes ▬ transiliakale Frakturdislokation Die Stabilisation erfolgt über das sog. »laterale Fenster« des ilioinguinalen Zugangs. Frakturen des Os sacrum sind wegen der Nervenwurzel L5 bzw. des Plexus lumobsacralis von anterior nicht zugänglich. Aufgrund der L5-Wurzel kann bei ventraler Plattenanlage nur eine Schraube pro Platte im Os sacrum platziert werden. Somit muss die ventrale Plattenosteosynthese nicht selten mit einer iliosakralen Verschraubung ergänzt werden. Der vordere Zugang zum ISG soll immer dann ins Auge gefasst werden, wenn dorsal aufgrund der Weichteilverhältnisse eine offene Reposition nicht möglich ist. Stabilisation von dorsal: Folgende Frakturen des hinteren Beckenrings können von dorsal versorgt werden: ▬ Sprengung des ISG ▬ Frakturdislokation des ISG mit transiliakaler Beteiligung ▬ dislozierte transforaminale Sakrumfrakturen ▬ Sakrumfrakturen der Zone 3 nach Denis Die Stabilisation erfolgt mit Platten, iliosakralen Schrauben oder Verbindungsstäben zwischen den beiden Beckenschaufeln. Beim dorsalen Zugang zum hinteren Beckenring sind Wundheilungsstörungen gefürchtete Komplikationen (Tile u. Kellam 2003).
Begleitverletzungen Frakturen des Beckenrings und des Azetabulums sind immer Resultate eines Hochenergietraumas. Entsprechend häufig sind Begleitverletzungen von Schädel, Thorax und Abdomen (Leber, Milz, Harnblase, Urogenitaltrakt). Eine Abdomensonographie gehört somit zur Standardabklärung bei jedem Patienten mit Hochenergietrauma. In 85% der Fälle mit Beckenringfraktur ist das übrige muskuloskelettale System mit verletzt. 15% der Beckenfrakturen führen zum Tod, dabei ist die akute Blutung die Hauptursache (s. oben). In Abhängigkeit der Begleitverletzungen liegt die Mortalität bei Beckenringverletzugen unterschiedlich hoch.
> Bei geschlossenen Beckenringfrakturen beläuft sich die Mortalität auf 10–30%, bei offenen Frakturen ist mit einer Mortalität von 30–50% zu rechnen.
Begleitverletzungen des Urogenitaltrakts sind von besonderer Wichtigkeit, dies insbesondere bei vorderen Beckenringfrakturen. Verletzungen der Harnblase und der Urethra findet man in 25% der Fälle. Verletzungen der Urethra sind etwas häufiger als Verletzungen der Blase und bei Männern häufiger als bei Frauen anzutreffen. Der Grund ist die etwas geringere Länge der Harnröhre bei der Frau sowie die fehlende Fixierung am Schambein. Verletzungen des Urogenitaltrakts sind nicht direkt lebensbedrohlich, führen allerdings zu einer hohen Morbidität, wenn sie nicht früh erkannt werden. Besonders bei Frauen sind Verletzungen der Urethra problematisch und werden oft verkannt. Bei jeder vaginalen Blutung, bei Verletzung der Vaginalwand, Ödemen der Labien, Harnverhalten oder Hämaturie muss eine Verletzung der Urethra und/oder der Harnblase ausgeschlossen werden. Beim Mann besteht der Verdacht auf eine Urethraverletzung bei Frischblut am Harnröhrenausgang oder ausgedehnter Hämaturie, bei Harnverhalten sowie bei einem Skrotalödem. Es kann sein, dass das Frischblut am Harnröhrenausgang erst nach dem Ausmassieren der Harnröhre sichtbar wird. Ein klarer und normal gefärbter Urin bei Beckenringverletzungen ist stets ein beruhigendes Zeichen. Besteht die Möglichkeit einer Urethraverletzung, muss vor der Einlage eines Dauerkatheters eine retrograde Urethrozystographie bzw. intravenöse Pyelographie durchgeführt werden. Komplikationen der Urethraverletzung sind Urethrastrikturen, Inkontinenz und beim Mann Impotenz. Neurologische Schäden sind dann häufig mit Beckenringverletzungen assoziiert, wenn gleichzeitig eine Hüftluxation mit Fraktur des Azetabulums vorliegt (Fassler 1993). Eine rasche Hüftreposition reduziert einerseits die Ausbildung einer Femurkopfnekrose, andererseits das Risiko eines Nervenschadens. Bei Azetabulumfraktur mit dorsaler Hüftluxation ist mit einer Läsion des N. ischiadicus in 30–75% der Fälle zu rechnen. EMG-Untersuchungen haben gezeigt, dass neurale Schäden klinisch nicht immer erfassbar sind und häufiger vorkommen als angenommen. Neurologische Schäden werden häufiger bei hinteren Beckenringverletzungen gesehen. Betroffen sind mehrheitlich die Nervenwurzeln L5 und S1, der Plexus lumbosakralis, N. femoralis und N. ischiadicus. Die Chancen für eine vollständige Restitutio sind in der Regel gering; wenn überhaupt ist mit einer Erholungsdauer von bis zu 24 Monaten zu rechnen. Die Prognose hängt vom Ausmaß des Nervenschadens ab. Eine Läsion des N. ischiadicus mit alleiniger milder peronealer Beteiligung hat eine sehr gute Prognose. Ein vollständiger Ausfall der peronealen Komponente führt selten zu einer kompletten Erholung, dies im Gegensatz zur tibialen Komponente des N. ischiadicus.
Offene Beckenverletzung Die offene Beckenfraktur ist eine besonders schwere Verletzung und führt in bis zu 50% der Fälle zum Tod. Das Ri-
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Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
siko eines massiven Blutverlustes ist besonders groß, da die Selbstkompression der Blutung durch den geschlossenen Beckenraum fehlt. 30% der Patienten mit offener Beckenfraktur sterben an einem akuten Blutverlust innerhalb weniger Stunden nach dem Trauma. > Die Therapie zielt auf eine rasche Blutstillung hin. Dies kann mittels früher Reposition und Stabilisation der Fraktur ggf. in Kombination mit interventioneller Angiographie und Tamponade des offenen Beckens erreicht werden.
26
Die Tamponade der offenen Wunde allein ohne Stabilisation des Beckens ist wenig effektiv. Ist der Patient erst einmal hämodynamisch stabil, rückt das Wundmanagement in den Vordergrund. Ziel ist es, das Wundinfektrisiko zu minimieren. Dies gilt im besonderen Maße für Verletzungen im Perinealbereich. Eine exakte klinische Untersuchung ist äußerst wichtig. Bei Frauen mit dislozierter Beckenringfraktur und vaginaler Blutung sollte eine Verletzung der Vaginalwand ausgeschlossen werden. Eine Beckenfraktur mit Penetration des Rektums bzw. der Vagina gilt als offene Beckenfraktur. Perineale Verletzungen mit Ausdehnung in den rektalen Sphinkter erfordern eine Koloskopie oder Kolostomie.
26.2 z
Azetabulumfraktur
Anatomie
Betrachtet man das Becken von der Seite, so steht das Azetabulum im Zentrum eines auf dem Kopf stehenden Y. Die Schenkel dieses Y entsprechen dem vorderen und hinteren Azetabulumpfeiler (⊡ Abb. 26.16). Der hintere Pfeiler ist sehr kräftig. Am Foramen ischiadicum majus beginnt die virtuelle Trennlinie zwischen den Pfeilern, läuft dann durch das Zentrum des Azetabulums ins Foramen obturatorium und schließlich in den Ramus inferior ossis pubis (»ischiopubic ramus«) weiter. Der hintere Pfeiler beinhaltet neben der hinteren Azetabulumwand die Spina ischiadica sowie das Tuber ischiadicum. Der vordere Pfeiler erstreckt sich von der Crista iliaca bis hin zur Symphyse, die vordere Azetabulumwand einschließend. ⊡ Abb. 26.16 zeigt häufige Frakturlinien durch die beiden Azetabulumpfeiler. Das kraniale Fragment zwischen dem hinteren Pfeiler und der gestrichelten Linie wird auch als Domfragment bezeichnet. z
Ätiologie und Pathogenese
Frakturen des Azetabulums entstehen durch die direkte Krafteinwirkung des Femurkopfes auf das Becken. Begleitverletzungen am Femurkopf sind daher häufig. Klassisches Beispiel ist die »Dashboard«-Verletzung beim Auffahrunfall mit dem Auto (⊡ Abb. 26.17). Der Achsenstoß auf die Femurachse bei gebeugtem Knie kann zu Begleitverletzungen am Kniegelenk (hintere Kreuzbandläsion, Patellafraktur) führen. Dies wird in Anbetracht der Schwere der Azetabulumfraktur gerne übersehen. »Dashboard«-Verletzungen führen in der Regel zu Verletzungen der Hinterwand, des dorsalen Pfeilers oder zu Querfrakturen. Eine seitliche Krafteinwirkung direkt über den Trochanter ma-
aa
bb
⊡ Abb. 26.16a,b Ansicht der Beckenhälfte von anterior (a) und posterior (b): Häufige Frakturlinien durch die beiden Azetabulumpfeiler. Zwischen der Frakturlinie des hinteren Pfeilers und der gestrichelten Linie ist das sog. Domfragment lokalisiert. Bei vorderen Pfeilerfrakturen kann in der Regel ein Frakturausläufer in die Ala ossis ilii beobachtet werden
jor kann zu einer Querfraktur oder zu einer vorderen Azetabulumfraktur (Vorderwand- oder Vorderpfeilerfraktur) führen. Eine Fraktur des vorderen Pfeilers entsteht oft bei einer Krafteinwirkung auf das außenrotierte Hüftgelenk. Krafteinwirkungen am innenrotierten Hüftgelenk führen eher zu Frakturen am hinteren Pfeiler. z
Klassifikation
Im Gegensatz zur Klassifikation der Beckenringfrakturen, bei der verschiedene Einteilungen zur Anwendung kommen, sich teilweise ergänzen und überschneiden ( Abschn. 26.1) hat sich bei der Einteilung von Azetabulumfrakturen die Klassifikation nach Letournel und Judet (1993) durchgesetzt. Dieses System teilt die Azetabulumfrakturen in 5 Grundtypen: ▬ vordere Wandfraktur (VW) ▬ vordere Pfeilerfraktur (VPf) ▬ hintere Wandfraktur (HW) ▬ hintere Pfeilerfraktur (HPf) ▬ Querfraktur (Q) Zudem existieren 5 Merkmalstypen: ▬ vordere Pfeiler- mit hinterer Hemiquerfraktur (VPf + Q) ▬ hintere Pfeiler- mit hinterer Wandfraktur (HPf + HW) ▬ Querfraktur mit hinterer Wandfraktur (Q + HW) ▬ T-Fraktur (T) ▬ Zweipfeilerfraktur (2-Pf) Bei den 5 Grundtypen teilt die Frakturlinie das Azetabulum in jeweils 2 Teile. Die Grundtypen sind so definiert, dass sie den ganzen oder einen Teil des Pfeilers vom Azetabulum abtrennen (⊡ Abb. 26.18). Die Frakturen des vorderen und hinteren Pfeilers trennen den gesamten Pfeiler vom Rest der Beckenhälfte. Die Frakturen der vorderen und hinteren Wand betreffen lediglich einen Teil der Gelenkfläche des entsprechenden Pfeilers.
701 26.2 · Azetabulumfraktur
a
b
⊡ Abb. 26.17a,b Unfallmechanismen. a »Dashboard«-Verletzungsmechanismus: Ein Achsenstoßtrauma auf die Femurachse bei flektiertem Knieund Hüftgelenk kann zu einer hinteren Hüftluxation bzw. zu einer Fraktur der Azetabulumhinterwand, des hinteren Pfeilers oder zu einer Azetabulumquerfraktur führen. b Die seitliche Krafteinwirkung auf das Hüftgelenk kann eine Querfraktur oder, je nach Rotation des Hüftgelenks, eine Fraktur der Azetabulumvorderwand bzw. des vorderen Pfeilers zur Folge haben
vordere Wand
vorderer Pfeiler
hintere Wand
hinterer Pfeiler
Querfraktur
vorderer Pfeiler mit hinterer Hemiquerfraktur
hinterer Pfeiler mit hinterer Wand
Querfraktur mit hinterer Wand
T-Fraktur
Zwei-Pfeiler-Fraktur
⊡ Abb. 26.18 Azetabulumfrakturen: Letournel-Klassifikation
26
702
26
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
Die Integrität des Foramen obturatorium sowie des unteren Schambeinasts (Ramus inferior ossis pupis) sind Schlüsselstellen bei der Einteilung des Frakturtyps. Bei den Frakturen der vorderen Wand bleibt der Ramus inferior ossis pubis intakt. Bei der hinteren Pfeilerfraktur zieht die Fraktur durch das Foramen obturatorium in den unteren Schambeinast. Beim fünften Grundtyp, der Querfraktur, durchläuft eine Frakturlinie den vorderen und hinteren Pfeiler, wobei ein Frakturausläufer in den Ramus inferior ossis pubis fehlt. Eine exakte anatomische Trennung zwischen dem vorderen und hinteren Pfeiler existiert allerdings nicht. Frakturen der Azetabulumhinterwand können aus einem Fragment bestehen oder, was häufiger ist, multifragmentär sein.
+
Die Einteilung der Azetabulumfrakturen lässt sich im Wesentlichen anhand einer a.p.-Beckenübersichtsaufnahme bewerkstelligen. Dabei müssen stets folgende 4 anatomische Strukturen in entsprechender Reihenfolge beurteilt werden: 1. Linea iliopectinea 2. Linea ilioischiadica 3. Azetabulumhinterwand 4. Ramus inferior ossis pubis Der in ⊡ Abb. 26.19 dargestellte Algorithmus bietet dafür eine Hilfe. Ist zum Beispiel die Linea iliopectinea intakt, spricht dies gegen eine Beteiligung des vorderen Azetabulumpfeilers wie in den Frakturen VW, VPf, Q, Q + HW, T, VPf + Q, 2-Pf. Als mög-
_ linea iliopectinea intakt?
linea iliopectinea intakt
HW, HPf, HPf+HW
VW, VPf, Q, Q+HW, T, VPf+Q, Zwei-Pf
+
_
+
Linea ilioischiadica intakt?
Q, Q+HW T, VPf+Q Zwei-Pf
Linea ilioischiadica intakt?
VW, VPf
_
HW
Ramus interior ossis pubis intakt?
Hinterwand frakturiert?
_
+ HPf+HW
VW
Ramus interior ossis pubis frakturiert?
+ T, VPf+Q Zwei-Pf
Q, Q+HW
_
+
HPf
_
VPf HW frakturiert?
»spur sign«
_
+
+ _
Q+HW
Q
Zwei-Pf T, VPf+Q
CT-Abklärung
T
HW
HPf
VW
VPf
Q
HPf + HW
Q + HW
T
VPf + Q
VPf+Q
Zwei-Pf
⊡ Abb. 26.19 Diagnosealgorithmus. HW hintere Wandfraktur, HPf hinterer Pfeilerfraktur, VW vordere Wandfraktur, VPf vordere Pfeilerfraktur, Q Querfraktur, HPf + HW hintere Pfeiler- mit hinterer Wandfraktur, Q + HW Querfraktur mit hinterer Wandfraktur, T T-Fraktur, VPf + Q vordere Pfeilermit hinterer Hemiquerfraktur, 2-Pf Zweipfeilerfraktur
703 26.2 · Azetabulumfraktur
liche Frakturtypen verbleiben in diesem Fall schließlich noch HW, HPf und HPf + HW. Ist die Linea ilioischiadica intakt, spricht dies gegen eine Beteiligung des hinteren Azetabulumpfeilers. Einige Fallbeispiel sind in ⊡ Abb. 26.20 bis ⊡ Abb. 26.22. Weitere Beispiele finden Sie im Internet unter www.springer.com/ medicine/orthopedics/book/978-3-642-13110-3. Hinterwandfrakturen sind die häufigsten Azetabulumfrakturen überhaupt. Sie machen bis zu 30% aller Azetabulumfrakturen aus (Letournel et al. 1993). Sie kommen nicht nur isoliert, sondern auch in Kombination mit hinteren Pfeiler- und Querfrakturen vor. Frakturen der Azetabulumhinterwand sind auf der a.p.-Beckenaufnahme und besonders der Obturatoraufnahme gut erkennbar. Die CT hilft bei der Beurteilung
der Frakturfragmente und der Dislokation der Gelenkfläche. Bei Hinterwandfrakturen kommt es häufig zu schwierig reponierbaren und prognostisch ungünstigen Impaktionen von osteochondralen Fragmenten. Die Fraktur des hinteren Pfeilers beginnt an der Azetabulumrückfläche nahe an der Spitze des Foramen ischiadicum majus bzw. der Incisura ischiadica major. Die Frakturlinie zieht von hier durch das Dach des Foramen obturatorium und weiter durch den Ramus inferior ossis pubis. Radiologisch zeigt sich eine Unterbrechung der Linea ilioischiadica, was auf der a.p.-Aufnahme, aber insbesondere auf der Ala-Aufnahme gut erkennbar ist. Eine zusätzliche Fraktur der Azetabulumhinterwand sowie der Frakturverlauf durch den Ramus inferior ossis pubis kommt wiederum auf der Obturatoraufnahme besser zur Darstellung. Hintere Pfeilerfrakturen sind instabil. Häufig muss am Bein Traktion angelegt werden, um das Gelenk reponiert halten zu können. > Bei der hinteren Pfeilerfraktur läuft die Fraktur ins Foramen ischiadicum majus aus. Bei starker Frakturdislokation kommt es gelegentlich zu einer Interposition der oberen Glutealgefäße und Nerven. Diese müssen vor einer Reposition der Fraktur befreit werden.
⊡ Abb. 26.20 Beckenübersichtsaufnahme einer 42-jährigen Patientin nach Motorradunfall (Außenrotationstrauma des rechten Hüftgelenks). Die Linea iliopectinea ist unterbrochen (gelber Pfeil), die Linea ilioischiadica (oranger Pfeil) dagegen ist intakt. Bei gleichzeitiger Fraktur des Ramus inferior ossis pubis (blauer Pfeil) ergibt sich gemäß Algorithmus eine Fraktur des vorderen Pfeilers. Für diese Fraktur typisch ist der Frakturausläufer in die Ala ossis ilii
Isolierte Frakturen der Azetabulumvorderwand sind selten. Wenn sie auftreten, dann in Kombination mit Frakturen des vorderen Pfeilers. Die Vorderwandfraktur beginnt unterhalb der Spina iliaca anterior inferior, durchquert die azetabuläre Gelenkfläche zur Linea arcuata (»pelvic brim«) und zieht dann weiter zum Foramen obturatorium. Eine zweite Frakturlinie durch den Ramus superior ossis pubis separiert das vordere Wandfragment. Der Ramus inferior ossis pubis bleibt intakt. Frakturen des vorderen Pfeilers werden zudem in hoch, intermediär, tief und sehr tief unterteilt, dies in Abhängigkeit vom Frakturausläufer zwischen Eminentia iliopubica (iliopectinea) und Crista iliaca (⊡ Abb. 26.23).
⊡ Abb. 26.21 Beckenübersichtsaufnahme einer 43-jährigen Patientin nach Autounfall. Die Linea iliopectinea (gelber Pfeil) ist intakt, nicht so die Linea ilioischiadica (oranger Pfeil). Die Linie der Hinterwand (grüner Pfeil) zeigt ebenfalls eine schwache Unterbrechung. Gemäß Algorithmus handelt es sich somit um eine Fraktur des hinteren Pfeilers mit hinterer Wandfraktur. Die Fraktur des Ramus inferior ossis pubis (blauer Pfeil) ist ebenfalls Ausdruck einer Pfeilerfraktur
⊡ Abb. 26.22 Beckenübersichtsaufnahme eines 53-jährigen Mannes nach Motorradunfall. Weder die Linea iliopectinea noch die Linea ilioischiadica ist intakt geblieben (gelber und oranger Pfeil). Eine Frakturlinie durch den Ramus inferior ossis pubis fehlt (blauer Pfeil); die Hinterwand ist mit betroffen (grüner Pfeil). Daraus ergibt sich gemäß Algorithmus: Querfraktur mit hinterer Wandfraktur
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704
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
a
b
c
d
Unterbrechung sowohl der Linea ilioischiadica als auch der Linea iliopectinea. Bei dieser Fraktur wird die Beckenhälfte in eine obere (»iliakale«) und untere (»ischiopubische«) Hälfte getrennt. Letztere disloziert zusammen mit dem Femurkopf nach medial mit Rotation in der Symphyse. Die Dislokation ist somit dorsal in der Regel größer als ventral, was bei der Frakturversorgung berücksichtigt werden muss. Der Ramus inferior ossis pubis bleibt bei der Querfraktur intakt; dies im Gegensatz zur T-Fraktur, Zweipfeilerfraktur und Vorderpfeiler mit hinterer Querfraktur. Je nach Frakturverlauf in Bezug auf die Fossa acetabuli werden 3 Typen von Querfrakturen unterschieden (⊡ Abb. 26.24): ▬ unterhalb des Azetabulumdaches durch die Fossa acetabuli (infratektal) ▬ unmittelbar ans Azetabulumdach grenzend, kranial der Fossa acetabuli (juxtatektal) ▬ durch das Azetabulumdach (transtektal)
26
⊡ Abb. 26.23a–d Variabilität der vorderen Pfeilerfrakturen. Diese können je nach Ausläufer in Richtung Ala ossis ilii sehr tief (a), tief (b), intermediär (c) oder hoch (d) durch die Ala ossis ilii ziehen
In Abhängigkeit des Frakturtyps entscheidet sich der intraoperative Zugang zur Reposition und Osteosynthese. Neben den 5 Grundtypen der Azetabulumfraktur werden 5 zusätzliche Merkmalstypen unterschieden (⊡ Abb. 26.18). Diese entsprechen entweder einer Kombination aus den Grundtypen oder einem der Grundtypen mit zusätzlichem Frakturverlauf. Mit Ausnahme der Fraktur von hinterem Pfeiler und hinterer Wand zeigen alle zusätzlichen Merkmalstypen eine Beteiligung beider Säulen. Hintere Pfeiler- mit hinterer Wandfraktur
a
b
c
⊡ Abb. 26.24a–c Variabilität der Querfrakturen. Diese können in Bezug auf die Fossa acetabuli ala infratekal (a), juxtatekal (b) und transtekal (c) vorliegen. Typisch für die Querfraktur ist der intakte Ramus inferior ossis pubis (dies im Gegensatz zur T oder Zwei-Pfeiler-Fraktur)
Die Fraktur verläuft weiter durch die azetabuläre Gelenkfläche zur Linea arcuata, zur Azetabulumrückfläche bis zum Foramen obturatorium und tritt über eine Fraktur der Schambeinäste aus. Der ventrale Aspekt der Beckenhälfte wird dadurch abgetrennt. Bei dieser Verletzung kommt es zu einer Dislokation des Femurkopfes nach medial und kranial mit Außenrotationsstellung des Säulenfragments um den Femurkopf. Für beide Frakturen der Vorderwand und des vorderen Pfeilers bleibt der hintere Pfannenrand und die Linea ilioischiadica intakt. Bei vorderen Azetabulumfrakturen zeigt sich klassischerweise eine Unterbrechung der Linea iliopectinea auf der a.p.- und insbesondere auf der Obturatoraufnahme. Bei der isolierten Azetabulumvorderwandfraktur zeigt sich eine Unterbrechung der Linea iliopectinea an zwei unterschiedlichen Punkten. Diese ist bei Vorderpfeilerfrakturen lediglich an einer Stelle unterbrochen. Querfrakturen des Azetabulums sind relativ häufig. Sie zeigen sich im Röntgenbild (a.p.- und Schrägaufnahme) mit einer
Bei dieser Fraktur verläuft die Fraktur des hinteren Pfeilers durch das ausgebrochene hintere Wandfragment. Dieses Fragment kann schließlich bei der Reposition des nach dorsal luxierten Femurkopfes hinderlich sein. Vordere Pfeiler- mit hinterer Hemiquerfraktur
Primärer Grundtyp dieses Frakturtyps ist die Vorderwandbzw. die vordere Pfeilerfraktur. Ausgehend von der vorderen Frakturlinie zieht die quere Frakturlinie nach dorsal. Der Grad der Dislokation dieser hemitransversen Fraktur entscheidet darüber, ob eine direkte oder indirekte Darstellung zur Reposition des dorsalen Pfeilers nötig ist. Querfraktur mit hinterer Wandfraktur
Das hintere Wandfragment zeigt häufig eine marginale Impaktion der Gelenkfläche oder einen Frakturausläufer ins Foramen ischiadicum majus. Die Dislokation des Femurkopfes nach dorsal oder zentral ist typisch. Oft ist eine Reposition durch alleinigen axialen Zug nicht möglich und birgt die Gefahr, dass durch das Repositionsmanöver weiterer Knorpelschaden entsteht. Die Erkennung einer hinteren Hüftluxation ist wichtig, um einen Schaden am N. ischiadicus oder eine Femurkopfnekrose zu vermeiden. T-Fraktur
Dieser Frakturtyp entspricht einer Querfraktur mit vertikalem Frakturausläufer. Dieser Ausläufer hat seinen Ursprung in der Querfraktur, zieht durch die Azetabulumrückfläche bzw. die Fossa acetabuli und endet im Dach des Foramen obturatorium. Ein Azetabulumgelenkfragment bleibt im Gegensatz zur Zwei-
705 26.2 · Azetabulumfraktur
pfeilerfraktur stets in Kontinuität zum Os ileum. Der untere Schambeinast ist in der Regel mit frakturiert. Dadurch wird das untere Hauptfragment (»ischiopubic fragment«) in ein ischiales und ein pubisches Gelenkfragment getrennt. Die Erkenntnis über das Ausmaß der Dislokation der entsprechenden Pfeiler ist wichtig für den operativen Zugang zur Versorgung der Fraktur. Die Unterscheidung zwischen einer T-Fraktur und einer vorderen Pfeiler- mit hinterer Querfraktur ist oft erst im CT möglich (Diagnostik s. unten). Zweipfeilerfraktur
Per Definition bleibt bei diesem Frakturtyp keines der Frakturfragmente in Kontinuität zur restlichen Beckenhälfte. Dennoch ist das Labrum häufig in der Kontinuität erhalten. Bei Zweipfeilerfrakturen werden nicht nur die beiden Pfeiler voneinander getrennt, sondern es kommt auch zu einer Separation vom Achsenskelett. Durch die Medialisierung des Femurkopfes rotieren die Pfeilerfragmente samt Gelenkflächen visierartig um das Kopffragment nach lateral, ohne die Gelenkkongruenz ganz zu verlieren. Es entsteht ein für diese Fraktur typisches Phänomen der »zweiten Kongruenz« (bekannt als »spur sign« oder »secundary congruence«), indem zum Achsenskelett verbleibende Teile des Os ilium prominent (»spur«) werden. Dieses Phänomen ist auf einer Obturatoraufnahme am besten sichtbar. z
Diagnostik
Das diagnostische Vorgehen wird in Abschn. 26.1 beschrieben. Im Zentrum steht – wie bei jeder möglichen Beckenverletzung – die klinische Untersuchung. In einem zweiten Schritt folgen die radiologischen Abklärungen. Mit der a.p.-Beckenübersichtsaufnahmen lässt sich eine Azetabulumfraktur im Wesentlichen abbilden und verstehen (⊡ Abb. 26.19). Ala- und Obturator-Aufnahmen, inklusive CT können weitere wichtige Informationen liefern (⊡ Abb. 26.12 und ⊡ Abb. 26.13). Die Fraktur der Ala ossis ilii spricht für eine Beteiligung des vorderen Pfeilers und wird bei einer Fraktur vom Quertyp (Q und T) in der Regel nicht beobachtet. Eine Unterbrechung des Obturatorrings ist typisch für Pfeiler- oder T-Frakturen. Das sog. »spur sign« ist ein sicheres Zeichen für eine Zweipfeilerfraktur. Bei Pfeilerfrakturen verläuft die Frakturlinie von medial nach lateral (horizontaler Frakturverlauf im CT), bei Querfrakturen von anterior nach posterior (sagittaler Frakturverlauf im CT). Die Computertomographie ist unerlässlicher Bestandteil in der Beurteilung von Azetabulumfrakturen. Einige typische CT-Schnitte durch das Azetabulumdach bzw. das Hüftgelenk zeigen ⊡ Abb. 26.25 bis ⊡ Abb. 26.28. z Therapie z z Konservative Therapie
Im Gegensatz zur Beckenringfraktur, bei der oft ein konservatives Vorgehen indiziert ist, ist die Therapie der Azetabulumfraktur in der Regel operativ. Bei der Entscheidungsfindung wichtig sind das Ausmaß der Dislokation und die Lokalisation der Fraktur sowie die Stabilität des Hüftgelenks. Selbstverständlich müssen auch patientenbezogene Faktoren (Alter, Allgemeinzustand etc.) mitberücksichtigt werden.
Biomechanische Studien zeigen, dass jeglicher Unterbruch der Gelenkfläche zu einem erhöhten Stress und damit zu Abrieb im Gelenk führt (Olson et al. 1997). Dies trifft insbesondere für das Hüftgelenk zu, was auch klinische Beobachtungen zeigen. In einer retrospektiven Studie wurde bei Patienten mit dislozierter Azetabulumfraktur unter konservativer Therapie in 75% ein mäßiges bis schlechtes Resultat erzielt. Insbesondere in der Hauptbelastungszone des Azetabulumdachs wird eine Gelenkstufe schlecht toleriert (Matta u. Olson 1998). > Frakturdislokationen von weniger als 2 mm können ungeachtet der Lokalisation konservativ behandelt werden. In solchen Fällen ist eine engmaschige klinische und radiologische Verlaufskontrolle erforderlich, insbesondere bei Frakturen in der Hauptbelastungszone.
Eine absolute Indikation für eine operative Therapie ist die posttraumatische Instabilität des Hüftgelenks. Anatomische Studien zeigen, dass bei Azetabulumfrakturen der Hinterwand je nach Ausmaß der Kapselverletzung 60–80% der dorsalen Gelenkfläche intakt bleiben müssen, um eine genügende Hüftstabilität zu erhalten. Jegliche Subluxation des Hüftgelenks ist eine Indikation für ein operatives Vorgehen. Im Zweifelsfall kann eine Obturator-Stressaufnahme des Hüftgelenks Klarheit schaffen (Tornetta 2001). Es wurde gezeigt, dass Frakturen, die unter Stress stabil bleiben, auch im weiteren Verlauf unter Entlastung der betroffenen Extremität stabil bleiben und nicht weiter dislozieren. Wichtig in der Entscheidung für oder wider ein operatives Vorgehen ist sicherlich auch der Vorzustand des Gelenks. Bei fortgeschrittenen, degenerativen Veränderungen sollte hinsichtlich einer späteren prothetischen Versorgung im Zweifelsfall die konservative Therapie gewählt werden. > Bei Beteiligung der Azetabulumhinterwand von 25% und mehr ist das Hüftgelenk instabil. z z Operative Therapie
Indikationen für eine operative Therapie sind: ▬ Inkongruenz zwischen Femurkopf und Azetabulum (Subluxation) ▬ Gelenkstufe von mehr als 2 mm in der Hauptbelastungszone ▬ intraartikuläre Fragmente ▬ Beteiligung der Hinterwand um mehr als 25% (CT-Untersuchung) Ist die Entscheidung für ein operatives Vorgehen gefallen, sollte mit der Versorgung nicht zu lange zugewartet werden. Je früher die Operation stattfindet, desto einfacher ist die Reposition. Dennoch ist eine notfallmäßige Versorgung einer Azetabulumfraktur nur in Ausnahmefällen nötig. Dazu zählen: ▬ nicht reponierbare Hüftluxation ▬ zunehmende neurologische Ausfälle ▬ Gefäßverletzungen Die operative Versorgung von Azetabulumfrakturen erfordert eine große Erfahrung des Operateurs, Ruhe und Zeit sowie eine entsprechende operative Einrichtung (für Röntgenstrahlen durchlässiger Traktionstisch, spezielle Repositionshilfen und hochauflösende Röntgenbildwandler).
26
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Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
anterior
anterior
posterior
posterior
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⊡ Abb. 26.25 CT-Schnitt durch das Azetabulumdach: Querfrakturen zeigen im CT einen vertikalen (sagittalen), Pfeilerfrakturen einen horizontalen (koronalen) Frakturverlauf
⊡ Abb. 26.27 CT-Schnitt durch das Azetabulumdach: typischer Frakturverlauf einer T-Fraktur
anterior
anterior
posterior
posterior
⊡ Abb. 26.26 CT-Schnitt durch das Azetabulumdach: Diese Kombination aus vertikalem und horizontalem Frakturverlauf spricht für einer Fraktur des vorderen Pfeilers mit hinterer Hemiquerfraktur
⊡ Abb. 26.28 CT-Schnitt durch das Hüftgelenk: Frakturen der Azetabulumwand zeigen einen schrägen Frakturverlauf
707 26.2 · Azetabulumfraktur
Wahl des operativen Zugangs
Ausschlaggebend bei Wahl des Zugangs ist der Frakturtyp. Wenn möglich, soll die Fraktur über einen Zugang reponiert und stabilisiert werden. Die am häufigsten angewandten Zugänge zum Azetabulum sind: ▬ Kocher-Langenbeck-Zugang (KLZ) ▬ ilioinguinaler Zugang (IZ) ▬ erweiterter iliofemoraler Zugang (EIZ) Grundsätzlich kommt der Kocher-Langenbeck-Zugang für hintere und der ilioinguinale Zugang für vordere Azetabulumfrakturen zur Anwendung (Letournel et al. 1993). Der erweiterte iliofemorale Zugang erlaubt einen gleichzeitigen Zugang zum vorderen und hinteren Pfeiler. Dieser Zugang kommt somit bei gewissen Quer- und Zweipfeilerfrakturen zum Einsatz sowie bei gewissen Frakturen, die länger als 20 Tage zurückliegen und damit schwer reponierbar sind (Matta 1996, 1998). Weitere Zugängsmöglichkeiten sind: ▬ kombinierter vordere und hinterer Zugang ▬ modifizierter ilioinguinaler Zugang (intrapelviner Zugang oder Stoppa-Zugang) ▬ Kocher-Langenbeck-Zugang mit Trochanterosteotomie bzw. Trochanter-Flipp-Osteotomie Kocher-Langenbeck-Zugang
Dieser Zugang erlaubt die Exposition der gesamten retroazetabulären Fläche bis distal zum Tuber ischiadicum. Medial lassen sich die Incisura ischiadica major und minor sowie der Übergang zum Os ilium darstellen. Weiter nach kranial wird der Zugang durch die A. und V. glutea superior und den N. gluteus superior limitiert. Letzterer läuft zwischen dem M. gluteus medius und minimus nach ventral. Eine zusätzliche Osteotomie am Trochanter major vermag das Zugangsgebiet nach kranial etwas vergrößern; eine Grenze bleibt allerdings bestehen. > Eine mögliche Osteotomie am Trochanter major muss so gewählt werden, dass der Ramus ascendens der A. circumflexa femoris medialis nicht kompromittiert wird. Diese Gefahr kann dadurch etwas verringert werden, indem statt einer Trochanterosteotomie eine Trochanter-Flipp-Osteotomie gewählt wird (Ganz et al. 2001, Siebenrock et al. 2002).
Der KLZ wird bei Frakturen der hinteren Wand, des hinteren Pfeilers, des hinteren Pfeiler mit hinterer Wand, Querfrakturen, Querfrakturen mit hinterer Wand sowie bei T-Frakturen angewandt. Vorgehen: Der Patient wird in der Regel auf der Seite gelagert. Die Hautinzision läuft über dem Trochanter major leicht bogenförmig Richtung Spina liaca posterior superior. Die Fascia lata mit Übergang in den M. gluteus maximus werden gespalten und die Hüftaußenrotatoren und der N. ischiadicus dargestellt. Mit sicherer Distanz zur Fossa piriformis bzw. den trochanteren Muskelansätzen werden die Außenrotatoren abgesetzt, angeschlungen und schützend über den N. ischiadicus nach dorsal medial gehalten. Nach Retraktion auch des
M. gluteaus medius wird die dorsale Azetabulumwand sowie der hintere Azetabulumpfeiler mit Spina ischiadica und Tuber ischiadicum darstellbar. Frakturen vom »Quertyp« (Querfrakturen, Querfrakturen mit Hinterwand, T-Frakturen) lassen sich in Bauchlage einfacher reponieren. Besonderes Augenmerk gilt beim dorsalen Zugang dem N. ischiadicus. Durch Beugung im Kniegelenk bzw. Extension im Hüftgelenk kann der Nerv während der Operation entlastet werden. Die angeschlungenen Außenrotatoren werden als zusätzlichen Weichteilschutz verwendet. Bei der Präparation nach kranial müssen Blutungen aus der A. und V. glutea superior vermieden werden. Schäden am N. gluteus superior führen zu einer Schwächung der MM. gluteus medius, minimus und tensor fascia latae. Die Verletzung des N. gluteus inferior führt zu einer Beeinträchtigung des M. gluteus maximus. Ebenfalls geschont werden muss der für die Femurdurchblutung wichtige Ramus ascendens der A. circumflexa femoris medialis. Diesbezüglich gilt: ▬ Die Hüftaußenrotatoren (Mm. piriformis, gemelli superior/ inferior und obturator internus) dürfen nicht zu nahe am Ansatz des Trochanter major abgesetzt werden. ▬ Die Präparation kaudal des M. gemellus inferior muss gemieden werden. ▬ Sollte ein Release des M. quadratus femoris zur besseren Darstellung des Os ischium nötig sein, so darf dieser nicht am Femur sondern muss am ischialen Ansatz erfolgen. > Komplikationen bei diesem Zugang beinhalten: Nervenläsionen: N. ischiadicus, N. gluteus superior und inferior, Kompromittierung der Femurkopfdurchblutung, Blutungen aus der A. und V. glutea superior, heterotope Ossifikationen und Infektion. Ilioinguinaler Zugang
Dieser Zugang erlaubt die Darstellung der Innenseite der Beckenschaufel vom ISG bis zur Symphyse. Es besteht direkte Sicht auf die Fossa iliaca über die Linea arcuata bis zum Ramus superior ossis pubis. Durch Ablösen der Abduktoren besteht ein limitierter Zugang zur Außenseite der Ala ossis ilii. Der Zugang findet Anwendung bei Fakturen der vorderen Wand, des vorderen Pfeilers, bei vorderen Pfeilerfrakturen mit hinterer Hemiquerfraktur sowie bei Zweipfeilerfrakturen. Der Zugang beinhaltet drei wesentliche Zugangsfenster, das laterale, das mittlere und das mediale. Die Inzision beginnt am höchsten Punkt der Crista iliaca, dorsolateral des Ansatzes der Bauchwandmuskulatur, und verläuft bogenförmig bis 2–3 cm oberhalb der Symphyse. Nach Spaltung der Aponeurose wird die Bauchwandmuskulatur ansatznah an der Crista iliaca scharf abgelöst und der M. iliacus subperiostal nach medial geschoben. Etwa 2 cm medial der Spina iliaca anterior superior wird der N. cutaneus femoris lateralis beim Durchtritt durch das Leistenband aufgesucht und geschont. Laterales Fenster: Es erfolgt eine subperiostale Präparation unterhalb des M. iliacus mit Darstellung des Raums zwischen Fossa iliaca (lateral) und M. iliopsoas samt N. femoralis (medial). Der Zugang erlaubt Einsicht auf Crista iliaca, Fossa iliaca, ISG und Linea arcuata.
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26
Kapitel 26 · Verletzungen des Beckens
Mittleres Fenster: Präparation entlang des Arcus iliopectineus auf den Ramus pecten ossis pubis. M. iliopsoas und N. femoralis werden nach lateral, A. und V. iliaca externe bzw. femoralis – im Schutze des Arcus iliopectineus – nach medial weggehalten und angeschlungen. Es besteht Einsicht auf die vordere Azetabulumwand, die Eminentia iliopubica, die Linea arcuata sowie beschränkt auf die Azetabuluminnenseite. Mediales Fenster: Gemäß vieler Lehrbücher wird der Ansatz des M. rectus abdominis symphysennah durchtrennt und darunter das Spatium nach Retzius sowie der Ramus superior ossis pubis dargestellt. Die Durchtrennung des M. rectus abdominis ist allerdings in den wenigsten Fällen nötig und sollte möglichst vermieden werden. Der Funiculus spermaticus beim Mann sowie das Lig. teres uteri bei der Frau wird dargestellt und geschützt. Unter Weghalten des M. rectus femoris nach medial und des Funiculus spermaticus bzw. Lig. teres uteri samt Lymphgefäßen nach lateral kann der gesamte Ramus superior ossis pubis inklusive Symphyse eingesehen werden. Die Durchtrennung des M. rectus abdominis erübrigt sich, wenn zur Darstellung des medialen Fensters wie beim Pfannenstiel-Zugang zwischen den beiden Rektusmuskeln durch die Linea alba zugegangen wird. Stoppa beschrieb diesen Zugang in der Hernienchirurgie. Cole und Mitarbeiter entwickelten diesen Zugang weiter zum sog. »Stoppa intrapelvic approach« (Karunakar et al. 2004). Im Schutz des M. rectus abdominis können die Lymphgefäße sicher geschont werden. Die weitere Entwicklung des Zugangs erlaubt schließlich eine gute Einsicht auf den gesamten oberen Schambeinast, auf die sonst schlecht zugängliche Azetabuluminnenfläche (quadrilaterale Platte) sowie die Linea arcuata bis hin zum ISG. Bei der subperiostalen Präparation entlang des Ramus stößt man auf zahlreiche Anastomosen zum einen zwischen A. epigastrica inferior und A. obturatoria sowie zwischen A. iliaca externa und A. obturatoria (Corona mortis). Diese müssen unterbunden werden. Der N. obturatorius wird ebenfalls dargestellt und geschont. Dieser Zugang hat bedeutende mechanische Vorteile bei der Frakturstabilisation von nach medial dislozierten Azetabulumfrakturen. Wird dieser Zugang gewählt, muss das mittlere Fenster nicht im wie beim klassischen ilioinguinalen Zugang üblichen Maß entwickelt werden. Der intrapelvine StoppaZugang (auch als modifizierter ilioinguinaler Zugang bekannt) kann direkt zur Reduktion und Instrumentation des gesamten vorderen Pfeilers bis hin zum ISG inklusive der Azetabulumrückfläche verwendet werden. Beim ilioinguinalen Zugang ist Folgendes zu beachten: Der N. cutaneus femoris lateralis muss beim Durchtritt durch das Leistenband dargestellt und geschont werden. Der Nerv kommt aus der Tiefe und läuft auf Höhe des Leistenbands in einem Winkel von nahezu 90° durch das Leistenband. Diesen Verlauf muss man bei der Präparation bedenken. Beim Vorliegen einer kräftigen Anastomose zwischen A. epigastrica inferior und A. obturatoria bzw. wenn diese direkt aus der A. iliaca externa entspringt (Corona mortis), muss diese ligiert werden, um spätere Nachblutungen zu verhindern. Bei der Präparation über das ISG ist die L5-Wurzel bzw. der Truncus lumbosacralis gefährdet. Durch Unterlegen des Kniegelenks mit Flexion im Hüftgelenk wird die Reposition und die Exploration der Zugangsfens-
ters deutlich erleichtert; der Zug auf den M. iliopsoas inklusive N. femoralis wird verringert. Bei der Entwicklung des medialen Fensters müssen die Lymphgefäße geschont werden. Der nach Stoppa modifizierter intrapelvine Zugang erleichtert dies. > Komplikationen bei diesem Zugang beinhalten Nervenläsionen (N. ischiadicus, N. femoralis, N. obturatorius, N. cutaneus femoris lateralis, N. ilioinguinalis), Blutungen (A. epicastrica inferior mit Anastomosen inklusive A. obturatoria), Lymphabflussstörung und Infektion. Erweiterter iliofemuraler Zugang
Dieser Zugang wird zur Darstellung auch der Außenseite des Azetabulums angewandt. Als Weiterentwicklung des SmithPetersen-Zugangs eignet er sich zur Versorgung beider Pfeiler. Der gesamte laterale Aspekt der Beckenschaufel, der vordere Pfeiler bis hin zur Eminentia iliopubica, die retroazetabuläre Fläche sowie das Hüftgelenk selbst sind zugänglich. Durch das Lösen des M. iliacus bzw. Osteotomie der Spina iliaca anterior superior samt Lig. inguinale und M. sartorius besteht zudem Einsicht in die Fossa iliaca. Durch Osteotomien am Trochanter major, an der Crista iliaca und der Spina iliaca anterior superior können die entsprechenden Muskelansätze »geschont« werden (Starr et al. 2002). Anwendung findet dieser Zugang bei kombinierten Azetabulumfrakturen, die länger als 20 Tage zurückliegen, Querfrakturen mit Azetabulumhinterwand, T-Frakturen sowie gewissen Zweipfeilerfrakturen. Mögliche Komplikationen richten sich nach der Ausdehnung des Zugangs ähnlich wie den oben beschrieben Zugängen. Infektionen und heterotope Ossifikationen sind im Vergleich zum Kocher-Langenbeck-Zugang und dem ilioinguinalen Zugang wegen des zugangsbedingten Weichteiltraumas deutlich häufiger.
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709 Literatur
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26
27
Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel T. Renkawitz, M. Tingart, J. Beckmann, T. Kalteis, J. Grifka, R. U. Winkler, M. Ellenberger, K.-U.Lorenz
27.1
Erkrankungen des Hüftgelenks – 712
27.1.1 27.1.2 27.1.3 27.1.4 27.1.5 27.1.6 27.1.7
Diagnostik – 712 Scores und Klassifikationen – 713 Folgezustände kindlicher Erkrankungen Femurkopfnekrose – 715 Hüftarthrose – 716 Hüftendoprothetik – 720 Hüft-Impingement – 729
27.2
Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel – 733
27.2.1 27.2.2 27.2.3 27.2.4 27.2.5 27.2.6 27.2.7
Hüftluxation und Femurkopffrakturen – 733 Schenkelhalsbrüche – 737 Intertrochantere Frakturen – 742 Subtrochantere Femurfrakturen – 745 Femurschaftfrakturen – 746 Distale Femurfrakturen – 750 Sportverletzungen – 754
Literatur
– 714
– 756
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
712
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
27.1
Erkrankungen des Hüftgelenks
27.1.1
Diagnostik
T. Renkawitz
27
Die Untersuchung des Hüftgelenks folgt der allgemeinen Systematik klinischer Untersuchungsgänge, gegliedert in Inspektion, Palpation und Funktionsprüfung. Inspektorisch wird bei der Untersuchung des Hüftgelenks im Speziellen auf den Beckenstand (Rima ani lotrecht? Crista iliaca auf einer Höhe?), das Wirbelsäulenprofil (Skoliosen, Hyperlordosen?) und die Leisten-/Trochanterenregion (Rötung, Schwellung, Überwärmung?) geachtet. Ergänzend erfolgt eine Beurteilung des Gangbilds (Symmetrie, Gleichmäßigkeit, Kraftentfaltung? Insuffizienz-, Schmerz-, Verkürzungs- oder Lähmungshinken? Ataxie?). Schwächen der Gluteal- und Oberschenkelmuskulatur bei neuromuskulären Erkrankungen sind oft beim Aufstehen, Hinsetzen und beim Einbeinstand erkennbar. Palpatorisch werden im Stehen die Lendenwirbelsäule und Iliosakralgelenke untersucht. Unter Palpation der Beckenkämme erfolgt die Prüfung des Trendelenburg-Zeichens: Beim Einbeinstand kippt dabei das Becken zur gesunden Gegenseite ab. Das Zeichen ist z. B. bei Koxarthrose, Schwäche der pelvitrochanteren Muskulatur, Läsion des N. gluteus superior, Hüftgelenkluxation, M. Perthes und Coxa vara positiv. In Rückenlage erfolgt im Anschluss die Palpation der Hüftregion (unterhalb des Leistenbands in der Mitte zwischen Spina iliaca anterior superior und Symphyse), der Trochanter-major-Region und der Sehnenansätze der Mm. gluteus medius und minimus. Ergänzend erfolgt die Palpation des Kniegelenks (zur Untersuchung des Kniegelenks vgl. Kap. 28). Die Funktionsprüfung des Hüftgelenks beginnt mit der Testung der Bewegungsumfänge (aktiv und passiv nach der Neutral-Null-Methode). Die Prüfung der Flexion wird in Rückenlage (Normal: 130–140°) mit flektiertem Kniegelenk durchgeführt. Zur Beurteilung der Extension des Hüftgelenks in Rückenlage (Normal: 10–15°) wird das kontralaterale Hüftgelenk maximal gebeugt, das Becken wird so in der Neutralstellung fixiert. Bleibt der Oberschenkel der untersuchten Hüftgelenkseite dabei auf der Unterlage liegen, entspricht dies einer 0°-Extension. Durch weiteres Beugen gerät das Becken in eine Flexion. Hält die Oberschenkelrückseite der untersuchten Hüftgelenkseite dabei weiter Kontakt mit der Untersuchungsliege, entspricht der erreichte Aufrichtewinkel der Hüftgelenksextension (⊡ Abb. 27.1). Es schließt sich die Prüfung der Abduktion/Adduktion (Normal: 30–45°/0°/20–30°) in Streckstellung und Rückenlage sowie die Beurteilung der Außenrotation/Innenrotation bei 90° Flexion des ipsilateralen Knie- und Hüftgelenks an (Normal: 40–50°/0°/30–40°). Das Vorliegen einer Hüftbeugekontraktur wird mit dem Thomas-Handgriff geprüft. Dabei wird eine evtl. bestehende Hyperlordose durch maximales Anbeugen der kontralateralen Hüfte bei flektiertem Kniegelenk ausgeglichen. Eine Hüftbeugekontraktur zeigt sich durch den Grad der Abhebung der Oberschenkelrückseite des untersuchten Hüftgelenks von der Unterlage (⊡ Abb. 27.2).
⊡ Abb. 27.1 Volle Streckbarkeit der rechten Hüfte bei der Prüfung in Rückenlage. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
⊡ Abb. 27.2 Thomas-Handgriff: 25° Beugekontraktur der rechten Hüfte. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
⊡ Abb. 27.3a–d Schmerzprovokation. Reduzierter Bewegungsumfang bei Innenrotation in Flexion (a) und unauffällige Außenrotation (b) sind Hinweis für ein femoroazetabuläres Impingement (FAI). Schmerzen bei rascher Innenrotation in Flexion/Adduktion (c) sprechen für ein kraniomediales FAI, Schmerzen bei rascher Außenrotation bzw. Außenrotation und Abduktion (d) für ein dorsokaudales FAI. (Aus: Leunig u. Ganz 2005)
27
713 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
Schmerzprovokation bei kombinierter Innenrotation und Adduktion lässt an eine Insertionstendinopathie des M. piriformis (»Piriformis-Syndrom«) denken. Schmerzen und reduzierter Bewegungsumfang bei Innenrotation in Flexion (⊡ Abb. 27.3a) bei gleichzeitig unauffälliger Außenrotation (⊡ Abb. 27.3b) ist Hinweis auf ein femoroazetabuläres Impingement (FAI). Schmerzen beim Provokationstest mit rascher Innenrotation in Flexion/Adduktion sprechen dabei eher für ein kraniomediales FAI (⊡ Abb. 27.3c), ein schmerzhafter Provokationstests (⊡ Abb. 27.3d) mit rascher Außenrotation bzw. Außenrotation und Abduktion für ein »dorsokaudales FAI«.
⊡ Tab. 27.1 Fortsetzung Kategorie
Punkte
2 Unterarmgehstützen oder kann gar nicht gehen
0
Gehdistanz Unbegrenzt
11
4–5 Blocks (4–5 km)
8
2–3 Blocks (2–3 km)
5
Nur im Hause
2
Nur auf dem Stuhl und im Bett
0
Treppensteigen
27.1.2
Scores und Klassifikationen
T. Renkawitz Die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie empfiehlt die Klassifikation der Koxarthrose nach Kellgren und Lawrence. Je nach radiologischem Befund wird hier die Arthrose in 4 Stadien eingeteilt: ▬ Stadium I: weitgehend normales Gelenk, geringe subchondrale Sklerosierung ▬ Stadium II: unregelmäßige Gelenkfläche, geringe Gelenkspaltverschmälerung und Osteophytenbildung ▬ Stadium III: deutliche Gelenkspaltverschmälerung und Osteophyten, deutliche Unregelmäßigkeiten der Gelenkfläche ▬ Stadium IV: ausgeprägte Gelenkspaltverschmälerung, große Osteophyten, Deformierung, Geröllzysten oder Nekrose des Hüftkopfes
Leicht möglich
4
Möglich mit Geländer
2
Mit Schwierigkeiten möglich
1
Treppensteigen unmöglich
0
Schuhe anziehen und Socken anziehen Leicht möglich
4
Schwierig
2
Anziehen unmöglich
0
Sitzen Sitzen auf allen Stühlen möglich für mindestens 1 h
5
Sitzen auf hohem Stuhl für mindestens 30 min möglich
3
Sitzen unmöglich
0
Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln Benutzung möglich
1
Benutzung unmöglich
0
C Fehlstellung ⊡ Tab. 27.1 Harris-Hip-Score Kategorie
Kontrakturen Punkte
A Schmerzen
Keine fixierte Abduktion ≥10°
1
Keine fixierte Innenrotation ≥10°
1
Keine Schmerzen
44
Keine fixierte Flexion ≥30°
1
Gelegentliche Schmerzen
40
Beinlängendifferenz <3,2 cm
1
Leichte Schmerzen
30
Mittlere Schmerzen
20
Starke Schmerzen
10
Körperbehinderung, Invalidität
0
B Funktion Hinken Kein
11
Leichtes
8
Mäßiges
5
Starkes
0
D Beweglichkeit Totaler Bewegungsumfang 300–210°
5
209–160°
4
159–100°
3
99–60°
2
59–30°
1
29–0°
0
Totaler Bewegungsumfang Gehhilfen Keine
11
1 Handstock für längere Strecken
7
1 Handstock ständig
5
1 Unterarmgehstütze ▼
3
300–210°
5
209–160°
4
159–100°
3
99– 60°
2
59–30°
1
29–0°
0
714
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Harris-Hip-Score
27
Eine der weitverbreitesten Scores zur Beurteilung der Hüftfunktion, v. a. vor und nach Implantation nach Hüfttotalendoprothesen, ist der Harris-Hip-Score. Maximal können in 4 Subkategorien 100 Punkte erreicht werden, gleichzusetzen mit einem beschwerdefreien Patienten bei einwandfreier Gelenkfunktion. Je geringer der Wert ist, desto stärker ausgeprägt sind die Beschwerden des Patienten. Punktwerte von 90–100 Punkten sind als sehr gut und Werte von 80–89 sind als gut zu werten. Punktwerte von 70–79 sind als befriedigend anzusehen. In der Subkategorie »Schmerzanamnese« sind maximal 44 Punkte zu vergeben. Je größer der Schmerz ist, um so geringer ist die Punktezahl. Für die Subkategorie »Funktion« sind maximal 47 Punkte zu vergeben. Dabei sind maximal 14 Punkte bei der Verrichtungen des täglichen Lebens und maximal 33 Punkte bei der Analyse des Gangbilds möglich. Die fehlenden 9 Punkte zur Maximalpunktzahl verteilen sich auf maximal 4 Punkte für Fehlhaltung und Deformität sowie maximal 5 Punkte für die Beweglichkeit (⊡ Tab. 27.1). Andere, verbreitete Scores zur prä- und postoperativen Beurteilung der Hüftfunktion sind der Score nach Merle d‘Aubigné und Postel, der Score nach Lequesne und Mitarbeitern (Index der Arthroseschwere von Hüfte und Knie) und der Larson Score (IOWA-Hip-Score).
27.1.3
Folgezustände kindlicher Erkrankungen
in Bauchlage durch Außenrotation auslösen lässt. Begleitend finden sich gehäuft ein Knick-Senk-Spreizfuß, valgisierte hypermobile Kniegelenke, Coxa valga, lumbale Hyperlordose und eine abgeschwächte unterer Bauchmuskulatur als Folge der statisch-dynamischen Störung der Hüftgelenksbeweglichkeit. Nativradiologische Röntgenaufnahmen zeigen die typische verringerte Überdachung der Hüftgelenke, charakterisiert durch den sog. Zentrum-Erker-Winkel (CE-Winkel, normal 30–35°) sowie eine ansteigende Orientierung der subchondralen Sklerosierung im Pfannendachbereich. z
Morbus Perthes Eine detaillierte Beschreibung des M. Perthes findet sich in Kap. 32. z
Zu den Erkrankungen des Hüftgelenks bei Kindern vgl. Abschn. 32.4.
Hüftdysplasie im Erwachsenenalter z
Ätiologie und Pathogenese
Durch die Fehlstellung von Hüftkopf und -pfanne sowie einer Fehlstatik der betroffenen Extremität und der Wirbelsäule kommt es zu einem unverhältnismäßig frühzeitigen Hüftgelenkverscheiß. z
Klinik
Betroffen sind häufig junge Frauen, die insbesondere bei sportlicher Aktivität Schmerzen im Leistenbereich verspüren. In den Anfangsstadien existiert gelegentlich ein »Ermüdungsgefühl« in den Hüftgelenken und den Beinen. z
Ätiologie und Pathogenese
M. Perthes ist eine Skelettreifungs- und Durchblutungsstörung des Femurkopfes mit verzögertem Wachstum zwischen 4 und 8 Jahren, Knaben sind etwa 4-mal häufiger betroffen als Mädchen. Die Erkrankung tritt in 10–20% bilateral auf. Es besteht eine höhere Erkrankungsinzidenz innerhalb weißer Bevölkerungsschichten.
Definition
Die Dysplasiekoxarthrose ist die arthrotische Spätfolge der kongenitalen Hüftgelenkdysplasie. Hüftdysplasien können auch Ursache für hüftgelenkbezogene Beschwerden bereits im jungen Erwachsenenalter sein. z
Definition
Aseptische Femurkopfnekrose des Kindes. Es handelt sich um eine eigene Entität der Femurkopfnekrosen, benannt nach den Erstbeschreibern von 1910 Perthes, Calvé und Legg (M. LeggCalvé-Perthes) oder kurz M. Perthes. z
T. Renkawitz
Therapie
Konservative Therapiemaßnahmen im Anfangsstadium. Bei Zunahme der Beschwerden mit Nacht-, Ruheschmerz, Einschränkung der Gehstrecke und Reduktion der Lebensqualität besteht die Indikation zur endoprothetischen Versorgung.
Diagnostik
In der klinischen Untersuchung findet man meist eine vermehrte Innenrotationsfähigkeit sowie einen Rotationsschmerz in der Leiste, der sich in Rückenlage durch Innenrotation und
z
Klassifikation
Radiologisch-morphologisch erfolgt die Einteilung nach Catterall, Salter und Thompson sowie nach Herring. Variabel kann die Erkrankung über mehrere Jahre 4 Stadien durchlaufen, das Kondensationsstadium, das Fragmentationsstadium, das Reparationsstadium und schließlich das Endstadium mit oder ohne Defektheilung. Das Endbild kann je nach Größe des betroffenen Areals eine »normale« Kopfform bis hin zur typischen Defektheilung einer pilzförmigen »Coxa magna« zeigen. z
Klinik
Typischerweise geben die Kinder Knieschmerzen an, seltener auch direkte Hüftschmerzen. Es zeigen sich intermittierendes Entlastungshinken, Bewegungseinschränkung und intraartikuläre Ergussbildung im betroffenen Hüftgelenk. z
Diagnostik
Nativradiologisch, frühe Stadien können kernspintomographisch diagnostiziert werden. Für Verlaufskontrollen kann die Ultraschalldiagnostik eingesetzt werden.
715 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
z
Therapie
Die Therapie verfolgt 3 wesentliche Zielsetzungen: ▬ Verbesserung der Gelenkbeweglichkeit ▬ Entlastung/Reduktion des Deformierungsrisikos ▬ Verbesserung der Gelenkkongruenz, des sog. »containments«, mit dem Ziel einer tiefen Einstellung des Kopfes in die Pfanne Therapiemaßnahmen umfassen Botulinumtoxininjektionen, Adduktorenverlängerungen, Orthesenbehandlung, Femuroder Beckenumstellungsosteotomien und physiotherapeutische Behandlung.
27.1.4
Femurkopfnekrose
diese neuformierten trabekulären Knochen durch eine erhöhte Knochendichte. In der nächsten Phase wird oft eine unkontrollierte und überschießende Ausbildung vom fibrotischem Narbengewebe gesehen, die die weitere Revaskularisierung und adäquate Neubildung von trabekulärem Knochen in der Nekrosezone verhindert. Letztlich wird durch die verminderte mechanische Stabilität des nekrotischen Knochens das Risiko trabekulärer Mikrofrakturen unter zyklischer Stresseinwirkung erhöht. Die Folge ist ein Kollaps des subchondralen Knochens mit kartilaginärer Desintegration und einem Konturverlust des Femurkopfes. Bedingt durch den Konturverlust des Femurkopfes wird eine rasch progrediente Zerstörung des Hüftgelenks mit Ausbildung einer sekundären Arthrose beobachtet. z
M. Tingart, J. Beckmann z
Definition
Die atraumatische Nekrose des Femurkopfes (FKN) ist eine lokal destruierende Erkrankung, die vorrangig Patienten zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr betrifft. Insbesondere für Patienten dieser Altersgruppe bedeuten die klinischen Beschwerden und therapeutischen Konsequenzen der FKN eine entscheidende Reduktion ihrer Lebensqualität mit einschneidenden Veränderungen für ihre weitere berufliche und private Lebensführung. In bis zu 70% der Fälle tritt die FKN beidseits auf. > Unbehandelt führt die FKN in über 85% der Fälle innerhalb von einigen Monaten bis wenigen Jahren zum Einbruch des Femurkopfes mit schweren sekundären Gelenkveränderungen, die oft einen frühzeitigen endoprothetischen Gelenkersatz erforderlich machen. z
Ätiologie und Pathophysiologie
Die Ätiologie der FKN ist multifaktoriell, allerdings scheint den meisten epidemiologischen Risikofaktoren gemeinsam, dass sie eine lokale Minderperfusion des Femurkopfes induzieren, die für die Ausbildung der Nekrose verantwortlich zeichnet. In epidemiologischen Studien konnte eine erhöhte Inzidenz der atraumatischen FKN bei Patienten mit renalen Erkrankungen, Alkoholabusus und Kortikosteroideinnahme nachgewiesen werden. Nach heutigem Wissensstand ist die atraumatische FKN in über 90% mit diesen Faktoren assoziiert. Die zugrundeliegenden Pathomechanismen sind allerdings bisher nur in Ansätzen bekannt. Als weitere Ursachen der atraumatischen FKN werden arterielle Gefäßdefekte, Mikrothrombosen, Fettembolien, venöse Verschlüsse und Koagulopathien diskutiert. Bei ausgedehnten Osteonekrosen des Femurkopfes bildet sich typischerweise eine konisch geformte avaskuläre Zone mit atypisch angeordneten Trabekulae und begleitender Fettzelleninfiltration aus. Der Randbereich dieses zentralen Sequesters ist durch eine erhöhte Gefäßdichte und reaktive Hyperämie gekennzeichnet. Begleitend wird in dieser Übergangszone ein erhöhter Knochenstoffwechsel mit Ausbildung neuer Trabekulae beobachtet. Im Röntgenbild imponieren
Klassifikation
Die Klassifikation der atraumatischen FKN kann sowohl nach der Einteilung von Ficat und Arlet (⊡ Tab. 27.2) als auch nach der ARCO-Klassifikation erfolgen. Entscheidend ist das Winkelmaß des Nekrosesektors.
z
Diagnostik
Die Röntgendiagnostik stellt nach wie vor die Standarduntersuchung zur bilddiagnostischen Abklärung einer FKN dar. Es werden hierzu Bilder im a.p.-Strahlengang sowie in einer zweiten Ebene (z. B. Lauenstein) empfohlen (⊡ Abb. 27.4). Durch die Röntgenuntersuchung können bereits eine Vielzahl von Differenzialdiagnosen der atraumatischen FKN ausgeschlossen werden. Allerdings führt die FKN selbst erst im Stadium III zu spezifischen Veränderungen im Röntgenbild in Form des Sichelzeichens (»crescent sign«). Es imponiert als subchondrale Aufhellungslinie, die auf eine subchondrale Fraktur und eine hieraus resultierende Knochenresorption zurückzuführen ist. Hingegen sind im Stadium II der FKN auf dem Nativröntgenbild allenfalls unspezifische Veränderungen erkennbar. Die MRT hat sich in den letzten Jahren zunehmend zur Frühdiagnostik der FKN etabliert. Sie weist in den Stadien I und II der FKN eine subchondrale nekrotische Läsion mit den typischen Veränderungen eines Knochenmarködems nach (⊡ Abb. 27.5).
⊡ Tab. 27.2 Klassifikation der FKN nach Ficat und Arlet Stadium
Beschreibung
I
Leistenschmerz, geringe Bewegungseinschränkung, Röntgendiagnostik ohne Befund, ggf. Erguss im Ultraschall
II
Unspezifische Röntgenveränderungen: Sklerosierung, Zystenbildung im Femurkopf
III
Sichelzeichen (»crescent sign«), Sequestrierung des Knorpels
IV
Subchondrale Fraktur, Zusammenbruch des Femurkopfes
27
716
27
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Abb. 27.4 Röntgenbild (Lauenstein-Aufnahme) der rechten Hüfte eines 47-jährigen männlichen Patienten mit beginnenden subchondralen Strukturunregelmäßigkeiten des Femurkopfes
⊡ Abb. 27.5 Die MRT zeigt ausgeprägte scharf begrenzte nekrotische Areale ventrokranial im rechten Femurkopf
z Therapie z z Konservative Therapie
Nöth und Mitarbeiter (2007) betonen, dass sich die verschiedenen chirurgischen Therapiekonzepte in den letzten 10 Jahren wesentlich geändert haben. Die klassische Anbohrung hat demnach an klinischer Bedeutung verloren und wird mit unterschiedlichen zusätzlichen Maßnahmen zur Stimulierung der Reparaturkapazität kombiniert (Knochentransplantate, Zytokine, Knochenwachstumsproteine). Im Gegensatz zu dieser Weiterentwicklung der Anbohrung mit Spongiosaplastik wurden die Indikationen für verschiedene Umstellungsosteotomien deutlich eingeschränkt. Sie müssen einerseits mit den neuen, weniger invasiven gelenkerhaltenden Eingriffen und andererseits mit den ausgezeichneten, mittelfristigen Ergebnissen des Gelenkersatzes konkurrieren. Gerade bei jungen Patienten mit FKN werden vermehrt verschiedene Oberflächen- und Teilgelenkersatztechniken sowie Totalendoprothesen mit neuen Gleitpaarungen eingesetzt. Eine Diffenzialdiagnose der Osteonekrose stellt die transiente Osteoporose des proximalen Femurs dar. Das transiente Knochenmarködem wird von einigen Autoren als Vorstadium einer Osteonekrose betrachtet. Ältere Literatur sieht in der transienten Osteoporose eine Art Reflexdysthrophie dieses Abschnitts des Bewegungsapparates. Es gibt in der Literatur sowohl konservative als auch operative Therapieempfehlungen. Neuere Arbeiten sehen wie bei den Frühstadien der Kopfnekrose die Anbohrung vor, um eine frühestmögliche Beschwerdefreiheit zu erlangen.
Die konservative Therapie der FKN wird in der Literatur kontrovers diskutiert, wobei unterschiedliche konservative Therapieoptionen aufgeführt werden. Der therapeutische Nutzen der Magnetfeldtherapie in der Behandlung der FKN ist bis heute nicht bewiesen, Gleiches gilt für die Stoßwellenbehandlung und die hyperbare Oxygenierung. Medikamentöse Therapieansätze mittels peripherer Vasodilatatoren (z. B. Ilomedin) oder Kalziumantagonisten stellen weitere konservative Therapieversuche dar. Ein abschließender Nachweis ihrer Wirksamkeit bei der FKN konnte jedoch bisher nicht erbracht werden. z z Operative Therapie
Bei der operativen Therapie früher Stadien der FKN kommt der Anbohrung mit Dekompression eine zentrale Bedeutung zu. In Studien mit mittleren bzw. hohen Fallzahlen von 62– 300 Patienten und einer mittleren Nachuntersuchungszeit von 3,3–15 Jahren wird – in Abhängigkeit des FKN-Stadiums zum Zeitpunkt der Anbohrung – für das Stadium I eine Erfolgsrate von 84–100%, für das Stadium II von 47–84% und für das Stadium III von 0–23% beschrieben. Hierbei favorisieren einige Autoren die Anbohrung mit nachfolgender Spongiosaplastik im Stadium I und II. Grifka und Mitarbeiter (2000) erzielten nach Anbohrung einschließlich Spongiosaumkehrplastik in 73% der Fälle (Stadium I/II) ein sehr gutes oder gutes Ergebnis. Im Stadium III schein darüber hinaus in ausgewählten Fällen die Umstellungsosteotomie eine Alternative zur frühzeitigen endoprothetischen Versorgung darzustellen. Mont und Mitarbeiter (1998) berichten in einer retrospektiven Studie über 76% sehr gute und gute Ergebnisse im Harris-Hip-Score nach Umstellungsosteotomie. > Bei Patienten mit einer fortgeschrittenen FKN (Stadium III und IV) und einer ausgeprägten Nekrose bzw. einem Kollaps des Femurkopfes stellt der endoprothetische Ersatz des Hüftgelenks weiterhin den Goldstandard dar.
27.1.5
Hüftarthrose
T. Renkawitz, T. Kalteis, J. Grifka z
Synonyme
Arthrose des Hüftgelenks, Koxarthrose, Arthrosis deformans des Hüftgelenks, Osteoarthrose des Hüftgelenks. z
Definition
Sammelbegriff für degenerative Veränderungen des Hüftgelenks mit progressiver Zerstörung des Gelenkknorpels und konsekutiver Schädigung des Knochens unter Mitreaktion der
717 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
umgebenden Weichteilstrukturen (synoviale und fibröse Gelenkkapsel, periartikuläre Muskulatur). Bei der primären (idiopathischen) Koxarthrose bleibt die Ursache der Gelenkdegeneration unbekannt. Betroffen sind zumeist Patienten nach dem 50. bis 60. Lebensjahr, die arthrotischen Veränderungen treten häufig beidseits auf. Sekundäre Arthrosen können bereits im jüngeren Lebensalter symptomatisch werden und sind ursächlich auf sogenannte »präarthrotische Deformitäten« und/oder Vor- bzw. Begleiterkrankungen zurückzuführen (s. Übersicht). z
Epidemiologie
Nach radiologischen Kriterien findet sich jenseits des 55. Lebensjahrs eine Koxarthrose bei etwa 15% der Bevölkerung, klinisch erkrankt sind dabei etwa 5%, davon 30–40% beidseitig (Valkenburg 1981). z
Ätiologie und Pathogenese
Risikofaktoren für die Erkrankung an einer Koxarthrose sind Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft. Mit zunehmendem Alter wachsen Prävalenz und Inzidenz. Vom 7. Lebensjahrzehnt an sind mehr Frauen als Männer betroffen. Kaukasier und amerikanische Indianer erkranken öfter als Asiaten oder Schwarzafrikaner (Sun 1997). Im Gegensatz zur Gonarthrose konnte bislang für die Koxarthrose keine eindeutige Korrelation zwischen Arthroseentstehung und Körpergewicht festgestellt werden, dennoch tragen Bewegungsmangel und Adipositas zweifelsohne zur Beschleunigung des Arthroseprozess und zur Verstärkung der klinischen Beschwerdesymptomatik bei.
Erkrankungen und präarthrotische Deformitäten als Ursache sekundärer Koxarthrosen
▬ Kongenitale Hüftdysplasie und -luxation ▬ Epiphyseolysis capitis femoris (Coxa vara epiphysarea) ▬ primäre oder sekundäre Hüftkopfnekrose (z. B. Coxa plana/magna bei M. Perthes)
▬ chronische rheumatische Arthritiden (z. B. juvenile Arthritis, primäre chronische Polyarthritis)
▬ septische Arthritiden ▬ posttraumatische Deformitäten nach Hüftgelenkverlet▬ ▬ ▬ ▬ z
zungen Chondromatose Arthropathie bei Hämophilie neuropathische Arthropathien Beinlängendifferenzen
Klassifikation
Der Ausprägungsgrad der Koxarthrose kann anhand der radiologischen Untersuchungsergebnisse nach Kellgren und Lawrence klassifiziert werden ( Abschn. 27.1.2). z
Klinik
Klinisch manifestiert sich die Koxarthrose zu Beginn häufig mit Leistenschmerzen nach längerer bzw. schwerer körperli-
cher Belastung, wobei die Schmerzen nach gluteal sowie nach distal ausstrahlen können. Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf treten zunehmende Anlauf- und Bewegungsschmerzen hinzu, im fortgeschrittenen Stadium Ruhe- und Nachtschmerzen. Druck- und Lagerungsschmerzen im Bereich des Trochanter major weisen auf begleitende Insertionstendinopathien oder auf eine Bursitis trochanterica hin. Infolge der Schmerzsymptomatik sowie der zunehmenden Kontrakturen wird das Gangbild hinkend und kleinschrittig. Die aufrechte Körperhaltung sowie Alltagstätigkeiten, beispielsweise die Fußpflege oder das Anziehen von Socken und Schuhen, werden schmerz- und kontrakturbedingt zunehmend eingeschränkt. z
Diagnostik
Einen strukturierten Überblick über die Abklärung von Hüftbeschwerden gibt der von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) und dem Berufsverband der Fachärzte für Orthopädie (BVO) erstelle Algorithmus (⊡ Abb. 27.6). Die Diagnose einer Koxarthrose kann in den meisten Fällen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anhand von Anamnese sowie klinischem und radiologischem Befund gestellt werden. Charakteristisch für den Untersuchungsbefund bei Koxarthrose ist die Einschränkung des Bewegungsumfangs in Innenrotation und Abduktion bzw. die Schmerzprovokation bei Rotation am erkrankten Hüftgelenk. Im Krankheitsverlauf treten Kontrakturen der Hüftbeugemuskulatur hinzu (vgl. ThomasTest). Bei fortgeschrittener Erkrankung kann bei der klinischen Untersuchung eine Schwäche der Abduktorenmuskulatur auffallen (vgl. Trendelenburg-Test). Die entscheidende bildgebende Untersuchungstechnik ist die nativradiologische Darstellung des betroffenen Hüftgelenks in 2 Ebenen. Zur Differenzialdiagnostik und Therapieplanung sind ggf. eine Hüftübersichtsaufnahme und/oder weitere Röntgenaufnahmen (z. B. Axialaufnahme, Falschprofilaufnahme und »cross-table view« zur Detektion eines femoroazetabulären Impingements) hilfreich. Typische radiologische Zeichen der Koxarthrose sind Gelenkspaltverschmälerung, Geröllzysten, subchondrale Sklerosierung und osteophytäre Anbauten. Diese Veränderungen müssen allerdings mit dem Ausmaß der Hüftbeschwerden und mit dem klinischen Befund nicht zwangsläufig korrelieren. Weitere bildgebende Verfahren (Sonographie, MRT, CT, Szintigraphie) können zur Differenzialdiagnose und bei Therapieresistenz notwendig werden. In Fällen unklarer Ätiologie der klinischen Beschwerdesymptomatik (beispielsweise bei Koxarthrose und begleitendem degenerativem LWS-Syndrom) kann im Rahmen differenzialdiagnostischer Überlegungen eine Gelenkinfiltration unter sterilen Kautelen und fluoroskopischer bzw. sonographischer Kontrolle weiterhelfen. Die temporäre Unterbrechung der Schmerzafferenzen aus dem Hüftgelenk hilft, den Effekt einer endoprothetischen Versorgung des Hüftgelenks hinsichtlich der Beschwerdelinderung abzuschätzen und die Operationsindikation zu sichern.
27
718
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
0
Patienten mit Hüftbeschwerden 1
Anamnese 2
klinische Untersuchung 3
bildgebende, laborchemische, sonst apparative Diagnostik
27
4
5
Hüftgelenkschmerz? ja nein
6
Coxarthose?
22
extraartikuläre Differentialdiagnosen
ja nein
u Stadieneinteilung (klinisch, radiologisch) u Orientierungskriterien für das therapeutischeVorgehen
21
intraartikuläre Differentialdiagnosen
7
konservative Therapie?
8
9
ambulant? ja
ja
Therapie erfolgreich?
nein 11
nein
stationäre Therapie
ja
12
13
Therapie erfolgreich?
ja
ggf. weitere konservative Therapie
nein 14
operative Therapie
16
u Beckenosteotomie u Osteotomie des coxalen Femur
15
Therapie gelenkerhaltend?
ja 17
Therapie erfolgreich?
nein 18
ja
nein
Therapie gelenkersetzend? 19
Hüftendoprothese u zementfrei u teilzementiert u zementiert 20
Nachbehandlung nach operativen Maßnahmen
⊡ Abb. 27.6 Diagnostik von Hüftbeschwerden: Algorithmus der DGOOC und dem BVO
10
regelmäßige Kontrollen
719 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
> Bei rascher Entwicklung der Koxarthrose treten reparative Veränderungen in den Hintergrund, sodass radiologisch das Bild einer postinfektiösen oder neuropathischen Arthritis vorgetäuscht werden kann .
Die beschriebenen Röntgenbefunde treten in variabler Ausprägung auch bei sekundären Koxarthrosen auf, wobei die Charakteristika der Grundleiden auf die sekundäre Genese der Koxarthrose hinweisen (⊡ Abb. 27.7). z
Differenzialdiagnosen
Bei der Diagnosestellung und Therapieplanung müssen unter differenzialdiagnostischen Aspekten neben intraartikulären auch extraartikuläre Differenzialdiagnosen bedacht und ggf. einer entsprechenden Abklärung zugeführt werden.
Differenzialdiagnosen bei Verdacht auf Koxarthrose
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ z
kommen balneophysikalische, thermo- oder elektrotherapeutische Anwendungen zum Einsatz. Symptomatisch können nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAR) bzw. Cox-2-Inhibitoren zur analgetischen und antiphlogistischen Behandlung eingesetzt werden. Intraartikuläre Injektionen am Hüftgelenk sollten nur unter sterilen Kautelen und sonographischer bzw. fluoroskopischer Kontrolle erfolgen. Wegen der Gefahr der iatrogenen Keimverschleppung sollten derartige Injektionen nach Indikationsstellungen zum endoprothetischen Gelenkersatz nicht mehr durchgeführt werden.
Pincer- und Cam-Impingement Hüftkopfnekrosen Labrumeinrisse Hüftdysplasie Bursitis trochanterica peritrochantäre Insertionstendinopathien Tractus-iliotibialis-Syndrom Coxa saltans Iliosakralfugensyndrom vertebragene Ursachen Osteoporose entzündlich-rheumatische Gelenkerkrankungen Infektionen (bakteriell, viral) Schenkelhals- und Azetabulumfrakturen intraabdominelle und gynäkolgische Erkrankungen Tumoren und Metastasen Angiopathien u. a.
z z Operative Therapie
Operative Eingriffe sind indiziert, wenn nach Ausschöpfen der konservativen Therapiemaßnahmen Schmerzen und Funktionseinschränkungen des Hüftgelenks weiterbestehen. Bei weit fortgeschrittener Arthrose sind hierbei die Schilderung von nächtlichem Ruheschmerz, Einschränkung der Gehstrecke auf wenige hundert Meter und der Notwendigkeit einer regelmäßigen Analgetikaeinnahme wegweisend. In Abhängigkeit vom Erkrankungsstadium stehen unterschiedliche operative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Umstellungsosteotomien
Im Rahmen der Behandlung der Koxarthrose sind gelenkerhaltende Operationsverfahren nur in ausgewählten Fällen Erfolg versprechend. Allerdings sollte insbesondere bei frühzeitiger Diagnose präarthrotischer Deformitäten (z. B. Hüftdysplasie, Coxa vara epiphysarea) und bei jungen Patienten stets auch die Möglichkeit eines gelenkerhaltenden Vorgehens in Erwägung gezogen werden. Bei sekundärer Koxarthrose infolge einer kongenitalen Hüftdysplasie kann bei jungen Patienten beispielsweise eine Beckenosteotomie, ggf. kombiniert mit einer intertrochantären Umstellungsosteotomie, die mechani-
Therapie
Die Therapieplanung beim Vorliegen einer Hüftarthrose erfolgt abhängig von der Schmerzsymptomatik, der Einschränkung der Lebensqualität des Patienten und der bereits eingetretenen arthrotischen Schädigung der Gelenkflächen. Bei weit fortgeschrittener Arthrose kann die konservative Therapie Schmerzen und Funktionseinschränkungen des Hüftgelenks oftmals nur gering positiv beeinflussen. Grundlegende Informationen im Patientengespräch nach Erstdiagnose einer Koxarthrose beinhalten die Aufklärung über den spontanen Krankheitsverlauf, Alltagsverhalten, Einflussfaktoren (z. B. Übergewicht, Bewegungsmangel) sowie Empfehlungen zur angemessenen körperlichen Betätigung zur Prophylaxe muskulärer Defizite.
b
z z Konservative Therapie
Neben einer orthopädietechnischen Versorgung (Pufferabsätze, Entlastungsorthesen, Keilkissen, Verwendung eines kontralateral geführten Gehstocks u. a.) kommen physiotherapeutische und manuelle Therapieverfahren zur Anwendung. Begleitend
a
⊡ Abb. 27.7a,b Sekundäre Koxarthrose bei »Ausheilung« einer idiopathischen Hüftkopfnekrose mit Deformität (Coxa plana) des Hüftkopfes
27
720
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
sche Gelenkbelastung verbessern, das Fortschreiten der Arthrose verlangsamen und die Schmerzsymptomatik verringern (s. Übersicht). Entscheidend ist dabei, dass der Eingriff frühzeitig vor Ausbildung fortgeschrittener sekundärarthrotischer Veränderungen durchgeführt wird, die klinisch und radiologisch ausgeschlossen werden müssen. Ergänzende Röntgenaufnahmen (in Ab- und Adduktion) und eine MRT können die anatomische Ausgangssituation sowie die Möglichkeit einer operativen Kongruenzverbesserung darstellen und bei der Therapieentscheidung helfen.
Varisierende intertrochantäre Femurosteotomie
▬ Präoperative Planung auf Grundlage von Funktionsaufnahmen (Ab- und Adduktion) des Hüftgelenks
▬ nach Planung Wahl einer geeigneten 90°-Winkelplatte
▬ ▬ ▬
Dreifachbeckenosteotomie nach Tönnis
27
▬ Osteotomie des Os ischiadicum: – Lagerung des Patienten in Bauchlage – schräge Hautinzision über Sitzbeinhöcker im Verlauf des M. gluteus maximus – stumpfes Eingehen durch Spreizen der Muskelfasern – Orientierung an Tuber ischiadicum und Lig. sacrotuberale – partielles Ablösen des M. obturator internus und der Mm. gemelli proximal des Tuber ischiadicum – Darstellen des Sitzbeinastes vom Sitzbeinhöcker bis zur Incisura ischiadica – schräge Osteotomie des Sitzbeinastes – Wundverschluss
▬ Osteotomie des Os pubis: – Umlagerung in Rückenlage – mediale Inzision parallel zum Leistenband – Darstellen des Schambeinastes medial der Psoassehne sowie der neurovaskulären Strukturen – gelenknahe Osteotomie des Os pubis
▬ Osteotomie des Os ilium: – anterolaterale Inzision parallel zur Crista iliaca – subperiostales Ablösen der Muskulatur vom Beckenkamm und der Beckenschaufel – Darstellen der Incisura ischiadica – Einsetzen eines Steinmann-Nagels oberhalb des Pfannendaches, distal der geplanten Osteotomie (»joystick«) – stufenförmige Osteotomie des Os ilium von kraniallateral nach kaudal-medial mit ca. 2,5 cm Abstand zum Azetabulum – Schwenken des Azetabulums nach distal und lateral – Testen des Bewegungsumfangs im Hüftgelenk – osteosynthetische Stabilisierung der Osteotomie (Kirschner-Drähte und/oder Schrauben) Anmerkung: Zwischenzeitlich werden zahlreiche Modifikationen der Operationstechnik nach Tönnis beschrieben.
Alleinige femorale Umstellungsosteotomien können beispielsweise indiziert sein bei Adoleszenten mit posttraumatischen Deformitäten, Coxa vara epiphysarea oder Hüftkopfnekrosen. Mit zunehmenden Arthrosestadien und Patientenalter sinken die Erfolgsaussichten gelenkerhaltender Operationsverfahren.
▬ ▬ ▬ ▬
mit Offset für die erforderliche Medialverschiebung des distalen Fragments (physiologische Lastverteilung im Kniegelenk) lateraler Zugang zum proximalen Femur Einbringen von Kirschner-Drähten proximal und distal der geplanten Osteotomie zur Rotationskontrolle unter Bildwandlerkontrolle Einbringen eines Markierungsdrahtes entlang der kranialen Schenkelhalskortikalis unter Verwendung der Zieldreiecke Einsetzen des Plattensitzinstruments zum Vorschneiden des Kanals für die Winkelplatte quere Osteotomie proximal des Trochanter minor Kippen des proximalen Femurfragments in die gewünscht Varusposition, Resektion eines medialen Keils am proximalen Fragment Setzen der Winkelplatte, Fixation unter Verwendung eines Plattenspanners
Hüftarthroskopie
Aufgrund von operationstechnischen und instrumentellen Weiterentwicklungen hat die Hüftarthroskopie in den vergangenen Jahren bei der operativen Behandlung von Labrumläsionen, Erkrankungen der Synovialmembran und der Behandlung des femoroazetabulären Impingements gewonnen. Bei gering bis mäßig fortgeschrittenen arthrotischen Veränderungen kann in Einzelfällen durch die arthroskopische Gelenkdistension, Synovektomie, Bergung freier Gelenkkörper, Behandlung von degenerativen Labrumläsionen sowie durch Kapsel-Release eine temporäre Beschwerdelinderung und eine Funktionsverbesserung erreicht werden.
27.1.6
Hüftendoprothetik
T. Renkawitz, T. Kalteis, J. Grifka In Deutschland werden gegenwärtig jährlich etwa 190.000 Hüftgelenktotalendoprothesen implantiert. Die endoprothetische Versorgung des Hüftgelenks umfasst dabei in der Regel den Ersatz der Gelenkflächen an Hüftpfanne und Femurkopf. Die Hemiarthroplastik als alleiniger Femurkopfersatz stellt im Rahmen der elektiven Therapie der Koxarthrose die Ausnahme dar und wird im Rahmen der Frakturversorgung bei Patienten hohen Alters und/oder vorbestehender Immobilisierung sowie eingeschränkter Operationsfähigkeit durchgeführt. Nationale Endoprothesenregistern in Australien und den skandinavischen Ländern zufolge wird für etablierte Hüfttotalendoprothesensysteme bei über 90% eine Überlebensdauer von annähernd 15 Jahren erwartet (Australian Orthopaedic Association 2008, Swedish Hip Arthroplasty Register 2008). Ungünstige Implantatpositionen, postoperative Überbelastung,
721 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
perioperative Komplikationen (z. B. Frakturen, Infektionen) oder systemische Begleiterkrankungen (z. B. Osteoporose, Osteonekrosen) beeinflussen die Standzeiten von Endoprothesen signifikant und machen Revisionseingriffe erforderlich. Eine optimierte Ausrichtung der Hüftpfanne und des Femurimplantats beeinflussen neben Implantatmaterialien und tribologischen Eigenschaften der Gleitpaarungen entscheidend die postoperative Funktionalität und die lange Überlebensdauer der Endoprothese. Fehlpositionierte Hüftpfannen sind beispielsweise eine wichtige Ursache für postoperative Instabilität und rezidivierende Luxationen des künstlichen Hüftgelenks (⊡ Abb. 27.8). Schaftpositionen mit konsekutiv zu geringem oder zu weitem Abstand des Oberschenkels vom Becken (»Off-
set«) können zu Muskelinsuffizienzen führen. Postoperative Beinlängenunterschieden führen zur Patientenunzufriedenheit und ohne Ausgleich zu sekundären Fehlstellungen an Becken und Wirbelsäule. Das herausfordernde Ziel beim endoprothetischen Gelenkersatz ist somit eine biomechanisch optimierte Gelenkrekonstruktion mit postoperativ optimiertem Bewegungsumfang (»range of motion«) ohne knöcherne oder metallische Einklemmungsphänomene (Impingement) und minimiertem Abrieb der Gelenkpartner zu erreichen (Williams 2008, Widmer 2004, Peterno 1997, D’Lima 2000). > Grundlage dabei ist eine sorgfältige präoperative Operationsplanung unter Berücksichtigung der individuellen Patientenanatomie (⊡ Abb. 27.9).
Computerassistierte Operationsverfahren reduzieren dabei in der Hüftendoprothetik die Variabilität der Pfannenpositionierung und werden mit hoher Reliabilität bei der intraoperativen Messung von Beinlänge und Offset eingesetzt (Renkawitz 2009).
Zugangswege
⊡ Abb. 27.8 Luxation bei fehlerhafter Pfannenposition
Der Zugang zum Hüftgelenk kann über mehrere Wege erfolgen (⊡ Tab. 27.3). Abhängig von der Schnittführung wird dabei eine Lagerung des Patienten in Rücken- oder Seitenlage gewählt. Bei lateralen Zugangswegen kann der Patient sowohl in Rückenlage als auch in Seitenlage operiert werden. Die Schnittführung liegt über dem Bereich des Trochanter major und erfordert die Durchtrennung des Tractus iliotibialis sowie teilweise der Gesäßmuskulatur (Mm. glutei medius und minimus; z. B. lateraler Zugang nach Bauer, s. unten). Beim dorsalen Zugang wird eine Schnittführung dorsal des Trochantermassivs gewählt, deshalb ist bei diesem Operationsverfahren eine Seitlagerung des Patienten erforderlich. Auch hier müssen Muskeln (M. piriformis) und Muskelsehnenansatzzonen mehr oder minder temporär umfangreich abgelöst werden, um ausreichend Übersicht auf die Schenkelhals- und Hüftkopfregion zu gewinnen und dann die Hüftgelenkkomponenten in regelrechter Stellung zueinander zu implantieren. Neuere minimal-invasive oder »less-invasive« Zugangswege schonen hingegen weichteilige Strukturen wie den Tractus iliotibialis und die Glutealmuskulatur. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass Muskulatur nicht durchtrennt bzw. abgelöst werden muss (z. B. minimal-invasiver anteriorer Zugang, s. unten). Bei unveränderter Intaktheit der Abduktoren sind Patienten postoperativ früh schmerzfreier und schneller mobilisierbar. Unabhängig vom gewählten operativen Zugangsweg bleibt die postoperative Biologie unverändert – Wundheilung und entsprechender Muskelaufbau benötigen Zeit. Lateraler Zugang nach Bauer
⊡ Abb. 27.9 Präoperative Planung mithilfe eines digitalen Bildbearbeitungsprogramms
Ein seit Jahrzehnten weit verbreiteter Zugangsweg zur Hüfte stellt der laterale, transgluteale Zugang nach Bauer dar, der 1973 in der Orthopädischen Klinik der Universität Innsbruck entwickelt wurde. Üblicherweise erfolgt die Hautinzision in Rückenlage des Patienten von proximodorsal des Trochanter major diagonal in ventrodistaler Richtung über die Mitte des
27
722
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Tab. 27.3 Gegenüberstellende Darstellung des lateralen transglutealen Zugangs nach Bauer und des minimal-invasiven anterioren Zugangsweges
27
Vorteile
Nachteile
Gefährdete Strukturen
Lateraler transglutealer Zugang nach Bauer
Kann in Rücken- und Seitenlage operiert werden erweiterte Darstellung des Femurs durch weitergehende Mobilisation möglich Implantation unterschiedlicher Schaftgeometrien möglich, Standard-OP-Instrumentarium verwendbar kleineres Luxationsrisiko als bei posteriorem Zugang
M. gluteus medius und M. vastus lateralis werden inzidiert Trochanterschmerzen und Hinken aufgrund einer Dehiszenz genähter Abduktoren möglich
N. gluteus superior (innerviert M. tensor fasciae latae, Mm. gluteus medius und minimus; enthält nahezu ausschließlich motorische Nervenfasern) Verletzung bzw. Lähmung führt zum klinischen Bild des Trendelenburg-Hinkens
Minimal-invasiver anteriorer Zugang
Ablösen von Sehnen oder Muskeln nur in geringem Umfang Bearbeitung des Femurschafts in Extension zur Vermeidung der Abduktorenschädigung rascher Schmerzrückgang, schnelle frühfunktionelle Rehabilitation
Verringerte intraoperative Übersicht (v. a. während der Femurpräparation) anspruchsvolle Operationstechnik Spezialinstrumente notwendig
Sehnen der kurzen Außenrotatoren beim posterioren Kapselschnitt
Trochantermassivs, wobei der proximale Anteil ca. 20% länger ist. Die Inzision des Tractus illiotibialis erfolgt anschließend parallel zur Hautschnittrichtung, proximal und distal jeweils um ca. 2 cm länger inzidiert als der darüber gelegene Hautschnitt. Anschließend werden die Mm. glutei medius und minimus sowie M. vastus lateralis mit dem Diathermiegerät in ihrem vorderen Drittel im Faserverlauf unter Erhalt der Kontinuität zwischen tendoperiostalem Gewebe und Muskulatur der Mm. glutei und des M. vastus lateralis gespalten (⊡ Abb. 27.10). Nach Darstellung der Gelenkkapseloberfläche erfolgt die Toder flügeltürförmige Kapsulotomie (⊡ Abb. 27.11). Anschließend wird der Hüftkopf unter vorsichtiger Adduktion und Außenrotation des Beins mit dem Luxationslöffel nach ventral aus dem Azetabulum gehebelt. Es folgt die Schenkelhalsosteotomie und die Resektion des Hüftkopfes. Nun wird das Azetabulum mithilfe gebogener Haken dargestellt, lose Kapselteile und das Labrum werden reseziert. Mit Fräsen aufsteigender Größe wird die Hüftpfanne schrittweise bis zum erforderlichen Innendurchmesser aufgefräst und die Probepfanne eingesetzt bzw. anschließend die Originalpfanne und das Inlay implantiert. Zur femoralen Markraumpräparation wird das Bein in die sog. Viererposition (Beugung im Knie mit Flexion, Außenrotation und Abduktion in der Hüfte) gebracht und die Markhöhle zuerst mit einem Kastenmeißel eröffnet, anschließend mit Formraspeln unter Beachtung der femoralen Antetorsion erweitert. Nach Einbringen des passenden Femurschafts und Wahl der passenden Kopfgröße erfolgt die endgültige Reposition. Der Wundverschluss erfolgt durch Adaptation des muskulotendoperiostalen Gewebes unter sicherer Naht des Tractus iliotibialis durch Einzelnähte. Minimal-invasiver anteriorer Zugang (Micro-Hip®)
Der Patient befindet sich in Seitenlage mit Stabilisierung des Beckens an der Symphyse und am Sakrum. Der Operateur steht
ventral des Patienten. Das dorsale Fußteil des Operationstisches wird entfernt, damit das Bein zur intraoperativen Darstellung des Femurs nach dorsal in Hyperextension gebracht werden kann (⊡ Abb. 27.12). Der Hautschnitt erfolgt auf einer Linie, welche die Spina iliaca anterior superior und die vordere Kante der Mitte des Trochantermassivs verbindet. Die Inzision beginnt auf mittlerer Höhe des Trochanter major an dessen ventraler Begrenzung und zieht ca. 5–7 cm in Richtung der Spina iliaca anterior superior. Die Subkutis wird bis auf die Faszie durchtrennt und der Tractus mit der Faszie dargestellt. Nach Inzision der Tractusfaszie am vorderen Rand wird die Muskellücke zwischen M. tensor fasciae latae und M. rectus bzw. M. sartorius aufgesucht und stumpf präpariert. > In diesem Intervall zieht der Nervenast des N. gluteus superior zum M. tensor fasciae latae, der bei diesem Zugangsweg geschont werden kann (⊡ Abb. 27.13). Eine postoperative Minderfunktion des M. tensor fasciae latae und damit verbundene Einschränkungen (z. B. beim Nordic-Walking oder Fahrradfahren) wird somit umgangen.
Die dargestellte Gelenkkapsel (⊡ Abb. 27.14) wird T- oder Hförmig inzidiert und der darunterliegende Schenkelhals mit stumpfen Haken umfahren. Es folgen die Osteotomie des Schenkelhalses und die Extraktion des Hüftkopfes. Bei der anschließenden Präparation des Azetabulums werden gewinkelte (gekröpfte) Fräser benutzt. Beim Einsetzen der Pfanne muss darauf geachtet werden, nicht zu viel Anteversion einzustellen. Optimalerweise kontrolliert der Operateur dabei die Pfanneninklination und -anteversion mithilfe eines bildfreien Navigationsverfahrens (⊡ Abb. 27.15). Zur Darstellung der femoralen Eingangsebene wird das Femur anschließend unter schrittweisem dorsalem Kapsel-
723 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
M. gluteus med.
M. tensor fasciae latae Trochanter major
M. vastus lat.
M. gluteus max.
⊡ Abb. 27.10 Spaltung der Fascia lata in Richtung des Hautschnitts zwischen M. tensor fasciae latae und M. gluteus maximus. (Aus: Bonnaire u. Muller 2001)
Capsula articularis M. iliopsoas M. rectus fem.
M. vastus lat.
M. gluteus med. M. gluteus minim.
Bursa trochanterica
Release in eine Außenrotations-Hyperextensions-Stellung gebracht. Dazu führt der Assistent das Bein nach hinten unten in eine dort angebrachte sterile Tasche. Wichtig zur Beurteilung der Antetorsion ist, dass der Unterschenkel senkrecht zum
⊡ Abb. 27.11 Die ventrale Kapsel des Hüftgelenks wird umgekehrt T-förmig eröffnet. Dabei erfolgt die Längsinzision am Scheitelpunkt des Schenkelhalses in Richtung der Schenkelhalsachse, die Basis des Kapselansatzes wird am Trochantermassiv abgelöst. (Aus: Bonnaire u. Muller 2001)
Boden ausgerichtet ist. Nach Einbringen des Femurschafts und Wahl der passenden Kopfgröße erfolgt die endgültige Reposition. Die Faszie wird abschließend mit fortlaufender Naht verschlossen.
27
724
27
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Abb. 27.12 Seitlagerung des Patienten auf dem Operationstisch. Das dorsale Fußteil wird zur Hyperextension des Femurs entfernt. Mit freundlicher Genehmigung der Fa. dePuy Orthopädie
⊡ Abb. 27.15 Kontrolle der Pfannenposition mit einem bildfreien Navigationssystem
Implantatmaterialien ⊡ Abb. 27.13 N. gluteus superior im Intervall zwischen M. tensor fasciae latae und M. rectus
⊡ Abb. 27.14 Darstellung der Gelenkkapsel nach stumpfer Präparation durch die Muskellücke zwischen M. tensor fasciae latae und M. rectus bzw. M. sartorius
Wichtige Anforderungen, die an jedes orthopädische Implantat gestellt werden, sind eine hohe Biokompabilität (biologische Ungiftigkeit) und sehr gute Biofunktionsfähigkeit (Fähigkeit des Implantats, den beabsichtigten Zweck während der voraussichtlichen Verweilzeit im Körper zu erfüllen). Um die Gelenkfunktion dauerhaft übernehmen zu können, müssen Werkstoffe in der Hüftendoprothetik deshalb eine hohe Verschleißbeständigkeit, dauerhafte mechanische Festigkeit sowie eine gute Körperverträglichkeit und Korrosionsbeständigkeit aufweisen. Implantate aus Kobaltbasislegierung (Hauptbestandteile Kobalt, Chrom, Molybdän, Nickel) werden üblicherweise für die Herstellung zementiert verankerter Implantate verwendet, Implantate aus Titanbasislegierung (Hauptbestandteile Aluminium, Vanadium, Niob oder Eisen) aufgrund der günstigeren Biokompatibilität und verbesserten Osseointegration für die zementfreie Verankerung. Auch weisen Implantate aus Kobaltbasislegierung im Vergleich zu den Implantaten aus Titanbasislegierung ein günstigeres Elastizitätsmodul auf, das allerdings immer noch deutlich über dem Elastizitätsmodul des menschlichen Knochens liegt. Endoprothesen aus Titanbasislegierung werden üblicherweise auch bei der Versorgung von Patienten mit bekannter Nickelallergie (Metallallergie) implantiert. Die metallischen Implantate werden im Guss- oder Schmiedever-
725 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
⊡ Tab. 27.4 Abriebraten der Materialkombinationen in der Hüftendoprothetik
▬ proximaler Schaftverschluss: erhöhter Zementdruck
Gleitpaarung
Linearer Abrieb [mm/Jahr]
▬ Anmischen des PMMA-Zements unter Vakuum:
Metall-Polyäthylen
0,2
Keramik-Polyäthylen
0,1
Metall-Metall
0,01
Keramik-Keramik
0,005
beim Zementiervorgang
fahren hergestellt, wobei bei geschmiedeten Implantaten die mechanische Biegefestigkeit erhöht ist (Ungethüm 1992). Neben den zementfrei implantierten metallischen Implantaten können für den Pfannenersatz alternativ zementierte Polyäthylenimplantate verwendet werden. Angesichts der hohen Beanspruchung der Gelenkendoprothesen sind günstige tribologische Verhältnisse der Gelenkflächen entscheidend, um den auftretenden Abrieb und Verschleiß gering zu halten. In vitro und in vivo zeigen insbesondere Hart-HartPaarungen (Keramik-Keramik, Metall-Metall, Metall-Keramik) im Vergleich zu den Hart-Weich-Kombinationen (Metall-Polyäthylen, Keramik-Polyäthylen) geringere Abriebraten (⊡ Tab. 27.4). Als Nachteile der Hart-Hart-Paarungen werden jedoch Ermüdungsbrüche der keramischen Werkstoffe bzw. erhöhte lokale und systemische Metallionenkonzentrationen beobachtet. Daher kommen gegenwärtig in der Hüftendoprothetik in höheren Zahlen Hart-Weich-Paarungen) zum Einsatz, ein Polyäthylen-Inlay kombiniert mit einem metallischen oder keramischen Hüftkopf. Es bleibt aber die Feststellung: Metall bricht nicht!
Implantatverankerung Die zementierte Verankerung war nach Einführung von Polymethylmethacrylat (PMMA) durch Charnley jahrzehntelang der Standard in der Hüftendoprothetik. Zwischenzeitlich tritt die zementierte Verankerung der Pfanne und des Schaftes (vollzementierte HTEP), nur des Schaftes oder seltener nur der Pfanne (teilzementierte HTEP oder Hybrid-HTEP) im Vergleich zur zementfreien Verankerung zahlenmäßig zunehmend in den Hintergrund. Eine suffiziente zementierte Implantatverankerung setzt neben spongiösen Knochen für eine Interdigitation des Knochenzements eine sorgsame Zementiertechnik voraus (s. Übersicht). Um eine Zementzerrüttung zu vermeiden, sollten bei einer zementierten Verankerung Implantate mit glattpolierten Oberflächen verwendet werden.
verbesserte Zementqualität durch Reduktion von Gaseinschlüssen, dadurch erhöhte Ermüdungsbruchfestigkeit des Knochenzements
Für die zementfreie Implantatverankerung werden in der Regel Implantate aus Titanlegierungen mit spezieller osteokonduktiver Oberflächenstrukturierung verwendet. Die für die Osseointegration erforderliche Oberflächenrauigkeit kann beispielsweise durch Korundstrahlung, Plasmaspraybeschichtung oder Anbringung spezieller Metallgitter, -netze oder -kugeln zur Vergrößerung der Implantatoberfläche erreicht werden. Teilweise werden die Implantate zusätzlich mit osteoinduktiven Materialien (z. B. Hydroxylapatit) beschichtet (⊡ Abb. 27.16). Die Wahl der Implantatverankerung erfolgt nicht streng nach Altersgrenzen, sondern orientiert sich im Wesentlichen an der intraoperativen Beurteilung der Knochenqualität bei der Pfannen- und Schaftraumpräparation. Es ist durchaus möglich, zementfreie Implantate auch bei Patienten höheren Alters mit ausreichender Primärstabilität zu implantieren und postoperativ eine zunehmende Vollbelastung zu erlauben.
Implantatdesign Die femoralen Implantate unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich Implantatdesign, Schaftlänge, Ort der Kraftübertragung und Verankerung. Standardschäfte für die Primärendoprothetik sind Geradschaftprothesen oder anatomische Schaftdesigns mit metaphysärer bzw. längerer diaphysärer Krafteinleitung (⊡ Abb. 27.17 bis ⊡ Abb. 27.19). Zahlreiche langfristige Nachuntersuchungen und prospektive Erhebungen im Rahmen von Endoprothesenregistern weisen für diese Stan-
b
Bestandteile der modernen Zementiertechnik
▬ Pulsatile Hochdruckspülung (Jet-Lavage): verbesserte Penetration des Knochenzements und verringertes Risiko von Fettembolien durch Ausspülen von Blut und Fett ▬ Markraumstopper: Vermeiden von Zementfahnen im distalen Femur, erhöhter Zementdruck beim Zementier▼ vorgang
a
⊡ Abb. 27.16a,b Geradschaft mit Hydroxylapatitbeschichtung zur zementfreien Implantation. a Übersicht (mit freundlicher Genehmigung der Fa. dePuy Orthopädie), b Detail der Oberfläche
27
726
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
a
27
⊡ Abb. 27.17 Geradschaftprothese mit metaphysärer Kraftübertragung
b
⊡ Abb. 27.18 Geradschaftprothese mit diaphysärer Kraftübertragung
⊡ Abb. 27.19a,b Geradschaftprothese mit metaphysärer und diaphysärer Kraftübertragung
dardimplantate durchschnittliche Standzeiten von annähernd 15 Jahren bei mehr als 90% der versorgten Patienten nach (Australian Orthopaedic Association 2008). Neue Prothesengeometrien wie z. B. Kurzschaftprothesen sollen eine knochensparende Implantation und eine physiologisch verbesserte (d. h. möglichst proximale) Krafteinleitung am Femur ermöglichen (⊡ Abb. 27.20). Als theoretische Vor-
teile werden eine knochensparende Implantationstechnik sowie günstigere Voraussetzungen bei erforderlichen Wechseloperationen angeführt. Allerdings müssen sich die Kurzschaftprothesen an den guten Langzeitergebnissen und niedrigen Revisionsraten der Standardimplantate messen lassen. Prinzipiell sollte die Indikationsstellung für neuartige Implantate deshalb immer vorsichtig und unter besonderer Berücksichtigung der
727 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
b
a
⊡ Abb. 27.20a,b Kurzschaftprothese mit vorwiegend metaphysärer Kraftübertragung. Pfannendachplastik bei dysplastischer Pfanne
individuellen Patientenanatomie (z. B. Offset, Knochenqualität) erfolgen. Der alternativ zu Schaftimplantaten angebotene Oberflächenersatz am Hüftgelenk muss ebenfalls kritisch betrachtet werden (⊡ Abb. 27.21). Hier wird der Hüftkopf mit einer Metallkappe »überkront« und artikuliert dann mit einer ebenfalls metallischen Gleitfläche in der Pfanne. Beim Zurechtfräsen des Hüftkopfes besteht die theoretische Gefahr einer intraoperativen Schädigung des Schenkelhalses (»notching«) mit sekundärer Schenkelhalsfraktur und/oder einer Hüftkopfnekrosen infolge einer iatrogenen Schädigung der regionalen Gefäßversorgung. Darüber hinaus wurden für diesen Prothesentyp systemische und lokale Unverträglichkeitsreaktionen infolge eines erhöhten Metallabriebs beschrieben. Aufgrund der postoperativ im Blut und Urin messbar erhöhten Metallionenkonzentrationen sollten Metall-Metall-Gleitpaarungen bei Patienten mit Niereninsuffizienz, Metallallergien sowie junge Frauen im gebärfähigen Alter nicht zum Einsatz kommen. Ein weiterer Nachteil ist die größere Pfannendimensionierung, was bei einem Wechsel einen größeren Defekt im Becken bedeutet. Versagerraten von Cup-Prothesen von 13% nach 2 Jahren lassen die Cup-Prothesen nicht mehr als konkurrenzfähig erscheinen. Bei den zementfrei implantierten Hüftpfannen werden je nach Verankerungsart hemisphärische Press-fit-Pfannen sowie hemisphärische oder konische Schraubpfannen unterschieden (⊡ Abb. 27.22a). Das Einschlagen der Hüftgelenkpfanne generiert elastische Rückstellkräfte am umgebenden Knochen, die Press-fit-Pfanne verklemmt äquatorial und erreicht so die erforderliche Primärstabilität. Bei unzureichender Primärstabilität, z. B. bei dysplastischen Pfannen oder im Rahmen von Wechselsituationen mit segmentalen Pfannendefekten, kann die Press-fit-Pfanne durch zusätzliche Stabilisatoren (z. B. Schrauben, Zapfen, Finnen) fixiert werden. Schraubpfannen erhalten die Primärstabilität durch das Einschneiden der Gewindegänge in den Beckenknochen
⊡ Abb. 27.21 Oberflächenersatz am Hüftgelenk
a
b
⊡ Abb. 27.22a,b Press-fit-Pfanne (a) und hemispärische Schraubpfanne (b)
27
728
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
(⊡ Abb. 27.22b). Zwischenzeitlich werden auch bei den Schraubpfannen aufgrund des geringeren Knochenverlusts bevorzugt hemisphärische Designs verwendet. Konische Schraubpfannen gewährleisten zwar eine höhere Primärstabilität (Kippstabilität), sind allerdings mit einem größeren Knochenverlust verbunden.
Komplikationen in der Hüftendoprothetik Limitiert wird die Lebensdauer der Hüfttotalendoprothesen insbesondere durch die aseptische Lockerung. Abriebpartikel der Gleitpaarungen aktivieren die zelluläre und humorale Entzündungskaskade, die eine lokale Osteolyse und letztlich die aseptische Implantatlockerung verursacht (⊡ Abb. 27.23 u. ⊡ Abb. 27.24). Weitere Ursachen für Revisionsoperationen sind periprothetische
27
⊡ Abb. 27.23 Aseptische Pfannenlockerung: Die Schraubpfanne ist deutlich verkippt und von osteolytischen Säumen umgeben. Der gesamt Offset (Abstand zwischen Becken und Femur) ist dadurch bereits deutlich vermindert
Früh- oder Spätinfekte, periprothetische Frakturen sowie Instabilitäten mit rezidivierenden Luxationen (⊡ Tab. 27.5).
Revisionsendoprothetik am Hüftgelenk In Deutschland werden gegenwärtig jährlich etwa 190.000 Primärimplantationen von Hüftendoprothesen durchgeführt, mit jährlich steigender Frequenz. Der demographische Wandel lässt im nächsten Jahrzehnt einen weiteren Anstieg dieser Entwicklung erwarten. Damit eng verbunden wird auch die operative Versorgungsfrequenz von Patienten mit Komplikationen und Implantatlockerungen stetig zunehmen. Für Deutschland wird die Zahl der Revisionseingriffe in der Hüftendoprothetik gegenwärtig auf etwa 20.000 geschätzt. Bei Revisionen wird der Operateur mit unterschiedlichen Ausgangssituationen konfrontiert. Bei aseptischer Endoprothesenlockerung und geringen Defekten des knöchernen Implantatlagers kann die Wechseloperation unter Umständen mit Primärimplantaten durchgeführt werden. Ausgedehntere Osteolysen oder segmentale Defekte erfordern Rekonstruktionen des knöchernen Lagers und die Verwendung von Revisionsimplantaten. Voraussetzung für eine erfolgreiche Revisionsoperation ist eine aussagekräftige nativradiologische Bildgebung zur Beurteilung der Defektsituation. Computertomographische Darstellungen können bei unklarer Ausgangssituation die knöcherne Defektsituation verdeutlichen. Ergänzende angiographische und kernspintomographische Untersuchungen sind selten indiziert, können aber beispielsweise bei einer Pfannenprotrusion die räumlichen Verhältnisse zu vaskulären Strukturen verdeutlichen. Gleichsam den Zielen der primären Hüftendoprothetik sind auch die Ziele des Revisionseingriffs Schmerzfreiheit, eine gute postoperative Funktionalität, optimierte biomechanische Verhältnisse sowie eine sichere Implantatverankerung. Die präoperative Planung kann dabei aufgrund der einliegenden Endoprothese erschwert sein. Hier kann für einen ersten Überblick die Planung anhand von älteren Voraufnahmen oder die möglicherweise nicht operierte kontralaterale Seite helfen. Eine Klassifikation azetabulärer und femoraler Defekte ermöglicht neben einer Operationsplanung und Auswahl geeigneter Implantate auch eine postoperative Ergebniskontrolle. Häufig erfolgt die Einteilung azetabulärer und femoraler Defekte nach der Paprosky-Klassifikation (Paprosky 1994; ⊡ Tab. 27.6 u. ⊡ Tab. 27.7). Azetabuläre Typ-I- und Typ-II-Defekte nach
⊡ Tab. 27.5 Indikationen für Revisionsoperationen in der Hüftendoprothetik (nach dem Schwedischen Hüftendoprothesenregister, 1979–1998)
a
Indikation
Häufigkeit [%]
Aseptische Lockerung
76
Periprothetische Infektion
8
Periprothetische Fraktur
5
Instabilität/Luxation
5
Sonstige
6
b
⊡ Abb. 27.24a,b Aseptische Schaftlockerung: Es zeigen sich Osteolysesäume entlang des gesamten Prothesenschafts
729 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
⊡ Tab. 27.6 Klassifikation knöcherner Azetabulumdefekte nach Paprosky (1994) Typ
Beschreibung
Implantat
I
Unveränderter azetabulärer Rand minimale Deformität und Osteolysen keine Migration des Implantats
Primärimplantat möglich
II
Erhaltene knöcherne Zirkumferenz verbreitertes, ovaläres knöchernes Azetabulum kraniomediale oder kraniolaterale Migration <2 cm
Hemisphärische Pfanne
III
IIA
Migration kraniomedial <2 cm
IIB
Migration kraniolateral <2 cm
IIC
Migration medial
Destruktion der knöchernen Zirkumferenz Migration kranial >2 cm fehlende Tragfähigkeit des anterioren und posterioren Pfeilers
Rekonstruktion mit Allograft oder Metallaugmentation, Abstützschalen
IIIA
Köhler-Linie intakt Knochenverlust von 10–2 Uhr
Strukturelles Allograft (30–60%)
IIIB
Köhler-Linie nicht intakt Knochenverlust von 9–5 Uhr
Strukturelles Allograft (>60%)
⊡ Tab. 27.7 Klassifikation knöcherner Femurdefekte nach Paprosky (1994) Typ
Beschreibung
I
Geringer metaphysärer oder diaphysärer Knochendefekt
IIA
Fehlende mediale Abstützung bei Defekt bzw. Fehlen des Kalkars
IIB
Knochendefekt anterolateral
IIC
Knöcherner Defekt von Kalkar und posteromedialer Metaphyse
IIIA
Typ IIA mit zusätzlichem diaphysärem Defekt
IIIB
Typ IIB mit zusätzlichem diaphysärem Defekt
IIIC
Typ IIC mit zusätzlichem diaphysärem Defekt
⊡ Tab. 27.8 Komplikationsraten bei Primär- und Revisionseingriffen in der Hüftendoprothetik. (Nach Sotereanos 2002)
Paprosky erlauben dabei in der Regel eine stabile Verankerung von hemisphärischen Pfannen, Typ-III-Defekte erfordern neben knöchernen Allografts oder metallischen Augmentationen zur Rekonstruktion des Azetabulums Revisionspfannen mit der Möglichkeit einer zusätzlichen Verankerung und Abstützung. Bei femoralen Typ-I-Defekten nach Paprosky können in der Regel konventionelle Schaftimplantate verwendet werden, ggf. unterstützt durch autologe oder homologe Knochentransplantationen (»impaction grafting«). Bei Typ-II- und Typ-IIIDefekten werden Revisionsschäfte mit mehr oder weniger langstreckiger diaphysärer Verankerung und ggf. distaler Verriegelung erforderlich. Bei septischer Implantatlockerung oder periprothetischen Frakturen sind spezielle Behandlungskonzepte und Operationsstrategien indiziert ( Abschn. 13.3). Revisionsoperationen in der Hüftendoprothetik sind im Vergleich zu Primärimplantationen mit einem deutlich erhöhten Komplikationsrisiko behaftet (⊡ Tab. 27.8). Um auch auf unvorhergesehene intraoperative Begebenheiten adäquat reagieren zu können, werden planbare Revisionsoperationen idealerweise durch ein erfahrenes Operationsteam unter Bereitstellung unterschiedlichster Revisionsimplantate und -instrumentarien durchgeführt werden.
Komplikation
Primärimplantation [%]
HTEP-Wechsel [%]
Instabilität/ Luxation
2–5
5–26
Periprothetische Fraktur (intraoperativ)
1–5
8–21
Periprothetische Infektion
0,5–2
ca. 2
R. U. Winkler, M. Tingart, J. Grifka
Nervale Läsion (auch temporär)
≤3
≤7
z
Gefäßverletzung
<0,5
27.1.7
Hüft-Impingement
Definition
Das femoroazetabuläre Impingement hat in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Insbesondere bei jüngeren Patienten stellt es eine Ursache für frühzeitige degenerative
27
730
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Veränderungen im Bereich der Hüfte dar. Es ist gekennzeichnet durch ein Anschlagen des Schenkelhalses am vorderen Pfannenrand. Ursächlich ist eine Formstörung des HüftkopfSchenkelhals-Übergangs mit nockenartig deformiertem Kopf (»cam«) oder ein zangenartig weit umfassendes Azetabulum (»pincer«). z
27
Ätiologie und Pathogenese
Das femoroazetabuläre Impingement an sich ist keine Gelenkerkrankung, führt aber durch die permanente mechanische Irritation über die Jahre zur Zerstörung des Hüftgelenks. Es ist noch nicht bekannt, welche Konstellation aus Schenkelhalsform, Antetorsion und Kopf-Hals-Offset in Bezug zu Pfannenform, Orientierung und Überdachung noch als unauffällig zu betrachten sind und ab wann ein schädigendes Impingement auftritt. Auch bei unauffälligen Hüftgelenken kann es bei schnellen, ausfahrenden Extrembewegungen zu einem Zusammenprallen der knöchernen Gelenkpartner kommen. Bei jungen aktiven Sportlern, v. a. bei Fußball- und Eishockeyspielern, Kampfsportlern, Radfahrern und Balletttänzern werden einklemmende Hüften durch Leistenschmerzen symptomatisch. Gerade bei diesen Patienten werden die Beschwerden häufig als Zerrung, Bandscheibenvorfall oder »weiche Leiste« fehlinterpretiert. Bei einer übermäßigen Überdachung des Hüftkopfes, z. B. durch Retroversion der Pfanne oder einem zu tief ausgebildeten Azetabulum, kommt es zu einem Einklemmen des faserknorpligen Labrum acetabulare zwischen dem knöchernen Pfannenrand und dem Schenkelhals. Durch dieses meist sehr schmerzhafte Einquetschen wird initial nur das Labrum geschädigt. Am Schenkelhals entstehen in der Impakturzone fokale knöcherne Läsionen, die sog. »herniation pits«. Später können knöcherne Appositionen an Schenkelhals und Pfannenrand entstehen. Dieses Zangenphänomen wird als PincerImpingement (»pincer« = Beißzange) bezeichnet. Es betrifft häufiger Frauen und wird meist zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr symptomatisch. Bei einem pathologischen Kopf-Hals Übergang und damit unzureichender Taillierung des Schenkelhalses kommt es bei der Beugung des Gelenks zu einem Einpressen des asphärischen Hüftkopfes in die Hüftpfanne. Diese minimale, aber sehr kräftige Aufdehnung des Azetabulums verursacht eine Delamination des Pfannenknorpels vom knöchernen Pfannengrund. Diese osteochondrale Separation beginnt am anterolateralen Pfannenrand, dort wo die größten Scherkräfte auftreten. Das Labrum rutscht über den Knochenwulst, bleibt zu Beginn der Degeneration aber noch intakt. Diese Art des Impingements wird als Cam-Impingement bezeichnet (»cam« = Nockenwelle). Es betrifft häufiger Männer und wird meist zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr symptomatisch (⊡ Abb. 27.25). Als Besonderheit einer Cam-Deformität wird die »Pistol-hip«Deformität gesehen. Bei der knöchernen Entwicklung von Femurkopf und Schenkelhals entsteht eine großbogige, einheitliche Rundung ohne jegliche Taillierung im Kopf-HalsÜbergang. Häufig liegt ein kombiniertes femoroazetabuläres Impingement vor. Beiden Formen gemeinsam sind Leistenschmerzen,
zunehmender Knorpelschaden im Verlauf und die Entstehung der Koxarthrose. Bei fortgeschrittenem Prozess kommt es jeweils zur sekundären Osteophytenbildung im gegenüberliegenden Bereich. Die Entwicklung der Arthrose wird beschleunigt. Bei noch nicht fortgeschrittener klinischer und radiologischer Arthrose, v. a. bei radiologisch ausreichend weitem Gelenkspalt in der Hauptbelastungszone, kann versucht werden, durch einen formkorrigierenden Eingriff die Kongruenz der Gelenkpartner zu verbessern und damit den Arthroseprozess aufzuhalten (Leunig u. Ganz 2005, Leunig et al. 2006, Laude u. Sarili 2009, Dienst u. Kohn 2009). z
Diagnostik
Anamnestisch berichten Patienten mit einem Hüft-Impingement oft über unspezifische Beschwerden und Symptome in der Leiste (z. B. beim Radfahren, Treppen steigen), die zunächst nur nach längerer Belastung oder sportlicher Betätigung auftreten. Bei der Hüftuntersuchung können oft keine spezifischen pathologischen Auffälligkeiten verifiziert werden. Dann besteht die Gefahr, diese Beschwerden bei noch fehlenden radiologischen Arthrosezeichen als Leistenhernien, Zerrungen oder als vertebragene Ursachen fehlzudeuten. Typisch ist eine reduzierte Innenrotation in einer Beugestellung zwischen 40°
⊡ Abb. 27.25 Cam-Impingement bei einem 37-jährigen männlichen Patienten mit Hüftbeschwerden rechts
731 27.1 · Erkrankungen des Hüftgelenks
und 90°. Darüber hinaus kann der vordere Impingement-Test positiv sein. Die Patienten berichten bei der Untersuchung über einen oft tiefsitzenden Leistenschmerz bei 90° Flexion und passiver Innenrotation durch den Untersucher. In den letzten Jahren wurde die Bedeutung des femoroazetabulären Impingement als eine der Ursachen der primären Koxarthrose erkannt. In der konventionellen a.p.-Röntgenaufnahme zeigen sich meist noch keine höhergradigen Degenerationen, auch pathologische Schenkelhalskonturen sind sich eher selten. Bei einem Pincer-Impingement kann die zu weite Überdachung des Azetabulums durch eine Überkreuzung der Pfannenränder als sog. »crossing sign« erkannt werden. Die Kollisionstelle von Pfannenrand und Schenkelhals zeigt sich in Form von »herniation pits«. Zum Nachweis des Cam-Impingements ist die Lauenstein-Aufnahme am aussagekräftigsten. Zur Beurteilung der Cam-Deformität haben sich Schnittbildverfahren mit zirkulären Rekonstruktionen entlang des Schenkelhalses bewährt. Starke Feldstärken von 3 Tesla erlauben auch die Beurteilung der intraartikuläre Knorpelsituation. z
Therapie
Bei radiologisch weitem Gelenkspalt und nur mäßigen Arthrosezeichen kann durch einen formkorrigierenden Eingriff die Kongruenz der Gelenkpartner verbessert und damit der Arthroseprozess verzögert werden. Das femoroazetabuläre Impingement wird durch die Modellierung behoben.
Unter Wahrung der in der dorsalen Gelenkkapsel verlaufenden hüftkopfversorgenden Äste der A. circumflexa capitis femoris medialis wird der Hüftkopf, nach tangentialer Osteotomie des Trochanter major, nach ventral aus der Pfanne luxiert. Die Blutversorgung über das Lig. capitis femoris ist für die Vitalität des Hüftkopfes nicht entscheidend und kann schadlos reseziert werden. Am Kopf-Hals-Übergang kann die Cam-Deformität zirkulär mit einem gebogenen Meißel abgetragen werden (⊡ Abb. 27.27). Die Pincer-Situation des Pfannenrands kann zirkumferent korrigiert, ein azetabulärer Knorpeldefekt und eine Labrumläsion können entweder angefrischt und refixiert oder reseziert werden. Sekundär entstandene Ossifikationen können gut dargestellt und entfernt werden. > Postoperativ muss zur Abheilung der Trochanterosteotomie sichergestellt werden, dass das operierte Bein für 6–8 Wochen bei eingeschränktem Bewegungsumfang vollständig entlastet wird.
Seltene Komplikationen sind eine nicht verheilte Osteotomie und eine durch die initial schonende Nachbehandlung bedingte Kapseladhäsion, die zu einer weichteilbedingten Bewegungseinschränkung führt. Trotz der Invasivität des Eingriffs wurden bisher keine Hüftkopfnekrosen beschrieben (Siebenrock et al. 2002). Minimal-invasive Arthrotomie
> Die Therapie sollte so früh als möglich durchgeführt werden, um die Entstehung bzw. ein Fortschreiten der degenerativen Veränderungen an Labrum und Knorpel im anterosuperioren Anteil zu verhindern.
Bei der operativen Therapie wird offen oder arthroskopisch die Impingement-Ursache angegangen und, soweit erforderlich, eine Refixierung des Labrums vorgenommen. Abhängig von Art und Umfang des Impingements erfolgt eine partielle Knochenresektion im Bereich des Pfannenrands und eine Modellierung bzw. Taillierung des Kopf-Hals-Übergangs als Ursachenbehebung eines Cam-Impingements (⊡ Abb. 27.25). Arthroplastik
Je nach Ursache des Impingements wird eine Korrektur des überkragenden Pfannenrands oder eine Taillierung des Schenkelhalses vorgenommen. In den letzten Jahren wurden verschiedene operative Techniken zur Therapie des femoroazetabulären Impingements entwickelt. So stehen heute offene, minimal-invasive und arthroskopische Behandlungsverfahren zur Verfügung (⊡ Abb. 27.26). Chirurgische Hüftluxation
Dieses offene Verfahren wurde erstmalig von Ganz aus Bern beschrieben. Es erlaubt die Beurteilung aller Gelenkregionen und ermöglicht so eine umfangreiche Arthroplastik, mit der fast alle Gelenkanteile erreicht werden. Erst durch diese Operationstechnik konnten die Knorpelschäden in Pfanne und Schenkelhals erkannt werden.
Bei diesem Verfahren wird unter Beachtung der in der Tiefe liegenden Weichteile, also ohne Ablösen von Muskelansätzen oder einer Osteotomie, die Gelenkkapsel dargestellt und das Hüftgelenk eröffnet. Ein favorisierter Zugang erfolgt durch die von Smith und Petersen beschriebene Muskellücke zwischen dem dann lateral liegenden M. tensor fasciae latae und M. gluteus medius sowie dem medial liegenden M. sartorius und M. rectus femoris. Nach der Inzision der Fascia lata wird die Gelenkkapsel durch stumpfe Präparation erreicht. Das Gelenk wird T-förmig eröffnet und dadurch Pfannenrand und Schenkelhals dargestellt. Etwa die Hälfte der gesamten Pfannenrandzirkumferenz kann behandelt werden, v. a. anterolateral im Bereich der Hauptpathologie. Durch Bewegung des Beins wird die Pathologie am Schenkelhals exponiert. Mit gebogenen Meißeln wird tangential die Cam-Deformität abgetragen. Das zentrale und das dorsokaudale Gelenkkompartiment kann nicht eingesehen werden. Die minimal-invasive Technik erlaubt postoperativ eine unmittelbare Belastung der Extremität und gestattet die zur Prophylaxe einer Kapseladhäsion gewünschte unlimitierte Bewegung des Gelenks. Eine häufige Komplikation ist eine Schädigung von lateralen Ästen des N. cutaneus lateralis (Laude u. Sarili 2009). Arthroskopie
In den letzten Jahren hat sich die Arthroskopie der Hüfte rasch entwickelt, jedoch unterscheidet sich das Verfahren in 2 maßgeblichen Dingen von den etablierten Verfahren am Knie- und
27
732
27
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
a
modelliert mit dem Meissel (Verdickung wird entfernt)
d
b
c
Gelenklippe (Knorpelhaut am Pfannenrand)
Arthrose (Knochenwucherungen blockieren das Gelenk)
e
⊡ Abb. 27.26a–e Schematische Darstellung der Arthroplastik. a, b Pincer-Impingement: Trimmung des knöchernen Pfannenrands (a) und Refixation des Labrums (b), c–e Cam-Impingement: Modellierung des Hüftkopf-Schenkelhals-Übergangs (c, d) und neue Taillierung des Schenkelhalses (d). (Aus: Leunig u. Ganz 2005)
Schultergelenk. Zum einen bedingt der dicke Weichteilmantel und die straffe Gelenkkapsel eine eingeschränkte Beweglichkeit der Arbeitsgeräte im Gelenk, zum anderen erfordert der Zugang des zentralen Kompartiments eine kräftige Traktion am Bein. Die Lagerung des Patienten erfolgt auf einem Extensionstisch. Das Bein der zu operierenden Hüfte wird in eine Extensionsvorrichtung gelagert, als Widerlager wird zwischen den Beinen ein gepolsterter Pfosten eingebracht. Nach Punktion des Gelenks erfolgt unter Röntgenkontrolle das Einbringen der Arbeitsgeräte. Unter Traktion kann das zentrale Kompartiment mithilfe von um 70° gewinkelten Optiken annähernd vollständig eingesehen und der azetabuläre Knorpel beurteilt werden. Am Pfannenrand kann mittels Shaver eine Labrumläsion abgetragen und mit einer Fräse der überste-
hende Pfannenrand reduziert werden. Ohne Zug am Bein wird bei leichter Beugung nach einer partiellen Kapselresektion und lokaler Synovektomie die Cam-Deformität dargestellt. Mit einer Fräse wird das Cam-Impingement unter Sicht abgetragen. Postoperativ können die Patienten ohne Limitationen rasch die Klinik verlassen. Seltene Komplikationen sind die durch Traktion hervorgerufene Haut- und Nervenirritationen im anogenitalen Bereich. > Aufgrund der straffen Kapselverhältnisse kann selbst der geübte Operateur die Operation nicht immer im geplanten Umfang durchführen. Bei ungeübten Operateuren besteht die Gefahr iatrogener Knorpelschäden (Dienst u. Kohn 2009).
733 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Abb. 27.27a,b Therapie des Cam-Impingements. a Störung am Hüftkopf-Schenkelhals Übergang beim Cam-Impingement, die angelegte Kreisschablone zeigt die aufgehobene Schenkelhalstaillierung, b nach Abtragung der Übergangsstörung besteht eine ausreichende Taillierung des Schenkelhalses. (Aus: Leunig et al. 2006)
27.2
Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
> Unmittelbar an der Rückfläche des Gelenks verläuft der N. ischiadicus, der bei der hinteren Luxation irritiert werden kann.
27.2.1
Hüftluxation und Femurkopffrakturen
Der Blutversorgung vom Femurkopf kommt bei der Luxation eine wichtige Bedeutung zu (⊡ Abb. 27.28). Die Versorgung des Kopfes erfolgt weitgehend über einen Gefäßkranz an der Basis des Femurkopfes. Unzählige Aa. retinaculares durchstoßen die Kapsel und laufen entlang des Schenkelhalses in der Membrana synovialis. Sie münden vor der Knorpel-Knochen-Grenze in den Kopf ein. Gespeist wird dieser Gefäßkranz in erster Linie durch die A. circumflexa femoris medialis, weniger bedeutend auch durch die A. circumflexa femoris lateralis (Gautier 2000). Ein kleiner Anteil der Kopfdurchblutung läuft über die A. capitis femoris aus der A. obturatoria im Lig. capitis femoris. Für die Kopfdurchblutung hat diese Arterie aber keine Bedeutung. Sie ist oftmals bei älteren Menschen durch zentrale Osteophyten in der Fossa acetabuli verschlossen. Aus den anatomischen Gegebenheiten resultiert ein äußerst stabiles Gelenk. Es ist ein Kraftaufwand von mindestens 400 Newton notwendig, um das Gelenk zu luxieren. Es verwundert daher nicht, dass der größte Teil der Hüftluxationen und Kopffrakturen auf Hochrasanztraumen zurückzuführen sind. In welche Richtung das Gelenk luxiert und ob gleichzeitig noch eine Kopffraktur entsteht, hängt von den individuellen anatomischen Gegebenheiten, von der Richtung der einwirkenden Kraft und von der Position der Hüfte zum Femur ab. Bei einer Stellung in Flexion, Adduktion und Innenrotation kommt es zu einer reinen hinteren Hüftluxation. Eine weniger flektierte, adduzierte und innenrotierte Hüftstellung führt zu einer hinteren Luxation mit Fraktur des Femurkopfes oder des Azetabulums. Die weniger häufige vordere Luxation kommt in Hyperabduktions- und Extensionsstellung zustande.
M. Ellenberger z
Definition
Hüftgelenkluxationen und -frakturen kommen mit einer Inzidenz von unter 1% aller Verletzungen in der Unfallchirurgie selten vor. Aufgrund der äußerst stabilen Bandverhältnisse und der Form der knöchernen Strukturen im Bereich des Hüftgelenks ist für eine Hüftluxation immer eine starke Gewalteinwirkung notwendig. Als Unfallursache stehen an erster Stelle Verkehrsunfälle. Aber auch Stürze aus großer Höhe sind nicht selten. Klassisch ist beim Autofahrer das Knieanpralltrauma am Armaturenbrett. Die Kraft wird über die Vorderseite des gebeugten Kniegelenks auf das Hüftgelenk übertragen. Eine hintere Hüftluxation mit oder ohne Femurkopffraktur ist die Folge. Die vorderen Hüftluxationen sind weitaus weniger häufig, im Verhältnis 1:9 zu den hinteren Luxationen. Femurkopffrakturen im Rahmen einer Hüftluxation sind relativ seltene Verletzungen mit einer Inzidenz von 4–16,8%. z
Anatomie und Biomechanik
Das Hüftgelenk ist ein ausgesprochen kongruentes Gelenk. Die knöcherne Kongruenz wird noch durch das Labrum vergrößert, sodass der Kopf bei Bewegung immer über 50% der Zirkumferenz gedeckt ist. Das Labrum schafft nicht nur eine Vertiefung der Pfanne, sondern bildet zugleich ein nachgiebiges Polster am Pfannenrand. Zudem ist das Gelenk von einer äußerst starken Kapsel umgeben, die durch 3 Ligamente verstärkt wird. Es sind dies nach ventral das Lig. iliofemorale, nach dorsal das Lig. ischiofemorale und nach proximal das Lig. pubofemorale. Als weitere Verstärkung Richtung dorsal wirken noch die Außenrotatoren einer hinteren Luxation entgegen.
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die Patienten haben starke Schmerzen und sind nicht in der Lage das Bein zu bewegen. Oftmals besteht auch ein Taubheits-
27
734
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
27
⊡ Abb. 27.28 Gefäßversorgung des Femurkopfes. (Aus: Lanz u. Wachsmuth 1972)
gefühl im Bein. Bei der Untersuchung imponiert die federnde Fixation des luxierten Beins in Fehlstellung. Bei einer hinteren Luxation steht das Bein im Vergleich zur Gegenseite in einer leichten Flexion mit leichtgradiger Innenrotation und Adduktion. Bei einer vorderen Luxation ist das Bein im Vergleich zur Gegenseite außenrotiert, verkürzt und abduziert. Da es sich meistens um Hochrasanztraumen handelt, bestehen häufig gleichzeitig zum Teil schwere Zusatzverletzungen wie Abdomen-, Thorax- und Kopfverletzungen. Auch zusätzliche Skelettverletzung besonders der unteren Extremitäten und des Beckens müssen gesucht werden. Beim Knieanpralltrauma am Armaturenbrett (»dashboard injuries«) kann es gleichzeitig zu schweren Knieverletzungen (Knieluxation, Tibiaplateaufraktur, hintere Kreuzbandverletzung, distale Femurfraktur, Patellafraktur) kommen. Beim Sturz aus großer Höhe sind auch Wirbelsäulenverletzungen und Kalkaneusfrakturen zu suchen. > Die klinische Untersuchung muss eine exakte neurologische Untersuchung und einen Gefäßstatus beinhalten. Nicht selten führt eine hintere Luxation mit einer Häufigkeit bis 20% zu einer Läsion des N. ischiadicus mit entsprechender neurologischer Symptomatik. z z Bildgebende Verfahren
Das erste zur Verfügung stehende Röntgenbild ist meist eine a.p.-Beckenübersichtsaufnahme, die noch im Schockraum durchgeführt wird. Auf diesem Bild ist die Luxation leicht zu erkennen. Der Kopf liegt nicht mehr in der Pfanne. Auf dem
Bild kann eine hintere von einer vorderen Luxation unterschieden werden. Der luxierte Kopf erscheint bei einer hinteren Luxation kleiner als auf der Gegenseite. Das umgekehrte ist der Fall bei der vorderen Luxation. Das Bild muss auf weitere Frakturen untersucht werden. Sind keine weiteren relevanten Frakturen nachgewiesen worden, muss vor weiteren diagnostischen Abklärungen nun die Reposition erfolgen. Einzige Ausnahme ist der Verdacht auf eine ipsilaterale Schenkelhalsfraktur. In dieser Situation muss ein Bild in der zweiten Ebene (axial) durchgeführt werden. Bestätigt sich der Verdacht, darf nur offen reponiert werden. Nach der Reposition wird zur Kontrolle nochmals eine a.p.Beckenübersichtsaufnahme durchgeführt. Das Gelenk muss nun genauestens auf die Kongruenz untersucht werden. Stellt sich der Gelenkspalt nicht gleichmäßig und gleich weit wie auf der Gegenseite dar, so muss von einem Interponat ausgegangen werden. Im Anschluss an die konventionell-radiologische Abklärung muss nach jeder Reposition (offen oder geschlossen) eine CT-Untersuchung beider Hüftgelenke im Vergleich folgen, da Femurkalottenfrakturen häufig (in 15–42%) übersehen werden. Mithilfe der CT-Untersuchung sind folgende Beurteilungen und zusätzliche Diagnosen möglich: Stellung des Kopfes und Kopffrakturen, Impressionsfrakturen, chondrale und osteochondrale Fragmente, knöcherner Ausriss des Lig. capitis femoris, Weichteilinterponate, Schenkelhalsfrakturen und Azetabulumfrakturen (Ebraheim 1993). Das MRT kommt in der Akutphase primär nicht routinemäßig zum Einsatz. Bei inkongruenter Reposition kann allerdings ein eingeschlagener Labrumlappen mit dem MRT besser
735 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
z
a
b
Klassifikation
Man unterscheidet hauptsächlich eine vordere Hüftluxation von einer hinteren. Je nach anatomischer Position des dislozierten Kopfes wird die vordere Luxation noch in eine Luxatio pubica und Luxatio obturatoria und die hintere Luxation in eine Luxatio iliaca und Luxatio ischiadica unterteilt (⊡ Abb. 27.29). Für die Femurkopffrakturen wird am häufigsten die Pipkin-Klassifikation angewendet. Diese bezieht sich bei Hüftluxationen auf Kombinationsverletzungen mit Femurkopf- und Azetabulumfrakturen. Beim Typ I besteht eine Kalottenfraktur kaudal der Fovea, d. h. außerhalb der Belastungszone. Bei der Typ-II-Fraktur besteht eine Kalottenfraktur kranial der Fovea (d. h. innerhalb der Belastungszone). Die Typ-III-Fraktur kombiniert den Typ I oder Typ II mit einer Schenkelhalsfraktur. Die Typ-IV-Fraktur kombiniert den Typ I oder Typ II mit einer Azetabulumfraktur (⊡ Abb. 27.30). Nicht zu einer bestimmten Klassifikation gehörend, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig zu erwähnen, sind die Kopfimpressionsfrakturen und knöcherne Ausrisse des Lig. capitis femoris. Die Femurkopffrakturen sind bei der AO-Klassifikation bei den proximalen Femurfrakturen mit eingeteilt. > Eine Hüftluxation ist ein Notfall, da die Femurkopfnekroserate steigt, wenn der Kopf länger als 6 h disloziert bleibt. z
Therapie
Ziel bei der Hüftluxation ist es, wieder ein kongruentes und stabiles Hüftgelenk zu erreichen. Die Reposition hat erste Priorität. Ein unnötiger Zeitverlust ist zu verhindern, um die Ischämiezeit bzw. das Risiko einer Femurkopfnekrose zu minimieren. Kann der Kopf nicht reponiert werden, muss unverzüglich die offene Reposition im Operationssaal erfolgen. Nach der Reposition resultieren 3 mögliche Situationen. Im besten Fall bestehen kongruente Gelenkverhältnisse ohne Frakturen. Die zweite Möglichkeit ist ein kongruentes Gelenk mit Begleitfrakturen und der dritte mögliche Fall ist ein inkongruentes Gelenk mit oder ohne Begleitfrakturen. Geschlossene Reposition
c
d
⊡ Abb. 27.29a–d Einteilung der Hüftgelenkluxationen. a Luxatio posterior iliaca, b Luxatio posterior ischiadica, c Luxatio anterior pubica, d Luxatio anterior obturatoria. (Aus: Lanz u. Wachsmuth 1972)
nachgewiesen werden als mit dem CT. Bei der Verlaufsbeurteilung beispielsweise der Femurkopfdurchblutung spielt das MRT eine wichtige Rolle (Potter 1995). > Ein MRT soll durchgeführt werden, wenn keine kongruente Reposition möglich ist und das CT kein ossäres Interponat zeigt.
Alle isolierten Hüftluxationen sowie Hüftluxationen mit Femurkopf- (Pipkin-Typ I und II) und Azetabulumfrakturen (Pipkin-Typ IV) werden primär geschlossen reponiert. Eine Hüftluxation mit Schenkelhalsfraktur (Pipkin-Typ III) wird immer primär offen reponiert. Sie wird am einfachsten in Allgemeinanästhesie und mithilfe von Muskelrelaxantien durchgeführt. Zur Reposition der hinteren Hüftluxation hat sich die Methode nach Böhler bewährt (⊡ Abb. 27.31). Der Patient wird auf dem Rücken gelagert. Hüfte und Knie werden in 90° Flexion gebracht. Der Operateur steht über dem Patienten und zieht (mithilfe eines Tuches, das vom Hals des Operateurs um die Kniekehle des Patienten gelegt wird) den Oberschenkel nach ventral. Das Becken des Patienten wird vom Assistenten stabilisiert. Die erfolgreiche Reposition ist durch ein Schnappen erkennbar. Bei gleichzeitiger dorsaler Azetabulumfraktur ist dieses Schnappphänomen nicht so ausgeprägt. Anschließend
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736
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
nelle Nachbehandlung mit primärer Teilbelastung und im Verlauf Übergang auf Vollbelastung. Bei zusätzlicher Fraktur vom Pipkin-Typ I legt sich das Fragment durch die Reposition meist gut an, sodass ebenfalls eine funktionelle Therapie erfolgen kann. Da diese Frakturen außerhalb der Belastungszone liegen, können geringgradige Dislokationen von bis zu 2 mm toleriert werden. Auf jeden Fall muss nach der Reposition ein KontrollCT zur Beurteilung der Gelenkflächen durchgeführt werden. Legt sich bei der Fraktur vom Pipkin-Typ II das Fragment ebenfalls nach der Reposition stufenlos an, können auch diese Frakturen funktionell nachbehandelt werden. In dieser Situation muss aber eine Teilbelastung während 8 Wochen erfolgen, da das Fragment in der Belastungszone liegt. Offene Reposition
27
⊡ Abb. 27.30 Femurkopffrakturen: Einteilung nach Pipkin. (Aus: Müller-Mai 2010)
⊡ Abb. 27.31 Reposition nach Böhler
muss die Stabilität mit Druck auf das gebeugte Bein geprüft werden. Bei instabilen Verhältnissen muss die Reposition mit einer Schienbeinkopfextension gehalten werden. Die eher seltene vordere Hüftluxation wird durch Beugung der Hüfte sowie Korrektur der Abduktion und Außenrotation in eine hintere umgewandelt. Anschließend erfolgt das Repositionsmanöver wie oben beschrieben. Die Repositionsmanöver müssen vorsichtig und ohne ruckartige Bewegungen durchgeführt werden, sonst verursacht man unter Umständen einen Schenkelhalsbruch oder ausgedehnte Knorpelverletzungen des Kopfes. Lag eine isolierte Luxation vor und zeigt das Postrepositionsbild kongruente Gelenkverhältnisse, so erfolgt eine funktio-
Wenn die geschlossene Reposition nicht gelingt oder nach der Reposition eine Inkongruenz vorliegt, muss anschließend offen reponiert werden. Die Inkongruenz und das Nichtgelingen der Reposition kann durch interponierte Weichteile wie das Labrum, das ausgerissene Lig. capitis femoris oder osteochondrale Flakes bedingt sein. Nach Entfernung dieser Repositionshindernisse ist anschließend die Reposition kein Problem mehr, und es bestehen wieder kongruente Verhältnisse. Legt sich bei einer Fraktur vom Pipkin-Typ I oder II nach der Reposition das Fragment nicht anatomisch an, muss das Kalottenfragment offen exakt reponiert werden. Da die Kopffragmente meist ventral liegen und damit von dieser Seite wesentlich besser zu erreichen sind, wird in der neueren Literatur der anterolaterale Zugang nach Watson-Jones oder Smith-Peterson empfohlen (Swiontkowski 1992). Das Fragment wird mit Pins oder Schrauben, die unter die Knorpeloberfläche versenkt werden, fixiert. Trotz des deutlich erhöhten Kopfnekroserisikos bei der Fraktur vom Pipkin-Typ III sollte beim jungen aktiven Patienten ein Kopferhalt mittels offener Reposition und Zugschraubenosteosynthese erzielt werden. Hier empfiehlt sich wiederum der anteriore oder anterolaterale Zugang. Beim alten inaktiven Patienten stellt die Verletzung eine Indikation zum endoprothetischen Gelenkersatz über die üblichen Zugänge dar. Bei der Typ-IV-Fraktur wird über einen hinteren Zugang der hintere Pfannenrand rekonstruiert. Um an das Kalottenfragment zu gelangen, muss gleichzeitig eine Trochanterfliposteotomie durchgeführt oder ein zusätzlicher anteriorer Zugang angelegt werden. Impressionsfrakturen im Bereich der Belastungszone mit einer Größe von mehr als 2 cm2 müssen durch eine Spongiosaunterfütterung angehoben werden (Konrath 1999). Mit Ausnahme der Hüftgelenkendoprothese schließt sich bei allen operativen Versorgungen der Pipkin-Frakturen eine frühfunktionelle mehrwöchige Therapie mit Teilbelastung und anschließendem Übergang auf Vollbelastung nach 8–12 Wochen an. z z Evidenz und Kontroversen
Es besteht Einigkeit in der Literatur darüber, dass jede PipkinFraktur unmittelbar nach der Diagnose so früh wie möglich reponiert werden muss unter Berücksichtigung der 6 h Grenze.
737 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Die Behandlung der Typ-I- und Typ-II-Frakturen werden kontrovers diskutiert. So vertritt ein Teil der Autoren auch ein konservatives Vorgehen, wenn nach geschlossener Reposition keine anatomische Fragmenteinpassung erreicht werden kann, während der andere Teil der Autoren die Indikation für ein konservatives Vorgehen nur bei anatomischer Reposition sehen. Die Auswertung eines Literatursammelkollektivs von 8 Publikationen von 1983–1995 ergab, dass insgesamt bei diesem Verletzungstyp die definitive operative Versorgung eindeutig im Vordergrund stand (Nast 1997). Bei den Typ-III- und Typ-IV-Frakturen besteht in der Literatur weitgehend Einigkeit über die operative Versorgung. Wegen des deutlich erhöhten Kopfnekroserisikos der Typ-IIIFrakturen wird von den meisten Autoren der primäre endoprothetische Gelenkersatz propagiert. Ob beim jüngeren, aktiven Patienten immer ein osteosynthetischer Rekonstruktionsversuch vorgenommen werden soll, wird kontrovers diskutiert. Während ein Teil der Autoren für die Nachbehandlung der Hüftgelenkluxation eine mehrwöchige Teilbelastung empfiehlt, propagiert der andere Teil der Autoren eine sofortige Vollbelastung. Evidenz darüber besteht keine. z
Komplikationen und Prognose
Die Nervus-ischiadicus-Läsion ist die Hauptkomplikation bei der dorsalen Hüftluxation. Sie tritt in bis zu 20% der Fälle auf. Sie ist häufiger bei der Frakturluxation als bei der isolierten Hüftluxation. Die Läsion kann durch eine Einklemmung zwischen Hüftkopf und Becken, Überdehnung oder Einklemmung durch ein Fragment bedingt sein. Bei StretchVerletzungen ist der peroneale Anteil aufgrund seiner topographischen Lage zum Fibulaköpfchen häufiger betroffen. Nach der Reposition muss die Neurologie nochmals genau geprüft werden. > Die häufigste Spätkomplikation nach der Hüftluxation ist die Arthrose. Sie wird mit 10–20% der Fälle angegeben und tritt häufiger bei der hinteren Luxation und bei der Luxationsfraktur auf. Als Ursache sind die direkte Knorpelschädigung und die Inkongruenz der Gelenkflächen verantwortlich (Dreinhofer 1994).
Die Femurkopfnekrose tritt gehäuft nach hinterer Luxation in Abhängigkeit der verstrichenen Zeit zwischen Luxation und Reposition auf. In der Literatur wird von 1,7–40% berichtet. Bei einer Reposition innerhalb 6 h sind die Zahlen deutlich tiefer und liegen zwischen 0–10%. Ein besonders hohes Risiko besteht bei der Typ-III-Fraktur, da sowohl die Blutzufuhr vom Schenkelhals als auch vom Lig. capitis femoris unterbrochen ist. Die Femurkopfnekrosen treten meist im Verlauf des ersten Jahres auf. Die Diagnose kann meist schon konventionellradiologisch gestellt werden. Das MRT bestätigt die Diagnose. Heterotope Ossifikationen treten gehäuft nach hinterer Frakturdislokation auf, insbesondere bei offenem Vorgehen. Präventiv kann postoperativ Indometacin oder Diclofenac während 14 Tagen appliziert werden oder innerhalb 48 h eine Bestrahlung erfolgen. Eine Labrumläsion und eine dynamische Instabilität können Ursache für peristierende Schmerzen im Hüftgelenk sein.
27.2.2
Schenkelhalsbrüche
M. Ellenberger z
Definition
In der EU sind jede 3. Frau und jeder 8. Mann von Osteoporose betroffen. Jährlich erleiden 414.000 Menschen einen Schenkelhalsbruch (bei einer Einwohnerzahl von 459 Mio.). Man geht davon aus, dass sich die Fälle in den nächsten 50 Jahren mehr als verdoppeln. Die Schenkelhalsfraktur ist die typische Fraktur des alten Menschen. Ca. 90% der Brüche ereignen sich durch einen simplen Fall aus der stehenden Position. Dabei reicht diese geringe Energie bereits aus, den osteoporotisch geschwächten Knochen zu brechen. Die Schenkelhalsfraktur ist mit einer hohen allgemeinmedizinischen Komplikationsrate im Zusammenhang mit der daraus resultierenden eingeschränkten Mobilisation verbunden. Ziel der Therapie ist daher die möglichst kurze Immobilisationsdauer. Ein Schenkelhalsbruch hat oft einschneidende Konsequenzen für den Betroffenen. Der selbstständige Mensch wird pflegebedürftig. Der eigenständig geführte Haushalt muss aufgelöst und der Patient muss in ein Alters- oder Pflegeheim aufgenommen werden. Ein sehr viel kleinere Anteil der Schenkelhalsfrakturen (5–7%) betrifft junge, sehr aktive Patienten. Damit es bei normaler Knochenqualität zu einem Bruch kommt, ist eine erhebliche Gewalteinwirkung notwendig, wie sie bei Verkehrsunfällen oder Stürzen aus großer Höhe vorkommt. Eine Tumormetastase im Schenkelhals kann den Knochen ebenfalls derart schwächen, dass selbst bei jüngeren Patienten ein geringes Trauma zur Fraktur führt. Auch Spontanfrakturen sind möglich. Zu Stressfrakturen kommt es bei jungen Sportlern durch eine erhöhte chronische mechanische Überbelastung. Sie werden bei normaler Knochenqualität auch Ermüdungsbrüche genannt. Tritt beim älteren Patienten mit geschwächtem Knochen eine derartige Fraktur durch die alltägliche Belastung auf, spricht man von einer Insuffizienzfraktur. z
Anatomie und Biomechanik
Durch den Gefäßverlauf im Becken kommt es bei Schenkelhalsbrüchen zu einer Gefährdung der Kopfdurchblutung. ! Cave Insbesondere bei intrakapsulären und dislozierten Frakturen wird die gesamte intraossäre Blutzufuhr vom Hals unterbrochen. Mit einer raschen Reposition und Refixation des gebrochenen Schenkelhalses kann wieder eine Verbesserung der Kopfdurchblutung erzielt und die Überlebenschance des Kopfes deutlich vergrößert werden.
Alle intrakapsulären Schenkelhalsbrüche bluten in die Kapsel hinein. Die Folge ist eine intrakapsuläre Druckzunahme mit Tamponadeeffekt und Einschränkung der Perfusion der Kapselgefäße. Durch eine Evakuation des Hämatoms kann die kompromittierte Durchblutung wieder verbessert werden. Die in Abschn. 27.2.1 beschriebenen anatomischen und vaskulären Faktoren sind für die hohe Rate von Frakturhei-
27
738
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Typ I
Typ II
27 Typ III
⊡ Abb. 27.32 Architektur der Spongiosabälkchen. (Aus: Lanz u. Wachsmuth 1972)
lungsstörungen bei Schenkelhalsfrakturen verantwortlich (LuYao 1994). Der Schenkelhals bildet durch seine verjüngende Form am proximalen Femurende eine biomechanische Schwachstelle. Damit es nicht zu einem Abknicken an der Basis des Schenkelhalses kommt, besteht am coxalen Femurende eine typische Architektur der Spongiosabälkchen (⊡ Abb. 27.32). Die Spongiosabälkchen bilden ein trajektorielles System. AlsTrajektorien bezeichnet man in der Statik Linien, die an jeder Stelle eines Körpers die Richtung der größten Kompression und Dehnung angeben. Entsprechend der auftretenden Kräfte am proximalen Femurende lassen sich 2 besonders dichte Hauptbündel unterscheiden, die sich im Halsbereich kreuzen. Distal der Kreuzungsstelle liegt eine wenig dichte Stelle, das Ward-Dreieck. Es ist eine Schwachstelle, wo typischerweise die Schenkelhalsfrakturen auftreten. Die stärkste Struktur am proximalen Femurende bildet der Kalkar. Er zieht in Form eines knochendichten Bandes vom posteromedialen Femurschaft unter dem Trochanter minor hindurch und strahlt in den Trochanter major. Der Kalkar bildet die Schlüsselstruktur für die erfolgreiche Schraubenversorgung bei Schenkelhalsfrakturen. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Dislozierte Frakturen sind inspektorisch an der Verkürzung und Außenrotation des betroffenen Beins zu erkennen. Bei der Untersuchung inponiert ein Rotationsschmerz und ein Stauchungsschmerz. Die Patienten können das gestreckte Bein nicht aktiv anheben. Oftmals besteht auch eine Druckdolenz über dem Trochanter major. Bei eingestauchten Frakturen können die Frakturzeichen fehlen. Bei sehr stabil impaktierten Brüchen ist der Patient sogar noch gehfähig.
Typ IV
⊡ Abb. 27.33 Schenkelhalsbrüche: Klassifikation nach Garden. (Aus: Müller-Mai 2010)
z z Bildgebende Verfahren
Besteht der Verdacht auf eine Schenkelhalsfraktur, wird eine konventionell radiologische Beckenübersichtsaufnahme und eine axiale Aufnahme der betroffenen Seite durchgeführt. Mithilfe dieser Aufnahmen kann die Fraktur dargestellt und klassifiziert werden. Gleichzeitig kann das Bild auf Beckenringfrakturen, Trochanterfrakturen sowie pertrochantere Frakturen untersucht werden. Alle anderen bildgebenden Verfahren sind von untergeordneter Bedeutung. > In seltenen Fällen stellt sich eine undislozierte Fraktur/ Fissur auf dem konventionellen Röntgenbild nicht dar. In dieser Situation kann bei vermuteter Fraktur ein MRT weiterhelfen und die Läsion darstellen.
Bei frischen Frakturen ist die Szintigraphie hochsensitiv, jedoch mit einer Verzögerung von 24 h, sodass das MRT bevorzugt wird. Der Ultraschall hat bei der Diagnostik der Schenkelhalsfraktur keine Bedeutung. z
Klassifikation
Bei den Schenkelhalsfrakturen sind die Hauptkomplikationen im Verlauf die avaskuläre Kopfnekrose und die »non union«. Aufgrund der Blutzufuhr zum Kopf ist daher die Unterscheidung der medialen (intrakapsulär) von der lateralen Schenkelhalsfraktur (extrakapsulär) von prognostischer Relevanz. Die laterale Schenkelhalsfraktur wird auch als basozervikal bezeichnet und verhält sich aufgrund der nahen anatomischen Lage zum Trochanter major mehr wie eine pertrochantere Femurfraktur. Eine häufig benützte Einteilung ist die Klassifikation nach Garden (⊡ Abb. 27.33). Es werden 4 Dislokationsgrade unterschieden. Garden-Typ I beschreibt eine valgusimpaktierte
739 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
beeinflusst wird. Es hat sich aber gezeigt, dass die Winkel nicht mit der avaskulären Nekrose und der »Nonunion«-Rate korrelieren. Die derzeitige AO-Klassifikation der Schenkelhalsfraktur ist für die Therapieentscheidung nicht hilfreich (Blundell 1998). z
Typ I <30
Therapie
> Bei Kindern und jungen Patienten stellen Schenkelhalsfrakturen einen unfallchirurgischen Notfall dar und müssen ohne unnötigen Zeitverlust reponiert werden. Des Weiteren ist eine möglichst rasche operative Stabilisierung (innerhalb 6 h) angezeigt, um das Überleben des Femurkopfes zu sichern (Szita 2002).
Im Unterschied dazu ist beim älteren Patienten bei geplantem prothetischem Ersatz des Femurkopfes die Operation nicht dringlich. Trotzdem sollte die Operation innerhalb von 24–48 h durchgeführt werden, da die Mortalität und Infektionsmorbidität danach deutlich steigen (Rogers 1995). z z Konservative Therapie Typ II <30
Typ III >50
⊡ Abb. 27.34 Schenkelhalsbrüche: Klassifikation nach Pauwels. (Aus: Müller-Mai 2010)
Fraktur, die inkomplett oder komplett sein kann. GardenTyp II stellt eine eingestauchte Fraktur ohne Dislokation dar. Bei Garden-Typ III handelt es sich um eine leicht dislozierte Adduktionsfraktur. Bei Garden-Typ IV besteht eine komplette Dislokation mit Schafttranslation nach proximal. Bezüglich der prognostischen Aussage hinsichtlich avaskulärer Nekrose und »non union« können Typ I und II als nicht disloziert und Typ III und IV als disloziert zusammen gefasst werden. Eine weitere bekannte Einteilung ist die Klassifikation nach Pauwels (⊡ Abb. 27.34). Dabei wird die Neigung der Bruchebene zur Horizontalen berücksichtigt. Bei Pauwels-Typ I ist der Winkel <30°. Pauwels-Typ II bescheibt einen Winkel zwischen 30–70°, Pauwels-Typ III einen Winkel >70°. Die Einteilung basiert auf der Idee, dass bei einem höheren Frakturwinkel die Scherrkräfte zunehmen und damit die Frakturheilung negativ
Es gibt nur wenige Indikationen zur konservativen Behandlung von Schenkelhalsfrakturen. Selbst bei nicht oder nur wenig dislozierten Brüchen ist das Risiko zur sekundären Dislokation groß. Es wird in der Literatur mit bis zu 80% angegeben, insbesondere bei Patienten über 70 Jahren und mit Komorbidität. Die konservative Therapie kann bei inoperablen und terminalen Patienten oder bei Patienten, die vor der Fraktur schon ans Bett gebunden waren, in Erwägung gezogen werden. Bei allen anderen Patienten ist allenfalls beim Frakturtyp I nach Garden eine konservative Therapie erfolgsversprechend. > Für eine erfolgreiche konservative Therapie darf auf dem axialen Röntgenbild weder eine Verkippung noch eine Dislokation nach dorsal oder ventral toleriert werden. Das sekundäre Dislokationsrisiko liegt bei Patienten unter 70 Jahren und ohne Komorbiditäten bei ca. 5%.
Zur Nachbehandlung wird das Bein primär in einer Schaumstoffschiene gelagert. Sobald der akute Frakturschmerz abgeklungen ist, kann der Patient an 2 Gehstöcken mit einer maximalen Teilbelastung von 15 kg über 8 Wochen mobilisiert werden. Es empfiehlt sich, nach der primären Mobilisation ein Kontrollröntgen durchzuführen. z z Operative Therapie
Grundsätzlich wird zwischen kopferhaltender Operation und prothetischem Ersatz unterschieden. In den Altersgruppen unter 60 und über 70 Jahren herrscht Konsensus über die Behandlungsmethode. Bei Patienten unter 60 Jahren ist die Methode der Wahl die notfallmäßige Reposition und interne Fixation. Bei Patienten über 70 Jahren besteht die beste Therapie im prothetischen Ersatz. Im verbleibenden Patientengut im Alter zwischen 60 und 70 Jahren ist das chronologische Alter kein verlässlicher Parameter zur Entscheidungsfindung. Vielmehr müssen hier das biologische Alter bzw. Faktoren wie Aktivitätslevel, Gehfähigkeit vor dem Unfall und der kognitive Status
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740
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
zur Entscheidungsfindung berücksichtigt werden. Auch lokale Faktoren wie Arthrose spielen eine wichtige Rolle.
3
1
2
2 3 1
Femurkopferhaltende Operationen
Die Reposition wird primär geschlossen mithilfe eines Extensionstisches und unter Bildverstärkerkontrolle durchgeführt. Das betroffene Bein wird zuerst in die Länge gezogen und gleichzeitig außenrotiert und abduziert. Sobald Länge und Varus korrekt eingestellt sind, wird das Bein innenrotiert und adduziert. Kann mit diesen Manövern eine Überkorrektur nicht eingestellt werden, muss offen reponiert werden. Zur Fixation der Fraktur kommen kanülierte Spongiosaschrauben oder die dynamische Hüftschraube infrage.
27
Kanülierte Spongiosaschrauben
Mediale (intrakapsuläre) Schenkelhalsfrakturen werden bevorzugt mit dieser Methode versorgt. Dabei werden üblicherweise drei kanülierte Spongiosaschrauben in der Anordnung eines auf dem Kopf stehenden Dreiecks parallel zum Schenkelhals eingebracht. Drei Schrauben sind mindestens notwendig, damit eine genügend hohe Torsions- und Biegestabilität erzielt werden kann. Drei Schrauben haben im biomechanisch experimentellen Versuch im Vergleich zu zwei Schrauben eine signifikant höhere Torsionsstabilität, während eine zusätzliche vierte oder fünfte Schraube diesbezüglich keinen Vorteil bringt (Booth 1998). Da die Knochenqualität bzw. die Knochendichte im Schenkelhals und -kopf je nach Lokalisation variiert, ist die Lage der Schraube für eine erfolgreiche Frakturversorgung entscheidend. Die geringste Knochendichte findet sich im WardDreieck. Die größte Dichte weist der Kalkar auf, die Schlüsselstruktur für die Schraubenversorgung. Tipp
I
I
Um ein stabiles Konstrukt zu erhalten, müssen die Schrauben so platziert werden, dass eine kortikale Abstützung erzielt wird, d. h. die erste Schraube (an der Spitze des auf dem Kopf stehenden Dreiecks) wird parallel zum Schenkelhals am Kalkar entlang eingebracht. Die zweite und dritte Schraube (Basis des Dreiecks) werden parallel zur ersten Schraube ventral und dorsal an die Kortikalis gelegt.
Die biomechanischen Vorteile gegenüber anderen Schraubenanordnungen konnte mehrfach belegt werden. Um Mehrfachbohrungen zu verhindern, werden kanülierte Schrauben verwendet, d. h. unter Bildverstärkerkontrolle wird zuerst ein Kirschner-Draht korrekt platziert und danach zur Aufnahme der Schraube überbohrt (⊡ Abb. 27.35). Unter Zuhilfenahme eines Dreifachzielgeräts wird die Operation vereinfacht und verkürzt. Es empfiehlt sich, Titanschrauben zu wählen, da diese später eine evtl. notwendige MRT-Untersuchung bei Frage nach Femurkopfnekrose ermöglichen. Dynamische Hüftschraube (DHS)
Sie kommt v. a. bei den lateralen (extrakapsulären) Schenkelhalsbrüchen zum Einsatz. Mit der DHS steht ein Implantat zur Verfügung, dass die Vorteile der interfragmentären Schrauben-
⊡ Abb. 27.35 Anordnung der Führungsdrähte bei der Schenkelhalsverschraubung
kompression und der primär hohen Belastungsstabilität vereint. Durch die Möglichkeit des Ineinandergleitens von Hüftschraube und Plattenzylinder (»telescoping«) ist die Gefahr einer Kopfperforation auf ein Minimum reduziert. Der entscheidende Schritt nach der Reposition ist die korrekte Lage des Führungsdrahts. Dieser soll im a.p.-Strahlengang etwas unterhalb der Mitte und im axialen Strahlengang exakt in der Mitte liegen, damit eine sekundäre Impaktion möglich ist. ! Cave Auf gar keinen Fall darf der Draht bzw. die Schraube im schwachen anterosuperioren Quadranten des Femurkopfes gesetzt werden. Das Risiko eines Schraubenausbruches (»cut out«) ist in dieser Situation groß.
Damit beim Eindringen der Schenkelhalsschraube der Kopf nicht mitdreht (was einen katastrophalen vaskulären Schaden zur Folge haben kann) muss unbedingt das Gewinde geschnitten werden. Es empfiehlt sich, bei jüngeren Patienten mit harter Kopfspongiosa ein Antirotationsdraht bzw. -schraube einzubringen. Die Nachbehandlung gestaltet sich bei beiden Verfahren gleich. Die Patienten werden mithilfe der Physiotherapie an 2 Gehstöcken mobilisiert. Bei guter Knochenqualität und gutem Halt der Implantate ist grundsätzlich die Vollbelastung von Beginn an erlaubt. Es empfiehlt sich aber eine vorsichtige Mobilisation mit Teilbelastung während 6–8 Wochen. Hüftprothesen
Wenn das Risiko für die Heilungskomplikationen (sekundäre Dislokation, avaskuläre Nekrose) als groß eingeschätzt werden muss oder wegen lokaler Faktoren (Arthrose, rheumatoide Arthritis, Tumormetastasen) eine kopferhaltende Operation nicht mehr infrage kommt, ist die Indikation zur Hüftprothese gegeben. Die möglichen Komplikationen in Zusammenhang mit
741 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
der Frakturheilung sind wohl ausgeschaltet, der Patient sieht sich aber nach der Implantation einer Hüftprothese mit neuen möglichen Problemen konfrontiert. Hüftluxationen, azetabulärer Abrieb, Schaftlockerung und Infektionen sind Komplikationen, die ebenfalls zu Folgeoperationen führen können. In welcher Situation eine Totalprothese oder eine Hemiprothese bzw. eine bipolare oder unipolare Prothese eingesetzt werden soll, wird im Folgenden erläutert.
Prothese. Auch lokale Faktoren spielen eine wichtige Rolle in der Entscheidungsfindung. Patienten mit präexistierender Arthrose, rheumatoider Arthritis sowie Neoplasien, die beide Gelenkseiten betreffen, werden ebenfalls mit einer Totalendoprothese versorgt. Die Nachbehandlung unterscheidet sich von der bei Hemiendoprothese nicht. Die Patienten werden am ersten postoperativen Tag nach Maßgabe der Beschwerden mobilisiert.
Hemiendoprothese
z z Vorgehen am Kantonsspital St. Gallen
Man unterscheidet 2 Haupttypen: Die unipolare Hemiendoprothese besteht aus einem Schaft und einem starren Kopf, der modular in verschiedenen Größen wählbar ist und der direkt mit der natürlichen Pfanne artikuliert. Aufgrund der dabei gehäuft auftretenden azetabulären Erosionen, insbesondere bei den (jungen) aktiven Patienten, wurde die bipolare Prothese entwickelt. Bei diesem Prothesentyp wurde im Kopf zusätzlich ein Gelenk eingebaut. Ein auf den Schaft aufgesetzter Metallkopf artikuliert mit einem im Prothesenkopf eingesetzten Polyethylen-Inlay. Dahinter steckt die Idee, dass die Hüftbewegung primär im Prothesengelenk erfolgt und erst sekundär im Azetabulum. Dies kann einerseits einen verminderten azetabulären Abrieb und anderseits eine geringere Protrusionsrate zur Folge haben. Studien neueren Datums konnten aber die oben genannten Vorteile nicht nachweisen (Ong 2002). Mit Ausnahme der besseren Hüftbeweglichkeit in der bipolaren Gruppe zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Auch betreffend Luxationshäufigkeit konnten keine Unterschiede festgestellt werden. Kommt es allerdings zu einer Luxation, so kann die bipolare Prothese im Gegensatz zur unipolaren häufig nur offen reponiert werden. Schließlich ist die unipolare Prothese deutlich billiger.
Alter 65–75 Jahre: Hüfttotalendoprothese mit großem Prothesenkopf (z. B. Gr. 36), wegen der größeren Luxationsgefahr Durasul-Inlay und zementierter Schaft. Alter >75 Jahre: bei guter Gehfähigkeit (macht beispielsweise noch eigene Einkäufe, lebt selbstständig) Hüfttotalendoprothese mit Standartprothesenkopf (Gr. 28) und PolyethylenInlay, zementierter Schaft; bei limitierter Gehfähigkeit zementierte unipolare Endoprothese. Alter <65 Jahre: Osteosynthese auf dem Extensionstisch. Punktion des Gelenks. Bei medialer Schenkelhalsfraktur 3 kanülierte Spongiosaschrauben, bei lateraler Schenkelhalsfraktur dynamische Hüftschraube (mit Antirotationsschraube). Falls eine geschlossene Reposition nicht möglich ist, Zugang nach Watson-Jones und offene Reposition.
> Aufgrund des geringeren Operationstraumas als bei der Totalprothese und wegen der Gefahr des azetabulären Abriebs und der Protrusion ist die Hemiendoprothese bei alten, körperlich nur noch wenig aktiven Patienten indiziert.
Die Nachbehandlung nach Hemiendoprothese gestaltet sich einfach. Die Patienten können am ersten postoperativen Tag mobilisiert werden. Eine Belastungsgrenze besteht nicht. Im Normalfall benützen die Patienten in den ersten Wochen noch Gehstöcke. Totalendoprothese
Bei der Totalendoprothese werden sowohl der Gelenkkopf als auch die Gelenkpfanne ersetzt. Im Vergleich zur Hemiendoprothese ist der Eingriff dadurch für den Patienten belastender. Die Operation dauert länger und der Blutverlust ist größer. Die Patienten zeigen aber nach einer Totalendoprothesenimplantation eine bessere Gelenkfunktion, und die Revisionsraten sind niedriger (Lee 1998). Das Luxationsrisiko ist bei Patienten ohne Arthrose höher. Der Grund dafür ist die bessere präoperative Beweglichkeit. Bei Patienten in gutem Allgemeinzustand und noch hohem Aktivitätslevel wird daher die Totalendoprothese der Hemiendoprothese vorgezogen. Aber nicht nur Aktivitätslevel und Allgemeinzustand des Patienten beeinflussen die Wahl der
z z Evidenz und Kontroversen
Beim femurkopferhaltenden Vorgehen beeinflusst das postoperative Repositionsergebnis die Frakturheilung am stärksten. > Die besten Heilungsergebnisse werden bei einer Überkorrektur erzielt, d. h. die Frakturfragmente werden in einem leichten Valgus zueinander gestellt.
So wird aufgrund der Orientierung der Frakturfläche und des Stützeffekts des medialen Kortex Stabilität erzeugt. Auf gar keinen Fall darf eine Varusfehlstellung toleriert werden. Die Folge ist eine deutlich erhöhte »Nonunion«-Rate (Chua 1998). Trotz der implantatspezifischen Vor- und Nachteile der kanülierter Spongiosaschrauben und der dynamischer Hüftschrauben konnte eine Metaanalyse von 28 Studien, die die intrakapsulären Fixationsmethoden analysierten und miteinander verglichen, keine signifikanten Unterschiede bezüglich Frakturheilung, Komplikationen und Mortalität feststellen. Bei den extrakapsulären (basozervikalen) Schenkelhalsbrüchen hingegen scheint die DHS den kanülierten Spongiosaschrauben biomechanisch überlegen zu sein (Deneka 1997). Die Prothesenkomponenten können mit Zement fixiert oder zementfrei verklemmt werden. Bei den Pfannen hat sich das zementfreie Vorgehen aufgrund der erhöhten Lockerungsraten bei den zementierten Pfannen durchgesetzt. Bei den Schäften besteht nach wie vor kein Konsensus über die zementfreie oder zementierte Implantation. Beide Methoden zeigen gute Langzeitresultate (Parker 2006). Beim zementfreien Vorgehen ist das erhöhte periprothetische Frakturrisiko beim Einbringen der Prothese zu berücksichtigen. In einer Metaanalyse wurde die Schenkelhalsosteosynthese mit dem prothetischen Gelenkersatz (Hemi- und Totalendoprothese) verglichen. Die Autoren fanden ein signifikant nied-
27
742
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
a
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b
c
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⊡ Abb. 27.36a–d Bei dieser jungen polytraumtisierten Patientin wurde eine nicht dislozierte Schenkelhalsfraktur verpasst (a). Erst nach 3 Monaten zeigte eine Röntgenkontrolle die dislozierte, aber in Heilung begriffene Schenkelhalsfraktur (b). Es wurde eine Verschraubung in situ und gleichzeitig eine intertrochantere Umstellungsosteotomie durchgeführt (c). Nach problemloser Konsolidation der Fraktur und der Osteotomie konnte das Metall im Verlauf wieder entfernt werden (d)
rigeres Risiko für Revisionsoperationen bei den Prothesen. Infektionsraten, Blutverlust und Operationszeit waren allerdings deutlich höher (Anglen 1997). z
Komplikationen und Prognose
»Nonunion« und Pseudarthrosen mit sekundärer Dislokation und avaskuläre Femurkopfnekrosen mit segmentalem Kollaps sind die Hauptkomplikationen nach Osteosynhtese von Schenkelhalsfrakturen. Die »Nonunion«-Rate wird in der Literatur mit bis zu 5% angegeben. Beeinflusst wird die Rate von Patientenalter, Knochendichte, Dislokationsgrad, Repositionsergebnis, Implantatwahl und -lage. Die Behandlung richtet sich nach dem Patientenalter und dem vermuteten Grund. > Bei älteren Patienten ist die Konversion auf eine Prothese die beste Lösung. Bei jungen Patienten müssen alle Anstrengungen unternommen werden, das Gelenk zu erhalten.
Bei einem operationstechnischem Fehler reicht evtl. die korrekte Reosteosynthese zur definitiven Heilung aus. Meistens aber ist eine intertrochantere Umstellungsosteotomie nach Pauwels notwendig, um die Pseudarthrose zu stabilisieren (⊡ Abb. 27.36). Dabei wird der Pseudarthrosespalt senkrecht zu den einwirkenden Druckkräften (Gelenkreaktionskraft) ausgerichtet. Die Heilungsergebnisse sind hervorragend. Die avaskuläre Femurkopfnekrose wird in der Literatur mit einer Rate von 25–50% angegeben. Die Rate wird stark von Faktoren wie Frakturebene, Dislokationsgrad, intrakapsulärem Hämatom, Latenz bis zur Reposition sowie von Art und Lage des Implantats beeinflusst. Beim älteren Patienten wird ebenfalls die Konversion auf die Prothese empfohlen. Bei jungen Patienten kann mit hüftkopfentlastenden Operationen wie Flexions- oder Rotationsosteotomien versucht werden, das Nekrosesegment in eine unbelastete Zone zu verlagern. Die Komplikationsraten bei den Hüftprothesen sind im Allgemeinen gering und liegen sowohl für die Hemiendoprothese
wie auch für die Totalendoprothese deutlich unter den kopferhaltenden Operationen. Eine randomisierte Vergleichsstudie zeigte, dass die Reoperationsrate bei den kopferhaltenden Operationen mit 39% deutlich über der Hemiendoprothese mit 5% und der Totalendoprothese mit 9% liegen (Keating 2006). Als Hauptkomplikationen bei den Prothesen werden die Luxation und die Lockerung angegeben.
27.2.3
Intertrochantere Frakturen
K.-U.Lorenz z
Synonyme
Pertrochantere Femurfraktur, »proximal femoral fracture«. z
Definition
Die intertrochantere Femurfraktur betrifft das Trochantermassiv und verläuft meist zwischen Trochanter major und minor entlang oder parallel zur Linea intertrochanterica (von proximal-lateral nach distal-medial). Sie liegt immer extrakapsulär. Eine Sonderform ist die »reversed oblique intertrochanteric fracture«, die von proximal-medial nach distal-lateral verläuft. Aufgrund der statischen Verhältnisse bedarf dieser Frakturtyp besonderer operativer Aufmerksamkeit. z
Epidemiologie
Die intertrochantere Fraktur tritt typischerweise im Senium auf. Eine altersbedingte Osteoporose unterstützt das Auftreten dieser Frakturen im Rahmen von Niedrigenergietraumen. Bei zunehmendem Durchschnittsalter steigt auch die Gefahr der osteoporoseinduzierten Fraktur. Bei 80-jährigen Frauen besteht eine 15%ige Wahrscheinlichkeit, eine Schenkelhalsfraktur zu erleiden, bei Männern liegt diese Rate bei 8%. Junge Patienten erleiden pertrochantere Frakturen im Rahmen von Hochenergietraumen.
743 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Abb. 27.37 AO-Klassifikation der intertrochanteren Frakturen. (Aus: Müller-Mai 2010)
z
Anatomie und Biomechanik
längerer Wartezeit bis zur operativen Versorgung sollte eine Weichteilextension zur Schmerzlinderung installiert werden. Ein Femoralisblock kann zur Schmerzbehandlung zum Einsatz kommen.
Im Einbeinstand wird das 3-Fache des Körpergewichts über das Hüftgelenk in den proximalen Femur eingeleitet (Pauwels 1973). Das sorgt für hohe Biegemomente in Schenkelhalsbereich und einer extremen Druckbeanspruchung des Calcar femoris, der medialen Abstützung des proximalen Femurs. Die Fraktur dieser Region ist ein Instabilitätskriterium, das für die Wahl des Osteosyntheseverfahrens in Betracht gezogen werden muss ( Kap. 4).
z z Konservative Therapie
z
z z Operative Therapie
Klassifikation
Die AO-Klassifikation ist in ⊡ Abb. 27.37 dargestellt. Sie definiert 31-A als extraartikläre Trochanterfraktur und unterscheidet: ▬ A1: pertrochanter einfach fragmentiert ▬ A2: pertrochanter mehrfach fragmentiert ▬ A3: intertrochanter Die Evans-Klassifiation basiert auf der Anzahl der Fragmente und deren Dislokation. Die »reversed oblique fracture« ist als separater Frakturtyp anzusehen. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung zeigt eine Verkürzung und Außenrotation der betroffenen Extremität mit Functio laesa des Hüftgelenks. Offene Frakturen oder eine Verletzung von peripheren Gefäß- und Nervenstrukturen sind selten. z z Bildgebende Verfahren
Im Nativröntgen sollten eine anteroposteriore Beckenaufnahme tiefzentriert sowie eine axiale Aufnahme der betroffenen Hüfte angefertigt werden. Weiterführende Diagnostik (CT oder MRT) ist nur bei Verdacht auf pathologische Fraktur indiziert. z Therapie z z Auf der Notfallstation
Das verletzte Bein sollte mit geeigneten Lagerungsmitteln ruhiggestellt werden. Bei starken krampfartigen Schmerzen oder
Eine konservative Behandlung wird nur in seltenen Ausnahmefällen mithilfe einer Weichteiltraktion durchgeführt. Dies würde einer Therapia minima entsprechen.
Die Standardbehandlungsmethode der intertrochanteren Femurfraktur ist die geschlossene Reposition und die Stabilisierung über ein intra- oder extramedulläres Implantat mit dynamischer Schenkelhalsschraube (z. B. DHS oder γ-Nagel). > Die operative Versorgung sollte innerhalb von 24–36 h erfolgen, da ansonsten vermehrt Komplikationen (Dekubitus und Pneumonie) auftreten (Chilov et al.2003). Lagerung und Reposition
Die geschlossene Reposition erfolgt sinnvollerweise auf einem Extensionstisch mit Weichteilextension am Fuß (⊡ Abb. 27.38). Unter axialem Zug bei leichter Adduktion und Innenrotation des Beins kann die Mehrheit der einfachen intertrochanteren Frakturen sehr gut reponiert werden. Zu beachten ist die gelegentlich vermehrte Außenrotation des Kopf-SchenkelhalsFragments insbesondere bei mehrfragmentären Frakturen. Dann sollte unter Röntgendurchleuchtung die Längsprojektion des Schenkelhalses gesucht und diese Bildverstärkerprojektion für die weiteren axialen Aufnahmen eingestellt werden. Bei komplizierten Brüchen muss ggf. offen mit entsprechenden Instrumenten (Einzinker, Verbrugge-Zange oder temporärer Cerclage) reponiert werden. Operationstechnik und Implantate
Die Implantatwahl konzentriert sich aktuell auf die dynamische Hüftschraube und auf intramedulläre Nägel, z. B. γ-Nagel (⊡ Abb. 27.39) oder PFN (proximaler Femurnagel).
27
744
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
a
27
⊡ Abb. 27.38 Der Einsatz des Extensionstisches hat sich für die Reposition (geschlossen oder offen) bewährt. Insbesondere bei adipösen Patienten sollte darauf geachtet werden, dass nicht nur die betroffene Extremität adduziert ist, sondern auch der Oberköper zur Gegenseite gelagert wird (»Bananen-Lagerung«). Dies erleichtert den Zugang zur Trochanterspitze in Verlängerung der Femurschaftachse. (Aus: Krettek u. Aschemann 2005)
a
b
⊡ Abb. 27.39a,b Intertrochantere Femurfraktur mehrfragmentär (31-A2). a Präoperativ, b Operative Versorgung mit γ-Nagel. Die Schenkelhalsschraube liegt zentral und reicht bis 10 mm unterhalb der Corticalis. Dieser Abstand sollte unter 25 mm sein
> Wichtig für alle Implantate mit Schenkelhalsschraube ist deren Positionierung zentral in beiden Ebenen (Ricci 2006). Wir sehen insbesondere bei ventrokranialer Lage der Schenkelhalsschraube die Gefahr der sekundären Schraubenlockerung.
Die primäre Hüftprothesenversorgung (Kopfendoprothese oder Totalendoprothese) zeigt gute Resultate, sollte jedoch Patienten mit Koxarthrose oder schwerer Osteoporose sowie Revisionsoperationen und pathologischen Frakturen vorbehalten bleiben (Ricci 2006).
b
⊡ Abb. 27.40a,b Einfache pertrochantere Femurfraktur. a Präoperativ: gering disloziert mit intakter medialer Abstützung, b Postoperativ mit DHS versorgt. Da die Krafteinleitung durch die Platte lateral am proximalen Femur erfolgt, sollte bei der Verwendung der DHS die mediale Absützung intakt sein
et al. 2003, Parker u. Handoll 2006). Diese Metaanalysen beziehen sich im Falle des γ-Nagels auf das ältere Nageldesign mit größerem Durchmesser von Nagel und Verriegelungsbolzen, sodass die aktuelle Komplikationsrate (»implant-related complications«) niedriger anzusetzen ist. Weiterhin wurde bei den Erhebungen der Zahlen nicht zwischen den verschiedenen Frakturtypen unterschieden, sodass eine Indikationsstellung nicht analysiert werden kann und eventuelle Komplikationen (DHS bei »reversed pertrochanteric fracture«) nicht zutage treten. Neben dem Nageldesign ist die Komplikationsrate unserer Meinung nach stark vom Erfahrungsstand des Operateurs abhängig. Wir verwenden in etwa 90% der intertrochanteren Frakturen den γ-Nagel, da wir die intramedulläre Kraftübertragung dieses Implantats bevorzugen. Unsere implantatbezogene Komplikationsrate sank von anfänglich 8% auf aktuell unter 3%. Die DHS setzen wir bei trochanteren Frakturen (31-A1) mit intakter medialer Abstützung ein (⊡ Abb. 27.40). DHS mit kurzer oder langer Platte unterschieden sich nicht signifikant hinsichtlich der Stabilität, der Weichteilschaden ist bei kurzer Platte aber geringer (Haidukewytsch u. Jacofsky 2006). Tipp
I
I
Die Implantation einer DHS ist bei »reversed oblique fractures« kontraindiziert, ein anterograder intramedullärer Nagel ist in diesen Fällen zu empfehlen (Haidukewytsch u. Jacofsky 2006).
»Single-shot«-Antibiotikaprophylaxe bei Anästhesieeinleitung hat sich bewährt, eine weiterführende Antibiotikagabe zeigt keinen Nutzen (Chilov et al. 2003).
z z Evidenz und Kontroversen
z z Nachbehandlung
Es besteht Evidenz, dass die DHS aktuell weniger Komplikationen aufweist und kostengünstiger ist als der γ-Nagel (Chilov
Die postoperative Mobilisation erfolgt frühfunktionell mit physiotherapeutischer Assistenz. Die volle Belastbarkeit der Os-
745 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
teosynthese muss nur bei ausgeprägter Osteoporose, instabiler Fraktur oder inkorrekter Implantatlage infrage gestellt werden. z
Komplikationen und Prognose
Intertrochantere Frakturen sind aufgrund der hohen Inzidenz im Senium per se komplikationsträchtig und weisen eine Sterblichkeitsrate von 33,5% (Suckel 2007) bis hin zu 60% nach 2 Jahren postoperativ auf (Weller et al. 2005). Häufige operationsoder implantatbedingte Probleme sind Cutout der Schenkelhalsschraube (bis 9,7%) und Wundheilungsstörungen (bis 11,8%; Suckel 2007). Weitere Komplikationen sind Implantatbruch, Femurschaftbruch am distalen Nagel- bzw. Plattenende und Femurkopfnekrose. Bei Konversion auf Hüfttotalendoprothese nach Versagen der Osteosynthese ist mit einer Komplikationsrate (Luxation und Zementaustritt) von bis zu 25% zu rechnen. > Bei lateral prominenter störender Schenkelhalsschraube sollte wegen der Gefahr der Schenkelhalsfraktur im postoperativen Verlauf das Metall nicht entfernt werden. Wir empfehlen den Wechsel auf eine kürzere Schraube.
27.2.4
Subtrochantere Femurfrakturen
K.-U. Lorenz z
Definition
Die subtrochantere Fraktur betrifft das proximale Drittel des Femurschafts unterhalb des Trochanter minor (⊡ Abb. 27.41), kann aber auch in die intertrochantere Region einstrahlen. Aufgrund biomechanischer Besonderheiten (hohe mechanische Beanspruchung und verschiedene Muskelansätze) wird sie als Sonderform der Femurschaftfraktur angesehen. Im Folgenden werden diese Besonderheiten und deren therapeutische Konsequenzen erläutert. Einzelheiten zu Femurschaftfraktur einschließlich der Klassifikation finden sich in Abschn. 27.2.5. z
Anatomie und Biomechanik
Ein Vielfaches des Körpergewichts wird über den medial liegenden Hüftkopf in das proximale Femur eingeleitet (Druckbelastung). Die Abduktoren, die v. a. am Trochanter major ansetzen, müssen diese Kräfte neutralisieren. Daraus resultieren Zuglasten am lateralen proximalen Femur bis zum 3-Fachen des Körpergewichts im Einbeinstand (Pauwels 1973). Durch diese besonderen Kraftverhältnisse führt die subtrochantere Fraktur häufig zu einer typischen Fehlstellung des proximalen Fragments mit Abduktion (Mm. gluteus medius und minimus), Außenrotation (M. iliopsoas) und Flexion (Mm. iliopsoas, gluteus medius und minimus; Haidukewytch u. Jacofsky 2006). z Therapie z z Konservative Frakturbehandlung
Ziele der Frakturbehandlung sind die Restauration des Schenkelhals-Schaft-Winkels und der Anteversion des proximalen Femurs. Aufgrund der Dislokation der Fragmente und des extremen mechanischen Stresses ist dieses Ziel nicht mit konservativen Mitteln zu erreichen.
⊡ Abb. 27.41 Subtrochantere Fraktur mit Dislokation des proximalen Fragments
z z Operative Therapie Lagerung und Reposition
Der Patient wird auf dem Extensionstisch gelagert ( Abschn. 27.2.3, ⊡ Abb. 27.38). Aufgrund der beschriebenen Fehlstellung des proximalen Fragments ist eine geschlosssene Reposition häufig nicht möglich. In solchen Fällen ist eine offene Reposition über einen lateralen Zugang zum proximalen Femur unter Verwendung von Einzinker, Verbrugge-Zange und Kabel-Cerclage nötig. Implantatwahl
Das Implantat der Wahl für subtrochantere Frakturen ist der intramedulläre Nagel. Durch seine ausgesprochen gute Lastüberbrückung der Fraktur (intramedulläres »load sharing«) ist eine frühe Mobilisation mit Vollbelastung möglich. Dies ist insbesondere bei fehlender medialer Abstützung gegeben, wenn eine lateral liegende Platte nur einen Bruchteil des Körpergewichts übernehmen kann. Ist ein großes proximales Fragment mit intaktem Trochanter minor vorhanden, kann wie bei Femurschaftfrakturen ein Femurmarknagel verwendet werden (Haidukewytch u. Jacofsky 2006). Bei kleinem proximalem Fragment ggf. mit intertrochanterem Ausläufer ist ein Implantat zu verwenden, das über eine Schenkelhalsschraube, z. B. ein langer γ-Nagel (⊡ Abb. 27.43) oder ein langer PFN, proximal fixiert wird.
27
746
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Eine Trümmerfraktur im subtrochanteren Bereich kann sowohl mit einem anterograden Marknagel als auch mit einer lateral liegenden Platte (dynamische Kondylenschraube, Klingenplatte, Gabelplatte) versorgt werden. Dabei ist darauf zu achten, dass im Trümmerbereich ausgesprochen gewebeschonend präpariert und vorzugsweise minimal-invasiv implantiert wird (Gefahr der »nonunion«).
27.2.5
Femurschaftfrakturen
K.-U. Lorenz z
Definition
Die Femurschaftfraktur betrifft die Diaphyse des Femurs zwischen proximaler und distaler Metaphyse (⊡ Abb. 27.44). Die subtrochantere Fraktur wird als eine Sonderform der Femurschaftfraktur angesehen ( Abschn. 27.2.3).
27
z
Ätiologie und Pathogenese
⊡ Abb. 27.42 Durch den Zug der Mm. iliopsoas, gluteus medius und minimus wird nach einer subtrochanteren Fraktur eine typische Fehlstellung des proximalen Fragments erzeugt
Die Mehrheit der Femurschaftfrakturen tritt bei jungen Patienten im Rahmen von Hochrasanztraumen (Verkehrsunfälle und Stütze aus größerer Höhe) auf. Diese verursachen oft mehrfragmentierte Frakturen und ein relevantes Weichteiltrauma inklusive offener Frakturen. Begleitverletzungen im Knie treten bei bis zu 60% der Verletzten auf. Gleichzeitige ipsilaterale Schenkelhalsfrakturen sind selten (2,5–6%), werden jedoch in
⊡ Abb. 27.43 Mit langem γ-Nagel versorgte subtrochantere Fraktur
⊡ Abb. 27.44 Kurze Schrägfraktur der Femurdiaphyse
747 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
mehr als 30% der Fälle primär nicht diagnostiziert (Ricci 2006). Osteoporoseinduzierte Brüche sind häufig spiralförmig und ohne nennenswertes Weichteiltrauma. > Bei Femurfrakturen im Rahmen von Hochrasanztraumen ist an eine mögliche ipsilaterale Schenkelhalsfraktur zu denken. z
Klassifikation
Die AO-Klassifikation sieht folgende Einteilung vor (⊡ Abb. 27.46): ▬ 32-A1: einfache spiralförmige Fraktur ▬ 32-A2: einfache schräge Fraktur (Winkel >30°) ▬ 32-A3: einfache quere Fraktur (Winkel <30°) ▬ 32-B1: spiralförmige Keil-Fraktur ▬ 32-B2: Biegekeilfraktur ▬ 32-B3: fragmentierte Keilfraktur ▬ 32-C1: komplexe spiralförmige Fraktur ▬ 32-C2: Zwei-Etagen-Fraktur (Segmentfraktur) ▬ 32-C3: Trümmerfraktur
S=Teilkörperschwerpunkt
Tractus Iliotibialis
Zuggurtung
Die Winquist-Hansen-Klassifikation mit den Graden 0–IV basiert auf der Größe des frakturierten Anteils des im Querschnitt gesehenen Schaftes.
h h= Hebelarm des Teilkörpergewichtes a
Die klinische Untersuchung zeigt meist eindeutige Frakturzeichen mit Hämatom, Fehlstellung und Crepitatio sowie Bewegungs- und Stauchungsschmerz. Offene Frakturen treten in 20% der Fälle auf (Ricci 2006). Standardmäßig ist das Assessment der peripheren Gefäß- und Nervenversorgung durchzuführen.
Anatomie und Biomechanik
Ein ausgeprägter muskulöser Weichteilmantel umspannt den gesamten Femur und sorgt somit für eine deutliche Verkürzungstendenz der Femurschaftfraktur. Eine Verstärkung dieser Tendenz wird durch den lateral liegenden Tractus iliotibialis und die Fascia lata mit dem M. tensor fasciae latae bewirkt. Diese lateralen Strukturen haben eine Zuggurtungsfuntion, um der am proximalen Femur deutlich medial eingeleiteten Körpergewichtskraft entgegen zu wirken (⊡ Abb. 27.45). z
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
b
K= Teilkörpergewicht
⊡ Abb. 27.45a,b Der Tractus iliotibialis hat bei intaktem Femur im Einbeinstand eine Zuggurtungsfunktion. Bei Femurschaftfraktur bewirkt der Zug des Tractus neben dem muskulösen Weichteilmantel des Femurs eine deutliche Verkürzungstendenz
z z Bildgebende Verfahren
Im Nativröntgen sollten a.p.- und seitliche Aufnahmen des Femurs angefertigt werden. Hüft- und Kniegelenk der betroffenen Seite sollten ebenfalls geröntgt werden, um die Ausdehnung der Fraktur sicher definieren zu können. Weiterführende Diagnostik (CT oder MRT) sind nur bei Verdacht auf pathologische Fraktur erforderlich. Gegebenenfalls sind eine Dopplersonographie mit Bestimmung des »anklebrachial-index« oder eine Kompartmentmessung notwendig ( Abschn. 27.2.6). z Therapie z z Auf der Notfallstation
Das verletzte Bein sollte mit geeigneten Lagerungsmitteln ruhiggestellt werden. Bei starken krampfartigen Schmerzen oder längerer Wartezeit bis zur operativen Versorgung kann eine Weichteilextension Schmerzlinderung bringen (Ricci 2006). Offene Wunden werden mit jodhaltigem Desinfektionsmittel behandelt und steril abgedeckt, es erfolgt der Beginn der intravenösen Antibiotikabehandlung (z. B. Augmentin 2,2 g i.v. 3-mal täglich). Tipp
I
I
Eine perioperative Antibiotikaprophylaxe wird auch für geschlossene Femurschaftfrakturen empfohlen (Rixen et al. 2005).
z z Konservative Therapie
Ziele der Frakturbehandlung ist die Rekonstruktion der Länge und der Achsenverhältnisse des Femurs (Varus/Valgus, Flexion/ Extension und Rotation) mit der Möglichkeit der frühfunktionellen Nachbehandlung. Diese Kriterien lassen eine konservative Therapie bei Erwachsenen in den Hintergrund treten. Nur in Ausnahmefällen (Paraparese, Kontraindikation für Anästhesie o. ä.) werden eine Traktionsbehandlung und/oder ein Gipstutor als ausschließliche Therapie eingesetzt. z z Operative Therapie
Der anterograde Marknagel ist das Standardimplantat für die Femurschaftfraktur (Ricci 2006).. Viele Firmen bieten ein neues Nageldesign an, bei dem der Eintrittspunkt des Nagels auf der Trochanterspitze liegt. Dadurch ist die Implantation erleichtert und die Gefahr der Verletzung der femurkopfversorgenden Blutgefäße ist reduziert. Der am Trochanter inserierende M. gluteus medius kann jedoch stärker geschädigt werden, was zu belastungsabhängigen Schmerzen führen kann. Optional kann eine Plattenosteosynthese oder ein retrograder Nagel zum Einsatz kommen.
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748
Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
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⊡ Abb. 27.46 Femurschaftfrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai 2010)
Bei isolierten Verletzungen sollte die baldmöglichste definitive Versorgung angestrebt werden. Im Fall von offenen Frakturen Grad II–III nach Gustilo-Anderson ist das Ziel der operativen Behandlung die frühestmögliche temporäre Stabilisierung des Bruches mit einem Fixateur externe und die Wundversorgung nach chirurgischen Grundsätzen (Débridement und ggf. temporäre Defektdeckung).
Lagerung und Reposition
Für die Marknagelung bei Femurschaftfrakturen empfehlen wir den Einsatz eines Extensionstisches mit einer SteinmannNagel-Extension in der Epikondylenebene des distalen Femurs. Dadurch wird die Rotation häufig bereits korrekt eingestellt und der Rekurvationstendenz des frei hängenden Femurs entgegengewirkt (Repositionshilfe!). Hinsichtlich Oberkörperlage-
749 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Tipp
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Generell sollte bei der Nagelimplantation eine Aufbohrung des Markraums erfolgen, da hiermit bessere Heilungsraten erzielt werden als mit unaufgebohrten Marknägeln (Ricci 2006).
Gründe dafür sind eine Umkehr der Blutversorgung im Femur nach Fraktur und Auffräsen (von extramedullär nach intramedullär), eine sog. endogene Spongiosaplastik im Frakturbereich durch das Auffräsen und die Möglichkeit, dickere Nageldurchmesser implantieren zu könnnen (Wolinsky et al.2002). Die proximale Verankerung des anterograden Marknagels erfolgt bei subtrochanteren Frakturen im Schenkelhals und bei Femurschaftfrakturen auf Höhe des Trochanter minor. Der laterale Standardzugang zum Femur für die »klassische Plattenimplantation« geht mit einem relativ großen Weichteiltrauma einher und erfordert die Ligatur der einzelnen Perforansarterien. Aus diesem Grund bevorzugen wir die minimalinvasive Plattenimplantation mit dem Einsatz von Zielbügeln (z. B. »Non-contact-binding«-[NCB-]Platte oder »Less-invasive-surgery-system«-[LISS-]Platte). Platten kommen zum Einsatz, wenn der intramedulläre Nagel nicht verwendet werden kann (z. B. offene Wachstumsfugen, periprothetische Fraktur oder enger Markkanal). Für die temporäre Fixation bei offenen Wunden oder bei polytraumatisierten Patienten sollte der Fixateur externe zum Einsatz kommen. z z Evidenz und Kontroversen
⊡ Abb. 27.47 Der anterograde Verriegelungsmarknagel ist das Standardimplantat für die Stabilisierung der Femurschaftfraktur. Die neuen Nageldesigns ermöglichen den Eintrittspunkt des Nagels an der Trochanterspitze
rung vgl. Abschn. 27.2.3 und ⊡ Abb. 27.38. Die Lagerung des Patienten für die Plattenosteosynthese erfolgt auf dem normalen Operationstisch auf dem Rücken liegend. Ein Lagerungskeil wird ggf. unter das ipsilaterale Gesäß gelegt, um einer zu starken Außenrotation entgegenzuwirken. Operationstechnik und Implantate
Standardmäßig wird der anterograde Marknagel eingesetzt (⊡ Abb. 27.47; Ricci 2006, Rixen et al. 2005). Die Möglichkeit der retrograden Nagelung besteht, wird jedoch nicht in großem Umfang angewandt.
Grundsätzlich sollten Frakturen der langen Röhrenknochen bei einem polytraumatisierten Patienten so früh wie möglich stabilisiert werden, da die Prävalenz eines Fettemboliesyndroms und die Mortalität gesenkt werden (Wolinsky et al. 2002). Kontroverse Therapieansätze existieren hinsichtlich der Art der Femurfrakturversorgung, insbesondere bei pulmonaler Problematik. Es wird sowohl die primär definitive als auch die primär temporäre und sekundär definitive Stabilisierung beschrieben. Die zweite Variante wird insbesondere im Rahmen der »damage control surgery« propagiert. Das Standardimplantat ist unabhängig vom Zeitpunkt der definitiven Versorgung der Verriegelungsmarknagel (Rixen et al. 2005, Pape et al. 2002, Meek 2006). Prospektiv randomisierte Studien zu diesem Thema gibt es aktuell keine, auch hinsichtlich der Frage, ob eine primäre Plattenosteosynthese das Problem der Fettembolie verringern würde. Eine retrospektive Studie, die primäre Platten- und Nagelversorgung von Femurfrakturen in 2 Traumazentren untersuchte, zeigte keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich pulmonaler Komplikationen und Überlebensraten (Bosse et al. 1997). Der AAOS (American Academy of Orthopaedic Surgeons) zufolge profitiert der polytraumatisierte Patient von einer frühen Marknagelversorgung mehr, als das intramedulläre Auffräsen während der Implantation schaden würde. Voraussetzungen sind scharfe Markraumfräsen mit modernem Design und langsame Passage des Markraums. Die gleichzeitige Versorgung mehrerer langer Röhrenknochen wird jedoch nicht diskutiert (Ricci 2006).
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Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
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⊡ Abb. 27.48 Durch die intraoperative Röntgenprojektion des Trochanter minor im Seitenvergleich kann das Risiko einer Fehlrotation nach Marknagelung reduziert werden
a
Eine prospektive Studie zeigt ein signifikant höheres Risiko für einen polytraumatisierten Patienten, ein pulmonales Versagen zu erleiden, wenn gleichzeitig mehrere lange Röhrenknochen mit Marknagelung versorgt werden (Zalavras et al. 2005).
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Komplikationen und Prognose
Für den Verriegelungsmarknagel werden Heilungsraten von bis zu 99% (Ricci 2006) und Infektionsraten von kleiner als 1% (Wolinsky et al. 2002) angegeben. Eine verbreitete Komplikation der Femurmarknagelung ist die postoperative Fehlrotation des Femurs. Die Inzidenz dieser Problematik beträgt bis zu 30% (Jaarsma u. van Kampen 2004). Insbesondere die vermehrte Außenrotation des distalen Femurs (Retrotorsion des Femurs) stört die Patienten im weiteren Verlauf und muss als arthrosefördernd für das Hüftgelenk angesehen werden (Millis u. Kim 2002). Aus diesem Grund ist bei Verdacht auf postoperative Fehlrotation eine Rotationsbestimmung im CT oder MRT durchzuführen. Eine Retrotorsion sollte immer korrigiert werden, eine Seitendifferenz in der Rotation bis 10° ist tolerabel. Die Gefahr der Fehlro-
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tation ist bei Verwendung der Plattenosteosynthese geringer als bei Femurmarknagelung (Jaarsma u. van Kampen 2004).
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Tipp
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Um Rotationsfehler bei Marknagelung zu vermeiden, kann intraoperativ die Projektion des Trochanter minor unter Röntgendurchleuchtung mit der gesunden Seite verglichen werden.
z z Nachbehandlung
Die postoperative Mobilisation erfolgt frühfunktionell mit physiotherapeutischer Assistenz. Bei Verwendung eines intramedullären Implantats ist direkt postoperativ Vollbelastung möglich. Wurde eine lateral liegende Platte implantiert, sollte bis zum gesicherten radiologischen Durchbau der Fraktur jedoch mindestens 6–8 Wochen teilbelastet werden.
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Der Vergleich von anterogradem und retrogradem Femurmarknagel zeigt momentan keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Komplikationsrate (Infektion, »insertion-side morbidity« und Malalignment). Jedoch wird eine signifikant bessere bzw. schnellere Frakturheilung mit dem anterograden Nagel gesehen (Wolinsky et al.2002)
27.2.6
Distale Femurfrakturen
K.-U. Lorenz z
Definition
Die distale Femurfraktur oder suprakondyläre Femurfraktur betrifft das distale Femur auf Höhe der metaphysären Erweiterung und distal davon. Sie weist häufig Ausläufer in die femorale Gelenkfläche auf (⊡ Abb. 27.49).
751 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
z
Anatomie und Biomechanik
Die gelenküberspannenden Muskeln am Kniegelenk tragen zu einem typischen Fehlstellungsbild nach Fraktur des distalen Femurs bei. Eine Verkürzung resultiert aus dem Zug von M. quadrizeps und den Hamstrings (Mm. biceps femoris, semitendinosus und semimembranosus), eine Extensions-VarusFehlstellung des distalen Fragments wird durch die Adduktoren und den M. gastrocnemius verursacht. z
Diagnostik
Die klinische Untersuchung zeigt meist eindeutige Frakturzeichen mit Hämatom und Schwellung sowie ggf. Fehlstellung. Eine klinische Evaluation der Kniebinnenstrukturen ist schmerzbedingt meist nicht möglich und ggf. präoperativ in Narkose durchzuführen. > Von äußerster Wichtigkeit ist das Assessment der peripheren Gefäß- und Nervenversorgung bei Einlieferung des Patienten und auch im weiteren Verlauf der Abklärung und Behandlung.
Ein aussagekräftiger und nicht invasiver Test ist der Ankle-Brachial-Index. Bei einem Quotienten aus systolischem Blutdruck am Unterschenkel und Oberarm unter 0,9 muss von einer Intimaverletzung ausgegangen und eine Angiographie durchgeführt werden (Mills et al. 2004). Kompartmentsyndrome werden selten beobachtet, sollten jedoch bei Verdacht mit einer intrakompartimentellen Druckmessung ausgeschlossen werden. z z Bildgebende Verfahren
⊡ Abb. 27.49 Mehrfragmentfraktur des distalen Femurs mit interkondylärem Split (33-C2)
Relevante Weichteilverletzungen sind selten (Gefäßverletzung 3% und Nervenverletzungen 1%), häufiger findet man Meniskus- und Knorpelverletzungen (bis 12%) und Patellafrakturen (bis 15% (Kinzl 2003). Eine isolierte Fraktur des Femurkondylus in der Koronarebene wird nach Arthur Hoffa als »Hoffa-Fraktur« bezeichnet und ist in der AO-Klassifikation mit 33-B3 verschlüsselt. Ebenfalls eine Art Sonderstellung hat die unikondyläre Femurfraktur (33-B2), die häufig gering disloziert ist und minimal-invasive versorgt werden kann (s. unten). z
Epidemiologie
Die Inzidenz weist zwei Altersgipfel auf, wobei im Alter zwischen 15 und 50 Jahren die Hochenergietraumen beim männlichen Patienten mit Mehrfachverletzungen dominieren und im Alter über 50 Jahren die osteoporoseinduzierten Niedrigenergietraumen bei weiblichen Patienten aufgrund einfacher Stürze überwiegen.
Im Nativröntgen sollten Knie und Femur im seitlichen und im a.p.-Strahlengang dokumentiert werden. Spezialaufnahmen wie Nativröntgen unter Traktion werden von uns nicht empfohlen. Bei Mehrfragmentfrakturen oder Gelenkbeteiligung ist ein CT für das »Lesen und Verstehen« des Bruches und die daraus abgeleitete Operationsplanung hilfreich. Bei komplexen Frakturen hat sich eine 3D-Rekonstruktion bewährt. Eine sonographische Doppleruntersuchung ist für das Erheben des Gefäßstatus hilfreich, falls die Pulse nicht sicher palpabel sind. z
Klassifikation
Die AO-Klassifikation ist in ⊡ Abb. 27.50 dargestellt. ▬ 33-A: extraartikuläre Frakturen – 33-A1: einfache Fraktur – 33-A2: metaphysäre Keilfraktur – 33-A3: metaphysäre Trümmerfraktur ▬ 33-B: einfache artikuläre Fraktur – 33-B1: lateraler Kondylus, sagittal – 33-B2: medialer Kondylus, sagittal – 33-B3: koronar ▬ 33-C: komplexe artikuläre Fraktur – 33-C1: einfache artikuäre Fraktur mit einfacher metaphysärer Fraktur – 33-C2: einfache artikuläre Fraktur mit metaphysärer Trümmerfraktur – 33-C3: artikuläre Trümmerfraktur
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Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
1
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⊡ Abb. 27.50 Distale Femurfrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai 2010)
z Therapie z z Auf der Notfallstation
Das verletzte Bein sollte mit geeigneten Lagerungsmitteln ruhiggestellt werden. Bei starken krampfartigen Schmerzen oder längerer Wartezeit bis zur operativen Versorgung kann eine Weichteilextension Schmerzlinderung bringen. Offene Wunden werden mit jodhaltigem Desinfektionsmittel behandelt und steril abgedeckt, Beginn mit der intravenösen Antibiotikabehandlung (z. B. Augmentin 2,2 g i.v. 3-mal täglich). z z Konservative Therapie
Die Ziele der Frakturbehandlung sind Rekonstruktion der Gelenkflächen mit Wiederherstellung der anatomischen Achsen sowie die stabile Fixation der Kondylen an den distalen Femur mit der Möglichkeit der frühfunktionellen Nachbehandlung. Diese Kriterien lassen eine konservative Therapie in den meisten Fällen nicht zu. Nur fissurale Brüche oder einfache impaktierte metaphysäre Frakturen können ohne Operation zufriedenstellend behandelt werden.
z z Operative Therapie
Die operative Therapie der distalen Femurfraktur ist heutzutage der Behandlungsstandard. Ein besseres Ergebnis und geringere Komplikationsraten im Vergleich zur konservativen Behandlung wurden nachgewiesen (Stover 2001, Forster et al. 2006). Bei isolierten Verletzungen sollte die baldmöglichste definitive Versorgung angestrebt werden. Im Fall von offenen Frakturen Grad II und höher ist das Ziel der operativen Behandlung die frühestmögliche temporäre Stabilisierung des Bruches mit einem Fixateur externe und die Wundversorgung nach chirurgischen Grundsätzen (Débridement und ggf. temporäre Defektdeckung). Lagerung und Reposition
Die Lagerung des Patienten erfolgt auf dem normalen Operationstisch in Rückenlage. Ein Extensionstisch ist nicht nötig und hat sich nicht bewährt. Ein Lagerungskeil kann unter das ipsilaterale Gesäß gelegt werden, um einer zu starken Außenrotation entgegenzuwirken.
753 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
⊡ Abb. 27.51 Kirschner-Drähte (2 mm) können als »joystick« für die Reposition und anschließend für die temporäre Fixation eingesetzt werden
⊡ Tab. 27.9 Implantate zur Verbindung von Knochenblock und proximalem Femurfragment Fixationsprizip
Implantat
Extramedulläre Implantate Kompression
Abstützplatte
Kompression proximal, Winkelstabilität distal
Dynamische Kondylenschraube
Winkelstabilität
LISS®
Kompression und Winkelstabilität
NCB® und LCP®
Intramedulläre Implantate
Anterograder und retrograder Nagel
LISS »locking compression plate«, NCB »no contact bridging«, LCP »less invasive surgery system«
Tipp
I
I
Um die Reposition zu erleichtern, hat sich die Flexion im Kniegelenk (bei ca. 60°) bewährt, da dann die Mm. adductor magnus und gastrocnemius am wenigsten der Wiederherstellung der Länge und des Alignments entgegenwirken.
Operationstechnik und Implantatwahl
Standardmäßig wird der laterale Zugang zum distalen Femur mit Arthrotomie angewandt. Eine weitere Option ist der parapatelläre laterale Zugang zum Knie für C3-Frakturen. Primär wird die Fraktur im Gelenkbereich dargestellt, débridiert und reponiert. Dabei wird auf die Wiederherstellung der Gelenkfläche geachtet. Hilfreich sind 2-mm-Kirschner-Drähte in den einzelnen Fragmenten als »joystick« und eine Beckenrepositionszange (»Kingkong«) für die Kompression über beiden Epikondylen (⊡ Abb. 27.51).
⊡ Abb. 27.52 Distale intrartikuläre Femurfraktur versorgt mit NCB in minimal-invasiver Technik. Die Platte kann primär mit Kompressionsschrauben (Fragment-Fragment-Platte) die Reposition ermöglichen und sekundär eine winkelstabile Verbindung zum Femurschaft herstellen (Verblocken der Schraubenköpfe mittels Gewindekappen)
Das Repositionsergebnis wird mit interfragmentären Kompressionsschrauben (z. B. 6,0-mm-Spongiosaschrauben mit 16-mm- oder 32-mm-Gewinde) oder temporär mit 2-mmKirschner-Drähten gehalten. Der rekonstruierte gelenktragende Knochenblock wird anschließend mit dem proximalen Femurfragment kraftschlüssig verbunden. Dafür stehen verschiedene Implantate zur Verfügung. Für die temporäre Fixation bei offenen Wunden oder polytraumatisierten Patienten sollte der Fixateur externe zum Einsatz kommen. Der Vorteil der neueren winkelstabilen Implantate (NCB®, LCP® und LISS®) kommt insbesondere bei Frakturen mit Trümmerzone ohne mediale Abstützung und bei osteoporotischem Knochen zum Tragen. Bei der NCB-Platte (»no contact and bridging plate«) können die Schrauben mit einem Freiheitsgrad von 15° eingebracht und primär zur Kompression der Kondylenfragmente (interfragmentär und Fragmentplatte) verwendet werden. In einem sekundären Schritt (Aufdrehen von Kappen) werden die Schraubenköpfe winkelstabil verblockt. Die Platte kann mit Zielbügel verwendet und somit minimal-invasiv implantiert werden (⊡ Abb. 27.52). Die LCP (»locking compression plate«) verfügt über Kombilöcher, die entweder mit einer Kom-
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Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
den Frakturfragmenten zu vermeiden. Dadurch kann die Knochenheilungsrate positiv beeinflusst werden (Forster et al. 2006, Stover 2001, Schandelmaier et al. 2001). Die Gefahr der postoperativen Fehlrotation wird sowohl für die intramedulläre Nageltechnik als auch für die extramedullären Techniken, insbesondere in der minimal-invasiven Technik beschrieben (Schandelmaier et al. 2001). In der Literatur werden Rotationsfehler bis 43° beschrieben. Es gibt keinen signifikanten Unterschied hinsichtlich postoperativer Fehlrotation zwischen anterogradem und retrogradem Verriegelungsmarknagel bei distaler Femurfraktur (Maier et al. 2005). z z Nachbehandlung
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a
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⊡ Abb. 27.53a,b Hoffa-Frakturen. a Hoffa-Frakturen verlaufen in der koronaren Ebene durch den Femurkondylus und können als Komponente bei Frakturen des distalen Femurs auftreten. In einem solchen Fall sind sie nicht immer deutlich im Nativröntgen zu erkennen. Eine CT-Untersuchung oder der intraoperative Befund führen zur eindeutigen Diagnose. b Versorgung mit 2 Zugschrauben (4,5-mm-Kortikalisschraube und 6,0-mm-Spongiosaschraube)
pressionsschraube oder monoaxialen winkelstabilen Schrauben belegt werden (ggf. Schraubenwechsel: primär Kompression und sekundär winkelstabil). Bei LISS-Platten (»less invasive surgery system«) sind alle Schraubenlöcher monoaxial winkelstabil und wahlweise mit und ohne Zielbügel belegbar. Die Hoffa-Fraktur muss operativ versorgt werden, um die Kongruenz der Gelenkfläche wiederherzustellen und eine Pseudoarthrose zu verhindern. Für die Stabilisierung werden Zugschrauben verwendet, die meist retrograd oder auch anterograd eingebracht werden können (⊡ Abb. 27.53). Bei ausgeprägter Osteoporose sollte die primäre Versorgung mit einer Knietotalendoprothese als Therapieoption in Betracht gezogen werden. Unikondyläre Frakturen können in den meisten Fällen (keine oder nur geringe Dislokation) mit einer Schraubenosteosynthese, häufig auch minimal-invasiv versorgt werden. z z Evidenz und Kontroversen
Es gibt aktuell keine Evidenz, dass ein spezielles Implantat in jedem Fall einer distalen Femurfraktur überlegen und zu bevorzugen ist. Die Implantatwahl ist u. a. abhängig von der Knochenqualität, dem Frakturtyp (inklusive offener Frakturen) und v. a. vom Operateur und dessen Erfahrungen (Forster et al. 2006). > Je distaler die Fraktur verläuft, desto sinnvoller ist die Verwendung einer Schrauben- und Plattenosteosynthese (Ricci 2006).
Bei Verwendung von extraartikulären Implantaten sollte eine gewebeschonende (minimal-invasive) Operationstechnik bevorzugt werden, um ein unnötiges Ablösen der Weichteile von
Die postoperative Mobilisation erfolgt frühfunktionell mit einer passiven Mobilisierungsschiene (CPM) für die betroffene Extremität nach Drainageentfernung. Eine Teilbelastung für die ersten 12 Wochen ist bei Plattenosteosynthese zu empfehlen. Der intramedulläre Nagel sollte theoretisch eine Vollbelastung erlauben. z
Komplikationen und Prognose
Die Ergebnisse nach Osteosynthese einer distalen Femurfraktur werden in 70–85% der Fälle als gut und sehr gut angegeben (Stover 2001). Dabei wird der Langzeitverlauf in erster Linie durch den Frakturtyp bestimmt. Insbesondere ist das Ausmaß der Gelenkbeteiligung der entscheidende prognostische Faktor. In der Literatur werden die Inzidenzen für die 3 häufigsten Komplikationen folgendermaßen angegeben: »nonunion« bis 18%, Malalignment bis 19% und Infekt bis 12% (Forster et al. 2006). Auch hierbei ist der Schweregrad der Verletzung inklusive offenes oder geschlossenes Trauma ausschlaggebend. Eine Knieinstabilität kann unter Umständen erst sekundär klinisch relevant werden, sodass eine MRT-Abklärung durch Verwendung von Titanimplantaten ermöglicht werden sollte.
27.2.7
Sportverletzungen
M. Ellenberger Schmerzen in der Leistengegend sind ein häufiges Problem bei Sportlern. Dies betrifft v. a. Sportarten mit plötzlichen Richtungsänderungen, wie beispielsweise Fußball. Während akut auftretende Schmerzen relativ einfach und direkt zu einer Diagnose führen, stellen chronische Beschwerden nicht selten eine diagnostische Herausforderung dar. Bei Patienten mit Leistenschmerzen ist es von größter Wichtigkeit, den Lokalbefund sehr genau zu erheben. Die Schmerzregion muss so eng wie möglich eingegrenzt werden, da in der Leistengegend eine Vielzahl von Strukturen die Beschwerden verursachen können. Schmerzen und Druckdolenz im Bereich der Symphyse deuten auf eine Symphysitis pubis hin, während Schmerzen und Druckdolenz auf der Innenseite des Oberschenkels ihren Ursprung eher in der Adduktormuskulatur haben. Auch nicht orthopädische Ursachen wie die Inguinalhernien können zu Leistenschmerzen führen.
755 27.2 · Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Muskelfaserrisse, Apophysenverletzungen und Sehnenabrisse Schlechte Erwärmung, herabgesetzte Dehnfähigkeit durch ungleichmäßige Belastung, ungewohnte Bodenbeschaffenheit und/oder eine abrupte unphysiologische Belastung können Ursache für eine akute Sehnen- oder Muskelverletzung im Hüftbereich sein. In Abhängigkeit von Alter und Größe der einwirkenden Kraft kommt es zu Muskelfaserriss, Apophysenverletzung oder Sehnenabriss. Was beim Erwachsenen meist zu einem Muskelfaserriss oder Sehnenriss führt, kann beim jüngeren Sportler zu einer Apophysenverletzung führen. In der Leistengegend betrifft dies den M. sartorius an der Spina iliaca anterior superior, den M. rectus femoris an der Spina iliaca anterior inferior, den M. iliopsoas am Trochanter minor und die Adduktormuskulatur am Scham- und Sitzbeinast. Der Patient klagt über einen akut auftretenden stichartigen Schmerz in der betroffenen Struktur. In der klinischen Untersuchung findet man eine lokale Druckdolenz und evtl. eine Schwellung. Schmerzprovokation bei passiver Abduktion oder bei aktiver Adduktion gegen Widerstand weist beispielsweise auf eine Adduktorverletzung hin. Um eine Apophysenverletzung nicht zu übersehen, empfiehlt es sich, ein konventionelles Röntgenbild des Beckens durchzuführen. Mit der Ultraschalluntersuchung können größere Muskelfaserrisse direkt und Hämatome als indirektes Zeichen eines Weichteiltraumas nachgewiesen werden. Muskelfaserrisse werden in der Akutphase nach dem RICE-Schema behandelt: »rest, ice, compression, elevation«. Damit kann ein weiteres gewebeschädliches und schmerzhaftes Anschwellen reduziert werden. Nach der Akutphase darf der Patient nach Maßgabe der Beschwerden wieder mobilisiert werden. Die meisten Apophysenavulsionen im Bereich des Beckens dislozieren nur wenig, da das Periost normalerweise noch am ausgerissenen Fragment hängt. Eine Refixation ist daher nicht notwendig. Tipp
I
I
Bei Dislokationen über 2 cm empfiehlt es sich, das Fragment wieder zu Refixieren, da sonst mit störenden funktionellen Einschränkungen gerechnet werden muss.
Nicht selten entsteht bei Avulsionen im Bereich der Spina iliaca anterior inferior und superior ein schmerzhafter, palpabler Kallus, der aber im Verlauf folgenlos wieder verschwindet. Die Nachbehandlung ist für die konservative wie operative Therapie identisch. Der Patient kann nach Maßgabe der Beschwerden (bei Bedarf an Gehstöcken) mobilisiert werden. Die Heilung ist in 6–12 Wochen zu erwarten.
Adduktortendinopathie Adduktorenbeschwerden können primär im Sinne einer chronischen Überlastung oder sekundär als Folge eines akuten Muskelfaserrisses entstehen. Es handelt sich dabei um eine entzündliche Reizung des Muskel- bzw. Sehnenansatzes. Das Beschwerdebild ist diffus und macht die Diagnosestellung schwierig.
Patienten mit Adduktortendinopathie beschreiben oft eine Zunahme der Schmerzen nach der Belastung, häufiger noch erst am Folgetag. Nicht selten wird auch beschrieben, dass der Schmerz durchlaufen werden kann, d. h. die Beschwerden verschwinden in der Aufwärmphase und während der Belastung und nehmen beim Auslaufen wieder zu. In der klinischen Untersuchung findet sich eine Druckdolenz und evtl. eine Verhärtung oder Verdickung im betroffenen Gewebe. Die Schmerzen können durch passive Abduktion und aktive Adduktion gegen Widerstand ausgelöst oder verstärkt werden. Die Diagnose wird jedoch oft erst mit dem MRT gestellt. Wie bei allen Tendinopathien dauert auch die Genesung der Adduktortendinopathie sehr lange, insbesondere, wenn die Symptome schon während Monaten anhielten. Die Therapie beinhaltet Schonung, NSAR, Physiotherapie für lokalanalgetische Maßnahmen, Elektrotherapie und Massagen sowie exzentrische Kräftigungsübungen.
Inguinalhernie Bei Schmerzen in der Leistengegend muss immer auch an die Inguinalhernie gedacht werden. Die Beschwerden beginnen schleichend und nehmen bei intraabdomineller Druckerhöhung, z. B. bei sportlicher Aktivität oder Niesen usw., deutlich zu. Klinisch findet sich bei bereits größeren Hernien eine weiche Beule. Ein typisches Zeichen ist auch der palpable Hustenanprall. Die Behandlung besteht in der operativen Sanierung des Defekts. Von der »echten« Inguinalhernie muss die »weiche Leiste« oder Leisteninsuffizienz unterschieden werden. Es wird auch von der Sportlerhernie gesprochen, obwohl dies keine Hernie ist. Es handelt sich vielmehr um eine Schwäche der unteren Abdominalwand um den Leistenkanal herum. Die Ursache ist unklar, sie tritt aber häufiger bei Hockey- und Fußballspielern auf (Sportarten mit schnellen, wiederholten Rumpfbewegungen). Die Therapie umfasst Physiotherapie mit Stabilisierung und Kräftigung der Hüft- und Abdominalmuskulatur. Nur in den seltensten Fällen muss das Problem operativ angegangen werden.
Symphysitis pubis Die Symphysitis pubis, auch Osteitis pubis genannt, ist eine Entzündung der Symphyse und der umliegenden Muskel- und Sehnenansätze (Mm. pectineus, adductor longus und brevis, gracilis). Die exakte Ätiologie ist nach wie vor unbekannt. Es handelt sich in jedem Fall um ein multifaktorielles Geschehen. Man geht davon aus, dass repetitive Mikrotraumen oder Scherkräfte auf die Symphyse die Entzündung auslösen und unterhalten. Belastungen wie Rennen, Springen oder Kicken führen zu Auf- und Abbewegungen sowie zu Rotationsbewegungen in der Symphyse. Es sind daher v. a. Sportler wie Fußballer und Leichtathleten betroffen. Gleichzeitig spielen aber auch Muskeldysbalance, Iliosakralgelenkdysfunktion und Muskelverkürzung eine wichtige Rolle. Patienten mit Osteitis pubis klagen über Leisten-, Hüft-, Hoden- oder Adduktorschmerzen. Meist wird die Symptomatik bei Belastungen wie Rennen, Kicken oder bei abrupten
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Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
Richtungsänderungen verstärkt. In der Untersuchung findet sich meist eine ausgeprägte Druckdolenz über der Symphyse, insbesondere, wenn die Symphyse durch beidseitigen lateralen Druck unter Druck gebracht wird. Bei Fieber und lokalen Infektzeichen kann selten auch einmal eine Osteomyelitis die Klinik verursachen. In diesem Fall sind die Entzündungsparameter deutlich erhöht. Das konventionelle Röntgenbild ist in der Frühphase ohne Befund. Erst nach ein paar Wochen können Sklerosen und Osteolysen auftreten. Der entzündliche Prozess kann v. a. in der Anfangsphase auch mit der Szintigraphie dargestellt werden. Das MRT zeigt in der Regel ein Knochenödem.
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> Unabhängig davon, ob sich der Patient in der akuten oder bereits in der chronischen Phase befindet, muss er als wichtigste Intervention von allen körperlichen Belastungen absehen.
Nach Abklingen der Symptome beginnt eine moderate Rehabilitation mit Manualtherapie und kontrollierten zunehmenden Belastungen. NSAR sind v. a. in der Akutphase hilfreich.
Labrumläsionen Risse des Labrums gehören zu den häufigsten Hüftgelenkaffektionen bei Sportlern. Insbesondere Sportarten mit repetitiven Rotationsbewegungen in der Hüfte führen zu Mikrotraumen des Labrums. Im Verlauf können sich daraus Risse bilden, die je nach Größe bei Bewegung im Gelenk einklemmen und damit symptomatisch werden. Typischerweise berichten die Patienten über eine deutliche Schmerzzunahme bei Hüftflexion (wie Treppensteigen). In der Untersuchung kann der Schmerz mit dem Impingement-Test ausgelöst werden. Dabei wird die betroffene Hüfte auf über 90° flektiert und gleichzeitig adduziert und innenrotiert. Mit dem MRT kann die Verdachtsdiagnose bestätigt werden. Die Therapie der Wahl ist das arthroskopische Débridement.
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758
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Kapitel 27 · Erkrankungen und Verletzungen von Hüftgelenk und Oberschenkel
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28
Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel C. Lüring, P. Baumann, H. Behrend, H. Bäthis, L. Harder, J. Grifka
28.1
Erkrankungen des Kniegelenks – 760
28.1.1 28.1.2 28.1.3 28.1.4 28.1.5
Primäre Achsenfehler – 760 Primäre Rotationsfehler – 764 Patelladeformitäten – 764 Avaskuläre Knochennekrosen des Kniegelenks – 767 Arthrotische Veränderungen des Kniegelenks – 770
28.2
Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28.2.1 28.2.2 28.2.3 28.2.4 28.2.5 28.2.6 28.2.7 28.2.8 28.2.9 28.2.10
Patellaluxation – 783 Patellafrakturen – 786 Ruptur des Lig. patellae – 792 Quadrizepssehnenruptur – 793 Meniskusläsionen – 794 Verletzungen des Kapsel-Band-Apparats Overuse-Verletzungen – 813 Tibiaplateaufrakturen – 815 Tibiaschaftfrakturen – 821 Distale Tibiafrakturen – 826
Literatur
– 803
– 826
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 783
760
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28.1
Erkrankungen des Kniegelenks
C. Lüring, J. Grifka
28.1.1
Primäre Achsenfehler
Nach Ausbildung der knöchernen Konturen zeigt sich dies am Fehlen der Eminentia intercondylaris. Der beidseitige Befall ist etwa dreimal so häufig wie der einseitige. Trotz einiger Hinweise in der Literatur ist eine genetische Komponente nicht sicher nachgewiesen. z
Bei allen Achsenfehlern rund um das Kniegelenk empfiehlt sich eine standardisierte Herangehensweise, die die in der Übersicht aufgeführten Punkte adressiert.
Klinische Untersuchung bei Beinachsendeformitäten Gemäß den Leitlinien der DGOOC und DGU finden folgende Beurteilungen statt: ▬ Beinachsen, Beinlänge, Kniestabilität und Menisken ▬ Gangbild, Bewegungsumfang und Bewegungsschmerz ▬ Femoropatellargelenk ▬ benachbarte Gelenke ▬ Durchblutung, Motorik und Sensibilität
28
Angeborene Kniegelenkluxation z
Synonyme
Synonym verwendet werden die Begriffe Genu recurvatum congenitum, Subluxatio genus congenita. z
Definition
Die angeborene Kniegelenkluxation ist eine einseitige oder beidseitige ventrale Subluxation oder Luxation der Tibia gegenüber dem Femur, die sich in einer Überstreckbarkeit bei gleichzeitig aufgehobener Beugefähigkeit im Kniegelenk bemerkbar macht. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologisch wird eine Entwicklungsstörung und/oder Lageanomalie des Ungeborenen diskutiert. Für eine Entwicklungsstörung sprechen die relativ häufig auftretenden Kombinationen dieser Deformität mit anderen Begleitfehlbildungen, die in über 60% der Fälle entdeckt werden.
Erkrankungen, die mit einer kongenitalen Kniegelenkluxation einhergehen können
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Hüftluxation Arthrogrypose Larsen-Syndrom Down-Syndrom kongenitale Hüftdysplasie Klumpfuß Myelomenigozele multiple epiphysäre Dysplasie Zerebralparese
Diagnostik
Klinisch äußert sich diese Anomalie durch vermehrte Streckung oder sogar Überstreckung im betroffenen Kniegelenk. Dabei kann es passiv in eine übertriebene Extension überführt werden. Die Femurkondylen sind in der Kniekehle tastbar. Typisch für die angeborene Kniegelenkluxation ist die eingeschränkte bis aufgehobene Flexionsfähigkeit des Gelenks. Radiologisch werden die klinischen Zeichen bestätigt. Es findet sich in aller Regel eine gegenüber dem Femur nach ventral luxierte Tibia. Luxationen nach lateral oder Rotationsfehler sind eher selten. z
Therapie
In der Therapie steht das möglichst rasche Eingreifen an erster Stelle. Bei einer Subluxationsstellung kann dies konservativ erfolgen: Beim Neugeborenen wird das hyperextendierte Kniegelenk in Neutralstellung gebracht und auf einen Spatel mit Polsterung fixiert, um so eine Reposition zu erreichen. Nach einigen Tagen kann das Kniegelenk für 2–3 min flektiert und anschließend in einer Flexionsstellung in einem Gips fixiert werden. Diese Redressionsgipse sollten wie bei der Klumpfußbehandlung wöchentlich gewechselt werden, bis eine Flexion von 90° erreicht ist. Anschließend sollte eine Nachtlagerungsschiene für die Dauer von weiteren 6 Wochen zum Erhalt dieses Ergebnisses angelegt werden. ! Cave Komplikationsmöglichkeiten sind das Abscheren der Femurepiphyse bei zu forciertem Flexionsmanöver.
Sofern es sich um eine komplette Kniegelenkluxation handelt, sollte zunächst eine Extensionsbehandlung durchgeführt werden. Erste Flexionsmanöver sollten erst durchgeführt werden, wenn die komplette Kniegelenkluxation durch die Extensionsbehandlung in eine Subluxation überführt wurde. Gelingt die konservative Herangehensweise nicht, sollte ein Verfahrenswechsel mit Verlängerung des Kniestreckapparats angestrebt werden. Dabei sollte die operative Intervention etwa im 6. Lebensmonat erfolgen. In der Literatur gibt es wenige Hinweise zum Verlauf nach konservativer und operativer Intervention. Eine Multicenterstudie zeigte eine mittlere Flexionsfähigkeit von 120° nach konservativer Therapie, eine Arbeit zur operativen Intervention beschreibt ähnliche Verläufe (Lüring et al. 2001). Allerdings erscheint das Resultat v. a. vom Ausmaß der vorbestehenden Deformität abzuhängen. Ziel sollte jedoch eine Knieflexion von ca. 100° sein, da dies ein Bewegungsausmaß ist, das die allermeisten Aktivitäten des täglichen Lebens erlaubt.
Genu recurvatum z
Der angeborenen Kniegelenkluxation liegt eine Aplasie des Kreuzbandkomplexes als zentralem Bandapparat zugrunde.
Definition
Unter einem Genu recurvatum versteht man die Überstreckbarkeit (Hyperextension) im Kniegelenk.
761 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiopathogenetisch wird eine allgemeine Bindegewebsschwäche diskutiert. > Echte knöcherne Veränderungen treten in der Regel erst in der beginnenden Gehphase des Kleinkinds auf.
Dabei resultiert aufgrund der verminderten Festigkeit des Bindegewebes eine Überbelastung der ventralen Tibiakopfepiphyse, die konsekutiv zu einem Fehlwachstum mit Abflachung des Tibiaplateaus nach vorne führt. Die klinische Ausprägung zeigt ein überstreckbares Kniegelenk, das jedoch im Gegensatz zur Luxation oder Subluxation eine freie Flexionsfähigkeit besitzt (⊡ Abb. 28.1). In der Regel finden sich beim Genu recurvatum keine wesentlichen radiologischen Veränderungen. z
Therapie
Die Therapie des Genu recurvatum ist in den allermeisten Fällen konservativ. Wird ein Genu recurvatum im Säuglings- oder
Kleinkindalter diagnostiziert, werden zuerst Lagerungsschienen in leichter Flexion angelegt. Diese werden im Zeitverlauf auf Schienen mit Streckanschlag und schließlich auf Nachtlagerungsschienen reduziert. Nach Beginn der Laufphase ist eine Absatzerhöhung sinnvoll. Flankierend sollten die Kniegelenkbeuger und der M. gastrocnemius trainiert werden. Sofern diese konservativen Maßnahmen zu kurz greifen und das Wachstum der ventralen Tibiakopfepiphyse behindert ist, kann eine operative Intervention im Einzelfall sinnvoll sein. Hier steht sowohl die Absenkung des dorsalen Tibiaplateaus als auch die Anhebeosteotomie zur Verfügung.
Genu varum z
Definition
Unter Genu varum (einseitig) bzw. Genua vara (beidseitig) versteht man die angeborene O-Stellung der Beine im Kniegelenk (⊡ Abb. 28.2). Dabei gilt es zu bemerken, dass das Neugeborene physiologischerweise eine Varusstellung der Beine aufweist (⊡ Abb. 28.3). Diese bekommt erst ab dem 2. Lebensjahr eine pathologische Bedeutung. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursächlich werden Ossifikationsstörungen der medialseitigen Wachstumsfugen diskutiert. Eine Sonderform ist der M. Blount. z
Diagnostik
Die klinische Diagnostik ist eine Blickdiagnostik: O-förmig verbogene Beinachsen mit nach medialseitig verzogener Belastungsachse, die nicht selten ganz außerhalb des Kniegelenks verläuft. Bei der klinischen Untersuchung ist der vermehrte Interkondylenabstand wegweisend. Mit dieser Deformität kann es im Zeitverlauf zu einer vermehrten Innenrotationsstellung der Unterschenkel und zu einem konsekutiven Knick-SenkFuß kommen. Radiologisch zeigt sich ein medial offener Winkel des oberen Tibia- und unteren Femurdrittels sowie nicht selten eine hervorspringende mediale Metaphyse sowohl des Tibiaknochens als auch des Femurknochens. Trotz der Deformität sind die Epiphysen in der Regel physiologisch und meist auch symmetrisch ausgebildet. Differenzialdiagnostisch muss ein sog. Phosphatdiabetes mit Vitamin-D-Resistenz abgegrenzt werden. z
⊡ Abb. 28.1 Genu recurvatum
Therapie
Bis zum Alter von 2–3 Jahren ist eine Varusstellung der Beine physiologisch. Im zeitlichen Verlauf des Wachstums bildet sich die physiologischerweise bestehende Varusstellung zurück. So muss die Varusstellung mit 6 Jahren eine Tendenz zur Besserung zeigen. Mit 9 Jahren – spätestens präpubertär – sollte die Beinachse regelgerecht sein. Bei einer Varusausprägung, die das physiologische Maß überschreitet, sind halbjährliche Verlaufskontrollen angeraten. Konservative Maßnahmen mit Schienen und Schuhzurichtungen sind in der Effizienz zweifelhaft. Eine operative Intervention ist abhängig von der Laufbeeinträchtigung und der Tendenz im zeitlichen Verlauf. Sie sollte nach entsprechender Planung erfolgen. Hier ist v. a. das Restwachstum anhand
28
762
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28 ⊡ Abb. 28.2 Genua vara bei Rachitis. a Übersicht, b becherförmige metaphysäre Auftreibung
a
b
der einschlägigen Tabellen zu berechnen. Definitive Epiphysiodesen sind mit Vorsicht und zum Ende des Wachstums anzuwenden. Temporäre Epiphysiodesen müssen halbjährlich kontrolliert werden, um eine Überkorrektur zu vermeiden (⊡ Abb. 28.4). Nach komplexen korrigierenden Eingriffen, die mit einer Osteotomie einhergehen, kann eine Gipsruhigstellung erforderlich werden.
Genu valgum z
Definition
Unter Genu valgum (einseitig) bzw. Genua valga (beidseitig) versteht man die angeborene X-Stellung der Beine im Kniegelenk. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologisch werden eine Bindegewebsschwäche oder eine knöcherne Dysplasie bei Hemmungsanomalie oder auch bei enchondraler Dysostose diskutiert. Ein angeborenes X-Bein ist in der Regel einseitig. > Fällt diese Deformität bei der Untersuchung eines Neugeborenen auf, sollte in jedem Fall eine kongenitale Hüftgelenkluxation ipsilateral ausgeschlossen werden. z
⊡ Abb. 28.3 Physiologisches Genu varum beim Kleinkind
Diagnostik
Bei der Beurteilung von Beinachsendeformitäten im Sinne eines Genu valgum gilt es, das Alter des Kindes zu berücksichtigen: Ein O-Bein ist in den ersten beiden Lebensjahren physiologisch und weicht dann zumeist im 3. Lebensjahr einer (beidseitigen) physiologischen X-Beinstellung. Ein vermehrtes X-Bein muss bis zum präpubertären Wachstumsschub ausgeglichen sein. Knöchern bedingte (einseitige) Fehlstellungen lassen sich zumeist im Röntgenbild sicher eingrenzen.
763 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
a
c
b
⊡ Abb. 28.4a–c Temporäre Epiphysiodese mit Blount Klammern. a Schemazeichnung, b Operationszugang, c Röntgenbild
z
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der Ätiologie der Erkrankung und nach der Ausprägung der Deformität. Da bei einseitigen Fehlstellungen in der Regel Skelettdysplasien im Vordergrund stehen, müssen auch diese entsprechend therapiert werden. Eine engmaschige (halbjährliche) Kontrolle bis zum Abschluss des Längenwachstums ist sinnvoll. Präpubertär werden meist temporäre Epiphysiodesen durchgeführt. Bei ausgeprägten Deformitäten kann eine suprakondyläre Korrekturosteotomie (aufklappend zum Längengewinn oder zuklappend) erforderlich sein. Ideales Alter für die temporäre Epiphysiodesen ist das 9. bis 11. Lebensjahr. Eine Überkorrektur kann bei mangelndem Follow-up mit zu langem Belassen der Klammern entstehen. Stets muss nach Entfernen der Klammern mit einem kurzzeitig vermehrten Wachstum des gebremsten Epiphysenanteils gerechnet werden.
Häufige Operationsverfahren (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Im Kindesalter: – Epiphyseodese – Korrekturosteotomien an Femur bzw. Tibia ▬ im Erwachsenenalter: – Korrekturosteotomie an Femur bzw. Tibia (ggf. mit Gelenkrevision) – Gelenkersatz ⊡ Abb. 28.5 Kindliche Genua valga
28
764
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28.1.2 z
Primäre Rotationsfehler
Definition
Als Rotationsfehler bezeichnet man die intraartikuläre Rotation des Unterschenkels gegenüber dem Femur. Diese Deformität kann eine Reduktion der Beweglichkeit im Kniegelenk bewirken. z
Epidemiologie
Validierte epidemiologische Daten liegen zu dieser Erkrankung nicht vor. Allerdings ist die Sensibilität in der Bevölkerung für pathologische Befunde gestiegen und damit auch die Zahl der Patienten, die deswegen vorstellig werden. z
28
Ätiologie und Pathogenese
Rotationsfehler entwickeln sich in der Regel auf der Basis neuroorthopädischer Erkrankungen. So muss z. B. bei einer angeborenen Kniegelenkluxation immer auch an Rotationsfehler gedacht werden. Ebenfalls kann z. B. bei der Arthrogrypose bereits intrauterin ein pathologischer Muskelzug die Verdrehung des Oberschenkels gegenüber dem Unterschenkel bewirken. Pathogenetisch liegen den Rotationsfehlern unphysiologische, inkongruente Gelenkpartner zugrunde. Dies führt dazu, dass die Kinematik des Kniegelenks nicht mehr physiologisch erfolgen kann. Insbesondere bei der Streckung des Kniegelenks wird die Tibia je nach Ausprägung der Torsionsdeformität pathologisch rotiert. In der Regel kommt es dann zu einer Bewegungshemmung bereits bei Aktivitäten des Alltags. Daraus lässt sich ableiten, dass diese Inkongruenzen als präarthrotische Deformitäten zu werten sind und ohne Therapie in einer dem Alter vorausschreitenden Degeneration enden können. z
Diagnostik
Die klinische Untersuchung steht an erster Stelle, wobei sie nur bedingt aussagefähig ist, da Rotationsfehlstellungen und Torsionsfehlstellungen nicht mit hinreichender Genauigkeit voneinander abgegrenzt werden können. Das entscheidende Maß ist daher die konventionelle radiologische Darstellung in den üblichen Standardebenen. Allerdings können auch hier Gradzahlen nicht angegeben werden. Dies ist nur in einer MRT oder CT möglich, wobei die Strahlenbelastung der CT zu berücksichtigen ist. Diese Interventionen sollten dann ergriffen werden, wenn genaue Messungen zur Kontrolle der Effektivität der konservativen Therapie oder zur Planung einer Operation angestrebt werden. Dies gilt insbesondere für neuroorthopädische Krankheitsbilder. z
Therapie
Die Therapie der Rotationsfehler sollte je nach Ausmaß der Deformität geplant werden. Eindeutige evidenzbasierte Richtlinien fehlen. Es kann der Versuch gestartet werden, die Rotationsfehler durch Krankengymnastik und Physiotherapie zu behandeln. Operative Interventionen sollten genau geplant werden. Die Methode der Wahl ist die Ilizarov-Methode, die es erlaubt, langsam und ohne Affektion der Muskeln und Bandstrukturen die Rotationsfehlstellung zu korrigieren. Bei hinreichender Er-
fahrung ist eine gradgenaue Korrektur möglich, die neurovaskulären Strukturen können sich der neuen Situation anpassen. > Nachdem die gewünschte Korrektur erreicht ist, sollte mit der Distraktion des Gelenks begonnen werden, um die Beweglichkeit zu verbessern. Dies ist erforderlich, da in der Regel bei Rotationsfehlern auch Beugekontrakturen vorliegen.
Entscheidend ist im Anschluss an diese meist sehr aufwendigen Verfahren die optimale Versorgung mit einer Orthese, die das erreichte Ergebnis der Beweglichkeit, z. B. als nächtliche Lagerungsschiene, halten kann.
28.1.3
Patelladeformitäten
Patella partita z
Defintion
Eine Patella partita (bipartita bei 2 Teilen, tripartita bei 3 Teilen und mulitpartita bei mehr als 3 Teilen) ist eine Patella, bei der die unterschiedlichen Knochenkerne nicht miteinander verschmolzen sind, sondern als separate Anteile radiologisch abgegrenzt werden können. > Dieses Krankheitsbild zeigt typischerweise keine klassische klinische Pathologie, sondern ist eine radiologische Diagnose, oft eine Zufallsdiagnose.
Die Patella wird in aller Regel aus einem Knochenkern gebildet. In seltenen Fällen (je nach Literatur bei 2–3% der Bevölkerung) kann die Entwicklung aus mehreren Knochenkernen entstehen. Sofern diese im Zeitverlauf der Skelettentwicklung nicht fusionieren, können sich Patellae bi-, tri- oder multipartitae entwickeln. Da die weit überwiegende Anzahl der Patienten keinerlei Beschwerden verspürt, wird die Diagnose in der Regel als Zufallsbefund gestellt. Man sollte daher beim Vorfinden einer Patella partita zurückhaltend sein, dies mit einer Beschwerdesymptomatik in Verbindung zu bringen. z
Diagnostik
Die konventionell radiologische Bildgebung ist das Mittel der Wahl zur Diagnostik (⊡ Abb. 28.6). Es lassen sich mehrere Ossifikationszentren abgrenzen. Typisch ist dabei ein proximal und lateral gelegener akzessorischer Knochenkern. Der untere Patellapol ist eher selten betroffen. Falls sich differenzialdiagnostisch im Röntgenbild bei entsprechendem Trauma eine Fraktur nicht sicher ausschließen lässt (keine sklerosierten Ränder, zackige Kontur des akzessorischen Knochenkerns), kann die Skelettszintigraphie hilfreich sein. Sie kann durch Anzeige eines erhöhten Knochenstoffwechsels die Diagnose einer Fraktur abgrenzen. In der Regel jedoch kann die Diagnose in der Kombination der Anamnese, der Untersuchung und des einfachen Röntgenbilds erfolgen. > Eine Patella partita hat grundsätzlich keinen Krankheitswert. Bei Beschwerden müssen andere Probleme wie eine vermehrte Abkippung der Patella (Patella-Tilt) differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden.
765 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
a
b
⊡ Abb. 28.7a,b Patella baja. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
⊡ Abb. 28.6 Patella bipartita im a.p.-Strahlengang
z
Therapie
In aller Regel ist keine Therapie erforderlich. Sofern jedoch in seltenen Fällen Beschwerden durch einen Knochenkernanteil auftreten, wird die operative Exstirpation des kleinen akzessorischen Ossikels empfohlen.
Patella alta und Patella baja z
Definition
Als Patella alta bezeichnet man den Hochstand der Patella, mit Patella baja (⊡ Abb. 28.7) den Tiefstand in Bezug zur Blumensaat-Linie. z
Diagnostik
Der Hochstand der Patella alta kann wachstumsbedingt bei muskulären Dysbalancen (infantile Zerebralparese), nach habitueller Patellaluxation oder traumatisch (bei Ruptur des Lig. patellae) auftreten. Die klinische Untersuchung kann je nach Anamnese bereits wertvolle Hinweise liefern. Sofern klinisch einseitig ein Patellahochstand imponiert und der betroffene Unterschenkel nicht mehr frei gestreckt werden kann, ist die Sonographie zum Ausschluss einer Patellarsehnenruptur angezeigt. In der Regel imponiert hier bereits eine palpable Delle kaudal der Patella. Radiologisch wird dieses Phänomen am besten in 30° Flexionsstellung des Kniegelenks im Seitenvergleich erkannt. Die Unterkante der Patella sollte im physiologischen Falle in Bezug zur Blumensaat-Linie stehen.
a
b
⊡ Abb. 28.8a,b Temporäre Kirschner-Draht-Fixierung mit Draht-Cerclage bei Zustand nach »Bone-tendon-bone«-Transplantat zur VKBPlastik und Ruptur des Lig. patellae. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
Die Patella baja tritt insgesamt selten auf und besitzt im Normalfall keine Notwendigkeit zur therapeutischen Intervention. z
Therapie
Sofern es sich um eine traumatische Zerreißung des Lig. patellae handelt, ist eine operative Intervention zwingend erforderlich. Eine Sehnennaht wird temporär durch eine Kirschner-Draht-Zuggurtung zwischen Patella und Tuberositas tibiae gesichert (⊡ Abb. 28.8). Nach vorausgegangener Knieoperation (Knieprothese, Osteosynthese nach Patellafraktur, Osteosynthese nach Ober- oder Unterschenkelfraktur mit Marknageleintritt über das Lig. patellae, Umstellungsosteotomie) kann es bedingt durch Narben-
28
766
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
bildung zu einem konsekutiven Tiefstand der Patella kommen (⊡ Abb. 28.9). > Eine operative Intervention im ligamentären Bereich sollte vermieden werden, da dies nur zu weiteren Narbenschrumpfungen führt.
Sofern eine echte Beeinträchtigung der Kniekinematik, z. B. nach Knieprothesenoperation (Anschlag der Patella am Inlay bei Beugung) auftritt, sollte eine knöcherne Kranialisierung der Patella (Tuberositasversetzung) diskutiert werden.
Patellaaplasie und –hypoplasie z
Definition
Patellaaplasie und -hypoplasie sind seltene und in der Regel mit anderen neuromuskulären oder skelettalen Erkrankungen einhergehende Skelettdefekte (⊡ Tab. 28.1). Die Erkrankung zeich-
net sich durch ein vollständiges Fehlen oder eine mehr oder weniger hypoplastische Anlage der Patella aus. z
Diagnostik
In erster Linie kann die Verdachtsdiagnose bereits klinisch gestellt werden. Die Patella lässt sich entweder gar nicht oder nur deutlich verschmächtigt palpieren. Dabei kann das Kniegelenk nicht vollständig gestreckt werden. In aller Regel ist das Nicht-Vorhandensein der Kniescheibe mit keinerlei Beschwerden verbunden, sodass die Diagnose nicht selten per Zufall gestellt wird. > Die Achsen- und Rotationsverhältnisse müssen bei diesen Patienten genau untersucht werden, da eine Luxation des Streckapparats durch Achsendeformitäten begünstigt werden kann.
Gerade im Säuglingsalter ist die Sonographie die Bildgebung der Wahl. Konventionell radiologisch lässt sich ein »leerer« Streckapparat erst in der Phase der erwarteten Ausbildung des Knochenkerns nachweisen. Eine MRT wird nur in den Fällen erforderlich sein, in denen weitere Pathologien abgeklärt werden sollen.
28
z
Therapie
Eine Therapie ist nur in seltenen Fällen angezeigt. Sie richtet sich nach dem Ausmaß der Beschwerden, die allenfalls sehr gering vorhanden sind. Symptomatisch werden Aplasien, wenn begleitende Achsendeformitäten eine Luxation des Streckapparats provozieren. Ein frühes Vorgehen mit Muskelplastiken bietet sich hier an. Die Literatur zu den Verläufen ist rar.
Kongenitale Patellaluxation z
Definition
Die kongenitale Patellaluxation zeichnet sich durch eine bereits bei Geburt luxierte oder dislozierte Patella aus. Das heißt, dass die Patellarückfläche keinen Kontakt zum physiologischen femoralen Gleitlager besitzt. > Die kongenitale Patellaluxation ist sehr häufig eine Begleitpathologie verschiedener Systemerkrankungen. z
Ätiologie und Pathogenese
Es wird diskutiert, dass die Luxation der Patella auf einen ungleichen Zug des M. quadriceps femoris zurückzuführen ist. Ein normales Gelenkspiel mit physiologischer Exkursion der
⊡ Abb. 28.9 Patella baja nach Knieprothese
⊡ Tab. 28.1 Syndrome, die eine Patellaaplasie oder -hypoplasie aufweisen können Syndrom
Ausprägung
Patellaaplasie-Talokalkaneus-Synostose (Goeminne-Dujardin-Syndrom)
Beidseitige Patellaaplasie, Beckendysplasie, talokalkaneare Synostose, Hüftdysplasie
Syndrom der kleinen Patella
Patellahypoplasie, Coxa vara
Kabuki-Make-up-Syndrom
Typische Facies, Gaumenspalte, kurzes Nasenseptum, geistige Retardierung, eingesunkene Nasenspitze, Minderwuchs, polsterartige Fingerspitzen, Ektropion
767 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
Quadrizepssehne fehlt, da die Patella mit dem Streckapparat nach lateral disloziert ist. Dies führt zum einen zu einer Kontraktur des lateralen Kapselanteils und der Quadrizepssehne und zum anderen zu einer Dilatation des medialen Kapselanteils. Als Ausdruck dieser biomechanischen Anomalie kommt es konsekutiv zu einer Außenrotationsstellung der Tibia und zusätzlich durch den vermehrten unphysiologischen Zug des lateralen Streckapparates zu einer gesteigerten Valgusfehlstellung des Beins. Die kongenitale Patellaluxation ist mitunter mit einer neuromuskulären Systemerkrankung vergesellschaftet (⊡ Tab. 28.2). z
Diagnostik
Die Diagnose ist in der Regel klinisch zu stellen. Das Kniegelenk wird aufgrund des starken Zugs des Sreckapparats in Flexionsstellung gehalten und kann oftmals nicht gestreckt werden. Die Patella ist in der Regel kleiner als physiologisch, nicht selten mit der Unterlage verbacken und nur schwer zu tasten. Diagnostisch steht v. a. beim Säugling die Sonographie im Vordergrund, da die Patella noch nicht knöchern ausgeformt ist. Sie kann initial post partum eingesetzt werden und besitzt beim erfahrenen Untersucher einen hohen Stellenwert. Die konventionell radiologische Diagnostik ist dem älteren Säugling mit bereits ausgebildetem Knochenkern der Patella vorbehalten. Eine MRT sollte nur bei speziellen Fragestellungen angewandt werden, da den Kindern die Belastung im MRT erspart werden kann. Wichtig erscheint die MRT vor operativen Interventionen v. a. dann, wenn auch die Rotationsverhältnisse von Femur und Tibia beurteilt werden müssen. z
Streckapparat wieder zentralisiert werden. Anderenfalls wird ein Rezidiv die Folge sein. Ist die kongenitale Patellaluxation mit einer neuromuskulären Systemerkrankung vergesellschaftet, richtet sich die Therapie nach der zugrunde liegenden Erkrankung. Die Resultate der operativen Therapie hängen v. a. auch von den begleitenden Pathologien ab. Die meisten Studien zur Thematik weisen gute Ergebnisse bei 50–75% der operierten Patienten auf. Allerdings beschränkt sich die vorliegende Literatur auf Nachuntersuchungsstudien mit geringer Fallzahl. Entscheidend ist die Indikationsstellung im Einklang mit dem Ausmaß der Deformität, dem Schweregrad der Begleitpathologien und dem zu erwartenden Benefit für den Patienten.
28.1.4
Allgemeine Informationen zu avaskulären Knorpel-KnochenNekrosen finden sich in Kap. 11.
Osteochondrosis dissecans z
Ätiologie und Pathogenese
Diese aseptische Knochennekrose betrifft typischerweise die interkondyläre Kontur der medialen Femurkondyle im Kniegelenk. Ätiologisch werden repetitive Traumen, genetische und/ oder metabolische Störungen sowie mikrobiologische Ursachen diskutiert. z
Therapie
Bei der Therapie der kongenitalen Patellaluxation sollte zunächst ein konservativer Repositionsversuch unternommen werden. Dies gelingt nur in den ersten Lebenstagen. Sofern dies frustran ist und die Patella wieder luxiert, ist eine operative Therapie unumgänglich, um eine Vertikalisierung des Kindes nicht zu gefährden. Prinzip der operativen Intervention ist die Lösung aller beteiligten Weichteile. Dabei muss der M. quadriceps femoris als
Avaskuläre Knochennekrosen des Kniegelenks
Diagnostik
Die klinische Untersuchung ist ein wichtiger Wegweiser in der Diagnosestellung. Die Patienten beklagen häufig zentrale Schmerzen im Kniegelenk, die nicht selten mit einer Blockade einhergehen. Häufig lässt sich ein Druckschmerz in Flexionsstellung des Kniegelenks über der betroffenen Region am Kondylus auslösen. Bei einem fortgeschrittenen Befund mit ggf. sogar herausgelöstem Dissekat kann eine Varusfehlstellung imponieren.
⊡ Tab. 28.2 Krankheitsbilder und Syndrome, die eine kongenitale Patellaluxation beinhalten können Syndrom
Ausprägung
Down-Syndrom
Geistige Retardierung, Mikrozephalie, Kleinwuchs, Klinodaktylie, muskuläre Hypotonie, Brachyzephalie, kurze Hände, Herzfehler, atlantoaxiale Instabilität
Larsen-Syndrom
Multiple Gelenkluxationen (Hüfte, Knie, Ellenbogen), kraniofaziale Anomalien, Klumpfuß, Kleinwuchs, zervikale Kyphose
Kabuki-Make-up-Syndrom
Typische Facies, Gaumenspalte, kurzes Nasenseptum, geistige Retardierung, eingesunkene Nasenspitze, Minderwuchs, polsterartige Fingerspitzen, Ektropion
Ehlers-Danlos-Syndrom
Hyperelastische Haut, überstreckbare Gelenke, kongenitale Hüftluxation, begleitende intraabdominelle Pathologien
Pseudoachondroplasie
Kleinwuchs, starke Gelenkfehlstellung
Spondyloepiphysäre Dysplasie
Kleinwuchs, komplexe Beinachsendeformitäten
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768
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Anamnese (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ ▬ ▬ ▬
Allgemeine Anamnese Familienanamnese Sozialanamnese spezielle Anamnese – Schmerz – Schwellneigung – Blockierung – Bewegungseinschränkung – Nachgeben des Beins (»giving-way«) – spezielle Gelenkanamnese – sportliche/körperliche Belastung (Sportart) – frühere Kniegelenkverletzungen – hämatologische Erkrankungen, Steroidmedikation
und intensiver sollte der konservative Therapieansatz verfolgt werden. Dabei hat der Erhalt der Kontinuität der Gelenkfläche Priorität. Die Therapie sieht im Stadium I und II ( Kap. 11) die konservative Therapie mit Entlastung, und ggf. eine Schmerzmedikation mit einem nichtsteroidalen Antirheumatikum vor. Sofern die seltene Lokalisation des Patellofemoralgelenks betroffen ist, muss eine verstärkte Flexionsstellung vermieden werden, da mit steigender Flexion der Anpressdruck auf das Gleitlager steigt. Sofern diese konservativen Maßnahmen bei Erwachsenen nach 6 Wochen und bei Kindern nach 12 Wochen keine durchgreifende Besserung zeigen oder sogar eine Progredienz auftritt, sollte auf ein operatives Vorgehen gewechselt werden.
Therapie (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Allgemein:
28
Weitere diagnostische Maßnahmen sind das konventionelle Röntgenbild, das in der Regel den Herd in klassischer Weise darstellt (⊡ Abb. 28.10a). Die Tunnelaufnahme nach Frick kann v. a. dorsokondyläre Defekte besser darstellen. Sofern klinisch der Verdacht auf eine Osteochondrosis dissecans besteht, röntgenmorphologisch aber keine wegweisenden Befunde zu finden sind, bietet sich eine MRT an, die in den allermeisten Fällen die Verdachtsdiagnose bestätigen kann (⊡ Abb. 28.10b). Sie zeigt typischerweise ein Knochenödem und den klassischen Herd. Die Knochenszintigraphie hat einen untergeordneten Stellenwert. Die CT hat ihre Bedeutung an das MRT abgegeben. Die Stadieneinteilung ist Kap. 11 zu entnehmen.
Klinische Diagnostik (Leitlinien der DGOOC und DGU) Die übliche Untersuchung der Kniegelenke ist obligat, folgende Untersuchungen und Tests sind speziell empfehlenswert:
▬ Inspektion: – – – –
Schwellung am Kniegelenk Muskelatrophie Gangbild (Schonhinken) Beinachse (varisch oder valgisch)
▬ Palpation: – Lokalisation des Druckschmerzes – Gelenkerguss – freier Gelenkkörper
▬ spezifische Funktions- und Schmerztests: – Bewegungsumfang – Wilson-Test (bei 30° Beugung auftretende Knieschmerzen, wenn aus 90° Kniebeugung mit innenrotiertem Unterschenkel langsam gestreckt wird; Schmerzbesserung bei Außenrotation des Unterschenkels) – Meniskuszeichen
z
Therapie
Aus therapeutischer Sicht gilt es, das Alter des Betroffenen, das Stadium der Läsion und die Lokalisation zu berücksichtigen. Dabei gibt es eine Faustregel: Je jünger der Patient, desto länger
– validierte Therapiestudien fehlen – Spontanverlauf individuell nicht vorhersehbar
▬ Ziel: – Revitalisierung des osteochondralen Bezirks – Verhinderung einer Progression (Dissekatbildung) – Prävention der Arthrose
▬ Behandlungsprinzipien: – Belastungsreduktion – Revitalisierung des Herds – Refixation des Dissekats
▬ Stufenschema: – Orientierungskriterien: Alter, Stadium, Größe des Herds, Beschwerden – Stufe 1 ambulant: Beratung, konservative Behandlung – Stufe 2 ambulant/stationär: operative Maßnahmen
Zu unterscheiden sind bei der operativen Intervention anterograde und retrograde Herangehensweisen. Sie werden je nach arthroskopischem Befund angewandt: Sofern sich in der Arthroskopie eine intakte Knorpeldecke mit einem fest in der Umgebung verankerten Herd zeigt, ist die retrograde Herdanbohrung das Mittel der Wahl (⊡ Abb. 28.11). Diese wird fächerförmig durchgeführt und muss die Sklerosezone, die sich um den Herd gebildet hat, durchbrechen unter der Vorstellung, dass auf diese Weise eine Revitalisierung des Herds vom Markraum her möglich ist. Sofern sich in der Arthroskopie eine Knorpeldehiszenz zeigt oder das Dissekat sogar herausgelöst ist (Gelenkmaus), muss die anterograde Herangehensweise geplant werden. Dabei muss je nach intraoperativem Befund das Dissekat entfernt, die Sklerose und das Narbengewebe debridiert werden. Anschließend kann der Defekt mit autologer Spongiosa aufgefüllt werden. Je nach Zustand des Dissekats kann dieses replantiert oder eine knorpeladressierende Maßnahme (Knorpelzelltransplantation) geplant werden. Die knorpeladressierenden Maßnahmen haben zum aktuellen Zeitpunkt im kurz- und mittelfristigen Verlauf sehr gute Ergebnisse. Entscheidend ist, dass Begleitpathologien mitbehandelt werden. Hierunter fallen insbesondere Varusfehlstellungen oder ligamentäre Instabilitäten.
769 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
a
b
c
⊡ Abb. 28.10a-c Osteochondrosis dissecans – typische Lokalisation zur Intertuberkular-Region. a Röntgen, b MRT
a
Art und Ausprägung der Läsion bestimmen auch die Komplikationsmöglichkeiten. Heilt der Herd nicht ein, kann es zu Gewebeuntergang mit Ausbildung von freien Gelenkkörpern kommen. Auch besteht die Gefahr, dass bei schlechter Rekonstruktion der Gelenkfläche im Zeitverlauf eine dem Alter vorauseilende Arthrose entsteht. Rezidive werden ebenfalls beschrieben. Sofern es sich um niedrige Stadien und einen kleinen Defekt handelt, führt die konservative Therapie beim Heranwachsenden mit offenen Epiphysenfugen in ca. 50% der Fälle zu einer Restitutio ad integrum. Sofern bei höhergradigen Stadien eine operative Therapie erforderlich wird, finden sich für die retrograde Anbohrung sehr gute bis gute Ergebnisse in ca. 75% der Fälle, die ebenfalls bei noch offenen Epiphysenfugen noch besser sind als beim Erwachsenen. Gleiches gilt für die Dissekatrefixierung. Allerdings ist eine leicht erhöhte Arthroserate bei Osteochondrosis dissecans mit geschlossenen Epiphysenfugen wahrscheinlich.
M. Ahlbäck z
⊡ Abb. 28.11a,b Osteochondrosis dissecans. a Arthroskopisches Bild, b Anbohrung des Herdes unter Bildwandlerkontrolle
b
Definition
Die aseptische Nekrose der Femurrolle wird als M. Ahlbäck bezeichnet. Diese spontan auftretende Erkrankung betrifft in
der Regel den Randbereich des medialen Femurkondylus bei Frauen über 60 Jahren. z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist weitgehend ungeklärt. Wahrscheinlich spielen zirkulatorische Störungen mit Minderperfusion bestimmter Areale des Femurkondylus sowie ähnliche ätiologische Faktoren, wie sie bei der aseptischen Femurkopfnekrose diskutiert werden, eine Rolle. Die Stadien des M. Ahlbäck sind in Kap. 11 dargestellt. z
Klinik
Klinisch äußert sich diese Erkrankung durch einen schlagartig und ohne erkennbare Ursache einsetzenden Schmerz. Vor allem Belastungsschmerzen treten auf, allerdings werden von den Betroffenen nicht selten auch Ruheschmerzen angegeben. Typischerweise wird der Schmerz auf die mediale Femurkondyle projiziert, die auch druckschmerzhaft ist. Sofern der Verlauf prolongiert ist, kann es zu sekundären klinischen Phänomenen wie Kapselschwellung, Gelenkerguss und Varusdeformität kommen.
28
770
z
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Diagnostik
> Das typische Röntgenbild zeigt eine abgeflachte und entrundete mediale Femurkondyle mit einem osteonekrotischen Bereich in der Hauptbelastungszone.
Dieser ist meist scharf gezeichnet und lässt sich bereits konventionell radiologisch abgrenzen (⊡ Abb. 28.12). Nur in Ausnahmefällen ist eine Szintigraphie erforderlich. Hier imponiert dann eine frühzeitige Anreicherung im medialen Femurkondylus. Eine MRT wird in der Regel nicht benötigt. Sie zeigt das typische Bild mit einer Ödemreaktion um den nekrotischen Bereich. z
28
Therapie
Die Therapie der aseptischen Femurrollennekrose ist in den Frühstadien in der Regel konservativ. Das heißt, dass eine konsequente Entlastung verbunden mit einer adäquaten Schmerztherapie (nichtsteroidale Antirheumatika) für die Dauer von bis zu 6 Monaten indiziert ist. Über eine Ilomedin-Therapie gibt es analog zur Femurkopfnekrose erste Berichte. Flankierend sind eine Gewichtsreduktion und die Beseitigung etwaiger Stoffwechselstörungen sinnvoll. Sofern diese Behandlung nicht ausreichend erfolgreich ist oder es sich um höhergradige Stadien handelt, bieten verschiedene operative Therapiemöglichkeiten. Die Art operativen Intervention ist stadienabhängig und richtet sich nach dem Ausmaß der Beschwerden, nach Begleitpathologien und der Größe des Defekts. Eine Arthroskopie mit entsprechender Anbohrung bei intakter Knorpeldecke ist die am geringsten invasive Methode. Korrekturosteotomien werden immer noch diskutiert, sind aber nur bei adäquaten Knorpelverhältnissen Erfolg versprechend. Auch arthrotomische Verfahren mit Defektdébridement und ggf. auch osteochondraler Transplantation sind teilweise sinnvoll. Sofern bereits begleitende arthrotische Veränderungen bestehen, ist bei großen Defekten durchaus auch
a
die Implantation einer Knietotalendoprothese zu diskutieren. Dabei ist wie oben erwähnt das Alter des Patienten und auch die Defektgröße mitbestimmend für die Wahl der Therapie. Die Ergebnisse der Behandlung sind abhängig von der Defektgröße und dem Ausmaß der vorbestehenden Pathologien. Es gibt Studien, die stadienabhängig Erfolgsraten von bis zu 80% guter Ergebnisse bei konservativer Therapie beschreiben (Forst et al. 1998, Zippel et al. 1981. Die Anbohrung und ggf. auch arthrotomische Verfahren reichen an diese Erfolgsraten nicht heran: In den mittleren Stadien des M. Ahlbäck werden in der Regel nur in ca. 50–75% der Fälle gute bis sehr gute Ergebnisse erreicht (Benzakour et al. 2010). Die Ergebnisse der Endoprothesenoperation werden in weit über 90% der Fälle mit gut bis sehr gut beschrieben (Wanivenhaus et al. 1990).
28.1.5
z
Arthrotische Veränderungen des Kniegelenks
Epidemiologie
Die Arhrose des Kniegelenks ist eine Volkskrankheit (Günther et al. 2002). Nach der Hypertonie ist sie diejenige, die in Deutschland die meisten Kosten der Krankenkassen verursacht. Es existiert für das Kniegelenk eine umfangreiche Arbeit von Steadman und Mitarbeitern (1999), die an über 10.000 Kniearthroskopien nachweisen konnten, dass bereits 60% der 30- bis 35-Jährigen erste Anzeichen für Degeneration des Knorpels am Kniegelenk aufweisen. Dieser Prozentsatz schreitet mit zunehmendem Alter weiter rasch fort, sodass in der 7. Lebensdekade nur noch ein verschwindend geringer Anteil keine Verschleißerscheinungen aufweist. Van Saase und Mitarbeiter (1989) zeigen auf, dass über 50% der von ihm untersuchten Patienten arthrosetypische Röntgenbefunde aufweisen (⊡ Abb. 28.13). Dabei nimmt der Prozentsatz der Betroffenen stetig zu. Lawrence und Mitarbeiter (1998) zeigen auf, dass über 90% der
b
⊡ Abb. 28.12a,b Röntgenbild eines M. Ahlbäck. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
⊡ Abb. 28.13 Röntgenbild einer Arthrose des Kniegelenks
771 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
über 65-Jährigen mindestens ein Gelenk mit arthrosetypischen Zeichen aufweist. Der größte Anstieg der Neuerkrankungen verzeichnet sich für das Knie- und Hüftgelenk zwischen dem 50. und 60. Lebensjahr. Hinsichtlich der Epidemiologie ist das weibliche Geschlecht (postmenopausal) ein sehr wichtiger prädisponierender Faktor. Besonders in der zweiten Lebenshälfte erkranken Frauen häufiger und an mehr Gelenken als Männer, die eher der monarthrotischen Gruppe zuzuordnen sind und Verletzungen (Sport und Mikrotraumen) als Hauptursache für eine sekundäre Gonarthrose haben. Weitere Prädispositionen oder Risikofaktoren sind vermehrte Beanspruchung und Übergewicht, wobei diese Einflüsse mit Vorsicht beurteilt werden müssen. Meist handelt es sich auch bei diesen Patienten um ein multifaktorielles Geschehen (Sportler mit rezidivierenden Mikrotraumen, Adipositas mit Stoffwechselerkrankungen), die zur Ausbildung der Arthrose führen. z
Klinik
Da die Arthrose eine chronisch fortschreitende degenerative Erkrankung des Gelenkknorpels ist, kommt es in der initialen Phase der Arthrose zu Belastungsschmerzen, die unterschiedlich ausgeprägt sein können. Meist wird der Schmerz als stechend klassifiziert. Typisch ist ein wellenförmiger Verlauf der Beschwerdesymptomatik. Allerdings können oft jahrelang keinerlei Beschwerden bestehen. Dieser Zustand wird bei Vorhandensein von radiologischen Veränderungen latente Arthrose genannt. Sofern sich rezidivierende Gelenkergüsse, zunehmende Schmerzen, eine Reduktion der Gehstrecke, Nachtschmerz, Ruheschmerz oder auch eine zunehmende Fehlstellung hinzugesellen, spricht man von einer aktivierten Arthrose. Konventionell radiologisch können 4 Grade der Arthrose des Kniegelenks abgegrenzt werden: ▬ Grad I: initiale Gonarthrose mit angedeuteten Ausziehungen an der Eminentia intercondylaris und den gelenkseitigen Gelenkpolen ▬ Grad II: mäßige Gonarthrose mit Ausziehungen auch an den Tibiakonsolen, mäßiger Verschmälerung des Gelenkspalts und beginnender Abflachung der Femurkondylen, mäßige subchondrale Sklerose ▬ Grad III: mittelgradige Gonarthrose mit hälftiger Verschmälerung des Gelenkspalts, deutlicher Entrundung der Femurkondylen, osteophytären Randanbauten an den Tibiakanten, der Eminentia intercondylaris, den Innenkanten der Femurkondylen und den gelenkseitigen Patellapolen. Eine ausgeprägte subchondrale Sklerosierung tritt ebenfalls auf. ▬ Grad IV: ausgeprägte Gonarthrose. Gelenkdestruktion mit ausgeprägter Verschmälerung bis Aufhebung des Gelenkspalts und unregelmäßiger Randkontur. Zystische Veränderungen an Tibia und Femur sind möglich. Seltener finden sich diese auch an der Patella. Subluxationsstellung des Femurs gegenüber der Tibia. z
Diagnostik
Die Diagnostik der Gonarthrose erfolgt gemäß den Leitlinien der DGOOC und der DGU:
▬ Anamnese: – Schmerzen: Lokalisation, Schmerzausstrahlung, Tagesrhythmus, Dauer, Intensität, Funktionseinschränkung, schmerzfreie Gehstrecke – Belastbarkeit – Hinken – Beweglichkeit – Einklemmung, Blockierung, Instabilitätsgefühl – Schwellungsneigung, Beschwerden beim Treppab-/Bergabgehen – Gehhilfen ▬ allgemeine klinische Untersuchung: – Beurteilung der Beinachse: Muskelatrophie, Beinlängendifferenz – Gangbild, Knieschwellung, Hautveränderungen ▬ Palpation: – Überwärmung – Erguss, Schwellung, tanzende Patella – Krepitation – Patellamobilität – Verschiebeschmerz der Patella (Zohlen-Zeichen) – Druckschmerz der Patellafacetten – Druckschmerz am Gelenkspalt – Poplitealzyste – Plica mediopatellaris ▬ spezifische Funktions- und Schmerztests: – Beurteilung von Bewegungsumfang und Bewegungsschmerz, Bandstabilität, Meniskuszeichen ▬ notwendige apparative Untersuchung: Röntgen des Kniegelenks in 2 Ebenen ▬ im Einzelfall nützliche apparative Untersuchungen: – Röntgen: Funktionsaufnahmen und Spezialprojektionen (z. B. Patellaaufnahme, Tunnelaufnahme nach Frik, Einbeinstandaufnahme, Ganzbeinaufnahme) – Sonographie – MRT – CT – Szintigraphie – klinisch-chemisches Labor zur Differenzialdiagnostik – Punktion mit Synoviaanalyse z
Therapie
Die Behandlung der Gonarthrose fußt prinzipiell auf 2 Säulen: die konservative und die operative Therapieform (Grifka et al. 2004). Da die Progredienz der Arthrose nur verlangsamt, aber nicht aufgehalten werden kann, ist die Domäne der konservativen Therapie eher das Frühstadium der Arthrose. Eine gute Kosten-Nutzen-Relation zeigen hier physikalische Maßnahmen, Schmerzmedikation und Kräftigung der knieumgreifenden Muskulatur, die der Patient auch in Eigenregie durchführen kann. Steigern sich die Schmerzen und sind sie mit alleinigen konservativen Maßnahmen nicht mehr ausreichend zu behandeln, dann muss die operative Intervention vorgeschlagen werden. Zunächst steht hier die arthroskopische Chirurgie im Vordergrund. Dieses minimal-invasive Verfahren hat die Verbesserung der Gelenkfunktion durch Glättung von lokalen Meniskus- und Knorpelschäden zum
28
772
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Ziel. Auf diesem Weg sollen sekundäre, fortschreitende Schäden aufgehalten werden.
Arachnoidonsäure NSAID COX-1
COX-2
Stufenschema (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Orientierungskriterien: Schmerz, Ausmaß der Arthrose
▬
▬ ▬ ▬
28
(Röntgen), Therapieresistenz von Maßnahmen, Alter des Patienten, Deformität, Bewegungsausmaß, Leidensdruck, Begleiterkrankungen Stufe 1, ambulant: Beratung, Physiotherapie, Knieschule, analgetische und/oder antiphlogistische Medikamente, orthopädietechnische Maßnahmen, lokale Injektionstherapie Stufe 2, ambulant/stationär: wie Stufe 1, arthroskopische Verfahren Stufe 3, stationär: gelenknahe Osteotomien Stufe 4, stationär: endoprothetischer Ersatz des Kniegelenks, ggf. Zusatzeingriffe
Prostaglandin
Niere Gehirn
Prostaglandin
Mukosa- Plättchenprotektion aggreation
Schmerz Entzündung
⊡ Abb. 28.14 Wirkmechanismus nicht selektiver NSAID
NSAID und Coxibe z z Konservative Therapie
Die nicht operative Therapie der Gonarthrose beinhaltete sowohl physikalische Maßnahmen als auch die medikamentöse Therapie. Dazu gehören u. a. Hydrotherapie, Thermotherapie, Elektrotherapie, Massage und Physiotherapie zur Kräftigung der knieführenden Muskulatur. Diese Maßnahmen werden in der Regel im Frühstadium angewandt. Sie fördern durch eine Anregung des Stoffwechsels den Abtransport schädlicher Agenzien sowie den Antransport von Nährstoffen und körpereigenen entzündungshemmenden Stoffen. Die Physiotherapie erhält die Kraft der Muskulatur und die Beweglichkeit und schafft so optimale Grundvoraussetzungen für evtl. notwendige operative Interventionen. Begleitend kann es sinnvoll sein, orthopädietechnische Maßnahmen zu ergreifen. Darunter sind im Falle der Arthrose zu subsummieren: Schuhranderhöhungen, Pufferabsätze, Benutzung von Gehstock oder Unterarmgehstützen oder auch entlastende Bandagen und Orthesen. > Alle diese konservativen Therapieoptionen können jedoch das Voranschreiten der Gonarthrose nicht aufhalten. Sie dienen lediglich der Reduktion der Beschwerden, stellen also eine adjuvante Therapie dar.
Sowohl national als auch international wurden einheitliche Richtlinien zur medikamentösen und operativen Behandlung der Gon- und Koxarthrose publiziert. Durch die medikamentöse Therapie wird versucht, die Funktionalität zu verbessern, die Beschwerden zu vermindern und eine mögliche operative Therapie, soweit wie möglich hinauszuschieben. Diejenigen Medikamente, die schnell die Schmerzen nehmen und eine akute Entzündungsreaktion bessern, haben den höchsten Stellenwert bei der konservativen Arthrosebehandlung. Diese werden unterschieden in klassische nichtsteroidale Antiphlogistika (NSAID), reine Analgetika, intraartikuläre kortikosteroide Topika sowie nicht klassische nichtsteroidale Antiphlogistika und Phytopharmaka.
Die wichtigste und am häufigsten eingesetzte Medikamentengruppe sind die klassischen nichtsteroidalen Antiphlogistika, die eine antipyretische, antiphlogistische und analgetische (antinozizeptive) Wirkung besitzen. Dies beruht hauptsächlich auf der Hemmung der endogenen Prostaglandinsynthese aufgrund der Inhibition der Cyclooxygenase (⊡ Abb. 28.14). Die große Anzahl klassischer NSAID führte zu unterschiedlichen Klassifizierungen. Durchgesetzt hat sich eine Einteilung entsprechend ihrer chemischen Struktur. Die klassischen NSAID besitzen durch ihre unspezifische Hemmung der Cyclooxygenase (COX), die mindestens in 2 unterschiedlichen Isoenzymen vorkommt (COX-1 und COX-2), einschränkende Nebenwirkungen, wie z. B. Magen-Darm-Blutungen. Deshalb wurden selektive COX-2-Hemmer entwickelt, sog. Coxibe. Eine COX-1-Hemmung wird bei diesen Medikamenten weitestgehend vermieden, sodass weiterhin COX-1 (konstitutionell) zur Verfügung steht, beispielsweise zur Thrombozytenaktivierung, zum Schutz der Magen-Darm-Schleimhaut oder auch für die Nierenfunktion. Die gewünschte COX-2-Hemmung zur Inhibition der Entzündungsreaktion bleibt jedoch in vollem Umfang erhalten (⊡ Tab. 28.3). Im Jahr 2004 wurden die Ergebnisse der Vioxx-Studie (Rofecoxib), die die kardiovaskulären Risiken dieses Medikaments untersuchte, veröffentlicht (Bresalier et al. 2005). Hier zeigte sich ein 3,39-fach höheres Risiko eines Herzinfarkts bei Einnahme von Rofecoxib im Vergleich zu einem klassischen NSAID wie Diclofenac. Deshalb wurden die Medikamente dieser Gruppe teilweise vom Markt genommen. Neuere Studien, wie die Medal-Studie zur Untersuchung von Etoricoxid (Arcoxia) konnten jedoch zumindest bei diesem Wirkstoff keine erhöhtes Aufkommen von kardiovaskulären Zwischenfällen aufzeigen (Cannon et al. 2006). Diese Studie zeigte, dass das Risiko einer Magenblutung im Vergleich zu einem klassischen NSAID kombiniert mit Protonenpumpenhemmer etwa gleich hoch ist, das Risiko einer enteralen Blutung jedoch durch die Einnahme von Etoricoxid (Arcoxia) deutlich reduziert werden kann.
773 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
⊡ Tab. 28.3 Einteilung der NSAID Häufig verwendete Präparate
Klinisch wichtigste Nebenwirkungen
Empfohlene Tagesdosis
Tagestherapiekosten [€]
Paracetamol
Lebertoxizität
500–3000 (–4000) mg
0,10–0,60
Ibuprofen (niedrig dosiert)
Gastrointestinale Ulkusblutung
100–400 mg
0,25
Metamizol
Allergien, Agranulozytosen (sehr selten)
500–4000 mg
0,20–1,60
Tramadol
Übelkeit, Obstipation
50–400 mg
0,25–1,60
Tilidin
Müdigkeit, Obstipation
100–600 mg
0,80–9,60
Fentanyl (Pflaster)
Obstipation
25–100μg/h (Wechsel alle 3 Tage)
4,50–11,50
Indomethacin
Gastrointestinale Ulkusblutung, Porphyrieinduktion Nierenfunktionsstörung
50–200 mg
0,10–0,40
Ibuprofen (Normaldosierung)
Gastrointestinale Ulkusblutung, Nierenfunktionsstörung
400–2400 mg
0,25–1,50
Naproxen
250–1250 mg
0,35–1,80
Diclofenac
50–150 (–200) mg
0,10–0,30
Meloxicam
7,5–15 mg
0,75–1,00
Nichtopioidanalgetika
Opioidanalgetika
Konventionelle NSAID
Arachnoidonsäure COIXID COX-1
Prostaglandin
COX-2
Niere Gehirn
Prostaglandin
So sollten sie nur in Einzelfällen bei Patienten mit entzündlichen Darmerkrankungen verwendet werden. Dies gilt v. a. bei Patienten mit M. Crohn und Colitis ulcerosa, bei denen durch NSAID Schübe ausgelöst werden können. Grundsätzlich gilt: so niedrig und so kurz wie möglich medikamentöse Therapie bei Arthrose. Ziel ist es die aktivierte Arthrose wieder in die symptomarme Phase zu überführen. Reine Analgetika
Mukosa- Plättchenprotektion aggreation
Schmerz Entzündung
⊡ Abb. 28.15 Wirkmechanismus selektiver NSAID (COX-2-Hemmer)
> Obwohl die NSAID für die Patienten einen hohen Benefit hinsichtlich der Reduzierung der Beschwerden besitzen, muss ihr Einsatz aufgrund ihres hohen Nebenwirkungspotenzials grundsätzlich kritisch geprüft werden.
Zu dieser Medikamentengruppe gehören reine Analgetika wie Paracetamol (Acetaminophen) und niedrig dosiertes Ibuprofen, die keine antiinflammatorische Wirkung besitzen. Die endogene Prostaglandinsynthese wird dabei praktisch nicht gehemmt. Paracetamol sollte bei gesunden Erwachsenen eine Tageshöchstdosis von 3–4 g nicht übersteigen, da sonst irreversible Leberfunktionsstörungen zu befürchten sind. Bei Patienten mit einer Leberparenchymschädigung sollten sie nur nach internistischer Rücksprache eingesetzt werden. In neueren randomisierten, kontrollierten Studien sind reine Analgetika den NSAID in Wirksamkeit und Verträglichkeit unterlegen. Diese Studien untermauern den empirischen Eindruck der guten Schmerzlinderung bei NSAID. Opioidanalgetika
So sollten sie bei Patienten mit Problemen im Gastrointestinaltrakt und eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion (Kreatinin >1,5 mg/dl) mit Zurückhaltung eingesetzt werden. Bei ansteigenden Laborparametern sollten sie abgesetzt werden. Auch COX-2-Hemmer unterliegen gewissen Beschränkungen.
Diese Medikamente führen zu einer Aktivierung der Opioidrezeptoren. Das bekannteste ist sicherlich Morphium. Leider besitzen diese Medikamente ein hohes Suchtpotenzial und es kommt zu einem Gewöhnungseffekt, was bei einer chronischen Beschwerdesymptomatik wie der Arthrose relevant ist. Deshalb
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
sollten zunächst alle anderen medikamentösen Therapieoptionen ausgeschöpft werden und eine Verschreibung nur bei außerordentlich starken Schmerzen erfolgen. Wenn sie doch eingesetzt werden müssen, ist eine Anwendung von Retardpräparaten (z. B. Tramadol oder Tilidin in Retardform) oder Pflastern zu empfehlen. Nebenwirkungen sind unter anderem Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit und chronische Obstipation. Intraartikuläre Kortikosteroide
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Hierdurch wird eine Hemmung der Phospholipase A2 erreicht. Sie setzen noch vor Entstehung der Arachidonsäure an. Dadurch wird die Bildung von Prostaglandinen und Leukotrienen an initialer Stelle verhindert. Zugleich reduzieren sie die Synthese von Zellgiften, die ihrerseits wieder entzündungsauslösend wirken. Sie werden als membranstabilisierend und antiinflammatorisch beschrieben. Deshalb ist ihre Wirkung besonders gut bei entzündlichen und degenerativen Gelenkerkrankungen. Tipp
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#ten sollte nicht überschritten werden. Eine häufigere Anwendung bringt keine zusätzliche Erleichterung für den Patienten.
Persistierende Beschwerden sollten den Behandelnden eher zu einem Therapiewechsel hin zum operativen Vorgehen bewegen. Allerdings sollte 3 Monate vor einem geplanten operativen Eingriff aufgrund der erhöhten Infektgefahr keine intraartikuläre Injektion mehr durchgeführt werden. Jede Injektion birgt das Risiko eines Gelenkinfekts in sich. Deshalb ist immer auf eine streng aseptische Injektionstechnik zu achten ist. Besonders gefährdet sind medikamentös oder krankheitsbedingt immungeschwächte Patienten. Das Risiko von systemischen Nebenwirkungen ist als vernachlässigungswürdig einzuschätzen.
Hygienemaßnahmen bei intraartikulären Punktionen und Injektionen In Anlehnung an die Leitlinien der DGOOC und DGU ist bei intraartikulären Punktionen und Injektionen Folgendes zu beachten: Indikation: Sorgfältige Indikationsstellung. Aufklärung erforderlich. Es ist zu beachten, dass periartikuläre (gelenknahe) Injektionen und Punktionen hinsichtlich der Desinfektionsmaßnahmen dem intraartikulären Zugang gleichgestellt sind. Kontraindikationen: Infektionen, Hautschäden und Hauterkrankungen in der Umgebung der Injektionsstelle. Punktionen (z. B. Entleerung eines Pyarthros) können ggf. trotzdem unerlässlich sein. Die Punktionsstelle soll dann (möglichst) außerhalb der Hautveränderungen liegen. Räumliche Anforderungen: Räume und Einrichtungen bedürfen regelmäßiger desinfizierender Reinigung der patientennahen Gegenstände und Flächen sowie zusätzlicher ▼
gezielter Desinfektion nach Kontamination mit erregerhaltigem Material entsprechend dem für die Einrichtung gültigen Hygieneplan (Deutschland: § 36 Infektionsschutzgesetz). Die Anzahl der Personen im Behandlungsraum ist (für den Zeitraum der Injektion/Punktion) auf das Notwendige zu beschränken. Nach Kontamination mit erregerhaltigem Material (z. B. bei einer Punktion) ist unverzüglich die Desinfektion der Raumteile und Einrichtungsgegenstände vorzunehmen, die kontaminiert worden sind. Vorbereiten des Patienten: Das Injektionsfeld ist so weit freizulegen, dass seine Kontamination durch Kleidungsstücke zuverlässig vermieden und der Arzt nicht behindert wird. Störende Behaarung ist vor der Injektion/Punktion mit der Schere zu kürzen. (…) Das Rasieren der Haare im Injektionsbzw. Punktionsbereich wird für nicht sinnvoll erachtet, weil es dabei zu Hautverletzungen kommen kann, die eine Infektion begünstigen. Die Injektionsstelle und ihre Umgebung sind antiseptisch zu behandeln, nötigenfalls vorher zu reinigen. (…) Das Antiseptikum kann im Sprüh- oder Wischverfahren aufgebracht werden; gefordert wird eine satte Benetzung der Haut. Die Einwirkzeit muss mindestens 1 Minute betragen. Arzt und Assistenzpersonal: Von der Kleidung, insbesondere den Ärmeln, darf keine Infektionsgefahr ausgehen. Nach vorausgehender hygienischer Händedesinfektion sind sterile Handschuhe anzulegen, Gespräche sind auf das Notwendige zu beschränken. Bei Gelenkpunktion mit Spritzenwechsel (Dekonnektion) ist stets ein Mund-Nasen-Schutz zu verwenden. (…) Vorbereitung der Injektion/Punktion: Es sind sterile Einmalkanülen und sterile Einmalspritzen zu verwenden. Zur Anwendung einer Stichinzision vor intraartikulärer Injektion oder Punktion liegen keine Daten hinsichtlich einer Veränderung der Infektionshäufigkeit vor. Die steril verpackten Instrumente, ebenso wie Ampullen etc. dürfen erst unmittelbar vor der Injektion geöffnet werden. Nach der Injektion: Die Injektions- bzw. Punktionsstelle ist mit Wundschnellverband abzudecken. Bei vermehrten Beschwerden im behandelten Gelenk soll unverzüglich der Behandler oder, bei dessen Unerreichbarkeit, ein anderer Arzt aufgesucht werden. Nach der intraartikulären Injektion oder Punktion soll der behandelnde Arzt dem Patienten mitteilen, wie dieser den Behandler bei eventuellen Komplikationen (v. a. an Wochenenden) erreichen kann oder an wen er sich bei dessen Verhinderung wenden soll, da die frühestmögliche Erfassung einer Komplikation nach intraartikulärer Injektion oder Punktion für die Behandlung und das Behandlungsergebnis der Komplikation entscheidend ist.
Topische Arzneimittel
Unter den topisch anwendbaren Arzneimitteln gegen Arthrose versteht man Salben- und Gelzubereitungen von NSAID, aber auch aus anderen, beispielsweise hyperämisierenden Wirkstoffen zur äußerlichen Anwendung. Im Allgemeinen haben Topika bei Patienten eine größere Akzeptanz als orale Pharmaka.
775 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
Die Studienlage bezüglich ihrer Wirksamkeit ist teilweise widersprüchlich. So zeigten einige Studien eine der oralen Einnahmeform vergleichbare Wirksamkeit bei einem geringeren Nebenwirkungsprofil, während andere Autoren von einer sehr eingeschränkten Wirksamkeit ausgehen (Zacher et al. 2001. Sonstige antiphlogistische Substanzen
Verschiedene Untersuchungen konnten eine Reduktion der entzündlichen Symptomatik bei Arthrose durch Glukosaminsulfat, Chondroitinsulfat und Hyaluronsäure nachweisen (Sawitzke et al. 2010, Pavelka et al. 2010, Shimizu et al. 2010). Diese Stoffe dienen als metabolische Substanz für den Chondrozyten und entfalten dadurch sekundär eine antiphlogistische Wirkung mit Reduktion der reaktiven Synovialitis. Das sicherlich am häufigsten eingesetzte Medikament dieser Gruppe ist die Hyaluronsäure. Durch diese wird die Proteoglykanproduktion der Chondrozyten erhöht. Dadurch verbessern sich die mechanischen Eigenschaften des Knorpels. Des Weiteren wird die Viskosität der Synovia beeinflusst, was als Viskosupplementation oder Lubrifikation der Gelenkoberfläche beschrieben wird. Präparaten mit höherem Molekulargewicht wird eine bessere Wirkung auf die vermehrte Zähflüssigkeit der Synovia zugeschrieben. Phytopharmaka
Zuverlässige Daten aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu dieser Substanzgruppe fehlen. Deshalb hat die Arzneimittelkommission der Deutsche Ärzteschaft 2001 entschieden, dass mit den bisher vorliegenden offenen Studien und Anwendungsbeobachtungen keine Belege der Wirksamkeit erbracht werden können. z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Therapie der Gonarthrose ist dann gegeben, wenn die physikalischen und medikamentösen Maßnahmen keine ausreichende Verbesserung des beklagten Beschwerdebilds mehr erreichen. Die operativen Interventionen werden unterschieden in gelenkerhaltende, gelenkersetzende und gelenkversteifende Operationen. Gelenkerhaltende Operationen
Die arthroskopische Gelenkspülung ist ein probates Mittel, um durch einen minimal-invasiven Eingriff eine Verbesserung der Beschwerden zu erreichen. Das Grundprinzip sieht hierbei vor, den angesammelten Zelldetritus und damit Entzündungsmediatoren aus dem Gelenk zu spülen und die dadurch verursachte Entzündungsreaktion zu reduzieren. Allerdings geht die alleinige Gelenkspülung zumindest bei fortgeschrittenen Arthrosen in der Regel nur mit einer kurz- bis mittelfristigen Besserung des Befunds einher. Das Fortschreiten der Arthrose kann so nicht aufgehalten werden. Das arthroskopische Gelenkdébridement beinhaltet primär eine Knorpelglättung und je nach Lokalverhältnissen neben der Spülung zusätzlich auch eine partielle Osteophytenabtragung, ggf. eine Anbohrung nach Pridie (⊡ Abb. 28.16) in den Arealen einer Chondromalazie Grad III–IV, eine Teilsynovektomie und, sofern vorhanden, auch eine Resektion geschädigter Menisku-
⊡ Abb. 28.16 Arthroskopisches Bild eines Knorpeldefekts Grad IV vorgesehen zur Anbohrung nach Pridie
santeile. Studien belegen, dass über 50% der so behandelten Patienten durch das arthroskopische Gelenkdébridement eine deutliche Besserung erfahren, die durchaus bis zu 5 Jahren anhalten kann (Steinwachs et al. 2008). Die Umstellungsosteotomie ist ein probates Mittel der Wahl bei asymmetrischen Arthrosen des Kniegelenks, die mit einer Varus- oder Valgusfehlstellung und ausreichend stabilen Bandverhältnissen einhergehen (⊡ Abb. 28.17). Die Indikation zur Umstellungsosteotomie sollte allerdings nach strengen Kriterien gestellt werden, da diese Operation einen nicht unerheblichen Eingriff in die Situation des Patienten bedeutet und zudem die ligamentäre Kinematik derartig verändert wird, dass eine spätere Endoprothesenimplantation nicht selten erschwert ist. Als Richtlinie sollte sichergestellt werden, dass es ich um einen frontalen Achsenfehler handelt, das Streckdefizit weniger als 20° beträgt und die Flexionsfähigkeit mindestens bei 100° liegt. Darüber hinaus sollte arthroskopisch gesichert sein, dass die weniger betroffene Seite noch weitgehend intakte Knorpelverhältnisse aufweist. Die ligamentäre Situation muss bei extraligamentären Osteotomien stabil sein. Das Grundprinzip der Umstellungsosteotomien ist die Verlagerung der Belastung des Kniegelenks von der überlasteten und in der Regel bereits degenerativ veränderten Seite auf das noch besser erhaltene femorotibiale Kompartiment. Einige Sammelstudien belegen eine Beschwerdelinderung zumindest für die Dauer von 7 Jahren. Einige Serien stellen auch befriedigende 10-Jahresergebnisse dar (Aoki et al. 2006, Sprenger et al. 2003). > Prinzipiell stehen dem Operateur 2 kniegelenknahe Verfahren zur Verfügung: die suprakondyläre Umstellung und die Tibiakopfumstellungsosteotomie. Entscheidendes Kriterium ist, dass postoperativ der Gelenkspalt horizontal zur Belastungsachse verlaufen muss.
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⊡ Abb. 28.17a–d Umstellungsosteotomie einer Varusfehlstellung. a Klinisch, b intraoperativ, c mit Meißeln, d mit winkelstabiler Platte, e Röntgenbild postoperativ
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Daraus ergibt sich, dass die Domäne der suprakondylären Osteotomie die Valgusgonarthrose mit Deformitätslokalisation im Femur ist. Bei einer Valgusdeformität wird femoral ein Keil mit seiner Basis medial entnommen und die Osteotomie nach Zuklappen des Defekts mit einer winkelstabilen Platte versorgt. Eine Überkorrektur ist bei dieser Art der Deformität in jedem Fall zu vermeiden. Für die häufigere Varusgonarthrose wird die valgisierende Tibiakopfumstellungsosteotomie angewandt. Dabei ist eine Überkorrektur eher erwünscht. Die Technik der Osteotomie kann sowohl medial aufklappend oder lateral zuklappend sein, die Fixierungsverfahren sind ebenfalls vielfältig und reichen von einer einfachen Schraubenosteosynthese bis zur winkelstabilen Platte, die minimal-invasiv eingebracht wird. Gelenkersetzende Operationen
Ist die Arthrose des Kniegelenks so weit progredient, dass der Patient über Ruhe- und Nachtschmerz sowie eine deutliche
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Reduktion der Gehstrecke klagt, ist der Zeitpunkt für einen endoprothetischen Ersatz erreicht. Hier richtet sich die Wahl des Operationsverfahrens nach dem Ausmaß des Gelenkschadens: Da das Kniegelenk als trikompartimentell angesehen wird, lassen sich bei isolierten Schäden des medialen oder lateralen Kompartiments frontaler Achsenabweichung von weniger als 10° und freier Kniestreckung unikondyläre Schlittenprothesen implantieren. Auch bei isolierter Retropatellararthrose ist eine Versorgung mit einer femuropatellaren Gleitlagerprothese möglich, wird allerdings überwiegend kritisch beurteilt. Zeichnet sich bei der klinischen Untersuchung und in der Bildgebung eine fortgeschrittene Degeneration mehrerer Gelenkanteile ab, ist der Oberflächenersatz die Methode der Wahl. Nicht selten wird die operative Versorgung der Gonarthrose durch den Patienten herausgezögert, sodass sich ausgeprägte Deformierungen der knöchernen Strukturen einstellen und das Bein im Varus- oder Valgussinne abweicht (⊡ Abb. 28.18 u. ⊡ Abb. 28.19). Diese Beinachsendeformitäten gehen einerseits
777 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
⊡ Abb. 28.18 Klinisches Bild einer Valgusgonarthrose
mit einer zunehmend ungünstigen Belastungssituation und andererseits mit Kontrakturen oder Elongationen der periartikulären Kapsel-Band-Anteile einher. Dieses Phänomen führt zu der Notwendigkeit, eine gekoppelte (»constraint«) Prothese zu implantieren, um eine ausreichende Gelenkstabilität über den gesamten Bewegungsumfang zu erreichen. In der Geschichte der Implantatentwicklung gilt Themistokles Gluck als Erster, der bereits 1890 ein durch Tuberkulose zerstörtes Kniegelenk mittels einer Elfenbeinprothese ersetzte (Wessinglage 1991). Da sich die mittelfristige Verankerung allerdings als sehr schwierig erwies, erhielt diese Technik in der Folgezeit keine weitere Aufmerksamkeit. Erst in den 1950erJahren griffen amerikanische Operateure die Idee des Kniegelenkersatzes wieder auf und entwickelten Scharnierprothesen, die mit einer Frühform von heute üblichem Knochenzement verankert wurden. Dennoch konnten auch in dieser Zeit zunächst keine befriedigenden Langzeitergebnisse für die Standzeit der Prothesen erreicht werden. Der Durchbruch gelang zunächst mit gekoppelten Prothesen, die die Kreuzbänder und auch Seitenbänder ersetzten. Diese Entwicklung geht auf Blauth und Gschwend zurück. Erst durch Berücksichtigung dieser komplexen Mechanik ist man von den Scharnierprothesen weg gekommen und hat ungekoppelte Prothesen konstruiert, die lediglich die Oberflächen ersetzen. In den 1960er-Jahren kamen die ersten Schlittenprothesen, in den Siebzigern dann Doppelschlitten. Mitte der 1970er-Jahre wurden dann die ersten Prothesen eingesetzt, die auch das Kniescheibengleitlager mit berücksichtigen.
⊡ Abb. 28.19 Klinisches Bild einer Varusgonarthrose
Die Implantate unterlagen einer kontinuierlichen Evolution des Designs, und eine logische Konsequenz dieser schrittweisen Verbesserung Mitte der 1970er-Jahre war die Entwicklung der Oberflächenprothesen ohne Kopplung der femoralen und tibialen Gelenkanteile und unter Beibehaltung der Kollateral- und Kreuzbandstrukturen (⊡ Abb. 28.20 u. ⊡ Abb. 28.21). Dieses Prothesenprinzip wird auch in den heute auf dem Markt befindlichen Modellen fortgeführt. Die weitere Entwicklung konzentrierte sich daher folgerichtig auf eine kontinuierliche Verbesserung von Design und Werkstoffen. Das Grundprinzip der heutzutage als Standardprothese anzusehenden Doppelschlitten- oder Oberflächenprothese ist, dass alle Kompartimente des Gelenks ersetzt werden. > Entscheidender Parameter für den Doppelschlitten ist die erreichbare ligamentäre Stabilität. Sofern diese sowohl für den Kollateralbandapparat als auch für das hintere Kreuzband erreicht werden kann, ist die kreuzbanderhaltende Prothese bei der Primärimplantation das Mittel der Wahl.
Stellt sich prä- oder intraoperativ heraus, dass ein nicht korrigierbares Extensionsdefizit vorhanden ist oder das hintere Kreuzband insuffizient ist, sollte auf eine posterior stabilisierte
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
a
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⊡ Abb. 28.21a,b Oberflächenprothese Typ DePuy PFC. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
⊡ Abb. 28.20 Schema einer Oberflächenprothese (Typ DePuy PFC). Mit freundlicher Genehmigung der Fa. DePuy Orthopädie
⊡ Tab. 28.4 Knieprothesen geordnet nach biomechanischen Gesichtspunkten Knieprothesen
Biomechanik
Nicht gekoppelt
Kreuzband erhaltende Designs
Posterior stabilisiert
Kreuzband ersetzende Designs: kreuzbandersetzendes Inlay (ultrakongruentes Inlay)
Teilgekoppelt
Kreuzband- und Seitenbandersatz, »substituting designs«
Voll gekoppelt
Kreuzband- und Seitenbandersatz, Kapselersatz (Zapfen nicht luxierbar), Tumordesigns
Komponente ausgewichen werden, d. h. eine Prothese, die das hintere Kreuzband ebenfalls ersetzt. Dieser Prothesen Typ ist im Gegensatz zu den achsengeführten Prothesen (s. unten) keine geführte Prothese (⊡ Tab. 28.4). Das femoropatellare Gelenk kann ebenso mit einem Patellaersatz ausgestattet werden (Boyd et al. 1993). Als Alternative wird eine dachfirstartige Patellaresektionsarthroplastik in Kombination mit einer zirkulären Denervierung durchge-
führt. Auch gibt es Operateure, die die Patella belassen, wie sie ist, und lediglich osteophytäre Randkantenanbauten entfernen. Eine abschließende wissenschaftlich evaluierte Einschätzung zu diesem Komplex gibt es bislang noch nicht. Die Abriebdiskussion (Chen et al. 1999, Glant et al. 1994) führte innerhalb der letzten 2 Jahrzehnte zu einer interessanten Modifikation des Prothesendesigns, den mobilen oder rotierenden Plattformen. Hier sind 2 Grundideen vereint: Gemäß der Auffassung, dass das im tibialen Prothesenanteil fixierte konventionelle Inlay die während des Gangzyklus auftretenden Scher- und Rotationskräfte direkt an das Prothesen-KnochenInterface der tibialen Komponente weitergibt, wurde das rotierende Inlay etabliert (⊡ Abb. 28.22). Die Hypothese ist, dass durch die Rotationsfähigkeit des Polyethylen-Inlays eine geringere Belastung des tibialen Knochenlagers entsteht und somit von dieser Seite eine verbesserte Laufzeit der Prothese zu erwarten ist. Darüber hinaus besteht aufgrund von quantitativen Abriebuntersuchungen die Einschätzung, dass konventionelle Inlays aufgrund nur mäßiggradiger Kongruenz der Femurkomponente mit dem tibialen Inlay einen erhöhten Polyethylenabrieb produzieren, da es zu lokalen Spitzenbelastungen kommt, die die Widerstandsfähigkeit von aktuell verwandten Polyethylenen übersteigt (Buechel 2001, 2002; McEwen et al. 2001). Folgerichtig erhielten die mobilen Inlays eine verbesserte Kongruenz und weisen eine zumindest experimentell nachgewiesene verminderte Abriebrate auf. Darüber hinaus wird von den Verfechtern der rotierenden Plattform postuliert, dass die Rotationsfähigkeit zu einer verbesserten Beweglichkeit des künstlichen Gelenks und damit zu einer verbesserten Patientenzufriedenheit führt. Die Überlegenheit der rotierenden gegenüber der fixierten Plattform unter klinischen Gesichtspunkten wird in der aktuellen Literatur noch äußerst kontrovers diskutiert. Es ist auch die Frage, ob die Ergebnisse der In-vitro-Testung auf die In-vivo-Verhältnisse, z. B. hinsichtlich
779 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
⊡ Abb. 28.22 Prinzip der rotierenden Plattform
der Mobilität des Inlays, übertragbar ist. Eine Überlegenheit des einen oder des anderen Designs hat sich noch nicht herauskristallisiert (Buechel et al. 1990, Jacobs et al. 2004). Die Gonarthrose muss nicht immer alle Anteile des Gelenks betreffen. Vor allem sekundäre Gonarthrosen aufgrund Varus- oder Valgusfehlstellungen betreffen nur ein femorotibiales Kompartiment. Ist nur das mediale (häufiger) oder das laterale (seltener) Kompartiment betroffen, können unikondyläre Schlittenprothesen zum Einsatz kommen (⊡ Abb. 28.23). Dabei kommt der Indikationsstellung eine besondere Bedeutung zu. Nicht jeder Patient der scheinbar eine unikompartimentelle Arthrose aufweist, ist geeignet für eine unikondyläre Prothese.
a
b
⊡ Abb. 28.23a,b Mediale unikondyläre Knieprothese. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
Indikationskriterien für die unikondyläre Schlittenprothesen
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Streng unilaterale Arthrose (Patella nicht betroffen) Streckdefizit <10° Achsenabweichung <10° Alter über 65–70 Jahre (geringe Lebenserwartung) Patient nicht übermobil
Die zunehmende Anzahl der Primärimplantationen von Prothesen am Kniegelenk hat folgerichtig dazu geführt, dass auch die Anzahl der notwendigen Revisionen aufgrund aseptischer oder auch septischer Lockerung zugenommen hat. Dies beinhaltet die Notwenigkeit, die oftmals veränderte Kinematik des Kniegelenks mit instabilem Kollateralbandapparat zu ersetzen. Je nach Ausprägung der Instabilität und des Defekttyps müssen achsengeführte Prothesen implantiert werden (⊡ Abb. 28.24). Das Prinzip dieser Prothesen reicht von teilgeführten bis zu komplett geführten Prothesen, die ein echtes Scharniergelenk darstellen. Scharniergelenke werden wegen ihrer ungünstigen Biomechanik und dem erhöhten Lockerungsverhalten praktisch nicht mehr verwendet. Bei der Wahl der Prothese kommt es auch darauf an, die Modularität zu berücksichtigen. Inwieweit lassen sich Augmentation vornehmen und ggf. Schaftverlängerung anbringen? Der Markt bevorratet hier eine Vielzahl verschiedener Variationen. Implantationshäufigkeit: Die Knieendoprothetik hat sich heute als Standardverfahren der orthopädischen Chirurgie ähnlich dem Hüftgelenkersatz etabliert. Sie verzeichnete in
a
b
⊡ Abb. 28.24a,b Achsengeführte Prothese im Röntgenbild. a Im a.p.Strahlengang, b seitlich
den vergangenen Jahrzehnten eine erhebliche Steigerung der Implantationszahlen. Basierend auf den Daten der Bundesgeschäftsstelle für Qualitätssicherung gGmbH (BQS) wurden 2009 etwa 150.000 Knieprothesen in Deutschland implantiert. Diese Zahl hat sich im Vergleich zu 1990 nahezu versechsfacht. Mit einem weiteren Anstieg der Implantationszahlen muss gerechnet werden. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben dazu beigetragen, dass sich die Knieendoprothetik als Behandlungsstandard der fortgeschrittenen Gonarthrose etablieren konnte. Große
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Erhebungen, wie z. B. dsa schwedische Knieprothesenregister, zeigen, dass bei etwa 80% der behandelten Patienten eine hohe subjektive Zufriedenheit zu erwarten ist. Die Standzeit der Prothesen wird zum aktuellen Zeitpunkt je nach Studie mit ca. 90–95% nach 10 Jahren angegeben. Dabei stellt das Hauptproblem die aseptische Prothesenlockerung mit unterschiedlichen Ursachen dar: einerseits aufgrund der Lysen bedingt durch den Polyethylenabrieb, andererseits aufgrund verbliebener Gelenkinstabilität. Darüber hinaus ist ein postoperatives Malalignement von mehr als 3° Achsenabweichung im Varus- oder Valgussinne in der Frontalebene ebenfalls ein entscheidender Faktor für eine überlastungsbedingte Lockerung. Während in den vergangenen Jahrzehnten v. a. die Weiterentwicklungen des Prothesendesigns und der Materialien im Mittelpunkt standen, rückte in den letzten Jahren zunehmend die Optimierung der Operationstechnik in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. In verschiedenen Langzeitstudien zum Kniegelenkersatz konnte eine exakte Ausrichtung der Prothesenkomponenten als bedeutsam für die Langzeitstabilität ermittelt werden. Vor diesem Hintergrund wurde seit 1998 parallel zur Verbesserung der konventionellen mechanischen Ausrichthilfen mit der Entwicklung der bereits in der Neurochirurgie etablierten Navigationssysteme auf die Anforderungen der Endoprothetik begonnen, um der besonderen Bedeutung der Achsenausrichtung gerecht zu werden. Im Folgenden soll die Indikationen, die Standardoperationstechnik, die Ergebnisse und die aktuellen Entwicklungen darstellen. Die Indikation zur Implantation einer Knietotalendoprothese besteht bei fortgeschrittenen arthrotischen Veränderungen des Kniegelenks. Je nach klinischem und radiologischem Befundbild sollten mit dem Patienten mögliche Alternativen (Umstellungsosteotomie bei jungen Patienten und noch ausreichender Knorpeldecke), arthroskopische Revisionen (Zeitgewinn?), unilateraler Gelenkersatz (isolierte mediale oder laterale Arthrose ohne Patellabefall) kritisch diskutiert werden. > Die Indikation zur Implantation einer Endoprothese am Kniegelenk besteht nach Ausschöpfen der konservativen Maßnahmen, wenn Nachtschmerz, Ruheschmerz, regelmäßige Schmerzmedikation und eine Reduktion der Gehstrecke auf wenige 100 m imponiert. Implantation einer bikondylären Prothese
Da es sich bei der Implantation eines künstlichen Kniegelenks um eine Standardoperation handelt, soll im folgenden ein kurzer Abriss über die Implantationstechnik gegeben werden. Trotz des hochstandardisierten Verfahrens der Implantation bestehen zu den unterschiedlichen Zugängen aus anatomischer Sicht differierende Meinungen. Die jeweiligen Vor- und Nachteile der Zugangswege werden weiterhin kontrovers diskutiert (Matsueda u. Gustilo 2000, Laskin et al. 2004, Engh et al. 1997, Faure et al. 1993). Von einigen Autoren wird der weit verbreitete medial-parapatellare Zugang wegen der Beeinträchtigung des Streckapparats als nachteilig angesehen. Einige Studien zeigen die Unterlegenheit gegenüber dem Sub- und MidvastusZugang in der Frührehabilitation. Diese Arbeiten haben zu einer weiteren Verbreitung dieser Zugangswege beigetragen. Da
⊡ Abb. 28.25 Lagerung für die Implantation einer Knietotalendoprothese
⊡ Abb. 28.26 Dachfirstartige Präparation der Patella
Subvastus- und Midvastus-Zugang sich an anatomischen Strukturen orientieren, erhalten sie weitestgehend die Integrität des proximalen Streckapparats. Aufgrund der weiten Verbreitung wird im Weiteren der medial-parapatellare Zugangsweg zum Gelenk beschrieben (Lüring et al. 2005, Maric 1991, Maestro et al. 2000). Die Lagerung für die Implantation zeigt ⊡ Abb. 28.25. Nach ventraler Hautinzision wird der Zugang zum Gelenk angelegt. Hier ist bei der medial-parapatellaren Inzision darauf zu achten, dass die Quadrizepssehne im Verhältnis ⅓ zu ⅔ zum M. vastus medialis inzidiert und bis ca. 5 cm oberhalb der Patella eingekerbt wird (⊡ Abb. 28.26). ! Cave Nach distal ist eine Verletzung der Patellarsehne unbedingt zu vermeiden.
An der Patella sollte ein Kapselstreifen von ca. 1 cm Breite belassen werden, der einen sicheren Kapselverschluss zulässt. Im
781 28.1 · Erkrankungen des Kniegelenks
⊡ Abb. 28.27 Femorale Präparation und Eröffnung des Markraums
weiteren Verlauf wird die Gelenkkapsel über eine Breite von ca. 1–2 cm vom medialen Tibiaplateau knochennah abpräpariert, um eine optimale Übersicht über das Gelenk zu erhalten. Das Lig. intermeniscale anterius wird inzidiert, das vordere Kreuzband exzidiert und der Hoffa-Fettkörper soweit möglich belassen, um die propriozeptiven Eigenschaften nicht zu gefährden und Vernarbungen zu provozieren. Je nach Vorgehensweise werden nun Synoviaanteile im oberen Rezessus entfernt, um eine optimale Sicht auf die ventrale Kortikalis des Femurs zu erhalten. Je nach Versorgung der Patella kann diese anschließend evertiert und einer Resektionsarthroplastik mit zirkulärer Denervierung oder einer Osteophytenabtragung mit Denervierung zugeführt werden. Soll die Patella ersetzt werden, bietet sich dies nach der Implantation der Femur- und Tibiakomponente an. Prinzipiell bestehen nun 2 Möglichkeiten der Knochenzurichtung, die »Femur-first«- und die »Tibia-first«-Variante. Dies hängt zum einen vom verwendeten Implantat ab und zum anderen von der Philosophie des Weichteilmanagements. In der Regel und beim »Standardknie« ohne wesentliche Achsendeformitäten wird der Operateur die »Femur-first«-Variante wählen. Femorale Präparation: Leicht medioventral der interkondylären Notch über der femoralen Insertion des hinteren Kreuzbands wird der Eintrittspunkt für die intramedulläre Führung aufgemeißelt und der intramedulläre Stab eingebracht. Die möglichen Achsenfehler durch ungünstige Wahl des Eintrittspunktes sind hinreichend beschrieben. Anschließend kann der distale Femurschnitt geführt werden (⊡ Abb. 28.27). > Hier ist insbesondere bei stark sklerosiertem Knochen zu überprüfen, ob die Resektion mit der Planung übereinstimmt, da ansonsten Sägeschnittfehler zu Achsenabweichungen führen können.
Die Größenmesslehre wird im Weiteren aufgebracht, einerseits die Prothesengröße bestimmt und andererseits die Rotation der Femurkomponente festgelegt (⊡ Abb. 28.28). Ist die Rotation
⊡ Abb. 28.28 Größenbestimmung der Femurkomponente
markiert, kann der »Vier-in-eins«-Schnittblock aufgebracht werden und die Femurresektion wird vollendet. Es bietet sich an, anschließend die Reste der Menisken vorsichtig (speziell medial) zu entfernen und den ggf. »fünften Femurschnitt« durchzuführen: das Abschlagen von Osteophyten an den dorsalen Femurkondylen, die eine vollständige Streckung durch Spannung der Gelenkkapsel verhindern. Tibiale Präparation: Anschließend wendet sich der Operateur der Tibia zu und richtet den Schnittblock in der Regel extramedullär aus. Hierbei ist besonders auf die Varus-/ Valgus-Einstellung zu achten, sodass der Tibiaschnitt senkrecht zur Tibiaachse vorgenommen werden kann (⊡ Abb. 28.29). Es bietet sich aus Sicht der Autoren an, eher die weniger defekte Seite (bei der Varusgonarthrose also lateral) als Referenz zu verwenden. Bei minimaler Aufbaustärke des Tibiaplateaus mit Inlay von 8 mm bedeutet dies eine Resektion von 8 mm. Diese Vorgehensweise ist besonders bei starken Achsendeformitäten und tiefen Defekten angezeigt, um die Resektionshöhe möglichst gering zu halten. Dennoch ist die Gegenseite immer nachzumessen, auch um einen Überblick über das Ausmaß des Defekts zu erhalten. Es ist eher ein »undercutting« mit weniger Resektion zu akzeptieren, als zu viel Knochen an der Tibia zu entfernen, was eine Distalisierung der Gelenklinie verursacht. Nach Tibiaresektion können Osteophyten entfernt, die Probeimplantate eingebracht und das Ergebnis überprüft werden. Bei persistierenden Instabilitäten ist nun die Weichteilba-
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⊡ Abb. 28.31 Probeimplantation ⊡ Abb. 28.29 Ausrichtung der tibialen Komponente
Vorgehen, was zu einer hohen Verbreitung, unabhängig vom Prothesenmodell, geführt hat. Speziell an Ausbildungskliniken kann der Nachwuchs anhand dieser Technik sehr gut trainiert werden. Auch ist diese Technik zeitsparend und damit schonend für den Patienten. Die »Tibia-first«- oder auch »Balancedresection«-Technik ist eine wesentlich kompliziertere Technik, die sich an den erfahrenen Operateur richtet. z z Evidenz und Kontroversen
⊡ Abb. 28.30 Balancierung der Kollateralbandstrukturen mit einem Spreizerinstrumtarium
lancierung durchzuführen (⊡ Abb. 28.30). Sofern die Stabilität des Kunstgelenks über den gesamten Bewegungsumfang gegeben ist, kann die definitive Implantation vorgenommen werden (⊡ Abb. 28.31 u. ⊡ Abb. 28.32). Die hier beschriebene »Femur-first«-Variante bietet einige Vorteile: Es handelt sich um ein einfaches, gut erlernbares
Die aktuelle Literatur verfügt über eine Vielzahl von Studien, die die Überlebensrate von Knietotalendoprothesen beleuchtet (Buechel et al. 2002, Crowder et al. 2005Dixon et al. 2005, Freud et al. 1990, Huang et al. 2003, Robertsson et al. 2000, 2001. Aus der jüngeren Zeit ist die Studie von Himanen (2005) hervorzuheben, die multizentrisch 8467 Knietotalendoprothesen untersuchen und eine Überlebensrate von 97% nach 5 Jahren und 94% nach 10 Jahren nachweisen konnte. Zwei aktuelle »Single-surgeon«-Studien zeigen Überlebensraten von 92,6% nach 15 Jahren beim Arthrotiker und 100% nach 15 Jahren bzw. 93,7% nach 20 Jahren beim Rheumatiker. Oft wird die Frage nach erhöhter Lockerungs- und Komplikationsrate bei Diabetikern und adipösen Patienten besprochen: Zu dieser Thematik liegen 2 Arbeiten vor: Meding und Mitarbeiter (2003) fanden für Patienten, die an Diabetes mellitus Typ II leiden, eine höhere Revisionsrate: 3,6% vs. 0,4% bei gesunden Patienten. Auch scheint das Risiko einer tiefen Infektion in 1,2% mit Diabetes mellitus und 0,7% ohne Diabetes mellitus höher zu liegen. Stark adipöse Patienten wurden von Hamoui (2006) untersucht. Er fand im Vergleich zum schlanken Kontrollkollektiv zumindest keine radiologischen und klinisch-funktionellen Unterschiede.
783 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
bildfreien Navigation erlauben mittlerweile neben der Planung, Darstellung und Kontrolle der notwendigen intraoperativen Knochenresektionen auch eine intraoperative Darstellung der Beinachse, Überprüfungsmöglichkeiten der Kollateralbandstabilität und zum Teil optimierter Möglichkeiten der Implantatausrichtung. Zu diesem Themenkomplex liegen 2 Metaanalysen aus der Arbeitsgruppe der Autoren vor, die eindeutig die Vorteile der Navigation hinsichtlich der Rekonstruktion einer geraden und neutralen Beinachse belegen (Lüring et al. 2005, Bäthis et al. 2004, 2006, Anderson et al. 2006, Bolognesi u. Hofmann 2005, Bauwens et al. 2007, Perlick et al. 2004).
28.2
Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28.2.1
Patellaluxation
C. Lüring, J. Grifka z
Synonyme
Patellasubluxation, Lateralisationssyndrom der Patella, hypermobile Patella z
⊡ Abb. 28.32 Definitive Implantation unter Verwendung von Knochenzement
Während bis zum Ende der 1990er-Jahre v. a. designspezifische Unterschiede im Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen standen, werden in den letzten Jahren zunehmend die Einflussfaktoren des operativen Eingriffs und der Implantationstechnik als Kriterien für das klinische und funktionelle Ergebnis und den Langzeiterfolg in den Vordergrund der wissenschaftlichen Diskussion gestellt. > Der korrekten Implantation der Komponenten und einer damit einhergehenden Rekonstruktion einer neutralen Beinachse wird eine entscheidende Bedeutung für die optimale Standzeit zugemessen.
In verschiedenen klinischen Verlaufsbeobachtungen konnte eine erhöhte Lockerungsrate bei Achsabweichungen von mehr als 3° von der neutralen Beinachse ermittelt werden (Ritter et al. 1994). Studien, die die Präzision der konventionellen Implantationstechnik untersuchten, konnten einen Anteil von bis zu 30% der Implantationen mit Achsenabweichungen von mehr als 3° im Varus oder Valgus ermitteln (Mahahluxmivala et al. 2001). Diese Tatsache führte dazu, dass sich Navigationssysteme auch für den endoprothetischen Ersatz des Kniegelenks etablierten. In der klinischen Anwendung der Knieendoprothetik hat sich der Vorteil der bildfreien Systeme bezüglich einer direkten intraoperativen Anwendbarkeit ohne vorherige Bildgebung in der Praxis durchgesetzt. Die derzeitig verfügbaren Systeme der
Definition
Die Patellaluxation ist definiert als die Seitverlagerung oder Verkippung der Kniescheibe aus dem femoralen Gleitlager heraus. Die Verkippung wird als Tilt bezeichnet. Sofern das femorale Gleitlager nur teilweise verlassen wird, handelt es sich um eine Subluxation der Kniescheibe (⊡ Abb. 28.33). Im Gegensatz dazu steht die komplette Luxation der Kniescheibe aus dem femoralen Gleitlager heraus. In diesem Fall stehen Patellarückfläche und femorales Gleitlager nicht mehr in Kontakt miteinander. Die Patellaluxation tritt als erstmalige (Erstluxation) und rezidivierende Luxation (habituelle Patellaluxation) auf. In seltenen Fällen kommen dauerhafte Luxationen (teils mit Verhakung am lateralen Kondylus) vor. z
Ätiologie und Pathogenese
Aus pathomechanischer Sicht besteht eine Vielzahl von Möglichkeiten, warum eine Patella luxiert. In der Regel sind mehrere Faktoren für eine Luxation verantwortlich. Vor allem eine Valgusstellung des Beins begünstigt die Luxation. Zusätzlich findet sich meist eine Patelladysplasie unterschiedlicher Ausprägung und eine Abflachung des Gleitlagers (v. a. der lateralen Eminentia). Bei Patienten mit chronischer Luxation lassen sich oft vergrößerte Q-Winkel feststellen (Vergrößerung auf 20°). Begleitend kann der laterale Aufhängemechanismus (Gelenkkapsel, Retinakulum) der Patella sehr straff sein, sodass eine Lateralisationstendenz begünstigt wird. Darüber hinaus kann eine vermehrte Torsion des Femurs mit vermehrter Antetorsion des Schenkelhalses und konsekutiver Innenrotationsstellung des Oberschenkels eine laterale Patellaluxation begünstigen. Klinisch äußert sich dieser Befund in der sog. »schielenden Patella«, d.h. einer Innenrotationsfehlstellung der Patella. Die Rotationsfehlstellung des Femurs kann mit einem CT einfach bestimmt werden. Mitunter können im
28
784
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Kleinkindesalter Werte von bis zu 40° Antetorsion im Femur festgestellt werden. Betrachtet man das Ausmaß der dysplastischen Veränderung in Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der Luxation und das auslösende Moment, so liegt bei ersterem ein linearer und bei letzterem ein reziproker Zusammenhang vor. Dabei ist nicht immer ein direktes Trauma erforderlich. Oft reicht eine unkontrollierte Kontraktion der Quadizepsmuskulatur (spontanes Aufstehen nach längerem Sitzen), um eine Luxation der Patella auszulösen. In bis zu 50% der Fälle kommt es nach einer Erstluxation zu einer Reluxation. Dies liegt einerseits darin begründet, dass die Pathomechanik in der Regel zunächst bestehen bleibt und andererseits bei einer Luxation nicht selten der mediale Aufhängeapparat der Patella weiter überdehnt wird oder sogar partiell zerreißt, sodass hier eine weitere Schwachstelle entsteht.
28
⊡ Abb. 28.33 Röntgenbild einer subluxierten Patella bei 60° Flexion
> Neben den weichteiligen Verletzungen muss besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, ob auch eine osteochondrale Läsion an der medialen Patellafacette oder an der lateralen Femurkondyle durch Abscherung bei Luxation entsteht.
⊡ Tab. 28.5 Einteilung der Patellaluxation
Diese Veränderungen sind eine klare Indikation zur operativen Intervention. Eine erstmalige Luxation ist auch bei blander Reposition und unauffälligem Verlauf eine Indikation zur Arthroskopie, um das Hämatom auszuspülen und weitergehende Verletzungen zu behandeln.
Pathomechanik der instabilen Patella
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ z
Patella alta Antetorsionsvermehrung des Femurs Innentorsion der Tibia Genu recurvatum Genu valgum laxes mediales Retinakulum kontraktes laterales Retinakulum vergrößerter Q-Winkel Patelladysplasie Gleitlagerdysplasie
Epidedmiologie
10% der instabilen Patellae luxieren. Dabei sind ein Viertel der Luxationen auf direkte Traumen zurückzuführen. Interessant ist, dass etwa 20% der Patienten mit anteriorem Knieschmerz Subluxationen der Patella haben. Bei Chondropathia patellae ist außer einem gezielten Training des M. vastus medialis keine spezifische Therapie erforderlich. Aufgrund der Tatsache, dass die körperliche Aktivität in der Regel parallel zum biologischen Alter abnimmt, nimmt auch die Anzahl der Luxationen ab. Daraus lässt sich ableiten, dass die Wahrscheinlichkeit einer rezidivierenden Luxation besonders hoch ist, wenn das Alter bei der Erstluxation niedrig ist. Dies wiederum bedeutet, dass solche Patienten (meist handelt es sich um Patientinnen) möglichst bald einer adäquaten Therapie zugeführt werden müssen, damit sekundäre Veränderungen im Sinne einer dem Alter vorausschreitenden Arthrose verhindert
Einteilung
Typ
Ursache
traumatisch spontan
Häufigkeit
Erstluxation rezidivierende Luxation
Schweregrad
Luxation Subluxation
Richtung
lateral medial
Zeitpunkt
angeboren erworben
werden können. Dieses Risiko liegt je nach Studie bei bis zu 30%. Da es sich v. a. um junge, aktive und mitten im Erwerbsleben stehende Menschen handelt, ist die daraus resultierende sozioökonomische Bedeutung besonders zu betonen. z
Klassifikation
Es existieren verschiedene Möglichkeiten der Einteilung (⊡ Tab. 28.5). Den Patellaluxationen kann ein direktes Anpralltrauma vorausgehen. Anderseits kann auch eine spontane Luxation ohne auslösendes Ereignis auftreten. Echte traumatische Luxationen sind selten. In der Regel handelt es sich um eine spontane Luxation aufgrund von muskulärer Dysbalance gepaart mit anatomischer Deformität. Unterschieden werden Erstluxation und rezidivierende Luxationen. Oft handelt es sich lediglich um eine Subluxation der Patella, die nicht selten von einer spontanen Reposition gefolgt ist. Demgegenüber sind vollständige Luxationen abzugrenzen, die in der Regel einer Manipulation zur Reposition bedürfen. In der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die Richtung der Luxation nach lateral. Eine mediale Luxation (z. B. nach operativer Überkorrektur) ist eher als Rarität zu werten. Die Patellaluxationen können auch nach dem Zeitpunkt des ersten Auftretens klassifiziert werden. Hier ist zu unterscheiden zwischen angeboren und erworben. Dabei ist die angeborene Form der Patellaluxation vergesellschaftet mit einer hypoplasti-
785 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
schen Patella und einem manchmal konvexen Gleitlager. Diese Deformitäten gehen nicht selten mit weiteren muskuloskelettalen Dysplasien einher. Der Zeitpunkt des ersten Auftretens bei der erworbenen Luxation ist nicht festgelegt.
Klassifikation (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Klassifikation nach Pathogenese: – traumatische Patellaluxation – rezidivierende Patellaluxation: wiederholtes Auftreten einer Patellaluxation, meist nach traumatischer Luxation – habituelle Patellaluxation – angeborene Patellaluxation – permanente Patellaluxation: ständige Luxationsstellung der Patella nach lateral
z z Bildgebende Verfahren
Gemäß den Leitlinien der DGOOC und DGU für Patellaluxation gehören Röntgenausnahmen des Kniegelenks in 2 Ebenen sowie eine Tangentialaufnahme der Patella zur Standarddiagnostik. Im Einzelfalls sind Funktionsaufnahmen und Spezialprojektionen (Patella-Défilé) nützlich, ebenso Sonographie, MRT, CT und die Punktion. z Therapie z z Konservative Therapie
Die Diagnostik folgt den Leitlinien der DGOOC und der DGU und umfasst die 4 Bereiche Inspektion, Palpation, spezifische Funktions- und Schmerztests sowie Messung des Q-Winkels (s. Übersicht).
Bei der Erstluxation ist mit der Stellung der Diagnose eine sofortige Reposition durchzuführen, um weiterführende Schädigungen des Knorpels und des Kapsel-Band-Apparats zu vermeiden. Die Reposition gelingt am besten bei maximal gestrecktem Kniegelenk, entspannter Muskulatur und unter Schmerzausschaltung mit Druck von lateral zum Gleitlager hin. Sofern keine weiteren Schäden vermutet werden (intraartikulärer Erguss mit Fettaugen, radiologischer Verdacht auf einen osteochondralen Flake) kann zunächst eine Ruhigstellung in einer Kniestreckschiene erfolgen, an die sich im weiteren eine Physiotherapie zur Kräftigung der knieführenden und patellastabilisierenden Muskulatur in geschlossener Kette anschließt. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Dehnung evtl. verkürzter Kniebeugemuskulatur und auf eine Kräftigung speziell des M. vastus medialis obliquus gelegt werden. Sofern Kniebandagen angewandt werden, muss darauf geachtet werden, dass der Ring der Bandage ein echtes Widerlager für die Patella darstellt.
Klinische Diagnostik (Leitlinien der DGOOC und DGU)
z z Operative Therapie Nach einer akuten Luxation sollte eine Arthroskopie durchge-
▬ Klassifikation nach Luxationsweg: – laterale Patellaluxation – mediale Patellaluxation (sehr selten) – horizontale Patellaluxation
z
Diagnostik
▬ Inspektion: – Blickdiagnose bei nicht reponierter Patellaluxation – Beurteilung der Beinachsen – Beurteilung von Muskelatrophie, Beinlängendifferenz, Rotationsfehlstellungen – Gangbild, Knieschwellung – andere Deformitäten?
▬ Palpation: – – – – – –
Beurteilung von Überwärmung Erguss, Schwellung, tanzende Patella Krepitation Beurteilung der Patellamobilität Verschiebeschmerz der Patella (Zohlen-Zeichen) Beurteilung von Druckschmerz der Patellafacetten, Gelenkspalt
▬ spezifische Funktions- und Schmerztests: – – – – – – –
Beurteilung von Bewegungsumfang und -schmerz Beurteilung der Bandstabilität im Kniegelenk Beurteilung der generellen Bandlaxität Meniskuszeichen Verschieblichkeit der Patella Lateralisationstendenz bei Beugung Apprehension-Test
▬ Messung des Quadrizepswinkels: – Q-Winkel nach Brattström: Normwert beim Mann <10°, bei der Frau <20°
führt werden, sofern ein höhergradiger Gelenkerguss und/oder der Verdacht auf einen osteochondralen Flake besteht. Dieser muss in der Regel refixiert oder exstirpiert werden. Sofern die Anatomie des Patienten eine Patella- oder Gleitlagerdysplasie oder Achs- und Torsionsfehler aufweist, ist eine operative Intervention v. a. bei rezidivierenden Luxationen sinnvoll. Dabei sind besonders auf die individuellen Verhältnisse des Patienten zu achten. Die chronische Instabilität und die rezidivierender Luxation sind mit verschiedenen Techniken behandelbar. Insgesamt sind bis zu 100 verschiedene Verfahren beschrieben. Exemplarisch können folgende Prinzipien zur Rekonstruktion eines optimalen Patellagleitens verwendet werden: ▬ Verfahren, die proximal angreifen und straffe laterale Retinakula, laxe mediale Haltestrukturen sowie Fehlinsertionen des M. vastus medialis ausgleichen, ▬ distale Rekonstruktionen, die den Q-Winkel an die physiologische Situation anpassen sollen und dabei die Tuberositas tibiae nach medial-distal und/oder ventral verlagern, ▬ knöcherne Eingriffe am Gleitlager. z z Nachbehandlung
Die Nachbehandlung der proximalen und distalen Operationen lässt in der Regel eine frühfunktionelle Physiotherapie mit Flexion bis 70° zu. Postoperativ muss je nach Befund und Operationsmethode zunächst eine Positionierung in Streckstellung mit einer Vermeidung einer Flexion über 30° für bis zu
28
786
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
6 Wochen erfolgen, die anschließend eine passive, später eine aktive Physiotherapie mit steigendem Flexionsausmaß ermöglicht. Eine freie Mobilisation sollte nach ausreichender Heilung nach 6–8 Wochen erreicht sein. z
Komplikationen
Problematisch bei den rekonstruierenden Maßnahmen ist die Überkorrektur, die im schlimmsten Falle bis zu einer Luxation nach medial reichen kann. Auch Überlastungsschmerzen v. a. bei vorbestehenden retropatellaren Knorpelschäden sind beschrieben. Bei allen knöchernen Eingriffen ist die Pseudarthrose die gefürchtetste Komplikation, neben den seltener auftretenden Wundheilungsstörungen.
28.2.2
28
Patellafrakturen
P. Baumann z
Definition
Patellafrakturen zählen mit etwa 1% zu den seltenen Verletzungen des Skelettes. Da sie jedoch zu den Gelenkfrakturen zählen, bedürfen sie einer sorgfältigen Diagnostik und einer differenzierten Therapieempfehlung hinsichtlich eines konservativen oder operativen Vorgehens. Als Gelenkfraktur muss die Reposition anatomisch und somit möglichst ohne artikuläre Dehiszenz erfolgen, zudem gelten die Grundsätze der stabilen Fragmentfixation sowie der möglichst frühfunktionellen Nachbehandlung , da bei restriktiveren funktionellen Nachbehandlungen die Wiedererlangung der Kniegelenksbeweglichkeit deutlich verzögert ist. z
Epidemiologie
Patellafrakturen treten in etwa 1% aller Skelettfrakturen auf. Sie gipfeln im Alterskollektiv zwischen 20–50 Jahren, wobei Männer doppelt so häufig betroffen sind wie Frauen. z
Ätiologie und Pathogenese
Patellafrakturen werden meist durch ein direktes Trauma auf die Knievorderfläche im Rahmen eines Sturzes oder durch einen Schlag auf das flektierte Kniegelenk verursacht. Dabei ist die Querfraktur der häufigste morphologische Frakturtyp. Bei Verkehrsunfällen sind sie zudem als »dashboard injury« im Sinne eines direkten Traumas vertreten. Dabei müssen weitere Begleitverletzungen, wie z. B. Femur- oder Beckenverletzungen, gesucht und ausgeschlossen werden. Patellafrakturen können auch nach Entnahme von Transplantaten (VKB-Plastik) oder in der Folge eines retropatellaren Ersatzes bei Knietotalprothesenimplantationen auftreten, wie auch nach anderen Weichteileingriffen (Quadricepssehnen – Refixationen) oder peripatelläre Rekonstruktionen (Parvizi et al. 2006). z
Anatomie und Biomechanik
Die Patella wirkt als größtes Sesambein zwischen dem Streckapparat des M. quadriceps und dem Lig. patellae und verlängert somit den Hebelarm des M. quadriceps. Dabei werden die
Zugkräfte des Streckapparats auf das Lig. patellae bzw. auf die Tuberositas tibiae übertragen. Die Funktion der Patella ist dabei abhängig von der Stellung des Femurs. Bei Flexions- und Extensionsbewegungen legt die Patella auf dem Femur eine Wegstrecke von bis zu 8 cm zurück und gleitet im femoropatellaren Kompartiment. In maximaler Flexion wird der Hebelarm des M. quadriceps um gerade einmal 10% erhöht. In 45° Flexion jedoch erfährt der Hebelarm eine Vergrößerung von bis zu 30% (Rüedi u. Murphy 2008). Die Facies articularis patellae wird von einer 4–5 mm dicken Knorpelschicht überzogen. Dabei werden die Druckkräfte direkt auf das femoropatelläre Kompartiment und somit auf den patellären Knorpel übertragen. Biomechanische Untersuchungen zeigten im Bereich der Quadrizepssehne Druckkräfte bis zu 3000 N und in der Patellarsehne bis zu 2800 N. Es wirken Kräfte von bis zum 7-Fachen des Körpergewichts (Rüedi u. Murphy 2008). Die Durchblutung der Patella wird durch ein komplexes intra- und extraossäres Anastomosennetz gewährleistet, das die Patella zirkulär umschließt. Dieses Anastomosensystem wird hauptsächlich aus Abgängen der A. descensus genus, der Aa. superior lateralis und medialis genus gebildet. z
Klassifikation
Die AO-Klassifikation teilt die Patellafrakturen in 3 Hauptgruppen ein. Die 45-A-Frakturen sind extraartikuläre Frakturen, 45-B-Frakturen sind teilweise intraartikulär und die 45C-Verletzungen sind vollständig intraartikuläre Frakturen. Die Zahlen 1–3 geben den Schweregrad der Fraktur wider (Rüedi u. Murphy 2008). In der Praxis hat sich die AO-Klassifikation jedoch nicht durchgesetzt. Die Unterscheidung der Frakturtypen im klinischen Umfeld wird meistens aufgrund des morphologischen Frakturverlaufs beschrieben (Klute u. Meenen 1998): ▬ Querfraktur ▬ Längsfraktur ▬ Schrägfraktur ▬ Mehrfragmentfraktur oder Trümmerfraktur ▬ Polfraktur ohne Gelenkbeteiligung ▬ osteochondrale Fraktur z Diagnostik z z Anamnese
Patienten mit einer Patellafraktur berichten meistens über ein direktes Trauma auf die Knievorderfläche im Rahmen eines Sturzes oder eines Schlages. Häufig kann dabei das Kniegelenk nicht mehr aktiv gegen die Schwerkraft angehoben werden. Bei Hochenergieunfällen (»dashboard-injury«) wird die Patella durch ein direktes, heftiges Anschlagen an der Fahrzeugkabine verletzt. Dabei erleiden die Patienten oftmals Verletzungen der ipsilateralen Extremität (z. B. Femurfraktur) oder weitere Verletzungen im Bereich des Beckens. z z Klinische Untersuchung
Klinisch findet sich häufig eine Schwellung sowie eine deutlich eingeschränkte oder aufgehobene Beweglichkeit. Meist kann das gestreckte Bein nicht mehr gegen Widerstand von der Un-
787 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
tersuchungsliege angehoben werden. In den meisten Fällen ist zudem ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Hämarthros mit einer Hämatobursa und oberflächlichen Prellmarken als Ausdruck der heftigen Kontusion vorhanden. Bei stark dislozierten Frakturen kann gelegentlich aufgrund der knöchernen Diastase eine deutliche Delle zu palpieren sein. Bei der klinischen Untersuchung muss insbesondere der peripatellare Weichteilmantel genauestens untersucht werden. Oberflächliche Hautläsionen sind nicht selten. Eine Eröffnung der Bursa praepatellaris führt zu einer Kommunikation der Verletzung mit den Knochenfragmenten und gilt als offene Fraktur. Eine offene Patellafraktur ist ein orthopädischer Notfall und sollte so bald als möglich operativ versorgt werden. > Ein erhaltener aktiver Streckapparat schließt eine Patellafraktur nicht aus. Ein rasches Vorgehen bei Verletzung des Weichteilmantels (offene Fraktur) ist notwendig. Knöcherne Begleitverletzungen (Femur-, Becken- und Azetabulumfrakturen) dürfen nicht übersehen werden. z z Bildgebende Verfahren
Die radiologische Abklärung beinhaltet die Standartaufnahmen des entsprechenden Kniegelenks a.p. und im lateralen Strahlengang. Zur Messung der Patellahöhe soll die seitliche Aufnahme mit einer Knieflexion von 30° durchgeführt werden. Besteht der Verdacht auf Begleitverletzungen im Bereich der proximalen Tibia/Fibula oder des distalen Femurs, soll eine möglichst lange Kassette für die Aufnahme gewählt werden. In der a.p.Aufnahme projiziert sich die Patella auf die Mitte des Sulcus femoralis. Dabei steht der Unterpol der Patella innerhalb 2 cm in der Ebene, die durch die distalen Femurkondylen gebildet werden. In der seitlichen Aufnahme sind Frakturen der Patella häufig besser zu erkennen. Zudem muss die proximale Tibia stets mit abgebildeten werden, um knöcherne Ausrisse des Lig. patellae nicht zu übersehen. In der seitlichen Aufnahme kann außerdem das femoropatelläre Kompartiment mit möglichen Gelenkstufen beurteilt werden. Die Höhe der Patella kann durch mehrere Methoden bestimmt werden. Wir empfehlen die Höhenbestimmung nach Insall. Dabei wird der längste Durchmesser der Patella in Relation zur Länge des Lig. patellae gesetzt. Werte über 1,2 zeigen eine Patella baja, Werte unter 0,8 eine Patella alta mit oder ohne einer Ruptur des Lig. patellae. Eine weitere wichtige Ebene in der radiologischen Beurteilung ist die Merchant-Aufnahme. Diese Untersuchungstechnik hat sich besonders zum Ausschluss osteochondraler Läsionen sehr bewährt. Dabei wird das Kniegelenk 45° flektiert und der Zentralstrahl 30° von der Horizontalen gekippt. Die Röntgenkassette wird dabei senkrecht zur Röntgenröhre gehalten. z
Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch muss eine Patellafraktur von einer Patella bi- oder tripartita unterschieden werden, die in etwa 8% in der Population zu finden sind ( Abschn. 28.1.3). Dabei handelt
es sich um anlagebedingte zusätzliche Ossifikationskerne, die in den meisten Fällen superolateral zu finden sind. In rund 50% der Fälle sind sie bilateral vorhanden. Eine Patella bipartita ist in der Regel scharf begrenzt und abgerundet. In Zweifelsfällen kann eine MRT-Untersuchung zum Ausschluss einer Fraktur veranlasst werden. z Therapie z z Auf der Notfallstation
Besteht klinisch der Verdacht auf eine Patellafraktur, soll in der weiteren Untersuchung beurteilt werden, ob der Weichteilmantel intakt oder verletzt ist. Hautverletzungen müssen immer im Hinblick auf eine offene Patellafraktur kontrolliert werden. Bei offenen Verletzungen muss die Fraktur steril zugedeckt werden, um Kontaminationen im Verlauf der weiteren Abklärungen zu verhindern. Es empfiehlt sich, eine offene Verletzung während der primären Untersuchung zu fotografieren, sodass der sterile Verband bis zur operativen Versorgung nicht wieder geöffnet werden muss. Bei der nachfolgenden Untersuchung sollen Begleitverletzungen ausgeschlossen werden. Speziell muss überprüft werden, ob ligamentäre Verletzungen des Kniegelenks vorliegen (z. B. hintere Kreuzbandruptur im Rahmen einer »dasboard injury«, VKB- oder Seitenbandläsionen). Anschließend erfolgt die konventionell-radiologische Bildgebung. z z Konservative Therapie
Die konservative Behandlung ist für stabile Patellafrakturen ohne Dislokation mit klinisch intaktem Streckapparat vorbehalten. Als nicht bzw. wenig disloziert gelten Frakturen mit einer Fragmentverschiebung <3 mm und einer artikulären Stufe <2 mm. Der Streckapparat ist intakt, wenn das Kniegelenk gegen Widerstand ohne Extension von der Untersuchungsliege gestreckt abgehoben werden kann und sich dabei keine Sekundärdislokation der Fragmente zeigt (Braun et al. 1993, Prichett 1997). Die Nachbehandlung erfolgt mit Vollbelastung in Streckstellung für insgesamt 6 Wochen in einem Brace. Dabei erfolgen radiologische Stellungskontrollen nach 10–14 Tagen sowie nach 6 Wochen, um Sekundärdislokationen frühzeitig zu erkennen und ggf. ein operatives Vorgehen zu favorisieren (Prichett 1997). Belastete Flexionsübungen sollten unterlassen werden.
Indikationen zur konservativen Behandlung
▬ Fragmentverschiebung <3 mm ▬ Gelenkstufe <2 mm ▬ erhaltener Streckapparat ohne Sekundärdislokation z z Operative Therapie
Alle Patellafrakturen mit einer knöchernen Fragmentdislokation >3 mm, einer Gelenkstufe >2 mm, Trümmer- und offene Frakturen sowie Verletzungen des Streckapparats sollten operativ versorgt werden, ebenso Frakturen mit osteochondralen Läsionen sowie freien Gelenkkörpern. Bei dislozierten Fraktu-
28
788
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
a
b
28 ⊡ Abb. 28.34a,b Klassische Zuggurtungsosteosynthese. a a.p.-Projektion, b seitlich
ren sind oftmals die Retinakula zerrissen, sodass diese operativ rekonstruiert werden müssen (Curtis 1990, Wu et al. 2001). Offene Frakturen sollten schnellstmöglich débridiert, gespült und definitiv verschlossen werden. Es gilt zu beachten, dass die einzelnen Knochenfragmente nicht denudiert werden, damit die Durchblutung nicht gefährdet wird. Bei größeren Hautdefekten können diese mittels künstlichem Hautersatz gedeckt werden (Torchia u. Lewallen 1996). Bei geschlossenen Frakturen findet sich oft eine zunehmende Einblutung in die Bursa oder ins Gelenk, sodass eine Osteosynthese erschwert sein kann. Oberflächliche Hautläsionen (Prellmarken, Hautabschürfungen) im Bereich der Knievorderseite sind bei Patellafrakturen häufig. Sie sind keine Kontraindikationen für eine operative Versorgung, ggf. muss intraoperativ die Schnittführung leicht modifiziert werden.
Indikationen zur operativen Behandlung
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Fragmentverschiebung >3 mm Gelenkstufe >2 mm Trümmer- und offene Frakturen osteochondrale Läsionen Frakturen mit freien Gelenkkörpern
Techniken der Osteosynthese
Die operative Versorgung wird in Rückenlage des Patienten durchgeführt. Vor der eigentlichen Osteosynthese kann nun in Narkose das Kniegelenk nochmals untersucht werden. Dabei sollte die ligamentäre Stabilität beurteilt werden (z. B. Kreuzbandläsion). Nach der ligamentären Beurteilung erfolgt die chirurgische Desinfektion und Abdeckung nach den Regeln der Asepsis. Dabei wird die Verwendung einer sterilen Blutsperre, weit proximal am Oberschenkel angelegt, empfohlen. Vor dem Aufblasen
der Blutsperre sollte das Kniegelenk 90° flektiert und die Patella vorsichtig nach distal gepresst werden, um zusätzliche Länge des Streckapparats zu gewinnen. Der operative Zugang sollte von einer lateralen Längsinzision erfolgen. Der Vorteil gegenüber einer queren Inzision besteht darin, dass die Längsinzision bei Bedarf beliebig weit nach proximal und distal erweitert werden kann. Zudem wird mit einer lateralen Inzision die mediale Durchblutung geschont. Nach der subkutanen Präparation soll die Bursa praepatellaris, die oft eingeblutet ist, entfernt werden, um eine bessere Übersicht auf den Frakturverlauf zu gewinnen. Zunächst erfolgt ein ausgiebiges Spülen des Situs, um die Wundränder zu säubern und kleinere Knochenfragmente, die eine Reposition behindern könnten, zu entfernen. Besonders hilfreich erweist sich die Verwendung eines Zahnarzthäckchens. Dabei dürfen die Fragmente jedoch nicht denudiert werden, um die Durchblutung nicht zusätzlich zu gefährden. Gleichzeitig kann der femorale Knorpelüberzug inspiziert und dokumentiert werden. Anschließend erfolgt die Darstellung der medialen und lateralen Retinakula, die oft zerrissen sind. Unter Sicht werden die Fragmente nach Reposition mit Weber-Zangen stabilisiert und gehalten. Bei Bedarf kann das Repositionsergebnis durch eine laterale Arthrotomie direkt überprüft werden. Querfrakturen können durch die klassische Zuggurtungsosteosynthese, wie sie von der AO favorisiert wird, versorgt werden (Rüedi u. Murphy 2008; ⊡ Abb. 28.34). Dabei werden die auftretenden Biegekräfte in Druckkräfte umgewandelt und bewirken eine Kompression des Frakturspalts. Nach Reposition mit der Weber-Zange werden zwei 2,0-mm-Kirschner-Drähte im Zentrum der Patella ca. 5 mm dorsal der Patellavorderfläche von proximal nach distal in Längsrichtung als »Outside-in«Technik eingebracht. Analog können die Kirschner-Drähte als »Inside-out«-Technik zunächst in das proximale, nicht reponierte Fragment eingebracht werden, anschließend wird die
789 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
a
gelegt. Hilfreich ist die Verwendung einer scharfen gebogenen Kanüle (oder einer großlumigen gebogenen Injektionsnadel), die zuerst knochennah dorsal um die heraustretenden Enden der Kirschner-Drähte eingebracht wird. Anschließend kann die Stahl-Cerclage durch die Öffnung der Kanüle eingeschoben und die Kanüle zurückgezogen werden. Damit legt sich die Stahl-Cerclage dorsal der Kirschner-Drähte knochennah an. Nachdem die Cerclage gesetzt wurde, werden entweder unter Sicht der Patellaunterfläche oder unter digitaler Palpation des patellären Knorpels die Drahtenden proximal angezogen und gequirlt. Somit kann die anatomische Reposition vor dem definitiven Festziehen der Zuggurtung überprüft werden. Vor dem Versenken der Kirschner-Drähte sollten diese mit einer Zange um ca. 5 mm zurückgezogen werden. Anschließend werden die proximalen Enden mit einer kleinen Flachzange umgebogen. Das umgebogene Ende wird nun nach dorsal gedreht und in die Quadrizepssehne versenkt, sodass keine Irritationen auftreten. Tipp
I
I
Das Umbiegen des distalen Endes der Kirschner-Drähte ist nicht zu empfehlen, da die Entfernung zu einem späteren Zeitpunkt erschwert sein kann.
b
c
⊡ Abb. 28.35a–c Kombination der klassischen Zuggurtungsosteosynthese mit zwei 3,5-mm-Kortikalisschrauben. a Kniegelenk a.p., b Kniegelenk seitlich, c Patella tangential
Fraktur reponiert und die Fixation durch Zurückschieben der Kirschner-Drähte komplettiert. ! Cave Dünnere Kirschner-Drähten können beim Festziehen der Zuggurtung verbogen werden.
Um die Enden der Kirschner-Drähte wird nun eine 1,0-mmStahl-Cerclage möglichst knochennah in Form einer Achtertour
Carpenter und Mitarbeiter (1997) haben in ihren biomechanischen Untersuchungen jedoch gezeigt, dass mit den rigiden Stahl-Cerclagen kaum ausreichende Spannungen erzeugt werden können, um die Fraktur zu komprimieren. Bei Flexionsbewegungen wird die Fraktur sogar auseinandergezogen. Deswegen findet in neuerer Zeit immer mehr eine Kombination aus Stahldraht-Cerclage im Sinne der klassischen Zuggurtung und 6,5-mm-Spongiosaschrauben oder 3-5-mm-Kortikalisschrauben mit Unterlegscheiben als vertikale Stabilisierung Verwendung (⊡ Abb. 28.35 u. ⊡ Abb. 28.36; Carpenter et al. 1997, Berg 1997). Dabei wird zur klassischen Zuggurtungsosteosynthese eine 1,2-mm-Draht-Cerclage um die Schraubenenden und Schraubenköpfe analog gelegt. Als Modifikation können auch kanülierte Schrauben benutzt werden, wobei der Draht durch die Schrauben geführt wird. Berg et al. (1997), Carpenter et al. (1997) sowie auch Burvant et al. (1994) konnten eine deutlich höhere und überlegenere biomechanische Stabilität dieser neueren Verfahren zeigen. Bei Mehrfragmentfrakturen kann zudem eine weitere Stahldraht-Cerclage O-förmig um die Patella gelegt werden (⊡ Abb. 28.37). Damit werden die Fragmente zusätzlich gefasst und komprimiert. Anschließend kann die klassische Zuggurtung ausgeführt werden. Wichtig ist, dass die O- Cerclage als erste angezogen wird, damit die Fragmente vor einer Dislokation bei der Zuggurtung gesichert werden (Rüedi u. Murphy 2008). Die O-Cerclage soll nicht ins Gelenk hinein gezogen werden. Bei Patellalängsfrakturen hat sich die Verwendung von queren 3,5-mm-Zugschrauben bewährt. Dabei wird eine 3,5mm-Kortikalisschraube eingebracht, um die Querfraktur zu stabilisieren. Bei zusätzlicher Querfraktur kann nun die Zuggurtungsosteosynthese wie oben beschrieben komplettiert werden (Rüedi u. Murphy 2008).
28
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
a
c
b
d
28
⊡ Abb. 28.36a–d Zustand 2 Jahre nach Metallentfernung. Die Gelenkkongruenz ist erhalten und der Patient beschwerdefrei. a, b Präoperativ, c, d postoperativ
Osteochondrale Frakturen treten häufig bei Patellaluxationen auf. Die Fragmente sind in der Regel klein und können nicht mit einer klassischen Schraubenosteosynthese refixiert werden. Am besten eignen sich resorbierbare Pins, um die Flakes zu refixieren. Patellatrümmerfrakturen sind schwerwiegende Verletzungen für das femoropatelläre Gelenkkompartiment. Eine Osteosynthese sollte in der Regel versucht werden. Können einzelne Fragmente nicht reponiert werden oder zeigt sich eine größere intraartikuläre Stufenbildung, müssen diese Fragmente im Sinne einer partiellen Patellektomie entfernt werden. Die partielle Entfernung ist immer einer totalen Patellektomie vorzuziehen. Bei Trümmerzonen im mittleren Patellabereich können die Fragmente entfernt werden. Anschließend wird das proximale mit dem distalen Hauptfragment fixiert. Sollte eine Fixierung aufgrund des Frakturverlaufs nicht möglich sein, kann eine quere Osteotomie erfolgen, um eine Querfraktur herzustellen. Danach kann die Osteosynthese mit einer Zuggurtung versucht werden (Berg 1998, Matjaz 2005). Bei einer randständigen Trümmerzone können die dislozierten Knochenfragmente entfernt werden. Anschließend müssen jedoch die Retinakula transossär refixiert werden.
⊡ Abb. 28.37 Kombination der klassischen Zuggurtungsosteosynthese mit einer O-förmigen Sicherungs-Cerclage
791 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
b
⊡ Abb. 28.38a,b Osteosynthese mit 2 Kortikalisschrauben. a Seitlich, b tangential
a
z z Nachbehandlung
Postoperativ gilt eine relative Schonung bis zur gesicherten Wundheilung. Eventuelle Drainagen sollten frühzeitig entfernt werden. > Bei kontusionierten Wundverhältnissen muss eine penible Wundkontrolle erfolgen, um Frühinfektionen rechtzeitig zu erkennen.
Bei Erreichen einer stabilen Osteosynthese erfolgt die Vollbelastung im gestreckten Bein in einem Brace. Belastete Flexionsübungen sollten unterlassen werden, jedoch kann das Kniegelenk passiv bis 4 Wochen postoperativ auf 60° flektiert werden. In den folgenden 2 Wochen soll die passive Mobilisation bis auf 90° gesteigert werden. Nach 6 Wochen postoperativ erfolgt in der Regel die erste klinisch-radiologische Verlaufskontrolle beim Operateur und die Flexion wird freigegeben. z
Komplikationen
Wie im Rahmen jeder operativen Intervention können Komplikationen wie Hämatombildung oder Wundheilungsstörungen auftreten. Infektionen sind besonders ungünstig, da eine frühzeitige Metallentfernung unter Umständen erforderlich ist. Häufiger sind jedoch Irritationen der Haut oder Beschwerden aufgrund des dicht unter der Haut liegenden Osteosynthesematerials (Cerclagen). Aufgrund des dünnen Weichteilmantels können die Cerclagen nicht selten palpiert werden (Rüedi u. Murphy 2008). Da Patellafrakturen meistens mit oberflächlichen Prellmarken auftreten, ist in der postoperativen Phase der Heilungsverlauf der Weichteile besonders wichtig. Außerdem können Brüche der Cerclagen und damit ein Verlust der Kompression auftreten. In solchen Fällen ist eine operative Revision notwendig. Smith und Mitarbeiter (1997) berichten in ihrer Untersuchung über die Zuggurtungsosteosynthese, dass bei 22% der Fälle eine Dislokation der Fragmente >2 mm aufgetreten ist. Bei zu langer postoperativer Ruhigstellung (z. B. mit einem Brace bei einer instabilen operativen Versorgung) können Bewegungseinschränkungen verbleiben, sodass eine intensive
physiotherapeutische Mobilisation in der weiteren Rehabilitationsphase notwendig wird. Die größere Problematik stellen jedoch die entweder unmittelbar traumatischen oder iatrogenen Knorpelschädigungen dar. Häufig ist der Knorpelüberzug durch das vorausgegangene Trauma bereits stark geschädigt. Das zeigt sich besonders bei Trümmerfrakturen, bei denen der retropatelläre Knorpelüberzug meistens größere Läsionen bis zu osteochondralen Defektzonen aufweist. Wenn keine stufenfreie Reposition und Osteosynthese gelingt, wird aufgrund der artikulären Stufenbildung und des veränderten Gleitverhaltens der Patella in der Folge die Knorpelfläche zusätzlich geschädigt. z z Evidenz und Kontroversen
Aufgrund der Datenlage sowie der unterschiedlichen Studiendesigns ist es schwierig, die einzelnen Untersuchungen direkt miteinander zu vergleichen. Zudem fehlt ein anerkanntes Instrument, die bereits präoperativ gesetzten retropatellären Knorpelschäden zu erfassen. Kontroversen bestehen außerdem bei der Art der operativen Versorgung. Seit einigen biomechanischen Untersuchungen (Carpenter et al. 1997, Burvant et al. 1994) wird die Kompressionskraft von rigiden Stahl-Cerclagen angezweifelt. Es wurde indes gezeigt, dass bei Flexionsbewegungen die Fraktur distrahiert werden kann (Carpenter et al. 1997). z
Prognose
Insgesamt ist es schwierig, die einzelnen publizierten Studien miteinander hinsichtlich des Behandlungsergebnisses zu vergleichen. Über gute bis sehr gute Resultate werden in 50–80% der Studien bei einer Zuggurtungsosteosynthese berichtet. Nummi und Mitarbeiter (1971) zeigten, dass 56,4% Patienten konventionell-radiologische Zeichen einer Arthrose aufwiesen. Chen und Mitarbeiter (1998) berichten in einer Untersuchung über keinen Unterschied bezüglich des subjektiven und radiologischen Ergebnisses bei Verwendung bioresorbierbarer Implantate im Vergleich zu Metall-Cerclagen. Sutton und Mitarbeiter (1976) untersuchten bei Patienten mit totaler Patellektomie das Ergebnis bezüglich alltägliche Lebensverrichtungen, Quadrizepsmuskelkraft und Sta-
28
792
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
bilität. Sie fanden eine deutliche Einbuße der Quadrizepskraft um 49%, einen Verlust der Beweglichkeit um durchschnittlich 18° sowie eine deutliche Zunahme der Knieinstabilität.
28.2.3
Ruptur des Lig. patellae
Weiterführende, bildgebende Maßnahmen sind nur sehr selten angezeigt. Bei Patienten mit chronischen Beschwerden im Bereich des distalen Patellapols findet sich häufig eine erhöhte intradendinöse Wichtung als Ausdruck der Degeneration (Kasten et al. 2001). z
P. Baumann z
Epidemiologie
Rupturen des Lig. patellae sind seltene Verletzungen. Sie treten gehäuft bei Männern auf. Betroffen sind hauptsächlich Patienten unter 40 Jahre. z
28
Ätiologie und Pathogenese
Die Verletzung der Patellarsehne ist in den meisten Fällen durch ein indirektes Trauma bedingt. Die meisten Rupturen erfolgen am unteren Patellapol, Rupturen im Bereich der Tuberositas tibiae sind sehr selten. Häufig findet sich vorgeschädigtes Sehnengewebe oder intraligamentäre Verkalkungen, die radiologisch sichtbar sind. Hauptsächlich treten Rupturen bei einer starken Kontraktion des M. quadriceps und gleichzeitiger, plötzlicher Flexion im Kniegelenk auf (Sochart u. Shravat 1994). Aber auch bei Sportarten wie Fußball und Basketball werden Verletzungen der Patellarsehne beschrieben. Hierbei kommt es zu einer Hyperflexion im Kniegelenk bei exzessiver Belastung. Ein ähnlicher Mechanismus wird bei Gewichthebern postuliert (Chen et al. 2009). Histologisch findet sich häufig degenerativ verändertes Zellmaterial im Sehnenansatzbereich. Dabei genügen bereits geringe Kräfte, um eine Ruptur der Sehne hervorzurufen. Beschrieben sind ebenfalls Steroidinjektionen im Sehnenbereich, die zu einer beschleunigten Degeneration der Sehne führen kann. Als weitere prädisponierende Faktoren werden entzündliche Veränderungen der Sehne (z. B. bei Infektionen, Lupus erythematodes oder Polyarthritis) beschrieben (Haasper et al. 2007). Oftmals treten in diesen Fällen die Rupturen bilateral auf (Cree et al. 2007). Als Komplikationen können Rupturen des Lig. patellae nach einer VKB-Ersatzplastik nach Patellarsehnengraftentnahme, nach intramedullärer Tibiamarknagelung sowie nach Knietotalprothesenimplantationen auftreten (Lobenhoffer u. Thermann 2000). z
Klinik
Klinisch fällt ein Verlust der aktiven Kniegelenkextension auf. Meistens findet sich eine Druckdolenz am unteren Patellapol sowie ein größeres Hämatom. Häufig findet sich bei direkter Palpation des unteren Patellapols eine Delle, die Patella ist mehr oder weniger kranialisert. Außerdem kann das Kniegelenk nicht mehr stabilisiert werden. Es zeigt sich ein vollständiger Ausfall des Streckapparates. In jedem Fall sollte eine radiologische Abklärung des Kniegelenks in 2 Ebenen erfolgen. Einerseits findet sich in der Seitaufnahme mit 30° Flexion eine Patella alta (Insall-SalvatiIndex >1,2, Blackburne-Peel-Index >0,8), andererseits können auch knöcherne Ausrisse am unteren Patellapol dokumentiert werden. Gelegentlich finden sich auch Verkalkungen bei fortgeschrittenen Sehnendegenerationen.
Therapie
> Empfohlen wird die chirurgische Refixation des Lig. patellae innerhalb der ersten 2 Wochen nach Ruptur. Eine konservative Therapie bei kompletten Rupturen führt zum Verlust der aktiven Kniegelenkextension und damit zu einer bleibenden Instabilität und wird nicht empfohlen.
Die operative Therapie der Wahl ist die transossäre Readaptation der rupturierten Sehne mit Wiederherstellung der Patellahöhe. Es wird eine parapatelläre Längsinzision vom unteren Patellapol bis auf die Tuberositas tibiae reichend durchgeführt. Das rupturierte Sehnenende wird dargestellt und gesäubert. Beschrieben wird die Möglichkeit der transossären Refixation mittels Bohrkanälen in der Patella. Dazu werden 2–3 vertikale Bohrkanäle (2,0-mm-Bohrer) bei dieser Methode vom distalen Patellapol her nach kranial vorgebohrt. Die Bohrkanäle werden V-förmig angelegt und am Übergang vom unteren Drittel zu den oberen Zweidritteln der Patella dorsal ausgeleitet. Dabei muss beachtet werden, dass die Gelenkfläche nicht tangiert wird. Anschließend wird der Sehnenstumpf sparsam angefrischt. Im Bereich des inferioren Patellapols muss ebenfalls das verbliebene Sehnengewebe entfernt und der Knochen angefrischt werden, damit ein optimaler Kontakt gewährleistet wird. Zur Sicherung der Naht wird anschließend eine McLaughlin-Cerclage eingebracht. Dabei wird im oberen Drittel der Patella ein Querloch vorgebohrt, anschließend eine Draht-Cerclage eingebracht. Nun wird ein zweiter Bohrkanal im Bereich der Tuberositas tibiae gelegt und die Cerclage (1,25-mm-Draht-Cerclage) in einer 0er-Tour verquirlt. Wir empfehlen eine Überprüfung der Stabilität intraoperativ bis zu einer kontrollierten Flexion von 90°. Gleichzeitig sollte eine Kontrolle der Patellahöhe im Vergleich zur Gegenseite erfolgen (z. B. mittels intraoperativer Bildwandler-Kontrolle), um eine Patella baja oder alta zu verhindern. Als Alternative zum Cerclagen-Draht werden neuerdings auch PDS®-Kordeln empfohlen, damit kann auf eine spätere Drahtentfernung verzichtet werden (Kasten et al. 2001). Sobald die richtige Höhe durch Quirlen am Draht eingestellt ist, wird nun die Sehne mit einem nicht resorbierbaren Faden in der Krackow-Technik gefasst und die Fäden durch die vorgelegten Bohrkanäle gezogen. Damit sollte die Sehne seitlich oder an den Enden nicht aufgeworfen werden. Schließlich werden die Fadenanteile geknotet. Abschließend wird nochmals die Patellahöhe und die Stabilität der Refixation überprüft. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Refixation der Sehne mittels Knochenanker. Nach Angabe des Herstellers werden 2–3 Anker im distalen Patellapol nach vorherigem Anfrischen des Knochens und des Sehnenendes verankert. Nun wird die Sehne ebenfalls in der Krackow-Nahttechnik gefasst und an den Anker herangezogen. Auch bei diesem Verfahren muss vor dem Verknoten die Patellahöhe überprüft und eingestellt werden.
793 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
z z Nachbehandlung
Postoperativ kann in einer stabilen Knieschiene das Bein in voller Streckung nach Maßgabe der Beschwerden belastet werden. Unter physiotherapeutischer Anleitung kann in 2-wöchigen Abständen das Kniegelenk passiv bis 90° zunehmend flektiert werden, jedoch ohne Belastung und bevorzugt in einer Bewegungsschiene. Zeitgleich sollte mit einem isometrischen Quadrizepstraining begonnen werden. Alle Studien beweisen ein besseres funktionelles Resultat (Kniegelenkbeweglichkeit, Sehnenkraft) bei frühzeitiger Mobilisation des Kniegelenks. Die Draht-Cerclage sollte nach 3 Monaten entfernt werden mit gleichzeitiger Freigabe der Beweglichkeit.
28.2.4
Quadrizepssehnenruptur
P. Baumann z
Definition
Am häufigsten findet sich die Ruptur als transversaler Riss innerhalb der ersten beiden Zentimeter oberhalb des oberen Patellapols und strahlt meistens in das mediale und laterale Retinakulum ein (Lobenhoffer u. Thermann 2000). Isolierte, einzelne Muskelabrisse (z. B. M. rectus femoris) sind sehr selten. z
Epidemiologie
Die Quadrizepssehenruptur tritt als indirektes Trauma hauptsächlich bei Männern ab 40 Jahre auf, sie wird nur sehr selten bei jüngeren Menschen gefunden. Dabei spielen degenerative Veränderungen im Sehnengewebe eine entscheidende Rolle. z
Ätiologie und Pathophysiologie
Die Quadrizepssehnenruptur tritt hauptsächlich bei forcierter exzentrischer Belastung auf. Als häufigster Unfallmechanismus gilt eine vermehrte Kontraktion des Muskels bei leicht flektiertem Kniegelenk, z. B. beim Stolpern. Aber auch durch rezidivierende Mikrotraumata wie bei stop-and-go Sportarten werden komplette Rupturen beschrieben. In einer neueren Untersuchung von Yepes und Mitarbeitern (2008). konnte die Durchblutung der Quadrizepssehne dargestellt werden. Dabei zeigte sich ein dichteres vaskuläres Netz im Bereich der muskulotendinösen Zone sowie im Bereich der Patella. Das Arkadensystem versorgt dabei intratendinöse Arterien von der Peripherie ins Sehnenzentrum. In der Untersuchung konnte nun gezeigt werden, dass eine relative Hypovaskularität 1–2 cm oberhalb des oberen Patellapols zu finden ist. Histologische Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass im distalen Verlauf der Quadrizepssehne häufig bei älteren Patienten degenerative Veränderungen innerhalb der Sehne gefunden werden. z
Diagnostik
> Eine vollständige Quadrizepssehnenruptur führt zu einem Extensionsverlust im Kniegelenk gegen Widerstand. Gelegentlich wird eine palpable Delle am oberen Patellapol gefunden.
In jedem Fall sollte eine radiologische Abklärung des Kniegelenks in 2 Ebenen erfolgen. Knöcherne Ausrisse oder degenerative Veränderungen lassen sich so ausschließen. Bei einer kompletten Ruptur findet sich eine klassische Patella baja (Insall-Salvati-Index <0,8). Gelegentlich zeigt sich am oberen Patellapol eine knöcherne Ausziehung (»patellar spur«; Hardy et al. 2005). Bestehen Zweifel an einer vollständigen Ruptur, kann eine Sonographie durchgeführt werden. Eine MRT kann bei chronischen Rupturen veranlasst werden, damit der Zustand der Quadrizepssehne besser beurteilt werden kann. Bei akuten Rupturen ist eine MRT-Diagnostik meist nicht angezeigt. z
Therapie
In den meisten Fällen werden akute Rupturen der Quadrizepssehne chirurgisch versorgt. Bei Partialläsionen mit vollständigem Erhalt der Extensionskraft kann ein konservativer Therapieversuch durchgeführt werden. Hier bestehen seitens der Literatur jedoch nur sehr spärliche Angaben. Bei einer vollständigen Quadrizepssehnenruptur empfehlen wir eine baldmöglichste chirurgische Reinsertion der Sehne. Es wird eine Längsinzision am Patellaoberpol durchgeführt. Die Länge der Inzision ist abhängig vom Verfahren der chirurgischen Resinsertion. Nach der Hautinzision wird die Hämatobursa entfernt und das Sehnenende und der Patellaoberpol in seiner gesamten Breite dargestellt. Da meistens das laterale oder mediale Retinakulum mitbeteiligt ist, werden diese intraoperativ ebenfalls dargestellt. Es besteht die Möglichkeit der Sehnenrefixation mittels Knochenanker oder mittels 3 parallelen, transossären Bohrkanälen. In beiden Fällen wird das Sehnenende zunächst von nekrotischem Gewebe entfernt. Anschließend muss der Patellaoberpol knöchern angefrischt werden. Bei der Wahl von Knochenankern werden 3 Stück in den Patellaoberpol eingebracht. Anschließend wird die Sehne mit nicht resorbierbaren Fäden angeschlungen und das Fadenmaterial gleichmäßig an die Anker verknotet. Wird eine transossäre Refixation der Sehne mittels Knochenkanälen gewählt, werden 2–3 Bohrlöcher (2,0-mm-Bohrer) vorgebohrt. Dabei muss beachtet werden, dass die Kanäle nicht in das Gelenk hinein penetrieren. Schließlich wird das Sehnenende mit 2–3 nicht resorbierbaren Fäden angeschlungen, die Fäden werden transossär durchgezogen und schließlich gleichmäßig verknotet. Bei beiden Verfahren muss intraoperativ die Stabilität überprüft werden. Schließlich müssen die meist ebenfalls beteiligten Retinakula verschlossen werden. Postoperativ kann das Bein in Streckstellung in der Regel nach Maßgabe der Beschwerden belastet werden. Zur Sicherheit wird eine Schiene in Streckstellung angepasst und für 6 Wochen getragen. Belastete Flexionsbewegungen sollten für die Dauer von 6–8 Wochen, je nach Stabilität der Reinsertion, unterlassen werden. Im postoperativen Verlauf kann jedoch das Kniegelenk in 2-wöchigen Abständen zunehmend mehr passiv flektiert werden. In jedem Fall Das sollte Kniegelenk unmittelbar postoperativ mit einer passiven Bewegungsschiene mobilisiert werden.
28
794
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28.2.5
Meniskusläsionen
C. Lüring, J. Grifka z
Definition
Bei Meniskusläsionen handelt es ich um strukturelle Schädigungen der Meniskussubstanz, die in ihrer Entstehung, Art und Lokalisation aber auch in ihren Symptomen sehr verschieden sein können. z
28
Epidemiologie
Zur Inzidenz behandlungsbedürftiger Meniskusverletzungen gibt es nur Schätzungen. Dabei kommen auf 10.000 Einwohner pro Jahr 9 Meniskusverletzungen bei Männern und 4 bei Frauen. Der Altersgipfel wird zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr erreicht. Das MRT besitzt eine hohe Sensitivität, kann aber manchmal zu falsch-positiven Ergebnissen führen. Eine Korrelation mit den klinischen Befunden ist daher zwingend erforderlich. z
Anatomie und Biomechanik
Die Menisken wirken im humanen Kniegelenk wie eine Art Zwischenpuffer. Sie gleichen die Inkongruenz zwischen Tibia und Femur aus und ermöglichen aufgrund ihrer flexiblen Aufhängung die stabile Belastung auch in der Flexionsphase des Gelenks. Außerdem haben Sie durch ihre Keilform eine Art Bremsschuheffekt gegen vermehrte femorotibiale Translation. Dabei nehmen der Innen- und Außenmeniskus im Belastungszyklus 50–70% der auf dem Kompartiment lastenden Drücke auf. Daraus lässt sich leicht ableiten, dass eine Reduktion der meniskalen Fläche zu einer Verkleinerung der lasttragenden Fläche führt und damit die Druckbelastung und auch die Beanspruchung des hyalinen Gelenkknorpels ansteigt. Dies kann im mittel- bis langfristigen Zeitverlauf durchaus eine dem Alter vorausschreitende Degeneration zur Folge haben. Die Menisken sind einerseits im Vorder- und Hinterhornbereich durch ligamentäre Strukturen aufgehängt und andererseits teilweise mit der Gelenkkapsel verhaftet, sodass eine Luxation nach außen unter Belastung vermieden wird. Darüber hinaus wird so die axiale Belastung im Gangzyklus im Kniegelenk zu einer radiären Zugspannung, sofern der »meniskale Ring« intakt ist. Wird dieses Konstrukt durch eine Meniskusläsion unterbrochen, kann die Druckbelastung nicht mehr umgewandelt werden. Wenn die Menisken bei der Belastung Energie aufnehmen, verformen sie sich dabei. Dies mindert die Druckbelastungsspitzen der Tibia und des Femurs. Darüber hinaus bieten die Menisken auch eine vermehrte Rotationsstabilität durch die Aufhängung im Hinterhornbereich. Dabei ist das Zusammenspiel mit den Kreuzbändern sehr sensibel und kann gegenseitige Pathologien bedingen. Die Menisken passen sich der Form der kontaktierenden Femurgleitfläche an und folgen den Bewegungen des Femurs. In Kniebeugung gleiten sie im Zuge der Rollgleitbewegung des Femurs nach dorsal. Dabei kann sich der Außenmeniskus um ca. 10 mm verschieben, der Innenmeniskus aufgrund seiner großen Anheftung an der medialen Gelenkkapsel nur um 5 mm. Diese anatomische
Eigenheit führt auch bei Rotationsbewegungen dazu, dass der Innenmenikus weniger mobil als der Außenmeniskus ist. Dies wird als Grund dafür angesehen, dass der Innenmeniskus häufiger von Verletzungen betroffen ist als der Außenmeniskus. z
Ätiologie und Pathogenese
So vielfältig wie die Formen der Meniskusverletzungen ist auch die Entstehung. Im Wesentlichen sollte unterschieden werden in traumatische und degenerative Prozesse. Aus den biomechanischen und anatomischen Fakten lässt sich zweifellos entnehmen, dass besonders rezidivierende Rotationsbewegungen in Kombination mit Flexionsbewegungen eine Verletzung des Meniskus bedingen können. Besonders Ballkontaktsportarten erhöhen das Risiko derartiger Verletzungen enorm. Untersuchungen haben ergeben, dass z. B. bei Sportlern 40% der Verletzungen das Kniegelenk betreffen, davon sind ca. 20% VKB-Rupturen, ca. 10% Innenmeniskusverletzungen und ca. 4% Außenmeniskusverletzungen (Majewksi et al. 2006). Durch die kombinierte Rotations- und Flexionsbelastung treten insbesondere in der Peripherie des Übergangs vom eigentlichen Meniskus zur Aufhängung an der Synovia Läsionen auf, die sich nicht selten als Längsriss oder auch Radiärriss darstellen. Aufgrund des Verletzungsmechanismus sind insbesondere jüngere Patienten betroffen, die in der Regel sportlich aktiv sind. Direkte Meniskusverletzungen durch Einwirkung von außen sind selten, da sowohl der Innen- als auch der Außenmeniskus geschützt zwischen Tibia und Femur liegen. Handelt es sich allerdings um ein Trauma, das eine Tibiakopfverletzung auslöst, gilt dies nicht mehr. Hier sind die Verletzungen des Meniskus eher die Regel als die Ausnahme. Darüber hinaus kann es bei besonderer Schwere der Rotationsverletzung zu einer begleitenden Verletzung des vorderen Kreuzbands kommen. Sofern neben der Verletzung des medialen Meniskus auch eine VKB-Ruptur und eine mediale Kollateralbandverletzung vorliegen, spricht man von der »unhappy triad«, einer typischen Kombinationsverletzung bei massivem Verdrehtrauma. > Auch rezidivierende Mikrotraumen können zu einer schleichenden Verletzung des Meniskus führen. Sie werden mittlerweile z. B. beim Fliesenleger, Rangierarbeiter und Berufsfußballspieler aufgrund der hier rezidivierenden forcierten Flexions- und Rotationssituation als Berufskrankheit 2102 anerkannt. Dabei ist jeder Einzelfall speziell zu prüfen.
Patienten mit einem fehlenden oder insuffizienten vorderen Kreuzband sind umso mehr vom Risiko einer Meniskusverletzung betroffen, da die anteroposteriore Instabilität eine vermehrte Scherbelastung für den Meniskus bedeutet. Von diesen als traumatisch bezeichneten Meniskusverletzungen gilt es die degenerativen altersbedingten Veränderungen des Meniskus abzugrenzen. Hier liegt der Pathogenese in der Regel ein altersbedingter Verschleiß des Meniskusbinnengewebes zugrunde. Ein Trauma ist meist nicht nachweisbar. Aufgrund einer Zermürbung der Binnenstrukturen können
795 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Tab. 28.6 Einteilung der Meniskusläsionen Ätiologie
Traumatisch mikrotraumatisch primäre Degeneration
Rissform
Längsriss Horizontalriss Radiärriss Lappenriss Korbhenkelriss Komplexriss
MRT-Befund (nach Reicher und Stoller)
Grad 0 Grad I Grad II Grad III
spontan alle Formen der Meniskusläsionen entstehen. Betroffen sind insbesondere Menschen nach dem 50. Lebensjahr. Meniskusläsionen werden nach den in ⊡ Tab. 28.6 dargestellten Kriterien eingeteilt. z
⊡ Abb. 28.39 Grad-0-Läsion
Klassifikation
Die Klassifikation erfolgt anhand der Ergebnisse der MRTUntersuchung. Dabei werden die Läsionen des Meniskus in verschiedene Grade eingeteilt. Es gibt verschiedene Klassifikationen, die prinzipiell alle das Gleiche beschreiben. Wir beziehen uns auf die Einteilung nach Reicher. Augenmerk liegt hier auf die intrameniskalen Veränderungen und deren Bezug zur Meniskusoberfläche. Hierbei gelten folgende Entsprechungen: ▬ Grad 0: homogene und niedrige Signalintensität (⊡ Abb. 28.39) ▬ Grad I: erhöhte meist punktförmige Signalintensität des intrameniskalen Raums in einer Schicht des MRT (⊡ Abb. 28.40) ▬ Grad IIa: punktförmige aber ausgedehntere Erhöhung der Signalintensität des intrameniskalen Raums ohne Kontakt zur Meniskusoberfläche; in der Regel korrelieren diese Veränderungen nicht mit arthroskopisch nachweisbaren Einrissen des Meniskus (⊡ Abb. 28.41) ▬ Grad IIb: lineare Erhöhung der Signalintensität des intrameniskalen Raums ohne Kontakt zur Meniskusoberfläche; in der Regel korrelieren diese Veränderungen nicht mit arthroskopisch nachweisbaren Einrissen des Meniskus (⊡ Abb. 28.42) ▬ Grad III: lineare und/oder unregelmäßige Signalintensitätserhöhungen des intrameniskalen Raums mit Kontakt zu mindestens einer Oberfläche des Meniskus; in der Regel korrelieren diese Veränderungen mit arthroskopisch nachweisbaren Einrissen des Meniskus (⊡ Abb. 28.43) ▬ Grad IV: Hierbei handelt es sich um komplexe Einrisse mit mehreren Signalanhebungen sowie Deformierung und Fragmentierung des betroffenen Meniskus (⊡ Abb. 28.44) z Diagnostik z z Anamnese
In erster Linie sollte die Diagnose aufgrund einer genauen Anamnese und klinischen Untersuchung des Kniegelenks erfolgen.
⊡ Abb. 28.40 Grad-I-Läsion
Hierbei ist besonderes Augenmerk auf die aktuelle Symptomatik zu legen, die folgende Punkte einschließen sollte: ▬ traumatisch/nicht traumatisch ▬ Traumaanamnese (Verletzungsmechanismus) ▬ Schmerzen im Bereich des Gelenkspalts (innen/außen, vorne/hinten) ▬ intraartikulärer Erguss ▬ Gelenkblockaden (Streckung/Beugung) ▬ Schwellung auf Höhe des Gelenkspalts (Ganglion) ▬ Schwellung in der Kniekehle (Baker-Zyste)
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Abb. 28.41 Grad-IIa-Läsion
⊡ Abb. 28.43 Grad-III-Läsion
⊡ Abb. 28.42 Grad-IIb-Läsion
Anamnese (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Spezielle Anamnese: – Schmerzen: Lokalisation (Gelenkspalthöhe? Kniekehle?), Schmerzausstrahlung, Tagesrhythmus, Verlauf, Dauer, Intensität – Erguss – Funktionseinschränkung: Belastbarkeit, Beweglichkeit, Blockaden
▬ spezielle Gelenkanamnese: – Unfallanamnese (Mechanismus, Knieschwellung, Geräusch) – sportliche Aktivität, insbesondere Fußball – frühere Knieverletzungen oder Knieoperationen – Arbeit im Bergbau
▬ Allgemeinerkrankungen und Risikofaktoren ▬ Sozialanamnese
⊡ Abb. 28.44 Grad-IV-Läsion
z z Klinische Untersuchung
Die manuelle Untersuchung richtet sich nach der Klinik und nach hochstandardisierten klinischen Tests. Allerdings ist die Sensitivität der einzelnen Verfahren nicht ausreichend hoch, sodass sich die Diagnose zumeist aus der Kombination der verschiedenen Verfahren kristallisiert. Als klassische Verfahren werden die Stressuntersuchungen für die Menisken angewandt. Diese sog. Meniskuszeichen sind Schmerzprovokationstests, die in der Regel auf Zug-, Druck- oder Drehbewegungen und Kombinationen davon beruhen. Zur Anwendung kommen in der Regel folgenden Verfahren:
797 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Abb. 28.45 Böhler-Test (Varus- und Valgusstress)
⊡ Abb. 28.47 Steinmann-Zeichen I
⊡ Abb. 28.46 Payr-Zeichen
▬ punktuelle Kompression des Kniegelenks in Gelenkspalthöhe ▬ forcierte Flexion (Hinterhornbelastung) ▬ forcierte Extension (Vorderhornbelastung) ▬ Böhler-Test: Ab- und Adduktionstest in Streckung zur Kompression der Pars intermedia des Außen- bzw. Innenmeniskus (⊡ Abb. 28.45) ▬ Payr-Zeichen: Schneidersitz, komprimiert das Hinterhorn des Innenmensikus (⊡ Abb. 28.46) ▬ Steinmann-Zeichen I: Rotation des Unterschenkels gegenüber dem Oberschenkel in 90° Flexionsstellung des Kniegelenks; bei Außenrotation gerät der Innenmeniskus und bei Innenrotation der Außenmeniskus unter Stress (⊡ Abb. 28.47) ▬ Steinmann-Zeichen II: forcierte Flexion des Kniegelenks unter Rotationsbewegung des Unterschenkels gegenüber dem Oberschenkel; ein nach hinten (dorsal) wanderender Schmerz spricht für eine Meniskusläsion (⊡ Abb. 28.48) ▬ Apley-Grinding-Test: der Patient liegt in Bauchlage, das Kniegelenk 90° gebeugt; Rotation des Unterschenkels mit zusätzlichem Druck gegen die Kondylen des Oberschen-
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
kels; je nach Schmerzpunkt kann die Läsion genauer eingeteilt werden (⊡ Abb. 28.49) ▬ Streck-Beuge-Hemmung: kann ein Zeichen für einen eingeklemmten Meniskusanteil sein ▬ Palpation eines Gelenkergusses als Zeichen einer intraartikulären Pathologie ▬ Quadrizepsatrophie: insbesondere M. vastus medialis, bei länger bestehenden Läsionen (Schonhaltung)
Klinische Untersuchung (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Inspektion:
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– – – – – –
Erguss Schwellung auf Höhe des Gelenkspalts (Ganglion) Schwellung in der Kniekehle (Poplitealzyste) Streckhemmung (Blockade) Atrophie des M. quadriceps femoris Hinken
▬ Palpation: – – – – –
Erguss Druckschmerz auf Höhe des Gelenkspalts Poplitealzyste Schwellung auf Höhe des Gelenkspalts (Ganglion) Schnappen im Meniskuslager
⊡ Abb. 28.48 Steinmann-Zeichen II
▬ spezifische Funktions- und Schmerztests: – Beurteilung des Bewegungsumfangs – Beurteilung der Bandstabilität: Lachman-Test, Schubladentest, Prüfung der Kollateralbandstabilität – Meniskustests – Beurteilung von Durchblutung, Motorik und Sensibilität
Sofern bei einer akuten Verletzungssituation ein intraartikulärer Erguss zu finden ist, kann eine Punktion des Ergusses sowohl diagnostischen als auch therapeutischen Zwecken dienen. Eine knöcherne Verletzung ist zu diagnostizieren, sofern sich typischerweise Fettaugen auf dem Hämarthros befinden. Dies ist ein Zeichen einer eröffneten subchondralen Lamelle. Therapeutisch kann die Punktion des Ergusses in einer deutlichen Schmerzlinderung (Reduktion des Spannungsgefühls) resultieren.
als kleiner Osteophyt am Tibiaplateau) kann die konventionelle Aufnahme diagnostisch wertvolle Hilfeleistungen bieten. Ansonsten dient die konventionell radiologische Darstellung v. a. dem Ausschluss höhergradiger Pathologien. Neben den oben erwähnten Aufnahmen kann noch die Tunnelaufnahme nach Frick (Nachweis von freien Gelenkkörpern, knöchernen Ausrissen der Kreuzbänder, Notch-Osteophytose) wertvolle Hinweise liefern. Die MRT ist in den vergangenen Jahren nahezu zu einer Routineuntersuchung bei der Fragestellung nach Meniskusläsion avanciert. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass oftmals die klinische Untersuchung ausreichend ist.
Apparative Diagnostik (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Notwendige Untersuchungen: – Röntgenaufnahme des Kniegelenks in 2 Ebenen
z z Bildgebende Verfahren Die Sonographie besitzt bei der Diagnostik von Meniskus-
läsionen eher untergeordneten Stellenwert. Zum einen sind apparative Voraussetzungen (Sektor-Scanner), zum anderen ein erfahrener Untersucher erforderlich. Zur Diagnostik von Gelenkergüssen und Poplitealzysten oder auch Meniskusganglien kann die Sonographie aber mit guter Aussagekraft zur Hilfe genommen werden. Die konventionelle Röntgenaufnahme des Kniegelenks in 2 Ebenen mit einer Tangentialaufnahme der Patella sollte in jedem Fall die Untersuchung komplettieren. Zwar ist der gesunde Meniskus in der Nativaufnahme nicht nachweisbar, jedoch kann die knöcherne Formgebung bestimmt und andere Pathologien ausgeschlossen werden. Einzig bei Meniskokalzinosen oder lange bestehenden Meniskusläsionen (Darstellung der Rauber-Konsole
▬ im Einzelfall nützliche Untersuchungen: – MRT bei Diskrepanz zwischen genannten Beschwerden und klinischem Befund als Alternative zur diagnostischen Arthroskopie – Röntgen: posterior-anteriore Belastungsaufnahme bei Verdacht auf initiale medialseitige Arthrose – Röntgen: Tunnelaufnahme nach Frick zum Ausschluss freier Gelenkkörper – Röntgen: Tangentialaufnahme der Patella – Sonographie bei Poplitealzysten und/oder Meniskusganglion zur Diagnosesicherung und Abgrenzung von soliden Tumoren – Punktion des Kniegelenks bei Erguss, falls erstmalig aufgetreten und nicht voruntersucht
799 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
die konservative Therapie der Meniskusläsion in erster Linie aus additiven Therapieformen wie der oralen Medikation mit nichtsteroidalen Antiphlogistika, perkutaner Anwendung nichtsteroidaler Antiphlogistika und ggf. auch einer Infiltration mit lokalen Anästhetika. Darüber hinaus kann nahezu die gesamte Palette der balneophysikalischen Maßnahmen (Kryotherapie, Elektrotherapie, Hydrotherapie) sowie Physiotherapie Schmerzlinderung verschaffen. Bei dislozierten Meniskusrupturen kann eine gezielte Distraktion mit Flexions- und Extensionsbewegungen zu einer Reposition des luxierten Anteils führen. z z Operative Therapie Meniskektomie/Teilresektion
⊡ Abb. 28.49 Apley-Grinding-Test
z
Therapie
Die Therapie der Meniskusläsion verfolgt 2 Ziele: kurzfristig die Reduktion des Schmerzbildes und auf mittel- bis langfristige Sicht die Beseitigung der mechanischen Problematik, die zu vorzeitigen degenerativen Veränderungen des Kniegelenks führen kann.
Stufenschema (Leitlinien der DGOOC und DGU)
▬ Orientierungskriterien: Schmerz, Funktionseinschränkung, arthroskopischer Befund, Therapieresistenz von Maßnahmen, Alter des Patienten, Leidensdruck ▬ Stufe 1 ambulant: Beratung, Physiotherapie, Antiphlogistika ▬ Stufe 2 ambulant/stationär: arthroskopische Verfahren ▬ Stufe 3 stationär: arthroskopische Verfahren mit Zusatzeingriffen (Korrekturosteotomie, komplexe Bandrekonstruktionen)
z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie der Meniskusläsion ist in der Regel keine echte therapeutische Option, da die Spontanheilung sowohl der traumatischen als auch der degenerativen Rupturen äußerst selten erfolgen. Dies kann im Ausnahmefall bei basisnahen, stabilen Einrissen der Fall sein. Daher besteht
Die Meniskektomie stellt einen irreversiblen Eingriff in die Kinematik des Kniegelenks dar (⊡ Abb. 28.50). Daher sind v. a. die nicht mehr zu rekonstruierenden Läsionen, tiefgreifende, komplexe Schäden, v. a. bei mehrfachen Voroperationen die Domäne der Meniskektomie. Grundsätzlich werden heute statt Meniskektomien gezielte Teilresektionen der betroffenen Anteile durchgeführt. Dabei ist das Ziel, die Schmerzen durch eine Entfernung aller zerstörten und mobilen Meniskusanteile zu reduzieren. Für diesen Zweck ist die Arthroskopie des Kniegelenks der Goldstandard. Die Arthroskopie bietet gegenüber dem offenen Vorgehen entscheidende Vorteile: ▬ hervorragende Darstellung des intraartikulären Befunds ▬ umschriebene gezielte Eingriffe ▬ weitgehender Erhalt der intakten Meniskusanteile ▬ kleines Operationstrauma Daraus resultieren: ▬ weniger Muskelatrophie ▬ weniger Bewegungseinschränkung ▬ ambulante Therapiemöglichkeit ▬ schnelle Rehabilitation ▬ schnelle Wiedereingliederung in das berufliche und private Leben ▬ geringe postoperative Morbidität Prinzipiell gibt es 2 Möglichkeiten der Lagerung des Patienten zur Operation: Einmal in Rückenlage und gestrecktem Bein mit Seitstütze (Glinz-Position). Der Vorteil dieser Technik liegt in der einfachen Einnahme der Viererposition zur Arthroskopie des lateralen Kompartiments. Die zweite Lagerung erfolgt in Rückenlage mit hängendem Bein im Beinhalter. Der Vorteil dieser Technik liegt in der einfachen Arthroskopie der intrakondylären Region und des Retropatellarraums. In der Regel wird eine Blutdruckmanschette um den Oberschenkel angelegt. Viele Operateure verwenden diese jedoch nur, wenn es intraoperativ zu störenden Blutungen kommt. Andere wiederum verwenden sie in der Routine. Ein Goldstandard hat sich sowohl bei der Lagerung als auch bei der Verwendung der Blutsperre für die einfache Meniskuschirurgie noch nicht herauskristallisiert. Als Standardzugang werden der anteromediale und der anterolaterale Zugang gewählt. In der Kombination erlauben beide eine gute Sicht auf alle Kompartimente des Gelenks. Als
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800
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
28 ⊡ Abb. 28.50 Degenerative Innenmeniskusläsion und Débridement mit dem Punch
weitere Zugangswege sind der zentrale mediale Zugang, der parazentrale mediale oder laterale Zugang in Höhe des Gelenkspalts möglich. Für das Vorderhorn des jeweils kontralateralen Meniskus bietet sich im Einzelfall, z. B. bei sehr kontrakten Kniegelenken der hochmediale oder hochlaterale Zugang an. Für Pathologien im posterioren Gelenkbereich eignen sich posteromediale oder -laterale Zugangswege. Nach initialem Einbringen eines Arthroskops sollte zunächst das gesamte Gelenk gespiegelt werden. Hier sind verschiedene »Rundgänge« möglich. Anschließend sollte beim Meniskusriss die Evaluation der Rissform stattfinden, da sich daran die therapeutischen Maßnahmen orientieren. Zu diesem Zweck wird der Riss dargestellt, das Fragment disloziert und probehalber reponiert. Sofern sich die Art der Ruptur nicht für eine Refixation eignet, muss das Fragment reseziert werden. > Aus biomechanischer Sicht ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Meniskus eine stabile kontinuierliche Randleiste besitzt.
Sofern mehr als 50% der ursprünglichen Form des Meniskus entfernt werden müssen, handelt es sich um eine subtotale Meniskektomie. Demgegenüber steht die übliche Meniskusteilresektion. Insgesamt ist entscheidend, dass nach der Resektion, gleich welchen Ausmaßes die verbleibende Randkante des Meniskus eine homogene Form und Struktur besitzt. Dies kann unter Verwendung verschiedener Instrumentarien (Fasszange, Stanze, Shaver) erfolgen. Tipp
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Eine abschließende Dokumentation ist erforderlich, um nachzuweisen, dass keine weiteren Rissbildungen mehr zu entdecken waren.
⊡ Abb. 28.51 Innenmeniskusriss basisnah am Übergang der Pars intermedia zum Hinterhorn und Refixation mit Pfeilen
Meniskusrefixation
Wie auch bei der Meniskusresektion besteht das primäre therapeutische Moment der Meniskusrefixation in der Schmerzbeseitigung (⊡ Abb. 28.51). Allerdings kann bei der Refixation auch eine möglichst vollständige Funktionswiederherstellung erreicht werden, da der volle Erhalt des Meniskuskörpers Voraussetzung für eine unveränderte Druckverteilung und Bremsschuhfunktion ist. Eine Meniskusrefixation ist allerdings nur bei folgenden Gegebenheiten möglich: ▬ kompletter Longitudinalriss ▬ frische Läsion ▬ Rupturlokalisation im kaspelnahen Drittel (der sog. roten Zone) ▬ keine wesentliche sekundäre Degeneration des Meniskus Aus diesen Kriterien ergibt sich, dass die Indikation zur Refixation nur in einer kleineren Zahl der Fälle besteht. Auch ist die Technik auf jüngere Patienten ohne degenerative Veränderungen der meniskalen Binnenstrukturen beschränkt. Vor allem
801 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
im Kindesalter sollte eine Refixation des Meniskus erzwungen werden. Formulierte Altersbegrenzungen bestehen allerdings weder nach oben noch nach unten. Entscheidend sind die Pathologie und das biologische Alter des Patienten. Präoperativ muss der Patient ausführlich über die längere Rehabilitationszeit bei solchen Eingriffen vorbereitet werden. Vollständige Belastungs- und Sportfähigkeit besteht in aller Regel erst wieder nach 6 Monaten. Daher stehen viele Patienten diesem Eingriff eher ablehnend gegenüber. Nach entsprechender Sichtung des Gelenkinnenraumes und Evaluation der Rupturzone sollten zunächst Maßnahmen erfolgen, die die Heilung fördern. Darunter lassen sich bei Auffaserung der Risszone das Anfrischen der Rissränder und der perimeniskalen Synovialmembran subsummieren. Tipp
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Aufgefaserte Anteile sollten entfernt werden. Diese Maßnahme fördert die Reparationsprozesse. Auch ist die Abrasion der perimeniskalen Synovialmembran sowohl tibialseitig als auch femoralseitig heilungsfördernd.
Des Weiteren ist ein Needling der Meniskusbasis von außen nach innen eine therapeutische Option. Durch diese Stichkanäle soll ähnlich wie bei der arthroskopischen Anbohrung ein Einwachsen von nutritiven Gefäßen gefördert werden. Einzelne Autoren bevorzugen einen »fibrin clot«. Dieser kann aus venösem Patientenblut durch Rühren mit einem Glasstab erzeugt und dann arthroskopisch in den Defekt eingebracht werden. Zur Refixation von Meniskusläsionen sind 3 Techniken möglich. Außen-innen-Naht (»outside-in«): Es werden von außen 2 Kanülen in das Gelenk vorgeschoben, die sowohl die Meniskusbasis als auch das Meniskusfragment im zentralen Anteil perforieren. Dabei ist die ventrale Kanüle mit einem Faden versehen, der zu einer Schlinge geöffnet werden kann. Über die posterior gelegene Kanüle wird nun ein weiterer Faden vorgebracht, dessen einfaches Ende mit der ventralen Schlinge nach außen gezogen wird. So tritt der eine Faden posterior ein, verläuft durch die Basis und das Fragment und zieht ventral nach außen. Die Enden des Fadens können nun verknüpft werden. Diese Methode ist schnell, kostengünstig und relativ einfach in der Handhabung. Sie ist v. a. für den Bereich des Vorderhorns und der Pars intermedia geeignet. Innen-außen-Naht (»inside-out«): Mit dieser am häufigsten durchgeführten Technik werden fadenarmierte, flexible Nadeln unter arthroskopischer Sicht von intraartikulär durch das Fragment und die Meniskusbasis über Kanülen nach extraartikulär gebracht und extraartikulär auf der Gelenkkapsel geknotet. Intraartikuläre Techniken: Es besteht die Möglichkeit, Fäden unter Verwendung von Spezialinstrumenten zu verwenden und zu knoten. Diese Methode ist technisch aufwendiger, vermeidet aber den Kontakt des intra- mit dem extraartikulären Raum (Ein- und Ausstechen der Fäden). Diese Technik ist v. a. geeignet für periphere Hinterhornläsionen. Die vergangenen Jahre haben neben diesen Nahttechniken eine Vielzahl anderer Rekonstruktionsmaßnahmen hervorge-
bracht. In der Regel handelt es sich hierbei um verschiedene Formen von Pfeilen, Klammern u. ä., die sowohl resorbierbar als auch permanent sein und arthroskopisch eingebracht werden können. ! Cave Grundsätzlich besteht die Gefahr, dass die Köpfe dieser Implantate speziell im zentralen Bereich der Hauptbelastungszone mechanisch bedingte Knorpelschäden verursachen können.
Wesentliche Vorteile sind die gute Steuerung und Einbringung dieser Fixationsmittel und das schnelle Vorgehen. z z Nachbehandlung Meniskektomie/Teilresektion
Die Nachbehandlung der Meniskusresektion sieht isometrische Übungen für die Oberschenkelmuskulatur vor. Diese sollten am ersten Tag nach der Operation zunächst assistiert erfolgen und anschließend in Eigenregie für zumindest 2 Wochen fortgeführt werden. Besonderes Augenmerk muss hierbei auf der freien Streckung des Gelenks liegen, die der Patient bereits am ersten Tag nach der Operation erreichen sollte. Bei partieller und subtotaler Meniskusresektion kann in der Regel schmerzadaptiert voll belastet werden. Bei totaler Meniskektomie sollte eine Teilbelastung an Unterarmgehstützen eingehalten werden. In jedem Fall ist für die Zeit eine Antithromboseprophylaxe anzuordnen. Das Nahtmaterial kann in der Regel am 12.–14. postoperativen Tag entfernt werden. Meniskusrefixation
Die Rehabilitationszeit wird bei singulärer Naht des Menikus von der Belastung und dem freigegebenen Bewegungsumfang des Gelenks bestimmt. In der Regel wird eine Bewegungslimitierung des Gelenks in der ersten Woche mit einer Orthese angestrebt. Auch ist eine Entlastung in dieser Phase sinnvoll. Anschließend ist ein schrittweiser Belastungs- und Bewegungsaufbau des Gelenks unter zunächst passiv-assistierter und dann aktiver Physiotherapie von entscheidender Bedeutung. Rotations- und seitliche Gleitbewegungen sollten vermieden werden. Daher ist eine vollständige sportliche Belastbarkeit in der Regel erst nach 6 Monaten wieder gegeben. z
Komplikationen
Insgesamt liegt die Komplikationsrate bei arthroskopischen Meniskusoperationen sehr niedrig und wird in groß angelegten Studien mit 0,5–0,8% angegeben. Im Vordergrund stehen iatrogene Knorpelschäden, die durch unvorsichtiges Hantieren mit Instrumenten im Gelenkinnenraum hervorgerufen werden können. Gefahr besteht v. a. bei sehr engem und kontraktem Kniegelenk. Aufgrund der Kräfte, die auf die Instrumente wirken, kann es in seltenen Fällen zum Bruch von Instrumenten kommen. Bei der Entfernung der Fragmente ist äußerste Sorgfalt geboten. Die häufigste Nachwirkung nach einer Arthroskopie des Kniegelenks ist die Ergussbildung, im Extremfall eine Nachblutung. Daher entscheiden sich viele Operateure zur Einlage einer Drainage für den ersten postoperativen Tag. Trotz dieser
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802
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Maßnahmen kann ein intraartikulärer Erguss bis zu 4 Wochen nach dem Eingriff als normal angesehen werden, insbesondere bei frühzeitiger Belastung, da die Reizung der Synovialitis zu vermehrter Sekretion führt. Der Erguss sollte in typischer Weise konservativ behandelt werden: isometrisches Quadrizepstraining und balneophysikalische Maßnahmen. Sofern der Erguss bis zu 6 Wochen nach dem Eingriff nicht wesentlich verbessert ist, sollte eine Rezidivpathologie ausgeschlossen werden. In seltenen Fällen kann eine Arthroskopie ein chronisches regionales Schmerzsyndrom auslösen, das wie in Kap. 14 beschrieben behandelt werden muss.
Komplikationen bei Arthroskopie
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▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Iatrogene Knorpelschäden Instrumentenbruch (selten) Nachblutung postoperativer Gelenkerguss postoperatives Schmerzsyndrom allgemeine Operationsrisiken (Thrombose, Embolie, Nervenverletzung, Blutgefäßverletzung etc.)
Meniskusrefixation
Insgesamt wird die Komplikationswahrscheinlichkeit in der Literatur mit ca. 2,5% angegeben. Die häufigste Komplikation ist hierbei die Läsion des N. saphenus, welche Parästhesien und Schmerzen im Innervationsgebiet an der Unterschenkelinnenseite hervorrufen kann. In den allermeisten Fällen sind diese Parästhesien innerhalb von einigen Monaten reversibel. Neurolysen sind nicht erforderlich und wenig Erfolg versprechend. Auch besteht bei lateralen Meniskusnähten die Gefahr der Läsion des N. peronaeus. Allerdings ist dies eine eher seltene Komplikation. Die neueren Rekonstruktionsinstrumente (Pfeile etc.) können besonders mit ihren Spitzen oder Köpfen Irritationen hervorrufen. Auch sind Brüche der Implantate beschrieben, ebenso Fremdkörperreaktionen mit prolongierter intraartikulärer Ergussbildung.
Komplikationen bei Meniskusrekonstruktion
▬ ▬ ▬ ▬
Nervenläsion (N. saphenus > N. peronaeus) iatrogene Knorpelschäden durch Pfeilköpfe Implantatbrüche Fremdkörperreaktion
z Prognose Meniskektomie/Teilresektion
Hauptproblem der Meniskusentfernung ist die Postmeniskektomiearthrose. Diese kann mit vorzeitigen degenerativen Veränderungen einhergehen. Oft lassen sich radiologische Arthrosezeichen im Zeitverlauf nachweisen. Zu diesem Themenkomplex liegen einige Studien vor, die nachweisen, dass sich nach der Meniskektomie eine Gelenkspaltverschmälerung einstellen
kann. Auch kann eine sekundäre Instabilität, v. a. bei totalen Meniskektomien, ausgelöst werden. Alle diese Faktoren führen im Zeitverlauf zu einer verstärkten Kompartimentbelastung und damit zum degenerativen Verschleiß. Legt man den Fokus auf die subjektiven und funktionellen Parameter nach Meniskusteilresektion, so lassen sich in der Literatur weitgehend einheitlich positive Werte für die weit überwiegende Mehrzahl der Patienten finden. Nach 5–15 Jahren können 80–95% der Patienten mit guten bis sehr guten Ergebnissen rechnen. Dabei liegt keine Korrelation zwischen den klinisch und den radiologisch fassbaren Kriterien vor. Es besteht allerdings Konsens darüber, dass es einige Prognosefaktoren gibt, die die Resultate im Langzeitverlauf beeinflussen können. Unumstritten ist eine chronische Instabilität des Gelenks als negativer Prognosefaktor zu werten. Auch ist eine totale Meniskektomie (auch eine mit unterbrochener Randleiste) im Vergleich zu den weniger ausgeprägten Resektionen ein negativ wirkender Faktor. Sofern zusätzlich Knorpelläsionen bestehen, werden auch diese sich im langfristigen Verlauf negativ auf die Belastbarkeit des Kniegelenks auswirken. Gleiches gilt auch für das Alter des Patienten. Sofern dieses bei >40 Jahren liegt, kann das auch als negativ wirkender Faktor gewertet werden. Allerdings wird das Alter noch kontrovers diskutiert. Die Rissform scheint ebenso eine Rolle zu spielen: Korbhenkel-, Lappen- und Längsrisse scheinen eine bessere Prognose zu haben, als die oftmals im degenerativen Umfeld auftretenden Komplex- und Horizontalrisse, da diese nicht selten bereits mit begleitenden Knorpelschäden einhergehen können. Auch ein vorbestehender Beinachsenfehler ist ein prognostisch ungünstiger Faktor. Meniskusrefixation
In der Literatur hat es sich etabliert, dass man zwischen kurzfristiger und langfristiger Heilung unterscheidet und die kurzfristige Heilung nochmals in anatomische und klinische differenziert. Die anatomische Heilung wiederum bezieht sich auf rein morphologische Kriterien: komplette Heilung (ca. 10%), inkomplette Heilung (<50%) und fehlende Heilung (>50%). Die Beurteilung der anatomischen Heilung kann nur nach Rearthroskopie eindeutig getroffen werden und besitzt daher in der Regel nur untergeordneten Stellenwert. Die klinische Heilung ist von entscheidenderer Bedeutung: Sie bezieht sich auf die Abwesenheit von Schmerzen, Ergussbildung und positiven Meniskuszeichen. Trotz der nicht eindeutigen Beurteilbarkeit werden die Heilungsraten nach Meniskusrekonstuktion in der Literatur unterschiedlich angegeben (Salata et al. 2010). Einfluss auf die Heilung und damit das postoperative Ergebnis nehmen sowohl die Stabilität des Kniegelenks (begleitende Kreuzbandverletzung/-rekonstruktion, Seitenbandverletzungen), die Lage des Risses (basisnäher, basisferner) als auch der Risstyp. Von einigen Autoren wird auch die Latenz des Traumas bis zur Rekonstruktion als bedeutender Faktor für die Heilung angesehen (Salata et al. 2010). Die Rerupturrate mit nachfolgender Re-Rekontruktion oder Meniskusteilresektion liegt bei ca. 25% und ist bei instabilen Kniegelenken höher als bei stabilen. Trotz dieser hohen Rezi-
803 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
divrate kann davon ausgegangen werden, dass eine normale Kniefunktion nach Refixation in 75–90% der Fälle erreicht werden kann. Allerdings ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik noch nicht abgeschlossen. Daher müssen noch weitere Studien zum Therapieergebnis abgewartet werden, bis eine allgemeingültige Aussage getroffen werden kann.
28.2.6
Verletzungen des Kapsel-Band-Apparats
H. Behrend, H. Bäthis z
Definition
Eine frische Bandruptur ist die vollständige oder teilweise Kontinuitätsunterbrechung des Bandes nach Überschreiten der Elongationsreserve (ca. 15% Dehnung) durch äußere Gewalteinwirkung. Isolierte Bandrupturen sind von komplexeren Kapsel-Band-Verletzungen zu unterscheiden. Folge der Bandinsuffizienz kann eine Instabilität des Kniegelenks sein. z
Anatomie und Biomechanik
Die aktive Stabilisierung des Kniegelenks erfolgt durch die gelenkübergreifende Muskulatur der Strecker- und Beugergruppen. Passiv wird das Kniegelenk durch die Kapsel- und Bandstrukturen, abhängig von der Gelenkstellung, in unterschiedlichem Maße stabilisiert. Bei den passiven Stabilisatoren unterscheidet man sog. primäre und sekundäre Stabilisatoren. Als primären Stabilisator des Kniegelenks bezeichnet man die ligamentäre Struktur, die für eine Krafteinwirkung in einer Richtung als Hauptstabilisator wirkt. Entsprechend werden Strukturen mit zweitrangiger Stabilisierungsfunktion für Kräfte in dieser Richtung sekundäre Stabilisatoren genannt. Das vordere Kreuzband (VKB) hat eine Länge von etwa 3,0 cm und erstreckt sich von der Area intercondylaris anterior der Tibia zur dorsalen Innenfläche des lateralen Femurkondylus (⊡ Abb. 28.52). Die Blutversorgung erfolgt aus der A. media genus, die Innervation aus dem N. tibialis. Es wurden zahlreiche Mechanorezeptoren mit propriozeptiver Funktion nachgewiesen. Funktionell werden 2 Bündel (Fasersysteme) unterschieden: Das stärkere anteromediale Bündel soll das Gelenk sowohl in Streckung als auch in Beugestellung stabilisieren, das posterolaterale Bündel soll dagegen fast ausschließlich in Streckstellung stabilisierende Funktion besitzen. Eine anatomische Unterscheidung zwischen anteromedialem und posterolateralem Bündel ist nur willkürlich möglich. Das VKB wirkt als primärer Stabilisator gegen die ventrale Translation und Innenrotation der Tibia gegenüber dem Femur und als sekundärer Stabilisator gegen Varus- und Valgusstress. Außerdem stabilisiert es gegen Hyperextension und ist für die »Feinsteuerung« der Schlussrotation (Außenrotation der Tibia in der terminalen Extension) wichtig. Das hintere Kreuzband (HKB) erstreckt sich von der posterioren Einsenkung der Area intercondylaris etwa 1 cm unterhalb der Gelenkfläche (extraartikulär) halbmondförmig zur lateralen Oberfläche des medialen Femurkondylus. Es ist ca.
⊡ Abb. 28.52 Vorderes Kreuzband
a
b
⊡ Abb. 28.53a,b Anterolaterales (AL) und posteromediales (PM) Bündel des hinteren Kreuzbands. (Aus Strobel et al. 1996)
3,5 cm lang, ca. 13 mm dick und weist eine Reißfestigkeit von über 2000 N auf. Die Blutversorgung erfolgt durch die A. media genus sowie aus den medialen und lateralen Ästen der A. inferior genus. Die Innervation stammt aus dem posterioren Ast des N. tibialis. Wie im VKB sind auch im HKB Mechanorezeptoren nachweisbar. Auch hier werden 2 Bündel unterschieden. Das stärkere anterolaterale Bündel mit eher geradem Verlauf und das posteromediale Bündel mit eher schrägem Verlauf (⊡ Abb. 28.53). Inkonstant (in 70–100%) sind 2 meniskofemorale Bänder vom hinteren Kreuzband abzugrenzen. Beide entspringen von der Innenfläche des medialen Femurkondylus und inserieren am Außenmeniskushinterhorn. Dabei verläuft das anteriore (Humphrey-Ligament) ventral über das HKB hinweg und das posteriore (Wrisberg-Ligament) dorsal des HKB.
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Abb. 28.54 Posterolaterale Gelenkstrukturen (Ansicht von posterolateral). 1 Laterales Kollateralband, 2 Popliteussehne, 3 Lig. popliteofibulare, 4 M. biceps femoris. (Präparat aus dem anatomischen Institut der Universität Zürich)
popliteale Aponeurose) zusammengefasst (⊡ Abb. 28.54). Sie bilden ein komplexes Kapsel-Band-System, das in Verbindung mit dem HKB die Kniestabilität nach dorsal garantiert. Die posterolateralen Strukturen sind ein primärer Stabilisator gegen die Außenrotation der Tibia, und Rupturen dieser Strukturen führen zu erhöhten Kräften auf das intakte HKB (Harner 1998). Außerdem wirken HKB und die posterolaterale Ecke einer Varusinstabilität entgegen. Bezüglich der Stabilisierung gegen Varuskräfte und Außenrotation der Tibia ist das HKB bedeutsamer in Flexion, der posterolaterale Kapsel-Band-Komplex in Extensionsnähe. Das mediale Seitenband zieht vom medialen Epicondylus femoris zur medialen Tibia etwa 8 cm unterhalb der Gelenklinie (⊡ Abb. 28.55). Tiefe Schichten des medialen Seitenbands sind mit der medialen Gelenkkapsel und dadurch mit dem medialen Meniskus verwachsen. Verstärkt wird der mediale Gelenkkomplex durch die Fascia cruris. Das mediale Seitenband ist der primärer Stabilisator gegen Valgusstress. Das laterale Seitenband entspringt am lateralen Epicondylus femoris und inseriert am Fibulaköpfchen. Es ist extrakapsulär gelegen und nicht mit der lateralen Gelenkkapsel verwachsen. Seine Bedeutung als Stabilisator des posterolateralen Kniegelenks wurde bereits erwähnt (⊡ Abb. 28.54). z
Klassifikation
Es existieren zahlreiche Einteilungs- und Klassifizierungsschemata der Kapsel-Band-Verletzungen am Kniegelenk. Nach Müller wird anhand der Instabilität unterschieden: ▬ Kapsel-Band-Verletzungen ohne Instabilität ▬ Kapsel-Band-Verletzungen mit Instabilität: – gerade Instabilität (in nur einer Bewegungsebene) nach medial, lateral, dorsal, ventral – Rotationsinstabilität (in 2 Bewegungsebenen) nach anteromedial, anterolateral, posteromedial, posterolateral – kombinierte Instabilität (in mehr als 2 Bewegungsebenen) nach anterolateromedial, anterolateroposterior, anteromedioposterior; Knieluxation z Diagnostik z z Anamnese
⊡ Abb. 28.55 Mediales Seitenband. 1 Tuberculum adductorium, 2 mediales Seitenband mit seiner breitflächigen, dreieckigen Gestalt. (Präparat aus dem anatomischen Institut der Universität Zürich)
Das HKB ist der primäre hintere Stabilisator des Kniegelenks und verhindert die posteriore Translation der Tibia v. a. in Flexion. Das anterolaterale Bündel ist in Flexion angespannt, das posteromediale in Extension. Das anterolaterale Bündel ist dicker und macht ca. 85% des Durchmessers des Gesamtligaments aus. Zu den posterolateralen Gelenkstrukturen werden das laterale Kollateralband und der sog. Popliteuskomplex (Popliteussehne, popliteomeniskale Faszikel, Lig. popliteofibulare,
Der Anamnese kommt ein hoher Stellenwert in der Diagnostik und Beurteilung von Verletzungen des Kapsel-Band-Apparats zu. Unter Kenntnis der funktionellen Anatomie kann über den Unfallmechanismus das resultierende Verletzungsmuster abgeleitet werden (⊡ Tab. 28.7). > Ein vorderes Knieanpralltrauma ist immer verdächtig auf eine hintere Kreuzbandverletzung.
Zu Verletzungen des vorderen Kreuzbands (⊡ Abb. 28.56) kommt es typischerweise bei sportlicher Betätigung, z. B. bei Fußball und Ski-Alpin, die Ruptur ist jedoch auch durch ein »Bagatelltrauma« möglich. Eine klassische Ursache für eine isolierte Ruptur des hinteren Kreuzbands ist die Armaturenbrettverletzung (»dash bord injury«). Dabei übt bei einem Verkehrsunfall das Armaturenbrett eine nach dorsal gerichtete Kraft auf die ventrale Tibia des gebeugten Kniegelenks aus. Bei großer Energieeinwirkung (Rasanztraumen bei Ver-
805 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Tab. 28.7 Unfallmechanismen mit resultierender Verletzungsstruktur. (Aus Strobel 1998)
⊡ Abb. 28.56 Arthroskopisches Bild einer frischen vorderen Kreuzbandruptur
kehrsunfällen) kommt es häufiger zur gleichzeitigen Ruptur des VKB und Verletzungen der posterolateralen Strukturen, des Tractus iliotibialis und der Bizepssehne bis hin zur Kniegelenkluxation. Bei polytraumatisierten Patienten besteht die Gefahr, dass HKB-Verletzungen übersehen werden (Fanelli 1993). Für die Bandverletzungen gemeinsam berichten die Patienten unter Umständen von einem wahrnehmbaren Riss oder Knall mit nachfolgend stechendem Schmerz. Unter Umständen wird beschrieben, wie sich der Ober- gegen den Unterschenkel verschoben hat bzw. subluxiert war. In der Regel tritt ein sofortiger, manchmal ein verzögerter Funktionsverlust ein. Meist wird von einer Schwellung (Hämarthros) des Kniegelenks berichtet. Erfragt werden sollten außerdem der Schmerzverlauf, Bewegungshemmungen und frühere Verletzungen und Operationen. Insbesondere für länger zurückliegende Verletzungen ist eine genaue Erhebung möglicher Instabilitäten mit »Givingway«-Ereignissen (wiederholtes, unvermitteltes Nachgeben des Gelenks) wichtig. Diese treten zum Teil nur bei sportlicher Belastung (v. a. Kontaktsportarten) auf, häufig können sie jedoch auch durch Gehen auf unebenem Grund oder Treppensteigen provoziert werden. Die Patienten beklagen dann, sie hätten ihr Kniegelenk nicht unter »Kontrolle«.
Unfallmechanismus
Verletzungsstruktur
Hyperextension
HKB und dorsale Kapsel isolierte VKB-Ruptur VKB und dorsale Kapsel
Hyperflexion
Meniskusverletzung (Hinterhorn) VKB-Ruptur HKB-Ruptur
Forcierte Innenrotation
Meniskusverletzung (Außenmeniskus)
Forcierte Außenrotation
Meniskusverletzung (Innenmeniskus) mediales Seitenband, evtl. VKB Patellaluxation
Varustrauma
Lateraler Kapsel-Band-Komplex
Valgustrauma (häufiges Trauma)
Mediales Seitenband
Flexion-Varus-Innenrotation
VKB-Ruptur lateraler Kapsel-Band-Komplex
Flexion-Valgus-Außenrotation (häufiges Trauma)
VKB-Ruptur mediales Seitenband
Armaturenbrettverletzung
Isolierte HKB-Ruptur HKB und dorsale Kapsel HKB und posterolaterales Eck HKB und mediales Seitenband Patellafraktur proximale Tibiafraktur Azetabulum- und Beckenfrakturen Femurfraktur
Betracht (s. Übersicht). Bei schweren Kapsel-Band-Verletzungen mit Zerreißung der Kapsel kann der Hämarthros jedoch auch in die Unterschenkelweichteile drainieren, sodass wenig Erguss palpatorisch nachweisbar ist. > Junge Patienten mit einem Hämarthros nach Trauma haben bis zum Beweis des Gegenteils eine VKB-Ruptur.
Differenzialdiagnose Hämarthros z z Klinische Untersuchung
Häufig:
Bei Verdacht auf Kapsel-Band-Verletzungen ist besonders auf Weichteilschwellungen, Prellmarken, einen Gelenkerguss und Einschränkungen des Bewegungsausmaßes zu achten. Durch sorgfältige Palpation lässt sich über die Hauptschmerzpunkte die Verletzungslokalisation eingrenzen. Während sich nach frischer isolierter Seitenbandverletzung eine eher umschriebene, extraartikuläre, Schwellung darstellt, muss ein Hämarthros als ernster Hinweis auf eine Kreuzbandverletzung gesehen werden (ca. 70% der jungen Patienten mit einem frischen Hämarthros haben eine VKB-Ruptur). Differenzialdiagnostisch kommen in einem solchen Fall z. B. auch basisnahe Meniskusverletzungen, eine Patellaluxation sowie knöcherne Gelenkverletzungen in
▬ ▬ ▬ ▬
VKB-Ruptur Patellaluxation Osteochondralfraktur Meniskusruptur (basisnah)
selten:
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
HKB-Ruptur Synoviaeinriss villonoduläre Synovialitis Hämophilie Einriss des Hoffa-Fettkörpers keine feststellbare Ursache
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Im akuten Stadium kann die klinische Untersuchung des Kniegelenks und insbesondere die Überprüfung der Gelenkstabilität durch Schmerzen und muskuläre Anspannung erschwert sein. Die Prüfung der Seitenbandstabilität erfolgt als Varus- und Valgusstress in Streckstellung und in 30° flektiertem Kniegelenk im Seitenvergleich. Bei leichter Beugung entfällt die dorsale Gelenkkapsel als Stabilisator. Das Maß der Instabilität wird nach Empfehlungen der American Medical Association in 3 Graden angegeben (⊡ Tab. 28.8). Ein lokaler Druckschmerz über dem Bandverlauf zusammen mit einer Schmerzangabe beim Aufklappen dieses Gelenkabschnitts weisen auf eine Kollateralbandläsion hin. Eine höhergradige Seitenbandaufklapbarkeit in Streckstellung sollte dem Untersucher nicht entgehen. Sie lässt eine Kombinationsverletzung mit einer gleichzeitigen Kreuzbandruptur (anteromedial bzw. posterolateral) vermuten. Die Erhebung solch eines Befundes bedarf immer weiterer Abklärung! Zur Überprüfung der hinteren Kreuzbandstabilität wird der Schubladentest in 90° Beugung durchgeführt (⊡ Abb. 28.57).
⊡ Tab. 28.8 Maß der Instabilität nach American Medical Association Grad der Instabilität
Aufklappbarkeit [mm]
Bezeichnung
I
5
Zerrung
II
5–10
Teilruptur
III
>10
Vollständige Ruptur
⊡ Tab. 28.9 Beurteilung der Instabilität (Schubladentest, LachmanTest) Grad der Instabilität
Translation [mm]
Anschlag
I
3–5
Vorhanden/fehlend
II
5–10
Vorhanden/fehlend
III
>10
Vorhanden/fehlend
⊡ Abb. 28.57 Schubladentest
Seine Aussagefähigkeit bezüglich einer Kreuzbandruptur ist für das HKB spezifisch. Das Kniegelenk wird in 90° Beugung auf der Untersuchungsliege aufgestellt. Der Untersucher kann das Bein durch Sitzen auf dem Vorfuß des Patienten stabilisieren. Durch Schub nach dorsal (»Posterior-drawer«-Test) bzw. Zug nach ventral wird das Ausmaß und die Qualität der Tibiatranslation überprüft (⊡ Tab. 28.9). Bei posteriorer Translation über 10 mm (Grad III) liegt häufig eine Schädigung des HKB und auch des posterolateralen Ecks vor. Die Untersuchung des Schubladentests erfolgt in Neutralstellung, Innen- und Außenrotationsstellung der Tibia. In der Beurteilung der Qualität wird ermittelt, ob ein definierter Endpunkt im Sinne eines festen Anschlags vorliegt. Ein fehlender Anschlag spricht für eine komplette Bandinsuffizienz. In Rahmen der Untersuchung sollte das Vorliegen einer spontanen hinteren Schublade durch Inspektion des seitlichen Reliefs beurteilt werden (⊡ Abb. 28.58). In diesem Fall kann eine ventrale Translation der Tibia beim Schubladentest eine vermeintliche anteriore Instabilität vortäuschen, obwohl eine hintere Kreuzbandinsuffizienz vorliegt. Weiterhin ist die Möglichkeit einer fixierten hinteren Schublade nach alter hinterer Kreuzbandverletzung zu bedenken, wobei durch ein Übergewicht der Ischiokruralmuskulatur und Schrumpfung der dorsalen Gelenkkapsel die Tibia in einer dorsalen Translation gehalten wird und nicht mehr in eine Neutralposition zu bringen ist (Strobel 2000). > Eine höhergradige Seitenbandaufklappbarkeit in Streckstellung ist immer ein Hinweis auf eine Kreuzbandruptur und Mitverletzung posteriorer Kapselstrukturen.
Als spezifische Untersuchung des vorderen Kreuzbands wird der Lachman-Test angegeben (⊡ Abb. 28.59). Hierbei fixiert der Untersucher mit einer Hand das 20–30° gebeugte Bein am Oberschenkel. Vereinfacht wird dies auf dem Oberschenkel des Untersuchers durchgeführt. Mit der anderen Hand erfolgt die Überprüfung der Translation nach ventral. Der Grad der Instabilität wird wie in ⊡ Tab. 28.9 beschrieben angegeben. Entscheidend ist der Vergleich zur (unverletzten) Gegenseite. Lachman-Test und Schubladenuntersuchung können durch
⊡ Abb. 28.58 Spontane hintere Schublade: die Tuberositas tibiae rechts ist nicht mehr mit ihrer Kontur prominent
807 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Messgeräte (z. B. KT-1000-Arthrometer) quantifiziert werden, dies ist besonders auch zur Verlaufsdokumentation nach Rekonstruktionen sinnvoll. Als »pivot central« (Pivot = Drehpunkt, Zapfen) wird das Rotationszentrum des Kniegelenks bezeichnet. Bei einer vorderen Kreuzbandinsuffizienz kann eine plötzliche Verschiebung (»shift«) des Rotationszentrums diagnostiziert werden. Verschiedene Modifikationen des »Pivot-shift«-Tests sind beschrieben. Unter Valgusstress und Innenrotation des Unterschenkels wird das Knie langsam von der Streckung in die Beugung gebracht. Insbesondere bei vorderen Kreuzbandläsionen mit anteromedialer Instabilität kann das ruckartige Zurückschnappen des vorher nach ventral subluxierten Tibiaplateaus beobachtet werden.
Als spezifischer Test zur Beurteilung einer hinteren Kreuzbandverletzung wird neben der hinteren Schublade das »posterior sag-sign« verwendet. Dieses Zeichen wird bei 90° gebeugtem Knie- und Hüftgelenk des liegenden Patienten geprüft. Bei hinterer Kreuzbandverletzung fällt die Tibia nach dorsal, die Prominenz der Tuberositas verschwindet im Seitenvergleich. Im »Dial«-Test (Außenrotationstest) zeigt eine vermehrte Außenrotation der Tibia von 10–15° bei 30° Flexion eine zusätzliche Mitverletzung der posterolateralen Strukturen an (⊡ Abb. 28.60). Insbesondere bei frischer Verletzung mit vorliegendem Hämarthros kann die Untersuchung erschwert und die sichere Beurteilung der Stabilität unmöglich sein. In solchen Fällen empfiehlt sich eine Verlaufsbeurteilung nach einigen Tagen.
! Cave Hintere Kreuzbandverletzungen werden bei Mehrfachverletzungen häufig übersehen.
z z Bildgebende Verfahren
Die radiologische Diagnostik umfasst die Standardröntgenebenen a.p. und seitlich sowie eine tangentiale Patelladarstellung zum Ausschluss einer knöchernen Verletzung. Es kann so z. B. ein knöcherner Ausriss des lateralen Kapsel-Band-Apparats am Tibiakopf (Segond-Fraktur) als sicherer Hinweis auf eine VKB-Ruptur dargestellt werden. Auch die Verknöcherung des femoralen Innenbandansatzes (Stieda-Pellegrini-Schatten, ⊡ Abb. 28.61) nach alter Innenbandruptur ist in der a.p.-Ebene abzugrenzen. Die erweitere Diagnostik ist speziellen Fragestellungen vorbehalten: Mit der Tunnelaufnahme nach Frick können knöcherne Bandausrisse der Eminentia intercondylaris tibiae wie auch eine Osteochondrosis dissecans oder freie Gelenkkörper
⊡ Abb. 28.59 Lachman-Test in der Modifikation nach Wrobel
⊡ Abb. 28.60 Positiver »Dial«-Test bei posterolateraler Instabilität links
⊡ Abb. 28.61 Stieda-Pellegrini-Schatten
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808
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
zung, den Begleitverletzungen, dem Grad der Instabilität, dem Alter, dem Aktivitätsniveau und -anspruch des Patienten sowie der individuellen Bereitschaft, eine aufwendige Rehabilitation nach operativer Therapie auf sich zu nehmen. Das Ziel jeder Behandlungsmaßnahme stellt das Wiedererlangen einer stabilen Gelenkführung in alltäglichen Belastungssituationen sowie in der für den Patienten weiter angestrebten sportart- bzw. berufsspezifischen Belastungen dar. Es gilt inzwischen als gesichert, dass eine persistente VKBInsuffizienz über die Zeit zu einer erhöhten Inzidenz von Meniskus- und Knorpelschäden führt (Shelbourne 2000). Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die operative gegenüber der konservativen VKB-Therapie bessere Ergebnisse bezüglich der Langzeitentwicklung einer Arthrose zeigt und dementsprechend durch den VKB-Ersatz eine übermäßige Abnützung des Gelenks auf lange Sicht verhindert werden kann (Daniel 1994). Auch die Bedeutung der »bone bruises«, die in über 50% der akuten VKB-Verletzungen vorkommen, ist in diesem Zusammenhang noch unklar (Miller 2000). Einen Algorithmus der Behandlung der vorderen Kreuzbandruptur des Erwachsenen zeigt ⊡ Abb. 28.63.
28
z z Konservative Therapie
⊡ Abb. 28.62 Seitliche, gehaltene Aufnahme zur Darstellung und Messung der posterioren Translation
besser dargestellt werden. Zur Beurteilung arthrotischer Veränderungen z. B. bei chronischer Instabilität empfiehlt sich eine p.a.-Belastungsaufnahme in 45° Flexion. Bei Flexion zwischen 30° und 60° werden genau die Knorpelareale belastet und indirekt durch Gelenkspaltverschmälerung dargestellt, die in der Hauptbelastungszone liegen. Gehaltene Seitaufnahmen beider Kniegelenke in 90° Flexion mit dorsaler und ventraler Translation der Tibia können zur Identifizierung des Hauptvektors der Instabilität bei kombinierter vorderer und hinterer Insuffizienz herangezogen werden, ggf. auch zur Therapieverlaufsbeurteilung (⊡ Abb. 28.62). Außerdem können fixierte hintere Schubladen nachgewiesen werden. Achsenaufnahmen unter Belastung können eine Varusmorphologie aufdecken, welche die Prognose des Ersatzes des hinteren Kreuzbands und des posterolateralen Ecks verschlechtert und somit evtl. einer Achsenkorrektur bedarf. Außerdem können Gelenkspaltverschmälerungen als Hinweis auf Knorpeldestruktionen dargestellt werden. Die MRT ist hilfreich zur Bestimmung der Lokalisation von Kapsel-Band-Verletzungen und für die Beurteilung von Begleitverletzungen wie »bone bruises« (trabekuläre Mikrofrakturen), traumatische Knorpelschäden und Meniskusläsionen.
Vordere Kreuzbandruptur z
Therapie
Die Therapiestrategien beim Vorliegen einer vorderen Kreuzbandruptur (⊡ Abb. 28.56) richten sich nach der Art der Verlet-
Die konservative Therapie der isolierten vorderen Kreuzbandruptur sollte bei Patienten mit niedrigem bis normalem sportlichem Aktivitätsniveau, höherem Alter sowie nicht gesicherter Nachbehandlung aufgrund einer mangelnden Compliance empfohlen werden. In Zweifelsfällen sollte zunächst ein konservativer Behandlungsversuch erfolgen und bei verbleibender Instabilität sekundär eine operative Stabilisierung durchgeführt werden. Ziele der nicht operativen Behandlung sind zunächst die Schmerzreduktion, der Rückgang der Schwellung und des Reizzustands und die Wiederherstellung des normalen Bewegungsausmaßes. In einer zweiten Phase sollte dann durch aktive Rehabilitation Muskelkraft, Ausdauer und Koordination optimiert werden. Das gesamte Spektrum der Physiotherapie mit aktiver und passiver Krankengymnastik und gerätegestützer Therapie kommt zur Anwendung. > Langfristig sind auch bei guter muskulärer Führung minimale Scherbewegungen durch das vermehrte Ventralgleiten der Tibia mit konsekutiven Sekundärschäden insbesondere an Menisken und Knorpeloberfläche nicht ausgeschlossen. Hierüber muss der Patient aufgeklärt werden.
Das individuelle Aktivitätsniveau des Patienten sollte an die Verletzung angepasst werden. z z Operative Therapie
Während das Konzept der »Bandisometrie« bei der Kreuzbandrekonstruktion umstritten bleibt, ist man sich grundsätzlich darüber einig, dass eine möglichst anatomische Rekonstruktion der Bänder anzustreben ist. Ziel hierbei ist es auch, das unterschiedliche »Verhalten« der Bänder in allen Bewegungsebenen und Flexionsgraden des Kniegelenks zu imitieren (Miller 2000). Als Indikationen zu einer operativen Therapie nach einer frischen Verletzung werden allgemein jüngeres Alter, hohes
809 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Frische VKB-Ruptur des Erwachsenen Begleitverletzungen
4 Grad III - Innenbandruptur(MCL) - Außenbandruptur (LCL) 4 reparabler Meniskusriss Nein
Sportlicher Anspruch Niedrig Aktivitätsniveau IKDC
Ja
Hoch*
Rekonstruktion VKB
Hoch* Moderat* Leicht* ADL*
Eher konservativ
⊡ Abb. 28.63 Therapiealgorithmus bei frischer VKB-Ruptur des Erwachsenen. *Individuelle Faktoren wie Alter, Grad der Instabilität, Beruf, Bereitschaft Lebensgewohnheiten zu ändern und andere Faktoren sind zu berücksichtigen. ADL Aktivitäten des täglichen Lebens, IKDC International Knee Documentation Committee, LCM Lig. collalterale mediale, LCL Lig. collalterale laterale.
Aktivitätsniveau und der Wunsch zur Weiterführung kniebelastender Sportarten gesehen. Darüber hinaus erfordert das Ausmaß der Begleitverletzungen unter Umständen die operative Stabilisierung, so z. B. wird angenommen, dass eine Meniskusnaht zur Einheilung eine stabile Gelenkführung benötigt. Für die chronische Instabilität muss ein verbleibendes Instabilitätsgefühl, also ein wiederholtes, unvermitteltes Nachgeben des Gelenks (»Giving-way«-Ereignisse) in alltäglicher Belastung als Indikation zu einem VKB-Ersatz gesehen werden (⊡ Abb. 28.63) Verschiedene Techniken der operativen Behandlung sind möglich. Die primäre Naht des vorderen Kreuzbandes, unter Umständen mit Augmentation durch autologe Sehnen, zeigt nur mäßige langfristige Ergebnisse (Andersson 1991, Shearman 1991) und ist aufgrund der guten Ergebnisse der primären Kreuzbandersatzverfahren verlassen worden. Eine Ausnahme stellt der knöcherne Ausriss des vorderen Kreuzbands dar (⊡ Abb. 28.64). Insgesamt repräsentiert dies nur einen kleinen Teil der Verletzungen, der häufiger bei Kindern gesehen wird und meist den tibialen Anteil betrifft. In diesem Fall sollte die rasche operative Refixierung angestrebt werden. Für diese Verletzung besteht eine gute Prognose, da die Bandstruktur an sich nicht geschädigt ist. Verschiedene Techniken des operativen Vorgehens sind möglich, die sich v. a. nach der Größe des Fragments und ggf. offenen Wachstumsfugen richten. Arthroskopisch wie auch in offener Tech-
⊡ Abb. 28.64 Refixierter knöcherner VKB-Ausriss der Eminentia intercondylaris bei offenen Wachstumsfugen
nik ist die Refixierung mit Kirschner-Drähten, Auszugsnähten oder (kanülierten) Zugschrauben möglich. Entscheidend ist die gute Reposition des Fragments. Die Nachbehandlung erfolgt in der Regel in einer Knieschiene in 20° Flexionsstellung für 6 Wochen. > Die autologe Ersatzplastik des vorderen Kreuzbands hat sich heute als Therapie der Wahl durchgesetzt.
Als Standardverfahren der operativen Behandlung der intraligamentären Bandruptur ist die Ersatzplastik des vorderen Kreuzbands mit autologen Transplantaten anzusehen. Sie kann in arthroskopischer oder offener Technik (Miniarthrotomie) erfolgen, wobei ein klarer Trend zu den arthroskopischen Methoden zu verzeichnen ist. Die bisherigen Langzeitergebnisse sind in beiden Techniken gleichwertig. Der optimale Zeitpunkt der Operation wurde lange Zeit kontrovers diskutiert. Bei fehlenden Begleitverletzungen wird allgemein inzwischen ein reizloses (keine Schwellung, keine Inflammation) und frei bewegliches Kniegelenk als Voraussetzung für einen erfolgreichen VKB-Ersatz gefordert (Höher 1999). Dies ist in der Regel 4–6 Wochen nach dem Unfallereignis der Fall. Wird die Operation an einem noch durch das Trauma gereizten und bewegungseingeschränkten Gelenk vorgenommen, besteht ein erhöhtes Arthrofibroserisiko (Harner 1992). Als Standardtransplantate haben sich die Patellarsehne mit Knochenblöcken aus Patella und Tibia, die Sehnen des
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28
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
M. semitendinosus bzw. M. gracilis und die Quadrizepssehne etabliert. Kunstbänder kommen heute nicht mehr zum Einsatz, da im Langzeitverlauf die Probleme in Bezug auf Haltbarkeit, Elongation und chronische Synovialitis als Folge des Fremdmaterialabriebs bisher keine Lösung fanden. Allografts sind aufgrund des Restinfektionsrisikos und der fraglichen Langzeithaltbarkeit umstritten. Die Auswahl des Transplantats richtet sich neben der Erfahrung des Operateurs nach den spezifischen Transplantateigenschaften und den Anforderungen des Patienten. Für ein Patellarsehnentransplantat spricht die hohe Reiß- und Verankerungsstabilität mit einer schnellen und stabilen Einheilung der Knochenblöcke in den knöchernen Bohrkanälen. Nachteilig wird eine erhöhte Entnahmemorbidität mit postoperativen femoropatellaren Schmerzen und sehr selten eine Patellafraktur bzw. Patellarsehnenruptur gesehen. Die autologen Sehnentransplantate des M. semitendinosus oder M. gracilis zeichnet eine geringere Entnahmemorbidität aus. Die mehrfach gedoppelten Sehnen besitzen eine hohe Reißfestigkeit, die Verankerungsfestigkeit ist jedoch bei den derzeit angewendeten Methoden geringer. Insbesondere bei »gelenkferner« Verankerung der Transplantate kann eine Tunnelerweiterung (»tunel-widening«; ⊡ Abb. 28.65) der Bohrkanäle beobachtet werden. Die dauerhafte Verankerung muss über eine zeitlich längere Sehnenzu-Knochen-Heilung erfolgen, was in der Rehabilitation Beachtung finden sollte. Die bisher vorliegenden Ergebnisse im klinischen Vergleich der Transplantate zeigen jedoch keinen wesentlichen Unterschied, sodass die Auswahl des geeigneten Transplantats mit seinen Vor- und Nachteilen individuell entschieden werden sollte. Für eine erfolgreiche VKB-Rekonstruktion sind neben der Auswahl des richtigen Transplantats die richtige Positionierung, die richtige Spannung, Verhinderung des TransplantatImpingements, sichere Fixation und nicht zuletzt die Möglichkeit einer frühfunktionellen Nachbehandlung wichtig.
Beispiel-OP: Arthroskopischer Kreuzbandersatz mit Lig. patellae Arthroskopische Befundabklärung und Therapie von Begleitverletzungen. Anlage einer Blutleere. Längsinzision über dem Lig. patellae, Inzision eines 10 mm breiten Sehnenstreifens im mittleren Sehnendrittel. Entnahme je eines etwa 2 cm langen und 8–10 mm breiten anhängenden Knochenblocks aus distaler Patella und proximaler Tibia mit Säge und Meißel. Präparation des Transplantats auf gewünschten Bohrkanaldurchmesser und Armierung der Knochenblöcke mit Draht bzw. Fäden. Arthroskopische Darstellung der anatomischen Insertionspunkte an Femur und Tibia. HKB-orientierte Anlage des tibialen Bohrkanals mit Zielbügel (optimale Lage bei 44% des max. a.p.-Durchmessers des Tibiakopfes). Anschließend Bohren des femoralen Kanals mit Zielhaken durch den tibialen Bohrkanal oder über das anteromediale Portal (»Over-thetop«-Position unter Belassung einer 1–2 mm breiten hinteren Kortikalisschicht). In der a.p.-Schnittebene sollte die femorale ▼
⊡ Abb. 28.65 Tunnelerweiterung nach Semitendinosusplastik und Tunnelfehlplatzierung
Bohrung zwischen 10 und 11 Uhr (rechtes Knie) bzw. 13 und 14 Uhr (linkes Knie) liegen. Einzug des Transplantats und Fixierung zunächst femoralseitig mit einem resorbierbaren Fixationssystem oder einer Interferenzschraube. Vorspannung des Transplantats und Fixierung des tibialen Knochenblocks. Öffnen der Blutleere, Blutstillung und Wundverschluss. Sofortige Kryotherapie.
z z Nachbehandlung
In der Nachbehandlung der vorderen Kreuzbandersatzplastik kann zwar durch die prinzipiell übungsstabilen Transplantate eine frühzeitige funktionelle Rehabilitation direkt im Anschluss an die Operation erfolgen, Überbelastungen sollten jedoch vermieden werden. Es ist also eine Gratwanderung zwischen Überbelastung und Überprotektion zu bewältigen. Im Einzelnen werden sehr unterschiedliche Nachbehandlungskonzepte verfolgt. Es besteht kein Konsens über die Verwendung von Orthesen (Möller 2001), ebenso wenig über eine mögliche Belastungssteigerung und eine Limitierung des Bewegungsausmaßes. Es können 4 allgemeine Phasen und Ziele der Rehabilitation unterschieden werden (s. Übersicht). Wir empfehlen in der frühen Rehabilitationsphase das Fahrradfahren mit fixiertem Schuh, um die Hamstring-, Gastrocnemius- und Quadrizepskoordination zu trainieren.
811 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Frische HKB-Ruptur Rehabilitationsziele Frühe postoperative Phase (bis 14 Tage postoperativ)
▬ Beweglichkeit bis 0-0-90° ▬ kein Erguss ▬ aktive Quadrizepskontraktion frühe Rehabilitationsphase (bis ca. 6. postoperative Woche):
▬ ▬ ▬ ▬
Beweglichkeit > 0-0-110° Gehen ohne Stöcke problemloses Treppensteigen Fahrradfahren mit fixiertem Schuh
intermediäre Rehabilitationsphase (ca. 6.–12. postoperative Woche):
▬ Quadrizepskraft >50% der Gegenseite ▬ freie Beweglichkeit abschließende Rehabilitationsphase (bis ca. 4–6 Monate postoperativ):
▬ ▬ ▬ ▬
Quadrizepskraft >80% der Gegenseite Beugekraft >90% der Gegenseite normales Gangbild Joggen möglich
Eine Rückkehr zum Sport sollte dann möglich sein, wenn mindestens 80% der Sprungkraft im Vergleich zur Gegenseite erreicht sind, das Knie stabil und reizlos und eine sichere Koordination vorhanden ist.
Diagnostik: Klinik / MRI Teilruptur HKB
Dislozierter knöcherner Ausriss bei intaktem Band
Rehabilitation (konservativ)
Operative Refixation
Vollständige Ruptur HKB (intraligamentär) Isolierte HKB-Ruptur Schublade < 10 mm
Rehabilitation (konservativ)
Instabilität mit hinterer Schublade > 10 mm
Rekonstruktion HKB
Grad III MCLLäsion Grad III LCLLäsion
Rekonstruktion HKB und MCL oder LCL, posterolateral
Hintere Kreuzbandruptur z
Therapie
Die Therapie der Ruptur des HKB ist Gegenstand aktueller wissenschaftlicher Diskussion. Auf der einen Seite zeigen Studien, dass Patienten in einem gewissen Prozentsatz nach 10–20 Jahren nicht operativer Behandlung mit dem Auftreten von einer medialen und retropatellaren Gonarthrose zu rechnen haben (Dejour 1988). Auf der anderen Seite ist bis heute nicht geklärt, ob durch die heutigen Operationsverfahren dieser Verlauf verhindert werden kann. Die Therapie der hinteren Kreuzbandverletzung sollte sich an den in ⊡ Abb. 28.66 gezeigten Gesichtspunkten orientieren.
⊡ Abb. 28.66 Therapiealgorithmus bei HKB-Verletzung
Muskelaufbau und Reflexschulung bei zunehmender Freigabe der Beugung begonnen werden. Rückkehr zum Sport sollte nicht vor Ablauf von 9 Monaten empfohlen werden. Wie bei der vorderen Kreuzbandruptur auch sollte ein knöcherner Ausriss des HKB operativ refixiert werden. Das ausgerissene Fragment kann dabei je nach Größe mit Ausziehnähten, Schrauben oder H-Platte refixiert werden. z z Operative Therapie
z z Konservative Therapie
Die isolierte, frische hintere Kreuzbandruptur kann mit guter Prognose konservativ behandelt werden (Shelbourne 1999). Durch diese Therapie soll die Bildung einer stabilen Narbe des hinteren Kreuzbands gewährleistet werden. Parolie u. Bergfeld (1986) ermittelten im Langzeitverlauf gute Ergebnisse in einem Kollektiv von Leistungssportlern nach isolierter hinterer Kreuzbandruptur. In der konservativen Therapie wird mit einer Knieorthese in Streckstellung behandelt, in welcher der Unterschenkel nach ventral gehalten wird. Eine Bewegungstherapie erfolgt aus der Orthese heraus in Bauchlage zunächst bis 60° Flexion, um ein Zurückgleiten der Tibia zu verhindern. Nach 6-wöchiger Behandlung Tag und Nacht sollte für weitere 6 Wochen die Schiene nur noch nachts getragen werden. Tagsüber kann mit
Eine operative Therapie der frischen Verletzung wie auch bei chronischer Instabilität sollte bei einer hinteren Schublade von mehr als 10 mm und ausgeprägter lateraler Aufklappbarkeit als Hinweis auf vorliegende Begleitverletzungen (posterolaterale Instabilität) erfolgen (Strobel 2000). Aufgrund der besseren Vernarbungstendenz des hinteren Kreuzbands können frische Verletzungen prinzipiell durch eine Bandnaht, ggf. mit Augmentation, stabilisiert werden. Alternativ werden, wie auch bei chronischer Instabilität, Ersatzplastiken in offener und arthroskopischer Technik angewendet. Als Transplantate werden die Sehnen der Mm. semitendinosus, gracilis und quadriceps oder das mittlere Patellarsehnendrittel mit Knochenblöcken verwendet. Neuere Arbeiten beschreiben analog zum VKB eine Doppelbündelrekonstruktion des HKB, welche die ursprüngliche Anatomie besser als die Einbündelrekonstruktion wieder-
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Abb. 28.67 Kniegelenkluxation
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herstellen soll. Klinische Ergebnisse, die eine Überlegenheit der Doppelbündelrekonstruktion zeigen, liegen jedoch nicht vor. Bei einer HKB-Ruptur in Kombination mit gleichzeitiger Zerreißung des posterolateralen Ecks, was häufig eine massive hintere Instabilität mit Varus- und Außenrotationsinstabilität zur Folge hat, sollte eine Rekonstruktion aller Strukturen angestrebt werden. Es hat sich gezeigt, dass der alleinige Ersatz des hinteren Kreuzbands nur unbefriedigende Langzeitergebnisse liefert. Zur Rekonstruktion des posterolateralen Ecks kann z. B. ein Semitendinosussehnentransplantat verwendet werden (Strobel 1998). Bei Vorliegen einer posterolateralen Instabilität und Varusfehlstellung des Kniegelenks sollte zunächst eine Achsenkorrektur erfolgen.
Seitenbandverletzung In der Therapie der isolierten Seitenbandverletzungen wird prinzipiell ein konservatives Vorgehen empfohlen. Teilrupturen, die mit einer geringen bis mäßigen Instabilität einhergehen, können frühfunktionell mit zunehmendem Belastungs- und Bewegungsaufbau behandelt werden. Auch für die kompletten isolierten Seitenbandverletzungen wird ein konservatives Vorgehen angestrebt. Für 6 Wochen wird eine Orthesenbehandlung durchgeführt, anschließend erfolgt die funktionelle Therapie. Eine Indikation zur operativen Therapie ist im Wesentlichen bei Komplexverletzungen, bei denen wichtige Begleitstrukturen mitverletzt sind, und bei chronischen Insuffizienzen gegeben. Es kommen Augmentations- und Ersatzplastiken mit autologen Sehnen zum Einsatz. Medial wird dabei häufig die Sehne der Mm. semitendinosus und semimembranosus, lateral die des M. biceps femoris und der Tractus iliotibialis verwendet. Knöcherne Bandausrisse werden refixiert. > Isolierte mediale Seitenbandrupturen werden konservativ behandelt. Bei lateralen Seitenbandverletzungen handelt es sich i.d.R. um Komplexverletzungen.
Kniegelenkluxation Tibiofemorale Luxationen sind stets schwere Verletzungen (⊡ Abb. 28.67). Sie resultieren aus Hochrasanztraumen. Die
vollständige Verrenkung des Kniegelenks geht mit einer Zerreißung des vorderen und hinteren Kreuzbands sowie mindestens eines Kollateralbands einher. Eine gleichzeitige VKB- und HKB-Ruptur ohne Verletzung eines Kollateralbands ist nicht möglich (Hertel 1996). Neben den Kapsel-Band-Verletzungen sind Kniebinnenläsionen (Mensiken, Knorpeloberfläche) und Weichteilschäden, insbesondere neurovaskuläre Verletzungen häufig (Peroneusparese bis 44%, Verletzungen der A. poplitea bis 37%; Montgomery 1995). Folglich handelt es sich bei der Kniegelenkluxation um einen traumatologischen Notfall, der einer sofortigen Diagnostik und Therapie bedarf. Sofern nicht spontan erfolgt (häufige Ursache der übersehenen Verletzung!), muss die Reposition so schnell wie möglich durchgeführt werden. Die Indikation zu einem Angiogramm sollte entsprechend großzügig gestellt werden, insbesondere auch um keine Intimaläsion (bei evtl. klinisch erhaltenem Puls) zu übersehen. Mit dem »Ankle-Brachial Index« (ABI) kann das Risiko einer Arterienverletzung abgeschätzt werden (Mills 2004). Er wird bestimmt aus dem Quotienten des höchsten systolischen Blutdrucks des Unterschenkels und des Oberarms. Bei einem ABI unter 0,9 sollte ein Angiogramm durchgeführt werden, bei einem Wert über 0,9 kann der Patient zunächst weiter beobachtet werden. Therapeutisch ist eine nach Dringlichkeit abgestufte Reihenfolge einzuhalten. Erste Priorität haben dabei vaskuläre Verletzungen, die notfallmäßig versorgt werden. In gleicher Sitzung sollte ein mögliches Kompartmentsyndrom gespalten werden. Da es sich in der Regel um eine hochgradig instabile Situation des Kniegelenks handelt, ist eine Stabilisierung der Extremität, vorzugsweise mit einem gelenküberbrückenden Fixateur externe, nötig. Nach erweiterter Diagnostik kann dann die definitive Versorgung der Kapsel-Band-Strukturen geplant werden. Hierzu ist insbesondere eine MRT des Kniegelenks zu empfehlen. Sie kann das Ausmaß und die Lokalisation der Kapsel-Band-Verletzungen sowie Knorpel- und Meniskusläsionen darstellen und hat somit entscheidende Bedeutung für die Therapieplanung. Die Reihenfolge der rekonstruktiven Maßnahmen wird unterschiedlich angegeben. Wir führen in der Regel zunächst eine Naht des HKB und des posterolateralen Ecks durch (ggf.
813 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Tab. 28.10 Therapieindikationen bei Verletzungen des Kapsel-Band-Apparats im Überblick Befund
Therapeutische Empfehlung
Seitenbandverletzungen Frische Seitenbandverletzung ohne knöchernen Bandausriss Grad I–III
Konservative Therapie
Frische Seitenbandverletzungen mit knöchernem Bandausriss
Operative Refixierung
Chronische Seitenbandinstabilitäten Grad III
Ersatzplastiken des Kollateralbandapparats
VKB-Verletzungen Siehe Algorithmus in ⊡ Abb. 28.63
Frische vordere Kreuzbandruptur ohne schwerwiegende Begleitverletzungen Ältere Patienten mit geringer sportlicher Aktivität
Eher konservative Therapie
Sportlich aktive jüngere Patienten
Eher Kreuzbandersatzplastik
Knöcherner Ausriss des vorderen Kreuzbands
Operative Refixierung
Chronische Instabilität nach vorderer Kreuzbandruptur
Kreuzbandersatzplastik
HKB-Verletzungen Frische hintere Kreuzbandruptur (intraligamentär)
Eher konservative Therapie
Frische hintere Kreuzbandruptur mit knöchernem Bandausriss
Operative Refixierung
Frische hintere Kreuzbandruptur mit Begleitverletzungen
Bandnaht oder Ersatzplastik
Akute und chronische posterolaterale Instabilität
Naht oder Rekonstruktion
mit Augmentation). Sekundär kann dann eine VKB-Ersatzplastik erfolgen. Das rehabilitative Konzept richtet sich nach der führenden Instabilitätsebene, die zumeist die posterolaterale darstellt.
Evidenz und Kontroversen ▬ Operative vs. konservative Therapie der VKB-Ruptur des Erwachsenen (Linko et al. 2005): – Nur unzureichende Evidenz bei Vergleich operativer und konservativer Therapie mit Therapiestrategien der 1980er-Jahre. – Die operative Therapie zeigte bessere Kniestabilität und weniger Folgeoperationen nach 13–55 Monaten Follow-up. – Die Erholungszeit bis zur Funktionswiederherstellung war in beiden Gruppen gleich. – Es existieren keine randomisierten Studien, die moderne Operationsverfahren mit moderner konservativer Therapie vergleichen. ▬ Keine Studie zeigt eine Arthroseverminderung durch Operation, einige Studien zeigen sogar höhere Arthroseraten sowohl nach operativer als auch nach konservativer Therapie (Daniel 1994, Kessler 2006). ▬ Keine Evidenz, ob zur Meniskusheilung nach Meniskusrefixation ein »stabiles Gelenk« (VKB-Rekonstruktion) notwendig ist. ▬ Keine Evidenz der Überlegenheit eines Transplantats zur VKB-Rekonstruktion bei Vergleich BTB (»bone-tendonbone«) der Patellarsehne gegenüber Hamstrings. ▬ Operative vs. konservative Therapie der HKB-Ruptur des Erwachsenen (Peccin et al. 2005):
– Es existieren keine randomisierten Studien, welche die operative und konservative Therapie für HKB-Rupturen vergleichen. – Beobachtungsstudien schlagen die konservative Therapie von isolierten HKB-Rupturen und die operative Therapie von Kombinationsverletzungen des HKB mit anderen Kapselbandstrukturen vor. Keine Evidenz. ▬ Keine Evidenz zur Reihenfolge der Rekonstruktion der Kapsel-Band-Strukturen nach Knieluxation.
28.2.7
Overuse-Verletzungen
P. Baumann
»Jumpers knee« z
Definition
Blazina und Mitarbeiter erwähnten 1973 erstmals den Begriff »jumpers knee« in der Literatur. Dabei handelt es sich um eine schmerzhafte Tendinopathie der Patellarsehne, deren genaue Ursache unklar ist. Die Tendinopathie betrifft jedoch ausschliesslich den proximalen Anteil an ihrem Ursprung im Bereich des distalen Patellapols. Dabei sind insbesondere Basketball-, Volleyball- und Fußballspieler betroffen. Diesen Sportarten sind die wiederholten forcierten und belasteten Kniegelenkextension gemeinsam. z
Ätiologie und Pathogenese
Die präzisen pathophysiologischen Veränderungen, die zu den schmerzhaften Veränderungen der Patellarsehne führen, sind nicht geklärt. Die Beschwerden werden hauptsächlich auf eine
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
chronische Überbelastung der Patellarsehne zurückgeführt. Dabei können rezidivierende Mikrotraumen von Bedeutung sein, welche die Sehne intraligamentär schädigen. Einige Autoren haben eine Impingement-Problematik im Bereich der Patellarsehne als prädisponierenden Faktor erwähnt. So zeigten Johnson und Mitarbeiter (1996) in einer MRT-Studie ein Impingement des distalen Patellapols mit dem mittleren Bereich der Patellarsehne in Flexion, da die einzelnen Sehnenbündel der Patellarsehne nicht alle im Bereich des Apex inserieren, sondern zum Teil über die anteriore Fläche des Patellaapexes strahlen. Laduron und Mitarbeiter (1993) wiesen ein Impingement zwischen den tiefen Fasern der Patellarsehne und dem lateralen Anteil der femoralen Trochlea nach. Histopathologische Untersuchungen zeigten Gewebeveränderungen im Sinne einer angiofibroblastischen Hyperplasie mit vermehrter Proliferation von Fibroblasten, Neubildung von kleineren Blutgefäßen, Ablagerungen von chondromukoidem Material und Fragmentierung von Kollagenfasern. Diese Veränderungen sprechen für eine Degeneration der Sehne. z
Diagnostik
Die Patienten beschreiben einen anterioren Knieschmerz. Klinisch imponiert eine Druckdolenz im Bereich des unteren Patellapols. Gelegentlich ist hier sogar eine Schwellung zu tasten. Bei aktiver Kniegelenkextension gegen Widerstand berichten die Patienten oftmals über eine Schmerzverstärkung. Somit kann die Diagnose meistens aufgrund der klinischen Untersuchung gestellt werden. Radiologisch ist besonders bei chronischem Verlauf gelegentlich eine verminderte Knochendichte im Bereich des unteren Patellapols zu sehen. Selten finden sich auch Verknöcherungen im proximalen Sehnenanteil. Differenzialdiagnostisch muss eine Patellarsehnenruptur ausgeschlossen werden, was aber meistens durch die Klinik sowie aufgrund des Verletzungsmechanismus zu eruieren ist. Da die Diagnose meistens aufgrund der Klinik zu stellen ist, sind weiterführende Untersuchungen selten notwendig. Bei chronischen-rezidivierenden Verläufen ist eine MRT in Zweifelsfällen indiziert. Dabei kann die Sehnenqualität sowie das Ausmaß der degenerativen Veränderungen beurteilt und quantifiziert werden (Johnson et al. 1996). z
Therapie
In der akuten Phase sind besonders Schonung, Kälteanwendungen und NSAR angezeigt. Nachdem die akuten Beschwerden regredient sind, können physiotherapeutische Maßnahmen mit isometrischer Quadrizeps- und »Hamstring«-Übungen verordnet werden. Unterstützend können auch Ultraschallbehandlungen veranlasst werden. Nach 4–6 Wochen werden zunehmend exzentrische Übungen durchgeführt. Bei chronischen Verläufen, die trotz konservativer Maßnahmen nicht zu bessern sind, sollte eine MRT mit Beurteilung der Sehnenqualität veranlasst werden. Gleichzeitig kann auch das Ausmaß und die Lokalisation der Sehnendegeneration mit oder ohne Verknöcherungen beurteilt werden. Bei entsprechendem Befund ist ein operatives Vorgehen angezeigt. Das Paratenon wird längs eröffnet, und anschließend kann die Sehne inspiziert werden. Verknöcherungen oder dege-
nerative Veränderungen werden je nach MRT-Befund entfernt. Das Paratenon wird vernäht. Tipp
I
I
Vor der abschließenden Hautnaht empfehlen wir die Kontrolle des Bewegungsumfangs mit Augenmerk auf die Flexion. Sollte intraoperativ die Spannung auf den Sehnenanteil zu groß sein, kann postoperativ eine entsprechende Flexionsgrenze ausgesprochen werden.
Die Belastung erfolgt nach Maßgabe der Beschwerden. Extensionsübungen gegen Widerstand sind allerdings in den ersten 6 postoperativen Wochen zu unterlassen.
»Runners knee« z
Definition
Das »runners knee« ist der häufigste Grund für den lateralen Knieschmerz bei Läufern. Es handelt sich um eine unklare chronisch-entzündliche Ver$nderung des distalen Tractus iliotibialis auf Höhe des lateralen femoralen Epicondylus. Die Beschwerden treten v. a. im Marathonlauf auf. Aber auch Fußball- und Tennisspieler sowie Gewichtheber können betroffen sein (Burnstein u. Fischer 1990). z
Ätiologie und Pathogenese
Pathophysiologisch handelt es sich um eine vermehrte Reibung des Tractus iliotibialis am lateren Epicondylus femoris. Ursächlich sollte zwischen intrinsischen und extrinsischen Faktoren unterschieden werden. Zu den intrinsischen Ursachen zählen das Genu varum, die Tibia vara sowie eine abnorme Fußstellungen wie der Calcaneus varus und eine vermehrte Supination im Vorfuß. Zu den extrinsischen Faktoren zählen der individuelle Trainingszustand des Athleten sowie seine Lauftechnik (Burnstein u. Fischer 1990). Anatomisch verläuft der Tractus iliotibialis bei vollständiger Extension des Kniegelenks anterior des femoralen Epikondylus. Mit zunehmender Flexion nähert sich der distale Traktus dem Epikondylus an; schließlich liegt er ihm ab 30° Flexion seitlich an. Somit kann eine vermehrte Druckbelastung zwischen Tractus iliotibialis und lateralem Epicondylus auftreten, was möglicherweise zu den schmerzhaften Veränderungen des Tractus führen kann. z
Diagnostik
Klinisch imponiert der laterale Knieschmerz bei Läufern und treten bei einer Flexion von 30° verstärkt auf. Die Beschwerden sind meistens bei 30° Flexion am stärksten ausgeprägt. Es findet sich eine Druckdolenz ca. 3 cm oberhalb der Gelenkfläche auf Höhe des lateralen Epicondylus femoris. Gelegentlich sind Schwellung und Überwärmung palpabel. Die Athleten sind meistens vor und nach dem Rennen beschwerdefrei oder deutlich beschwerdeärmer. Gelegentlich ist auch eine Verkürzung des Tractus zu bemerken. z
Therapie
Die therapeutischen Ansätze sind in erster Linie konservativ mit Schonung, Eisapplikation und Verordnung von NSAR.
28
815 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Unter physiotherapeutischer Anleitung werden der Tractus iliotibialis, der M. tensor fasciae latae sowie die Hüftaußenrotatoren gedehnt. Das Trainingsprogramm sollte verkürzt werden. Eine chirurgische Therapie ist selten indiziert. Verschiedene Autoren beschreiben eine trianguläre Exzision des Tractus iliotibialis auf Höhe des Epicondylus lateralis bei 30° Flexion.
28.2.8
Tibiaplateaufrakturen
L. Harder z
Epidemiologie
Tibiaplateaufrakturen machen nur ungefähr 1–2% aller Frakturen aus. Sie häufen sich in der 4. bis 6. Dekade, wobei Männer in etwas jüngerem Alter betroffen sind als Frauen.
»Shin splints« z
Definition
Mit »shin splints« werden Schmerzen in den unteren Extremitäten hauptsächlich bei Joggern bezeichnet, die nicht durch eine Ischämie (z. B. akutes und chronisches Kompartmentsyndrom) oder durch eine Ermüdungsfraktur bedingt sind. »Shin splints« treten bei bis zu 13% der Läufer auf (Clanton u. Solcher 1994) und betreffen ausschliesslich die Tibia. z
Ätiologie und Pathogenese
Einige Studien haben das gehäufte Auftreten von »Shin-splint«Verletzungen mit exzessiver Pronation des Fußes beschrieben. Hierbei wird v. a. die Geschwindigkeit der Pronation als Hauptfaktor erwähnt, ebenso ein Entrapment des N. peronaeus superior als mögliche Ursache. Die exakten pathophysiologischen Veränderungen jedoch sind unklar. z
Diagnostik
Klinisch stehen Schmerzen im Bereich der posteromedialen Tibia im mittleren und distalen Drittel im Vordergrund. Jedoch sind die Beschwerden meistens sehr unterschiedlich. Gelegentlich findet sich eine schmerzhafte Schwellung ca. 4 cm proximal des medialen Malleolus, die bis 12 cm nach proximal reichen kann. Die passive Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks ist typischerweise schmerzlos. Jedoch können die Schmerzen bei aktiver Plantarflexion oder bei Extension der Großzehe gegen Widerstand reproduziert werden. Die radiologische Abklärung ist meistens unauffällig. Gelegentlich findet sich eine kortikale Hypertrophie der posterioren Tibia.
z
Anatomie und Biomechanik
Das größere mediale Plateau ist konkav und liegt etwas tiefer als das kleinere, konvexe laterale. Der laterale Meniskus ist an der Eminentia intercondylaris sowie über 2 meniskofemorale Bänder am Femur befestigt (Lig. meniscofemorale posterius = Wirsberg-Ligament, Lig. meniscofemorale anterius = Humphry-Ligament). Die beiden Bänder bilden eine Schlinge um das hintere Kreuzband (HKB; ⊡ Abb. 28.68). In Bezug auf das Gelenk ist der laterale Meniskus relativ mobil. Der mediale Meniskus ist dorsal an der Area intercondylaris, ventral an der Tibia sowie an der tiefen Schicht des medialen Seitenbands befestigt und ist somit weniger mobil als der laterale Meniskus. Beide Menisken sind über das Lig. transversum genus miteinander verbunden. Dazwischen liegt die die Eminentia intercondylaris mit ihren 2 Tubercula. Das vordere Kreuzband (VKB) liegt intraartikulär und setzt tibial ventral des Tuberculum mediale an, das HKB, ebenfalls intraartikulär, verläuft extrakapsulär nach dorsal und setzt an der metaphysären Tibiahinterwand an. Der Weichteilmantel im Bereich des Kniegelenks ist sehr dünn und liegt dem Knochen direkt an. Tibia und Fibula bilden einen knöchernen Rahmen, der von einer straffen Bindegewebsfaszie umgeben ist und eine osteofibröse Einheit bildet. Am Unterschenkel unterscheidet man 4 Kompartimente, welche die Muskulatur, Gefäß- und Nervenstrukturen beinhalten. Äußere Gewalteinwirkung verletzt immer auch die Weichteile.
> Differenzialdiagnostisch muss eine tumoröse Raumforderung in diesem Fall ausgeschlossen werden.
Lig. meniscofemorale ant.
Bei unklarem Befund ist eine MRT zu veranlassen. So kann nicht nur ein Tumor, sondern auch eine Stressfraktur ausgeschlossen werden. Bei Verdacht auf ein Kompartmentsyndrom kann eine Messung der entsprechenden Druckwerte weitere diagnostische Hinweise liefern.
Tendo m. poplitei
z
Lig. meniscofemorale post.
Lig. cruciatum ant.
Lig. cruciatum post.
Meniscus med.
Meniscus lat.
Therapie
Die Behandlung von »Shin-splint«-Verletzungen zielt auf eine relative Ruhigstellung und Entlastung der betroffenen Extremität. Die relative Schonung zeigt verglichen mit NSAR, Abgabe einer Schiene oder Eisapplikation die besten Resultate. Dabei soll die betroffene Extremität jedoch nicht absolut ruhiggestellt werden, sondern Bewegungen und Belastungen nach Maßgabe der Beschwerden sind durchaus erlaubt. Bei Sportlern sollten die Trainingsanstrengungen auf ein gut tolerables Maß reduziert werden.
Recessus subpopliteus Lig. collaterale fibulare
Lig. collaterale tibiale Lig. transversum genus
Capsula articularis
⊡ Abb. 28.68 Meniskofemorale Bänder. (Aus: Weigel u. Nerlich 2005)
816
z
28
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Ätiologie und Pathogenese
Bandläsionen in diesem anatomischen Bereich werden in der Regel durch reine Rotations- oder Scherbelastungen ausgelöst. Proximale Tibiafrakturen entstehen durch zusätzliche Biegeund axiale Last. Die Frakturform wird vom Kraftvektor und der momentanen Gelenkposition mitbestimmt. Dabei entspricht das Kniegelenk einem Scharnier, das um eine nicht vorgesehene Bewegungsachse belastet wird. Krafteinwirkung im Sinne des Varus betrifft das mediale, im Sinne des Valgus das laterale Plateau. Zusätzlich kann auch eine Verletzung des lateralen bzw. des medialen Kapsel-Band-Apparats oder des zentralen Pfeilers (VKB, HKB) entstehen. Proximale Tibiafrakturen werden heute weniger durch Stoßfängerverletzungen mit relativ niedriger Energie und Valgus- oder Varustrauma verursacht als vielmehr durch Hochrasanztraumen im Verkehr (Motorrad, PKW) sowie bei unterschiedlichen Sportarten (Fahrradfahren, Skifahren). Reine axiale Krafteinwirkung kann beide Gelenkflächen einstauchen, mit oder ohne zusätzlicher Varus- oder Valgusfehlstellung. Bei jüngeren Patienten trifft man eher Spaltfrakturen, evtl. kombiniert mit Impressionsfrakturen, an. Im osteoporotischen Knochen herrschen Impressionsfrakturen vor. Bei größerer Gewalteinwirkung kann sich die Trümmerzone uni- oder bikondylär bis in die Meta- und Diaphyse ausdehnen.
Begleitende Meniskusläsionen sowie Kreuzbandrupturen werden in der Literatur mit bis zu 63% angegeben (Fischbach et al. 2000, Gardner et al. 2005, 2006, Shepherd et al. 2002). Als spezielle Tibiaplateaufraktur gilt der knöcherne VKB-Ausriss bei jungen Patienten. Hierbei kann es zu mehr oder weniger ausgedehnten Frakturausläufern in die mediale oder laterale Gelenkfacette kommen. > Äußere Gewalteinwirkung verletzt immer auch die Weichteile. Zusätzlich können dislozierte Fragmente, ein Hämatom oder eine Schwellung die Weichteile von innen schädigen. z
Klassifikation
Sowohl die AO-Klassifikation als auch die Klassifikation nach Schatzker haben sich durchgesetzt. Die Kodierung der proximalen Tibiafraktur nach AO-Klassifikation lautet 4.1-A bis C. Näheres ist ⊡ Abb. 28.69 zu entnehmen. Die A2- und A3-Frakturen, in der Abbildung rot umrandet, sollen gesondert als »Grauzone« betrachtet werden. Eine Osteosynthese ist im metaphysären Bereich der proximalen Tibia sowohl mittels Marknagel als auch mittels Platte zu bewerkstelligen. Bei sehr kurzem proximalem Fragment bzw. sehr proximaler Fraktur kann durch das Einbringen des
1
A
B
C
⊡ Abb. 28.69 Proximale Tibiafrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai 2010)
2
3
817 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Typ I
Typ II
Typ III
Typ I
Typ IV
Typ V
Typ II
Typ VI
⊡ Abb. 28.70 Proximale Tibiafrakturen: Schatzker-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai 2010)
Nagels eine Malunion resultieren. Es dominieren hier v. a. die Flexions- und Extensionsfehlstellungen. Geschlossen reponierte Marknagelosteosynthesen im metaphysären Bereich der proximalen Tibia zeigen eine Malunionrate von bis zu 84% (Higgins 2005). Lässt sich eine achsengerechte Stellung erzielen, so kann die Reposition mittels winkelstabiler Verriegelungsbolzen, aber auch durch Einbringen von Verriegelungsbolzen in mehreren Ebenen (saggital, frontal, schräg) stabilisieren. Pollerschrauben können zusätzlich als Repositionshilfen eingebracht werden. Wir sehen in diesem Skelettabschnitt eher die Indikation für anatomisch vorgeformte Platten, die sich auch minimal-invasiv über einen Zielbügel einbringen lassen. Der Vorteil winkelstabiler Platten zeigt v. a. beim osteoporotischen Knochen. Die Klassifikation nach Schatzker unterscheidet 6 Gruppen mit zunehmendem Schweregrad und damit einhergehender schlechterer Prognose: ▬ Typ I: einfache Spaltbrüche des lateralen Plateaus, typisch bei jungen Patienten ▬ Typ Il: Frakturen mit zusätzlicher Impression des lateralen Plateaus ▬ Typ Ill: Frakturen mit reiner Impression des lateralen Plateaus, die häufigste proximale Tibiafraktur ist die laterale Impressionsfraktur beim älteren Menschen ▬ Typ IV: Frakturen betreffen die mediale Gelenkfläche ▬ Typ V: bikondyläre Frakturen ▬ Typ Vl: Frakturausläufer bis in die meta- bzw. diaphysäre Zone; es resultiert eine Separation der Metaphyse von der Diaphyse Die radiologische Klassifikation der knöchernen Kreuzbandausrisse an der Tibia wurde erstmals 1959 von Meyers beschrieben. Diese Einteilung berücksichtigte jedoch nur die sagittale Ebene. 1977 stellte Zaricznyj eine modifizierte Klassifikation vor.
Typ III
Typ III plus Rotation
⊡ Abb. 28.71 Klassifikation der knöchernen Kreuzbandausrisse. (Aus: Müller-Mai 2010)
Eine Sonderform der Tibiaplateaufraktur ist die SegondFraktur. Sie entspricht einem knöchernen Ausriss des Lig. meniscotibiale laterale bei Flexions-Innenrotations-Trauma und gilt als hochgradig verdächtig für eine begleitende vordere Kreuzbandruptur. Seltener kommt sie auch in Kombination mit einer vorderen und hinteren Kreuzbandruptur vor (Kotter u. Ruter 1997). Die Klassifikation der Weichteilverletzung bei geschlossenen Frakturen nach Tscherne und Oestern sowie die Klassifikation offener Frakturen nach Gustilo und Anderson haben sich durchgesetzt. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die klinische Untersuchung beginnt mit der Anamnese und detailierten Angaben über den Unfallmechanismus, was zum Verständnis der Verletzung erheblich beitragen kann. Direkte und indirekte Frakturzeichen können wichtige Hinweise auf mögliche Weichteilschäden geben (Kontusionsmarken, Blasen, oberflächliche und tiefe Wunden). Eine Kapselverletzung ermöglicht den Austritt eines Hämarthros in die Weichteile. Geschädigte Hautareale sind bei der Operation zu schonen
28
818
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
15°
⊡ Abb. 28.72 Röntgentechnik zur Beurteilung der proximalen Tibiafrakturen
28
(Legen der Inzision). Gegebenenfalls muss der Eingriff bis zur Erholung und/oder Demarkation der Hautläsion verschoben werden. Nerven- und Gefäßstatus sind unerlässlich. Besteht ein klinischer Verdacht auf eine arterielle Verletzung, sollte der Ankle-Brachial-Index (ABI) bestimmt werden. Vor allem C3oder Schatzker-Vl-Frakturen sind mit Arterienverletzungen assoziiert. Beidseits einer supramalleolär angelegten Blutdruckmanschette werden die systolischen Druckwerte über den Aa. tibialis posterior und dorsalis pedis mittels DopplerSonographie gemessen. Darauf folgt die systolische Blutdruckmessung am Oberarm. Schließlich soll folgender Quotient gebildet werden: ABI= höherer der beiden Drucke am Unterschenkel (A. tibialis posterior oder A. dorsalis pedis) [mmHg]/höherer der beiden Drucke am linken oder rechten Oberarm [mmHg] Beträgt der ABI weniger als 0,9, muss eine mögliche Intimaläsion mittels Angiographie ausgeschlossen werden. Auch eine Duplex-Sonographie ist möglich, sofern der Patient entsprechend gelagert werden kann und Erfahrung in der Methodik besteht (Mills et al 2004). > Ein begleitendes Kompartmentsyndrom darf nicht übersehen werden: Polytrauma, Bewusstseinstrübung infolge Trauma, Intubation oder Sedation, pralle Unterschenkelschwellung weisen darauf hin.
Bei berechtigtem Verdacht ist die operative Entlastung vorzusehen. Eine Messung des intrakompartimentalen Drucks dient lediglich der Bestätigung. Über den Wert der Kompartimentdruckmessung gehen in der Literatur die Meinungen auseinander (Sterk et al. 2001). z z Bildgebende Verfahren Die konventionelle Röntgenaufnahme in 2 Ebenen (a.p. und
lateromedial) mit langer Platte ist Standard. Der Zentralstrahl sollte auf die Gelenkebene zielen (⊡ Abb. 28.72). Schrägaufnahmen können zusätzliche Informationen liefern. Eine zweite Ebene kann bei starker Dislokation evtl. nicht realisierbar sein. Eine axiale Patellaaufnahme gehört nicht zum Standard.
Wir sehen die CT heute als Standarduntersuchung und führen diese immer durch. Die Fraktur lässt sich in axialen, koronaren und sagittalen Schichten genau darstellen. Schließlich besteht auch die Möglichkeit der dreidimensionalen Rekonstruktion. Bei komplexen Knieverletzungen mit ossären, ligamentären und kartilaginären Begleitverletzungen liefert das MRT wertvolle Zusatzinformationen, besonders hinsichtlich Meniskus- und Bandverletzungen, weniger jedoch bezüglich der eigentlichen ossären Verletzung (Kode et al. 1994, Yacoubian et al. 2002). Bei klinischem Verdacht auf eine konventionell radiologisch nicht erkannte Tibiakopffraktur (Kniegelenkpunktion mit Hämarthros und Fettaugen) kann das MRT ebenfalls weiterführen. z
Therapie
Tibiakopffrakturen werden in der Regel zur Analgesie und Abschwellung in einer Gipsschiene oder Klettverschlussschiene ruhiggestellt. In der Folge (auf der Notfallstation oder auf der Abteilung) ist in der Akutsituation während mindestens 24 h eine kontinuierliche Kompartimentüberwachung unerlässlich. Bei starker Fehlstellung, Trümmerzone oder Instabilität ist eine Reposition in Analgosedation bzw. eine sofortige Stabilisation mittels Fixateur externe in Narkose notwendig (Typ C, Schatzker-V- und -Vl-Frakturen). z z Konservative Behandlung
Undislozierte, stabile proximale Tibiafrakturen mit intraartikulärer Stufenbildung von weniger als 2 mm und einer Spaltbildung zwischen den Tibiakondylen von weniger als 5 mm können konservativ behandelt werden (Honkonen 1994). Dies ist jedoch beim axial belasteten Kniegelenk selten der Fall. Zudem treten bei extraartikulären Frakturen häufig Sekundärdislokationen durch Zug der inserierenden knienahen Muskulatur auf (⊡ Abb. 28.73). Diese Kräfte können rein durch äußere Schienung nicht aufgefangen werden. Die konservative Therapie muss funktionell sein mit frühzeitiger passiver Mobilisation auf der Motorschiene (»continuous passive motion«, CPM) nach Abklingen der Akutphase und mit Teilbelastung von 10–15 kg an Gehstöcken in einer Klettverschlussschiene während 6–8 Wochen. Während weiteren 6–8 Wochen wird die Belastung bis auf das halbe Körpergewicht gesteigert. Daneben wird eine aktive und passive mobilisierende unbelastete Physiotherapie weitergeführt. > Röntgenkontrollen erfolgen nach 1, 2, 6 und 12 Wochen bei problemlosem Verlauf. Nach 3 Monaten sollten eine freie ROM (»range of motion«) und eine stockfreie Mobilisation erreicht sein.
Bei stark reduziertem Allgemeinzustand mit klarer Operationskontraindikation muss auch bei grundsätzlich operationswürdigen Frakturen eine konservative Behandlung durchgeführt werden, dies ist jedoch selten der Fall. Wir empfehlen hier eine Ruhigstellung mittels zirkulärem Oberschenkelgips, der an den Tibiakondylen gut anmodeliert ist. Auch hier ist eine Teilbelastung unbedingt anzustreben. Zu bevorzugen ist in solchen Fällen jedoch eine Stabilisation mittels Fixateur externe.
819 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
M. plantaris Femur
Epicondylus lateralis femoris
Epicondylus medialis femoris
M. gastrocnemius, Caput mediale
M. gastrocnemius, Caput laterale
M. plantaris Caput Condylus medialis tibiae Arcus tendineus muskuli solei
M. gastrocnemius, Caput mediale
Sehne des M. plantaris
M. soleus M. triceps surae
M. triceps surae
M. gastrocnemius, Caput laterale
M. soleus Sehne des M. plantaris
M. gastrocnemius, Caput laterale
a
⊡ Abb. 28.74a,b Knie mit Pneumarthros, v. a im seitlichen Röntgenbild (a) als Luft-Flüssigkeits-Spiegel zu erkennen
M. gastrocnemius, Caput mediale
»Schutzosteosynthese« zur Verhinderung einer Sekundärdislokation vorzunehmen. Dies erlaubt dann eine funktionelle Nachbehandlung (s. unten).
Tendo calcaneus
Malleolus medialis
Malleolus lateralis
oberes Sprunggelenk
Talus Os naviculare
unteres Sprunggelenk
Os metatarsi I
Tuber calcanei
Calcaneus a
b
b
⊡ Abb. 28.73 Knienah inserierende Muskulatur. Die roten Pfeile entsprechen dem Muskelzug
! Cave Bei offenen proximalen Tibiafrakturen besteht ein hohes Risiko der intraartikulären bakteriellen Kontamination.
Ein Pneumarthros im Röntgenbild bestätigt eine Kommunikation mit dem Gelenk (⊡ Abb. 28.74). Im Zweifelsfall ist die diagnostische Arthroskopie durchzuführen, die gleichzeitig eine Gelenkspülung ermöglicht. Zeitpunkt der Operation
z z Operative Therapie
Die Indikation zur operativen Versorgung besteht bei Instabilität im Fraktur- bzw. Gelenkbereich (Trümmerzone, Impression, Spaltfraktur). Maßgebend ist eine intraartikuläre Stufenbildung von mehr als 2 mm bzw. eine Spaltbildung von mehr als 5 mm. Das genaue Ausmaß der Gelenkimpression, die eine operative Versorgung erfordert, wird unterschiedlich beurteilt. Prognostisch relevant sind Stabilität und Alignement. Simulierte laterale Spalt- und Impressionsfrakturen an Kadavern ergaben bei zunehmender Dislokation eine mediale Belastungszunahme, die sich bei zusätzlicher lateraler Mensikektomie noch steigerte (Bai et al. 2001). Die ossären anatomischen Landmarken und das Alignements sind also zu beachten. Weitere Faktoren, die für eine operative Versorgung sprechen, sind die fehlende Compliance des Patienten und eine allgemeine körperliche Verfassung, die eine Stockentlastung unmöglich macht. So kann es angezeigt sein, selbst bei einer Stufenbildung von weniger als 2 mm eine minimal-invasive
Die notfallmäßige Versorgung mittels Fixateur externe ist klar indiziert bei offener Fraktur, bei Fraktur mit Kompartmentsyndrom sowie bei Fraktur mit Gefäßverletzung. Nach hochenergetischer Krafteinwirkung wird eine postprimäre Osteosynthese bei abgeschwollenen Weichteilen empfohlen (Egol et al. 2005). In allen anderen Fällen besteht über den idealen Zeitpunkt der operativen Versorgung keine Einigkeit (Gruner et al. 2000). Wir versorgen proximale Tibiafrakturen postprimär und erreichen damit beste präoperative Voraussetzungen und Planungsmöglichkeiten. Die intermittierende Stabilisierung erfolgt mit Klettverschlussschiene, dorsaler Gipsschiene oder bei sehr instabilen Verhältnissen (Typ C, Schatzker Vl) mittels gelenküberbrückendem Fixateur externe. Nach 5–10 Tagen ist die posttraumatische Akutphase abgeklungen, was eine operative Versorgung unter guten Bedingungen erlaubt. Die Fältelung der Haut gibt einen guten Hinweis auf den Rückgang des Weichteilödems. Bei polytraumatisierten Patienten bestimmen weitere frakturunabhängige Faktoren den besten Zeitpunkt zur definitiven Versorgung der Fraktur.
28
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Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Zugang
Ein idealer Zugang ermöglicht eine maximale Exposition der Fraktur unter minimaler Devitalisation der Fragmente und Gefährdung der Weichteile. Dabei muss der Schnitt ggf. lokalen Hautverhältnissen angepasst werden. Lappenbildungen sind zu meiden. Der Zugang sollte direkt zum Knochen führen. Längsinzisionen werden anterolateral, anteromedial oder bei bikondylären Frakturen medial gelegt. Diese Inzisionen können, falls notwendig, nach kranial oder kaudal problemlos erweitert werden. Die Verlängerung des anterolateralen Zugangs muss knapp lateral der Tibiavorderkante zur Tibialis-anterior-Loge hin gelegt werden. Die gewählte Inzision sollte auch eine eventuelle spätere prothetische Versorgung des Kniegelenks berücksichtigen. Tipp
I
I
Die Frakturfragmente sollten im Verbund belassen werden (Durchblutung) und die Präparation epiperiostal erfolgen.
28 Bei Versorgung über 2 Schnitte (anterolateral und posteromedial) muss eine genügend breite Hautbrücke von 6–8 cm bestehen. Beim anterolateralen Zugang wird der Tractus iliotibialis in Faserrichtung ventral des Tuberculum gerdii inzidiert und nach ventral und dorsal abgelöst. Damit bleibt die laterale Zuggurtung des Tractus erhalten. Die Einsicht ins Gelenk wird durch submeniskale quere Inzision erreicht. Die Ablösung und Anhebung nach kranial erfolgt so, dass eine Refixation des Meniskus leicht möglich ist. Implantatwahl
Als Osteosynthesematerial an der proximalen Tibia eignen sich Platten. Die modernen Implantate erübrigen eine Doppelplattenosteosynthese. Es sind dies die winkelstabilen Systeme, z. B. die NCB-Platte (»non-contact bridging«) für die proximale Tibia (Zimmer), die LCP (»locking compression plate«, Synthes), das Peri-Loc (»periarticular plating system«, Smith & Nephew) oder die »periarticular proximal tibial locking plate« (Zimmer). Mit diesen Systemen können auch bikondyläre Frakturen solitär von lateral her versorgt werden. Bei den oft schwierigen Weichteilverhältnissen im Bereich der proximalen Tibia ist die unilaterale Fixation, welche die gleiche Stabilität wie die Doppelplattenosteosynthese ermöglicht, von großem Wert (Mueller et al. 2003, Gosling et al. 2004, 2005). Wir sehen die Indikation für winkelstabile Implantate bei osteoporotischem Knochen und v. a. bei Typ-C- bzw. SchatzkerVl-Frakturen. Polyaxiale winkelstabile Platten sind für Frakturen des Tibiaplateaus besonders geeignet, denn sie ermöglichen eine ideale Platzierung der Schrauben im subchondralen Knochen. Für Frakturen vom Typ B bzw. Schatzker l und ll sind reine winkelstabile Platten (»locking plate«) nicht geeignet, da hier eine interfragmentäre Kompression erzielt werden muss. Tipp
I
I
Mittels perkutan eingebrachter 6,5-mm-Zugschrauben unter arthroskopischer Kontrolle lassen sich reine Spaltfrakturen gut stabilisieren.
Im osteoporotischen Knochen werden teils Osteosynthesen mittels Kleinfragmentimplantaten propagiert. Die kleinere Dimension erlaubt eine kranialere Position und eine subchondrale fächerförmige Unterstützung des Plateaus mit 4 Schrauben (TPlatte mit 3,5 mm Radius; Ballmer 2000, Karunaka et al. 2002). Bei Frakturen vom Typ C3 bzw. Schatzker Vl mit Destruktion der Gelenkfläche können Hybridfixateure (Typ Ilizarow) angebracht werden. Die Montage erfolgt im Schaftbereich mittels Apex-Pins (AO-Fixateur) und distal bzw. gelenküberbrückend mittels Ilizarow-Drähten. So kann über Ligamentotaxis eine achsgerechte Reposition erzielt werden. Autologe und allogene Defektauffüllung
Zur Wiederherstellung der korrekten Gelenkkontur muss nach Kompressionsfrakturen das Tibiaplateau angehoben werden. Im Kompressionsbereich entsteht dadurch ein Hohlraum, der bei kleineren Defekten mit autologer Spongiosa aus dem ipsilateralen Beckenkamm aufgefüllt wird. Knochenersatzmaterialien (gefriergetrocknetes Spongiosa-Allograft, bearbeitetes Kollagen, demineralisierte Knochenmatrix, Kalziumphosphat, Kalziumsulfat oder Kombinationen dieser Produkte) ergeben eine dauerhaft bessere anatomische Reposition, als sie mit autologen Spongiosaplastiken erreicht werden kann (Simpson u. Keating 2004, Trenholm et al. 2005, Welch et al. 2003). Neuerdings zeigen auch Titanium-Mesh-Cages vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich Abstützung und Osteointegration (Ostermann et al. 2002). z z Nachbehandlung
Ein entscheidender Vorteil der Osteosynthese gegenüber externen Fixationen ist die volle frühfunktionelle Mobilisation, die nicht vernachlässigt werden darf. Postoperativ werden Drainagen nach 1–2 Tagen entfernt, intraartkuläre Drainagen spätestens nach 24 h. Die passive Kniemobilisation soll auf der Kinetec-Schiene (CPM) unter physiotherapeutischer Anleitung 90° erreichen. Sie beginnt nach Drainagenentfernung unter 10– 15 kg Teilbelastung an Gehstöcken während 6–8 Wochen bis zur ersten radiologischen Kontrolle. Danach wird bei problemlosem Verlauf die Belastung bis auf das halbe Körpergewicht gesteigert. Nach 3 Monaten sollten die stockfreie Mobilisation und eine freie ROM erreicht sein. Die bereits bei Einweisung eingeleitete Thromboseprophylaxe wird für die ganze Zeit der Teilbelastung fortgesetzt (niedermolekulares Heparin oder Marcumar). z
Komplikationen
Tibiaplateaufrakturen sind meist komplexe Verletzungen mit intraartikulärer Beteiligung am tragenden Achsenskelett. Ungenügende präoperative Planung, falsch gewählter Operationszeitpunkt, ungeeigneter Zugang und fehlerhafte Osteosynthese können zu Wundheilungsstörungen und Infektionen führen. Reoperationen und mangelhafte Spätergebnisse sind die Folge. ! Cave Selbst einfache proximale laterale Spaltfrakturen mit geringer Komplikationswahrscheinlichkeit können bei zu weit gefasster konservativer Behandlungsindikation und ungenügender Nachbehandlung sekundär in Valgusfehlstellung abweichen.
821 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Die proximale Tibia ist von einem dünnen Weichteilmantel umgeben. Wundheilungsstörungen sind bei zu früher Operation und noch ungenügend abgeklungener posttraumatischer Akutphase bekannt. Bei ausgedehnten Hautdefekten und prekärer Weichteildeckung soll früh eine plastisch-chirurgische Beurteilung erfolgen, um Art und Zeitpunkt der besten plastischen Deckung festzulegen. Tritt eine Infektion auf, muss chirurgisch débridiert und sämtliche Gelenkkompartimente arthroskopisch gründlich gespült werden. Bakteriologische Abstriche und Gewebeproben sind zu entnehmen. Erst danach wird ein Breitbandantibiotikum eingesetzt, bis die definitive Resistenzprüfung eine gezielte Antibiotikatherapie ermöglicht. Stabile Osteosynthesen müssen belassen werden, lockere Implantate bzw. Implantatanteile sind zu entfernen. Möglicherweise muss die instabil gewordene Montage mit Fixateur externe stabilisiert werden. Bei primärer Anlage eines Fixateur externe ist eine gelenknahe Pinpositionierung zu meiden, da sie zu intraartikulären Infektionen führen kann. So wird auch die Bildgebung im Gelenkbereich erleichtert (Artefakte). Die kontinuierliche Kompartmentdrucküberwachung muss frühpostoperativ eingeleitet werden, um ein Kompartmentsyndrom nicht zu übersehen ( Abschn. 19.6.2). Führt ein ungenügender Halt des Implantats bei komplexen und/oder osteoporotischen Frakturen zu einer frühen postoperativen Frakturdislokation oder entwickelt sich eine zunehmende Fehlstellung mit Kollaps der Gelenkfläche infolge Knochennekrose (Ali et al. 2002), kann eine Korrekturosteotomie oder sogar eine prothetische Versorgung nötig werden. Pseudarthrosen treten v. a. bei komplexen Tibiaplateaufrakturen (AO-Typ C, Schatzker-Typ V und Vl) auf. Pseudarthrosen können aber auch Folge von Infektionen sein. Die Entwicklung einer Arthrofibrose ist nicht selten und kann Folge der Fraktur selbst, aber auch einer ungenügenden Gelenkmobilisation (ROM) im Heilungsverlauf sein. Bei genügender Frakturstabilität (fortgeschrittene Frakturkonsolidation) ist die arthroskopische Arthrolyse mit anschließender stationärer Physiotherapie indiziert, ggf. durch lokale Nervenblockade ergänzt. z
Prognose
Die Langzeitprognose ist v. a. von der Stabilität des Gelenks und weniger von der Gelenkstufe abhängig. Konservativ behandelte proximale Tibiafrakturen haben bei strenger Selektion (Stufe <2 mm, Spaltbildung <5 mm, geringe Achsenabweichung) eine sehr gute Prognose. Die Frakturen sind primär stabil und kaum disloziert. Bei einer Varus-Valgus-Instabilität in voller Streckung von weniger als 10° konnten exzellente Langzeitergebnisse nach 20 Jahren in 90% der Fälle festgestellt werden. Nach operativer Versorgung hängt die Langzeitprognose auch von mehreren vorbestimmten Faktoren (Alter, Osteoporose, vorbestehende arthrotische Veränderungen) ab. Wie weiter oben beschrieben unterscheiden sich auch die Frakturtypen je nach Alter. Zudem sind ältere Menschen weniger in der Lage, adäquat zu entlasten (Ali et al. 2002). Studien zeigen, dass 44% der Patienten mit proximalen Tibiafrakturen nach 7,6 Jahren eine Gonarthrose entwickeln. Der
Prozentsatz steigt auf 74% nach zusätzlicher Meniskektomie an (Honkonen 1994, Weigel u. Marsh 2002).
28.2.9
Tibiaschaftfrakturen
P. Baumann z
Epidemiologie
Tibiaschaftfrakturen gehören zu den häufigsten Frakturen der langen Röhrenknochen. Dabei sind Männer deutlich häufiger betroffen als Frauen. Zudem zeigt sich in der Inzidenz eine unterschiedliche Altersverteilung bezüglich der Geschlechter. Bei Männern beträgt das durchschnittliche Alter bei einer Tibiaschaftfraktur 31 Jahre, Frauen dagegen weisen ein deutlich höheres Durchschnittsalter von 54 Jahren auf (Court-Brown u. McBirnie 1995, Emami et al. 1996). z
Ätiologie und Pathogenese
Da die Tibia relativ dicht unter der Haut liegt, sind Tibiaschaftfrakturen vergleichsweise häufig offene Verletzungen. Außerdem weisen sie meist eine mehr oder weniger ausgeprägte Verletzung des Weichteilmantels auf (größere Prellmarken, Hautablederungen usw.). Court-Brown und McBirnie publizierten 1995 eine prozentuale Verteilung des Frakturmusters bei unterschiedlichen Traumaereignissen bei insgesamt 523 Tibiaschaftfrakturen. Nach ihren Daten stellen Verkehrsunfälle sowie Sportunfälle mit über 65% die häufigsten Ursachen von Tibiaschaftfrakturen dar. Insgesamt waren von diesen 523 Tibiaschaftfrakturen 23,5% offene Frakturen (⊡ Tab. 28.11). Aufgrund der oben beschriebenen Lage der Tibia in Bezug auf die Weichteile sind Verletzungen des Weichteilmantels sehr häufig. Dabei müssen Schwellungen, Ausmaß möglicher Hämatome sowie die Integrität der Haut sehr genau untersucht werden. > Bei jeder Tibiaschaftfraktur müssen die Weichteile, die Sensibilität und periphere Motorik sowie die arterielle Durchblutung äußerst genau dokumentiert und kontrolliert werden!
Die Beurteilung des Weichteilmantels ist die wichtigste klinische Untersuchung bei einer Tibiaschaftfraktur! Court-Brown u. McBirnie (1995) beschrieben die Inzidenz von offenen Frakturen in Bezug auf das Traumaereigniss (⊡ Tab. 28.12). Bei Verkehrsunfällen sind Gustilo-Typ-III-Verletzungen besonders häufig. Besonderes auf die Entwicklung eines Kompartmentsyndroms ist zu achten. Es tritt insgesamt bei Tibiaschaftfrakturen häufiger auf als bei anderen Frakturen. Dabei ist das Tibialisanterior-Kompartiment am häufigsten betroffen. Klinisch muss daher immer ein Kompartmentsyndrom ausgeschlossen werden. Zudem müssen Patienten mit einer Tibiaschaftfraktur insbesondere in den ersten Tagen regelmäßig diesbezüglich klinisch evaluiert werden. z
Klassifikation
Die Einteilung der Tibiaschaftfrakturen erfolgt gemäß der Empfehlung der AO in 42.A, B und C. Die weitere Unterteilung
28
822
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
⊡ Tab. 28.11 Inzidenz sowie Frakturtypen von Tibiaschaftfrakturen entsprechend AO-Klassifikation in Abhängigkeit von der Ursache. (Nach Court-Brown u. McBirnie 1995) Ereignis
Inzidenz [%]
Mittleres Alter
Typ A
Typ B
Typ C
Sturz
17,8
57,4
62,0
27,2
10,9
Sturz (Treppe)
2,5
48,5
76,9
23,1
–
Sturz (Höhe)
6,2
34,2
46,8
28,1
25,0
Sport
30,9
23,5
76,2
18,7
5,0
Gewalteinwirkung
4,5
29,5
69,6
21,7
8,7
PKW-Unfälle
37,5
39,8
30,9
34,0
35,0
⊡ Tab. 28.12 Inzidenz und Frakturtypen (nach Gustilo) von offenen Tibiaschaftfrakturen in Abhängigkeit von der Ursache. (Nach Court-Brown u. McBirnie 1995)
28
Ereignis
Inzidenz [%]
Mittleres Alter
Typ I
Typ II
Typ III
Sturz
9,8
71,3
11,1
44,4
44,4
Sturz (Treppe)
7,7
59,0
–
100,0
–
Sturz (Höhe)
53,1
37,0
35,3
17,6
47,1
Sport
4,4
23,0
28,6
42,8
28,6
Gewalteinwirkung
30,4
31,4
14,3
57,1
28,6
PKW-Unfälle
40,7
43,2
17,7
10,1
72,2
erfolgt in 3 Gruppen und 3 Subgruppen. A-Frakturen sind einfache Brüche, B-Frakturen sind Brüche mit Biegekeil, CFrakturen sind komplexe Frakturen (⊡ Abb. 28.75). z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
In der klinischen Untersuchung sollen initial besonders die Weichteile beurteilt werden. Offene Frakturen sind nicht selten und müssen frühzeitig steril zugedeckt werden, um eine weitere Kontamination während der Untersuchung zu verhindern! Es empfiehlt sich, die offenen Verletzungen während der primären Untersuchung zu fotografieren, sodass der sterile Verband nicht wieder geöffnet werden muss. Es gilt zudem, schwerwiegende Begleitverletzungen wie Gefäß- und Nervenschäden frühzeitig zu erkennen. > Eine genaue neurologische Untersuchung der betroffenen Extremität sowie eine Kontrolle der Pulsstationen (A. femoralis, A. poplitea sowie A. tibialis und A. dosalis pedis) gehört zur Basisdiagnostik. Da Tibiafrakturen ein erhöhtes Risiko zur Entwicklung eines Kompartmentsyndroms aufweisen, müssen die Gefahren frühzeitig erkannt werden. z z Bildgebende Verfahren
Als Standartprojektionen müssen eine laterale sowie eine a.p.Aufnahme des Unterschenkels durchgeführt werden. Bei dista-
len und proximalen Frakturen sollen zudem die Sprunggelenke bzw. die Kniegelenke abgebildet sein, um mögliche intraartikuläre Frakturausläufer oder Begleitfrakturen der angrenzenden Gelenke nicht zu übersehen. CT und MRT sind nur in seltenen Fällen nötig. Besteht jedoch der Verdacht auf eine Gefäßverletzung, sollte so bald wie möglich eine angiographische Abklärung erfolgen. z
Therapie
Die offene Unterschenkelfraktur stellt eine absolute Operationsindikation dar. Geschlossene Frakturen sollen mittels Klettverschlussschiene bis zur Operation ruhiggestellt werden. Dabei ist besonders auf den sehr dünnen Weichteilmantel über der anteromedialen Tibia zu achten. z z Konservative Therapie
Zwar können die meisten Tibiaschaftfrakturen mittels Gipsruhigstellung zur Abheilung gebracht werden, dies widerspricht jedoch den Zielen einer funktionellen Frakturbehandlung. Die konservative Behandlung beschränkt sich deshalb auf undislozierte, isolierte Tibiaschaftfrakturen (v. a. im Kindesalter). Die Therapie erfolgt im Oberschenkelgips für 4–5 Wochen. Nach 4 Tagen wird die dorsale Gipsschiene zirkularisiert. Bei älteren Kindern und Jugendlichen wird nach 2 Wochen auf einen Sarmiento-Gips umgestiegen. Eine Röntgenkontrolle erfolgt nach 8 Tagen, bei Fehlstellungen kann eine Gipskeilung erfolgen. Bei Kindern mit noch genügender Wachstumspotenz werden Va-
28
823 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
1
2
3
A > 30°
< 30°
B
C
⊡ Abb. 28.75 Tibiaschaftfrakturen: AO-Klassifikation. (Aus: Müller-Mai 2010)
rusfehlstellungen bis zu 10° akzeptiert, Rotationsfehler müssen primär vermieden werden. Im erwachsenen Alter sehen wir die Indikation bei isolierten Tibiafrakturen sowie bei Unterschenkelfrakturen Typ A2 und A3 mit einer Fehlstellung bis zu 5°, ein Rotationsfehler sollte möglichst vermieden werden. Hier erfolgt die Ruhig-
stellung im Oberschenkelgips für 4–6 Wochen mit weiteren 6 Wochen im Unterschenkelgehgips. Die Thromboembolieprophylaxe (niedermolekulares Heparin oder Marcumar) beginnt bei Spitaleinweisung und dauert für die Zeit der Ruhigstellung im Gips. Sarmiento und Mitarbeiter (1995) berichten in einer Serie von über 943 Fällen von über 1% »non-union« und 10%
824
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
»malunion« nach Behandlung geschlossener Tibiaschaftfrakturen mittels Unterschenkel-Brace. Hauptprobleme der konservativen Behandlung sind die Möglichkeit der Verkürzung und der Achsenabweichung in Varus- und Valgusfehlstellung (Martinez et al. 2003). z z Operative Therapie
Spiral- und Schrägfrakturen und solche mit Trümmerzonen sollten operativ versorgt werden.
der Fraktur mittels Zange. Die Plattenlage wird auf ihren korrekten Sitz (epiperiostal!) geprüft. Bei guter Knochensubstanz (junge Patienten) genügt eine konventionelle Platte. Winkelstabile Implantate werden eher für Frakturen mit Trümmerzonen und Ausläufern in die metaphysäre Zone und bei osteoporotischem Knochen eingesetzt. Die Platten sind unter dem dünnen Hautmantel meist gut zu tasten, dies lässt die Schraubenbesetzung einfach zu. Gegebenenfalls kann ein Bildverstärker hilfreich sein. Bei Gelenkbeteiligung muss der Gelenkblock anatomisch rekonstruiert werden.
Zeitpunkt der Operation
Geschlossene Frakturen sollten notfallmäßig definitiv stabilisiert werden, falls es die Weichteile erlauben, um die Kontinuität wieder herzustellen. Bei akutem Kompartmentsyndrom besteht eine absolute Indikation zur Faszienspaltung und Frakturstabilisation. Tipp
28
I
I
Falls es die Weichteile erlauben, empfehlen wir eine definitive Osteosynthese, anderenfalls muss eine temporäre Stabilisation mittels Fixateur externe erfolgen.
Offene Frakturen bedeuten eine absolute Notfallindikation. Entsprechend der Einteilung nach Gustilo und Anderson können offene Frakturen bis Grad ll, die eine genügende Weichteildeckung ermöglichen, definitiv versorgt werden (Marknagel, Platte, Fixateur externe). Bei offenen Grad-lll-Frakturen besteht keine Einigkeit (Gaebler et al. 2001, Joshi et al. 2004, Finkemeier et al. 2000, Keating et al. 1997, 2000). Bei Grad-lllAFrakturen (Weichteilsituation erlaubt eine Deckung) wird sowohl ein definitives Vorgehen mittels »limitierter« aufgebohrter Marknagelung sowie auch eine Plattenosteosynthese akzeptiert, ggf. muss eine laterale Plattenlokalisation unter der Muskulatur (Extensorenloge) gewählt werden, um eine genügende Deckung des Osteosynthesematerials zu ermöglichen. lllB- und lllC-Frakturen zeigen stark geschädigte Weichteile bzw. Gefäß- und Nervenverletzungen. Hier ist eine primäre Deckung nicht möglich bzw. eine Intervention an den verletzten Gefäß- und Nervenstrukturen ist nötig. Es muss schnell eine Beurteilung durch plastische Chirurgen erfolgen, um Art und Zeitpunkt der besten plastischen Deckung zu bestimmen (Gopal et al. 2000). Alternativ muss ein stufenweises Vorgehen erfolgen: Fixateur-externe-Stabilisation und chirurgisches Débridement, erst sekundär nach 5–7 Tagen wird die plastische Deckung durchgeführt. Plattenosteosynthese
Die Indikation für Plattenosteosynthesen sehen wir v. a. im Bereich der proximalen und distalen Tibiafrakturen. Besonders am Unterschenkel mit dünnem Weichteilmantel eignet sich die minimal-invasive Technik. Die Hautinzision für den anteromedialen Zugang zur Tibia wird ca. 1 cm lateral der Tibiavorderkante und bogenförmig um den medialen Malleolus eingezeichnet. Auf dieser Linie wird eine Inzision jedoch nur auf Höhe des Innenknöchels und der Fraktur gesetzt. Die Platte wird von distal epiperiostal hochgeschoben. Die proximale Inzision dient zunächst der Reposition und Fixation
Marknagelung
Der operative Zugang erfolgt über einen subpatellaren Hautschnitt, der Nageleintrittspunkt befindet sich in der Verlängerung der vorderen Tibiakante in der anteroposterioren Projektion. Je nach anatomischer Gegebenheit wählen wir einen paraligamentären Zugang, sonst wird transligamentär auf den Nageleintrittspunkt eingegangen. Dieser liegt im seitlichen Strahlengang direkt auf der Schulter der proximalen ventralen Tibia. Zur korrekten Nagellage muss der Führungsdraht mittig im Markkanal liegen und senkrecht zum oberen Sprunggelenk stehen. Trümmerzonen können das Auffädeln des distalen Segments erschweren, bei Etagenfrakturen muss das mittlere, freie Drittel fixiert werden, um ein Mitrotieren mit der Bohrwelle zu vermeiden. Als Repositionshilfe können bei proximalen Frakturen Pollerschrauben eingebracht werden, um den Nagel in die gewünschte Richtung zu lenken. Tipp
I
I
Muss mit Schwierigkeiten bei längerer Entlastung der Extremität gerechnet werden, kann die Indikation zur Marknagelung erweitert werden (älterer, polytraumatisierter Patient).
Fixateur externe
Der Fixateurs externe findet seine Verwendung v. a. zur temporären Stabilisation bei offenen Frakturen. Die Hauptgefahr der temporären Stabilisation durch Fixateur externe ist die Infektion des Markraums. Sie ist Indikation für eine Konversion auf eine Marknagelosteosynthese. Allgemein akzeptiert ist ein Zeitintervall von maximal 14 Tagen, innerhalb dem die Konversion auf eine Osteosynthese mit Marknagel oder Platte erfolgt sein muss (Blachut et al. 1990). Bei Verzögerung von mehr als 2 Wochen steigt das Infektionsrisiko an. Hier sollte nach Entfernung des Fixateurs eine definitive Osteosynthese nach 5–7 Tagen bzw. bei reizlos abgeheilten Pinstellen erfolgen. Eine temporäre Stabilisation in einer Gipsschiene ist möglich. Am Beispiel von Femurfrakturen (Nowotarski et al. 2000) und von Tibiafrakturen (Antich-Adrover et al. 1997) konnte dies gezeigt werden. Eine definitive Ausbehandlung im Fixateur externe (unilateraler Fixateur, der eine sekundäre Dynamisierung der Fraktur zulässt) ist ebenfalls möglich. Die Indikation sehen wir bei queren bzw. kurzen Schrägfrakturen. Pin Lockerungen und Infektionen sind die häufigsten Komplikationen und werden bis zu 50% angegeben (Henley et al. 1998).
825 28.2 · Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
z z Evidenz und Kontroversen
Tibiafrakturen sind häufig, dennoch gehen die Meinungen über die ideale operative Versorgung auseinander. Mit der Weiterentwicklung von Implantaten (z. B. winkelstabile Marknägel und Platten) konnte die Wahl von Platten oder Nägeln überlappend nach proximal und distal ausgedehnt werden. So kommt die Marknagelosteosynthese bis weit in den metaphysären Raum infrage, also ins Indikationsgebiet der Plattenosteosynthesen, und zwar in minimal-invasiver Technik. Wir sehen im Schaftbereich die Indikation zur Marknagelosteosynthese und im metaphysären Bereich zur Plattenosteosynthese. Die Implantatwahl im Detail bleibt subjektiv. Um dieser etwas arbiträren Situation entgegen zu wirken, haben Coles und Gross (2000) versucht, Klarheit zu schaffen. Sie verglichen 13 prospektive Studien (895 Tibiafrakturen: Gips, Plattenosteosynthese, Marknagel aufgebohrt und unaufgebohrt) über einen Zeitraum von 30 Jahren. Klare Richtlinien konnten nicht definiert werden, sodass weitere randomisierte Arbeiten notwendig sind! Es stellt sich zudem die Frage, wann bei kompletten Unterschenkelfrakturen die Fibula mitversorgt werden muss. Bei Tibiafrakturen des mittleren Drittels erzeugt eine zusätzliche Fibulaosteotomie eine vermehrte Frakturinstabilität. Nach Applikation eines Fixateur externe erhöht die Verplattung der Fibula die Stabilität dieser dynamischen Montage signifikant, was nach Marknagelung der Tibia nicht zutrifft (Weber et al. 1997). Auch im distalen metaphysären Unterschenkelbereich erzeugt die zusätzliche Osteosynthese der Fibula eine erhöhte Stabilität (Strauss et al. 2007). Neben diesen Studien über kadaverischen Modellosteosynthesen haben auch klinische Studien gezeigt, dass 12 Wochen nach Marknagelosteosynthese einer Unterschenkelfraktur bei zusätzlicher Stabilisation der Fibula ein geringerer Repositionsverlust und seltener Valgusfehlstellungen zu beobachten sind (Egol et al. 2006, Kumar et al. 2003). Wir führen nur bei distalen Unterschenkelfrakturen bzw. wenn zusätzlich zur Tibiaschaftfraktur auch eine distale Fibulafraktur besteht eine simultane Stabilisation der Fibula durch. Einerseits kann die oft einfachere Fibulafraktur eine Repositionshilfe v. a. bezüglich Länge und Rotation darstellen, andererseits zeigt die zusätzliche Fibulaosteosynthese eine erhöhte Stabilität (Strauss et al. 2007, Egol et al. 2006). Die verbesserte Stabilität und v. a. der Schutz vor Fehlstellungen wirken sich bei Marknagelosteosynthesen der distalen Tibia viel deutlicher aus als nach Plattenosteosynthesen. Bei Unterschenkelschaftfrakturen (Frakturen auf gleicher Höhe) verzichten wir auf eine zusätzliche Osteosynthese der Fibula, da die rigide »Rahmenbildung« zwischen Tibia und Fibula die erwünschte Dynamik behindert und zu Pseudarthrose führt. Weiter ist der N. peronaeus superficialis im Operationsgebiet gefährdet. > Distale Unterschenkelfrakturen bedürfen einer Osteosynthese beider Knochen, wenn die Fibulafraktur innerhalb einer Handbreite proximal des oberen Sprunggelenks liegt.
Die Kontrolle der Reposition (Alignement, Rotation) ist etwas erschwert bei Marknagelosteosynthese im Vergleich zur Plattenosteosynthese (Janssen et al. 2007). Laut Nork und Mitarbei-
tern (2006) kann das Problem der Repositionskontrolle durch zusätzliche temporäre oder definitive intraoperative Maßnahmen (z. B. zusätzliche Platte) gut beherrscht werden. Wir stellen in einem solchen Fall (proximale Fraktur) die Indikation für einen Marknagel infrage, da durch eine wenig invasive Plattenosteosynthese eine korrekte Reposition erzielt werden kann und kein kombinierter Schaden der knöchernen Durchblutung im Markraum und periostal besteht. Ein weiteres kontrovers betrachtetes Thema ist das Aufbohren des Markraums bei der Marknagelosteosynthese. Die aufgebohrte Marknagelosteosynthese geschlossener Unterschenkelfrakturen führt zu einer rascheren Frakturheilung ohne erhöhte Komplikationsrate im Vergleich zur unaufgebohrten Osteosynthese (Finkemeier et al. 2000, Larsen et al. 2004). Bezüglich Marknagelung offener Unterschenkelfrakturen konnte gezeigt werden, dass bis Grad ll nach Gustilo und Anderson die unaufgebohrte Marknagelosteosynthese unproblematisch ist, Gradlll-Frakturen hingegen sollten nicht mittels intramedullärem Kraftträger stabilisiert werden (Joshi et al. 2004). Keating und Mitarbeiter (1997) stellten keinen signifikanten Unterschied bezüglich Frakturheilung, Reposition und Infektion zwischen aufgebohrten und unaufgebohrten Marknägeln bei der Versorgung offener Unterschenkelfrakturen fest. Einziger Unterschied war ein gehäufter Schraubenbruch bei unaufgebohrten Nägel. Einer weiteren Arbeit zufolge weist die Plattenosteosynthese von Tibiaschaftfrakturen eine Pseudarthroseninzidenz von 2,6% auf. Vergleichend dazu beträgt die Rate 8% bei aufgebohrtem Marknagel und 16,7% mit unaufgebohrtem Marknagel. Die Inzidenz nach konservativer Versorgung im Gips zeigt eine Pseudarthrosenrate von 17,2% (Coles u. Gross 2000)! Bezüglich Infektion betrug die Inzidenz 9% nach Plattenosteosynthese, 2,9% nach aufgebohrtem Nagel und 0,5% nach unaufgebohrtem Nagel. Die Osteomyelitisrate war in allen Gruppen vergleichbar. z
Komplikationen
Etwa 1–13% der Unterschenkelfrakturen zeigen erhöhte intrakompartimentelle Werte (Gaebler et al. 2001). Vor allem bei Unterschenkelverletzungen, die nicht primär operativ angegangen oder nicht sofort notfallmäßig operiert werden, muss ein engmaschiges Überwachungsschema gewährleistet werden. > Auch postoperativ muss eine osteosynthetisierte Unterschenkelfraktur (Marknagelung oder Platte) bezüglich Kompartimentdruck engmaschig monitorisiert werden.
Die Infektrate nach operativer Stabilisation einer geschlossenen Tibiafrakturen darf die durchschnittliche Infektrate von elektiven orthopädischen Eingriffen (1,5% [Cruse u. Foord 1980] und 3,3% [Huotari u. Lyytikainen 2006]) nicht übersteigen! Die Marknagelung geschlossener Tibiafrakturen zeigt Infektrate von 0–4%. In einer vergleichenden Studie konnte gezeigt werden, dass eine zusätzliche offene Frakturreposition bei Marknagelungen eine leicht erhöhte Infektionsinzidenz zeigt (Bone u. Johnson 1986). Die Versorgung offener Frakturen zeigt eine steigende Infektrate mit zunehmendem Schweregrad der Fraktur. Eine noch knapp tolerable Infektrate von 0–7% wird für
28
826
28
Kapitel 28 · Erkrankungen und Verletzungen von Kniegelenk und Unterschenkel
Frakturen Grad l–lllA angegeben. lllB-Frakturen zeigen bereits eine Infektrate von 10–50% und lllCFrakturen 25–50%. Die Plattenosteosynthese von geschlossenen Tibiafrakturen zeigt eine Infektrate, die mit der Marknagelung verglichen werden kann. Genaue Literaturangaben fehlen, da der Indikationsbereich nicht identisch ist. Bezüglich der Entstehung von Pseudoarthrosen muss die Situation am Unterschenkel gesondert betrachtet werden, da die Tibia über einen Drittel der Zirkumferenz nur von einer dünnen Hautschicht bedeckt und in diesem Bereich eine suboptimale Durchblutung aufweist. Das Durchblutungsminimum besteht am Übergang des mittleren zum distalen Drittel der Tibia. Der vordere Knieschmerz (»anterior knee-pain«) nach Marknagelosteosynthese der Tibia wird in bis zu 60% der Fälle angegeben (Katsoulis et al. 2006). Eine weitere Arbeit wies eine Inzidenz von 67% nach (Vaisto et al. 2005). Oft wird jedoch eine Schmerzlinderung nach Osteosynthesematerialentfernung angegeben (Vaisto et al. 2007). Als Ursache gelten unter anderem die Lokalisation der Hautinzision und Protrusion des Nagels nach kranial (z. T. nach Dynamisation des Nagels). Der transligamentäre Zugang zur proximalen Tibia als Ursache wird kontrovers diskutiert. Wir bevorzugen den paraligamentären Zugang. z
Prognose
Die Prognose von Schaftfrakturen, die keine Gelenkbeteiligung aufweisen, ist gut. Nach vollständiger Abheilung der Fraktur können Implantatassoziierte Beschwerden bestehen (z. B. auftragende Platte, Verriegelungsbolzen nach Marknagel, vorderer Knieschmerz).
I
Tipp
I
Wir empfehlen generell bei jüngeren, aktiven Patienten sowie bei störendem Osteosynthesematerial eine Entfernung desselben nach frühestens 18 Monaten.
28.2.10
Distale Tibiafrakturen
Die Therapie der distalen Tibiafrakturen ist in Abschn. 29.3 beschrieben.
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28
29
Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen M. Handel, F.X. Köck, H. Durst, A. Rukavina, J. Grifka
29.1
Diagnostik
29.1.1 29.1.2 29.1.3
Klinische Untersuchung – 832 Bildgebende Verfahren – 833 Nomenklatur der Bewegungen in den Fußgelenken
29.2
Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
29.2.1 29.2.2 29.2.3 29.2.4 29.2.5 29.2.6
Vorfuß – 835 Rückfuß – 846 Komplexe Fußdeformitäten – 854 Fußdeformitäten bei rheumatoider Arthritis Diabetisches Fußsyndrom – 862 Oberes Sprunggelenk – 866
29.3
Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen – 873
29.3.1 29.3.2 29.3.3 29.3.4 29.3.5 29.3.6
Verletzungen der Zehen und Sesambeine – 873 Verletzungen des Mittelfußes – 875 Verletzungen der Fußwurzel – 884 Verletzungen am oberen Sprunggelenk – 894 Achillessehnenruptur – 908 Akutes Kompartmentsyndrom des Fußes – 911
Literatur
– 832
– 833
– 835
– 858
– 914
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
832
29.1
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Diagnostik
M. Handel, F.X. Köck, J. Grifka Der Fuß sollte immer auch als Teil der gesamten kinetischen Kette der unteren Extremität gesehen werden, die daher in den Untersuchungsgang einbezogen werden muss. So kann sich beispielsweise ein Spitzfuß in Folge einer Beinlängendifferenz entwickeln. Teilweise muss der Fuß pathologische biomechanische Achsen kompensieren. Darüber hinaus können sich am Fuß Zeichen einer metabolischen, zirkulatorischen, neurologischen oder dermatologischen Erkrankung des Gesamtorganismus manifestieren.
29.1.1
29
Klinische Untersuchung
Es sollte, wie bei der orthopädischen Untersuchung üblich, auch am Fuß die Reihenfolge Anamnese, Inspektion, Palpation, Funktionsprüfung und Messungen eingehalten werden. Häufig kann aufgrund der typischen Beschwerdeschilderung im Rahmen einer sorgfältigen Anamnese bereits eine Verdachtsdiagnose gestellt werden. Die Inspektion sollte das barfüßige spontane Gehen beinhalten und danach ggf. zusätzlich den Zehenspitzengang und den Fersengang. Es werden die Beckenstellung, Bein- sowie Rückfußachsen, Fuß- und Zehenform, Muskelvolumina sowie die plantare Beschwielung beurteilt. Zusätzlich sollten das Schuhwerk des Patienten und dabei insbesondere die Abnützung der Sohle sowie evtl. vorhandene Einlagen in Augenschein genommen werden. Daneben gilt es, die Haut- und Hautanhangsgebilde (Nägel) zu inspizieren. Plantare Hyperkeratosen geben Hinweise auf eine chronische, lokale Überlastung. Druckstellen finden sich häufig über knöchernen Prominenzen (Exostosen). Trockene, rissige Haut (Rhagaden) und Ulzerationen weisen auf mögliche Stoffwechselstörungen (Diabetes mellitus) und eine Neuropathie hin. Mykosen finden sich am häufigsten zwischen 4. und 5. Zehe. Bei der Palpation werden die einzelnen anatomischen Strukturen abgetastet, die abhängig von der Erkrankung druckschmerzhaft sein können. Hier werden insbesondere die potenziell pathologisch veränderten Sehnenansätze, Gelenke und Bänder des Fußes systematisch palpiert. Durch Palpation des Fußes werden auch Ödeme und Durchblutungsstörungen (Rekapillarisierungszeit und Fußpulse) diagnostiziert. Die Sensibilität kann grob palpiert oder differenzierter durch einfache Hilfsmittel wie Tasthaaruntersuchung (Sennes-Weinstein-Monofilament) zur Prüfung der Oberflächensensibilität, Stimmgabel (nach Rydell-Seiffer) zur Prüfung der Tiefensensibilität und Warm-Kalt-Prüfung (Tip-Therm) genauer abgeklärt werden. Bei der Überprüfung der Funktionen können die Bewegungsausmaße einzelner Gelenke gemessen und insbesondere mit der ggf. gesunden Gegenseite verglichen werden. Die Bewegungsausmaße im oberen Sprunggelenk (Dorsalextension/ Plantarflexion), unteren Sprunggelenk (Eversion/Inversion), im Großzehengrundgelenk (Extension/Flexion) und des Vorfußes
gegenüber dem Rückfuß (Supination/Pronation) werden üblicherweise nach der Neutral-Null-Methode in Grad der Beweglichkeit dokumentiert. Der Bandapparat wird auf Stabilität geprüft. Ein vorderes Schubladenphänomen (Talusvorschub) beim Nach-vorneZiehen des Kalkaneus gegenüber der Tibia weist z. B. auf eine Insuffizienz des Lig. fibulotalare anterius, eine laterale Aufklappbarkeit auf eine Insuffizienz des Lig. fibulocalcaneare bei OSG-Instabilität hin. Falls bei verstärktem Fersenvalgus und Abflachung des Fußlängsgewölbes im Zehenspitzenstand keine Rückfußvarisierung mit entsprechender Ausbildung eines normalen Längsgewölbes zustande kommt, ist dies Zeichen einer Insuffizienz der Tibialis-posterior-Sehne. Der Fußwurzelverwringungsschmerz weist auf Arthrose im Bereich der Fußwurzelgelenke bzw. des Mittelfußes hin. > Prinzipiell gilt für den gesamten Untersuchungsgang, dass die Untersuchung im Seitenvergleich erfolgen muss.
Ein systematischer Untersuchungsablauf ist in ⊡ Tab. 29.1 exemplarisch dargestellt.
⊡ Tab. 29.1 Systematischer Ablauf einer klinischen Untersuchung des Fußes mit typischen Befunden Anatomischer Bereich
Typische Befunde
Achillessehne
Unauffällig, verdickt (Lokalisation), druckschmerzhaft
Paraachilläre Gruben
Unauffällig, verstrichen
Knöchelrelief
Unauffällig, verplumpt, diffuse Schwellung
Gelenkspalt OSG ventral
Schwellung, druckschmerzhaft (Lokalisation)
Fersenregion
Unauffällig, Druckschmerz plantar mittig, Druckschmerz über dem Tuber mediale calcanei (Druckschmerzprovokation bei Dorsalextension der Großzehe und Palpation der Plantarfaszie medial mit Einstrahlung am Kalkaneus), Druckschmerz dorsal
Längsgewölbe
Navikulare als doppelter Knöchel prominent, Gewölbehöhe, Palpationsschmerz
Amphiarthrosen
Verwringungsschmerz
Vorfuß
Metatarsalia (Druckschmerz), Quergewölbe (unauffällig, Spreizfuß), Mittelfußköpfchen (Pseudoexostose, plantare Druckschmerzhaftigkeit, Hyperkeratosen), Zehengrundgelenke (frei beweglich, geschwollen, schmerzhaft)
Zehenabgang
Gradstellung, Zehendeformitäten, Superduktusstellungen
Hallux
Unauffällig, H. valgus (Position der Zehenplatte: pronatorische Aufdrehung des Nagels), H. malleolus
833 29.1 · Diagnostik
29.1.2
Bildgebende Verfahren
Die konventionelle Röntgenuntersuchung stellt immer noch die Standardbildgebung in der orthopädischen Untersuchung des Fußes dar. Sie hat die höchstmögliche Ortsauflösung und kann damit selbst kleinste knöcherne Pathologien nachweisen. Spezialaufnahmen (z. B. Sesambeinaufnahme, Fußwurzelschrägaufnahme, Broden-Aufnahmen) können sonst überlagerte Gelenke frei projizieren. Aufgrund des schlechten Kontrasts ist die Röntgenaufnahme für die Untersuchung des Weichgewebes weniger geeignet. Indirekt können aber z. B. Bandstrukturen durch gehaltene Funktionsaufnahmen beurteilt werden. Achsenabweichungen können Hinweise auf funktionelle und strukturelle Pathologien geben. Zur Beurteilung statischer Veränderungen sind Aufnahmen unter Belastung erforderlich (z. B. Aufnahmen der Vorfüße dorsoplantar im Stehen zeigen das Ausmaß des Spreizfußes; ⊡ Abb. 29.1). Die Arthrographie hat wegen des guten Auflösungsvermögens der Magnetresonanztomographie deutlich an Bedeutung verloren. Zudem bietet die MRT weitergehende Informationen (s. unten). Für die Dokumentation einer gesicherten intraartikulären Lage für medikamentöse Injektionen (z. B. Chemosynoviorthese des oberen Sprunggelenks) oder Gelenkfisteldarstellungen wird sie noch gelegentlich durchgeführt. Durch die Computertomographie können Frakturen weiter abgeklärt werden, die aufgrund von Überlagerungen mit konventioneller Röntgenuntersuchung nur unzureichend dargestellt werden (z. B. Kalkaneusfrakturen und Verletzungen im Bereich der Lisfranc-Gelenklinie). Die Sonographie hat eine hohe Kontrastauflösung, erlaubt die freie Ebenenwahl, eine dynamische Untersuchung, ist kostengünstig, ohne Strahlenbelastung und schnell verfügbar. Degenerative Veränderungen und Rupturen von Sehnen sowie
⊡ Abb. 29.1 Anfertigung einer Belastungsaufnahme beider Vorfüße dorsoplantar im Stehen
der Bänder am oberen Sprunggelenk, Synovialitis und Erguss können gut dargestellt werden. Des Weiteren wird sie für bildgesteuerte Punktionen genutzt. Zahlreiche Bildartefakte (z. B. Mehrfachreflexionen an Grenzschichten) müssen jedoch bei der Beurteilung der Aufnahmen berücksichtigt werden. Die Magnetresonanztomographie hat sowohl eine hohe Ortsauflösung als auch einen hohen Weichteilkontrast. Durch Zugabe von Kontrastmitteln können darüber hinaus Pathologien im Stoffwechsel (z. B. Entzündungen, avaskuläre Nekrosen, Frakturen, Osteomyelitis) dargestellt werden. Die Schichtebenen können frei gewählt und abhängig von der verwendeten Untersuchungssequenz können unterschiedliche Gewebe (z. B. Gelenkknorpel, degenerative Veränderungen im Sehnengewebe) kontrastiert werden. Knochenmarködeme werden sehr sensitiv dargestellt. Bei hoher Sensitivität (z. B. bei Osteochondrosis dissecans) sollte jedoch beachtet werden, dass relativ häufig durch falsch positive Befunde Pathologien vorgetäuscht werden. Mithilfe der Skelettszintigraphie können stoffwechselaktive Prozesse wie Infektionen und Neoplasien sehr sensitiv dargestellt werden.
29.1.3
Nomenklatur der Bewegungen in den Fußgelenken
H. Durst, A. Rukavina Es besteht eine große Unsicherheit betreffend der korrekten Bezeichnung der Bewegungen des Fußes. Es ist allerdings unabdingbar, dass diese Begriffe einheitlich verwendet werden, um Missverständnissen bei der Besprechung orthopädischtraumatologischer Krankheitsbilder vorzubeugen. Wir verwenden in diesem Fachbuch die anatomische Nomenklatur, die sich am Koordinatensystem der Neutral-NullMethode am stehenden Fuß orientiert (Debrunner 1998): ▬ Dorsalextension/Plantarflexion (⊡ Abb. 29.2): Bewegung fußrückenwärts (Dorsalextension) bzw. fußsohlenwärts (Plantarflexion); wird (hauptsächlich) um die Gelenkachse des oberen Sprunggelenks ausgeführt und analog zu den Bewegungen der Hand bezeichnet. ▬ Abduktion/Adduktion (⊡ Abb. 29.3): Wegführen/Heranführen von der bzw. zur Längsachse des Fußes, wenn eine Zehe gemeint ist, und von der bzw. zur Körpermitte, wenn die Stellung des gesamten Fußes gemeint ist (z. B. Pes adductus). ▬ Außen-/Innenrotation (⊡ Abb. 29.4): Rotationsstellungen des Fußes bezogen auf die Längsachse der Tibia. ▬ Varus-/Valgusstellung des Rückfußes (⊡ Abb. 29.5): Abknickung der vertikalen Kalkaneusachse gegenüber der Unterschenkelachse. ▬ Supination/Pronation (⊡ Abb. 29.6): Verdrehungen des Fußes um seine Längsachse bei Neutralstellung im OSG (rechtwinklige Stellung der Fußsohle zur Unterschenkelachse). Es ist darauf zu achten, dass die Beweglichkeit nur im USG erfolgt und nicht in den Amphiarthrosen. – Supination = Heben des medialen Strahls – Pronation = Senken des medialen Strahls
29
834
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Eversion Inversion
e hs Ac G US
dorsal
dorsal
dorsal plantar
plantar
plantar
⊡ Abb. 29.2 Bewegung fußrückenwärts (Dorsalextension); Messung streng an der Kalkaneusauflagefläche, um nicht den verstärkten Bewegungsausschlag aus den Amphiarthrosen zu messen.
n
Abduktio
medial
29
se -Ach USG tation Innenro
Adduk tio
n
Fußlängsachse Außenro tation
Adduktion
lateral
Abd
ukt
ion
⊡ Abb. 29.3 Abduktion/Adduktion: Wegführen und Heranführen z. B. einer Zehe von der bzw. zur Längsachse des Fußes
⊡ Abb. 29.4 Rotationsstellung des Fußes bezogen auf die Längsachse der Tibia; beachte auch den schrägen Verlauf der Gelenkachse des unteren Sprunggelenks
lateral
⊡ Abb. 29.5a–c Rückfußansicht von hinten. a Physiologisch-valgische Rückfußstellung (ca. 6°), schwer klinisch abzuschätzen, b Varusstellung des Rückfußes, c Valgusstellung des Rückfußes (ca. ab 10° valgus)
a
⊡ Abb. 29.6a-c Supination/Pronation. a Physiologische Stellung, b Supination = Heben des medialen Strahls, c Pronation = Senken des medialen Strahls
a
medial
lateral
medial
lateral
b
b
medial
c
c
835 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
▬ Inversion/Eversion: Kombination aus verschiedenen Bewegungen um die (schräge) Achse des unteren Sprunggelenks: – Inversion = Hebung des medialen Fußrands + Adduktion + Supination der subtalaren Fußplatte – Eversion = Senkung des medialen Fußrands + Abduktion + Pronation der subtalaren Fußplatte
29.2
Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
M. Handel, F.X. Köck, J. Grifka
29.2.1
Vorfuß
Hallux valgus z
Definition
Achsenabweichung der Großzehe im Grundgelenk nach lateral (⊡ Abb. 29.7). Im Allgemeinen wird ein Winkel zwischen der Achse des Metatarsale I und der Grundgliedachse über 20° als pathologisch angesehen. Zum Vollbild der Erkrankung gehören zusätzliche Symptome wie Druckstellenbildung am prominenten medialen Metatarsaleköpfchen (Pseudoexostose) sowie Grundgelenkschmerzen (⊡ Abb. 29.7 u. ⊡ Abb. 29.8). z
⊡ Abb. 29.7 Ausgeprägter Hallux valgus mit prominenter Pseudoexostose und pronatorische Aufdrehung der Großzehe (an Nagelplatte deutlich sichtbar), Verdrängung der Nachbarzehen nach lateral
Ätiologie und Pathogenese
Am häufigsten entsteht ein idiopathischer Hallux valgus auf Basis einer Spreizfußdeformität. Der Einfluss von Schuhwerk auf die Entstehung des Hallux valgus konnte nachgewiesen werden, ebenso eine familiäre Häufung der Deformität. Als Ursache einer Hallux-valgus-Fehlstellung werden das gemeinsame Auftreten von Hallux valgus und Knick-Platt-Fuß ebenso kontrovers diskutiert wie die Bedeutung einer Hypermobilität des ersten Mittelfußstrahls mit Instabilität des Tarsometatarsalgelenks. Letztere ist in der Praxis schwer zu objektivieren (⊡ Abb. 29.9). Knapp 50% der Hallux-valgus-Deformitäten entstehen bereits vor dem 20. Lebensjahr. Da kein intrinsischer Muskel direkt am Metatarsale-I-Köpfchen ansetzt, ist es sehr anfällig für extrinsische Kräfte, wie z. B. durch einengendes Schuhwerk. Beim Auseinanderweichen der Metatarsalia kommt es zu einem vergrößerten Intermetatarsalewinkel zwischen dem ersten und zweiten Strahl von über 10°. Die weitere Folge ist eine Dezentrierung der Beugesehnen mit Sesambeinkomplex. Der Sehnenzug zur Fußmitte führt zur progredienten Subluxation bis Luxation des Sesambeinkomplexes mit pronatorischer Verdrehung der Großzehe und Subluxation bis hin zur Luxation im Großzehengrundgelenk. Tipp
I
⊡ Abb. 29.8 Röntgenaufnahme des Vorfußes im dorsoplantaren Strahlengang im Stehen mit eingezeichnetem Intermetatarsalwinkel von 20°. Die Aufnahme zeigt einen ausgeprägten Spreizfuß mit Hallux valgus (Hallux-valgusWinkel 42°)
I
Die sog. »pronatorische Aufdrehung« ist ein pathognomonisches Zeichen für die Progredienz der Achsenabweichung – die Stellung der Nagelplatte sollte daher bei der klinischen Untersuchung beachtet werden.
⊡ Abb. 29.9 Instabilität des Tarsometatarsale-IGelenks mit inkongruenter Gelenkstellung
29
836
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Im fortgeschrittenen Stadium ist die Fehlstellung kontrakt, d. h. passiv nicht mehr ausgleichbar. Der Gelenkknorpel am Metatarsale-I-Köpfchen, der nicht mehr von der Basis des Grundglieds überdeckt wird, atrophiert; der mediale Köpfchenanteil wird prominent (Pseudoexostose). Häufig bildet sich dort eine Druckstelle mit Bursitis. Seltenere Formen entstehen auf Basis einer rheumatischen Destruktion des Vorfußes. Auch nach traumatischer Gewebezerstörung (z. B. Ruptur des medialen Kapsel-Band-Komplexes oder des medialen Zügels der kurzen Beugesehne) kann ein Hallux valgus entstehen. Sehr selten ist der angeborene Hallux valgus als Fehlbildung sowie der erworbene neurogene Hallux valgus (spastisch oder paralytisch). z Therapie z z Konservative Therapie
29
Ziel der konservativen Therapie des Hallux valgus ist lediglich eine Linderung der Symptome durch Druckentlastung. Die konservative Behandlung mit Zügelung, Nachtlagerungsschienen, Einlagenversorgung des Senk-Spreiz-Fußes sowie mit speziellen Orthesen wirkt nur, solange die Hilfsmittel angelegt bleiben. Eine anhaltende Verbesserung des Hallux-valgusWinkels ist allenfalls im Wachstumsalter (Groiso 1992) oder nach frischen Traumen möglich. Eine dauerhafte Korrektur kann in der Regel nur operativ erzielt werden. z z Operative Therapie
Die operative Korrektur erfolgt abhängig von der Lokalisation der Pathologie, der Ausprägung der Fehlstellung (Intermetatarsalewinkel), der für eine Verschiebung zur Verfügung stehenden Breite des distalen Metatarsale I, dem Zustand des Gelenks, der Grundgelenkkongruenz und der Stabilität des Tarsometatatarsale-I-Gelenks. Bei einer Achsabweichung in der Großzehe selbst (Hallux valgus interphalangeus) wird eine korrigierende, medialbasige Keilosteotomie nach Akin (⊡ Abb. 29.10) durchgeführt. Bei normwertigem Intermetatarsalewinkel (bis 10°) kann ein reiner distaler Weichteileingriff durchgeführt werden: Beim lateralen Sesambein-Release wird die laterale Gelenkkapsel des Grundgelenks eröffnet und die kapsuläre Verbindung vom lateralen Sesambein zum Metatarsale I vollständig abgelöst. Optional kann zusätzlich der Sehnenansatz des M. adductor hallucis am lateralen Sesambein sowie an der Basis des Grundglieds abgelöst werden. Nach Abtragung von überstehendem Knochen im Bereich der Pseudoexostose folgt eine mediale Kapselraffung zur Rezentrierung des Sesambeinkomplexes unter dem Metatarsale-I-Köpfchen. Zusätzlich kann eine Sicherung der Annäherung des ersten an das zweite Mittelfußköpfchen durch eine Faden-Cerclage zwischen der lateralen MTP-I- und der medialen MTP-II-Gelenkkapsel erfolgen. > Bei einer weichteilig nicht ausgleichbaren Vergrößerung des Intermetatarsalewinkels (IMW) wird zusätzlich zur Weichteilkorrektur eine knöcherne Umstellung des Metatarsale I durchgeführt.
Bei geringgradig vergrößertem IMW (ca. 10–15°) bietet sich eine weniger invasive distale Korrekturosteotomie des Metatarsale I,
a
b
⊡ Abb. 29.10a,b Akin-Osteotomie. a Hallux valgus interphalangeus präoperativ, b nach Akin-Osteotomie (Osteosynthese mit Doppelgewindeschraube)
z. B. nach Austin in Form eines Chevrons (»V«), an (⊡ Abb. 29.11). Hierbei wird das Köpfchen um 4–8 mm lateralisiert und zumeist mit einer Schraube fixiert. Die distale knöcherne Korrektur kann auch minimal-invasiv in der Technik nach Kramer ohne Eröffnung des Großzehengrundgelenks erfolgen (Kramer 1990). Die perkutane Kirschner-Draht-Stabilisierung bildet mit der lateralen Weichteilspannung eine Zuggurtung. Nachteil bei diesem Verfahren ist eine geringere Stabilisierung der Fragmente und eine ungenauere Kontrolle über das Ausmaß der Verschiebung. Mittelgradig vergrößerte IMW bis ca. 19° können gut mit einer diaphysären langstreckigen Osteotomie des Metatarsale I (MT I) als sog. Scarf-Osteotomie (⊡ Abb. 29.12) korrigiert werden (Barouk 2000). Höhergradige Abweichungen mit einem IMW über 20° bedürfen in der Regel einer basisnahen Korrekturosteotomie (⊡ Abb. 29.13) oder einer Korrekturarthrodese des Tarsometatarsale-I-(TMT-I-)Gelenks nach Lapidus, welche insbesondere bei Hypermobilität dieses Gelenks durchgeführt wird (⊡ Abb. 29.14). Osteosynthesen im Bereich der MT-I-Basis oder des TMT-IGelenks werden aufgrund der großen mechanischen Belastung in letzter Zeit zunehmend häufiger mit einer winkelstabilen Plattenosteosynthese stabilisiert. Bei größeren Achsenabweichungen oder einer zusätzlichen Fehlstellung des Gelenkwinkels im Großzehengrundgelenk sind ggf. auch Mehrfachosteotomien erforderlich. Diese sind allerdings aufwendiger und anfällig für Durchblutungs- und damit Heilungsstörungen. Chevron-Osteotomie
Das operative Vorgehen bei Chevron-Osteotomie, optional mit zusätzlicher basisnaher »Open-wedge«-Osteotomie als Doppelosteotomie, empfiehlt sich wie folgt: Hautschnitt mediodorsal von der Grundgliedbasis bis einschließlich des distalen Drittels des Metatarsale I über die Pseudoexostose. Bei vorhandener Bursa erfolgt nun die Bursektomie. Darstellung der medialen Kapsel des Großzehengrundgelenks. Längsinzision der Kapsel vom proximalen Ende der Grundphalanx bis über das komplette Metatarsaleköpfchen (MTK I) von medial. Abpräparieren der Kapsel vom MTK I medial und partiell nach dorsal an der
837 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
a
b
⊡ Abb. 29.11a,b Chevron-Osteotomie. a Hallux valgus präoperativ, b nach distaler Metatarsale-I-Osteotomie und zusätzlicher Verkürzung des Metatarsale II durch Weil-Osteotomie
a
b
⊡ Abb. 29.12 Scarf-Osteotomie. a Röntgenaufnahme Vorfuß d.p. im Stehen präoperativ, b nach Scarf-Osteotomie
a
b
⊡ Abb. 29.13a,b Basisnahe Korrekturosteotomie. a Röntgenaufnahme eines Spreizfußes d.p. im Stehen mit ausgeprägtem Hallux valgus, b nach durchgeführter basisnaher Korrekturosteotomie am Metatarsale I (Osteosynthese durch variabel winkelstabile Platte) und zusätzlicher Akin-Osteotomie im Grundglied
a
b
⊡ Abb. 29.14a,b Hallux valgus bei TMT-I-Instabilität. a Röntgenaufnahme eines Hallux valgus bei Instabilität des Tarsometatarsale-I-Gelenks, b nach Korrekturarthrodese des Tarsometatarsale-I-Gelenks nach Lapidus mit winkelstabiler Plattenosteosynthese und additiver AkinOsteotomie im Bereich des Grundglieds mit Fadenosteosynthese
Grundphalanxbasis. Die Weichteile werden dorsal im Bereich der Metaphyse vom Knochen unter Schonung der in das Köpfchen einsprossenden Gefäße (Cave: Köpfchennekrose!) nach lateral abgeschoben. An der Lateralseite des Köpfchens wird der Kapsel-Periost-Komplex vorsichtig im Bereich der späteren Osteotomie abgeschoben, um eine spätere Verschiebung des Köpfchens nach lateral zu ermöglichen. Die Pseudoexostose wird durch sparsame Resektion tangential abgetragen. Es folgt das laterale »Sesambein-Release«: Unter Distraktion und Subluxation des Gelenks kann nun die laterale Gelenkkapsel quer von dorsal bis in Gelenkmitte durchtrennt werden, die laterale Kapsel wird knapp oberhalb des Sesambeins horizontal durchtrennt. Eine Ablösung des M. adductor hallucis vom lateralen Sesambein ist nur selten erforderlich. Bei rigidem Gelenk muss dieses »Release« ggf. über einen separaten Zugang erfolgen. Nun wird ein 1,4-mm-Kirschner-Draht von medial nach lateral, leicht nach plantar abfallend durch das MTK I eingebohrt. Unter Hohmann-Hebelschutz wird nun mit der oszillierenden Säge dachfirstartig entlang des eingebohrten Kirschner-Drahts zunächst nach dorsal proximal und dann etwa im 70°-Winkel nach proximal-plantar osteotomiert. Nach Entfernung des Drahts wird das Köpfchen vorsichtig mobilisiert (Cave: Fraktur des Köpfchens!). An dieser Stelle kann – falls erforderlich – durch Resektion eines kleinen Knochenkeils am Vertikalschnitt des proximalen Metatarsale I eine Medialverkippung des Köpfchens zur Korrektur des Gelenkflächenwinkels erreicht werden (⊡ Abb. 29.15a,b). Danach wird das MTK I um 4–8 mm nach lateral verschoben. ! Cave Die Verschiebestrecke sollte jedoch weniger als die Hälfte der knöchernen Auflagefläche betragen (Cave: Gefahr des Abkippens des Köpfchens!).
Das verschobene MTK I kann nun durch einen temporär eingebohrten Kirschner-Draht fixiert werden (⊡ Abb. 29.15c).
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Bei großem Intermetatarsalewinkel kann optional zusätzlich eine basisnahe Osteotomie ca. 1 cm proximal des Tarsometatarsale-I-Gelenks durchgeführt werden, die mittels kleinem Meißel vorsichtig geöffnet wird (⊡ Abb. 29.15d). Diese aufklappende Osteotomie wird üblicherweise durch eine kleine winkelstabile Platte fixiert (⊡ Abb. 29.15e). Bei Durchführung dieser Osteotomie ist darauf zu achten, dass die laterale Kortikalis nicht komplett durchtrennt wird, damit sie als Scharnier
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⊡ Abb. 29.15a–h Operationssitus einer distalen Chevron-Osteotomie am Metatarsale I mit Korrektur des Gelenkflächenwinkels und zusätzlicher basisnaher »Open-wedge«Osteotomie. Zur Beschreibung der einzelnen OP-Schritte siehe Text
beim vorsichtigen Öffnen der Osteotomie dient und somit das Metatarsale I auf das Metatarsale II zurotiert werden kann. Bei der distalen Osteotomie empfiehlt sich die Fixation mit einer von dorsal eingebrachten und nach distal gerichteten Schraube (z. B. versenkte Doppelgewindeschraube, ⊡ Abb. 29.15f). Der verbleibende, knöcherne Überstand am Metatarsale I wird nun mit der Säge abgetragen (⊡ Abb. 29.15g). Die Gelenkkapsel wird keilförmig in Richtung des medialen Sesambeins so-
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weit ausgeschnitten, wie es dem Korrekturwinkel entspricht, und vernäht, sodass die Zehe abschließend achsengerecht steht (⊡ Abb. 29.15h). Eine übermäßige Spannung ist zu vermeiden, da sie eine Arthrofibrose im Grundgelenk begünstigt. Nun sollte die Zehe ohne mediale Abweichungstendenz bis ca. 50° nach dorsal extendiert werden können. Es folgt die Einzelknopfhautnaht. Zur Nachbehandlung von Osteotomien bedarf es einer Entlastung des Vorfußes bis zur Dauer der knöchernen Konsolidierung von üblicherweise 6 Wochen im Vorfußentlastungsschuh. Bis zum Abschluss der Narbenheilung im Bereich der distalen Weichteilkorrektur sollte die Zehe für ca. 8–12 Wochen in achsengerechter Stellung mittels Bandage oder Pflasterzügel gehalten werden. Die tägliche aktive und passive Beübung der Beweglichkeit im Großzehengrundgelenk durch axiale Mobilisation beugt Bewegungseinschränkungen durch postoperative Vernarbungen (Arthrofibrose) vor. Die operative Behandlung führt mit hoher Zuverlässigkeit zu einer Zufriedenheit der Patienten mit Beschwerdefreiheit oder zumindest deutlicher Beschwerdebesserung, wenn der postoperative Reizzustand nach üblicherweise 3 Monaten abgeklungen ist. Trnka berichtet für ein Kollektiv von 100 Patienten 5 Jahre nach Chevron-Osteotomie mit distaler Weichteilkorrektur in 87% gute und sehr gute Resultate (Trnka 1997). Dabei korreliert aber das Ausmaß der Zufriedenheit nicht mit der erreichten Korrektur. In einigen Fällen kommt es zu einem Korrekturverlust, insbesondere dann, wenn es bei der Operation nicht gelungen ist, den Sesambeinkomplex spannungsfrei unter dem Metatarsaleköpfchen zu rezentrieren. Tipp
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I
Nach vollständigem Lösen der kontrakten Kapselanteile zwischen lateralem Sesambein und Metatarsale I sowie nachfolgender Osteotomie sollte das MTK I über den Sesambeinkomplex geschoben und nicht etwa der Sesambeinkomplex unter das Köpfchen gezogen werden. Dies gelingt zumeist besser, wenn lediglich ein Kapsel-Release durchgeführt wird und der Sehnenansatz des M. adductor hallucis am lateralen Sesambein belassen bleibt. Dieser kann dann nach medialer Kapselraffung eine lateralisierende Zugwirkung auf das MTK I ausüben. Bei einem zusätzlichen Hallux valgus interphalangeus sollte in der Regel eine additive Akin-Osteotomie erfolgen.
Zu einem Hallux varus kommt es gelegentlich auch durch Überkorrektur nach Hallux-valgus-Operation oder in Folge einer versehentlichen partiellen Durchtrennung der kurzen Beugesehne. Die operative Therapie besteht aus einem medialen Kapsel-Release und einer lateralen Kapselraffung kombiniert mit einer hälftigen Tenodese der Extensor-hallucis-longusSehne an der lateralen Grundgliedbasis. Bei traumatischer oder iatrogener Durchtrennung des lateralen Beugesehnenzügels sollte der Versuch einer Rekonstruktion unternommen werden. Gelingt dies nicht, so kann eine Arthrodese des Großzehengrundgelenks erforderlich werden.
Hallux rigidus z
Definition
Bei einer Einschränkung der Großzehengrundgelenksbeweglichkeit spricht man vom Hallux limitus, bei einer weitgehenden Aufhebung der Beweglichkeit (Einsteifung) vom Hallux rigidus. Ursachen hierfür sind in der Regel dorsal gelegene Osteophyten am Metatarsale-I-Köpfchen und an der Basis des Grundglieds sowie Kontrakturen (insbesondere des M. flexor hallucis brevis), die im Rahmen einer Arthrose des Großzehengrundgelenks entstehen. z Therapie z z Konservative Therapie
Mit krankengymnastischer Beübung versucht man durch Gelenkmobilisation unter Traktion sowie mit manualtherapeutischen Griffen die Gelenkkontrakturen aufzudehnen und zu lösen. Durch eine Schuhzurichtung mit partieller Sohlenversteifung und einer Ballenrolle wird die schmerzauslösende Dorsalextension im Grundgelenk beim Gehen reduziert. Alternativ kann dies auch mittels einer starren Einlagenversorgung (sog. Rigidusfeder) durchgeführt werden. z z Operative Therapie Bei der Cheilektomie werden die störenden Osteophyten so-
wohl am Metatarsale-I-Köpfchen als auch am Grundgelenk
Die Korrektur einer Hallux-valgus-Fehlstellung durch Resektionsinterpositionsarthroplastik nach Keller-Brandes sollte heutzutage nur noch beim alten Patienten mit schlechter Knochenqualität und geringem Funktionsanspruch sowie bei gleichzeitiger Arthrose oder entzündlicher Destruktion des Gelenks erfolgen.
Hallux varus Selten ist eine Achsenabweichung der Zehe nach medial (Hallux varus) als kongenitale Deformität anzutreffen. Ursache ist zumeist eine übersehene Ruptur des lateralen Zügels der kurzen Großzehenbeugesehne im Rahmen eines Distorsionsunfalls (z. B. beim Beach-Volleyball; ⊡ Abb. 29.16).
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⊡ Abb. 29.16a,b Hallux varus. a Mit beginnender Arthrose des Metatarsophalangeale-I-(MTP-I-)Gelenks, b nach Korrektur durch Arthrodese des MTP-I-Gelenks und Weichteilkorrektur am MTP-II-Gelenk mit temporärer Fixation des zweiten Strahls
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
entfernt. Zum Teil wird vom Köpfchen dorsal bis zu einem Drittel des Gelenkbogens reseziert, wenn hier kein Knorpel mehr vorhanden ist, um eine freie Dorsalextensionsfähigkeit zu erreichen. Teilweise können hiermit, insbesondere bei noch erhaltenem Gelenkknorpel, gute mittelfristige Ergebnisse erzielt werden. Easley und Mitarbeiter (1999) berichten über 90% Patientenzufriedenheit nach 5 Jahren. Bei der Resektionsinterpositionsarthroplastik nach KellerBrandes wird etwa ein Drittel der Länge von der Grundgliedbasis reseziert und ein Kapsellappen in das Neogelenk interponiert. Nachteil ist die Verkürzung des ersten Strahls verbunden mit einer Abschwächung der Kraftübertragung. Hierdurch kann es postoperativ zu Metatarsalgien an den benachbarten Metatarsaleköpfchen und zu Hyperextensionsfehlstellung der Großzehe (insbesondere bei versehentlicher Durchtrennung der langen Beugesehne) kommen.
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> Heute wird die Resektionsinterpositionsarthroplastik eher bei älteren und weniger aktiven Patienten empfohlen.
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Einen anderen Ansatz verfolgt die Verkürzungsosteotomie am MTK I (z. B. in der Technik n. Watermann, Green). Dadurch kann der Druck auf das Gelenk bei noch erhaltenem Gelenkknorpel vermindert werden. Hierbei kann es jedoch zu verschiedenen Komplikationen wie avaskulärer Nekrose des Metatarsale-I-Köpfchens, Transfermetatarsalgien und Pseudarthrosen kommen. Kilmartin (2005) beschreibt entsprechend nur einen relativ geringen Anteil mit 54% vollständig zufriedengestellten Patienten nach 15 Monaten. Bei weitgehend freier Beugefähigkeit kann durch eine dorsalextendierende Osteotomie im Bereich der Grundgliedbasis der Bewegungsbogen zugunsten von mehr Dorsalextension verschoben werden. Kilmartin (2005) beschreibt hierfür eine etwas höhere Patientenzufriedenheit von 65% nach durchschnittlich 29 Monaten. Funktionell gute Langzeitresultate können durch eine Arthrodese des Großzehengrundgelenks in leichter Dorsalextensions- und physiologisch leichter Valgusstellung erzielt werden (⊡ Abb. 29.17). Die volle Kraftübertragung über den ersten Strahl kann dabei erhalten bleiben. Voraussetzung ist ein intaktes Interphalangealgelenk, das ein Abrollen des ersten Strahls nach Einsteifung des Grundgelenks ermöglicht. Die Nachbehandlung mit 6-wöchiger Entlastung (Vorfußentlastungsschuh) und anschließend mindestens 6-wöchiger Abstützung mittels Sohlenversteifung und Ballenrolle ist jedoch aufwendiger. > Die Arthrodese des Großzehengrundgelenks wird trotz der aufgehobenen Gelenkfunktion insbesondere für jüngere und aktive Patienten bevorzugt.
Goucher und Mitarbeiter (2006) beschrieben eine Patientenzufriedenheit von 96% nach durchschnittlich 16 Monaten, eine knöcherne Durchbauungsrate von 92% bei Verwendung einer Kompressionsschraube und nahezu 100% bei zusätzlicher dorsaler Platte zur Osteosynthese. Die Pseudarthrosenrate kann jedoch abhängig von der Art der Osteosynthese deutlich höher liegen: Bei Osteosynthese mithilfe von Kirschner-Drähten und einer Drahtnaht beschreiben O’Doherty und Mitarbeiter (1990) eine Pseudarthrosenrate von 44%.
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⊡ Abb. 29.17a–d Hallux rigidus. a Ausgeprägte Osteophytenbildungen ummauern das arthrotisch veränderte Großzehengrundgelenk beim Hallux rigidus. b Zustand nach Arthrodese mit einer speziellen Metatarsophalangeale-I-Gelenkarthrodesenplatte. c Das d.p.-Röntgenbild des Vorfußes zeigt Gelenkspaltverschmälerung, osteophytäre Randzackenbildung, verstärkte subchondrale Sklerosierung und Entrundung der Gelenkfläche als Zeichen einer fortgeschrittenen Arthrose im Bereich des Großzehengrundgelenks. d Postoperatives Röntgenbild mit Platten- und zusätzlicher Kompressionsschraubenosteosynthese der Arthrodese
Großzehengrundgelenkarthrodese mit dorsaler winkelstabiler Platte
Das arthrotisch veränderte Großzehengrundgelenk wird durch einen dorsalen Zugang (Längsinzision medial der Extensorhallucis-Sehne) dargestellt (⊡ Abb. 29.18a). Die Osteophyten werden abgetragen (⊡ Abb. 29.18b). Über einen zentral in die
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⊡ Abb. 29.18a–i Operationsablauf einer Großzehengrundgelenkarthrodese. Zur Beschreibung der einzelnen OP-Schritte siehe Text
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
z
Therapie
Die konservative Therapie durch Redressionsmaßnahmen ist nur im Wachstumsalter indiziert. Danach gilt die Operation nach Jones (Suspensionsarthroplastik) als Standardprozedur: Das Interphalangealgelenk wird in achsengerechter Stellung versteift, die Sehne des M. extensor hallucis longus wird distal abgelöst, durch einen Bohrkanal im Metatarsale I gezogen und unter Spannung auf sich selber vernäht.
Digitus quintus varus z
Synonym
Bunionette-Deformität z
⊡ Abb. 29.19 Revision einer gelockerten Großzehengrundgelenkendoprothese
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Grundgliedbasis eingebohrten Führungsdraht wird die Sklerose mittels einer konvexen Fräse partiell abgetragen (⊡ Abb. 29.18c). Mit einer konkaven Fräse erfolgt nun das Abtragen der Sklerosezone am ersten Mittelfußköpfchen in derselben Weise (⊡ Abb. 29.18d). Noch vorhandene sklerotische Areale werden mit einem Bohrer oder kleinem Meißel angefrischt, sodass die Spongiosa an möglichst vielen Stellen eröffnet wird (⊡ Abb. 29.18e). Nun werden die Arthrodesenflächen in der gewünschten Stellung (ca. 10–15° Valgusstellung und ca. 20° Dorsalextension des Grundglieds in Bezug zur Metatarsale-I-Schaftachse) aufeinandergepresst und temporär mittels Kirschner-Draht fixiert. (Optional kann über diesen Draht nun eine kanülierte Schraube eingebracht werden.) Dann wird eine winkelstabile Platte zur Großzehengrundgelenksarthrodese aufgelegt und temporär fixiert (⊡ Abb. 29.18f). Nach Kontrolle der Plattenlage (⊡ Abb. 29.18g) werden die Schraubenlöcher besetzt (⊡ Abb. 29.18h). Nach abschließender Bildwandlerkontrolle (⊡ Abb. 29.18i) wird die Streckerhaube über der Platte vernäht. Abschließend erfolgt die Hautnaht. Endoprothesen des Großzehengrundgelenks erzielen zumeist nur eine sehr geringe Restbeweglichkeit und zeigten in einer randomisierten Studie bei höherer Komplikationsrate ein vergleichbares funktionelles Ergebnis wie eine Arthrodese (Gibson 2005). Sie haben sich daher bisher im Allgemeinen nicht bewährt (⊡ Abb. 29.19). Für Hemiprothesen wurden jedoch in einzelnen Studien auch hohe Patientenzufriedenheiten von bis zu 95% im Langzeitverlauf beschrieben (Townley 1994).
Hallux malleus z
z
Therapie
Wenn es für den Patienten nicht möglich ist, ausreichend weites Schuhwerk zu benutzen, sind operative Verfahren indiziert. Bei einer Superduktusstellung ohne verbreiterten Vorfuß sind Sehnentransferoperationen möglich (z. B. Transfer der langen Strecksehne auf den M. abduktor digiti minimi). Bei Bursitis am Metatarsale-V-Köpfchen kann die Bursektomie und die Abtragung der Pseudoexostose eine geringe Verschmälerung des Vorfußes bringen. Für größere Korrektureffekte kommen knöcherne Umstellungsosteotomien mit Medialisierung des distalen Metatarsale V zum Einsatz (⊡ Abb. 29.20).
Krallenzehe und Hammerzehe z
Definition
Diese Begriffe werden in der deutschsprachigen Literatur häufig synonym verwendet. Wichtig für die Therapie ist die Unterscheidung, ob das proximale, distale oder beide Interphalangealgelenke eine Beugefehlstellung aufweisen und ob eine flexible oder kontrakte Fehlstellung vorliegt. Die Autoren verwenden den Begriff Krallenzehe, wenn eine Überstreckung, Subluxation oder Luxation im Zehengrundgelenk bei Beugung im Zehenmittelund Zehenendgelenk vorliegt. Bei der Hammerzehe zeigt meist das Zehenmittelgelenk eine Beugefehlstellung bei Streckung im Zehenendgelenk. Bei der selteneren distalen Hammerzehenfehlstellung liegt eine isolierte Beugefehlstellung im Zehenendgelenk bei gestrecktem Zehenmittelgelenk (PIP-Gelenk) vor. Durch die Fehlstellung der Zehe in der Sagittalebene kommt es zu Druckproblemen im Schuh und Klavusbildung (⊡ Abb. 29.21).
Definition
Kombinierte Hyperextensionsstellung im Großzehengrundgelenk mit Beugefehlstellung im Interphalangealgelenk. z
Definition
Der Digitus quintus varus ist das Pendant zum Hallux valgus an der Kleinzehe: Es besteht eine Achsenabweichung der fünften Zehe nach medial, häufig zusammen mit einem vergrößerten Intermetatarsalewinkel IV–V. Oft vergesellschaftet mit einer chronischen druckbedingten Bursitis lateral am Metatarsale-V-Köpfchen. Bei starker Ausprägung kommt es häufig zu einer Superductusstellung über die vierte Zehe (Digitus quintus varus superductus).
Ätiologie und Pathogenese
Übergewicht der extrinsischen (M. flexor hallucis longus) gegenüber der intrinsischen (M. flexor hallucis brevis) Muskulatur.
z
Ätiologie und Pathogenese
Oft wird zu enges Schuhwerk, teilweise zusammen mit überlangen Zehen als Ursache gesehen. Häufig ist jedoch eine muskuläre Dysbalance mit Übergewicht der extrinsischen gegenüber der intrinsischen Zehenbeugemuskulatur für die Ausbildung verantwortlich.
843 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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⊡ Abb. 29.20a,b Digitus quintus varus. a Röntgenaufnahme eines Senk-Spreiz-Fußes mit Digitus quintus varus beidseits, b Zustand nach Durchführung einer Scarf-Umstellungsosteotomie am Metatarsale V beidseits
von entzündlichen Destruktionen der Sehnen und Gelenke zu derartigen Veränderungen. z
⊡ Abb. 29.21 Ausgeprägte Hammerzehen Dig. II und Dig. III, Superduktusstellung Dig. III über Dig. II, Klavusbildung über dem kontrakten PIP-2-Gelenk bei rheumatischer Vorfußdeformität. Deutlicher Hallux valgus mit pronatorischer Aufdrehung als Nebenbefund
> Es sollte in jedem Fall nach einer neurologischen Ursache gefahndet (diabetische Polyneuropathie, hereditäre sensomotorische Neuropathie etc.) und diese ggf. bei der Therapie berücksichtigt werden.
Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer Ruptur der Beugesehnenplatte in Höhe des Grundgelenks mit deutlicher Progredienz der Fehlstellung. In Folge der Krallenzehenfehlstellung steigt die Druckbelastung des Metatarsaleköpfchens mit entsprechenden Schmerzen im Sinne einer Metatarsalgie. Bei Patienten mit rheumatoider Arthritis kommt es aufgrund
Therapie
Ist die Fehlstellung passiv ausgleichbar, kann gelenkerhaltend ein Transfer der langen Beugesehne auf die Streckerhaube in Höhe des Grundglieds nach Girdlestone-Taylor dauerhaft die Fehlstellung beseitigen. Kommt es lediglich im Schuhwerk zur flexiblen Krallenzehenfehlstellung, weil die Zehe wegen relativer Überlänge zur Großzehe im Schuh anstößt, so kann eine Verkürzungsosteotomie im Grundglied, eine Teilresektion des distalen Anteils des Grundglieds (Operation nach Hohmann) oder eine Resektion des Mittelglieds durchgeführt werden. Bei Vorliegen von kontrakten Gelenken kann je nach Ort der Fehlstellung entweder eine Grundgliedköpfchenresektion nach Hohmann oder eine Mittelgliedköpfchenresektion durchgeführt werden. Wichtig ist, stets die Stellung im Grundgelenk mitzuberücksichtigen und keine Dorsalextension zu belassen. Zur Kompensation eines Muskelungleichgewichts kann daher zusätzlich zur knöchernen Korrektur die intrinsische Beugemuskulatur durch Transfer der langen Beugesehne (nach distaler Ablösung) auf die Streckerhaube verstärkt werden. Eine dauerhafte Stellungskorrektur im Zehenmittel- oder Zehenendgelenk kann auch durch eine Korrekturarthrodese im kontrakten Gelenk erreicht werden. Bei kontrakter Extensionsfehlstellung im Zehengrundgelenk ist hier ggf. eine Arthrolyse und vorübergehende achsengerechte Einstellung der Zehe mittels durch den gesamten Strahl eingebohrtem Kirschner-Draht (für 2–4 Wochen) oder alternativ ein Tape-Verband (für ca. 6 Wochen) erforderlich. Operationsverfahren
Bei der Grundgliedköpfchenresektionsarthroplastik nach Hohmann mit zusätzlicher Transposition der langen Beugesehne auf die Streckerhaube wird wie folgt vorgegangen: Dorsale Längs-
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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⊡ Abb. 29.22a–f Operationsablauf der Grundgliedköpfchenresektionsarthroplastik nach Hohmann mit zusätzlicher Transposition der langen Beugesehne auf die Streckerhaube. Zur Beschreibung der einzelnen OP-Schritte siehe Text
inzision über dem proximalen Interphalangealgelenk. Längsdurchtrennung der Streckerhaube. Umfahren der Diaphyse des Grundglieds mit 2 kleinen Hohmann-Hebeln zur Darstellung des Grundgliedköpfchens. Durchtrennen der Seitenbänder. Resektion des Köpfchens (⊡ Abb. 29.22a). Längsspaltung der plantaren Platte. Identifikation der langen Beugesehne (LBS) zwischen den beiden kurzen Beugesehnen und Herausluxieren der LBS durch Unterfahren mit einem kleinen gebogenen Klemmchen (⊡ Abb. 29.22b). Jeweils Armierung des medialen und lateralen Anteils der Sehne möglichst weit distal. Möglichst distales Ablösen der Sehne. Aufspalten der LBS entlang der Raphe nach proximal (⊡ Abb. 29.22c). Die beiden Sehnenanteile werden um die Grundglieddiaphyse nach dorsal geführt. Optional Einbohren eines doppelt angespitzten Kirschner-Drahtes von der Mittelgliedbasis nach distal und danach retrogrades Auffädeln des Grundgliedes (⊡ Abb. 29.22d). Der Kirschner-Draht wird in leichter Plantarflexion des Grund-
glieds im Grundgelenk bis in das Metatarsaleköpfchen eingebohrt und 4 Wochen belassen. Die beiden Hälften der LBS werden dorsal unter leichter Vorspannung miteinander vernäht (⊡ Abb. 29.22e). Abschneiden überstehender Sehnenenden mit den Armierungsfäden. Vernähen der Streckerhaube über der Sehnennaht der LBS unter zusätzlicher Sicherung durch Einbeziehen der LBS in diese Naht (⊡ Abb. 29.22f). Hautnaht.
Metatarsalgie z
Definition
Plantare Druckschmerzhaftigkeit unter den Mittelfußköpfchen II–IV, oft mit dort lokalisierter Hyperkeratose und Bursitis. z
Ätiologie und Pathogenese
Die übermäßige Druckbelastung unter den Metatarsaleköpfchen II–IV kann viele Ursachen haben: Beim Senk-Spreiz-Fuß
845 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Schmerzen im Bereich der Sesambeine z
Definition
Schmerzen im Bereich der Sesambeine treten zumeist auf bei Sesamoiditis, Bursitiden, Stressfrakturen, avaskulären Knochennekrosen, Subluxationen (Hallux valgus), Sesambeinarthrose, Nervenirritationen und akuten Frakturen. Ein doppelt angelegtes Sesambein (bipartitum), wie es häufig lateral vorkommt, macht in der Regel keine Beschwerden und darf nicht mit einer Pseudarthrose nach Fraktur verwechselt werden. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursachen für Schmerzen im Bereich des Sesambeinkomplexes sind häufig Überlastungen oder seltener Traumen. Die Diagnose einer Sesamoiditis ist eine Ausschlussdiagnose. a
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⊡ Abb. 29.23a,b Luxation der Metatarsophalangealgelenke II und III. a Präoperativ, b nach Durchführung einer Verkürzungsosteotomie der Metatarsalia II–IV nach Weil zeigt sich eine Reposition der Zehengrundgelenke
werden die Metatarsaleköpfchen durch Hyperextension im Zehengrundgelenk mit Gelenk(sub-)luxation plantar prominent. Auch bei einem Hallux valgus mit Metatarsus primus varus oder einer Tarsometatarsale-I-Instabilität nimmt die physiologische Druckübertragung des ersten Strahls ab. Teilweise ist auch eine Minusvariante des ersten Mittelfußknochens ursächlich. Auch nach Resektionsarthroplastiken am Großzehengrundgelenk kommt es durch Abschwächung der Kraftübertragung des ersten Strahls häufig zu sog. Transfermetatarsalgien. Nach abgelaufenem M. Köhler (avaskuläre Nekrose des Metatarsaleköpfchens) können störende plantare Exostosen für eine Spitzendruckbelastung an den Metatarsaleköpfchen verantwortlich sein. Bei Subluxationen der Zehengrundgelenke (z. B. bei rheumatischer Vorfußdeformität) rollt der Fuß auf den prominent gewordenen Köpfchen ab. Die plantare Platte rupturiert dabei häufig, und das Metatarsaleköpfchen wird direkt dem plantaren Druck ausgesetzt. Bei Rheumapatienten wird die Problematik noch durch die Hypotrophie des physiologischen Fußsohlenfettpolster verstärkt. z
Therapie
Eine Einlagenversorgung mit retrokapitaler Pelotte stützt das Quergewölbe, vergrößert die Auflagefläche und verlagert den Druck weiter nach proximal zu den Metatarsaleschäften. Eine zusätzliche Weichbettung einzelner Metatarsaleköpfchen kann eine weitere Druckentlastung bewirken. Darüber hinaus ist eine Schuhsohlenzurichtung mit Sohlenversteifung und Ballenrolle oder eine Schmetterlingsrolle sinnvoll. Operativ kann bei statischer Überlänge eine Verkürzungsosteotomie, z. B. nach Weil, oder eine Elevationsosteotomie durchgeführt werden, um die Pathologie zu beseitigen (⊡ Abb. 29.23). Bei der Osteotomie nach Helal rutscht das Köpfchen bei plantarem Druck unkontrolliert nach dorsal. Bei fortgeschrittenen arthritischen Destruktionen werden die Metatarsaleköpfchen reseziert.
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Therapie
Eine Entlastung über einige Wochen ist oft ausreichend. An Schuhzurichtungen empfiehlt sich eine Weichbettung unter dem Sesambeinkomplex, eine partielle Sohlenversteifung kombiniert mit einer Abrollsohle (Ballenrolle) oder auch eine Einlage mit langgezogener Längsgewölbestütze und retrokapitaler Abstützung. Medikamentös werden nichtsteroidale Antiphlogistika verabreicht. Lokalanästhetika können mit oder ohne Glukokortikoidzusatz injiziert werden. Operativ kann bei Sesambeinnekrose mit anhaltenden Schmerzen eine Sesambeinresektion erwogen werden. Bei Subluxationen des Sesambeinkomplexes kann man (ggf. neben knöcherner Achsenkorrektur) das Weichteil-Release bis zur vollständigen Zentrierung in der Gleitrinne des Metatarsaleköpfchens durchführen. Bei der Resektion von Bursitiden ist auf eine sorgfältige Schonung des plantaren Fettgewebepolsters zu achten. In seltenen Fällen kann auch die Modellierung (z. B. durch Abtragung störender Osteophyten) oder Resektion eines einzelnen Sesambeins erforderlich werden. > Da es bei Resektion beider Sesambeine zu einer deutlichen Abschwächung der Kraftübertragung am ersten Strahl kommen kann, ist bei ausgeprägter Sesambeinarthrose ggf. auch eine Arthrodese des Großzehengrundgelenks zu erwägen.
Interdigitale Neuralgie und Morton-Neurom z
Definition
Es handelt sich beim »Morton-Neurom« nicht um ein Neurom (missglückter Regenerationsversuch) oder ein Neurinom (Nerventumor), sondern, wie bei anderen Nervenengpasssyndromen auch, um eine perineurale Fibrose (sklerosierende Verdickung der Nervenscheide). Bei der Morton-Neuralgie im Frühstadium kann auch eine Irritation des Nerven ohne bereits erfolgte strukturelle Nervenschädigung vorhanden sein. z
Ätiologie und Pathogenese
Einengung des N. digitalis plantaris communis kurz vor seiner distalen Aufzweigung unter dem Lig. metatarsum transversum. Durch chronische mechanische Schädigung kommt es schließ-
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
⊡ Abb. 29.24a,b Auseinanderweichen der Dig. III und IV bei interdigitalem MortonNeurom an typischer Stelle zwischen Metatarsaleköpfchen III und IV. a Klinisches Bild, b Darstellung und Resektion der verdickten Aufzweigungsstelle des Interdigitalnerven
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lich zur knotenförmigen Nervendegeneration (»Morton-Neurom«). Häufigste Lokalisation ist der Raum zwischen Metatarsale III und IV, gefolgt vom Intermetatarsaleraum II/III. z
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! Cave Eine Koagulation des Nervenstumpfes bringt keinen Vorteil und birgt das Risiko der Schädigung der benachbart verlaufenden A. metatarsale plantare.
Diagnostik
Wegweisend sind neben der klinischen Symptomatik (brennende, oft anfallsweise auftretende, elektrisierende, genau lokalisierbare Schmerzen zwischen den Metatarsaleköpfchen plantarseitig, zum Teil in die benachbarten Zehen ausstrahlend; teilweise sofortige Besserung nach Ausziehen des Schuhs) die interdigitale Palpation, Provokation von Nervenschmerzen und Sensibilitätsstörungen. Die distale intermetatarsale Kompression durch einen Zangengriff löst bei einer Intermetatarsalneuralgie (Morton-Neuralgie) das klassische »Klingelknopfphänomen« aus, bei dem durch Druck auf den genau lokalisierbaren Druckpunkt eine elektrisierende Schmerzausstrahlung in die benachbarten Zehen (antegrad) oder den Fußrücken (retrograd) ausgelöst werden kann. Teilweise werden die benachbarten Zehen durch das tumorartige Knötchen auseinandergedrängt (⊡ Abb. 29.24). Bildgebend können Sonographie und MRT in einigen Fällen einen positiven Befund erbringen. Sie sind insbesondere auch zur Abgrenzung der Differenzialdiagnosen (s. unten) indiziert. Eine lokale Testinjektion mit 0,5–1,0 ml Lokalanästhetikum bringt bei Morton-Neuralgie eine sofort eintretende, vorübergehende Beschwerdefreiheit. Differenzialdiagnostisch müssen eine Synovialitis, Synovialzyste, Bursitis und eine Metatarsalgie ausgeschlossen werden. z
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Therapie
Die lokale Testinjektion kann durch Zusatz von Glukokortikoiden auch langfristig therapeutisch wirksam sein. Eine weiche Fußbettung in ausreichend breitem Schuhwerk ist sinnvoll. Gegebenenfalls wird eine Spreizfußdeformität durch eine retrokapitale Pelotte abgestützt. Operativ kann bei einer reinen Einengung des Nerven ohne pathologische Verdickung die Neurolyse durch Spaltung des intermetatarsalen Ligaments ausreichen. Bei Auftreibung des Nerven wird die komplette verdickte Aufzweigungsstelle des Nerven reseziert und soweit proximal abgetrennt, dass der Nervenstumpf proximal der Metatarsaleköpfchen im plantaren Fettgewebe zu liegen kommt (⊡ Abb. 29.24b).
Bei operativem Vorgehen sind plantare Narben störend, deswegen ist einem dorsalen Zugang der Vorzug zu geben.
29.2.2
Rückfuß
Arthrose der Fußwurzel und des unteren Sprunggelenks z
Ätiologie und Pathogenese
Arthrosen im Bereich des Chopart-Gelenks (am häufigsten ist das Talonavikulargelenk betroffen) werden häufig bei der Plattfußdeformität beobachtet. Arthrosen des Subtalargelenks entstehen regelhaft nach Frakturen des Talus oder des Kalkaneus, treten aber auch durch Fehlbelastung bei verschiedenen Rückfußdeformitäten auf. Im Bereich der Lisfranc-Linie werden Arthrosen zumeist nach Luxationsfrakturen oder durch Überlastung im Rahmen einer Spreizfußdeformität beobachtet. In Folge einer Arthrodese des oberen Sprunggelenks muss in ca. 30% der Fälle aufgrund der sekundären Überbeanspruchung etwa 10–15 Jahre später mit Arthrosen der Anschlussgelenke (Subtalar- und Chopart-Gelenk) gerechnet werden (Fuchs 2003). z
Diagnostik
Die Patienten berichten über belastungsabhängige Beschwerden im Bereich der Fußwurzel bzw. des unteren Sprunggelenks (USG). Schmerzen lassen sich oft durch eine Verwringung der Fußwurzel oder durch passive Bewegung des USG provozieren. Zum Teil sind auch Druckschmerzen im Bereich des Verlaufs der betroffenen Gelenke auslösbar. Radiologisch sollte neben einer Aufnahme des Fußes seitlich und dorsoplantar auch eine Fußwurzelschrägaufnahme durchgeführt werden. Bei fortgeschrittenen Arthrosen in mehreren Gelenken kann eine gezielte Testinjektion hilfreich sein, um den Hauptbefund, z. B. für eine geplante Arthrodese, zu lokalisieren. Betreffen Fehlstellungen, posttraumatische oder degenerative Veränderungen unterschiedliche Bereiche des Fußes, ist
847 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
zumeist eine mehrdimensionale Rekonstruktion erforderlich. Neben einer eingehende klinischen Untersuchung ist die Definition der einzelnen Fehlstellungsbereiche und Fehlstellungsebenen sowie die Analyse von Instabilitäten notwendig. z
Therapie
Die Injektion von Lokalanästhetikum und Glukokortikoiden kann bei einigen Patienten zur langfristigen Besserung führen. Bei der Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln ist eine mögliche Deformität zu berücksichtigen. Neben einer adäquaten Fußbettung, insbesondere im Bereich des Rückfußes, ist eine partielle Sohlenversteifung im Rück- und Mittelfuß mit einer Mittelfußrolle hilfreich, die zugleich die Stabilität des Schuhs gegen Torsionen erhöht. Oft ist eine ausreichende Stabilisierung des Rückfußes nur im knöchelübergreifenden orthopädischen Schuh zu erreichen. Die alleinige Abtragung von störenden Osteophyten ist in der Regel nicht ausreichend, da die Osteophytenbildung nur Folge der Instabilität ist und zur Rezidivierung neigt. Bei Hauptlokalisation einer Arthrose im Subtalargelenk, Talonavikulargelenk oder im Kalkaneokuboidalgelenk ist eine isolierte Arthrodese eines dieser Gelenke sehr Erfolg versprechend und führt dabei zu mehr oder weniger ausgeprägten Einschränkungen der Fußeversion und -inversion. Im Rahmen der Nachbehandlung nach einer Arthrodese ist in der Regel für ca. 6 Wochen eine weitgehende Entlastung und danach ein Belastungsaufbau bis zur 10. bis 12. postoperativen Woche im Gips oder im stabilisierenden Walker ausreichend. Gegebenenfalls kann im Anschluss eine orthopädische Schuhzurichtung oder Versorgung im orthopädischen Maßschuh wegen verbleibender Funktionsstörungen oder Restdeformitäten notwendig sein. In der Regel ist aber nach vollständiger knöcherner Durchbauung das Tragen von Konfektionsschuhen möglich. Tipp
I
z
Ätiologie und Pathogenese
Die schmerzhafte Überlastungsreaktion der Tibialis-posteriorSehne (TP-Sehne) beim Sportler kann in der Regel erfolgreich konservativ therapiert werden. Eine chronische Insuffizienz der TP-Sehne geht allerdings mit einer progredienten Knick-PlattFußfehlstellung einher. Aufgrund der verminderten Rückfußstabilisierung kommt es zu einem verstärkten Rückfußvalgus und einer Absenkung des Taluskopfes bzw. des Längsgewölbes. Bei älteren Patienten und Rheumatikern kann es auch aufgrund einer Destruktion des Chopart- und Subtalargelenks zu einem Kollaps des Fußlängsgewölbes und infolgedessen zu einer Pes-planovalgus-Stellung kommen. Prinzipiell muss immer zwischen flexibler und kontrakter Plattfußdeformität unterschieden werden. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es durch Degeneration der Sehne zur Elongation bis hin zur Ruptur (⊡ Abb. 29.25). Der Knick-Platt-Fuß mit entsprechendem Rückfußvalgus und Vorfußabduktion ist dann fixiert. Die Fehlstellung kann im Zehenstand nicht mehr ausgeglichen werden (Rückfußvarisierung und Erhöhung des Fußlängsgewölbes, ⊡ Abb. 29.26).
I
Das Talonavikulargelenk kann als Schlüsselgelenk des Fußes (Coxa pedis) angesehen werden. Über eine Arthrodese dieses Gelenks ist die Korrektur vielfältiger Deformitäten in allen Ebenen möglich.
a
Insuffizienz und Dysfunktion der Tibialis-posteriorSehne
b
⊡ Abb. 29.25 Komplette degenerative Ruptur der Tibialis-posteriorSehne: Sehnenstumpf im Ansatzbereich des Os naviculare nach vollständiger degenerativer Ruptur der TP-Sehne
⊡ Abb. 29.26a,b Knick-Platt-Fuß. a Aufhebung des Fußlängsgewölbes, das vollständig belastungstragend auf dem Boden aufliegt, b Ausbleiben der Rückfußvarisierung im Zehenstand
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Klassifikation
Hinsichtlich der Therapie ist die Stadieneinteilung der Erkrankung nach Johnson, Strom und Myerson sehr hilfreich (Myerson 1996). ▬ Stadium I: Tenosynovitis bei erhaltener Länge und Funktion der TP-Sehne ▬ Stadium II: Elongation und Degeneration der TP-Sehne mit flexibler Knick-Platt-Fuß-Deformität ▬ Stadium III: kontrakte Knick-Platt-Fuß-Deformität mit fixierter Pronation des Subtalargelenks und kompensatorischer Vorfußsupination ▬ Stadium IV: lateraler Kollaps des OSG durch chronische valgisch-exzentrische Belastung z
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Diagnostik
Die Schmerzen beginnen medial im Ansatzbereich der TPSehne sowie im Verlauf der Sehne am Innenknöchel, meist begleitet von Druckschmerzhaftigkeit im Sehnenverlauf. In späteren Stadien kommt es dann auch zu Schmerzen lateral aufgrund von Impingement-Phänomenen am Außenknöchel und Überlastungen des Subtalargelenks. Unter »too many toe sign« versteht man das sichtbar werden mehrerer Kleinzehen beim Blick von dorsal aufgrund der Vorfußabduktion. Eine Synovialitis der Tibialis-posterior-Sehne sowie degenerative Veränderungen können sowohl sonographisch als auch in der MRT dargestellt werden. Das Ausmaß des Knick-SenkPlatt-Fußes kann gut durch eine seitliche Aufnahme des Fußes im Stehen dokumentiert werden (⊡ Abb. 29.27). Die Kompensationsfähigkeit des Fußes wird im Zehenstand beurteilt (s. oben). Die Funktion der Sehne kann auch bei Supination des plantarflektierten Fußes gegen Widerstand getestet werden. z
Therapie
Konservativ kommt eine Einlagenversorgung mit enger Fersenfassung in Halb- oder Schalenform mit Abstützung des Fußlängsgewölbes oder eine Helfet-Schale infrage. Bei ausgeprägter Instabilität kann ggf. eine Innenschuhorthese zur Stabilisierung des Rückfußes verwendet werden. Bei akutem Reizzustand der Sehne empfiehlt sich eine vorübergehende Ruhigstellung im Gipsverband sowie die orale Verabreichung von NSAR. Bei vorhandener Synovialitis kann im frühen Stadium (Stadium I) die Tenosynovektomie der Tibialis-posterior-Sehne eine weitergehende Destruktion aufhalten. Im späteren Stadium (Stadium II) kommt der Transfer der Flexor-digitorumlongus-Sehne auf das Os naviculare zur Augmentation oder Rekonstruktion der Sehne sowie eine Rekonstruktion des elongierten bzw. rupturierten Pfannenbands (»spring ligament«) in Betracht, das von plantar den Taluskopf abstützt (⊡ Abb. 29.28). Bei fehlenden arthrotischen Veränderungen im Bereich der Fußwurzel ist es in den meisten Fällen erforderlich, zusätzlich zu den genannten Weichteileingriffen das Fußgewölbe durch Kalkaneusverlängerung (Osteotomie des Fersenbeins nach Evans mit Beckenkammspaninterposition) oder eine kalkaneokuboidale Distraktionsarthrodese wieder aufzurichten (⊡ Abb. 29.27). Durch Verlängerungsosteotomie des Kalkaneus ca. 1,25 cm proximal des Kalkaneokuboidalgelenks kann die laterale Säule verlängert und dadurch eine starke Supination
a
b ⊡ Abb. 29.27a,b Knick-Platt-Fuß. a Vollständig aufgehobenes Längsgewölbe in der seitlichen Röntgenaufnahme des Fußes im Stehen bei einem Plattfuß aufgrund einer Insuffizienz der TP-Sehen im Stadium II, b Zustand nach Korrektur durch Kalkaneusverlängerungsosteotomie nach Evans
des Mittel- und Vorfußes sowie die Korrektur der VorfußAbductus-Komponente bewirkt werden. (Dies lässt sich auch durch eine Interpositionsarthrodese des Kalkaneokuboidalgelenks bewirken.) Hierdurch kommt es zur Reposition des Talus über den Kalkaneus und damit zur Aufrichtung des Fußlängsgewölbes. Auch die valgische Stellung des Fersenbeins wird hierdurch teilweise korrigiert. Eine stärkere Varisierung des Kalkaneus kann – falls erforderlich – durch eine Fersenbeinosteotomie mit Verlagerung des Tuber calcanei nach medial (Reversed-DwyerOsteotomie) bewirkt werden. Eine nach Rückfußkorrektur verbleibende Spitzfußfehlstellung aufgrund relativer Verkürzung der Achillessehne muss in vielen Fällen durch eine Verlängerung der Achillessehne ausgeglichen werden. > Die zumeist kombinierte Anwendung von medialem Weichteileingriff mit einer Verlängerung der lateralen Fußsäule erfordert ein hohes Maß an Erfahrung, um die in der Literatur berichteten guten Resultate mit einer Zufriedenheitsrate von 80–95% zu erzielen (Hintermann 1999, Mosier-LaClair 2001).
849 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
a
a
b
⊡ Abb. 29.29a,b Tibialis-posterior-Insuffizienz im Stadium IV. a Präoperativ, b nach kompletter korrigierender Rückfußarthrodese mit retrogradem Marknagel
b
vikulargelenks, ggf. in Kombination bis hin zur Tripplearthrodese, erforderlich werden. Wenn im Stadium IV zusätzlich eine Valgusarthrose im OSG eingetreten ist, kann in Abhängigkeit von der Ausgangssituation sowie dem Alter und Funktionsanspruch des Patienten eine Rückfußkorrektur in Kombination mit einer OSG-Totalendoprothese oder eine komplette korrigierende Rückfußarthrodese durchgeführt werden (⊡ Abb. 29.29).
Peronealsehnenluxation z
c ⊡ Abb. 29.28 a Fortgeschrittene Degeneration der TP-Sehne, b Rekonstruktion des rupturierten Pfannenbandes, c Transfer der Flexor-digitorum-longus-Sehne auf das Os naviculare
Im Stadium der fixierten Fehlstellung (Stadium III) mit Kontraktur und beginnenden arthrotischen Veränderungen des Subtalargelenks kommt eine Aufrichtung des Fußgewölbes durch Reposition und Arthrodese des Subtalargelenks mit Beckenkammspaninterposition im Sinus tarsi in Betracht. Der Rückfußvalgus kann auch durch eine Reversed-Dwyer-Osteotomie (s. oben) ausgeglichen werden. In Einzelfällen kann auch eine Arthrodese des Kalkaneokuboidalgelenks oder des Talona-
Ätiologie und Pathogenese
Bei der Peronealsehnenluxation kommt es infolge eines seltenen Verletzungsmusters durch reflektorische Anspannung der Peronealsehnen bei dorsalextendiertem Fuß in Pronations-/ Eversionsstellung zur Verlagerung der Peronealsehnen aus dem Sulcus hinter dem Außenknöchel. Gehäuft ist dieser Pathomechnismus bei Skifahrern zu beobachten. Ursache ist entweder ein Abriss des Retinaculums von der Hinterkante der Fibula oder eine Ablösung mitsamt der fibrokartilaginären Randleiste. Chronische Subluxationen der Peronealsehnen sind auch bei Patienten mit rezidivierenden Sprunggelenkdistorsionen zu beobachten (DiGiovanni 2003). z
Diagnostik
Eine (Sub-)Luxation der Peronealsehne kann am einfachsten palpiert werden, während der Patient den Fuß im Sprunggelenk im Uhrzeigersinn (rechts) oder gegen den Uhrzeigersinn (links) rotiert. Eine gleichzeitig vorliegende ligamentäre Instabilität im OSG und eine Schwäche der Peronealmuskulatur sollten ausgeschlossen werden. z
Therapie
Konservativ wird mittels Gipsruhigstellung in leichter Plantarflexion behandelt. Aufgrund der hohen Versagerquote der
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
konservativen Therapie von mehr als 50% sollte die akute Peronealsehnenluxation operativ behandelt werden. Falls sich bei der operativen Therapie das superiore Retinaculum nicht rekonstruieren lässt, können die Peronealsehnen unter das Lig. fibulocalcaneare verlagert werden. Alternativ oder auch zusätzlich wird in der Technik nach Arrowsmith die Gleitrinne hinter dem Außenknöchel subkortikal vertieft. Zur Stabilisierung bei chronischer Peronealsehnenluxation ist in der Regel ein knöcherner Eingriff, z. B. durch Verschiebung einer Knochenlamelle des Außenknöchels nach dorsal, erforderlich (Operation nach Kelly). Bei entsprechenden knöchernen Eingriffen zur Vertiefung der Gleitrinne sollte diese mit einem Periostlappen oder einem Teil der Luxationstasche ausgekleidet werden, um Verklebungen mit der eröffneten Spongiosa zu vermeiden. Eine Gleitrinnenvertiefung ist auch durch Schwächung mittels subkortikaler Bohrungen und anschließendem Einstößeln der Rinne möglich.
Nervenengpasssyndrome
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z
Ätiologie und Pathogenese
Beim (hinteren) Tarsaltunnelsyndrom kommt es zu einer Einklemmung und im fortgeschrittenen Verlauf zu einer chronischen Schädigung des N. tibialis posterior an der Medialseite des Fußes unter dem Retinaculum musculorum flexorum (Lig. lacinatum). Bei einer proximalen Schädigung ist der gesamte N. tibialis posterior betroffen. Bei einer distalen Einklemmung kommt es zu Symptomen, die sich den entsprechenden Endästen (N. plantaris medialis und N. plantaris lateralis) zuordnen lassen. Häufig ist die Erkrankung idiopathisch oder posttraumatisch. Die Symptome können auch durch einen vergrößerten Venenkomplex am medialen Fußrand verursacht sein (Cimino 1990).
ren ist. Eine neurologische Untersuchung mit ENG oder EMG kann die Diagnose sichern. Die MRT dient zum Ausschluss von Raumforderungen im Verlauf des Nerven. Bei fehlender neuraler Ursache, müssen extraneurale Ursachen der Symptomatik abgeklärt werden. z
Therapie
Die konservative Therapie bei fehlendem Nachweis einer mechanischen Einengung des Tarsaltunnels umfasst eine orale antiinflammatorische Behandlung, ggf. in Kombination mit Gabapentin, im nächsten Schritt wiederholte Injektionen mit Lokalanästhetikum und Steroiden sowie eine Entlastung des medialen Fußgewölbes durch Einlagen und Schuhinnenranderhöhung. Operativ wird der betroffene Nervenast durch Spaltung des Lig. lacinatum und ggf. partielle Resektion der Faszie des M. abductor hallucis oder partielle Ablösung des Muskels von seinem Ursprung dekomprimiert. Beim vorderen Tarsaltunnelsyndrom kommt es zu einer Einklemmung des N. peroneus profundus unter dem Retinaculum extensorum inferius. Eine zu enge Schuhlasche kann die Ursache sein. Typisch sind belastungsabhängige Schmerzen mit Ausstrahlung auf den Fußrücken, Taubheit und Brennen zwischen dem ersten und zweiten Zeh sowie ein positives Hoffmann-Tinnel-Zeichen beim Beklopfen des Nervenverlaufs. Therapeutisch kommen eine Verbesserung des Schuhwerks, lokale Infiltrationen sowie eine operative Dekompression in Betracht. Auch eine Einklemmung des N. superficialis durch Kompression des Nerven im Bereich seines Austritts aus der Unterschenkelfaszie ca. 10 cm oberhalb des Malleolus lateralis ist möglich. Sensible Störungen befinden sich lateral im Bereich des Sprunggelenks. Die Therapie umfasst ebenfalls lokale Infiltrationen und eine operative Dekompression.
Fersensporn und Plantarfasziitis z
Diagnostik
Während ein Patient mit Interdigitalneuralgie (»Morton-Neurom«, s. oben) für gewöhnlich in der Lage ist, das Schmerzmaximum auf der Plantarseite des Fußes zu lokalisieren, hat der Patient mit einem Tarsaltunnelsyndrom meist Schwierigkeiten, den Ursprungsort des Schmerzes anzugeben. > Wegweisend sind nächtlich betonte Schmerzen mit Dys-, Par- und Hypästhesien am medialen Fußrand mit Ausstrahlung in Fußsohle, Ferse und Wade.
Eine Schmerzzunahme lässt sich bei Belastung und in gehaltener Dorsalextension des Fußes beobachten. Die Schmerzqualität wird meist als brennend, einschießend oder elektrisierend beschrieben. Klassisch ist auch ein Druck- und Klopfschmerz, teilweise mit elektrisierender Ausstrahlung hinter dem Innenknöchel oder am Rand des M. abductor hallucis (HoffmannTinnel-Zeichen). Bei der klinischen Untersuchung werden die Nervenverläufe beklopft, was beim Tarsaltunnelsyndrom im Sinne eines Hoffmann-Tinnel-Zeichens elektrisierende Missempfindungen im Ausbreitungsgebiet des Nervenasts nach distal bewirkt. Im Spätstadium kommt es zu einer Atrophie der Zehenspreizer, die bei alleiniger klinischer Untersuchung oft schwer zu objektivie-
z
Ätiologie und Pathogenese
Fersenschmerzen haben prinzipiell 3 mögliche Ursachen. Mechanische Störungen verursachen die typische Plantarfasziitis. Auch rheumatologische Ursachen wie die Spondylitis ankylosans können schmerzhafte Zustände im Bereich der Ferse bedingen. Schließlich können lokale oder vertebragene Nervenstörungen ebenfalls Fersenschmerzen verursachen. Ein knöcherner Sporn medioplantarseitig am Kalkaneus im Bereich des Ansatzes der Plantarfaszie (Tuber mediale calcanei) wird als Fersensporn bezeichnet. Häufig ist er ein klinisch stummer Zufallsbefund bei einer Röntgenuntersuchung des Fußes im seitlichen Strahlengang. Ein knöcherner Sporn besteht bei plantaren Fersenschmerzen nur in ca. 50% der Fälle. Der angespannten Plantarfaszie kommt während der zweiten Hälfte der Standphase (Abstoßphase) im Rahmen des sog. Windenmechanismus (»windlass effect«), der die Kraftübertragung vom Vorfuß auf den Rückfuß gewährleistet, eine erhebliche Bedeutung zu. Beschwerden treten dann auf, wenn es im Bereich des Plantarfaszienansatzes durch eine Überlastungsreaktion zu einer Entzündung (Insertionstendinopathie) der Faszie kommt. Die Einschränkungen der Dorsalextensionsfähigkeit im OSG (z. B. durch eine Verkürzung der Achillessehne bedingt) kann eine Überlastung der Plantarfaszie verursachen.
851 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Auch Bursitiden im Bereich eines Fersensporns bzw. im Bereich des Plantarfaszienansatzes können Schmerzen in diesem Bereich verursachen. z
Diagnostik
Die typische Klinik umfasst belastungsabhängige, stechende Schmerzen medioplantar unter dem Fersenbein. Bei der Mehrzahl der Patienten lässt sich ein Druckschmerz im Ansatzbereich der Plantarfaszie auslösen. Die Plantarfaszie lässt sich dabei durch Dorsalextension der Großzehe besser darstellen und bis an ihren Ursprung palpatorisch verfolgen. Teilweise ist im MRT ein lokales Ödem nachweisbar. In der seitlichen Röntgenaufnahme des Fersenbeins kommt ein Fersensporn – falls vorhanden – klar zur Darstellung. z Therapie z z Konservative Therapie
Bei entsprechenden Beschwerden wird zunächst neben einer symtomatischen Schmerztherapie mit Dehnübungen der Achillessehne und der Plantarfaszie sowie einer lokalen Druckentlastung im Schuh behandelt. Hierfür kann ein Fersenpolster oder eine spezielle tropfenförmige Locheinlage (⊡ Abb. 29.30) zum Einsatz kommen. Bereits mit diesen Maßnahmen kann oft eine signifikante Besserung der Beschwerden erreicht werden (DiGiovanni 2003). Ist eine Fußdeformität vorhanden, wird diese zusätzlich bei der Einlagenversorgung berücksichtigt: Ein Senkfuß sollte durch eine Längsgewölbestütze und ein Calcaneus valgus durch
a
entsprechende Fersenfassung (Halbschalen- oder Schalenform) aufgerichtet werden. Zusätzlich wird eine Aussparung mit Weichpolsterung im Bereich des Sporns bzw. des Plantarfaszienansatzes in diese Einlagen eingearbeitet. Ein Pufferabsatz kann die Druckbelastung beim Fersenauftritt verteilen. Lokale Infiltrationen mit Lokalanästhetikum und Kortikoid werden von medial etwas oberhalb des Faszienansatzes durchgeführt (Coughlin 2007). Sie haben in mehr als 90% der Fälle einen kurzfristig, aber nur in etwa 40% der Fälle einen anhaltend schmerzlindernden Effekt (Miller 1995). Auch die lokale Stoßwellentherapie (Höfling 2008) hat sich bei rund Zweidrittel der Patienten als wirksam gezeigt. z z Operative Therapie
Nur bei unzureichendem Therapieerfolg nach zumindest 6-monatigen, konservativen Bemühungen wird die operative Fersenspornresektion und hälftige bis Zweidrittelablösung der Plantarfaszie am Fersenbein mit lokaler Denervierung der dorsalen Äste des N. tibialis posterior über einen medialen Zugang durchgeführt. Dabei werden sämtliche Fasern am Proc. medialis tuberis calcanei abgelöst und lediglich am Proc. lateralis noch Teile des Ansatzes belassen. Tipp
I
I
Bei dennoch persistierenden oder rezidivierenden Beschwerden empfiehlt sich das vollständige Ablösen der Plantarfaszie im Rahmen des Revisionseingriffs auch lateral.
b
⊡ Abb. 29.30 Fersensporneinlage mit hochgezogenem Rand analog zu einer Halbschalenform, damit der Calcaneus nicht nach lateral abweichen kann. Aussparung und Weichbettung unter dem Druckpunkt am Tuber medialis calcanei sowie im Verlauf der Plantarfaszie zum ersten Strahl während die Auftrittsfläche der Ferse belastungstragend ist. Bilder der Druckmessung mit und ohne Einlagenversorgung. Bei einer Einlagenversorgung zeigt sich die deutliche Entlastung unter dem Spornareal.
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
⊡ Abb. 29.31 Haglund-Ferse: klinisches Bild einer Haglundferse mit typischer Prominenz des Achillessehnenansatzes am Kalkaneus
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In der Regel ist trotz unterschiedlich beschriebener Techniken (offen, endoskopisch) bei operativer Behandlung mit einer bis zu 95%igen Besserung der Beschwerden bei gleichzeitig geringer Komplikationsrate zu rechnen (Watson 2002, Jerosch 2004).
Haglund-Exostose z
Definition
Es handelt sich um eine Formvariante des Fersenbeins mit Prominenz des kraniodorsalen Rands des Tuber calcanei (⊡ Abb. 29.31). z
Ätiologie und Pathogenese
Fersenschmerzen entstehen durch chronische Druckbelastung über der knöchernen Prominenz, v. a. durch den Druck einer niedrigen Schuhkante. Bei Dorsalextension kann es zudem zu einer Druckbelastung auf die Achillessehne kommen. Lokal kann eine Bursitis über der knöchernen Prominenz entstehen. Im Verlauf der Erkrankung kann es zusätzlich zu degenerativen Veränderungen im Ansatzbereich der Achillessehne kommen. Die so entstehende lokale Auftreibung der Achillessehne trägt dann zur störenden Prominenz dorsal am Fersenbein bei. z
Diagnostik
Die Form der Hinterkante des Kalkaneus ist klinisch auffällig und kann im Röntgenbild des Fersenbeins seitlich beurteilt werden. Eine Bursitis sowie degenerative Veränderungen im Gewebe der Achillessehne können sonographisch und mittels MRT dargestellt werden. z Therapie z z Konservative Therapie
Lokale Druckentlastung durch Schuhe ohne hintere Kappe oder Erhöhung und Ausweitung der Fersenkappe, Absatzerhöhung, Fersenkeil, Infiltration mit Lokalanästhetikum und Glukokortikoid in die Bursa zwischen distalem Verlauf der Achillessehne und der Hinterkante des Fersenbeins (Cave: Gefahr der Sehnennekrose mit Ruptur!), Absatzerhöhung oder Fersenkeil.
⊡ Abb. 29.32 Tendopathie der Achillessehne mit typischer Auftreibung im Operationssitus
z z Operative Therapie
Bei Ausbleiben des Erfolgs konservativer Behandlungsmaßnahmen über mindestens 6 Monate ist eine operative Behandlung indiziert, und zwar die keilförmige Abtragung der prominenten Hinterkante des Kalkaneus über einen lateralen (seltener auch medialen) Zugang bis an die Insertionszone der Achillessehne heran mit Bursektomie. Bei gleichzeitigem Vorliegen einer ansatznahen Ossifikation der Achillessehne oder stärkeren degenerativen Veränderungen in der Sehne ist ein mittiger Zugang mit Splitten der Achillessehne zu erwägen. Ein Sehnen-Débridement kann so durchgeführt werden. > Bei signifikanter Schwächung des Sehnenansatzes ist eine Sehnenreinsertion mit Fadenankern oder transossärer Naht sowie eine Nachbehandlung im Gips oder Walker in leichter Spitzfußstellung über mindestens 4–6 Wochen erforderlich.
Trotz der oft sehr ausgedehnten Knochenresektion sind gute Resultate nur in Dreiviertel der Fälle zu erwarten.
Tendopathie der Achillessehne z
Definition
Auch als Tendinose bezeichnete, degenerative Veränderung der Achillessehne, am häufigsten im mittleren Sehnenabschnitt ca. 4–5 cm proximal des Ansatzes am Kalkaneus lokalisiert. Die begleitende, entzündliche Veränderung des Sehnengleitgewebes wird als Peritendinitis bezeichnet. z
Ätiologie und Pathogenese
Die degenerativen Veränderungen sind in der Regel Folgen einer chronischen Überbelastung des am schlechtesten vaskularisierten Abschnitts der Achillessehne. Diese Überbelastung führt zu einem chronischen Belastungsschmerz (Achillodynie). Lokaler Druck durch eine Haglund-Exostose kann ebenfalls Ursache solcher Veränderungen sein. Als Folge von fortschreitenden degenerativen Veränderungen kommt es zu einer lokalen Auftreibung der Sehne (⊡ Abb. 29.32) mit steigender Rupturgefahr aufgrund intratendinöser Nekrosen (mukoide Degeneration) oder bereits eingetretener Teilrupturen.
853 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
a
c
b ⊡ Abb. 29.33a–d M. Ledderhose. a Störende knötchenförmige Verdickung im Bereich der Plantaraponeurose bei M. Ledderhose, b, c freipräparierter Knoten und Übergang in eine unauffällige Plantaraponeurose im Randbereich, d Fußsohlenmuskulatur nach volständiger Resektion des betroffenen Abschnitts der Plantaraponeurose
z
Diagnostik
Häufiges Symptom ist der Belastungsschmerz, v. a. beim Sport. Klinisch ist die betroffene Zone aufgetrieben und oft druckdolent. Sonographisch und insbesondere mittels MRT kann das Ausmaß der degenerativen Veränderungen oder möglicher Partialrupturen gut beurteilt werden. z
Therapie
Die konservative Therapie besteht in der Entlastung der Sehne durch Sportkarenz, hohen Absatz oder Pufferabsatz. Eine gute Fersenfassung ist bei Standunsicherheit wichtig, um ein Nachjustieren durch vermehrte Achillessehnenanspannung zu vermeiden. Eine Druckfreiheit im Schuh ist ggf. durch Modifikation der Fersenkappe zu erreichen. Es empfiehlt sich eine lokale antiphlogistische Therapie durch Salben.
d
Die vorübergehende Einnahme nichtsteroidaler Antiphlogistika (NSAR) kann einen akuten Reizzustand zurückdrängen. An physikalischen Therapiemaßnahmen werden Ultraschallanwendungen sowie Dehnungsübungen eingesetzt. Bei Ausbleiben des Erfolgs konservativer Behandlungsmaßnahmen sowie bei größeren degenerativen Veränderungen wird operativ behandelt. Degenerative Herde werden ausgeräumt im Sinne einer Dekompression durch Débridement von degenerativen Fasern, ggf. kombiniert mit einer lokalen Stichelung (parallel zum Faserverlauf), um die Reparaturvorgänge zu beschleunigen und die Angiogenese anzuregen. Bei Rupturgefahr ggf. Umkippplastik zur Verstärkung der geschädigten und zuvor débridierten Zone.
Plantarfibromatose z
> Die lokale Injektion von Lokalanästhetikum und insbesondere Kortison sind aufgrund der Erhöhung der Rupturgefahr immer als kritisch zu bewerten. Allenfalls kann bei Paratendinitis eine einzelne kristallfreie Kortikoidinjektion ins Sehnengleitgewebe durchgeführt werden.
Synonym
M. Ledderhose z
Definition
Es handelt sich um eine Knotenbildung im Bereich der Plantarfaszie, meist im medialen Anteil des Fußlängsgewölbes beginnend (⊡ Abb. 29.33). Das Krankheitsbild ist ähnlich und
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854
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
verwandt mit der Dupuytren-Kontraktur der Palmaraponeurose ( Abschn. 25.1.3). Aufgrund der Knotenbildung kommt es häufig zu Druckproblemen bei Belastung. Bei entsprechend ausgeprägter Beschwerdesymptomatik ohne Besserung auf konservative Maßnahmen (Einlagenversorgung mit Weichbettung), wird die Plantarfaszie bis zu ihren oft intradermalen Ausläufern reseziert. Dies kann im Extremfall zu einem Hautdefekt führen, welcher durch Hauttransplantation gedeckt werden muss. Rezidive sind trotz radikaler Exzision nicht selten (Aliusio 1996).
29.2.3
Komplexe Fußdeformitäten
Zu den Erkrankungen des Fußes bei Kindern siehe Abschn. 32.7.
Plattfuß und Knick-Platt-Fuß z
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Definition
Beim Plattfuß (Pes planus) des Erwachsenen handelt es sich um ein völliges Absinken des Fußlängsgewölbes, sodass der gesamte Fußinnenrand im Stand belastungstragend aufliegt. Bei einer Abflachung spricht man vom Senkfuß. Bei einer vermehrten valgischen Kalkaneusachse von über 6° bezogen auf die Unterschenkelachse (Rückfußvalgus) spricht man vom Knick-Fuß. Dieser geht oft mit einem abgesunkenen (Knick-Senk-Fuß) oder aufgehobenen Längsgewölbe (Knick-Platt-Fuß) einher. z
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⊡ Abb. 29.34 Coalitio calcaneonavicularis. a Die Röntgenschrägaufnahme der Fußwurzel zeigt eine knöcherne Coalitio calcaneonavicularis als Ursache für eine fixierte Rückfußvalgusstellung, b nach Resektion der Coalitio
Ätiologie und Pathogenese
Kinder werden mit einem vermeintlichen Plattfuß geboren. Das dicke Fettsohlenpolster füllt die ganze Fußsohle mit einer dicken Fettschicht aus. Das physiologische Fußlängsgewölbe bildet sich nicht vor dem 7. bis 10. Lebensjahr aus. Zwischen 15 und 20% aller Erwachsenen haben einen mehr oder weniger stark ausgeprägten flexiblen Plattfuß, der in der Regel asymptomatisch ist. Die häufigste Ursache für die Ausbildung eines Senk- oder Plattfußes bei Erwachsenen ist eine Insuffizienz der Tibialis-posterior-Sehne. Bei dieser Tibialis-posterior-Dysfunktion kommt es zu einem progredienten Funktionsausfall der Tibialis-posterior-Sehne aufgrund unterschiedlich starker degenerativer Schädigung (Hintermann 1995) (s. oben im Abschnitt »Insuffizienz und Dysfunktion der Tibialis-posterior-Sehne). z
Diagnostik
Neben einer Überprüfung der Beweglichkeit in den Fußgelenken zum Ausschluss einer kontrakten Deformität ist deswegen wie oben beschrieben die Funktion der Tibialis-posterior-Sehne zu überprüfen. Zur Bestimmung des Ausmaßes der Fehlstellung sind seitliche Röntgenaufnahmen des Fußes im Stehen sowie Schrägaufnahmen der Fußwurzel erforderlich. Hierbei ist insbesondere auf Zeichen einer Synchondrose oder Synostose im Sinne einer Coalitio talocalcanearis oder calcaneonavicularis (⊡ Abb. 29.34) zu achten. Können diese durch Nativröntgenaufnahmen nicht sicher ausgeschlossen werden, sind unter Umständen Schichtaufnahmen (CT oder MRT) erforderlich (⊡ Abb. 29.35). Derartige Verbindungen können die Ursache für fixierte Fehlstellung im Rückfußbereich sein.
⊡ Abb. 29.35 Coalitio talocalcanearis im CT
855 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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Therapie
Die konservative Therapie einer kindlichen Plattfußdeformität durch Einlagen ist ebenso wie ein physiotherapeutisches Übungsprogramm zur Kräftigung der Fußmuskulatur umstritten. Wichtig ist ggf. die Reduktion von Übergewicht, um einer Calcaneus-valgus-Stellung zu begegnen, sowie der Ausschluss von Bandinsuffizienzen (Pfannenband). Zur operativen Therapie einer Tibialis-posterior-SehnenDysfunktion s. oben. Bei gesicherter Coalitio ist beim Adolenszenten oder jüngeren Erwachsenen mit inkompletter Ossifikation der Coalitio die Resektion der Knochen-/Bindegewebebrücke mit nachfolgender Muskel- oder Fettlappeninterposition oder auch Knochenwachsabdeckung der Resektionsflächen indiziert. In der Literatur sind für dieses Verfahren gute Ergebnisse in bis zu 90% der Fälle beschrieben (Kumar 1992), wenngleich eine vollständige Wiederherstellung der Gelenkbeweglichkeit nicht erwartet werden darf. Tipp
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Liegen beim Erwachsenen bereits degenerative Veränderungen der betroffenen oder angrenzenden Gelenke vor, wird eine subtalare Korrekturarthrodese oder Tripelarthrodese des unteren Sprunggelenks empfohlen.
Hohlfuß z
⊡ Abb. 29.36a,b Hohlfuß mit deutlicher Überhöhung des Längsgewölbes und plantaren Hyperkeratosen im Bereich des Vorfußes und der Ferse. a Seitlich, b plantar
Definition
Als Hohlfuß (Pes cavus) bezeichnet man eine Fußdeformität mit pathologisch überhöhtem Längsgewölbe aufgrund einer fixierten Plantarflexionsstellung des Vorfußes im Verhältnis zum Rückfuß (Döderlein 2000), die sich auch unter Belastung nicht ausgleicht (⊡ Abb. 29.36). Durch Überbelastung des Vorfußes und des Fersenbeins entstehen dort eine übermäßige Beschwielung und Druckbeschwerden. Der laterale Fußrand ist ebenfalls überhöht und liegt im Stehen nicht durchgängig dem Boden an. Die Steilstellung der Metatarsalia begünstigt die Bildung von Krallenzehen. Das häufig Verwirrende an der Hohlfußdeformität ist die Tatsache, dass eine Vielzahl anatomischer Varianten existieren. Das Spektrum reicht vom milden Hohlfuß mit flexiblen Kral-
⊡ Abb. 29.37 Hohlfuß mit Ermüdungsfraktur an der Basis des Metatarsale V
lenzehen als einzig auffälliger Pathologie bis hin zur schweren, rigiden Deformität mit massiver Schwielenbildung, ausgeprägter Fehlbelastung, Calcaneus varus, lateraler Bandinstabilität, Druckbeschwerden am Spann und Belastungsschmerzen. Gelegentlich sind auch Ermüdungsfrakturen an der Basis des Metatarsale V zu beobachten (⊡ Abb. 29.37). Beim Ballenhohlfuß (Pes cavovarus) steht der mediale Fußrand (Metatarsale I) zu steil, der laterale Fußrand mit Rückfuß neutral. Beim Hackenhohlfuß (Pes calcaneocavus) ist das Längsgewölbe gleichmäßig überhöht und das Fersenbein steht zu steil. z
Ätiologie und Pathogenese
Gemeinsame Ursache aller Varianten der Hohlfußdeformität ist eine Muskelimbalance, die in der Mehrzahl der Fälle durch eine zunächst unbemerkte Nervenschädigung herbeigeführt wird. Brewerton und Mitarbeiter (1963) eruierten in einer Gruppe von 77 Patienten mit idiopathischem Hohlfuß in 66% eine neurologische Ursache. Bei 11 der 26 verbliebenen Patienten trat der Hohlfuß familiär gehäuft auf. Die häufigste neurologische Ursache eines Pes cavus in der westlichen Welt ist die hereditäre sensomotorische Neuropathie
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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⊡ Abb. 29.38a–e Döderlein »Hohlfuß«. a Unvollständig ausgleichbarer Rückfußvarus beim Coleman-Block-Test (15-jähriger Patient mit CharcotMarie-Tooth-Erkrankung), b vollständig ausgleichbarer Rückfuß bei Belastung der Ferse und entlastetem Vorfuß (22-jährige Patientin mit spastischer Paraparese), c, d Durch Teilbelastung bzw. Entlastung des Vorfußes lässt sich die Rückfußeinstellung zweifelsfrei beurteilen und eine evtl. Wadenmuskelverkürzung aufdecken, e kompensatorische ventrale Anschlagswirkung eines Vorfußkavus bei Belastung. (Aus: Döderlein et al. 2000)
Typ I (HSMN-Typ I, Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung). Die HSMN-Typ I wird autosomal dominant vererbt. Sie macht etwa 50% aller hereditären Neuropathien aus und wird für gewöhnlich durch eine segmentale Trisomie auf dem Chromosom 17 verursacht. Dieser Chromosomenabschnitt enthält das Gen für das periphere Myelonprotein 22 (PMP-22; Bertorini 2004). Die Fußdeformität bei HSMN-Typ I resultiert nicht aus einer absoluten Schwäche, sondern aus einer Imbalance der Muskulatur. So liegt nahezu immer eine Schwäche des M. peroneus brevis bei intaktem M. peroneus longus vor. Die selektive Denervierung betrifft in der Regel das vordere und laterale Muskelkompartiment und unterscheidet sich stark von der peripheren Polyneuropathie. Neben der Poliomyelits, die ein spezifisches Hohlfußdeformitätsmuster zeigt, können weitere neurologische Ursachen wie die Friedreich-Ataxie, die hereditäte zerebelläre Ataxie, das Roussy-Levy-Syndrom, die spinale Muskelatrophie und diverse spinale Erkrankungen eine Hohlfußdeformität verursachen. Weitere mögliche Ursachen eines Hohlfußes sind posttraumatische Zustände und ein residueller Klumpfuß. z
Diagnostik
Bei der Inspektion fällt ein überhöhtes Längsgewölbe auf (⊡ Abb. 29.36). Das Beschwielungsmuster zeigt Hyperkeratosen im Bereich der Metatarsaleköpfchen und v.a. lateral sowie dorsal unter der Ferse bei Aussparung des mittleren Fußsohlenbereiches, der keinen Bodenkontakt hat.
> Wichtig ist die sorgfältige Beobachtung des Gangbilds, evtl. mithilfe einer instrumentellen Ganganalyse, um die typischen Symptome in der Stand- und der Schwungphase beurteilen zu können. Auch sollte auf Zeichen eines Fallfußes und einer Hyperextensionsfehlstellung der Großzehe geachtet werden.
▬ Standphase: – Varusposition der Ferse – Fehlbelastung des Fußaußenrands – kompensatorische Rekurvation des Kniegelenks ▬ Schwungphase: – Fußheberschwäche – kompensatorisch verstärkte Knie- und Hüftbeugung – Extensorensubstitution mit Krallenzehenstellung Die Funktion der einzelnen Muskelgruppen muss differenziert beurteilt werden. Dabei ist v. a. auf die Funktion des M. peroneus longus als möglicher Spender für einen Sehnentransfer zu achten. Durch den Coleman-Block-Test kann beurteilt werden, ob sich der Rückfuß noch in eine physiologische Valgusposition einstellen lässt (⊡ Abb. 29.38). Eine neurologische Basisuntersuchung sollte in jedem Fall durchgeführt werden. Bei der Pedobarographie werden verstärkte Drücke beim Auftreten dorsolateral am Fersenbein und unter der Metatarsaleköpfchenreihe gemessen.
857 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Das Röntgenbild des Fußes seitlich im Stehen ermöglicht die Differenzierung zwischen zu steil gestelltem Metatarsale I und Steilstellung des Fersenbeins. Die Belastungsaufnahme im dorsoplantaren Strahlengang zeigt das Ausmaß der Dezentrierung des Taluskopfes auf dem Os naviculare (Taluskopfzeichen). z Therapie z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie ist v. a. noch im Wachstumsalter möglich und beinhaltet eine korrigierende Einlagenversorgung bei flexiblen, leichteren Deformitäten. Eine Stufeneinlage treibt dabei den Hohlfuß durch einen trapezförmigen Keil auseinander (nur bei flexiblem Hohlfuß anwendbar). Kontrakte Hohlfußdeformitäten mit entsprechender Erhöhung des Rists können zumeist nur mit einem orthopädischen Maßschuh versorgt werden. z z Operative Therapie
Bei progressiver neurologischer Grunderkrankung sollte der Zeitpunkt einer noch möglichen operativen Weichteilkorrektur durch Sehnentransfer (Peroneus-longus-Sehne auf Peroneusbrevis-Sehne bzw. hälftiger oder kompletter Tibialis-posteriorSehnen-Transfer) und ein Release der Plantarfaszie (Operation nach Steindler) nicht verpasst werden, bevor es zu einer Fixierung der Deformität kommt. Bei schweren Deformitäten ist eine Linderung der Beschwerden in der Regel nur durch ein operatives Vorgehen möglich. Ziel der operativen Hohlfußkorrektur ist stets ein plantigrader und stabiler Fuß. Die Steilstellung des Metatarsale I kann durch eine dorsale Keilentnahme im Bereich der MetatarsaleI-Basis (Operation nach Tubby) sowie aus dem Os cuneiforme mediale oder durch Korrekturarthrodese des Tarsometatarsale-I-Gelenks korrigiert werden. Eine flexible Steilstellung des Metatarsale I kann auch durch eine Versetzung der Flexorhallucis-longus-Sehne auf das Metatarsale I in Kombination mit einer Arthrodese des Interphalangealgelenks oder einer Tenodese zur Korrektur der Krallenzehenstellung der Großzehe in der Technik nach Jones korrigiert werden. Die Korrektur der Krallenzehen erfordert neben einer Resektion des Grundgliedköpfchens (Operation nach Hohmann) zumeist auch einen Transfer der langen Beugesehne auf die Streckerhaube auf Höhe des Grundglieds (Operation nach Girdlestone-Taylor), um die neutrale Stellung der Zehe zu sichern. Bei ausgeprägteren Formen wird eine basale dorsale Keilosteotomie der Metatarsalia (Operation nach Lexer) oder auch aus dem Tarsus (Operation nach Cole) mit zusätzlicher Spaltung der Plantarfaszie erforderlich. Die Korrektur im Bereich der Fußwurzel resultiert aber meist in einer Arthrodese eines oder mehrerer Fußwurzelgelenke. Durch eine Fersenbeinosteotomie mit entsprechender dorsolateraler Keilentnahme in der Technik nach Dwyer kann eine Steilstellung und eine Varusstellung des Fersenbeins korrigiert werden (⊡ Abb. 29.39). Ziel ist es dabei, den Ansatzbereich der Achillessehne am Tuber calcanei zu lateralisieren und leicht zu kranialisieren. Bei Ballenhohlfuß mit struktureller Deformität und fehlender Reponierbarkeit im Chopart-Gelenk (positives Taluskopfzeichen) sowie sekundärer Varusstellung des Rückfußes (Pes
⊡ Abb. 29.39 Hohlfußkorrektur durch Kalkaneusosteotomie nach Dwyer. Nach querer Osteotomie des Tuber calcanei wird dieser um ca. 8–12 mm nach lateral und leicht nach kranial versetzt und mit 2 Zugschrauben refixiert. Alternativ kann auch ein knöcherner Keil mit dorsolateraler Basis entnommen werden. Beim Zuklappen der Osteotomie kommt es dann zur gewünschten Lateralisierung und Kranialisierung des Tuber calcanei
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b ⊡ Abb. 29.40a,b Pes cavovarus. a Vor, b nach Tripelarthrodese nach Lambrinudi
cavovarus) besteht die Indikation, die Deformität durch eine Resektionsarthrodese des Chopart-Gelenks (Operation nach Imhäuser/Cramer), eine einfache Tripelarthrodese (Operation nach Hoke) oder eine Tripelarthrodese mit ventraler basaler Keilentnahme aus dem unteren Sprunggelenk (Operation nach Lambrinudi) zu korrigieren (⊡ Abb. 29.40).
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Spitzfuß Beim Spitzfuß (Pes equinus) kommt es zu einer Flexionsstellung des Vorfußes oder des gesamten Fußes im oberen Sprunggelenk. Ätiologisch ist zwischen angeborenen und erworbenen sowie zwischen muskulotendinösen (Verkürzung des Trizeps, Schwäche der Fußheber), ossären (Ankylose des OSG, Antekurvation der Tibia), artikulären (dorsale Kapselschrumpfung, ventrales Impingement, Deformität oder ventrale Subluxation des Talus) und dermatogenen (Schrumpfungskontraktur) Ursachen eines Spitzfußes zu unterscheiden. > In der überwiegenden Zahl der Fälle liegt eine neuromuskuläre Ursache vor.
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Ein funktioneller Spitzfuß entsteht kompensatorisch zum Ausgleich einer Beinlängendifferenz. Hier ist ein entsprechender Beinlängenausgleich indiziert. Ein schlaffer Spitzfuß entsteht zumeist posttraumatisch oder postoperativ durch eine Läsion des N. peroneus und dem dadurch bedingten Ausfall der Fußheber. Nach Redressionsbehandlung kann hier mit einer Peroneusschiene behandelt werden. Operativ besteht die Möglichkeit einer Fußheberersatzoperation (Transposition der Sehnen des M. tibialis posterior, M. peroneus longus oder M. flexor digitorum longus), einer Tenodese der Fußheber oder einer Arthrodese des Talonavikular- oder des Chopart-Gelenks. Als Folge einer spastischen Lähmung kann es zum spastischen Spitzfuß kommen. Hier ist in Abhängigkeit von der Ausgangssituation eine Achillessehnenverlängerung (perkutan, offen) oder eine Wadenmuskelverlängerung (Operation nach Baumann, Stayer, Vulpius oder Silverskjöld) empfehlenswert. Gegebenenfalls kann bei knöchern fixierter Spitzfußstellung eine dorsale Keilentnahme im Bereich des Tarsus oder eine T-Arthrodese nach Lambrinudi (s. oben, Abschn. Hohlfuß) erforderlich werden.
Hackenfuß Bei einem Hackenfuß (Pes calcaneus) handelt es sich um eine Deformität mit verstärkter Dorsalextension und eingeschränkter Plantarflexion im oberen Sprunggelenk oder einer Parese der Wadenmuskulatur. Man unterscheidet zwischen einem funktionellen Hackenfuß (Instabilität oder Zustand nach Vorfußamputation), einem kompensatorischen Hackenfuß bei Kniebeugekontraktur und einem echten Hackenfuß. Wie beim Spitzfuß können die Ursachen angeboren oder erworben sein. Der neurogene Hackenhohlfuß entsteht durch spastische Lähmung ( Abschn. 32.7). Es findet sich dabei eine Kombination aus einer Insuffizienz der Wadenmuskulatur und einer kompensatorischen Mehraktivierung der Plantarflektoren inklusive der intrinsischen Fußmuskulatur. Neben einer konservativen Therapie mit federnden Orthesen kann die Hackenfußdeformität weichteilig durch Sehnentransfer funktionierender Muskeln auf die Achillessehne oder durch Tenodese der Achillessehne behandelt werden. Auch eine sog. »Anschlagsoperation« (Arthrorise) sowie eine Rückfußarthrodese bei schwerem, instabilem Hackenhohlfuß sind mögliche Therapieoptionen.
⊡ Abb. 29.41 Spreizfußhyperkeratosen
Spreizfuß Der Spreizfuß (Pes transversoplanus) ist eine erworbene Vorfußdeformität, bei der es durch Elongation des Lig. metatarsum transversum zu einer Abflachung des Fußquergewölbes mit Tiefertreten der Metatarsaleköpfchen II–IV und einer Verbreiterung des Vorfußes bereits ohne Gewichtsbelastung kommt. Beim Abrollvorgang entsteht eine vermehrte Druckbelastung unter den Mittelfußköpfchen II–IV, was zu den typischen lokalen Hyperkeratosen führt (⊡ Abb. 29.41). Durch die fächerförmige Aufspreizung der Metatarsalia kommt es zu Verlagerungen der Sehnenzugrichtungen und dadurch zur Hallux-valgus-Deformität ( Abschn. 29.2.1) und zum Digitus quintus varus. Eine funktionelle Abschwächung der Großzehe führt zur Drucküberlastung der benachbarten Metatarsaleköpfchen (Metatarsalgie). Es wird zwischen intrinsischen (Schwäche der Bandstrukturen und Fußmuskeln) und extrinsischen Ursachen (falsches Schuhwerk) unterschieden. Auch eine erbliche Komponente konnte nachgewiesen werden. Konservativ wird mit einer Einlage mit retrokapitaler Abstützung behandelt. Eine operative Korrektur des Hallux valgus und des Dig. quintus varus sowie eine operative Behandlung der Metatarsalgie können abhängig vom Beschwerdeausmaß durchgeführt werden ( Abschn. 29.2.1).
29.2.4
Fußdeformitäten bei rheumatoider Arthritis
Zu den rheumatischen Erkrankungen siehe auch Kap. 16 und 17. z
Ätiologie und Pathogenese
Bereits bei Erstmanifestation einer rheumatoiden Arthritis ist der Vorfuß bei 16% der Patienten, nach dreijährigem Verlauf bereits bei 53% und nach langjährigem Verlauf bei bis zu 90% der Patienten befallen. Die Häufigkeit des Befalls der Fußwur-
859 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
zel- und Mittelfußgelenke beträgt 40–60%, der Sprunggelenke in Abhängigkeit von der Erkrankungsdauer 10–52%, wobei das obere Sprunggelenk etwas seltener betroffen ist als das untere. Beim rheumatischen Vorfußbefall kommt es durch initiale Synovialitiden zur Destruktion von Kapsel- und Bandstrukturen sowie schließlich des Gelenkknorpels selbst. Es bildet sich ein ausgeprägter Spreizfuß bis hin zur plantarkonvexen Deformierung des Quergewölbes mit Hallux valgus, Bursitiden v. a. unter den Metatarsaleköpfchen, einer Ruptur der plantaren Sehnenplatten mit Luxationsstellung in den Zehengrundgelenken und Krallenzehen sowie zu einer fibularen Achsenabweichung der Zehen II–IV im Grundgelenk. Es resultiert ein sog. dreieckiger rheumatischer Vorfuß. Beim Rückfußbefall kommt es häufig zu einer Synovialitis im oberen und unteren Sprunggelenk, zu Tenosynovialitiden im Bereich der retromalleolären Sehnenscheiden, Bursitis subachillea und in späteren Stadien oft zu extremen und kontrakten Rückfußdeformitäten. Das Fußlängsgewölbe sinkt ab, und es kommt aufgrund der zunehmenden Instabilität im unteren Sprunggelenk zum rheumatischen Knick-Senk-Fuß und Rückfußvalgus (⊡ Abb. 29.42) mit Subluxation des Taluskopfes nach medioplantar. z
Diagnostik
Für den Vorfußbefall ist die Angabe von Vorfußschmerzen beim Abrollen wegweisend. Charakteristisch ist auch ein rasch progredienter Hallux valgus. Bei der klinischen Untersuchung liefert der Gänslen-Handgriff neben der differenzierten Palpation der einzelnen Zehengelenke einen Hinweis auf Synovialitiden im Bereich der Grundgelenke. Hierfür wird eine mediolaterale Vorfußkompression durchgeführt, die bei synovialitischem Befall der Zehengrundgelenke Schmerzen im Sinne eines positiven Gänslen-Zeichens auslöst. Sonographisch und mittels MRT lassen sich Ergussbildungen und Synovialitiden in den betroffenen Gelenken, Sehnenscheiden und Bursitiden nachweisen. Bei der Röntgenuntersuchung können neben der oben beschriebenen Achsenabweichungen auch typische Destruktionen an betroffenen Gelenken mit den arthritischen Direktzeichen wie Gelenkspaltverschmälerungen, periartikuläre Demineralisierung (vermehrte Strahlentransparenz) und Usurierungen gefunden werden. Im Bereich des Rückfußes hat neben der klinischen Erscheinung die Bildgebung bei der Differenzialdiagnostik eine besondere Bedeutung. Im Gegensatz zur degenerativen Arthrose fehlen im Nativröntgenbild die typischen Arthrosezeichen wie Randosteophytenbildung und subchondrale Sklerosezonen. Es dominieren dagegen die arthritischen Direktzeichen. Synovialitiden und Ergussbildungen können sonographisch und mittels MRT dargestellt werden. z Therapie z z Konservative Therapie
Essenzieller Bestandteil der konservativen Therapie der Fußdeformitäten bei rheumatoider Arthritis ist neben der internistischen antiinflammatorischen und immunmodulierenden Therapie die korrekte Schuh- und Einlagenversorgung. Dabei ist das Grundprinzip die Druckumverteilung im Bereich druck-
⊡ Abb. 29.42 Hochgradiger rheumatischer Pes planovalgus
gefährdeter Areale, insbesondere der Mittelfußköpfchen (breite retrokapitale Querabstützung von MTK I–V, Weichbettung unter den Metatarsaleköpfchen bzw. den Sesambeinen) und des beim Pes planovalgus oft prominenten Os naviculare und des Malleolus medialis. Das bei Insuffizienz der Tibialis-posteriorSehne abgesunkene Fußlängsgewölbe muss durch eine solide Bettung gestützt und gepolstert werden. In den Frühstadien der Deformität sind diese Maßnahmen noch in ausreichend weiten Konfektionsschuhen mit entsprechender Schuhzurichtung durch Mittelfußrolle und fußbettende Einlagen möglich. Je weiter die Deformitäten voranschreiten, desto häufiger ist ein orthopädischer Maßschuh erforderlich. Mit der rheumatischen Erkrankung ist das Fußsohlenpolster zunehmend hypo- bzw. atroph, sodass es einer breitflächigen langsohligen Weichbettung bedarf. Tipp
I
I
Artikulo- und Tenosynovialitiden können bei isolierter Entzündungssymptomatik durch lokale Kortisoninjektionen oft erfolgreich behandelt werden.
z z Operative Therapie
Zum Zeitpunkt der Indikationsstellung sollten alle konservativen Maßnahmen, einschließlich einer adäquaten Einlagenund Schuhversorgung, ausgereizt sein. Weil die rheumatische Fußdeformität häufig der limitierende Faktor für Mobilität und Gehfähigkeit des Patienten ist, muss in der Regel bei gleichrangiger Indikation der unteren Extremität der Vorrang gegeben werden (Köck 2009). Prinzipiell ist zu unterscheiden zwischen den gelenkerhaltenden präventiven Eingriffen und den rekonstruktiven Eingriffen, die gelenkersetzend oder -versteifend sein können. Gelenkerhaltende Verfahren kommen in den radiologischen Stadien nach Larsen-Dahle-Eek (LDE) 0–III zur Anwendung. In den Stadien LDE IV–V sind meist rekonstruktive Operationsverfahren erforderlich (Köck 2009). Der Operationszeitpunkt sollte möglichst früh gewählt werden, da gelenkerhaltende Verfahren in jedem Fall den rekonstruktiven oder resezierenden Eingriffen vorzuziehen sind.
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Die Indikation zur Synovektomie im Bereich des Fußes besteht bei therapierefraktärer Artikulo- und Tenosynovialitis. Eine Synovektomie in den LDE-Stadien 0–II wird als Frühsynovektomie, in den LDE-Stadien II–III als Spätsynovektomie bezeichnet. > Isolierte Bursitiden ohne knöchernen Eingriff zur langfristigen Vermeidung von lokalen Druckbelastungen neigen zu Rezidiven. Oberes Sprunggelenk und Rückfuß
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Der rheumatische Rückfuß ist geprägt durch den frühzeitigen Befall der Sprunggelenke und des Talonavikulargelenks sowie einer Synovialitis der Peroneal- und Tibialis-posterior-Sehne (Schill 2002). Aus dieser Kombination von artikulärem und extraartikulärem Befall entwickelt sich der charakteristische Pes planovalgus. Die rechtzeitige Indikationsstellung zur Synovektomie des Sprunggelenks entscheidet wesentlich über die Langzeitprognose des Gelenks und der Rückfußstatik. In den Stadien LDE 0–II, bei isolierter Synovialitis des OSG v. a. in den ventralen Gelenkabschnitten mit allenfalls geringgradiger Destruktion und ohne begleitende Tenosynovialitis ist die Durchführung einer arthroskopischen Frühsynovektomie heute als Standardvorgehen zu betrachten (⊡ Abb. 29.43). Um mit diesem gering traumatisierenden Eingriff gute Behandlungsresultate zu erzielen, sollte 6 Wochen postoperativ eine Radiosynoviorthese mit Rhenium oder eine Chemosynoviorthese mit Natriummorrhuat durchgeführt werden (Rittmeister 1999). Die offene Spätsynovektomie ist den Fällen mit ausgeprägter, zottig-proliferativer Synovialitis und mittelgradig destruktiven Gelenkveränderungen im Stadium LDE II–III vorbehalten. Sie ist, falls erforderlich, gut mit einer Tenosynovektomie der Peroneal- und Tibialis-posterior-Sehnen oder einer stellungskorrigierenden subtalaren Arthrodese zu kombinieren. In mehreren Studien konnte mit diesem Vorgehen eine Reduktion von Schmerzen und Schwellung um 70–80% sowie eine zufriedenstellende Gelenkfunktion erzielt werden (Akagi 1997, Rittmeister 1999). Da beim Rheumatiker eine Dysfunktion der Tibialis-posterior-Sehne meist erst im fortgeschrittenen Stadium eines bereits fixierten Pes planovalgus zu entsprechenden Beschwerden führt, ist der sonst im Stadium II übliche Transfer der Flexor-digitorum-longus-Sehne nach Johnson nur selten indiziert (Fuhrmann 2002). In den fortgeschrittenen Stadien LDE IV–V gibt es bei Befall des oberen Sprunggelenks neben der Arthrodese nach Ausschluss eventueller Kontraindikationen auch die Möglichkeit einer endoprothetischen Versorgung des OSG. Es gilt dabei zu beachten, dass eine ausreichende Restfunktion im OSG, eine intakte Bandstabilität, ein gutes knöchernes Prothesenlager und eine allenfalls geringe Rückfußfehlstatik (maximale Varus-/ Valgusfehlstellung von 15°) vorliegen (Hintermann 1999; Abschn. 29.2.6). Die Überlebensraten der neueren unzementierten Dreikomponentenprothesen liegen bei einem mittelfristigen Follow-up von 8–10 Jahren bei 85–96% (Schill 1998, 2006). Liegt eine Kontraindikation zur OSG-Alloarthroplastik im Stadium LDE IV–V vor, so stellt die OSG-Arthrodese nach wie vor das Verfahren der Wahl dar. Auch wenn sie zu einer erhöh-
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b ⊡ Abb. 29.43 Arthroskopie des OSG. a Vor, b nach arthroskopischer Synovektomie
ten mechanischen Beanspruchung der Nachbargelenke und einem unphysiologischen Gangmuster führt (Crachiollo 1992), bietet sie die sichere Möglichkeit einer Stellungskorrektur. Falls erforderlich kann eine Mitversteifung des Subtalar- und Chopart-Gelenks in selber Operation bis hin zur kompletten Rückfußarthrodese erfolgen. In der Literatur werden in 70–90% gute klinische Resultate nach OSG-Arthrodese beim Rheumatiker beschrieben (Crachiollo 1992, Wolfrum 1997). Zu bedenken ist, dass bei beidseitiger OSG-Arthrodese ein Treppauf- oder -abgehen fast unmöglich ist. ! Cave Eine alleinige Synovektomie der Rückfußgelenke (Subtalargelenk, Talonavikular- und Kalkaneokuboidalgelenk) ist selten indiziert. Sie birgt die Gefahr einer Gelenkdestabilisierung.
Bei therapierefraktären Schmerzen, Destruktion und Fehlstellung der Rückfußgelenke besteht die Indikation zur Arthrodese. Die Versteifung sollte sich dabei nur auf die betroffenen Gelenke beschränken, um den Einfluss auf die Bewegung der einzelnen Fußwurzelknochen zueinander und die Veränderungen im Kraft-
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⊡ Abb. 29.44a–d Vorfußdeformität. a Schwere rheumatische Vorfußdeformität, b intraoperativer Situs der Operation nach Hoffmann-Tillmann, c klinischer Zustand nach erfolgter Vorfußkorrektur, d Röntgenbild nach erfolgter Vorfußkorrektur
fluss so gering wie möglich zu halten (Jüsten 2000). Bei fixiertem Pes planovalgus ist häufig eine stellungskorrigierende Rückfußarthrodese im Sinne einer Tripelarthrodese erforderlich. Wie bei den OSG-Arthrodesen ist auch nach Rückfußarthrodesen neben einer ausreichend langen Ent- bzw. Teilbelastung eine vorübergehende Gipsruhigstellung anzuraten, wenngleich die hier einwirkenden Kräfte bei fehlender Hebelwirkung deutlich geringer sind als am OSG. Die oben bereits beschriebene Einlagenversorgung mit Längsgewölbestütze und Mittelfußrolle sollte zumindest im ersten Jahr postoperativ unbedingt verordnet werden. Vorfuß
Neben den eigentlichen artikulären und periartikulären Destruktionen im Vorfußbereich sind Rückfußdeformitäten wesentliche Mitursache für das Auftreten der typischen schweren Vorfußfehlstellungen beim Rheumatiker. Diesen Umstand gilt es vor Durchführung isolierter operativer Eingriffe am Vorfuß unbedingt zu beachten, um späteren Rezidiven vorzubeugen (Fuhrmann 2002). Eine alleinige Synovektomie der Zehengelenke, ggf. mit gelenkerhaltender Korrektur des ersten Strahls und Verkürzungsosteotomien der übrigen Metatarsalia (Opera-
tion nach Weil) sowie einem Sehnentransfer nach GirdlestoneTaylor sind dabei kein Routineeingriff und nur selten in den Stadien LDE 0–II indiziert. Die Langzeitergebnisse nach Synovektomie und gelenkerhaltenden Eingriffen, insbesondere an den Kleinzehengelenken, zeigen eine deutliche radiologische Progredienz der Gelenkdestruktion (Belt 1998). > Bei komplexen Vorfußdeformitäten im Destruktionsstadium LDE IV–V stellt die Resektionsarthroplastik nach wie vor den »Goldstandard« dar.
Bei ausgeprägtem rheumatischem Befall der Metatarsophalangealgelenke erbringt die sogenannte »komplexe rheumatische Vorfußkorrektur« langfristig eine deutliche Schmerzreduktion und damit eine Verbesserung der Gehfähigkeit des Patienten (Jüten 2000). Hierbei wird eine Resektionsarthroplastik am Großzehengrundgelenk unter Entfernung eines Teils des Mittelfußköpfchens und der Grundgliedbasis (modifizierte Technik nach Hueter-Mayo und Keller-Brandes oder Clayton) durchgeführt. Die Mittelfußköpfchen II–V werden über einen plantaren Zugang in der Technik nach Hoffmann und einer Dermodese nach Tillmann reseziert (⊡ Abb. 29.44). Bei
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
der Hautinzision ist darauf zu achten, dass die spätere Narbe distal der Belastungszone unter den Enden der Metatarsalia zu liegen kommt, um hier später keine Irritationen hervorzurufen (Grifka 1997). Nachfolgend empfiehlt sich die postoperative Zügelung der Zehen mittels Tapeverband oder Bandage für ca. 6 Wochen und anschließend eine Schuhzurichtung. Durch dynamische Fußdruckmessungen konnte gezeigt werden, dass eine komplette Resektion der Mittelfußköpfchen und insbesondere des MTK I einer funktionellen Vorfußamputation gleich kommt und somit die Großzehe in den Abrollvorgang nicht mehr einbezogen ist. Daher ist bei jüngeren und aktiven Rheumatikern die Indikation zur Arthrodese des MTPI-Gelenks in Kombination mit der Operation nach Hoffmann/ Tillmann gegeben (Fuhrmann 2002).
29.2.5 z
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z
Epidemiologie
Die Prävalenz des Fußulkus in der diabetischen Bevölkerung beträgt in Abhängigkeit vom Alter zwischen 2 und 10% mit einer Inzidenz von 2,2–5,9% pro Jahr (Ramsey 1999).
Diabetisches Fußsyndrom
Definition
Das diabetische Fußsyndrom (DFS) ist ein Teil des diabetischen Spätsyndroms. Kausal für die pathologischen Veränderung am Fuß des Diabetikers sind die periphere Polyneuropathie sowie die Angiopathie. Das DFS ist gekennzeichnet durch Ulzeration (⊡ Abb. 29.45), Gewebsnekrosen (Gangrän), Infektion und Arthropathie. Es ist in den Industrieländern die häufigste Ursache für eine Amputation und besitzt damit eine große ökonomische und soziale Relevanz. Ein spezielles Krankheitsbild im Rahmen des DFS stellt die diabetisch-neuropathische Osteoarthropathie (DNOAP) dar. Hierbei entstehen auf dem Boden der peripheren Neuropathie mit überwiegender Störung der sympathischen Nervenfasern entzündliche Destruktionen des Fußskeletts mit oft schwerwiegenden Deformierungen (⊡ Tab. 29.2; Köck 2009).
⊡ Abb. 29.45 Diabetisches Fußsyndrom mit Fußläsion Grad III nach Wagner und Armstrong
⊡ Tab. 29.2 Stadieneinteilung der DNOAP nach Eichenholtz und Levin (Köck 2007) Stadium
Radiologisch
0: Initial
MRT: Knochenmarködem Nativröntgen: unauffällig
I: Destruktion
a: Fragmentation
Nativröntgen: Demineralisierung → Osteolyse → ossäre Fragmentation → Gelenkdestruktion
b: Luxation
Gelenk(sub-)luxation → Fußdeformität
Klinisch
Schwellung ↑ Rötung ↑ Überwärmung ↑ Gelenkerguss ↑ Gelenkinstabilität ↑ Fußdeformität ↑
II: Reparation
Nativröntgen: Remineralisierung → Fragmentresorption → Knochenneubildung (Osteophyten, Sklerosierung, Kallus)
Schwellung ↓ Rötung ↓ Überwärmung ↓
III: Konsolidierung
Nativröntgen: knöcherne Fusion → Ankylose
Fußdeformität → oder ↑ Gelenkeinsteifung ↑
IV: Ulkus
Nativröntgen: Fußdeformität (→ Osteitis)
→ geht über in, ↑ nimmt zu, ↓ nimmt ab
863 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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Ätiologie und Pathogenese
Die klinischen Formen der diabetischen Angiopathie sind vielgestaltig. Das Bild der Ischämie kann von akralen Nekrosen, Fersennekrosen und verzögerter Wundheilung beim Malum perforans bis zur rasch progredienten, trophischen Gewebeläsion reichen. > Die herkömmliche Klassifikation der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK) anhand der FontaineStadien und Rutherford-Kategorien ist bei Diabetikern problematisch und wegen der fehlenden Schmerzwahrnehmung oft fehlerhaft (TASC 2000).
Eine besondere Rolle spielt bei der Pathophysiologie der diabetischen Angiopathie die frühzeitige stoffwechselabhängige Störung der endothelialen Funktion. Histomorphologisch sind Verdickungen der Basalmembran, im fortgeschrittenen Krankheitsverlauf eine Reduktion der Perizyten und eine Kapillardilatation beschrieben, die funktionelle Störungen der Mikrozirkulation (Mikroangiopathie) verursachen. Das Vorliegen einer Durchblutungsstörung als Folge einer pAVK gehört zu den wichtigsten Ursachen für die Entstehung einer Fußläsion bei Diabetes mellitus und beeinflusst entscheidend das Behandlungsergebnis (Reiber 1992) Die diabetische Polyneuropathie ist distal symmetrisch, meist auf die Beine beschränkt, mit vorwiegend sensiblen, aber auch motorischen Ausfällen (Krallenzehendeformität durch Ausfall der intrinsischen Fußmuskulatur) und variabler autonomer Beteiligung. Neuropathische Schmerzen können v. a. zu Beginn der Erkrankung im Vordergrund der Beschwerden stehen. Durch die sensible Neuropathie kommt es zum Verlust der protektiven Sensibilität, die in Kombination mit dem Verlust der Sympathikusfunktion mit trockener, rissiger Haut die Entstehung von Fußläsionen stark begünstigt. Die Entstehung einer diabetischen Fußläsion ist ein multifaktorielles und komplexes Geschehen. Neben den beiden intrinsischen Hauptfaktoren Neuropathie und Angiopathie spielen extrinsische Faktoren wie (Bagatell-)Traumen, Deformitäten und sozioökonomische Faktoren eine bedeutende Rolle. Diabetesbedingte zelluläre und biomechanische Dysfunktionen führen in einen Circulus vitiosus, der mit einer oberflächlichen, häufig unbemerkten Hautläsion beginnt und bei chronisch gestörter Wundheilung nicht selten in einer ausgedehnten, beinbedrohenden Infektion endet (Apelqvist 1992).
Die DNOAP (diabetisch-neuropathische Osteoarthropathie) ist eine schwerwiegende Komplikation des diabetischen Fußsyndroms und zeigt einen charakteristischen Krankheitsverlauf. Auf eine akute entzündliche Phase (akuter CharcotFuß) mit Knochendemineralisierung folgt eine Gelenk- und Knochendestruktion, die schließlich nach Remineralisierung in das Konsolidierungsstadium mit oft sehr ausgeprägten Fußdeformitäten mündet (chronischer Charcot-Fuß). Bezüglich der Pathophysiologie werden sowohl neurotraumatische als auch neurovaskuläre Mechanismen diskutiert (Köck 2009). > Bei inadäquater oder fehlender Therapie resultieren in der Regel massive Fußfehlstellungen und Gelenkinstabilitäten mit chronischen Ulzerationen, einer Minderbelastbarkeit des Fußes oder gar einer dauerhaften Immobilisation des Patienten. z
Klassifikation
Essenziell für eine suffiziente Therapie der DNOAP ist eine korrekte Einteilung der Destruktion hinsichtlich des Erkankungsstadiums nach Eichenholtz und Levin (⊡ Tab. 29.2) und der Lokalisation nach Sanders (1992). Klassifikation der DNOAP entsprechend der Lokalisation der Destruktion nach Sanders: ▬ Typ I: Vorfußbefall mit Osteolysen im Bereich der Metatarsophalangealgelenke, sog. »candy-sticks« ▬ Typ II: Befall der Tarsometatarsalgelenke (Lisfranc-Gelenk) mit pathologischen Frakturen und Luxationen, Ausbildung eines Pes planus et abductus und Druckspitze unter dem prominenten Os cuboideum (⊡ Abb. 29.46) ▬ Typ III: Destruktionen im Bereich der Bona-Jäger- bzw. der Chopart-Gelenklinie mit Einbruch des Fußlängsgewölbes (Schaukelfuß) ▬ Typ IV: peritalare Destruktion mit Desintegration und Instabilität des Rückfußes (⊡ Abb. 29.47) ▬ Typ V: Destruktion des Kalkaneus mit Verplumpung des Rückfußes Die Ulzerationen werden gemäß der Wagner-Armstrong-Klassifikation in verschiedene Stadien eingeteilt (⊡ Tab. 29.3). z
Diagnostik
Bei der Basisuntersuchung soll mit einfachen anamnestischen Fragen und einer klinischen Untersuchung, zu der neben einem
⊡ Tab. 29.3 Klassifikation der Ulzerationen beim diabetischen Fußsyndrom nach Wagner und Armstrong ArmstrongStadium
Wagner-Grad
1
2
3
4
5
A
Prä- oder postulzerativer Fuß
Oberflächliche Wunde
Wunde bis zur Ebene von Sehne und Kapsel
Wunde bis zur Ebene von Knochen und Gelenken
Nekrose von Teilen des Fußes
Nekrose des gesamten Fußes
B
Mit Infektion
C
Mit Ischämie
D
Mit Infektion und Ischämie
29
864
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
geschulten Auge und einer manuellen Untersuchung nur ein Tasthaar, eine Stimmgabel und ein Reflexhammer gebraucht werden, eine signifikante diabetische Polyneuropathie sowie eine periphere arterielle Verschlusskrankheit diagnostiziert oder ausgeschlossen werden. Neben der Inspektion des Fußes (statisch, dynamisch) sollte auch das getragene Schuhwerk kritisch überprüft werden. Eine vorhandene Fußläsion wird klassifiziert und in ihrem Schweregrad eingeschätzt, um evtl. weitere diagnostische und v. a. therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Bei infektiösen Geschehen ist stets eine fachgerechte Probenentnahme zur mikrobiologischen Untersuchung indiziert. Eine Röntgenuntersuchung des Fußskeletts in mehreren Ebenen und insbesondere unter Belastung im seitlichen Strahlengang ist stets erforderlich. Bei Verdacht auf eine Makroangiopathie sind umgehend Maßnahmen zur weiteren Gefäßdiagnostik (Duplexsonographie, Angiographie) einzuleiten. Zur Diagnostik möglicher tiefer Infektherde oder des Frühstadiums einer DNOAP ist eine MRT-Untersuchung angeraten. Die Labordiagnostik sollte insbesondere die humoralen Entzündungsparameter (quant. CRP, Blutbild und BSG) beinhalten. Die Pedobarographie ist hilfreich, um Druckspitzen für eine adäquate Einlagenversorgung bzw. Schuhversorgung genau zu lokalisieren.
a
29
z Therapie z z Konservative Therapie
b
c ⊡ Abb. 29.46a–c DNOAP Typ II nach Sanders und Stadium III nach Levin mit Verlust des Fußlängsgewölbes und Ulkus unter dem plantar prominenten Os cuboideum. a Klinisch, b im Röntgenbild, c Zustand nach Exostosenresektion im Bereich des plantar prominenten Os cuboideum
⊡ Abb. 29.47a,b DNOAP Typ IV nach Sanders und Stadium II nach Levin mit massiver peritalarer Destruktion, hochgradiger Instabilität und Valgusfehlstellung des Rückfußes. a Klinisch, b im Röntgenbild
a
Für das DFS gibt es vielfältige konservative Therapieansätze: internistische, angiologische und orthopädietechnische. Voraussetzung für die erfolgreiche Therapie eines diabetischen Fußes ist die fachgerechte Einstellung des Stoffwechsels sowie eine sorgfältige Patientenschulung. Durch eine Pharmakotherapie neuropathischer Schmerzen und Missempfindungen werden die Beschwerden in der Regel nicht beseitigt, sondern gelindert. Wenn die individuelle Situation des Patienten es zulässt, sollten bei pAVK gefäßeröffnende Maßnahmen (Angioplastie, Revaskularisation) angewendet werden. Wenn dies nicht möglich ist, muss die konservative medikamentöse Therapie der Angiopathie (Thrombozytenaggregationshemmer, Antikoagulation, Prostanoide) voll ausgeschöpft werden. Für das lokale Wundmanagement sind die in der Übersicht dagestellten Punkte von essenzieller Bedeutung (nach den evidenzbasierten Leitlinien der American Diabetes Association).
b
865 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Lokales Wundmanagement
▬ ▬ ▬ ▬
▬ ▬ ▬ ▬
Klärung der Ätiologie Klassifikation der Wunde Entlastung des Wundareals (offloading) Gewebe- bzw. Wundkontrollen, regelmäßige Kontrolle der Infektzeichen, feuchte Wundbehandlung, Überwachung der Wundränder (TIME-Prinzip: »tissue-, infectioncontrol, moist woundcare, epidermal margin«) konsequentes, kontinuierliches Wunddébridement feuchte Wundbehandlung unter Kontrolle der bakteriellen Kolonisierung Optimierung der Ernährung und der Diabeteseinstellung Patientenführung und Förderung der Patientencompliance
Neben einem fachgerechten Wunddébridement ist eine stadiengerechte Behandlung mit den heute zur Verfügung stehenden Verfahren der Wundtherapie erforderlich: ▬ Verbandsmaterialien (Hydrofasern, Alginate, Schaumverbände, Hydrokolloide, Folienverbände) ▬ Wundreinigung mit antiseptischen Lösungen ▬ Vakuumtherapie ▬ Madentherapie ▬ sonstige Präparate (Enzyme, Wachstumsfaktoren, Proteaseinhibitoren etc.) Bei nachgewiesener Infektion eines diabetischen Fußes ist eine antibiotische Therapie im Sinne der Sekundärprävention immer angezeigt, um das Fortschreiten der Infektion zu verhindern und somit der Gefahr einer Amputation vorzubeugen. Die Auswahl der Substanzen sowie die Art der Applikation (oral oder parenteral) richten sich nach dem Schweregrad und dem Ort der Infektion sowie dem Zustand des Patienten. Die orthopädieschuhtechnische Versorgung ist eine der Hauptsäulen in der Prävention und Therapie des diabetischen Fußes. Schon beim Auftreten einer Nervenfunktionsstörung sollte eine präventive schuhtechnische Versorgung zur plantaren Druckumverteilung mit weichbettenden Einlagen, evtl. ergänzt durch Zurichtungen am Schuh, erfolgen. Bei zusätzlichen Fußdeformitäten stehen je nach Ausprägung verschiedene Möglichkeiten der adaptierten Maßschuhversorgung zur Verfügung. Zur entlastenden Therapie diabetischer Fußulzera können technische Hilfsmittel wie Entlastungsschuhe, Orthesen oder ein Vollkontaktgips angelegt werden. Das Vorliegen einer diabetischen Osteoarthropathie (DNOAP) macht zunächst eine aufwendige Entlastungstherapie mit einer Entlastungsorthese erforderlich. Nach Stabilisierung des Fußskeletts erfolgt dann die Versorgung mit einem orthopädischen Maßschuh, der von der Bauart her einem Arthrodesenstiefel gleicht. Die stadienadaptierte Schuhversorgung beim DFS erfolgt in Deutschland entsprechend den Richtlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG), die eine Einteilung in Risikoklassen vornimmt. Grundprinzipien in der Ulkusprävention sind eine bestmögliche Druckumverteilung im Bereich der
Fußsohle mit Reduzierung von Druck- und Scherkräften, die neben einer entsprechenden Fußbettung eine Sohlenversteifung mit Abrollsohle (Mittelfußrolle plus Absatzabrundung) erfordert. Bei vorliegender Fußläsion oder florider DNOAP ist eine Druckentlastung bis hin zur Totalentlastung durch Immobilisation oder Entlastungsorthese (⊡ Abb. 29.48) erforderlich. Einige Studien mit kleineren Fallzahlen legen einen positiven Effekt einer adjuvante Therapie mit Bisphosphonaten in der Therapie der floriden DNOAP (Stadium I und II) nahe (Guis 1999, Selby 1994). z z Operative Therapie
Die Indikation zur stationären und operativen Behandlung besteht in der Regel im Stadium IIb nach der Wagner-Armstrong-Klassifikation (⊡ Tab. 29.3). Bei manifester Infektion und/ oder Ischämie ist sie oft auch schon in früheren Stadien gegeben. Durch ein rechtzeitiges operatives Vorgehen ist gerade in der Infektsituation mit bereits bestehender Osteomyelitis die Krankheitsdauer zu verkürzen und ein Heilerfolg wahrscheinlicher (Pittet 1999). Da bei Patienten mit diabetischem Fußsyndrom in der Regel eine längere Diabetesdauer vorausgeht und das diabetische Fußsyndrom nur ein Teil des diabetischen Spätsyndroms ist, sollte sich der Operateur bei dieser Patientengruppe die speziellen Risiken stets vor Augen führen und im Umfeld einer Operation alle Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen.
⊡ Abb. 29.48 Zweischalenentlastungsorthese aus Karbon
29
866
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
a
29
b ⊡ Abb. 29.49a,b DNOAP Typ IV. a Präoperativ, b nach Korrektur mit Talektomie und Rückfußarthrodese
(Wölfle 2003). Die standardmäßige Antikoagulation nach Revaskularisierung erfolgt mit Acetylsalicylsäure 100 mg/Tag. Da die akute Infektion eines diabetischen Fußes rasch zu einer Bedrohung für die betroffene Extremität werden kann, müssen alle Möglichkeiten der Behandlung (Antibiose, Revaskularisierung, Blutglukoseeinstellung, lokale Wundbehandlung) ausgeschöpft werden. Führen all diese Maßnahmen zu keiner ausreichenden Infekteindämmung, ist eine operative Therapie unumgänglich. Die operative Therapie steht im Spannungsfeld zwischen einer möglichst radikalen Sanierung des Infektionsherdes und einem maximal möglichen Erhalt der Extremität unter Vermeidung einer Amputation. Das Débridement, die Sequestrotomie und die Nekrosektomie sollten daher stets unter Berücksichtigung der Fußkompartimente und der funktionellen Einheiten des Fußes erfolgen (Köck 2009). Da beim Diabetiker die systemischen Infektzeichen wie Fieber, Anstieg der BSG-, CRP- und Leukozytenwerte oft nur gering ausgeprägt sind oder fehlen, sind in der Regel die Anamnese und der klinische Befund diagnostisch und therapeutisch wegweisend. Die Indikation zu operativen Eingriffen besteht auch bei schweren Instabilitäten und Fehlstellungen von Fuß und Sprunggelenk, rezidivierenden Ulzerationen und sekundären Infektionen, die eine Schuh- und Orthesenversorgung nicht oder nur sehr eingeschränkt zulassen und zu einer dauerhaften Immobilisierung des Patienten führen. Neben den unkomplizierten Exostosenabtragungen zur Beseitigung lokaler Druckulzerationen (⊡ Abb. 29.46c) sind die Korrekturarthrodesen der Fußwurzel und des Rückfußes meist sehr aufwendig (⊡ Abb. 29.49). Sie bedürfen neben einer stabilen internen oder externen Osteosynthese v. a. einer ausreichend langen postoperativen Entlastungsphase, um eine knöcherne Durchbauung zu erzielen. Gelingt dies nicht, ist in der Regel auch bei einer straffen Pseudarthrose das Behandlungsziel eines ausreichend stabilen und plantigraden Fußes mit intakter Haut zu erreichen.
29.2.6
Oberes Sprunggelenk
Arthrose > Jeder Patient mit einem diabetischen Fuß, der eine ischämische Komponente aufweist, bedarf der Vorstellung beim Gefäßchirurgen und einer adäquaten Gefäßdiagnostik. Bei 80% aller Patienten ist eine Revaskularisierung möglich (TASC 2000).
Das typische Muster der pAVK beim Diabetiker unterscheidet sich von dem des Nicht-Diabetikers. Mit der radiologischinterventionellen Revaskularisierung können keine kleinen Fußgefäße behandelt werden. Jedoch kann der Perfusionsdruck im Fuß durch Behebung von Stenosen der großen Gefäße im Becken-Bein-Stromgebiet deutlich verbessert werden. Falls eine interventionelle Therapie nicht möglich ist, sind meist distale Rekonstruktionen mittels kruraler oder pedaler Bypässe erforderlich. Die Ergebnisse der peripheren Bypasschirurgie sind beim Diabetiker nicht schlechter als beim Nicht-Diabetiker
Zu den rheumatischen Erkrankungen siehe auch Kap. 16 und 17. z
Ätiologie und Pathogenese
Die primäre Arthrose des oberen Sprunggelenks (OSG) ist relativ selten. Eine sekundäre Arthrose entsteht häufig bereits wenige Jahre nach in Fehlstellung verheilten Frakturen mit Gelenkbeteiligung oder bei Fehlstellung der Gelenkachse nach Unterschenkelfrakturen. Weitere Ursachen für sekundäre Arthrosen sind Osteonekrosen oder Schädigungen nach Wachstumsstörungen. z
Epidemiologie
Einer epidemiologischen Studie zufolge beträgt die Häufigkeit der primären OSG-Arthrose 7%, die der posttraumatischen 37% und Häufigkeit der Arthrosen aufgrund einer OSG-Instabilität 17% (Saltzman 2005).
867 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
z
Diagnostik
Im Frühstadium stehen Belastungsschmerzen im Vordergrund. Mit zunehmender Gelenkdegeneration kommt es auch zu Ruhe- und Nachtschmerzen sowie zu Bewegungseinschränkungen. Die klinische Untersuchung sollte am unbelasteten und belasteten Fuß erfolgen. Neben einer Untersuchung auf lokalen Druckschmerz, Kapselschwellung, Erguss, Bandstabilität, Gelenk- und Sehnenfunktion sollte eine statische und dynamische Beurteilung der Rückfußstellung erfolgen. Bei der radiologischen Untersuchung des OSG in 2 Ebenen sind die typischen Arthrosezeichen wie eine vermehrte subchondrale Sklerosierung und nicht selten einseitige Höhenminderung des Gelenkspalts zu finden. Mit Fortschreiten der Erkrankung kommt es zu osteophytären Randkantenausziehungen, Aufhebung des Gelenkspalts und Deformierungen. Vor rekonstruktiven Eingriffen am OSG ist unter Umständen zur Beurteilung der Beinachse eine Ganzbeinstandaufnahme anzufertigen. Das MRT lässt Aussagen zur Vitalität des Knochens (Nekrosen, Knochenmarködem), über lokale Knorpelschädigungen und den Zustand der umgebenden Weichteile zu. Zur Evaluierung der exakten Schmerzlokalisation ist zur Unterscheidung des Ursprungs im oberen oder unteren Sprunggelenk eine selektive Lokalinfiltration in der Regel zielführend. z Therapie z z Konservative Therapie
Bei schmerzhafter Einschränkung der Dorsalextension kann eine Absatzerhöhung bzw. ein Fersenkeil die Beschwerden lindern. Ein Pufferabsatz und eine Mittelfußrolle bewirken eine partielle Entlastung des OSG bewirkt zudem eine Abrollsohle und ein Pufferabsatz. Als spezielle schuhtechnische Maßnahme kann das OSG durch einen Arthrodesenstiefel mit Schaftversteifung immobilisiert werden. Kleinere varische oder valgische Achsenabweichungen können mittels Schuhaußen- bzw. -innenranderhöhung therapiert werden. Der Effekt nichtsteroidaler Antiphlogistika sowie therapeutischer Gelenkinfiltrationen mit Steroiden ist begrenzt.
Die Arthrodese des oberen Sprunggelenks ist Therapie der Wahl bei Patienten mit großer körperlicher Beanspruchung durch mehrstündige Geh- und Stehbelastungen und isoliertem Befall nur dieses Gelenks (z. B. posttraumatische Zustände). Hierbei kann gleichzeitig eine Achsenkorrektur des Rückfußes vorgenommen werden. Die Ergebnisse einschließlich der Funktion des Fußes sind sehr gut, wenn die Anschlussgelenke (Subtalargelenk, Chopart-Gelenk) keine Pathologie zeigen. Die Schmerzreduktion durch eine OSG-Arthrodese wird in der Literatur mit bis zu 80% angegeben. Die Patienten betrachten die Verbesserungen der Gangsicherheit als maßgeblich. Die postoperativ notwendigen Zurichtungen am Konfektionsschuh oder der notwendige orthopädische Schuh führen in der Regel – bis auf das Treppegehen – nicht zu einer Beeinträchtigung des Patienten. Die kompensatorische Mehrbeweglichkeit der noch intakten Anteile des unteren Sprunggelenks sowie der intermetatarsalen Gelenke erleichtert die Fußabwicklung. Darüber hinaus stellt die Arthrodese eine Rückzugsoperation nach fehlgeschlagener Endoprothetik des oberen Sprunggelenks dar. Durch moderne Osteosyntheseverfahren sind die früher in bis zu 40% berichteten Pseudarthrosen seltener geworden und werden in der aktuellen Literatur mit 5–8% angegeben (Levine 1998, Mann 1998, 2007). Bei geeigneten Patienten ohne schwere Fehlstellung oder Kontrakturen ist die offene Schraubenarthrodese möglich, zumeist über einen anterioren Zugang. Zudem zeigt die arthroskopisch assistierte (⊡ Abb. 29.50) oder minimal-invasive Arthrodese über 2 Miniinzisionen ähnlich gute Resultate (Myerson 1996). Bei gleichzeitig vorliegendem Infekt ist der Verwendung eines Fixateur externe als Osteosyntheseverfahren der Vorzug zu geben. Ist das Subtalargelenk ebenfalls arthrotisch verändert, eignet sich die retrograde Marknagelung als gutes Verfahren mit hoher Primärstabilität. Für eine solche pantalare Arthrodese bietet sich der transfibuläre Zugang mit Resektion der distalen Fibula an. Tipp
z z Operative Therapie
Bei stärkeren Achsenabweichungen (insbesondere über 10° Varus- oder Valgusstellung des OSG) empfiehlt sich auch bei beginnender Arthrose eine Achsenkorrektur, z. B. durch supramalleoläre Umstellungsosteotomie, wodurch in vielen Fällen eine signifikante Schmerzreduktion erzielt werden kann (Pagenstert 2009). Dies ist ggf. auch sinnvoll im Sinne einer besseren Achsenausrichtung für eine später zu implantierende Sprunggelenkendoprothese. > Bei Achsenabweichungen muss immer die Statik des gesamten Beins berücksichtigt werden.
An minimalinvasiven, gelenkerhaltenden Eingriffen bietet die Arthroskopie die Möglichkeit der Abtragung ventraler, bewegungseinschränkender Osteophyten, einer partiellen Synovektomie bei stärkeren Reizergüssen sowie eines Gelenkdébridements mit Mikrofrakturierung bzw. Anbohrung umschriebener arthrotischer Areale, wobei in den meisten Fällen nur ein kurzfristiger Effekt zu erzielen ist (Hassouna 2007).
I
I
Der Fuß sollte bei der OSG-Arthrodese in der Sagittalebene neutral, in der Frontalebene in Valgusstellung von ca. 3–5° sowie in einer leichten Außenrotation eingestellt werden. Eine leichte Rückversetzung des Talus gegenüber der Tibia verkürzt den Vorfußhebel und erleichtert dem Patienten das Abrollen.
In der Nachbehandlung sollte nach der Phase der Ent- bzw. Teilbelastung im Gips nach etwa 12 Wochen für 6–12 Monate ein Arthrodesenstiefel verordnet werden. Anschließend ist meist eine Abrollsohle am Konfektionsschuh ausreichend. Die Implantation einer Sprunggelenkendoprothese ist für Patienten mit geringer Belastung und insbesondere bei Befall der Anschlussgelenke (z. B. Rheumapatienten) eine gute Option zum Erhalt einer (in der Regel geringen) Restbeweglichkeit im Rückfuß. Sie kann ggf. auch mit einer Arthrodese des unteren Sprunggelenks bei Arthrose des oberen und unteren Sprunggelenks kombiniert werden (s. unten).
29
868
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
a
a
29
b ⊡ Abb. 29.51a,b Störende ventrale Osteophytenbildung, die zu einem ventralen Impingement-Syndrom führt. a Sagittale CT-Rekonstruktion, b 3D-CT-Rekonstruktion
Reizzustand der Flexor-hallucis-longus-Sehne im Bereich der Gleitrinne hinter dem Talus in Betracht. z
b ⊡ Abb. 29.50a,b Arthroskopisch assistierte Arthrodese des oberen Sprunggelenks. a Arthroskopische Sicht, b postoperatives Röntgenbild
z
Impingement-Syndrom z
Definition
Von einem anterioren Impingement spricht man, wenn sich im Rahmen einer im vorderen Anteil des OSG lokalisierten Arthrose bewegungsbehindernde Osteophyten gebildet haben (⊡ Abb. 29.51). Auch die Einklemmung von Weichteilstrukturen in den vorderen Gelenkspalt können derartige Beschwerden hervorrufen. Bei einem dorsalen Impingement handelt es sich um schmerzhafte Irritationen bei Plantarflexion im Bereich der Tuberositas posterior tali bzw. einem Os trigonum (⊡ Abb. 29.52). In selteneren Fällen kann auch hier eine osteophytäre Ausziehung an der Tibiahinterkante die Ursache einer mechanischen Irritation sein. Differenzialdiagnostisch kommt hier auch ein
Ätiologie und Pathogenese
Das knöcherne anteriore Impingement tritt vorzugsweise bei Laufsportlern und Fußballern auf, was den ursächlichen Zusammenhang mit chronischen Mikrotraumen im Bereich des Ansatzes der Gelenkkapsel ventral am OSG nahe legt. Zu einem Weichteilimpingement kommt es zum Teil durch störende Narbenbildungen im vorderen Sprunggelenkskompartiment nach Distorsionsverletzungen und Rupturen des Außenbandapparats. Das dorsale Impingement wird häufig bei Tänzern durch forcierte und extreme Plantarflexion des Fußes ausgelöst. Diagnostik
Bei der klinischen Untersuchung geben die Patienten teilweise eine lokale Druckschmerzhaftigkeit ventral oder dorsal am OSG an. Ein Provokationsschmerz bei extremer Dorsal- bzw. Plantarflexion ist manchmal auslösbar. Die Differenzialdiagnose einer Reizung der Flexor-hallucis-longus-Sehne kann klinisch bei Schmerzen dorsal des OSG durch forcierte Dorsalextension der Großzehe gestellt werden. Als Bildgebung ist sowohl eine Standardaufnahme des OSG seitlich sowie ein CT oder MRT zur Darstellung knöcherner Pathologien geeignet. z
Therapie
Das anteriore Impingement kann bei erstmaligem Auftreten konservativ durch Sportkarenz sowie Absatzerhöhung bzw. Fersenkeil behandelt werden. Operativ kann eine ventrale osteophytäre Nase abgetragen werden, was die Dorsalextensions-
869 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
c
a
b
d
⊡ Abb. 29.52a–d Os trigonum, das bei Plantarflexion im OSG dorsal zu einer mechanischen Irritation führt. a Röntgenaufnahme vor Resektion, b MRT-Bild, T1-gewichtet, c Resektion des Os trigonum, d Röntgenaufnahme nach Resektion
fähigkeit verbessert. Ein Weichteil-Impingement ist in der Regel durch eine arthroskopische Resektion einer störenden Narbe oder Synovialfalte zu beheben. Das posteriore Impingement wird entweder durch Vermeidung der beschwerdeauslösenden Belastungen (falls möglich) behandelt oder durch offene knöcherne Resektion eines Os trigonum sowie ggf. eines störenden Tibiahinterkantenosteophyten bzw. des vorstehenden Tuberculum posterius tali.
z
Definition
Es handelt sich um einen osteochondralen Defekt, der im Bereich des Sprunggelenks zumeist an der medialen Talusschulter lokalisiert ist. Da im Wesentlichen keine entzündliche Komponente vorliegt, schlug Assenmacher (2001) vor, den überwiegend bei Läsionen im Kindes- und Adoleszentenalter gebrauchten Terminus der Osteochondrosis dissecans beim erwachsenen Patienten durch den Begriff der Osteochondralen Läsion (OCL) zu ersetzen.
Osteochondrale Läsion des Talus z
Synonym
Osteochondrosis dissecans des Talus. Zu Osteochondrosen und Osteonekrosen siehe auch Kap. 11.
z
Ätiologie und Pathogenese
Eine aseptische Osteonekrose des Talus führt zur Frakturierung der kortikalen Grenzlamelle und des darüberliegenden
29
870
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Knorpels. Ein Trauma in der Vorgeschichte liegt in bis zu 85% der Fälle vor. Unter anderem kann eine chronische Bandinstabilität hierfür ursächlich sein. Unabhängig von einer traumatischen Genese werden auch Übergewicht, familiäre Disposition, Stoffwechselstörungen und lokale Perfusionsstörungen als Risikofaktoren für die Entstehung diskutiert. Wenngleich die Genese der idiopathischen OCL unklar ist, gilt ein initiales ischämisches Ereignis als der mögliche Auslöser. Die typische posttraumatische mediale OCL des Talus ist tief und schüsselförmig und resultiert aus einer kombinierten Inversions-Plantarflexions-Verletzung. Die eher flächige laterale OCL resultiert aus einer kombinierten Eversions-Dorsalflexions-Verletzung.
Harty ein Klassifikationssystem für die radiologische Einteilung der OCL des Talus (⊡ Abb. 29.53): ▬ Stadium I: subchondrale Fraktur ▬ Stadium II: partielle Ablösung des Fragments ▬ Stadium III: undislozierte Ablösung des Fragments ▬ Stadium IV: disloziertes Fragment z
Diagnostik
Für eine adäquate Therapie der OCL ist eine Stadieneinteilung hilfreich. Auf Basis einer Metaanlyse der Literatur über die transchondralen Frakturen des Talus entwickelten Berndt und
Die Patienten berichten über belastungsabhängige, stechende Schmerzen, die zumeist ventral des Innen- oder seltener des Außenknöchels lokalisiert sind. Bei teilweise gelöstem Dissekat kann es auch zu Einklemmungserscheinungen kommen. Ergussbildung und Synovialitis sind möglich. Im Röntgenbild kann nicht immer eine subchondrale Nekrosezone lokalisiert werden. Das MRT liefert hingegen bereits im Frühstadium der Erkrankung sehr zuverlässige Befunde mit Knochenödem bzw. Osteonekrosezone in der subchondralen Spongiosa (⊡ Abb. 29.54). Insbesondere mit Kontrastmittelzusatz kann die Vitalität des Knochens beurteilt werden.
⊡ Abb. 29.53a–d Osteochondrale Läsionen des Talus: Klassifikation nach Berndt und Harty. a Stadium I, b Stadium II, c Stadium III, d Stadium IV
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Klassifikation
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c
⊡ Abb. 29.54a–c Osteochondrale Läsion des Erwachsenen mit typischer Lokalisation an der medialen Talusschulter. a Röntgen des OSG im a.p.Strahlengang, b MRT-Bild, T1-gewichtet, c MRT-Bild, T2-gewichtet
871 29.2 · Erkrankungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
z
Therapie
Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen führt eine konservative Behandlung oft zur Ausheilung. Die konservative Therapie mit vorübergehender Ruhigstellung und Entlastung sowie nachfolgender Physiotherapie sollte im Stadium I – wenn möglich – an erster Stelle stehen. Sie kann in einigen Fällen zu einer Heilung der Läsion führen. Dass eine vorangegangene konservative Therapie keinen negativen Effekt auf das Resultat einer nachfolgenden operativen Therapie hat, konnte mehrfach belegt werden. Bei symptomatischen OCL ab Stadium II wird beim Erwachsenen ein frühzeitiges operatives Vorgehen empfohlen (Ewing 1991). Wir halten eine stadiengerechte Therapie für sinnvoll, die sich am arthroskopischen Befund orientiert. Falls der Herd klein ist und die Knorpellamelle darüber noch intakt, kann eine fächerförmige retrograde Herdanbohrung mittels Kirschner-Draht (2,0) und anschließende 6-wöchige Teilbelastung erfolgreich sein (Kumai 1999, Taranow 1999). Bei intakter Knorpel- und Kortikalislamelle, aber im MRT oder Röntgenbild nachgewiesenen subchondralen Zysten oder ausgeprägter Nekrosezone sollte zusätzlich eine Spongiosaumkehrplastik durchgeführt werden (retrograd mit Hohlfräse über einen unter Bildwandlerkontrolle zentral in den Herd eingebohrten Zieldraht). Tipp
I
I
Ist der Knorpel über dem Nekroseareal bereits geschädigt oder abgehoben, so empfiehlt sich eine minimal-invasive antegrade Defektausräumung mit Mikrofrakturierung der Sklerosezone sowie multiplen Anbohrungen und Knorpelrandstabilisierung sowie Abdeckung mit einer Knorpelersatzmembran oder einer matrixassoziierten Chondrozytentransplantation (MACI).
Der Osteonekroseherd kann in der Regel auch ohne Innenknöchelosteotomie über einen anterioren oder (selten) posteromedialen Zugang mit autologer Spongiosa aus der distalen Tibia aufgefüllt werden. Der Knorpeldefekt kann über einen minimal-invasiven Zugang mit Aufweitung des Gelenkspalts mit einem Pindistraktor durch Einkleben einer Knorpelersatzmembran aus Kollagen (AMIC = autologe matrixinduzierte
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b
Chondrogenese) oder einer matrixgekoppelte Chondrozytentransplantation (⊡ Abb. 29.55) gedeckt werden (MACI-ACT). Die dazu erforderlich Spongiosa kann in der Regel über denselben operativen Zugang lokal aus der distalen Tibia gewonnen werden. Für beide Verfahren wurden gute Resultate berichtet (Giannini 2002, Ronga 2005). Eine osteochondrale Zylindertransplantation als klassisches Verfahren erfordert wegen des senkrechten Zugehens auf den Talus häufig eine Osteotomie des Knöchels sowie die Entnahme eines Knochenknorpelzylinders aus einem intakten Kniegelenk mit dem Risiko einer sog. »Spendermorbidität«. Zudem ist die Geometrie eines passenden Spenderzylinders bei Läsionen an der Talusschulter oft problematisch, und es kommt nicht zu einem Verwachsen des transplantierten Knorpelgewebes mit dem Umgebungsknorpel. Auch kann die Integration der Knorpel-Knochen-Zylinder ausbleiben.
Endoprothetik des oberen Sprunggelenks Die erste Generation von Sprunggelenkendoprothesen wurde 1970 von Lord und Marotte entwickelt. Diese Prothesen waren sphärisch geformt und entsprachen einem Kugelgelenk. Sie wurden zementiert oder unzementiert implantiert. Ein großer Talusanteil musste reseziert werden. Es kam häufig zu Instabilitäten und Verkippungen. Daher wurde dieses Konzept rasch wieder verlassen. Die zweite Generation (1972–1985) folgte dem Prinzip einer zweiteiligen Gleitprothese. Die Implantate wurden zumeist zementiert. Auch diese Prothesen konnten aufgrund der problematischen Scherkraftübertragung auf die Komponenten keine guten Mittel- und Langzeitergebnisse aufweisen. Seit ca. 15 Jahren existieren die Prothesen der dritten Generation (⊡ Abb. 29.56). Zwischen einer zementfrei eingesetzten Tibia- und einer Taluskomponente ist ein beweglicher Gleitkörper aus Polyethylen eingeschoben. Durch die erzielte multidirektionale Beweglichkeit bei höherer Stabilität kommt es zu einer geringeren Kraftübertragung auf die Verankerung. Die 8- bis 10-Jahres-Überlebensraten dieser Implantate liegen bei 85–96% (Schill 2002). Durch die Verbesserung der erzielten Ergebnisse wird die Indikation zunehmend großzügiger gestellt (⊡ Tab. 29.4). Viele Begleitumstände (junger und aktiver Patient, Nikotinabusus,
⊡ Abb. 29.55a,b Operative Therapie einer OCL der medialen Talusschulter. a Nach Defektausräumung, b nach Herdauffüllung mit autologer Spongiosa und MACI-ACT
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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⊡ Abb. 29.56a–d Fortgeschrittene OSG-Arthrose. a, b Präoperativ, c, d nach Implantation einer zementfreien 3-Komponenten-Totalendoprothese des OSG vom Typ Salto (Fa. Tornier)
29 ⊡ Tab. 29.4 Sprunggelenkendoprothese: Indikationen und Kontraindikationen Indikationen
Fortgeschrittene Arthrose und Destruktion des OSG mit entsprechender Beschwerdesymptomatik, die nicht zufriedenstellend konservativ therapierbar bzw. austherapiert ist
Relative Kontraindikationen
Partielle Nekrose des Talus Diabetes mellitus Nikotinabusus Immunsuppression beruflich starke Sprunggelenkbelastung eingesteiftes OSG Bandinstabilität des OSG höhergradige Fehlstellungen (>10° Varus/Valgus)
Absolute Kontraindikationen
Fortgeschrittene Nekrose > 1/3 der Auflagefläche der Prothesenkomponente vorhandene Infektion Ulzerationen im Fußbereich pAVK neurologische Erkrankung mit Störung der Rückfußstabilisierung
Diabetes mellitus, Immunsuppression, partielle Talusnekrose etc.), die früher als absolute Kontraindikationen galten, werden heute nur noch als relative Kontraindikationen angesehen. Im Einzelfall müssen immer die Vor- und Nachteile der Endoprothese der alternativen Arthrodese gegenübergestellt (⊡ Tab. 29.5) und in einem ausführlichen Aufklärungsgespräch dem Patienten dargelegt werden. Dieser hat dann in den meisten Fällen die Wahl, ob er sich lieber für die Arthrodese oder die Endoprothese entscheidet. Ein junges Alter der Patienten wird nicht mehr als Kontraindikation für eine Endoprothese gesehen, da später immer noch auf eine Arthrodese umgestiegen werden kann. Zudem ist bei der zu erwartenden größeren Belastung in diesem Patientenklientel ca. 10–15 Jahre nach einer Arthrodese des OSG mit therapiebedürftigen Anschlussarthrosen zu rechnen ist (v. a. subtalar und im Chopart-Gelenk; Fuchs 2003, Mann 1998). Die zusätzliche Arthrodese der Anschlussgelenke verschlechtert die Gehfähigkeit dann stark und macht ein orthopädisches Maß-
schuhwerk regelhaft erforderlich. Deshalb werden in letzter Zeit zunehmend auch junge Patienten mit einer Endoprothese versorgt. > Bei im Berufsleben stehenden Patienten muss jedoch daraufhin gewiesen werden, dass ein beschwerdefreies Arbeiten in einem Beruf mit vorwiegend stehender oder gehender Belastung über einen vollen Arbeitstag mit einer Endoprothese des OSG nur selten erreicht wird.
Stärkere Achsenabweichungen können mit einer vorausgehenden Umstellungsosteotomie korrigiert werden. Bei einem Teil der Patienten bessern sich dadurch die Beschwerden bereits so stark, dass von einer Endoprothesenimplantation zunächst Abstand genommen werden kann. Korrekturen von Bandinstabilitäten können teilweise in einer Operation mit der Endoprothesenimplantation durchgeführt werden. Eine symptomatische Arthrose des Subtalargelenks und des Talonavikulargelenks
873 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
⊡ Tab. 29.5 Vor- und Nachteile der Arthrodese des OSG gegenüber der Endoprothese Arthrodese
Endoprothese
Vorteile
Führt zu vollständiger Schmerzfreiheit und Stabilität im OSG Korrektur starker Deformitäten und Instabilitäten im OSG möglich keine Folgeoperation am OSG erforderlich auch bei kritischer Weichteildeckung, Diabetes mellitus und starker Immunsuppression möglich Arthrodese ohne Stellungskorrektur auch minimal-invasiv (arthroskopisch assistiert) möglich
Erhalt einer Restbeweglichkeit führt zu physiologischerem Abrollvorgang, insbesondere Treppensteigen und Bergaufgehen besser möglich Anschlussgelenke werden geschont schneller Belastungsaufbau und gipsfreie Nachbehandlung möglich Umstieg auf Arthrodese bei Komplikationen bleibt als späterer Rückzugsweg offen
Nachteile
Überlastung der Anschlussgelenke, sekundäre Fußwurzelarthrose droht unphysiologischer Abrollvorgang postoperativ lang dauernde Entlastung, Gipsbehandlung, Arthrodesenstiefel Pseudarthroserisiko
Restbeschwerden im OSG, insbesondere bei starker Dauerbelastung Prothesenverschleiß und Lockerung möglich Folgeoperationen im Langzeitverlauf insbesondere bei jüngeren Patienten zu erwarten periprothetische Osteolysen
kann häufig ebenfalls in einem Eingriff mit der Endoprothesenversorgung des OSG versorgt werden. Ist jedoch über eine In-situ-Verschraubung des Subtalargelenks hinaus eine Stellungskorrektur im unteren Sprunggelenk erforderlich, so sollte diese Operation u. a. wegen des Risikos einer postoperativen Talusnekrose separat vor der Endoprothesenimplantation durchgeführt werden. Ein zweizeitiges operatives Vorgehen bezüglich der Kombination einer Talonavikulargelenkarthrodese mit einer Endoprothese des OSG ist bei kritischer Durchblutung des Talus ebenfalls gerechtfertigt.
29.3
Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
H. Durst, A. Rukavina
29.3.1 z
Verletzungen der Zehen und Sesambeine
Definition
z
Epidemiologie
Frakturen der Zehen sind die häufigsten Frakturen des Vorfußes, es kommt zu ca. 140 Frakturen pro 100.000 Einwohner und Jahr. Die Geschlechterverteilung männlich zu weiblich beträgt 1,6:1 (Armagan 2001). z
Diagnostik
Die klinische Untersuchung erlaubt es, die Lokalisation der Zehenfrakturen – bei wachem und adäquatem Patienten ohne akute oder chronische sensorische Defizite – schnell und gut einzugrenzen. Röntgenaufnahmen des gesamten Fußes werden in der Regel a.p., lateromedial und schräg angefertigt. Im Traumafall erfolgen diese Aufnahmen aus logistischen Gründen (zeitaufwendig) und wegen Schmerzen des Patienen in der Regel unbelastet, wenn möglich sind aber belastete Aufnahmen im a.p.- und lateromedialen Strahlengang vorzuziehen. Bei isolierten Großzehenfrakturen empfiehlt es sich, nur die Großzehe a.p. und lateromedial zu röntgen, bei den Zehen II–V ist dies in der Regel technisch nicht möglich. Bei Verdacht auf eine Sesambeinfraktur kann zusätzlich eine axiale Röntgenaufnahme der Sesambeine durchgeführt werden (»skyline view«). Stressfrakturen können ein SPECT (»single photon emission computed tomographie«) notwendig machen, wenn die Röntgenbilder keinen pathologischen Befund ergeben. Es muss aber berücksichtigt werden, dass eine einseitige Anreicherung des Szintigraphie-Tracers auch bei 29% aller asymptomatischen Patienten vorkommt (Richardson 1999). CT und MRT werden bei Zehenverletzungen nur in Ausnahmefällen zum Einsatz kommen.
Auch wenn die meisten Zehenfrakturen ohne wesentliche Einschränkung des Patienten abheilen, kommt es bei inadäquater Therapie in manchen Fällen doch zu unerfreulich verlängerten Heilungsverläufen. Das Traumaspektrum ist groß, es reicht von Niedrigenergietraumen (z. B. »night walker fracture«: Fraktur der Kleinzehe infolge Abduktionstrauma am Bettpfosten) bis hin zu Hochenergietraumen (z. B. Motorradunfälle), die nicht selten den gesamten Vorfuß mit einbeziehen und oft relevante Weichteilschäden und kritische Durchblutungssituationen mit sich bringen.
z
> Bei sensorischer Neuropathie, z. B. infolge Diabetes mellitus, kann diese die korrekte Diagnosestellung verzögern und den Heilungsverlauf dadurch relevant verkomplizieren.
Bei Frakturen der Zehen kommt es häufig zur Mitverletzung des Nagelbetts. Inadäquate Behandlung dieser Verletzungen kann zu Nagelaufspleißungen, störender Deformation des Nagels und chronischen Infektionen führen (Schnaue-Constantouris 2002). Dislozierte Nagelbettverletzungen sind nach Na-
Therapie
29
874
29
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
gelentfernung zu reponieren, ggf. zu nähen und abschließend entweder mit dem Originalnagel oder mit einem Kunstnagel zu schienen. Subunguale Hämatome sollen bei intaktem Nagel drainiert werden, wenn der Patient entsprechende Schmerzen angibt. Entweder kann dies mit einer Kanüle oder mit einer heißen Büroklammer erfolgen. Zwei Löcher lassen das Hämatom leichter abfließen, das Nagelbett darf nicht verletzt werden. Dislozierte Frakturen der Zehen II–V sollen werden unter adäquater Analgesie geschlossen reponiert und anschließend mittels »buddy taping« (Tape-Verband unter Einbeziehung der unverletzten Nachbarzehe als Schienung) ruhig gestellt. Bei Kindern genügt in der Regel eine Tape-Tragedauer von 3 Wochen, Erwachsene tragen den Verband bis zur Schmerzfreiheit nach 4–5 Wochen. Sollte das Gehen trotz »buddy-tape« schmerzhaft sein, wird dem Patienten ein Schuh mit steifer Sohle angepasst, der ebenfalls bis zur Schmerzfreiheit getragen werden kann. Bei persistierender Fehlstellung trotz geschlossener Reposition muss die Option der operativen Stabilisierung mittels Minifragmentschrauben, Cerclagen oder Kirschner-Drähten erwogen werden. Leider bergen Osteosynthesen an den Zehen oft Potenzial für Komplikationen, die erst durch den Eingriff und/oder das Osteosynthesematerial selbst hervorgerufen werden (Wundheilungsstörungen, Infektionen, inadäquate Osteosynthese). > Wichtig ist die penible Einschätzung der Haut- und Weichteilsituation vor dem operativen Eingriff. Es muss abgewogen werden, ob die eingetretene Fehlstellung tatsächlich ein bleibendes Problem für den Patienten darstellt (relevante Achsenabweichung, Druckstellen an den Nachbarzehen etc.) oder evtl. toleriert werden kann. Frakturen der Großzehe kommt eine andere Bedeutung zu, da die Großzehe einen großen Anteil der Belastung beim Abrollen und beim Abdruck in der Abstoßphase übernimmt. Bei dislozierten intraartikulären Verletzungen des MTP-I- und des IP-IGelenks (>2 mm Stufe), Achsenabweichungen und Rotationsfehlern, die eine klinisch relevante Fehlstellung erzeugen (stark abstehende Großzehe, Druckstellen am Nachbarzehen etc.), und
⊡ Abb. 29.58a–c Intraartikuläre Fraktur des Grundgliedkopfes der Großzehe mit Dislokation. a Präoperativ, d.p.-Aufnahme, b schräg, c nach offener Reposition und Kondylenplattenosteosynthese
a
ausgeprägten Trümmerfrakturen des Grundglieds muss eine innere Fixation mittels Minifragmentplatten/-schrauben, Cerclagen oder Kirschner-Drähten erwogen werden (⊡ Abb. 29.57 u. ⊡ Abb. 29.58). Auch hier stehen aber – analog zu den Frakturen der Dig. II–V – die Vorteile der Osteosynthese kritisch und objektiv gegenüber den erwähnten Nachteilen gegenüber. Bei der Behandlung offener Zehenfrakturen gelten die gleichen Grundsätze wie bei der Behandlung offener Frakturen generell: radikales Débridement des toten oder stark
a
b
c
d ⊡ Abb. 29.57a–d Intraartikuläre dislozierte Fraktur an der Endgliedbasis der Großzehe. a, b Präoperativ, c, d nach offener Reposition und Kleinfragmentschraubenosteosynthese
b
c
875 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
verschmutzten Gewebes, ausgiebige Spülung des gesamten Wundgebiets, provisorische Stabilisation von Frakturen in der Regel mit Kirschner-Drähten und eine adäquate intravenöse antibiotische Behandlung. Es gilt, ein mögliches Fußkompartmentsyndrom so rasch wie möglich zu diagnostizieren und zu entlasten ( Abschn. 19.6.2). Bei Hochenergietraumen kann die primäre oder sekundäre Amputation einzelner Zehen notwendig werden. Wenn möglich soll hierbei das Grundglied erhalten werden, um ein Widerlager für die Nachbarzehen zu erhalten und deren sekundäre Deviation zu verhindern (Daly 1996). Frakturen der Sesambeine bergen selten Probleme und heilen in der Regel konservativ ab. Schwierigkeiten bereitet es gelegentlich, ein traumatisiertes bipartites Sesambein von einer echten Sesambeinfraktur zu unterscheiden. Wichtig ist die Kenntnis bipartiter Sesambeine (in der Regel das mediale), die eine Prävalenz von 10% aufweisen und bei 25% der Patienten bilateral auftreten (Richardson 1999). Oft kann den Schmerzen entsprechend und ohne Ruhigstellung belastet werden. Der Patient wird automatisch mehr über die Ferse belasten und das Abrollen vermeiden. In Einzelfällen kann die Verordnung eines Vorfußentlastungsschuhs notwendig werden. Die operative Revision eines Sesambeins wegen einer Pseudarthrose ist sicherlich eine Rarität und sollte nur durch einen erfahrenen Fußchirurgen operativ angegangen werden. Es stehen die Osteosynthese mit Kleinfragmentschrauben (mit oder ohne Spongiosaplastik) und die partielle oder totale Sesamoidektomie zur Auswahl. Wegen ihrer Funktion als Umlenkrolle der Sehne des M. flexor hallucis brevis und des resultierenden Kraftverlusts dieses Muskels bei totaler Sesamoidektomie kann ein »cock-up toe« (bei totaler Sesamoidektomie beider Sesambeine) oder ein Hallux valgus bzw. varus (bei totaler Sesamoidektomie eines Sesambeins) resultieren (Aper 1996). Es sollte daher – wenn immer möglich – nur die partielle (proximale) Sesamoidektomie mit Rekonstruktion der Sehne des M. flexor hallucis brevis durchgeführt werden.
29.3.2
Verletzungen des Mittelfußes
Der Mittelfuß besteht aus dem Os naviculare, den 3 Kuboidknochen und den Tarsometatarsal-(TMT-)Gelenken. Frakturen im Mittelfußbereich sind seltene jedoch schwere Verletzungen,
die oft in Verbindung mit einem Polytrauma auftreten. In der Regel gehen diese Verletzungen mit einem Verlust der Gelenkkongruenz im Sinne einer Luxationsverletzung einher. Aus diesem Grund werden Frakturen und Luxationen im Mittelfußbereich in der Regel operativ versorgt. Werden diese Verletzungen übersehen, so sind schmerzhafte degenerative Veränderungen die Folge, deren Behandlung äußerst schwierig ist.
Frakturen des Os naviculare z
Anatomie und Biomechanik
Das Os naviculare artikuliert mit dem Taluskopf und bildet hier das beweglichste Gelenk des Fußes: das Talonavikulargelenk, auch als Acetabulum pedis bezeichnet. Nach distal artikuliert das Os naviculare mit den Os cuneiforme, nach lateral mit dem Os cuboideum. Diese Gelenke sind wegen den dorsal und plantar überbrückenden straffen Bandstrukturen nur wenig beweglich. Das Os naviculare ist der Schlüsselstein des Fußlängsgewölbes, da an seiner Tuberositas die Tibialis-posteriorSehne ansetzt (⊡ Abb. 29.59). Die Durchblutung des Knochens erfolgt über radiär angeordneten Äste der A. dorsalis pedis und A. plantaris medialis. > Das mittlere, zentrale Drittel ist vermindert perfundiert, sodass hier das Risiko für Osteonekrosen erhöht ist und das Auftreten von Stressfrakturen gehäuft beobachtet wird. z
Klassifikation
Die Einteilung dieser Frakturen erfolgt in Avulsions- und Korpusfrakturen. Des Weiteren können die Stressfrakturen des Os naviculare unterschieden werden. Avulsionsfrakturen
Die häufigsten Frakturen des Os naviculare sind Avulsionsfrakturen der dorsalen Lippe. Sie werden durch eine extensive Plantarflexion des Fußes verursacht. Auch Tuberositasfrakturen können im Rahmen einer Avulsionsverletzung auftreten. > Die Tuberositas des Os naviculare weist die größte Ansatzfläche für die Tibialis-posterior-Sehne auf, eine der wichtigsten Sehnen am Fuß, deren Funktion unbedingt erhalten werden muss.
⊡ Abb. 29.59 Anatomie des Os naviculare: Ansichten von distal und proximal (Aus: Tillmann 2005)
29
876
29
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Korpusfrakturen
z
Dieser Frakturtyp zählt zu den seltenen Verletzungen des Os naviculare. Er kann bei inadäquater Behandlung schwerwiegende Folgen haben, denn eine bleibende Inkongruenz des Talonavikulargelenks kann aufgrund einer posttraumatischen Arthrose zu einer erheblichen Funktionseinschränkung des Rückfußes führen. Die Korpusfrakturen werden in 3 Typen eingeteilt. Die Typ-I-Fraktur verläuft horizontal, sodass ein plantares und ein dorsales Fragment entstehen. Das mediale Längsgewölbe bleibt jedoch intakt (⊡ Abb. 29.60). Typ-II-Frakturen sind vertikal verlaufende Frakturen, die zu einer medialen Fragmentdislokation und gleichzeitig zu einer medialen Dislokation des Vorfußes führen (⊡ Abb. 29.61). Dies sind die häufigsten Frakturen im Korpusbereich. Sie entstehen durch eine axiale Kompression. Bei der operativen Versorgung ist auf die Wiederherstellung und den Erhalt der Länge des ersten Strahls zu achten. Durch axiale Kompression entstehen Typ-III-Verletzungen mit einer zentralen oder lateralen Trümmerzone. Hierbei kommt es zu einer Lateralverschiebung des Vorfußes (⊡ Abb. 29.61). Bei diesem Verletzungstyp ist auf Läsionen der benachbarten Knochen (Os cuboideum mediale und Kalkaneus) zu achten.
Die klinische Beurteilung der Weichteile, der neurovaskulären Situation und eines möglichen Kompartmentsyndroms stehen im Vordergrund. Die Beurteilung der Tibialis-posteriorSehne und des Deltabands sind wichtige Bestanteile der klinischen Untersuchung. Die radiologische Diagnostik beinhaltet Röntgenbilder des Fußes in 2 Ebenen. Bei Verdacht auf eine Luxation sind Schrägaufnahmen hilfreich. Ein akzessorisches Os naviculare (Os tibiale externum) muss im Rahmen der Diagnostik berücksichtigt werden. Bei diagnostischen Unklarheiten sollte die Indikation zur CT großzügig gestellt werden.
Stressfrakturen
Eine weitere Form der Kahnbeinfraktur ist die Stressfraktur, die leicht übersehen werden kann. Dieser Frakturtyp tritt gehäuft bei jungen Spitzensportlern auf (Langstreckenläufer, Basketballspieler). Eine entsprechende Klinik sollte Anlass zu weiteren Abklärungen geben. Das blande Röntgenbild schließt diesen Verletzungstyp nicht aus. Weiterführende Untersuchungen (Szintigraphien, MRT) sind in der Regel erforderlich.
z Therapie Avulsionsfrakturen können konservativ in der Gipsschiene be-
handelt werden, solange nur eine geringe Dislokation (<2 mm) besteht (Teasdall 2007). Eine Entlastung im Unterschenkelgips ist während ca. 6 Wochen indiziert. Bei größerer Dislokation sollte eine Schraubenosteosynthese erfolgen, da ansonsten die stützende Funktion der Tibialis-posterior-Sehne gefährdet ist. Kleinere Fragmente können stören und sollten bei entsprechender Symptomatik im Verlauf exzidiert werden. Bei Korpusfrakturen Typ I sollte eine interfragmentäre Schraubenosteosynthese über einen dorsalen Zugang erfolgen. Auch bei wenig dislozierten Frakturen empfiehlt sich eine operative Stabilisierung, da sekundäre Dislokationen möglich sind. Typ-II-Frakturen sollten stabilisiert werden, sofern dies möglich ist.
I
Tipp
I
Im Falle einer Trümmerfraktur empfiehlt es sich, einen Fixateur vom Talus zum Os cuneiforme mediale zu platzieren und die Fraktur hiermit soweit wie möglich zu stabilisieren.
Sekundäreingriffe sind je nach Frakturtyp notwendig. Kleinere störende Fragmente sollten auch hier großzügig entfernt werden. Der Zugang erfolgt anteromedial zwischen den Sehnen der Mm. tibialis anterior und posterior, knapp distal des Malleolus medialis beginnend. Im Falle einer Typ-III-Fraktur muss von einem erheblichen Knorpelschaden ausgegangen werden. Dies ist auch der Grund für das schlechte klinische Ergebnis. Auch hier kann über den
⊡ Abb. 29.60 Korpusfraktur Typ I
a
Diagnostik
b
⊡ Abb. 29.61a–c Einteilung der Frakturen des Os naviculare. a Typ I, b Typ II, c Typ III
c
877 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Fixateur externe eine Stabilisierung erfolgen. Meist sind zusätzliche temporäre Transfixationen über die Ossa cuneiformia notwendig. Bei persistierenden Beschwerden oder Instabilität kann eine Arthrodese in der Folge indiziert sein. Wenn eine Stressfraktur diagnostiziert wurde, kann ein konservativer Behandlungsversuch im Unterschenkelgips ohne Belastung erfolgen. Bei persistierenden Schmerzen und v. a. bei jungen Athleten empfiehlt sich eine Schraubenosteosynthese mit Spongiosaplastik. > Die anatomische Rekonstruktion des Talonavikulargelenks ist wichtig für eine normale Funktion des Rückfußes und damit entscheidend für ein gutes klinisches Ergebnis (Anderson 1994). z
Komplikationen
Die Behandlung der Kahnbeinfrakturen stellt eine große Herausforderung dar. Über die Langzeitprognose liegen nur wenige Daten vor. Risiken nach operativer Versorgung sind Wundinfektionen, persistierende Beschwerden und Pseudarthrosen. Die posttraumatische Arthrose ist die häufigste Komplikation und der Hauptgrund für persistierende mediale Fußbeschwerden (Penner 2006). Korpusfrakturen vom Typ III haben die schlechteste Prognose. Trotz adäquater Versorgung besteht hier die Gefahr einer aseptischen Nekrose. Entscheidend ist, die richtige Diagnose zu stellen, um so die adäquate Therapie einzuleiten. Das Übersehen dieser Verletzung birgt das größte Risiko für ein schlechtes Ergebnis.
Frakturen von Os cuboideum und Os cuneiforme Isolierte Frakturen am Würfelbein oder Kahnbein treten aufgrund der starken ligamentären Verbindungen unter den Knochen nur sehr selten auf. Das Os cuboideum ist am häufigsten im Rahmen einer sog. »nutcracker injury« verletzt. Diese Fraktur resultiert aus einer Vorfußabduktion, bei der das Kuboid zwischen dem Proc. anterior des Kalkaneus und der Basis des MT IV und MT V komprimiert wird (⊡ Abb. 29.62). Hierbei kommt es zu einer Verkürzung der lateralen Säule. Als Begleitverletzungen treten häufig zusätzliche Fußwurzelfrakturen, eine Lisfranc-Luxation oder eine Chopart-Luxation auf, die nicht übersehen werden dürfen. Ziel der Behandlung ist die Wiederherstellung der lateralen Fußsäule. Dies kann über einen Fixateur externe erreicht werden. In der Regel ist darüber
⊡ Abb. 29.62 »Nutcracker injury«. (Aus: Holbein et al. 1998)
hinaus die operative Stabilisierung des Os cuboideum inklusive Spongiosaplastik notwendig.
Luxationsverletzungen im Chopart-Gelenk z
Anatomie und Biomechanik
Die Chopart-Gelenklinie wurde erstmals von François Chopart (1734–1795) als Amputationslinie beschrieben, v. a. bei distalen Wundnekrosen. Entsprechend seiner anatomischen Lage wird das Chopart-Gelenk auch als Articulatio transversa tarsi bezeichnet. Es wird aus dem Taluskopf und dem Os naviculare medial (Talonavikulargelenk) sowie aus dem Proc. anterior des Kalkaneus und dem Os cuboideum laterale (Kalkaneokuboidalgelenk) gebildet. Für das Verständnis der Biomechanik ist das Modell der lateralen und medialen Fußsäule wichtig (⊡ Abb. 29.63). Die laterale Säule mit dem Kalkaneokuboidalgelenk (Sattelgelenk) ist rigider und dient in erster Linie der Stabilität. Die elastischere mediale Säule mit dem Talonavikulargelenk (Kugelgelenk) trägt wesentlich zur Mobilität der Fußwurzel bei (Rammelt 2002). Durch die Sehnen des M. tibialis posterior und des M. peroneus longus wird das Fußlängsgewölbe auf Höhe des ChopartGelenks stabilisiert. Das Gelenk ist in erster Linie für die Rotationsbewegung des Vorfußes gegenüber dem Rückfuß im Sinne einer Pro- und Supination verantwortlich. z
Ätiologie und Pathogenese
Als prinzipieller Luxationsmechanismus im Chopart-Gelenk wird die forcierte Abduktion oder Adduktion bei fixiertem Rück- oder Vorfuß betrachtet. Eine zusätzliche axiale Stauchung im Augenblick der Luxation führt zu einer erheblichen Krafteinwirkung auf die Fußwurzelknochen. Die Folge sind Impressionsbrüche auf der Seite der Stauchungskräfte und Bandzerreißungen auf der Seite der Biegungskräfte (Rammelt 2002).
⊡ Abb. 29.63 Einteilung des Fußes in mediale und laterale Säule (Aus: Rammelt et al. 2002)
29
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Komplette Luxationen und Luxationsfrakturen im ChopartGelenk sind sehr seltene Verletzungen. Sie sind bei polytraumatisierten Patienten anzutreffen (Verkehrsunfälle und Sturz aus großer Höhe). ! Cave Da bei polytraumatisierten Patienten die lebensbedrohlichen Verletzungen im Vordergrund stehen, werden Chopart-Luxationsverletzungen oft übersehen oder bagatellisiert. z
29
Klassifikation
In der Klassifikation nach Zwipp werden entsprechend des Weges der luxierenden Kraft durch das Chopart-Gelenk 6 Formen beschrieben (⊡ Abb. 29.64): ▬ transligamentär (Weg der luxierenden Kraft von 1 → 1) ▬ transkuboidal (1 → 2) ▬ transkalkanear (1 → 3) ▬ transnavikular (4 → 1) ▬ transtalar (5 → 1) ▬ transnavikulokuboidal (4 → 2) Diese Einteilung erlaubt es, den Ort der maximalen Läsion pathomechanisch zu erkennen, die Luxationsform zu definieren und damit die notwendige Versorgungsstrategie zu bestimmen. Oft werden Kombinationsverletzungen beobachtet. z
Diagnostik
Die klinische Beurteilung der Weichteile, der neurovaskulären Situation und eines möglichen Kompartmentsyndroms stehen im Vordergrund. Die Klinik bietet ein sehr variables Bild von leichten ziehenden Schmerzen bis hin zu schmerzhaften schweren Fehlstellungen im Mittel- und Rückfuß. Eine plantare Ekchymose wurde als pathognomonisch für die Ruptur der Sehnenansätze des M. tibialis posterior beschrieben, die einen wichtigen klinischen Hinweis für okkulte Verletzungen des Chopart-Gelenks gibt. Die radiologische Diagnostik beinhaltet Röntgenbilder des Fußes in 2 Ebenen. Schrägaufnahmen sind v. a. bei Verdacht auf eine Luxation hilfreich. Bei diagnostischen Unklarheiten sollte die Indikation zur CT (axial) großzügig gestellt werden. Auf gehaltene Aufnahmen wird in der akuten Phase verzichtet. Im Verlauf können jedoch gehaltene Aufnahmen in Leitungsanästhesie zur weitergehenden Abklärung notwendig werden, v. a. bei rein ligamentären Instabilitäten. z Therapie z z Konservative Therapie
Bei Subluxation oder nicht dislozierten Verletzungen wird die Indikation zur konservativen Behandlung gestellt. Auch bei Subluxationen der lateralen Säule (häufigste Verletzungsform) mit ossärem Ausriß des Lig. calcaneocuboidale laterale wird die konservative Behandlung mit initialer Ruhigstellung in der Gipsschiene während 2 Wochen empfohlen (Randt 1998) Anschließend kann die weitere Therapie im Tape-Verband fortgeführt werden.
⊡ Abb. 29.64 Chopart-Luxationen: Klassifikation nach Zwipp. Die Einteilung erfolgt entsprechend des Weges der luxierenden Kraft. 1 → 1: transligamentär, 1 → 2 transkuboidal, 1 → 3 transkalkanear, 4 → 1 transnavikular, 5 → 1 transtalar, 4 → 2 transnavikulokuboidal (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
> Entscheidend ist das Erkennen von Instabilitäten oder Fehlstellungen der medialen Säule, da hieraus ein Kollaps des Tarsus mit Ausbildung eines Pes planovalgus und/oder eine schmerzhafte Mittelfußarthrose entstehen kann.
Bei Vorliegen einer nachgewiesenen Instabilität erfolgt während 6 Wochen die Ruhigstellung im Unterschenkelgips. z z Operative Therapie
Das Ziel der operativen Behandlung ist die anatomische Wiederherstellung der Zweisäulenstatik des Fußes. Diese ist indiziert bei allen nicht geschlossen reponiblen Luxationen, Frakturen mit Trümmerzonen und entsprechender Verkürzung der medialen bzw. lateralen Säule und umfasst die offene Reposition mit anatomischer Rekonstruktion von Achsen- und Längenverhältnissen sowie der Gelenkkongruenz. Gelenkstufen von mehr als 2 mm sollten einer operativen Therapie zugeführt werden. Der Zeitpunkt dafür ist abhängig vom vorhandenen Weichteilschaden. Bei erheblichem Weichteilschaden und offenen Verletzungen muss die Indikation zur operativen Versorgung innerhalb der ersten 6 h gestellt werden. Der operative Zugangsweg richtet sich nach dem Verletzungstyp. Hier stehen der dorsomediale, der anteromediale, der laterale und die bilateralen Zugänge zur Auswahl. Transnavikulare Luxationsfrakturen werden über einen anteromedialen Zugang versorgt. Die Stabilisierung erfolgt in der Regel mittels Kleinfragmentschrauben oder Miniplatten. Eine Spongiosaplastik des Os naviculare kann hierbei erforderlich sein. Diese wird je nach Ausmaß des Defekts aus dem Schienbeinkopf oder dem Beckenkamm gewonnen. Um die Länge der Fußsäule nach Reposition zu halten, verwenden wir den Minifixateur. Transtalare Luxationsfrakturen werden ebenfalls über einen anteromedialen Zugang versorgt. Das Osteosyntheseverfahren richtet sich nach dem Ausmaß der Fraktur. In den
879 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
meisten Fällen kommt das Kleinfragmentinstrumentarium zur Anwendung. Auch hier kann die Verwendung einer Spongiosaplastik notwendig sein, bei höhergradigen Instabilitäten zusätzlich eine temporäre Arthrodese. Transkalkaneare und transkuboidale Frakturen werden über einen geraden lateralen Zugang versorgt, der längs über dem Kalkaneokuboidalgelenk parallel zur Planta pedis verläuft. In der Regel müssen hier die Gelenkflächen angehoben und mit Spongiosa unterfüttert werden. Um das Repositionsergebnis zu halten, empfiehlt sich die Verwendung eines Minifixateurs. Kombinationsverletzungen erfordern oft einen bilateralen Zugang zur adäquaten Versorgung. Hier muss auf eine ausreichend breite Weichteilbrücke von mindestens 5 cm geachtet werden. Ansonsten gilt auch hier das Prinzip der anatomischen Rekonstruktion und stabilen Versorgung. Liegt ein Kompartmentsyndrom des Fußes vor, so erfolgt die dorsomediane Fasziotomie. Verbleibt nach erfolgter Frakturversorgung eine mediale oder laterale Aufklappbarkeit bzw. eine rotatorische Instabilität im Talonavikulargelenk, so wird für 6 Wochen die temporäre Kirschner-Draht-Transfixation des betroffenen Gelenks empfohlen (Rammelt 2002). Persistierende Schmerzzustände mit erheblicher Bewegungseinschränkung über einen längerfristigen Zeitraum benötigen oft eine Arthrodese für das betroffene Gelenk. Die Nachbehandlung der Luxationsverletzung im ChopartGelenk erfolgt im Unterschenkelgips für insgesamt 6 Wochen. Initial wird für 2 Wochen in der Gipsschiene entlastet. In der Folge kann man auf eine Teilbelastung von ca. 20 kg im Unterschenkelgips übergehen. Nach Ablauf der 6 Wochen müssen die transartikulär eingebrachten Kirschner-Drähte entfernt werden. Abhängig von der Schwere und der Versorgung der Verletzung wird die Steigerung der Belastung bis zur Vollbelastung erlaubt. Parallel hierzu wird eine intensive physiotherapeutische Behandlung (Mobilisation, Kräftigung der Fußmuskulatur, Lymphdrainage) eingeleitet. Bei Bedarf werden zusätzlich entsprechende Fußeinlagen angefertigt. z z Evidenz und Kontroversen
Luxationsverletzungen des Chopart-Gelenks sind schwere Verletzungen, die gelegentlich übersehen und oft unterschätzt werden (Rammelt 2002). Das Verletzungsmuster im ChopartGelenk ist sehr vielfältig, das Patientengut äußerst inhomogen, und evidenzbasierte Aussagen sind nur sehr beschränkt möglich. Es besteht Einigkeit über die rasche notfallmäßige Versorgung der offenen Luxationsfrakturen und der Behandlung eines Kompartmentsyndroms. Die operative Versorgung richtet sich nach dem Verletzungsmuster und muss individuell erfolgen. Bereits geringe Gelenkbeteiligungen führen auch nach korrekter anatomischer Reposition zur Ausbildung von Früharthrosen. Eine Korrelation von Arthrosegrad und klinischem Ergebnis konnte jedoch bisher nicht belegt werden (Kotter 1997).
partmentsyndrom und Nervenläsionen (Randt 1998, Kotter 1997). Aufgrund der prekären Blutversorgung des Os naviculare ist das Risiko einer avaskulären Nekrose gegeben und bedarf der entsprechenden Verlaufsbeobachtung. In der Literatur finden sich nur vereinzelte Studien, die über postoperative Ergebnisse nach Versorgung einer Chopart-Luxationsverletzung berichten. Main und Jowett (1975) kontrollierten insgesamt 71 Patienten mit Chopart-Luxationsverletzungen nach. Die Einteilung in die entsprechenden Gruppen bzw. Untergruppen zeigte eine Fallzahl zwischen 1 und 15, was eine einheitliche Bewertung der Ergebnisse erschwert. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass bei konservativer Behandlung nur befriedigende bis schlechte Ergebnisse erzielt wurden. > Ein nicht zu unterschätzender negativer Prognosefaktor ist die häufig vorhandenen Begleitverletzungen (Grass 2001). Die schlechteste Prognose haben Verletzungen mit ausgeprägten Trümmerzonen und Gelenkzerstörungen (»Crush«-Verletzungen), die zu erheblichen, meist bleibenden Funktionseinschränkungen führen.
Luxationsverletzungen im Lisfranc-Gelenk z
z z
Komplikationen
Folgende Frühkomplikationen können nach operativer Versorgung auftreten: Infekt, Phlebothrombose, übersehenes Kom-
Anatomie und Biomechanik
Der tarsometatarsale Gelenkkomplex wurde nach dem Feldarzt Napoleons, Jacques Lisfranc, benannt. Durch diese Gelenklinie führte Lisfranc Amputationen durch. Die Verletzung und der Verletzungsmechanismus wurden allerdings nicht durch ihn beschrieben. Das Lisfranc-Gelenk stellt die Verbindung des Mittelfußes mit dem Vorfuß dar. Hier artikulieren die 3 Kahnbeinknochen und das Würfelbein mit der Basis der 5 Metatarsaleknochen. Das Gelenk ist durch die zahlreichen ligamentären Verbindungen und den knöchernen Aufbau ein sehr stabiles Gelenk. In der transversalen Achse erkennt man eine homogene Anordnung der Knochen, die an einen römischen Torbogen erinnert. Dieser Bogen verleiht dem Lisfranc-Gelenk zusätzliche knöcherne Stabilität. Der knöcherne Vorfuß wird oft in Säulen beschrieben. Peicha und Mitarbeiter (2002) beschreiben die Einteilung in 3 longitudinale Säulen: eine mediale, eine mittlere und eine laterale. Die mediale Säule ist die gelenkige Verbindung zwischen Os cuneiforme mediale und MT I, die mittlere Säule beinhalten das Os cuneiforme intermedium und laterale sowie MT II und III, die laterale Säule wird vom Kuboid und den MT IV und V gebildet. Dislokationen des Gelenks treten immer an der »anatomische Schwachstelle« auf. Die plantaren Bänder sind stärker ausgebildet als die dorsalen, was die häufige dorsale Richtung der Dislokationen erklärt. Nur zwischen MT I und II bestehen dorsal keine ligamentären Verbindungen. Hier liegt die eigentliche anatomische Schwachstelle, die gleichzeitig der Schlüsselpunkt für die chirurgische Versorgung darstellt. Ätiologie und Pathogenese
Lisfranc-Luxationsverletzungen sind selten und machen ca. 0,2% aller Frakturen aus. Sie treten häufig bei polytraumatisierten Patienten auf (58%). Zwei Drittel entstehen durch
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880
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Motorradunfälle, geschätzte 20% werden übersehen oder fehldiagnostiziert. Der Unfallmechanismus kann durch ein direktes oder indirektes Trauma entstehen. Indirekte Traumen, wie eine axiale Krafteinwirkung oder eine Distorsion des plantarflektierten Fußes, sind häufiger. Ein direktes Trauma ist selten und oft mit Mehrfachfrakturen und einem erheblichen Weichteiltrauma verbunden. z
Klassifikation
Quenus und Kuss veröffentlichten bereits 1909 eine Klassifikation, welche die Verletzung in 3 Typen einteilt: homolateral, isoliert und divergent (⊡ Abb. 29.65). Hardcastle und Mitarbeiter (1982) beschrieben eine modifizierte Klassifikation, die auf der Klassifikation nach Quenus und Kuss basiert. Ziel war es, mithilfe dieser Einteilung eine adäquate Behandlung ableiten zu können. Obwohl sich mittlerweile die Therapieempfehlungen gewandelt haben, ist diese Einteilung erhalten geblieben. Die Verletzungen werden hier in
3 Typen eingeteilt: Typ A, B und C (⊡ Abb. 29.66). Eine weitere modifizierte Einteilung nach Myerson unterteilt die Typen B und C weiter. Die Klassifikationen der Lisfranc-Verletzung sind zwar hilfreich für deren Einteilung, korrelieren jedoch nicht mit dem klinischen Ergebnis (Kuo 2004, Richter 2001). z
Diagnostik
Bei der Anamnese sollte der Unfallmechanismus möglichst exakt rekonstruiert werden. Nebendiagnosen, v. a. ein Diabetes mellitus, müssen erfasst werden. Die klinische Untersuchung zeigt in den meisten Fällen eine deutliche Weichteilschwellung im Mittelfußbereich. Typischerweise ist der Patient nicht mehr in der Lage, eine Vollbelastung durchzuführen, und die Palpation/Manipulation im Lisfranc-Gelenk ist mit Schmerzen verbunden.
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a
b
c
⊡ Abb. 29.65a–c Lisfranc-Luxationen: Klassifikation nach Quenus und Kuss. a homolateral, b isoliert, c divergent (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
a
⊡ Abb. 29.67 Lisfranc-Verletzung. Man beachte den vermehrten Abstand zwischen der Basis von MT I und II (»fleck-sign«)
b
⊡ Abb. 29.66a–c Röntgeneinstellung in 3 Ebenen. a a.p.-Projektion, b seitlich, c schräg
c
45°
881 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
> Der neurovaskuläre Status muss die Untersuchung der A. dorsalis pedis und des N. peroneus profundus beinhalten. Werden hier Läsionen übersehen, kann dies zu folgenschweren Komplikationen führen (Kompartmentsyndrom, Amputation).
Nach der klinischen Untersuchung sollten Röntgenbilder in 3 Ebenen (d.p., 30° schräg und seitlich) angefertigt werden, wenn möglich unter Belastung (⊡ Abb. 29.67). In der d.p.-Ebene muss der mediale Rand des MT II harmonisch in den medialen Rand des Os cuneiforme mediale übergehen. In der schrägen Ebene sollte der mediale Rand des MT IV harmonisch in den medialen Rand des Kuboids übergehen. Das seitliche Röntgenbild darf keine dorsale Subluxation der Metatarsalia zeigen. Ein pathognomonisches Zeichen für eine Luxationsverletzung im Lisfranc-Gelenk ist das »fleck-sign«, das man im erweiterten Zwischenraum des MT I und II sehen kann (>2 mm). Dieser »Fleck« ist der knöcherne Ausriss des Lisfranc-Ligaments an der Basis des MT II und in 90% der Fälle sichtbar (⊡ Abb. 29.67). Bei persistierenden Beschwerden und unauffälliger Röntgendiagnostik hilft ein CT oder MRT weiter, diese Verletzung aufzuspüren. z Therapie z z Konservative Therapie
Bei einer nicht dislozierten Verletzung kann eine konservative Therapie eingeleitet werden. Zuvor sollte jedoch radiologisch dokumentiert werden, dass unter Belastung keine Luxationstendenz besteht. Danach erfolgt zunächst für 4–6 Wochen die Entlastung der betroffenen Extremität in der Unterschenkelgipsschiene. Anschließend wird dem Patienten erlaubt, im angepassten Unterschenkelgehgips auf eine Vollbelastung überzugehen. Der Gehgips wird für weitere 6 Wochen belassen.
Die Tarsometatarsalgelenke III–V werden über eine weitere dorsale Inzision versorgt. Kirschner-Drähte werden zur Stabilisierung der Tarsometatarsalgelenke IV und V verwendet und über entsprechende Stichinzisionen platziert . Bei mehrfachen dorsalen Zugängen muss auf eine genügende Hautbrücke geachtet werden. Für die Versorgung der Tarsometatarsalgelenke I–III wird aktuell die Schraubenosteosynthese gefordert, da sie im Vergleich zur Kirschner-Draht-Fixation biomechanisch gesehen die größere Stabilität gewährleistet (Lee 2004). Die laterale Säule hingegen kann mit Kirschner-Drähten versorgt werden. Dies erlaubt geringfügige Bewegungen, wie sie auch normalerweise dort vorhanden sind. Die Nachteile der Schraubenosteosynthese sind der größere Knorpelschaden, die Gefahr des Schraubenbruchs und die Notwendigkeit der Entfernung des Osteosynthesematerials. Die Plattenosteosynthese hat den Vorteil, den Gelenkknorpel zu schonen, zeigt jedoch keinen Stabilitätsvorteil. Die Entfernung des Osteosynthesematerials kann sich schwierig gestalten und erneute Weichteilschäden verursachen. Im Unterschied zur konservativen Behandlung kann postoperativ ca. 2 Wochen später auf eine Vollbelastung übergegangen werden. Kirschner-Drähte sollten nach 6 Wochen entfernt werden, die Schrauben in der Regel nach 6 Monaten (⊡ Abb. 29.68). z z Evidenz und Kontroversen
Retrospektive Studien zeigen sehr unterschiedliche Resultate nach geschlossener Reposition und Gipsbehandlung (Hardcastle 1982). Die Arbeit von Goossens und Mitarbeitern (1983) zeigt hingegen nach Gipsbehandlung ohne entsprechende Reduktion der Dislokation ein unbefriedigendes Ergebnis. Die primäre Arthrodese wird bei Verletzungen mit intraartikulären Trümmerfrakturen, v. a. für die medialen TMT-Ge-
z z Operative Therapie
Bei dislozierten oder instabilen Verletzungen wird eine operative Therapie empfohlen. Hierbei wird die anatomische Reduktion der Verletzung gefordert, um ein gutes Ergebnis für den Patienten zu erzielen (Kuo 2000, Richter 2001). Bei dislozierten Verletzungen muss eine rasche Reduktion erfolgen, um initiale Komplikationen zu vermeiden. Die operative Stabilisierung ist den Weichteilverhältnissen anzupassen. Bei schweren Weichteilschädigungen sollte das drohende Kompartmentsyndrom behandelt werden und eine präliminäre Stabilisierung ausschließlich mittels Kirschner-Drähten erfolgen. Der Weg zur erfolgreichen Rekonstruktion des Lisfranc-Gelenks führt über die korrekte Reposition und Stabilisierung des zweiten Strahls. Dies kann über einen dorsomedialen Zugang erreicht werden. Wenn immer möglich, sollte eine Schraube vom Os cuneiforme mediale in die Basis des Metatarsale II erfolgen, um das Lisfranc-Ligament in der anatomisch korrekten Position zur Ausheilung zu bringen. Über den gleichen Zugang wird auch der erste Stahl versorgt. ! Cave Beim dorsomedialen Zugang muss die A. dorsalis pedis und der N. peroneus profundus unbedingt geschont werden.
⊡ Abb. 29.68 Situation nach operativer Versorgung (Verschraubung) einer Lisfranc-Luxationsverletzung
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882
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
lenke I–III empfohlen. In der prospektiven randomisierten Studie von Ly und Mitarbeitern (2006) (Level I) wird die primäre Arthrodese gegenüber der operativen Stabilisierung bevorzugt. Eine weitere vergleichende Studie von Mulier und Mitarbeitern (2002) (Level III) zeigte jedoch, dass Patienten in der Arthrodesegruppe mehr Schmerzen angaben, eine höhere Steifigkeit aufwiesen und häufiger an einer Sudek-Dystrophie litten als die Osteosynthesegruppe. Die primäre Arthrodese wird daher nur als »Salvage-Lösung« propagiert. z
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Komplikationen
Die häufigste Komplikation nach einer Luxationsverletzung im Lisfranc-Gelenk ist die posttraumatische Arthrose im Mittelfuß. Sie korreliert mit dem Ausmaß des Knorpelschadens und der inadäquaten (»nicht anatomischen«) Versorgung. Zur Behandlung stehen orthopädietechnische Lösungen mit entsprechender Schuh- und Sohlenversorgung zur Verfügung. Das Kompartmentsyndrom stellt eine folgenschwere Komplikation dar und wird häufig im Rahmen einer Luxationsverletzung im Lisfranc-Gelenk beobachtet. Übersehene Durchblutungsstörung bei dislozierten Luxationsverletzungen können Amputationen notwendig machen. Als weitere Komplikation ist die Sudeck-Dystrophie zu nennen, die im postoperativen Verlauf auftreten kann. Sie kann eine langwierige Nachbehandlung notwendig machen. Studien belegen, dass eine Dislokation von mehr als 2 mm zwischen der Basis von MT I/II und/oder einem Malalignement von mehr als 15° in den TMT-Gelenken mit einem schlechten Ergebnis einhergeht. Aus diesem Grund ist eine anatomische Rekonstruktion dieser Fußverletzung anzustreben.
Metatarsalefrakturen z
Anatomie und Biomechanik
Die Metatarsalknochen sind in der horizontalen und transversalen Achse bogenförmig angeordnet. Der erste und fünfte Metatarsalknochen »umrahmen« die 3 mittleren Knochen. Ihnen kommt eine Sonderstellung zu wie, auch schon ihre anatomische Struktur vermuten lässt. Bei physiologisch normal konfiguriertem Fuß ist der Innenrand angehoben. Hierdurch laufen die Hauptkraftvektoren durch den ersten Strahl, der Zweidrittel des Körpergewichts aufnimmt. Dies spiegelt sich auch in seiner kräftigen Knochenstruktur wider. Die Knochenmorphologie des MT V zeigt wie die übrigen Metatarsalia eine dorsale Konvexität, um die Biegemomente während des Laufens zu neutralisieren. Der Metatarsalknochen V ist der beweglichste Knochen in dieser Reihe. An der prominenten lateralen Basis (Tuberositas ossis metatarsalis V) setzt die Sehne des M. peroneus brevis an. Diese Basis wird auch als Endpunkt der »supination fracture line« bezeichnet. Die genannten anatomischen Gegebenheiten sind möglicherweise der Grund für die Avulsionsverletzungen bei Supinationstraumen (Quill 1995). Die Metatarsalia II–IV sind über straffe plantare und dorsale Bänder mit den Fußwurzelknochen sowie untereinander verbunden, sodass hier nur eine sehr eingeschränkte Beweglichkeit möglich ist. Diese straffen Verbindungen erlauben die konservative Behandlung einfacher Metatarsalefrakturen.
z
Ätiologie und Pathogenese
Frakturen der Metatarsalknochen sind relativ häufige Verletzungen des Fußes. Sie können durch eine Distorsion, direkte Gewalteinwirkung oder im Rahmen einer Stressfraktur entstehen. 61% aller Frakturen am kindlichen Fuß sind Metatarsalefrakturen (Zwipp 1991). Stressfrakturen des menschlichen Skeletts sind am häufigsten in den Metatarsaleknochen lokalisiert. Besonders betroffen sind hier Balletttänzer, Athleten und Soldaten. Nicht dislozierte Frakturen und Frakturen der Metatarsalia II–IV mit Dislokation in der Horizontalebene können mittels konservativer Therapie zur Ausheilung gebracht werden. Trümmerfrakturen und Gelenkfrakturen müssen in der Regel einer operativen Behandlung unterzogen werden. Transverse Frakturen im Bereich des metaphysär-diaphysären Übergangs an der Basis des MT V, sog. »Jones-Frakturen«, bedürfen einer individuellen Behandlungsstrategie. Diese richtet sich nach der sportlichen Aktivität des Patienten. > Generell ist das Ziel der Behandlung, die Länge und das Quergewölbe des Vorfußes zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Dadurch soll eine physiologische Gewichtsverteilung unter den Metatarsaleköpfchen gewährleistet werden. Wird dieses Ziel nicht erreicht, sind persistierende Metatarsalgien die Folge (Zwipp 1991). z
Klassifikation
Im klinischen Alltag hat sich die Einteilung gemäß der Lokalisation (epiphysär, metaphysär oder diaphysär) bewährt. Frakturen der Basis des MT V wurden nach Dameron und später nach Quill (1995) klassifiziert (⊡ Abb. 29.69): ▬ Zone 1: Avulsionsfrakturen ▬ Zone 2: metaphysär-diaphysäre Übergangsfrakturen (Jones-Frakturen) ▬ Zone 3: proximale Schaftfrakturen (Stressfrakturen)
⊡ Abb. 29.69 Einteilung der Basisfrakturen MTV in Zonen. Blau Zone 1 – Avulsionsfrakturen, grün Zone 2 – metaphysär-diaphysäre Übergangsfrakturen, rot Zone 3 – proximale Schaftfrakturen
883 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Nur Frakturen in der Zone 2 werden als Jones-Frakturen bezeichnet. Diese Frakturen wurde erstmals 1902 von Sir Robert Jones beschrieben. Die Lokalisation wird auch als »Wasserscheide« der Blutversorgung bezeichnet und ist der Grund für die schlechte Heilungstendenz (Smith 1992). Die AO-Klassifikation unterscheidet zwischen extraartikulären (Typ A) und intraartikulären Frakturen (Typ B) sowie Frakturdislokationen (Typ C). z
Diagnostik
Patienten mit Frakturen der Metatarsalia klagen über belastungsabhängige Schmerzen beim Gehen, soweit dies überhaupt noch möglich ist. Der Vorfuß ist meist geschwollen und druckempfindlich, Deformitäten sind nur nach schweren Verletzungen äußerlich sichtbar. In diesen Fällen ist das Weichteiltrauma erheblich und das Risiko eines Kompartmentsyndroms erhöht. > Sensomotorische Defizite müssen erkannt und einer raschen und adäquaten Behandlung zugeführt werden.
Nach der klinischen Beurteilung steht die Bildgebung im Vordergrund. Röntgenbilder müssen in mindestens 2, oft auch in 3 Ebenen erfolgen. Die CT steht als erweiterndes Diagnoseinstrument zur Verfügung. Die MRT und die Szintigraphie kommen v. a. bei pathologischen Frakturen und bei Stressfrakturen zum Einsatz. > Die Mitbeurteilung der angrenzenden Gelenke ist bei der Diagnostik sehr wichtig, insbesondere die Beurteilung des Lisfranc-Gelenks. Bei Verdacht auf Zusatzverletzungen sollte die Indikation zur CT sollte großzügig gestellt werden. z
Therapie
Die Therapie der Metatarsalefrakturen muss auf den Frakturtyp und auf das Patientenprofil abgestimmt werden. Zunächst jedoch gilt es, die Weichteilsituation zu beurteilen und der entsprechenden Behandlung zuzuführen. Der Zustand der Weichteile diktiert das Behandlungsschema. Offene Frakturen bedürfen einer raschen operativen Versorgung. Hier sind weichteilabhängig meist weitere Folgeeingriffe notwendig. In der Behandlung von schweren Fußverletzungen ist das Kompartmentsyndrom des Fußes eine gefürchtete Komplikation, die rasch behandelt werden muss. z z Konservative Therapie
Im Allgemeinen können einfache, nicht dislozierte Frakturen und Stressfrakturen konservativ behandelt werden. Auch Frakturen der MT II–IV, die nur in der frontalen Ebene disloziert sind und keine Verkürzung aufweisen, können konservativ behandelt werden. Die konservative Therapie beinhaltet eine Gipsruhigstellung. Welche Art von Gipsschienung gewählt wird, ist sekundär. In der Regel empfehlen wir eine Entlastung für 3–4 Wochen. Im Anschluss daran kann der Patient auf eine Teilbelastung übergehen und die Belastung selbstständig nach Maßgabe der Beschwerden steigern. Nach ca. 6 Wochen ist in der Regel eine Vollbelastung im eigenen Schuhwerk möglich. Sportliche Aktivitäten sollten frühestens nach 8 Wochen wieder aufgenommen werden.
z z Operative Therapie
Die meisten dislozierten Metatarsalefrakturen können geschlossen reponiert werden, bleiben jedoch nach der Reposition instabil und müssen im Verlauf stabilisiert werden. Hier stehen dem Operateur verschiedene Implantate zur Verfügung (Kirschner-Drähte, Klein- und Minifragmentsysteme). Nach entsprechender osteosynthetischer Versorgung empfiehlt sich in den meisten Fällen zusätzlich eine Ruhigstellung in der Gipsschiene und im weiteren Verlauf eine vorübergehende Teilbelastung für 3–4 Wochen. Frakturen des MT I müssen in der Regel operativ stabilisiert werden. Da der erste Metatarsalknochen während der Standphase beim Gehen die Hauptbelastung trägt, ist eine sorgfältige Rekonstruktion und Stabilisierung anzustreben. Hierbei muss v. a. auf die Korrektur in der Horizontalebene geachtet werden, um eine posttraumatische Deformität (Hallux valgus oder varus) zu vermeiden. Wenn es die Weichteile erlauben, wird die Plattenosteosynthese über einen medialen Zugang favorisiert. Bei erheblichem Weichteilschaden stehen eine KirschnerDraht-Versorgung (bilateral, gekreuzt) oder die Anlage eines Minifixatuers zur Verfügung. Einfache Frakturen der MT II–V können aufgrund der straffen ligamentären Verbindungen in der Regel konservativ behandelt werden. Wenn eine operative Stabilisierung erforderlich ist, so ist die retrograde Spickung mittels Kirschner-Drähten das Mittel der Wahl. Schaftfrakturen des MT V sollten einer operativen Stabilisierung zugeführt werden, da das Risiko einer Dislokation unter konservativer Therapie sehr groß ist. Bevorzugt wird die Miniplattenosteosynthese, die stabiler ist als die KirschnerDraht-Spickung und über einen direkten Zugangsweg einfach realisiert werden kann. Die klassische Jones-Fraktur hat noch immer den Ruf einer schlechten Spontanheilungstendenz aufgrund der relativ schlechten vaskulären Versorgung und der Instabilität zwischen der fixierten Basis und dem lockeren Schaft (Smith 1992). Frische, nicht dislozierte Jones-Frakturen werden in der Regel konservativ therapiert mit einer Ruhigstellung im Gips für 6–8 Wochen. Die Indikation für eine operative Sanierung sehen wir bei Leistungssportlern und bei fehlender Heilungstendenz während mindestens 10 Wochen unter konservativer Therapie. Die Wahl der operativen Sanierung richtet sich bei fehlender Heilungstendenz nach der periostealen Reaktion. Bei intramedullärer Sklerose und fehlender periostealer Reaktion muss zusätzlich eine Spongiosaplastik durchgeführt werden. Die Wahl des Osteosynthesematerials ist sekundär, solange eine stabile Osteosynthese resultiert. > Aufgrund des Risikos einer intra- oder postoperativen Schaftfraktur ist mit der Indikation der intramedullären Schraubenosteosynthese Zurückhaltung geboten.
Dislozierte Avulsionsfrakturen mit Gelenkbeteiligung sollten ebenfalls operativ saniert werden. Hier sehen wir die Indikation für eine Zuggurtungsosteosynthese. Die weitere Behandlung nach operativer Sanierung entspricht dem Nachbehandlungsschema der konservativen Therapie.
29
884
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
z z Evidenz und Kontroversen
Generelle Einigkeit besteht darüber, dass Frakturen der Metatarsalia II–IV, die nur in der Frontalebene disloziert und nicht verkürzt sind, konservativ behandelt werden können. Die operative Stabilisierung einer dislozierten Fraktur des MT I und MT V in der transversalen Ebene wird in der Literatur einheitlich empfohlen. Außer für das MT V liegen keine systematischen Studien vor, die das Ergebnis nach Metatarsalefrakturen analysiert haben. Aktuell wird in der Literatur eine rasche operative Sanierung der Jones-Fraktur empfohlen, um eine längerfristige Ruhigstellung zu vermeiden (Quill 1995, Portland 2003). Portland und Mitarbeiter (2003) berichten bei 22 Patienten, die mittels sofortiger Schraubenosteosynthese versorgt wurden, über 100% Heilungserfolg. Die durchschnittliche Heilungszeit betrug 6,2 Wochen für akute Frakturen und 8,3 Wochen für Stressfrakturen mit intramedullärer Sklerose. z
29
Komplikationen
In der Regel handelt es sich bei Metatarsalefrakturen um wenig oder nicht dislozierte Frakturen, die mit einer konservativen Therapie gut behandelt werden können. Die Frakturen der Metatarsalia I und V erfordern besondere Aufmerksamkeit. Diese müssen analysiert und der entsprechenden Therapie zugeführt werden. Komplikationen können nach operativer Sanierung auftreten. Hierzu zählen Infektionen, Thrombosen und verzögerte Knochenheilung bis hin zur Pseudarthrose. Frakturen des MT V haben in der Regel eine gute Prognose. Bauer und Zeithammel (1993) berichten über 23 gute und exzellente Ergebnisse nach operativer Versorgung einer Abrissfraktur des MT V in 25 Fällen. Josefson und Mitarbeiter (1994) berichten, dass 25% aller konservativ behandelten Frakturen sekundär operativ versorgt werden mussten aufgrund einer »delayed union« oder Refraktur. In 12% der Fälle wurde eine sekundäre Versorgung bei einer akuten Verletzung notwendig, jedoch in 50% bei einer chronischen Verletzung (Stressfraktur).
29.3.3
Verletzungen der Fußwurzel
Talusfrakturen und Dislokationen des subtalaren Gelenks z
Ätiologie und Pathogenese
Verletzungen des Talus und des subtalaren Gelenks sind selten (ca. 1% aller Frakturen). Sie zählen aber zu den schweren Fußverletzungen (»high energy trauma«). Die therapeutische Herausforderung besteht in der komplexen Anatomie mit überwiegend knorpeliger Oberfläche und der prekären Blutversorgung. Die einzigartige Anatomie dieses Knochens stellt jedoch auch eine Prädisposition für komplexe Frakturen dar. > Talusverletzungen ziehen eine langwierige Nachbehandlung nach sich und sind oft mit einer bleibenden Funktionseinschränkung verbunden.
Das funktionelle Ergebnis ist abhängig vom Dislokationsgrad und den gleichzeitig vorherrschenden Weichteilschäden, aber auch von einer zeitgerechten und adäquaten Versorgung. Der Verletzungsmechanismus kann ein axiales Stauchungstrauma wie bei Verkehrsunfällen oder einem Sturz aus großer Höhe sein (>90%) oder eine Luxationsverletzung im Rahmen eines Sportunfalls (»snowboarder’s fracture«). z
Anatomie und Biomechanik
Der Talus (Sprungbein) ist der zentrale Schaltknochen zwischen Unterschenkel und Rückfuß mit Beteiligung am OSG (oberes Sprunggelenk), USG (unteres Sprunggelenk) und am TNG (Talonavikulargelenk). Zwischen diesen Gelenken läuft eine komplizierte kinematische Bewegungskette ab, welche die notwendige Beweglichkeit und gleichzeitige Stabilität gewährleisten kann. Das Sprungbein wird in 3 Abschnitte gegliedert: Kopf, Hals und Körper (⊡ Abb. 29.70). Rund 70% des Talus sind mit Knorpel überzogen. Somit sind die Mehrheit der Frakturen Gelenkfrakturen. Muskuläre Ansätze oder Ursprünge sind am Talus nicht vorhanden, dadurch ist die indirekte Blutversorgung vermindert und das Risiko einer Osteonekrose bei Läsionen erhöht.
⊡ Abb. 29.70a,b Rechtes Sprungbein, Talus. a Ansicht von proximal, b plantar (Aus: Tillmann 2005)
885 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Die arterielle Versorgung (⊡ Abb. 29.71) erfolgt aus der A. tibialis posterior, zusätzlich aus der A. tibialis anterior und der Peronealarterie. Der mediale Taluskörper wird durch die A. canalis tarsi, einem Ast der A. tibialis posterior, der laterale Teil aus der A. sinus tarsi, einem Ast der A. tibialis anterior versorgt. Die A. deltoidea, ebenfalls ein Ast der A. tibialis posterior, zieht durch das Lig. deltoideum, um ebenfalls Anteile des medialen Taluskörpers zu versorgen. Die Hauptversorgung des Taluskörpers tritt in den Talushals vom Sinus tarsi aus ein und verläuft retrograd zum Taluskörper. Dies ist der Grund für eine Nekrose des Taluskörpers nach einer Talushalsfraktur. z
Die Hawkins-Klassifikation basiert auf dem posttraumatischen Röntgenbild. Der Vorteil dieser Klassifikation ist die Korrelation des Risikos einer Osteonekrose des Taluskörpers mit der Schwere der Verletzung. Diese reicht von 0–13% für Typ I, 20–50% für Typ II, 75–100% für Typ III und fast 100% für Typ-IV-Verletzungen des Talushalses (Elgafy 2000, Daniels 1993; ⊡ Tab. 29.6).
⊡ Tab. 29.6 Talushalsfrakturen und deren Komplikationen. (Nach Fortin u. Balazsy 2001) Typ
Osteonekrose [%]
Posttraumatische Arthrose [%]
Pseudarthrose [%]
I
0–13
0–30
0–10
II
20–50
40–90
0–25
III/IV
80–100
70–100
18–27
Klassifikation
Aufgrund der verschiedenen Entstehungsmechanismen, der betroffenen anatomischen Strukturen, der unterschiedlichen Therapieformen und Prognosen ist für verschiedene Frakturtypen folgende Einteilung sinnvoll: ▬ zentrale Frakturen: Taluskopf, -hals und -körper ▬ periphere Frakturen: Proc. lateralis und Proc. posterior ▬ osteochondrale Frakturen: Talusdom Taluskopffrakturen
Sie machen ca. 10% der Talusfrakturen aus und sind oft mit einer subtalaren Dislokation oder mit Verletzungen der lateralen Fußsäule verbunden. Die Einteilung erfolgt deskriptiv. Talushalsfrakturen
Sie bilden mit ca. 50% den Hauptanteil der Talusfrakturen. 1970 veröffentlichte Hawkins eine Einteilung der vertikalen Talushalsfrakturen in 3 Typen, die eine Prognose anhand der korrespondierenden Gefäßverletzung erlaubt. Canale und Kelly fügten 1978 einen 4. Frakturtyp hinzu: ▬ Typ I: undislozierte Talushalsfraktur ▬ Typ II: dislozierte Talushalsfraktur mit USG-Luxation bzw. -Subluxation ▬ Typ III: dislozierte Talushalsfraktur mit USG- und OSGLuxation bzw. -Subluxation ▬ Typ IV: Typ III mit talonavikulärer Luxation bzw. Subluxation
a
b
c
d
⊡ Abb. 29.71 Durchblutung des Talus (Aus Crock 1967).
⊡ Abb. 29.72a–d Talushalsfrakturen: Klassifikation nach Hawkins, modifiziert durch Canale und Kelly. a Typ I: undislozierte Halsfraktur, b dislozierte Halsfraktur (Sub-)Luxation im USG, c Typ III: dislozierte Halsfraktur (Sub-)Luxation im USG und OSG, d dislozierte Halsfraktur (Sub-) Luxation im USG, OSG und TNG (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
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886
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Taluskörperfrakturen
Taluskörperfrakturen machen 7–38% aller Frakturen des Talus aus. Sie reichen von mild bis schwer. Die Taluskörperfrakturen werden nach Sneppen in 5 Typen eingeteilt: ▬ Typ I: ostechondrale Verletzung des Doms ▬ Typ II: koronare, sagittale und transversale Frakturen (»shear fractures«) ▬ Typ III: Frakturen des Proc. posterior ▬ Typ IV: Frakturen des Proc. lateralis (»snowboarder’s fracture«): – Typ IVa: »chip fracture« – Typ IVb: »simple two-part fracture« – Typ IVc: »comminutes fracture« ▬ Typ V: Trümmerfrakturen Subtalare Dislokationen
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Die Klassifikation hängt bei dieser Verletzung von der Position des Fußes gegenüber dem Talus ab. Meistens handelt es sich hierbei um eine mediale (80%), seltener um eine laterale (15%) Dislokation des subtalaren Gelenks (Brunner 1996). Nur sehr selten kommt es zu einer anterioren oder posterioren Dislokation (⊡ Abb. 29.73). z
Diagnostik
Die klinische Untersuchung beinhaltet die Beurteilung der Weichteile, die Überprüfung des neurovaskulären Status sowie möglicher Begleitverletzungen, v. a. im thorakolumbalen Wirbelsäulenabschnitt. Besondere Beachtung muss hier dem Kompartmentsyndrom des Fußes gewidmet werden. Röntgenaufnahmen des Sprunggelenks und des Fußes müssen in dorsoplantarer, seitlicher und schräger Richtung durchgeführt werden. Die CT ist für die Frakturanalyse und die Darstellung von Begleitverletzungen sehr hilfreich, insbesondere bei Verdacht auf eine subtalare Dislokation. Regionale Zusatzverletzungen sind häufig. Frakturen des Malleolus medialis werden in 15–25% der Fälle beobachtet. Zusätzliche Kalkaneusfrakturen kommen in 10% bzw. weitere
⊡ Abb. 29.73a,b Talusluxationsfraktur nach Hochgeschwindigkeitstrauma. a im d.p.Strahlengang, b seitlich
a
Fußverletzungen in 15% vor. 30% der Patienten sind polytraumatisiert. Damit haben insgesamt fast 50% der Patienten relevante Begleitverletzungen (Boack 2004).
I
Tipp
I
In den radiologischen posttraumatischen Verlaufskontrollen sollte nach dem sog. »Hawkins-Zeichen« gesucht werden, einer subchondralen Aufhellung am Talusdom in der a.p.-Aufnahme, die nach ca. 6–8 Wochen auftaucht.
Dieses Zeichen ist ein Indikator für eine ablaufende Knochenresorption und für die noch vorhandene Knochendurchblutung. Allerdings ist das Ausbleiben dieses Zeichens kein sicherer Indikator für eine drohende Osteonekrose. z Therapie Taluskopffrakturen
Die Behandlung der Talusfrakturen basiert auf der Unterscheidung, ob die Fraktur disloziert oder undisloziert ist. Für diese Unterscheidung ist die CT sehr hilfreich. In der aktuellen Literatur findet man keine vergleichenden klinischen Studien bezüglich der Behandlung von Taluskopffrakturen. Die Therapieempfehlungen basieren auf persönlichen Erfahrungen der Autoren. Bei nicht dislozierten Frakturen wird eine Ruhigstellung mit Entlastung im Unterschenkelgips für 4–8 Wochen empfohlen. Im Verlauf kann dann der Übergang auf eine schmerzadaptierte Vollbelastung erlaubt werden. Dislozierte Frakturen bedürfen einer operativen Versorgung. Große Fragmente werden mithilfe von Kleinfragmentschrauben, Herbert-Schrauben oder Kirschner-Drähten stabilisiert. Im Anschluss erfolgt eine Entlastung im Unterschenkelgips bis zum Nachweis einer knöchernen Konsolidation. Kleinere Fragmente werden in der Regel exzidiert, wenn möglich sollten ca. Zweidrittel des Kopfes erhalten werden.
b
887 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Talushalsfrakturen
Obwohl die Behandlung vom Frakturtyp abhängt, ist das gemeinsame Behandlungsziel eine notfallmäßige anatomische Reduktion der Fraktur bzw. Luxation, um das Nekroserisiko zu reduzieren. Hawkins-Typ-I-Frakturen: Nicht dislozierte, stabile Frakturen werden konservativ im Unterschenkelgips während ca. 6–8 Wochen behandelt. Zwischenzeitliche Röntgenkontrollen werden empfohlen, um eine sekundäre Dislokation nicht zu verpassen. Hawkins-Typ-II-Frakturen: Diese Frakturen sollten unmittelbar einer geschlossenen Reposition zugeführt werden. Hierbei muss der Fuß maximal plantar flektiert werden, um das Kopffragment an den Taluskörper zu reponieren. Gleichzeitig erfolgt ein Varus- oder Valgusstress, um den Talushals in der transversalen Ebene zu reponieren. Meistens kann das Repositionsergebnis in einem maximal plantarflektierten Gips gehalten werden, was auch von einigen Autoren als konservative Behandlungsmethode empfohlen wird. Eine operative Stabilisierung sollte jedoch auch nach anatomischer Reposition in Erwägung gezogen werden. Der Vorteil liegt in der Vermeidung eines Spitzfußes und in der frühen Mobilisierung des Patienten. Die operative Versorgung kann über den klassischen anteromedialen und/oder den anterolateralen Zugang erfolgen. Der anteromediale Zugang bietet den Vorteil einer zusätzlichen Osteotomie des Malleolus medialis, falls der Korpus betroffen ist. Die Platzierung der Schrauben ist hier jedoch schwieriger als beim anterolateralen Zugang. Einige Autoren empfehlen beide Zugänge, um somit eine optimale anatomische Reduktion zu erreichen (Daniels 1993, Vallier 2004). Ein posterolateraler Zugang für die Schraubenpositionierung wurde ebenfalls beschrieben, nachdem die Fraktur zuvor über einen anteromedialen oder anterolateralen Zugang reduziert wurde. In der Kadaver-Studie von Swanson (1992) konnte gezeigt werden, dass 2 in p.a.-Richtung eingebrachte Spongiosaschrauben das stabilste Konstrukt sind. Tipp
I
I
Es empfiehlt sich, Titanschrauben zu verwenden, um somit eine postoperative Beurteilung im MRT zu ermöglichen.
Nach operativer Versorgung ist die Gipsruhigstellung für ca. 8 Wochen zu empfehlen. Im weiteren Verlauf erlauben wir dann den Übergang auf eine Vollbelastung. Hawkins-Typ-III-Frakturen: Dieser Frakturtyp stellt aus 2 Gründen einen chirurgischen Notfall dar. Erstens besteht die Gefahr einer Hautnekrose über dem dislozierten Talusfragment, falls nicht eine rasche Reposition erfolgt. Zweitens reitet der Taluskörper auf dem Lig. deltoideum und gefährdet somit die verbleibende Durchblutung über die A. deltoidea. Aus diesen Gründen muss eine rasche offene Reposition und Stabilisierung der Fraktur erfolgen, am besten über einen kombinierten anteromedialen und anterolateralen Zugang. Bei intaktem Malleolus medialis muss eine Osteotomie erfolgen, um das Lig. deltoideum mit seinen Gefäßen zu schonen. Wir
empfehlen, die schräge Osteotomie senkrecht zur geplanten Schraubenosteosynthese mit dem Osteotom zu vollenden, um eine spätere Reposition zu vereinfachen. Trotz der guten Übersicht kann sich die Reposition äußerst schwierig gestalten. Ein von posteroinferior in den Kalkaneus eingebrachter Steinmann-Nagel kann als Repositionshilfe gebraucht werden. Die Stabilisierung erfolgt in der Regel über versenkte 3,5-mm Schrauben. Postoperativ sollte eine Entlastung im Unterschenkelgips für ca. 8 Wochen erfolgen. Beim Nachweis von ossärer Konsolidation kann dann auf einen Gehgips übergegangen werden, mit entsprechender Steigerung der Belastung im Verlauf. Hawkins-Typ-IV-Frakturen: Glücklicherweise sind diese Verletzungen äußerst selten, stellen aber therapeutisch eine große Herausforderung dar. Auch hier muss eine rasche offene Reposition und Stabilisierung erfolgen. Meist kommt ein Fixateur externe zum Einsatz. Der Hybridfixateur mit IlizarovHalbringen bietet eine gute Einsatzmöglichkeit. Die primäre Arthrodese wird in der Literatur kontrovers diskutiert, sollte jedoch unsere Meinung nach nicht Mittel der ersten Wahl sein. Die Versorgung bzw. der Erhalt des Weichteilmantels steht im Vordergrund. Der Zeitpunkt der Osteosynthese richtet sich nach dem Zustand des Weichteilmantels. Taluskörperfrakturen
Die Behandlung der Taluskörperfrakturen richtet sich danach, ob es sich um eine nicht dislozierte oder um eine dislozierte Fraktur handelt. Um diese Unterscheidung zu treffen, ist die CT sehr hilfreich. Osteochondrale Verletzung des Doms: Osteochondrale Verletzungen des Talus sind am häufigsten im anterolateralen oder posteromedialen Bereich des Doms lokalisiert. Sie werden meist erst nach weitergehenden Abklärungen mittels CT und MRT entdeckt. Die Behandlung richtet sich nach der Dislokation und der Größe der osteochondralen Fraktur. Undislozierte Läsionen, die kleiner sind als 10 mm, werden konservativ behandelt. Dies beinhaltet die Anlage eines Unterschenkelgipses und die Teilbelastung an Gehstöcken während 6 Wochen. > Bei größeren, dislozierten Fragmenten oder nach fehlgeschlagener konservativer Behandlung muss eine operative Versorgung erfolgen. Hier empfiehlt sich eine arthroskopische Kürettage der Läsion, subchondrale Anbohrung (Pridie-Technik) und Entfernung des Fragments.
Bei Läsionen, die größer sind als 10 mm, gehen die Therapieempfehlungen auseinander. Prinzipiell sollte hier versucht werden, das Fragment nach Anfrischung des Bettes zu reponieren und mit Herbert-Schrauben oder resorbierbaren Pins zu fixieren. Sollte dies nicht möglich sein, so empfiehlt es sich, Pridie-Bohrungen (Mikrofrakturierung) durchzuführen, solange der Defekt weniger als 15 mm misst. Für größere Defekte (>15 mm) stehen verschiedene moderne Techniken zur Verfügung (autologe Chondrozytentransplantation, AllograftTransplantation). Es gibt jedoch in der Literatur keinen Konsensus über die Behandlung osteochondraler Verletzungen, die nicht suffizient reponiert und stabilisiert werden können.
29
888
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Koronare, sagittale und transversale Frakturen (»shear fractures«): Diese Frakturen des Taluskörpers ziehen durch
den Talusdom und die Gelenkflächen. Es handelt sich hierbei um seltene Verletzungen, die in koronarer, sagittaler und transversaler Richtung auftreten und häufig mit Begleitverletzungen einhergehen. Nicht dislozierte Frakturen mit einer Dislokation unter 2 mm werden konservativ behandelt. Empfohlen wird die Ruhigstellung im Unterschenkelgips für 4–8 Wochen, anschließend Übergang auf Vollbelastung, sobald radiologische Konsolidationszeichen gesehen werden. > Die initialen Verlaufskontrollen müssen engmaschig mittels Röntgenaufnahmen und CT durchgeführt werden, um eine sekundäre Dislokation nicht zu übersehen.
29
Frakturen, die eine primäre oder sekundäre Dislokation von mehr als 2 mm aufweisen, sollten der operativen Versorgung zugeführt werden. Der Standardzugang ist hier der anteromediale Zugang mit einer Osteotomie des Malleolus medialis, wie bereits bei der Behandlung der Typ-III-Frakturen erwähnt. Ein zusätzlicher anterolateraler Zugang kann zur besseren Darstellung verwendet werden. Frakturen des Proc. posterior: Der Proc. posterior des Talus besteht aus dem Tuberculum mediale und laterale. Das laterale Tuberculum ist häufiger frakturiert, da es größer ist und weiter nach posterior reicht. Bei der Differenzialdiagnose sollte auf ein möglich vorhandenes Os trigonum geachtet werden. Der genaue Unfallmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt, es scheinen jedoch mehrere Mechanismen infrage zu kommen. Die Diagnostik mittels konventionellen Röntgenaufnahmen ist schwierig, sodass wir bei entsprechender Klinik die Indikation für eine computertomographische Abklärung stellen. Die Behandlungsempfehlung solcher Verletzungen basiert in der Literatur auf Einzelberichten und persönlichen Erfahrungen. Bei nicht dislozierten Frakturen wird die Behandlung im Unterschenkelgips unter Entlastung für 6 Wochen empfohlen. In der Folge kann die Belastung schmerzadaptiert gesteigert werden. Bleiben die Patienten mehr als 3 Monate symptomatisch, so muss die Indikation zur Exzision gestellt werden. Größere dislozierte Fragmente des Proc. posterior sollten offen reponiert und stabilisiert werden. In der Literatur wird die Prognose bezüglich der konservativen Behandlung als schlecht beschrieben. Frakturen des Proc. lateralis (»snowboarder‘s fracture«):
Dieser Frakturtyp wird in den letzten Jahren vermehrt beobachtet und macht ca. 25% aller Talusfrakturen aus (Valderrabano 2005). Der häufigste Verletzungsmechanismus ist eine kombinierte Bewegung aus axialer Stauchung, Dorsalflexion im Sprunggelenk, Außenrotation im Unterschenkel und Eversion im Rückfuß. Die Patienten klagen in der Regel über einen Schmerz im Bereich des lateralen Malleolus und weisen häufig eine druckdolente Schwellung über dem Sinus tarsi auf. Nicht dislozierte Frakturen vom Typ I und III werden konservativ behandelt mit Anlage eines Unterschenkelgipses für 4–6 Wochen. In dieser Zeit wird die Stockentlastung empfohlen. Anschließend ist der Übergang auf eine Vollbelastung erlaubt.
a
b ⊡ Abb. 29.74a,b 3-D-Rekonstruktion
> Die klinisch-radiologischen Verlaufskontrollen sollten initial engmaschig durchgeführt werden, um eine sekundäre Dislokation nicht zu übersehen.
Wir empfehlen, eine CT nach ca. einer Woche durchzuführen. Bei persistierenden Beschwerden nach über 3 Monaten sollte die Indikation zur Exzision des Fragments großzügig gestellt werden (Valderrabano 2005). Typ-II-Frakturen und sekundär dislozierte Frakturen Typ I und III um mehr als 2 mm sollten operativ versorgt werden. Wenn das Fragment einen Durchmesser von wenig als 1 cm hat, empfehlen wir die Exzision. Bei Fragmenten die größer sind als 1 cm wird die offene Reposition und Stabilisierung empfohlen (Valderrabano 2005).
889 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Trümmerfrakturen: Die Behandlung dieser Verletzungsform stellt eine sehr große Herausforderung dar. Die Resultate nach konservativer und operativer Therapie sind als schlecht einzustufen. Da es sich um eine sehr schwere und seltene Verletzung handelt, gibt es in der Literatur keinen Konsens über die adäquate Versorgung. Das primäre Ziel ist die Reposition und Stabilisierung der Gelenke mittels Fixateur externe. Eine primäre Arthrodese wird in der Literatur kontrovers diskutiert und an unserer Klinik abgelehnt. Das subjektive Beschwerdebild entscheidet über den Zeitpunkt einer möglichen Arthrodese im Verlauf. Über die Anzahl der zu versteifenden Gelenke muss danach individuell entschieden werden. Bei manifester symptomatischer Nekrose ist eine frühzeitige Resektion des nekrotischen Abschnitts zu empfehlen (Schultze 2003). Subtalare Dislokationen
Sie benötigen eine rasche Versorgung, um die Durchblutung des umgebenden Weichteilmantels und des Talus selber zu gewährleisten. Wenn möglich sollte bereits auf der Notfallstation schonend in Sedoanalgesie reponiert werden. Ist dies nicht möglich, so muss eine offene Reposition erfolgen. Hierbei sollte eine definitive Versorgung bzw. Stabilisierung angestrebt werden. Der operative Zugangsweg richtet sich nach der Frakturlokalisation und den vorherrschenden Weichteilverhältnissen. In der Regel wird der anteromediale Zugangsweg gewählt. In den meisten Fällen erfolgt die Osteotomie des Malleolus medialis. Ein zusätzlicher anterolateraler Zugang verbessert die Übersicht, ist jedoch nur selten notwendig. Die primäre Arthrodese sollte unserer Meinung nach vermieden werden, da in der Literatur nekrosefreie Verläufe auch nach offenen Talusluxationen beschrieben werden. Eine Indikation zur primären Arthrodese sehen wir bei Trümmerfrakturen, die einer operativen Stabilisierung nicht zugängig sind. > Wir empfehlen, den weiteren Verlauf mittels MRT zu verfolgen. Nachgewiesen symptomatische Nekrosen sollten einer raschen chirurgischen Intervention zugeführt werden.
Die radiologisch oft nachgewiesenen Arthrosen im Verlauf werden gemäß Beschwerdesymptomatik des Patienten weiterbehandelt.
> Über das erhöhte Risiko von bleibenden Beschwerden sollten die Patienten frühzeitig aufgeklärt werden.
Die Behandlung von Trümmerfrakturen ist schwierig. In der Literatur wird die primäre Arthrodese kontrovers diskutiert. Die Behandlungsoptionen, die in der Literatur beschrieben sind, basieren primär auf retrospektive Studien mit Level-IVund -V-Evidenz. z Komplikationen Taluskopffrakturen
Die wesentliche Komplikation der Taluskopffrakturen ist die Osteonekrose, die in 10% der Fälle auftritt. Außerdem führen eine verspätete Diagnosestellung und eine nicht erkannte Fehlstellung zu wesentlichen Komplikationen. Instabilität im Mittelfuß und/oder eine posttraumatische Arthrose sind die Folge. Um diese Komplikationen zu vermeiden, muss die Indikation zur CT in der primären Diagnostik und im Rahmen der Verlaufskontrollen großzügig gestellt werden. Talushalsfrakturen
Zu den möglichen Komplikationen zählt die Hautnekrose, die v. a. bei Frakturen vom Hawkins-Typ II und III auftritt. Die Osteomyelitis kann nach offenen Frakturen aufgrund einer Kontamination der Wunde auftreten. Hierbei handelt es sich um eine schwerwiegende Komplikation, die ein radikales Débridement verlangt. Eine Pseudarthrose nach Talushalsfrakturen ist sehr selten. Peterson und Mitarbeiter (1977) beobachteten eine »delayed union rate« von 13%. Häufiger tritt jedoch die Malunion auf, die zu einer Inkongruenz mit der Folge einer degenerativen Arthritis führt. Die Varusfehlstellung tritt vermehrt nach HawkinsTyp-II-Frakturen und selten nach Typ-III-Frakturen auf (Daniels 1993). Ein möglicher Grund hierfür kann darin liegen, dass Typ-III-Frakturen operativ versorgt werden, Typ-II-Frakturen häufiger geschlossen reponiert werden. Die Korrektur dieser Fehlstellung endet im Verlauf oft in einer Tripplearthrodese. Die Osteonekrose ist eine gefürchtete Komplikation, die vom Verletzungsmuster abhängig ist. Eine Prognose ist hier nur sehr eingeschränkt möglich. Eine manifeste avaskuläre Nekrose führt nicht unweigerlich zu einem schlechten klinischen Ergebnis. Einige Patienten tolerieren einen Kollaps des Talusdoms gut.
z z Evidenz und Kontroversen
Talusfrakturen weisen eine große Variabilität der Verletzungsformen auf. In der Regel handelt es sich um Hochrasanztraumen, die trotz einer adäquaten Behandlung zu erheblichen Funktionseinbußen führen können. Die Prognosen der Verletzungen sind abhängig von der Lokalisation, der Durchblutungssituation und des Weichteilschadens. Die Entscheidung zwischen konservativer und operativer Therapie ist oft schwierig und muss individuell getroffen werden. Ein weitgehender Konsens in der Literatur besteht in der konservativen Therapie der nicht dislozierten Frakturen. Die Empfehlung ist hier eine Entlastung im Unterschenkelgips für 4–8 Wochen mit Übergang auf Belastungssteigerung im Verlauf. Die CT ist übereinstimmend ein diagnostisches Hilfsmittel, das bei diesen Verletzungen großzügig zum Einsatz kommt.
Taluskörperfrakturen
Die zu erwartenden Komplikationen bei Taluskörperfrakturen sind abhängig von Frakturtyp. Osteochondrale Verletzungen des Doms: Einigkeit besteht darüber, bei kleinen nicht dislozierten Läsionen eine konservative Behandlung einzuleiten. Für Läsionen, die größer sind als 10 mm, besteht in der Literatur keine Einigkeit. Neuere Behandlungsmethoden zeigen jedoch vielversprechende Frühergebnisse, die sich im Langzeitverlauf bestätigen müssen. Raitkin (2004) berichtet über gute Ergebnisse bei 5 von 6 Patienten nach Allograft-Transplantation bei Defekten größer als 3 cm2. Ermutigende Erstergebnisse zeigt die Arbeit von Tasto und Mitarbeitern (2003), die für diese Läsionen eine arthroskopisch unterstützte Allograft- bzw. Autografttransplantation vornehmen.
29
890
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Koronare, sagittale und transversale Frakturen (»shear fractures«): In der Literatur findet man nur wenige Daten über
Kalkaneusfrakturen
die Behandlung und das klinische Ergebnis nach »shear fractures«. Hierbei handelt es sich um retrospektive Studien mit geringer Evidenz. Die meisten Langzeitkomplikationen nach Versorgung dieser Frakturen sind in 65% eine Arthrose im OSG, in 38% eine Osteonekrose des Talus und in 35% eine subtalare Arthrose (Vallier 2003). Frakturen des Proc. posterior: Die Prognose bei diesen Verletzungen hängt stark vom Zeitpunkt der Diagnose ab. Oft werden diese Läsionen übersehen und erst sekundär aufgrund persistierender Beschwerden erkannt. Hier kann die Fragmentexzision eine Besserung der Beschwerdesymptomatik bewirken (Kim 2003). Die aktuelle Behandlungsempfehlung der operativen Stabilisierung basiert auf Einzelfallbeschreibungen und Expertenmeinungen. Demnach ist man sich einig, dass die konservative Behandlung einer dislozierten Fraktur des Proc. posterior zu schlechten klinischen Ergebnissen führt.
Die Kalkaneusfraktur stellt mit ca. 60% die häufigste Fraktur der Fußwurzelknochen dar. Betroffen sind in der Regel Männer im Alter zwischen 25–45 Jahren. Der Verletzungsmechanismus ist entweder eine axiale Stauchung (Sturz aus großer Höhe) oder eine direkte äußere Krafteinwirkung. In 75% der Fälle handelt es sich um intraartikuläre, in 10% um bilaterale Frakturen. Assoziierte Frakturen der ipsilateralen unteren Extremität und Wirbelsäulenverletzungen sind häufig. Frakturen des Kalkaneus sind nach konservativer oder operativer Versorgung oft mit einer bleibenden Funktionseinschränkung für den Patienten verbunden. Bei einer intraartikulären Beteiligung wird die Versorgung bis heute kontrovers diskutiert. Avulsionsfrakturen der Tuberositas calcanei werden gehäuft im osteoporotischen Knochen gesehen. Der Verletzungsmechanismus stellt eine starke Kontraktion des M. triceps dar, die dann zu einer Avulsionsverletzung führt. Die Avulsionsfrakturen können in extra- und intraartikuläre Frakturen eingeteilt werden. Eine geringe Dislokation des Fragments ist sehr selten, in der Regel treten erhebliche Fragmentdislokationen aufgrund des Zugs des M. triceps auf.
Frakturen des Proc. lateralis (»snowboarder‘s fracture«):
29
Zwei Hauptfaktoren beeinflussen das klinische Ergebnis bei dieser Verletzungsform, zum einen der Grad des initialen Knorpelschadens und zum anderen die Genauigkeit, mit der die Knorpeloberfläche rekonstruiert werden konnte. Die primäre operative Stabilisierung zeigt gegenüber dem konservativen Vorgehen das bessere klinische Ergebnis (Valderrabano 2005). Trümmerfrakturen: Trümmerfrakturen sind sehr schwere Verletzungen und haben die schlechteste Prognose von allen Frakturtypen des Talus. Vallier und Mitarbeiter (2003) zeigten in ihrer retrospektiven Studie, dass 88% der Patienten nach erlittenen Trümmerfrakturen radiologisch eine nachgewiesene Osteonekrose, eine Arthrose oder beides aufwiesen. Das Risiko einer Osteomyelitis ist hoch einzustufen. Thordason (2001) empfiehlt die primäre Talektomie und tibiokalkaneare Arthrodese zur Behandlung dieser Frakturen. Subtalare Dislokationen: Die Prognose bei reiner Luxation ist als gut einzustufen, dennoch klagen Patienten häufig über Gelenksteifigkeit im USG. Der Verletzungsmechanismus ist entscheidend für die Langzeitprognose. Hier zeigen die Verletzungen nach Motorradunfall und Sturz auf großer Höhe einen schlechten Langzeitverlauf mit persistierenden Beschwerden. Häufig treten hier weichteilassoziierte Probleme auf, die eine rasche und adäquate Versorgung bedingen. Komplikationen wie Wundnekrosen und/oder Infektionen können im weiteren Verlauf auftreten. Das Risiko einer Infektion bei geschlossener Fraktur beträgt ca. 8%, bei offenen Frakturen steigt das Risiko auf 25–30% (Kuner 1993). Initial nicht diagnostizierte Verletzungen und Dislokationen sind immer mit einem protrahierten Verlauf assoziiert. Auch die Osteonekrose stellt in Abhängigkeit von der Schwere der Verletzung eine wesentliche Komplikation dar, ebenso die Mal- oder Nonunion sowie die posttraumatische Arthrose. Bei Luxationsfrakturen beträgt die Osteonekroserate 50–100% (Lutz 1998). Das Risiko einer posttraumatischen Arthrose wird mit ca. 75% beziffert (Boack 2004).
z
z
Ätiologie und Pathogenese
Anatomie und Biomechanik
Der Kalkaneus ist der größte Knochen des Fußes und bildet die Hauptkomponente des Fußgewölbes. Der anatomische Aufbau erlaubt es, hohen Belastungen standzuhalten. Dies wird über die Trabekelstuktur gewährleistet, die sich nach den dynamischen und statischen Belastungen ausrichtet. Das hintere Ende wird als Tuber calcanei bezeichnet, an dem die Achillessehne ansetzt. Über drei Gelenkflächen artikuliert er mit dem Talus und über eine weitere Gelenkfläche mit dem Kuboid. Das Sustentaculum tali ist eine anteromedial verlaufende horizontale Knocheneminenz. Darunter verläuft eine Sehnenfurche für den M. flexor hallucis longus (⊡ Abb. 29.75). Beim Sturz auf die Ferse wird der Talus bei entsprechender axialer Krafteinwirkung keilartig in den Kalkaneus getrieben. Die Frakturform wird durch die Stellung des Fußes zum Zeitpunkt der Krafteinwirkung beeinflusst. Das frakturierte Fersenbein ist meist komplex verformt. Die Änderung der Höhe, der Breite und der Achsen stören die statische und dynamische Balance erheblich. Eine Verkürzung verkleinert den Hebelarm des M. triceps surae mit der Folge eines posttraumatischen Plattfußes. Varus- und Valgusdeformitäten führen zu Fehlbelastungen im oberen Sprunggelenk, Verbreiterungen zur Behinderung der Peronealsehnen (Impingement). Eine genaue Kenntnis der Anatomie ist für die Diagnostik und Behandlung entscheidend. z
Klassifikation
Die Klassifikation der Kalkaneusfrakturen kann anhand von konventionellen Röntgenbildern oder anhand der CT vorgenommen werden. Von den historischen Klassifikationen hat bis heute nur die von Essex-Lopresti überlebt. Hier werden die Frakturtypen »tongue type« und »joint depression type« unterschieden. Daneben existieren die undislozierten Frakturen und die Trümmerfrakturen. Diese einfache Klassifikation hat den
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891 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
eine insuffiziente plantare Zugverspannung infolge Ä Durch Überanstrengung der kurzen plantaren Fußmuskeln kann es durch die erhöhte Biegebeanspruchung an Calcaneus und Ossa metatarsi zur Ermüdungsfraktur (sog. Marschfraktur) kommen.
⊡ Abb. 29.75a,b Anatomie des rechten Kalkaneus (Fersenbein). a Ansicht von lateral, b medial (Aus: Tillmann 2005)
2 Fragmente
3 Fragmente 1
1
1
1
1 3
1
2
2
2 ohne Gelenkbeteiligung
3
4
4
2
2
Subluxation
1 Gelenk
3 3
1
2
4
1
2
1 Gelenk 5 Fragmente 5 4
5 4
1
1
1
3 3 2
3
2
4
4
1
3
2
2
4 Fragmente 1
1
1
3
2
2
2 Gelenke
2 Gelenke
3 2
2 1 Gelenk
3 Gelenke
⊡ Abb. 29.76 Kalkaneusfrakturen: Klassifikation nach Zwipp (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
Nachteil, dass der »joint depression type« viele verschiedene Frakturtypen umfasst, die sich jedoch sowohl in ihrer Prognose als auch in ihrer Versorgung grundlegend unterscheiden. Die modernen Klassifikationen beruhen auf CT-Untersuchungen im koronaren und axialen Strahlengang. Die Zwipp-Klassifikation beruht auf der Fragmentanzahl (max. 5 Punkte) und der Gelenkbeteiligung (max. 3 Punkte). Zusätzlich werden auch der Weichteilschaden (max. 3 Punkte)
und die Trümmerzone (1 Punkt) berücksichtigt. Mittels Punkteskala kann eine Prognose abgegeben werden. Bei einer Gesamtpunktzahl von 8–12 sind nur noch befriedigende bis schlechte Behandlungsergebnisse zu erwarten (⊡ Abb. 29.76). Die Sanders-Klassifikation unterscheidet zwischen undislozierten Frakturen (Typ I) und dislozierten Frakturen (Typ II– IV). Die Lokalisation der Frakturlinie im koronaren Schichtbild mit Darstellung des Sustentakulums erlaubt in Bezug auf das
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
Gelenk (posteriore Facette) die weitere Einteilung in A-, Boder C-Säulen. Nach Lokalisation und Zahl der Säulenbeteiligung ergibt sich eine prognostisch relevante Einteilung. Typ II ist ein Spaltbruch, Typ III eine Dreifragmentfraktur oder Impressionsfraktur, Typ IV ist eine Vierfragmentfraktur oder ein Trümmerbruch (⊡ Abb. 29.77). Die Klassifikationen dienen nicht nur der Typisierung der Frakturen in Schweregrade, sie sind v. a. Entscheidungshilfen für die Behandlungsstrategie. z
Diagnostik
Die klinische Untersuchung beinhaltet die Beurteilung der Weichteile, das Aufdecken von sensomotorischen Defiziten sowie möglicher Begleitverletzungen. Oft ist eine erhebliche Weichteilschwellung über dem lateralen Rückfuß und an der Fußsohle erkennbar. In Abhängigkeit von der Weichteilschwellung kommt es zur Blasenbildung, die aus der Spaltung von Dermis und Epidermis entsteht.
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! Cave Ein drohendes Kompartmentsyndrom muss erkannt und rasch behandelt werden.
Röntgenaufnahmen des Fußes und des oberen Sprunggelenks sind in beiden Ebenen durchzuführen. Eine axiale Aufnahme des Kalkaneus ist wünschenswert, jedoch oft unangenehm für den Patienten. Beurteilungshilfen sind hier der Böhler-Winkel und der Winkel nach Gissane für das laterale Röntgenbild. Die CT in axialer und koronarer Ebene ist für die präoperative Planung und Klassifikation des Frakturtyps sehr hilfreich und sollte routinemäßig durchgeführt werden. Bei Avulsionsfrakturen der Tuberositas calcanei sollte die weitergehende Abklärung mittels CT großzügig gestellt werden.
z
Therapie
Ziel sind die Wiederherstellung der posterioren Gelenkfacette, Korrektur der Rückfußstellung, Refixierung dislozierter Fragmente und die Wiederherstellung der Weichteilfunktion. Nicht dislozierte Frakturen werden übereinstimmend konservativ behandelt. Eine Definition der nicht dislozierten Kalkaneusfraktur existiert nicht, wird jedoch in der Literatur oft mit <2 mm angegeben. Initial wird der Fuß in der Gipsschiene gelagert, und antiphlogistische Maßnahmen werden ergriffen. Frakturferne Gelenke werden unter physiotherapeutischer Anleitung früh mobilisiert. Im Unterschenkelgips oder Vacuped-Schuh wird für 6–8 Wochen eine Teilbelastung durchgeführt, anschließend kann dann in der Regel auf eine Vollbelastung übergegangen werden. Im Fall einer dislozierten Kalkaneusfraktur gehen die Meinungen bezüglich der Behandlung auseinander. Der Trend geht jedoch in Richtung operative Versorgung, da hier eine Tendenz – jedoch keine Evidenz – zu besseren klinischen Ergebnissen besteht. Die Therapie muss individuell auf den Patienten abgestimmt werden. > Nachgewiesene Makro- oder Mikroangiopathie sind absolute Kontraindikationen zur operativen Versorgung. Die Inkompliance und das fortgeschrittene Alter sind relative Kontraindikationen.
Bei operativer Versorgung ist der gewählte Zeitpunkt für den späteren Erfolg der Behandlung entscheidend. Offene Frakturen werden notfallmäßig versorgt. Aufgrund der erheblichen Weichteilverletzungen sollte primär der Fixateur externe zur Anwendung kommen. Geschlossene Frakturen können in der Folge bei abgeschwollenen Weichteilverhältnissen (»wrinkle test«) angegangen werden. Dies ist in der Regel nach 6–8 Tagen der Fall.
⊡ Abb. 29.77 Kalkaneusfrakturen: Klassifikation nach Sanders (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
893 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
Eine Fußpumpe verkürzt die Abschwellungsphase und wird in unserer Klinik verwendet, sofern sie der Patienten toleriert. Der laterale L-förmige Zugang in der Seitenlage ist in unserer Klinik der Standardzugang. Bei der operativen Versorgung wird die Seitenlage bevorzugt, da sie eine gute Beurteilung und Einstellung der Rückfußachse erlaubt. Der N. suralis wird dargestellt und angeschlungen. Ein Haut-Weichteil-Lappen wird einschichtig vom Knochen abgelöst. Die Sehnenscheide der Peronealsehnen wird eröffnet und die Sehnen streckseitig weggehalten. Beim Repositionsmanöver wird auf die Korrektur der meist vorhandenen Varusfehlstellung und die Wiederherstellung des Böhler-Winkels geachtet. Dies geschieht unter radiologischer Kontrolle unter Verwendung von Kirschner-Drähten, die als »joy sticks« fungieren. Als Osteosynthesematerial stehen dem Operateur verschiedene Möglichkeiten zur Wahl. Einfache Frakturen können geschlossen oder über eine »halboffene Methode« reponiert und mit Kirschner-Drähten versorgt werden. Am häufigsten wird nach offener Reposition die Fraktur über eine »Kalkaneusplatte« und ggf. über zusätzliche freie Schrauben fixiert (⊡ Abb. 29.79). Ein winkelstabiles Implantat zeigt, gemäß der Arbeit von Red-
Böhler
Gissane
fern und Mitarbeitern (2006), keine biomechanischen Vorteile bei Typ-IIB-Frakturen nach Sanders im Vergleich zur konventionellen »Kalkaneusplatte«. Der Fixateur externe wird bei entsprechender Weichteilverletzung verwendet. Wir greifen in diesen Fällen gerne auf einen Hybridfixateur zurück. Die primäre Arthrodese kann im Fall einer Kalkaneustrümmerfraktur (Sanders-Typ IV) indiziert sein. Die Nachbehandlung richtet sich nach dem Ausmaß der Weichteilschwellung bzw. -schädigung. In der Regel wird eine Entlastung der betroffenen Extremität für ca. 1–2 Wochen durchgeführt, um die primäre Wundheilung nicht zu stören. Wenn möglich wird eine gipsfreie Nachbehandlung unter Teilbelastung von ca. 15 kg für 6–8 Wochen empfohlen. Bei radiologischem Nachweis der beginnenden Konsolidation erlauben wir den Übergang auf eine schmerzadaptierte Vollbelastung. Bei ausgedehnten Weichteilverletzungen empfehlen wir das Tragen eines Vacuped-Schuhes, der eine ständige Kontrolle der Weichteile erlaubt. Avulsionsfrakturen der Tuberositas calcanei
Eine konservative Behandlung führt in der Regel zu einem schlechten Ergebnis (Squires 2001). Eine operative Versorgung ist daher in den meisten Fällen angezeigt. Aufgrund der starken Retraktionstendenz empfiehlt sich eine rasche Versorgung. Kleine Fragmente können exzidiert werden. Die Versorgung größerer Fragmente im osteoporotischen Knochen und bei mehrfragmentären Brüchen ist erschwert. Squires und Mitarbeiter (2001) empfehlen eine offene Reposition und Zuggurtungsosteosynthese. Hiermit konnten gute Ergebnisse gezeigt werden. Die postoperative Behandlung sollte während 4–6 Wochen im Gips erfolgen, davon die ersten 2–3 Wochen in der Spitzfußstellung. In der Folge wird dann sukzessive die plantigrade Position angestrebt. Die Vollbelastung erfolgt bei radiologischem Nachweis der knöchernen Durchbauung und klinisch guter Mobilität im OSG. z z Evidenz und Kontroversen
⊡ Abb. 29.78 Röntgenbild des Kalkaneus. Als Beurteilungshilfen dienen der Böhler- und der Gissane-Winkel
a
b
Sowohl nach konservativer als auch nach operativer Behandlung werden in der Literatur gute Ergebnisse beschrieben. Es gibt allerdings wenig prospektive randomisierte Studien, die
⊡ Abb. 29.79a,b Kalkaneusfraktur: Röntgenbild nach operativer Versorgung mittels Plattenosteosynthese. a d.p.-Strahlengang, b seitlich
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894
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
beide Behandlungsmethoden vergleichen (Thermann 1998). Die Arbeit von Buckley und Mitarbeitern (2002) zeigt insgesamt gleichwertige Ergebnisse für beide Behandlungsmethoden für disloziert intraartikuläre Frakturen. Nach operativer Versorgung konnten nur bei Frauen und jungen Männern, die keiner körperlich schweren Arbeit nachgingen, signifikant bessere Ergebnisse beobachtet werden. Insgesamt weisen dislozierte Frakturen ein schlechteres Ergebnis auf als nicht dislozierte Frakturen (Buckley 2002). > Mitentscheidend für ein gutes Ergebnis sind neben Dislokation das Alter, Begleiterkrankungen, Geschlecht und die körperliche Belastung im Beruf. Es muss also immer eine individuelle Behandlung für den betreffenden Patienten ausgearbeitet werden. z
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Komplikationen
Eine gefürchtete Komplikation nach operativer Sanierung ist die Wundheilungsstörung, die in 2–32% der Fälle auftritt, ebenso Wundinfektionen, nervale Läsionen und bleibende Beschwerden. Diese werden gehäuft nach operativen Sanierungen beobachtet. Folgeoperationen sind in ca. 43% der Fälle notwendig, hierbei entfallen 36% auf die Metallentfernung, 5% auf tiefe Wundinfektionen und jeweils 2% auf eine korrigierende Osteotomie oder eine Arthrodese. Patienten mit einer Kalkaneusfraktur Typ IV nach Sanders haben unabhängig von der Behandlung eine hohe Inzidenz für Komplikationen (Abidi 1998, Howard 2003). In der Literatur wird das Risiko eines Kompartmentsyndroms mit 10% angegeben. Danach entwickelt die Hälfte der Patienten Krallenzehen (Myerson 1993). Somit ist die Ausbildung von Krallenzehen nach manifestem Kompartmentsyndrom eine eher seltene, wenn auch gravierende Komplikation, der entsprechende Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Ein weiteres Problem ist die Irritation der Peronealsehnen. Diese Irritationen werden einerseits gehäuft nach konservativer Therapie beobachtet, v. a. wenn die laterale Wand des Kalkaneus die Sehnen Richtung Fibulaspitze subluxiert, andereseits auch nach operativer Versorgung, wenn die Sehnen aus ihrem Sehnenfach herausgelöst werden. Infiltrationen des Peronealsehnenfaches, die immer mit Kontrastmittel durchgeführt werden, können die Ursache der Beschwerden aufdecken. Die adäquate Behandlung ist meist schwierig und beinhaltete eine operative Revision, Entfernung von störenden Osteosynthesematerial oder eine erneute operative Rekonstruktion. Auch nach anatomischen Rekonstruktionen wird eine symptomatische, vorzeitige Arthrose des subtalaren Gelenks beobachtet, die über eine entsprechende Infiltration verifiziert werden kann. Diese kann auf den Knorpelschaden zur Zeit der Verletzung oder auf eine nicht anatomische Rekonstruktion der Gelenkflächen zurückgeführt werden. Hier kommen dann konservative Maßnahmen wie Einlagen und Schuhzurichtung zum Tragen. Wenn diese Maßnahmen keine Beschwerdebesserung zur Folge haben und die Infiltration positiv ausfällt, wird eine Arthrodese empfohlen. In gleicher Weise wird beim Auftreten einer symptomatischen Arthrose im Kalaneokuboidalgelenk verfahren, die meist auf eine nicht anatomische Rekonstruktion des anterolateralen Fragments zurückzuführen ist.
29.3.4
Verletzungen am oberen Sprunggelenk
Bandverletzungen Die Therapieprinzipien haben im letzten Jahrhundert fundamentale Wechsel durchgemacht: von strikt konservativ zu Beginn des 20. Jahrhunderts über chirurgisch-rekonstruktiv ab den 1960er-Jahren bis überwiegend funktionell-konservativ heutzutage. Kaufmann lieferte 1922 erste detaillierte Beschreibungen der »distorsio pedis« und beschrieb bereits sehr genau den Unfallmechanismus und die Reihenfolge der resultierenden Bandverletzungen. Dehne empfahl 1933 eine Gipsruhigstellung für die Dauer von 6 Wochen für die schwerwiegenden Bandverletzungen und eine Bandagenbehandlung für leichtere Bandzerrungen. Nur instabile Verletzungen der tibiofibularen Syndesmose wurden bereits zu dieser Zeit als Operationsindikation angesehen. Dieses Behandlungskonzept hielt sich bis in die 1960er-Jahre. Unter dem Einfluss allgemeiner Fortschritte in der operativen Technik änderten v. a. schweizer Chirurgen um B.G. Weber ihre Behandlungsstrategie und favorisierten die offene Bandnaht unter der Annahme, dass sich die Rupturdiastase der Ligamente durch konservative Maßnahmen in keiner Fußposition annähern lasse. Ab den 1990er-Jahren tauchten allerdings vermehrt Daten auf, dass auch die nicht operative funktionelle Therapie vergleichbare Resultate wie die operative Rekonstruktion liefern würde (z. B. Kaikkonen 1996, Karlsson1996). Heutzutage werden in unserem Sprachraum fibulare Bandrupturen überwiegend konservativ behandelt. Diagnostik und Therapie dieser Verletzungen bleiben aber bis heute kontrovers diskutiert. z
Epidemiologie
Das Distorsionstrauma des oberen Sprunggelenks ist mit 40% aller Sportverletzungen die häufigste Verletzung in der Sporttraumatologie (Holmer 1994, Tiling 1994). 80–90% aller Distorsionstraumen am Sprunggelenk betreffen den fibularen Bandapparat. Katcherian (1994) fand eine Inzidenz von einer Verletzung auf 10.000 Einwohner pro Tag. Die Kosten, die diese Verletzung pro Jahr verursacht, werden auf 27–40 Mio. Euro geschätzt (Zeegers 1995). z
Anatomie und Biomechanik
Der fibulare Bandapparat am Sprunggelenk umfasst 3 Bänder, die in die fibulare Gelenkkapsel als eigenständige Struktur eingebettet sind (⊡ Abb. 29.80). Das Lig. talofibulare anterius ist das schwächste der 3 fibularen Bänder und sichert das OSG gegen ein laterales Aufklappen und den Talus gegen ein Verschieben nach anterior. Das Lig. calcaneofibulare sichert sowohl das OSG als auch das USG gegen ein laterales Aufklappen, weil es beide Gelenke überbrückt. Das biomechanisch stabilste der 3 fibularen Bänder ist das Lig. talofibulare posterius, das eine Dorsalverschiebung des Talus in der Malleolengabel vehindert. Bei fibularen Kapsel-Band-Verletzungen, die in der Regel durch eine Kombination aus Adduktion und Inversion des plantarflektierten Fußes entstehen, ist in über 90% der Fälle das Lig. talofibulare anterius gerissen, bei ca. 66% der Patien-
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Bandverletzungen des oberen Ä Bei Sprunggelenks ist das Ligamentum talofibulare anterius am häufigsten betroffen (Aufklappbarkeit des Gelenks nach medial und Instabilität in der Sagittalebene).
⊡ Abb. 29.80 Bänder im Bereich des Fußes. Unter anderem sind das Lig. talofibulare anterius und posterius und das Lig. calcaneofibulare zu erkennen (Aus: Tillmann 2005)
ten das Lig. calcaneofibulare, während nur in 10% der Fälle das Lig. talofibulare posterius zerreißt. Das begründet sich zum einen in der bereits vorgenannten unterschiedlichen biomechanischen Reißfestigkeit der 3 Bänder, aber auch in der Tatsache, dass durch die Form des Talus (anterior breiter als posterior) im Verletzungsfalle die (Sub-)Luxation des Talus nach anterior leichter stattfindet als nach posterior (Wulker 1999). Ebenso häufig wie das Lig. talofibulare anterius zerreißt das Lig. talocalcaneare interosseum, was die Stabilität des USG beeinflusst (Pisani 1998). Verletzungen des Lig. deltoideum werden bei reinen Supinationstraumen in 2,5% der Fälle beschrieben während Verletzungen der Syndesmose in 10% der Fälle auftreten (Katcherian 1994). z
Klassifikation
Es existieren zahlreiche Klassifikationen fibularer Bandrupturen. Ursprünglich wurde nur die Verletzung des Lig. talofibulare anterius (LTFA) eingeteilt, und zwar nach der mikroskopischer und makroskopischer Integrität des Ligaments: Grad I: mikroskopisch sichtbare Dehnung des LTFA ohne makroskopische Verletzungszeichen, Grad II: makroskopisch gedehntes LTFA ohne vollständige Ruptur, Grad III: vollständige Ruptur des LTFA. Andere Autoren beschreiben Klassifikationen, die sich an der Zahl der verletzten Ligamente orientieren. Alle diese Systeme haben den Nachteil, dass lediglich die operative Revision
des fibularen Bandapparats eine Einteilung zulässt, da die direkte Visualisierung jedes einzelnen der 3 Bänder zur exakten Einteilung notwendig ist. Balduini schlug eine Einteilung vor, die sich an den Zeichen der körperlichen Untersuchung orientieren (Balduini 1982, 1987): ▬ Grad I: wenig Schwellung, Schmerzen und Druckschmerzhaftigkeit, keine Funktionseinschränkung, keine Instabilität ▬ Grad II: mäßige Schwellung, Schmerzen und Druckschmerzhaftigkeit, geringe Funktionseinschränkung, geringe bis mäßige Instabilität ▬ Grad III: komplette Bandruptur, Schwellung, Schmerzen und Druckschmerzhaftigkeit sind ausgeprägt, Funktionsverlust, deutliche Instabilität Es erscheint offensichtlich, dass der Nachteil dieser Einteilung die ausgeprägte Subjektivität der Beurteilung der einzelnen Kriterien ist. Die Reproduzierbarkeit zwischen einzelnen Untersuchern ist gering. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die überwiegende Zahl der fibularen Kapsel-Band-Läsionen ohne Begleitverletzungen erbringt unter konservativer Therapie ein für den Patienten gutes Ergebnis bezüglich Schmerzen und Funktion. Aus diesem Grund muss eine zu extensive Diagnostik gut abgewogen und dem Nutzen kritisch gegenübergestellt werden.
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
von lateral
von medial Malleolenregion
Mittelfußregion
A Distale 6 cm der posterioren Fibula oder distale Fibulaspitze
C Basis des Metatarsale-V
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⊡ Abb. 29.81 Ottawa Ankle Rules
Röntgen des OSG nur, wenn – Druckschmerz bei A – oder Druckschmerz bei B – oder Unfähigkeit zur Vollbelastung für 4 Schritte (am Unfallort und in der Notfallstation)
Bei der körperlichen Untersuchung werden Schwellung, Schmerzpunkte und Hämatom dokumentiert, laterale Aufklappbarkeit und Talusvorschub untersucht und die relevanten Druckpunkte an Unterschenkel (proximale Fibula), OSG, USG und Fuß (v. a. auch Syndesmose und medial!) abgetastet. > In experimentellen Untersuchungen konnte bei durchtrenntem fibularem Bandapparat das Maximum des Talusvorschubs und der lateralen Aufklappbarkeit in 30° Plantarflexion demonstriert werden, weswegen diese Tests auch in der täglichen Praxis in dieser Position durchgeführt werden sollten.
Erfahrungsgemäß wird die Prüfung des Talusvorschubs beim frisch traumatisierten Patienten besser gelingen als die schmerzhaftere Untersuchung der lateralen Aufklappbarkeit (Wulker 1999). Beide Tests sind wegen der individuellen Unterschiede immer im Seitenvergleich durchzuführen. Leider besteht eine schlechte Reproduzierbarkeit sämtlicher körperlicher Untersuchungstest bei der Untersuchung durch zwei verschiedene Ärzte (Stiell 1992).
B Distale 6 cm der posterioren Tibia oder distale Tibiaspitze
D Os naviculare
Röntgen des Fußes nur, wenn – Druckschmerz bei C – oder Druckschmerz bei D – oder Unfähigkeit zur Vollbelastung für 4 Schritte (am Unfallort und in der Notfallstation)
Ottawa Ankle Rules Zur Entscheidung, ob ein Röntgenbild des OSG notwendig ist, müssen ▬ Schmerzen im Bereich der Malleolenregion vorliegen ▬ und die distalen 6 cm der posterioren Fibula oder die distale Fibulaspitze ▬ oder die distalen 6 cm der posterioren Tibia oder die distale Tibiaspitze druckschmerzhaft sein ▬ oder Unfähigkeit zur Vollbelastung für 4 Schritte sowohl am Unfallort als auch in der Notfallstation bestehen (Vollbelastung zählt auch, wenn Patient hinkt). Zur Entscheidung, ob ein Röntgenbild des Fußes notwendig ist, müssen ▬ Schmerzen im Bereich der Mittelfußregion vorliegen ▬ und die Basis des Metatarsale V ▬ oder das Os naviculare druckschmerzhaft sein ▬ oder Unfähigkeit zur Vollbelastung (kontralateraler Fuß vollständig vom Boden abgehoben) für 4 Schritte sowohl am Unfallort als auch in der Notfallstation bestehen (Vollbelastung zählt auch, wenn Patient hinkt).
z z Bildgebende Verfahren
Die Ottawa Ankle Rules wurden erstmals 1992 von einer Gruppe aus dem Department of Emergency Medicine, Ottawa Civic Hospital, Ontario (Canada), beschrieben (Stiell 1992, Bachmann 2003). Sie stellen eine Entscheidungshilfe dar, ob Röntgenbilder des OSG oder/und des Fußes nach einem Distorsionstrauma durchgeführt werden müssen (Ausschluss von Patienten jünger als 18 Jahre, Schwangeren und Patienten, die bei der körperlichen Untersuchung nicht adäquat Auskunft geben können).
Eine Metaanalyse von 27 Studien mit insgesamt 15.581 Patienten ergab eine Sensitivität der Ottawa Ankle Rules von fast 100% (bei moderater Spezifität) und eine Reduktion der Rate an Röntgenbildern von 30–40% (Bachmann 2003). In der Praxis wenden wir die Ottawa Ankle Rules nur bei Patienten an, bei denen die Indikation zu einer Röntgenaufnahme äußerst streng gestellt werden sollte (Schwangere, Kinder, Patientenwunsch etc.). Alle anderen Patienten erhalten Röntgenaufnahmen des OSG im anteroposterioren und
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lateralen Strahlengang. Sie geben Hinweise auf Frakturen oder knöcherne Bandausrisse, die in 15% der Fälle nach Supinationstrauma vorliegen. Letztere dürfen nicht mit häufig in der Fußregion vorkommenden akzessorischen Fußknochen verwechselt werden. Diese liegen an typischer Stelle (Kenntnis derselben vorausgesetzt!), sind in der Regel abgerundet und vollständig von einem Sklerosesaum umgeben. Wenn trotz dieser Kriterien Zweifel bestehen, hilft der lokale Untersuchungsbefund weiter. Frakturen nach Distorsiontraumen treten an verschiedenen Lokalisationen auf und müssen in den primären Röntgenaufnahmen gesucht und ausgeschlossen werden (Mollenhoff 1999). Daher sollten diese Röntgenaufnahmen eine entsprechende Qualität aufweisen und distal mindestens das Talonavikulargelenk und die Metatarslae-V-Basis, proximal das OSG mit einigen Zentimetern distaler Tibia und plantar-posterior den gesamten Kalkaneus abbilden. Bei unklarem Röntgenbefund wird zunächst wieder der körperliche Untersuchungsbefund helfen, die Diagnose weiter einzugrenzen. Sollte auch hiernach Unklarheit bestehen kann mittels CT die Diagnose einer Fraktur bestätigt oder ausgeschlossen werden. Eine Röntgenkontrolle nach 7–10 Tagen bei unklarem primärem Röntgenbefund vermeidet zwar die Strahlenbelastung einer evtl. unnötigen (weil blanden) CT. Der entstehende Arbeitsausfall bis zur definitiven Diagnosesicherung birgt in der heutigen Zeit aber mitunter im Hinblick auf den Arbeitsplatzes mehr Risiken für den Arbeitnehmer, sodass oft die direkte, computertomographische Diagnosesicherung vom Patienten gewünscht wird. Radiologische Stresstests mittels standardisiertem Haltegerät (15 kp) sind oft schmerzhaft und wurden seit den 1980erJahren zunehmend wieder verlassen (Mollenhoff 1999). Für Bandrupturen spricht eine Lateralkippung des Talus in der Frontalebene >8° (bis 10°) und ein Talusvorschub von >7 mm (Normwerte bei unverletztem Bandapparat: 3,5° bzw. 5 mm; Breitenseher 1997, Raatikainen 1992). > Die Streubreite der Normalwertmessungen ist groß (3–23° bzw. 2–9 mm), und wegen schmerzbedingt erhöhtem Muskeltonus werden oft falsch-negative Messwerte erhalten.
Die fluoroskopische Untersuchung des distalen tibiofibularen Gelenks sollte bei Druckschmerz oder Schwellung über dem anterioren tibiofibularen Band durchgeführt werden. Ein Auseinanderdrücken der Malleolengabel durch Dorsalextension des anterior breiteren Talus wird im anteroposterioren Strahlengang in den seltensten Fällen eine Instabilität der Syndesmose zeigen. Sowohl Röntgen als auch die native CT helfen nicht bei der Diagnosesicherung rein chondraler Abscherläsionen, z. B. am Talus. Chondrale oder ligamentäre Begleitverletzungen (Lig. tibiofibulare anterius, Lig. deltoideum etc.) sind die Domäne der MRT. Aber auch hier gibt es Berichte, wonach die Darstellung des Knorpels besser mittels Arthro-CT (intraartikuläre Kontrastmittelapplikation) gelingt (Schmid 2003). Auch die Fragestellung, ob eine partielle oder vollständige Läsion der Ligamente vorliegt, gelingt oft besser mittels konventioneller Arthrographie des OSG, in der bei vollständiger Bandläsion der
Kontrastmittelaustritt in die lateralen oder medialen Weichteile zur Darstellung kommt (Raatikainen 1992). Die Sonographie hat trotz vieler publizierter wissenschaftlicher Arbeiten bis heute keinen festen Stellenwert in der Diagnostik von Verletzungen des fibularen Bandapparats. Das hohe Maß an Untersuchererfahrung zur sonographischen Evaluation des Talusvorschubs und der Umstand der kaum echogebenden Bänder in der engen Umgebung von reflektierenden knöchernen Strukturen erschweren die Verwertbarkeit der sonographischen Ergebnisse und deren Reproduzierbarkeit (Mollenhoff 1999). z
Therapie
Die Wahl der Therapie sollte in Kenntnis folgender Studien erfolgen: Pijnenburg und Mitarbeiter (2002) analysierten 27 randomisierte kontrollierte Studien zum Thema unter Berücksichtigung der Parameter Arbeitsunfähigkeitsdauer, persistierende Schmerzen und residuelle Instabilität. Sie schlussfolgerten, dass die operative Behandlung zu besseren Resultaten führte als die funktionelle Nachbehandlung, während letztere bessere Ergebnisse hervorbrachte als eine 6-wöchige Gipsruhigstellung (Pijnenburg 2000). Auch Kerkhoffs und Mitarbeiter (2002a) bestätigen in ihrem Review, dass die funktionelle Nachbehandlung bessere Resultate liefert, als die Gipsruhigstellung. Gegen die Operation als Methode der Wahl zur Behandlung sämtlicher fibularer Bandverletzungen sprechen gemäß Kerkhoffs das höhere Risiko einer intra- oder postoperativen Komplikation (v. a. unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Operation dieser häufigen Verletzung wohl überwiegend durch Assistenzärzte ausgeführt wird) und die höheren Kosten (Kerkhoffs 2002a). Auch scheint die sekundäre Rekonstruktion insuffizienter fibularer Bänder zu gleich guten Ergebnissen zu führen wie die primäre Bandnaht (Krips 2000). Unter funktioneller Nachbehandlung mittels elastischer Bandage, Tape-Verband oder Sprunggelenkorthese werden nach derzeitiger Datenlage sehr günstige Ergebnisse bei relativ geringem Risiko einer Komplikation erzielt (Pijnenburg 2000, Kerkhoffs 2002b). Begleitende Maßnahmen wie Ultraschall, Lasertherapie, Kältetherapie oder Homöopathie sind entweder nicht effektiv oder die Datenlage ist nicht ausreichend für endgültige Empfehlungen (Van Der Windt 2000, de Bie 1998). Evidente Daten zur Fragestellung der optimalen Schienung (elastische Bandage, Tape-Verband oder Sprunggelenkorthese) fehlen. Das Tragen einer semirigiden Sprunggelenkorthese scheint aber die günstigsten Ergebnisse zu liefern (Kerkhoffs 2002c). > Nach unserer Meinung besteht die Indikation zur operativen Therapie bei einem Rezidiv einer fibularen Bandläsion (nach frischem Distorsionstrauma ohne begleitende Fraktur), bei ossären Bandausrissen >5 mm Größe und >1 mm Dislokation sowie bei dislozierten, (osteo-)chondralen Abscherfrakturen des Talus. Wir führen die Operation in der Regel postprimär nach Abschwellung der Weichteile durch.
Bei persistierender schmerzhafter objektiver (Distorsionstraumen) und/oder subjektiver Instabilität >6 Monate nach primä-
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18 mm 10 mm
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a
mm
b
c
⊡ Abb. 29.82a–c Anatomische Rekonstruktion des fibularen Bandapparats mittels Plantarissehne nach Hintermann und Renggli bei chronischer Instabilität des oberen Sprunggelenks. a Verlauf des Lig. talofibulare anterius, b Verlauf des Lig. calcaneofibulare, c Bohrungen und Einzug der Plantarissehne im Verlauf des Lig. talofibulare anterius und des Lig. calcaneofibulare
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⊡ Abb. 29.83a,b Rekonstruktion des Lig. talofibulare anterius mittels Plantarissehne in der Technik nach Weber bei chronischer Instabilität des oberen Sprunggelenks. a Setzen der Bohrlöcher in distaler Fibula und Talus, b eingezogene und mit sich vernähte a Plantarissehne
a
b
b
c
⊡ Abb. 29.84a–c Operation nach Broström, modifiziert nach Gould bei chronischer Instabilität des oberen Sprunggelenks. a Insuffizientes Lig. talofibulare anterius und Lig. calcaneofibulare, b Raffung beider Bänder (Broström), c Adaptation des Retinaculum extensorum inferius an die anteriore distale Fibula zur Verstärkung des gerafften Lig. talofibulare anterius (Gould-Modifikation)
rem Distorsionstrauma und nach mindestens 3 Monaten propriozeptivem Aufbautraining ist die Indikation für eine operative Intervention gerechtfertigt. Bei genügend kräftigen Bandresten (kann erst intraoperativ entschieden werden) führen wir eine anatomische Raffung derselben mit lokalen Verstärkungsplas-
tiken (Retinaculum extensorum, Periost) durch (⊡ Abb. 29.84). Wenn keine ausreichend kräftigen Bandreste mehr vorzufinden sind, führen wir die anatomische Rekonstruktion des Lig. talofibulare anterius und des Lig. calcaneofibulare in der Technik nach Hintermann (1999) durch (⊡ Abb. 29.82).
899 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
z z Evidenz und Kontroversen
Die Autoren der existierenden Metaanalysen kommen im wesentlichen zu folgenden Schlüssen: ▬ Die existierenden prospektiven kontrollierten Studien liefern zu wenig Evidenz, um die relative Effektivität der konservativen oder operativen Therapie bei Verletzungen des fibularen Bandapparats abgeben zu können. ▬ Bei konservativer Therapie scheint die funktionelle Nachbehandlung die besseren Ergebnisse als die alleinige Ruhigstellung zu liefern, wenngleich sich die Ergebnisse der verfügbaren Studien in vielen Bereichen nicht signifikant unterscheiden. ▬ Eine endgültige Empfehlung bezüglich des klinischen Ergebnisses und der Kosteneffektivität zu einer bestimmten Art der funktionellen Schienung des OSG bei Verletzung des fibularen Bandapparats (Taping, elatische Bandage, Brace etc.) kann aufgrund mangelhafter Datenlage nicht abgegeben werden z
Prognose
Bei einem nicht unerheblichen Anteil der Patienten nach fibularer Bandruptur bestehen nach jeglicher Form der Therapie auch Jahre nach der Verletzung noch Restbeschwerden. Verhagen und Mitarbeiter berichten über persistierende Schmerzen bei 18%, anhaltende Schwellneigung bei 26%, Instabilität bei 35% und rezidivierende Distorsionstraumen bei immerhin 39% der durchschnittlich nach 6,5 Jahren nach primärer Bandnaht nachuntersuchten Patienten (Verhagen 1995). Auch von Patienten, die nicht operativ behandelt wurden, werden Restbeschwerden in 24–32% der Fälle berichtet (Verhagen 1995, Engler1994). Hauptkomplikationen der nicht operativen Therapie einer Ruptur des fibularen Bandapparats sind rezidivierende Ereignisse und die chronische Instabilität. Die operative Rekonstruktion der fibularen Bänder bei chronischer lateraler Sprunggelenkinstabilität nach einer fehlgeschlagenen, mindestens 6-monatigen Periode propriozeptiven Trainings liefert gleich gute Ergebnisse wie die »beste« Behandlungsmethode einer primären Bandnaht (Krips 2000). > Rezidivierende OSG-Distorsionstraumen können effektiv durch Tragen einer semirigiden Sprunggelenksorthese bei Risikosportarten (Basketball, Fußball, Volleyball etc.) vermieden werden (Handoll 2001).
Zu weiteren prophylaktischen Maßnahmen liegen keine evidenten Daten vor. Für die Behandlung einer chronischen Instabilität des oberen Sprunggelenks nach OSG-Distorsionstrauma existieren zahllose Operationstechniken. Man unterscheidet zwischen anatomischen und nicht anatomischen Eingriffen. Auch nicht anatomische Verfahren zeigen gute kurzfristige Ergebnisse. Es fanden sich jedoch in Langzeituntersuchungen bei über 50% dieser Patienten Schmerzen, Arthrosen und Funktionseinschränkungen (Korkala 1991, Becker 1996). Die anatomischen Verfahren scheinen – bei vergleichbaren kurzfristigen Ergebnissen wie die nicht anatomischen Verfahren – bessere Resultate im Langzeitverlauf zu erbringen (Rosenbaum 1998, Rudert 1997).
Bei den anatomischen Verfahren werden z. B. lokale Bandreste gerafft und bei Bedarf mit ortsständigem Gewebe (Retinaculum extensorum, Periostlappen der distalen Fibula) verstärkt (⊡ Abb. 29.84). Dies ist laut Broström auch möglich, wenn die Verletzung bereits Jahre zurückliegt. Der Nachteil bei lokalen Periostlappenplastiken ist aber die Unmöglichkeit der anatomischen Rekonstruktion des Lig. calcaneofibulare. Außerdem klagen bei diesen nicht streng anatomischen Rekonstruktionen 33% der Patienten über persistierende Schmerzen bei sportlicher Belastung (Rudert 1997). Arbeiten über anatomische Rekonstruktionen des Lig. talofibulare anterius und des Lig. calcaneofibulare berichten über weniger Patienten, die über Schmerzen auch bei sportlicher Aktivität klagten (Hintermann 1999; ⊡ Abb. 29.82 u. ⊡ Abb. 29.83). Wenn die Bandplastiken nicht anatomisch ausgeführt oder nur das Lig. talofibulare anterius (ohne Lig. calcaneofibulare) rekonstruiert wurde, scheint die Sprunggelenkstabilität nach Jahren eine Verschlechterungstendenz zu erfahren. Auch hier liefert zum einen die streng anatomische Rekonstruktion des fibularen Bandapparats und zum anderen die Rekonstruktion sowohl des Lig. talofibulare anterius als auch des Lig. calcaneofibulare bessere Langzeitresultate mit einem geringeren Verlust der Langzeitstabilität (Hintermann 1999). Dies wird erklärt mit der physiologischeren Belastung des Transplantats bei streng anatomischer Rekonstruktion und der besseren Stabilität der Rekonstruktion bei Ersatz beider Bänder (Hintermann 1999).
Frakturen des Pilon tibiale z
Epidemiologie
Frakturen des Pilon tibiale sind vergleichsweise selten mit einem Anteil von 0,7% an allen Frakturen und einer Inzidenz von 7,9/100.000. z
Ätiologie und Pathogenese
Frakturen des Pilon tibiale entstehen durch axiale Kompression und sind in der Regel Hochenergieverletzungen. Da der Knochen des Talus härter ist als der des Pilon tibiale, sind Talusdomfrakturen selten mit Pilonfrakturen vergesellschaftet. Frakturen des Pilon tibiale entstehen nicht durch Rotation, daher sind Begleitverletzungen der neurovaskulären Begleitstrukturen um das Sprunggelenk unüblich (Court-Brown 2005). Dennoch bleiben diese Frakturen bis heute problematische Verletzungen, da sie mit einer hohen Rate an Komplikationen vergesellschaftet und schwierig zu behandeln sind. In 16,6% der Fälle kommt es zu offenen Frakturen, die überdurchschnittlich häufig 3° offen nach Gustillo sind. In 55% der Fälle erleiden Patienten mit Frakturen des Pilon tibiale Begleitverletzungen (Court-Brown 2005). z
Klassifikation
Die heute gebräuchliche AO-Klassifikation distaler Tibiafrakturen geht zurück auf die Einteilung von Rüedi und Allgöwer. Wie in der AO-Klassifikation üblich bezeichnen A-Frakturen extraartikuläre Frakturen, B-Frakturen partielle Gelenkfrakturen und C-Frakturen vollständige Gelenkfrakturen der distalen Tibia. Im engeren Sinn bezeichnet man als Frakturen des Pilon tibiale nur Frakturen mit Zertrümmerung der distalen tibialen Gelenkfläche (⊡ Abb. 29.85).
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▬ A extraartikuläre Frakturen – A1 einfache Fraktur der Metaphyse – A2 Fraktur der Metaphyse mit 3. Fragment – A3 komplexe Fraktur der Metaphyse ▬ B partielle Gelenkfrakturen – B1 reiner Spaltbruch – B2 Spaltdepressionsbruch – B3 Mehrfrgamentbruch mit Gelenkdepression ▬ C vollständige Gelenkfrakturen – C1 Einfache Gelenkfraktur und Fraktur der Metaphyse – C2 Einfache Gelenkfraktur und Mehrfragmentbruch der Metaphyse – C3 Mehrfragmentbruch der Gelenkfläche z
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Diagnostik
Die Erstdiagnostik besteht üblicherweise aus Röntgenaufnahmen des oberen Sprunggelenks im anteroposterioren und lateromedialen Strahlengang. Wie üblich werden die anteroposterioren Röntgenaufnahmen bei 20–30° innenrotiertem Bein (Neutralstellung des tibiotalaren Gelenks, »true a.p.«) und bei dorsal extendiertem OSG (Vermeidung einer Überprojektion durch den Kalkaneus) durchgeführt.
Bei Gelenkbeteiligung der Frakturlinien führen wir eine CT mit zweidimensionaler Rekonstruktion in axialer, sagittaler und koronarer Schnittführung durch. Sie hilft uns, den genauen Frakturverlauf, die Höhe der Gelenkstufen und das Ausmaß der Trümmerzonen zu beurteilen. In Kombination mit dreidimensionalen Rekonstruktionen ergeben sich aus der CT wichtige Hinweise nicht nur für die Planung der Osteosynthese (insbesondere der Plattenpositionierung), sondern v. a. auch für die Planung der operativen Zugangswege. z
Therapie
Die Rate an unerfreulichen Ergebnissen unter konservativer Therapie von Frakturen des Pilon tibiale ist hoch. Lediglich 54% gute und sehr gute Ergebnisse werden berichtet (Court-Brown 2005). Die konservative Therapie sollte daher undislozierten Frakturen vorbehalten bleiben, die aber bei dieser Verletzung aufgrund des Entstehungsmechanismus als Hochenergietrauma äußerst selten anzutreffen sind. Ein zirkulärer Unterschenkelgips für 6 Wochen mit Entlastung des verletzten Beins für die gleiche Dauer ist notwendig. In den zweiten 6 Wochen nach dem Unfall darf das Bein gipsfrei nachbehandelt, aber weiterhin nicht mehr als mit 10 kg belastet werden.
⊡ Abb. 29.85 Distale Tibiafraktur: AO-Klassifikation (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
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Die große Mehrzahl der Frakturen des Pilon tibiale muss operativ versorgt werden. Bis heute werden kontroverse Diskussionen um den idealen Zeitpunkt der Operation geführt. Unseres Erachtens dürfen diese Verletzungen nie primär offen versorgt werden, da sie oft aus einem Hochenergietrauma resultieren und in einem hohen Maße Weichteilschäden mit nachfolgenden Wundheilungsstörungen nach sich ziehen. Luxierte oder subluxierte Frakturen bedürfen der sofortigen Reposition. > Alle Frakturen des Pilon tibiale müssen temporär ruhig gestellt werden, wenn möglich in einer Gipsschiene. Ist das zu instabil, wird ein tibiokalkanearer Fixateur externe verwendet.
Bei stark zertrümmerten Frakturen, bei Kontraindikationen für eine postprimäre offene Reposition und Plattenosteosynthese nach Abschwellung (schlechte Weichteilverhältnisse, hohes Narkoserisiko etc.) oder bei geringer Frakturdislokation kann auch primär ein definitiver Fixateur externe montiert werden. Wir verwenden dann in aller Regel einen tibiotibialen Hybridfixateur, wobei der Gelenkblock mittels zweier Etagen gekreuzter Ilizarov-Drähte gefasst und über einen Ring an die proximal der Fraktur in üblicher Weise eingebrachten Pins fixiert wird, z. B. mittels Karbonstangen. Diese Technik kann mit perkutan eingebrachten Schrauben und perkutanen Repositionstechniken kombiniert werden. Es ist jedoch immer das Risiko des zusätzlichen Weichteilschadens genau abzuschätzen. Wenn es, wie in der Mehrzahl der Fälle, zur postprimären offenen Reposition und Plattenosteosynthese nach Abschwellung (Hautfältelung!) kommt, ist die Planung der Zugangswege der essenzielle Schritt zur Vermeidung fataler Wundheilungsstörungen. Das Pilon tibiale kann von posteromedial, medial, anteromedial, anterior und von anterolateral erreicht werden. Ziel ist die Präparation auf direktestem Weg zum Knochen ohne jegliche Unterminierung der Subkutis. Dies hilft zusammen mit der Wahl des optimalen Operationszeitpunkts, Wundheilungskomplikationen so weit wie möglich zu vermeiden. > Bei der Planung des Operationszugangs sind der Frakturverlauf und die daraus abzuleitende Plattenlage zu berücksichtigen. Da häufig begleitende Frakturen der distalen Fibula ebenfalls zu stabilisieren sind, ist auch diese zweite Hautinzision genau zu planen und auf die Inzision über dem Pilon tibiale abzustimmen.
Erfahrene Chirurgen versuchen zunehmend, die Inzision ausschließlich auf den epi- bzw. metaphysären Bereich zu beschränken und so groß zu wählen, dass die Reposition ungehindert und optimal durchgeführt werden kann. Die Platte selbst kann dann perkutan nach proximal geschoben werden. Für weniger erfahrene Chirurgen empfiehlt es sich, den Schnitt keinesfalls aus falschem Ehrgeiz zu klein zu wählen, da dies einen großen Zug an den Wundrändern mit sich bringt und die Chance auf eine Wundheilungskomplikation fatalerweise erhöht. Die Nachbehandlung soll, wann immer möglich, funktionell erfolgen. Die ersten Tage postoperativ soll das Sprunggelenk bis zur gesicherten Wundheilung in einer Unterschenkelschiene
ruhiggestellt werden. Von Beginn an darf das Sprunggelenk für 6 Wochen passiv, schmerzadaptiert und unbelastet physiotherapeutisch beübt werden. In den zweiten 6 Wochen nach Trauma kann dann auf aktives, aber weiterhin unbelastetes und schmerzadaptiertes Üben übergegangen werden. In den ersten 12 Wochen postoperativ darf das verletzte Bein in der Regel mit maximal 10 kg belastet werden. z z Evidenz und Kontroversen
Die Datenlage zu Frakturen des Pilon tibiale ist nicht stark, Metaanalysen fehlen, es existieren nur 2 randomisierte kontrollierte Studien. Erstaunlicherweise kommt eine dieser Studien zum Ergebnis, dass eine länger dauernde, gelenküberbrückende Fixation des oberen Sprunggelenks mittels Fixateur externe die gleichen Ergebnisse liefert wie Fixateur-externe-Montagen, die das OSG frei lassen und eine Mobilisation des OSG ermöglichen (Marsh 2006). Die zweite Studie zeigt, dass bei operativer Versorgung mittels Fixateur externe bzw. offener Reposition und Plattenosteosynthese vergleichbare Arthroseraten des OSG durchschnittlich 39 Monate postoperativ vorliegen. Die Komplikationsrate jedoch ist bei offenem Vorgehen deutlich erhöht (Wyrsch 1996).Die Aussagekraft beider Studien ist jedoch aufgrund der zu kleinen Fallzahlen und der fehlenden signifikanten Unterschiede eingeschränkt. Die Diskussion, ob eine primäre Plattenosteosynthese der postprimären vorzuziehen ist, ist unseres Erachtens deutlich zugunsten der postprimären Versorgung entschieden. Eine konservative Therapie scheidet in praktisch allen Fällen aus, da die Gelenkstufen oft zu groß und die Ergebnisse unter konservativer Therapie mangels Möglichkeit einer funktionellen Nachbehandlung nicht überzeugend sind. Tipp
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Angesichts der Patientenzufriedenheit ist aus unserer Erfahrung, wann immer möglich, der Plattenosteosynthese der Vorzug gegenüber der Fixateur-externe-Behandlung zu geben.
Wenn ein Fixateur externe für die definitive Frakturbehandlung zu Anwendung kommt, ist der Hybridfixateur zu bevorzugen: Proximal werden durch Verwendung von Pins Nervenschädigungen vermieden (bei Ringfixateuren immerhin 7,5% Schäden am N. peroneus communis), und distal erlaubt der Ilizarov-Ring eine stabile und v. a. nicht gelenküberbrückende Art der Fixation des Gelenkblocks. z
Komplikationen und Prognose
Die Rate an Wundheilungskomplikationen bei primärer offener Reposition und Plattenosteosynthese beträgt durchschnittlich 13,2% (3–33,3%). Bei postprimärer Plattenosteosynthese nach Abschwellung sinkt diese Rate auf durchschnittlich 5,3% und beschränkt sich – im Gegensatz zu Wundheilungskomplikationen bei primärer Plattenosteosynthese – auf umkomplizierte, oberflächliche Wundheilungsstörungen (Court-Brown 2005). Die Rate an Pseudarthrosen nach Plattenosteosynthese von Frakturen des Pilon tibiale beträgt durchschnittlich 0,9% nach
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
▬ Bi- und trimalleolare Frakturen treten fast ausschließlich bei älteren Frauen auf, ▬ Frakturen proximal der Syndesmose treten ebenfalls geschlechtsunabhängig überwiegend im jungen Alter auf.
postprimärer und durchschnittlich 7,5% nach primärer Plattenosteosynthese. Auch die Rate an Infektionen sinkt bei postprimärer Plattenosteosynthese auf 5,2% im Gegensatz zu 12,1% bei primärer offener Versorgung (Court-Brown 2005). Bei durchschnittlich 12,1% der Patienten bei postprimärer bzw. 26,7% bei primärer Plattenosteosynthese entwickeln sich Zeichen einer Osteoarthrose des oberen Sprunggelenks. Nur 6% bzw. 14,4% der Patienten benötigen jedoch später eine Arthrodese des oberen Sprunggelenks (Court-Brown 2005). Die Datenlage zu minimal-invasiven Operationstechniken ist aktuell nicht umfangreich. Erstaunlicherweise werden mit Raten von 14,6% für Wundheilungskomplikationen und Infektionen sowie 28,6% für Osteoarthrose des oberen Sprunggelenks (wovon 100% eine spätere OSG-Arthrodese benötigten!) keine verbesserten Ergebnisse im Vergleich zum postprimären offenen Vorgehen berichten (Court-Brown 2005).
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Frakturen des oberen Sprunggelenks z
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Epidemiologie
Die Frakturen des oberen Sprunggelenks zählen zu den 5 häufigsten Frakturen des Menschen. Interessanterweise weisen die einzelnen Untergruppen dieser Frakturen unterschiedliche Altersverteilungen bezüglich ihrer Inzidenz auf (Court-Brown 2005): ▬ Frakturen des Malleolus lateralis finden sich bei Männern gehäuft im jungen, bei Frauen gehäuft im hohen Alter. ▬ Frakturen des Malleolus medialis treten im jungen Alter geschlechtsunabhängig, im hohen Alter aber nur bei Frauen in Erscheinung.
⊡ Abb. 29.86a,b Pronations-Abduktions-Verletzung. a Im Röntgenbild, b schematisch: Stadien I–III (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
⊡ Abb. 29.87 Supinations-Adduktions-Verletzung: Stadien I–III (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
a
Ätiologie und Pathogenese
Nach Lauge-Hansen werden 5 verschiedene Verletzungsmechanismen unter Berücksichtigung der Fußstellung (erster Teil der Bezeichnung) sowie der Richtung der Auslenkung des Fußes (zweiter Teil der Bezeichnung) zum Unfallzeitpunkt unterschieden. Es werden die verschiedenen Stadien des Unfallhergangs beschrieben: ▬ Pronations-Abduktions-Verletzung (⊡ Abb. 29.86): – Stadium I: bei Pronation/Abduktion zuerst Anspannung der medialen Strukturen mit Ruptur des Lig. deltoideum oder Avulsionsfraktur des Malleolus medialis (Querfraktur) – Stadium II: bei weiterer Abduktion Ruptur des Lig. tibiofibulare anterius oder knöcherner Ausriss desselben an der Tibia (Tillaux-Chaput-Fraktur) oder an der Fibula (Le-Fort-Wagstaffe-Fraktur) – Stadium III: bei weiterer Abduktion schräge oder spiralförmige Fraktur der Fibula auf Höhe der Syndesmose oder proximal davon, Ruptur der Membrana interossea von distal nach proximal bis auf Höhe dieser Fibulafraktur – häufig begleitende Domfrakturen am Talus lateral (Schermechanismus)
b
903 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
▬ Supinations-Adduktions-Verletzung (= Weber A; ⊡ Abb. 29.87): – Stadium I: bei Supination/Adduktion zuerst Anspannung der lateralen Strukturen; zuerst Ruptur der lateralen Kollateralbänder oder (quere oder kurze schräge) Fraktur des Malleolus lateralis distal der intakten Syndesmosenbänder – Stadium II: bei weiterer Adduktion Druck des Talus gegen den Malleolus medialis mit querer bis schräger Fraktur desselben ▬ Supinations-Außenrotations-Verletzung (= Weber B; ⊡ Abb. 29.88): – Stadium I: bei Supination/Außenrotation zuerst Anspannung des Lig. tibiofibulare anterius und der lateralen Strukturen; zuerst Ruptur des Lig. tibiofibulare anterius oder knöcherner Ausriss desselben an der Tibia (TillauxChaput-Fraktur) oder an der Fibula (Le-Fort-WagstaffeFraktur) – Stadium II: bei weiterer Außenrotation spiralförmige Fraktur der Fibula, die von anteromedial nach posterolateral zieht; der Beginn dieser anteromedialen Frakturlinie kann distal, auf Höhe oder proximal des Lig. tibiofibulare anterius liegen – Stadium III: bei weiterer Außenrotation kommt es nach Dislokation des Malleolus lateralis zu einer Ruptur oder
knöchernen Avulsion des Lig. tibiofibulare posterius oder einer Fraktur des Volkmann-Dreiecks – Stadium IV: schlussendlich kommt es zu Spannung auf die medialen Strukturen, was zur Avulsionsfraktur des Malleolus medialis oder Ruptur des Lig. deltoideum führt ▬ Pronations-Außenrotations-Verletzung (= Weber C; ⊡ Abb. 29.89): – Stadium I: bei Pronation/Abduktion zuerst Anspannung der medialen Strukturen mit Ruptur des Lig. deltoideum oder Avulsionsfraktur des Malleolus medialis (Querfraktur) – Stadium II: bei weiterer Abduktion Ruptur des Lig. tibiofibulare anterius oder knöcherner Ausriss desselben an der Tibia (Tillaux-Chaput-Fraktur) oder an der Fibula (Le-Fort-Wagstaffe-Fraktur) – Stadium III: dann (schräge oder spiralförmige) Fraktur der Fibula auf Höhe der Syndesmose oder (häufiger) proximal davon, Ruptur der Membrana interossea von distal nach proximal bis auf Höhe dieser Fibulafraktur – Stadium IV: schlussendlich Verletzung des Lig. tibiofibulare posterius oder des Volkmann-Dreiecks ▬ Pronations-Dorsalextensions-Verletzung: – Stadium I: zuerst Fraktur des Malleolus medialis – Stadium II: dann Fraktur des anterioren Anteils des tibialen Pilons
⊡ Abb. 29.88 Supinations-Außenrotations-Verletzung: Stadien II und III (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
⊡ Abb. 29.89 Pronations-Außenrotations-Verletzung: Stadien I–IV (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
– Stadium III: dann transverse Fraktur der Fibula proximal der Syndesmose – Stadium IV: schlussendlich knöcherne Avulsion des Lig. tibiofibulare posterius oder Fraktur des VolkmannDreiecks z
Klassifikation
Neben der Einteilung nach Lauge-Hansen existiert die heute wohl am weitesten verbreitete AO-Klassifikation, die auf der
1
Einteilung nach Weber aus dem Jahre 1966 basiert. A-Frakturen bezeichnen Frakturen distal der Syndesmose, B-Frakturen liegen auf Höhe der Syndesmose und C-Frakturen proximal der Syndesmose (⊡ Abb. 29.90): ▬ A: Sprunggelenkfraktur unterhalb der Syndesmose – A1: einfache Außenknöchelfraktur – A2: Außen- und Innenknöchelfraktur – A3: Außen- und Innenknöchelfraktur mit posteromedialer Fraktur
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A
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B
C
⊡ Abb. 29.90 Malleolarfraktur: AO-Klassifikation (Aus: Müller-Mai u. Ekkernkamp 2010)
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905 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
▬ B: Sprunggelenkfraktur auf Höhe der Syndesmose – B1: einfache Außenknöchelfraktur – B2: Außen- und Innenknöchelfraktur – B3: Außen- und Innenknöchelfraktur mit posterolateraler Fraktur (Volkmann-Dreieck) ▬ C: Sprunggelenkfraktur oberhalb der Syndesmose – C1: einfache diaphysäre Fibulafraktur – C2: diaphysäre Fibulafraktur, mehrfragmentär – C3: proximale Fibulafraktur z
Diagnostik
In der Regel genügen Röntgenaufnahmen des oberen Sprunggelenks im anteroposterioren und lateromedialen Strahlengang. > Bei der anteroposterioren Aufnahme wird nicht der Fuß streng a.p. ausgerichtet, sondern das gesamte Bein 20–30° innenrotiert (Neutralstellung des tibiotalaren Gelenks, »true a.p.«), um eine parallele, symmetrische Darstellung des medialen, proximalen und lateralen Gelenkspalts des oberen Sprunggelenks zu erhalten. Auch muss eine Dorsalextension im OSG erfolgen, soweit dies die Schmerzen zulassen, um eine Überprojektion des OSG durch den Kalkaneus zu vermeiden.
Der Gelenkspalt des OSG stellt sich – bei optimaler Einstellung der Röntgenaufnahme – umlaufend mit gleicher Weite dar (Toleranz 1 mm), d. h. er ist medial so breit wie proximal und lateral. Lediglich im distalen Anteil des lateralen Gelenkspalts erweitert er sich etwas. Wir erachten die Anfertigung idealer Röntgenaufnahmen und Beachtung dieser Symmetrie als wichtiger, als die in der Literatur oft zitierte mediale Gelenkspaltweite >4 mm als Hinweis auf lateralen Shift des Talus (Ruptur des Lig. deltoideum). Jede Asymmetrie des Gelenkspalts ist pathologisch! Eine sehr zuverlässige Methode der Feststellung der Fibulalänge ist die sog. tibiofibulare Linie (Shenton-Linie). Sie wird gebildet aus dem lateralen Anteil der Gelenklinie des Pilon tibiale und dem ganz medialen, gerade von vertikal auf horizontal umbiegenden Anteil der fibularen Gelenklinie gerade unterhalb des distalen tibiofibularen Gelenks. Stehen sich diese beiden Linien nicht exakt gegenüber, sondern ist die fibulare Linie nach proximal verschoben, muss von einer Verkürzung der Fibula ausgegangen werden (⊡ Abb. 29.91).
Bei Unklarheit bezüglich weiterer knöcherner Begleitverletzungen (z. B. am Talusdom) soll eine CT mit zweidimensionalen Rekonstruktionen in axialer, sagittaler und koronarer Schnittführung erfolgen. Bei Verdacht auf chondrale Begleitverletzungen hilft die intraartikuläre Kontrastmittelgabe, diese darzustellen. Die Arthro-CT ist besonders bei frisch traumatisierten Sprunggelenken besser in der Lage, chondrale Verletzungen aufzuzeigen, als die MRT (Schmid 2003). Auf keinen Fall darf die Untersuchung der proximalen Fibula fehlen. Bei entsprechenden Hinweisen (lokaler Druckschmerz, Fraktur des Malleolus medialis, isolierte Fraktur des VolkmannDreiecks) muss diese auch röntgenologisch im anteroposterioren und lateromedialen Strahlengang abgeklärt werden. Bei Verdacht auf eine Syndesmosenruptur muss die fluoroskopische Untersuchung der Stabilität des distalen tibiofibularen Gelenks durchgeführt werden. > Eine Lateralverschiebung des Talus sollte ausgeführt und im a.p.-Strahlengang (»true a.-p.«) auf ein Aufweiten des distalen tibiofibularen Gelenks und/oder des medialen Gelenkspalts geachtet werden.
Ein Auseinanderdrücken der Malleolengabel durch Dorsalextension des anterior breiteren Talus ist in den allermeisten Fällen für den frisch traumatisierten Patienten sehr schmerzhaft und zeigt in den seltensten Fällen das gewünschte Ergebnis. Auch im Fall einer Osteosynthese im Bereich der Malleolen empfehlen wir, abschließend die Stabilität der Syndesmose zu prüfen mit folgendem Vorgehen: Einhängen eines kleinen Einzinkerhäckchens an der Fibula auf Höhe der Syndesmose, Widerhalt am Unterschenkel lateral weit proximal und Zug am Einzinkerhäckchen nach lateral. Eine weitere Möglichkeit der Diagnostik begleitender Verletzungen bei Sprunggelenkbrüchen ist die Arthroskopie des oberen Sprunggelenks in gleicher Sitzung mit der Osteosynthese. Wir wenden sie regelmäßig im Rahmen der Osteosynthese von Weber-C-Frakturen an. Neben Verletzungen des Lig. talofibulare anterius, des Lig. tibiofibulare anterius und des Lig. deltoideus können sehr häufig Knorpelverletzungen gesehen werden (79,2%). Fast 70% derselben sind am Talus lokalisiert und treten bei Männern signifikant häufiger auf (Hintermann 2000). Auch kann die Arthroskopie helfen, bei Verletzungen der Syndemose die korrekte Einstellung der distalen Fibula während der Stellschraubeneinbringung zu kontrollieren. z Therapie z z Konservative Therapie
a
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⊡ Abb. 29.91a,b Tibiofibulare Linie (Shenton-Linie). a Normalbefund, b Fibula verkürzt, tibiofibulare Linie unterbrochen
»Stabile Sprunggelenkbrüche« sind definiert als un- oder wenig dislozierte isolierte Frakturen (Diastase maximal 2 mm) vom Typ Weber A oder B oder als Frakturen des Malleolus medialis, einem umlaufend symmetrisch weiten Gelenkspalt des oberen Sprunggelenks (Toleranz 1 mm) und stabiler Syndesmose (fluoroskopisch überprüft). Hinweis bei der körperlichen Untersuchung auf ein stabiles Gelenk ist die Möglichkeit zum aktiven Zehenspitzenstand. Diese stabilen Frakturen können konservativ behandelt werden: Tragen eines Stabilschuhs zu jeglicher Mobilisation für die Dauer von 6 Wochen, Röntgenkontrollen
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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⊡ Abb. 29.92a–d Typische Versorgung einer Weber-B-Fraktur des Malleolus lateralis. a, b Präoperativ, c, d postoperativ. Man beachte die posterolaterale Lage der Drittelrohrplatte.
7 und 14 Tage sowie 6 Wochen nach Trauma zum Ausschluss einer sekundären Dislokation. Antiphlogistika p.o. und Kälte lokal unterstützen die Abschwellung und helfen bei der Remobilisation. Physiotherapie zur Remobilisation muss 6 Wochen unbelastet und schmerzadaptiert durchgeführt werden. Nicht selten werden instabile Verletzungen des distalen tibiofibularen Gelenks (Syndesmose) bei der Erstkonsultation übersehen (unerfahrener Untersucher, schmerzhaft dagegen spannender Patient etc.), und erst die Röntgenverlaufskontrolle bringt Hinweise auf diese konservativ in der Regel nicht adäquat therapierbare Pathologie. Auch ist es wichtig zu wissen, dass isolierte Frakturen des Malleolus medialis selten sind. Vor dem Entscheid zur konservativen Therapie sollte eine Verletzung der Syndesmose, des Malleolus lateralis oder weiterer Strukturen auch am Fuß zwingend ausgeschlossen werden (Fluoroskopie, CT etc.). Luxationsfrakturen des oberen Sprunggelenks sind aufgrund ihrer Fehlstellung in der Regel bereits ohne Röntgenaufnahme zu diagnostizieren. Sie sollten ohne Verzögerung, idealerweise bereits am Unfallort, unter adäquater Analgosedierung reponiert werden. Die Reposition wird primär mittels dorsaler Unterschenkelschiene gehalten und muss obligat mittels Durchleuchtung oder Röntgen kontrolliert und dokumentiert werden. Wenn die Reposition nicht mittels dorsaler Unterschenkelschiene gehalten werden kann, muss verzögerungsfrei ein tibiokalkanearer Fixateur externe angebracht werden. Jegliche (Sub-)Luxationsstellung des oberen Sprunggelenks führt in einem hohen Prozentsatz zu Haut-/Weichteilnekrosen, die die weitere Behandlung verzögern und nicht selten gar sekundäre plastische Deckungsoperationen notwendig machen.
zone in der Regel eine postprimäre (nach Abschwellung: Hautfältelung) Plattenosteosynthese mittels Drittelrohrplättchen durch. Bei B-Frakturen bevorzugen wir die posteriore Plattenlage (⊡ Abb. 29.92), bei C-Frakturen die laterale Plattenlage. Bei Frakturen des Malleolus lateralis mit Trümmerzone verwenden wir 3,5-mm-LC-Platten aus Titan mit lateraler Plattenlage.
z z Operative Therapie
Die Nachbehandlung wird bei einer isolierten, einfachen und stabil osteosynthetisierten Fraktur des Malleolus lateralis oder medialis in einem Stabilschuh für die Dauer von 6 Wochen mit
> Bei diesen Frakturen ist intraoperativ aufgrund der oft ungenügenden anatomischen Referenzen im Frakturbereich genau auf die korrekte Position des Fußes bei der Fluoroskopie zu achten, um Länge und Rotation des distalen Fibulafragments korrekt einstellen zu können.
Am Malleolus medialis genügen in der Regel zwei 3,5-mmZugschrauben. Frakturen des Volkmann-Dreiecks werden, wenn möglich, indirekt reponiert und von anterior mittels 3,5-mmZugschraube stabilisiert. Wenn eine Instabilität des distalen tibiofibularen Gelenks vorliegt (präoperativ oder intraoperativ fluoroskopisch geprüft), bringen wir bei osteosynthetisierter Fraktur des Malleolous lateralis eine 3,5-mm-Zugschraube durch die Platte und alle 4 Kortizes von Fibula und Tibia ein. Ohne proximale Fibulafraktur genügt eine derartige Stellschraube, bei Syndesmosenverletzungen mit proximaler Fibulafraktur (Maisonneuve-Fraktur) verwenden wir 2 derartige Stellschrauben. Die korrekte Position der Fibula in der Incisura fibulae der Tibia wird arthroskopisch kontrolliert. Wer in dieser Technik nicht geübt ist, sollte über eine Miniinzision anterior über dem distalen tibiofibularen Gelenk kontrollieren, dass die Position der Fibula in der Incisura fibulae korrekt eingestellt und keine Bandreste des Lig. tibiofibulare anterius eingeschlagen sind (⊡ Abb. 29.93). z z Nachbehandlung
Im Fall eines offenen operativen Vorgehens führen wir bei Frakturen des Malleolus lateralis ohne wesentliche Trümmer-
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⊡ Abb. 29.93a–c Posttraumatische schmerzhafte Inkongruenz im distalen tibiofibularen Gelenk. a OSG-Luxationsfraktur, b offene Reposition und Plattenosteosynthese Malleolus lateralis, das distale tibiofibulare Gelenk wurde nach Reposition mittels Stellschraube stabilisiert. Die Stellschraube wurde jedoch zu weit distal eingebracht (durch das distale tibiofibulare Gelenk), c CT-Aufnahme in axialer Schnittführung: Man erkennt die Arthrose des distalen tibiofibularen Gelenks bei leicht zu weit anteriorer Einstellung der Fibula
c
Vollbelastung durchgeführt. Röntgenkontrollen erfolgen postoperativ sowie 6 und 12 Wochen postoperativ. Antiphlogistika p.o. und Kälte lokal unterstützen die Abschwellung und helfen bei der Remobilisation. Physiotherapie zur Remobilisation sollte 6 Wochen schmerzadaptiert ohne maximale Belastung durchgeführt werden. Bei nicht ideal stabiler Osteosynthese (z. B. bei Osteoporose), bei komplexen Frakturen (bi-/trimalleolare Frakturen, Trümmerzonen etc.) und bei ungenügender Compliance kann auch ein Unterschenkelgehgips nötig werden, der in der Regel nach 6 Wochen Tragedauer auf einen Stabilschuh für nochmals 6 Wochen gewechselt wird. Bei Einbringen von Stellschrauben aufgrund instabilen Verletzungen des distalen tibiofibularen Gelenks muss bis zur Stellschraubenentfernung auf eine Teilbelastung von max. 10 kg geachtet und der Patient entsprechend instruiert werden. Diese Stellschrauben werden ca. 8 Wochen postoperativ in Lokalanästhesie entfernt. Hiernach ist in der Regel wieder Vollbelastung erlaubt. z z Evidenz und Kontroversen
Metaanalysen zu Malleolarfrakturen fehlen. Die kontroversen Themen bei Malleolarfrakturen sind die Art der Nachbehandlung (Gips oder funktionelle Schiene/Stiefel, Voll- oder Teilbelastung) und die Typen von Frakturen, die konservativ behandelt werden können. Letztere Frage wird v. a. interessant im Zusammenhang mit Patienten, die Nebenerkrankungen aufweisen, dass ein erhöhtes allgemeines Operationsrisiko vorliegt oder mit hoher Wahrscheinlichkeit lokale Komplikationen befürchtet werden müssen (Diabetes mellitus, lokale Hautulzerationen etc.). Andererseits gibt es auch Hinweise darauf, dass eine adäquate Reposition der Fraktur sowohl unter konservativer, als auch unter operativer Therapie unabdingbare Voraussetzung für das Vermeiden einer Osteoarthrose ist. Einzelne Studien berichten von einer fast 100%igen Arthroserate bei inadäquater Reposition unter konservativer Therapie (Court-Brown 2005). Die Vor- und Nachteile sind daher im Einzelfall eines jeden Patienten abzuwägen. Unseres Erachtens ist aber die adäquate Reposition in jedem Fall, wenn nötig operativ, anzustreben.
Bei einfachen Frakturen ohne Trümmerzone streben wir bei guter Knochenqualität und optimaler Verankerung des Osteosynthesematerials die Nachbehandlung im Stabilschuh mit Vollbelastung an. Bei osteoporotischem Knochen mit nicht optimalem Halt des Osteosynthesematerials soll die operierte Extremität nur mit 10–15 kg teilbelastet, wenn möglich aber trotzdem der Stabilschuh zur Ruhigstellung verwendet werden. Eine Gipsruhigstellung verwenden wir nur bei einer Kombination aus ausgeprägten Trümmerzonen, osteoporotischem Knochen und schlechtem Halt des Osteosynthesematerials. Trotz fehlender Evidenz gibt es Hinweise aus prospektiv randomisierten Studien, dass funktionell nachbehandelte Patienten schneller eine bessere Funktion erreichen und eine kürzere Arbeitsunfähigkeitsdauer aufweisen als Patienten, die postoperativ rigide ruhiggestellt werden(Vioreanu 2007). Dennoch muss auch darauf hingewiesen werden, dass funktionell nachbehandelte Patienten eine höhere Rate an Wundheilungskomplikationen aufweisen und sich die mittelfristigen Ergebnisse nicht wesentlich unterscheiden (Vioreanu 2007, Lehtonen 2003). Die Behandlung ist individuell auf den Typ der Fraktur und den Patienten abzustimmen. z
Komplikationen
Neben den üblichen Komplikationen bei der Behandlung von Frakturen (CRPS, Infektion, Wundheilungsstörung, iatrogene Gefäß-, Nerven- und Sehnenverletzungen, Implantatversagen, Pseudarthrose, Thrombose/Lungenembolie etc.) stellt die fehlverheilte Fraktur (Malunion) die häufigste Komplikation nach konservativer und operativer Therapie von Malleolarfrakturen dar. Oft ist das distale Fragment außenrotiert, nach posterior disloziert und verkürzt. Je nach Ausmaß können Korrekturosteotomien notwendig werden z
Prognose
Die Prognose nach Sprunggelenksfraktur ist in der Regel gut bis sehr gut. Sie verschlechtert sich allerdings bei initial stark dislozierten oder luxierten Frakturen, bei postoperativ inadäquater Reposition, bei Frauen zwischen 45–65 Jahren und bei fehlender funktioneller Nachbehandlung. Arthroseraten um
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14% nach einem Zeitraum von bis zu 6 Jahren nach Trauma werden berichtet (Lindsjo 1985).
29.3.5 z
Achillessehnenruptur
Epidemiologie
Die Inzidenz der Achillessehnenruptur beträgt 18/100.000, Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Einzelne Arbeiten berichten über einen Frauenanteil von lediglich 12–20%. Der Altersgipfel liegt in der Gruppe der 30- bis 40-Jährigen. z
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Anatomie und Biomechanik
Die Namensgebung der Achillessehne geht zurück auf einen Held der griechischen Mythologie. Achilles wurde als Kind von seiner Mutter in den Fluss Styx getaucht und wurde dadurch unverwundbar. Nur an der Ferse, wo ihn seine Mutter gehalten hatte, blieb er verwundbar. Dort wurde er von einem Pfeil des Paris getroffen, der ihn tötete. Die Achillessehne ist die dickste und stärkste Sehne des Menschen. Sie stellt den Ansatz des M. triceps surae (M. gastrocnemius, M. soleus) am Fersenbeinhöcker (Tuber calcanei) dar, an dem sie breitflächig inseriert (⊡ Abb. 29.94). Ihre freie Länge beträgt ca. 35–90 mm (Kvist 1994). Die Durchblutung wird gewährleistet durch Äste aus der anterior der Sehne gelegenen Muskulatur sowie aus einem kalkanearen Plexus (Ramus calcaneus lateralis aus der A. fibularis, Rami calcanei mediales aus der A. tibialis posterior). In einem Bereich 2–6 cm proximal des Kalkaneus besteht allerdings eine Zone minderer Durchblutung. Stucke fand bereits 1950 heraus, dass die Achillessehne einer statischen Belastung von 45,8 N/mm2 standhält, was einem beeindruckenden Wert von 4000 N entspricht, die notwendig sind, um die Achillessehne eines jungen Erwachsenen zu zerreißen. Erstaunlicherweise fand man später heraus, dass bereits bei simplem Jogging Zugbelastungen von 7000 N auf die Achillessehne wirken, unter Extrembedingungen (Hochsprung, Weitsprung) sogar Werte bis 13.000N. Einige Autoren erklärten diese Diskrepanz mit den viskoelastischen Eigenschaften der Achillessehne bei dynamischer Belastung, d. h. bei erhöhter Dehnungsgeschwindigkeit steigt auch die Reißfestigkeit der Sehne. Unter geänderten, dynamischen Testbedingungen ergaben sich in der neueren Zeit Werte bis 9100 N. z
Ätiologie und Pathogenese
75–90% der Achillessehnenrupturen entstehen durch Sportunfälle (insbesondere Ballsportarten). Prädisponierende Faktoren sind Nephropathien, hochdosierte perorale sowie wiederholte peritendinöse Steroidapplikation, langdauernde Einnahme von Fluoroquinolonen und gewisse Autoimmunkrankheiten. Etwa 10% der Rupturen finden am tendomuskulären Übergang statt, ca. 15% am ossären Ansatz am Kalkaneus und ca. 75% aller Rupturen an »typischer Stelle« zwischen beiden Lokalisationen (Coughlin 2007). Die genaue Pathogenese der Achillessehnenruptur ist weiterhin ungeklärt. Riede stellte bereits 1966 fest, dass die Zahl der Meinungen über die Entstehung der subkutanen Achilles-
sehnenruptur ungefähr der Zahl der beschreibenden Autoren entspricht. Das Spektrum der vermuteten pathogenetischen Veränderungen reicht vom metabolischen Ungleichgewicht mit nachfolgender Urat- oder Cholesterineinlagerung über die primär vaskulär bedingte, hypoxische Degeneration bis hin zu den wiederholten überlastungsbedingten Mikrotraumen mit Gefäßreaktion und nachfolgender hypoxischer Schädigung (Raunest 1990, Galloway 1992). z
Klassifikation
Es existiert keine allgemein gebräuchliche Klassifikation von Achillessehnenrupturen. Die Diagnose soll die Lokalisation in cm proximal des Kalkaneus und evtl. makroskopisch erkennbare Veränderungen beschreiben. Letztere sind ohne histologische Bestätigung nicht als »degenerativ« zu bezeichnen. z
Diagnostik
Die Diagnose einer frischen Achillessehnenruptur gelingt in der Regel durch eine gezielte körperliche Untersuchung: ▬ es wird die typische Delle im Bereich der Rupturdiastase zu tasten sein ▬ der Thompson-Test ist positiv (d. h. keine Plantarflexion des Fußes bei Zusammendrücken der Wadenmuskulatur, Cave: minimale Plantarflexion dennoch möglich bei Existenz des M. plantaris und durch Flexorsehnen) ▬ aktiver Einbeinstand auf dem verletzten Bein nicht möglich In der Regel bestätigen wir diese Diagnose mittels Sonographie, zum einen aus medikolegalen Gründen, zum anderen bei Befunden, die nach körperlicher Untersuchung nicht eindeutig auf eine Ruptur hinweisen oder eine untypische Rupturhöhe aufweisen. Auch hilft diese dynamische Untersuchung, die Indikation zur konservativen Therapie zu überprüfen (s. unten). Wir führen immer eine lateromediale Röntgenaufnahme des Kalkaneus durch, um knöcherne Sehenausrisse (Entenschnabelfraktur) und degenerativ veränderte Sehnen mit röntgendichten Ossifikationen zu erfassen. In Ausnahmefällen kann es notwendig sein, unklare Befunde (z. B. Partialrupturen bei adipösen Patienten) mittels MRT abzuklären. z
Therapie
Es existieren 3 verschiedene Möglichkeiten der Behandlung frischer Achillessehnenrupturen: konservativ, perkutan operativ und offen operativ. Die Diskussion, welche dieser Methoden die geeignetste darstellt, ist nicht abgeschlossen. Evidente Daten, die die Überlegenheit einer Methode aufzeigen, fehlen. z z Konservative Therapie
Die konservative Therapie ist unseres Erachtens bei sportlich nicht ambitionierten Patienten gerechtfertigt, wenn bei der sonographischen Untersuchung eine gute Adaptation der Sehnenenden bei 20° Plantarflexion erreicht wird und eine gute Compliance beim Patienten erwartet werden kann. Ein Stabilschuh mit einem Fersenkeil von 3 cm Höhe und der Möglichkeit eines komfortablen Einstiegs von posterior (z. B. Künzli Ortho Rehab Total) ist für 12 Wochen Tag und Nacht zu tragen
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⊡ Abb. 29.94 Ansatz der Achillessehne breitflächig am Tuber calcanei. Sie ist die distale sehnige Vereinigung des M. triceps surae (M. gastrocnemius, M. soleus) (Aus: Tillmann 2005)
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
(Instruktion des Patienten!), in den Wochen 1–3 mit 3 cm Fersenkeil, in den Wochen 4–6 mit 2 cm Fersenkeil, in den Wochen 7–9 mit 1 cm Fersenkeil und in den Wochen 10–12 ohne Fersenerhöhung. > Wichtig ist, dass der Fuß auch beim Duschen oder anderen Gelegenheiten, bei denen der Schuh nicht getragen werden kann, in Plantarflexion gehalten wird.
Vollbelastung darf im Schuh sofort erreicht werden. Physiotherapie darf ab der 4. Woche durchgeführt werden (auch hier keine Dorsalflexion). Sie muss in den ersten 8 Wochen unbelastet und schmerzadaptiert durchgeführt werden. z z Operative Therapie
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Bei sportlich aktiven Patienten favorisieren wir die operative Therapie, weil Sie die Möglichkeit bietet, den Patienten frühfunktionell nachzubehandeln. Bei der perkutanen Achillessehnennaht wird über eine Miniinzision über der Rupturstelle eine feinadaptierende Naht angelegt und diese schließlich über eine Rahmennaht mittels PDS-Kordel gesichert, die über 4 zusätzliche Stichinzisionen (2 proximal und 2 distal der Rupturstelle) eingebracht wird. Bei der offenen Achillessehnennaht existieren verschiedene Techniken. Wir führen die Hautinzision posteromedial durch (der N. suralis verläuft posterolateral), präparieren auf das Paratenon, das oft mit zerrissen ist. Längsinzision des Paratenon und Anlegen einer Rahmennaht in der Technik nach Kessler oder Zechner mit PDS-Kordel. Feinadaptation der Rupturenden mit Vicryl. Nach Naht der Sehne muss der Fuß ohne große Mühe in 0° Dorsal- bzw. Plantarflexion gebracht werden können. Verschluss des Paratenons mit Vicryl und anschließende Hautnaht. Nachbehandlung im Künzli Ortho Rehab Total-Schuh mit 3 cm Fersenkeil, der für 8 Wochen zu jeglicher Mobilisation getragen werden muss, in Woche 1 und 2 mit 3 cm Fersenkeil, in Woche 3 und 4 mit 2 cm Fersenkeil, in Woche 5 und 6 mit 1 cm Fersenkeil und in Woche 7 und 8 ohne Fersenkeil. Wichtig ist auch hier, dass der Fuß auch beim Duschen oder bei anderen Gelegenheiten, bei denen der Schuh nicht getragen werden kann, in Plantarflexion gehalten wird. Vollbelastung ab Wundheilung erlaubt. Physiotherapie ist primär nicht notwendig. Bei ossären Achillessehnenausrissen führen wir eine Zuggurtungsosteosynthese mittels Schraube und Draht- oder Faden-Cerclage durch (⊡ Abb. 29.95).
⊡ Abb. 29.95a,b Ossärer Achillessehnenausriss. a Präoperativ, b Fixation mittels Zuggurtungsosteosynthese
a
Eingriffe an der Achillessehne
Das Operationsprinzip ist die minimal-invasive Adaptation der Achillessehnenstümpfe ohne traumatisierenden Zugang. Indikation: Bei allen Achillessehnenrupturen, bei denen auf Wunsch der Patienten oder aufgrund der Präferenzen der Operateure eine konservative Behandlung nicht gewünscht wird oder möglich erscheint. Bei nicht kompletter Adaptation in der dynamischen sonographischen Untersuchung in Plantarflexion, bei Patienten mit kontinuierlicher Kortisonmedikation und Immunsuppression (konservativ; schlechte Regeneratbildung). Kontraindikation: Veraltete Rupturen, die in der sonographischen Kontrolle keine Adaptation der Sehnenstümpfe bzw. fixierte Narbenbildungen zeigen (hier erfolgt die 2-Zipfel-Technik). Defektsituationen nach übersehenen oder nicht verheilten Achillessehnenrupturen. Spezielle Patientenaufklärung: Weiterbehandlung im Variostabil-Therapieschuh. Bedingung für eine komplikationslose Sehneneinheilung ist das Verbleiben in der Plantarflexion (Waschen der Füße!), um keinen Stress auf die Achillessehne auszuüben. Volle Belastung im Therapieschuh nach Erreichen der Schmerzfreiheit. Das Rehabilitationsprogramm beginnt nach Beenden der Behandlung im Schuh. Erreichen einer wettkampffesten Stabilität der Sehne und entsprechender muskulärer »Performance« frühestens nach 5–6 Monaten. Die vollständige Kompensation der Muskelatrophie dauert in etwa 9–12 Monate. Lagerung: Standard ist die Bauchlagerung mit Unterpolsterung des nicht verletzen Beins im Bereich des N. peronaeus, die Beine hängen leicht über dem Operationstisch, das nicht operierte Bein wird leicht abgesenkt. Bei Patienten mit obstruktiver Lungenerkrankung ist die operative Versorgung in Seitenlage möglich. Operationsvorbereitung: Im Bereich des Operationsfeldes sollte bei entsprechender Behaarung rasiert werden. Präoperative Antibiotikaprophylaxe mit Cephlosporin der dritten Generation. Perioperativ Thromboseprophylaxe mit niedermolekularen Heparininjektionen bei Narkoseeinleitung. Die Operation kann optional in Blutsperre durchgeführt werden. Anästhesie entsprechend den Wünschen des Patienten, doch sollte man bedenken, dass eine Bauchlagerung in Regionalanästhesie für adipöse Patienten sehr anstrengend ist. Nachbehandlung: Postoperativ Gipsschale dorsal oder plantar, gut gepolstert (diese Schale kann auch als Nachtschiene
b
911 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
benutzt werden). Am zweiten postoperativen Tag Anlegen des Variostabil-Therapieschuhs, kurzfristiges Krankengymnastikprogramm mit 1- bis 2-mal Gangschulung. NSAR (z. B. Diclofenac oder Ibuprofen) für 3–5 Tage. In der Frühphase häufig Bein hochlagern und eventuell Schuh etwas lockern, da Schwellungen auftreten können. Fädenentfernung nach 7–10 Tagen.
handlung wird in den Händen eines damit unerfahrenen Arztes ebenso schlechte Resultate erbringen wie die Operation in den Händen eines überwiegend konservativ tätigen Kollegen. In jedem Fall ist aber eine möglichst frühfunktionelle Nachbehandlung anzustreben, da sie gemäß der Daten in der Literatur die besten Ergebnisse liefert.
z z Evidenz und Kontroversen
Es existieren 5 Metaanalysen zum Thema. Die Autoren kommen im Wesentlichen überein, dass die Datenlage für eine endgültige Empfehlung zu schwach ist. Die signifikant erhöhte Rerupturrate bei konservativer Therapie steht der signifikant erhöhten Komplikationsrate bei operativer Therapie gegenüber. Tipp
I
I
Im Fall eines operativen Vorgehens zeigt die perkutane Nahttechnik eine geringere Komplikationsrate als die offene Technik.
Jegliche postoperative Ruhigstellung soll möglichst mittels funktioneller Schiene erfolgen, da dies die Rate an Komplikationen senkt. Die Rerupturrate nach operativer Therapie korreliert erstaunlicherweise nicht mit der Art der gewählten Nachbehandlung (Gips, funktionelle Schiene). Es bleibt aber im Wissen dieser Erkenntnisse eine Entscheidung des Operateurs, im Einzelfall die günstigste Therapieform für den Patienten und seine individuellen Begleitumstände (sportliche Ambitionen, Diabetes mellitus, Alter etc.) auszuwählen. z
Komplikationen
Die hauptsächlichen Komplikationen der Behandlung einer Achillessehnenruptur sind die Reruptur und das Operationsrisiko (Infektion, Adhäsionen, Läsionen des N. suralis etc.). Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2005 zog folgende Rückschlüsse (Khan 2005): ▬ Die offene Achillessehnennaht ist mit einer signifikant geringeren Rerupturrate behaftet, als die konservative Therapie. ▬ Die offene Achillessehnennaht ist mit einem signifikant höheren Risiko einer peri- oder postoperativen Komplikation (Infektion, Adhäsionen, Parästhesien im Operationsgebiet etc.) vergesellschaftet als die konservative Therapie. ▬ Die perkutane Achillessehnennaht ist mit einem geringeren Risiko einer peri- oder postoperativen Komplikation (ausgenommen Reruptur) vergesellschaftet als die offene Naht. ▬ Eine postoperative Ruhigstellung mittels einer funktionellen Schiene hat eine geringere Komplikationsrate, als die Ruhigstellung im Gips. Außerdem gibt es Hinweise, dass ein Jahr postoperativ bei funktioneller Nachbehandlung eine bessere Plantarflexionskraft erreicht wird als bei der Nachbehandlung im Gips. Erstaunlicherweise liefert die operative Therapie keine bessere Plantarflexionskraft als die konservative Behandlung (Moller 2001). Es gilt daher die Methode auszuwählen, mit der der behandelnde Arzt die größte Erfahrung hat. Eine konservative Be-
29.3.6
Akutes Kompartmentsyndrom des Fußes
Obwohl Richard von Volkmann bereits 1881 erstmalig das Kompartmentsyndrom der Extremitäten beschrieb, blieb das akute Kompartmentsyndrom des Fußes bis zur Arbeit von Myerson im Jahre 1987 in der medizinischen Literatur bis auf einzelne Fallberichte weitgehend unerwähnt. Im folgenden wird lediglich das akute Kompartmentsyndrom behandelt. z
Definition
Allen Kompartmentsyndromen liegt der Umstand eines erhöhten interstitiellen Gewebedrucks unterschiedlicher Genese (Fraktur, Quetschtrauma, postoperativ nach Fußeingriffen, diabetischer Muskelinfarkt, Hämangiom, Schlangenbiss u.v.m.) innerhalb eines wenig elastischen osseofaszialen Kompartiments zugrunde (Woolley 2006, Downey 2006). Mit steigendem Kompartmentdruck kommt es zu einem progredienten Abfall der kapillären Perfusion bis hin zum Gefäßverschluss. Fällt der kapillare Perfusionsdruck unter die kritische Grenze des Gewebeperfusionsdrucks, gelingt es nicht mehr, die Vitalität der verschiedenen Gewebe des Kompartiments aufrechtzuerhalten. > Bei prolongierter Ischämie resultiert die irreversible Nekrose und später die sekundäre Fibrose v. a. myonaler und neuronaler Zellen (Volkmann-Kontraktur). Am Fuß äußert sich die Volkmann-Kontraktur im Sinne von Krallenzehen, Schwäche der Fußbinnenmuskulatur sowie Hypästhesien oder Parästhesien. z
Epidemiologie
Detaillierte Studien zur Epidemiologie von Kompartmentsyndromen am Fuß fehlen. Einzelne Arbeiten mit speziellen Fragestellungen zu Fußverletzungen (z. B. bei Motorradfahrern, Kalkaneusfrakturen u. a.) berichten über Inzidenzen bis 10% (Myerson 1993). Häufigste Ursache von Kompartmentsyndromen am Fuß sind Lisfranc-Verletzungen (Myerson 1991). z
Anatomie und Biomechanik
Frühe anatomische Studien beschreiben in der Regel 4 Kompartimente am Fuß (medial, lateral, zentral, interossär). Manoli und Weber beschrieben 1990 erstmals 9 Kompartimente am Fuß, alle enthalten Muskeln, einzelne auch neurovaskuläre Strukturen (⊡ Tab. 29.7). 3 Kompartimente erstrecken sich über die gesamte Länge des Fußes (medial, lateral und oberflächlich), 5 Kompartimente sind am Vorfuß (M. adduktor, 4-mal interossär) und ein Kompartiment am Rückfuß (kalkanear) angesiedelt (Manoli 1990a). Matsen (1975) spricht gar von der Existenz eines 10. Kompartiments, das den M. extensor digitorum brevis beinhaltet.
29
912
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
⊡ Tab. 29.7 Die 9 Kompartimente am Fuß Kompartiment
Muskuläre Strukturen
Neurovaskuläre Strukturen
Kalkanear, Rückfuß
M. quadratus plantae
Interossär (4 Kompartimente), Vorfuß
Mm. interossei dorsales (4 Komp.) Mm. interossei plantares (4 Komp.)
–
M. adduktor, Vorfuß
M. adductor hallucis
–
Medial, ganze Fußlänge
M. abductor hallucis M. flexor hallucis brevis
–
Lateral, ganze Fußlänge
M. abductor digiti minimi M. flexor digiti minimi brevis M. opponens digiti minimi
–
Oberflächlich, ganze Fußlänge
M. flexor digitorum brevis Sehnen des M. flexor digitorum longus Mm. lumbricales (4 Komp.)
–
N. tibialis N. plantaris lateralis (aus N. tibialis) N. plantaris medialis (aus N. tibialis) A. tibialis posterior, Vv. tibiales posteriores A. plantaris lateralis (aus A. tibialis posterior), Vv. plantares laterales
29 z
Diagnostik
Die Diagnostik des Fußkompartmentsyndroms gestaltet sich oft sehr schwierig. Alle Patienten mit einem akuten Kompartmentsyndrom erleiden in der Regel Schmerzen. Da bei vielen Patienten mit einem akuten Kompartmentsyndrom ein Quetschtrauma mit gröberer Gewalteinwirkung zugrunde liegt und eine Vielzahl der betroffenen Patienten ein gestörtes Sensorium aufweisen (Analgesie, Narkose, Bewusstlosigkeit), relativiert sich die Verlässlichkeit auch des Symptoms Schmerz zur Diagnosestellung eines akuten Kompartmentsyndroms. In einer Untersuchung an 12 Patienten mit einem akuten Kompartmentsyndrom des Fußes stellte die passive Dorsalextension der Zehen die sensitivste körperliche Untersuchung dar. Die Spezifität dieses Tests war allerdings gering, was darauf zurückgeführt wurde, dass die passive Dehnung eines Muskels bei jeglicher Schwellung oder Ischämie desselben immer zu Schmerzen führt (Myerson 1990). Weitere gute Hinweise sind die Angabe unverhältnismäßig starker Schmerzen (aber: Einschätzung subjektiv!) oder der steigende Analgetikabedarf (Myerson 1991). Sensomotorische Ausfälle sind Spätsymptome. Bei der Einschätzung sensorischer Ausfälle helfen Verlaufsbeobachtungen mehr als Einzelmessungen. Zwei-Punkte-Diskrimination und leichte Berührung an der Fußsohle und den Zehen waren in der Untersuchung von Myerson (1990) sensitiver als Nadelstiche. Motorische Ausfälle sind aufgrund der begleitenden Schmerzen ebenso wie Pulsmessungen (Spätsymptom, Palpationsstellen extrakompartimental) unbrauchbar. Bei der Wertigkeit der intrakompartimentalen Druckmessung zur Diagnosestellung gehen die Meinungen auseinander. Einige Autoren bezeichnen die intrakompartimentale Druckmessung als sensitivste Methode zur exakten Diagnosestellung (Myerson 1990, Botte 1996). Sie weisen jedoch darauf hin, dass der Druck in allen 9 Kompartimenten bestimmt werden muss, also eine Vielzahl von Einstichen notwendig ist. Auch scheint der Druck
im kalkanearen Kompartiment in der Regel über dem der übrigen Kompartimente zu liegen, was die explizite Messung im kalkanearen Kompartiment erfordert (Myerson 1993, Manoli 1990a). Andere Autoren sprechen jedoch von einem überraschend geringen Stellenwert der Kompartmentdruckmessung in der klinischen Praxis: In einer Umfrage gaben nur 50,9% der Studienteilnehmer an, im Falle des klinischen Verdachts eines akuten Kompartmentsyndroms auch Kompartmentdruckmessungen durchzuführen (⊡ Abb. 29.96 bis ⊡ Abb. 29.99). Von diesen maßen dann immerhin noch 43,7% den Messergebnissen einen geringen bis mäßigen Stellenwert zu (Sterk 2001). Auch die anzuwendenden Grenzdruckwerte werden uneinheitlich gehandhabt. Fixe Grenzdruckwerte finden sich ebenso wie berechnete Grenzdruckwerte unter Berücksichtigung hämodynamischer Parameter (Myerson 1993, Sterk 2001). Evidente Daten liegen nicht vor. Am Kantonsspital St. Gallen gelten fixe Grenzdruckwerte von 30 mm Hg bzw. berechnete Grenzdruckwerte von 10–30 mmHg unter dem diastolischen Blutdruck als Indikation zur Fasziotomie. > Wichtig ist, sich nicht blind auf Druckmesswerte zu verlassen, sondern sie in Zusammenschau mit den klinischen Befunden und der hämodynamischen Situation des Patienten zu bewerten. Im Zweifelsfall gilt es, die Fasziotomie notfallmäßig durchzuführen. z
Therapie
Unzählige Arten der Fasziotomie der 9 Kompartimente des Fußes wurden beschrieben. Die vorteilhafteste Inzision richtet sich nach Erfahrung und Vorliebe des Operateurs, weiteren notwendigen Operationen (z. B. Osteosynthesen) und begleitenden Weichteilschäden. Früher üblich und auch heute noch (aber nicht mehr ausschließlich) gebräuchlich waren bzw. sind 2 longitudinale Inzisionen über dem Fußrücken (⊡ Abb. 29.100).
913 29.3 · Verletzungen von Sprungelenk, Fuß und Zehen
⊡ Abb. 29.96 Messung des Kompartmentdrucks im lateralen Fußkompartiment. Einstich plantar des Metatarsale
⊡ Abb. 29.97 Messung des Kompartmentdrucks in den 4 interossären Kompartimenten und im Adduktorkompartiment. 4 separate Einstiche intermetatarsal (interossäre Kompartimente), Vorschieben der Nadel im ersten oder zweiten interossären Kompartiment nach plantar (Adduktorkompartiment)
⊡ Abb. 29.99 Messung des Kompartmentdrucks im medialen und kalkanearen Kompartiment. Einstich 4 cm distal des Malleolus medialis (mediales Kompartiment), Vorschieben der Nadel (kalkaneares Kompartiment)
⊡ Abb. 29.100 Posteriore Inzisionen. Vorteil: Begleitfrakturen oder -luxationen können über die gleiche Inzision adäquat reponiert und fixiert werden; Nachteil: weniger rasche Normalisierung des intrakompartimentellen Drucks, Unmöglichkeit zur Fasziotomie des kalkanearen Kompartiments
> Wichtig ist, dass diese Inzisionen medial des Metatarsale II und lateral des Metatarsale IV ausgeführt werden, damit die Haut-Weichteil-Brücke dazwischen möglichst breit ist und das Risiko einer Nekrose derselben minimiert wird.
⊡ Abb. 29.98 Messung des Kompartmentdrucks im oberflächlichen Kompartiment. Einstich im Bereich des Fußbogens
Mit Entdeckung des kalkanearen Kompartiments und der Erkenntnis, dass nicht nur die interossären Kompartimente der Fasziotomie bedürfen, schlug Myerson (1990) die – erstmals von Grodinsky beschriebene – medioplantare Inzision zusätzlich zu den oben beschriebenen beiden posterioren Inzisionen vor (⊡ Abb. 29.101 u. ⊡ Abb. 29.102). Ein Vorteil dieser medioplantaren Inzision scheint auch darin begründet zu sein, dass sie rascher zu einer Normalisierung des intrakompartimentellen Drucks führt als die posterioren Inzisionen. Myerson beschreibt auch bei entsprechender Verlängerung der Inzision
29
914
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
definitiven Osteosynthese oder bis zum Wundverschluss auch bei Einnaht eines temporären Hautersatzes Antibiotikumgaben nicht erforderlich. Je nach klinischem Verlauf und Ergebnis der ggf. wiederholten Kompartmentdruckmessungen sind frühestens 5–7 Tage nach der Fasziotomie entweder der direkte Wundverschluss oder die Spalthauttransplantation nach entsprechender Wundverkleinerung und Wundgrundkonditionierung anzustreben. z z Komplikationen und Prognose
⊡ Abb. 29.101 Medioplantare Inzision. Vorteil: raschere Normalisierung des intrakompartimentellen Drucks, Möglichkeit zur Fasziotomie aller Fußkompartimente einschließlich des kalkanearen Kompartiments; Nachteil: Begleitfrakturen oder -luxationen können über die gleiche Inzision nicht adäquat reponiert und fixiert werden
29 Lateral bis Metatarsale IV
Medial bis Metatarsale II
6 cm 4 cm 3 cm
⊡ Abb. 29.102 Kombination aus 2 posterioren und einer proximalen medioplantaren Inzision
In der medizinischen Literatur finden sich nur spärliche Angaben über Komplikationen nach Fasziotomie des Fußes bei akutem Kompartmentsyndrom. Schäden an Nerven und Gefäßen, insbesondere an den plantaren und kalkanearen Ästen des N. tibialis (N. plantaris lateralis, N. plantaris medialis, Rr. calcanei mediales) und deren Begleitgefäßen (A. plantaris medialis und lateralis) werden berichtet (Fulkerson 2003). Verläufe mit einer Restitutio ad integrum sind bei rechtzeitiger Intervention möglich. Nicht selten klagen die Patienten allerdings auch über Restbeschwerden wie Schmerzen, Parästhesien und Krallenzehen (Myerson 1993). Für die Beantwortung der Frage, ob diese Probleme auch ohne die notfallmäßige Fasziotomie und dann sogar aggraviert aufgetreten wären, fehlen evidente Daten. Bis heute konnte keine Studie den Nachweis antreten, dass die Fasziotomie der Fußkompartimente beim akuten Kompartmentsyndrom für den Patienten ein besseres Ergebnis bietet als der Verzicht auf die Dekompression. Der offenbar harmlose Eingriff einer Fasziotomie und die Gefahr einer Volkmann-Kontraktur führen in der heutigen Zeit in der Regel im Zweifelsfall zur Operation. Verlässliche Richtlinien zum optimalen Operationszeitpunkt und der idealen Diagnosestellung basierend auf evidenten Ergebnissen prospektiver randomisierter Studien fehlen jedoch.
Literatur nach distal, dass sämtliche Fußkompartimente über diesen einen Hautschnitt fasziotomiert werden können. Er empfiehlt die medioplantare Inzision bei Kompartmentsyndromen des Fußes ohne Begleitfrakturen oder -luxationen. Bei gleichzeitig vorliegenden Mittel- oder Vorfußfrakturen sollen die posterioren Inzisionen zusätzlich und die medioplantare Inzision kürzer gewählt werden, um diese Frakturen/Luxationen in gleicher Sitzung offen stabilisieren zu können. Nach Fasziotomie soll eine offene Wundbehandlung, in der Regel unter Einnaht eines temporären Hautersatzes, angeschlossen werden. Freiliegendes Osteosynthesematerial sollte zur Vermeidung von implantatassoziierten Wundinfekten nach Wundverschluss nach Möglichkeit vermieden werden. Temporäre Stabilisationen mittels Kirschner-Drähten in der Akutsituation und die definitive Versorgung der Frakturen/Luxationen zum Zeitpunkt des definitiven Wundverschlusses sind vorzuziehen. Geschlossene Verletzungen, die in der Folge fasziotomiert werden, erhalten die übliche »Single-shot«-Antibiotikumprophylaxe perioperativ. Im postoperativen Verlauf sind bis zur
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Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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29
918
29
Kapitel 29 · Erkrankungen und Verletzungen von Sprunggelenk, Fuß und Zehen
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VI
VI
Kinderorthopädie und Kindertraumatologie
30
Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen – 921 J. Matussek
31
Kinderorthopädische Untersuchung J. Matussek
32
Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane – 937 J. Matussek
33
Infektionen im Wachstumsalter J. Matussek
34
Tumoren im Wachstumsalter J. Matussek
35
Kindertraumatologie – 1025 J. Matussek
– 929
– 1011
– 1017
30
Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen J. Matussek
30.1
Einleitung
30.2
Gametenstadium
30.3
Frühe Embryonalphase (1.–2. SSW) – 923
30.4
Spätere Embryonalphase (3.–8. SSW) – 925
30.4.1 30.4.2
Embryonale Entwicklung der Wirbelsäule – 926 Embryonale Entwicklung der Makromoleküle – 927
30.5
Fetalphase
30.6
Säuglingsphase bis Abschluss der Pubertät – 927 Literatur
– 922 – 922
– 927
– 927
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_30, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
922
30.1
30
Kapitel 30 · Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen
Einleitung
⊡ Tab. 30.1 Wachstumsabschnitte
Im Zentrum der Kinderorthopädie stehen die Vorsorge und die Behandlung von muskuloskelettalen Störungen des Kindes. 1741 veröffentlichte Nicholas Andry, Professor für Medizin an der Pariser Universität, Abhandlungen, die verschiedene Methoden zur Vorsorge und Korrektur von Deformitäten bei Kindern beinhalteten. Andry kreierte durch den Kunstgriff der Fusion zweier griechischer Wörter – orthos: gerade und paidios: Kind – das Wort »Orthopädie«, das dem medizinischen Fach, das sich mit der Bewahrung und Wiederherstellung des menschlichen Bewegungssystems auseinandersetzt, den Namen gab. Andry versinnbildlichte seine Idee in dem »Orthopädenbäumchen«, das bis heute weltweit als Symbol der orthopädischen Fachgesellschaften präsent ist. Die Kinderorthopädie stellt ein zentrales Feld in der Gesamtorthopädie dar, da ein großer Teil orthopädischer Probleme seine Ursachen in den Wachstumsphasen hat. Ein profundes Wissen des normalen und abnormalen menschlichen Wachstums ist dementsprechend essenziell zum Verständnis nicht nur in der Kinder-, sondern auch in der Gesamtorthopädie. Eine Zusammenfassung normalen und fehlgeleiteten Wachstums lässt sich durch die Unterteilung des wachsenden Lebens in 7 Abschnitte erreichen (⊡ Tab. 30.1).
30.2
Zeitperiode
Gametenstadium
Vor der Befruchtung
Frühes Embryonalstadium
Bis 2 Wochen nach Befruchtung
Embryonalstadium
2–8 Wochen nach Befruchtung
Fetalstadium
8 Wochen nach Befruchtung bis zur Geburt
Säuglingsalter
Geburt bis zum 18. Lebensmonat
Kindesalter
18. Lebensmonat bis 4. Lebensjahre: Kleinkind, 4. Lebensjahr bis zur Pubertät: Kind
Adoleszenz
Pubertätsbeginn bis Wachstumsende
⊡ Tab. 30.2 Genetische Lokalisation bestimmter Erkrankungen
Gametenstadium
Gameten sind die allgemeinen Bezeichnungen für Ovum und Spermium. Während der Gametogenese halbiert sich die Chromosomenzahl durch 2 Meioseteilungen von diploid auf haploid. Genetisches Material mit möglicherweise fehlerhafter Information wird hierbei durchmischt und jeweils ein reifes Ovum und Spermium geformt. Die Befruchtung führt dann den jeweils haploiden Chromosomensatz eines Elternteils mit dem des anderen zusammen, um einen neuen diploiden Chromosomensatz zu mischen: Das individuelle genetische Material ist demgemäß eine Zufallsdurchmischung der elterlichen Erbinformation während der Meiose im Rahmen der Gametogenese und der folgenden Befruchtung. Die Verbindung von Genen auf einem Chromosom, die Krankheitsanlagen tragen, mit solchen, die phänotypisch unterscheidbare Charakteristika vermitteln (z. B. Blutgruppe), ermöglicht die Identifikation von Individuen mit einem Risiko bestimmter Erkrankungen (⊡ Tab. 30.2). Beispielsweise ergibt sich auf dem 9. Chromosom eine Verbindung zwischen dem Gen des Nagel-Patella-Syndroms mit dem Gen des AB0-Blutgruppensystems. Nachkommen mit der gleichen Blutgruppe wie ein betroffener Elternteil werden Träger des Syndroms sein. Die auf dem X-Chromosom gebundene genetische Anlage zur A-(Hypo-)Chondroplasie führt zu einem typischen Phänotypus des dysproportionierten Zwergwuchses (⊡ Abb. 30.1). > Viele genetische Veränderungen entstehen während der Gametogenese durch Veränderungen in Anzahl, Struktur und Inhalt der Chromosomen.
Wachstumsphasen
a
Chromosom
Erkrankung
1
Rhesus-Faktor , Morbus Gaucher
5
Mukopolysaccharidose Typ VI, »Crie-du-chat«Syndrom
6
Histokompatibilitätskomplex
7
Mukopolysaccharidose Typ VII, Ehlers-DanlosSyndrom Typ VII, Marfan-Syndrom
9
AB0-Blutgruppen, Nagel-Patella-Syndrom
15
Prader-Willi-Syndrom
X
Muskeldystrophie Duchenne, A-(Hypo-) Chondroplasie (dysproportionierter Zwergwuchs)
b
⊡ Abb. 30.1a,b A-(Hypo-)Chondroplasie
923 30.3 · Frühe Embryonalphase (1.–2. SSW)
a
b
c
⊡ Abb. 30.2a–c Turner-Syndrom. a Typischer Habitus, b, c Pterygium colli (»Flügelfell«)
a
Zahlenmäßige Veränderungen der Chromosomen entstehen bei fehlerhafter Trennung oder Teilung der Chromosomenknäuel während der Zellteilung. Insbesondere Probleme bei der Trennung der Chromosomenpaare führen zu Mono- oder Trisomiegameten. Monosomie der Geschlechtschromosomen führt beispielsweise zum X0-Muster beim Turner-Syndrom (⊡ Abb. 30.2) Trisomie der Geschlechtschromosomen erzeugt 47XXX-Muster mit nur geringer mentaler Retardierung. Das Muster 47XXY führt zum Klinefelter-Syndrom, während 47XYY einen aggressiven männlichen Charakter hervorbringt. Trisomie der Autosomen ist häufiger und betrifft das Chromosom 21 (Down-Syndrom) oder seltener die Chromosomen 13 und 18 mit erheblichen Defekten. Strukturdefekte an Chromosomen treten entweder spontan oder als Folge der Einwirkung von Teratogenen auf: Teratogene induzieren Chromosomendefekte und verschulden dadurch eine Vielzahl von Syndromen. Dies geschieht durch Translokation, Duplikation, Inversion oder auch Deletion von Chromosomenteilen. So verursacht beispielsweise die Deletion der Endportion des kurzen Endes des Chromosoms 5 das »Crie-du-chat«-Syndrom oder führen Veränderungen des Chromosoms 3 zu generalisierten Mesenchymaldefekten wie beim Larsen-Syndrom (⊡ Abb. 30.3). Einzelne Gendefekte können entweder durch spontane Mutation entstehen oder über Erbvorgänge übertragen werden. Ist ein genetischer Defekt entstanden, wird er gemäß den MendelGesetzen weiter übertragen.
30.3 b ⊡ Abb. 30.3a,b Larsen-Syndrom
Frühe Embryonalphase (1.–2. SSW)
Da die Embryonalphase (1.–8. SSW) durch Gewebedifferenzierungen und schnelles Zellwachstum ausgezeichnet ist, haben einwirkende Noxen (Teratogene) chemischer, infektiöser,
30
924
Kapitel 30 · Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen
30
⊡ Abb. 30.4a–f Longitudinale, transversale, zentrale Fehlbildungen der Gliedmaßen. a Amelie, b Phokomelie, c Mikromelie, d kombinierte Mikro- und Phokomelie, e Sympodie, f Syndaktylie
ionisierender oder medikamentöser Natur meist tiefgreifende strukturelle Veränderungen des Embryos zur Folge. Diese sind später schwieriger zu korrigieren und zu behandeln als Defekte, die ihre Ursache im fetalen Leben haben. ▬ Malformationen teratogener oder genetischer Natur rühren aus der Phase der Organogenese (z. B. die Phokomelie oder Robbenärmigkeit; ⊡ Abb. 30.4). ▬ Wachstumsunterbrechungen entstehen in der späteren Fetalphase durch Einwirken von teratogenen, traumatischen oder anderen mechanischen Faktoren auf den Wachstumsprozess (z. B. amniotische Einschnürungen). ▬ Dysplasien (»Unreifen«) stellen Anomalien dar, die durch abnormales Gewebewachstum geprägt sind (z. B. die Achondroplasie oder Hypochondroplasie, Syn.: Chondrodystrophia fetalis; ⊡ Abb. 30.5). ▬ Deformationen des Fetus entstehen in der Spätphase der Schwangerschaft meist durch mechanische Kräfte, die modellierend Druck auf das Kind ausüben (z. B. Hüftluxationen oder einfache Klumpfußdeformitäten). Die frühe Embryonalphase erstreckt sich von der Befruchtung bis zur Implantation des Embryos in der Gebärmutter.
a
b
⊡ Abb. 30.5a,b Typische Rückenveränderungen mit angulärer Hyperkyphose bei Hypochondroplasie
925 30.4 · Spätere Embryonalphase (3.–8. SSW)
1. Woche
Die befruchtete Zygote teilt sich mehrfach und wandert durch die Tuba uterina in die Gebärmutter. Aus der Zygote wird die Morula, aus dieser dann die Blastozyste, die sich ihrerseits dann im Bereich der Hinterwand der Gebärmutter einnistet.
platte, Mesoderm mit dem eingebetteten Chordafortsatz/Notochord, Endoderm). Somiten, die Vorläufer der Bewegungssegmente der Wirbelsäule, beginnen sich zu formen und die Neuralplatte rollt sich ein zum Neuralrohr. 4. Woche
2. Woche
Die zweiblättrige Keimscheibe, der Dottersack und die amniotische Höhle bilden sich. Der frühe Embryo ist gegenüber Teratogenen in den ersten 2 Wochen nur wenig störanfällig, im Gegensatz zu der Zeit danach. Im Falle ernster Gendefekte im Verlauf dieser Phase ist die Gebärmutter in der Lage, den Embryo abzustoßen (Abort).
Die Extremitätenknospen werden sichtbar, die Somiten der späteren Wirbelsäule differenzieren sich in 3 Segmente, das Mesoderm differenziert sich in Dermatom (spätere Haut), Myotom (spätere Muskulatur) und Sklerotom (späterer Knorpel und Knochen). Ernste Defekte der Extremitätenentwicklung rühren aus dieser Zeit. 5. Woche
30.4
Spätere Embryonalphase (3.–8. SSW)
Diese Phase ist durch die Bildung von Organsystemen charakterisiert. Die Zell- und Gewebedifferenzierung findet durch einen komplexen Induktionsmechanismus statt. Dieser besteht darin, dass jeweils bestimmte Gewebezellen ihrerseits pluripotente andere Zellen beeinflussen, die sich in neuartige Zelllinien und Gewebe differenzieren. 3. Woche
Dies ist die erste Woche der Organogenese, während der das 3-schichtige Keimblatt gebildet wird (Ektoderm oder Neural-
Die Handplatte entwickelt sich. Mesenchymale Verdichtungen führen zu den Vorstadien zukünftiger Knochen der Extremitäten (⊡ Abb. 30.6). 6. Woche
Die Strahlen der Hand werden sichtbar, und die Verknorpelung des Mesenchyms der Extremitäten findet statt (⊡ Abb. 30.7). 7. Woche
Einziehungen zwischen den Fingerstrahlen sind sichtbar und differenzieren die Finger. Störungen in dieser Differenzierung kann zur späteren Syndaktylie führen. Rotationsbewegungen der Extremitäten führen in der 7. Woche zur typischen Aus-
⊡ Abb. 30.6 Aus mesenchymalem Vorknorpel bestehende Anlage des Achsen- und Extremitätenskeletts in der 5. Entwicklungswoche
30
926
Kapitel 30 · Entwicklung des Bewegungssystems von der Befruchtung bis zum Neugeborenen
30 ⊡ Abb. 30.7 Segmentale Gliederung der Myotome beim 6 Wochen alten Embryo
coczygeale Myotome
wärtsdrehung des Arms und der Hand, um den Daumen zur Außenseite der Hand zu positionieren, während das Bein und der Fuß einwärts drehen, um die Großzehe zur Mittellinie zu führen. 8. Woche
Die Fingerstrahlen sind komplett getrennt, alle grundlegenden Organsysteme sind angelegt.
30.4.1
Embryonale Entwicklung der Wirbelsäule
Das Achsenorgan entwickelt sich während der Embryonalphase. In einem segmentierenden Prozess (Bildung von Somiten) differenzieren sich in der 4. Woche sklerotomale Mesenchymzellen um die Chorda dorsalis (Notochord) herum, aus denen sich die später die Wirbelkörper bilden, sowie um das Neuralrohr herum für den späteren knöchernen Spinalkanal. Die Wirbelkörper sind dabei intersegmentale Strukturen, die jeweils von benachbarten Somiten ihre Mesenchymzellen erhalten. Zunächst kommt es zur Verknorpelung der mesenchymalen Wirbelmatrix (ab der 18. SSW), die von mehreren Zentren ausgeht. Dann verknöchern die Wirbel über primäre (Abschluss in der Kleinkindphase) und sekundäre Ossifikationszentren (Abschluss nach skelettaler Reifung). Während dieses Prozesses wächst die Wirbelsäule und passt sich damit subtil den Veränderungen des wachsenden Rückenmarks an.
⊡ Abb. 30.8 Spina bifida (Meningomyelozele) im thorakolumbalen Übergang eines Neugeborenen
Kongenitale Defekte sind häufig mit der Wirbelsäule assoziiert (⊡ Abb. 30.8): Kleinere Wirbelbogenschlussstörungen (Spina bifida occulta), zumeist ohne klinische Konsequenzen, werden bei 5–15% der Erwachsenen gefunden. Halbwirbel sind seltener und resultieren aus Formations- oder Segmentationsstörungen während der embryonalen Somitenbildung. Assoziationen finden sich hier häufiger mit dem Urogenitalapparat, seltener mit dem Herz oder/und Verdauungstrakt bzw. mit Extremitätenanomalien.
927 Literatur
30.4.2
Embryonale Entwicklung der Makromoleküle
Das Bindegewebe wird hauptsächlich aus 2 großen Familien von Makromolekülen gebildet: Kollagene und Proteoglykane. Von der dreifachen Protein-Helix-Struktur eines Kollagenmoleküls sind mehr als 10 Typen bekannt, von denen 5 zu den häufigsten gehören: Typ I findet sich ubiquitär in Haut und Sehnen, Typ II im Knorpel und im Nucleus pulposus, Typ III hat eine ähnliche Verteilung wie Typ I, Typ IV in Linse und Niere sowie Typ V hauptsächlich im Knochengewebe. Störungen der Biosynthese des Kollagens wirken sich entweder geringgradig (vermehrte Bandlaxizität) oder massiv (Osteogenesis imperfecta) aus: Typische auf eine derartige Störung zurückzuführende Erkrankungen sind: ▬ Ehler-Danlos-Syndrom Typ I, IV, VI, VII ▬ Osteogenesis imperfecta ▬ spondyloepiphysäre Dysplasie Proteoglykane oder Mukopolysaccharide (Moleküle aus einer Bindung von Proteinen und Glykosaminoglykane) sind der wesentliche Baustein der Knorpelmatrix des intraartikulären hyalinen Knorpels sowie anderer Bindegewebe. Aneinandergereiht an Hyaluronsäuremoleküle bilden sie stark wasserbindende Makromoleküle, die sich zusammen mit Kollagen Typ II eine ideale Oberfläche gelenkbildender Knochenepiphysen darstellen. Mukopolysaccharidspeichererkrankungen (MPS) zeichnen sich durch einen Stau überschießend gebildeter Komponenten (Glykosaminoglykane) dieser Makromoleküle in der Zelle aus, was zu Dysfunktionen oder Zelltod führt. Typische Systemerkrankungen sind MPS Typ I Pfaundler-Hurler und die MPS Typ IV Morquio.
30.5
Fetalphase
Diese Phase ist durch ein schnelles Wachstum und Veränderungen in den Körperproportionen charakterisiert. 9.–12. Woche
Erste Ossifikationszentren in der Knochenmatrix erscheinen. Die oberen Extremitäten nehmen proportionierte Formen an, während die unteren Extremitäten noch kurz bleiben. 13.–20 Woche
Proportioniertes Wachstum der unteren Extremität und Auftreten von Ossifikationszentren in den meisten Knochen . Entwicklung synovialer Gelenke aus Spalten im Mesenchym. 20.–40. Woche
Starkes Größenwachstum des Fetus, dementsprechend gelegentlich skelettale Deformationen aufgrund von Platzmangel in utero, verringerte Fruchtwassermenge (Oligohydramnion) oder Lageanomalien des Fetus (Steißlage): Sichelfuß (Metatarsus adductus), Hackenfuß (Pes calcaneovalgus), Schiefhals- und Säuglingsskoliose sowie überstreckbare Knie und Hüftreifungsverzögerungen mit insgesamt weitgehend guter Prognose.
30.6
Säuglingsphase bis Abschluss der Pubertät
Die vielfältigen Fehlentwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Abschnitte des Bewegungssystems finden sich in Kap. 32.
Literatur Moore KL, Persaud TVN: The Developing Human; 7th Ed. Saunders 2003
30
31
Kinderorthopädische Untersuchung J. Matussek
31.1
Rolle des Arztes – 930
31.2
Anamnese – 930
31.3
Körperliche Untersuchung – 930
31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7
Erhebung eines Gesamteindrucks – 930 Wirbelsäule – 931 Untere Extremitäten – 931 Hüfte – 932 Knie – 933 Oberes Sprunggelenk und Fuß – 934 Obere Extremitäten – 934
Literatur
– 935
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_31, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
930
Kapitel 31 · Kinderorthopädische Untersuchung
Die sorgfältige kinderorthopädische Untersuchung stellt den wichtigsten Schritt in der Betreuung des jungen Patienten dar. Eine umsichtige Untersuchung führt zu einer optimalen Behandlung des Kindes, einem Vertrauensgewinn auf Seiten der Eltern und resultierend zu einem positiven Feedback für den betreuenden Arzt.
31.1
31
Rolle des Arztes
Da die meisten Kinder, die über ihre Eltern und Hausärzte in der Sprechstunde vorgestellt werden, keiner besonderen Behandlung bedürfen und »normal« sind, fällt dem Kinderorthopäden folgende Rolle zu: ▬ Schaffung einer kinderfreundlichen Umgebung, in der altersentsprechend eine angenehme Atmosphäre entsteht, um so das für die Untersuchung notwendige Vertrauen zu erlangen (patientenzentrierte Betreuung) ▬ Kalkulation genügender Konsultationszeit auch für die Eltern zur Erklärung von Krankheitsbildern und der natürlichen Entwicklungsgeschichte von primär unklaren Erscheinungen ▬ Erforschung der wahren Problemkonstellation: Liegt das Problem bei den Eltern oder beim Kind? Wie wird die Problematik von den Eltern, wie vom Kind geschildert? ▬ Kindgerechte Untersuchungstechniken: beim Kleinkind auf dem Schoß der Mutter, beim älteren Kind in der Spielecke oder auch auf dem Flur, beim behinderten Kind möglichst auf einer Turnmatte bodennah, ggf. in engem Kontakt mit dem Elternteil; bei Ängstlichkeit des Kindes möglicherweise spielerische Untersuchung des älteren Geschwisters oder eines Elternteils ▬ Ausschluss relevanter pathologischer Entwicklungen ▬ Aufklärung über Variationen des Normalen ohne Zwang einer sofortigen definitiven Diagnose
31.2
Anamnese
Jede Erhebung der Problemlage sollte mit der Befragung der Eltern bezüglich Beginn, Dauer und Schwere der Erkrankung (»der Besonderheit«, »der Veränderung«) des Kindes beginnen. Es sollte die Frage gestellt werden, ob sich der Zustand schrittweise verschlechtert oder momentan gerade wieder bessert. Die Beschreibung eines Schmerzes und sein genauer regionaler Entstehungsort sollte so exakt wie möglich eingefordert werden. Von Interesse sind die genauen Lebensumstände des Kindes einschließlich einer präzisen Bewegungs- und Sportanamnese. Auch sollten bereits durchgeführte Behandlungen und etwaige positive Effekte dargestellt werden. In der Schwangerschaftsanamnese müssen erfragt werden: Erkrankungen in der frühen Schwangerschaft, Lagebesonderheiten des Kindes (Steißlage, Stirnlage etc.) und im Besonderen Frühgeburtlichkeit bzw. Geburtsbesonderheiten, Aufenthalte auf Intensivstationen, postpartale Gelbsucht des Kindes.
⊡ Tab. 31.1 Meilensteine der motorischen Kindesentwicklung Entwicklungsmeilensteine
Alter
Rotation um die Körperachse (»sich drehen«)
6 Monate
Selbstständiges Sitzen
9 Monate
Sich an Gegenständen hochziehen
12 Monate
Alleine gehen
15 Monate
Sicheres Rennen
24 Monate
Hüpfen im Einbeinstand
5 Jahre
Die Familienanamnese gibt Aufschluss über hereditäre Faktoren der präsentierten Problematik: Insbesondere Auffälligkeiten bei Geschwistern des betroffenen Kindes sind zu erfragen. Eheschließungen innerhalb der Familie sind bezüglich gewisser rezessiver Vererbungsmuster von Interesse, genauso Besonderheiten bei früheren Narkosen anderer Familienmitglieder (Blutungsproblematiken). Tipp
I
I
Die Sozialanamnese hilft bei der realistischen Einschätzung psychosomatischer Komponenten, insbesondere bei Verdacht auf eine nicht-organische Erkrankung.
Die Impfanamnese, z. B. bezüglich Poliomyelitis bzw. Haemophilus influenzae B, kann von Interesse sein. Die Wachstumsbeurteilung des Kindes schließlich hilft bei der Einschätzung einer normalen oder retardierten Entwicklung: Hier sind die Größenverhältnisse der Kindergruppen beispielweise im Kindergarten oder in der Schule im Verhältnis zu dem kleinen Patienten relevant. Die Größe der Eltern und etwaiger Geschwister ist zu registrieren. Die Menarche beim Mädchen ist ein wichtiger Meilenstein in der letzten Wachstumsphase vor Erreichen der Skelettreife (ca. 2–2,5 Jahre nach der ersten Monatsblutung). ⊡ Tab. 31.1 gibt einen Überblick über die motorische Entwicklung.
31.3
Körperliche Untersuchung
In diesem Abschnitt werden allgemeine Untersuchungstechniken besprochen, während regionale Besonderheiten in den Kap. 32–35 beschrieben werden.
31.3.1
Erhebung eines Gesamteindrucks
Zunächst hilft der Gesamteindruck dem Untersucher, systemische orthopädische Probleme nicht zu übersehen: Der erste Eindruck des sich spielerisch bewegenden Kindes (in Unterwäsche) hilft, das spezifische lokale Problem besser zu verstehen. Wenn es um Plattfüße geht, mag eine allgemeine Gelenklaxität von Interesse sein; wenn es um Hohlfüße geht, muss
931 31.3 · Körperliche Untersuchung
zunächst auch die Rückenbeweglichkeit mitbeurteilt werden (dysraphische Fehlbildungen). Steht das Becken schief, kann eine versteckte Skoliose im Hintergrund stehen. Ein Innenrotationsgangbild folgt zumeist bestimmten Gesetzmäßigkeiten von Rotation und Version verschiedener Abschnitte der unteren Extremitäten. Die allgemeine Haltung des Kindes ist zu beurteilen, Dysproportionen und Asymmetrien sind festzustellen.
Orientierende neurologische Untersuchung
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Krafttest Gefühl für Berührung, Vibration, Position Sehnen- und Hautreflexe Plantarreflex (Babinsky-Test) Gowers-Test
Der Plantarreflex durch Reizung der Fußsohle (häufig durch eine Fluchtreaktion beantwortet) führt bei Kindern bis spätestens zum 18. Monat zu einer Dorsalextension der Großzehe (Babinsky-Test). Sollte dies auch beim älteren Kind auftreten, ist das als abnormal zu werten. Zusammen mit einer Veränderung des Muskeltonus kann ein abnormaler Plantarreflex ein Indiz für eine infantile Zerebralparese sein. Ein positives Gowers-Zeichen liegt dann vor, wenn ein Kind ab dem 4. Lebensjahr aus der liegenden Position sich nur unter Zuhilfenahme stützenden Händedrucks auf Knie- und Oberschenkel in die Vertikale aufrichten und dort stabilisieren kann. Dies spricht für eine Schwäche der proximalen Muskelgruppen, z.B. bei Muskeldystrophie Duchenne.
Beurteilung des Gangbild
▬ Abnormale Bewegungen der oberen Extremitäten (Ver▬ ▬ ▬ ▬ ▬
minderung des Armschwungverhaltens) als Zeichen für Trauma oder infantile Zerebralparese Feststellung athetoider (»schlangenförmiger«) oder spastischer Bewegungen Grad des Einwärts- oder Auswärtsdrehens der Füße Grad des Spitzfußgehens Beurteilung des Abrollverhaltens des Fußes Beurteilung des Einbeinstands und Einbeinhüpfens als motorischer Globaltest ab dem 5. Lebensjahr
Asymmetrien der Bewegung der unteren Extremitäten werden als Hinken bezeichnet. Ursachen können Schmerz, Verkürzung oder Instabilität des Becken-Hüft-, Knie- oder Sprunggelenkkomplexes sein. Typische Ursachen sind: ▬ Hinken durch steifes Knie ▬ Hinken durch schwachen M. quadriceps mit Genu recurvatum und fixiertem Spitzfuß ▬ Hinken durch fixierten oder dynamischen (passiv korrigierbaren) Spitzfuß ▬ Hinken durch Fallfuß bei Fußheberschwäche mit typischem »Storchen-« oder »Steppergang«
31.3.2
Wirbelsäule
Beim aufrecht stehenden Kind wird durch eine 360°-Umrundung ein Eindruck der physiologischen Verkrümmungen in der Sagittalebene gewonnen, während für die Frontalebene von vorne und hinten eine weitgehende Symmetrie zu erwarten ist. Durch ein Vorneigen des Kindes bei durchgestreckten Knien und eine Peilung entlang der Dornfortsätze lassen sich abnorme Rotationen der Wirbelkörper und mit ihnen ein asymmetrischer Lendenwulst bzw. eine Rippenvorwölbung (»Rippenpacket« oder »Rippenbuckel«) feststellen. Ein Lot sollte vom Dornfortsatz C7 bis zum Sakrum gefällt werden. Abnorme Behaarungen oder Pigmentierungen über den Dornfortsätzen (angeborene Spinalkanaldeformierungen) interessieren ebenso wie die fleckförmigen Pigmentstörungen (»Cafe-au-lait«-Flecke: Größe und Anzahl weisen auf eine Neurofibromatose hin). Bei den dynamischen Untersuchungen interessieren die Bewegungsausmaße, v. a. bei Vornüberneigung (FingerspitzenBoden-Abstand) und etwaige Störungen der Seitneigung. Zu beobachten ist, ob sich alle Abschnitte der Wirbelsäule richtig entfalten oder ob hier segmentale Hypomobilitäten insbesondere im Lendenwirbelsäulen-Becken-Bereich auftreten: Eine reflexartige Hypomobilität der LWS, des Beckens und der Kniebeuger durch meist intraspinale Prozesse tritt gerade bei Kindern und Jugendlichen als Hüft-Lenden-Strecksteife (»fixed lumbar lordosis«) weitgehend schmerzfrei auf: Klinisch lassen sich diese Kinder im Liegen wie ein Brett an den Füßen hochheben (»Brettsyndrom«). Beim Gehen zeigt sich in diesem Fall der typische Schiebegang mit nach dorsal rotiertem und hypomobilem Becken, fixierter LWS (meist in Steilstellung) und harter paravertebraler Muskulatur. Ein mobiles Wirbelgleiten im lumbosakralen Übergangsbereich kann durch einen Gefügesprung entlang der Dornfortsätze zwischen dem 4. und 5. Lendenwirbeldornfortsatz beobachtet werden (»Skischanzenzeichen«).
Mögliche Symptome im Bereich der kindlichen Wirbelsäule
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
31.3.3
Hüftlendenstrecksteife Brettsyndrom Skischanzenzeichen »Cafe-au-lait«-Flecken Schiebegang Lendenwulst und Rippenpaket (»Buckel«)
Untere Extremitäten
Trendelenburg-Test ▬ Ziel: Feststellung der Effektivität der Hüftgelenksabduktoren und der Stabilität des Hüftgelenks. ▬ Durchführung: Das Kind steht im Einbeinstand, der Untersucher beobachtet das Becken von dorsal. ▬ Negativer Test: Das Becken bleibt horizontal im Raum oder hebt sich leicht auf der Seite des Schwungbeins.
31
932
Kapitel 31 · Kinderorthopädische Untersuchung
▬ Positiver Test: Das Becken senkt sich auf der Schwungbeinseite, der Oberkörper sucht Stabilität durch Verlagerung über das Standbein (Duchenne-Zeichen). ▬ Interpretation: positiv bei Hüftgelenkinstabilität, Hüftschmerz, Schwäche der Hüftabduktoren oder Schenkelhalsverkürzung.
Brettchentest ▬ Ziel: Vermessung von Beinlängenunterschieden, Untersuchung von fixierten oder dynamischen Beckenasymmetrien. ▬ Durchführung: Der Untersucher steht hinter dem Kind und palpiert die posteriosuperioren Spinae iliacae (behelfsmäßig die Beckenkämme). Brettchen werden unter der offensichtlich verkürzten Seite bis zur Horizontalisierung unterfüttert. ▬ Störung des Tests: fixierte Kontrakturen eines oder mehrerer Gelenke der unteren Extremität ▬ Interpretation: Vermessung des wahren Beinlängenunterschieds.
Vermessung der anatomischen Beinlänge
31
▬ Ziel: Vermessung von Beinlängenunterschieden mit Maßband bei fixierten Kontrakturen. ▬ Durchführung: Das Kind liegt auf dem Rücken auf der Liege. Das gesunde Bein wird zum einen normal, zum anderen in der gleichen Position wie das kontrakte, »verkürzte« Bein gelagert. Messung mit dem Maßband von der anterosuperioren Spina iliaca bis zur Spitze des medialen Malleolus beidseits. Alternativ Messung vom Bauchnabel zur Spitze des medialen Malleolus beidseits. ▬ Interpretation: Feststellung des Ausmaßes des »wahren« und des »funktionellen« Beinlängenunterschiedes. Bei einseitigen Hüftadduktionskontrakturen ist das Bein funktionell kürzer, bei Abduktionskontrakturen ist das Bein funktionell länger.
Galeazzi-Test ▬ Ziel: Feststellung des Ortes der Verkürzung im Falle einer echten Beinverkürzung (Unter- oder Oberschenkel). ▬ Durchführung: Das Kind liegt auf dem Rücken, die Hüften und Knie werden rechtwinkelig gebeugt gehalten. Dann wird tangential über die Patellae gepeilt, ob die Oberschenkel gleich lang sind. Das Kind wird danach auf den Bauch gedreht, Hüften gestreckt, Knie rechtwinkelig gebeugt, Füße rechtwinkelig im OSG gehalten, um dann tangential über die Fersen zu peilen. ▬ Interpretation: Differenzierung der jeweiligen Anteile, den Ober- und Unterschenkel an der Gesamtbeinverkürzung haben.
Test des Rotationsprofils ▬ Ziel: Feststellung altersentsprechender oder pathologischer Torsionen zwischen Hüftgelenk und Fuß. ▬ Durchführung: – Fußprogression: Beschreibung der Zeigerichtung des Fußes während des Gehens in Relation zum Gesamtbein. Dies entspricht dem Winkel zwischen der Beinachse
beim Stehen und Gehen und dem Abweichen der Fußachse aus dem nach vorne zeigenden Richtungsvektor. – Fußachse: In Rückenlage wird der kindliche Fuß vorsichtig im Sprunggelenk in die Normal-Null-Position bewegt und das etwaige Vorliegen eines Sichelfußes (Metatarsus adduktus, Pes adduktus) festgestellt. – Oberschenkelfußachse als Maß der Tibiatorsion: In Bauchlage bei 90° gewinkeltem Knie wird in gehaltener Ruhestellung des Fußes (Normal-Null-Position) der Winkel zwischen imaginärer Oberschenkelachse und Fußachse in der Sicht von oben bestimmt. – Transmalleoläre Achse: Im Sitzen mit 90° gebeugtem und angenäherten Knien wird die transmalleolären Achse durch Palpation der Knöchel festgestellt. Der Außenknöchel liegt normalerweise um 20° nach hinten versetzt. Eine Transmalleolarachse, die z. B. in gleicher Ebene mit der Frontalachse steht, indiziert eine Tibiaeinwärtsdrehung von 20°. – Rotationsprofil der Hüften: In Bauchlage werden die Knie approximiert und 90° gebeugt, dann die Unterschenkel nach außen fallen gelassen (Hüftinnenrotation) bzw. nach innen bewegt (Hüftaußenrotation). ▬ Interpretation: Diese Tests geben bei einwärts oder auswärts gedrehtem Gehen Aufschluss darüber, ob die Abnormalität in Femur, Tibia oder Fuß zu suchen ist.
31.3.4
Hüfte
Globaler Abspreiztest (Säugling) ▬ Ziel: orientierende Feststellung der Abspreizbeweglichkeit der Säuglingshüfte als sensibler Test für eine Hüftdysplasie mit beginnender Kopfdezentrierung. ▬ Durchführung: Der Test erfolgt in Rückenlage des Säuglings mit 90° Beugung von Hüften und Knien, wobei der Untersucher mit seinen Handflächen die Knie umfasst, sodass die Zeigefinger auf den großen Trochanteren und die Daumen auf den kleinen Trochanteren zu liegen kommen. Vorsichtige Abspreizung und Feststellung einer möglichen Seitenungleichheit. Beobachtung asymmetrischer Weichteilverhältnisse, auch in Bauchlage. ▬ Interpretation: In den ersten 14 Lebenstagen ist eine Abspreizung bis 90° beidseits möglich. Bis zur 12. Lebenswoche erfolgt eine physiologische Reduktion der Abspreizung auf ca. 75° beidseits. Abspreizdefizite auf einer Seite sind immer Zeichen einer Hüftgelenkunreife oder anderweitigen Pathologie.
Ortolani- oder Barlow-Test (Säugling) ▬ Ziel: Feststellung einer dysplastischen Hüftgelenkspfanne mit (Sub-)Luxierbarkeit des Hüftkopfes und späterer Reposition beim jungen Säugling (Durchführung nur, wenn sonographische Geräte fehlen). ▬ Durchführung: In Rückenlage des Säuglings werden Hüfte und Knie 90° gebeugt, wobei der Untersucher mit seinen Handflächen die Knie umfasst, sodass die Zeigefinger auf den großen Trochanteren und die Daumen auf den kleinen
933 31.3 · Körperliche Untersuchung
Trochanteren zu liegen kommen. In Adduktionsstellung der Hüften wird nun auf der zu prüfenden Seite axial Druck über das Kindesknie in Richtung Liege ausgeübt und parallel dazu langsam die Hüfte abgespreizt. Der zuvor dislozierte Hüftkopf springt unter der Abspreizung mit einem fühlbaren Schnappen (unter den Fingern des Untersuchers) in die Pfanne zurück. ▬ Interpretation: Luxierbarkeit des Hüftkopfes spricht für eine azetabuläre Unreife (Dysplasie) mit allen ihren Konsequenzen. ! Cave In der Neugeborenenphase bis zum 14. Lebenstag können auch gesunde Hüften einen positiven Test bieten.
Thomas-Test (Kinder und Jugendliche) ▬ Ziel: Feststellung fixierter (Beuge-)Kontrakturen. ▬ Durchführung: Um eine Seite zu prüfen, ist die jeweils andere Seite im Hüftgelenk maximal zu beugen. Parallel wird geprüft, ob die LWS flach auf der Untersuchungsliege zu liegen kommt. Der zu prüfende Oberschenkel sollte flach auf der Liege verbleiben; hebt er sich ab, liegt eine fixierte Beugekontraktur vor. ▬ Interpretation: Die Beugekontraktur der Hüfte ist ein Kardinalsymptom für eine Vielzahl von Erkrankungen der Hüfte und wichtige Ursache für posturale Fehlstellungen der Lendenwirbelsäule (Hohlkreuz).
Hüftbeweglichkeitstest in allen Raumebenen (Kinder und Jugendliche) ▬ Ziel: Feststellung anderweitiger Fehlbewegungen und Kontrakturen. ▬ Durchführung: In Rückenlage werden unter Fixierung des Beckens (Palpation der Spinae iliacae) Beugung, Streckung, Abspreizung und Anspreizung sowie Rotation geprüft. Abspreizung der zu untersuchenden Seite gelingt am besten unter gleichzeitiger maximaler Abspreizung der Gegenseite. ▬ Interpretation: Erkrankungen mit Hüftgelenkerguss und erheblicher Irritabilität verlieren zuerst die Fähigkeit der Einwärtsdrehung und der Abduktion in 90° Hüftbeugung.
▬ Durchführung: In bequemer Seitlage wird das Hüftgelenk bei Beugung des Kniegelenks überstreckt. Der Untersucher rotiert das Hüftgelenk mithilfe des Unterschenkels und adduziert gleichzeitig in der Hüfte. Dabei wird die Trochanterregion betastet und ein ggf. schmerzhaftes Schnappphänomen festgestellt. ▬ Interpretation: Bei schmerzhaftem Schnappen des Tractus über dem Trochantermassiv in Adduktion und Rotation ist eine adäquate Therapie einzuleiten.
31.3.5
Knie
Leitsymptom Schwellung Unterscheidung zwischen lokalisierter Schwellung (z. B. M. Osgood-Schlatter) und generalisierter Schwellung (z. B. reaktive oder septische Arthritis). Gelenkergüsse zeigen sich durch Vorwölbung des suprapatellaren Rezessus (kräftiger Erguss) oder durch Vorwölbung nur der kollateralen Rezessus (geringerer Erguss). Test der »tanzenden Patella«. Hierbei streicht der Untersucher kraniokaudal den Inhalt des oberen Rezessus unter die Patella aus und prüft mit dem anderen Zeigefinger durch Andruck die »weiche Polsterung« der Patella aufgrund etwaiger intraartikulärer Ergussflüssigkeit.
Leitsymptom Achsendeformität Beim Gehen sind Achsenabweichungen in der Frontalebene (Varus/Valgus) und in der Sagittalebene festzustellen (z. B. Beugekontrakturen). Ein gesundes 2-jähriges Kind hat meist ein leichtes Genu varum; ein gesundes 4-jähriges Kind neigt zu einem Genu valgum. Beim Ausgewachsenen zeigt sich ein Genu valgum von ca. 5–10°.
Patellastabilitätstest ▬ Ziel: Feststellung einer Instabilität im Femoropatellargelenk oder einer Patellalateralisation. ▬ Durchführung: Lateraldruck gegen die Patella in Extension, um dann das Knie langsam zu beugen. ▬ Interpretation: Unangenehme Gefühle sind als normal zu werten, Gegenwehr gegen die Beugung spricht für einen positiven Test mit Instabilität und entsprechenden Schmerzen.
Hüftinstabilitätstest nach Tschauner (Jugendliche) ▬ Ziel: Feststellung azetabulärer Dysplasien mit Irritation des Pfannenrands und ggf. Labrum-acetabulare-Läsionen beim Jugendlichen bei spät erkannter Hüftdysplasie. ▬ Durchführung: In Rückenlage werden die Hüfte und das Knie 90° gebeugt, dann die Hüfte 20° einwärts rotiert und adduziert. Der Untersucher übt axialen Druck auf das Knie in Richtung Liege aus. Der Test gilt bei Schmerzen in der Leistenregion als positiv. ▬ Interpretation: positive Tests bei azetabulären Dysplasien mit Pfannenrand- und Labrumüberlastungen.
Test der »Schnappenden Hüfte« (Jugendliche) ▬ Ziel: Feststellung eines Schnappphänomens (Coxa saltans) eines straff gespannten Tractus iliotibialis über wachsenden Trochantermassiven mit Schleimbeutelirritation.
Zohlen-Test ▬ Ziel: Feststellung von patellofemoraler Chondromalazie oder schmerzhafter Krepitation. ▬ Durchführung: manueller Andruck der Kniescheibe bei Aufforderung, den Quadrizepsmuskel anzuspannen. ▬ Interpretation: positiv bei atypischer Knorpelkonsistenz (Chondromalacia patellae) oder bei Patellalateralisation.
Stabilitätstest des Kreuzband- und Kollateralbandapparats ▬ Ziel: Feststellung von Bandinstabilitäten. ▬ Durchführung: – Lachman-Test: in 20° Kniebeugung Durchführung einer Schubladenbewegung des Tibiakopfes nach vorne und hinten.
31
934
Kapitel 31 · Kinderorthopädische Untersuchung
– Kollateralbandtest: in 20° Kniebeugung Valgus- und Varusstress. ▬ Interpretation: Abnormale Bewegungen in anteroposteriorer Richtung haben entweder angeborene Defizienzen der Kreuzbänder als Ursache (z. B. bei proximaler fokaler Femurverkürzung oder Kreuzbandaplasie) oder sind beim älteren Kind und Jugendlichen traumatisch bedingt. Kollateralbandinsuffizienzen sind häufig bei angeborenen Achsendeformitäten zu finden.
31.3.6
Oberes Sprunggelenk und Fuß
Deformitäten des Fußes können mit 10 Kriterien beschrieben werden: ▬ Sprunggelenk in Hacken- oder Spitzfußstellung ▬ Subtalargelenk in Varus- oder Valgusstellung ▬ Längsgewölbe in Planus- oder Exkavatusstellung ▬ Vorfuß in Abduktions- oder Adduktionsstellung ▬ Vorfuß in Einwärtsdrehung (Pronation/Eversion) oder in Auswärtsdrehung (Supination/Inversion)
31
Die Untersuchung erfolgt nach folgenden Grundsätzen: ▬ Die Tendenz zur Valgusstellung der Ferse bei Belastung des Fußes ist normal. ▬ Je jünger das Kind, desto »plattfüßiger« das normale Gangbild (bedingt auch durch Fußsohlenfett). ▬ In der ersten Lebensdekade richtet sich das Längsgewölbe des Fußes durch zunehmende Muskelkraft zur Form des Erwachsenenfußes auf. ▬ Die Sohlenregionen mit unterschiedlicher Hautkonsistenz indizieren die typische Belastung des Fußes. ▬ Das Abschleifmuster der Schuhsohlen lang getragener Schuhe zeigt ebenso wie Verformungen des Schuhaufbaus einen aufsummierten »Fingerabdruck« der Fußfunktion. ▬ Muskelimbalancen sind häufig Ursache für Fußdeformitäten: Die Peronealmuskulatur ist häufig schwach bei sog. neuropathischen Füßen.
findet eine Aufrichtung des Längsgewölbes und eine Varusbewegung der Ferse statt. – Blickrichtung von der Seite auf das Längsgewölbe: Hebung des großen Zehs in Dorsalextension und Feststellung der nun stattfindenden Längswölbung des Fußes. – Längsgewölbetest nach Matussek: Aufforderung an das Kind, sich auf ein Bein zu stellen; Platzierung der Finger des Untersuchers unter das Längsgewölbe und Palpation des Os naviculare in der Mitte des Längsgewölbes. Bei einem nicht korrigierbaren Plattfuß wird das gesamte Körpergewicht auf die Finger des Untersuchers übertragen. Im Gegensatz dazu ergibt sich beim haltungsschwachen Fuß trotz Vollbelastung des Fußes nur ein geringer Druck auf Höhe des Os naviculare. – Brettchentest nach Coleman: Ein dickerer Holzblock (2 cm) wird schräg unter dem Fuß positioniert, sodass Ferse und Metatarsale V auf dem Block stehen, Metatarsale I hingegen auf den Untergrund fällt. Bei fixierter Vorfußpronation (z. B. beim Ballenhohlfuß mit Fersenvarus und fixierter Vorfußpronation bei der CharcotMarie-Tooth-Erkrankung [HMSN Typ I]) korrigiert sich der Rückfuß zur Normalität oder zur leichten Valgusstellung. Beim Klumpfuß oder fixierten Plattfuß ergibt sich keine Korrektur. ▬ Interpretation: Kongenitale Plattfüße ebenso wie Füße mit tarsalen Koalitionen richten sich nicht im Zehenspitzenstand auf. Sie müssen behandelt werden. Flexible, schmerzfreie Knick-Senk-Füße oder Plattfüße in der ersten Lebensdekade können beobachtet werden (Sporttherapie). Später erfolgt bei weiter bestehender Fehlstellung eine operative Korrektur oder alternativ lebenslange Einlagenbzw. Fußorthesenversorgung zur Schmerzprophylaxe. Bei neuromuskulären Erkrankung (infantile Zerebralparese, Spina bifida, HMSN Typ I) erfolgt im Allgemeinen zu allen Wachstumszeiten eine Einlagen- bzw. Fußorthesenversorgung, gelegentlich auch eine operative Korrektur.
31.3.7
Obere Extremitäten
Typische Ätiologie für Fußdeformitäten
Schulter
▬ Strukturell: Klumpfuß ▬ muskulär: Muskeldystrophie Duchenne ▬ periphere Neuropathie: hereditäre motorisch-sensible
▬ Schulterkonturen: Feststellung von Osteochondromen des proximalen Humerus; Feststellung eines »Schulterflügelfells« (Pterygium collis), eines tiefen Nackenhaaransatzes; Feststellung asymmetrischer Skapulae bei der SprengelDeformität mit ggf. tastbaren Os omovertebrale am seitlichen Nacken; Feststellung tastbarer Klavikuladefekte oder Verkürzungen, ggf. Pseudarthrosen. ▬ Schulterbeweglichkeit: Feststellung der Beweglichkeit im glenohumeralen und skapulothorakalen Gelenk durch intermittierende Stabilisierung der Skapula; Feststellung aktiver und passiver Beweglichkeit. ▬ Schulterstabilität: Feststellung der vorderen und hinteren Stabilität des Humeruskopfes im Gelenk durch Druckausübung; Feststellung der vorderen Schulterinstabilität durch vorsichtige Forcierung der Abduktion und Außenrotation (Apprehension-Test).
Neuropathie (HMSN)
▬ Nervenwurzel: spinale Dysraphie (Spina bifida) ▬ zentrale Neuropathie: infantile Zerebralparese
Test auf Knick-Senk-Fuß und Plattfuß ▬ Ziel: Unterscheidung zwischen haltungsschwachem oder haltungsinsuffizientem Knick-Senk-Fuß und fixiertem Plattfuß. ▬ Durchführung: – Blickrichtung von hinten auf die Füße des stehenden Kindes: Feststellung des flachen Längsgewölbes und der Fersenvalgusstellung. Aufforderung zum Zehenspitzenstand: Bei guter Kraft und Flexibilität im Subtalargelenk
935 Literatur
Ellenbogen ▬ Ellenbogenkonturen: Feststellung von Schwellung und Deformitäten; Feststellung von Abweichungen des normalen Ellenbogenvalguswinkels von 10–15° in maximaler Extension (»Tragewinkel«). ▬ Ellenbogenpalpation: Feststellung von schmerzhaften Regionen im Bereich der Kondylen und des Olekranons; Feststellung der Form und Beweglichkeit des Radiusköpfchens. ▬ Ellenbogenbeweglichkeit: Feststellung normaler Umwendbewegungen des Unterarms (Defizite bei radioulnärer Synostose) sowie von Beugung und Streckung (Beugedefizite bei alter Monteggia-Fraktur oder kongenitaler Radiusköpfchenluxation).
Handgelenk ▬ Handgelenkkonturen: Feststellung von generalisierten oder lokalisierten Schwellungen; Feststellung eines palpablen, sichtbaren Ellenköpfchens (Madelung-Deformität). ▬ Handgelenkbeweglichkeit: Feststellung einer Hyperlaxizität des Kapsel-Band-Apparats.
Hand ▬ Allgemeiner Handaspekt: Feststellung einer generalisierten Erkrankung mit typischer Handmanifestation (Arachnodaktylie bei Marfan-Syndrom, Clinodaktylie, Syndaktylie, Kamptodaktylie etc. bei kongenitalen Syndromen; Abschn. 32.3). ▬ Allgemeine passive und aktive Beweglichkeit: Feststellung einer möglichen Hyperlaxizität oder Hypomobilität der Finger. ▬ Allgemeine neurologische Handuntersuchung: Bewegungsfunktionen, Schweißsekretionsmuster
Literatur Broughton NS (ed.) (1997) A textbook of paediatric orthopaedics (from the Royal Children‘s Hospital Melbourne). London: Saunders Hefti F (2006) Kinderorthopädie in der Praxis. Heidelberg: Springer Staheli LT (2002) The Practice of Pediatric Orthopaedics. Lippincott Williams & Wilkins
31
32 Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane J. Matussek
32.1
Wirbelsäule und Thorax
32.1.1 32.1.2
Entwicklung und Terminologie – 938 Thoraxformvarianten: Trichter- und Kielbrust – 940 Diagnostik – 940 Differenzialdiagnose kindlicher Rückenschmerz – 942
32.1.3 32.1.4
32.2
Hals und Schulter
– 938
32.4
Kindliches Hüftgelenk
32.4.1 32.4.2 32.4.3
Hüftgelenksdysplasie – 954 Morbus Perthes – 961 Epiphyseolysis capitis femoris – 967
32.5
Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität – 970
32.5.1
Differenzialdiagnose kindlicher Beinschmerz – 970 Differenzialdiagnose Hinken – 971 Achsendrehfehler der unteren Extremitäten – 972 Beinlängendifferenzen – 976 Frontale Beinachsenabweichungen – 983
– 942
32.2.1 32.2.2 32.2.3
Entwicklung – 942 Diagnostik – 943 Differenzialdiagnose kindlicher Nackenschmerzen – 943 32.2.4 Schiefhals – 943 32.2.5 Sprengel-Deformität – 946 32.2.6 Klippel-Feil-Syndrom – 946 32.2.7 Klavikulapseudarthrose – 946 32.2.8 Habituelle Schulterluxationen – 947 32.2.9 Geburtstraumatische Lähmungen – 947 32.2.10 Atlantoaxiale Instabilität – 947
32.3
Oberarm, Unterarm und Hand – 947
32.3.1 32.3.2 32.3.3 32.3.4 32.3.5 32.3.6 32.3.7 32.3.8 32.3.9 32.3.10 32.3.11 32.3.12 32.3.13 32.3.14 32.3.15 32.3.16
Entwicklung – 947 Angeborene Defekte – 947 Diagnostik – 948 Longitudinale Fehlbildungen – 948 Transversale Fehlbildungen – 950 Radioulnare Synostose – 950 Radiusköpfchenluxation – 951 Radiale Klumphand – 951 Ulnare Klumphand – 952 Syndaktylie – 952 Polydaktylie – 952 Fingerverbiegungen – 952 Makrodaktylie – 953 Schnellender Finger – 953 Madelung-Deformität – 953 Osteonekrosen – 954
32.5.2 32.5.3 32.5.4 32.5.5
– 954
32.6
Knie und Schienbein – 986
32.6.1 32.6.2 32.6.3 32.6.4 32.6.5 32.6.6 32.6.7 32.6.8 32.6.9
Entwicklung – 986 Diagnostik – 987 Extraartikuläre Knieschmerzen – 988 Intraartikuläre Knieschmerzen – 989 Patellaluxation – 991 Chondromalacia patellae – 994 Poplitealzysten – 994 Unterschenkelverkrümmungen im Kleinkindesalter – 994 Tibiapseudarthrose – 995
32.7
Fuß
32.7.1
Differenzialdiagnose kindlicher Fußschmerz – 996 Zehendeformitäten – 996 Vorfußdeformitäten – 996 Kongenitaler Klumpfuß – 997 Kindlicher Knick-Platt-Fuß – 1005 Ballenhohlfuß – 1009 Zehenspitzengang – 1009
32.7.2 32.7.3 32.7.4 32.7.5 32.7.6 32.7.7
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_32, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
– 996
Literatur
– 1009
938
32.1
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Wirbelsäule und Thorax
Wirbelsäulenprobleme bei Kindern haben das Potenzial zu erheblichen Deformitäten während des weiteren Wachstumsverlaufes und müssen dementsprechend äußerst ernst genommen werden. Rückenschmerzen bei Kindern sind ungewöhnlich und haben häufig eine spezifische Erkrankung als Ursache. Leichte Rumpfasymmetrien dagegen werden häufig in den ersten Wachstumsjahren diagnostiziert, haben aber meist keine Konsequenzen im weiteren Wachstumsverlauf, sofern Progredienzen ausgeschlossen werden können. Spondylolisthesis ( Abschn. 22.2.3), Skoliose ( Abschn. 22.2.4) sowie M. Scheuermann ( Abschn. 22.2.5) werden im Kapitel »Erkrankungen und Verletzungen der Wirbelsäule« beschrieben.
32.1.1
Werte darüber als Hyperkyphose oder Rundrücken bezeichnet. Die lumbale Lordose liegt bei Werten zwischen 20–55°, Werte darunter werden als Hypolordose oder auch Flachrücken, Werte darüber als Hyperlordose oder Hohlrücken bezeichnet (⊡ Abb. 32.4 u. 32.5).
Entwicklung und Terminologie
In der Frontalprojektion sollte die Wirbelsäule während der Wachstumsphase weitgehend gerade sein. Im seitlichen Profil entwickelt sie sich von einer einzigen Großkurve bei Geburt zum bekannten dreifachen Kurvenmuster des Kindes (⊡ Abb. 32.1 u. 32.2). Die Vermessung der physiologischen Verkrümmungen im Sagittalprofil wird im seitlichen Röntgenbild unter Nutzung der jeweiligen Wirbeldeck- und -bodenplatten der die Krümmung begrenzenden Wirbelkörper durchgeführt. Die thorakale Kyphose beträgt zwischen 20 und 40°: Werte darunter werden als Hypokyphose (⊡ Abb. 32.3),
32
⊡ Abb. 32.1 Entwicklung des seitlichen menschlichen Wirbelsäulenprofils vom Säugling bis zum Erwachsenen (Ontogenese)
⊡ Abb. 32.2 Entwicklung des seitlichen Wirbelsäulenprofils bis zum aufrechten Gang (Phylogenese) (Aus: Wottke 2004)
939 32.1 · Wirbelsäule und Thorax
⊡ Abb. 32.3 Hypermobilität der kindlichen Wirbelsäule mit Hyperlordose
a
b
⊡ Abb. 32.4 Geschwisterpaar (zweieiige Zwillinge) mit normalem und hyperlordotischem Wirbelsäulenprofil
⊡ Abb. 32.5a,b Hyperlordose der lumbalen Wirbelsäule bei Hüftbeugekontraktur im Rahmen einer angeborenen epiphysären Hüftdysplasie. a Klinisch, b im Röntgenbild
32
940
32.1.2
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Thoraxformvarianten: Trichter- und Kielbrust
32.1.3
Bei diesem Thoraxformvarianten handelt es sich um symmetrische oder asymmetrische Eindellung (Pectus excavatum) bzw. Anhebung des Brustbeins (Pectus carinatum) meist ohne klinische, aber mit psychosomatischer Relevanz. Eine Indikation zur Operation besteht nur bei Beeinträchtigung der Vitalkapazität oder der kardialen Funktionen, was äußerst selten der Fall ist. Kosmetische Überlegungen sind ggf. relative Operationsindikationen.
▬ ▬ ▬ ▬
Diagnostik
Anamnese klinische Untersuchung Messung der Steh- und Sitzgröße Skoliometermessung nach Goetze (⊡ Abb. 32.6; Abschn. 22.2.4)
▬ Röntgen bei erheblichen Deformierungen ▬ 3D-Oberflächenvermessung des Rückens (Formetric-System; ⊡ Abb. 32.7)
b
32
⊡ Abb. 32.6a–c Klinische Untersuchung der jugendlichen Wirbelsäule. a Lotfällung, b Beckenstand, c Vermessung von Asymmetrien mit dem Skoliometer
⊡ Abb. 32.7 Oberflächenoptometrie (Formetric-System) zur Vermessung der Wirbelsäule
a
c
941 32.1 · Wirbelsäule und Thorax
Anamnese Folgende Fragen sollten zur Anamneseerhebung gestellt werden: ▬ Schwangerschafts- und Kleinkindproblematiken? ▬ Bestehen Schmerzen? Seit wann? ▬ Bisherige Behandlung? ▬ Sportliche Betätigung? ▬ Eintritt der Menarche beim Mädchen? ▬ Sonstige Erkrankungen?
– Druck auf Wirbelkörper, Bogenwurzel und Querfortsätze – »Rippenbuckel«, Lendenwulst, vorderer Thoraxeinziehung oder Thoraxasymmetrien – Haltungsinspektion im Stehen (⊡ Abb. 32.8) – Vorneigetest (Finger-Boden-Abstand) ▬ Mobilität, Seitneigung (⊡ Abb. 32.3) ▬ Körpergröße, Sitz- und Stehgröße ▬ neurologische Untersuchung (orientierend)
Klinische Untersuchung
Bildgebende Verfahren
Die klinische Untersuchung bestimmt folgende Parameter: ▬ Taillendreieck ▬ Beckenposition (⊡ Abb. 32.6) ▬ Asymmetrie: – seitliche Verbiegung, Rotation, Torsion – Verkürzung der Weichteile an der Konkavität
Bei erheblichen Deformierungen ist eine Röntgenaufnahme der gesamten Wirbelsäule (stehend, a.p. und seitlich) oder von Teilabschnitten, des linken Handskeletts (a.p.) zur Bestimmung des Knochenalters sowie ggf. Bending-Aufnahmen sinnvoll. Eine Übersicht über spezifische bildgebende Verfahren bei Wirbelsäulenerkrankungen zeigt ⊡ Tab. 32.1.
a
⊡ Abb. 32.8a,b Evaluation der Haltungsschwäche im Haltungstest nach Matthiass: Beobachtung von Becken, Lendenlordose und Gewichtsverlagerung des Körpers über dem Becken. a Spontan, b nach 30 s
b
⊡ Tab. 32.1 Übersicht über spezifische bildgebende Verfahren bei Wirbelsäulenerkrankungen Bildgebende Technik
Fragestellung
Röntgenbild
a.p., stehend mit Beckenkämmen
Initialaufnahme bei Skoliose
Seitlich, stehend
Initialaufnahme bei Kyphose, Lordose, Skoliose, M. Scheuermann
Lumbal, 2 Ebenen und 45°-Schrägaufnahme
Initialaufnahme bei Spondylolyse, Spondylolisthesis
Kernspintomographie
Spinale Fehlbildungen, Rückenmarksverletzung, Bandscheibenprolaps, Diszitiden, allgemeine Rückenschmerzen
Computertomographie
Frakturen, Tumoren, Fehlbildungen
Szintigraphie
Suchmethode bei unklaren Rückenschmerzen, unklaren Infekten, unklaren Tumoren
32
942
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
32.1.4
Differenzialdiagnose kindlicher Rückenschmerz
Rückenschmerzen sind bei Kindern meist durch eine relevante organische Erkrankung hervorgerufen. Schmerzen werden vom Kind gelegentlich reflektorisch ausgeschaltet oder gemildert,
indem der lumbale Rückenstrecker- und Hüftstreckerkomplex aktiviert wird: Das führt zur Hüft-Lenden-Strecksteife (Brettsyndrom) verschiedenen Ausmaßes, wobei zur Schmerzvermeidung jegliche Flexion der LWS und der Hüftgelenke reflektorisch blockiert wird: Beim Anheben der Beine im Liegen werden Beine und Rumpf starr getreckt angehoben (»wie ein Brett«; ⊡ Abb. 32.9). Thorakolumbale Schmerzen mit Symptomen einer allgemeinen körperlichen Krankheit sprechen für einen entzündlichen Prozess auf Wirbelkörper- oder beim Kleinkind auch auf Bandscheibenebene (⊡ Tab. 32.2).
32.2
Hals und Schulter
Hals und Schulterprobleme beim Kind und Jugendlichen werden in einem Kapitel zusammengefasst, weil beide Regionen entwicklungsgeschichtlich aus den gleichen Somiten abstammen und anatomisch eng verwandt sind. Probleme in diesen Regionen variieren vom leichten, sich selbst heilenden Schiefhals (Torticollis) bis hin zu lebensbedrohlichen Instabilitäten der oberen Halswirbelsäule.
32.2.1
⊡ Abb. 32.9 Hüft-Lenden-Strecksteife (Brettsyndrom) bei pathologischen Prozessen der lumbalen Wirbelsäule
Entwicklung
Während des zweiten Monats der Fetalperiode entwickeln und differenzieren sich die oberen Thorakalsomiten in Hals- und Schulterstrukturen. Der Processus odontoideus, initial der Wir-
32 ⊡ Tab. 32.2 Übersicht über die Ursachen von Rückenschmerzen bei Kindern und Jugendlichen Ätiologie
Körperregion
Erkrankung
Klinik
Labor
Bildgebung
Behandlung
Infektion
Untere thorakale, lumbale Wirbelsäule
Diszitis, Spondylitis
Generalisiert krankes Kind, Fieber, Humpeln, Gehunwilligkeit
Initial BSG erhöht, dann später CRP
Szintigraphie/MRT, später im Röntgen Bandscheibenverschmälerung
Antibiotika, Analgetika, Becken-Bein-Gips
Stressfraktur oder Trauma
L4/L5 oder L5/S1
Spondylolyse, Spondylolisthesis
Rückenschmerz, angedeutete Hüft-LendenStrecksteife
Normal
Röntgenschrägaufnahme: Fraktur/Lyse der Interartikularportion
Intermittiernde Korsettruhigstellung, ggf. Spondylodese
Thorakal, lumbal
M. Scheuermann
Berührungsempfindlichkeit, belastungsabhängiger Rückenschmerz
Normal
Röntgen: Keilform der Wirbelkörper, SchmorlKnoten
Korsettversorgung
Alle Regionen
Osteoidosteom
Nachtschmerz, ASS-Ansprache
Normal
Typisches Szintigramm, MRT, Röntgen
En-bloc-Resektion, Thermoablation
Eosinophiles Granulom (Vertebra plana)
Schmerzen, Rumpfschiefstand
Normal
Röntgen (Vertebra plana)
Medikamentös, selten Korrekturspondylodese
Andere Tumoren
Schmerzen, Rumpfschiefstand, neurologische Ausfälle
Meist normal, Ausnahme Ewing-Sarkom
MRT, ggf. Szintigraphie
Operation
Tumoren
Degeneration
L4/L5 oder L5/S1
Bandscheibenprolaps
Schmerzen, Ischialgie, Rumpfschiefstand, neurologische Ausfälle, HüftLenden-Strecksteife
Normal
MRT
Mikrochirurgische Operation
Arthritis
Thorakal
Rheumatoide (ankylosierende) Spondylitis (M. Bechterew)
Schmerzen, eingeschränkte Beweglichkeit von Wirbelsäule und Thorax
BSG erhöht, HLA-B27 positiv
Szintigraphie, Kalzifizierung der Facettengelenke
Medikamentös, Physiotherapie
Funktionell
Alle Regionen
Hysterie
Schmerz, Deformität, atypisches Muster
Normal
Normal
Psychosomatisch
ASS Acetylsalizylsäure, BSG Blutsenkungsgeschwindigkeit, CRP C-reaktives Protein, HLA humanes Leukozyten-Antigen-System
943 32.2 · Hals und Schulter
belkörper von C1, fusioniert mit dem Wirbelkörper von C2 und erlaubt die Rotationsbewegung der HWS. Folgende Entwicklungsstörungen können auftreten: ▬ Segmentationsstörungen führen zu Wirbelkörperfusionen der HWS (Klippel-Feil-Syndrom) ▬ Störungen der Kaudalbewegung des Schulterblatts (Sprengel-Deformität) ▬ fehlende Fusion der beiden Knochenkerne des Schlüsselbeins (Klavikulapseudarthrose)
32.2.2
Diagnostik
Klinische Untersuchung Kopf, Hals und Schulter sind wegen Anomalitäten und Asymmetrien zu inspizieren. Die Kopfposition sollte aufrecht und vertikal gemäß den vestibulären und okulären Justiermechanismen sein. Eine Schiefhalsposition (Torticollis) muss in 3 Ebenen beschrieben werden: Flexion/Extension, Seitneigung und Rotationsstellung. Die Kopfform muss berücksichtigt werden: Beim Schiefhals tritt häufig ein flacher Hinterkopf (Plagiozephalie), meist kontralateral eine Abflachung der Wange sowie eine Kaudalisierung von Auge und Ohr der ipsilateralen Seite auf. > Die Palpation ist essenziell beim schmerzhaften Hals und Nacken sowie der Schulter des Kindes: Das Punctum maximum ist genau zu bestimmen. Schmerzhaftigkeit des Deltamuskelbereichs entsteht häufig durch Fraktur einer solitären Knochenzyste.
Das normale Bewegungsausmaß von Hals, Nacken und Schultern zeigt eine Rotationsfähigkeit des Kopfes von 90° in beide Richtungen, eine Seitneigung mit Berührung des Ohrs an der Schulter, Inklination mit Berührung des Kinns am Brustbein und Reklination des Kopfes um annähernd 90°. Abweichungen hiervon sind zu dokumentieren. Schulterbewegungen werden im glenohumeralen und im skapulothorakalen Gelenk beobachtet und durch Fixierung des jeweils anderen Gelenks differenziert. Rotationsbewegungen werden über das glenohumerale Gelenk vermittelt und bei am Rumpf angelegten Ellenbogen durch ein- und auswärts Bewegung des gebeugten Unterarms gemessen: Sie betragen normalerweise 90° in beide Rotationsrichtungen. Eine orientierende neurologische Untersuchung ist immer Teil der Gesamtuntersuchung von Halswirbelsäule und Schulter: Subtile motorische Schwächen, sensible Defizite oder Veränderungen der Blasen-Mastdarm-Funktion sind oft erste Zeichen einer oberen zervikalen Läsion. Muskeltestungen des Schulter-Arm-Komplexes zeigen das Ausmaß einer NervenPlexus-Läsion, die schon seit Geburt bestehen kann.
Bildgebende Verfahren Konventionelle Röntgenbilder sind die Standardbildgebung im Hals- und Schulterbereich, ergänzt durch Funktionsaufnahmen in Flexion/Extension und Seitneigung. Ergänzende Bildgebung erfolgt durch Ultraschall und MRT sowie seltener durch CT. Insbesondere das Verhältnis zwischen C1 und C2 ist von be-
sonderer Bedeutung: Instabilitäten in diesem Bereich treten häufig wegen Anomalitäten des Dens axis bzw. des Os odontoideum und den stabilisierenden Bändern auf. Der atlantoaxiale Abstand in Röntgenfunktionsaufnahmen (Inklination/Reklination) gibt hier wertvolle Hinweise: Er beträgt normalerweise nicht mehr als 4 mm bei Kindern.
32.2.3
Differenzialdiagnose kindlicher Nackenschmerzen
Im Gegensatz zu Erwachsenen sind Hals-, Nacken- und Schulterschmerzen bei Kindern ungewöhnlich und haben meist eine organische Ursache (⊡ Tab. 32.3).
32.2.4
Schiefhals
Akuter Schiefhals
Der Schiefhals tritt spontan nach minimalem Trauma oder HNO-Infektion auf, wobei das Schiefhalten des Kopfes letztendlich nicht erklärbar ist: Muskelspasmen infolge der Lym-
⊡ Tab. 32.3 Differenzialdiagnose kindlicher Hals- und Nacken- und Schulterschmerzen Region
Ätiologie
Erkrankung
Hals/ Nacken
Trauma
Atlantoaxiale Subluxation/ Dislokation Fraktur Weichteilverletzung
Infektion
Zervikale Lymphadenitis retropharyngealer Abszess Spondylitis bakterielle Diszitis
Tumoren
Eosinophiles Granulom aneurysmatische Knochenzyste Osteoblastom Hämangiom Osteosarkom intraspinaler Tumor
Neurogen
C1-C2-Instabilität Tumor, Trauma
Idiopathisch
Akuter Schiefhals abakterielle Diszitis mit Kalzifikation atlantoaxiale rotatorische Subluxation (AARS)
Trauma
Schlüsselbeinbruch proximale Humerusfraktur Frakturierte solitäre Knochenzyste
Infektion
Osteomyelitis Schultergelenkarthritis (septisch)
Tumore
Ewing-Sarkom Humeruszysten
Schulter
Radikulär
Nervenwurzelkompression
32
944
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.10a,b Chronisch persistierender Schiefhals. a Chronische rotatorische atlantoaxiale Subluxation mit Schiefhals, b Halodistraktion
a
b
32
a ⊡ Abb. 32.11a,b Schräglagedeformität mit Flachkopf (Plagiozephalus). a Asymmetrie des Hinterhaupts, b Schiefhaltung des Kopfes
phadenitis oder minimale Verschiebungen im Bereich der Facettengelenke der HWS könnten die Ursache sein. Der Kopf dreht sich auf eine Seite und reduziert dadurch die Halsbeweglichkeit. Röntgenbilder der HWS in 2 Ebenen sind schwer zu interpretieren, die Laborwerte sind meist normal. Nach 24–48 h verschwindet das Phänomen zumeist genauso spontan, wie es kam. Als initiales Management empfiehlt sich eine Schanz-Wickelhalskrawatte und Ruhe. Bei Persistenz des Schiefhalses ist eine aggressivere Schmerzbehandlung notwendig. Sollte die Symptomatik über eine Woche anhalten, spricht man von einer rotatorischen Verschiebung
b
oder Subluxation. Um eine permanente Fixation zu vermeiden, ist nach genauer Diagnosestellung durch CT (besser als MRT) eine vorsichtige Glisson-Traktion anzulegen, nur in Ausnahmefällen erfolgen Halodistraktion und offene Revision C1/C2 (⊡ Abb. 32.10). Säuglingsschiefhals
Häufige klinische Assoziationen sind Steißlage, Muskelfibrom des M. sternocleidomastoideus und Plagiozephalus (abgeflachtes Hinterhaupt; ⊡ Abb. 32.11). Gelegentlich lässt sich eine Auftreibung im Halsbereich am M. sternocleidomastoideus tasten.
945 32.2 · Hals und Schulter
a
⊡ Abb. 32.12a,b Torticollis muscularis links. a Vor, b nach der Operation mit klassischem Diademgips in gespiegelter Kopfstellung
b
a ⊡ Tab. 32.4 Zusammenstellung häufiger Torticollisursachen Ätiologie
Kommentar
Muskulär
Häufigste Form
Akut
Normalerweise schnell verschwindend
Okzipitale-zervikale Knochendefekte
Formations- und Segmentationsstörungen der Halswirbelkörper
Verschiedenes
Spinale Tumoren Lymphadenitis Augenfehlfunktion idiopathisch atlantoaxiale rotatorische Subluxation (AARS) psychisch-hysterisch
Jugendlichenschiefhals
⊡ Abb. 32.13 Torticollis muscularis rechts mit typischer Gesichtsasymmetrie und Kopfschiefhaltung bei einem 12-jährigen Mädchen
Eine Hüftdysplasie oder -luxation ist sonographisch auszuschließen (s. Übersicht). In 90% der Fälle ist eine spontane Heilung zu beobachten. Der Wert der Physiotherapie und Osteopathie ist umstritten, aber vorsichtige Manipulation an der Halswirbelsäule des Kindes durch den Therapeuten als Kontrollinstanz wirkt beruhigend für die Eltern. Bei dem Begriff der »kopfgelenkinduzierten Symmetriestörung« (KISS-Syndrom) handelt es sich um einen von Therapeuten benutzten Sammelbegriff für kindliche Kopf-HalsAsymmetrien ohne einheitliche anatomisch-pathophysiologische Grundlage.
Bei dieser gravierenderen Form sind meist beide Muskelköpfe kontrakt und erfordern eine operative Korrektur; Physiotherapie ist in der Regel aussichtslos. Als Ursache wird entweder der übersehene Kleinkindesschiefhals oder aber ein sich erst später entwickelnder, unklarer Muskelmechanismus diskutiert. Etwa 10% der Kinder brauchen später eine Operation im Sinne einer meist bifokalen Tenotomie des M. sternocleidomastoideus, gefolgt von einer überkorrigierenden Gips- oder Schienen- bzw. Halskrawattenbehandlung (⊡ Abb. 32.12 u. ⊡ Abb. 32.13; ⊡ Tab. 32.4).
Abzuklärende Ursachen für einen Schiefhals
▬ ▬ ▬ ▬
Knöcherne HWS-Deformitäten: Klippel-Feil-Syndrom vermindertes einseitiges Hörvermögen Augenmuskelparesen oder Visuseinschränkungen Fehlbildungen des Rückenmarkes oder Tumoren der hinteren Schädelgrube ▬ medikamentöser Schiefhals (Metoclopramid)
32
946
32.2.5
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Sprengel-Deformität
Es handelt sich um eine kongenitale Fehlbildung mit meist einseitigem Hochstand der Skapula infolge eines Maldeszensus von Schulterblattmesenchym im zweiten Fetalmonat
(⊡ Abb. 32.14). Häufig (70%) assoziiert mit anderen Fehlbildungen. Oft verbleibt vom Schulterblatt ausgehend eine Verbindung mit den Querfortsätzen der unteren Halswirbelkörper in Form eines fibrösen Stranges oder eines sog. Os omovertebrale. Funktionsverluste im Skapulothorakalgelenk führen zu Abduktionsdefiziten des Schultergelenks, da nur im Glenohumeralgelenk bewegt werden kann. Die Behandlung erfolgt möglichst in der ersten Lebensdekade ausschließlich operativ und beinhaltet ein ausgedehntes Weichteil-Release und eine distale Muskelzügelung des Schulterblatts (z. B. Operation nach Woodward; ⊡ Abb. 32.15).
32.2.6
Klippel-Feil-Syndrom
Bei dieser seltenen Fehlbildung handelt es sich um kombinierte Segmentations- und Formationsstörungen der Halswirbelsäule, häufig assoziiert mit renalen und kardialen Defekten. Klinisch führt dies zu einer Verkürzung des Halses und zu einer Einschränkung der HWS-Beweglichkeit. Wegen der ausgedehnten Fusion im HWS-Bereich wird die Beweglichkeit auf einige wenige Segmente reduziert, was durch Überlastung zur Instabilität der HWS führt und in dieser Konsequenz zu Rückenmarkverletzungen. Aus diesem Grund besteht die Behandlung dieses Syndroms in der ärztlichen Beobachtung, dem Ausschluss begleitender Fehlbildungen und der Einschränkung sportlicher Aktivitäten. Eine ursächliche operative Therapie ist nicht möglich.
a
32 32.2.7 b ⊡ Abb. 32.14a,b Schulterblattdeformität links bei einem 5-jährigen Jungen. a Klinisch, b im Röntgenbild zeigt sich eine hochstehende Skapula (Sprengel-Deformität)
⊡ Abb. 32.15a,b Sprengel-Deformität rechts bei einem 5-jährigen Jungen. a Vor, b nach der Schulterblattdistalisierung (Operation nach Woodward)
a
Klavikulapseudarthrose
Es handelt sich um eine seltene Fehlbildung meist der rechten Klavikula. Sie sind evtl. auf störende Pulsationen der A. subclavia zurückzuführen, die die Verbindung der beiden Knochenkerne der Klavikula behindert. Klinisch imponiert ein Höcker auf dem Schlüsselbein, der meist operativ im Rahmen einer
b
947 32.3 · Oberarm, Unterarm und Hand
Pseudarthrosenausräumung und Plattenosteosynthese/Spongiosaplastik beseitigt wird.
32.2.8
Habituelle Schulterluxationen
Die Habituelle Schulterluxationen ist eine seltene Problematik schlacksiger Jugendlicher, die meist schmerzfrei ein- oder zweiseitig ihre Gelenke sub- oder vollständig luxieren können. Dies geschieht häufig im Rahmen »akrobatischer« Vorstellungen, weswegen die initiale Therapie in der Vermeidung der gewollten Luxation besteht. Parallel dazu erfolgen ein Training der schulterumgreifenden Muskulatur und die Vermeidung gefährdender Sportarten (Volleyball etc.). Operative Verfahren sind bis zum Erwachsenenalter zu vermeiden, auch wenn es sich als Ursache um die noch selteneren schweren Glenoiddysplasien handelt; im Allgemeinen verschwindet das Phänomen der Schulterluxierfähigkeit im weiteren Wachstum. Abzugrenzen sind willentliche Luxationen meist pubertierender Mädchen. Zugrundeliegende psychische Störungen sind dann zu eruieren (»Anorexia nervosa der Schulter«).
32.2.9
Arthritis und mit dysproportioniertem Zwergwuchs. Sportliche Aktivitäten mit Halswirbelsäulenstress sollten vermieden werden. Intubationen bei Vollnarkose müssen mit äußerster Vorsicht durchgeführt werden.
32.3
Oberarm, Unterarm und Hand
32.3.1
Entwicklung
Die Knospen der oberen Extremitäten entwickeln sich in der 4.–8. Fetalwoche. Die meisten der angeborenen Defekte dieser Region haben ihren Ursprung in dieser Entwicklungsperiode. Etwa in der 7. Fetalwoche dreht sich die gesamte Extremität nach lateral, sodass der Daumen sich in einer seitlichen Position einstellt. Das stärkste Wachstum des Arms findet in Wachstumszonen nahe der Schulter und des Handgelenks statt. Während der Kleinkindeszeit schreitet die Funktion der Hand in definierten Schritten voran. Bimanuelle Funktionen verfeinern sich im zweiten Lebensjahr: Sowohl feine als auch gröbere motorische Funktionen entwickeln sich mit zunehmendem Alter (⊡ Tab. 32.5).
Geburtstraumatische Lähmungen 32.3.2
Diese Schulter-Arm-Lähmungen resultieren aus einer Verletzung des Brachialplexus verschiedenen Ausmaßes und verschiedener Höhe während des Entbindungsvorgangs. Die Inzidenz ist deutlich zurückgegangen aufgrund verbesserter Entbindungstechniken. Etwa 80% der Lähmungen bilden sich spontan innerhalb des ersten Jahres zurück. Die neurochirurgische Plexusrekonstruktion ist möglich, aber nicht weit verbreitet. Sekundäre unvollständige Funktionsverbesserungen von bestehenden Lähmungen bei älteren Kindern und Jugendlichen können durch Sehnentranspositionen und Rotationsosteotomien an Humerus und Unterarm verbessert werden.
Angeborene Defekte
Kongenitale Fehlbildungen der oberen Extremität sind häufig und vielfältig. Deformierungen durch intrauterine Einklemmungen oder Raumnot sind im Bereich der oberen Extremitäten hingegen selten. Insgesamt liegt die Häufigkeit in der Größenordnung von ca. 0,15%, wobei ein Zehntel davon ausgedehntere funktionelle oder kosmetische Behinderungen hinterlässt. Zusammenfassend sind Fehlbildungen der oberen Extremitäten zumeist Ausdruck von Syndromen. Radiale oder ulnare Defekte sollten immer Anlass sein, nach weiteren, möglicherweise versteckten Veränderungen zu suchen (⊡ Tab. 32.6).
Klassifikation geburtstraumatischer Lähmungen
▬ Typ I: Erb-Plexusparese – Höhe: C4–C6 – Klinik: Abduktionsdefizit der Schulter und Pronationskontraktur des Unterarms ▬ Typ II: Klumpke-Plexusparese – Höhe: C8–Th1 – Klinik: weitgehende Lähmung im Handbereich ▬ Typ III: komplette Plexusparese mit Lähmung/Schwäche des gesamten Arms
32.2.10
Atlantoaxiale Instabilität
Ursache sind Fehlbildungen des Dens axis bzw. des Os odontoideum oder Hyperlaxitäten des Kapsel-Band-Apparats der Region. Betroffen sind Kinder mit Down-Syndrom, rheumatoider
⊡ Tab. 32.5 Handfunktion in Korrelation zum Alter Alter
Funktion der Hand
1 Monat
Hand wird zur Faust geschlossen
2 Monate
Hand wird geöffnet
3 Monate
Halten von Objekten
5 Monate
Primitiver Dreifingergriff
9 Monate
Kann mit Fingerspitze drücken (»pieken«)
12 Monate
Nimmt große Objekte auf, bimanuelle Handnutzung
18 Monate
Türmt Bauklötze auf
3 Jahre
Kann Kleider knöpfen
4 Jahre
Kann einen Ball werfen
5 Jahre
Kann einen Ball fangen
32
948
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Tab. 32.6 Klassifikation der angeborenen Fehlbildungen der oberen Extremitäten Defektmechanismus
Kategorie
Defektlokalisation
Formationsstörung
Transversale Fehlbildung
»Amputationen« hypoplastische Finger
Longitudinale Fehlbildung
Synostosierung
Radioulnare Synostose
Trennungsstörung von Haut und -Weichteilen
Komplexe (knöcherne, häutige) Syndaktylie einfache (knöcherne, häutige) Syndaktylie Radiusköpfchen(sub-)Luxation
Daumen
Doppeldaumen triphalangealer Daumen
Finger
Zentrale Polydaktylie Duplikation des Kleinfingers
Weichteile
Pterygium cubitale (»Flügelfell«)
Knochen
Kamptodaktylie (Flexionskontraktur der Finger) Klinodaktylie (Varusfehlstellung des Kleinfingers)
Generalisiert
Gigantismus
Lokalisiert (z. B. Ringband)
Schnellender Finger (»trigger finger«)
Weichteile
Schnürfurchensyndrom
Differenzierungsstörungen
Duplikationen
Asymmetrisches Wachstum
Überschießendes Wachstum
Amniotische Abschnürungen, Konstriktionsbänder
32
32.3.3
Robbenhändigkeit (Phokomelie) radiale Klumphand Spalthand ulnare Klumphand
Diagnostik
Die Untersuchung beginnt mit der Beobachtung der Position und Ausrichtung der oberen Extremitäten zum Rumpf. Jegliche Asymmetrie ist festzuhalten (⊡ Abb. 32.16), genauso wie Differenzen der spontanen Beweglichkeit. Beweglichkeitsverluste können als Ursache eine geburtshilfliche Plexusschädigung haben oder (eher und häufiger) als Pseudoparalyse durch Trauma oder Infektion entstanden sein. Ein Kleinkind mit einer Klavikulafraktur oder einer septischen Arthritis des Ellenbogens wird spontan die Armbeweglichkeit einschränken. Die natürliche Valgusstellung des kindlichen Ellenbogens von 0–10° in der anatomischen Frontalposition des Kindes ist zu beachten: Dieses als »Tragewinkel« bezeichnete Verhältnis zwischen Ober- und Unterarm kann nach fehlverheilten, suprakondylären Frakturen in eine varische Fehlstellung abweichen. Nagelveränderungen und charakteristische Fingerdysmorphien sind zu beachten, wie sie bei einer Vielzahl von Syndromen auftreten (⊡ Abb. 32.17).
32.3.4
Longitudinale Fehlbildungen
Longitudinale Fehlbildungen betreffen zumeist den Unterarm und imponieren hier durch komplettes Fehlen oder durch Hypoplasie eines der beiden langen Röhrenknochen, Radius oder Ulna. Je nachdem, welcher der beiden Knochen betroffen ist, fehlen auch die zugehörigen Handbereiche und Fingerstrahlen: Ist der Radius betroffen, sind Daumen und Zeigefinger absent
⊡ Abb. 32.16 Idiopathische Hemihypertrophie des linken Arms bei einem 7-jährigen Mädchen
949 32.3 · Oberarm, Unterarm und Hand
a
b
⊡ Abb. 32.17a,b Apert-Syndrom (Akrozephalosyndaktylie) mit vorgewölbter Stirn durch Verschluss der Schädelnähte (a) und ausgeprägter Syndaktylie (b)
a ⊡ Abb. 32.19 Distale Robbenärmigkeit (»Phokomelie«) durch aplastische Unterarm- und Unterschenkelknochen
b ⊡ Abb. 32.18a,b Poland-Syndrom mit M.-pectoralis-Hypoplasie, longitudinaler Fehlbildung des Unterarms und Verlust des Radius und der Fingerstrahlen I und II. a Klinisch, b im Röntgenbild
oder hypoplastisch (⊡ Abb. 32.18), betrifft es die Ulna, dann sind die Strahlen III–V verändert oder fehlend. Radiale oder ulnare Klumphände verschiedenen Ausmaßes entstehen und bedürfen gelegentlich funktionsverbessernder Orthesen oder (selten) stabilisierender Operationen. Der Humerus ist meist nicht oder nur geringgradig betroffen und hat keinen Einfluss auf die Funktionssituation. Ausnahme ist die seltene sog. zentrale longitudinale Fehlbildung mit komplettem oder graduellem Verlust von Humerus und/ oder Ulna bzw. Radius bei Erhalt der Hand, Robbengliederigkeit genannt (Phokomelie; ⊡ Abb. 32.19)
32
950
32.3.5
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Transversale Fehlbildungen
Diese Fehlbildungen haben amputationsähnlichen Charakter und treten häufiger im Bereich der Unterarme (links häufiger als rechts) auf. Der Ellenbogen ist meist intakt, der Stumpf weich gedeckt und von unterschiedlicher Länge. Häufig finden sich weichteilige Fingerknospen mit einem Restfingernagel am Stumpfende und sensorischer, aber ohne motorische Kompetenz, ähnlich einem Miniaturfinger. In Europa hat sich in diesen Fällen durchgesetzt, dem Kind nach ausgiebiger Austestung über mehrere Jahre und Probeversorgung mit einem sog. »Patschhand-Unterarm« (ab dem 2. Lebensjahr) später mit dem 6. Lebensjahr eine Eigen-
32
⊡ Abb. 32.20a,b Transversale Unterarmfehlbildung bei einem 5-jähigen Zwillingsmädchen. a Vor, b nach Versorgung mit »Patschhand-Unterarmprothese«
kraft- oder myoelektrische Prothese anzubieten (⊡ Abb. 32.20 u. ⊡ Abb. 32.21). Mit einer derartigen Versorgung lassen sich einfache Funktionen (Greifen, Handgelenkrotation) der Hand nachahmen und für schulische und später berufliche Zwecke sinnvoll einsetzen.
32.3.6
Radioulnare Synostose
Die Fusion zwischen Radius und Ulna findet zumeist proximal statt, gelegentlich beidseitig, meist als isolierter Defekt. Es resultiert ein Rotationsdefizit im Unterarm (⊡ Abb. 32.22). Die Stellung der fixierten Rotation ist ausschlaggebend für
a
b
b
⊡ Abb. 32.21a–c Transversale Unterarmfehlbildung. a Typische »Knospenbildung« am Stumpf, b, c Versorgung mit myoelektrischer Unterarmprothese
a
c
951 32.3 · Oberarm, Unterarm und Hand
eine etwaige Therapie: Liegt eine relativ neutrale Position zwischen Supination und Pronation vor, sollte nicht operativ interveniert werden. Fettlappeninterpositionen nach Synostosenlösung haben eine hohe Versagerquote. Gute Resultate bei Extremrotationen sind durch proximale Unterarmumstellungsosteotomien in Richtung der Neutralstellung zu erzielen.
32.3.7
Radiusköpfchenluxation
Das Radiusköpfchen kann bereits bei Geburt komplett luxiert sein (in Kombination mit anderen Defekten) oder aber im Verlauf des Wachstums graduell (sub-)luxieren. Klinisch zeigt sich eine reduzierte Unterarmrotationsfähigkeit, meist zusammen mit einer reduzierten Beugefähigkeit im Ellenbogen (bei vorderer Luxation). Durch die Luxation verkürzt sich der radiale Unterarmstrahl mit Prominenz des Ulnaköpfchens am Handgelenk. Operative Repositionsversuche des Radiusköpfchens bei kongenitalen Luxationen sind nicht immer erfolgreich. Dies gilt allerdings nicht in gleichem Maße für posttraumatische, gelegentlich schleichende Luxationen bei unerkannten posttraumatischen Ulnabeugefehlstellungen oder Ulnaschaftverkürzungen. Hier können komplexe operative Korrekturen angestrebt werden. Bei schmerzhafter angeborener Radiusköpfchenluxation kann nach Wachstumsabschluss eine Resektion sinnvoll sein.
32.3.8
Radiale Klumphand
Fehlen oder Minderwuchs des Radius im Unterarm mit der dazugehörigen Muskulatur können eine schrittweise Fehlstellung der Hand im Handgelenk produzieren (⊡ Abb. 32.23 u. ⊡ Abb. 32.24). Man berücksichtige in diesem Zusammenhang renale, kardiale und hämatologische syndromatische Miterkrankungen, wie z. B. familiäre Formen der multiplen Osteochodromerkrankung (kartilaginäre Exostosen) mit progredienter Radialabkippung der Hand oder das TAR-Syndrom (»thrombocytopenia-absent radius syndrome«, ⊡ Abb. 32.25). Milde Formen der Radiushypoplasie ohne funktionelle Auswirkungen werden meist gar nicht oder lediglich mit Orthesen behandelt und im Wachstum beobachtet. Klumphände bei Radiusaplasien werden zumeist ähnlich dem Klumpfuß initial durch Redressionsgipse reponiert und noch im ersten Lebensjahr operativ auf den Ulnakopf zentralisiert. Dies beinhaltet Weichteillösungen, Kapselraffungen, Stabilisierung der Hand zentral über dem Ulnaende und Sehnentransfer.
a ⊡ Abb. 32.23 Radiusaplasie mit Klumphand und Fehlen des ersten Radialstrahls (Daumen)
b
c
⊡ Abb. 32.22a–c Proximale radioulnare Synostose beidseits bei einem 9-jährigen Jungen. a Röntgenbild, b Supinationsdefizit beidseits, c vollständige Pronation beidseits
⊡ Abb. 32.24 Radiushypoplasie mit Klumphand bei einem 3-jährigen Mädchen
32
952
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
a
b
32
⊡ Abb. 32.25a,b TAR-Syndrom mit radialer Klumphand beidseits bei einem 12-jährigen Mädchen. a Pronation, b Supination
32.3.9
Ulnare Klumphand
Fehlen oder Minderwuchs der Ulna im Unterarm mit der dazugehörigen Muskulatur können in einer schrittweisen ulnarseitigen Fehlstellung der Hand im Handgelenk resultieren. Der Radius ist meist stark verbogen, die Ulna mit dem Humerus synostotisch verbunden. Fibröse Reste der Ulnaanlage lassen den Unterarm in eine ulnare Konkavität wachsen (⊡ Abb. 32.26). Meist liegen weitere komplexe Fehlbildungen vor. Die Therapie wird nach funktionellen Anforderungen und gemäß der Wachstums- und Deformationsprognose individuell abgestimmt.
32.3.10
Syndaktylie
Diese häufigere Fehlbildung betrifft partiell oder vollständig nur die Weichteile oder auch die Knochen. Oft zwischen Mittel- und Ringfinger und häufig beim Poland-, Apert- oder Schnürfurchen-Syndrom (⊡ Abb. 32.17 u. ⊡ Abb. 32.18). Korrektur durch operative Trennung im Kleinkindesalter bei Weichteilsyndaktylien und nach der ersten Lebensdekade bei knöchernen Syndaktylien.
⊡ Abb. 32.26 Ulnare Klumphand bei Hypoplasie der Ulna und Fehlen von Fingerstrahlen II, IV und V
32.3.11
Polydaktylie
Duplikationen sind in ihrem Erscheinungsbild extrem variabel und häufig. Betroffen sind der Daumen genauso wie andere Finger (⊡ Abb. 32.27). Rein häutige, funktionslose Duplikationen treten auf, ebenso solche mit Knochen- und Weichteilbeteiligung (⊡ Abb. 32.28). Einfache Duplikationen werden leicht im Kleinkindesalter entfernt, komplexere später im Kindesalter.
32.3.12
Fingerverbiegungen
Fingerverbiegungen treten in der Frontal- oder Sagittalebene auf und lassen zumeist (mit Ausnahme der Kamptodaktylie) eine knöcherne Deformierung erkennen. Die Kamptodaktylie ist eine progrediente Beugefehlstellung aller Langfinger im DIP- und PIP-Gelenk mit nur geringgradiger Funktionsbehinderung. Die Behandlung beinhaltet die Orthesenversorgung und – selten – eine operative Korrektur. Die Klinodaktylie ist eine knöcherne Fingerverbiegung in der Frontalebene in Varusrichtung des DIP- bzw. PIP-Gelenks. Sie tritt beidseits auf und ist selten funktionell störend. Häufig
953 32.3 · Oberarm, Unterarm und Hand
⊡ Abb. 32.27 Doppelfehlbildungen am Kleinfinger
⊡ Abb. 32.29 Makrodaktylie
⊡ Tab. 32.7 Klassifikation der Makrodaktylie
⊡ Abb. 32.28 Polydaktylie mit inkompletter Doppelbildung der Hand (Spiegelhand)
in Zusammenhang mit Syndromen. Korrekturosteotomien sind gelegentlich angeraten. Die Deltaphalanx ist eine durch ein kleines dreieckiges, interponierendes Ossikel hervorgerufene Fingerverkrümmung. Korrekturosteotomien nach der ersten Lebensdekade.
32.3.13
Makrodaktylie
Übermäßiges Größenwachstum von Fingern tritt entweder primär als alleinstehende Fehlbildung auf (⊡ Abb. 32.29) oder sekundär im Zusammenhang mit vielfältigen Syndromen (⊡ Tab. 32.7). Bei primären Makrodaktylien sind die Gewebe abgesehen von Größe und Volumen normal. Bei sekundären Formen sind die Gewebe anormal verändert: Teigige Hautveränderungen oder Hämangiome unter der Haut lassen Syndrome vermuten. Die Behandlung ist häufig schwierig: Weichteilreduktionsplastiken, Knochenverkürzungen, Epiphyseodesen, (Teil-)Amputationen können notwendig werden.
Kategorie
Erkrankung
Primär
Proportioniertes Wachstumsmuster beschleunigtes Wachstum (nach Trauma etc.)
Sekundär
Klippel-Trenaunay-Weber-Syndrom (Hämangiomatose) Lymphangiomatose Neurofibromatose fibröse Dysplasie Lipom desmoidaler Tumor
32.3.14
Schnellender Finger
Schnellende Finger sind die Folge einer knotigen Verdickung der Beugesehne oder der Beugesehnenscheide. Der Knoten kann sich keilförmig verformen und im Bereich der Ringbänder einklemmen, was zu einem Bewegungsstopp des Fingers in Beugung führt. Kleinere Knoten schieben sich durch das Ringband, wodurch sich der Bewegungsstopp plötzlich mit einem Schnappen löst. Erworbene und angeborene Formen sind bekannt; der Daumen ist am häufigsten betroffen. 30% der Fälle erfordern keine Behandlung, weitere 30% können durch Schienung gebessert werden. Die übrigen Fälle sind nur durch eine operative Behandlung zu beheben: Eine Ringbandspaltung auf Höhe des Fingergrundgelenks ist hier notwendig. Das Knötchen verschwindet später allein.
32.3.15
Madelung-Deformität
Es handelt sich um einen Defekt der palmar-ulnaren Portion der Wachstumsfuge des distalen Radius mit progredienter Deformität. Folge sind eine Verkürzung des Radius mit Verkip-
32
954
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Tab. 32.8 Osteochondrosen der oberen Extremität Erkrankung
Lokalisation
M. Hass
Humeruskopf
M. Panner
Capitulum humeri
M. Kienböck
Os lunatum
M. Mauclaire
Köpfe der Metakarpalia
M. Thiemann
Basen der Phalangen
pung seiner distalen Gelenkfläche nach palmar. Mädchen sind häufiger betroffen, auch beidseits. Autosomal dominante Erbfaktoren spielen eine wichtige Rolle. Blande Formen bedürfen keiner Behandlung; stärkere Deformierungen werden mit Epiphyseodesen bzw. Verkürzungsosteotomien der distalen Ulna und Gelenkflächenkorrekturosteotomien des distalen Radius behandelt.
eine böse Überraschung nach Gehbeginn der Kinder mit luxiertem Hüftgelenk zu erleben. Doch erst mit den systematischen Arbeiten von Ortolani aus dem Jahr 1937 und später durch von Rosen im Jahr 1956 stand eine routinemäßige klinische Untersuchung des Neugeborenen nach einer standardisierten Methode zur Verfügung. Revolutioniert wurde die Frühdiagnostik schließlich durch die von Graf (1984) angegebene und standardisierte Ultraschalldiagnostik des Säuglingshüftgelenks. > Die routinemäßige Vorsorgeultraschalluntersuchung der Hüftgelenke des Neugeborenen im Rahmen der vorgeschriebenen Kindesuntersuchungen U2 und U3 ermöglicht eine frühestmögliche Feststellung einer Hüftdysplasie und dementsprechend einen raschen und effektiven Behandlungsbeginn. z
z 32.3.16
32
Osteonekrosen
Osteonekrosen sind idiopathische, möglicherweise entzündliche Störungen der Durchblutung der gelenknahen Epiphysen: Zunächst homogene Ossifikationszentren fragmentieren, der korrespondierende Gelenkknorpel erweicht, um dann über Monate und Jahre wieder zu heilen. Im Bereich des Arms ist das Capitulum humeri der häufigste Prädilektionsort (M. Panner; ⊡ Tab. 32.8). Beim kleineren Kind tritt Bewegungsschmerz im Ellenbogen auf, im Röntgenbild ist der fragmentierte Knochenkern am Capitulum humeri zu erkennen. Nach Monaten kommt es zu einer Restitutio ohne ärztliche Intervention. Beim Jugendlichen kann der M. Panner durch ellenbogenbelastenden Sport hervorgerufen werden (z. B. rezidivierende Mikrotraumen): Nicht selten kommt es zu freien Gelenkkörpern, die Blockierungen hervorrufen. Arthroskopische Gelenkrevisionen zur Entfernung dieser Gelenkkörper sind meist notwendig. Die osteonekrotischen Herde können durch retrograde Anbohrungen und ggf. Spongiosaumkehrplastik in der Durchblutung gebessert werden. Damit wird die Voraussetzung zum Wiederaufbau geschaffen.
32.4
Kindliches Hüftgelenk
32.4.1
Hüftgelenksdysplasie
Bereits Hippokrates beschrieb in seinem Werk »Über die Krankheiten« im Kapitel »Über die Gelenke« das Krankheitsbild der Hüftluxation mit seinen Symptomen der Bewegungseinschränkung und der Beinlängendifferenz, ohne sich zu den Themen Ätiologie, Pathogenese und Frühdiagnose genauer zu äußern. Wilhelm Roser empfahl 1879, die Position der Beine beim Neugeborenen zu beachten, um nicht erst Jahre später
Synonyme
Hüftgelenksunreife, erworbene Hüftgelenkluxation. Definition
Bei der Hüftgelenksdysplasie oder -unreife handelt es sich um eine Entwicklungsstörung im Bereich der Hüftgelenkpfanne (Azetabulum), die unbehandelt zu einer Hüftgelenkluxation oder -ausrenkung führen kann. Sie ist bei regionalen Unterschieden die häufigste Fehlbildung des wachsenden kindlichen Skelettes, welche in unbehandelter Form zu einer manifesten Behinderung mit »Watschelgang«, eingeschränkter Gehfähigkeit und frühzeitiger Koxarthrose mit den daraus resultierenden hohen Behandlungskosten und den erheblichen persönlichen und sozialen Problemen. z
Epidemiologie
Die Hüftgelenksdysplasie wird in Mitteleuropa mit einer Inzidenz von 2–4% der Geburten beobachtet (Tönnis 1984). Manifeste Hüftgelenksluxationen und -subluxationen allerdings werden nur in 0,2% der Routinesäuglingsuntersuchungen mittels Sonographie festgestellt. Das Geschlechterverhältnis männlich zu weiblich wird mit 1:5 bis 1:8 angegeben, wobei das linke Hüftgelenk häufiger und stärker betroffen ist als das rechte. z
Ätiologie und Pathogenese
Ätiologisch wird ein multifaktorielles Geschehen diskutiert. Neben erblichen Faktoren, die zu einer Häufung von Hüftdysplasien bei familiärer Disposition führen, sind mechanische, hormonelle und neurologische Einflüsse beschrieben worden. So werden Fehlproportionen zwischen Gebärmutter und Fetus während der Schwangerschaft genauso in der Analyse berücksichtigt wie eine geringe Fruchtwassermenge (Oligohydramnion). Entsprechend der mechanischen Hypothese entwickelt sich das Hüftgelenk nur dann regelrecht, wenn den Beinen des Fetus genügend Bewegungsfreiheit in allen Bewegungsrichtungen zur Verfügung steht. Insbesondere Adduktions-BeugeFehlhaltungen im Rahmen von Raumnot in der Gebärmutter oder auch durch dysbalancierte Fehlinnervation führt zu einer ungünstigen Belastung lateraler Pfannenanteile des Os ileum
955 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
mit Fehlwachstum und resultierender mangelnder Pfannenüberdachung. Andererseits kann Raumnot und/oder Fehlinnervation (Spastizität, asymmetrische Lähmung) auch zu einer inadäquaten Entwicklung des koxalen Femurendes mit vermehrter und persistierender Schenkelhalsantetorsion (Coxa antetorta) und -valgität (Coxa valga) führen. Die erhöhte Inzidenz der Pfannendysplasie auf der linken Seite ist vermutlich auf die Prädominanz der sog. ersten geburtshilflichen Lage des Fetus mit vermehrter linksseitiger Hüftadduktion für eine lange Zeit der Schwangerschaft zurückzuführen. z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Sie besteht in der Untersuchung von Bewegungseinschränkungen, Faltenasymmetrien, Tastbefunden und insbesondere Feststellung von Instabilitäten in Rücken- und Bauchlage des Neugeborenen. Die Wertigkeit der klinischen Zeichen, die auf eine Hüftgelenksdysplasie und ggf. einer Luxation hinweisen können, muss in Abhängigkeit zum Alter und zum Schweregrad der Veränderungen bezüglich Gelenkkongruenz und etwaiger Dislokation der Gelenkpartner gesehen werden. Da mehr als die Hälfte aller Hüftdysplasien im Rückblick allerdings klinisch stumm verläuft, ist für die Mehrheit der Fälle neben der klinischen Untersuchung ein bildgebendes Verfahren unerlässlich.
Faltenasymmetrie
Das Relief der Hautfalten kann in der Frühdiagnostik einer stattgehabten Hüftluxation asymmetrisch sein, wobei die Signifikanz dieses Zeichens als gering erachtet wird. Auch bei völlig normalen Kindern zeigen sich gelegentlich klinisch unbedeutende Faltenreliefunterschiede (⊡ Abb. 32.32). Tastbefunde und Stabilitätsprüfungen
Die Feststellung der Stabilität des Hüftkopfes in der Hüftpfanne ist das Hauptziel der klinischen Untersuchung. Dies wird mit dem Roser-Ortolani-Zeichen oder dem Barlow-Test geprüft. Hierbei handelt es sich um die Auslösung eines schnappenden Geräusches und/oder Gefühls an den Fingerspitzen des Untersuchers. Es tritt bei instabilen Hüften innerhalb der ersten Lebenstage und -wochen auf, wenn der Hüftkopf unter Adduktion und leichtem Druck über den azetabulären Rand hinausgeschoben werden kann und dann bei Abduktion mit einem hör- und/oder fühlbaren Schnappen wieder in das Zentrum des Azetabulums zurückgleitet. Über das Ausmaß und den wahren Grad einer Instabilität und Dysplasie des Hüftgelenks geben diese Tests allerdings nicht ausreichend Informationen.
Abduktionseinschränkung und Beinverkürzung
Diesem Zeichen kommt erst nach der Neugeborenenperiode eine Bedeutung zu, da die Prüfung direkt nach Geburt häufig falsch-negative Befunde ergibt. Kontrakturen der Adduktorenmuskulatur, wie sie bei Hüftreifungsstörungen gesehen werden, können direkt nach der Geburt im Seitenvergleich Werte von weniger als 10° annehmen und damit sehr unzuverlässig zu prüfen sein (⊡ Abb. 32.30 u. ⊡ Abb. 32.31). Beidseitige Abduktionsdefizite sind oft schwer zu erkennen oder können gelegentlich bei beidseitiger kompletter Luxation vollständig fehlen. Asymmetrische Befunde bedürfen der Abklärung. Dies trifft natürlich auch für die nur bei stattgehabter Luxation beobachtbare Beinverkürzung zu.
⊡ Abb. 32.31 Abspreizdefizit der linken Hüfte mit scheinbarer Verkürzung des linken Oberschenkels bei Hüftkopfluxation links bei einem 12 Wochen alten Säugling
⊡ Abb. 32.30 Normaler Abspreiztest bei einem 12 Wochen alten Säugling in Hüft- und Kniebeugung
⊡ Abb. 32.32 Faltenasymmetrie und Beinverkürzung mit Hüftkopfluxation links bei einem 8 Wochen alten Säugling
32
956
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
z z Bildgebende Verfahren Hüftgelenkssonographie
Als Forderung gilt, eine Hüftdysplasie zum Zeitpunkt der Geburt zu erkennen, um eine notwendige Therapie sofort einleiten zu können. Bezüglich der physikalischen Gewebeeigenschaften des Säuglingsskeletts ergibt sich daraus als einzig sinnvolles, weil wenig invasives, preiswertes und hochspezifisches bildgebendes Verfahren die Ultraschalluntersuchung. Diese wird mit hochauflösenden 7,5-Mhz-Linearschallköpfen im sog. BMode-Verfahren durchgeführt. Der Säugling wird zum Zweck der Untersuchung entkleidet und in einer Lagerungsschale in Seitlage verbracht (⊡ Abb. 32.33), um einen Bildschnitt in der Frontalebene durch das Azetabulum zu erzeugen. Hierzu wird auf Höhe des großen Trochanters in der Längsachse des Körpers unter leichter Flexion der Hüfte (30°) in neutraler Adduktion der Linearschallkopf aufgesetzt. Auf dem erzeugten Ultraschallbild werden die anatomischen Landmarken markiert: Laterales und terminales Os ileum, knöcherner und knorpeliger Pfannenerker, Labrum acetabulare. Neben einer Grundlinie senkrecht auf dem knöchernen Erker stehend werden nun 2 Hilfslinien zur Bestimmung des knöchernen α-Pfannendachwinkels und des knorpeligen β-Pfannenerkerwinkels angelegt (⊡ Abb. 32.34 u. ⊡ Abb. 32.35. Die erzielten Winkelwerte werden mit dem Alter des Kindes in Rela-
tion gesetzt. Nach Abschluss des 3. Lebensmonats mit der Kinderuntersuchung U4 sollte bei ausgereiften Verhältnissen ein α-Wert von >64° und ein β-Wert von <55° vorliegen (⊡ Abb. 32.36). Die Hüftsonographie kann je nach Verknöcherungsgeschwindigkeit theoretisch bis zum 6.–8. Lebensmonat zur Diagnostik und zum Therapieverlauf eingesetzt werden. Frühestens ab dem 3. Monat erscheint das erste Ossifikationszentrum der Hüftkopfepiphyse (»Hüftkopfkern«): Bei stetigem Wachstum des Hüftkopfkerns ist die Tiefe des Azetabulums zunehmend schlechter beurteilbar. Ist das terminale Ileum schließlich nicht mehr sichtbar, weil abgedeckt, kann das Sonogramm nicht mehr vermessen werden. Konventionelles Röntgen
Zur Kontrolle einer sonographisch unterstützten Hüftdysplasietherapie muss im beginnenden Gehalter des Kindes (ca. 15. Lebensmonat) eine konventionelle Beckenübersichtsrönt-
32
a
b ⊡ Abb. 32.33a,b Hüftsonographie nach Graf in Lagerungsschale. a Linkes Hüftgelenk, b rechtes Hüftgelenk
⊡ Abb. 32.34 Normales Hüftsonogramm (Typ Ia nach Graf) einer Säuglingshüfte mit Vermessungslinien und Landmarken: 1 laterales Os ileum, 2 terminales Os ileum (Y-Fuge), 3 knöcherner Pfannenerker, 4 knorpeliger Pfannenerker, 5 Labrum acetabulare, 6 Hüftkopf, 7 Knorpel-Knochen-Grenze, A Grundlinie, B Pfannendachlinie, C Labrumlinie, a α-Winkel, b β-Winkel
957 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
genaufnahme angefertigt werden. An dieser Aufnahme kann der Sachverhalt einer Restdysplasie, einer Dezentrierung oder Hüftkopfluxation festgestellt werden. Hierzu werden orientierend auf dem Röntgenbild Vermessungen durchgeführt, welche Aussagen zum knöchernen Pfannendach, insbesondere der Qualität und dem Ausmaß der Überdachung, erlaubt und Informationen zur Zentrierung des Hüftkopfes unter dem Pfannendach gibt. Einzuzeichnende Hilfslinien sind Hilgenreiner-Linie, Ombredanne-Linie, Menard-Shenton-Linie, Pfannendachlinie (azetabuläre Indexlinie = AC-Linie), Zentrum-Ecken-Winkel (CEWinkel), Zentrum-Kollum-Diaphysen-Winkel (CCD-Winkel). Ebenso erfolgt eine Schenkelhalsantetorsionsbestimmung (⊡ Abb. 32.37 bis ⊡ Abb. 32.39). Weitere spezielle Röntgenaufnahmen können bei bestimmten Fragestellungen notwendig
⊡ Abb. 32.35 Pathologisches Hüftsonogramm (Typ IIIb nach Graf) einer Säuglingshüfte mit Grundlinie (A), Pfannendachlinie (B) und Labrumlinie (C). α- und β-Winkel (a und b) sind pathologisch. Das Labrum acetabulare ist nach kranial verdrängt (5), der Hüftkopf lateralisiert (6) ⊡ Abb. 32.37 Physiologische Röntgenbeckenübersicht eines 4 Monate alten Kindes. Die Ossifikationszentren der Hüftköpfe sind noch nicht vorhanden. A Hilgenreiner-Linie, B Ombredanne-Linie, C Pfannendachlinie, D Menard-Shenton-Linie
Alpha Winkel 70
64,4°
65
60
55
50
45 pp
4
8
12
3
16
20
24
6
28
32 Woche
8
⊡ Abb. 32.36 Veränderungen des sonographisch gemessenen α-Winkels innerhalb der ersten 12 Lebenswochen zeigen natürliche Reifungsverläufe. Rot minimaler Standard für eine lineare Reifungskurve (Grundlage für das Sonometer), grün optimale Reifungskurve (Graf-Kurve), blau spontane Reifung physiologisch unreifer Hüften (Tschauner-Kurve)
⊡ Abb. 32.38 Röntgenübersichtsaufnahme des Beckens bei luxierter Hüfte rechts bei einem 4 Monate alten Kind. Die Ossifikationszentren der Hüftköpfe sind noch nicht vorhanden. A Hilgenreiner-Linie, B Ombredanne-Linie, C Pfannendachlinie. Der Pfannendachwinkel (ACWinkel) nach Hilgenreiner liegt zwischen Linie A und C
32
958
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
a
⊡ Abb. 32.39a–g Schematische Vermessungsmöglichkeiten der Hüftgelenkspfanne im Röntgenbild. a Pfannenöffnungswinkel nach Ullmann mit Pfannenerker (A) und Tränenfigur (B), b ventraler Hüftpfannenwinkel nach Chassard im axialen Röntgen mit Y-Fuge und Symphyse, mit ventraler Pfannenbegrenzung (A) und dorsaler Pfannenbegrenzung (B), c Pfannendachwinkel nach Hilgenreiner (AC-Winkel) im a.p.-Strahlengang, d Pfannendachwinkel nach Idelberger (ACM-Winkel), e Zentrum-Ecken-Winkel nach Wiberg (CE-Winkel), f »Faux-profile«Röntgenaufnahme zur Bestimmung der vorderen Pfannenüberdachung, g vorderer Pfannenüberdachungswinkel (VCA)
d
b
c
e g
f
32 werden: Rippstein-Aufnahme zur Bestimmung der projizierten Anteversion des Schenkelhalses, »Faux-profile«-Aufnahme zur Bestimmung der vorderen Pfannenüberdachung, Beckenübersicht in Abduktion. Etwaige Indikationen zu einem operativen Vorgehen zur Behandlung einer Restdysplasie oder Hüftluxation ergeben sich aus der Vermessung der Röntgenbilder im Zusammenhang mit dem Krankheitsverlauf. MRT
Nur unter speziellen Fragestellungen einer Hüftkopfdurchblutungsstörung, bei speziellen Operationstechniken oder einer unklaren Irreponibilität bei Hüft(sub-)luxation zur Identifizierung von Hindernissen ist eine MRT (im Bein-Becken-FußGips oder in Narkose) indiziert. z Therapie z z Konservative Therapie
Bei der konservativen Therapie ist die echte angeborene Hüftgelenksdysplasie mit ihrer unzureichenden Überdachung von der physiologischen Reifungsverzögerung der Hüftgelenkpfanne zu unterscheiden. Während bei der Dysplasie das in ⊡ Tab. 32.9 angegebene Schema greifen sollte, gilt für die Reifungsverzögerung im Allgemeinen kein Behandlungsdogma. Dies beruht auf der Beobachtung, dass viele stabile Neugeborenengelenke sonographisch zunächst vom α- bzw. β-Winkel her im Unreifebereich Typ IIa nach Graf (50–59° α-Winkel) charakterisiert werden und dann auch ohne jegliche Therapie im Verlauf der
nächsten Wochen deutliche physiologische Reifungsfortschritte zeigen (⊡ Abb. 32.36). Mithilfe des Graf-Sonometers kann dieser Reifungsfortschritt der Pfanne numerisch verfolgt und mit plus oder minus charakterisiert werden, je nachdem, ob dieser Prozess nach 12 Wochen abgeschlossen ist oder nicht. Kann man in den ersten Lebenswochen keine physiologische Nachreifung der Pfanne beobachten (Typ IIa (–) nach Graf), ist mit einer Abspreizschiene (z. B. Tübinger Beugebandage nach Bernau) zu behandeln. Ist die Nachreifung gemäß dem Sonometer physiologisch (Typ IIa (+) nach Graf), kann auf eine spezifische Behandlung verzichtet werden. Eine subtile Feinkontrolle der physiologischen Nachreifung ist immer durchzuführen, um eine Über- oder Unterbehandlung zu vermeiden (⊡ Tab. 32.9). In der modernen Ära der sonographischen Früherkennung und sonographiebegleiteten Frühbehandlung der angeborenen Hüftgelenksdysplasie sind 3 Behandlungsphasen zu unterscheiden: ▬ Repositionsphase ▬ Retentionsphase ▬ Nachreifungsphase Entscheidend für die Wahl der Behandlungsmethode ist das Ausmaß der Hüftreifungsstörung sowie das Alter des Kindes, wobei die bereits stattgehabte Hüftluxation die schwierigste Situation darstellt. Hier muss es gelingen, den Hüftkopf schonend zu reponieren, dann zu retinieren und schließlich die Nachrei-
959 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
⊡ Abb. 32.40 Sitz-Hock-Gips nach Fettweis in 60° Abspreizung und ca.110° Beugung der Hüften nach geschlossener Reposition
⊡ Abb. 32.41 Pavlik-Bandage
fungsphase zu begleiten. Obsolet in der heutigen konservativen Dysplasie- und Luxationsbehandlung sind Retentionsgipse in der Lorenz-Stellung mit einer Abspreizung von 90° (»Froschstellung«) im Hüftgelenk bzw. in der von Lange abgewandelten Form (»mitigierte Lorenz-Stellung) in maximaler Innenrotation und Abspreizung.
Ist zunächst eine Reposition in eine zentrale azetabuläre Position erforderlich, wird eine Abspreizung von 60° bei einer Beugung von ca.110° in einem für eine potenzielle Hüftkopfnekrose ungefährlichen Bereich vorjustiert. Wöchentliche sonographische Kontrollen müssen diesen Repositionsprozess bis zum Abschluss der 3. Behandlungswoche begleiten. Die Reposition ist dann im Allgemeinen abgeschlossen, sodass jetzt die Phase der Retention in 45° Abspreizung und 90–100° Hüftbeugung für weitere 3 Wochen erfolgt. Die Nachreifungsphase, die ja bereits überlappend in der Retentionsphase begonnen hat, wird mit in einer weichen abnehmbaren Spreizhose, z. B. vom Typ Graf/Mittelmeier, in der sog. Humanposition (60° Beugung, 45° Abspreizung) für weitere 4 Wochen fortgesetzt. Sonographisch wird die Nachreifungsphase bis zum Abschluss begleitet (Normwerte s. oben). Gegebenenfalls muss bei konzentrischer Hüftkopfreposition ohne adäquate Pfannenreifung auch bis weit über den 3. Lebensmonat hinaus eine Abspreizbehandlung fortgesetzt werden. Hierzu liefert die Industrie eine Vielfalt von Schienen, Orthesen und Bandagen. Liegt auch nach dem 3. Lebensmonat keine ausreichend zentrierte Einstellung des Hüftkopfes vor, muss operativ eine offene Reposition erfolgen. Nach Beginn der Steh- und Gehphase ist dann routinemäßig eine Röntgenkontrolle notwendig, um eine etwaige Restdysplasie der Pfanne auszuschließen (⊡ Abb. 32.37 u. ⊡ Abb. 32.38). Abspreizgehschienen werden dann in ausgewählten Fällen eingesetzt, wenngleich die klinische Evidenz für eine zwingende Empfehlung nicht ausreicht. Die Overhead-Extensions-Repositions-Behandlung nach Krämer (1982) ist ursprünglich in der präsonographischen Ära zur Frühbehandlung bereits luxierter Gelenke bis maximal zum 6.–9. Lebensmonat erfolgreich eingesetzt worden. Sie hat in der alltäglichen Routine in den Ländern mit sonographischem Neugeborenen-Hüft-Screening aber nur noch eine untergeordnete praktische Bedeutung, z. B. auch zur
! Cave Extreme Abspreizungen führen zu überproportional vielen Hüftkopfnekrosen.
Wenn überhaupt im Gips abgespreizt wird, dann im Sitz-HockGips nach Fettweis mit Gelenkretention in 110° Beugung und 60° Abspreizung des Hüftgelenkes. Die Sonographie als Screening-Test zum Zeitpunkt der Kindesuntersuchung U2/U3 ermöglicht jetzt, einen notwendigen Behandlungsbeginn am Ende der 1. bzw. 6. Lebenswoche zu realisieren. Ziel ist, den Hüftkopf luxationssicher in der Primärpfanne einzustellen und das empfindliche und dysplastische präformierte Pfannendach zu entlasten. Durch eine Sitz-Hock-Position kann ein Remodellierungsprozess der verformten Hüftgelenkpfanne ohne allzu große Hüftkopfnekroserisiko erreicht werden (⊡ Abb. 32.40). Pathoanatomische Veränderungen, die eine atraumatische spontane Gelenkreposition verhindern würden, sind in den ersten Lebenswochen noch nicht so weit fortgeschritten. Sehr dynamisch und effektiv lässt sich beim Neugeborenen sowohl die Reposition als auch die Retention z. B. mit der Pavlik-Bandage erzielen (⊡ Abb. 32.41). Sofern keine Kontrakturen vorliegen, die eine vorübergehende Extensionsvorbehandlung notwendig machen, wird diese Bandage von erfahrenem Personal direkt auf die Haut des Säuglings angepasst und für 24 h täglich belassen. Sie lässt die Bewegung der Beine in einem ungefährlichen Bewegungssegment zu und fördert so die rasche Nachreifung durch einen positiven Wachstumsreiz auf das Gelenk. Dies ist ein essenzieller Vorteil gegenüber GipsRepositions-Retentions-Manövern (Fettweis-Gips).
32
960
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Tab. 32.9 Behandlungsalgorithmus bei Hüftpfannendysplasien im Säuglingsalter mit/ohne instabilem Hüftgelenk Behandlungsphase
Sonographischer Typ (nach Graf)
Behandlung
Alternative
Bemerkung
1. Reposition (»luxierte« Gelenke)
Typ III–IV, Typ D
Geschlossene Spontanreposition oder Overhead-Extension Retentionsorthese
Repositionsorthese: Versuch mit PavlikBandage Hoffmann-Daimleroder Fettweis-Schiene u. a.
Compliance der Eltern wichtig engmaschige Kontrolle
2. Retention (ehemals luxierte, reponierte und/ oder instabile Gelenke)
Instabiler Typ IIc (Ausnahme: instabiler Typ IIc beim Neugeborenen)
Sitz-Hock-Gips (Fettweis-Gips)
Retentionsorthese: Pavlik-Bandage u. a.
Compliance der Eltern wichtig engmaschige Kontrolle
3. Nachreifung (stabile, dysplastische Gelenke)
Ideal-Spreizhose Graf-Mittelmeier-Spreizhose (Versuch über 4 Wochen)
Nachreifungsorthese: Pavlik-Bandage, Spreizhose, Tübinger Schiene Optimal-Schiene
Verbesserung: GrafMittelmeier-Spreizhose fortsetzen Verschlechterung: Retentionsorthese
Typ IIa (4) (>6. LW: <56°α) Typ IIb (>12. LW) Typ IIc (stabil) Typ IIc (instabil beim Neugeborenen)
Aufdehnung kontrakter Muskelgruppen vor operativen Interventionen. z z Operative Therapie
32
Wir unterscheiden die operative Behandlung von Repositionshindernissen des Hüftkopfes noch im Säuglingsalter von der Behandlung sekundärer Luxationen des Hüftkopfes im späteren Steh- und Gehalter aufgrund einer unbehandelten Pfannendysplasie. Weiterhin wird die Behandlung von idiopathischen Restdysplasien des Azetabulums nach zuvor durchgeführter Abspreizbehandlung im 3. oder 4. Lebensjahr von sekundären Gelenkdysplasien und -luxationen aufgrund neuropathischer Grunderkrankungen unterschieden (z. B. spastische Zerebralparese, Spina bifida, hereditäre sensomotorische Neuropathie). Gelingt eine konzentrische Reposition im Rahmen der Frühbehandlung der Dysplasie z. B. mit der Pavlik-Bandage oder einem Fettweis-Gips nicht, so muss spätestens nach Abschluss der ersten 3 Lebensmonate an mechanische Repositionshindernisse (z. B. eingeschlagenes Labrum acetabulare, Vakatfett, elongiertes Lig. capitis femoris, Sehne des M. psoas) gedacht werden. Diese gilt es durch eine offene Reposition über einen anteromedialen Zugang (Adduktorenzugang) nach Ludloff/Tönnis auszuräumen. Der Kopf kann über eine Lig.femoris-capitis-Zügelung in der Pfanne retiniert werden. Eine 12-wöchige Fettweis-Gips-Nachbehandlung, während der die Pfanne nachreift, ist obligatorisch. Bei sekundären Spätluxationen sind offene Repositionen (mit gleicher Problematik) über den anterolateralen Zugang nach Smith-Peterson notwendig. Kombiniert werden diese mit zeitgleichen oder zweizeitigen pfannenplastischen Maßnahmen (s. unten) zur Verbesserung der Überdachung des Kopfes bzw. mit varisierenden und derotierenden intertrochantären Femurosteotomien (DVO) zur Tiefeinstellung des Femurkopfes in die Pfanne und Reduktion des Antetorsionswinkels. Postoperativ ist ein Bein-Becken-Fuß-Gips für 6 Wochen notwendig. Bei der schweren Pfannenrestdysplasie (Pfannendachwinkel [AC-Winkel] >30°; ⊡ Abb. 32.42) ist mit dem 3.–4. Lebensjahr eine Pfannenneuorientierung durch eine Beckenosteotomie nach Salter alleinig oder in Kombination mit einer DVO sinn-
⊡ Abb. 32.42 Hüftpfannendysplasie rechts mit Hüftluxation bei einem 5-jährigen Jungen (präoperativ) mit Coxa valga beidseits und hüftumgreifender Spastik
voll (⊡ Abb. 32.43). Postoperativ ist ein Bein-Becken-Fuß-Gips für 6 Wochen notwendig. Solange die Wachstumsfuge des Azetabulums offen ist, können azetabuloplastische Maßnahmen wie die Osteotomien nach Dega und Pemberton zur Verbesserung der Pfannendachneigung herangezogen werden. Prinzipiell sind diese Osteotomien dazu geeignet, nach kranial exzentrisch aufgeweitete Pfannendächer wieder konzentrisch über den Hüftkopf zu kippen, während die Salter-Osteotomie in erster Linie eine Reorientierung der vorhandenen dysplastischen Pfanne nach lateral und ventral darstellt. Bei Patienten mit schweren Restdysplasien der Gelenkpfanne und abgeschlossenem Skelettwachstum bei noch konzentrischen Hüftgelenken ohne Arthrosezeichen steht die periazetabuläre Osteotomie nach Ganz (oder die Drei-
961 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
⊡ Abb. 32.44 Initialstadium nach Waldenström bei M. Perthes rechts (keine spezifischen Zeichen sichtbar: Sonographie der Hüfte ist obligatorisch)
⊡ Abb. 32.43 Derotierende, varisierende proximale Femurosteotomie (DVO) mit Winkelplattenosteosynthese und pfannenkorrigierender Beckenosteotomie nach Salter mit Kirschner-Drahtfixation
fachosteotomie nach Tönnis) zur Auswahl, deren Ziel die lateroventrale Verkippung durch eine komplette knöcherne Herauslösung der dysplastischen Pfanne über den Hüftkopf darstellt ( Kap. 27). Die früher weitverbreitete Beckenosteotomie nach Chiari beim reifen Skelett wird heute nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt. Hierbei wird direkt kranial der Pfanne extraartikulär das Os ileum osteotomiert und das kaudale Azetabulum nach medial verschoben: Es entsteht durch den Os-ileum-Balkon über dem Hüftkopf eine verbesserte Überdachung, ohne allerdings Gelenkknorpel in dieser Region zu generieren.
32.4.2 z
Morbus Perthes
Synonyme
M. Legg-Calve-Perthes, M. Waldenström, juvenile Hüftkopfnekrose, Coxa plana. z
Definition
Idiopathische aseptische Knochennekrose des kindlichen Hüftkopfes. z
Epidemiologie
Epidemiologisch existieren ethnische und geographische Unterschiede. Jungen sind bevorzugt betroffen (4–5:1), die Erkrankung zeigt sich meist zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr, wobei eine Häufung im 5. und 6. Lebensjahr erkennbar ist. Erkrankungen kommen schon im 3. Lebensjahr vor. > Prognostisch ungünstig ist ein später Erkrankungsbeginn nach dem 6. Lebensjahr, da die Selbstheilungspotenz mit zunehmendem Alter schlechter wird.
z
Ätiologie und Pathogenese
Die Ätiologie ist noch nicht geklärt, diskutiert werden: ▬ ein vaskuläres Risiko durch eine subkritische Gefäßversorgung im Prädilektionsalter ▬ konstitutionelle Einflüsse ▬ mögliche mehrzeitige Knocheninfarkte Der Grund für die Manifestation der Nekrose ist letztlich unklar. Ein retardiertes Knochenalter ist oft festzustellen. Hüftkopfnekrose und Wiederaufbau laufen zeitweise nebeneinander ab, bis die Reparation zu einer Ausheilung führt. Die Erkrankung kann nur im pathomorphogenetischen Ablauf gut dargestellt werden. Histologische und radiologische Phasen können unterschieden werden, ohne dass die Ätiologie damit klarer wäre. Ein beidseitiger Hüftkopfbefall ist eher selten und wird bei weniger als 10% der Fälle angegeben. Eine wissenschaftlich begründete Prognose kann im Einzelfall nicht gestellt werden, günstig sind ein geringes Lebensalter und der Erhalt der vollständigen Einfassens des Hüftkopfes in der Gelenkpfanne (»containment«). z Klassifikation Einteilung nach Waldenström
Diese Einteilung ist rein deskriptiv, weitere Risikofaktoren müssen zusätzlich berücksichtigt werden. Die Einteilung erfolgt nach der Röntgenmorphologie und gibt das Perthes-Stadium an: ▬ Initialstadium (⊡ Abb. 32.44) ▬ Kondensationsstadium (⊡ Abb. 32.45) ▬ Fragmentationsstadium (⊡ Abb. 32.46) ▬ Reparationsstadium (⊡ Abb. 32.47) ▬ Endstadium Catterall-Gruppen
Diese Einteilung dient der Definierung der Perthes-Ausdehnung. Es werden 4 Gruppen unterschieden (⊡ Abb. 32.48):
▬ Gruppe I: anterolaterale Beteiligung ohne Sequester und subchondrale Fraktur (25% der Hüftkopfepiphyse betroffen) ▬ Gruppe II: anterolateraler Sequester, anterolaterale metaphysäre Reaktion und subchondrale Fraktur in der vorderen Hälfte vorhanden (50% der Hüftkopfepiphyse betroffen)
32
962
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.45 Übergang vom Kondensationsstadium zum Fragmentationsstadium nach Waldenström bei einem 8-jährigen Jungen mit M. Perthes rechts: Typische Kopfrisikozeichen mit Subluxation (Abstand Tränenfigur zu medialen Metaphyse), laterale Kopfverkalkung jenseits der Ombredanne-Linie, metaphysäre Beteiligung. Dies ist eine typische Indikation zur operativen Verbesserung der Kopfeinfassung (»Hypercontainment-Therapie«)
⊡ Abb. 32.47 Reparationsstadium nach Waldenström bei M. Perthes rechts. Gutes Ausheilungsergebnis 2 Jahre nach »Hypercontainment«Therapie und Materialentfernung: die Hüftkopfepiphyse ist leicht elipsoid und liegt konzentrisch in der Hüftpfanne (Stulberg-Grad II bei noch rundem Kopf und konzentrischer Coxa magna)
Einteilung nach Herring
Diese Einteilung nach der lateralen Epiphysenhöhe gibt Auskunft über die Perthes-Hüftkopfdeformierung: ▬ laterale Säule der Epiphyse nicht höhengemindert (Herring-Typ A) ▬ laterale Säule der Epiphyse um <50% höhengemindert (Herring-Typ B) ▬ laterale Säule der Epiphyse um >50% höhengemindert (Herring-Typ C)
32
Die Prognose bei Herring-Typ A wird allgemein als günstig, bei Herring-Typ B als nicht vorhersagbar und die bei HerringTyp C als ungünstig angesehen. Klassifikation nach Stulberg
⊡ Abb. 32.46 Fragmentationsstadium nach Waldenström bei M. Perthes rechts. »Hypercontainment«-Therapie mit Beckenosteotomie nach Salter und Derotations- und 15°-Varisations-Osteotomie intertrochantär bei M. Perthes rechts
▬ Gruppe III: großer Sequester, sklerotische Abgrenzung zu vitalen Restanteilen, Metaphysenbeteiligung, subchondrale Frakturlinie auch der hinteren Hälfte der Epiphyse (75% der Hüftkopfepiphyse betroffen) ▬ Gruppe IV: Beteiligung des gesamten Hüftkopfes, dorsal Zeichen der Remodellierung (100% der Hüftkopfepiphyse betroffen, aber auch weite Teile der Metaphyse)
Für den Verlauf nach den floriden Stadien wird die Kongruenz von Hüftkopf und -pfanne (neben der Zentrierung oder Dezentrierung des Gelenks) als bestimmender Faktor angesehen. Die Stulberg-Klassifikation berücksichtigt bei der Gelenkmorphologie nach Perthes-Ausheilung nicht primär die als ungünstig angesehene Dezentrierung des Kopfes, sondern sphärische und asphärische Kongruenz (Grad I–V): ▬ Grad I: runder Kopf, normale Hüfte ▬ Grad II: runder Kopf, Coxa magna (⊡ Abb. 32.47) ▬ Grad III: ovaler Kopf, Coxa magna ▬ Grad IV: flacher Kopf, Kongruenz mit Azetabulum ▬ Grad V: flacher Kopf, Inkongruenz Kopfrisikozeichen
Als »Head-at-risk«-Zeichen im Zusammenhang mit höheren Catterall-Gruppen gelten: ▬ Subluxation mit Wachstumsveränderungen des Hüftkopfes nach lateral
963 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
⊡ Abb. 32.48 Klassifikation nach Catteral. (Aus: Hefti 2009)
▬ exzentrische Knochenkernanteile außerhalb der Pfanne ▬ Verknöcherung der lateralen Epiphyse ▬ Metaphysenbeteiligung z Diagnostik z z Anamnese
▬ ▬ ▬ ▬
Familiäres Vorkommen Hüftdysplasie Infekt (Differenzialdiagnose) Knie- oder Hüftschmerz (Ruhe-, Belastungs-, Anlaufschmerz) ▬ Hinken, auch kaum bemerkbar ▬ Lauffaulheit, Ermüdbarkeit ▬ Remissionen, Schmerzintervalle
⊡ Abb. 32.49 Hüftgelenkerguss rechts bei M. Perthes im Initialstadium nach Waldenström ohne Deformierung der Hüftkopfepiphyse
z z Klinische Untersuchung ▬ Inspektion:
– Konstitution – Gangbild (Schonhinken, später Verkürzungshinken) – Muskelatrophien ▬ Palpation: – Leistendruckschmerz – Beckenfehlstellung (anatomische oder funktionelle Beinlängendifferenz) ▬ Funktionsprüfung: – Gelenkbeweglichkeit nach Neutral-Null-Methode – Bewegungseinschränkung, -schmerz (Innenrotation und Abduktion zuerst eingeschränkt) > Bis eine definitive Diagnose gestellt ist, ist der Begriff der »Beobachtungshüfte« für Hüftschmerz unklarer Genese gebräuchlich.
⊡ Abb. 32.50 MRT kindlicher Hüftgelenke bei M. Perthes rechts: Verlust des Fettsignals in der T1-Wichtung
z z Bildgebende Verfahren
▬ Röntgen des Beckens in a.p.-Projektion und LauensteinAufnahme: – Röntgenklassifikation – Stadium der Erkrankung (Waldenström) – Einteilung in die Catterall-Gruppen – Herring und ggf. Stulberg-Klassifikation – Kopfrisikofaktoren ▬ Sonographie (besonders im Frühstadium beim jungen Kind; ⊡ Abb. 32.49)
▬ MRT (Frühdiagnose, hochsensitiv mit Kontrastmittel) zur Verlaufsbeurteilung und Gruppeneinteilung ähnlich der Catterall-Klassifikation nach Schittich (⊡ Abb. 32.50) ▬ Arthrographie (gelegentlich intraoperativ zur genaueren Planung einer Umstellungsosteotomie) ▬ CT (selten bei Spätkomplikationen; ⊡ Abb. 32.51) ▬ Laborchemie (zur Differenzialdiagnostik) ▬ Szintigraphie (sehr selten zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung gegenüber anderen Hüftgelenkerkrankungen)
32
964
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.51 3D-Rekonstruktion im CT bei Subluxation des Kopfes aus der Gelenkpfanne bei M. Perthes rechts: bei Hüftabspreizung stößt der Kopf an den Pfannenerker
⊡ Tab. 32.10 Differenzialdiagnose M. Perthes/kindliche Hüftkopfnekrose
32
z
Kategorie
Erkrankungen
Kommentar
Syndrome
M. Gaucher Mukopolysaccharidose (M. Morquio) multiple epiphysäre Dysplasie (M. Ribbing-Meyer) spondyloepiphysäre Dysplasie
Meistens beidseitiger Befall, der symmetrisch im Schweregrad und im Krankheitsstadium auftritt
Hämatologische Erkrankungen
Sichelzellanämie Thalassämie Hämophilie Lupus erythematodes
Möglicherweise in Zusammenhang mit Steroidbehandlungen
Infektion
Septische Arthritis des Hüftgelenks proximale Femurosteomyelitis
Metabolische Erkrankungen
Hypothyreoidismus
Trauma
Schenkelhalsfrakturen Hüftluxation im Rahmen der Hüftdysplasie Epiphyseolysis capitis femoris
Reaktive Arthritiden
Coxitis fugax (Hüftschnupfen)
Tumoren
Lymphome Leukämien
Differenzialdiagnose
Zur Differenzialdiagnose M. Perthes/kindliche Hüftkopfnekrose vergleiche ⊡ Tab. 32.10. z
Therapie
Ein Konsens über die Behandlungsmethoden existiert nicht. Kontroversen zeigen sich darin, dass neben »Containment«Methoden (möglichst vollständige Überdachung des Hüftkopfes durch möglichst große Anteile der Hüftpfanne) auch sporadisch noch »Non-containment«-Methoden existieren. Letztere arbeiten unter der Vorstellung der möglichen Reduktion der Beanspruchung bzw. Belastung des Hüftkopfes durch spezielle Orthesen (Thomas-Splint, Mainzer Hüftentlastungsorthese) und Extensionen. Insgesamt sind letztere weltweit im Rückzug. Unterschiedliche klinische und röntgenologische Phänomene erfordern einen flexiblen Einsatz der Therapieprinzipien, gemäß der Maxime des bestmöglichen Einfassens des »weichen« nekrotischen Hüftkopfes in der Gelenkpfanne bei geringstmöglichen Schmerzen.
Komplikation zu später Drainage des infizierten Gelenks
Häufige Ursachen für Hüftkopfnekrosen, iatrogen durch Manipulationen am Gelenk im Rahmen der offenen Hüfteinstellung oder Abspreizbehandlung
Häufig Folge einer aggressiven kurativen Chemotherapie
Behandlungsziel ist der Erhalt bzw. die Wiedergewinnung von Schmerzfreiheit, Funktion und Mobilität während der Erkrankung und eines kongruenten, zentrierten Gelenks am Ende der Erkrankung. Diese Ziele sollen unter möglichst geringer funktioneller Beeinträchtigung des Patienten während der Behandlung verfolgt werden. z z Konservative Therapie
Konservative Verfahren nach »Containment«- wie nach »Noncontainment«-Prinzipien dienen der Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung. Die medikamentöse Therapie bei schmerzhaftem Hüftgelenkserguss (nach Abklärung der Differenzialdiagnose) erfolgt durch Gabe von Analgetika und NSAR. Die Physiotherapie besteht in der Aufschulung der Glutäen, Abduktions-Innenrotations-Training bis zur Schmerzgrenze und Gangschulung. Hinzu kommen Bewegungsübungen, besonders der Abduktion und Innenrotation. Zur Belastungsreduktion: Bettruhe mit und ohne Extension (im schmerzhaften Akutstadium), Rollstuhl und Kinderwa-
965 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
a
a
b ⊡ Abb. 32.52a,b Typischer OP-Situs bei Derotations-Varisations-Osteotomie am proximal-lateralen Oberschenkel rechts. a Darstellung des proximalen M. vastus lateralis, b 90°-Winkelplatte nach der Osteotomie
gen. Heute selten indiziert ist eine Orthesenversorgung zur Entlastung oder zusätzlich mit dem Ziel des »containment« in Abduktion und Innenrotation (fehlende Evidenz gegenüber anderen Verfahren). z z Operative Therapie
Im Einzelfall ist die Berücksichtigung der Catterall-Gruppe, vorhandener Risikofaktoren und des Lebensalters erforderlich. Eine Operationsindikation ergibt sich v. a. bei unvollständigem »containment« mit zunehmender passiver Bewegungseinschränkung in den Catterall-Gruppen III und IV. > Je jünger der Patient und je niedriger die CatterallGruppe ist, desto zurückhaltender sollte die Indikation zur Operation gestellt werden.
Verschlechtern sich während einer konservativen Therapie die gemessenen Innenrotations- und Abduktionswerte deutlich, so ist funktionell an eine beginnende Dezentrierung des Hüftkopfes zu denken. Das Auftreten von Kopfrisikozeichen sollte Anlass zur Besprechung von operativen Optionen geben. Demgegenüber kann das junge Kind (< 6. Lebensjahr) ohne Bewegungseinschränkung und ohne Schmerzen mit nur sporadischem Belastungsschmerz zwar engmaschig kontrolliert, aber fortgesetzt konservativ behandelt werden. Femurseitige Operationsverfahren
Standard ist die intertrochantäre Umstellungsosteotomie (nach bildgebender Planung zwei- oder dreidimensional) mit ei-
b ⊡ Abb. 32.53a,b Schenkelhalsverkürzung und Trochanterhochstand sowie Coxa magna mit dysplastischer Pfannenkongruenz als Spätfolge eines M. Perthes mit Belastungsschmerzen. a Präoperativ, b Schenkelhalsverlängerung nach Morscher und periazetabuläre Osteotomie nach Ganz
ner Varisierung von meist nicht mehr als 10–15° und entsprechender Derotation des femoralen Antetorsionswinkels (⊡ Abb. 32.52). Ziel dieses Verfahrens ist die Beseitigung einer ggf. vorhandenen sog. »hinged abduction«, d. h. einer Abduktionsunfähigkeit im Hüftgelenk durch eine lateral verbreiterte, deformierte Epiphyse, die bei Abduktion an den Pfannenrand stößt. Allein der Heilungsreiz der femoralen Osteotomie auf die Hüftkopfepiphyse hat vermutlich einen positiven Effekt auf den raschen Wiederaufbau der nekrotischen Hüftkopfepiphyse im Sinne einer Stimulation der Wachstumsfuge. Nach Wachstumsabschluss kann bei verkürztem und verbreitertem Schenkelhals, der sog. »Kopf-im-Nacken-Deformität« und/oder »Hirtenstabdeformität« eine Trochanterdistalisierung bzw. eine Schenkelhalsverlängerung nach Morscher notwendig sein. Sie verbessert die biomechanisch ungünstigen Hebel- und Druckverhältnisse im Gelenk (⊡ Abb. 32.53).
32
966
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
b
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32
⊡ Abb. 32.54a–c Laterale Subluxation des Hüftkopfes bei M. Perthes rechts. a Präoperativ, b Hypercontainment-Therapie mit Beckenosteotomie nach Salter und Femurvarisationsosteotomie, c Ausheilungsergebnis nach einem Jahr
Beckenseitige Operationsverfahren
Falls durch die intertrochantäre Varisierung keine ausreichende Überdachung erzielt wird (intraoperative Arthrographie), kann durch die Beckenosteotomie nach Salter eine verbesserte Pfannenposition und damit eine noch stärkere Einfassung des Hüftkopfes (Hypercontainment) erreicht werden. Diese Beckenosteotomie sorgt auch für einen Beinlängenausgleich bei M.Perthes-bedingt verkürztem Bein (⊡ Abb. 32.54). Zu den postoperativen Maßnahmen gehören eine adäquate Schmerztherapie mittels Periduralschmerzkatheter, eine spezielle Lagerung in Beugung von Hüfte und Knie (30°) im Bett, ggf. leichte Längsextension über elastischen Verband für 3–5 Tage, Becken-Bein-Gipsverband noch in Narkose nach der Operation nur bei ganz jungen Kindern (3–5. Lebensjahr) für 4 Wochen, kurzfristige klinische und radiologische Verlaufskontrolle am 2. postoperativen Tag, dann erneut 4 und 8 Wochen später, Entlastung an Gehstützen oder im Liegerollstuhl für 6–8 Wochen, dazu – bei Gipsfreiheit bei älteren Patienten – eine individuelle Physiotherapie und ein individueller Belastungsaufbau (Bodenkontakt mit Gehstützen Woche 1–8, dann schrittweiser Belastungsaufbau). Kirschner-Draht-Entfernung bei Salter-Beckenosteotomie nach 6 Wochen, Materialentfernung am Femur nach 12 Monaten.
c
Zu den allgemeinen Risiken und Komplikationen gehören Wundheilungsstörungen, Nervenläsionen und Gefäßläsionen. Zu den speziellen Folgen und Komplikationen zählen: ▬ Restbewegungseinschränkung ▬ Beinlängendifferenz ▬ ausbleibende oder verzögerte Knochenheilung ▬ Unter- bzw. Überkorrektur, Korrekturverlust ▬ Spätschäden (Arthrose) Die operative Beeinflussbarkeit ist abhängig vom Alter, sodass keine sichere Korrelation von Operation und Verbesserung des Ergebnisses besteht und man ebenso wenig eine sichere Verkürzung der Erkrankungsdauer vorhersagen kann.
Therapeutisches Vorgehen – Stufenschema
▬ Orientierungskriterien: – – – ▼ –
Lebensalter Catterall-Gruppen Risikofaktoren Schmerzen und Funktionseinschränkung
967 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
▬ Stufe 1 (ambulant): Beratung, Physiotherapie, analgetische, antiphlogistische Therapie, kürzere häusliche Bettruhe, Kontrollen in Vierteljahresabständen, in Ausnahmen Orthesenversorgung ▬ Stufe 2 (ambulant,stationär): analgetische, antiphlogistische Therapie, Bettruhe, Extension, Physiotherapie
▬ Stufe 3 (stationär): – konservativ: Bettruhe und Extensionen bei komplizierenden Hüftgelenkergüssen, Physiotherapie und Remobilisation – operativ: femur- oder/und pfannenseitige Osteotomien zur Wiederherstellung des »containments«
32.4.3 z
Epiphyseolysis capitis femoris
Synonym
Hüftkopfepiphysenlösung. z
Definition
Erkrankung des Jugendlichen am Beginn der zweiten Lebensdekade meist im präpubertären Wachstumsschub, bei der sich die Hüftkopfepiphyse in der Wachstumsfuge vom Schenkelhals löst und abgleitet. z
Epidemiologie
Das Geschlechtsverhältnis Jungen zu Mädchen beträgt 2:1 bis 3:1, der Altersgipfel liegt bei Mädchen bei ca. 12 Jahren, bei Jungen bei ca. 14 Jahren. In bis zu 80% der Fälle sind beide Hüften betroffen. Ein gehäuftes familiäres Vorkommen liegt bei 5–10% der Erkrankten vor. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursache ist eine präpubertäre Verbreiterung des Wachstumsknorpels mit Minderung der mechanischen Resistenz, in der Folge ein noch schnelleres Knorpelwachstum und unzureichender Mineralisation (Verknöcherung). Übergewicht und Stoßbelastungen führen zu Überlastung. Die Ätiologie ist wahrscheinlich nicht einheitlich: Hormonelle Faktoren, toxische Schädigungen, rein mechanische Faktoren, Scherkräfte auf die Wachstumsfuge kommen infrage. Häufig zeigt der Habitus eine Dystrophia adiposogenitalis oder einen eunuchoiden Hochwuchs. Notwendig ist die Unterscheidung zwischen drohender (ECF imminens: Verbreiterung der Wachstumsfuge) bzw. beginnender Lösung (ECF incipiens), aus denen sich plötzlich ein akutes Abgleiten der Kopfepiphyse (ECF acuta) entwickeln kann, oder ein viele Monate andauerndes, langsames Abgleiten der Kopfepiphyse (ECF lenta). Aus einer zunächst entstehenden ECF lenta kann sich auch plötzlich die akute Form entwickeln (»acute on chronic«). > Langzeituntersuchungen bei Patienten mit ECF haben ergeben, dass v. a. bei Gleitwinkeln über 20° in der Frontalebene und über 30° in der Transversalebene spätere Arthrosen drohen.
⊡ Abb. 32.55 Typischer Habitus mit erhöhtem Risiko für eine Epiphyseolysis capitis femoris
Diese sind dadurch zu erklären, dass Reparaturmechanismen des Körpers zu Veränderungen des Schenkelhalstorsionswinkels (Retrotorsion) führen und gleichzeitig Übergangsstörungen zwischen Epiphyse und Schenkelhals hervorrufen, die bei Abspreizung und Beugung der Hüfte zum CAM-Impingement führen. Früher übliche Operationsverfahren waren mit einer höheren Rate an Hüftkopfnekrosen und Knorpelnekrosen belastet als die modernen schonenderen Verfahren der heutigen Zeit. Mittelfristige Nachuntersuchungsergebnisse in den letzten 10 Jahren haben einen deutlichen Rückgang dieser teilweise osteotomiebedingten Komplikationen gezeigt. z Diagnostik z z Anamnese
Die Schmerzen sind bei ECF incipiens zunächst leicht und manifestieren sich durch belastungsabhängige Hüft- oder Knieschmerzen (häufig verharmlost). Bei der ECF lenta liegen Hüftoder Knieschmerzen oft über Wochen und Monate vor, während die ECF acuta durch stärkste Schmerzen mit Verlust der Gehfähigkeit (»Schenkelhalsfraktur des Kindes«) plötzlich oder nach Gelegenheitstrauma imponiert. Erhoben werden müssen Allgemeinerkrankungen wie Adipositas und Hypothyreose sowie familienanamnestische Daten: andere Familienmitglieder mit ECF sowie ethnische Aspekte (Häufung der ECF bei Afroamerikanern). z z Klinische Untersuchung
Neben der Beurteilung des Habitus (⊡ Abb. 32.55) muss der Bewegungsumfang und Bewegungsschmerz dokumentiert werden: Die betroffenen Hüfte weißt immer eine eingeschränkte
32
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
a
b
c
⊡ Abb. 32.56a–c ECF acuta auf lenta links bei einem 12-jährigen Jungen: Zunächst nur leichte Dislokation, dann plötzlich starke Probleme mit komplettem Abrutschen. a September 2001, b November 2001, c Januar 2002
32
Innenrotation auf. Das klassische Drehmann-Zeichen ist dann positiv, wenn bei schon fortgeschrittener Erkrankung der Untersucher beim liegenden Patienten die Hüfte beugt und sich das gesamte Bein dabei in die Außenrotation dreht. Die Beurteilung des Gangbilds offenbart meist ein TrendelenburgHinken der betroffenen Seite.
ECF acuta
Es handelt sich um einen orthopädischen Notfall mit unverzüglicher Klinikeinweisung. In Narkose ist zu prüfen, ob eine Reposition der Epiphyse ohne Kraftaufwand möglich ist. Gelingt dies, sollte unverzüglich eine Fixation der Kopfepiphyse mittels kanülierter Schraube oder beim kleinen Kind auch mit Kirschner-Drähten erfolgen.
z z Bildgebende Verfahren
Von beiden Hüften werden axiale und a.p.-Röntgenbilder angefertigt. Die a.p.-Aufnahme zeigt eine Verbreiterung der Epiphysenfuge und scheinbare Verschmälerung der Epiphyse. Die axiale Aufnahme dient der Bestimmung des Gleitwinkels zwischen Schenkelhalsachse und Epiphysenbasis (⊡ Abb. 32.56). Die Sonographie beider Hüften zeigt eine Kapseldistension, Unterbrechungen und Erweiterung der Epiphysenfuge. z
Differenzialdiagnose
▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Coxitis fugax septische Koxitis Tumor alte Hüftdysplasie schwere Verlaufsform des M. Perthes
z Therapie z z Operative Therapie
Die Dringlichkeit der Operation und die Wahl des Operationsverfahrens richten sich nach folgenden Kriterien: ▬ ECF acuta oder ECF lenta ▬ Ausmaß des Gleitwinkels in beiden Projektionsebenen ▬ Alter des Patienten bzw. Ausmaß der noch vorhandenen Wachstumspotenz
> Eine druckentlastende Miniarthrotomie ist zur Schonung der Blutgefäße notwendig.
Gelingt die Reposition nur unter vermutetem großem Kraftaufwand, ist bei erheblichem Abkippwinkel >50° ein offenes Verfahren mit Hämatom-/Hüftergussentlastung und offener Reposition sowie kanülierter Schrauben- oder KirschnerDraht-Fixation zu empfehlen. Um bei dieser offenen Repositionsform die relativ hohe Epiphysennekroserate zu reduzieren, ist eine spannungsfreie Wiederherstellung der Anatomie äußerst wichtig. ECF incipiens/imminens
Fixation in situ mit kanülierter gleitender Schraube oder seltener mittels Kirschner-Drähten. Das voraussichtliche Wachstum des Kindes ist zu berücksichtigen. Gegebenenfalls sind im späteren Verlauf des Wachstums Schrauben bzw. KirschnerDrähte zu wechseln. Die Behandlung endet erst mit Abschluss des Wachstums. ECF lenta mit Gleitwinkel a.p. <20° und axial 30°
Fixation in situ mittels kanülierter Gleitschraube oder Kirschner-Drähten.
969 32.4 · Kindliches Hüftgelenk
a
b
c
⊡ Abb. 32.57a–e ECF: Imhäuser-Osteotomie. a Ventraler Flexionskeil und lateraler Valgisationskeil intertrochantär entnommen (Sicht von vorne), b Eingebrachte Valgisationswinkelplatte eingebracht (Platte läuft im Maße der geplanten Flexion vom Schaft nach vorne weg: Sicht von lateral), c Repositionsergebnis nach Imhäuser-Osteotomie in Valgisation und Flexion, sowie Derotation (von vorne) (Aus: Hefti 2009)
a
c
b
ECF lenta mit Gleitwinkel a.p. >20° und axial 30–50°
Fixation in situ mit kanülierter Gleitschraube mit/ohne intertrochantärer Korrekturosteotomie nach Imhäuser (⊡ Abb. 32.57). Diese korrigiert die in situ fixierte Fehlstellung extraartikulär durch intertrochantäre Innenrotationsosteotomie sowie Valgisations- und Flexionseinstellung des Schenkelhalses samt Epiphyse im Azetabulum. ECF lenta mit Gleitwinkel axial >50°
Empfehlung der kanülierten Schraubenfixation in situ und intertrochantäre extraartikuläre Imhäuser-Osteotomie (⊡ Abb. 32.58).
d
⊡ Abb. 32.58a–d ECF rechts bei einem 12-jährigen Mädchen. a ECF lenta, b dann ECF acuta auf lenta, c, d Röntgenbild (2 Ebenen) nach Imhäuser-Osteotomie bei ECF: Valgisation, Flexion, Innenrotation des Femurschafts rechts
Alternativ mit besserer Korrekturmöglichkeit steht die subkapitale intraartikuläre Korrekturosteotomie mit Epiphysenreposition und kanülierter Schraubenfixation zur Wahl, allerdings mit erheblichem Aufwand und Risiko. Die subkapitale Osteotomie (z. B. nach Dunn) birgt ein erhöhtes Epiphysennekroserisiko. > In Europa wird die prophylaktische Verschraubung der »gesunden« Gegenseite empfohlen: Mit einem um 10% erhöhten Risiko zeigt sich auch hier die Epiphyseolyse.
32
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
a
c
b
d
⊡ Abb. 32.59a–d ECF acuta. a Präoperativ, b geschlossene Reposition/Kapselfensterung und Schraubenepiphyseodese beidseits, c Hüftkopfnekrose links nach geschlossener Reposition, d palliative Varisationsosteotomie links
z
Komplikationen
▬ Allgemeine Risiken und Komplikationen: Hämatom, Wundheilungsstörung, Wundinfekt, Gefäßverletzung, Nervenverletzung ▬ spezielle Komplikationen: – In-situ-Spickung: Gelenkkontakt der Drähte bzw. Schrauben, Implantatdislokation, mangelhafte Fixation der Kopfepiphyse, Kopfnekrose – Osteotomie: Implantatdislokation, Gelenkkontakt des Implantats, Kopfnekrose (⊡ Abb. 32.59), WaldenströmKnorpelnekrose ▬ längerfristige Folgen: Beinlängenunterschied, Verkürzung des Schenkelhalses, Verlust der Fixation über die Jahre durch Wachstum (neuerliche Fixation notwendig), Herauswachsen von Kirschner-Drähten aus der Kopfepiphyse
32.5
Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
Die Herausforderung für den Arzt ist es, die seltenen pathologischen Deformitäten im Bereich der unteren Extremität von den deutlich überwiegenden einfachen, spontan verschwindenden, physiologischen Varianten im Kleinkindes- und Kindesalter zu
unterscheiden. Dieses Kapitel behandelt häufige Erkrankungen und Deformitäten, die ein oder mehrere Segmente der unteren Extremität betreffen.
32.5.1
Differenzialdiagnose kindlicher Beinschmerz
Wachstumsschmerzen, die bei 15% der Kinder auftreten, sind idiopathische, gutartige, wenngleich unbehagliche Sensationen im Bereich der unteren Extremität. Dieses Phänomen zeigt keine funktionellen Störungen oder objektivierbare klinische Zeichen und verschwindet ohne Folgen nach einiger Zeit genauso spontan, wie es zunächst auftrat. Sie sind bei Mädchen als bei Jungen häufiger, treten oft nachts und betreffen primär die Beine. Die Ursache ist unbekannt, obgleich vermutet wird, dass neben genetischen Gründen auch Reizungen des Periosts durch funktionelle und strukturelle Überlastung des Bewegungssystems (Hypermobilität) als Erklärung infrage kommen. Man vermutet auch die Ursachen im Längenwachstum der Knochen mit einer verminderten Anpassung von Sehnen und Muskeln und dem Symptomenkomplex der »Pubertätssteife«. Wachstumsschmerzen im Beinbereich gehören mit Kopfund Bauchschmerzen zu den häufigsten Schmerzen während
971 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
der Kindheit. Die Differenzialdiagnose von Beinschmerzen beinhaltet natürlicherweise alle im Bereich des Bewegungssystems potenziell schmerzauslösenden Umstände und Erkrankungen. Dementsprechend ist die Diagnose per Ausschlussverfahren einzukreisen.
Differenzialdiagnose kindlicher Beinschmerz
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Grippe, Borreliose unspezifische Arthritis, Rheuma, Osteomyelitis Coxitis fugax, Gonitis fugax Osteochondrom, Chondroblastom, Ewing-Sarkom, Osteosarkom Familiendynamik, Kindsmisshandlung (»battered child«), Imitation Epiphyseolyse, M. Perthes Coxa saltans Osteochondrosis dissecans Wachstumsschmerzen
⊡ Tab. 32.11 Differenzierungsalgorithmus zwischen Wachstumsbeinschmerzen und ernsten Problemen Untersuchungsinhalt
Wachstumsschmerz
Ernste Erkrankung
Lange Schmerzanamnese
Häufig
Normalerweise selten
Lokalisierter Schmerz
Nein
Häufig
Symmetrischer Schmerz
Häufig
Ungewöhnlich
Veränderte Alltagsaktivität
Nein
Häufig
Hinken/Humpeln
Nein
Manchmal
Gesundheitszustand
Gut
Möglicherweise krank
Berührungsempfindlichkeit
Nein
Möglicherweise
Schonhaltung
Nein
Möglicherweise
Reduzierter Bewegungsumfang
Nein
Möglicherweise
BSG
Normbereich
+/- pathologisch
CRP/Blutbild
Normbereich
+/- pathologisch
Anamnese
Klinische Untersuchung
z Diagnostik z z Anamnese
Beinschmerzen aus der Gruppe der Wachstumsschmerzen haben typischerweise sehr vagen Charakter, sind schlecht lokalisierbar, oft beidseitig und treten häufig nachts auf, in der Regel ohne den Aktivitätsgrad tagsüber einzuschränken. Das Gangbild wird genauso wenig beeinträchtigt wie der allgemeine Gesundheitszustand. Wichtige Fragen an die Eltern sind: ▬ Erscheint das Kind im Gesamtzustand krank? ▬ Humpelt es tagsüber ? ▬ Ist eine offensichtliche Deformität oder Kontraktur vorhanden?
Laboruntersuchungen
Deformität ist. In jedem Fall handelt es sich um ein abklärungsbedürftiges klinisches Zeichen (⊡ Tab. 32.12). Typische Fremdanamnese beim kindlichen Beinschmerz
▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
Hinken, Lahmen Stolpern, Schongang, Watscheln Fieber leicht ermüdbar Weinen, Jammern, auf dem Schoß apathisch, still, verschlossen reizbar
z Diagnostik z z Anamnese
Typische Fragen betreffen den Beginn (ob plötzlich oder schleichend, ob von Geburt an oder später beginnend), den Zusammenhang mit einem Trauma oder einer Erkrankung, den allgemeinen Entwicklungsstand und den Verlauf der Beschwerden (Vorliegen neuromuskulärer Erkrankungen, die die motorische Entwicklung beeinträchtigten). z z Klinische Untersuchung
z z Klinische Untersuchung
Zu beurteilen ist, ob sich eine tastbare Berührungsempfindlichkeit im Bereich der Beine oder des Rumpfes ergibt, ob die Beweglichkeit aller Gelenke frei und ohne Kontrakturen ist und insbesondere die Hüftgelenke bezüglich der Innenrotation symmetrisch sind (⊡ Tab. 32.11).
32.5.2
Differenzialdiagnose Hinken
Das Hinken stellt eine Anomalität des Gangbilds dar, deren Ursache im Allgemeinen Schmerz, Muskelschwäche oder eine
Ein Hinken kann durch etwas Einfaches wie ein Steinchen im Schuh oder etwas Komplexes wie ein Osteosarkom hervorgerufen werden. Dementsprechend können Verallgemeinerungen bezüglich des sicheren Managements nicht gemacht werden. Oft kann trotz guter klinischer Beschreibung des Hinkens die Ursache nicht geklärt werden. Regelmäßige Befundkontrollen in kurzen Abständen sind wichtig, bis die Diagnose geklärt ist. Ein Hinken muss immer am bis auf die Unterwäsche entkleideten Kind und über eine längere Gehstrecke untersucht werden; ein Video ist hilfreich. Vier Typen des Hinkens beeinflussen das klinische Erscheinungsbild.
32
972
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Tab. 32.12 Algorithmus zur Bewertung eines Hinkens (Gangbeobachtung) Schmerzhinken
Trendelenburg-Hinken
Spitzfußhinken
Zirkumduktionshinken
Gangbild
Kurze Standbeinphase
Trendelenburg-Schwanken
Zehen-Fersen-Gang
Zirkumduktion in der Schwungbeinphase
Klinik
Schmerzhaftigkeit, Bewegungseinschränkung
Trendelenburg-Zeichen; Duchenne-Zeichen
Achillessehnenverkürzung
Beinlängenprüfung, neurologische Untersuchung, Gelenkbeweglichkeit
Bildgebung/ Tests
Röntgen, evtl. MRT, Szintigraphie
Röntgenbeckenübersicht
Silfverskiöld-Test
Wachstumsprognosen, Röntgenhandskelett (Greulich-Pyle-Score)
Typische Beispiele von Erkrankungen
Hüftdysplasie Zerebralparese
Zerebralparese (Hemiparese) Klumpfuß idiopathischer Zehenspitzengeher
Beinlängendifferenz Fußschmerzsyndrom
Trauma Kleinkindesfraktur Überlastungssyndrome Infektionen Sehnenansatztendinosen reaktive Synovialitiden, Hüftschnupfen
Schmerzhinken
32
Typisch ist die verkürzte Standphase auf der betroffenen Seite. Um hier dem unangenehmen Schmerzgefühl auszuweichen, wird die Belastungszeit auf dem betroffenen Bein reduziert. Notwendig ist die Verifizierung des Befunds durch Feststellung einer einseitigen Schongelenkstellung, Bewegungseinschränkung und einer schmerzhaften Berührungsempfindlichkeit. Ultraschall der betroffenen Region, Röntgendarstellung in 2 Ebenen, Blutsenkung, CRP und Blutbild sind erforderlich. Bei allseits negativen Befunden sollten eine MRT oder eine Szintigraphie durchgeführt werden. Spitzfußhinken
Spitzfüßiges Gehen ist normalerweise auf eine Kontraktur im Bereich des M. triceps surae zurückzuführen. Diese wiederum hat ihre Ursache in einer infantilen Zerebralparese mit Muskeltonuserhöhungen, Restklumpfußdeformität oder einer idiopathischen Verkürzung der Achillessehne durch idiopathische Muskeltonuserhöhung. Unabhängig von der Ursache führt die Spitzfüßigkeit zu einer Umkehrung des Abrollvorgangs von den Zehen zur Ferse in der Standphase der betroffenen Seite, was beim jüngeren Kind eine rekurvierte Kniestellung (Genu recurvatum) nach sich zieht. Der Grad der Dorsalextension im oberen Sprunggelenk wird mit dem Silfverskiöld-Test in Kniestreckung und Kniebeugung dokumentiert. Hierbei kann zwischen selektiven Verkürzungen zwischen M. gastrocnemius (entspannt bei Kniebeugung) und M. soleus unterschieden werden. > Bei Extensionswerten im oberen Sprunggelenk unter 10° ist eine gründliche neurologische Untersuchung notwendig.
Standbeinphase zur betroffenen Seite. Beim normalen Gangbild kontrahieren sich die gleichseitigen Abduktorenmuskeln jeweils in der Standbeinphase, um das Becken in der Horizontalen und den Körperschwerpunkt auf einer linearen Fortbewegungslinie im Raum zu halten. Bei Grad II der Schwäche (Trendelenburg-Zeichen) kippt das Becken und fällt schließlich in Richtung der Schwungbeinseite, sodass sich diese absenkt. Um den Körperschwerpunkt über dem Standbein zu halten, neigt sich der Oberkörper über das schwache Standbein (Duchenne-Zeichen): Dies wird als Trendelenburg-Gang (bei beidseitigem Auftreten im Rahmen der Muskeldystrophie Duchenne auch als Duchenne-Hinken) bezeichnet. Klinisch ist dies mit dem Trendelenburg-Zeichen zu prüfen, wobei beim Einbeinstand die Stabilisierung des Beckens beobachtet wird: Fällt oder senkt sich das Becken auf der Schwungbeinseite, gilt das Zeichen als positiv. Eine Röntgenübersichtsaufnahme des Beckens im Stehen und eine neurologische Untersuchung geben Hinweise auf die Ursachen. Zirkumduktionshinken
Diese Gangform erlaubt dem funktionell längeren Bein in der Schwungbeinphase voranzukommen, ohne am Boden zu schleifen. Das Bein wird in großem Bogen nach außen schwingend nach vorne geführt. Gelegentlich wird ein Zirkumduktionshinken bei schmerzendem Sprunggelenk oder anderen schmerzenden Fußgelenken beobachtet, wobei hierdurch weniger Bewegungsamplitude des betroffenen Sprunggelenks beim Gehen notwendig wird.
32.5.3 Duchenne- und Trendelenburg-Hinken
Eine Schwäche der Hüftabduktoren (M. gluteus medius), aufgrund neuromuskulärer oder hüftdysplastischer Ursachen, führt zu dieser Form des »Rumpfschaukelns« in der Frontalebene (Grad I der Schwäche: Duchenne-Zeichen). Hierbei schwingt charakteristischerweise die Schulter jeweils in der
Achsendrehfehler der unteren Extremitäten
Der Terminus »Version« beschreibt die normalen Variationen der Gliedmaßendrehung. Die tibiale Version bezeichnet die normale Winkeldifferenz zwischen der transkondylären Achse des Knies und der transmalleolaren Achse des Schienbeins. Die
973 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
c
a
b
d
⊡ Abb. 32.60a–d Vermehrte Antetorsion des Femurs und Außenrotationsfehlstellung Tibia beidseits (additive Fehlstellung). a, b Klinisch, c, d transversales CT des Beckens und der Femurkondylen zur Darstellung der vermehrten Einwärtsdrehung der Femurschaftachse (vermehrte Schenkelhalsantetorsion) und gleichzeitig vermehrter Einwärtsdrehung der Femurkondylen
normale Tibiaversion geht nach lateral (ca. 15° Außenrotation beim Jugendlichen). Die femorale Version ist die anguläre Differenz zwischen der transzervikalen und der transkondylären Achse. Das normale Femur ist beim Jugendlichen um ca. 15° antevertiert (= 15° Schenkelhalsantetorsion). Die Torsion einer anatomischen Struktur beschreibt streng genommen eine Version, die um mehr als 2 Standardabweichungen vom Durchschnittswert abweicht. Sie wird als Deformierung angesehen. Analog dazu ist die Antetorsion des Femurs (mediale femorale Torsion = MFT) und die Retrotorsion (laterale femorale Torsion = LFT) als weitgehend abnormale Femurdrehung zu bezeichnen. Drehfehler können einfach sein, d. h. nur ein Segment betreffen, oder aber komplex und mehrere Segmente involvieren. Komplexe Drehfehler können additiv oder kompensierend wirken: So wirken die Tibiainnenrotation und die gleichzeitige femorale Antetorsion additiv, die Tibiaaußenrotation und die femorale Antetorsion hingegen kompensierend (⊡ Abb. 32.60). Entwicklungsgeschichtlich beginnt das gesamte Bein in der siebten Fetalwoche nach innen zu rotieren, um den großen Zeh in die Mitte der Fortbewegungsachse zu bringen. Die femorale Anteversion (»Antetorsion des Schenkelhalses«) verringert sich dann mit dem Wachstum von etwa 30–40° bei Geburt auf ungefähr 10–12° bei Erreichen der Skelettreife. Die weiblichen Messwerte liegen höher als die männlichen. Die Tibia rotiert demgegenüber von Geburtswerten von 5° Außenrotation in Richtung 15° Außenrotation bei Wachstumsabschluss. Zusammenfassend betrifft der Hauptwachstumseffekt die Außenrotation sowohl des Femurs als auch der Tibia: Die femorale Anteversion (»Antetorsion«) und Tibiainnenrotation verbessern sich in der Wachstumszeit kontinuierlich. Im Gegensatz dazu verschlechtert sich eine bereits bestehende Tibiaaußentorsion im Wachstum beständig.
z Diagnostik z z Klinische Untersuchung
Die Erstellung eines Profils des Beinrotationsmusters ist die Grundlage der Beurteilung einer etwaigen Rotationsdeformität. Das Vorgehen umfasst 4 Schritte: Schritt 1
Beobachtung des gehenden und rennenden Kindes mit Abschätzung des Fußprogressionswinkels (FPW): Dies ist die anguläre Differenz zwischen Fußachse und Fortbewegungsachse. Das durchschnittliche Ausmaß von Fußeinwärtsdrehung (Minuswerte) und Auswärtsdrehung (Pluswerte) wird abgeschätzt. Einwärtsdrehungen von –5 bis –10° sind mild, Werte von –10 bis –15° moderat und Werte über –15° sind als schwerwiegend einzuschätzen. Zeigt das Kind beim Rennen ein typisches Auswärtsschlagen (»Eierquirlgang«) des Unterschenkels in der Schwungbeinphase, so liegt eine vermehrte femorale Antetorsion (= Innenrotation) mit vermehrter Einwärtsdrehung des Oberschenkels zugrunde. Schritt 2
Die femorale Version wird durch Messung der Hüftrotation bestimmt: In Bauchlage wird die Rotation der Hüfte bei gebeugtem Knie und gestreckter Hüfte gemessen. Die Hüftinnenrotation beträgt normalerweise weniger als 60–70°, die Hüftaußenrotation normalerweise 40–60°. Schritt 3
Die Messung der tibialen Version erfolgt durch die Bestimmung des Oberschenkel-Fuß-Winkels oder der transmalleolären Achse. In Bauchlage werden die Knie um 90° gebeugt, der Fuß sollte – nur leicht geführt – in eine natürliche Position im rechten Winkel zum Tibiaschaft fallen, wobei die Winkeldifferenz zwischen der Achse des Oberschenkels und des Fußes ein Maß für die Gesamtrotation von Rückfuß und Vorfuß
32
974
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
gegenüber dem Oberschenkel darstellt. Die gesuchte tibiale Anteversion wird durch die Winkeldifferenz zwischen Oberschenkelachse und transmalleolarer Achse gefunden. Die Bandbreite der Normalwerte ist groß, und die Durchschnittswerte wachsen mit fortschreitendem Alter an. Schritt 4
a
Ein Metatarsus adductus (»Sichelfuß«) wird bei der Beurteilung der Oberschenkel-Fuß-Achse deutlich. Die laterale Seite des Fußes sollte gerade sein; ist sie konvex und zeigen die Zehen eine Adduktionsstellung, kann ein Sichelfuß diagnostiziert werden. Ein pronierter Fuß oder Plattfuß kann Ursache einer Auswärtsdrehung des Fußes sein. z z Bildgebende Verfahren
Nur bei schwerwiegendem Verdacht einer operationswürdigen Rotationsdeformität werden bildgebende Verfahren eingesetzt. Die femorale Antetorsion kann mit Röntgenbildern der Hüften in 2 Ebenen (a.p., Lauenstein) sowie einer sog. »Froschaufnahme« (Rippstein-II-Aufnahme, ⊡ Abb. 32.61) zur annähernden Bestimmung des Antetorsionswinkels beurteilt werden. Eine relevante Hüftdysplasie und damit das Verhältnis zwischen Femurkopf und Azetabulum sollte mit diesen Aufnahmen ebenfalls beurteilbar sein. > Im Allgemeinen wird eine femorale Antetorsion >50° bei Abschluss der Pubertät als operationswürdig erachtet.
32
Dann sollten zur Operationsplanung CT, MRT und Sonographie zur genaueren Bestimmung der transzervikalen, transkondylären und transmalleolären Achsen eingesetzt werden. Insgesamt fehlen normative Werte, sodass Operationsindikationen nur unter sorgfältiger Abwägung aller funktionellen und individuellen Faktoren zu stellen sind. z
Therapie
Die Herausforderung bei der Behandlung von kindlichen Rotationsfehlstellungen stellt die effektive Aufklärung und Betreuung der Familie dar. Da viele Rotationsbesonderheiten, wie beispielsweise der vermehrte einwärts gedrehte Gang, sich im weiteren Wachstum spontan von selbst bessern, ist es bei der großen Mehrzahl der Kinder das Beste, abzuwarten. Versuche, auf das Kind bezüglich Sitz-, Stand-, Lauf- oder Schlafposition kontrollierenden Einfluss zu nehmen, sind zum Scheitern verurteilt und produzieren Frustrationen und Konflikte zwischen Kind und Eltern. Keileinlagen in den Schuhen oder spezielle Orthesen mit Außenrotationsquengelung sowie Nachtlagerungsschienen haben nachgewiesenermaßen keinen Effekt. Die Familie muss davon überzeugt werden, dass primär Beobachtung das Mittel der Wahl ist: Dies erfordert natürlich eine sorgfältige und ernsthafte Untersuchung, Aufklärung sowie Bestätigung der Eltern und regelmäßige Nachuntersuchungen. Es muss der Familie klar gemacht werden, dass sich vermutlich weniger als 1% der Torsionsfehlstellungen nicht von selbst auflösen und deshalb später eine operative Korrektur erfordern. Eine Übersicht zur Einteilung der Rotations- und Torsionsprobleme an Bein und Fuß sowie der daraus resultierenden Behandlung zeigt ⊡ Abb. 32.62.
b ⊡ Abb. 32.61a,b Röntgenaufnahmen zur Beurteilung von Achsendrehfehlern. a Rippstein-II-Aufnahme (»Froschaufnahme«) zur Bestimmung der projizierten Femurantetorsion, b Becken- und Hüftübersichtsaufnahme in der a.p.-Projektion zur Bestimmung von Zentrum-KollumDiaphysen-, Pfannendach- und Zentrum-Ecken-Winkel
Säugling (bis 15 Monate)
Wenn der ältere Säugling seine ersten Vertikalisierungsversuche macht, wird eine vermehrte »Außenrotationsfehlstellung« der Beine beobachtet: Dies ist auf Residuen der Femuraußenversion in utero zurückzuführen und bildet sich natürlicherweise schnell zurück. Eine ebenfalls typische Sichelstellung der Füße verschwindet in 90% der Fälle. Zu achten ist auf eventuelle Rigidität des Metatarsus adductus (Pes adductus) bzw. Persistenz, welche physiotherapeutisch behandelt werden sollten. Persistiert die Adduktionsstellung bis spät in das erste Lebensjahr oder ist trotz Physiotherapie die Rigidität nicht beherrschbar, sollte eine Lagerungsschienenbehandlung, z. B. nachts, erfolgen. Kleinkind (1,5–4 Jahre)
Das einwärts gedrehte Gangbild ist im Verlauf des zweiten Lebensjahres sehr häufig zu beobachten und wird gerade dann festgestellt, wenn das selbstständige Gehen sich voll entwickelt. Dieses Einwärtsgehen kann 3 Gründe haben: ▬ Tibiainnentorsion ▬ Metatarsus adductus (Pes adductus) ▬ Hallux adductus (Hallux varus) Die Tibiainnendrehung ist der häufigste Grund für das innenrotierte Gangbild. Meist ist die Innentorsion asymmetrisch (links mehr als rechts). Nachtlagerungsschienen und Keileinlagen werden zwar immer noch – auch aus Gründen der Beru-
32
975 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
Fuß- und Beintorsion
Screening-Untersuchung auf Hüftdysplasie, Zerebralparese usw.
Hüftrotation +70° innen -10° außen
Art der Rotation Hallux varus
Regelmäßige Kontrollen
Serpentinenfuß
Knie- Fuß- Winkel <15°
Sichelfuß
Tibiainnendrehung
Flexibel
i.d.R. 99,99%
>8 Jahre
Femurinnendrehung
0-8 Jahre
0-8 Jahre
>8 Jahre
Ja Beobachten
Nein Alter >12 Monate Schwach bis mäßig
<12 Monate
Schwach bis mäßig
Wenn es bestehen bleibt Korrektur im Gips
Beobachten
Beobachten
Antivarusschienen Korrektureinlage
Beobachten
0,1%
Verschwindet Nachtlagerungsschiene
Schwer und behindernd
Rotationsosteotomie
Rezidiv
Unüblich
⊡ Abb. 32.62 Algorithmus zur Einteilung von Rotations- und Torsionsproblemen an Bein und Fuß
higung der Eltern – verordnet, haben aber vielfältigen Studien zufolge keinen nachweisbaren Effekt. Der Pes adductus (Metatarsus adductus) oder Sichelfuß als gutartige Teilkomponente des Klumpfußes, evtl. kombiniert mit einer Tibiainnendrehung, ist häufig Ursache für den Einwärtsgang. Abhängig vom Schweregrad können zur Behandlung Serienoberschenkelgipse in leichter Kniebeugung oder auch reine Unterschenkelgipse als Gehgipse zur Behandlung eingesetzt werden. Alternativen sind sog. Antivarusschuhe: knöchelübergreifende Kinderschuhe, deren Sohle – ähnlich dem »Linksherumtragen« von Schuhen – in Abduktionsrichtung gearbeitet ist. Ähnlich effektiv sind Dreipunktstützeinlagen, die nach dem Dreipunkteprinzip »mediale Ferse – Os cuboideum – Metatarsale-I-Köpfchen« dem Fuß eine Wachstumsrichtung vorgeben. Der Hallux adductus entsteht durch Hyperaktivität des M. abductor hallucis in der Standphase, häufig in gleichzeitiger Flexions-Adduktions-Stellung der anderen Metatarsalia. Mit der zunehmenden Balancierung der Fußmuskulatur bei fortschreitender Reifung des motorischen Nervensystems bildet sich diese Fehlstellung meist spontan zurück. Eine Ausnahme stellt der Hallux varus beim Down-Syndrom dar: Zur Korrek-
tur sind hier im Kleinkindesalter Weichteilplastiken notwendig (Operation nach Farmer). Kind (4–10 Jahre)
Die femorale Antetorsion (mediale femorale Version) ist in dieser Altersgruppe häufig Grund für den Einwärtsdrehgang (Mädchen häufiger als Jungen). Bei Eltern der betroffenen Kinder sieht man als hereditäre Komponente häufig Restzustände dieser Situation. Diese Kinder sitzen am Boden als typisches Merkmal im »umgekehrten« Schneidersitz mit den Beinen in maximaler Innenrotation, haben Einwärtsdrehungen der Kniescheiben (»küssende Kniescheiben«) und zeigen beim Rennen das eigentümliche Auswärtsschlagen (»Eierquirlgang«) des Schwungbeins. Klinisch zeigt sich eine Hüftinnenrotation von mehr als 70°. Zur Einschätzung lässt sich definieren: ▬ milder Rotationsfehler bei Hüftinnenrotation 70–80° ▬ moderater Rotationsfehler bei Hüftinnenrotation 80–90° ▬ starker Rotationsfehler bei Hüftinnenrotation 90–100° Im gleichen Maße reduziert sich die Hüftaußenrotation bei einem Gesamtrotationsradius von ca.100°. In der späteren Kind-
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
heit derotieren die Schenkelhälse meist automatisch durch laterale Version des Femur parallel zur lateralen Version der Tibiae. Hierdurch stellt sich eine Normalisierung der Beinrotation ein. > Bleibt eine femorale Antetorsion zwischen dem 8. und 10. Lebensjahr von mehr als 90° Hüftinnenrotation bestehen, ist eine vorzugsweise intertrochantäre oder auch weiter distal gelegene Schaftderotationsosteotomie sinnvoll. Jugendliche (11–16 Jahre) Außenrotationsfehler der Tibia
32
Da das Schienbein in jedem Fall während des Wachstums außenrotiert, werden Außendrehfehler der Tibia immer gravierender. Insbesondere, wenn die Tibiaaußentorsion mit einer vermehrten femoralen Antetorsion verbunden ist, entstehen Probleme des patellofemoralen Gelenks. Hierbei steht die transkondyläre Knieachse nach innen, während die transmalleoläre Achse nach außen rotiert: Um den Fuß effizient in Gehrichtung geradeaus zu stellen, wird das Knie entsprechend nach innen gedreht, was seinerseits zu einem lateralisierenden Zug des M. vastus lateralis an der Patella mit entsprechenden Knieschmerzen führt. Operative Korrekturen im Sinne von Derotationen sind bei >45° Tibiaaußentorsionen indiziert, am besten supramalleolär oder seltener im Schaftbereich. Eine Resttibiaaußentorsion von 10–15° sollte bestehen bleiben. Innendrehfehler der Tibia sind seltener und bei Werten von mehr als –10° des Oberschenkelachsen-Transmalleolarachsen-Winkels aus funktionellen und kosmetischen Gründen operativ zu korrigieren. Operative Korrekturen von Femurversion und/oder Tibiaversion bei Kindern am Ende der ersten Lebensdekade sind dann anzustreben, wenn erhebliche funktionelle und kosmetische Probleme vorliegen: Dies ist im Allgemeinen dann der
Fall, wenn ein einfacher, einetagiger Drehfehler von mehr als 3 Standardabweichungen der Durchschnittswerte oder ein zweietagiger, kombinierter Drehfehler mit jeweils mehr als 2 Standardabweichungen der Durchschnittswerte vorliegt. Prophylaktische Eingriffe sollten nicht durchgeführt werden, hingegen soll nur dann operiert werden, wenn bereits schwere Deformierungen vorliegen.
32.5.4 z
Beinlängendifferenzen
Ätiologie und Pathogenese
Beinlängendifferenzen können struktureller oder funktioneller Natur sein. Funktionelle Verkürzungen können ihre Ursache in Gelenkkontrakturen haben und erscheinen deshalb nur auf den ersten Blick als Verkürzung. Strukturelle Verkürzungen können in allen Regionen zwischen Becken und Fuß auftreten, obwohl meist nur die Längendiskrepanzen zwischen Femur und Tibia gemessen werden (⊡ Tab. 32.13). z
Diagnostik
Zunächst Feststellung jeglicher Körperasymmetrie und Veränderungen der Körperproportionen: Betrifft die Asymmetrie nur die unteren Extremitäten? Welche Seite ist die anormale? Hemihypertrophie oder Hemihypotrophie? Hemihypertrophie sollte eine abdominelle Untersuchung nach sich ziehen (Gefäßveränderungen?). Hemihypotrophie findet sich häufig bei der infantilen Zerebralparese (ICP) und bei Zustand nach Poliomyelitis. Beobachtung des Gehens: Spitzfuß, starke vertikale Gehamplitude, Zirkumduktion, Trendelenburg-Schwanken. Ist die Fußlänge gleich? Wie verhalten sich tibiale und femorale Segmente zueinander? Ergibt sich auch eine Diskrepanz im Bereich der oberen Extremitäten? Liegen Veränderungen der Gelenkbeweglichkeit vor? Ergeben sich syndromale Veränderungen?
⊡ Tab. 32.13 Häufige Ursachen für Beinlängendifferenzen Kategorie
Beinverkürzung
Beinverlängerung
Kongenitale Veränderung
Einseitiger Riesenwuchs
Neurogen
Lähmung, Schwächung (Poliomyelitis, Zerebralparese) Inaktivität
Sympathektomie
Vaskulär
Regionale Ischämie M. Perthes
Arteriovenöse Fisteln
Infektiös
Wachstumsfugenverletzung Gelenkempyem
Wachstumsfugenstimulation
Tumoren
Wachstumsfugenbeteiligung
Hypertrophe Gefäßerkrankungen Hämangiome
Trauma
Wachstumsfugenverletzung Fehlverheilung, Pseudarthrose
Wachstumsfugenstimulation durch Schaftfraktur Distraktion
Transversale Fehlbildung longitudinale Fehlbildung Hypoplasie Hüftdysplasie idiopathischer Klumpfuß
977 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
Vermessung der Beinlängendifferenz
▬ Vermessung der Distanz von der Spina iliaca anterior superior bis zum medialen Malleolus im Liegen (Messfehler ±1 cm). ▬ Brettchenunterlage unter das kürzere Bein im Stehen bis zur Horizontalisierung der Beckenkämme. Der Vorteil besteht hier in der Einbeziehung aller Körperregionen vom Becken bis zum Fuß in die Messung. ▬ Verwringungen des Beckens bei (thorako-)lumbaler Skoliose können eine Beinlängendifferenz vortäuschen, die eigentlich durch Rumpfkontrakturen hervorgerufen wird.
z z Bildgebende Verfahren
Gerasterte Beinachsenaufnahmen mit Beckenübersicht im Stehen a.p. mit eingebrachter Zentimetereinteilung sind beim kleineren, evtl. eher unruhigen Kind sinnvoll, da sie zügig zu machen sind, sie sind allerdings etwas mehr strahlenbelastend. Das CT-Topogramm (»CT-Scout«) ist weniger strahlenbelastend und ermöglicht neben den Beinachsenvermessungen nur im Liegen am Computer auch gleichzeitig eine orientierende Übersicht bei der Beurteilung der Knochenverhältnisse. Für ältere Kinder und Jugendliche ist dies das Mittel der Wahl (⊡ Abb. 32.63). Knochenalterbestimmungen erfolgen trotz erheblicher Streubreiten orientierend über Handskelettaufnahmen der nicht dominanten Hand, die mit einem Referenzbild aus einem Röntgenatlas (z. B. Greulich-Pyle-Atlas) verglichen werden. Als weitere Verfahren stehen sonographische Techniken zur Verfügung, die allerdings sicherer Transducer-Halterungen bedürfen. z
Therapie
Das Ziel aller Beinlängenbehandlungen ist die permanente Austarierung des Beckens in der Horizontalen (⊡ Abb. 32.64). Folgende Grundsätze gelten:
a
b
▬ Wenn ein Bein stark motorisch geschwächt ist (Poliomyelitis, Zerebralparese), sollte es zum Wachstumsabschluss 1–2 cm kürzer bleiben. Bei Schwäche der Fußdorsalextensoren und der Knieflexoren ist so die Schwungphase erleichtert. ▬ Vor einer etwaigen Beinlängenveränderung sollten zukünftige operative Eingriffe, die Einfluss auf die Beinlänge haben, im Voraus berücksichtigt werden. So zeigen sich typische Beinverlängerungen/-verkürzungen z. B. nach Tripelarthrodese am Fuß von mehr als –1 cm, nach SalterBeckenosteotomie von mehr als +1 cm, nach Korrektur von Gelenkkontrakturen von mehr als +2 bis 3 cm). ▬ Bei einem irreversiblen kompletten Verschluss einer Wachstumsfuge muss auf der Gegenseite nicht nur die gleiche Fuge blockiert, sondern auch eine weitere Wachstumsregion in die Epiphyseodese mit einbezogen werden. Nur so kann die bereits entstandene Differenz gehalten werden, um dann über den anderen Level eine Angleichung des bereits bestehenden Unterschieds zu erlangen. ▬ Es ist nicht um jeden Preis erstrebenswert, die Kniehöhe symmetrisch zu erhalten, wenn dies einen unverhältnismäßigen Mehraufwand bei der Beinverlängerung erfordern würde. Ziel ist einzig, das Becken lotgerecht horizontal auszurichten. ▬ Beinlängenausgleiche durch Schuherhöhungen sind das effektivste und einfachste Mittel bei Differenzen im Bereich von 2–3 cm. Höhere Beinlängenausgleiche mit Anbauten haben den Nachteil der zunehmenden Instabilität im Sprunggelenk, der Gewichtszunahme am Fuß und der reduzierten Akzeptanz durch das Kind. ▬ Die temporäre oder endgültige Epiphyseodese der aktivsten Wachstumsfugen der längeren Seite sind die effektivsten Methoden bei Beinlängendifferenz im Bereich von 2–6 cm. ▬ Jungen erreichen die Skelettreife mit durchschnittlich 16 Jahren, Mädchen mit 14 Jahren. Die distale Femurwachstumsepiphysenfuge trägt im (prä-)pubertären
⊡ Abb. 32.63a,b Diagnostik der Beinlängendifferenz. a CT-Topogramm zur Vermessung einzelner Abschnitte der unteren Extremitäten, b Handskelettröntgen zur Skelettalterbestimmung nach Greulich und Pyle
32
978
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
aktiven Fugen des distalen Femurs und der proximalen Tibia. Sie können dann nach Erreichen des gewünschten Ausgleichs bzw. nach vorausschauender Verkürzung der gesunden Seite wieder entfernt werden (⊡ Abb. 32.65). Der Zeitpunkt für endgültige Epiphyseodesen kann nur bei genauer Berechnung des verbleibenden Wachstums des Beins und des gesamten Körpers bei Kenntnis des Skelettalters sicher geplant werden. Verschiedene graphische Hilfsmittel zur Extrapolation des noch zu erwartenden Wachstums haben sich bewährt: Am weitesten verbreitet ist die »Straight-line-graph«Methode von Moseley. Zu 3 verschiedenen Zeitpunkten innerhalb von mindestens 15 Monaten muss das Wachstum beider Beine röntgenologisch beobachtet werden, um schließlich die erwartete Endlänge des Beinabschnitts (unter Kenntnis des Knochenalters) mittels graphischer Regression zu berechnen. Chirurgisch erfolgt dann zum errechneten Zeitpunkt perkutan die »Ausbohrung« der Wachstumsfuge mit einem adäquaten Bohrer von der Seite unter Bildwandlerkontrolle. Differenzen von 2–6 cm sind so meist gut korrigierbar.
Wachstumsschub durchschnittlich 10 mm/per annum zum Wachstum des Beines bei, die proximale Tibiaepiphysenfuge trägt ungefähr 6 mm pro Jahr bei. ▬ Der günstigste Zeitpunkt von Operationen, welche die Wachstumsfugen beeinflussen, ist die präpubertäre Wachstumsphase. z z Operative Therapie
Temporäre Epiphyseodesen mit Klammern (Blount) oder Schrauben-Plättchen-Systemen (»8-plates«) sind besonders dann sinnvoll, wenn genaue Wachstumsvorhersagen aufgrund der Unmöglichkeit der Skelettalterbestimmung schwierig sind, also dann, wenn ungenaue Berechnungen der zu erwarteten Längendiskrepanz die Bestimmung des exakten Zeitpunkts einer endgültigen chirurgischen Epiphyseodese schwierig machen. Es werden hierzu pro Epiphysenseite 2 verstärkte (Blount-)Klammern oder jeweils ein Schrauben-Plättchen-System (»8-plate«) extraperiostal und mit den Branchen fern der Wachstumsfuge des längeren Beins eingesetzt. Es eignen sich besonders die sehr
Beinlängenunterschied
Krankengeschichte körperl. Untersuchung Bildgebung
32
Neurologische und körperliche Untersuchung
Funktionell
Strukturell
<2,5cm
>2,5cm
Wachstumsfugen geschlossen
Wachstumsfugen offen
Wachstumsfugen geschlossen
Schuherhöhung
Dokumentation
Beobachtung
Prognostizierte Größe nach Epiphysenschluß
Wachstum abgeschlossen
Längenunterschied
Wachstumsfugen offen
Groß (+ SD)
Normal
Klein (-2 SD)
2,3-6 cm
Femurale Verkürzung
Epiphyseodese
Epiphyseodese
Verlängerung
5-7,5 cm
Verlängerung
Epiphyseodese
Verlängerung
Verlängerung
7,5-10 cm
Verlängerung
Epiphyseodese + Verlängerung
Verlängerung
Verlängerung zweifach durchführen
10-15 cm
Verlängerung + Verkürzung
Epiphyseodese + Verkürzung
Verlängerung
Verlängerung zweifach durchführen
Verlängerung / Verkürzung
OSG-Amputation
>15 cm
Orthoprothese
⊡ Abb. 32.64 Algorithmus zur Behandlung von Längenwachstumsunterschieden der Beine
979 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
Knochenverkürzungen, besonders femoral proximal, sind ebenfalls eine sichere Methode im Bereich von 3–6 cm Differenzen nach Abschluss des Skelettwachstums. Hierzu wird subtrochantär im Sinne einer umgedrehten Z-Plastik der Knochen verkürzt und mit einer Winkelplatte fixiert. Knochenverlängerungen nach dem Prinzip der Kallusdistraktion werden mit externen oder internen Apparaturen durchgeführt: Ilizarov-Ringfixateur, Spinelli-Montcelli-Ringfixateur (⊡ Abb. 32.66), Wagner-Monolateralfixateur, Heidelberger-Angulationsfixateur, Orthofix-Monolateralfixateur, TaylorSpatialframe, Albizzia-Nagel, IKDS-Nagel etc. Sie basieren auf 6 grundlegenden Prinzipien (s. Übersicht)
Prinzipien der Knochenverlängerungen
▬ Fixierung der zu verlängernden Beinregion: Die
▬
▬
▬
▬ ▬
Fixation sollte eine ausreichende Stabilität der Fragmente erlauben, um eine anatomiegerechte Bildung von neuem Knochen zu gewährleisten, gleichzeitig aber Dynamisierung und Kompression zu erlauben. Der Ilizarov-Ringfixateur bietet diese Vorteile. Ort der Verlängerung: Es gilt der Grundsatz, dass die Distraktionskallusbildung am effektivsten im Bereich der Wachstumsfuge, etwas weniger effektiv in der Metaphyse des Knochens und am schwächsten im Schaftbereich ist. Allerdings ist sie im Epiphysenbereich technisch schwierig, deshalb wird meist doch meta- oder diaphysär verlängert. Knochendurchtrennung: Diese muss vorsichtig geschehen, sodass Periost und Knochenmark intakt bleiben. Diese Kortikotomie durchtrennt manuell mit Meißel nur die Kortikalis und schont den Rest. Ruhephase vor der Distraktion: Damit sich ein guter Kallus vor der Distraktion bilden kann, muss eine Ruhephase von einigen Tagen Dauer eingehalten werden (Dauer = Alter des Kindes in Tagen). Verlängerungsrate: 1 mm/Tag Verlängerungsrhythmus: 4-mal 0,25 mm/Tag
Prinzipiell gilt, dass die Komplikationsrate hoch ist. Der Großteil der kleineren Komplikationen, wie oberflächliche PinInfektionen und Achsenabweichungen während der Verlängerungsphase, kann behoben werden, ohne das Endresultat zu beeinträchtigen. Einige wenige Komplikationen, z. B. tiefe Beinvenenthrombosen, tiefe Pin-Infektionen und Kompartmentsyndrome führen zum Abbruch der Verlängerung. ⊡ Abb. 32.65 Temporäre Epiphyseodese am Knie bei Hemihypertrophie des Beines mit Blount-Klammern, alternativ heutzutage auch Plättchenimplantation (»8-plates«)
a
b
Longitudinale Fehlbildungen des Femurs Das kongenital kurze Femur (Femurhypoplasie) mit einer Beinlängenverkürzung von 20–30% kommt mit einer Inzidenz
⊡ Abb. 32.66a,b Kallusdistraktion mit Ringfixateuren. a Achsenkorrektur beider Unterschenkel bei Hypochondroplasie und varischem Schienbein, b einseitige Korrektur bei longitudinalem Fibuladefekt mit Verlust des vierten und fünften Zehenstrahls
32
980
32
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
von 2/100.000 Neugeborenen vor. Im Röntgen zeigt sich ein intaktes Femur, allerdings mit einer mehr oder minder ausgeprägten Coxa vara und einem hypoplastischen lateralen Femurkondylus, der zu einem erheblichen Genu valgum führt. Sofern das Unterschenkelsegment normal ist, können diese Kinder ohne prothetische Versorgung auskommen. Dies gelingt allerdings nur, wenn in 2 Schritten eine Korrektur im Verlauf des Wachstums vorgenommen wird: Erster Schritt ist die allgemeine Formkorrektur des Femurs im Hüft- und Kniebereich (ggf. Salter-Beckenosteotomie bzw. femorale intertrochantäre Valgusosteotomie) im Vorschulalter. Der zweite Schritt betrifft die Verlängerung des Femurs mittels Kallusdistraktion, parallel dazu ggf. eine Verkürzung des anderen Beins mittels temporärer oder finaler Epiphyseodese. Jeder Zentimeter, der durch eine derartige Verkürzung der Gegenseite gewonnen wird, erspart dem Kind ungefähr 6 Wochen in einer Verlängerungsapparatur. Natürlich sollte die berechnete definitive Körpergröße so sein, dass die Verringerung der Körpergröße keine Beeinträchtigung darstellt. Bei der proximalen fokalen Femurdefizienz (PFFD) besteht eine Deformität oder ein Defekt des proximalen Femurs mit einer Beinlängenverkürzung von 35–50% (⊡ Abb. 32.67). Typisch sind fixierte Hüft- und Kniebeugekontrakturen, wobei das Sprunggelenk meist auf Höhe des gesunden Knies der Gegenseite lokalisiert ist. Die Inzidenz beträgt ungefähr 2/100.000 Neugeborenen, die Defizienz tritt meist einseitig auf. Gemäß der Klassifikation von Pappas reicht der Defekt in 9 Klassen vom vollständigen Fehlen des Femurs bis zur dysproportionierten Hypoplasie. Dementsprechend ist das Ausmaß der Beinlängendifferenz variabel, und die zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen sind vielfältig.
⊡ Abb. 32.67a,b Proximales fokales Femurdefizit (PFFD) als longitudinaler Defekt der linken unteren Extremität (Hüftluxation und Fibuladefizit mit Aplasie der Strahlen IV und V). a Klinisch, b im Röntgenbild
a
Sie reichen von den oben genannten Verfahren (vgl. Femurhypoplasie) bei den Pappas-Klassen VII, VIII, IX über femoroazetabuläre und tibioazetabuläre Einstellungen des kurzen Restfemurs bzw. des Tibiakopfes bei den Pappas-Klassen I,II,III bis hin zu Umkehr- und Rotationsplastiken bei Insuffizienz des Hüftgelenks und kurzem Femurrest, aber intaktem Unterschenkel bei den Klassen I–IV. Letzteres ist allerdings nicht selbstverständlich: 50–80% der Fälle zeigen eine Fibulaaplasie mit entsprechenden Funktionsstörungen des Knies und Sprunggelenks. Extreme Längendefizite – bis hin zum Verlust einer gesamten Unterschenkellänge – können mit Verlängerungsverfahren meist nicht mehr kompensiert werden und sind deshalb mit Orthoprothesen zu versorgen (⊡ Abb. 32.68). Hierzu kann die Amputation eines funktionslosen, »prothesenstörenden« Fußes (Syme-Amputation) gelegentlich sinnvoll sein. Die sensible und kompetente Führung der Familie des betroffenen Kindes in einem spezialisierten Kinderorthopädiezentrum ist über die gesamte Wachstumsperiode sinnvoll und wichtig.
Longitudinale Fehlbildungen der Fibula Die häufigste longitudinale Fehlbildung ist die Fehlbildung der Fibula mit einer Inzidenz von 1/30.000 Neugeborene. Achterman und Kalamchi unterscheiden 2 Typen: ▬ Typ I: Hypoplasie der Fibula – Typ Ia: im proximalen Bereich mit weitgehend intakter Malleolengabel – Typ Ib: mit dysplastischer Malleolengabel ▬ Typ II: Aplasie der Fibula Das Ausmaß der funktionellen Störung ist abhängig von Veränderungen der Knöchelgabel und der dadurch entstehenden
b
981 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
spitzfüßig-valgischen Fußdeformität mit entsprechender Unterschenkelverkürzung (⊡ Abb. 32.69 u. ⊡ Abb. 32.70). In Abhängigkeit der Betroffenheit der Fibula sind auch Rückfußfehlbildungen (Koalitionen) und laterale Zehenstrahlverluste zu beobachten. Sie führen zu einem rigiden, funktionsbeeinträchtigten Fuß. Ziel der Behandlung ist die weitgehende Umwandlung der Längen- und Achsenfehlbildung von Knie, Unterschenkel und
a
a
b
c
b
Fuß mit der entsprechenden Unterschenkelfunktionsstörung in einen Zustand minimaler Abhängigkeit von orthetischen und prothetischen Hilfsmitteln bei maximaler Funktion. Die Palette der Behandlungsmaßnahmen reicht von konventionellen Schuherhöhungen und Schuhzurichtungen über einfache beinverlängernde Maßnahmen (Ilizarov-Ringfixateur) bis hin zu komplexen Sehnenverlängerungen und knöchernen Umstellungsosteotomien im proximalen und distalen Tibia- und Rückfußbereich.
⊡ Abb. 32.68a–c Proximales fokales Femurdefizit (PFFD). a Longitudinaler Defekt der linken unteren Extremität, b, c Orthoprothese
⊡ Abb. 32.69a,b Longitudinaler Defekt der Fibula Typ II mit Aplasie der Fibula, Knieinstabilität und Zehenstrahlverlust. a Klinisch, b im Röntgenbild
32
982
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.70a,b Longitudinaler Defekt der Fibula Typ II mit Valgusfehlstellung im Knie und Unterschenkelverkürzung
32
a
b
Longitudinale Fehlbildung der Tibia Kalamchi und Dawe teilen diesen seltenen longitudinalen Defekt (1,5/100.000 Neugeborene) in 3 Typen: ▬ Typ I: Aplasie der Tibia mit Varusverbiegung der Fibula, Fehlen der ersten 3 Zehenstrahlen, Adduktion und Inversion des Fußes ▬ Typ II: Hypoplasie der Tibia mit erhaltenem Kniegelenk ▬ Typ III: Dysplasie der distalen Tibia mit tibiofibulärer Diastase, equinovarische Fehlstellung des Fußes, Prominenz der distalen Fibula (⊡ Abb. 32.71) Die Behandlung von Typ I hängt von der Funktion des Kniegelenks ab und hier besonders von der Kraftübertragung des M. quadriceps auf den Unterschenkel. Ist diese gut, kann eine Zentralisierung der Fibula vorgenommen werden, auf die später eine orthetische Versorgung des Unterschenkels folgt. Bei einer Flexionskontraktur des Knies und erheblicher Defizienz des distalen Femurs ist frühzeitig eine knieexartikulierende Amputation anzustreben, gefolgt von einer adäquaten und funktionell günstigeren Prothese. Bei dem seltenen Typ II wird bei intaktem Kniegelenk eine Fusion der distalen Tibia und Fibula angestrebt und in Abhängigkeit von der Fußdeformität entweder orthetisch versorgt oder teilamputiert. Bei der Behandlung von Typ III besteht das Hauptproblem in der fehlenden Stabilität des Talus unter der Tibia und der zusätzlichen erheblichen Beinlängendifferenz. Mithilfe eines Ilizarov-Ringfixateurs kann selektiv die Tibia gegenüber der Fi-
a
b
⊡ Abb. 32.71a,b Longitudinale Fehlbildung der Tibia Typ III mit Hypoplasie der Großzehe und Unterschenkelverkürzung. a Klinisch, b im Röntgenbild
983 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
a
b
⊡ Abb. 32.72a–c Longitudinale Fehlbildung der Tibia Typ III: Selektive Verlängerung des Unterschenkels mit höherer Transportrate von der Tibia gegenüber der Fibula sowie OSG-Rekonstruktion. a Klinisch, b, c im Röntgenbild im Verlauf der Distraktion
c
⊡ Tab. 32.14 Checkliste physiologische und pathologische Veränderungen der frontalen Beinachse Parameter
Physiologische Achsenabweichung
Pathologische Achsenabweichung
Häufigkeit
Häufig
Selten
Familienanamnese
Meist negativ
Familiäre Häufung
Allgemeine Essgewohnheiten
Normal
Möglicherweise anormal
Allgemeine Gesundheit
Gut
Möglicherweise andere muskuloskelettale Abweichungen
Manifestationsalter
2. Lebensjahr: O-Beine 4.–6. Lebensjahr: X-Beine
Häufig fortschreitend jenseits der normalen Sequenz
Körpergröße
Normal
Möglicherweise kleiner als 5. Perzentil
Symmetrie
Symmetrisch
Symmetrisch oder asymmetrisch
Manifestationsgrad
Mild/moderat
Mehr als 2 SD
SD Standardabweichung
bula verlängert und parallel der Rückfuß unter die Tibia reponiert werden (⊡ Abb. 32.72). Später muss die Fusion von distaler Fibula und Tibia erfolgen. Amputationen im Fußbereich sind selten notwendig.
32.5.5
Frontale Beinachsenabweichungen
Frontale Achsenabweichungen der Beinachse, die jenseits der 2-fachen Standardabweichung vom Durchschnittswert liegen, werden als pathologische Genua valga (X-Beine) oder Genua vara (O-Beine) bezeichnet. Physiologische Varianten unterhalb der Grenze von +/-2 Standardabweichung sind häufig: Typischerweise treten Seitverbiegungen der Tibia (Tibia vara) im
ersten Lebensjahr auf, im zweiten Lebensjahr tritt hierzu die Gesamtseitverbiegung des Beines hinzu (Genua vara), während im Alter von 3–4 Jahren ein Achsenwechsel zum beidseitigen X-Bein zu beobachten ist (⊡ Abb. 32.73). Das X-Bein sollte bis zum neunten Lebensjahr ausgeglichen sein. Die frontalen Beinachsenabweichungen verlaufen konkordant zu den Femur- und Tibiatorsionen. Der Stellung des Rückfußes ist besondere Bedeutung beizumessen: Zum Beispiel zeigt sich eine pathologischen X-Stellung im Knie bei einem ausgeprägten Calcaneus valgus. Eine Checkliste über die physiologischen und pathologischen Veränderungen der frontalen Beinachse zeigt ⊡ Tab. 32.14. Häufige Ursachen pathologischer Genua valga und Genua vara sind in ⊡ Tab. 32.15 dargestellt.
32
984
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
a
b
c
⊡ Abb. 32.73a–c Physiologische Entwicklung frontaler Achsenverhältnisse. a, b Varische Verbiegung von Tibia und Femur im Alter von 18 Monaten, c schrittweise Ausgradung mit 4 Jahren
32 ⊡ Tab. 32.15 Häufige Ursachen pathologischer Genua valga und Genua vara Ursache
Genu valgum
Genu varum
Kongenital
Longitudinale Fibulafehlbildung
–
Dysplasie
Hypo- oder Achondroplasie
Hypo- oder Achondroplasie
Trauma
Asymmetrischer Längenwuchs nach metaphysärer Fraktur (Tibia), partieller Wachstumsfugenschluss
Partieller Wachstumsfugenschluss
Idiopathisch
Akzentuierung des physiologischen Genu valgum >2 SD oder 10 cm intermalleolar
Akzentuierung des physiologischen Genu varum >2 SD über dem Durchschnitt (Tibia vara, M. Blount)
Metabolisch
Selteneres Bild bei Rachitis
Übliches Bild bei Rachitis
Osteopathisch (Osteopenie)
Osteogenesis imperfecta
–
Entzündlich
Rheumatoide Arthritis (Kniegelenk)
–
Infektion
Wachstumsfugenverletzung
Wachstumsfugenverletzung
SD Standardabweichung
M. Blount Obwohl beim kleinen Kind auch dramatische Formen des OBeins nicht ungewöhnlich sind, scheint bei einigen dieser Kinder die Varusdeformität doch rasch fortzuschreiten. Dann liegt möglicherweise eine Wachstumsstörung der medialen proximalen Tibiawachstumsfuge (M. Blount) unklarer Ursache vor, die in ihrer extremsten Form zu einem vorzeitigen medialen Fugenschluss führt. Sie tritt bei Übergewicht und Zugehörigkeit
zur karibischen oder afroamerikanischen Ethnie gehäuft auf. Zwei klinische Muster werden beschrieben: ▬ klinische Manifestation beim Kleinkind (1–3 Jahre) ohne maßgeblichen Röntgenbefund, aber mit positiver Szintigraphie ▬ klinische Manifestation beim älteren Kind und Jugendlichen (6–18 Jahre) mit deutlichem Röntgenbefund einer ausgezogenen Tibiaepiphyse
985 32.5 · Segmentübergreifende Erkrankungen der unteren Extremität
a
⊡ Abb. 32.74a,b Phosphatdiabetes. a Initial massive Varusfehlstellung im Röntgen (typische metaphysäre Kelchauftreibung), b späteres klinisches Erscheinungsbild nach medikamentöser Therapie
b
Die Klassifikation nach Langenskiöld unterscheidet 6 Stadien in Abhängigkeit von den röntgenologischen Veränderungen im Bereich der medialen Epiphyse und Metaphyse. Die Stadien I und II sind nach Schienenbehandlung vollständig reversibel; die Stadien III und IV sind im Allgemeinen einer Umstellungskorrektur im Tibiakopfbereich zuzuführen, während die Stadien V und VI mit 2 Osteotomien behandelt werden sollte (Korrekturosteotomie der proximalen Tibia und Lösung der vorzeitigen Knochenbrücke der medialen Wachstumsfuge).
Genua vara bei Rachitis und Phosphatdiabetes Verdächtig sind Kinder mit progredienter beidseitiger Varusdeformität, geringer Körpergröße und einer positiven Familien- und Ernährungsanamnese. Die Vitamin-D-MangelRachitis induziert eine generalisierte varische Beinverbiegung und eine knöcherne epiphysäre Rarefizierung. Erniedrigte Kalzium- und Phosphatwerte im Blut und eine hohe alkalische Phosphatase bestätigen die Verdachtsdiagnose. Winkel- und Achsenbestimmungen in Beinachsenaufnahmen sind notwendig. Selbstverständlich ist nach Diagnosestellung eine ausreichende Substitutionstherapie notwendig. Eine endokrinologische Untersuchung ist sinnvoll; die Therapieoptionen sind daraus zu abzuleiten (⊡ Abb. 32.74). Falls notwendig, können temporäre knienahe Hemiepiphyseodesen frühzeitig im Kindesalter oder später in der Adoleszenz Osteotomien (ggf. auch mehrere Höhen) zur Achsenkorrektur durchgeführt werden. Schienenbehandlungen haben wegen der Lebenseinschränkungen deutlich an Bedeutung verloren.
z
Diagnostik
Der Untersuchungsalgorithmus bei frontalen Achsenabweichungen (X-Bein, O-Bein) beinhaltet Familienanamnese, Ernährungsanamnese und natürlich eine klinische Untersuchung (untere Extremitäten: Symmetrie, Ausprägung, Seite). Bei physiologischen Verhältnissen mit negativer Anamnese, normalem Bewegungsuntersuchungsbefund, Symmetrie der Beinachsenabweichung gemäß den altersentsprechenden Erwartungen (Kleinstkind bis 2. Lebensjahr: O-Bein; Kleinkind bis 6. Lebensjahr: X-Bein) erfolgt eine Beobachtung über die nächsten Wachstumsjahre. Bei Abweichungen im Sinne asymmetrischer Befunde bzw. Auffälligkeiten in den Lebensumständen des Kindes ist eine Bildgebung sinnvoll. Zeigen sich zunächst im Röntgenbild mediale metaphysäre Auskragungen (Tibia vara/M. Blount?), weite Wachstumsfugen (Rachitis?) oder auch Epiphysenbrücken (posttraumatisch?), muss an eine Pathologie gedacht werden, die mit weiteren bildgebenden (Szintigraphie/MRT) sowie laborchemischen Verfahren (Rachitis/Phosphatdiabetes) geklärt werden muss. z
Therapie
Da sich bei der überwiegenden Mehrheit aller Kinder die frontalen Achsendeformitäten von allein zurückbilden, ist die primäre Aufgabe des Arztes die gute Führung der Familie: Um physiologische Varianten in ihrem Verlauf zu beurteilen, sind primär Fotographien der klinischen Situation sinnvoll, die dann 3–6 Monate später bei den Nachuntersuchungen wiederholt werden. Sollte sich hierbei eine Pathologie bestätigen, stehen folgende Behandlungsoptionen zur Verfügung.
32
986
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.75a,b Idiopathische Genua valga. a Klinisch, b Röntgenbild nach temporärer Epiphyseodese der medialen knienahen Wachstumsfugen mit Blount-Klammern, alternativ auch »8-plates«
a
Behandlungsoptionen
▬ Vermeidung von Keileinlagen, da deren Effektivität umstritten ist
▬ Vermeidung von allen Formen von Schienen, Gehappara-
32
ten, auch bei Rachitis; Ausnahme sind ggf. früheste Formen des M. Blount beim Kleinkind ▬ Entscheidung zwischen Osteotomien und knienahen Hemiepihyseodesen
Ziel der operativen Behandlung ist: ▬ Korrektur des Kniewinkels ▬ Horizontalisierung der Knie- und Sprunggelenkflächen ▬ Beibehaltung der Beinlänge ▬ Korrektur aller zusätzlichen Rotations- und Achsendeformitäten ▬ Korrektur von fokalen Deformitäten durch einetagige öffnende oder schließende Keilosteotomien unter sorgfältiger Planung am Röntgenbild; sagittale und axiale Deformitäten sind mit zu korrigieren; Beinlängenunterschiede sind planerisch vorauszusehen ▬ Korrektur von großbogigen Deformitäten durch mehretagige Osteotomien ▬ Verschiebung der komplexen Osteotomien bei generalisierten Erkrankungen (Rachitis, Systemerkrankungen) bis auf ältere Wachstumsalter, um Rezidive zu verhindern Temporäre Hemiepiphyseodesen werden mit Klammern (Blount) oder kleinen winkelflexiblen Plättchen epiphysenfern und extraperiostal durchgeführt. Die verschiedenen Wachstumsphasen des Kindes sind zu berücksichtigen. Nachteil der Methode ist die Notwendigkeit der Materialentfernung; Vorteil sind die Einfachheit komplexer Korrekturen und die zeitliche Unabhängigkeit, ohne Zwang einer allzu exakten Vorhersage
b
des Wachstums. Bei erreichter Korrektur werden die Klammern/Plättchen wieder entfernt (⊡ Abb. 32.75). Finale (über perkutane Bohrungen durchgeführte) Hemiepiphyseodesen sind ebenfalls sehr effektiv, bedürfen aber einer sehr genauen Vorherbestimmung des verbleibenden Wachstums, um Achsenüber- oder -unterkorrekturen zu vermeiden. Die Bestimmung des Knochenalters sowie die Bestimmung des Knochenlängenwachstums über mindestens 18 Monate helfen bei der genaueren Planung, ebenso die Verwendung der Wachstumsregressionskurven von Moseley. Liegen bereits erhebliche Achsendeformitäten mit Gelenkflächenfehlstellungen beim jungen Kind vor, ist eine temporäre Hemiepiphyseodese oder Osteotomie vorzuziehen, um hier nicht über Jahre schwere Achsenfehlstellungen beobachten zu müssen, bis der richtige, berechnete Zeitpunkt für die finale Hemiepiphyseodese erreicht ist.
32.6
Knie und Schienbein
32.6.1
Entwicklung
Das Knie entwickelt sich als typisches Synovialgelenk während des 3. und 4. Fetalmonats. Sekundäre Ossifikationszentren formieren sich distal femoral zwischen dem 6. und 9. Fetalmonat und proximal tibial zwischen dem 8. fetalen und 1. postnatalen Monat. Der Patellaknochenkern erscheint zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr bei Mädchen und zwischen dem 3. und 7. Lebensjahr bei Jungen. Variationen der Entwicklung und der Ossifikationszentren führen zu Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Röntgenbildern der Knieregion (s. Übersicht). Mehr als 25% aller muskuloskelettalen Probleme bei Kindern aller Altersgruppen betreffen die Knieregion. Wegen des schnellen Wachstums der Epiphysenfugen des distalen Femurs und der proximalen Tibia entwickeln sich Osteomyelitis und Tumoren wie das Osteosarkom hier überproportional häufig.
987 32.6 · Knie und Schienbein
Schwierigkeiten bei der Beurteilung von Röntgenbildern des Knies
▬ Irreguläre Ossifikationen der Kniescheibe sind häufig (Patella bipartita).
▬ Fibrokortikale Defekte (z. B. nicht ossifizierendes Fibrom, Kap. 34) sind meist bedeutungslose Entwicklungsvarianten und verschwinden spontan (exzentrische, sklerotische Begrenzungen von röntgendurchlässigen Zentren). ▬ Irreguläre femoral-kondyläre Verknöcherung der Epiphysen (irreguläre Mineralisation der Grenzen der Verknöcherungszentren mit Gefahr der Verwechselung mit einer Osteochondrosis dissecans). ▬ Funktionsveränderungen des Knies bei Dysplasiesyndromen: patellofemoraler Schmerz beim Nagel-PatellaSyndrom, Kniescheibenluxationen beim Down-Syndrom, Hauteinziehung und Grübchen über der Kniescheibe bei der Arthrogrypose, Genu recurvatum bei Spina bifida und Arthrogrypose, Genu varum bei Rachitis und damit assoziierten Veränderungen, Genu valgum bei M. Morquio und Ellis-Van-Creveld-Syndrom.
32.6.2
⊡ Abb. 32.76 Schwellung des jeweils rechten Knies bei familiären Gerinnungsanomalien mit chronischem Hämarthros
Diagnostik
Klinische Untersuchung Im Stehen sind die Symmetrie, der Knie-(Popliteal-)Winkel (Vollstreckung oder Überstreckung), die Kniescheibenposition, Schwellungen und Flüssigkeitsansammlungen (⊡ Abb. 32.76) sowie Entzündungszeichen zu beobachten. Der sog. Q-Winkel nach Battström in der Frontalsicht ist der Winkel zwischen einer Linie von der Spina iliaca antrior superior zur Patellamitte und einer Linie von der Patellamitte zur Tuberositas tibiae. Dieser Winkel sollte <15° betragen (⊡ Abb. 32.77). Bei der Funktionsbeurteilung im Sitzen ist bei Beugung und Streckung des Knies die Patellaführung zu beschreiben (linear oder lateralisiert bei Streckung). Volle Streck- und Beugefähigkeit sind zu beurteilen. Bei der Palpation wird auf eine abnorme Berührungsempfindlichkeit mit Punctum maximum, die Gewebetemperatur, eine etwaige generalisierte Schwellung, eine parapatellare Schwellung, Seitenunterschiede sowie auf eine »tanzende Patella« geachtet. Mit Funktionstests sind die Patellaverschieblichkeit mit Zeichen der schmerzhaften Abwehrhaltung, mögliche Krepitationen oder Schnappen bei Beugung und Streckung, eine sagittale Instabilität im Lachman-Test (fester oder kein Anschlag bei sagittalem Zug am Tibiakopf in 15° Kniebeugung) und das Schubladenzeichen zu prüfen.
⊡ Abb. 32.77 Q-Winkel durch Lateralisationswirkung des M. quadriceps. Ein Winkel >15° ist als pathologisch zu betrachten (Aus: Hefti 2009)
Bildgebende Verfahren Standard ist das Röntgenbild in zwei Ebenen. Spezielle Einstellungen sind: ▬ Patella-Defilee-Aufnahme in 30°, 60° und 90° Beugung (Patellasubluxation, femuropatellares Gleitlager) ▬ Aufnahme nach Frick (»notch view«; Hinterrand der Femurkondylen; Osteochondrosen) ▬ Varus-/Valgusstressaufnahmen (Kollateralbandinstabilitäten)
Das MRT dient der Evaluation von Knorpel, Meniskus, Kreuzband-OD, Synovialis. Die Szintigraphie gibt Auskunft über das Vorliegen von Osteomyelitiden, Tumorren sowie über den Heilungsgrad von Osteochondrosen. Einen Algorithmus der Diagnostik und Therapie bei kindlichem Bein- oder Knieschmerz zeigt ⊡ Abb. 32.78.
32
988
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Anamnese Eltern
Klinik
Altersgruppe
Sonographie Röntgen
Labor
Szintigramm MRT
Punktion, OP Beratung
Anamnese Kind
⊡ Abb. 32.78 Handlungsalgorithmus beim kindlichem Bein- oder Knieschmerz
Altersverteilung: 2-17 Jahre Osteochondrosis disseccans Chondropathia patellae Patellaluxation Meniskusläsion Scheibenmeniskus Monarthritis Plica mediopatellaris Kreuzbandläsion Ohne Befund
⊡ Abb. 32.79 Prozentuale Verteilung häufiger arthroskopischer Diagnosen (n=327). Nach Matussek et al. 1998)
32
0
10 männl.
20
30
weibl.
⊡ Tab. 32.16 Klassifikation häufiger Ursachen des Knieschmerzes Ursache
Erkrankung
Anatomischer Ort des Schmerzes
Überbelastung
M. Osgood-Schlatter
Tuberositas tibiae
M. Sinding-Larsen-Johansson
Distaler Patellapol
Stressfraktur der proximalen Tibia
Proximale tibiale Metaphyse
Osteochondrosis dissecans
Laterale Grenze des medialen Femurkondylus
Innenbandschmerzsyndrom
Knieinnenband
Außenmeniskusläsion (Adoleszenten)
Kniegelenkspalt
Lat. Kniescheibenluxation, subchondrale Frakturen
Mediale parapatellare Kapsel, Hämarthros
Chondromalacia patellae, rezidivierende Patella-(sub-) Luxation
Medialer Patellarand
Trauma
Patellofemorale Dysplasie Schleimbeutelentzündung
Mechanische Überbeanspruchung
Präpatellar
Mechanische Überbeanspruchung, Pes anserinus
Anteromediales proximales Tibiaplateau
Infektionen
Osteomyelitis, Gelenkempyem
Femorale und tibiale Metaphysen, Gelenksynovialmembran
Tumor
Osteosarkom
Knienahe Metaphyse von Femur/Tibia
Reaktive Arthritiden
Lyme-Arthritis, rheumatoide Monarthritis
Gesamte Synovialmembran
32.6.3
Extraartikuläre Knieschmerzen
⊡ Tab. 32.16 gibt einen Überblick über häufige Ursachen des
Knieschmerzes. Die prozentuale Verteilung häufiger arthroskopischer Diagnosen zeigt ⊡ Abb. 32.79. Eine Übersicht über Osteochondrosen beim Kind gibt ⊡ Abb. 32.80.
M. Osgood-Schlatter Apophysitis bedingt durch Traktion im Rahmen repetitiver Mikrotraumen im Bereich der Tuberositas tibiae. Dieses Überbeanspruchungssyndrom ist bei pubertierenden Jugendlichen häufig. Belastungsschmerzen, Schwellung und Berührungsempfindlichkeit finden sich über der Tuberositas tibiae. Seitliche Röntgen-
989 32.6 · Knie und Schienbein
⊡ Abb. 32.80 Übersicht über Osteochondrosen beim Kind
kontrolle hilft zur Differenzierung gegenüber Tumoren und Osteomyelitiden. Bei moderaten Schmerzen ist die sportliche Belastungsreduktion Mittel der Wahl; bei starken Beschwerden gelegentlich Oberschenkeltutorschiene zur temporären Immobilisierung. Eine mögliche Sequestrierung eines kleinen Ossikels im distalen Patellasehnenansatz wird erst nach Abschluss des Wachstums – wenn beim Knien problematisch – entfernt.
M. Sinding-Larsen-Johansson Auch »Springerknie« genannt. Apophysitis bedingt durch Traktion im Bereich des distalen Patellapols bei meist männlichen Jugendlichen. Therapie ist die Belastungsreduktion temporär für 3–12 Monate mit meist kompletter Remission.
Chronische Überlastungsfrakturen Sie treten bei jüngeren Jugendlichen vornehmlich im Bereich der proximalen Metaphyse, bei älteren auch distal femoral metaphysär auf. Eine Anamnese repetitiver sportlicher Überlastung und lokaler Schmerzhaftigkeit ist häufig. Das Röntgenbild zeigt eine Knochenverdichtung im Sinne von Knochenneubildung, v. a. im Bereich der dorsalen Tibiametaphyse. Die differenzialdiagnostische Unterscheidung von bösartigen Knochentumoren gelingt durch Anamnese, Abwesenheit einer lokalen Gewebeschwellung, normale Entzündungsparameter und Schmerzreduktion durch Entlastung und Pausieren der Sportart. Gelegentlich sind bei unklarer Differenzierbarkeit gegenüber Tumoren allerdings ein MRT oder CT trotzdem notwendig.
Patella bipartita Fehlende Verschmelzung von Verknöcherungszentren der Patella führen zu einer Patella bipartita oder tripartita. Die separaten Ossikel sind mit dem Rest der Patella über fibröses und/oder kartilaginäres Gewebe verbunden. Ein Trauma kann diese Verbindungen zerstören und zu schmerzhaften Ossikelbewegungen führen. In einigen Fällen kann eine Heilung allein durch Ruhigstellung erfolgen, in anderen bleibt eine chronische Schmerzhaftigkeit. Kleine schmerzhafte Ossikel können entfernt werden, größere sollten stabil mit Schrauben und/oder Spongiosaplastik refixiert werden.
32.6.4
Intraartikuläre Knieschmerzen
Osteochondrosis dissecans z
Definition
Die Osteochondrosis dissecans (OD) ist eine noch wenig verstandene Erkrankung der Verknöcherungszentren des distalen Femurs. Andere, seltenere Prädilektionsstellen sind der Ellenbogen (M. Panner) und die Talusrolle, noch seltener die Hüftkopfepiphyse (⊡ Abb. 32.80). Ein Teil der Gelenkoberfläche erweicht und schert oder löst sich mit der Knorpel- und
32
990
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.81a,b Osteochondrosis dissecans am medialen Femurkondylus Grad III im MRT (T2-gewichtet, STIR-Sequenz). a a.p., b seitlich
a
b
a
b
32
⊡ Abb. 32.82a,b Osteochondrosis dissecans am medialen Femurkondylus Grad III im MRT (T1-gewichtet): Knorpeloberfläche noch intakt bei großem Herd subchondral. a a.p.-Projektion, b seitlich
unterliegenden Knochenschicht aus dem Verbund der Gelenkfläche heraus. Häufig betroffen sind Kinder zwischen 8 und 14 Jahren. Selten ist die OD ein Problem von Erwachsenen. z
Ätiologie und Pathogenese
Eine Kombination zweier Faktoren ist vermutlich die Ursache der Erkrankung: ▬ mechanische Scherkraftbelastung oder mechanische Überbelastung der Femurkondylenrolle durch Überaktivität ▬ unreifer Ossifikationsverlauf der Femurkondylenrolle mit verringerter Belastbarkeit Der Einfluss jeder dieser Faktoren ist altersabhängig: Ein durch Sport bedingtes Trauma scheint eher beim Jugendlichen und jungen Erwachsenen von größerem Einfluss, während die Kombination von Verknöcherungsunreife und repetitiven Mikrotraumen bei jüngeren Kindern ursächlich sind.
z
Klinik
Die klinischen Erscheinungsformen besitzen eine hohe Varianz: Jüngere Kinder zeigen häufig asymptomatische radiologische Veränderungen im Sinne irregulärer Fragmentationszonen (Zufallsbefund) oder haben einfach nur einen vagen, dumpfen Schmerz nach stärkeren Aktivitäten. Ältere Kinder und Jugendliche präsentieren gelegentlich einen stärkeren Schmerz sowie Kniegelenkerguss bei Alltagsbelastung, aber auch Blockierungen oder Einrastphänomene, wenn sich das Dissekat ablöst und zum freien Gelenkkörper wird. z Diagnostik z z Bildgebende Verfahren
Röntgenbilder in 2 Ebenen zeigen eine irreguläre Fragmentation der Gelenkoberfläche (da der Gelenkknorpel im Röntgenbild nicht sichtbar ist, liegt die Fragmentation im subchondralen Knochenbereich). Diese ist meist sklerotisch verdichtet, kann
991 32.6 · Knie und Schienbein
a
b
aber auch osteopenisch sein, häufig im Bereich der lateralen Belastungszone des medialen Femurkondylus. Tangentiale Röntgenzusatzaufnahmen wie die Frick-Aufnahme (»notch view«) sind zur besseren Bewertung der Kondylenrollen notwendig. Röntgenaufnahmen der Gegenseite sind empfehlenswert, da eine OD gelegentlich durch eine beidseitig auftretende Ossifikationsvariante ohne pathologische Bedeutung imitiert werden kann. Die MRT ist besonders bei Jugendlichen sinnvoll, um zu differenzieren, ob nur der subchondrale Knochen betroffen ist oder auch schon eine Separation der darüberliegenden Knorpelfläche stattfindet. Ödeme im Verlauf der osteonekrotischen Vorgänge können in den STIR-Sequenzen gut dargestellt werden, ebenso subchondrale Skleroseareale. z
⊡ Abb. 32.83a,b Osteochondrosis dissecans am medialen Femurkondylus. a Arthroskopischer Befund mit Demarkierung, b transarthroskopische Pridie-Bohrung retrograd
Therapie
Jüngere Kinder mit asymptomatischer Osteochondrose bedürfen keine Behandlung, da eine spontane Heilung zu erwarten ist. Ältere Kinder im präpubertären Wachstumsschub mit Belastungsschmerz und/oder großen Läsionen im Röntgenbild erhalten ein MRT zur Knorpelbeurteilung. Ist er intakt und bestehen nur geringe subchondrale Sklerosierung erfolgt eine konservative Behandlung mit Entlastung und ggf. Tutorschienenruhigstellung für 6 Wochen. Ist der Knorpel intakt und starke subchondrale Sklerosierung liegt vor: arthroskopisch assistierte retrograde Herdanbohrung ohne Kontakt zur der Wachstumsfuge, danach 6 wöchige Entlastung und ggf. Tutorschienenruhigstellung. Tritt keine Besserung ein, ist ggf. eines der unten genannten Verfahren notwendig. Pubertierende Jugendliche oder Jugendliche bei Wachstumsabschluss mit Belastungsschmerzen und/oder großen Herden im Röntgenbild erhalten ebenfalls ein MRT zur Knorpelbeurteilung. Bei intaktem Knorpel und nur geringer subchondraler Sklerosierung: konservative Behandlung mit Entlastung und ggf. auch Tutorschienenruhigstellung für 6 Wochen. Ist der Knorpel intakt, und es besteht eine starke subchondrale Sklerosierung: arthroskopisch assistierte retrograde Herdanbohrung distal der Wachstumsfuge (⊡ Abb. 32.83, danach 6-wöchige Entlastung und ggf. Tutorschienenruhigstellung. Wenn im MRT eine Knorpeloberflächendissekation beobachtet wird, sollte ein arthroskopisches Débridement durchgeführt werden, das eine Beurteilung des Dissekats nach sich zieht, um dieses entweder mit resorbierbaren Pins oder Mi-
nischrauben nach Anfrischung des Dissekatbetts zu refixieren oder bei erheblicher Zerstörung zu entfernen und dann durch Arthrotomie durch Auflage chondrogener Membranen (u. a. Chondrogide, Geistlich-Membran etc.) plastisch zu rekonstruieren. Die autologe Chondrozytentransplantation (ACT) findet in ausgewählten Fällen ebenfalls Anwendung. Komplette Entfernungen des Dissekats ohne Oberflächenrekonstruktion führen nur selten zu guten Resultaten, oft verbleibt ein Defekt mit der Gefahr der späteren Arthroseentstehung.
Meniskusläsionen Meniskusläsionen sind seltene Verletzungen bei kleineren Kindern, nur bei angeborenen Scheibenmeniskusvarianten (lateral) treten sie häufiger auf. Häufiger bei älteren Jugendlichen bei adäquatem Trauma (⊡ Abb. 32.79). Der laterale Scheibenmeniskus ist anormal fixiert und dadurch häufig hypermobil, was zu Einklemmungen mit Blockierungen, Schnappphänomenen und Verlust der maximalen Kniestreckung führt. Schmerzhaftigkeit über dem Gelenkspalt. Die Diagnosestellung erfolgt meist durch MRT und/oder Arthroskopie. > Eine Exzision des Außenmeniskus muss vermieden werden; eine Meniskoplastie zur Ruckführung des Scheibenmeniskus in eine weitgehend normale Form ist erstrebenswert.
Meniskusrisse bei älteren Jugendlichen gehen meist mit begleitenden Synovialmembranrissen und einem schmerzenden Hämarthros – seltener mit Rissen der Kreuzbänder – einher: Erstrebenswert ist auch hier eine Meniskusrekonstruktion im Rahmen der Arthroskopie. Kreuzbandverletzungen mit konsekutiven Instabilitäten sind – wachstumsfugenadaptiert – mit entsprechenden Techniken wie beim Erwachsenen zu rekonstruieren.
32.6.5 z
Patellaluxation
Ätiologie und Pathogenese
Das patellofemorale Gelenk ist naturgemäß instabil und erheblichen Belastungen ausgesetzt. Eine Imbalance der bei der Streckung des Knies wirksamen Kräfte führt zu asymmetrischen Bewegungen der Kniescheibe. Dies führt häufig zu Schmerzen und Deformitäten in diesem Bereich.
32
992
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
Als Ursache der (Sub-)Luxationen sind unreife Kniegelenkverhältnisse zu nennen. Einerseits sind kraniale Anteile des Gleitlagers (Condylus lateralis femoris) zu schwach ausgebildet, sodass die Patella in Knieextension nach lateral abgleitet. Bei gleichzeitiger Asymmetrie der Krafteinleitung des Streckapparats zugunsten des lateralen Anteils zeigt sich eine verstärkte Ausbildung der lateralen Patellagelenkfacette mit weitgehender Hypoplasie der medialen Facette. Häufig zu beobachten ist eine Hypoplasie des medialen Reservestreckapparats (M. vastus medialis). Die laterale Facette hat typischerweise ein innigeres Verhältnis mit der lateralen Wand des femoralen Gleitlagers und überragt diese bei maximaler Kniestreckung nach lateral.
»Jägerhutpatella« ist ein Ausdruck der maximalen Diskrepanz von lateral zu medial (⊡ Abb. 32.84). z
Diagnostik
Röntgenologisch sind Patella-Defilee-Aufnahmen in 30°, 60° und 90° Beugung sinnvoll, die sowohl Lateralisationstendenzen der Patella als auch Missverhältnisse bezüglich der Patellafacetten darstellen. z
Therapie
Die Therapie richtet sich nach der klinischen Form. Angeborene Kniescheibenluxation
z
Klassifikation
Die Einteilung der Patelladysplasie erfolgt nach der Klassifikation nach Wiberg. Vier Typen werden unterschieden; die sog.
32
Seltene Problematik mit sich rasch entwickelnder Flexionsvalguskontraktur im Kniebereich. Ein frühes operatives Eingreifen ist das Mittel der Wahl (⊡ Abb. 32.85 u. ⊡ Abb. 32.86).
⊡ Abb. 32.84 Dysplasietypen des Femoropatellargelenks nach Wiberg als prädisponierender Faktor für eine Chondropathia patellae. Typ I ist normal, von Typ II–IV findet sich eine zunehmende Lateralisation der Patella mit Hypoplasie des medialen Patellaanteils. (Aus: Krämer u. Grifka 2007)
a ⊡ Abb. 32.85 Angeborene Kniescheibenluxation rechts bei valgischer Achsenfehlbildung bei einem 5-jährigen Jungen
b
⊡ Abb. 32.86a,b Angeborene Patellaluxation im Röntgenbild. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
993 32.6 · Knie und Schienbein
Patella(sub)luxation im Kindesalter
Die habituelle Patella(sub)luxation hat ihre Ursache in einer knöchernen patellaren und kondylären Unreife (Dysplasie) mit Kontrakturen im Funktionsbereich des M. vastus lateralis. Dies führt zu Lateralisationen der Kniescheibe bei allen Beugebewegungen. Minimalere Verfahren im Sinne einer lateralen Retinakulumsspaltung im Rahmen einer Arthroskopie sind mit höheren Rezidivraten verbunden als offene Verfahren, die unter Schonung der Wachstumsfugen einen Transfer der lateralen Hälfte des Patellasehnenbands nach medial zusammen mit einer Spaltung des lateralen Retinakulums vorsehen (Operation nach Goldthwait, ⊡ Abb. 32.87; Operation nach Ali-Krogius und
Roux-Hauser). Die Rezidivrate ist auch hier etwas höher, als bei knöchernen Operationen am ausgewachsenen Skelett. Patella(sub)luxation bei Jugendlichen
Rezidivierende Patella(sub)luxationen (⊡ Abb. 32.88) entstehen entweder spontan oder als Folge eines Anprall- oder Verdrehtraumas (z. B. bei am Boden fixiertem Unterschenkel dreht sich der Oberschenkel nach innen bei gestrecktem Knie). Traumatische Luxationen sind häufig assoziiert mit osteochondralen Abscherfrakturen: Ein ausgeprägter Hämarthros sollte arthroskopisch abgeklärt werden. Gut reponierbare Fragmente sollten durch Miniarthrotomie refixiert werden.
a
d
b
e
c
⊡ Abb. 32.87a–e Operation nach Goldthwait. a Mittiges Spalten des Lig. patellae, b Anheben der hälftigen Patellasehne, c Armierung der lateralen Patellasehne für den späteren Transfer mit Naht, d der laterale Patellasehnenschenkel wird distal abgelöst und unter dem stehenden medialen Sehnenanteil weiter nach medial hindurchgezogen, e Verankerung des lateralen Sehnenschenkels des Ligaments (oberer Operationssitus) in einer medialen Periosttasche nach Unterführung unter dem medialen Schenkel (Patellaspitze rechts im Bild)
32
994
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.88 Rezidivierende Patellaluxation rechts bei einem 14-jährigen Mädchen
32.6.6 z
32
Chondromalacia patellae
Ätiologie und Pathogenese
Die Chondromalacia patellae ist die häufigste patellofemorale Erkrankung, die sich häufig zu Beginn der Pubertät in Form des vorderen Knieschmerzes äußert. Schnelle Wachstumsphasen mit starkem Längenwachstum von Femur und Tibia kommen mit nicht hebelgerechtem und dysproportionalem Muskelwachstum (M. quadriceps) zusammen. Ursache ist auch hier eine Dysbalance des Kniestreckapparats mit Lateralisierung der Patella und erweichtem Knorpel der medialen Kniescheibenfacette Begünstigend wirken generalisierte Gelenklaxität, Tibiaaußentorsion, Genu valgum, Hypoplasie des M. vastus medialis, limitierte Patellaverschieblichkeit nach innen und anormale Patellaführung. z
Diagnostik
Heftige Reaktion bei Druck der Patella nach lateral (FairbankZeichen). Die Patellaführung wird am sitzenden Kind bei langsamer Kniestreckung aus der Beugung heraus beobachtet: Pathologisch ist die sog. J-Kurve mit zunehmender Lateralisation der Patella nahe der maximalen Streckung. Durch das Zohlen-Zeichen wird eine Mehrbelastung provoziert, indem der Patient aufgefordert wird, den M. quadriceps anzuspannen, wobei der Untersucher suprakondylär mit der Hand einen vermehrten Anpressdruck der Patella zum Gleitlager provoziert. z
3 Monate isometrisches Quadrizepstraining (abgesehen von Luxationen in Verbindung mit osteochondralen Verletzungen, die spezifische Operationen erfordern). Bei persistierender Instabilität ist eine Balancierung des Streckapparates notwendig: Beim kleineren Kind besteht diese in einer seitlichen arthroskopischen Spaltung des Reservestreckapparats (laterale Retinakulumspaltung) und einer medialen Kapseldoppelung. Postoperativ ist für 3 Monate eine patellazügelnde Bandage zu tragen Beim Jugendlichen vor Abschluss der Skelettreife wird ein offener hälftiger Transfer der Patellasehne empfohlen (Operation nach Goldthwait-Hauser, ⊡ Abb. 32.87) in Kombination mit der lateralen Retinakulumspaltung und gelegentlich (bei deutlicher M.-vastus-medialis-Schwäche) einer Distalisierung des Muskelansatzes (Operation nach Insall), seltener bei hartnäckigen Rezidiven ein Transfer der M.-semitendinosus-Sehne auf die mediale Paella. Bei Jugendlichen nach Wachstumsabschluss mit Therapieresistenz ist auf jeden Fall eine radikale Verbesserung des Q-Winkels anzustreben: Sei es durch eine knöcherne Tuberositas-tibiae-Schwenkung nach medial (Operation nach Elmslie-Trillat; Operation nach Roux-Hauser in Kombination mit Weichteilmaßnahmen) oder bei pathologischem Genu valgum eine distal-femorale (»suprakondyläre«) varisierende Umstellungsosteotomie.
32.6.7
Poplitealzysten
Auch als Semimembranosuszyste oder Gastroknemiuszyste und fälschlicherweise auch als »Baker-Zyste« bezeichnet. Es handelt sich um Störungen der Synovialmembran im Bereich von Sehneninsertionen, meist des Sehnenansatzes des M. semimembranosus oder des medialen Gastrocnemiuskopfes. Selten nur sind Gelenkinnenraumverbindungen beschrieben, dementsprechend liegen selten intraartikuläre Veränderungen vor. Klinisch imponieren Poplitealzysten durch prallelastische schmerzfreie Vorwölbungen der medialen Kniekehle. Die sonographische Bildgebung ist diagnosesichernd und differenziert von anderen Kniekehlenprozessen; Aspirationen der Zyste sind nur in Ausnahmefällen notwendig. > Zysten ohne Klinik und Funktionseinschränkung werden nur beobachtet und bilden sich meist zurück. Bei großen schmerzhaften Zysten mit Flexionseinschränkung wird eine operative Entfernung empfohlen.
32.6.8
Unterschenkelverkrümmungen im Kleinkindesalter
Therapie
Grundsätzlich sind ein isometrisches M.-quadriceps-Training, Dehnübungen des M. quadriceps, die Vermeidung schmerzauslösender Aktivitäten und (gelegentlich) Gabe von NSAR notwendig. Bei Kindern und Jugendlichen mit nur einem oder wenigen asymptomatischen (Sub-)Luxationsereignissen zunächst
Laterale Tibiaverkrümmung (Tibia vara)
Symmetrische milde Variation des Normalen mit guter Selbstheilungspotenz, falls nicht assoziiert mit anderen systemischen Problemen (z. B. Rachitis, Mukopolysacharidose). Zunächst Beruhigung der Eltern. Im Rahmen von Verlaufskontrollen wird die Entwicklung beobachtet.
995 32.6 · Knie und Schienbein
a
⊡ Abb. 32.89a,b Tibia vara et antetorta bei einem 6 Monate alten Säugling. a Klinisches Bild, b postoperativ nach Korrekturosteotomie (nach 15 Monaten)
b
Vordere laterale Tibiaverkrümmung (Tibia antecurvata et vara)
Ernste Form der Schienenbeinverbiegung. Spontane Zunahmen der Verkrümmung sind möglich, ebenso Spontanfrakturen am Verkrümmungsgipfel. Zunächst sollte diese Veränderung mit einer Schutzorthese versorgt werden, um das pathologische Wachstum zu lenken und Frakturen zu vermeiden. Gelegentlich sind bei stärksten Verkrümmungen auch Korrekturosteotomien erforderlich (⊡ Abb. 32.89 u. ⊡ Abb. 32.90).
32.6.9
Tibiapseudarthrose
⊡ Abb. 32.90a,b Röntgenbefund bei Tibia vara et antetorta vor Korrekturosteotomie bei einem 6 Monate alten Säugling. a Rechts, b links mit erheblicher Unterschenkelverbiegung
Intrauterine oder postpartale Fraktur, die häufig aus einer Tibia antecurvata et vara hervorgeht (⊡ Abb. 32.91) und gelegentlich mit Neurofibromatose (50%) assoziiert ist. Die Pseudarthrose entsteht meist am distalen Ende der Tibiadiaphyse (⊡ Abb. 32.92). Als Behandlungsoptionen ergeben sich folgende Strategien: ▬ reine Orthesen und Orthoprothesenversorgung (prinzipiell jedes Alter) ▬ zunächst intramedulläre Nagelfixierung und kortikospongiöse Plastik nach Pseudarthrosenexzision (2.–6. Lebensjahr) ▬ vaskularisiertes Fibulatransplantat von der Unterschenkelgegenseite und Schraubenosteosynthese bzw. Anlage eines Ilizarov-Ringfixateurs (4.–8. Lebensjahr) ▬ Pseudarthrosenresektion und Segmenttransport mit Ilizarov-Ringfixateur (6.–14. Lebensjahr)
Vordere Tibiaverkrümmung (Tibia antecurvata)
Bei Misserfolg der genannten Strategien steht in Ausnahmefällen die Unterschenkelamputation als Möglichkeit offen (prinzipiell jedes Alter).
a
b
Häufig assoziiert mit longitudinalen Defekten der Fibula. Ein Grübchen formt sich am Apex der Verkrümmung. Beinverkürzungen sind das Hauptproblem. Hintere mediale Tibiaverkrümmung (Tibia recurvata et valga)
Seltene Veränderung, häufig assoziiert mit Hackenfuß und Beinverkürzung. Ursache sind meist intrauterine Fehllagen. Die Therapie ist konservativ; gelegentlich Schienenversorgung.
Klassifikation der Tibiapseudarthrose nach Crawford (1986)
▬ ▬ ▬ ▬
Typ I: nur Antekurvation Typ II: Antekurvation, Varus und Sklerose Typ III: zusätzlich zystische Einschlüsse Typ IV: dysplastisch
32
996
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
32.7
Fuß
Probleme und Veränderungen im Fußbereich gehören zu den häufigsten orthopädischen Fragestellungen im Wachstumsalter. Die medizinische Nomenklatur verwendet häufig die Terminologie der Veränderungen von Gelenkbewegungen des Sprunggelenks und Fußes zur Beschreibung der Erkrankung (⊡ Tab. 32.17).
32.7.1
Differenzialdiagnose kindlicher Fußschmerz
Mögliche dem kindlichen Fußschmerz zugrunde liegende Erkrankungen und Verletzungen sind in ⊡ Tab. 32.18 aufgeführt.
32.7.2
Zehendeformitäten
⊡ Tab. 32.19 zeigt typische Zehendeformitäten im Säuglingsund Kindesalter.
32.7.3
Vorfußdeformitäten
⊡ Tab. 32.20 zeigt eine Zusammenfassung häufiger Vorfußdeformitäten sowie der entsprechenden Therapieoptionen.
32
⊡ Abb. 32.91 M. Recklinghausen: Tibiapseudarthrose Typ II links mit Tibia vara et antecurvata bei einem 9 Monate alten Säugling
⊡ Tab. 32.17 Nomenklatur für normale Gelenkbeweglichkeit und Deformitäten im Fußbereich Anatomische Region
Normale Bewegungsrichtung
Deformität/Erkrankung
Sprunggelenk
Plantarflexion
Spitzfuß (Pes equinus)
Dorsalextension
Hackenfuß (Pes calcaneovalgus)
Inversion (Varosupination)
Fersenvarus, Inversionskontraktur
Eversion (Valgopronation)
Fersenvalgus, Eversionskontraktur
Adduktion
Sichelfuß, Metatarsus adductus
Abduktion
Pes abductus
Plantarflexion
Pes cavus
Dorsalextension
Schaukelfuß, Tintenlöscherfuß
Pronation
Pronationskontraktur
Supination
Supinationskontraktur
Abduktion
Hallux varus
Adduktion
Hallux valgus
Flexion
Beugekontraktur
Extension
Extensionskontraktur
Flexion
Flexionskontraktur
Beugung
Extensionskontraktur
Subtalargelenk
Tarsometatarsalgelenk
Hallux
Zehen
⊡ Abb. 32.92 Tibiapseudarthrose Typ II im seitlichen Röntgenbild
997 32.7 · Fuß
32.7.4 z
Kongenitaler Klumpfuß
Synonyme
Pes equinovarus-adductus-supinatus (et excavatus) z
Definition
Der angeborene Klumpfuß stellt die zweithäufigste Skelettfehlbildung dar und kann in schweren Fällen limitierend für
⊡ Tab. 32.18 Ursachen des kindlichen Fußschmerzes nach Kategorien Kategorie
Erkrankung
Trauma
Osteochondrosen
M. Köhler I (Os naviculare) M. Köhler II (M. Freiberg) (Metatarsale-Köpfchen II) M. Sever (Apophysitis calcanii)
Frakturen Verstauchungen Weichteilverletzungen Überlastungs-(Marsch-)Frakturen
Tarsale Koalitionen
Kalkaneonavikulare Koalition talokalkaneare Koalition
Infektionen
Sohlenstichverletzungen eingewachsener Zehennagel Osteomyelitis Gelenkempyem
Tumoren
Sehnenscheidenganglion Osteochondrom Hämangiom u. a.
Deformitäten
Großzehenballen Überbeine Metatarsalgie
Funktionelle Erkrankungen
Tarsaltunnelsyndrom Reflexdystrophie reflektorische Fehlstellung nach Trauma
Syndesmoseninsertionsligamentopathie
Akzessorische Ossikel (Os naviculare etc.)
Beruf, Sport und Freizeitaktivitäten sein (⊡ Abb. 32.93). Fehlstellungen der Gelenke und Fehlformen der Knochen, induziert durch persistierende Fehlstellung, führen unbehandelt immer zu pathologischen Belastungen. Dabei können Arthrosen des unteren und/oder oberen Sprunggelenks schon in der zweiten oder dritten Lebensdekade auftreten und Arthrodesen notwendig werden, was frühzeitig im Berufsleben des Betroffenen sozialmedizinisch (Berentung) relevant werden kann. Eine
⊡ Tab. 32.19 Typische Zehendeformitäten im Säuglings- und Kindesalter Kategorie
Kommentar
Polydaktylie
Häufig bei Mädchen; Exzision der überzähligen Zehen im ersten Lebensjahr; Ziel ist die normale Fußkontur
Mikrodaktylie
Häufig assoziiert mit intrauteriner Hypotension und Minderdurchblutung der Zehen; keine Therapie
Syndaktylie
Unproblematisch und ohne Funktionsstörung; gelegentlich Operation aus kosmetischen Gründen
Fehlbildungen (longitudinal/transversal)
Angeborene Fehlbildungen mit Verlust von Zehenstrahlen oder Doppelungen ganzer Fußteile
Lockenzehen
Dig. ped. III/IV; häufig und harmlos; Abwarten bis zum Ende des 3. Lebensjahres; bei Nagelproblemen Beugesehnentenotomie plantar
Digitus supraductus
Häufig und bilateral (Dig. ped. V); bei Schuhproblemen Weichteiloperation, ggf. mit partieller Syndaktylierung mit Dig. ped. IV
Klauenzehen
Assoziiert mit Ballenhohlfuß; Therapie auch der Grunderkrankung (meist chirurgisch)
Hammerzehen
Familiär und Folge einer fixierten Beugekontraktur (Dig. ped. II); bei Schuhproblemen DIP-Arthrodese
⊡ Tab. 32.20 Häufige Vorfußdeformitäten: Ätiologie und Therapieoptionen Typ
Ätiologie
Kommentar
Therapie
Metatarsus adductus (Sichelfuß)
Lagedeformität in der späten Schwangerschaft
90% verschwinden spontan, 10% Therapie
Lagerungsoberschenkelgips in Überkorrekturstellung
Metatarsus primus varus, Hallux valgus
Intrauterine Lageanomalie?
Häufig rigide
Lagerungsgips, später basisnahe Dom-Osteotomie MT I
Hallux rigidus
Degeneration
Bewegungseinschränkung, dorsaler Ballen
Cheilektomie, Arthrodese
Spreizfuß
Übergewicht, familiär, belastungsbedingt
Bilateral, kosmetische und Schuhpassprobleme
Vorfußverschmälerung durch metatarsale Osteotomien
Klauenfuß
Autosomal dominant vererbt
Selten, bilateral
Osteotomien und Syndaktylierung
Serpentinenfuß
Familiär, Bandlaxität, Folge einer Klumpfußoperation
Rückfußvalgus, Mittelfußabduktion, Vorfußadduktion und Supination
Behandlung schwierig, z. B. Operation nach Evans(Kalkaneusverlängerung) kombiniert mit Verlängerung der medialen Adduktoren
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998
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
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⊡ Abb. 32.93 Angeborener Klumpfuß Typ IV nach Dimeglio mit Fersenvarus, Supinationsstellung, Vorfußadduktionsstellung und Achillessehenverkürzung mit Spitzfuß
32
konsequente konservative, ggf. auch operative Korrektur der Fehlstellung kann den Verlauf wesentlich begünstigen. Beim kongenitalen Klumpfuß (primär idiopathischer Klumpfuß) handelt es sich um eine komplexe Fehlstellung im Talokalkaneargelenk, Talonavikulargelenk und Kalkaneokuboidalgelenk (»subtalarer Gelenkkomplex«) mit Kontrakturen der Gelenkkapseln und Sehnenverkürzungen unterschiedlicher Ausprägung. In Analogie zur kongenitalen, sich entwickelnden Hüftluxation des Neugeborenen mit Hüftdysplasie spricht man beim Klumpfuß von einer Luxatio pedis im Chopart-Gelenk. Der Taluskopf luxiert nach lateral aus dem »PfannenbandKomplex« (Os naviculare und seine Kapselbandverbindungen: Acetabulum pedis) heraus, während das Os naviculare mitsamt dem Mittelfuß nach medial und kranial wandert. Klumpfüße treten auch bei einer Reihe von neuromuskulären Erkrankungen wie Spina bifida (⊡ Abb. 32.94), Sakraldysgenesie oder -agenesie, infantile Zerebralparese (⊡ Abb. 32.95), Muskeldystrophie, Arthrogryposis multiplex congenita (⊡ Abb. 32.96) u. a. auf. z
Ätiologie und Pathogenese
Diskutiert werden genetische Defekte, embryonale Defekte, temporäre Wachstums- oder Entwicklungsverzögerungen, mechanische Störung der Fußentwicklung in der Embryonalperiode, primärer neurogener Defekt, Primärdefekte in der Muskulatur (Muskelanomalien, Dysproportion der Typ-I- und Typ-II-Fasern). Die intrauterine Lageanomalie ist ein weiterer Einflussfaktor. Es kommt zu Fehlwachstum der Knochen bei Störung der enchondralen Ossifikation, Pathologie der Ossifikationszentren, Kontrakturen im unteren Sprunggelenkkomplex mit
b ⊡ Abb. 32.94a,b Schwerer neuromuskulärer Klumpfuß beidseits bei einem 12-jährigen Jungen mit Spina bifida mit Menigomyelozele (Th12), Skoliose und Gehunfähigkeit
(primären und/oder sekundären) Sehnenverkürzungen, Dysmorphie von Kalkaneus, Talus, Os naviculare und bei persistierender Fehlstellung des Os cuboideum, der Ossa cuneiformia, aber auch der Metatarsalknochen. Kontrakturen durch massive (relative) Verdickung der Kapsel-Band-Strukturen und Sehnenverkürzungen.
999 32.7 · Fuß
⊡ Abb. 32.95 Spastischer Klumpfuß links und Plattfuß rechts bei einem 7-jährigen Junge mit infantiler Tetraparese (»Windschlagphänomen«)
⊡ Abb. 32.96 Klumpfuß beidseits bei einem 6 Monate alten Säugling mit Arthrogryposis multiplex congenita
z Kongenitaler Klumpfuß
▬ Kleiner Talus mit Hauptachse nach lateral stehend, mit ▬ ▬ ▬ ▬ ▬ ▬
kurzem Hals und Kopf, der nach medial und plantar verdreht ist Os naviculare mit medialseitiger Artikulation am Taluskopf und ggf. am Innenknöchel Talus und Kalkaneus sind parallel in allen 3 Ebenen gesamter Mittelfuß nach innen subluxiert (Luxation im sog. Acetabulum pedis) Sprunggelenk: Talus in Spitzfußposition, artikuliert nur mit dem rückwärtigen Teil unteres Sprunggelenk: Kalkaneuslängsachse varisch und in Bezug auf Talus und Bimalleolarachse nach lateral rotiert Talonavikulargelenk: Os naviculare medialisiert bis zum Mallelus medialis, das Lig. deltoideum ist verkürzt
Beim neuromuskulären Klumpfuß liegt der Deformität ein Muskelungleichgewicht zugrunde. Es überwiegen die Supinatoren (M. tibialis posterior et anterior) und die Flexoren (M. triceps surae, Zehenflexoren). Schlaffe und spastische Lähmungen sowie Muskelerkrankungen sind zu beachten.
Klassifikation
Zur Kontrolle der Effektivität verschiedener Behandlungsformen muss der Neugeborenenklumpfuß klassifiziert werden. Für den klinischen Alltag und eine wissenschaftliche Vergleichbarkeit der Befunde und Therapieergebnisse hat sich die Klassifikation nach Dimeglio (1995) bewährt. Dabei ist der Grad der Reponierbarkeit der Deformität wichtiger als die Deformität selbst (⊡ Abb. 32.97): ▬ Typ I – weich (soft-soft): 3% – habitueller oder residueller Klumpfuß – gute manuelle Reponierbarkeit – Gips/Tape und manuelle Therapie – keine Operation ▬ Typ II – weich-steif (soft-stiff): 30% – Reponierbarkeit der horizontalen und sagittalen Deformität >50% – Korrigierbarkeit der Fersenvarusdeformität <20% – normalerweise gutes Ansprechen auf konservative Behandlung; allerdings ab 8./9. Monat möglicherweise Restdeformität, es sei denn, die konservative Behandlung wird bis zum Gehalter ausgedehnt (Ponseti-Methode) – chirurgische Überkorrektur häufig möglich ▬ Typ III – steif-weich (stiff-soft): 61% – Reponierbarkeit der horizontalen und sagittalen Deformität <50%
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
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32 ⊡ Abb. 32.97a–d Klassifikation nach Dimeglio. a Weich (soft-soft), b weich-steif (soft-stiff ), c steif-weich (stiff-soft), d steif (stiff-stiff )
– zeigt bei Manipulation Resistenz trotz partieller Reponierbarkeit – trotz guter konservativer Vorbehandlung (Ponseti/Imhäuser) gelegentlich Operationsindikation (meist kleine Eingriffe: Achillessehnenverlängerung) ▬ Typ IV – steif (stiff-stiff): 9% – kurzer und steifer Fuß – Reponierbarkeit der horizontalen und sagittalen Deformität <20% – schwerer Spitzfuß und Fersenvarus >45° – Arthrogrypose-ähnlich; wenn einseitig ggf. Neuropathologie – konservative Behandlung selten erfolgreich – hohe Rezidivquote (auch nach Operation 40%) z Diagnostik z z Anamnese
Fremdanamnese: Es interessieren Daten zur Schwangerschaft (Lage, Fruchtwassermenge, Erstgeburt, Mehrlingsgeburt) sowie zur Geburt (Zeitpunkt, Verlauf, Sectio, Komplikationen). Spezielle Anamnese: Es sind Untersuchungsdaten zur Untersuchung von Fehlbildungen und -stellungen von Fuß, Knie, Hüfte, Wirbelsäule zu erfragen, des Weiteren Informationen
über eine vorherige konservative oder operative Behandlung, eine begleitende Fußdeformität der Gegenseite (z. B. Talus verticalis), Allgemein- und Grunderkrankungen (z. B. Arthrogryposis multiplex congenita, Spina bifida). Dazu wird in der Familienanamnese nach Klumpfuß bei Eltern, Geschwistern oder entfernten Verwandten gefragt. > Wichtig ist die Abgrenzung zur häufigen Klumpfußhaltung, die in der Regel keiner operativen Behandlung bedarf. z z Klinische Untersuchung
▬ Spontanhaltung des Fußes ▬ Knie-Fuß-Achse und Rotationsfehlstellung des Fußes in der Knöchelgabel (Drehung des Fußes nach innen, während die OSG-Gabel nach lateral rotiert) ▬ Bewegungsumfang, passive Redressierbarkeit und Beweglichkeit in den einzelnen Gelenken ▬ Bein- und Fußlängen und Trophik, Hinweise auf Muskelatrophie (Wade) ▬ Besonderheiten der Haut (Hautgrübchen am medialen Fußrand) ▬ Gegenseite und benachbarte Gelenken ▬ Durchblutung, Motorik und Sensibilität
1001 32.7 · Fuß
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⊡ Abb. 32.98a,b Metatarsus adductus beidseits bei einem 23 Monate alten Kleinkind (residueller Klumpfuß Typ I nach Dimeglio). a Ausgangssituation nach initialer Gipsredression, b nach Versorgung mit einer Oberschenkelorthese
z z Bildgebende Verfahren
Redressionsbehandlung
Postpartal wird die Diagnose nach dem klinischen Befund gestellt. Röntgenaufnahmen sind in den ersten 3 Monaten in der Regel nicht relevant. Nach dem 3. Lebensmonat: Immer beide Füße a.p. und streng seitlich, möglichst mit einer Gegendruckplatte an der Fußsohle (Simons 1977). Im Einzelfall, insbesondere bei komplexen Fehlbildungen ist eine DopplerSonographie der Blutgefäße angezeigt.
Für die manuelle Redressionsbehandlung ist eine für Kind und Mutter ruhige Athmosphäre zu schaffen. Vor der Anlage des Retentionsverbands (aus Gips oder Softcast) ist der Fuß schrittweise und sanft zu dehnen. Empfohlen wird das Einölen mit adäquaten Substanzen, damit es bei der Redression nicht zu Hautreibeschäden kommt. Neben der in Mitteleuropa früher weit verbreiteten Technik der Redression nach Imhäuser (1984) setzt sich die noch schonendere Redressionsmethode nach Ponseti (1992) schrittweise durch. Dem Arzt und Therapeuten muss klar sein, dass den verkürzten Sehnen- und Kapselstrukturen des Neugeborenenklumpfußes sehr weiche intraartikuläre Knorpelverhältnisse, besonders zwischen Tibia- und Talusgelenkfläche, aber auch zwischen Talus und Os naviculare, gegenüberstehen. Rabiate und mit hohen Drücken einhergehende Manipulationen sind zu vermeiden, da es hierdurch regelmäßig zu nekrosebedingten Wachstumsstörungen besonders des Talusdoms (»flat-top-talus«) kommt.
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Differenzialdiagnose
Häufige Differenzialdiagnosen sind: ▬ Klumpfußhaltung ▬ neurogener Klumpfuß ▬ Sichelfuß/Metatarsus adductus (varus) (⊡ Abb. 32.98) ▬ Kletterfuß/Pes supinatus z
Therapie
Sofortige Behandlung ist eine wichtige Voraussetzung zum Erreichen der Therapieziele. Im Einzelnen sind dies: ▬ Reposition des subtalaren Gelenkkomplexes ▬ Dehnung der medialen Fußsäule ▬ korrekte anatomische Achsenverhältnisse ▬ muskuläres Gleichgewicht ▬ frei beweglicher Fuß mit normaler Stellung und Belastbarkeit vor dem Laufbeginn z z Konservative Therapie Beratung
Aufklärung über die Erkrankung, den natürlichen Verlauf und die Beeinflussbarkeit durch konservative und/oder operative Therapie. Die Beratung ist individuell zu gestalten und umfasst u. a.: spezielle Lagerung, Beobachtung und Kontrolle der Zehendurchblutung und -beweglichkeit bei Gipsbehandlung. Anwendung erlernter Übungen neurophysiologischer Krankengymnastik.
! Cave Fehler in der manuellen Redression können zu lebenslangen schweren Bewegungsstörungen in den großen Fußgelenken, besonders den Sprunggelenken, führen.
Für die erfolgreiche Redressionsbehandlung ist insbesondere zu berücksichtigen (⊡ Abb. 32.99): ▬ Sofortbehandlung postpartal ▬ Rückenlage des Kindes und Greifen des Fußes: mit Daumen und Zeigefinger der einen Hand an der Ferse (Daumen gibt Druck von lateral auf den tastbaren Taluskopf, Zeigefinger hält von medial die Ferse nach lateral), mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand im Vorfußbereich unter Zugausübung auf die mediale Fußsäule.
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
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32 ⊡ Abb. 32.99a–d Vorsichtige Redression des linken Klumpfußes nach Ponseti/Imhäuser. a Tasten des Taluskopfes am lateralen Fußrücken, Dehnung des medialen Fußrands, b, c Dehnung des medialen Fußrands durch Längszug am ersten Strahl, d der Spitzfuß wird durch Zug an der Ferse nach kaudal gedehnt
▬ Keinesfalls versuchen, primär den Vorfuß in Richtung Dorsalextension zu redressieren, um einen »Tintenlöscherfuß« zu vermeiden! ▬ Graduelle Redression zunächst mit Dehnung der medialen Fußsäule, dann schrittweiser subtalarer Reposition in Spitzfußstellung, nach 2–3 Wochen erst Beginn der Korrektur des Spitzfußes durch Kaudalmassage der Ferse (Cave: Zu starker Kranialdruck des Vorfußes! ⊡ Abb. 32.100). ▬ Stets nach Redression im Oberschenkelretentionsverband halten (⊡ Abb. 32.101): Gipsverband (besser modellierbar) oder Softcast (von den Eltern ohne Säge entfernbar). ▬ Es erfolgen mehrere Redressionen in den ersten 2 Lebenswochen, später wöchentlich. ▬ Es ist günstig, die Eltern im wöchentlichen Rhythmus den Retentionsverband entfernen zu lassen (Softcast), Hautpflege zu betreiben, Krankengymnastik (z. B. nach Zukunft-Huber) durchzuführen, um erst dann erneut zu redressieren und zu retinieren. ▬ Weitere Redressionen in Abhängigkeit vom Verlauf und Röntgenbefund nach dem 3. Lebensmonat.
⊡ Abb. 32.100 Manuelle Vorbereitung der redressierenden Gipsbehandlung: theoretische Traktionsvektoren vor Behandlungsbeginn
1003 32.7 · Fuß
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⊡ Abb. 32.101a–d Anlage eines Oberschenkelliegeredressionsgipses in 90° Kniebeugung und bestmöglicher Dehnung der medialen Fußsäule. a, b Polsterung des redressierten Klumpfußes, c, d Gipsphase
⊡ Abb. 32.102 Oberschenkelredressionsschiene (Kopenhagener Schiene) nach Gipsbehandlung oder postoperativ
⊡ Abb. 32.103 Antivarusschuh mit Drei-Backen-Einlage nach Gipsbehandlung oder postoperativ
Physikalische Therapie
Orthopädietechnik
In Ergänzung zur Redression ist Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage (z. B. nach Zukunft-Huber) sowie Muskelkräftigung, Muskeldehnung und Koordinationsschulung durchzuführen.
Schienen werden überwiegend nach der Gipsbehandlung oder postoperativ eingesetzt (⊡ Abb. 32.102), ferner Innenschuhe, Antivarusschuhe und Drei-Backen-Einlage (⊡ Abb. 32.103).
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
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⊡ Abb. 32.104a–e Peritalare Arthrolyse nach Cincinatti/Turco. a Hautschnitt, b dorsolateraler Operationssitus mit markiertem Gefäßnervenbündel (gelb) und Flexorengruppe des Fußes, c Reposition der medialen Fußsäule durch temporäre Kirschner-Draht-Transfixation von Talus, Os naviculare und erstem Zehenstrahl sowie axiale Kirschner-Draht-Fixation von Talus und Kalkaneus, d beidseits postoperative Gipsversorgung mit Oberschenkelredressionsgipsen, e postoperatives Resultat
1005 32.7 · Fuß
z z Operative Therapie Allgemeine Indikationskriterien
Nach 3 Monaten konservativer Behandlung werden Röntgenaufnahmen des Klumpfußes angefertigt. Abhängig vom Erfolg der Vorbehandlung und vom Schweregrad des Klumpfußes werden die knöchernen und klinischen Verhältnisse sowie verbliebene Fehlstellungen beurteilt und ggf. operativ behandelt. Insbesondere persistierende Fehlstellungen zwischen Talus, Kalkaneus und Os naviculare müssen evaluiert und ggf. korrigiert werden. In den meisten Fällen ist eine Achillessehnenverlängerung, ggf. mit einem dorsomedialen Kapsel-Release ausreichend. Nur bei den sog. Klumpfußhaltungen reicht eine rein konservative Behandlung. Bei den schweren Klumpfüßen Typ IV nach Dimeglio ist häufig eine peritalare Arthrolyse notwendig, um knöcherne Fehlstellungen zu beseitigen (⊡ Abb. 32.104). Andere Erkrankungen/Fehlbildungen der Bewegungsorgane (z. B. Hüftdysplasie, Spina bifida) sowie Alter, Allgemeinzustand und Begleitkrankheiten sind zu berücksichtigen. Häufige Operationsverfahren
▬ Primäroperation: Perkutane Achillessehnenverlängerungen, Arthrolysen, Gelenkrepositionen, Sehnenverlängerungen; Modifikationen des Turco-Zugangs (Turco 1979) oder Varianten des Cincinnati-Zugangs (Krauspe 1995) sind weit verbreitet. ▬ Sekundäroperationen: Vorgehen wie bei der Primäroperation, zusätzlich Osteotomien, Sehnentranspositionen (M. tibialis anterior). ▬ Spätkorrekturen: Graduelle Gelenkrepositionen mit dem Fixateur externe (Ilizarov), Korrekturarthrodesen kurz vor oder kurz nach Wachstumsabschluss. Nachbehandlung
Postoperativ Gipsverband für 6 Wochen mit einem ersten Wechsel nach 2 Wochen mit Redression. Später Kopenhagener Orthese (Tag- und Nachtschiene), Physiotherapie. Nach Gehbeginn: knöchelübergreifender Kinderstabilschuh/DreiBacken-Einlage (⊡ Abb. 32.103). Klinische und ggf. radiologische Kontrollen.
Wundinfekt, Gefäßverletzung und Nervenverletzung. Zu den speziellen Folgen zählen Über- oder Unterkorrekturen, persistierende Bewegungseinschränkung, Knochennekrosen, Drahtbruch. z
Prognose
Ohne Behandlung ist nur ein Stehen und Gehen in Fehlstellung und später unter Schmerzen möglich. Auch die Schuhversorgung ist problematisch. Die individuelle Prognose des Behandlungserfolgs ist schwer einzuschätzen. Bei unmittelbar nach Geburt einsetzender konservativer Behandlung und ggf. frühzeitiger operativer Korrektur ist in der Regel ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen.
32.7.5 z
Kindlicher Knick-Platt-Fuß
Definition
Meist harmlose, bis zu einem gewissen Grad physiologische Fußfehlstellung im Kleinkindes- und Kindesalter mit verstärkter Valgusstellung des Fersenbeins (Knickfuß) und Abflachung der medialen Fußwölbung (Plattfuß). Oft auch Abweichung des Vorfußes in Abduktion. Die Grenzen zum Pathologischen sind fließend. > Beobachtungspflichtige Füße zeigen einen flexiblen Fersenvalgus >10° und eine komplette Abflachung des Längsgewölbes.
Bei Kleinkindern gleichen sich diese Fehlstellungen (Haltungsschwächen) im Zehenspitzenstand spontan aus (»Fußaufrichtung«). Bei diesen flexiblen Fehlstellungen ist eine Beobachtungsphase über mehrere Jahre indiziert. Findet die Fußaufrichtung spontan nicht statt (»rigider Plattfuß«), ist weitere Ursachenforschung zu betreiben. z
Ätiologie und Pathogenese
Ursache der erworbenen Deformität: Bandlaxität, Muskelschwäche, Übergewicht, Genua valga oder vara. Es handelt sich bei ausgeprägten Befunden um eine komplexe Deformität des Fußes in allen 3 Ebenen: Valgus des Rückfußes, Supination des Vorfußes, Dorsalflexion von Talus und Kalkaneus.
Therapeutisches Vorgehen: Stufenschema
▬ Orientierungskriterien: Alter, Ausmaß der Fehlstellung, bisherige Therapie
▬ Stufe 1 (ambulant): Aufklärung, konservative Stufentherapie (Redression, Gipsbehandlung, Orthesenversorgung) nach Imhäuser/Ponseti ▬ Stufe 2 (ambulant/stationär): konservative Therapie (Maßnahmen wie Stufe 1, stationär v. a. bei Orthesenversorgung sowie bei erschwerter Mitarbeit und Ansprechbarkeit der Eltern) ▬ Stufe 3 (stationär): Operation
z
Komplikationen
Zu den allgemeine Risiken und Komplikationen gehören Hämatome, Wundheilungsstörung (Wundrandnekrosen),
z
Klassifikation
Für den wissenschaftlichen Vergleich empfehlen wir die Einteilung in flexible und kontrakte/rigide Knick-Platt-Füße (⊡ Abb. 32.105). z Diagnostik z z Anamnese
▬ Schmerzen: Der Knick-Platt-Fuß macht selten Beschwerden. Bei Schmerzen müssen differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt werden (Lokalisation, Schmerzausstrahlung, Dauer, Intensität). ▬ Funktionseinschränkung: Belastbarkeit, Hinken, Beweglichkeit ▬ Spezielle Gelenkanamnese: vorherige konservative oder operative Behandlung
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1006
Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
z z Klinische Untersuchung
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Erforderlich ist die Beurteilung des Fußes beim Stehen, Gehen und Liegen. Ein pathologischer Fersenvalguswinkel im Stand wird von dorsal gemessen: beim Kind (2–5 Jahre) liegt er bei >20°, im Schulalter >10° und beim Erwachsenen >5°. Bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen flexiblem und rigidem (kontraktem) Knick-Platt-Fuß. Die Inspektion soll eine Beurteilung der medialen Fußwölbung (abgeflacht bzw. aufgehoben), des Vorfußes (abduziert) und der Valgusstellung der Ferse (verstärkt) ergeben. Das Schuhwerk zeigt medial stärker abgenutzte Sohlen. Die Fußdeformität fällt meist den Eltern auf. Interessant ist die Beurteilung des Gangbilds und die Beurteilung einer möglichen Beinlängendifferenz. Die Palpation des Fußes ermöglicht die Beurteilung druckschmerzhafter Punkte und benachbarter Gelenke sowie die Beurteilung von Durchblutung, Motorik und Sensibilität. Die Funktionsprüfung führt zur Beurteilung der Beweglichkeit aller Fußgelenke und stellt Bewegungsumfang und Bewegungsschmerz fest. Beim Zehenspitzenstand interessiert der Ausgleich der Fehlform: Die Ferse korrigiert sich in eine Varusstellung, und der mediale Fußrand wölbt sich. ! Cave Ein echter Plattfuß ist nicht zu verwechseln mit dem scheinbaren Plattfuß, der durch subkutanes Fettpolster hervorgerufen wird, das im ersten Lebensjahr normalerweise unter der Fußwölbung vorhanden ist.
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b ⊡ Abb. 32.105a,b Schmerzhafter flexibler Knick-Platt-Fuß beidseits bei einem 6-jährigen Mädchen
z z Bildgebende Verfahren
Beim schmerzfreien flexiblen Knick-Platt-Fuß ist üblicherweise keine apparative Diagnostik notwendig. Röntgenaufnahmen des Fußes im Stehen streng seitlich sind beim rigiden und/oder schmerzhaften Knick-Platt-Fuß mit pathologischen Fersenvalguswinkeln ratsam. z
Differenzialdiagnose
Häufige Differenzialdiagnosen sind: ▬ physiologischer Knick-Platt-Fuß ▬ kongenitaler Plattfuß (Talus verticalis; ⊡ Abb. 32.106) ▬ neurogener Knick-Platt-Fuß (z. B. infantile Zerebralparese, Myelomeningozele; ⊡ Abb. 32.105c, d) ▬ Koalitionen (Röntgen: Schrägaufnahme) > Therapieziel ist die Entwicklung einer normalen Fußform und -funktion. z
Therapie
Einen Therapiealgorithmus für kontrakte kindliche KnickPlatt-Füße zeigt ⊡ Abb. 32.107. z z Konservative Therapie
⊡ Abb. 32.106 Kongenitaler Plattfuß (Talus verticalis) bei einem kaum gehfähigen 15 Monate alten Kleinkind
Aufklärung über die Erkrankung, deren natürlichen Verlauf und Beeinflussbarkeit durch konservative bzw. operative Therapie. Die Beratung ist individuell zu gestalten und umfasst u. a.: Verhalten im Alltag, körperliche Belastung, Körpergewicht, evtl. Folgen von Bewegungsmangel, regelmäßige Übungen zur Beseitigung von Muskeldefiziten, v. a. durch Eigenübungen ( Übersicht).
1007 32.7 · Fuß
Knick-Platt-Fuß
Gelenkbeweglichkeit: flexibel
Hypermobiler Knick-Platt-Fuß
Beobachtung
Gelenkbeweglichkeit: steif
Kurze Achillessehne
Eingeschränkte subtalare Beweglichkeit
Hypermobiler Knick-Platt-Fuß mit Achillessehnenverkürzung
Tarsalkoalition
Kind/Jugendlicher mit Schmerzen
Achillessehnenverlängerung und Kalkaneusverlängerung
Kind ohne Schmerzen
Beobachtung
Schwerer Fersenvalgus mit Vorfußadduction
Kind/Jugendlicher mit Schmerzen
Tintenlöscherfuß
Serpentinenfuß
Kind/Jugendlicher mit Schmerzen
Resektion der Koalition
Kind ohne Schmerzen
Beobachtung
Talus vertikalis
Posterolaterales und mediales Release/ Talonavikulare Reposition
Verlängerung der medialen und lateralen Fußsäule
Kind ohne Schmerzen
Beobachtung
⊡ Abb. 32.107 Behandlungsalgorithmus für kontrakte kindliche Knick-Platt-Füße
z z Operative Therapie Therapeutisches Vorgehen bei Knick-Platt-Fuß
▬ Altersphysiologischer flexibler Knick-Platt-Fuß – Aufklärung der Eltern über gute Prognose und Spontanverlauf, befundabhängig klinische Kontrollen – Barfußgehen, spielerische Fußgymnastik (Greifübungen mit den Zehen, Zehenspitzenstand) – Korrektur mittels orthopädietechnischer Maßnahmen ist nicht indiziert
▬ rigider oder flexibler pathologischer Knick-PlattFuß – korrigierende Einlagenversorgung, ggf. Zurichtungen am Konfektionsschuh – spielerische Fußgymnastik (Greifübungen, Zehenspitzenstand) – Physiotherapie
Allgemeine Indikationskriterien sind der Schweregrad, derbisheriger Verlauf, Schmerzen und das Alter. Als Verfahren kommen Weichteiloperationen sowie knöcherne Operationen infrage: ▬ Weichteiloperationen: – Operationskonzept: Verlagerung der Sehne des M. tibialis anterior zur aktiven Aufrichtung der medialen Fußwölbung – Indikation (sehr selten): bei sehr schweren, schmerzhaften, flexiblen Knick-Platt-Füßen ▬ knöcherne Operationen: – Operation nach Evans (Kalkaneusverlängerung; ⊡ Abb. 32.108) – Operation nach Green-Grice (Knochenblock im Sinus tarsi) – Arthrorise (extraartikuläre seitliche Schraubenabstützung im Sinus tarsi)
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Kapitel 32 · Erkrankungen der kindlichen Bewegungs- und Halteorgane
⊡ Abb. 32.108a,b Pes planus. a Vor, b nach knöcherner Verlängerung des Fersenbeins mit Beckenkammspan zur Aufrichtung des Längsgewölbes
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⊡ Tab. 32.21 Klassifikation des Ballenhohlfußes und Behandlungsoptionen Kategorie
Ausprägung
Ätiologie
Behandlungsoption
Physiologisch
Milder/moderater Ballenhohlfuß mit Fersenvarusstellung und Klauenstellung der Zehen
Familiäre, hereditäre Ursache
Konservativ: Weiche, weite Schuhe, Einlagen mit treppenförmiger, retrokapitaler Abstützung bei Vorfußmetatarsalgien
Schwerer Ballenhohlfuß mit Fersenvarusstellung
Residueller Hohlfuß nach Klumpfußbehandlung idiopathisch neuromuskuläre Erkrankungen: – Friedreich-Ataxie – Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (HMSN I) – zystische oder knöcherne Fehlbildungen des Spinalkanals – Spina bifida – Poliomyelitis
Konservativ: orthopädisches Schuhwerk, Orthesen
Hackenfuß
Poliomyelitis iatrogen bei Zerebralparese und überverlängerter Achillessehne
Konservativ: orthopädisches Schuhwerk
Pathologisch
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Operativ: plantare Fasziotomie und Sehnentransfers bei flexiblen Hohlfüßen, Umstellungsosteotomien bzw. Arthrodesen im Rück- oder Mittelfuß bei rigiden Hohlfüßen
Operativ: plantare Fasziotomie und Sehnentransfers bei eher flexiblen Hohlfüßen, Umstellungsosteotomien bzw. Arthrodesen im Rück- oder Mittelfuß bei rigiden Hohlfüßen
Operativ: Keilentnahmen und Umstellungsosteotomien bzw. Arthrodesen im Rück- oder Mittelfuß bei rigiden Hackenfüßen
⊡ Tab. 32.22 Klassifikation des Zehenspitzengehens und Behandlungsoptionen Kategorie
Diagnose
Behandlungsoptionen
Kongenital
Klumpfuß
Konservative/operative Maßnahmen (Abschn. 32.7.4)
Idiopathisch
M.-gastrocnemius-Kontraktur akzessorischer M. soleus generalisierte M.-triceps-suraeKontraktur
Funktioneller, flexibler Spitzfuß: Unterschenkeltherapiegipse, ggf. Orthesen, ggf. Botulinumtoxin A struktureller, kontrakter Spitzfuß: selektive (Operation nach Stryer etc.) oder generalisierte Verlängerung M. triceps surae (Achillessehne)
Neurologisch
Infantile Zerebralparese
Junge Kinder (2–6 Jahre): Orthesenversorgung, ggf. Botulinumtoxin A im Rahmen eines Gesamtbehandlungskonzepts ältere Kinder (ab 6 Jahre): Selektive M.-gastrocnemius-Verlängerungen/Achillessehnenverlängerung im Rahmen von Mehretagensehnenverlängerungen, ggf. Sehnentransfers
Poliomyelitis
Orthesen-/Apparateversorgungen Achillessehnenverlängerungen
Myopathisch
Muskeldystrophie Duchenne
Achillessehnenverlängerung im Rahmen eines Gesamtbehandlungskonzepts
Funktionell
Hysterischer Zehenspitzengänger
Ggf. Unterschenkelgehgipse
1009 Literatur
32.7.6
Ballenhohlfuß
Der Ballenhohlfuß ist durch eine stärker ausgeprägte Höhe des Längsgewölbes charakterisiert, häufig assoziiert mit Fersenvarusstellung und Klauenzehen. Ballenhohlfüße sind meist physiologisch und treten familiär gehäuft auf. Pathologische Formen werden in Verbindung mit neurologischen Erkrankungen gesehen (⊡ Tab. 32.21).
32.7.7
Zehenspitzengang
Zehenspitzengehen tritt häufig bei Kindern mit neuromuskulären Erkrankungen auf, seltener auch bei Kindern mit ansonsten unauffälliger Entwicklung. Eine Klassifikation und die entsprechenden Therapieoptionen zeigt ⊡ Tab. 32.22.
Literatur Catterall A (1982) Legg-Calvé-Perthes’ Disease. New York: Churchill Livingston Dimeglio A, Bensahel H, Souchet Ph, Mazeau Ph, Bonnet F (1995) Classification of Clubfoot. J Pediatr Orthop Part B 4: 129–136 Fairbank JCT, Couper J, Davies JB, O’Brien JB (1980) The Oswestry low back pain questionaire. Physiotherapie 66: 271–273 Frennered AK, Danielson BI, Nachemson AL, Nordwall AB (1991) Midterm follow-up of young patients fused in situ for spondylolisthesis. Spine 16: 409–416 Graf R (1984) Fundamentals of sonographic diagnosis of infant hip dysplasia. J Pediatr Orthop 4: 735–740 Graf R (1998) Klinische Untersuchung und Hüftsonographie. In: Grifka J, Ludwig J (Hrsg.) Kindliche Hüftdysplasie. Stuttgart: Thieme Hefti F (2009) Kinderorthopädie in der Praxis, 2. Aufl. Heidelberg: Springer Henderson ED (1966) Results of the surgical treatment of spondylolisthesis. J Bone Jt Surg 48-A: 619–642 Herring JA, Kim HAT, Browne R (2004) Legg-Calve-Perthes disease. Part two: Prospective multicenter study of the effect of treatment on outcome. JBJS Am 86-A: 264 Herring JA, Neustadt JB, William JJ, Early JS, Browne RH (1992) The lateral pillar classification of Legg-Calvé-Perthes disease. J Pediatric Orthop 12: 142–150 Heyman CH, Herndon CH (1954) Epiphyseodesis for Early Slipping of the Upper Femoral Epiphysis. J Bone Jt Surg 36-A: 539–554 Imhäuser G (1984) Die Behandlung des idiopathischen Klumpfußes. Stuttgart: Enke Krämer J (1982) Konservative Behandlung kindlicher Luxationshüften. Bücherei des Orthopäden, Bd.14, 2. Aufl. Stuttgart: Enke Krämer J, Grifka J (2007) Orthopädie, Unfallchirurgie. Heidelberg: Springer Krauspe R, Parsch K (1995) Die peritalare Arthrolyse zur Klumpfußkorrektur über den sogenannten Cincinnati-Zugang. Operat Orthop Traumatol 7: 125–140 Larson CB (1963) Rating Scale for Hip Disabilities. Clin Orthop 31: 85–93 Lowe TG (1999) Scheuermann’s disease. Orth. Clin North Am 30: 475–487 Matthiessen HD (1993) Die »endogene« Hüftdysplasie. Symposium Universität Zürich 27.11.1993, Symposiumsband, S. 117–136 Matussek J et al. (1998) Offene Hüfteinstellung bei sog. kongenitaler Luxation. In: Grifka J, Ludwig J (Hrsg.) Kindliche Hüftdysplasie. Stuttgart: Thieme Matzen KA (Hrsg.) (1990) Wirbelsäulenchirurgie: Spondylolisthese, Symposium Augsburg. Stuttgart: Thieme McKay DW (1982) New Concept of an Approach to Clubfoot Treatment: Section 1 – Principles and Morbid Anatomy. J Pediatr Orthop 2: 347–356 McKay DW (1983) New Concept of an Approach to Clubfoot Treatment: Section 3 – Evaluation and Results. J Pediatr Orthop 3: 141–148
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32
33
Infektionen im Wachstumsalter J. Matussek
33.1
Gelenkinfektionen
33.2
Knocheninfektionen
33.2.1 33.2.2 33.2.3
Unspezifische akute Osteomyelitiden – 1014 Unspezifische chronische Osteomyelitiden – 1016 Spezifische Osteomyelitiden – 1016
Literatur
– 1012 – 1013
– 1016
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_33, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1012
Kapitel 33 · Infektionen im Wachstumsalter
Infektionen des muskuloskelettalen Systems bei Kindern sind häufig und können Ursache schwerer Deformitäten und Behinderungen sein. Bei optimaler Behandlung können alle Infektionen geheilt werden und lebenslange Behinderungen verhindert werden. Die frühestmögliche Diagnose ist der zentrale Bestandteil der erfolgreichen Therapie.
33.1 z
Gelenkinfektionen
Definition
Gelenkentzündung aufgrund einer Infektion, meist mit einem Empyem einhergehend, beim Neugeborenen meist durch Haemophilus influenzae oder Streptokokken, beim Kleinkind zusätzlich durch Staphylokokken verursacht. z
Ätiologie und Pathogenese
Durch die Besonderheiten der Blutgefäßversorgung der Epiphysen und Metaphysen und deren Nähe zum Gelenk kommen in den ersten 3 Lebensjahren Knocheninfekte häufig in Zusammenhang mit einer septischen Arthritis (Gelenkempyem) vor. Fugenkreuzende Gefäße bringen den meist hämatogenen Infekt von der Metaphyse in die Epiphyse und damit ins Gelenk (⊡ Abb. 33.1 u. ⊡ Abb. 33.2). Die gelegentlich geschwächte Abwehrlage des Neugeborenen und des jungen Kindes lässt den Infekt nicht nur rasch im Gelenk aufflackern, sondern führt häufig zu einer weitreichenden hämatogenen Streuung und zu septischen Allgemeinerscheinungen. z
33
⊡ Abb. 33.2 Fugenkreuzende Blutgefäße aus den metaphysären A. und V. nutricia und den epihysären A. und V. epiphysealis
Klinik
Häufig ist das Hüftgelenk betroffen, aber auch in folgender Reihenfolge weitere Lokalisationen: Schultergelenk, Ellenbogengelenk, Kniegelenk und Fuß (⊡ Abb. 33.3). Ein Verlust der Spontanbewegungen mag das erste, oft – bedauerlicherweise
⊡ Abb. 33.1 Verteilungswege der akuten hämatogenen Osteomyelitis bei Kindern unter 3 Jahren. 1 Subperiostaler metaphysärer Abszess, 2 Gelenkempyem, 3 epiphysär
⊡ Abb. 33.3 Häufige Prädilektionsstellen von Osteomyelitiden und Gelenkempyemen mit absteigender Häufigkeit: Hüftgelenk, proximaler Humerus, Ellenbogen Kniegelenk, Fuß
1013 33.2 · Knocheninfektionen
⊡ Tab. 33.1 Antibiotikagabe gemäß Altersgruppe und Infektionserreger nach operativer Spülung eines Gelenkempyems Alter
Infektionserreger
Antibiotikum
Dosis und Dauer
Neugeborenes
B-Streptokokken
Penicillin
Gewichts- und alterabhängig 7 Tage i.v., dann 4 Wochen oral 150 mg/kgKG/24 h
Staphylococcus aureus
Nafcillin
Escherichia coli
Cefotaxim
Haemophilus influenzae
Cefuroxim
Staphylococcus aureus
Cefuroxim
B-Streptokokken
Penicillin G
Staphylococcus aureus
Nafcillin
Kleinkind
Kind/Jugendlicher
– gering verdächtige Zeichen sein, falls eine allgemeine Sepsis ausbleibt. Der Hauptunterschied zur hämatogenen (reinen) Osteomyelitis ist die starke passive, schmerzhafte Bewegungseinschränkung des betroffenen Gelenkes: Beim Hüftgelenk ist die Rotationsfähigkeit zuerst eingeschränkt. z
Diagnostik
Der diagnostische Ultraschall ist vor Röntgenbild, Szintigraphie und MRT das erste Untersuchungsmittel neben dem Labor. Notfallmäßig ist dann in OP-Bereitschaft eine Gelenkpunktion durchzuführen. Das trübe Punktat ist mikrobiologisch zu untersuchen und einer Gram-Färbung zuzuführen. > Keimanzüchtungen sind beim Kind in bis zu 30% trotz Keimbefall negativ.
Im Röntgenbild zeigt sich – wenn überhaupt – meist nur eine Erweiterung des Gelenkspalts. Die BSG ist meist noch vor dem CRP stark erhöht. Eine Leukozytose ergibt sich immer erst später. z
Therapie
Beim leisesten Zweifel an der Dignität des Punktats soll das Gelenk offen (Hüftgelenk), arthroskopisch (Sprunggelenk, Kniegelenk, Schultergelenk) oder über die Punktionsnadel (kleine Gelenke) gespült werden. Empfohlen wird eine temporäre Schalenruhigstellung des Gelenks bis hin zum temporären Bein-Becken-Fuß-Gips (Hüftgelenk). Alternativ vorsichtige Hauttraktionsbehandlung. Dann folgt eine zunächst blinde intravenöse Antibiose gemäß den erwarteten Keimen (⊡ Tab. 33.1). z
Prognose
Günstig nur bei frühester Diagnose und Therapie. Bei Neugeborenen und verzögertem Therapiebeginn sind desaströse Gelenkzerstörungen bis hin zum Gelenkverlust zu erwarten.
33.2 z
Knocheninfektionen
Definition
Knocheninfektionen sind Entzündungen des Knochens, meist mit Beteiligung des Knochenmarks, die akut hämatogen,
100–150 mg/kgKG/24 h 7 Tage i.v., dann 4 Wochen oral
150 mg/kgKG/24 h 7 Tage i.v., dann 4 Wochen oral
akut exogen oder primär-chronisch hämatogen hervorgerufen sein können. Je nach Beteiligung der Strukturen spricht man von Osteitis, Osteomyelitis oder Periostitis (⊡ Abb. 33.4 u. ⊡ Abb. 33.5). Eine Sonderform der Osteomyelitis ist die Spondylitis als Entzündung der knöchernen Wirbelsäule, die beim Übergreifen auf die Bandscheiben als Spondylodiszitis bezeichnet wird ( Abschn. 22.2.7). z
Ätiologie und Pathogenese
Knocheninfektionen können bakteriell durch hämatogene Streuung aus lokalen Infektionsherden, akut exogen, z. B. durch offene Frakturen, oder primär-chronisch entstehen. Erreger sind bis zum 3. Lebensjahr zumeist Haemophilus influenzae, Streptokokken und Staphylokokken, jenseits des 3. Lebensjahres aber über 90% Staphylokokken, selten Streptokokken, Salmonellen, Proteus, Klebsiella oder Pseudomonas. Zu den unspezifischen Formen zählen die hämatogenen Osteomyelitiden im Säuglings-, Kindes-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Aufgrund der unterschiedlichen Gefäßversorgung der Metaphyse und Epiphyse entwickeln sich typische Krankheitsbilder. Neben diesen als unspezifisch bezeichneten Osteomyelitiden gibt es die spezifischen Formen, hier v. a. die syphilitische und die tuberkulöse Osteomyelitis. Zur exogenen akuten Osteomyelitis siehe Abschn. 19.6.1. z
Diagnostik
Die Diagnostik richtet sich nach der Art der Knocheninfektion (s. unten). z
Therapie
Grundsätzlich ist eine Kombinationstherapie aus chirurgischer Herdsanierung und erregerangepasster Antibiose anzustreben, die in den ersten Wochen intravenös verabreicht werden soll. Die Antibiose muss oral bis zur Normalisierung der Entzündungsparameter fortgesetzt werden. Operativ muss notfallmäßig die Entlastung, Entleerung und ggf. die Anlage einer Saug-Spül-Drainage erfolgen. Sequester und infizierte Markhöhlen sowie Fisteln und Abszesshöhlen müssen ausgeräumt werden, lokale Antibiotikabehandlung in Form von eingelegten Medikatmententrägern sind empfeh-
33
1014
Kapitel 33 · Infektionen im Wachstumsalter
⊡ Abb. 33.4a,b Beginn einer Osteomyelitis metaphysär mit Ausbreitung in den subperiostalen Bereich (fugenkreuzende Gefäße bereits verschlossen). a Initiale Absiedlung eines Infektionsherds metaphysär durch hämatogene Streuung, b Ausbreitung des Infektionsherds nach subperiostal bei Verschluss der fugenkreuzenden Gefäße
33
⊡ Abb. 33.5a–e Verlauf einer metaphysären Osteomyelitis. a Metaphysärer Beginn, b metaphysäre Verbreitung, c Durchbruch durch die Kortikalis (subperiostaler Abszess), d Durchbruch in die Weichteile, e Sequester und Involukrum
a
a
b
b
lenswert. Bei Kindern muss bei Befall der Epiphysen eine Epiphysiolyse verhindert werden. Bei instabilen Verhältnissen muss eine Stabilisierung, ggf. auch mit Fixateur externe, durchgeführt werden. Nach Abszessausheilung kann die Defektauffüllung mit autologer Spongiosa erfolgen. Adjuvant sollte die Ruhigstellung von angemessen kurzer Dauer erfolgen, um Folgeschäden in Form von Bewegungseinschränkungen so gering wie möglich zu halten.
c
z
d
e
Klinik
Je nach Immunitätslage des Säuglings kann das Krankheitsbild hoch septisch, dann auch mit Überdeckung der Gelenksymptomatik, oder milder verlaufen.
Hinweise auf hämatogene Osteomyelitis
▬ Lokale Entzündungszeichen mit Rötung und Überwärmung
33.2.1
▬ Schonung der betroffenen Gliedmaße ▬ Bewegungsschmerz und Entlastungsstellung im Sinne
Unspezifische akute Osteomyelitiden
einer Scheinlähmung als Hinweis auf Gelenkbeteiligung
▬ Begleitinfekte, z. B. Nabelinfekt, Meningitis, Entzündun-
Hämatogene Osteomyelitis des Säuglings z
Ätiologie und Pathogenese
Die Osteomyelitis des Säuglings (bis etwa zum 18. Lebensmonat) umfasst ca. 20% aller Fälle hämatogener Osteomyelitiden. Aufgrund der Blutversorgung sind bevorzugt die Metaphysen und Epiphysen von Femur, Humerus und Tibia betroffen, sodass es häufig zu septischen Arthritiden der körpernahen Gelenke sowie ausgeprägten subperiostalen Abszessen kommt. Häufigster Erreger des infantilen Typs ist Haemophilus influenzae, des Weiteren Streptokokkus und Staphylokokkus.
gen im HNO-Bereich
z
Diagnostik
In der Labordiagnostik zeigen sich die typischen Entzündungszeichen mit Leukozytose, CRP-Erhöhung und Beschleunigung der Blutsenkungsgeschwindigkeit. Blutkulturen sind zum Erregernachweis und Erhalt eines Antibiogramms abzunehmen. Bis zum Erhalt eines Antibiogramms sollte mit einer parente-
1015 33.2 · Knocheninfektionen
Lokale Symptome
Klinik
Sonographie Laboruntersuchung BSG, CRP, BB,Diff-BB
Konventionelles Röntgen
Sepsis Zeichen MRT
Multifokaler Beifall
Antileukotyten Szintigraphie
Punktion von subperiostalem Abszess oder Gelenkempyem
Mikrobiologischer Keimnachweis
ralen Antibiose mit Flucloxacillin und Gentamicin begonnen werden. Eine Sonographie sollte bei Verdacht auf Gelenkbeteiligung erfolgen, radiologisch sind metaphysäre Auflockerung und Auftreibung sowie periostale Reaktionen erst nach Gelenksubluxationen möglich. Im Zweifelsfall sollte eine MRT oder Szintigraphie durchgeführt werden. Bei Verdacht auf septische Arthritis ist eine Gelenkpunktion indiziert. > Die hämatogene Osteomyelitis des Säuglings ist ein pädiatrisch-orthopädischer Notfall!
Hämatogene Osteomyelitis des Kindes Aufgrund der getrennten Gefäßversorgung von Metaphyse und Epiphyse im Kindesalter – die Epiphysenfugenbarriere besteht etwa ab dem 2. Lebensjahr – ist die häufigste Lokalisation der akuten hämatogenen Osteomyelitis vom juvenilen Typ in der Metaphyse der langen Röhrenknochen (⊡ Abb. 33.4 u. ⊡ Abb. 33.5). Der Altersgipfel liegt bei 8 Jahren, wobei Jungen öfter als Mädchen betroffen sind. Häufigste Erreger der Osteomyelitis in dieser Altersgruppe sind Staphylococcus aureus (50%), Streptokokken (25%) und Haemophilus influenzae. Die Klinik entspricht der der hämatogenen Osteomyelitis im Säuglingsalter. Auch bei der Osteomyelitis im Kindesalter zeigen sich in der Diagnostik die typischen Entzündungszeichen mit Leukozytose, Linksverschiebung, CRP-Erhöhung und BSG-Beschleunigung. Radiologisch zeigen sich nach ca.
CT
Probeexzision Knochen
⊡ Abb. 33.6 Diagnosealgorithmus bei Infektionen des Bewegungssystems beim Kind und Jugendlichen
2 Wochen erste periostale Reaktionen und fleckige Osteolysen. Später kommt es zu Usurierungen der Kortikalis, Abhebung des Periosts und Ausbildung großer Knochensequester, die in Gemeinschaft mit einem subperiostalen Abszess die sogenannte Totenlade bilden. Eine MRT sollte durchgeführt werden (⊡ Abb. 33.6). > Differenzialdiagnostisch ist an ein Ewing-Sarkom zu denken!
Hämatogene Osteomyelitis des Jugendlichen und Erwachsenen Die akute hämatogene Osteomyelitis des Erwachsenen tritt häufig infolge eines Allgemeininfekts, einer größeren Operation oder eines streuenden Entzündungsherdes auf. Klinisch stehen bei oft nur geringer Allgemeinsymptomatik lokale Schmerzen und Bewegungseinschränkung im Vordergrund. Zu Gelenkergüssen kommt es bei Entzündungen in Gelenknähe, Fistelbildungen treten aufgrund der kräftigen Kortikalis des Erwachsenen erst im Spätstadium auf. Auch beim adoleszenten Typ zeigen sich in der Diagnostik Leukozytose, CRP-Erhöhung und BSG-Beschleunigung. Radiologisch fallen auch hier zuerst fleckige Aufhellungen auf, später bildet sich evtl. ein sog. Knochensequester (abgestorbener Knochen im Narbengewebe, auch »Totenlade«). Zur bildgebenden Diagnostik gehört zur Beurteilung der Begleitreaktionen auch eine MRT (⊡ Abb. 33.6).
33
1016
33.2.2
Kapitel 33 · Infektionen im Wachstumsalter
Unspezifische chronische Osteomyelitiden
Chronische Osteomyelitiden werden in primär-chronische Verlaufsformen mit oft unbekanntem Ursprung (also scheinbar primär im Knochen entstanden) und sekundär-chronische Formen, die häufiger nach einer exogenen als nach einer hämatogenen Osteomyelitis auftreten, unterteilt. > Chronischen Osteomyelitiden bleiben bei guter Abwehrlage des Organismus zwar lokal begrenzt, können aber nach Jahren wieder aufflackern und neigen zur Fistelbildung.
Primär-chronische Osteomyelitis
33
Bei der primär-chronischen Osteomyelitis gelingt oft kein Erregernachweis. Es werden 3 Sonderformen unterschieden: ▬ Brodie-Abszess: Bei guter Abwehrlage kommt es bei geringer Erregervirulenz insbesondere bei Jugendlichen zur Ausbildung eines starken Sklerosesaums bevorzugt in den Metaphysen von distalem Femur und proximaler Tibia. Der Verlauf ist insgesamt gutartig. ▬ Plasmazelluläre Osteomyelitis: Die gebildete Kaverne ist mit schleimigem Exsudat gefüllt und umgeben von plasmazelligem Granulationsgewebe. Es kommt zur Randsklerose. ▬ Sklerosierende Osteomyelitis Garré: Sie tritt vornehmlich in den Diaphysen der langen Röhrenknochen auf und füllt mit ihrer primär sklerosierenden unregelmäßigen Verbreiterung der Kortikalis oft fast vollständig den Markraum aus. Zur Kavernenbildung kommt es nicht. Erreger können nicht nachgewiesen werden. Die Klinik verläuft bei den chronischen Verlaufsformen milder als bei den akuten Osteomyelitiden. Häufig treten dumpfe und ziehende Nachtschmerzen, Schwellung im Bereich der betroffenen Knochenabschnitte sowie mäßige Überwärmung auf. In der Diagnostik zeigen sich bei den Laborwerten Zeichen einer chronischen Entzündung mit Beschleunigung der BSG und Veränderung der Elektrophorese. Radiologisch sind insbesondere die Knochenverdichtungen und Sklerosierungen um die Herde typisch bzw. bei der sklerosierenden Osteomyelitis die Auftreibung der Kortikalis mit Einengung des Markraums. > Differenzialdiagnostisch müssen Tumorerkrankungen (z. B. Osteoidosteom, osteogenes Sarkom), Metastasen und enchondrale Dysostosen ausgeschlossen werden!
Sekundär-chronische Osteomyelitis Sie ist häufig Folge einer nicht ausgeheilten exogenen Osteomyelitis. Typisch ist der Wechsel zwischen chronischen und chronisch-rezidivierenden Phasen sowie die Neigung zur Fistelbildung. Bei Fistelung muss unbedingt ein Keimnachweis zur Erstellung eines Antibiogramms versucht werden. In der radiologischen Diagnostik zeigt sich die Sklerosierung oft mit Ausbildung eines Sequesters. MRT-Diagnostik ist zur Festlegung der intraossären Ausbreitung empfehlenswert. Intraoperativ
sollte zur Darstellung von Lage und Größe eine Kontrastmitteldarstellung erfolgen.
33.2.3
Spezifische Osteomyelitiden
Knochentuberkulose Zur Knocheninfektion kommt es durch hämatogene Aussaat eines pulmonalen oder viszeralen Herdes, wobei besonders die Wirbelkörper befallen werden, seltener alle anderen Knochen. Gelenkbefall tritt v.a. an Knie-, Hüft- und Iliosakralgelenken auf. Klinisch kennzeichnend sind neben abgelaufener oder florider Tuberkulose (nicht immer eruierbar!) schlechter Allgemeinzustand, Nachtschweiß und subfebrile Temperaturen sowie lokale Schmerzen. Die Indikation zur operativen Sanierung besteht bei großen Abszessen oder Infektherd. Zur medikamentösen Therapie siehe Abschn. 22.2.7.
Lues (Syphilis) Die heute seltene Erkrankung kann jedes Organ befallen, wobei Gelenk- und Knocheninfektionen bei Erwachsenen im Tertiärstadium der Krankheit mit verschiedenartigen Knochenreaktionen auftreten. Klinisch zeigen sich schmerzlose Schwellung, keine akuten Entzündungszeichen, in der Labordiagnostik eine positive Luesserologie. Die Knochenreaktionen sind vornehmlich osteoblastisch mit Periostreaktionen (Säbelscheidentibia), selten kommt es zur diffusen gummösen Osteomyelitis. Therapeutisch wird Penicillin G gegeben, chirurgische Interventionen sind selten erforderlich.
Literatur Breusch S, Mau H, Sabo D (2006) Klinikleitfaden Orthopädie. Konservative und operative Orthopädie, Unfallchirurgie. München: Urban & Fischer in Elsevier Bullough P (1987) Orthopädische Krankheitsbilder: Pathologie – Radiologie – Klinik. Stuttgart: Thieme Krämer J, Grifka J, Kalteis T (2007) Orthopädie. Heidelberg: Springer Staheli L (1992) Fundamentals of Pediatric Orthopaedics. New York: Raven Press
34
Tumoren im Wachstumsalter J. Matussek
34.1
Einleitung
34.2
Gutartige Tumoren – 1019
34.2.1 34.2.2 34.2.3 34.2.4 34.2.5 34.2.6 34.2.7 34.2.8 34.2.9
Fibrokortikaler Defekt – 1019 Nicht ossifizierendes Fibrom – 1019 Fibröse Dysplasie – 1019 Osteochondrom – 1019 Enchondrom – 1020 Chondroblastom/Osteoblastom – 1020 Osteoidosteom – 1021 Solitäre Knochenzysten – 1021 Aneurysmatische Knochenzysten – 1022
34.3
Maligne Tumoren
34.3.1 34.3.2
Osteosarkom – 1022 Ewing-Sarkom – 1022
Literatur
– 1018
– 1022
– 1024
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_34, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1018
34.1
Kapitel 34 · Tumoren im Wachstumsalter
Einleitung
z z Klinische Untersuchung
Obwohl muskuloskelettale Tumoren grundsätzlich ernste Erkrankungen bei Kindern sind, haben die meisten Tumoren im Wachstumsalter glücklicherweise gutartigen Charakter. Einige davon treten sehr häufig auf (z. B. nicht ossifizierendes Fibrom). Eine frühe, genaue Diagnose ist essenziell für eine erfolgreiche Behandlung.
Beobachtung von Asymmetrie, Fehlbildung, Deformierung und Schwellung: Wenn eine unklare Raumforderung vorliegt, sind Größe, Druckschmerzhaftigkeit und begleitende Entzündungsreaktionen zu beurteilen. Malignität zeigt sich häufig durch Festigkeit, Schmerzhaftigkeit und eine begleitende Entzündung des umliegenden Gewebes. z z Labordiagnostik
z
Klassifikation
Die Prognose maligner Tumoren ist vom Staging abhängig, d. h. vom Grad der Ausdehnung und von der Größe sowie der Infiltration des Tumors, dem Lymphknotenbefall, der Reaktion auf die Chemotherapie und vom Potenzial zur Metastasierung (⊡ Tab. 34.1).
Intrakompartimentale Tumorausdehnung
▬ ▬ ▬ ▬
Im Faszienkompartiment zwischen der tiefen Faszie und dem Knochen intraartikulär im Knochenkompartiment
z Diagnostik z z Anamnese
34
Ein Indikator für das Vorhandensein einer Tumorerkrankung ist gelegentlich eine positive Schmerzanamnese, insbesondere wenn diese zyklische Charakteristika aufweist und – nicht durch alltägliche Bagatellursachen erklärlich – fortdauert (Fortschreiten über Wochen, Stärke, Schmerzcharakter). Nachtschmerz, insbesondere in der zweiten Lebensdekade, kann für maligne Tumoren wie auch für einige benigne Tumoren (z. B. Osteoidosteom) charakteristisch sein. Hier ist zunächst ein konventionelles Röntgen notwendig. Ein plötzlich aufgetretener starker Schmerz ist meist durch eine pathologische Fraktur erklärbar, häufig aufgrund von juvenilen Knochenzysten (⊡ Abb. 34.1).
Meist sind die Laborwerte bei kindlichen Tumoren normal. Ausnahme sind die Erhöhung der unspezifischen BSG beim Ewing-Sarkom und die Erhöhung der alkalischen Phosphatase beim Osteosarkom. z z Bildgebende Verfahren
Konventionelle Röntgenbilder lassen eine erste Charakterisierung des Geschehens zu (⊡ Tab. 34.2). Hierauf begründet sich dann die Entscheidung für die weitere Bildgebung. Klassische Szintigraphien spielen auch heute noch eine entscheidende Rolle, da sie über die Stoffwechselaktivität des Tumors Auskunft geben: ▬ kalt (geringe Aufnahme): inaktiver oder wenig aktiver Tumor, ggf. abwartendes Verhalten ▬ warm (mäßige Aufnahme): typisch für gutartige Tumoren ▬ heiß (starke Aufnahme): typisch für stoffwechselaktive, maligne Tumoren, aber auch das Osteoidosteom Die CT entscheidet über die knöcherne Ausdehnung, während die MRT am geeignetsten für die Feststellung der Weichteilkomponenten des Tumors ist und über die Einbeziehung der umliegenden Weichteile in das Tumorgeschehen Auskunft gibt.
⊡ Tab. 34.1 Tumor-Staging maligner Tumoren nach Enneking 1980 Staging (Gesamtbeurteilung)
Grading (Histologie)
Ausdehnung
IA
G1
T1 M0
IB
G1
T2 M0
IIA
G2
T1 M0
IIB
G2
T2 M0
IIIA
G1
T1 M1
IIIB
G2
T2 M1
G1 hochdifferenziert, wenig maligne, G2 wenig differenziert, hochmaligne, M0 Metastasierung nicht nachgewiesen, M1 Metastasierung nachgewiesen, T1 intrakompartimental, T2 extrakompartimental
a
b
⊡ Abb. 34.1a,b Solitäre Knochenzyste im Verlauf von 2 Jahren mit Fraktur nach Vergrößerung (Mädchen, 9–11 Jahre). a zu Beginn, b nach 2 Jahren
1019 34.2 · Gutartige Tumoren
⊡ Tab. 34.2 Tumorcharakteristika im konventionellen Röntgen
Prinzipien der Biopsie
Tumorkategorie (Beispiele)
▬ Zugang zum Tumor in ausreichender Entfernung zum
Metaphyse
Fast alle Tumoren
Diaphyse
Ewing-Sarkom, eosinophiles Granulom, nicht ossifizierndes Fibrom (NOF)
▬ longitudinale Inzision ▬ stark begrenzte Ausdehnung der Inzision ▬ Zugang durch ein Muskelkompartiment, nicht zwischen
Charakteristikum
Gefäß-Nerven-Bündel
Lokalisation des Tumors
Epiphyse
Chondroblastom
2 Kompartimenten
▬ limitierte Knochenresektion zur Verhinderung pathologischer Frakturen
Auswirkung am Knochen
▬ Gewinnung eines exemplarischen Teils des Tumorrands
Invasiv (multiple Randausziehungen)
Maligner Tumor
Verdrängend (glatter Rand)
Benigner Tumor
Reaktion des Knochens Abkapselnd, keine Knochenreaktion
Benigner Tumor
Reaktiv, mit Knochenreaktion
Maligner Tumor
Makroskopischer Tumorbefund Kalzifizierend
Knorpeliger Tumor
Milchglasartige Struktur
Fibröse Dysplasie
Zystische Strukturen
Einkammerige Knochenzyste
34.2
Gutartige Tumoren
34.2.1
Fibrokortikaler Defekt
Häufige, meist zufällig entdeckte, symptomlose, spontan heilende, fibröse Läsion im metaphysär-diaphysären Übergang der Kortikalis langer Röhrenknochen mit gut definierten sklerösen Grenzen.
34.2.2
Nicht ossifizierendes Fibrom
Das NOF ist die größere Version des fibrokortikalen Defekts mit vergrößerter Frakturgefahr bei mehr als 50% des metaphysären Durchmessers. Wächst von der Epiphysenfuge nach diaphysenwärts, ist wandadhärent und wird zunehmend kleiner (⊡ Abb. 34.2).
34.2.3
Fibröse Dysplasie
Neoplastische Fibrose, die schrittweise den Knochen verdrängt und schwächt, mit deformierenden Folgen. Monostotische und polyostotische Formen (McCune-Albright-Syndrom: fibröse Dysplasie assoziiert mit »Café-au-lait«-Hautläsionen und Pubertas praecox) sind bekannt, wobei die polyostotischen deformierender wirken. Ein chirurgisches Management ist häufig im Sinne der intramedullären Knochenschienung notwendig (⊡ Abb. 34.3).
34.2.4
a
b
⊡ Abb. 34.2a,b Nicht ossifizierendes Fibrom. a Im a.p.-Strahlengang, b seitlich
Osteochondrom
Häufiger, meist gestielter, selten breitbasiger Tumor nahe der Wachstumsfugen, der sich als ektopisches enchondrales Ossifikationszentrum unter einer Knorpelkappe bildet. Familiäre, multiple Osteochondrome werden autosomal-dominant vererbt. Maligne Entartungen von pelvinen Osteochondromen zu Chondrosarkomen im Erwachsenenalter sind bekannt, aber äußerst selten. Ein chirurgisches Management ist bei störender Kosmetik oder mechanisch-funktionellen Störungen notwendig (⊡ Abb. 34.4).
34
1020
Kapitel 34 · Tumoren im Wachstumsalter
⊡ Tab. 34.3 Charakteristika und Behandlung gutartiger Tumoren Gewebe
Tumor
Komplikationen
Behandlung
Fibröses Gewebe
Fibröser Kortikalisdefekt
Keine
Keine
Nicht ossifizierendes Fibrom
Frakturgefahr
Keine oder Entfernung bei größeren Befunden bzw. bei Vorliegen einer Fraktur
Fibröse Dysplasie
Deformität
Stärkung des Knochens durch intramedulläre Verdrahtung, um Deformitäten zu vermeiden
Desmoplastisches Fibrom
Deformität
Entfernung
Osteochondrom (kartilaginäre Exostose)
Deformität, Verkürzung
Entfernung, wenn symptomatisch
Enchondrom
Deformität, Verkürzung
Entfernung, wenn symptomatisch
Chondroblastom
Deformität, Frakturschmerz
Vollständige Entfernung
Osteoidosteom
Schmerz
Entfernung im gesunden Gewebe
Osteoblastom
Schmerz
Entfernung
Einkammerige Knochenzyste
Frakturgefahr
Injektion von Steroiden, Ventilimplantation, Fensterung und Kürettage
Aneurysmatische Knochenzyste
Zunehmende Ausdehnung
Kürettage und Spongiosaplastik
Knorpelgewebe
Knochen
Verschiedenes (Tumor ähnlich)
34
a
b
c
⊡ Abb. 34.3a–c Osteofibröse Dysplasie der rechten Tibia. a Röntgenbild im a.p-Strahlengang, b seitlich, c im MRT (T2-gewichtet, STIR-Sequenz)
34.2.5
Enchondrom
Knorpeliger Tumor meist langer Röhrenknochendiaphysen oder in Phalangen mit Potenzial zur Expansion mit Kortikalisverdrängung und typisch blasig-knorpeligem Röntgenaspekt. Chirurgisches Management nur bei funktionell-mechanischen Störungen. Verlaufskontrolle.
⊡ Abb. 34.4 Multiple gutartige Osteochondrome im Kniebereich beidseits (multiple kartilaginäre Exostosen)
34.2.6
Chondroblastom/Osteoblastom
Seltene Tumoren der wachsenden Epiphyse mit gelegentlich entzündlicher Reaktion. Aggressives lokales Wachstum macht eine radikale Kürettage und Spongiosaplastik notwendig.
1021 34.2 · Gutartige Tumoren
a
b ⊡ Abb. 34.6a,b Schmerzhafte solitäre juvenile Kalkaneuszyste bei einem 11-jährigen Jungen. a Vor ,b nach Ausräumung und Spongiosaplastik ⊡ Abb. 34.5 Femorales Osteoidosteom mit typischem Osteoblastennidus
34.2.7
Osteoidosteom
Knochen produzierender, hochvaskulärer Tumor mit charakteristischem Aspirin-sensiblem Nachtschmerzmuster. Charakteristisches Röntgenprofil mit metaphysärer kortikalisständiger Sklerosezone mit zentralem Nidus (enthält die fehlgesteuerten osteoidbildenden Osteoblasten; ⊡ Abb. 34.5). Eine En-blocExzision ist erforderlich, unmittelbar danach ist der Patient schmerzfrei.
34.2.8
Solitäre Knochenzysten
Meist im proximalen Humerus oder Femur, metaphysär, gut definiert und den Knochen verdrängend. Diese häufigen Läsionen werden indirekt durch pathologische Frakturen diagnostiziert. Diese sollten zunächst heilen dürfen (gelegentlich durch intramedulläre Fixierung), bevor eine weitere Beurteilung und Therapieplanung anläuft. Nur selten sind Kürettage und Spongiosaplastik notwendig. Vielfältige verschiedene Therapieverfahren inklusive wiederholte Kortikoidinjektionen, Fensterungen, Spongiosaplastiken, Bluteinspritzungen u. a. sind bekannt, wobei kein Verfahren ein Rezidiv ausschließen kann (⊡ Abb. 34.6 u. ⊡ Abb. 34.7).
⊡ Abb. 34.7 Typische zunächst okkulte, dann frakturierte juvenile solitäre Knochenzyste und deren Versorgung mit intramedullären flexiblen Marknägeln
34
1022
Kapitel 34 · Tumoren im Wachstumsalter
⊡ Abb. 34.8a–c Aneurysmatische Knochenzyste der proximale Fibula mit Irritation des N. peroneus communis. a, b Im Röntgen, c im MRT
34.2.9
a
b
Aneurysmatische Knochenzysten
34.3.1
Vielkammerige, zystische Knochenläsion mit Knochenverdrängendem Charakter und Ursache pathologischer Frakturen. Metaphysäre Lokalisation in den langen Röhrenknochen, ausgehend von Gefäßanomalien der arteriellen knöchernen Blutversorgung; deshalb sind diese Zysten häufig mit Blut gefüllt. Das Therapieregime umfasst neben den Maßnahmen bei der solitären Knochenzyste Techniken der Gefäßembolisation (Gefäßdarstellungen erforderlich) (⊡ Abb. 34.8).
34.3
34
Maligne Tumoren
⊡ Tab. 34.4 Ursprungsgewebe und typischer maligner Tumor Gewebe
Tumor
Knochengewebe
Osteosarkom
Neuroendotheliom des Knochenmarks (»Rundzellen«)
Ewing-Sarkom
Fibrozyten des Bindegewebes
Desmoidaler Tumor
Knochenmark
Leukämie
Muskelgewebe
Rhabdomyosarkom
c
Osteosarkom
Häufigster maligner Knochentumor, auftretend in der zweiten Lebensdekade, häufig in der Nähe des Knies, mit starkem, ziehendem Nachtschmerz, lokaler Berührungsempfindlichkeit und gelegentlich palpabler Tumormasse (⊡ Abb. 34.9). Das Osteosarkom imponiert metaphysär osteolytisch oder osteogen. Die Szintigraphie erlaubt die Beurteilung der gesamtskelettalen Ausbreitung, das CT die knöcherne und das MRT die weichteilige Beurteilung zum Tumor-Staging. Zumeist ist eine Chemotherapie (z. B. nach EURAMOSS-1/ COSS-Protokollen) in Verbindung mit einer chirurgisch radikalen Tumorresektion im Rahmen einer neoadjuvanten Therapie notwendig. Gelegentlich ist eine Bestrahlung sinnvoll, v. a. bei lokalen Rezidiven oder bei palliativer Schmerzbekämpfung. Lokale Resektion mit Einsatz von Auto- bzw. Allograften oder (seltener) entsprechender Tumorprothetik oder auch die Amputation stehen chirurgisch im Vordergrund (⊡ Abb. 34.10 u. ⊡ Abb. 34.12). Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei ca. 80%.
34.3.2
Ewing-Sarkom
Dies ist der weithäufigste maligne Knochentumor des Heranwachsenden. Stark schmerzend mit einer ausgedehnten Tumormasse. Dieser Tumor findet sich häufig diaphysär in langen Röhrenknochen (Femur, ⊡ Abb. 34.11), im Becken oder auch in
⊡ Tab. 34.5 Differenzialdiagnose Tumor – Infektion – (Stress-)Trauma Kategorie
Klinische Untersuchung
Bildgebung/Labor
Kommentar
Maligner Tumor
Schwellung, Schmerz (diffus)
»Heiße« Szintigraphie, positives MRT
Fortschreitende (Nacht-)Schmerzentwicklung
Osteomyelitis
Entzündungszeichen, metaphysäre Lokalisation
BSG hoch, »heiße« Szintigraphie; positive Blutkultur
Systemisches Geschehen, kurze Anamnese
Stressfraktur
Schmerz (lokalisiert), typische Lokalisierung, keine Schwellung
BSG normal, »warme« Szinthigraphie
Belastungsanamnese, Schmerz verschwindet in Ruhe
1023 34.3 · Maligne Tumoren
a ⊡ Abb. 34.9 Knienahes Osteosarkom bei einem 16-jährigen Jungen
b
⊡ Abb. 34.11a,b Ewing-Sarkom im Femurschaftbereich vor Therapiebeginn mit Weichteilverkalkungen im Muskel bei einem 10-jährigen Jungen. a Femurdiaphyse im a.p.-Röntgenbild, b seitlich
a ⊡ Abb. 34.10a,b Umkehrplastik nach Borgreve (mit ihren Varianten nach Winkelmann) beim knienahen Osteosarkom. a Prinzip: Eingesetzt werden kann die Borgreve-Plastik bei gut auf die neoadjuvante Tumorchemotherapie ansprechenden Tumoren im knienahen Bereich. Ziel ist, die verlorene Funktion des Knies nach Resektion durch ein intaktes, um 180° gedrehtes Sprunggelenk zu ersetzen. Dieses kann dann eine prothetische Versorgung dergestalt steuern, dass das Gangbild nach Amputation wenig leidet. Amputiert werden müssen mehr oder weniger große Anteile des Femurs und des Kniegelenks. Der Restunterschenkel wird gedreht und mit dem hüftnahen Restfemur verbunden, sodass die Ferse möglichst auf Höhe des anderen Kniegelenks positioniert ist. Nur so kann die prothetische Versorgung optimal werden. b Spezielle Unterschenkelprothese für Zustand nach Borgreve-Plastik (Aus: Hefti 2009)
b
34
1024
Kapitel 34 · Tumoren im Wachstumsalter
den Wirbelkörpern (⊡ Abb. 34.13) mit stark lytischem und in die Umgebung eindringendem Charakter. Häufig febrile Temperaturen und hohe BSG. Szintigraphie und MRT definieren die Ausdehnung. Die Biopsie bestätigt die Diagnose. Therapeutisch erfolgt zunächst eine neoadjuvante Chemotherapie (EuroEWING 99-Protokoll) zur Tumorreduktion, dann die chirurgische Resektion (⊡ Abb. 34.12), dann wieder Chemotherapie. Die 5-Jahres-Überlebensrate liegt bei ca. 60% (⊡ Abb. 34.13).
Literatur
a
b
c
d
e
⊡ Abb. 34.12a–e Möglichkeiten der operativen Behandlung beim Ewing-Sarkom des Femurschafts und der Femurepiphyse. a Autogenes Fibula-Tibia-Transplantat und flexibler Nagel, b allogenes Transplantat und Platte, c autogenes Transplantat unter Erhalt des Beins, d Metallknochenersatz und Hemiarthroplastik, e allogenes Transplantat unter Knieerhalt und Plattenosteosynthese
34
a
b
c
⊡ Abb. 34.13 Histologisch gesichertes Ewing-Sarkom am LWK 1 mit Weichteiltumor in der rechten Flanke bei einem 11-jährigen Jungen. a, b Präoperativ im MRT, c nach neoadjuvanter Chemotherapie und Wirbelkörperresektion LWK 1 subtotal mit Fixateur interne und Cage
Freyschmidt J, Jundt G, Ostertag H (2003) Knochentumoren: Klinik, Radiologie, Pathologie. Heidelberg: Springer Hefti F (2009) Kinderorthopädie in der Praxis, 2. Aufl. Heidelberg: Springer Imbach P, Kühne T (2004) Kompendium Kinderonkologie. Heidelberg: Springer Issels R (2004) Knochentumoren und Weichteilsarkome: Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge. München: Zuckschwerdt Wittekind C, Bootz F (2002) TNM-Klassifikation maligner Tumoren. Heidelberg: Springer
35
Kindertraumatologie J. Matussek
35.1
Einleitung
35.1.1 35.1.2
Charakteristika von Verletzungen am unreifen Knochen Remodellierung – 1026
35.2
Epiphysenfrakturen
35.3
Frakturen der oberen Extremitäten – 1028
35.3.1 35.3.2 35.3.3
Klavikulafrakturen – 1028 Proximale Humerusfrakturen – 1028 Ellenbogenfrakturen – 1028
35.4
Frakturen der unteren Extremitäten – 1031
35.4.1 35.4.2 35.4.3 35.4.4 35.4.5 35.4.6 35.4.7 35.4.8 35.4.9 35.4.10
Beckenfrakturen – 1031 Apophysenabrisse – 1031 Proximale Femurfrakturen und Schenkelhalsfrakturen – 1032 Femurschaftfrakturen – 1032 Distale Femurfrakturen – 1032 Avulsionen der Eminentia tibialis intercondylaris – 1032 Avulsionen der Tuberositas tibiae – 1033 Proximale metaphysäre Tibiafrakturen – 1033 Tibiaschaftfrakturen – 1033 Distale Tibia- und Sprunggelenkfrakturen – 1033
Literatur
– 1026 – 1026
– 1026
– 1034
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_35, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1026
35.1
Kapitel 35 · Kindertraumatologie
Einleitung
Wulstfraktur
Die meisten Frakturen beim Kind sind den Erwachsenenfrakturen ähnlich, wenngleich Knochenbrüche am wachsenden Skelett einige Besonderheiten aufweisen. Kindlicher Knochen ist weicher und bricht leichter als der kortikale Knochen des Erwachsenen. Dementsprechend ist der notwendige Energieeinsatz zur Bewirkung einer kindlichen Fraktur geringer, daher sind begleitende Weichteilverletzungen beim Kind meist weniger schwerwiegend als beim Erwachsenen. Das Periost beim kindlichen Knochen ist viel dicker und die osteogene Potenz viel ausgeprägter. Der ledrige Charakter des Periosts hält häufig gebrochene Knochenenden zusammen, trägt somit sehr zur posttraumatischen Stabilität bei und erleichtert die Reposition. Das enorme osteogene Potenzial des kindlichen Periosts sorgt für eine schnelle und gute Frakturheilung, die Pseudarthrosen selten macht.
35.1.1
Charakteristika von Verletzungen am unreifen Knochen
Die folgenden Frakturtypen treten häufig bei Kindern auf: Grünholzfraktur
Es handelt sich um einen transversalen Gefügesprung ohne Verlust der Kontinuität, ähnlich dem Gefügeverlust ohne Kontaktverlust eines feuchten, grünen Astes (⊡ Abb. 35.1)
Hierbei impaktiert eine Seite der Kortikalis und wölbt sich meist nach außen vor, wobei sich die Gegenkortikalis konvex verbiegt. Plastische Deformation
Hierbei verändert der Knochen seine natürliche Form ohne erkennbare Frakturlinie.
35.1.2
Hierunter versteht man die schrittweise Korrektur von Ausrichtung und Gestalt des frakturierten Knochens zurück zur ursprünglichen Form. Sie läuft beim Kind viel schneller ab als beim Erwachsenen. Die Remodellierung läuft besonders zügig ab, wenn die posttraumatische Achsendeformität in der gleichen Bewegungsebene wie ein benachbartes Gelenk steht oder sich nahe einer stark aktiven Wachstumsfuge (z. B. proximaler Humerus) befindet. Rotationsfehlstellungen werden weniger zuverlässig remodelliert. Vermehrtes Längenwachstum ist ein besonderes Charakteristikum der Remodellierung von Frakturen langer Röhrenknochen, besonders des Femurs: Wegen der Stimulation der nahen Wachstumsfugen durch eine hyperämische Reaktion des Stoffwechsels auf Fraktur und Heilung ist ein Längenzuwachs von 2 cm und mehr im Jahresverlauf möglich. Die Kombination eines Niedrigenergietraumas mit schneller Knochenheilung und gut prognostizierbarer Remodellierung angulärer Deformitäten ermöglicht die Behandlung vieler kindlicher Frakturen in (oft nicht perfekter) geschlossener Reposition und Gipsruhigstellung. Die chirurgische Behandlung kindlicher Frakturen ist meist die Ausnahme. Der behandelnde Arzt kann unter der Kenntnis des guten Remodellierungspotenzials auch weniger perfekt reponierte Frakturen akzeptieren.
35.2
35
z
a
b
⊡ Abb. 35.1a,b Grünholzunterarmfraktur des distalen Radius und der Ulna. a a.p.-Strahlengang, b seitlich
Remodellierung
Epiphysenfrakturen
Ätiologie und Pathogenese
Die knorpeligen Wachstumsfugen von langen Röhrenknochen sind in Relation zum umgebenden Knochen Orte verminderter Stressstabilität mit hoher Anfälligkeit für Frakturen. Als Analogie mag der berüchtigte »Sprung« in einem Gefäß gelten, über den bei einwirkender Kraft die Bruchgefahr für das Gesamtgefäßes um ein Vielfaches erhöht ist. Im Rahmen einer Wachstumsfugenverletzung kommt es im Allgemeinen zu einem raschen Heilungsprozess, der wiederum in den meisten Fällen ein ungestörtes weiteres Wachstum ermöglicht. Ist die Verletzungslinie durch die Fuge allerdings mit einer erheblichen Stufe verbunden, wächst im Heilungsprozess möglicherweise Knochen unter Bildung einer Knochenbrücke von epiphysärem auf metaphysäres Gebiet herüber. Dies kann zu einem asymmetrischen Verschluss der Fuge führen und damit zu einer Längenverkürzung oder angulären Deformierung. Da Wachstumsfugenfrakturen nahe an Gelenken liegen, kommt es häufiger zu Verletzungen von Gelenkoberflächen. Diese bedürfen einer sorgfältigen Rekonstruktion, häufig durch offene
1027 35.2 · Epiphysenfrakturen
Rekonstruktion und Osteosynthese. Die meisten Fugenfrakturen laufen durch die schwächste Region des Wachstumsknorpels. Fugenknorpel beginnt in einer dichten Ruhezone nahe der epiphysären Seite, von der aus sich Chondrozyten schrittweise vermehren. Chondrozyten elongieren und arrangieren sich metaphysenwärts in langen Knorpelzellsäulen, die das Längenwachstum des Röhrenknochens hervorrufen. Ballonierte, hypertrophe Zellsäulen weiter metaphysenwärts sterben ab, während ihre verbleibenden Zellwände mineralisieren und schließlich verknöchern, um metaphysären Knochen zu bilden. > Die für Frakturkräfte anfälligste Schwachstelle stellt der Übergangsbereich zwischen ballonierten, absterbenden Knorpelzellsäulen und der weiter metaphysär liegenden harten Mineralisations- bzw. Verknöcherungszone dar.
z
Klassifikation
Die Klassifikation nach Salter-Harris ist weltweit verbreitet und gibt Hinweise bezüglich der Prognose: ▬ Typ I: komplette Fraktur durch die Fuge im Sinne der Fugenlösung (⊡ Abb. 35.3a) ▬ Typ II: Fugenlösung, wobei an einer Seite der Epiphysenfugenzirkumferenz ein kleiner metaphysärer Keil herausgebrochen ist ▬ Typ III: Fraktur geht durch einen Teil der Fuge und läuft dann epiphysär in das Gelenk aus (⊡ Abb. 35.3) ▬ Typ IV: Fraktur verläuft senkrecht oder diagonal zur Fuge (»fugentraversierend«) von der Epiphyse in die Metaphyse ▬ Typ V: nicht dislozierte Quetschung der Fuge
Diese Region ist hochanfällig für Scherkräfte. Glücklicherweise reichen die Fugengefäße nur bis in diese Region (epiphysäre Fugengefäße: Ausläufer bis zu den ballonierten Knorpelzellsäulen, metaphysäre Fugengefäßen: Ausläufer bis zu den Mineralisationsorten der abgestorbenen Zellsäulen). Frakturen in dieser Region behindern deshalb nur selten die kritische, notwendige Blutversorgung der Fuge und verändern das Wachstumspotenzial nur unbedeutend (⊡ Abb. 35.2).
a
b
c ⊡ Abb. 35.2 Schematische Darstellung der epiphysär-metaphysären Wachstumsregion eines langen Röhrenknochen. 1 Hyaliner Gelenkknorpel, 2 zentrales Ossifikationszentrum (»Knochenkern«), 3 epiphysäre Blutversorgung, 4 Knorpelzellsäulen (Ruhezone), 5 ballonierte Knorpelsäulen (Mineralisationszone), 6 metaphysäre Fugengefäße
⊡ Abb. 35.3a–c Epiphysäre Frakturen des distalen Unterschenkels. a Salter-Harris Typ I der distalen Fibula, Salter-Harris Typ III des Innenknöchels, b, c nach typischer Osteosynthese im Verlauf des Wachstums: partieller Wachstumsfugenverschluss im Bereich des Innenknöchels mit varischem Fehlwachstum
35
1028
Kapitel 35 · Kindertraumatologie
> Typ I und Typ II sind unproblematisch und eigentlich als periphere Schaftfrakturen einzuschätzen. Typ III und Typ IV haben ein hohes Potenzial für vorzeitigen, gelegentlich asymmetrischen Wachstumsfugenverschluss (⊡ Abb. 35.3). Typ V hat eine hoch variable, unklare Prognose mit Gefahr der Verknöcherung z
Therapie
Alle dislozierten Fugenverletzungen müssen achsengerecht reponiert und äußerlich und/oder intern fixiert werden. Für Verletzungen vom Typ I und II gilt eine gute Heilungsprognose, auch wenn geringgradige Achsendeviationen vorliegen. Eine schnelle Heilung, meistens innerhalb von 4 Wochen, ist garantiert. Verletzungen vom Typ III und IV erfordern eine offene exakte (»wasserdichte«) Reposition und Fixation, um das hohe Risiko eines partiellen Fugenverschlusses zu minimieren. Sorgfältige, regelmäßige Kontrolle sorgt für eine frühestmögliche Feststellung des Wachstumsfugenverschlusses. Eine Lösung von Knochenbrücken mit Fettgewebeinterposition kann in einigen Fällen größere Achsenfehlstellungen reduzieren. Eine temporäre oder auch längerfristige Verschließung der noch aktiven Fugenanteile mit Klammertechniken ist in manchen Fällen ebenfalls sinnvoll. Die Notwendigkeit von Spätkorrekturen mit achsenverbessernden und/oder kallusdistrahierenden Maßnahmen ist bei Typ-III- und Typ-IVVerletzungen häufig. Typ-V-Verletzungen müssen zunächst genauso wie andere Fugenverletzungen ruhig gestellt werden. Ein MRT kann sowohl anfänglich als auch später bei weiteren Therapieentscheidungen helfen, z. B. Achsenkorrekturen, Fettinterpositionen in der (teilweise) verknöcherten Fuge.
35.3.2
Proximale Humerusfrakturen
Zumeist handelt es sich hier um Epiphysenfrakturen Typ II nach Salter-Harris, mit erheblicher varischer (medialer) Kopfabweichung. Wegen der hohen Aktivität der proximalen Humeruswachstumsfuge und der multidirektionalen Schultermobilität ist die (altersabhängige) Remodellierungspotenz sehr hoch. Frakturen unter 90° Varusabkippung können beim jüngeren Kind durchaus konservativ mit Armschlinge über 4 Wochen ruhiggestellt werden. Größere Abkippwinkel sollten geschlossen reponiert und perkutan mit Kirschner-Drähten fixiert werden. Bei Jugendlichen im pubertären Wachstumsschub ist die Toleranzschwelle etwas geringer, hier sind nur Abkippwinkel bis ca. 50° tolerierbar.
35.3.3
Ellenbogenfrakturen
Indirekte Traumen mit Stürzen auf die ausgestreckte Hand sind meist die Ursache. Die Diagnostik bei Verletzungen dieses funktionell sehr wichtigen Gelenks ist oft schwierig, da die meisten Verknöcherungszentren sich röntgenologisch in der häufig betroffenen Altersgruppe (2.–10. Lebensjahr) noch nicht komplett darstellen. Schwellungen können ernste vaskuläre Konsequenzen mit möglichem Unterarmkompartmentsyndrom nach sich ziehen. Wegen der Häufigkeit sehr instabiler Frakturverhältnisse sind geschlossene Repositionen allein oft nicht ausreichend, häufig müssen die Frakturen geschlossen oder offen mit Kirschner-Drähten stabilisiert werden. Ruhigstellung in entsprechenden Oberarmgipsverbänden für 4 Wochen ist notwendig.
Suprakondyläre Humerusfraktur
35
35.3
Frakturen der oberen Extremitäten
35.3.1
Klavikulafrakturen
Klavikulafrakturen gehören zu den häufigsten kindlichen Frakturen. Sie sind zum einen als geburtshilfliches Trauma bei schwieriger Entbindung bekannt, zum anderen als Folge von einfachen Stürzen auf die Schulter oder den ausgestreckten Arm. Frakturen werden gelegentlich verwechselt mit der seltenen angeborenen atraumatischen Klavikulapseudarthrose, die schmerzfrei einseitig oder beidseits auftritt und meist keine Behandlung erfordert. Ausnahmeformen sind die lateralen Klavikulaavulsionsverletzungen, wobei das laterale knöcherne Ende des Schlüsselbeins aus seiner umgreifenden Lasche auf Höhe des Akromioklavikulargelenks herausrutscht. Die meist geschlossenen Schaftfrakturen werden bei kleineren Kindern in der Armschlinge bei größeren Kindern und Jugendlichen im Rucksackverband behandelt. Innerhalb von meist 4 Wochen heilen die Verletzungen mit starker Kallusbildung ab. Der Knochen wird über Jahre remodelliert. Laterale Verletzungen müssen in der Regel sorgsam, ggf. auch offen, reponiert und mit einem Kirschner-Draht temporär fixiert werden.
Der distale Humerus bricht hier horizontal im Bereich der Metaphyse und beeinträchtigt die Wachstumsfuge nicht. Die Dislokation des distalen Fragments findet in Extensions- und Innenrotationsrichtung statt und kann im Extremfall bis zum kompletten Kontaktverlust führen (⊡ Abb. 35.4a–d). Letzteres führt häufig zu Dehnungen des Nerven mit sensiblen Ausfällen im Handbereich. Die zuweilen starke Schwellung führt mitunter zu Pulsverlust im Handgelenkbereich (⊡ Abb. 35.4e u. f). Tipp
I
I
Bei leichteren Dislokationen ist im seitlichen Ellenbogenröntgenbild eine Hilfslinie sinnvoll, die beugeseitig entlang des Humerusschaftes gezogen wird und im distalen Teil mittig durch den Verknöcherungskern des Capitulum humeri läuft.
Ist das Capitulum nach dorsal/streckseitig verschoben – welchen Ausmaßes auch immer – handelt es sich um eine behandlungsbedürftige Fraktur. Die Therapie der Wahl ist v. a. bei stärkerer Schwellung die geschlossene oder offene Reposition mit Kirschner-DrahtFixation in Narkose. In seltenen Fällen müssen Explorationen im Bereich des Gefäß-Nerven-Bündels durchgeführt werden (⊡ Abb. 35.5).
1029 35.3 · Frakturen der oberen Extremitäten
a
b
c
d
e
a
⊡ Abb. 35.4a–f Ellenbogenfraktur: Gartland-Klassifikation. a, b Typ I undisloziert, c, d Typ II disloziert, aber mit erhaltener Kontinuität der hinteren Kortikalis, e, f Typ III vollständige Dislokation (kein Kortikaliskontakt mehr)
f
b
c
⊡ Abb. 35.5a–c Suprakondyläre Humerusfraktur. a Präoperativ, b, c von proximal ausgehende intramedulläre Nagelung nach geschlossener Reposition und Hämatomentlastung im a.p-Röntgenbild (b) und seitlich (c)
35
1030
Kapitel 35 · Kindertraumatologie
⊡ Abb. 35.6a,b Posttraumatisches Fehlwachstum nach suprakondylärer Humerusfraktur mit Cubitus varus rechts bei einem 9-jährigen Jungen
a
b
Inkomplette Repositionen oder sekundärer Repositionsverlust führen zu dem klassischen Bild des Cubitus varus mit Beugedefizit und kosmetisch unbefriedigendem Resultat. Sekundäre suprakondyläre Valguskorrekturosteotomien sind häufig das Mittel der Wahl (⊡ Abb. 35.6).
Condylus-radialis-Fraktur
35
Hervorgerufen häufig durch Impulsstoß des Radiusköpfchens in das Capitulum humeri mit schräger Abscherfraktur der seitlichen Ellenbogengelenkportion. Im Röntgenbild wird diese Fraktur häufig fehlinterpretiert als Salter-Harris Typ II oder wegen mangelnder Ossifikation überhaupt nicht erkannt. Es handelt sich aber um hochgradig instabile Frakturen vom SalterHarris-Typ IV, die immer einer offenen Reposition und Kirschner-Draht- oder Schraubenrefixation bedürfen (⊡ Abb. 35.7). Bei starker Schwellung des Ellenbogens ohne markanten Röntgenbefund ist die MRT empfehlenswert.
a
> Wird die Condylus-radialis-Fraktur übersehen oder nicht adäquat behandelt, ist die Pseudarthrosen- und Spätkomplikationsrate sehr hoch. Dann kommt es häufig zum Regress.
Radiushalsfrakturen Ähnlich wie bei der Fraktur des Condylus radialis handelt es sich um einen axialen Stoßimpuls auf den ausgestreckten Arm, der zu dieser Fraktur führt. Angulationen von 70–80° sind möglich, Angulationen von <45° remodellieren beim kleineren Kind spontan und bedürfen deshalb nur vorübergehend einer
b ⊡ Abb. 35.7a,b Typische Condylus-radialis-Fraktur. a Präoperativ, b nach osteosynthetischer Versorgung
1031 35.4 · Frakturen der unteren Extremitäten
zunehmen. Auch Problemrepositionen bei älteren Kindern, wenn einer der Unterarmknochen intakt bleibt, der andere irreponibel ohne Endkontakt steht, bedürfen schließlich häufig doch einer offenen Reposition und intramedullärer flexibler Schienung.
Monteggia-Fraktur
a
Im Rahmen dieses Frakturmusters bricht die Ulna allein, während der Radiusschaft intakt bleibt. Da aber Doppelknochensysteme (Unterarm) im Allgemeinen durch Trauma auch an 2 Stellen betroffen sind, luxiert hier das Radiusköpfchen auf Höhe des radiohumeralen Gelenks. Die Reposition der Ulna muss dementsprechend auch die Reposition des Radiusköpfchens beinhalten; dies gelingt nicht immer geschlossen. Inkomplette Repositionen führen meist zu chronischen Beugedefiziten des Ellenbogens. Spätkorrekturen sind bei inkompletter Ulnareposition mit chronischer Radiusköpfchen(sub-)luxation regelmäßig notwendig.
Galeazzi-Fraktur Das distale Äquivalent der Monteggia-Fraktur bei Schaftfraktur des Radius ist die Luxation des Ulnaköpfchens. Dieser FrakturTyp ist bei Kindern sehr selten.
Wulstfraktur des distalen Radius Häufig übersehene Fraktur mit kleiner Wulstbildung der dorsalen Kortikalis des distalen Radius, 1–2 cm proximal der Wachstumsfuge nach unspektakulären Stürzen. Da diese Frakturen stabil und nicht sehr schmerzhaft sind, treten oft diagnostische Verwechselungen mit Verstauchungen auf.
b ⊡ Abb. 35.8a,b Radiushalsfraktur. a Nativröntgen, b CT
ruhigstellenden Behandlung. Größere Angulationen können perkutan reponiert und mit einem Kirschner-Draht transfixiert werden (⊡ Abb. 35.8). Radiusköpfchenfrakturen, analog zu den Erwachsenenfrakturen, gibt es beim Kind nicht.
35.4
Frakturen der unteren Extremitäten
35.4.1
Beckenfrakturen
Frakturen des Beckens bei Kindern treten im Allgemeinen im Zusammenhang mit erheblichen stumpfen Stoßwirkungen und/oder Überrollungen auf. Erhebliche Dislokationen der Frakturteile sind selten und können durch das gut schienende dicke Periost meist symptomatisch behandelt werden. Doppelte Ringfrakturen (»Schmetterlingsfrakturen«) müssen bei älteren Kindern regelmäßig mit äußeren Fixateuren temporär fixiert werden. Selbstverständlich müssen intrapelvine und abdominelle Schäden sorgfältig ausgeschlossen werden. Es kommt in der Regel zu akzeptablen Behandlungsresultaten bei gut versorgten Beckenfrakturen des noch wachsenden Skeletts.
Unterarmfrakturen Diese häufigen Frakturen sind meist das Resultat direkter Anprallgewalt im Rahmen von Stürzen. Wenn beide Knochen betroffen sind, erleidet der eine Knochen häufig einen kompletten Bruch, während der jeweils andere im Sinne eines Grünholzbruches verbiegt. Bei Kindern können die kompletten Brüche oft erfolgreich durch eine geschlossene Reposition und Oberarmgipsfixation behandelt werden, sofern eine korrekte Rotationsstellung erzielt wird. Irreponible Weichteilinterponate müssen offen beseitigt werden, um dann eine perkutane intramedulläre Schienung vor-
35.4.2
Apophysenabrisse
Apophysenabrisse bei Jugendlichen im Bereich der Beckenkammapophyse oder der Spinae iliacae treten häufig in der letzten Wachstumsphase 1–2 Jahre vor Fugenschluss, v. a. im Zusammenhang mit überproportional kräftigem Muskelzug, z. B. beim Sport, auf. Diese Art von Avulsionen werden zu den sog. Übergangsfrakturen gezählt ( Abschn. 35.4.7), deren Wachstumsfugenknorpel dem Impuls eines starken Muskelzugs
35
1032
Kapitel 35 · Kindertraumatologie
des fast ausgewachsenen Bewegungssystems nicht standhält. Beispiele sind Ausrisse des M. rectus femoris an der Spina iliaca anterior inferior bei Fußballern, des M. obliquus externus oder internus an der Beckenkammapophyse, des M. iliopsoas am Trochanter minor oder der ischiokruralen Muskulatur an der Tuberositas ossis ischii. Die Therapie ist symptomatisch, wobei gelegentlich später größere knöcherne »Tumoren« entstehen, die stören und exidiert werden müssen.
35.4.3
Proximale Femurfrakturen und Schenkelhalsfrakturen
Obgleich selten, stellen sie doch sehr ernsthafte Probleme dar, da ein Trauma in dieser Region zu sehr ernsthaften Begleitverletzungen führen kann. ! Cave Wie beim Erwachsenen kann die Fraktur je nach Frakturmuster verantwortlich für schwere Durchblutungsstörungen des Femurkopfes sein und zu einer Nekrose der proximalen femoralen Epiphyse und/oder des Schenkelhalses führen.
35
Läuft diese Komplikation moderat ab, ist eine Behandlung in Anlehnung an die Perthes-Therapie angezeigt. Gerade bei älteren Kindern und Jugendlichen ist der Verlauf allerdings oft dramatisch und geht mit einem schweren Kollaps einher, was eine Hüftgelenksarthrodese erforderlich macht. Wegen der hohen Instabilität werden kindliche Schenkelhalsfrakturen immer über eine Reposition und Osteosynthese behandelt. Allerdings gilt als höchste Maxime im Rahmen des chirurgischen Managements immer die maximale Schonung der femoralen Blutgefäße. Aus diesem Grund kann gelegentlich die mechanische Fixation zugunsten einer hohen Behandlungssicherheit etwas zurücktreten (z. B. Verwendung von einfachen Kirschner-Drähten statt kräftigen Schrauben) und ein klassischer Bein-Becken-Fuß-Gips eingesetzt werden.
35.4.4
Femurschaftfrakturen
Es handelt sich hier um häufigere Verletzungen infolge von Stürzen, Fahrrad- und Motorradunfällen; beim sehr kleinen Kind können auch Folgen von Misshandlungen in Betracht gezogen werden. ! Cave Obwohl es sich meist um geschlossene Frakturen handelt, kann es durch Einblutungen in die Weichteilgewebe zu einem signifikanten Blutverlust kommen.
Nervenverletzungen sind selten. Die Tatsache, dass der Knochen von einer kräftigen Weichteilschicht umgeben ist, führt bei kleineren Kindern zu einer schnellen Heilung, normalerweise in 6 Wochen. Wegen des longitudinalen Zuges und der schmerzhaften Kontraktur der Muskulatur angulieren und verkürzen sich Fe-
murschaftfrakturen. Dementsprechend erfordert die initiale Behandlung meist eine longitudinale Traktion (Weichteiltraktion über Tape-Verbände beim jüngeren Kind und Extensionsbehandlung über skelettale Tibiakopftraktion beim Jugendlichen), um Länge und achsengetreue Stellung wiederherzustellen. Typische Konstruktionen sind für das Kleinkind die vertikale »Overhead«-Aufhängung über Weichteiltraktion bei 90° Hüftbeugung, horizontalem Oberkörper und schwebendem Gesäß oder das sog. Weber-Bett, bei dem über vertikale, skelettale distale Femurschafttraktion das Hüftgelenk und auch die Knie um 90° flektiert sind. Hier lässt sich unter Traktion die Rotation initial gut kontrollieren. Nach der initialen Traktionsbehandlung hängt das weitere Vorgehen weitestgehend vom Alter der Patienten ab: ▬ Kleinkinder werden im allgemeinen nach ca. 8 Tagen aus der Traktionsbehandlung in einen Bein-Becken-Fuß-Gips in Hüft- und Kniebeugung überführt, bis zur finalen Konsolidierung nach ca. 4–6 Wochen. ▬ Größere Kinder und Jugendliche können nach initialer Traktion (oder auch ad libidum sofort) mit flexiblen intramedullären Nägeln versorgt werden. ▬ Für Jugendliche kurz vor Wachstumsabschluss stehen auch pediatrische Verriegelungsnägel (oder seltener ein monolateraler Fixateur externe) zur Verfügung. Je jünger der Patient, desto stärker ist die Tendenz zum vermehrten Längenwachstum des Femurs: Im Alter von 2–10 Jahren (später weniger offensichtlich) beträgt der Längenzuwachs aufgrund der Heilungshyperämie der Wachstumsfugen 1–3 cm.
35.4.5
Distale Femurfrakturen
Die distalen Femurfrakturen sind hauptsächlich dem SalterHarris-Typ I und II der Epiphysenfrakturen zuzuordnen. Meist ist ein signifikantes Trauma ursächlich verantwortlich, und häufig führt die Verletzung der Fuge zu einer relevanten Veränderung des Wachstumsmechanismus (>50% aller Fälle). Wegen der Gefahr erheblicher Dislokationen der Epiphyse bis hin zum kompletten Kontaktverlust können gelegentlich neurovaskuläre Schäden auftreten. Vorsichtige Repositionsmanöver unter Allgemeinnarkose sind Mittel der ersten Wahl. Wegen erheblicher Instabilitäten im Frakturbereich spielen perkutane transepiphysäre Fixationstechniken mit Kirschner-Drähten für einige Wochen eine wichtige Rolle. Bei vorzeitigem, frakturbedingtem Epiphysenschluss konzentrieren sich die weiteren Maßnahmen auf die Behandlung eventueller Beinlängendifferenzen oder Achsendeformitäten.
35.4.6
Avulsionen der Eminentia tibialis intercondylaris
Verdrehtraumen haben das Potenzial, die Eminentia intercondylaris tibialis durch Scherimpulse zu dislozieren. Dies reicht
1033 35.4 · Frakturen der unteren Extremitäten
von inkompletten Avulsionen bis hin zur kompletten Dislokation mit komplettem Kontaktverlust. Normalerweise reponiert sich die Eminentia mit dem ansetzenden vorderen Kreuzband komplett in Knieextension, sodass eine 6-wöchige Gipstutoranlage ausreicht. Bei kompletten Dislokationen ist jedoch eine offene oder zumindest arthroskopische Revision mit Reposition der Eminentia und Draht -Cerclage notwendig. Nach dieser Art von Verletzung können längerfristig Impingement-Symptome bei Kniestreckung auftreten, besonders bei Athleten.
35.4.8
Obwohl meist nur wenig verschoben, können diese Frakturen besorgniserregende Spätfolgen durch überschießendes Längenwachstum der Tibia gegenüber der nicht tangierten Fibula haben. Dies führt gerade bei jungen Kindern (3.–6. Lebensjahr) zu erheblichen Valgusdeformitäten im Kniebereich, die allerdings im Lauf der weiteren Wachstumsjahre ein gutes Potenzial zur Remodellierung haben.
35.4.9 35.4.7
Tibiaschaftfrakturen
Avulsionen der Tuberositas tibiae
In der Gruppe der sportlich sehr aktiven männlichen Jugendlichen zwischen dem 13. und 14. Lebensjahr, nicht lange vor Abschluss des skelettalen Wachstums (Übergangszeit) treten diese Übergangsfrakturen gerade nach anstrengenden Dauerbelastungen (Dauersprung beim Seilspringen, Basketball etc.) auf. Hierbei wird über den starken Zug der Patellarsehne ein überlastender Impuls auf die überkragende »Tuberositaslippe« eingebracht, die sich dadurch löst und abbricht. Manchmal erweitert sich die Frakturzone bis in das Gelenk hinein, wobei Teile der epiphysären Tibiagelenkfläche mit herausbrechen (⊡ Abb. 35.9). Immer sind bei diesen Frakturen offene Repositionsverfahren und innere Transfixationen notwendig. Wegen der meist nur noch geringen Wachstumspotenz im Bereich dieser Übergangsfrakturen sind allerdings keine besonderen Restwachstumsfugen schonenden Operationsverfahren notwendig.
Sie werden meist durch ein erhebliches Anpralltrauma in Kombination mit Fibulaschaftfrakturen hervorgerufen. Offene Frakturen sind nicht selten, allerdings ermöglicht der gute Weichteilmantel einen Unproblematische offene Frakturen können nach einer Lavage wie geschlossene Frakturen behandelt werden. Ist der Weichteilmantel stark verletzt, sind die Behandlungskriterien der Erwachsenentraumatologie anzuwenden. Eine besondere Entität stellt die nicht verschobene Tibiaschaftspiralfraktur bei Kleinkindern, die gerade das Gehen erlernen, dar. Das Trauma ist meist gering, der Anlass wird als unbedeutend eingestuft und die Klinik ist eher unauffällig, sodass eine große Gefahr des »Übersehens« besteht. Gelegentlich laufen die Kinder humpelnd auf ihrer Fraktur in die Ambulanz. Im Rahmen einer Allgemeinnarkose können die meisten Frakturen geschlossen reponiert und mit einem Oberschenkelgips für 10–12 Wochen ruhiggestellt werden. Bei starken Schwellungen, drohenden Kompartmentsyndromen und offenen Frakturen ist die temporäre skelettale Fersendrahtextension noch Mittel der ersten Wahl, bevor die Gipsbehandlung ansteht. Instabile Frakturen bedürfen in seltenen Fällen der Behandlung mit Fixateur externe oder anderen osteosynthetischen Verfahren (intramedullärer Draht).
35.4.10
a
Proximale metaphysäre Tibiafrakturen
b
⊡ Abb. 35.9a,b Avulsionsverletzung der Tuberositas tibiae als Apophysenlösung mit Fraktur durch die Tibiakopfepiphyse. a Präoperativ, b nach Reposition und Kirschner-Draht-Osteosynthese
Distale Tibia- und Sprunggelenkfrakturen
Diese sind bei jungen Kindern entweder metaphysär oder epiphysär gelegen, entsprechen meist dem Typ II nach SalterHarris und heilen nach geschlossener Reposition und äußerer Fixierung rasch ab. Einschränkungen für das epiphysäre Wachstum bei diesen Frakturen sind selten. Bei Kindern im Alter von 8–11 Jahren ergeben sich demgegenüber bei Distorsionen ungünstigere Frakturtypen, z. B. mit Abscherung des Innenknöchels, also einer schrägen TypIV-Fraktur. Diese bedürfen einer offenen oder arthroskopisch assistierten exakten Reposition und Osteosynthese. Dennoch kann es zu einem lokalen Fugenarrest kommen, der eine fortschreitende Varusfehlstellung des Sprunggelenks produziert. Strategisch sollte in diesen Fällen über Resektion der Knochenbrücke und Fettlappeninterposition oder aber über Korrekturosteotomien nachgedacht werden.
35
1034
Kapitel 35 · Kindertraumatologie
Übergangsfrakturen im Sprunggelenkbereich stellen besondere Frakturmuster kurz vor Abschluss des skelettalen Knochenwachstums dar. Die mediale Portion der Wachstumsfuge schließt sich zuerst, bevor dann weiter lateralwärts der Fugenverschluss erfolgt. Je nachdem, wie weit dieser Fugenverschlussverlauf fortgeschritten ist, lassen sich auch die Frakturmuster verstehen: ▬ Dreiebenenfraktur (»triplane« Fraktur) mit sagittaler, transversaler und frontaler Komponente bei gerade sich verschließender medialer Fuge ▬ anterolaterale distale Tibiastückfraktur (»juvenile TillauxFraktur«) mit Abriss (Salter-Harris-Typ III) eines anterolateralen distalen Tibiafragments als Zeichen des starken Zugimpulses der distalen tibiofibulären Syndesmose bei Restinstabilität der lateralen Wachstumsfuge
Literatur von Laer L, Kraus R, Linhart WE (2007) Frakturen und Luxationen im Wachstumsalter. Stuttgart: Thieme
35
VII
VII Begutachtung
36
Das ärztliche Gutachten – 1037 L. Perlick, F.X. Köck, S. Anders, J. Grifka
36 Das ärztliche Gutachten L. Perlick, F.X. Köck, S. Anders, J. Grifka
36.1
Allgemeines – 1038
36.1.1 36.1.2 36.1.3 36.1.4 36.1.5 36.1.6
Anforderungen an den Gutachter – 1038 Äußere Form des Gutachtens – 1038 Gutachtenaufbau – 1038 Aktenaufbereitung – 1038 Die gutachtliche Anamneseerhebung – 1039 Dokumentation des aktuellen Beschwerdebilds – 1039 Befunderhebung und Dokumentation – 1039 Rangordnung der gutachtlichen Untersuchungsbefunde – 1039 Apparative Untersuchungstechniken – 1040 Darstellung der Diagnosen – 1040 Beurteilung – 1040 Beantwortung der Fragen aus dem Gutachtenauftrag – 1040 Unterschriften – 1041 Quellennachweis – 1041 Urherberrecht bei Gutachten – 1041
36.1.7 36.1.8 36.1.9 36.1.10 36.1.11 36.1.12 36.1.13 36.1.14 36.1.15
36.2
Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung – 1044
36.2.1 36.2.2 36.2.3 36.2.4 36.2.5 36.2.6 36.2.7
Leistungen der DGUV – 1044 Eintritt des Versicherungsfalls – 1045 Verfahren – 1045 Kausalität – 1045 Verschlimmerung – 1046 Beweisanforderungen – 1046 Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse – 1046 Zeitgerechte Erstellung – 1046 Ablauf der Begutachtung – 1046
36.2.8 36.2.9
36.3
Begutachtung in der privaten Unfallversicherung – 1047
36.3.1 36.3.2 36.3.3 36.3.4 36.3.5 36.3.6
Geschichtliche Entwicklung – 1047 Verfahren – 1047 Begriffsdefinition »Unfall« – 1047 Vorschaden – 1047 Leistungen – 1048 Ausschlussklauseln – 1048
36.4
Begutachtung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung – 1048
36.4.1 36.4.2
Geschichtliche Entwicklung – 1048 Leistungseintritt – 1048
36.4.3 36.4.4 36.4.5 36.4.6 36.4.7
Begriffsdefinition »Beruf« – 1048 Verweisungsberufe – 1049 Nicht versicherte Risiken – 1049 Die Begutachtung – 1049 Grad der Berufsunfähigkeit – 1049
36.5
Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung – 1049
36.5.1 36.5.2 36.5.3
Geschichtliche Entwicklung – 1049 Formale Grundlagen – 1050 Rentenarten – 1050
36.6
Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und sozialen Entschädigungsrecht – 1051
36.6.1 36.6.2
Schwerbehindertenrecht – 1051 Soziales Entschädigungsrecht – 1052
36.7
Begutachtung für die gesetzliche Krankenversicherung – 1053
36.7.1 36.7.2
Grundlagen – 1053 Begutachtungsanlässe – 1053
36.8
Begutachtung zur Krankentagegeldversicherung – 1053
36.8.1 36.8.2
Grundlagen – 1053 Ziel der Begutachtung – 1053
36.9
Begutachtung von Berufskrankheiten – 1053
36.9.1 36.9.2 36.9.3 36.9.4 36.9.5 36.9.6
Geschichtliche Entwicklung – 1053 Berufskrankheitenverordnung – 1054 Begriffsdefinition »Berufskrankheit« – 1054 Zuständigkeit und Leistungen – 1054 Berufskrankheitenliste – 1055 Voraussetzung zur Aufnahme in eine Berufskrankheitenliste – 1055 36.9.7 Berufskrankheitenliste – 1055 36.9.8 Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufserkrankung – 1055 36.9.9 Schadensanlage – 1056 36.9.10 Konkurrierende Kausalität – 1056 36.9.11 Ermittlung der beruflichen Voraussetzungen – 1056
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0_36, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
Literatur – 1056
1038
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
36.1
Allgemeines
36.1.1
Anforderungen an den Gutachter
Die Tätigkeit als Gutachter setzt ein fundiertes medizinisches Wissen voraus. Dadurch, dass die Patientenzuwendung durch ein objektives und nüchternes Beobachten und Beurteilen ersetzt werden muss, unterscheidet sich die Gutachtertätigkeit wesentlich vom ärztlichen Handeln im Rahmen der Patientenversorgung (Mollowitz 1998). Es ist für den ärztlichen Gutachter essenziell, über die rechtlichen Vorgaben der Begutachtung informiert zu sein. Außerdem muss der Gutachter die wesentlichen Grundlagen und Begriffe des Versicherungsrechts kennen und auch über die Unterschiede in den verschiedenen Rechtsbereichen informiert sein. Es sollte dem Sachverständigen bewusst sein, dass der Begriff der »Minderung der Erwerbsfähigkeit« nur im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) und im sozialen Entschädigungsrecht (SER) eine Bedeutung hat, während im Bereich der privaten Unfallversicherung die Gliedertaxe Anwendung findet. Der Gutachter muss mit den immer wieder gebrauchten juristischen Begriffsbildungen (Arbeitsunfähigkeit, Erwerbsminderung, Berufsunfähigkeit etc.) vertraut sein, um Missverständnissen vorzubeugen. Er sollte nach Eingang des Gutachtenauftrags zeitnah prüfen, ob dieses von ihm mit ausreichender fachlicher Kompetenz bearbeitet werde kann. Bei mangelnder Qualifikation muss er den Auftrag zurückgeben.
36.1.2
36
Äußere Form des Gutachtens
Das Gutachten sollte in seiner äußeren Form den Wert der Sachverständigenaussage widerspiegeln, denn »das Gutachten ist ein Beweismittel, das durch viele Hände geht« (Mollowitz 1998). Bei der Erstellung sollten die Orthographierichtlinien des Dudens Berücksichtigung finden. Der Gutachter sollte bei der Erstellung darauf Wert legen, dass so wenig wie möglich Fachbegriffe, sondern verständliche deutsche Ausdrücke zur Darstellung des Sachverhaltes verwendet werden. Analog hierzu sollten auch fachspezifische Abkürzungen vermieden werden. > Der Aufbau des Gutachtens sollte derart gestaltet sein, dass der Leser auch ohne Einsicht der Akten einen vollständigen Überblick erhält.
Dies impliziert, dass Vorgeschichte und Befund sämtliche notwendigen Informationen enthalten, die benötigt werden, um den Zusammenhang nachzuvollziehen. Dies bietet auch dahingehend Vorteile, dass der Gutachter einen Überblick über den zu begutachtenden Fall erhält, wenn die Akte nicht greifbar ist und ein Gerichtstermin zur mündlichen Erläuterung des Gutachtens ansteht.
36.1.3
Gutachtenaufbau
Der strukturierte Aufbau eines Gutachtens sollte seinen Anfang in einem Deckblatt finden, das sämtliche relevanten Daten
enthält. Die korrekte Adresse des Adressaten und des Sachbearbeiters sollte selbstverständlich sein. Ferner sollte der Gutachter seine Fachkompetenz durch Angabe der genauen Bezeichnung seiner Facharztweiterbildung als auch der Zusatzbezeichnungen darlegen. Das Deckblatt sollte im Weiteren folgende Informationen erhalten: ▬ das Auftragsdatum ▬ das Aktenzeichen des Auftraggebers ▬ das Zeichen des Gutachters ▬ den Rechtsbereich, in dem das Gutachten zu erstellen ist ▬ einen Hinweis darauf, dass die Identität der zu untersuchenden Person überprüft wurde (z. B. Ausweisnummer) ▬ bei Gerichtsgutachten Namen bzw. Bezeichnung der beteiligten Parteien ▬ den Tag und Ort der Untersuchung Das Gutachten lässt sich in der Regel in 5 Hauptkapitel strukturieren: 1. Sachverhalt nach Aktenlage 2. Befragung und Untersuchung des Probanden 3. Diagnose 4. Zusammenfassung und Beurteilung 5. Beantwortung der Fragen aus dem Gutachtenauftrag
36.1.4
Aktenaufbereitung
Es bietet sich an, die Aktenaufbereitung als erstes Kapitel zu verwenden, um einen Überblick über die vorhandenen Befunde und fehlende Informationen zu erhalten. Der gewonnene Wissensstand hilft dabei, die Untersuchung zielgerichtet durchzuführen. Der Gutachter erhält durch dieses Vorgehen eine Überblick darüber, welche Befunde und Röntgenbilder entweder vom Gutachter selbst zu veranlassen sind oder andernorts angefordert werden müssen. Ein ordnungsgemäß erstellter Aktenauszug dokumentiert weiterhin, ob dem Sachverständigen sämtliche entscheidungsrelevanten Daten vorlagen und von diesem zur Kenntnis genommen wurden. So können auch in der nachfolgenden Anamnese etwaige Ungereimtheiten oder Widersprüche mit dem zu Begutachtenden geklärt werden. Weiterhin gilt zu berücksichtigen, dass ein solider Kenntnisstand des Gutachters im Rahmen der Anamneseerhebung auch das Vertrauen des Probanden in die Kompetenz des Sachverständigen fördert, was der späteren Akzeptanz des Gutachtens zugutekommt. Der Aktenauszug ist auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts unverzichtbarer Bestandteil eines medizinischen Sachverständigengutachtens. So hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts am 14.01.2005 (Az.: 2 BvR 983/04) ausgeführt, dass ein Gutachten bestimmten Mindeststandards genügen muss: »So muss die Begutachtung insbesondere nachvollziehbar und transparent sein. Der Gutachter muss Anknüpfungs- und Befundtatsachen klar und vollständig darlegen.« Daher ist die mitunter vom Gericht an den Sachverständigen gestellte Aufforderung, auf einen Aktenauszug zu verzichten, mit den geforderten Mindeststandards nicht in Einklang zu bringen.
1039 36.1 · Allgemeines
> Bei der Annahme eines derartigen Gutachtenauftrags sollte sich der Gutachter bewusst sein, dass er für den Inhalt seines Gutachtens haftet, und nur bei ausreichender Kenntnis des Akteninhalts eine zielführende Diagnostik und Untersuchung erfolgen kann.
36.1.5
Die gutachtliche Anamneseerhebung
Die Anamnese sollte zielgerichtet erfolgen. Es gilt, bei der Befragung die Datenschutzaspekte zu berücksichtigen. Bei der Beurteilung einer Sprunggelenkfraktur ist die urologische Anamnese überflüssig und missachtet möglicherweise das »Privatgeheimnis« nach § 203 StGB. Andererseits sind insbesondere bei der Kausalitätsbegutachtung anamnestische Daten unverzichtbar, um schicksalhafte Erkrankungen von Unfallfolgen zu differenzieren. Die anamnestischen Daten sollten in einem gut strukturierten Gutachten chronologisch und themenorientiert dargestellt werden. Besonders bei der Abklärung einer Berufsunfähigkeit dürfen weder die Daten zur Berufsbiographie noch zu den bisherigen diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen fehlen, da ansonsten der Gutachter nicht mit der geforderten Sicherheit darlegen kann, ob die bisherige Behandlung des zu Begutachtenden alle Therapieoptionen ausgeschöpft hat.
36.1.6
Dokumentation des aktuellen Beschwerdebilds
Ein elementarer Bestandteil des Gutachtens ist die Erfragung der gegenwärtigen Beschwerden des zu Begutachtenden. Diese sollte unverfälscht dokumentiert werden, wobei es sich anbietet, sie in Gegenwart des zu Begutachtenden zu diktieren, um Missverständnisse schon im Vorfeld zu vermeiden. Hierbei sollte dem zu Begutachtenden genügend Zeit gegeben werden, seine Beschwerden subjektiv in ausreichender Form darzulegen. > Besonderer Wert muss auf eine exakte Angabe der Schmerzsymptomatik gelegt werden, da ein dramatisierend vorgebrachtes Beschwerdebild wie auch eine multilokuläre, nicht dermatombezogene Schmerzsymptomatik Hinweise für eine Genese im psychopathologischen Bereich bzw. eine fehlende Organogenese geben kann.
Bei der Dokumentation des Schmerzerlebens sollte gezielt erfragt werden, wo sich der Schmerz lokalisiert, wann er auftritt und welche Einflüsse zu einer Schmerzverstärkung führen. Weiterhin sind die subjektiv empfundene Stärke und die Charakteristik des Schmerzes für die Beurteilung wichtig.
36.1.7
Befunderhebung und Dokumentation
Der Umfang der klinischen Untersuchung kann erheblich variieren. Sind nur die Folgen einer Fraktur des Rückfußes zu beurteilen, so ist die Untersuchung der unteren Extremitäten
und des Beckenstands ausreichend. Die Erhebung eines Gesamtkörperstatus mit umfassender Untersuchung von Wirbelsäule und den oberen Extremitäten ist nicht erforderlich. Bei einer Begutachtung zur Feststellung einer Berufsunfähigkeit oder einer Erwerbsminderung sollte ein Ganzkörperstatus erhoben werden. Hierbei können unauffällige Befunde relativ kurz geschildert werden, um dann die pathologischen Befunde dezidiert darzustellen. Um die Reproduzierbarkeit der Untersuchung zu gewährleisten, sollte die Untersuchung unter Verwendung standardisierter Messblätter (Neutral-Null-Methode) erfolgen, die dem Gutachten beigefügt werden können. Die Datenerhebung muss unter Verwendung geeigneter Messhilfen erfolgen. Weiterhin müssen bei der Dokumentation der Umfangsmaße die Messhöhen gemäß den Vorgaben der Neutral-Null-Methode angezeichnet werden. Selbst dann verbleibt eine Messfehlerbreite von mindestens 0,5–1 cm. Mitunter kann eine zusätzliche Bilddokumentation weitere Information für die Entscheider beinhalten als dies mit Worten zu vermitteln ist. Mit Vorsicht sollten hingegen Bilder von aktiv dargebotenen Bewegungsausmaßen Verwendung finden, da diese möglicherweise eine Scheinobjektivität suggerieren.
36.1.8
Rangordnung der gutachtlichen Untersuchungsbefunde
Die erhobenen Befunde unterliegen einer Rangfolge bezüglich deren Relevanz und Aussagekraft. Man kann zwischen objektiven, semiobjektiven, semisubjektiven und subjektiven Befunden bzw. Bewertungen unterscheiden. Die größte Beachtung für die Begutachtung muss den objektiven Befunden gewidmet werden. Es handelt sich um die Befunde, die von der Mitarbeit des zu Begutachtenden und der Interpretation des Gutachters unabhängig sind. Gerade auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet, wo die Begutachtung auf morphologischen Veränderungen und funktionellen Störungen beruht, kommt den objektiven Befunden im Gegensatz zur psychiatrischen Begutachtung wesentliche Bedeutung zu. Zu den objektiven Befunden gehören Messwerte wie das Körpergewicht, Körpergröße, etc. Die sog. semiobjektiven Befunde sind von der Interpretation des Untersuchers abhängig. Zu diesen Befunden zählt beispielsweise der paraverterale Muskeltonus, der einer großen Interpretationsbreite unterliegt. Dies gilt auch für manche bildgebende Verfahren. So bietet die MRT einen höheren Informationsgehalt als ein konventionelles Röntgenbild, ist aber zugleich von der subjektiven ärztlichen Interpretation abhängig. Zu den semisubjektiven Befunden zählen die Befunde, deren Erhebung von der Mitarbeit des Probanden abhängig ist. Hierzu gehören die aktiven Bewegungsausmaße, die Kraftentwicklung und die Gangbildprüfung. Hier obliegt es der Erfahrung des Gutachters, mithilfe einer differenzierten und wohlstrukturierten Untersuchungstechnik die patientenseitigen bewusstseinsnahen Einflüsse herauszuarbeiten. Zu den subjektiven Befunden zählen diejenigen Angaben, die nur die vom Probanden erlebte Symptomatik widerspiegeln.
36
1040
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
Dies sind z. B. die empfundenen Schmerzen, Gefühlsstörungen oder Schwindelsymptomatik, welche sich außerhalb dessen bewegen, was mittels ärztlicher Befunderhebungen objektiviert werden kann. Tipp
I
I
Der Gutachter sollte Ausführungen wie »glaubhafte Schilderung des Patienten« vermeiden, da dies in den meisten Fällen eine defizitäre gutachtliche Untersuchung und Beurteilung impliziert.
36.1.9
Apparative Untersuchungstechniken
Nach der Sichtung der beigebrachten Untersuchungsbefunde sollte kritisch hinterfragt werden, welche radiologischen Untersuchungen zur Klärung des Sachverhalts erforderlich sind. Je nach Fragestellung kann eine seitenvergleichende Röntgendiagnostik erforderlich sein, sofern sie nicht bereits im Vorfeld der Begutachtung gefertigt wurden. Wurden die Aufnahmen zeitnah zum Gutachtentermin erstellt, sollte der Gutachter versuchen, dieses Bildmaterial beizuziehen, nicht zuletzt, um die Strahlenbelastung des zu Begutachtenden zu minimieren. Bei der Evaluation des Bildmaterials sollte darauf geachtet werden, dass ein zu erwartender Bildbefund, wie beispielsweise eine dem Alter des zu Begutachtenden entsprechende Bandscheibenhöhenminderung, keine Überbewertung erfährt. Eine allein auf einem solchen Bildbefund aufbauende Diagnosestellung und Ableitung einer körperlichen Leistungsminderung, die möglicherweise dem Begehren des zu Begutachtenden entgegenkommt, muss vom Gutachter vermieden werden. Der Gutachter muss zwingend über die Sachkenntnis verfügen, die von ihm veranlasste Bildgebung im Abgleich mit den klinischen Befunden einer kritischen Auswertung zu unterziehen. Radiologische Zusatzgutachten sind bei Unkenntnis der klinischen Symptomatik bezüglich deren Aussagekraft kritisch zu hinterfragen.
36
Tipp
I
I
So sei auch davor gewarnt, Befundberichte bezüglich zuvor erfolgter Röntgenaufnahmen unkritisch aus vorangegangenen Gutachten zu übernehmen. Der erfahrene Gutachter besteht auf der Beibringung aller wesentlichen Aufnahmen, um sich sein eigenes Urteil zu bilden.
36.1.10
Darstellung der Diagnosen
Nach der Beschreibung der Befunde gilt es, die vorliegenden Unfallfolgen bzw. Krankheitsbilder mit Diagnosen treffend zu beschreiben. Es ist hierbei unzureichend, beispielsweise die Diagnose eines »Zustands nach Schleudertrauma« zu verwenden, da die Formulierung die daraus resultierenden Folgen offen lässt. Als Folgezustand kann eine Instabilität der Halswirbelsäule, aber auch eine folgenfreie Ausheilung resultieren. Der
Gutachter ist angehalten, den Zustand näher zu beschreiben. Dies impliziert beispielsweise im Fall von Extremitätenfrakturen die stabile knöcherne Konsolidierung, die verbliebene Achsenabweichung, eine mögliche Verkürzung und eine mögliche Bewegungseinschränkung der angrenzenden Gelenke. Anhand dieser Aufstellung wird für den Gutachter selbst die Einstufung der Leistungsminderung erleichtert. Außerdem kann der Auftraggeber die Einstufung anhand der gängigen Fachliteratur besser nachvollziehen. Die Diagnosen sollten sich an Befundkriterien, wie sie z. B. im ICD-10 für die Feststellung einer solchen Diagnose vorgegeben sind, orientieren, und mit der entsprechenden ICD10-Ziffer versehen werden. Emotional belegte Bezeichnungen wie »Schleudertrauma« sind konsequent zu vermeiden und durch objektive Begriffe wie »Beschleunigungsverletzung« zu ersetzen.
36.1.11
Beurteilung
Besonderes Augenmerk muss auf die Formulierung von Zusammenfassung und Beurteilung gelegt werden. Die geschilderten Funktionsstörungen und die daraus resultierende Beurteilung müssen plausibel sein. Relevant sind für die Beurteilung nicht die Diagnosen, sondern die daraus resultierenden Funktionseinschränkungen. Der Gutachter sollte die Schwere der Erkrankung möglichst mittels anerkannter Schweregradeinteilungen bestimmen. Da die Schlussfolgerungen auch für den medizinischen Laien verständlich und nachvollziehbar sein sollten, ist es von Vorteil, wenn sich der medizinische Gutachter soweit wie möglich der deutschen Sprache bedient und Fachausdrücke vermeidet. Sollten diese unvermeidlich sein, bedarf es einer kurzen Erläuterung des Sachverhalts. Um seiner Rolle als unabhängiger Sachverständiger gerecht zu werden, sollte eine neutrale Wortwahl bevorzugt werden. Auch beim Aufzeigen von Befundinkonsistenzen sollte jegliche Emotionalität und subjektive Wertung vermieden werden. Hierdurch vermeidet der Gutachter Angriffspunkte, die als Befangenheit des Gutachters gedeutet werden können und möglicherweise seine gesamte Beurteilung und damit die Aussagekraft des Gutachtens in Zweifel ziehen können. > Gerade dieses Kapitel sollte eine absolute Stringenz aufweisen, um sowohl der Überprüfung von gut ausgebildeten Sachbearbeitern bei den Versicherungen als auch der von Juristen Stand zu halten.
36.1.12
Beantwortung der Fragen aus dem Gutachtenauftrag
Nach der Darstellung der Zusammenhänge und der resultierenden Folgen in der Beurteilung sollte die Beantwortung der Fragen knapp und verständlich formuliert werden. Wiederholungen vorausgegangener Ausführungen sollten vermieden und nur die daraus abzuleitende Synopsis dargestellt werden. Der Gutachter sollte Formulierungen wählen, die einen
1041 36.1 · Allgemeines
Empfehlungscharakter erkennen lassen. So sollte eine Einstufung nach Gliedertaxe vorgeschlagen und nicht festgelegt werden.
36.1.13
Unterschriften
Die untenstehenden Unterschriften dokumentieren, wer für die gutachterliche Beurteilung verantwortlich ist. Besonders wenn das Gutachten mehrere Unterschriften trägt, ist davon auszugehen, dass die hierarchisch am niedrigsten stehende Person das Gutachten abgefasst hat. Dies hat insbesondere Bedeutung bei der Erstellung von Gerichtsgutachten (§ 407a Abs. 2) in Fällen, in denen der beauftragte Gutachter grundsätzlich nicht befugt ist, die Aufgabe an eine andere Person zu delegieren. Soweit er sich der Mitarbeit anderer Personen bedient, muss er diese namhaft machen und den Umfang ihrer Tätigkeit angeben, falls es sich nicht nur um Hilfsdienste von untergeordneter Bedeutung gehandelt hat. Wie weit die einzelnen Unterzeichner in die Begutachtung involviert sind, ist an der Anmerkung zur Unterschrift zu ersehen, wie beispielsweise »Einverstanden aufgrund eigener Urteilsbildung« oder »Einverstanden aufgrund eigener Überprüfung und Urteilsbildung«.
36.1.14
Quellennachweis
Die in der Beurteilung zitierte Literatur sollte in einem Literaturverzeichnis am Schluss des Gutachtens zusammengestellt werden, um dem Auftraggeber und dem zu Begutachtenden die Möglichkeit zu geben, den Inhalt dieser Textstellen nachzuvollziehen.
36.1.15
Urherberrecht bei Gutachten
Bei der Sichtung der juristischen Standardwerke finden sich zu dem Themenkomplex, ob medizinischen Gutachten ein Urheberrecht zusteht, nur unzureichende Informationen. Schur (2009) führt diesbezüglich aus, dass auch bei urheberrechtlich geschützten Werken der Austausch zwischen Verwaltungseinrichtungen im Rahmen ihrer jeweils eng umgrenzten Aufgaben nicht nur entschädigungslos erlaubt sondern sogar vom Gesetzgeber gewünscht sei, da die staatlichen Verfahren beschleunigt werden sollen und ein Mehraufwand vermieden werden soll. Die entschiedenen Grenzen setzen aber datenschutzrechtliche Vorschriften. So ist eine Weitergabe von Gutachten gegen den Willen des Versicherten praktisch ausgeschlossen. Neben öffentlichen Stellen kommen daher als Empfänger lediglich der private Unfallversicherer, der Haftpflichtversicherer des Unfallgegners und der Versicherer einer Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsversicherung in Betracht. Zusammenfassend kommt Schur (2009) zu dem Schluss, dass medizinische Gutachten in der Regel keinem Urheberrechtsschutz unterliegen. Lediglich komplexe Gutachten zur Klärung besonderer Grundsatzfragen könnten – zumindest teilweise – geschützt sein. So sei die
Weitergabe medizinischer Gutachten an Gerichte und Behörden im Rahmen ihrer Aufgaben für die Rechtsverwirklichung unverzichtbar. Die Übermittlung eines für eine Behörde oder ein Gericht gefertigten Gutachtens sei an private Empfänger zulässig, wenn sie mit der Zustimmung des Betroffenen erfolgen, da sie die zusätzliche private Absicherung gegen Lebensrisiken erleichtern würde. Tipp
I
I
Soll die Weitergabe des Gutachtens grundsätzlich ausgeschlossen werden, so kann dies beispielsweise mit folgender Formulierung dargestellt werden: »Mit der Herausgabe des Gutachtens an die versicherte Person oder deren Rechtsvertreter sind wir einverstanden/nicht einverstanden.«
Tips für die gutachterliche Praxis: ▬ Orientierung über Gutachteninhalt und Fragestellung vor der Untersuchung! ▬ Ggf. eigenes Einladungsanschreiben mit Hinweis auf Wartezeiten und mehrstündigen Zeitbedarf ! Anfahrtskizze beifügen! ▬ Fehlende Befunde (OP-Berichte, Histologien, Vor-Gutachten etc.) anfordern! ▬ Ausreichend Zeit für die Untersuchung einkalkulieren! ▬ Ganzkörperstatus oder verletzungs-/symptomspezifischer Untersuchungsbefund ! ▬ Standardisierte Untersuchungbögen verwenden! ▬ Bildgebung (Röntgen, Sonografie) im Seitenvergleich! Ggf. Fotodokumentation! ▬ Keine Ergebnisprognosen – professionelle Neutralität! ▬ Beigebrachte Befunde oder CD’s kopieren! ▬ Einbehaltene Originale dokumentieren und zeitnahe Rücksendung an den vereinbarten Adressaten! ▬ Evtl. Anwesenheitsbescheinigung oder Fahrtkostenerstattung ausfüllen! ▬ Evtl. neue, bis dato noch nicht aktenkundige Befunde einholen! ▬ Erforderliches Bewertungssystem (MdE, GdS, Arm-/Beinwert etc.) beachten! ▬ Bemessung an Hand der gängigen Richtwerte, Abweichungen begründen! ▬ Beantworte nur das, was Du auch gefragt wirst! Der ärztliche Gutachter kann seiner Verantwortung nur dann umfassend gerecht werden, wenn er neben der medizinischen Bewertung des Sachverhaltes die gutachtlich bedeutsamenBegriffe, derengesetzlicheund versicherungsrelevante Anspruchsgrundlagen und die dadurch begründeten Leistungen sowie die sozialrechtlichen Maßnahmen kennt. Die wichtigsten Rechts- und Versicherungsbegriffe, welche in den nachfolgenden Kapiteln noch detaillierter dargestellt werden, sind an dieser Stelle tabellarisch aufgeführt. Dabei werden neben der jeweiligen Begriffsdefinition die entsprechenden Rechtsgrundlagen und gutachtliche relevante Hinweise und Tipps gegeben.
36
1042
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
»Wichtige Rechtsbegriffe« Begriff
Definition
geregelt durch
Merke – Tipp
Unfall
Ein Unfall ist ein zeitlich begrenztes, von außen auf den Körper schädigend einwirkendes, unfreiwilliges Ereignis, das zu einem Gesundheits-schaden führt (gesetzliche Unfallversicherung = GUV). Ein Unfall liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet (private Unfallversicherung = PUV). Als Unfall gilt auch, wenn durch eine erhöhte Kraftanstrengung an Gliedmaßen oder Wirbelsäule ein Gelenk verrenkt wird oder Muskeln, Bänder oder Kapseln gezerrt oder zerrissen werden.
§ 8 Ab 1 SGB VII
Merkmal »von außen« einwirkend dient als Abgrenzung zur »inneren Ursache«.
§ 1 Abs. 3 der AllgemeinenUnfallversicherungsbedingungen(AUB), § 178 Abs. 2, S. 1 Versicherungsvertragsgesetz (VVG)
In der PUV gelten ähnliche, aber strengere Maßstäbe wie in der GUV.
Behinderung
Eine Behinderung besteht, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
§ 1 Abs. 1 SGB IX
Schwerbehinderung
Besteht bei Personen Personen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigsten 50. § 68- § 70 SGB IX Personen mit einem GdB< 50, aber mindestens 30, können auf Antrag von der Agentur für Arbeit § 2 Abs. 3 SGB IX schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.
Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV, § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes=BVG) hat zum 1. 1 2009 die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) abgelöst und definiert die Grundlagen zur Erstellung von Gutachten im sozialen Entschädigungs- und Schwerbehindertenrecht (»antizipierte Sachverständigengutachten«). Das bedeutet, dass die enthaltenen Vorgaben im Einzelfall nicht widerlegt werden können.
Merkzeichen G
bedeutet eine erhebliche Beeinträchtigung im Straßenverkehr. Gilt für Personen, die Infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken zurückzulegen können, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden (innerorts 2km, halbe Stunde).
Bei Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und § 3 Schwerbehinderten- der Wirbelsäule mit einem GdB von allein mindestens 50, welche eine Auswirkungen auf das Gehvermögen, ausweisverordnung wird immer das Merkzeichen G zuerkannt. (SchwbAwVO) § 146 Abs. 1 SGB IX
Merkzeichen aG
steht für eine außergewöhnliche Gehbehinderung. Darunter fallen solche Schwerbehinderte, die sich § 3 SchwbAwVO wegen der Schwere ihres Leidens dauern nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Es muss also eine sehr schwere Einschränkung des Gehvermögens vorliegen (zumutbare Gehstrecke zwischen 50 und 100 Metern).
Bei Querschnittlähmungen, bei Doppelober- und Doppelunterschenkelamputierten, bei Amputation des Oberschenkels ab dem Hüftgelenk und bei Oberschenkelamputation mit zusätzlichen Störungen des Gehvermögens. Sonstige Erkrankungen führen nur dann zur Anerkennung des Merkzeichens aG, wenn sie in ihren Auswirkungen mit den gerade genannten vergleichbar sind.
Arbeitsunfähigkeit (AU)
Arbeitsunfähig im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist, wer infolge einer Erkrankung nicht oder nur mit der Gefahr, seinen Zustand zu verschlimmern, seine bisherige Erwerbstätigkeit weiter verrichten kann. AU im Sinne der privaten Krankenversicherung (PKV) liegt vor, wenn der Versicherte seine berufliche Tätigkeit nach objektiv-medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise ausüben kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderen Erwerbstätigkeit nachgeht.
Nicht im Gesetz definierter, aber von der Rechtsprechung schon des Reichsver-sicherungsamts (RVA) und v.a. des Bundessozialgerichts (BSG) herausgearbeiteter Begriff.
AU ist ein Rechtsbegriff. Die Voraussetzungen dafür sind anhand der ärztlichen Feststellung letztlich von den Krankenkassen und im Streitfall von den Gerichten festzustellen.
Dienstunfähigkeit (DU)
Ein Beamter auf Lebenszeit ist in den Ruhestand zu versetzen, wenn er infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zur Erfüllung seiner Dienstpflicht dauernd unfähig (dienstunfähig) ist.
§ 42 Bundesbeamtengesetz
Die der AU entsprechende vorübergehende DU infolge Krankheit ist im Beamtenrecht nicht ausdrücklich geregelt. Hier sind die Grundsätze über die AU weitgehend entsprechend anzuwenden.
Erwerbsunfähigkeit (EU)
Erwerbsunfähig ist ein Versicherter, der infolge Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder ein Arbeitsentgelt oder –einkommen zu erzielen, das monatlich 325 € übersteigt. EU besteht auch, wenn infolge Krankheit oder Behinderung der Arbeitsmarkt trotz Resterwerbsfähigkeit (z.B. 4-6 Std. tgl.) praktisch verschlossen ist. EU gilt auch für Versicherte, die nicht mehr über ausreichende Wegefähigkeit von >500m zwischen Wohnung und Arbeitsplatz verfügen.
§ 44 SGB VI
Eine anerkannte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) der GUV oder Schwerbehinderung (GdB 50) ist für die Beurteilung der Frage der EU irrelevant. Daher Vermeidung der Bezugnahme auf MdE oder GdB.
36
1043 36.1 · Allgemeines
»Wichtige Rechtsbegriffe« Begriff
Definition
geregelt durch
Merke – Tipp
Berufsunfähigkeit (BU)
Gesetzliche Rentenversicherung: Berufsunfähig sind Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als 6 Stunden gesunken ist.
§ 240 SGB VI (gilt seit 1.1.2001 für Versicherte geboren nach dem 2.1.1961)
Irrtum: BU liegt nicht schon vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit oder Behinderung seine letzte konkrete berufliche Tätigkeit nicht mehr ausüben kann. Maßgebend ist der bisherige Beruf insgesamt mit all seinen Betätigungs-möglichkeiten auch auf anderen Arbeitsplätzen. BU ist v.a. eine Rechtsfrage!Daher im Gutachten vermeiden, aus der Beurteilung des verbleibenden Leistungsvermögens Schlussfolgerungen auf Vorliegen einer BU zu ziehen. Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei BU, wenn Erwerbsfähigkeit auf weniger als 6 Stunden gesunken ist.
Private Berufsunfähigkeitsversicherung: Vollständige BU besteht, wenn der Versicherte infolge Krankheit Körperverletzung oder Kräfteverfalls voraussichtlich dauernd außerstande ist, seinen Beruf oder seine Tätigkeit auszuüben, die er aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausüben kann (abstrakte Verweisbarkeit in älteren Verträgen) und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.
Versicherungsbedingungen
Private BU kann als Zusatzversicherung (Berufsunfähigkeitszusatzversicherung = BUZ) zu einer Renten- oder Lebensversicherung oder als selbständige Berufsunfähigkeitsversicherung (SBU) abgeschlossen werden.
Allgemeine Versicherungs-bedingungen (AVB)
Versicherungen berechnen nach quantitativerund qualitativer Prüfung des Restleistungsvermögens den Grad der Berufsunfähigkeit.
VVG
Private Berufsunfähigkeitsversicherung erbringt Ihre Leistungen erst ab 50% BU - jedoch dann die volle vereinbarte Berufsunfähigkeitsrente. Um eine Leistung von einer privaten BU-Versicherung beziehen zu können, muss der Arzt den Versicherungsnehmer, für einen bestimmten Zeitraum (i.d.R. 6 Monate) berufsunfähig schreiben.
Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)
Die MdE bestimmt sich aus der sich ergebenden, verminderten Arbeitsmöglichkeit auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.
§ 56 II SGB VII
Begriff der MdE nur noch in der GUV verwendet. Im SozEntschR seit dem 21. Dezember 2007 durch den Begriff GdS abgelöst.
Grad der Schädigungsfolge (GdS)
Der GdS ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Vorübergehende Gesundheits-störungen sind nicht zu berücksichtigen.
Soziales Entschädigungsrecht (SozEntschR)
dS-Sätze des SozEntschR sind teilweise höher als die in der GUV gebräuchlichen MdE-Werte.
§ 39 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG)
Der Grad der Schädigungsfolgen ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer Grad der Schädigungs-folgen wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst. Definitive Feststellung von MdE und GdS in ihrer für Rentenleistung maßgeblichen Höhe Aufgabe des Sozialleistungsträgers bzw. der Sozialgerichte.
Grad der Behinderung (GdB)
Der GdB ist ein Begriff aus dem deutschen Schwer- §2 Abs. 2 SGB IX behindertenrecht. Es handelt sichdabei um eine Maßeinheit für den Grad der Beeinträchtigung durch eine Behinderung. Eine Behinderung liegt bei einem GdB von mindestens 20 vor.
Invalidität
Private Unfallversicherung: Dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit als Unfallfolge.
Die Einstufung des GdB wird nach den Regeln der VersMedV mit den Versorgungsmedizinischen-Grundsätzen vorgenommen. Der Gesamt-GdB ist nach Auswirkungen und Funktionsbeeinträchti-gungen der einzelnen Behinderungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Kein einfaches Zusammenrechnen durch Addition!
§ 7.1.2 a AUB
Für den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit bestimmter Gliedmaßen und Sinnesorgane gelten feste Invaliditätsgrade. Bei mehreren Funktionsstörungen durch einen Unfall Addition der Invaliditätsgrade (max. 100%).
§ 8 AUB
Bei Mitwirkung vorbestehender Krankheiten oder Gebrechen wird die Leistung (im Gegensatz zur GUV) entsprechend gekürzt, falls dieser Anteil mindestens 25% beträgt.
36
36
1044
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
36.2
Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung
Die gesetzliche Unfallversicherung wurde mit dem Unfallversicherungsgesetz von 1884 eingerichtet. Sie ist zurückzuführen auf das Wirken des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Versichert waren im Rahmen dieser Pflichtversicherung zunächst nur betriebliche Risiken. Der Schutzbereich wurde im Zeitverlauf durch die Einbeziehung der Wegeunfälle sowie durch die Einbeziehung von Kindern, Schülern und Studenten deutlich erweitert. Zusammen mit dem Krankenversicherungsgesetz von 1883 und dem Invalidenversicherungsgesetz von 1889 bildete es einen der drei klassischen Zweige der Sozialversicherung. Sie wurde 1911 reformiert und in einem Gesetz zusammengefasst, der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die RVO ist inzwischen weitgehend abgelöst durch das Sozialgesetzbuch. So sind die gesetzlichen Grundlagen für die Unfallversicherungsträger seit 1997 im Siebten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB VII) geregelt. Die unter staatlicher Aufsicht stehenden Berufsgenossenschaften und die öffentlichenUnfallversicherungsträger sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und sind selbst verwaltet. Sie hatten sich bis Juni 2007 in drei getrennten Dachverbänden, dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG), dem Bundesverband der Unfallkassen (BUK) und dem Bundesverband der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften (BLB) zusammengeschlossen. Zum 1. Juni 2007 fusionierten der HVBG und der BUK zum gemeinsamen Spitzenverband Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV). Die gesetzliche Unfallversicherung wird durch Beiträge der Mitgliedsunternehmen in einem nachträglichen Umlageverfahren finanziert. Die Höhe des Beitrags richtet sich im Bereich der gewerblichen Unfallversicherung und bei den versicherten Unternehmen (z. B. Verkehrsbetriebe) der öffentlichen Unfallversicherer nach der Arbeitsentgeltsumme sowie nach der Gefahrklasse, zu der der Unternehmer veranlagt worden ist. Die Gefahrklasse wird in jeder gewerblichen Berufsgenossenschaft von der Vertreterversammlung in deren Gefahrtarif festgesetzt (§§ 157 SGB VII). Die Beiträge werden allein von den Unternehmern (Arbeitgebern) erbracht (§ 150 Absatz 1 SGB VII). Die Unfallversicherung der öffentlichen Hand wird im Bereich der Kindergartenkinder, Schüler und Studenten aus Steuermitteln finanziert. Nahezu in jedem Jahr erleiden rund 3 Millionen Versicherte Arbeits- und Wegeunfälle, zusätzlich werden den gewerblichen Berufsgenossenschaften etwa 80.000 Anzeigen wegen des Verdachts einer Berufskrankheit gemeldet. Versichert sind unter anderem: ▬ Beschäftigte und Auszubildende, Behinderte in anerkannten Werkstätten ▬ Unternehmerinnen/Unternehmer eines landwirtschaftlichen Unternehmens und ihre mitarbeitenden Ehegatten ▬ Kinder während des Besuchs von Tageseinrichtungen ▬ Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen ▬ Studierende während der Aus- und Fortbildung an Hochschulen
▬ Personen, die für Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts oder deren Verbände ehrenamtlich tätig sind ▬ Personen, die bei Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr oder bei Not Hilfe leisten oder körpereigene Organe, Organteile, Gewebe oder Blut spenden Die Aufgaben der gesetzlichen Unfallversicherung sind u. a.: ▬ Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren und Maßnahmen für eine wirksame Erste Hilfe (§ 14 Abs. 1 SGB VII) ▬ Leistungen der Heilbehandlung, einschließlich der medizinischen Rehabilitation, berufsfördernde, soziale und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben, Geld- und Sachleistungen bei Pflegebedürftigkeit (§§ 26–44 SGB VII) ▬ Verletztengeld (§§ 45–48 SGB VII) ▬ Übergangsgeld im Rahmen berufsfördernder Leistungen (§§ 49–50 SGB VII) ▬ Rentenleistungen, wenn die Erwerbsfähigkeit infolge eines Arbeitsunfalls um wenigstens 20% gemindert ist (§§ 56–62 SGB VII) ▬ Leistungen an Hinterbliebene im Todesfall in Form von Sterbegeld, Überführungskosten, Hinterbliebenenrenten sowie Beihilfen (§§ 63–71 SGB VII) ▬ Aufklärung, Beratung und Auskunft gegenüber Versicherten (§§ 13–15 SGB I)
36.2.1
Leistungen der DGUV
Leistungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) an Versicherte sind im Wesentlichen medizinische und berufsfördernde Leistungen zur Rehabilitation sowie Lohnersatz- bzw. Entschädigungsleistungen als Geldleistung (Verletztengeld, Verletztenrente, Hinterbliebenenrente). Die medizinische Behandlung wird als Sachleistung gewährt. Bei Verbleib einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigender Höhe (ab 20 %) über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus auch durch eine Rente und andere Geldleistungen an den Versicherten. Hat ein Versicherter allerdings bereits einen Arbeitsunfall mit einer MdE in Höhe von 10% – egal bei welchem Träger der gesetzlichen Unfallversicherung – und es tritt ein neuer Versicherungsfall hinzu, kann der sog. Stütztatbestand wirksam werden. Wenn z. B. 2 unabhängige Versicherungsfälle mit jeweils einer MdE von 10% vorliegen, so werden beide Renten nach der MdE 10% ausgezahlt. Entfällt aber ein Versicherungsfall durch Besserung, endet auch der andere. Eine Ausnahme gilt bei Versicherungsfällen ab dem 01.01.2008 bei landwirtschaftlichen Unternehmern, deren Ehegatten und Familienangehörigen. Hier ist eine MdE von wenigstens 30% Voraussetzung für einen Rentenanspruch. Die MdE ist keine »Gliedertaxe« wie in der privaten Unfallversicherung. Bei einer privaten Unfallversicherung wird ein Vertrag über bestimmte Leistungen bei bestimmten Körperschäden ungeachtet des Alters, des Berufs und der Größe der tatsächlichen Funktionseinbuße abgeschlossen. Bei der
1045 36.2 · Begutachtung in der gesetzlichen Unfallversicherung
Feststellung der MdE hingegen, genießt die Funktionseinbuße Priorität. Daher kann sich aus der gleichen Verletzung bei zwei verschiedenen Versicherungsträgern eine unterschiedliche Minderung der Erwerbsfähigkeit ergeben.
36.2.2
Eintritt des Versicherungsfalls
Wie zuvor ausgeführt zählen zu den versicherten Risiken der Arbeitsunfall einschließlich Wegeunfall sowie Berufskrankheiten. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle eines Versicherten in Folge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 (Versicherung kraft Gesetzes, Versicherung kraft Satzung, freiwillige Versicherung) begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit), wobei der Gesundheitsschaden rechtlich wesentlich auf den Unfall zurückgeführt werden muss. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zum Körperschaden oder Tod führen.
36.2.3
Verfahren
Der eingetretene Arbeitsunfall sollte vom Versicherungsnehmer und vom behandelnden Arzt der Versicherungsgesellschaft angezeigt werden. Für den Fall, dass keine Vorstellung beim Durchgangsarzt oder beim Beratungsfacharzt, Augen-, HNOoder Haut-Arzt erfolgt, muss der betreuende Hausarzt bis spätestens am Tag nach Inanspruchnahme einen Bericht auf dem Arztvordruck 13 erstatten. Die vorab genannten Ärzte sind berechtigt, auf den speziellen Vordrucken das Unfallgeschehen und die eingetretenen Schäden zu dokumentieren und diese an den Unfallversicherungsträger weiterzuleiten. In Fällen von schweren Verletzungen wird das Verfahren einer besonderen Heilbehandlung eingeleitet, für die alleinig der Durchgangsarzt verantwortlich ist. Richtungsweisend hierfür ist das von den Berufsgenossenschaften herausgegebene Verletzungsartenverzeichnis, in dem die sog. §6-Fälle aufgelistet sind.
36.2.4
Kausalität
Die gesetzliche Unfallversicherung ist als Teil des Sozialrechts dessen Kausalitätsanforderungen und Beweisanforderung unterworfen. Ausgangspunkt der Kausalitätstheorie ist die Bedingungstheorie. Diese impliziert, dass eine Bedingung vorgelegen haben muss, ohne die ein bestimmter Erfolg entfiele (Conditio sine qua non). > Hinsichtlich der Beweisanforderungen genügt sowohl für die haftungsbegründende als auch für die haftungsausfüllende Kausalität die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs (BSGE 58, 80, 82).
Der Gutachter muss berücksichtigen, dass von gleichwertigen Ursachen nur diejenigen eine rechtliche Bedeutung besitzen, denen nach der Anschauung des praktischen Lebens die wesentliche Bedeutung für den Eintritt des Gesundheitsschadens
zukommt. Wesentlich sind grundsätzlich alle unphysiologischen Belastungen, für die die betroffene Struktur nicht gebaut ist. Maßgeblich für die Abgrenzung von physiologischen und unphysiologischen Belastungen ist nicht die Schwere der Beanspruchung sondern deren Art. Von zentraler Bedeutung ist die Frage, ob die zu einem Unfall oder einer Berufskrankheit führende Tätigkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis stand. Bei der Ursachenbewertung ist daher zu klären, ob ein medizinisch-naturwissenschaftlicher Ursachenzusammenhang zwischen der zur Diskussion stehenden versicherten Tätigkeit und einem Gesundheitsschaden besteht. Die versicherte Tätigkeit muss also Grund dazu gewesen sein, dass der Schaden eingetreten ist. Dann spricht man von haftungsbegründender Kausalität. Im nächsten Schritt muss dann hinterfragt werden, ob die versicherte Tätigkeit eine wesentliche Ursache für den Gesundheitsschaden war. Ist die versicherte Tätigkeit die wesentliche Bedingung für den Gesundheitsschaden, werden alle Folgen der versicherten Tätigkeit der Entschädigung zugrundegelegt, ohne zu differenzieren ob auch andere Ursachen mitursächlich waren. > Nur wenn die berufliche Tätigkeit eine wesentliche Ursache für den eingetretenen Schaden darstellt, besteht die Leistungspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung. Konkurrierende Risiken müssen also abgegrenzt werden.
Es schließt sich dann die Beurteilung mitwirkender schädigungsunabhängiger Ursachen an. Es muss hinterfragt werden, ob andere, von der versicherten Tätigkeit unabhängige Ursachen medizinisch-naturwissenschaftlich mit dem eingetretenen Gesundheitsschaden in Zusammenhang stehen und ob diese wesentlich für den Eintritt des Gesundheitsschadens sind. Liegen konkurrierende Ursachen vor, ist es Aufgabe des Gutachters, die Verhältnisse der Ursachen aus dem versicherten Bereich von den mitwirkenden Ursachen abzugrenzen und zu klären, ob die versicherte Tätigkeit unter Würdigung der konkurrierenden Ursachen eine wesentliche Teilursache darstellt. Der eingetretene Schaden an sich muss natürlich beurteilt werden, er muss also festgestellt werden, ob die Beeinträchtigung vorliegt. Der somit vorliegende Schaden wird als haftungsausfüllende Kausalität bezeichnet. Auch wenn schon vorbestehend Erkrankungen vorliegen, kann durch ein Unfallereignis eine Verschlimmerung eintreten. Hierbei ist wiederum entscheidend, ob zum einen die berufliche Tätigkeit geeignet war, die Verschlimmerung im Sinne einer haftungsbegründenden Kausalität herbeizuführen, zum anderen, dass die Verschlimmerung an sich tatsächlich in einem bestimmten Ausmaß durch die geeignete Schädigung eingetreten ist, also wiederum analog der haftungsausfüllenden Kausalität. Ist beides gegeben, so spricht man von einer richtungsgebenden Verschlechterung, die über die Unfallversicherung abgedeckt ist.
Haftungsausfüllende Kausalität Unter der haftungsausfüllenden Kausalität versteht man den ursächlichen Zusammenhang zwischen der zum Unfallzeitpunkt ausgeübten Tätigkeit und dem Unfallereignis. In der Be-
36
1046
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
gutachtung konkurrieren häufig die versicherte Tätigkeit und nicht versicherte körpereigene Ursachen. Es gilt daher abzuklären, ob im individuellen Fall eine innere Ursache festzustellen ist, die ebenso wie die arbeitsbedingte Ursache mit Gewissheit bewiesen werden muss. Kann eine innere Ursache festgestellt werden, muss diese wertend der versicherten/betrieblichen Ursache gegenübergestellt werden. Der haftungsbegründende Zusammenhang ist gegeben, wenn die arbeitsbedingte Ursache rechtlich wesentlich ist.
von der schädigenden Wirkung bleibt. Der Gutachter muss berücksichtigen, dass die zuletzt genannten Begriffe im Bereich der Unfallversicherung unter Zugrundelegung der aktuellen Gesetzgebung nicht mehr angewendet werden dürfen, da die Verschlimmerung aus ihrem Rechtsbegriff nur den zum Zeitpunkt der Feststellung vorhandenen Zustand, aber nicht die spätere Entwicklung umfassen soll.
36.2.6
Beweisanforderungen
Haftungsbegründende Kausalität Wird die Frage nach dem Vorhandensein eines Unfallereignisses positiv beantwortet, muss bei der Überprüfung des haftungsbegründenden Kausalzusammenhangs der Schaden in Beziehung zum Unfallereignis betrachtet werden. Dies impliziert, dass sämtliche Bedingungen, die krank machend gewirkt haben, in ihrer Wertigkeit dahingehend zu überprüfen sind, ob der Gesundheitsschaden wesentlich auf das Unfallereignis oder auf unversicherte Ursachen zurückzuführen ist. Die Kausalität ist für den gesamten bestehenden Schaden einheitlich zu beurteilen, was impliziert, dass der Schaden entweder durch ein versichertes Ereignis wesentlich im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung verursacht sein kann oder nicht. Eine teilbare Kausalität ist der Unfallversicherung fremd. Ferner gilt zu berücksichtigen, dass die konkurrierenden arbeitsbedingten und arbeitsfremden Ursachen bewiesen sein müssen. Nur im Hinblick auf ihre jeweilige Beziehung zum Erfolg reicht die Wahrscheinlichkeit aus. Bei der Überprüfung der Kausalität einer Krankheitsanlage müssen Art, Umfang, Ausmaß und Schweregrad der konkurrierenden Krankheitsanlagen dokumentiert werden. Bei der Beurteilung der »Wesentlichkeit« kann nicht danach beurteil werden, ob die Krankheitsanlage »erfahrungsgemäß« bei anderen Personen den gleichen Ergebnis herbeigeführt hätte, vielmehr kommt es auf die besonderen Gegebenheiten im Einzelfall und die individuellen Belastungen und Belastbarkeit des Betroffenen an.
36.2.5
Verschlimmerung
36 Eine Verschlimmerung kann rechtlich nur vorliegen, wenn die zu beurteilende Gesundheitsstörung vor Eintritt des Versicherungsfalles bereits vorlag, d. h. diese als klinisch manifester mit objektivierbaren Veränderungen verbundener Krankheitszustand nachweisbar war. In diesem Fall kann das Gesamtleiden rechtlich in beruflich bedingte und davon unabhängige, durch die Anlage bedingte Teile differenziert werden. Bei einer vorübergehenden Verschlimmerung klingt nach Ablauf einer bestimmten Zeit, die auf den Einzelfall abzustimmen ist, die Krankheit so weit ab, dass der Zustand vorliegt, welcher der schicksalhaften Weiterentwicklung des Leidens entspricht. Eine richtungsgebende Verschlimmerung liegt vor, wenn der Ablauf eines Leidens offensichtlich nachhaltig beschleunigt und gefördert wurde und einen anderen bzw. schwereren Verlauf nimmt. Die dauernde Verschlimmerung impliziert, dass die vorliegende Krankheit auf Dauer in ein schwereres Stadium angehoben wird, während der weitere Verlauf unbeeinflusst
Das Ergebnis eines Gutachtens steht und fällt nicht selten mit den Anforderungen an den Beweis der beurteilungsrelevanten Tatsachen und des Ursachenzusammenhangs. > Alle Tatsachen (Fakten) erfordern den Vollbeweis. Für alle Zusammenhangsfragen ist dagegen die hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreichend.
Offene Fragen gehen im Rahmen der Zusammenhangsbegutachtung in der Regel zu Lasten des Versicherten.
36.2.7
Berücksichtigung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse
Entsprechend der neuen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteile vom 09.05.2006 . B 2 U 1/05 R- B 2 U 26/04) ist vom Gutachter im Rahmen der Kausalitätsbeurteilung darzulegen, welche aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen. Dies impliziert, dass der aktuelle Konsens der Expertenmeinungen und nicht die Auffassung des Gutachters maßgeblich für die Kausalitätsbeurteilung sind.
36.2.8
Zeitgerechte Erstellung
Nach dem Vertrag Ärzte/UVT ist ein Gutachten innerhalb von drei Wochen zu erstatten. Diese kurz erscheinende Frist findet seine Ursprünge im Beschleunigungsgebot (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I), in der Erfordernis formal rechtlicher Vorschriften und in Wirtschaftlichkeitserwägungen. Gerade vor dem Hintergrund, dass es sich bei dieser Begutachtungsform in der Regel um Unfallfolgen handelt, die regelmäßigen Veränderungen, insbesondere einer Verbesserung, unterliegen, ist eine vertragsgemäße Auftragserledigung unumgänglich.
36.2.9
Ablauf der Begutachtung
Die Art der Rentengutachten richtet sich nach den gesetzlichen Vorgaben (§ 62 SGB VII). Es werden die folgenden Gutachten unterschieden: Erstes Rentengutachten
Sowohl das erste Rentengutachten als auch das Gutachten zur Rentennachprüfung dienen während der ersten drei Jahre nach einem Unfall zur Festlegung der vorläufigen Entschädigung.
1047 36.3 · Begutachtung in der privaten Unfallversicherung
Ein Gutachten zur Rentennachprüfung kann jederzeit auch in kurzen Abständen eingeholt werden. Rente auf unbestimmte Zeit
meist auch zusätzliche Leistungen wie Krankenhaustage- oder Genesungsgeld. Im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung sind neben den Arbeitsunfällen auch private Unfälle versichert.
Spätestens nach drei Jahren wird die vorläufige Entschädigung entsprechend einer Rente auf unbestimmte Zeit festgestellt (§ 62 Abs. 2 S. 1 SGB VII). Wird anhand dieses Gutachtens vom Auftraggeber die Rente festgesetzt, können Änderungen zu Ungunsten des Versicherten nur noch im Jahresabstand erfolgen.
> Gemäß der Versicherungsbedingungen muss der Versicherungsnehmer einen Unfall unverzüglich der zuständigen Versicherungsgesellschaft melden und spätestens am vierten Tag nach dem Unfall einen Arzt konsultieren.
MdE
Der Versicherte ist verpflichtet, durch entsprechende Mitwirkung an der Therapie der Unfallfolgen dafür Sorge zu tragen, dass diese gemindert werden. Ferner ist er verpflichtet, der Versicherung sachdienliche Auskünfte zu erteilen und den behandelnden Arzt von seiner Schweigepflicht zu entbinden. Von einem etwaigen Todesfall müssen die Angehörigen den Versicherungsträger innerhalb von 48 Stunden informieren. Andererseits ist die Versicherungsgesellschaft verpflichtet, in einer Frist von drei Monaten mitzuteilen, ob sie Leistungen zugesteht bzw. ob eine entstandene Invalidität anerkannt wird.
Der Einstufung der aus dem Unfall resultierenden MdE (§ 56 SGB VII) vollzieht sich in 2 Schritten. Hierzu zählt neben der Feststellung des konkreten Gesundheitsschadens die abstrakte Einschätzung der individuellen MdE bezogen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang gilt es darauf hinzuweisen, dass der Funktionsverlust das entscheidende Kriterium zur Einstufung darstellt. Hierzu zählen die Funktionen, die der Versicherte nicht mehr ausüben kann, die er beschwerdebedingt nicht mehr ausübt und die ihm aus präventiven Gründen zum Untersuchungszeitpunkt verschlossen sind. Orientierungspunkte geben dem Gutachter die sog. MdE-Tabellen, die mitunter auf jahrzehntelangen Erfahrungen beruhen und einen Konsens repräsentieren (Rompeet al. 2009).
36.3
Begutachtung in der privaten Unfallversicherung
36.3.1
Geschichtliche Entwicklung
Die Ursprünge der privaten Unfallversicherung sind deutlich älter als die der gesetzlichen Unfallversicherung. Es finden sich die ersten Ansätze einer modernen Unfallversicherung im Seerecht (1541 »Seerecht von Wisby«) und im weiteren Verlauf Anfang des 18. Jahrhunderts in den »Arm- und Beinbruchgilden«. Maßgebliche gesetzliche Grundlagen sind das Versicherungsvertragsgesetz (VVG) und die Zivilprozessordnung (ZPO). Die vertraglichen Grundlagen sind die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB). Hierbei handelt sich um drei Musterbedingungen (AUB 61, AUB 88 bzw. 94 und AUB 99), die je nach Versicherung vertragliche Variationen beinhalten können. Wichtig ist für den Gutachter, dass sich bezüglich der AUB 61 deutliche Unterschiede in Bezug auf die Deckungserweiterung »Kraftanstrengung« bzw. »erhöhte Kraftanstrengung« und in Bezug auf die Vergleiche zu den AUB 88, 94 und 99 ergeben, die in den maßgeblichen Bedingungen weitgehend übereinstimmen.
36.3.2
Verfahren
Prinzipiell kann eine Versicherung für Unfall, Krankheit, Alter und Tod privat abgeschlossen werden. Die private Unfallversicherung sieht eine finanzielle Entschädigung für den Verlust oder die Minderung der Arbeitsfähigkeit vor und beinhaltet
36.3.3
Begriffsdefinition »Unfall«
> Ein Unfall gemäß den allgemeinen Versicherungsbedingungen liegt vor, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf seinen Körper einwirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet (§ 1 Abs. 3 der »Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen«).
Der Begriff »plötzlich« hat hierbei im Gegensatz zur gesetzlichen Unfallversicherung, die auch eine längere äußere Einwirkung bis zu einer Arbeitsschicht akzeptiert, seine ursprüngliche Bedeutung. Ferner gilt der Unfallbegriff nur dann erfüllt, wenn der Unfall zu einer Gesundheitsschädigung geführt hat. Das Erstschadensbild ist als Vollbeweis zu erbringen (§264 ZPO).
36.3.4
Vorschaden
Gemäß § 10 Nr. 4 der AUB heißt es zum Begriff Vorschaden: Wenn vor Eintritt des Unfalls der Versicherte schon durch Krankheit oder Gebrechen in seiner Arbeitsfähigkeit dauernd behindert war oder Körperteile oder Sinnesorgane ganz oder teilweise verloren oder gebrauchsunfähig gewesen sind, so wird von der nach dem Unfall vorhandenen Gesamtinvalidität ein Abzug gemacht, welcher der schon vorher vorhanden gewesenen Invalidität entspricht. Die private Unfallversicherung tritt folglich nur für den unfallbedingten Anteil des Gesundheitsschadens ein. Die Leistungspflicht des Versicherers mindert sich demnach, wenn sich derartige Vorschäden neben dem Unfall auswirken, es sei denn, dieser Anteil beträgt weniger als 25%. Bei höheren Graden ab 25% wird der Vorschaden zum Berechnungselement für den durch die Unfallfolgen verursachten Invaliditätsgrad.
36
1048
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
> Die Aufgabe des Gutachters besteht darin, die geminderte Organintegrität festzustellen und dann im folgenden Schritt den prozentualen Ursachenanteil abzuschätzen.
In diese Überlegungen muss mit einbezogen werden, dass die unfallfremde Mitwirkung nur auf krankheitswerte Veränderungen der Organintegrität zu beziehen ist, nicht hingegen auf Veränderungen, die innerhalb der gleichaltrigen Population als alterskorrigierte Norm anzutreffen sind.
Im Rahmen des Vertrags wird in der Regel im Leistungsfall eine festgelegte monatlich oder im Quartal zu beziehende Zahlung, unabhängig vom Einkommen des Versicherten, vereinbart. Der Leistungsfall tritt in den meisten Verträgen dann ein, wenn der Versicherte zu mindestens 50% berufsunfähig geworden ist. Mitunter findet sich in älteren Vertragswerken die Regelung, dass erst ab 75% eine Berufsunfähigkeit anzunehmen ist, wobei aber ab einem Grad von 25% anteilige Zahlungen vorgesehen sind.
36.4.2 36.3.5
Anders als in der gesetzlichen Unfallversicherung, bei der es neben finanziellen Leistungen auch den abstrakten Schadenersatz und Sachleistungen gibt ( Abschn. 36.2), kennt die private Unfallversicherung nur Geldleistungen, die anhand der Invaliditätsgrade festgelegt werden.
36.3.6
Ausschlussklauseln
Nicht unter Versicherungsschutz gemäß Ziffer 5.1.1. AUB 99 stehen Unfälle, die durch Geistesstörungen oder Bewusstseinsstörungen hervorgerufen werden wie bei Trunkenheit, Schlaganfall, epileptischem Anfall und Krampfanfällen. Weiterhin sind Unfälle als Folge von Straftatenund einer kriegerischen Auseinandersetzung ausgeschlossen. Ferner sind Schäden infolge von Heilmaßnahmen und auch Infektionen infolge von geringfügigen Hautverletzungen und Schleimhautverletzungen ausgeschlossen.
36
Leistungseintritt
Leistungen
36.4
Begutachtung in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung
36.4.1
Geschichtliche Entwicklung
Die private Absicherung gegen Berufsunfähigkeit zählt zu den wichtigsten Elementen der persönlichen Absicherung, da am 01.01.2001 das bisherige System der Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente durch ein neues System der sog. Erwerbsminderungsrenten abgelöst wurde. Für alle nach dem 01.01.1961 Geborenen entfällt dadurch die berufsbezogene Betrachtung bei der Prüfung einer Erwerbsminderung völlig. Es werden Policen als eigenständige Versicherung oder in Kombination mit einer Lebensversicherung angeboten, die überwiegend den konkreten Beruf und nicht die allgemeine Erwerbsminderung absichern. Nachdem diese Versicherungsform erstmalig Ende des 19. Jahrhunderts als Invaliditätsversicherung angeboten wurde, erfolgte im Jahr 1964 die Publikation der ersten Musterbedingungen. Versicherungen, die in der Regel mit einer Lebensversicherung verbunden sind, wurden mit dem Begriff der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung (BUZ) verbunden (Ostendorf 2003).
Nach § 2 Abs. 1 BB-BUZ liegt eine Berufsunfähigkeit vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich dauernd außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht. Dies darf nicht verwechselt werden mit dem inhaltsdifferenten Begriff der Berufsunfähigkeit im Sozialversicherungsrecht. Daher können auch Einstufungen aus sozialgerichtlichen Verfahren nicht unbesehen auf einen Fall übertragen werden, in dem es um die private Berufsunfähigkeit geht.
36.4.3
Begriffsdefinition »Beruf«
Beim Eintreten des Versicherungsfalls ist vom Gutachter festzustellen, ob der Versicherte zu mindestens 50% nicht in der Lage ist, »seinen Beruf« auszuüben. Mit diesem Begriff ist die letzte konkrete Berufsausübung des zu Begutachtenden gemeint bevor es zur Leistungsminderung kam. In den Fällen, in denen versucht wurde, durch einen Berufswechsel bzw. einen Wechsel der Teiltätigkeiten eine Berufsunfähigkeit zu umgehen, ist auf die zuvor ausgeübte Tätigkeit abzustellen, solange die aktuelle Tätigkeit nicht länger als 5 Jahre durchgeführt wurde. Daher gilt es zunächst zu erfassen, welches Berufsprofil zur Bewertung herangezogen werden muss. Hierbei ist es nicht ausreichend, als Entscheidungsgrundlage ein abstraktes Tätigkeitsprofil heranzuziehen. Vielmehr müssen die individuellen Gegebenheiten berücksichtigt werden. Sinnvoll ist es in diesem Zusammenhang, von dem zu Begutachtenden im Vorfeld der Untersuchung eine Aufstellung der einzelnen Teiltätigkeiten anzufordern, um einen Anhalt über die Teiltätigkeiten im Lauf einer typischen Arbeitswoche oder eines Monats zu erhalten. Anhand dieser Aufstellungen und der Hinzuziehung von Zeugen kann sich das Gericht eine Meinung über das ausgeübte Teiltätigkeitsprofil bilden und in Zweifelsfällen ein berufskundliches Zusatzgutachten veranlassen. > Dieses konkrete Berufsbild ist dem Gutachter laut Bundesgerichtshof mitzuteilen. Das ist insofern von immanenter Bedeutung, als dass Feststellungenzum ausgeübten Beruf, die der Gutachter in Ermangelung dieser Informationen getroffen hat, dazu führen können, dass das Gutachten im Rechtsstreit nicht verwertbar ist.
1049 36.5 · Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung
Gerade bei Selbstständigen oder Freiberuflern ist es durch das Gericht abzuklären, inwieweit eine Umorganisation des Arbeitsablaufs oder der Teiltätigkeiten möglich ist. Zu berücksichtigen ist ferner, dass laut BGH (VersR 1996, 959, 960) die Berufsunfähigkeit im versicherungsrechtlichen Sinn ein Tatbestand ist, der sich nicht allein aus gesundheitlichen Komponenten zusammensetzt. Es gilt zu klären, wie sich gesundheitliche Beeinträchtigungen in einer konkreten Berufsausübung auswirken.
36.4.4
Verweisungsberufe
Dem Versicherer steht nach § 2 Abs. 1 BB-BUZ die Möglichkeit offen, den Versicherten auf einen Beruf zu verweisen, der auf Basis seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und der seiner bisherigen Lebensstellung entspricht. Dies impliziert, dass diese Tätigkeiten nicht mit einem sozialen Abstieg oder deutlichen Einkommenseinbußen (über 20%) assoziiert sein dürfen. Diese Verweisungsklausel kann durch Zusatzvereinbarungen eingeschränkt oder erweitert werden. Bezüglich der vorgeschlagenen Verweisungsberufe ist vor der medizinischen Begutachtung vom Gericht zu klären, ob diese von Rechts wegen ausscheiden.
36.4.5
Nicht versicherte Risiken
Nicht unter den Versicherungsschutz fallen Gesundheitsstörungen, die durch kriegerische Handlungen oder durch Strahleneinwirkung hervorgerufen werden, ebenso Verletzungen durch die Teilnahme an Fahrveranstaltungen zur Erzielung einer Höchstgeschwindigkeit. Der Versicherungsschutz entfällt ferner bei der absichtlichen Herbeiführung einer Krankheit und bei Gesundheitsstörungen, die aus strafbaren Handlungen resultieren.
36.4.6
Die Begutachtung
Folglich gilt es im Rahmen der Begutachtung abzuklären, ob Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfall vorliegen, die dazu führen, dass der Versicherte seinem Beruf oder einer entsprechenden Verweisungstätigkeit nicht mehr nachgehen kann. Im Gegensatz zur privaten Unfallversicherung spielt die Ursache für eine Krankheit keine Rolle. Ferner gilt zu berücksichtigen, dass auch aus psychischen Erkrankungen eine Berufsunfähigkeit resultieren kann, da der Begriff des Kräfteverfalls ein Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit im Vergleich zum Alterskollektiv beschreibt. Weiterhin gilt es festzustellen, ob es sich bei den festgestellten Einschränkungen um solche handelt, die voraussichtlich dauernd vorliegen werden, oder ob es sich um reversible Erkrankungen handelt, die Aussicht auf eine Besserung des Leistungsvermögens bieten. In diesem Kontext gilt es, § 2 Abs. 3 BB-BUZ zu berücksichtigen und zu hinterfragen, ob der Versicherte 6 Monate lang aufgrund der Erkrankung außerstande
gewesen ist, seiner oder einer vergleichbaren Tätigkeit nachzugehen. Die beigebrachten Unterlagen müssen dahingehend überprüft werden, wann der Eintritt des Leistungsfalls zu terminieren ist. Dieser ist auf den Zeitpunkt festzulegen, an dem keine Besserung des Gesundheitszustands mehr zu erwarten war. Weiterhin muss der Gutachter abklären, ob und in welchem Umfang dem zu Begutachtenden Kompensationsmöglichkeiten zur Minderung der Leistungseinschränkung zur Verfügung stehen und ob diese dem zu Begutachtenden zumutbar sind. > Zur Reproduzierbarkeit der Untersuchung ist es unabdingbar, dass die Befunde durch die Verwendung von standardisierten Befundbögen dokumentiert werden. Die Diagnosen sollten präzise und unmissverständlich unter ergänzender Angabe des ICD-Codes angegeben werden.
Der Gutachter ist gehalten, die Beurteilung derart zu formulieren, dass medizinische Laien sie ausreichend gut verstehen können. Die genannten Diagnosen sollten mit Angabe des Schweregrads quantifiziert und deren Auswirkungen bei der Darstellung des positiven und negativen Leistungsbilds erläutert werden. Ferner muss dezidiert herausgearbeitet werden, welche Tätigkeiten nicht oder nur eingeschränkt durchführbar sind (qualitative Leistungsbegrenzung) und welche zeitliche Belastung für die einzelnen Tätigkeiten anzunehmen ist (quantitative Leistungsbegrenzung).
36.4.7
Grad der Berufsunfähigkeit
Die Feststellung des Grads der Berufsunfähigkeit kann anhand der detaillierten Berufsbeschreibung bzw. des Teiltätigkeitsprofils erfolgen. Der Gutachter muss feststellen, welches Leistungsvermögen in den einzelnen Teiltätigkeiten verbleibt. Bleibt eine Arbeitszeit von mehr als 50% übrig, so ist die Berufsunfähigkeit tendenziell zu verneinen. Diese Berechnung weist allerdings auch Schwächen auf, wenn z. B. dem zu Begutachtenden aufgrund der Leistungsminderung ein prägnantes Arbeitsfeld versagt bleibt (Mangen 2003, Schröter 2003).
36.5
Begutachtung in der gesetzlichen Rentenversicherung
36.5.1
Geschichtliche Entwicklung
Unter Reichskanzler Otto von Bismarck verabschiedete der Reichstag am 22. Juni 1889 das Gesetz über die Invaliditätsund Altersversicherung. Eine Rente wurde allerdings primär im Fall einer Arbeitsinvalidität ausgezahlt. Eine Altersrente wurde als »Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt« erst ab Vollendung des 70. Lebensjahres gezahlt, was weit über der durchschnittlichen Lebenserwartung der Arbeiter zu dieser Zeit lag (durchschnittliche Lebenserwartung von Männern im Jahr 1910: 45 Jahre; von Frauen: 48 Jahre). Der Beitragssatz für
36
1050
36
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
diese Rente lag bei lediglich 1,7% und wurde je zur Hälfte von den Arbeitern und den Arbeitgebern getragen. Finanziert wurde dieses System v. a. aus diesen Beiträgen sowie einem Zuschuss des Reiches aus Steuermitteln. Dieser sog. Reichsbeitrag wurde als Zusicherung des Existenzminimums durch den Staat mittels der Sozialversicherung begründet und umfasste im Durchschnitt immerhin etwa ein Drittel, zeitweise bis zu 40% der Ausgaben. Das Leistungsniveau der Invalidenversicherung ist allerdings mit dem der heutigen gesetzlichen Rentenversicherung nicht annähernd vergleichbar. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen erfassten neben allen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch das Rentensystem. Dementsprechend wurde der Kriegsdienst auf die Rentenzeiten angerechnet. Zudem wurde das Renteneintrittsalter generell auf 65 Jahre abgesenkt, mit dem Ergebnis, dass sich der Bestand der Altersrenten zum Jahresende 1916 verdoppelte. Im Dritten Reich wurde die Sozialversicherung bereits im Mai 1933 politisch gleichgeschaltet und die Selbstverwaltungsorgane im Juli 1934 formal beseitigt. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches gelang es, die Funktion der Rentenversicherung trotz zahlreicher Leistungseinschränkungen aufrechtzuerhalten. In der sowjetischen Besatzungszone wurde ab 1947 unter Leitung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) eine Einheitsversicherung aufgebaut und das Gesundheitssystem verstaatlicht. In der Zeit vom Kriegsende bis zur Rentenreform 1957 hatte die gesetzliche Rentenversicherung in den alten Bundesländern aber noch nicht das Ziel der Lebensstandardsicherung im Alter oder bei Erwerbsunfähigkeit erreicht, sondern besaß eher Unterstützungscharakter. Die entscheidende Umstellung des bundesdeutschen Rentensystems wurde im Jahr 1957 unter Bundeskanzler Konrad Adenauer eingeleitet. Das bis dahin zugrundeliegende, aber in reiner Form nie tatsächlich praktizierte Kapitaldeckungsverfahren wurde schrittweise durch das umlagefinanzierte Modell ersetzt. Bei der Umlagefinanzierung, auch Abschnittsdeckungsverfahren genannt, werden die Aufwendungen der gesetzlichen Rentenversicherung nicht aus den Rücklagen der jeweiligen Rentner, sondern aus den laufenden Beitragseinnahmen bestritten. Seitdem muss die jeweils aktiv im Erwerbsleben stehende Generation für die Renten ihrer Elterngeneration aufkommen.
36.5.2
Formale Grundlagen
Übergeordnetes Organ der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Deutsche Rentenversicherung Bund. Diese setzt sich aus den 14 Landesversicherungsanstalten, der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, der Bundesknappschaft, der Bahnversicherung und der Seekasse zusammen. Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung ist es, das Risiko des Lebensunterhalts im Alter und das Risiko der Erwerbsminderung vor Erreichen der festgelegten Altersgrenze abzudecken. Hierunter fallen auch Maßnahmen zur Rehabilitation (§§ 6–12 SGB VI). Finanziert wird das System durch Beiträge der Solidargemeinschaft der Versicherten und Bundeszuschüsse aus allgemeinen Steuermitteln.
36.5.3
Rentenarten
Rente wegen Berufsunfähigkeit Das Rentenreformgesetz, das am 01.01.2001 in Kraft trat, implizierte den Wegfall der Rente wegen Berufsunfähigkeit. Als Gründe hierzu wurden angeführt, dass die Berufsunfähigkeit nur einen geringen Teil der Renten ausmachen würde, aber mit einem unverhältnismäßig hohen Verwaltungsaufwand assoziiert sei. Ferner sei sie aufgrund des festgeschriebenen Mehrstufenschemas der Verweisung sozial ungerecht und könne durch den Abschluss einer privaten Berufsschutzversicherung ersetzt werden. Um Versicherte, die vor dem 02.01.1961 geboren wurden, aufgrund ihres Alters vor hohen Versicherungsprämien zu schützen, wurden großzügige Übergangsregelungen von 20–25 Jahren vorgenommen, sodass gegenwärtig noch ein dreigliedriges Rentensystem Bestand hat (Ludolph 2008).
Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit am 01.01.2001 trat an die Stelle der Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit eine zweistufige Erwerbsminderungsrente. Das Ausmaß der Minderung der Erwerbsfähigkeit bezieht sich nicht auf die Erfordernisse des zuvor ausgeübten Berufs, sondern auf die Fähigkeit, jegliche erdenkliche Tätigkeit auf dem Arbeitsmarkt ausüben zu können. Es wird zwischen einer teilweisen Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 1 SGB VI) und einer vollen Erwerbsminderung (§ 43 Abs. 2 SGB VI) unterschieden.
Erwerbsminderung
▬ Es besteht ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn ein Versicherter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Tätigkeit zwischen 3 und 6 h verrichten kann. Die in diesem Fall zu zahlende Rente hat keine volle Lohnersatzfunktion sondern soll als Kompensation der finanziellen Leistungseinbußen durch die Gesundheitsstörung dienen. ▬ Der Begriff der vollen Erwerbsminderung kommt zum Tragen, wenn das Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auf unter 3 täglich gesunken ist. ▬ Die Rechtsprechung sieht ferner eine Erwerbsminderung vor, wenn der Versicherte seinen Arbeitsplatz nicht in angemessener Zeit erreichen kann oder wenn qualitative Leistungseinschränkungen vorliegen (z. B. erhöhter Pausenbedarf, der mit betriebsüblichen Pausen nicht in Einklang zu bringen ist), obwohl der Versicherte 6 h und mehr arbeiten könnte (Ludolph 2008).
Die negative Arbeitsmarktentwicklung hat dazu geführt, dass von der Sozialgerichtsbarkeit eine konkrete Beurteilung der Leistungsfähigkeit praktiziert wurde. Diese Betrachtungsweise sollte wie zuvor ausgeführt durch die Rentenreform vom 01.01.2001 korrigiert werden. Es wurde aber die arbeitsmarktbedingte Erwerbsminderung beibehalten. So ist die konkrete
1051 36.6 · Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und sozialen Entschädigungsrecht
Betrachtungsweise zu wählen, wenn neben der teilweisen Erwerbsminderung auch eine Arbeitslosigkeit vorliegt. Zum finanziellen Ausgleich ist die Hälfte der Leistungen von der Arbeitslosenversicherung zu erbringen. Die Rente ist so lange zu erstatten, bis sich auf dem Arbeitsmarkt reale Chancen für den Versicherten ergeben.
Aufgabe des Gutachters Der Gutachter wird mit Fragestellungen zu rehabilitativen Leistungen, der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsminderung konfrontiert. Der Gutachter muss sein Augenmerk darauf lenken, ob die Fragestellung auf das gegenwärtige Tätigkeitsprofil, ein potenziell neues Tätigkeitsprofil oder den allgemeinen Arbeitsmarkt abzielt. Die Einschätzungen des Gutachters sollten auf den Empfehlungen der ICF (International ClassificationofFunctioning) und den Vorgaben der Deutschen Rentenversicherung Bund (Hinweise zur Begutachtung) beruhen, um die funktionellen Folgen der Erkrankung und ihre sozialen Auswirkungen richtig bewerten zu können. Der Gutachter sollte die speziellen Formalien berücksichtigen. Für die Begutachtung steht ein aktualisiertes Formular im Internet unter www.deutscherentenversicherung.de zur Verfügung.
36.6
Begutachtung im Schwerbehindertenrecht und sozialen Entschädigungsrecht
36.6.1
Schwerbehindertenrecht
Das Schwerbehindertenrecht basiert auf der Förderung der beruflichen Wiedereingliederung von Kriegsgeschädigten nach dem Schwerbeschädigtengesetz von 1953. Dieses sah bereits eine Reihe von Erleichterungen und Absicherungen wie Mehrurlaub oder Kündigungsschutz vor. Seit dem 01.07.2001 gilt das Neunte Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen. Mit diesem Gesetz wurde das bisher zersplitterte und unübersichtliche Recht der Rehabilitation zusammengefasst und weiterentwickelt. Das Gesetz zielt auf eine Förderung der Selbstbestimmung und gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ab und wurde nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts »allein zum Schutz« der schwerbehinderten Menschen konzipiert. > Als Begriffsbestimmung gilt: Schwerbehinderte Menschen sind Personen, bei denen aufgrund einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ein Grad der Schädigungsfolge (GdS) von wenigstens 50 vorliegt (§ 2 Abs. 2 SGB IX).
Die Regelungen des Schwerbeschädigtengesetzes wurden durch das SGB IX übernommen. Während der erste Teil Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen beinhaltet, enthält der zweite Teil des SGB IX besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen vor allem im Arbeitsleben. Dies impliziert, dass Nachteilsausgleiche wie das Verbot der Benachteiligung schwerbehinderter Menschen im Arbeitsleben (§ 81 SGB IX) und eine Entschädigungspflicht bei Verstößen (§ 156 SGB IX) implementiert wurden.
Verfahren Als Teil des Sozialrechts gelten auch für das Schwerbehindertenrecht die gültigen Beweisregeln und Verfahrensvorschriften. Ziel des Verfahrens ist die Feststellung einer Behinderung nach § 69 SGB IX. Hierzu ist der Vollbeweis der Behinderung und des Behinderungsgrades erforderlich. Es wird ein ausreichender Grad der Gewissheit gefordert, der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie vollständige auszuschließen. Der Vollbeweis der Behinderung wird in der Regel durch ein ärztliches Gutachten erbracht. Die Abläufe des Verfahrens sind in den §§ 69 und 70 SGB IX geregelt. > Dem ärztlichen Gutachter obliegt es, die medizinischen Grundlagen aufzuarbeiten, die als Basis des Verwaltungs- bzw. Gerichtsverfahrens dienen. Er kann lediglich einen Grad der Schädigungsfolge vorschlagen, wobei die Realität zeigt, dass diese Einschätzung häufig in den Bescheid übernommen wird.
Die Behinderungen werden nach dem Finalitätsprinzip erfasst unter Würdigung der Empfehlungen in den »Anhaltspunkten für die Ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsgesetz und nach dem Schwerbehindertengesetz«, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (letzte Ausgabe 2008 unter http://anhaltspunkte.vsbinfo.de). Durch die Neufassung des SchwbG vom 24.07.1986 wurde der Begriff des Grads der Behinderung (GdB) statt der MdE implementiert. Dieser sollte die Auswirkungen im allgemeinen Lebensbereich widerspiegeln. Ein Rückschluss auf die Erwerbsfähigkeit und die Übertragung auf andere Rechtsgebiete ist nicht zulässig. Die aktuelle Überarbeitung ersetzt die Bezeichnung GdB durch den Grad der Schädigungsfolge (GdS).
Ärztliche Begutachtung Die Begutachtung für das Schwerbehindertenrecht ist eine Funktionsbegutachtung und nicht eine Befundbegutachtung. Maßgeblich sind die von den Befunden ausgehenden Funktionseinbußen. Ludolph schlägt daher den in der Übersicht dargestellten GdS-Prüfablauf vor:
GdS-Prüfablauf nach Ludolph (2008) 1. Exakte umfassende Sicherung und Beschreibung der zum Untersuchungszeitpunkt individuellen Funktionseinbußen bzw. Gesundheitsstörungen im Vollbeweis 2. Erfassung derjenigen Funktionseinbußen, die zum Untersuchungszeitpunkt gegenwärtig sind und über einen Zeitraum von 6 Monaten hinaus verbleiben 3. Zuordnung der individuellen gegenwärtigen und nicht nur vorübergehenden Funktionseinbuße zu den »Eckwerten« der »Anhaltspunktefür die Ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsgesetz und nach dem Schwerbehindertengesetz« 4. exakte Einordnung der individuellen Funktionseinbußen, soweit die »Anhaltspunkte« Bandbreiten vorgeben (GdS 10–30) ▼
36
1052
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
5. Einschätzung des Grads der Behinderung ohne Zusatz des Prozentzeichens (%) 6. Einschätzung in durch 10 teilbare Gradzahlen 7. bei Zusammentreffen mehrerer Behinderungen gesonderte Einschätzung jedes Einzel-GdS 8. Bildung des Gesamt-GdS (Gesamtgrad der Schädigungsfolge) aus den Auswirkungen der einzelnen Behinderungen in ihrer Gesamtheit
Geregelt wird das soziale Entschädigungsrecht in zahlreichen Einzelgesetzen (BVG, SVG, ZDG, HHG, BEG, BseuchG, OEG usw.), die jedoch im Wesentlichen auf das Bundesversorgungsgesetz (BVG) verweisen. Als Teil des Sozialgesetzes folgt das Entschädigungsrecht den geltenden Kausalitätsregeln und Beweisansprüchen. Als Besonderheiten sind die sog. Kannversorgung (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BVG) und die Einschätzung der Gesamtentschädigungsfolgen zu nennen.
Kannversorgung Nachteilsausgleich
36
Der Gutachter hat neben dem GdS mitunter Nachteilsausgleiche zu beurteilen, die als sog. Merkzeichen im Ausweis schwerbehinderter Menschen zu vermerken sind. Die rechtlichen Grundlagen sind in den §§ 69 Abs. 4 und 126 SGB IX geregelt. Das Merkzeichen G kann gewährt werden, wenn eine erhebliche Gehbehinderung vorliegt. Dies kann auf Störungen des Gehvermögens, aber auch auf innerer Ursache wie einer Herzinsuffizienz beruhen. Ferner kann diese durch Anfälle oder Sehstörungen und Orientierungsprobleme bedingt sein. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung (aG) liegt vor, wenn sich Betroffene nur mit fremder Hilfe und großer Anstrengung außerhalb ihres Fahrzeugs bewegen können. Die Erteilung des Merkzeichens B impliziert, dass die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung besteht. Diese Notwendigkeit kann bei Querschnittsgelähmten oder blinden Patienten gegeben sein. Das Merkzeichen H kann erteilt werden, wenn eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Die Voraussetzungen können bereits bei überwachenden Funktionen und Anleitung zu diesen Verrichtungen gegeben sein. Als weiteres Merkmal findet sich das Zeichen RF, das bei einem GdS von wenigstens 80 und der Unfähigkeit zur Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen geknüpft ist und eine Befreiung von den Runkfunkgebühren impliziert. Die Zeichen Bl (Blindheit) und Gl (Gehörlosigkeit) sind selbsterklärend.
36.6.2
Soziales Entschädigungsrecht
Grundlagen Ausgehend vom Gedanken des Aufopferungsgrundsatzes des Staates gegenüber den Bürgern hat der Gesetzgeber im Sozialen Entschädigungsrecht eine größere Anzahl von Entschädigungstatbeständen geschaffen, für die die Bundesrepublik Deutschland mit einer Versorgung aufkommt. Im Wesentlichen geht dieses Rechtsgebiet auf die Kriegsopferversorgung zurück, die die Ansprüche auf Leistungen von Personen regelt, die durch Kriegseinwirkungen eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben oder deren Ehegatten, Kinder oder Eltern durch Kriegseinwirkung verstorben bzw. verschollen sind. Geregelt sind diese Ansprüche im Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz).
Im sozialen Entschädigungsrecht kann eine Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Die hierfür maßgeblichen »Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entscheidungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004« geben dazu eine weitergehende Definition und eine Liste von Krankheitsbildern, die dafür infrage kommen. Hierzu zählen u. a. die multiple Sklerose, amyotrophe Lateralsklerose, Syringomyelie und die Myasthenie. Eine positive Entscheidung stellt aber gewisse Anforderungen. Hierzu zählen die folgenden 4 Punkte (Ludolph 2008): ▬ Der Gesundheitsschaden ist im Vollbeweis zu sichern. ▬ Der als ursächlich zu diskutierende Bereich ist im Vollbeweis gesichert. ▬ Über die Ursachen des Gesundheitsschadens besteht keine durch Forschung und Erfahrung gesicherte, herrschende Meinung. ▬ Der Ursachenzusammenhang im konkret zu begutachtenden Einzelfall steht mit einer anerkannten wissenschaftlichen Arbeitshypothese zur Ursache und Krankheitsentstehungsgeschichte in Übereinstimmung.
Einschätzung der Gesamtentschädigungsfolgen Die Einstufung der Behinderung richtet sich zunehmend nach Funktionsdefiziten, wie wir sie auch bei internationalen Klassifizierungen kennen. Die frühere Bezeichnung des Grads der Behinderung (GdB) wird heute als Grad der Schädigungsfolge (GdS) bezeichnet. Im sozialen Entschädigungsrecht werden nicht einzelne Unfälle sondern das Sonderopfer aus dem geschützten Bereich entschädigt. Dies bedeutet, dass mehrere Funktionseinbußen zusammengefasst werden und nur einGdS festgesetzt wird, auf deren Basis eine Entschädigungsleistung erfolgt. Stützrenten, wie in der gesetzlichen Unfallversicherung, existieren nicht. > Bei der Einschätzung desGdS muss der Gutachter berücksichtigen, dass diese im sozialen Entschädigungsgesetz und der gesetzlichen Unfallversicherung nicht deckungsgleich sind. Eckdaten erhält der Gutachter zum Teil in den oben genannten vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales herausgegebenen »Anhaltspunkten« und zum Teil in den einzelnen Gesetzen.
1053 36.9 · Begutachtung von Berufskrankheiten
36.7
Begutachtung für die gesetzliche Krankenversicherung
36.7.1
Grundlagen
Im neunten Kapitel des SGB V etablierte der Gesetzgeber den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und legte damit Aufgaben, Zusammenarbeit, Organisation und Finanzierung fest. Damit waren die Krankenkassen nach § 275 Abs. 1 verpflichtet, den MDK einzuschalten, wenn es nach Art, Schwere, Dauer oder Häufigkeit der Erkrankung oder nach dem Krankheitsablauf erforderlich ist. Dem MDK kommen zwei Hauptaufgaben zu, zum einen die versichertenbezogene Begutachtung zur Unterstützung der GKV bei der Leistungsentscheidung und zum anderen die allgemeine Beratung der Krankenkassen und ihrer Verbände zur Unterstützung bei der Weiterentwicklung der Vergütungs- und Versorgungsstrukturen (§ 275 Abs. 4).
36.7.2
36.8.1
Begutachtung zur Krankentagegeldversicherung Grundlagen
Die Gutachten für die Krankentagegeldversicherung sind unter Beachtung der zwischen Versichertem und Versicherung vereinbarten Rahmenbedingungen (AVB KT) zu erstellen. Diese weichen erheblich von den Bedingungen anderer Versicherungssysteme und den sozialmedizinischen Kriterien ab.
36.8.2
Eine auch nur teilweise Fähigkeit zur Ausübung muss nach medizinischem Befund ausgeschlossen sein, da bei einer nur teilweise vorliegenden Arbeitsfähigkeit für manche Teiltätigkeiten die Leistungspflicht des Versicherers entfällt. Folglich ist gemäß der Versicherungsbedingungen (AVB KT) bei zunehmender Leistungsfähigkeit und Eintreten einer nur teilweisen Arbeitsfähigkeit durch den behandelnden Arzt eine »Arbeitsunfähigkeit« nicht mehr festzustellen (Becher u. Scheele 2007).
36.9
Begutachtung von Berufskrankheiten
36.9.1
Geschichtliche Entwicklung
Begutachtungsanlässe
Nach Nüchtern (2008) erfolgten im Jahr 2006 bundesweit 6,2 Millionen Begutachtungen für die GKV. Im Zeitverlauf steigerte sich die Zahl der Begutachtung von Krankenhausbehandlungen im Baden-Württemberg der Studie zufolge von ca. 80.000 im Jahr 2002 auf 290.000 im Jahr 2006. Die Hauptanteile der Begutachtung machten die Überprüfung von stationären Leistungen (31,2%), gefolgt von Untersuchungen zur Arbeitsunfähigkeit (25,5%) und Vorsorge/Rehabilitation (20,7%) aus (Nüchtern 2008).
36.8
> Die alleinige Angabe einer behandlungsbedürftigen Erkrankung begründet eine Arbeitsunfähigkeit nicht. Die entscheidende Bedingung bildet nach den Versicherungsbedingungen die Feststellung, dass die Beeinträchtigung lediglich vorübergehend in der unmittelbar vor dem Versicherungsfall ausgeübten Tätigkeit besteht.
Ziel der Begutachtung
Zweck der privaten Tagegeldversicherung ist es, dem Versicherten einen Schutz gegen einen Verdienstausfall, der infolge einer Arbeitsunfähigkeit als Folge einer Krankheit oder eines Unfalls eingetreten ist, zu bieten. Die Grundlage für den Leistungsbezug stellt die ärztlich dokumentierte Arbeitsunfähigkeit dar. Diese liegt gemäß § 1 MBB KT Abs. 3 dann vor, wenn der Versicherte seiner beruflichen Tätigkeit nach medizinischem Befund vorübergehend in keiner Weise nachgehen kann, sie auch nicht ausübt und keiner anderweitigen Erwerbstätigkeit nachgeht.
Bedingt durch die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert traten durch die grundlegend veränderten Arbeitsbedingungen verstärkt Arbeitsunfälle auf, gegen deren Folgen weite Teile der Arbeitnehmer erst 1884 durch das Unfallversicherungsgesetz abgesichert wurden. Zum Wesen eines Unfalls gehört die Plötzlichkeit und zeitliche Begrenztheit des Ereignisses, sodass als äußerste Grenze für die Dauer der Einwirkung durch einen Arbeitsunfall ein Zeitraum von einigen Stunden, höchstens aber einer Arbeitsschicht angenommen wurde. Man erkannte aber auch, dass gewisse typische Erkrankungen »als das Endergebnis einer längere Zeit andauernden, der Gesundheit nachteiligen Betriebsweise bei bestimmten Gewerbetätigkeiten aufzutreten pflegen«. Diese als Berufskrankheiten bezeichneten Erkrankungen wurden erstmals in § 547 Reichsversicherungsordnung (RVO) von 1911 geregelt. Dieser Paragraf sah aber nur die Möglichkeit vor, in einer Verordnung Vorschriften über Berufskrankheiten zu treffen. Er selbst schuf noch keine anerkennungsfähige Berufskrankheit. Die erste wirkliche Normierung von Berufskrankheiten erfolgte schließlich durch die »Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten« aus dem Jahr 1925. Diese erklärte in der eigentlichen Verordnung die Vorschriften über Arbeitsunfälle für weitgehend entsprechend anwendbar und führte in einer als Anlage der Verordnung gestalteten Tabelle insgesamt 11 näher umschriebene Krankheiten als Berufskrankheiten auf. In der ersten Berufskrankheitenliste betrafen die Nummern 1–7 sämtliche Betriebe, in denen Versicherte regelmäßig mit dort bezeichneten Stoffen umgingen. Es handelte sich dabei um Erkrankungen durch Blei, Phosphor, Quecksilber, Arsen, Benzol, Nitro- und Aminoverbindungen, Schwefelkohlenwasserstoff und um Erkrankungen an Hautkrebs durch Ruß, Paraffin, Teer, Anthrazen, Pech oder verwandte Stoffe. Die Nummern 8–11 bezogen sich nur auf bestimmte Erkrankungen und bestimmte Betriebe, so die Nummer 8 auf Glashütten bezüglich des grauen Stars bei Glasmachern, die
36
1054
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
Nummer 9 auf Erkrankungen durch Röntgenstrahlen u. a. strahlende Energie in Betrieben, in denen Versicherte der Einwirkung von Röntgenstrahlen oder anderer strahlender Energie ausgesetzt waren, die Nummer 10 erfasste die Wurmkrankheit der Bergleute in Betrieben des Bergbaus und die Nummer 11 die Schneeberger Lungenkrankheit für Betriebe des Erzbergbaus im Gebiet von Schneeberg.
36.9.2
Berufskrankheitenverordnung
Die oben genannte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf gewerbliche Berufskrankheiten vom 12.05.1925 im Reichsgesetzblatt (RGBl. I S. 69) wurde 1929 durch eine neue Verordnung ersetzt. Die Zahl der Berufskrankheiten erhöhte sich damit auf 22. Die Dritte Verordnung über Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten vom 16.12.1936 (RGBl. I S. 1117) kannte bereits 26 verschiedene Berufskrankheiten. Sie wurde 1943, 1952, 1961 und 1968 durch 4 Verordnungen geändert, und die Berufskrankheitenliste wurde erweitert. Die Verordnung zur Änderung der Siebten Berufskrankheiten-Verordnung vom 8.12.1976 (BGBl. I S. 3329) führte dann das bis heute geltende Prinzip der vierstelligen Berufskrankheitennummer sowie die Bezeichnung Berufskrankheiten-Verordnung (ohne Nummer) ein. Nach der Wiedervereinigung galt ab 01.01.1992 bundesweit die (westdeutsche) BerufskrankheitenVerordnung vom 20.06.1968 in der Fassung vom 22.03.1988. Mit der Zweiten Verordnung über Änderung der BerufskrankheitenVerordnung vom 18.12.1992 wurden dann weitere Berufskrankheiten in die Liste aufgenommen, darunter die praktisch bedeutsamen Wirbelsäule-Berufskrankheiten 2108, 2109 und 2110. 1997 wurde die Berufskrankheiten-Verordnung vom 20.06.1968 dann durch die jetzt geltende Berufskrankheiten-Verordnung ersetzt.
BKV-Änderungsverordnung von 2002
36
Die Änderung der Berufskankheiten-Verordnung (BKV-ÄndV) vom 05.09.2002 fügte der Anlage zur BKV die neue Berufskrankheit Nr. 4112 »Lungenkrebs durch die Einwirkung von kristallinem Siliziumdioxid (SiO2) bei nachgewiesener Staublungenerkrankung (Silikose oder Silikotuberkulose)« hinzu. Die Berufskrankheit Nr. 2106 »Drucklähmungen der Nerven« wurde erweitert und heißt seither »Druckschädigung der Nerven«. Zudem wurde § 6 BKV um eine Rückwirkungsregelung für die Fälle ergänzt, in denen versicherte Personen bereits vor dem Inkrafttreten der BKV-ÄndV an einer der neu aufgenommenen Krankheiten litten.
BKV-Änderungsverordnung von 2009 Durch die zweite Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung vom 11.06.2009 (BGBl. I S. 1273) wurden die folgenden 5 neuen Krankheiten als Berufskrankheiten in die BKV aufgenommen: ▬ Nr. 1318: Erkrankungen des Blutes, des blutbildenden und des lymphatischen Systems durch Benzol ▬ Nr. 2112: Gonarthrose durch eine Tätigkeit im Knien oder durch eine vergleichbare Kniebelastung mit einer kumulativen Einwirkungsdauer während des Arbeitslebens von
mindestens 13.000 h und einer Mindesteinwirkungsdauer von insgesamt 1 h pro Schicht ▬ Nr. 4113: Lungenkrebs durch polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von mindestens 100 Benzo[a]pyrenJahren [(μg/m3) × Jahre] ▬ Nr. 4114: Lungenkrebs durch das Zusammenwirken von Asbestfaserstaub und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis, die einer Verursachungswahrscheinlichkeit von mindestens 50% nach der Anlage zu dieser Berufskrankheit entspricht ▬ Nr. 4115: Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen (Siderofibrose) Alle neuen Berufskrankheitentatbestände gelten grundsätzlich auch für Altfälle, also auch für Krankheiten, die bereits vor dem Inkrafttreten der zweiten Änderungsverordnung bestanden. Die Rückwirkung ist für die Berufskrankheiten Nr. 2112, 4114 und 4115 jedoch auf Versicherungsfälle beschränkt, die nach dem 30.09.2002 (Inkrafttreten der ersten Änderungsverordnung) eingetreten sind. Altfälle der Berufskrankheit Nr. 4113 können nur dann anerkannt werden, wenn der Versicherungsfall nach dem 30.11. 1997 (Inkrafttreten der BKV) eingetreten ist. Die Anerkennung erfolgt nur auf Antrag des Versicherten. Die Unfallversicherungsträger sollen nicht verpflichtet werden, Altfälle von Amts wegen wieder aufzugreifen und anzuerkennen.
36.9.3
Begriffsdefinition »Berufskrankheit«
Nach § 9, SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die der Versicherte infolge einer unter Versicherungsschutz stehenden beruflichen Tätigkeit erleidet. Maßgeblich für die Anerkennung ist ausschließlich die berufliche Ursache – im Sinne der rechtlich wesentlichen Bedingung – für die Erkrankung, die im Einzelfall mit dem Grad der Wahrscheinlichkeit zu begründen ist (Schröter 2001). Von den Berufskrankheiten sind drohende Berufskrankheiten, arbeitsbedingte Erkrankungen und arbeitsbedingte oder berufsbedingte Gesundheitsgefahren zu unterscheiden (Schürmann 2010).
36.9.4
Zuständigkeit und Leistungen
Die Zuständigkeit für die Anerkennung einer Berufskrankheit liegt beim Unfallversicherungsträger. Dieses sind in der Privatwirtschaft die Berufsgenossenschaften und im öffentlichen Dienst die Unfallkasse (vormals »Ausführungsbehörde für Unfallversicherung«). Das Verfahren über den Verdacht auf eine Berufskrankheit wird vom Unfallversicherungsträger durchgeführt. Gegen einen ablehnenden Bescheid kann der Versicherte Widerspruch einlegen und bei einem ablehnenden Widerspruchsbescheid Klage beim Sozialgericht erheben. Bei einem positiven Bescheid hat der Versicherte Anspruch auf alle Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung, deren
1055 36.9 · Begutachtung von Berufskrankheiten
Voraussetzungen im Einzelfall erfüllt sind. Als solche kommen in Betracht Heilbehandlung, Leistungen zur medizinischen, beruflichen oder sozialen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben und Leben in der Gemeinschaft bei Pflegebedürftigkeit, Verletzten- oder Übergangsgeld, Verletztenrente, schlimmstenfalls Renten an Hinterbliebene (§§ 26ff. SGB VII, §§ 26ff. SGB IX) sowie speziell bei Berufskrankheiten Präventionsleistungen oder nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit Übergangsleistungen (§ 3 BKV).
36.9.5
> Während als Arbeitsunfall jeder im Rahmen einer versicherten Tätigkeit geschehene Unfall gilt, so reicht für die Definition einer Berufskrankheit die zu fordernde ursächliche Verknüpfung zwischen Erkrankung und versicherter Tätigkeit alleine nicht aus. Vielmehr muss die Erkrankung in einer Rechtsverordnung für Berufskrankheiten bezeichnet sein.
Aus dem Vorliegen einer Berufskrankheitenliste resultieren für den Versicherten Vorteile: So müssen alle Unfallversicherungsträger und Gerichte davon ausgehen, dass die in der Berufskrankheitenliste genannten Einwirkungen generell zur Verursachung bestimmter Erkrankungen geeignet sind. Auf dieser Grundannahme kann die zusätzlich erforderliche Prüfung des individuellen Zusammenhangs aufbauen (Mertens et al. 2003).
Voraussetzung zur Aufnahme in eine Berufskrankheitenliste
Entsprechend den gesetzlichen Vorgaben (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VII) können durch Rechtsverordnung solche Erkrankungen als Berufskrankheiten bezeichnet werden, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Maße ausgesetzt sind als die übrige Bevölkerung. Mögliche Hinweise, dass bestimmte Einwirkungen eine Krankheit auslösen, sind arbeitsmedizinsche Erkenntnisse, Zusammenhangsbelege aus fachmedizinischen Behandlungen und epidemiologischen Untersuchungen (Schürmann 2010).
36.9.7
Nummer
Beschreibung
2
Durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
21
Mechanische Einwirkungen
2101
Erkrankungen der Sehnenscheiden oder des Sehnengleitgewebes sowie der Sehnen- oder Muskelansätze
2102
Meniskusschäden nach mehrjährigen andauernden oder häufig wiederkehrenden, die Kniegelenke überdurchschnittlich belastenden Tätigkeiten
2103
Erkrankungen durch Erschütterung bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen
2104
Vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen
2105
Chronische Erkrankungen der Schleimbeutel durch ständigen Druck
2106
Druckschädigung der Nerven
2107
Abrissbrüche der Wirbelfortsätze
2108
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung
2109
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Halswirbelsäule durch langjähriges Tragen schwerer Lasten auf der Schulter
2110
Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen
2111
Erhöhte Zahnabrasionen durch mehrjährige quarzstaubbelastende Tätigkeit
2112
Gonarthrose durch langjährige Kniebelastung
22
Druckluft
2201
Erkrankungen durch Arbeit in Druckluft
Berufskrankheitenliste
Nach § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten die Krankheiten, die in der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) aufgezählt sind. Es bestehen rechtliche Unterschiede im Vergleich zum Arbeitsunfall.
36.9.6
⊡ Tab. 36.1 Orthopädisch-chirurgisch relevante Erkrankungen aus der Berufskrankheitenliste
▬ durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten sowie Tropenkrankheiten ▬ Erkrankungen der Atemwege und der Lungen, des Rippenfells und Bauchfells ▬ Hauterkrankungen ▬ Krankheiten sonstiger Ursache Diese Einteilung ist historisch gewachsen. Die jeweiligen Berufskrankheiten wurden mit einer vierstelligen Ordnungsnummer versehen. Die orthopädisch-chirurgisch relevanten Erkrankungen sind in ⊡ Tab. 36.1 dargestellt
Berufskrankheitenliste 36.9.8
Die gegenwärtig geltende Liste unterteilt anhand der typischen Einwirkungen 6 Gruppen: ▬ durch chemische Einwirkungen verursachte Krankheiten ▬ durch physikalische Einwirkungen verursachte Krankheiten
Ärztliche Anzeige bei Verdacht auf eine Berufserkrankung
Nach § 202 SGB VII ist jeder Arzt gesetzlich verpflichtet, beim Vorliegen eines Verdachts auf eine Berufskrankheit die Berufskrankheitenanzeige zu erstatten. Die Anzeige ist zu erstatten,
36
1056
Kapitel 36 · Das ärztliche Gutachten
wenn eine Erkrankung nach der Berufskrankheitenliste vorliegt. In Fällen, bei denen § 9 Abs. 2 SGB VII Anwendung findet bzw. die nicht auf der Berufskrankheitenliste stehen, kann die Anzeige nur mit Zustimmung des Versicherten erfolgen. Die Anzeige ist beim vermutlich zuständigen Unfallversicherungsträger oder der für den Beschäftigungsort zuständigen Landesbehörde für den medizinischen Arbeitsschutz zu erstatten.
36.9.9
Schadensanlage
Das Berufskrankheitengesetz ist kausal ausgerichtet, d. h. es sind nur Ursachen aus dem geschützten Bereich versichert. Grundvoraussetzung für eine Anerkennung ist die wesentliche Teilursächlichkeit der versicherten Exposition (Ludolph u. Blome 2010). Die Mehrzahl der Berufskrankheiten ist multifaktoriell und beruht auf mehreren Ursachen. Eine Teilursache stellt die Schadensanlage, d. h. eine besondere anlagebedingte Schwachstelle, dar. Sie ist eine maßgebliche Ursache für eine große Zahl an Erkrankungen, sowohl der belastungsinduzierten als auch der nicht belastungsindizierten. Die orthopädisch-chirurgische Begutachtung wird dadurch erschwert, dass es nicht für alle Berufskrankheiten klare Dosisangaben für die jeweiligen individuellen Belastungsgrenzen gibt. Mechanische Ursachen, die für den einen physiologisch sind, können beim anderen krankheitsursächlich sein. Es besteht zwar bezüglich der Noxen mechanischer Berufskrankheiten ein weitgehender Konsens, Rückschlüsse auf die konkrete Gefährdung des Einzelnen erlauben die versicherten Tätigkeiten jedoch nicht. Daher ist die tatsächliche anzunehmende berufliche Belastung im Einzelfall vom Technischen Aufsichtsdienst (TAD) zu ermitteln. So ergibt sich das Problem der Zusammenhangsbeurteilung bei der Abgrenzung der Körperschäden mit allein innerer Ursache gegenüber denjenigen, die durch äußere Ursachen, insbesondere die versicherten Expositionen, bedingt sind.
36
36.9.10
Konkurrierende Kausalität
Ausgangspunkt der Diskussion um die Ursachen der mechanischen Berufskrankheiten ist die Beobachtung, dass ähnliche Krankheitsbilder sowohl im Bevölkerungsquerschnitt weit verbreitet sind als auch belastungsinduziert sein können. Das verleitet zu der Annahme, dass alltägliche Belastungen, die bereits zu Meniskus- und Bandscheibenschäden führen, erst recht bei kniegelenkbelastenden und wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten zu erwarten sind. Mitunter wird daher die Diskussion in unzulässiger Weise auf die Schadensanlage und mechanische Belastungen verkürzt, folglich auf eine auf die Schadensanlage aufbauende homogene Kausalkette (Dosistheorie). > Im Einzelfall muss der Gutachter feststellen, ob sich die einzelnen Glieder der Kausalkette gegenseitig im Sinne einer Dosiserhöhung verstärken oder ob mehrere Kausalketten gleichberechtigt nebeneinander stehen.
In diesen Fällen bedarf es einer sorgfältigen Abgrenzung der einzelnen Ursachen und einer schlüssigen Begründung dafür, dass einer der Kausalketten Vorrang gewährt wird. Folglich gilt es zu klären, ob sich die infrage kommenden Ursachen nur in ihrer Quantität (eine Kausalkette, Dosistheorie) oder ihrer Qualität (mindestens 2 Kausalketten) unterscheiden. Was genau unter dem Begriff der konkurrierenden Kausalität zu verstehen ist, bleibt auch nach dem Studium der einschlägigen juristischen Kommentare unklar. Zumeist wird hierunter ein Zusammenwirken mehrerer Schadensursachen verstanden, wobei teils kumulative, teils aber auch alternative Zusammenhänge gemeint sind. Ludolph und Blome (2010) weisen darauf hin, dass die Kausallehre von der konkurrierenden Kausalität nicht auf Expositionen anwendbar ist, die grundsätzlich gesund sind. Dementsprechend ist sie nicht auf orthopädisch-chirurgische Krankheitsbilder übertragbar, da eine physiologische Belastung für die Funktion von Muskulatur und Skelettsystem unabdingbar ist, somit Krankheitsrisiken vermeidet und nicht erhöht (Ludolph u. Blome 2010).
36.9.11
Ermittlung der beruflichen Voraussetzungen
Es bleibt festzustellen, dass keine der mechanischen Berufskrankheiten eine exakte Vorgabe der beruflichen Exposition enthält, bei den Nummern 2101 und 2107 fehlt sie vollständig. Dadurch fallen die erforderlichen Feststellungen sowohl in den Bereich des technischen als auch des ärztlichen Sachverständigen. Fehlen die Vorgaben der versicherten Noxen, beschränkt sich die Aufgabe des technischen Sachverständigen auf die Wiedergabe der beruflichen Exposition. Es obliegt dem ärztlichen Gutachter, die gefährdenden Elemente festzustellen.
Literatur Becher ST, Scheele H (2007) Gutachterliche Gesichtspunkte bei der Beurteilung der Arbeits- und Berufsunfähigkeit nach den Bedingungen der privaten Kranken- und der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung. MedSach 103: 210–213 Ludolph E (2001) Begutachtung von Unfallfolgen in der Gesetzlichen und in der Privaten Unfallversicherung. Orthopäde30:93–99 Ludolph E (2008) Grundlagen in der Begutachtung in der Gesetzlichen Rentenversicherung. In: Weise K, Schiltenwolf M (Hrsg.) Grundkurs orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung. Heidelberg: Springer Ludolph E, Blome O (2010) Orthopädisch-chirurgische Berufskrankheiten. Grundsätzliche Fragen. In: Ludolph E, Schürmann J, Gaidzik PW (Hrsg.) Kursbuch der ärztlichen Begutachtung. Landsberg: Ecomed Mangen KG (2003) Berufsunfähigkeitsversicherung – Vertragsgrundlagen und entscheidungsrelevante Aspekte im Prüfungsverfahren aus rechtlicher Sicht. Darmstadt: Steinkopff, S. 1–11 Mertens G, Valentin H, Schönberger A (2003) Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. Berlin: Erich Schmidt Mollowitz GG (1998) Der Unfallmann, 12 Aufl. Heidelberg: Springer Nüchtern E (2008) Das professionelle Gutachten in der gesetzlichen Krankenversicherung. MedSach 105: 96–98 Ostendorf GM (2003) Berufsunfähigkeit in der Privatversicherung. Vers Med 92–95 Rompe,Erlenkämper, Schiltenwolf, Hollo (2009) Begutachtung der Haltungsund Bewegungsorgane, 5 Aufl. Stuttgart: Thieme
1057 Literatur
Schröter F (2001) Begutachtung der Berufskrankheiten (der Bewegungsorgane). Orthopäde 30: 100–116 Schröter F (2003) Private Berufsunfähigkeitsversicherung – Versicherungsbedingungen und Auswirkungen auf die Begutachtung. Darmstadt: Steinkopff, S. 12–28 Schur (2009) Urheberrecht bei Gutachten – aus verwaltungspraktischer Sicht. MedSach 5: 162 Schürmann J (2010) Besonderheiten des Berufskrankheitenrechts. In: Ludolph E, Schürmann J, Gaidzik PW (Hrsg.) Kursbuch der ärztlichen Begutachtung. Landsberg: Ecomed
36
VIII
VIII Anhang
Leitlinien der Fachgesellschaften – 1061 Stichwortverzeichnis – 1065
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
Leitlinien der Fachgesellschaften
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1062
Leitlinien der Fachgesellschaften
Die Leitlinien der Fachgesellschaften in der AWMF sind unter www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ zu finden. Tab. Leitlinien der Fachgesellschaften Prophylaxe der venösen Thrombembolie
Allgemeine Chirurgie und Viszeralchirurgie
003/001
Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms
Handchirurgie
005/003
Diagnostik und Therapie des Kubitaltunnelsyndrom
Handchirurgie
005/009
Femurschaftfraktur
Kinderchirurgie
006/016
Unterarmschaftfrakturen im Kindesalter
Kinderchirurgie
006/062
Intraartikuläre Frakturen des distalen Humerus im Kindesalter
Kinderchirurgie
006/126
Thermische Verletzungen im Kindesalter (Verbrennung, Verbrühung)
Kinderchirurgie
006/128
Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter
Neurochirurgie
008/001
Schenkelhalsfraktur des Erwachsenen
Unfallchirurgie
012/001
Pertrochantäre Oberschenkelfraktur
Unfallchirurgie
012/002
Sprunggelenkfraktur
Unfallchirurgie
012/003
Implantatentfernung
Unfallchirurgie
012/004
Vordere Kreuzbandruptur
Unfallchirurgie
012/005
Endoprothese bei Koxarthrose
Unfallchirurgie
012/006
Prothesenwechsel am Hüftgelenk
Unfallchirurgie
012/007
Endoprothese bei Gonarthrose
Unfallchirurgie
012/008
Bakterielle Gelenkinfektionen
Unfallchirurgie
012/010
Schultergelenk-Erstluxation
Unfallchirurgie
012/012
Ventrale Instabilität der Schulter
Unfallchirurgie
012/013
Suprakondyläre Humerusfraktur beim Kind
Unfallchirurgie
012/014
Distale Radiusfraktur
Unfallchirurgie
012/015
Skaphoidfraktur
Unfallchirurgie
012/016
Patellafraktur
Unfallchirurgie
012/017
Proximale Femurfrakturen des Kindes
Unfallchirurgie
012/020
Intraartikuläre Punktionen und Injektionen
Orthopädie
029/006
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma
Neurologie
030/047
Schweres Schädel-Hirn-Trauma
Neurologie
030/076
Therapie des spastischen Syndroms
Neurologie
030/078
Myasthenia gravis
Neurologie
030/087
Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule (HWS-ST)
Neurologie
030/095
Begutachtung vom Schmerzen
Orthopädie
030/102
Diagnostik von Myopathien
Neurologie
030/115
Komplexe regionale Schmerzsyndrome (CRPS), Diagnostik und Therapie
Neurologie
030/116
Koxarthrose
Orthopädie
033/001
Kniegelenknahe Beinachsfehlstellung
Orthopädie
033/005
Hallux valgus
Orthopädie
033/018
Idiopathische Skoliose im Wachstumsalter
Orthopädie
033/025
1063 Leitlinien der Fachgesellschaften
Schulterluxation, rezidivierend und habituell
Orthopädie
033/027
Morbus Scheuermann
Orthopädie
033/040
Rotatorenmanschettenruptur
Orthopädie
033/041
Solitäres und multiples Myelom
Orthopädie
033/042
Rehabilitation nach Frakturen der Brust- und Lendenwirbelsäule
Orthopädie
033/043
Rehabilitation nach Majoramputation an der unteren Extremität (proximal des Fußes)
Orthopädie
033/044
Morbus Perthes
Orthopädie
033/047
Rehabilitation bei Bandscheibenvorfall mit radikulärer Symptomatik und nach Bandscheibenoperation
Orthopädie
033/048
Prophylaxe, Diagnostik und Therapie der Osteoporose im Erwachsenenalter
Osteologie
034/003k
Epidurale Rückenmarkstimulation zur Therapie chronischer Schmerzen
Schmerztherapie
041/002
Definition, Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie des Fibromyalgiesyndroms
Schmerztherapie
041/004
Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen
Schmerztherapie
041/001
Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen
Schmerztherapie
041/003
Stichwortverzeichnis
J. Grifka, M. Kuster (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, DOI 10.1007/978-3-642-13111-0, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
1066
Stichwortverzeichnis
A ABCDE-Schema, Traumaversorgung 340 Abdominaltrauma 348, 349 Abduktions-Außenrotations-Test 487 Abduktions-Knick-Senk-Füße, Orthese 209 ABI siehe Ankle-Brachial-Index Abrieb 39 Abrollabsatz 98 Absatzerhöhung 98 Abschnürung, amniotische 948 Abspreizschiene 958 Abspreiztest 955 – globaler 932 Abszess 214, 215, 217 – Aktinomykose 219 – Finger 658 – paravertebraler 430 – Salmonella-enteritidis-Infektion 221 – tuberkulöser 428, 1016 Abszessdrainage 214 Abszessmembran 217 Abt-Letterer-Siwe-Erkrankung 276 Acetabulum – pedis 875 – – Mittelfußluxation 999 – subchondrale Kortikalis 42 Acetylcystein 72 Acetylsalicylsäure 74 Achillessehne 832, 890, 908, 909 – Ansatzdegeneration 852 – Belastungsmöglichkeit 908 – Durchblutung 908 – Entlastung 853 – Tendopathie 852 Achillessehnenausriss, ossärer 910 Achillessehnennaht 910, 911 Achillessehnenreflex 404, 405 Achillessehnenruptur 908 – Komplikation 911 – Operation 910 – Sonographie 908 – subkutane 908 – Therapie 908 Achillessehnenstümpfe, minimal-invasive Adaptation 910 Achillessehnentenodese 858 Achillessehnenverlängerung 203, 858 – bei kongenitalem Klumpfuß 1005 Achillodynie 133 Achondrodysplasie (s. auch Chondrodysplasie) 140 Achondroplasie 141, 922 Achsdeviation 286 Achsellücke – laterale 482, 538
– mediale 482, 538 Achsendeformität 933 Achsenskelettanlage 925 Achse, transmalleoläre 932 Acinetobacter – baumanii 221 – spp. 221 AC-Linie 957 ACR-Kriterien 304 Actinomyces spp. 219 Activities of daily living – Bobath-Konzept 120 – Hilfsmittel 102 AC-Winkel 960 AC-Winkel 957, 958 Adamantinom 273 Adduktions-Beuge-Fehlhaltung, fetale 954 Adduktorenkontraktur 955 Adduktortendinopathie 755 Adhäsiolyse 114 Adoleszentenkyphose siehe Morbus Scheuermann 424 Adoleszentenskoliose 417, 422 Adson-Test 487 Advanced Trauma Life Support 337 Akin-Osteotomie 836 Akromioklavikulararthrose 491, 524 – Schmerz 525 – Sonographie 525 Akromioklavikulargelenk 479, 485 – Destabilisierung 513 – Fixation 549 – Kapsel-Band-Verletzung 548 – Resektionsarthroplastik , endoskopische 525 – Resektionstranspositionsarthroplastik 525 – Röntgenaufnahme 499 – Verletzung 93 Akromioklavikulargelenkkapsel 486 Akromioklavikularl – Luxation 549 Akromioklavikularsubluxation 549 Akromionfehlbildung 500 Akromiontypen 503 Akromioplastik, vordere 509, 510 Akroosteolyse 179 Akroparästhesien 163 Akrozephalosyndaktylie 949 Aktinomykose 219 Aktivierung, supraspinale 121 Aktivkorsett 421 Akupunktur 75, 291 Ala-Aufnahme 695 Algesieprüfung 404 Allen-Test 487
Allman-Klassifikation, Klavikulafraktur 527 Alloarthroplastik – Handgelenk 320 Allopurinol 311 Alltagsverhalten, rückengerechtes 109, 110 Alonso-Llames-Zugang, distaler Humerus 577 ALPSA-Läsion (anterior labroligamenteous periosteal sleeve avulsion) 518 Alternativmedizin, Schmerztherapie 75 AMBRII 516 Amelie 924 AMIC (autologe matrixinduzierte Chondrogenese) 871 Amoxicillin plus Clavulansäure 372 Amputation 62, 245 – Behandlungsverlauf 63 – bei Osteosarkom 260 – Indikation 62 – innere 65 – konnatale 948 – Risikofaktoren 62 – tarsometatarsale 64 – transkondyläre – – Oberarm 67 – – Oberschenkel 66 – transmetatarsale 65 – traumatische 663 – – obere Extremität 663, 668 Amputationshöhe 63 Amputationsstumpf siehe Stumpf 62 Amylase-Aktivität 178 Anabole Substanzen bei niedriger Knochendichte 174 Analgesie – bei regionalem komplexen Schmerzsyndrom 240 – epidurale, patientenkontrollierte, postoperative 76 – intravenöse, patientenkontrollierte, postoperative 76 – präemptive 77 Analgetika 291 – antiphlogistische Wirkung 76 – Applikation, intravenöse 76 – nichtsaure 70, 72 – reine 773 – zentral wirksame 70 Anamnese – gutachterliche 1039 – kinderorthopädische 930 Anatomic repair technique, Trizepssehnenreinsertion 606, 607 Anderson-D‘Alonzo-Einteilung, Densfraktur 453 Andersson-Läsion 432
1067 Stichwortverzeichnis
Angiogenese – Frakturheilung 367 Angioleiomyom 248 Angiolipom 247 Angiopathie, diabetische 863 Angiosarkom, sekundäres 253 Angulationsosteotomie nach Schanz 211 Ankle-Brachial-Index – bei distaler Femurfraktur 751 – bei Tibiaplateaufraktur 818 Anlaufschmerz 288 Anschlagsoperation 858 Anspannungsübung, isometrische 105 Anterior kneepain – nach Tibiamarknagelosteosynthese 826 Antetorsion, femorale 973, 974, 975 – vermehrte 973 Anteversion, femorale 973 Antibiotikatherapie – bei distaler Femurfraktur 752 – bei Gelenkempyem 1013 – bei Knocheninfektion 1013 – bei periprothetischer Infektion 231, 232 Antidepressiva, trizyklische – Schmerztherapie 73 Anti-ds-DNS-Antikörper 309 Antiepileptika bei neuropathischen Schmerzen 74 Antikörper – antinukleäre 309 – antizytoplasmatische 304 Antiluxationsorthese – bei Hüftgelenkendoprothese 91 Antiphlogistika, nichtsteroidale 772 – topische Anwendung 774 – Wirkmechanismus 772 Antiresorptive Substanzen bei niedriger Knochendichte 173 Antirheumatika, nichtsteroidale 70, 180, 291, 312 – Angriffspunkte 71 – COX-2-Hemmung 72 – Prophylaxe ektopischer Ossifikationen 376 – topische Anwendung 75 – Wirkung 70 Anti-SCL-70-Antikörper 309 Antiseptika, Arthroskopieflüssigkeit 226 Antivarusschuh 975, 1003 Anti-Zentromer-Antikörper 309 Anulus-fibrosus-Ruptur 407 Aortenaneurysma 159, 440 Aortenruptur 159, 348 Apert-Syndrom 624, 949, 952 Apley-Grinding-Test 797, 799 Aponeurektomie, totale 632 Apophysenabriss 1031
Apophysenverletzung 755 Apophysitis 195 Apprehension-Test – hinterer 494, 495 – vorderer 493, 494 AP siehe Phosphatase, alkalische 168 Arachnodaktylie 158 Arbeitsunfähigkeit 1053 Arbeitsunfall 1044, 1045, 1055 – Vorschaden 1047 Arhaphie 411 Arlt-Humeruskopfreposition 520 Armabduktion 485 Armabduktionskissen 94 Armabduktionsorthese 94 Armabduktionstest 487, 488 Armaturenbrettverletzung 700, 701 Armaußenrotationstest 487, 488 Armguss 125 Arminnenrotationstest 488, 489 Arnold-Chiari-Fehlbildung 206, 413 Arteria – axillaris 483 – brachialis 575, 605 – capitis femoris 733 – circumflexa – – femoris – – – lateralis 733 – – – medialis 707, 731, 733 – – humeri – – – anterior 484, 540 – – – posterior 484, 540 – – scapulae 484 – dorsalis pedis 881 – epigastrica inferior 708 – epiphysealis 1012 – iliaca externa 708 – obturatoria 708 – subclavia 483 – suprascapularis 483 – thoracoacromialis 484 – vertebralis 450 – – Verletzung, intraoperative 465 Arterielles System – medulläres 361 – metaphysäres 361 – periostales 362 Arteriitis temporalis 310 Arteriolopathie, urämisch-kalzifizierende 179 Arthritis – chronische 223 – postenteritische 308 – reaktive 308 – rheumatoide 303, 643, 644, 858 – – ACR-Kriterien 304 – – ankylosierende 652
– – extraartikuläre Manifestation 304 – – Gelenkbefallmuster 304 – – Halswirbelsäulenbeteiligung 303, 304 – – Hand 652 – – HLA-Assoziation 300, 303 – – juvenile 304 – – – Schulterendoprothese 317 – – – systemische 304 – – Klassifikation 304 – – Kombinationsmedikation 313 – – medikamentöse Therapie 652 – – mutilierende 653 – – Rückfußbefall 859, 860 – – sekundär-arthrotische 285, 652 – – Stadien 303 – – Vorfußbefall 859, 861 – – Zehengrundgelenkebefall 861 – septische 222 – – beim Säugling 1014 – – Hand 660 – urica 310 Arthrodese 210, 398 – kalkaneotibiale 65 – radiolunäre 319, 321 – Rückfuß 860 – Sprunggelenk, oberes 860 – tarsometatarsale, primäre 881 – Tarsometatarsalgelenk I 837 Arthrodesenplatte am Großzehengrundgelenk 840 Arthrogryposis multiplex congenita 999 Arthrolyse, peritalare 1004, 1005 Arthropathie – enteropathische 307 Arthroplastik, ulnohumerale 560 Arthrorise 858 Arthrose 282, 380 – aktivierte 283, 771 – Altersverteilung 284 – Aufklärung des Patienten 290 – Begutachtung 287 – Beschwerdebild 287 – Diagnostik 288 – – bildgebende 289 – – laborchemische 290 – femorotibiale 779 – Kosten 283 – Magnetresonanztomographie 289 – pathogenetisch wirksame Faktoren 286 – Pathomechanik 285, 286 – posttraumatische 380 – primäre 285 – sekundäre 285 – skaphotrapeziotrapezoidale siehe STTArthrose 640 – Sonographie 289 – subtalare, nach Kalkaneusfraktur 894
A
1068
Stichwortverzeichnis
– symptommodifizierende Medikamente 75 – Therapie 290 – – externe 291 – – medikamentöse 291 – – operative – – – gelenkerhaltende 292 – – – gelenkersetzende 294 – – physikalische 290 – Verteilung 288 Arthrosezeichen 282, 289 Arthrosis deformans 282 – Hüftgelenk siehe Koxarthrose 716 Arthroskopie – Eiteraustritt 226 – Ellenbogengelenk 558, 559, 603 – Gelenkinfektion 224 – Handgelenk 624 – Hüftgelenk 731 – Schultergelenk 506, 508 – Sprunggelenk, oberes 905 – therapeutische 290, 292 Arthroskopieflüssigkeit, Antiseptikazusatz 226 Arylessigsäure 71 Arzneien, pflanzliche, bei Arthrose 291 Arzneimittelkompendiums der Schweiz 9 ASIA-Klassifikation, Wirbelfraktur 468 Atelektase – Prophylaxe 107 Atemdepression, opioidinduzierte 76 Atemtechnik, mobilisierende 113 Atemwegsverletzung 340 Atlasassimilation 413 Atlasbogenfraktur 452 Atlasfraktur 452, 461 – instabile 453 Atlasringsprengung 461 ATLS (Advanced Trauma Life Support) 337 Aufbautraining 117 Aufhängung – axiale 109 – neutrale 109 Aufklärungsgespräch 5 Aufrichtungsosteotomie, Brustwirbelsäule 316 Aufsteckfinger 83 Augen-Muskel-Technik, mobilisierende 113 Augmentin 372, 752 Ausatmungsübung 107 Ausdauer 119 Außenmeniskus 794, 815 Außenrotationsosteotomie, Humerus 502 Ausstreichung 129
Autoimmunerkrankung 300 Autoinhibition, Bobath-Konzept 120 Avocado-Soja-Extrakt 75 Avulsionsfraktur – Beckenring 689 – metatarsale 882, 883 – Os naviculare 875, 876 – Tuberositas calcanei 890 Avulsionsverletzung 1031 – Eminentia intercondylaris 1032 – Finger 670, 683 – Klavikula 1028 – Tuberositas tibiae 1033 Axisbogenaplasie 414 Axisdislokation, traumatische 454, 455 Axisgelenkfortsatz, Fraktur 455 Axiskörperfraktur, isolierte 455 Axisspondylolyse, traumatische 463 Axissynostose 414 Axonotmesis 397 Azetabuloplastik 211, 960 Azetabulum – Dysplasie 285 – Entwicklungsstörung 954 – fehlpositioniertes 721 – Hinterwandfraktur 701, 702-704 – Nachreifung 958 – Restdysplasie 960 – T-Fraktur 704 – Vermessung 958 – Vorderwandfraktur 701, 702 – zementfrei implantiertes 727 – Zweipfeilerfraktur 705 Azetabulumfraktur 700, 735 – Beckenübersichtsaufnahme 702 – Begleitverletzung 699 – Computertomographie 695 – Domfragment 700 – dorsale 735 – Klassifikation 701 – Letournel-Ergänzungstypen 700 – Nervus-ischiadicus-Läsion 699 – Operation 705 – Operationsindikation 705 – Therapie 705 – Zugang 707 Azetabulumpfeiler 694 – Fraktur 700, 701 – Frakturlinie 700 – hinterer 700 – – Fraktur 703 – – – mit Azetabulumhinterwandfraktur 704 – vorderer 700 – – Fraktur 703, 704 – – – mit hinterer Hemiquerfraktur 704 Azetabulumquerfraktur 704
– mit Hinterwandfraktur 704 – Reposition 707 Azidose, metabolische 336
B Babinsky-Test 931 Bacillus – anthracis 219 – – Terrordrohung 220 – cereus 219 – spp. 219 Bäder 126 – hydroelektrische 132 Bado-Einteilung, Monteggia-Fraktur 591 Bahnungssystem, haltungskorrigierendes 121 Baker-Zyste 994 Balduini-Klassifikation, Verletzung des oberen Sprunggelenks 895 Ballenhohlfuß 855, 1008, 1009 – Operationsindikation 857 Ballenrolle 98 Ballonkyphoplastie 472 Ballotement, lunitriquetrales 621 Balneotherapie 124 Bambusstabwirbelsäule 432 – Röntgenbild 434 – Syndrom der letzten Gelenke 435 Band (siehe auch Ligamentum) 670 – meniskofemorales 815 – – anteriores 803 – – posteriores 803 – radioskaphoidales 670 – radioskapholunäres 670 – radiotriquetrales 670 Bandage im Sport 96 Bandapparat – fibularer 894 – – Durchtrennung 896 – – Rekonstruktion 898 – iliosakraler 688 Bandisometrie-Konzept 808 Bandläsion, skapholunäre 614, 640, 646 Bandlaxizität 142, 146, 148, 159 – Mobus Morquio 162 Bandruptur, fibulare 895, 899 Bandscheibendegeneration, lumbale 440 Bandscheibenlockerung 441 Bandscheibenprothese 444 – lumbale 443 Bandscheibenprotrusion 440, 441 – lumbale 446 Bandscheibensequester 407, 443 – lumbaler 441
1069 Stichwortverzeichnis
Bandscheibenvorfall siehe Diskusprolaps Bandverletzung – Finger 684 – karpale 674 Bankart-Läsion 498, 517, 519 – Refixation 521 Bankart-Linie 517 Barlow-Test 932 Basisanalgetikum 70 – bei Kindern 74 Basistherapeutika, antirheumatische 312 Batson-Venenplexus 273 Bauteil, Komponentprüfung 38 Beckenasymmetrie 932 Beckenaufhängung 109 Beckenband 697 Becken – Hochenergietrauma 692 – Inlet-Aufnahme 694 – Outlet-Aufnahme 694 Beckenfixateur 697 – Pinplatzierung 698 Beckenfraktur 350, 688 – Begleitverletzung 699 – beim Kind 1031 – Computertomographie 695 – Klassifikation 350, 689 – Lokalisation 692 – manuelle Untersuchung 693 – neurologisches Defizit 692 – offene 699 – – Blutstillung 700 – stabile 696 – Therapie 696 – Unfallmechanismus 690 Beckengeradstandprüfung 402 Beckengurt 697 Beckenkorbprothese 85, 86 Beckenosteotomie 719 – nach Chiari 961 – nach Salter 960, 961, 966 Beckenring – Avulsionsfraktur 689 – hinterer, Stabilisation 699 – Stabilisation 697 – – von dorsal 699 – – von ventral 699 Beckenringeingangsebene 688 Beckenringfibrosarkom 265 Beckenringfixation, perkutane 697 Beckenringfraktur 688 – Blutstillung 697 – dislozierte 698 – doppelte 1031 – hintere 692 – instabile 696 – – Blutverlust 696
– Klassifikation 689 – komplett instabile 697 – Letalität 699 – neurale Schäden 699 – Osteosynthese 698 – Röntgenuntersuchung 693 – rotationsinstabile 689 – stabile 689, 690 – vordere 692 Beckenringinstabilität 690, 696 Beckentrauma 350 Beckenübersichtsaufnahme 693, 734, 957 – Azetabulumfraktur 702 – bei Hüftluxation 957 – Morbus Perthes 963 Beckenzwinge 697 – nach Ganz 697 – supraazetabulärer Pineintritt 697 Becker-Muskeldystrophie 207 Befunderhebung, gutachterliche 1039 Begutachungsablauf 1046 Behandlungsplan, physiotherapeutischer 104 Behinderung 1051 – Merkzeichen 1052 – Nachteilsausgleich 1052 – Vollbeweis 1051 Behinderungsgrad 1051 Beinabduktionseinschränkung 955 Beinabduktorenschwäche 972 Beinachse, varische 160, 196 Beinachsenabweichung, frontale 983, 986 – Untersuchungsalgorithmus 985 Beinachsenaufnahme 977 Beinachsendeformität 760, 776 – frontale 775 Beinachsenverhältnisse, frontale, Entwicklung 984 Beinbelastbarkeit 108 Beineigenschwere 108 Beinlänge, anatomische, Vermessung 932 Beinlängenausgleich 977 Beinlängendifferenz 98, 155, 196, 202, 976 – Diagnostik 976, 977 – Einlagenversorgung 100 – Messung 932, 977 – Therapie 977 – Ursache 976 Beinrotationsmuster, Profilerstellung 973 Beinschmerz, kindlicher 970 – Differenzialdiagnose 971 Beinverkürzung 955, 976 – Morbus-Perthes-bedingte 966 Beinverlängerung 976, 977 Belastung 30 – zusammengesetzte 34 Belastungsart 30
A–B
Belastungshaltung, sternosymphysale 116 Belastungsschmerz 288 Bellmann-Kurzprothese 88 Belly-off-Zeichen 489 Belly-press-Test 489 Bending-Aufnahmen 419 Bennet-Läsion 518 Bennett-Fraktur 679, 680 Berndt/Harty-Klassifikation, Talusläsion, osteochondrale 870 Berstungsfraktur, vertebrale 467 – inkomplette 473 Beruf, versicherungsrechtliche Definition 1048 Berufsgenossenschaft 1044 Berufskrankheit 1045, 1053 – Anerkennung 1054 – Anzeige 1055 – Definition 1054 – Kausalität, konkurrierende 1056 – Lunatummalazie 190 – Schadensanlage 1056 Berufskrankheitenliste 1053, 1055 – orthopädisch-chirurgisch relevante Erkrankungen 1055 Berufskrankheitennummer 1054 Berufskrankheitenverordnung 1054 Berufsprofil 1048 Berufsunfähigkeit – Begutachtung 1049 – – Befunddokumentation 1049 – Grad 1049 – im versicherungsrechtlichen Sinn 1049 – Rente 1050 – Verweisungsberufe 1049 Berufsunfähigkeitsversicherung, private 1048 Beschleunigungstrauma 466 Beschleunigungsverletzung 437 Bestrahlungssarkom 257, 258 Beugekontraktur nach proximaler Oberschenkelamputation 66 Beugescharniermechanismus 81 Beugesehne – Durchtrennung 661, 667 – Naht 666 – Ruptur 654 – Sehnenscheideninfektion 658 – Synovektomie 654 – Synovialitis 655 – Verdickung 953 – Verletzung 666 – – offene 666 Beugesehnenphlegmone 658 Bewegung (s. auch Mobilisation) 113 – aktive 105 – – Prüfung 114
1070
Stichwortverzeichnis
– assistive 105 – isolierte 105 – komplexe 105 – passive 105, 114 – – Endgefühl 114 – reflektorische 120 – resistive 105 – unterstützte 105 – Widerstandserzeugung 105 Bewegungsablauf – bei Bewegungseinschränkung 203 – genetisch verankerter 121 Bewegungsausmaß 200 Bewegungsbad 110, 111 Bewegungseinschränkung 114 – Kapselmuster 114 Bewegungsfixateur 560, 561 Bewegungshemmung 111 Bewegungslehre, funktionelle, nach KleinVogelbach 123 Bewegungsmuster 122 – Bahnungssystem 120 – pathologisches 120 Bewegungsorgane – fehlhaltungsbedingte Störung 117 – Funktionsprüfung 114 – Strukturschadenerfassung 113 Bewegungssegmentinstabilität 449 Bewegungsstörung – lokalisationsbezogene Therapie 114 – zentral ausgelöste 119 – zerebrale 204 Bewegungstherapie 104 Bewegungsumfang 114, 289 Biegebelastung 31, 32, 33 – Reduktion 356 Biegemoment 32, 33 – örtliches 40 Biegespannung 32, 40 – maximale 40 Biegetheorie 39, 40 Biegeträger, Auslenkung unter Last 41 Biegung – elastische Verformung 40 – in Trägern 39 Biegungskeilfraktur 362 Bigliani-Akromiontypen 503 Bildgebende Verfahren 4 – intraoperative 5 – postoperative 5 Bimastoidlinie 406 Bindegewebe 927 Biodex-Gerät 118 Biofilm 218, 228, 233 Biologicals 312, 313 Biopsie – Standards 245
– Tumordiagnostik 244, 1019 Bisphosphonate 164, 179 – Einnahmemodalitäten 174 – bei fibröser Knochendysplasie 155 – Kontraindikation 174 – bei Morbus Paget 180 – bei niedriger Knochendichte 174 – bei Osteogenesis imperfecta 148 – bei Osteoporose 174, 177 – Schmerztherapie 73 – Wirkmechanismus 164 Biventerlinie 406 Bizepssehne – distale 604, 605 – – Rekonstruktion mit freiem Sehnentransplantat 606 – lange 483 – – Läsion 505 – – Tenodese 513 Bizepssehnenansatz 604 – Degeneration 605 Bizepssehnenrefixation 605 – Komplikation 607 – Zweiinzisionentechnik 606 Bizepssehnenruptur, distale 604 – Operation 605 Bizepstenodese 509 Block – korakoakromialer 539 – korakoglenoidaler 533, 534 Blockierung, Gelenk siehe Gelenkblockierung 111 Blockierungseffekt, somatomotorischer, nozizeptiver 116 Blockwirbel 410 Blount-Klammern, Epiphyseodese, temporäre 979, 986 Blumensaat-Linie 765 Blutdruck, systolischer 346 Blutgefäße, fugenkreuzende 1012 – Sprung 1026 Blutstillung 341, 343 Blutung – äußere, traumabedingte 341 – bei Beckenfraktur 351 – Lokalisierung 342 – relevante, bei instabiler Beckenfraktur 696 – retroperitoneale 351 BMP-7 (Bone morphogenetic protein 7) 155, 157, 380 Boat-race incision 605 Bobath-Therapie 120 Bodenreaktionskraft 201–203 – beim Gehen 202 – beim Stehen 201 – bei Muskelschwäche 203
Bogen – radialer, maximaler 598 – schmerzhafter 490–492 Bögen des Bundesinnungsverbands für Orthopädie-Technik 81 Böhler-Femurkopfreposition 735, 736 Böhler-Test 797 Böhler-Winkel 670, 671, 893 Bone bruises 808 Bone morphogenetic protein 7 155, 157 Bone-tendon-bone-Transplantat 765 Borggreve-Plastik 66 Borggreve-van-Nes-Umdrehplastik 1023 – Prothesenversorgung 88 Borrelienarthritis 308 Bosten-Korsett 421 Bouchard-Arthrose 643 Bourneville-Pringle-Syndrom 248 Boxerfraktur 681 Brachialplexusverletzung siehe Plexusbrachialis-Läsion Brachydaktylie 143, 628 Brachymesophalangie 630 Brachytherapie 246 Bragard-Test 405, 442 Brettchentest 932 – nach Coleman 934 Brettsyndrom 931, 942 Brinell-Eindringverfahren 37 Brodie-Abszess 1016 Broström-Operation 898 Bruch bei Wechselbeanspruchung 38 Bruchdehnung 35, 37, 45 Bruchgrenze 37 Brückner-Unterschenkelamputation 65 Brügger-Therapie 116 Brunelli-Test 637 Brunkow-Stemmführung 115 Brunner-Schnitt 660 Brustwirbel 466 – Blockierung 439 – Fraktur 466 – Kompressionsfraktur 425 Brustwirbelsäule – Aufrichtungsosteotomie 316 – degenerative Erkrankung 439 – Orthese 95 – Röntgenaufnahme 440 – Zugang 440 Brustwirbelsäulensyndrom 439 – radikuläres 439 Bryan-Morrey-Zugang, distaler Humerus 577 Buchholz-Klassifikation, Beckenfraktur 689 Bundesversorgungsgesetz 1052 Buprenorphin 72 Burgess-Unterschenkelamputation 65
1071 Stichwortverzeichnis
Bursa infrapatellaris profunda, Erguss 195 Bursekomie, subakromiale 509 Bursitis 215 – eitrige 215 – praepatellaris 215 – septische – – Antibiotikatherapie 222 Buschke-Ollendorf-Syndrom 151 B-Zell-Lymphom, hochmalignes 269 B-Zell-Toleranz gegenüber körpereigenen Antigen 300
C Café-au-lait-Flecken 154, 155, 156, 1019 Cages-Implantation 450 Calcaneus siehe auch Kalkaneus – varus 855 Calor 214 Cam-Impingement 730 – Therapie 733 Campanacci-Läsion 155 Capitulum humeri – Abscherfraktur, koronare 576, 577 – Fraktur 576–578 – – Klassifikation , 577 – – kombinierte 579 – – Reposition 578 – juvenile aseptische Knochennekrose 566 – Osteochondrosis dissecans 189 – Osteonekrose siehe Morbus Panner Caput-ulnae-Syndrom 319 CARS (Compensatory antiinflammatory Response Syndrome) 334, 335 CAT-CAM-Prothesenschaft 86 Catterall-Gruppen, Morbus Perthes 961 CCD-Winkel (Zentrum-Kollum-DiaphysenWinkel) 957 C1/C2-Fusion 435 C1/C2-Stabilisierung 162 CD4+-T-Zellen 303 Cefotaxim 1013 Cefuroxim 1013 Celecoxib 71 CE-Winkel (Zentrum-Erker-Winkel) 714, 957, 958 Chair concept 544 Charcot-Fuß 863 Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung 856 Cheetah Flex-Foot 85 Cheilektomie 839 Chemotherapie 246, 261, 270, 272 – neoadjuvante 260 Cheneau-Korsett 421
Chevron-Osteotomie 836, 837 Chiari-Beckenosteotomie 961 Chirurgie, minimal-invasive 4 Chlamydienarthritis 308 Chloroquin 312 Cholekalziferol siehe Vitamin D Chondroblastom 254, 255, 1020 – Lungenmetastasen 254, 255 Chondrodysplasie 140 Chondrodystrophia fetalis 140 Chondrogenese, matrixinduzierte, autologe 871 Chondroitinsulfat 775 Chondrokalzinose 311 Chondrom 252 – extraossäres 248 – periostales 252 Chondromalacia patellae 994 Chondromalazie – patellofemorale 933 – Stadien 286 Chondromatose – Ellenbogengelenk 567 – synoviale 249 Chondropathie, fissurale 436 Chondroplasie 922 Chondrosarkom 262, 1019 – diagnostische Merkmale 264 – klassisches 262–264 – – Bestrahlung 264 – Merkmale 252 – mesenchymales 265 – Resektion 264 – sekundäres 153, 253, 263 Chondrozyten 165, 285, 286 Chondrozytentransplantation – autologe 292, 293 – matrixgekoppelte 871 Chondrozytenzahl 286 Chopart-Gelenk 877 – Arthrose 846 – Exartikulation 65 – – Prothesenversorgung 89 – Luxation 877–879 – – Begleitverletzungen 879 – – Klassifikation 878 – – Kombinationsverletzungen 879 – – Komplikation 879 – – Therapie 878 – Luxationsfraktur 878 Chopart-Gelenk-Region, Crush-Verletzung 879 Chordom 267 – Metastasierung 268 – präsakrales 268 Chromosomensatz 922 Chromosomenstrukturdefekt 923
B–C
Chromosomentranslokation, reziproke 271 Cierny-Mader-Osteomyelitisklassifikation 370, 371 Cincinatti/Turco-Arthrolyse, peritalare 1004 Ciprofloxacin 232 Claudicatio, neurogene 447 C-Leg 85 Clinical study category 8 Clostridium – perfringens 220 – tetani 220 Coalitio – calcaneonavicularis 854 – talocalcanearis 854 Cobb-Skoliosemessung 420 Cobb-Winkel 159, 419, 420, 423 – Kyphosebestimmung 426 – Operationsindikation 424 Cochrane Controlled Trials Registry 8 Cochrane Database of Systematic Reviews 8 Codman-Dreieck 244, 259 Coleman-Brettchentest 934 Cole-Operation 857 Colitis ulcerosa 307 Colles-Fraktur 670 Collum chirurgicum 484 Compensatory antiinflammatory Response Syndrome 334, 335 Computertomographie – Befund, digitaler 10 – Blutungslokalisierung 342 – Fuß 833 – Halswirbelsäulenuntersuchung 315 – Pilon-tibiale-Fraktur 900 – Pseudarthrose 379 – quantitative 408 – bei Schädel-Hirn-Trauma 345 – Schulter 499 – Tumordiagnostik 244, 251 – Wirbelsäulenuntersuchung 408 Condylus-radialis-Fraktur 1030 Continuous passive movement siehe CPM Coonrad-Morrey-Prothese 563 Corona mortis 708 Corynebacterium diphtheriae 219 Cotrel-Dubousset-Instrumentarium 422, 423 Coulomb-Biegetheorie 39 COX-1 71 COX-2 71 Coxa – antetorta 955 – magna 714, 962, 965 – pedis 847
1072
Stichwortverzeichnis
– plana (s. auch Morbus Perthes) 719, 961 – saltans 933 – valga 955, 960 – – Down-Syndrom 160 – – Mukopolysaccharidose 161, 162 – vara – – Mukopolysaccharidose 161 COX-1-Hemmer 312 COX-2-Hemmer 71, 312 – kardiovaskuläre Komplikationen 71 – selektive 772 COX-Hemmung 70, 71 – Nebenwirkung 71 Coxibe 71, 291, 312, 772 – Angriffspunkte 71 – Wirkmechanismus 773 CPM (continuous passive movement) 105 – nach Tibiaplateaufraktur 818 CPM-Schiene 105 Craig-Klassifikation, Klavikulafraktur 527, 528 Crankshaft-Phänomen 423 Crawford-Klassifikation, Tibiapseudarthrose 995 Crescent sign 192 CRIF (closed reduction internal fixation) 543 Crossing sign 731 Crossleg-Lappen 387, 388 Crosslinks 168, 173 Cross-over-Test 491, 493 CRP siehe Protein, C-reaktives CRPS (Complex regional Pain Syndrome) siehe Schmerzsyndrom, komplexes, regionales 238 Crus varum 141 CT siehe Computertomographie Cubitus varus 1030 Cushing-Trias 347 Cyclooxygenase siehe COX Cyclooxygenasehemmer siehe COX-1Hemmer;siehe COX-2- Coxibe C-Zell-Karzinom 166
D Daktylitis 305 Damage-Control-Konzept 336, 337 Damage Control Orthopedics 341, 351 Damage Control Surgery 341, 749 Dameron/Quill-Klassifikation, MetatarsaleV-Fraktur 882 Dampfbad, russisch-römisches 125 Darmbeinkammapophyse, Ossifikationslage (s. auch Risser-Zeichen) 420
Darmerkrankung, chronisch-entzündliche, Arthropathie 307 Dashboard-Verletzung 700, 701 Database of Reviews of Effectiveness 8 Dauerfestigkeit 35, 38, 45 Dauerschall 134 Daumen – Amputationsverletzung 663 – Arthritis, rheumatoide 656 – Bandverletzung 684 – 90-90-Deformität 324 – eingeschlagener 626 – Endgelenkarthrodese 656 – Interphalangealluxation 683 – Knopflochdeformität 656 – Schwanenhalsdeformität 656 – triphalangealer 948 Daumenballenatrophie 633 Daumenersatz 67 Daumengrundgelenk – Arthrodese 322, 645, 656 – Arthrose 644 – Kollateralbandruptur 645 – Synovektomie 656 Daumenhypoplasie 631 Daumensattelgelenk – Arthroplastik 656 – Arthrose siehe Rhizarthrose – Druckschmerz 619 – radiologische Darstellung 639 – Resektionssuspensionsarthroplastik 322 – rheumatoide Arthritis 322 – Zugang 640 Daumentriphalangie 628 Davies -Klassifikation, Humerusfraktur, distale 576 DC-Intervention 342 DCO (Damage Control Orthopedics) 341, 351 DCS (Damage Control Surgery) 341 – Femurschaftfraktur 749 Débridement – intraartikuläres 292 – bei periprothetischer Infektion 230 Deep friction 112, 114 Defekt – fibrokortikaler 1019 – – Kniegelenk 987 – fibröser, metaphysärer 277 Deformation 924 Deformität, präarthrotische 284, 287 – Hüftgelenk 717 90-90-Deformität, Daumen 324 Degenerative Erkrankung – Schmerztherapie 74 – symptommodifizierende Medikamente 75
Dehnung 34, 45 – ständig zunehmende 38, 46 Dekompression, transorale 316 Dekompressionsoperation bei Subakromialsyndrom 508 Dekubitusprophylaxe 106, 107 Deltaphalanx 625, 953 Deltotrapezoidfaszie, Durchtrennung 548 Denervierung, Handgelenk 648 Denis-Beckenfrakturzonen 692 Denis-Klassifikation, Wirbelfraktur 469, 470 Denosumab 175 Dens axis – Aplasie 414 – dysplastischer 145 – Fehlbildung 947 – Flexionsfraktur 463 – Fraktur 453, 454, 462 – Hypoplasie 162 – Pseudarthrose 462, 463 – stabilisierende Bänder 450 – Verschraubung 458 Dens-Atlas-Abstand, ventraler 456 DeQuervain-Tendovaginitis 614, 619, 637 Dermatofibrosarcoma protuberans 250 Dermatofibrose, lentikuläre, disseminierte 151 Dermatom 114, 405 Derotations-Varisations-Osteotomie, proximales Femur 211 Desmoidfibromatose 247 Desoxypyridinolin 169, 173 Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie 10 Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie 10 Deutsche Rentenversicherung Bund 1050 Dexamethason bei Trauma 73 Dezimeterwelle 133 Diabetes insipidus 276 Diacerein 75 Diademgips 945 Diagnostikverfahren, bildgebende 4 – intraoperative 5 – postoperative 5 Dial-Test 807 Diastase, tibiofibuläre 982 Diastematomyelie 412 Diathermie 133 Diclofenac 312 – beim Kind 74 – kardiovaskuläre Komplikationen 72 Digitalnervennaht 668 Digitus – quintus varus 842, 843
1073 Stichwortverzeichnis
– supraductus 997 Dihydrocodein 72 Dimeglio-Klassifikation, Klumpfuß, kongenitaler 999, 1000 Diphtherie 219 Diplegie 204, 205 DISI-Stellung (dorsal intercalated segment instability), Handwurzel 646, 678 Diskographie 407 Diskose 441 Diskotomie, minimalinvasive 444 Diskusprolaps 441–443, 942 – lumbaler 442 – – extraligamentärer 441 – – Injektionsbehandlung 443 – – Operationsindikation 443 – – subligamentärer 441 – – submembranöser 441 – Therapie – – konservative 442 – – minimalinvasive 442 – thorakaler 439 – – hoher 439 Dislokation – atlantoaxiale 453, 462 – – rotatorische 453, 454, 462 – – translatorische 453, 462 – atlantookzipitale 452, 453 – subtalare 884, 886 – – Therapie 889 Dissekat 187 Dissoziation – skapholunäre 319, 678 – skapulothorakale 539 Distorsionstrauma, Sprunggelenk, oberes 894, 897, 899 Distraktionsarthrolyse, Ellenbogengelenk 560, 561 Distraktions-Interpositions-Arthroplastik, Ellenbogengelenk 557 Diszitis 427 DNOAP siehe Osteoarthropathie, diabetisch-neuropathische Dolichostenomelie 158 Dolor (siehe auch Schmerz) 214 Doppeldaumen 627, 628, 948 Doppelschlittenprothese 777 Doppelstand 107 Dornfortsatzfraktur, zervikale 465 Dorsal wrist stabilization 319 Dorsalextensionsmoment, Sprunggelenk 201 Down-Syndrom 159, 923 Doxorubicin 246 Drainagelagerung 106 Drehmoment 33, 45, 201, 202 Dreiebenenfraktur 1034
Dreifachbeckenosteotomie nach Tönnis 720 Dreiphasenszintigraphie 429, 434 Drei-Punkte-Korsett 471 Dreipunktstützeinlagen 975 Dreistufenhyperextensionstest 403, 404 Drop-arm-Zeichen 489, 490 Druckbelastung 31, 32 Druck – intraabdominaler 349 – intrakranieller 347 Druckerhöhung, intraossäre 189 Druckkraft 32 Druckmessung, intrakompartimentale 912, 913 Druckspannung 32 Druckstrahlgüsse 126 Druckverteilungsmessung, plantare 97 Duchenne-Hinken 402, 972 Duchenne-Muskeldystrophie 206, 922, 931, 972, 1008 Duchenne-Zeichen 932, 972 Duktilität 37, 46 Duraleck, postoperatives 465 Duravernarbung 445 Durchbewegen, passives, isoliertes 106 Durchblutungsstörung, intraossäre 186 Dwyer-Instrumentation 422 Dwyer-Operation 857 DXA (dual energy X-ray absorptiometry) 169, 172, 174 Dynamikfuß 84 Dyschondroplasie 153 Dysostosis – cleidocranialis 142–144 – – Röntgenbild 143, 144 – multiplex 163 – sternocleidocranialis 500 Dysplasia epiphysealis multiplex 144 Dysplasie 924 – epiphysäre 144 – – multiple 145 – fibrokartilaginäre, fokale 196 – fibroossäre siehe Dysplasie, fibröse – fibröse 153, 1019 – – Magnetresonanztomographie 154 – – Röntgenbild 155 – kleidokranielle 142–144 – metaphysäre 144 – osteofibröse Campanacci 155, 276 – spondyloepiphysäre 142, 145, 162, 927 Dysplasiekoxarthrose 714 Dysplasiesyndrom, Kniefunktion 987 Dysregulation, sympathische 240 Dysrhaphie 411 Dystrophinmangel 207
C–E
E Ectopia lentis 158, 159 ECU-Instabilitätstest 621 Edgren-Vaino-Zeichen 425 eHealth 9 Ehlers-Danlos-Syndrom 922, 927 Eigenkraftprothese 82, 950 Einatmungsübung 107 Einlagenversorgung 99 – enge Fersenfassung 848 – mit retrokapitaler Pelotte 845 – bei rheumatoider Arthritis 859 Einpunktextremitätenaufhängung 109 Eisanwendung 127 EKG-Befund, Direktübertragung 10 Elastizitätsgrenze 31, 34, 36 Elastizitätslehre 32 Elastizitätsmodul 34, 36, 42, 46 – globales 42 Elektrokardiographie(-gramm), Befunddirektübertragung 10 Elektromyographie 201, 396 Elektrotherapie 132, 133, 313 Ellenbogen – Arthrodese 558 – Arthroplastik 557, 559, 560 – – arthroskopische 558 – – offene 559, 560 – Arthrose 556–589 – – Operation 557 – – Therapiealgorithmus 558 – – nach Ulnafraktur 589 – – Ursache 556 – Bänder 556, 598 – Beweglichkeit 935 – Destruktion, posttraumatische 319 – Fraktur, dislozierte 1029 – Impingement 556 – – synovialfaltenbedingtes 565 – Osteotomie, schließende 567 – Palpation 935 – rheumatischer 557 – Röntgenaufnahme 582 – Sehnenüberlastungsschaden 565 – Stressaufnahmen 601 – Verletzung, sensomotorischer Status 582 Ellenbogen-Brace 601 Ellenbogenendoprothese 318, 557, 562 – Epikondylenabstand 565 – primäre, bei distaler Humerusfraktur 580, 581 – teilgeführte 604 – teilgekoppelte 562, 563 – ungeführte 562 – ungekoppelte 563
1074
Stichwortverzeichnis
– Zugang 563, 564 – – trizepserhaltender 563 Ellenbogengelenk 556 – Arthroskopie 558, 559 – Bewegungsumfang 575 – Chondromatose 567 – Distraktionsarthrolyse 560, 561 – Exartikulation 67 – – Prothesenversorgung 82 – Gelenkspaltverschmälerung 557 – Hämarthros 582 – Insertionstendinopathie 565, 566 – – Stoßwellentherapie 566 – instabiles 599 – Magnetresonanztomographie 567 – Osteochondrosis dissecans 566, 567 – Osteophytenbildung 557 – posterolaterale Rotationsinstabilität 600 – Punktion 582 – rheumatische Erkrankung 318 – Stabilisatoren 598 – Synovektomie 557, 558 – Totalendoprothese 562 – Valgusstabilität 581 – Valgusstress 556 Ellenbogeninstabilität, chronische 601 – Arthroskopie 603 – geführte Immobilisation 604 Ellenbogenkontur 935 Ellenbogenluxation 598 – bildgebende Diagnostik 601 – mit Fraktur 604 – Horii circle 599 – Klassifikation 599 – Operation 603 – Rekonstruktion der lateralen Bänder 603 – Repositionstechnik 601 – Therapiealgorithmus nach O‘Driscoll 601, 602 – ventrale 600 Ellenbogenorthese 93 Elmslie-Trillat-Operation 994 Embase 9 Embolisation, intraarterielle, Riesenzelltumor 258 Embryonalphase 923, 925 Eminentia intercondylaris – Avulsionsverletzung 1032 – fehlende 760 E-Modul siehe Elastizitätsmodul Empyem 1012 Enchondrom 252, 1020 – maligne Entartung 253 Enchondromatose 253 Enchondrome, multiple 153, 154, 253 Endgefühl bei passiver Bewegung 114
Endokarditis – Enterokokkeninfektion 219 – Staphylococcus-aureus-Infektion 217 Endolite-Multiflex-Prothesenfuß 84 Endolite-Navigator-Fuß 84 Endoprothese – Knochenbelastungsmuster 44 – Lockerung 229 Endoprothesenwechsel 229–231 Energiebereitstellung 119 Enterobacteriaceae 220 Enterokokken 218 – Resistenzentwicklung 219 Enterotoxin 217 Enthesiopathie 306, 308, 432 Entschädigungsrecht, soziales 1052 Entstauungstherapie 130 Entwicklungsverzögerung 156 Entzündung – akute, Kardinalsymptome 214 – Frakturheilung 367 Entzündungsszintigraphie 408, 429 Epicondylitis – radialis 565 – ulnaris 565 Epicondylus – radialis 575 – ulnaris 575 – – Avulsionsverletzung 577 Epikondylenabstand, Ellenbogenendoprothese 565 Epikondylopathie 133 Epilepsie 206 Epineurotomie 397 Epiphysenfraktur 1026, 1027 Epiphysenfugenknorpel 1027 Epiphysenoberfläche 927 Epiphysentumor 254 Epiphysenverknöcherung, femoralkondyläre, irreguläre 987 Epiphyseodese 196, 762, 977 – endgültige 978 – temporäre 762, 763, 978, 979 Epiphyseolysis capitis femoris 967 – acuta 967, 968 – Diagnostik, bildgebende 968 – Differenzialdiagnose 968 – Gegenseitenverschraubung, prophylaktische 969 – Habitus 967 – imminens 967, 968 – incipiens 967, 968 – lenta 967, 968 – Operation 968 – Operationskomplikation 970 Epiphysitis vertebralis siehe Morbus Scheuermann
Epping-Plastik 322 Epping-Resektions-Suspensions-Arthroplastik 640, 641 Erb-Duchenne-Plexus-brachialis-Parese 207, 501, 947 Erbinformation 922 Ergotherapie 314 Erlenmayer-Kolben-Deformität der Röhrenknochen 164 Ermüdungsfraktur siehe Stressfraktur Erregerquelle 217 Erweiterungsforaminotomie 460 Erwerbsminderung siehe Minderung der Erwerbsfähigkeit Erysipel 215 – Antibiotikatherapie 222 Erythema marginatum 309 Erythrozytenkonzentrat 343 Escherichia coli 220 Eskalationsleiter 385 Essex-Lopresti-Klassifikation, Kalkaneusfraktur 890 Essex-Lopresti-Verletzung 581, 674 Etoricoxib 71, 72, 772 Euler/Rüdi-Klassifikation, Skapulafraktur 533, 534 Ewing-Sarkom 271, 1022 – Chemotherapie, neoadjuvante 246, 272, 1024 – Differenzialdiagnose 272, 1015 – iliosakrales 272 – Lokalisation 1022 – Metastasierung 271, 272 – Nekroserate, chemotherapiebedingte 273 – Operation 1024 – prognostische Faktoren 273 – mit Weichteiltumor 1024 Exartikulation 63 Exophthalmus 276 Exostosen – hereditäre, multiple siehe Osteochondrome, multiple – kartilaginäre 1020 – osteokartilaginäre siehe Osteochondrome, multiple Exostosin 152 Exostosin-Gen-Mutation 152 Extensionsmoment, äußeres 201 Extensionsosteotomie, zervikothorakale 435 Extensionstest, Halswirbelsäule 403 Extensionstisch – bei Femurschaftfraktur 748 – bei intertrochanterer Femurfraktur 743, 744 – bei subtrochanterer Femurfraktur 745
1075 Stichwortverzeichnis
Extensor-carpi-ulnaris-Sehne, Synovialitis 652 Extremitätenerhalt 384 Extremitätenknospen 925 Extremitätenlängendifferenz 253 Extremitätenskelettanlage 925 Extremität(en) – Bewegungsmuster 123 – Hemihypertrophie 156, 948 – Kompartimente 374 – kurze 141 – obere – – Amputation 67 – – Amputationsverletzung 668 – – Asymmetrie 948 – – axiales Trauma 670 – – Entwicklung 947 – – Fehlbildung 947, 948, 950 – – Fraktur 1028 – – Hemihypertrophie 948 – – Lähmung, geburtstraumatische 947 – – Mehretagenverletzungen 669 – – Nervenkompressionssyndrom 633 – – Orthesenversorgung 93 – – Prothesenversorgung 81 – – Replantation 668 – – Sehnenerkrankung 636 – überlange 158 – untere – – Achsendrehfehler 973–975 – – – Algorithmus 975 – – – Altersabhängigkeit 974 – – – komplexer 973 – – – Therapie 974 – – Amputation 64 – – Fraktur 1031 – – Haut-Weichteil-Deckung 384 – – Längenwachstumsunterschied 978 – – Lappenplastik 387 – – Orthesenversorgung 90 – – Prothesenversorgung 84 – – Untersuchung beim Kind 931 Exzisionsbiopsie, Tumordiagnostik 244
F Facettengelenk 436 Facetteninfiltration, bildwandlergesteuerte 438, 443 Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie 4 – Spezialweiterbildung 5 Facharzttitel 10 Fairbank-Erkrankung 144, 145 Fairbank-Zeichen 994
Fallhand 635 Falliner-Klassifikation, Spalthand 629 Faltenasymmetrie bei Hüftgelenksdysplasie 955 Fango 128 Fasziektomie 216 Faszienhernie 373 Fasziennekrose 216 Faszienödem 216 Fasziitis – nekrotisierende 216, 218 – – Antibiotikatherapie 222 – – histologisches Bild 216 – – Kriterien 216 – noduläre 247 Fasziotomie 372, 373, 375 – bei Fußkompartmentsyndrom 912–914 – – Komplikation 914 – Hautverschluss 386 Fat pad sign 588 Faustschlussaufnahme 622 Faux-profile-Aufnahme 958 Fazilitation – Bobath-Konzept 120 – neuromuskuläre, propriozeptive 122 Fechteraufnahme 456 Fehlbildung, okzipitozervikale 413 Fehlhaltung 116 Feinnadelbiopsie, Tumordiagnostik 244 Felix-Klassifikation, periprothetische Tibiafraktur 54 Felix-Typ-IB-Fraktur 55 Felix-Typ-IC-Fraktur 55 Felix-Typ-IIA-Fraktur 55 Felix-Typ-IIB-Fraktur 55 Felix-Typ-IIIA-Fraktur 55, 58 Felix-Typ-IIIB-Fraktur 56 Femoralisdehnungstest 404, 443 Femoral notching 53 Femoropatellargelenk 991 – Dysplasietypen nach Wiberg 992 – Instabilität 933 – Osteochondrosis dissecans 768 – Patellaersatz 77 Femur – Hirtenstabdeformität 154, 965 – kongenital kurzes 979 – Osteodensitometrie 169 – proximales – – Amputation 86 – – Angulationsosteotomie nach Schanz 211 – – Architektur 42 – – Beanspruchung – – – im Einbeinstand 31 – – – innere 43
– – Derotations-Varisations-Osteotomie 211 – – Klarzellchondrosarkom 265 – – Kopf-im-Nacken-Deformität 965 – – Kraftverhältnisse 745 – – mechanischer Aufbau 42 – – Spannungsentlastung, implantatbedingte 44 – Wachstumsepiphysenfuge, distale 978 – Weichteilmantel 747 Femurachsenstoßtrauma 700, 701 Femurantetorsion 973, 974 – vermehrte 973, 975 Femuranteversion 973 Femurdefizit, fokales, proximales 980, 981 Femurdiaphyse siehe Femurschaft Femurendoprothese – Geradschaft 725, 726 – – hydroxylapatitbeschichteter 725 – Knochenbelastungsmuster 44 – Kurzschaft 726, 727 Femurfehlbildung, longitudinale 979 Femurfraktur – distale (s. auch Femurfraktur, suprakondyläre) 750, 1032 – – intraartikuläre 753 – – beim Kind 1032 – – periprothetische 53 – fehlverheilte 149 – intertrochantere 742–744 – – AO-Klassifikation 743 – – Implantatwahl 743 – – mehrfragmentäre 744 – – Reposition 743, 744 – proximale – – beim Kind 1032 – – interprothetische 55 – – periprothetische 50–52 – – – Behandlungsalgorithmus 52 – – – intraoperative 50 – – – Plattenverschraubung 51 – – – postoperative 50 – – – Risikofaktoren 50 – subtrochantere 745 – – dislozierte 745 – – Fehlstellung 746 – – Implantatwahl 745 – suprakondyläre 750 – – AO-Klassifikation 751–753 – – Implantate 753 – – mehrfragmentäre 751 – – offene 752 – – periprothetische 53 – – – Therapie 54, 55 – – – winkelstabiles Implantat 57 – – postoperative Fehlrotation 754
E–F
1076
Stichwortverzeichnis
– – Reposition 752 – unikondyläre 751 Femurhals siehe Schenkelhals Femurhistiozytom, fibröses, malignes 266 Femurhypoplasie 979 Femurkondylus – Fraktur 751 – medialer, Osteochondrosis dissecans 767, 990, 991 – Osteonekrose 194 Femurkopf – Anbohrung 191, 716 – Containment 715 – Druckbelastung 31 – Endoprothese 191 – Gefäßversorgung 733, 734 – Impressionsfraktur 735 – mechanischer Aufbau 43 – Risikozeichen 962 Femurkopfabflachung 192 Femurkopfdysplasie 145 Femurkopfentlastung 191 Femurkopfepiphyse, unregelmäßige 161 Femurkopfepiphysenlösung siehe Epiphyseolysis capitis femoris Femurkopfersatz 720 Femurkopffraktur 733, 735 – Klassifikation 735, 736 – Nekroserisiko 736 – Therapie 736 Femurkopfnekrose 713, 715 – Anbohrung 716 – aseptische, des Kindes siehe Morbus Perthes – Ätiologie 715 – avaskuläre 738 – – nach Schenkelhalsfraktur 742 – Down-Syndrom 160 – Einteilung – – nach Ficat/Arlet 191 – – nach Steinberg 192 – des Erwachsenen 191 – juvenile siehe Morbus Perthes – Klassifikation 715 – Magnetresonanztomographieie 715 – Morbus Gaucher 164 – Mukolipidose 163 – nach Hüftluxation 737 – nativradiologische Darstellung 191 – Operation 716 – Röntgenbild 716 – nach Schenkelhalsfraktur 1032 – Spongiosaumkehrplastik 716 Femurkopfosteophyten 283 Femurkopfreposition 734, 959 – geschlossene 735 – mechanisches Hindernis 960
– offene 736 Femurkopfresektion 211 Femurkopf-Schenkelhals-Übergang, Formstörung 730, 733 Femurkortikalis, anteriore, Schwächung 53 Femurlängendefizit, extremes 980 Femurlängenwachstum, vermehrtes, nach Schaftfraktur 1032 Femurnagel – anterograder 747, 749, 753 – Aufbohrung 749 – proximaler 743, 745 – retrograder 55, 747, 749, 753 Femurosteotomie – korrigierende 211, 763, 776 – proximale, varisierende, derotierende 961 – suprakondyläre – – bei Genu valgum 763 – – varisierende 776 Femurplatte, distale, anatomisch geformte 55 Femurprothesenschaft – unzementierter 50 – Wechsel 50 Femurretrotorsion 973 Femurrollennekrose, aseptische 769, 770 Femurschaft, innere Beanspruchung 44 Femurschaftfraktur 746–749 – Antibiotikaprophylaxe, perioperative 747 – AO-Klassifikation 747 – bildgebende Diagnostik 747 – isolierte 748 – beim Kind 1032 – Marknagelung 747, 748, 749 – – intraoperative Röntgenprojektion 750 – offene 747 – Operation 747 – Traktion 1032 Femurschaftprothese 296 – zementfreie 296 Femurschrägfraktur, diaphysäre 746 Femurtorsion 200 – vermehrte 783 Femurtrümmerfraktur, subtrochantäre 746 Femurumstellungsosteotomie – intertrochantäre 719, 965 – – varisierende 720, 965, 966 – suprakondyläre, varisierende 994 Femurversion 973 Fernandez-Klassifikation, Unterarmfraktur 670 Fersenentlastungsorthese 90 Fersenfreilagerung 106
Fersenregion, Untersuchung 832 Fersenschmerz 176, 850 Fersensporn 100, 850 – Druckentlastung 851 – Resektion 851 Fersenvalgus 996 Fersenvarus 996, 1008 Festigkeitslehre 32 Fetalphase 927 Fettweis-Sitz-Hock-Gips 959, 960 FGFR-3 (Fibroblast growth factor receptor 3) 141 FGFR-3-Tyrosinkinase-Inhibitor 142 Fibre-Wire-Cerclage 588 Fibrillin-1-Gen-Neumutation 158 Fibroblast growth factor receptor 3, Spontanmutation 141 Fibroblastom, desmoplastisches 247 Fibrom – aponeurotisches, kalzifizierendes 247 – desmoplastisches 255, 256 – ncht ossifizierendes 1019 Fibroma mollusca 155 Fibromatose 247 Fibromyalgie 311 Fibroossäre Läsion siehe Dysplasie, fibröse Fibroosteoklasie 176 Fibrosarkom 249, 265 Fibula – gestielte, Transfer 157, 158 – überlange 141, 142 – – Epiphysiodese 142 Fibulaaplasie 980, 981 Fibulafehlbildung, longitudinale 980, 981, 982, 995 Fibulahypertrophie, kompensatorische 30 Fibulahypoplasie 980 Fibulaosteosynthese bei Unterschenkelfraktur 825 Fibulaschaftfraktur 1033 Fibulatransfer 380 Ficat/Arlet-Klassifikation, Femurkopfnekrose 715 Fieber, rheumatisches 308 Filtrationsrate, glomeruläre 179 Finger – Abszess 658 – Amputation 83 – Amputationsverletzung 663, 664 – Bandverletzung 684 – schnellender 636, 953 – Ulnardeviation 324, 652, 655 Fingerbeugekontraktur 309 Fingerbewegungseinschränkung nach Radiusfraktur 675 Finger-Boden-Abstand 403
1077 Stichwortverzeichnis
Fingerendgelenk – Arthritis, rheumatoide 656 – Arthrodese 656 – Arthrose, idiopathische 644 Fingerendphalanx – Fraktur 682 – Infektion, subkutane 657 Fingerfraktur 682 Fingergefäßverletzung 667, 668 Fingergrundgelenk – Arthritis, rehumatoide 655 – Arthrose 642 – Endoprothese 642, 643, 655 – Synovialektomie 655 – – totale 322 – Synovialitis 322 Fingerluxation 683 Fingermittelgelenk – Arthrodese 643, 656 – Arthrose – – posttraumatische 643 – – primäre 643 – Endoprothese 322, 323, 643, 644 Fingernervenverletzung 667, 668 Fingerorthese 93 Fingerphalanxbasis, Osteonekrose 191 Fingerpollizisation 627 Fingerreplantation 669 Fingerverbiegung 952 Finkelstein-Test 619, 637 Fischwirbel 172, 176 Fistel – Aktinomykose 219 – osteomyelitische 1016 Fixateur externe – bei Humerusschaftfraktur 571 – Radiusfraktur 671 – Unterarm 594 Fixateur – externe – – Beckenringfixation 697 – – – Pinplatzierung 698 – – bei Kalkaneusfraktur 893 – – bei Navikularefraktur 876 – – bei Pilon-tibiale-Fraktur 901 – – bei proximaler Tibiafraktur 819 – – Risiko 824 – – Tibiaschaftfraktur 824 – – tibiokalkanearer 901 – interne 1024 Fixation – korakoklavikuläre 549 – sublaminäre 316 – transpedikuläre 316 Fixed lumbar lordosis 931 Flachgüsse 125 Flachkopf 944
Flachrücken 402, 424, 938 Fleck-sign 880 Flexionsmoment, äußeres 201 Flexor-carpi-radialis-Sehne, Bizepssehnenrekonstruktion 606 Flexor-digitorum-longus-Sehne, Transfer 848, 849 Fließgrenze 36, 37, 47 Floating shoulder 539 Floppy hinge 562, 563 Flucloxacillin 232 Flügelabsatz 98 Fluidhand 83 Fluordesoxyglukose-PET – Spondylodiszitisnachweis 429 – Tumordiagnostik 244 Fluoride bei Osteoporose 175, 177 Flüssigstickstoff 256, 258 Fontanellenschluss, verzögerter 143 Foramen – arcuale 414 – ischiadicum majus 703 – occipitale magnum – – Darstellung 413 – – enges 141 – – Fehlbildung 413 Foraminotomie 449 – zervikale 439 Fossa – acetabuli, Verlauf einer Azetabulumquerfraktur 704 – coronoidea 585 – olecrani 585 Fovea radialis siehe Tabatière Fraktur 362 – AO-Klassifikation 365, 366 – Belastungsgeschwindigkeit 363 – Druck, stabilisierender 44 – exzentrische 150 – geschlossene 385 – – Tscherne-Oestern-Klassifikation 366, 367 – Hyperparathyroidismus, sekundärer 178 – interprothetische 55, 56 – Klassifikation 365, 366 – Knochendurchblutung 362 – Mukolipidose 163 – Nachbehandlung 380, 381 – offene, Gustilo-Anderson-Klassifikation 366, 367 – osteochondrale 187 – Osteogenesis imperfecta 148 – osteoporotische 169 – Pathogenese 362 – pathologische 155, 163 – – Chondrosarkom, dedifferenziertes 264
– – – – – – – – – – – – – – –
– Enchondrom 253 – Fibrosarkom 265 – Knochenmetastase 273 – Knochenzyste – – aneurysmatische 275 – – solitäre 1021 – multiples Myelom 269 – Osteosarkom 259, 260 – tumorbedingte 1018 periprothetische 50 – Hüftgelenk 50 – Kniegelenk 53 – Schultergelenk 58 postoperatives Management 381 Prophylaxe bei fibröser Knochendysplasie 155 – Remodellierung 1026 – Sekundärdislokation 376 – Weichteilverletzung 366 Frakturbehandlung, Komplikation 369 Frakturhämatom 367 Frakturheilung 366 – Bisphosphonateinfluss 174 – gestörte 378 – nichtosteonale 368, 369 – osteonale 368, 369 – spontane 367 – verzögerte 377 Frakturtypen – nach Jeanneret 452 – beim Kind 1026 Frank-Klassifikation, Kamptodaktylie 625 Freckling 156, 157 Freezing shoulder 514 Freimachungsprinzip 43, 46 Fremdkörper, Infektion siehe Infektion, fremdkörperassoziierte Fremdkraftprothese 82 Fremdmaterial, Biofilm 228, 233 Frick-Röntgenaufnahme 987 Froschaufnahme 974 Froschstellung 959 Frozen shoulder 513 Frühinfektion, periprothetische 228, 230 – verzögerte 228, 230, 231 Frühmobilisation 107 Frühsynovektomie 318 – arthroskopische, oberes Sprunggelenk 860 Fugengefäße – epiphysäre 1027 – metaphysäre 1027 Fugenknorpel 1027 Fukuda-Test 493 Fulkrumaufnahme 529 Fulkrumtest 494, 495 Functio laesa 214
F
1078
Stichwortverzeichnis
Furunkel 217 – Antibiotikatherapie 222 Fusion – atlantoaxiale 316 – interkorporelle – – anteriore lumbale 416 – – posterolumbale 450 – – transforaminale lumbale 416 – – zervikale 439 – interkorporelle 474 – intervertebrale, posterolaterale 416 – okzipitozervikale 316 Fuß – Amputationshöhe 64 – Bänder 895 – Computertomographie 833 – Diagnostik 832 – Funktionsprüfung 832 – Gelenkbeweglichkeit 996 – Kompartimentdruckmessung 912, 913 – Magnetresonanztomographie 833 – Röntgenaufnahme 833, 854, 857, 864, 878, 886, 892 – – Indikation 896 – Rotationsstellung 833, 834 – Sonographie 833 – Synovektomie 860 – Untersuchung beim Kind 934 – Untersuchungsablauf 832 Fußabduktion 833, 834 Fußachse 932 Fußadduktion 833, 834 Fußaußenrotation 833 Fußbäder, wechselwarme 125 Fußbewegung, Nomenklatur 833 Fußdeformität 159, 934 – spitzfüßig-valgische 981 Fußdorsalflexion 833 Fußeversion 835 Fußheberparese 90 Fußinnenrotation 833 Fußinversion 835 Fußkompartimente 911, 912 Fußkompartmentsyndrom 911 – Diagnostik 912 – Druckmessung 912, 913 – nach Kalkaneusfraktur 894 – Komplikation 914 – nach Lisfranc-Luxationsverletzung 882 Fußlängsgewölbe – aufgehobenes 854 – Aufrichtung 848 – Stabilisierung 877 – überhöhtes 855, 856 – Untersuchung 832 Fußlängsgewölbekollaps 847 Fußlängsgewölbetest nach Matussek 934
Fußläsion, diabetische 863 – Druckentlastung 865 Fußmuskelimbalance 855 Fußorthese 209 – Fußstellungskorrektur 209 Fußprogression 932 Fußprogressionswinkel 973 Fußpronation, exzessive 815 Fußprothese – knöchelübergreifende 89 – Sportbereich 85 Fußquetschtrauma 912 Fußsäulenmodell 877, 879 Fußschmerz, kindlicher 996 Fußstellungskorrektur, Orthese 209 Fußsyndrom, diabetisches 862 – Gefäßdiagnostik 866 – Infektion 866 – lokales Wundmanagement 865 – Operationsindikation 865, 866 – orthopädieschuhtechnische Versorgung 865 – Therapie 864 Fußwurzelarthritis, rheumatoide 326 Fußwurzelarthrose 846 Fußwurzelverletzung 884 Fußwurzelverwringungsschmerz 832
G Gabapentin 74 Gabelplatte 55 Gächter-Gelenkinfektionseinteilung 223 Gadolinium-DTPA 409 Gaensslen-Zeichen 301 Gagey-Hyperabduktionstest 494 Galeazzi-Fraktur 1031 – Einteilung 592 – Therapie 597 Galeazzi-Test 932 Gallener Empfehlung, Antibiotikatherapie bei Gelenkinfektion 227 Gallie-Operationsverfahren bei Atlasfraktur 462 Galvanisation 132 Gametenstadium 922 Ganganalyse 97 – Hohlfuß 856 – instrumentelle 200 Gangbild 402 – innenrotiertes 974 – beim Kind 931 Gangbildstörung 107 Ganglion 248, 651 Gangliosidose 163
Gangphasen 107 Gangrän, infizierte, Antibiotikatherapie 222 Gangschule 107 Gangzyklus 97 Gänslen-Zeichen 859 Ganz-Beckenzwinge 697 Ganzkörperkältetherapie 127 Ganzkörperskelettszintigraphie 173 Ganzkörperspannung 105, 115 Ganz-Osteotomie, periazetabuläre 965 Garden-Einteilung, Schenkelhalsfraktur 738 Gardner-Syndrom 247 Garré-Osteomyelitis 1016 Gartland-Klassifikation, Ellenbogenfraktur 1029 Gasbrand 220 Gasgangrän 222 Gasödem 220 – Antibiotikatherapie 222 Gastroknemiuslappen 388, 389 Gastroknemiuszyste 994 Gaucher-Zellen 163 GCS siehe Glasgow Coma Scale GdS (Grad der Schädigungsfolge) 1051, 1052 Gefäßverkalkung 179 Gefäßverletzung 396 – Finger 667, 668 Geflechtknochen 357 Gefügestörung, karpale 678 Gehen 202 Gehhilfe 101, 107 Gehirnschädigung, späte 204 Gelenkachsenwinkel, atlantookzipitaler 406 Gelenkbelastung, Arthrose 284 Gelenkbewegungsumfang, passiver 111 Gelenkblockierung 111 Gelenkdébridement, arthroskopisches 775 Gelenkdeformität, Pseudoachondroplasie 142 Gelenkdestruktion, rheumatische 303 Gelenkempyem 222, 223, 1012 – Prädilektionsstellen 1012 Gelenkendoprothese 227, 294, 296 – Komplikation, septische 228 Gelenkendoprothetik, Bisphosphonateinfluss 174 Gelenkerguss 282 – Sonogramm 290 Gelenkersatz, Indikation 294 Gelenkflächendefekt 286 Gelenkflächenerosion 306 Gelenkflächennekrose nach Fraktur 362 Gelenkflächenrestituierung, operative 292
1079 Stichwortverzeichnis
Gelenkfraktur, metatarsale 882 Gelenkführung, passive 111 Gelenkfunktion, Messung 289 Gelenkfunktionsstörung 111 Gelenkhyperlaxizität 159, 160 Gelenkinfektion 222, 224, 1012 – Antibiotikatherapie 226 – – Gallener Empfehlung 227 – Befund – – arthroskopischer 223 – – intraoperativer 223 – Diagnostik 225 – endogene 222, 223 – Erregernachweis 225 – Erregerspektrum 224 – exogene 222 – Fokussuche 225 – Komplikation 227 – MRT-Befund 223 – Nachbehandlung, postoperative 226 – operative Therapie 226 – postoperative 224, 225, 227 – Prädilektionsstellen 1012 – Risikofaktoren 224 – Stadieneinteilung – – arthroskopische 223 – – klinische 223 Gelenkinkongruenz 287 Gelenkinstabilität 286 – bei neuromuskulärer Systemerkrankung 210 Gelenkkapselstörung 114 Gelenkknorpel 1027 – anabole Faktoren 286 – belasteter 287 – Destruktionskaskade 286 – Entlastung 287 – Ernährungsstörung 284 – Matrixdestruktion 286 – Matrixgewebe 285, 286 – unbelasteter 286 Gelenkknorpelschädigung 282 – traumatische 292 Gelenkknorpelverlust 286 Gelenkkomplex, subtalarer 998 Gelenkkörper, freie 249 – Ellenbogengelenk 557, 567, 568, 954 – Glenohumeralgelenk 515 Gelenklavage 292 Gelenkmaus 187, 768 Gelenkmobilisation 106 Gelenkoberflächenverletzung 1026 Gelenkpunktat 314, 1013 – Differenzialdiagnostik 225 – Zellzahl 225 Gelenkpunktion 225, 230 Gelenkresultierende 30, 43, 46
Gelenkschmerz 287 – krisenhafter 163 – nächtlich auftretender 288 Gelenkspaltverschmälerung 282, 289, 557 Gelenkspiel 111 Gelenkspülung, arthroskopische 226, 775, 1013 Gelenküberstreckbarkeit 158 Gelenkuntersuchung, klinische 289 Gel-Liner 87 Gendefekt 923 Gentamicin 660 Genu – recurvatum 760, 761 – – congenitum 760 – valgum 143, 162, 762, 933, 1033 – – angeborenes 762 – – beidseitiges 762, 763 – – idiopathisches 986 – – Operationsverfahren 763 – – pathologisches 983 – varum 142, 761, 762, 933 – – beidseitiges 985 – – pathologisches 983 – – physiologisches 761, 762 – – recurvatum 141 Gerichtsgutachten 1041 Geröllzyste 289, 713, 717 Gesamt-AP-Konzentration 168 Gesamteindruck eines Kindes 930 Gesamt-GdS (Gesamtgrad der Schädigungsfolge) 1052 Gesamtgrad der Schädigungsfolge 1052 Gesamtkalziumkonzentration im Serum 166, 176 Geschlechtschromosomen – Monosomie 923 – Trisomie 923 Geschlechtshormone, Knochenstoffwechsel 165 Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung 80 Gesichtsasymmetrie 945 Gesichtsfraktur 341 Gesichtsverletzung 347 Gibbus 428 Gicht 310, 644 Gigantismus 948 Gilchrist-Verband 535, 536, 570 Gilula-Bögen 621 – Unterbrechung 678, 679 Gipskorsett 473 Gissane-Winkel 893 Giving-way-Ereignisse 809 GLAD-Läsion (glenoid labral articular disruption) 517, 518
F–G
Glasgow Coma Scale 346 Gleichstromtherapie 132 Gleitbewegung, artikuläre 111 Gleitlager – Abrieb 39 – Oberflächenhärte 38 Gleitmodul 35, 41 Gleitung 35 Glenohumeralarthrose 294 Glenohumeralgelenk (s. auch Schultergelenk) 478, 502 – Arthrodese 516 – Arthrographie 499 – Beweglichkeit 485 – Bewegungsmessung 487 – degenerative Erkrankung 514 – Endoprothese 294 – Fraktur 536 – Instabilität 486, 498, 516 – – AMBRII 516 – – hintere 517 – – – posttraumatische 524 – – – willkürliche 524 – – multidirektionale 516, 524 – – TUBS 516 – – vordere 516, 520 – – – Operation 520 – – willkürliche 517 – Instabilitätstest 491 – Kapsel-Shift nach Neer 521 – kapsuloligamentärer Komplex 521 – Laxität 486 – Lokalanästhetikuminfiltration, diagnostische 494 – Luxationsarthropathie 515 – MR-Arthrographie 498 – Resektionsinterpositionsarthroplastik 516 – Stabilisierung, arthroskopische 523 – Stabilitatsminderung nach Glenoidfraktur 536 – Stabilität 486 – Subluxation 516 Glenohumeralgelenkkapsel 479, 486 – Raffung 521 Glenoid – Knochenblocktranspositionen 523 – Randfraktur, anteroinferiore 536 Glenoid labral articular disruption 517, 518 Glenoiddysplasie 500 Glenoidersatz 516 Glenoidfraktur, intraartikuläre 533, 535 Gliedmaßenfehlbildung 924 Gliedmaßenverlängerung bei Chondrodysplasie 142 Gliom 158
1080
Stichwortverzeichnis
Glisson-Traktion 944 GLOA (ganglionäre lokale Opioidanalgesie) 240 Glomustumor 248 Glukokortikoide – Injektion – – intraartikuläre 314 – – bei Morton-Neurom 846 – Knochenstoffwechsel 165 – Nebenwirkung 73, 312 – bei rheumatischer Erkrankung 312 – bei Schmerztherapie 70 Glukosaminsulfat 75, 291, 775 Glykolyse – aerobe 119 – anaerobe 119 Glykosaminoglykananreicherung, intrazelluläre 160 GM1-Gangliosid-Anhäufung 163 Golden-hour-Konzept 336 Goldthwait-Hauser-Operation 993, 994 Goldthwait-Operation 993 Golferellenbogen 565 Gonarthrose 770 – aktivierte 771 – Arthroskopie 775 – arthroskopische Chirurgie 771 – Berufskrankheit 1054, 1055 – Gelenkdébridement 775 – Gelenkersatz 294 – Operation 771, 775 – – gelenkerhaltende 775 – – gelenkersetzende 776 – physikalische Maßnahmen 771 – Physiotherapie 772 – Röntgenaufnahme 770 – Schweregrade 771 – sekundäre 285 – Therapie 771 – – konventionelle 772 – – medikamentöse 772 – – – topische 774 – – Stufenschema 772 – Umstellungsosteotomie 775, 776 Google Scholar 9 Goss-Klassifikation, Skapulafraktur 533, 534 Gowers-Zeichen 931 Grad – der Berufsunfähigkeit 1049 – der Schädigungsfolge 1051, 1052 Grad-4-Chondrosarkom 264 Graf-Kurve 957 Graf-Mittelmeier-Spreizhose 960 Graf-Sonometer 958 Granulom, eosinophiles 276 Gray-cortex-Zeichen 364
Greater-arc-Verletzung 679 Greifhaken 81, 82 Greifhand, mechanische 81 Greifplatte, palmare 83 Grenzbelastung 32 Grenzzonenamputation 62 Grind-Test 619, 621, 645 Großzehenamputation 64 Großzehenaufdrehung, pronatorische 835 Großzehenendgliedfraktur, intraartikuläre, dislozierte 874 Großzehenfraktur 873 – Therapie 874 Großzehengrundgelenk – Arthrodese 328, 840, 841 – – mit dorsaler winkelstabiler Platte 840 – Arthrodesenplatte 840 – Arthrose 839 – Beweglichkeitseinschränkung 839 – Endoprothese 842 – Endoprothesenlockerung 842 – Hemiprothese 842 – Hyperextensionsstellung 842 – Luxation 835 – Resektionsarthroplastik 328 Großzehengrundgliedkopf – Fraktur, intraartikuläre 874 – Resektionsarthroplastik 843, 844 Großzehengrundgliedosteotomie, dorsalextendierende 840 Gruben, paraachilläre 832 Grünholzfraktur 1026 – Unterarm 1026 GSB-III-Prothese (Gschwend-ScheierBähler-Prothese) 563 Gschwend-Scheier-Bähler-Prothese 563 Güsse 125 – Indikation 126 Gustilo-Anderson-Frakturklassifikation 366, 367 Gustilo-Anderson-Weichteilschadenklassifikation 384, 385 Gutachten 1038–1041 – Aufbau 1038 – Befundbeurteilung 1040 – Befunddokumentation 1039 – Beweisanforderungen 1046 – Diagnosendarstellung 1040 – orthopädisch-chirurgisches 1056 – Urheberrecht 1041 – wissenschaftliche Erkenntnisse 1046 Gutachtenauftrag 1038 Gutachtenerstellung, zeitgerechte 1046 GUV siehe Unfallversicherung, gesetzliche Guyon-Logensyndrom 635
H Hackenfuß 858, 927, 996, 1008 Hackenfüßigkeit, Bewegungsablauf 203 Hackenhohlfuß 855 – neurogener 858 HAGL-Läsion (Humeral avulsion of glenohumeral ligament) 518 Haglund-Exostose 852 – keilförmige Abtragung 852 Halbschalenzervikalstütze 95 Halbwirbel 410, 926 Hallux – limitus 839 – malleolus 832 – malleus 842 – rigidus 100, 839, 840 – valgus 832, 835, 837, 843, 858, 996 – – idiopathischer 835 – – interphalangeus 836 – – neurogener 836 – – Operation 836 – – – Überkorrektur 839 – – Therapie 836 – varus 839, 996 Hallux-rigidus-Rolle 98, 100 Halodistraktion 944 Halo-Weste 458, 459 Hals – kurzer 946 – Untersuchung 943 Halstead-Test 487 Halsverletzung, penetrierende 457 Halswirbel – Dislokation, ventrale 465 – Fraktur, Klassifikation 451, 464 – Hinterkantendifferenz 456 – Verschiebung, rotatorische 944 Halswirbelkörper – Berstungsbruch 465 – Fraktur 464 Halswirbelsäule 450 – Beweglichkeitseinschränkung 946 – Diagnostik, bildgebende 315 – Distorsion 466 – Entwicklung 942 – Extensionstest 403, 457 – externe Fixation 458 – Fixationssystem 458, 459 – Flexionsuntersuchung 457 – Frakturtypen nach Jeanneret 452 – Funktionsröntgenaufnahme 438 – Hyperextensionsverletzung 451, 465 – Hyperflexion 451 – Implantatlockerung 466 – postoperative Komplikationen 465
1081 Stichwortverzeichnis
– Röntgenaufnahme 456 – – Hilfslinien 456 – standardisierte Messwerte 456 – Typ-A-Verletzung 451, 464 – Typ-B-Verletzung 451, 464, 465 – Typ-C-Verletzung 452, 464, 465 – Untersuchung 487 – Zugang 458, 459 Halswirbelsäulenerkrankung – bandscheibenbedingte 1055 – degenerative 436 – – Operationsindikation 439 – – Röntgenaufnahme 438, 439 – – Therapie 438 – – – minimal-invasive 438 Halswirbelsäuleninstabilität 301 – operative Therapie 315 Halswirbelsäulenstabilisierung 315 Halswirbelsäulenverletzung 450, 451 – AO-Klassifikation 450 – Computertomographie 456 – Erstversorgung 455 – Magnetresonanztomographie 456 – Operation 458 – Reposition 457 Halten 105 Haltetonus, abnormer 119 Haltungsschulung 117 Haltungsschwäche 941 Hämangioendotheliom 267 Hämangiom 256 – kapilläres 248 – kavernöses 248 Hämangiosarkom 267 Hämarthros – chronischer 987 – Ellenbogengelenk 582 – Kniegelenk 805 Hämatom 375 – subunguales 683 Hämatothorax 348 – Thorakotomieindikation 348 Hammerzehe 842, 843, 997 Hammerzehenfehlstellung, distale 842 Hand – Amputation 67 – Doppelbildung 953 – Sehnenverletzung 664 – Untersuchung beim Kind 935 – Verbrennung 661 Handdeformität, rheumatische 652 Handfehlbildung 624 – Klassifikation 624 Handfunktion, altersabhängige 947 Handgelenk 614, 615 – Alloarthroplastik 320, 648 – Arthritis, rheumatoide 319, 652
– – – – – – – – – – – – – –
Arthrodese 320, 650 – komplette 654 Arthrographie 622 Arthrose 646 Arthroskopie 624 Bandage 93 Computertomographie 623 Denervierung nach Wilhelm 648 Destruktion, rheumatische 321 Druckschmerz 616 Endoprothese 320, 648, 654 Exartikulation 67 – Prothesenversorgung 83 Extension gegen Widerstand, schmerzhafte 565 – Magnetresonanztomographie 623 – Nativröntgenaufnahme 647 – Röntgendiagnostik 621 – Sonographie 623 – Stabilisierung 319 – Supination gegen Widerstand, schmerzhafte 565 – Synovektomie 653 – Totalendoprothese 320 – Ulnarduktion 614 Handgelenkbeweglichkeit 615, 616, 935 Handgelenkganglion 651 Handgelenkkontur 935 Handgelenkorthese 93, 212 Handgelenkschmerz 614 – markante Punkte 616, 617 – radialseitiger 637 – Ursache, systemische 614 Handinfektion 656 Hand-Schüller-Christian-Erkrankung 276 Handskoliose 652 Handwurzel – DISI-Stellung 646, 678 – Luxationsfraktur, transskaphoidale, perilunäre 679 Handwurzelbereich, Amputation 83 Handwurzelgefügestörung 678, 679 Handwurzelknochensynostose 626 Handwurzelreihe – distale 614 – proximale 614, 646 – – Resektion 647, 650 Hardcastle-Klassifikation, Lisfranc-GelenkLuxationsverletzung 880 Harnwegsinfektion, nosokomiale 220 Harrington-Instrumentation, dorsale 422 Harris-Hip-Score 714 Hautdehnung 386 Haut-Muskel-Lappen, gestielter 388 Hautreizgriffe 129 Hauttransplantat 386 Hautverschluss, sekundärer 386
G–H
Haut-Weichteil-Deckung – Einflussfaktoren 385 – Extremität, untere 384 Haut-Weichteil-Lappen, prätibialer 390 Haut-Weichteil-Schaden – Mediatorenfreisetzung 384 – prätibilaler 389 – rekonstruktive Leiter 385 Havers-Kanal 357, 358 Hawkins-Impingement-Test 491, 493 Hawkins-Klassifikation, Talushalsfraktur 885 Hawkins-Typ-II-Talushalsfraktur 885, 887 Hawkins-Typ-III-Talushalsfraktur 885, 887 Hawkins-Typ-IV-Talushalsfraktur 885, 887 Hawkins-Zeichen 886 Head-at-risk 962 Heberden-Arthrose 644 Heilmittelkatalog 134 Heilmittelrichtlinien 134 Helix-3D-Prothese 85, 86 Hemiepiphyseodese 144 – knienahe 985, 986 – – perkutane Bohrungen 986 Hemihüftgelenkarthroplastik, Fraktur, periprothetische 50 Hemihypertrophie 156, 976 Hemihypotrophie 976 Hemikorporektomie 66 – Prothesenversorgung 86 Hemilaminotomie, bilaterale 448 Hemiparese 204, 205 Hemipelvektomie 66 – Prothesenversorgung 86 Hemiplegie – Bobath-Therapie 119, 120 – Stadien 120 – Typ Wernicke-Mann 106, 120 Hemisakralisation 409 Hemivertebrektomie 411 Henry-Unterarmzugang 593, 595 Hepatomegalie 162 Hepatosplenomegalie 163 Herbert-Klassifikation, Skaphoidfraktur 676 Herbert-Schrauben-Osteosynthese bei Skaphoidfraktur 676, 677, 679 Herniation 347 Herring-Einteilung, Morbus Perthes 962 Hertel-Klassifikation, proximale Humerusfraktur 542 Herzbett 106 Herzschrittmacher 134 High-grade-Chondrosarkom 262 High-grade intramedullary osteosarcoma siehe Osteosarkom, klassisches High-grade-Liposarkom 249
1082
Stichwortverzeichnis
High-turnover-Osteoporose 169 High-velocity-Trauma 363 Hilfsmittel – orthopädische 291 – technisches, Abnahme 102 Hilfsmittelrezept 81 Hilfsmittelversorgung 80 Hilfsmittelverzeichnis 80 Hilgenreiner-Linie 957 Hill-Sachs-Defekt 518 Hill-Sachs-Läsion, reverse 518 Hinken 931 – beim Kind 971 – Gangbeobachtung 972 Hinterhaupt-Wand-Abstand 433 Hinterkantendifferenz, Halswirbel 456 Hippokrates-Humeruskopfreposition 519 Hirnödem 347 Hirnverletzung 340, 345 Hirtenstabdeformität, proximales Femur 965 Histiozytom, fibröses, malignes 250, 255, 266 – Differenzialdiagnose 267 – Metastasenresektion 267 – sekundäres 266 Histiozytosis X 276 HLA-B27 306, 432 Hochfrequenzablationstechnik, CT-gesteuerte 250 Hochfrequenztherapie 133 Hochrasanztrauma – Femurkopffraktur 733 – Femurschaftfraktur 747 – Fußwurzelverletzung 884 – Hüftluxation 733 – Pilon-tibiale-Fraktur 899 – Schenkelhalsfraktur 737 – Talusluxationsfraktur 886 Hochwuchs 158, 159 Hoffa-Fraktur 751, 754 Hoffmann-Tillmann-Metatarsaleköpfchenresektion 328 Hoffmann-Tillmann-Operation 861 Hoffmann-Tinel-Zeichen 619, 620, 633, 634, 636, 850 Hohlfuß 100, 855, 996 – Gangbild 856 – kindlicher 100 – Muskelfunktion 856 – Röntgenaufnahme 857 – Sehnentransfer 857 – Weichteilkorrektur 857 Hohlhandphlegmone 659 Hohlrücken 938 Hohl-Rund-Rücken 424
Hohmann-Operation bei Krallenzehe 843, 844 Hoke-Operation 857 Hook 81, 82 Hooke-Gesetz 34, 35 Horii circle 599 Hornblower-Zeichen 488, 489 Horner-Syndrom 396 Hornhauttrübung 162 Host defense response 334 Howship-Lakunen 359 Hüftabduktion – Ausfall, Bewegungsablauf 203 – gegen Wasserwiderstand 110 Hüftabduktoren 202 Hüftabduktorenschwäche 203 Hüftarthrose siehe Koxarthrose Hüftaußenrotation 975 Hüftaußenrotatoren 707 Hüftbereich, Amputation 66 Hüftbeschwerden, Diagnostik 717, 718 Hüftbeugekontraktur 141, 712, 939 – fixierte 980 – Thomas-Test 933 Hüftbeweglichkeitstest beim Kind/Jugendlichen 933 Hüftdysplasie siehe Hüftgelenksdysplasie Hüfte, Rotationsprofil 932 Hüftendoprothetik (siehe auch Hüftgelenkendoprothese) 720 – Implantatdesign 725 – Implantatmaterial 724 – Implantatverankerung 725 – Komplikation 728 – Patientenlagerung 724 – Pfannenpositionskontrolle 724 – Zementiertechnik 725 – Zugang 721 Hüftgelenk – Arthrodese 1032 – Arthroskopie 720, 731 – Arthrotomie, minimal-invasive 731 – Belastung 30 – Beweglichkeit 713 – Biomechanik 733 – Blutung, intrakapsuläre 737 – Exartikulation 66 – Fehlstellung 713 – Fraktur, periprothetische 50 – Funktionsprüfung 712 – – Scores 714 – Hemiarthroplastik 720 – Hilfslinien 957 – Impingement-Test 756 – Infiltration, diagnostische 717 – Instabilität 932 – – posttraumatische 705
– Knorpelbelastung 287 – monozentrisches 85, 86 – nativradiologische Darstellung 717 – Oberflächenersatz 727 – polyaxiales 85, 86 – präarthrotische Deformität 285, 717 – Reifungskurve 957 – Rekonstruktion 211 – Revisionsendoprothetik 728 – Rotationsbandage 91 – Schmerzprovokation 712, 713 – Sonographie 954, 956 – – Normalbefund 956 – – pathologischer Befund 957 – Stabilitätsprüfung 955 – Streckbarkeit 712 – Synovektomie 324 – Untersuchung 712 – Zugang 721 – – lateraler transglutealer 721, 722, 723 – – minimal-invasiver anteriorer 722 Hüftgelenkabduktion 200 Hüftgelenkadduktion 200 – Ausfall, Bewegungsablauf 203 Hüftgelenkarthroplastik 731 – Fraktur, periprothetische 50 Hüftgelenkendoprothese (siehe auch Hüftendoprothetik) 295, 296, 324, 720 – Antiluxationsorthese 91 – bei Femurkopfnekrose 716 – Hart-Hart-Paarung 725 – Hart-Weich-Paarung 725 – interprothetische Fraktur 55 – Lebensdauer 728 – Low-friction-Prinzip 324 – Material 724 – Materialabriebrate 725 – Osseointegration 725 – Pfannenpositionskontrolle 724 – Planung 721 – Revisionsoperation 728 – Revisionsprothetik 55 – im Schenkelhals verankerte 296 – nach Schenkelhalsfraktur 740 Hüftgelenkerguss – Morbus Perthes 963 – Therapie, medikamentöse 964 Hüftgelenkersatz (siehe auch Hüftendoprothetik) 295 Hüftgelenkextension 200 Hüftgelenkflexion 200 Hüftgelenkkapsel 697, 722, 723, 724, 733 Hüftgelenkkraft 30 Hüftgelenkluxation 960 – bildgebende Diagnostik 734 – chirurgische 731 – dorsale 693
1083 Stichwortverzeichnis
– – – – –
Down-Syndrom 159, 160 hintere 733, 734, 735 bei Hüftgelenksdysplasie 955 isolierte 736 beim Kind, Becken-Röntgenübersichtsaufnahme 957 – Klassifikation 735 – Mobus Morquio 162 – neurogene 210, 211 – – Operationsverfahren 210 – Reposition 734 – – geschlossene 735 – – offene 736 – vordere 734, 735, 736 – Zusatzverletzungen 734 Hüftgelenkpfanne siehe Azetabulum Hüftgelenkschmerz 713 Hüftgelenksdysplasie 954 – Diagnostik 955 – Down-Syndrom 160 – im Erwachsenenalter 714 – Frühdiagnostik 955 – kongenitale 714, 719 – konservative Therapie 958 – mechanische Hypothese 954 – Nachreifungsphase 958, 959 – Operation 960 – Repositionsphase 958, 959 – Retentionsphase 958, 959 – Röntgenaufnahme 956 – Spätluxation 960 – Stabilitätsprüfung 955 Hüftgelenkspalt, Verschmälerung 713, 717 Hüftgelenksubluxation – 3D-Rekonstruktion 964 – laterale 966 Hüftgelenksunreife siehe Hüftgelenksdysplasie Hüftgelenktotalendoprothese 720 – Luxation 721 – nach Schenkelhalsfraktur 741 Hüfthemiendoprothese 741 Hüft-Impingement 712, 713, 729 – Arthroplastik 731 – Arthroskopie 731 – Arthrotomie, minimal-invasive 731 – Luxation, chirurgische 731 Hüftinnenrotation 976 Hüftinstabilitätstest nach Tschauner 933 Hüft-Lenden-Strecksteife 931, 942 Hüftorthese 92 Hüftpfanne siehe Azetabulum Hüftpfannenwinkel, ventraler 958 Hüftschraube, dynamische 740, 743 Hüftstreckausfall, Bewegungsablauf 203 Humeroradialgelenk 575 Humeroulnargelenk 575, 585, 589
Humerus 478, 568 – Außenrotationsosteotomie 502 – Drehosteotomie, subkapitale 523 – Fehlbildung 500 Humerusfraktur – diaphysäre siehe Humerusschaftfraktur – distale 575 – – AO-Klassifikation 575, 582 – – Behandlungsalgorithmus 576 – – bei Osteoporose 580, 581 – – Doppelplattenversorgung 579 – – Ellenbogenendoprothese, primäre 580, 581 – – extraartikuläre 578 – – intraartikuläre 578, 579 – – konservative Therapie 577 – – Operation 577 – – sensomotorischer Status 577 – periprothetische, Klassifikation 58 – proximale 515, 540, 1028 – – Abkippwinkel 1028 – – AO-Klassifikation 541 – – Beurteilung 544 – – Kopffragment 544 – – Lego-Klassifikation 542 – – metaphysäres Fragment 545, 546 – – Operationsindikation 543 – – Plattenosteosynthese 544 – – Remodellierungspotenz beim Kind 1028 – – Stabilitätsprüfung 540 – – Tuberculum-majus-Fragment 545, 546, 547 – – Tuberculum-minus-Fragment 545, 547 – – Zugang 543 – sukapitale 546, 547 – suprakondyläre 1028, 1029, 1030 Humeruskopf 478 – Blutversorgung 540 – Mehrfragmentfrakturen 547 Humeruskopfersatz 516 Humeruskopffraktur 540 – AO-Klassifikation 541 – Einteilung 541 – Operationsindikation 543 Humeruskopfnekrose 540 – avaskuläre 188 Humeruskopfprothese 294 Humeruskopfreposition 519, 520 Humeruskopftranslation 491, 493 Humerusluxationsfraktur, hintere 540 Humerusnagel, proximaler 544 Humeruspseudarthrose 574, 581 Humerusquerfraktur 572 Humerusschaftfraktur 568 – AO-Klassifikation 569
– distale 572 – Fixateur externe 571 – Komplikation 574 – konservative Therapie 570 – Marknagelung 573 – Operationsindikation 571 – Physiotherapie 570 – Plattenosteosynthese 571 – proximale 572 – Radialisparese 569 – Therapieverfahrenswahl 574 Humerusschaftspiralfraktur 570 Humerus-Trochlea-Winkel 556 Humphrey-Ligament 803 Hyaluronsäure 75, 291, 775 Hybridfixateur 901 Hybridprothese 83 Hydrotherapie 124–126 – große 126 – Indikation 126 – Reizformen 125 Hydroxypyridiniumderivate im Urin 168 Hypalbuminämie 167 – Gesamtkalziumkonzentration im Serum 166 Hypästhesie, regionale 373 Hyperabduktionstest 494 Hypercontainment-Therapie bei Morbus Perthes 962, 966 Hyperextension 201 Hyperextensionsorthese 96 Hyperkalzämie 167, 177, 179 Hyperkalzämiesyndrom, paraneoplastisches 273 Hyperkeratose, plantare 855, 858 Hyperkyphose 938 – anguläre 924 Hyperlordose 141, 938, 939 Hyperostose, sternokostoklavikuläre 526 Hyperparathyroidismus 177 – primärer 176, 177 – sekundärer 177, 178, 180 – – mit Autonomie 178 – tertiärer 179 Hyperphosphatämie 167, 178 Hyperreflexie 167 Hypertonie, muskuläre 204 Hyperurikämie 310 Hyperventilation 347 Hypex-Lite-Orthese 92 Hypochondroplasie 141, 922 – Rückenveränderungen 924 Hypokalzämie 167, 177, 178 Hypokyphose 938 Hypolordose 426, 938 Hypoparathyroidismus 167 Hypophosphatämie 167, 177
H
1084
Stichwortverzeichnis
Hyporeflexie 167 Hypotension, Schädel-Hirn-Trauma 346 Hypothenarraum 659 Hypothermie 336 Hypotonie, permissive 343
I Ibuprofen 312 Ideberg-Einteilung, intraartikuläre Glenoidfraktur 533, 535 Ifosfamid 246 IgG2-Antikörper, monoklonale, humane 175 Iliosakralgelenk 442 – buntes Bild 306, 434 – Entzündung 432, 434 – Schraubenfixation , perkutane 698 – Stabilisatoren 689 Ilizarov-Fixateur 42, 157 Ilizarov-Methode bei Rotationsfehler 764 Ilizarov-Ringfixateur 157 Imhäuser-Osteotomie 969 Immobilisation, geführte , bei chronischer Ellenbogeninstabilität 604 Immunabwehr 300 Immunsuppressiva 312 Impaction grafting 50 Impaction-Test 620 Impingement – am Ellenbogen 556 – femoroazetabuläres siehe Hüft-Impingement – posterior-superiores 502 – Stadien 505 – sub(korako)akromiales 502 Impingement-Test 490, 506, 756 Impingement-Theorie 503 Implantat – Biofilm 228, 233 – elastisches Verhalten 42 – Elastizitätsmodul 42, 45 – federnde Konstruktion 42 – Festigkeit 31 – Knochenmaterialverhalten 31 – physiologische Knochenbelastung 30 – Staphylococcus-epidermidis-Besiedelung 218 – Steifigkeit 42, 45 – winkelstabiles 753 – – bei proximaler Tibiafraktur 820 Implantatlockerung nach HWS-Operation 466 Impression, basiläre 316, 413 Impressionsfraktur, tibiale, proximale 819
Impuls, manueller, gezielter 113 Impulsschall 134 Inaktivitätsatrophie 30 – Knochen 42, 44 Incisura scapulae 439 Incisura-scapulae-Syndrom 536 Indexlinie, azetabuläre 957 Infektion – begünstigende Faktoren 214 – diabetischer Fuß 866 – Diagnosealgorithmus 1015 – fremdkörperassoziierte 217, 218, 219 – Hand 656 – implantatassoziierte 228, 370 – – Antibiotikatherapie 232 – – Erreger 228, 370 – opportunistische 221 – periprothetische 228 – – Antibiotikatherapie 231, 232 – – chronische 229 – – Débridement 230 – – endogene 228 – – Erreger 228 – – Erregernachweis 230 – – exogene 228 – – fulminanter Verlauf 229 – – operative Therapie 230 – – Risikofaktoren 229 – – Röntgenbefund 229 – – Szintigraphie 229 – Pseudarthroseentstehung 378 Infektpseudarthrose 378, 379 Infiltration Infiltration (s. auch Lokalanästhetikuminfiltration) 494 – intrabursale, subakromiale 506 Inguinalhernie 755 Inhibition, Bobath-Konzept 120 Injektion – intraartikuläre, Hygienemaßnahmen 774 – periradikuläre 415 Innenknöchelabscherung beim Kind 1033 Innenmeniskus 794, 815 Innenmeniskusläsion, degenerative 800 Innenmeniskusriss 800 Innenschuhorthese 848 Insall-Salvati-Index 787, 793 Insertionstendinopathie am Ellenbogengelenk 565 Insertionstendinose 133 Inside-out-Meniskusnaht 801 Instabilität – atlantoaxiale 315 – – Down-Syndrom 159, 160 – – Dysplasie, spondyloepiphysäre 145 – – Mukopolysaccharidose 161, 162
– – Osteogenesis imperfecta 150 – atlantookzipitale 462 – elastische 33 – femoropatellare 160 – lunotriquetrale 678 – sternoklavikuläre 531 Instabilitätstest, lunitriquetraler 621 Insuffizienz, neuromuskuläre 504 Interimsprothese 63 Intermetatarsalewinkel 836 – vergrößerter 835, 836 Internet 8 – Produktinformation 9 – Suchmaschine 8, 9 Interphalangealgelenk, – Fraktur 682 – proximales – – Luxation 683 – – rheumatoider Arthritis 322 Intersektionssyndrom 637 Intrinsic-Minus-Fingerstellung 660 Intubation – bei Schädel-Hirn-Trauma 346 – bei Thoraxtrauma 347 Invalidenversicherungsgesetz 1044 Invaliditätsgrad 1048 Inzisionsbiopsie, Tumordiagnostik 244, 263 Irishamartom 156, 157 Ischämietest 239 Ischialgie 442 ISIS (integrated shape imaging system) 419 Isokinetik 119
J Jäger/Breitener-Klassifikation, Klavikulafraktur 527, 528 Jalousieplastik 389 Jerk-Test 494, 495 J-Kurve 994 Jobe/Moynes-Repositionstest 494, 495 Jobe-Test 489, 490 Jones-Fraktur 882, 883 Jones-Operation 842 Jumpers knee 813, 814 Jupiter-Klassifikation, Monteggia-Fraktur 591
K Kahnbein – der Hand siehe Skaphoid – des Fußes siehe Os naviculare
1085 Stichwortverzeichnis
Kalkaneokuboidalgelenk 877 – Arthrodese 210 Kalkaneus 890, 891 – Osteodensitometrie 170 – Röntgenaufnahme 908 Kalkaneusapophyse – Osteochondrose 196 – Überbeanspruchung 196 Kalkaneusfraktur 890 – dislozierte 892 – Klassifikation 890 – Komplikation 894 – Osteosynthese 893 – Röntgenaufnahme 892, 893 Kalkaneusosteotomie 848, 857 Kalkaneusvarisierung 848 Kalkaneusverlängerung 848 Kallus 367, 368 Kallusbildung, überschießende 368, 369 Kallusdistraktion bei Beinlängendifferenz 979 Kälteapplikation 313 Kaltfluss 38 Kalzifediol 165 Kalziphylaxie 178, 179 Kalzitonin 165, 181 – bei Osteoporose 175, 177 – Schmerztherapie 73 Kalzitriol 165 Kalzium – ionisiertes 166 – proteingebundenes 166 – Referenzbereiche 166 Kalziumausscheidung im Urin 169 Kalziumazetat 178 Kalziumgehalt des Knochens 169 Kalziumhaushalt 166 Kalziumkanalblocker bei neuropathischen Schmerzen 74 Kalziumkonzentration im Serum 166, 176, 180 – erhöhte siehe Hyperkalzämie – Parathormonsekretion 177 – verminderte siehe Hypokalzämie Kalziumresorption 165 Kalziumsubstitution 173, 177, 181 Kamptodaktylie 625, 948, 952 Kanada-Prothese 86 Kannversorgung 1052 Kapandji-Röntgenaufnahmen 622, 639, 642 Kapsel-Band-Apparat, atlantoaxialer, Hyperlaxität 947 Kapsel-Band-Verletzung, fibulare 894 Kapsel-Shift nach Neer – inferiorer 521 – ventraler 522
Karbunkel 217 – Antibiotikatherapie 222 – Milzbrand 219 Karpaltunnelsyndrom 633 – bei Radiusfraktur 673 – Operation 634 Karpustranslation, ulnare 654 Kashiwagi-Outerbridge-Prozedur, Ellenbogenarthroplastik 560, 561 Kaudasyndrom 443 Kausalgie 238 Kausalität – haftungsausfüllende 1045 – haftungsbegründende 1045, 1046 – konkurrierende 1056 KBM (Kondylen-Bettung Münster) 87 Keating-Klassifikation, periprothetische Patellafraktur 54 Keating-Typ-I-Fraktur 57 Keating-Typ-II-Fraktur 57 Keating-Typ-III-Fraktur 57 Keilabsatz 98 Keilimpressionsfraktur, vertebrale 467, 471, 473 Keilosteotomie nach Akin 836 Keilresektion, metatarsale 64 Keilwirbel 172, 176, 410, 417 – traumatisch bedingter 473 Keller-Brandes-Resektionsinterpositionsarthroplastik bei Hallux valgus 839, 840 Kellgren/Lawrence-Klassifikation, Koxarthrose 713 Kennmuskel 405, 455 Keramik – Festigkeitseigenschaften 35 – Härte 35, 37 Kerbspannung 37 Kette, ventrale, Kräftigung 105 Kiefergelenk-Atlasbogen-Abstand 406 Kielbrust 940 Kinderorthopäde 930 Kindliche Unbehagens- und Schmerzskala 74 Kinematographie, Handgelenk 622 Kineplastik nach Sauerbruch-Lebsche 81 Kirner-Deformität 626 Kirschner-Draht 671, 680, 681 – bei distaler Femurfraktur 753 – Kalkaneusosteosynthese 893 – Metatarsalknochenstabilisierung 883 – Tarsometatarsalgelenkstabilisierung 881 Kirschner-Draht-Zuggurtung – bei Ligamentum-patellae-Ruptur 765 – Patella 788 Kissing Spine Disease 450 KISS-Syndrom 945
H–K
Klarzellchondrosarkom 265 Klassifikation, Suche im Internet 9 Klatschungen 129 Klauenzehen 997, 1008 Klaviertastenphänomen – Klavikula 486, 487 – Ulnaköpfchen 620 Klavikula 478 – Aplasie 142 – Avulsionsverletzung 1028 – Bandage 93 – Bewegung 485 – Epiphysenfugenverknöcherung 527 – Fehlbildung 500 – mediale, dynamische Stabilisierung 550 – Osteochondrose, mediale 195 – Osteolyse, laterale 524 – Pseudarthrose 379 – – angeborene 500, 946 – Röntgenaufnahme 499 Klavikulafraktur 526, 1028 – dislozierte 529 – Implantatentfernung 530 – intramedulläre Nagelung 529, 531 – Klassifikation 527, 528 – laterale 93 – Operation 529 – Operationsindikation 529 – – absolute 531 – Plattenosteosynthese 529, 531 – Röntgenaufnahme 527 – Hypoplasie 142 Klavus 843 Kleinert-Zoneneinteilung, Strecksehnenverletzung 665 Kleinfinger-Doppelfehlbildung 953 Kleinfragmentzugschrauben bei proximaler Radiusfraktur 583 Klein-Vogelbach-Bewegungslehre 123 Kleinwuchs 140, 148 – Morbus Morquio 162 – Mukolipidose 163 – Osteochondrome, multiple 152 – rhizomeler, disproportionierter 141 Klingelknopfphänomen 846 Klingenplatte, dynamische 55 Klinodaktylie 625, 948, 952 Klippel-Feil-Syndrom 946 Klopfung 129 Klumpfuß, kongenitaler 997, 998, 999 – Differenzialdiagnose 1001 – Klassifikation 999, 1000 – neuromuskulärer 998, 999 – Operation 1005 – Redressionsbehandlung 1001, 1002 – spastischer 999 – Therapie 1001
1086
Stichwortverzeichnis
– – Stufenschema 1005 Klumpfußhaltung 1000, 1005 Klumpfußorthese 91 Klumphand 948 – radiale 951 – ulnare 952 Klumpke-Déjérine-Plexusparese 208, 947 Knetung 129 Knickfuß 100 Knicklast, kritische 33 Knick-Platt-Fuß 847, 848, 854 – Differenzialdiagnose 1006 – flexibler 1005, 1006 – – pathologischer 1007 – Inspektion 1006 – kindlicher 1005 – knöcherne Operation 1007, 1008 – kontrakter 848, 1005, 1007 – – pathologischer 1007 – Palpation 1006 – schmerzhafter 1005, 1006 – Weichteiloperation 1007 Knick-Senk-Fuß 854 – Test beim Kind 934 Knick-Senk-Platt-Füße 210 Knickung 31, 33 Knie – Dysplasiesyndrom 987 – Entwicklung 986 – Palpation 987 – Röntgenbildbeurteilung 987 Kniearthrose siehe Gonarthrose Kniearthroskopie 283, 768, 769, 770 – Komplikation 802 – bei Meniskusverletzung 799 Kniearthrotomie, mediale 53 Kniebeugekontraktur 858 – Extensionsosteotomie 210 – fixierte 980 – bei Rotationsfehler 764 Kniebeugung, verstärkte, Bewegungsablauf 203 Knieextensorenschwäche 203 Kniegelenk – Achsenaufnahme unter Belastung 808 – Alloarthroplastik 294 – Arthritis, rheumatoide 326 – Arthroskopie 988 – Belastungsaufnahme 808 – Belastungsschmerz 771 – Deformität, präarthrotische 764 – Eisbeutelanwendung 127 – Exartikulation 66 – – Prothesenversorgung 87 – Funktionstests 987 – Hämarthros 805 – – Differenzialdiagnose 805
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Kapsel-Band-Apparat – insuffizienter 295 – Verletzung 804 Knochennekrose, avaskuläre 767 Knorpelschädigung, traumatische 292 Kollateralband – laterales 804 – mediales 804 – Stabilitätsprüfung 806 – Verletzung 812 – – mediale 794 Magnetresonanztomographie 768, 769 Osteochondrosis dissecans 767, 989 – Arthroskopie 768, 769 – Herdanbohrung 769 – Therapie-Leitlinien 768 Overuse-Verletzung 813 posterolaterale Strukturen 804 Prothesenpassteile 85 Röntgenaufnahme 768, 769, 798, 807, 987 – Rotationsbewegung mit Flexionsbewegung 794 – Schmerztests 785, 798 – Schublade – – hintere 806 – – – fixierte 806 – – – spontane 806 – – vordere 806 – Schubladentest 806 – Seitaufnahme, gehaltene 808 – Seitenbandaufklappbarkeit 806 – Streck-Beuge-Hemmung 798 – Synovektomie 325 – Überstreckbarkeit 760, 761 – Untersuchung 768 – Valgusstress 806 – Varusstress 806 – Verdrehtrauma 794 – Weichteilmantel 815 Kniegelenkbandage 92 Kniegelenkendoprothese 325, 326 – achsengeführte 295, 779 – bikondyläre 294, 780 – Femurkomponente, Größenbestimmung 781 – Implantation 780 – – Knochenzurichtung 781 – – – femorale 781 – – – Femur-first-Variante 781 – – – Tibia-first-Variante 781, 782 – – – tibiale 781 – – Patellapräparation 780 – – Patientenlagerung 780 – – Vier-in-eins-Schnittblock 781 – Implantationshäufigkeit 779 – Indikation 780
– lockere Komponente 54 – nicht gekoppelte 778 – posterior stabilisierte 778 – Primärimplantation 779 – Probeimplantation 781, 782 – Revisionsprothese 55 – rotierenden Plattformen 778, 779 – teilgekoppelte 778 – Tibiakomponentenausrichtung 782 – unikondyläre 294 – – mediale 779 – voll gekoppelt 778 – Weichteilbalancierung 782 Kniegelenkerguss 798, 805 – Sonogrammm 290 Kniegelenkersatz 776 Kniegelenkextension, Verlust 792, 793 Kniegelenkflächen, Inkongruenz 764 Kniegelenkflexion 200 Kniegelenkfraktur 786 Kniegelenkinstabilität 92, 203 – chronische 802, 809 – ligamentäre 326 – posterolaterale 807 Kniegelenkluxation 812 – angeborene 760 – komplette, angeborene 760 – rekonstruktive Maßnahmen 812 Kniegelenkspülung, arthroskopische 775 Knieguss 125 Knieorthese 89, 92, , 811 Knieschmerz – extraartikulärer 988 – intraartikulärer 989 – lateraler 814 – unklarer Genese 195 – vorderer, nach Tibiamarknagelosteosynthese 826 Knieschwellung beim Kind 933, 987 Kniestreckerfunktion bei Myelomeningozele 206 Kniestreckung, Lagerungsorthese 208 Knietotalendoprothese 224, 231, 325 – Fraktur, periprothetische 53 – Implantation, Patientenlagerung 780 – Indikation 780 – bei Morbus Ahlbäck 770 Knöchelrelief 832 Knochen – Anisotropie 361 – avitaler 370 – Durchblutung 361 – extrazelluläre Matrix 356, 357 – Festigkeit 360 – Inaktivitätsatrophie 42, 44 – Kalziumgehalt 169
1087 Stichwortverzeichnis
– im Knochen 151 – kortikaler siehe Kortikalis – Materialverhalten 4, 30, 45 – – elastisches 31 – mechanische Eigenschaften 356, 360 – mineral-collagen ratio 360 – Transformation 30 – unreifer, Verletzung 1026 – Zytologie 359 Knochenalterbestimmung 977 Knochenanker – Patellarsehnenrefixation 792 – Quadrizepssehnenrefixation 793 Knochen-AP 168 Knochenatrophie bei Endoprothese 45 Knochenaufbau 164, 356, 357 – mechanischer 42, 360 Knochenauftreibung 154 Knochenausgangsmasse 171 Knochenbeanspruchung – innere 43 – mechanische 42 Knochenbelastung – Kraftübertragung 30 – physiologische, bei Implantat 30 Knochenbildung 164, 359 – biochemische Marker 168 Knochenbiopsie 173, 176 Knochenblocktranspositionen, Schultergelenkstabilisierung 523 Knochenbruchgrenze 4 Knochenbrüchigkeit 146 Knochendeformation, plastische 1026 Knochendestruktion, mottenfraßähnliche 244, 265, 272 Knochendichte 30 – Frakturrisiko 168, 170 – Messung siehe Osteodensitometrie – niedrige, Therapie 174 – T-Score 170, 171 – Z-Score 170 Knochendichtestörung 146 Knochenentlastung, implantatbedingte 44 Knochenerkrankung, adynamische 179 Knochenermüdung 38 Knochenfibrom, nichtossifizierendes 277 Knochenheilung, indirekte 368 Knocheninfektion 1013 – Antibiose 1013 – Herdsanierung 1013 Knocheninseln, multiple 151 Knochenkern 1027 Knochenkrise 163 Knochenläsion – aggressive, metaphysäre 259 – ausgestanzte 270
– destruktive, solitäre, Differenzialdiagnose 274 – metaphysäre 274 – nicht-neoplastische, gut definierte 277 – osteolytische siehe Osteolyse – osteolytisch-sklerotische 266 – tumorähnliche 274 Knochenlymphom, malignes, primäres 268, 269 Knochenmarknekrose 186 Knochenmarktransplantation, allogene 162 Knochenmasseverlust 171 – kortikosteroidbedingter 179 – nach Nierentransplantation 179 Knochenmetabolismusmarker 154 Knochenmetastase 273 – Diagnostik 273 – Differenzialdiagnose 176 – Frakturrisiko 246, 274 – Klassifikation 246 – osteoblastische 273 – osteolytische 273 – Therapie 274 – – chirurgische 246 – Ursprungstumoren 273 Knochennekrose (siehe auch Osteonekrose) 163, 186 – aseptische – – Hand 648 – – idiopathische, Femurkopf siehe Morbus Perthes – avaskuläre, Kniegelenk 767 – ischämische 186 Knochen-Remodeling 360 – Frakturheilung 367 Knochenresorption 164 – biochemische Marker 168 – gesteigerte 179 – subchondrale 179 Knochenschmerz 269 – diffuser 178 – lokalisierter 180 Knochenstoffwechsel 164 – biochemische Marker 168, 173 Knochenstruktur – grobsträhnige 180 – Verdichtung 151 – verwaschene 176 – zweidimensionale Darstellung 169 Knochensubstitutionsprodukt 380 Knochentransplantation bei Pseudarthrose 380 Knochentuberkulose 1016 Knochentumor 242, 364 – benigner 250 – chondrogener
– – benigner 252 – – maligner 262 – distaler Radius 257 – epiphysärer 254 – fibröser – – benigner 255 – – maligner 265 – generalisierter 269 – histiozytärer, maligner 266 – kleinzellige Komponente 265 – knienaher 259 – knorpelbildender 262 – Knorpelkappe 253 – maligner 258 – – hämatopoetischen Ursprungs 268 – – Kindesalter 271 – – TNM-Klassifikation 243 – – unklaren Ursprungs 271 – metaphysärer 255 – ossifizierter, lobulierter 261 – osteoblastischer 262 – osteogener – – benigner 250 – – maligner 258 – sekundärer siehe Knochenmetastase – semimaligner 257 – Stadiengruppierung 243 – szintigrafisch heißer 264 – szintigrafisch kalter 264 – Szintigraphie 408 – vaskulärer – – benigner 256 – – maligner 267 Knochenumbau – beanspruchungsabhängiger 30 – gesteigerter 179 Knochenverkürzung bei Beinlängendifferenz 979 Knochenverlängerung bei Beinlängendifferenz 979 Knochen-Weichteil-Schaden 384 Knochenzement, Festigkeitseigenschaften 35 Knochenzyste 154 – aneurysmatische 261, 274, 1022 – – Kürettage 275 – – – Adjuvanzien 275 – multikamerale 275 – solitäre 275, 276, 1018, 1021 – – juvenile 1021 – unikamerale 275 Knopflochdeformität 656 Knopflochfehlstellung, Radiusköpfchen 603 Knorpel, hyaliner 285 Knorpelkappe 253 Knorpel-Knochen-Zylinder, autologe 293
K
1088
Stichwortverzeichnis
Knorpelmatrix 927 Knorpelregeneration 286 Knorpelzellen 285, 286 Koagulopathie 334, 336 Kocher-Langenbeck-Zugang 707 – Komplikation 707 Kohlendioxidpartialdruck 346 Kokken – gramnegative 220 – grampositive 217 Kölbel-Vorbeugetest 490 Kollagenmolekül 927 Kollagenose 309 Kollaps, karpaler 646, 649 Kollateralband – radiales 556 – ulnares 556 Kollateralbandtest 934 Kompaktaverdickung 180 Kompartiment(e) – Druckmessung 373, 912, 913 – – Unterarm 592 – kalkaneares 913 – osteofasziale 374 – Spaltung siehe Fasziotomie Kompartmentsyndrom 372, 373 – abdominales 349 – chronisches 364 – Definition 911 – Druckmessung 912, 913 – geschlossene Fraktur 366 – klinische Zeichen 373 – Komplikation 375 – Logendruck 597 – nach Kalkaneusfraktur 894 – nach Lisfranc-Luxationsverletzung 882 – Unterarm 589, 597 – Unterschenkel 821 – Ursache 373 Komplementärmedizin, Schmerztherapie 75 Komplikation, postoperative, schmerzbedingte 76 Komponentprüfung, Bauteil 38 Kompositwerkstoff 38 Kompressionsfraktur 362 Kompressionsschrauben, interfragmentäre 753 Kompressionsspondylodese 462, 463 Kompressionsverband, lymphologischer 130 Kompressionsverriegelungsnagel 588 Kompressionswirbel 172 Kondylenabstützplatte 55 Kondylen-Bettung Münster 87 Konstruktsteifigkeit 42 Konsultation, online 10
Kontraktion, auxotonische 119 Kontraktur – ischämische 375 – Physiotherapie 107 – Prophylaxe 107 Kopenhagener Schiene 1003 Kopfanpralltrauma 453 Kopf-im-Nacken-Deformität, proximales Femur 965 Körperasymmetrie 976 Körpergrößenabnahme 172 Körperhaltung 116 Korsett 95, 411, 425 – bei Skoliose 421 Kortikalis 356 – Elastizitätsmodul 35, 42 – Festigkeitseigenschaften 35 – Spongiosierung 30 – subchondrale – – Acetabulum 42 – – Femurkopf 43 Kortikalisdefekt, fibröser 987, 1019 Kortikalisresorption, subperiostale 179 Kortikalisverdickung, zwiebelschalenartige 271 Kortikosteroidinjektion – intraartikuläre 643, 646, 774 – bei Plantarfasziitis 851 – radiokarpale 647 – ins Sehnengleitgewebe 853 – bei Tendovaginitis stenosans 636 Kortison 291 – Schmerztherapie 73 Kostoklavikularsyndrom-Test 487 Koxarthrose 159, 283, 716 – Differenzialdiagnose 719 – Gelenkersatz 163, 295 – nach Hüftluxation 737 – Mukolipidose 163 – primäre 717 – radiologische Zeichen 717 – Risikofaktoren 717 – sekundäre 717, 719 – Therapie 719 – – operative 719 Kraft 46 Kraftmessplatte 201 Krafttraining 119 Kragen – steifer 458, 459 – weicher 458, 459, 466 Kragenschnitt, halber 459 Krallenzehe 842, 855 Kraniometrie 406 Krankengymnastik 104, 313 – bei Subakromialsyndrom 507 – Verordnung 134
Krankenhäuser der Schweiz 10 Krankentagegeldversicherung 1053 – Begutachtungsziel 1053 Krankenversicherungsgesetz 1044 Kreatinphosphatsystem 119 Kreislaufstabilisierung 340 Kreuzband – hinteres 803 – – Insuffizienz 806 – – knöcherner Ausriss 811 – – Ruptur 811 – – – Zerreißung des posterolateralen Ecks 812 – – Verletzung 807 – vorderes 803 – – Ersatzplastik 809–811 – – Insuffizienz 808 – – knöcherner Ausriss 809 – – Ruptur 808, 809 – – – Meniskusverletzung 794 Kreuzbandausriss, knöcherner 817 Kreuzbandersatz – arthroskopischer 810 – Trainingstherapie, medizinische 118 Kreuzbandkomplex-Aplasie 760 Kreuzbandrekonstruktion 808 Kreuzbandstabilitätstest 933 Kreuzschmerz 441 Kriechen 38, 46 Krukenberg-Plastik 67 Kryotherapie 127 Kugelberg-Welander-Muskelatrophie 207 Kuner-Gelenkinfektionseinteilung 223 Kürettage 276, 258 Kurzfinger 628 Kurzwelle 133 KUSS-Schema (kindliche Unbehagens- und Schmerzskala) 74 Kyphoplastie 173, 177 Kyphose 426 – anguläre 426 – arkuäre 426 – Dysplasie, spondyloepiphysäre 145 – fixierte 424 – juvenile siehe Morbus Scheuermann – kongenitale 411, 426 – lumbale 106 – Neurofibromatose 155 – Operationsindikation 427 – posttraumatische 426, 471, 474 – radiologische Typen 434 – relative 426 – Systemerkrankung 426 – thorakale – – beim Kind 938 – – verstärkte 307 – thorakolumbale 161
1089 Stichwortverzeichnis
– verstärkte 106 Kyphosemanagement 413 Kyphoseorthese 95 Kyphosewinklel 425 Kyphoskoliose 142
L Labornormwerte, Suche im Internet 9 Labrum – acetabulare 733 – – Einklemmung 730 – – Läsion 756 – glenoidale 486 – – Durchblutung 485 – – Refixierung, arthroskopische 523 Labrumlinie 956, 957 Lachman-Test 806, 807, 933 Lagerung, physiotherapeutische 106 Lagerungmaterial 106 Lagerungsorthese 208 Lag-Zeichen 489, 490 Lähmung, schlaffe 120 Lambrinudi-Operation 857, 858 Lamellenknochen 357 Laminektomie 449 Laminotomie, zervikale 439 Lancefield-Streptokokkengruppen 218 Langerhans-Zellen, proliferierende 277 Langerhans-Zell-Histiozytose 276 Langfinger siehe Finger Längsgewölbetest nach Matussek 934 Laparaskopie, diagnostische 349 Lappen – axial gestielter 387 – fasziokutaner 387 – freier 387, 390 – gestielter 387 Lappen-Monitoring 392 Lappennekroserate 392 Lappenpflege 392 Lappenplastik 387, 660 – definitive, Zeitpunkt 392 – Evidenz 392 – myokutane 388 – rheologische Begleittherapie 392 Lappenschwellung, postoperative 391 Lappentransplantation, mikrovaskuläre, freie 390 Larsen-Syndrom 923 Lasègue-Test 404, 405, 442 – umgekehrter 404, 442 Latexallergie 206 Latissimus-dorsi-Lappen 391, 392 Lauenstein-Aufnahme 716
– Cam-Impingement-Nachweis 731 – Morbus Perthes 963 Lauge-Hansen-Einteilung, Verletzung des oberen Sprunggelenks 902 Leffert-Test 493 Leiomyom 248 Leistenschmerz 176 Leistungsfähigkeitsbeurteilung 1050 Lendenwirbelfraktur, Ursache 466 Lendenwirbel 466 – Sakralisation 409, 466 – Stressfraktur 942 Lendenwirbelsäule – bandscheibenbedingte Erkrankung 1055 – Hypomobilität, reflexartige 931 – Orthese 95 Lendenwulst 418, 419, 941 Lenke-Klassifikation, Skoliose 418, 423 L‘Episcopo-Operation 501 Lesser-arc-Verletzung 679 Letournel/Judet-Klassifikation, Azetabulumfraktur 700, 701 Leukämie 1022 Leukozytenszintigraphie 408 Levomethadon 72 Lewis/Rorabeck-Klassifikation, periprothetische Femurfraktur 54 Lewis/Rorabeck-Typ-I-Frakturen 55 Lewis/Rorabeck-Typ-II-Frakturen 55 Lexer-Operation 857 Li-Fraumeni-Syndrom 259 Lift-off-Test 488, 489 Ligamentum – acromioclaviculare, Durchtrennung 548 – alare, Abriss 452 – anulare 597 – calcaneofibulare 894, 895, 898 – – Rekonstruktion 898, 899 – – Ruptur 895 – capitis femoris – – Blutversorgung 731 – – knöcherner Ausriss 735 – collaterale laterale 598 – – Zerreißung 599, 600 – coracoacromiale 539 – – Durchtrennung 548 – – Ossifikation 502 – coracoclaviculare 539 – costoclaviculare, Durchtrennung 550 – deltoideum 887 – – Ruptur 895, 905 – fibulocalcaneare – – Insuffizienz 832 – – Verlagerung 850 – iliolumbale 689
– – – – – – –
K–L
nuchae 450 patellae, Ruptur 765 popliteofibulare 804 sacrospinale 689 – Ruptur 696 sacrotuberale 689 supraspinale , posttraumatische Lücke 470 – talocalcaneare interosseum, Ruptur 895 – talofibulare – – anterius 894, 895, 898 – – – Insuffizienz 832 – – – Rekonstruktion 899 – – – Ruptur 894, 895 – – posterius 894, 895 – – – Ruptur 895 Linea – ilioischiadica, Unterbrechung 703, 704 – iliopectinea 695, 702 – – Unterbrechung 704 Liner-Technik 87 Liner-Versorgung 87 Linie, tibiofibulare 905 Lipase-Aktivität 178 Lipidspeicherkrankheit 163 Lipödem 130 Lipomatose, spinale 446 Lipom 247 Liposarkom 249 L5-Ischialgie 443 Lisch-Knötchen 156, 157 Lisfranc-Gelenk 879 – Arthrose 846 – Luxation 879–882 – – Klassifikation 880 – Rekonstruktion 881 Lisfranc-Gelenklinie, Amputation 64 – Prothesenversorgung 88 LISS (less invasive stabilizing system) 754 Little leaguer‘s elbow 188 Littler-Tenodese 657 Load-and-shift-Test 494 Lockenzehen 997 Locking compression plate 753 Löffelhand 624 Lokalanästhetika bei Osteoporose 177 Lokalanästhetikuminfiltration, diagnostische 494 Lokalanästhetikuminjektion, intrartikuläre 75 Lokalschmerz 216 Longitudinalbandverkalkung 432 Looser-Pseudofraktur 176 Lordoplastie 472 Lordose, lumbale – beim Kind 938 – pathologische 200
1090
Stichwortverzeichnis
Lordosierungsspondylodese, dorsale, polysegmentale 435 Lorenz-Stellung 959 Low bone turnover 179 Low-dose-Opioidpflaster 291 Low-grade-Chondrosarkom 262 Low-grade-Liposarkom 249 Low-grade-Osteosarkom 261 L5-Querfortsatz-Fraktur 689 Lues 1016 Luft-Flüssigkeits-Spiegel, intraartikulärer 819 Lumbago 441 Lumbalisation des 1. Sakralwirbels 409, 466 Lumbalorthese 95 Lumbalsyndrom 435, 441 LumboFlex-Orthese 96 Lumboischialgie 435 Lumiracoxib 71 Lunatum (s. auch Os lunatum) 677 – DISI-Stellung 646 Lunatumfraktur 677 Lunatumluxation 678, 679 Lunatummalazie 189, 648, 649 – MRT-Befund 650 Lunatumnekrose, aseptische siehe Lunatummalazie Lungenfibrose 309 Lungenmetastase – Chondroblastom 254, 257 – Ewing-Sarkom 271, 272 – Fibrosarkom 266 – Osteosarkom 260 Lupus erythematodes, systemischer 309 Luxation – atlantoaxiale 462 – atlantookzipitale 461 – sternoklavikuläre 531, 532 – tibiofemorale siehe Kniegelenkluxation Luxationsarthropathie, glenohumerale 515 Luxationsfraktur – perilunäre 676 – transkalkaneare 879 – transkuboidale 879 – transnavikulare 878 – transtalare 878 Lyme-Borreliose 308 Lymphangitis 216 Lymphdrainage, manuelle 130, 131 Lymphödem 130 – chronisch progredientes 216 Lymphom, malignes, primäres 268 Lymph-Taping 132 Lysesaum, periprothetischer 229
M Macule-Klassifikation, Galeazzi-Fraktur 592 Madelung-Deformität 953 Maffucci-Syndrom 253 Magenblutung, NSAID-bedingte 772 Magnetresonanztomographie 186, 188, 567 – Befund, digitaler 10 – Ellenbogengelenk 567 – Fuß 833 – Halswirbelsäulenuntersuchung 315 – Handgelenk 623 – Kniegelenk 768, 769 – Morbus Perthes 963 – Osteomyelitisnachweis 371 – Relaxationszeit 409 – bei rheumatischer Erkrankung 302 – Schulter 497 – Stressfrakturnachweis 364 – Tumordiagnostik 244 – Wirbelsäulenuntersuchung 408, 471, 941 Mainzer Hüftentlastungsorthese 92 Maisonneuve-Fraktur 906 Major-Amputation 62 Makrodaktylie 156, 628, 953 Makromolekülentwicklung, embryonale 927 Makrophagen, Wundgebiet 384 Malformation 924 Malignitätskriterien im Röntgenbild 244 Malleolarfraktur 904, 907 – AO-Klassifikation 904 Malleolengabel, dysplastische 980 Malleolusfraktur 906 Mangled Extremity Severity Score 351, 352 Manipulationstechnik 113 Marfan-Syndrom 158 Marknagelosteosynthese – Aufbohrung 825 – Humerusschaftfraktur 573 – Osteomyelitis 372 – Tibiaschaftfraktur 824 Marmorknochenkrankheit 150, 151 Marschfraktur 38, 363 Massage 129, 130, 313 – klassische 129 – Wirkung 129 Maßschuh, orthopädischer 99 Materialabrieb 31 Materialermüdung 38, 46 – oberflächliche 39 Materialhärte 35, 37 Materialspannung 31
Materialverhalten 35 Matthiass-Haltungstest 941 Matussek-Längsgewölbetest 934 Mayo-Klassifikation, Ulnafraktur, proximale 586 McCune-Albright-Syndrom 153, 1019 McGregor-Linie 406 McRae-Foramen-magnum-Linie 406 MdE (Minderung der Erwerbsfähigkeit) 1038, 1044, 1050 – Einstufung 1047 MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) 1053 Mediatoren – antiinflammatorische 336 – proinflammatorische 336 Medikamentenapplikation, Iontophorese 133 Mediokarpalarthrose 614 Medizinischer Dienst der Krankenversicherung 1053 Medizin – manuelle 111-113 – orthopädische, nach Cyriax 113 Medline, Suchmaschine 8 Medscape 9 Mehretagenfraktur, zervikale 460 Mehretagenverletzungen, Extremität, obere 669 Mehrphasenszintigraphie 408 Meldepflicht – Diphtherie 219 – Gasbrand 220 – Meningokokkenmeningitis 220 – Milzbrand 220 – Tetanus 220 Membrana interossea 556 – Zerreißung 581 Membranspannung 42 MEN (multiple endokrine Neoplasie) 177 MEN I 177 Menard-Shenton-Linie 957 Meningeom 158 Meningokokken 220 Meningokokkenmeningitis 220 Meningomyelozele 412, 926 Meningozele 206, 412 Meniskektomie 799 – Nachbehandlung 801 – Prognose 802 – subtotale 800 Meniskoplastie 991 Meniskuseinriss 795, 796 Meniskusläsion beim Kind 991 Meniskusrefixation 800–802 – Außen-innen-Naht 801 – Innen-außen-Naht 801
1091 Stichwortverzeichnis
– intraartikuläre Technik 801 Meniskusrekonstruktion 802 Meniskusteilresektion 799, 800 – arthroskopische 799 – Nachbehandlung 801 Meniskusverletzung 794, 795 – Anamnese-Leitlinie 796 – degenerative altersbedingte 794 – Diagnostik 795 – – Leitlinie 798 – klinische Untersuchung 796 – – Leitlinie 798 – Operation 799, 801 – Prognose 802 – Röntgenaufnahme 798 – schleichende 794 – Schmerzlinderung 799 – Sonographie 798 – Stufenschema 799 – Therapie-Leitlinie 799 Meniskuszeichen 796 Mennell-Zeichen 442 Merchant-Aufnahme 787 Meshgraft-Transplantat 386 MESS (Mangled Extremity Severity Score) 351, 352 Metachondromatose 152 Metakarpalebasisfraktur 681 Metakarpaleköpfchen, Osteonekrose 190 Metakarpalekopffraktur 680 Metakarpaleschaftfraktur 681 Metakarpophalangealgelenk – des Daumens, Arthrodese 322 – hyperextendiertes 637 – intraartikuläre Abrissfraktur 682 Metakarpophalangealkarthrose siehe Fingergrundgelenkarthrose Metakarpophalangealluxation 683 Metallentfernung 380 Metallo-E-Laktamase 221 Metallplatte, vorgeformte 37 Metamizol 72 – beim Kind 74 – Zulassung 72 Metaphysentumor 255 Metatarsale V 882 Metatarsale-V-Basis – Ermüdungsfraktur 855 – Frakturzonen 882 Metatarsalefraktur 882–884 Metatarsale-I-Fraktur 883 Metatarsale-V-Fraktur 882, 883 Metatarsaleköpfchen – Entlastung 194 – Osteonekrose 193 – Resektion 328 Metatarsale-I-Köpfchen 835
Metatarsale-I-Korrekturosteotomie – basisnahe 836, 837, 838 – distale 836, 837 Metatarsalestressfraktur 882 Metatarsaletrümmerfraktur 882 Metatarsale-Zweidrittel-Resektion 65 Metatarsalgie 100, 844, 858, 882 Metatarsaliakeilosteomie, dorsale, basale 857 Metatarsaliaresektion, komplette 65 Metatarsalknochen 882 Metatarsophalangealgelenk siehe Zehengrundgelenk Metatarsus adductus 974, 975, 996, 1001 Methotrexat 312 Methylprednisolon 275 Methylprednison 470 Methylsulfone 71 Meyerding-Klassifikation, Spondylolisthesis 415, 416 M-Gradient 270 Micro-Hip® 722 Mikrodaktylie 997 Mikrofrakturierung 293 Mikromelie 924 Mikrometastasen 258, 271 Mikrotraumen 194 Mikrowelle 133 Mikulicz-Linie 99 Military-Brace-Test 487 Milwaukee-Boston-Korsett 425 Milwaukee-Korsett 421 Milzbrand 219 Milzbrandkarbunkel 219 Minderung der Erwerbsfähigkeit 1038, 1044, 1050 – Einstufung 1047 Minderwuchs 162 – disproportionierter 145, 162 Mineral-Collagen Ratio 360 Minerva-Gips 458 Minor-Amputation 62 MIPO (minimal-invasive Plattenosteosynthese) 55, 57 Mittelfuß 875 Mittelfußbereich, Amputation 64, 65 Mittelfußfraktur 875 Mittelfußluxation 999 Mittelfußrolle 98 Mittelgesichtshypoplasie 141, 143 Mittelhandamputat 669 Mittelhandknochenfraktur 679, 680, 681 – subkapitale 680 Mittelhandraum 659 Mobilisation (siehe auch Bewegung) 113 – aktive 112 – hubarme 123
L–M
– passive 112 – widerlagernde 123 Mobilitätsgrade 84 Modic-Einteilung, Osteochondrose 441 MODS (Multiple Organ Dysfunction Syndrome; Multiorgandysfunktionssyndrom) 335 MOF (Multiple Organ Failure) siehe Multiorganversagen Mohs-Skala 37 Mongoloidenbecken 160 Monteggia-Fraktur 591, 600, 1031 – Jupiter-Unterklassifikation 591 – Therapie 597 Morbus – Ahlbäck 194, 769, 770 – Albers-Schönberg 150, 151 – Baastrup 450 – Bechterew 72, 306, 316, 431, 942 – – Diagnosekriterien 432 – – Frühdiagnosekriterien 433 – – Punktescore 433 – – thorakaler 435 – – thorakozervikaler 435 – Blount 196, 984 – Calvé 425 – Charcot-Marie-Tooth 207 – Crohn 307 – Dietrich 190 – Dupuytren 631 – – digitaler 625 – – Operation 631, 632 – – Schweregrade 631 – Fabry 163 – Forrestier 436 – Friedrich 195 – Gaucher 163 – – Enzymersatztherapie 164 – Haas 188 – Haglund 196 – Hunter 161 – Hurler 161 – Kahler 269, 270 – Kienböck siehe Lunatummalazie – Köhler-Freiberg 193 – Köhler 192 – Köhler II 193 – Ledderhose 853 – Legg-Calve-Perthes siehe Morbus Perthes – Marie-Strümpell-Bechterew siehe Morbus Bechterew – Maroteaux-Lamy 161, 162 – Morquio 161, 162 – Niemann-Pick 163 – Osgood-Schlatter 195, 988 – Paget 176, 180, 181 – – Histiozytom, fibröses, malignes 266
1092
– – – – – – – – – – – – –
Stichwortverzeichnis
– monostotischer 180 – Osteosarkom, sekundäres 260 – polyostotischer 180 Panner 566, 954 – Operationsindikation 189 Perthes 92, 714, 961 – Ausdehnung 961 – Catterall-Gruppen 961 – Diagnostik 963 – Differenzialdiagnose 964 – Epiphysenhöhe, laterale 962 – Fragmentationsstadium 962 – Gelenkmorphologie nach Ausheilung 962 – – Herring-Einteilung 962 – – Hypercontainment-Therapie 962, 966 – – Initialstadium 961 – – Kondensationsstadium 962 – – Kopfrisikozeichen 962 – – Magnetresonanztomographie 963 – – Operation 965, 966 – – postoperative Maßnahmen 966 – – Reparationsstadium 962 – – Stadien 961 – – Stulberg-Klassifikation 962 – – Therapie 964, 966 – Preiser 650 – Recklinghausen siehe Neurofibromatose – Ritter 217 – Sanfilippo 161 – Scheie 161, 162 – Scheuermann 424–426 – Sinding-Larsen-Johansson 989 – Sinding 196 – Sudeck siehe Schmerzsyndrom, komplexes, regionales – Thiemann 191 – Waldenström siehe Morbus Perthes Morgensteifigkeit 288, 300, 303 Morphin beim Kind 74 Morphin retard 72 Morrey-Klassifikation, Capitulum-humeriFraktur 576, 577 Morrey-Olekranonosteotomie 578 Morton-Neurom 364, 845, 846, 850 Mosaikplastik 293 MR-Arthrographie 498 MRSA (methicillinresistenter Staphylococcus aureus) 217 – Gelenkinfektion 227 MRSA-Infektion, periprothetische 232 MRT siehe Magnetresonanztomographie Mukolipidose 162 – Enzymsubstitution 163 Mukopolysaccharide 927 Mukopolysaccharidose 160–162, 922, 927 – Enzymsubstitution 162
Müller-Weiss-Syndrom 193 Multiorgandysfunktionssyndrom 335 Multiorganversagen 334, 335 Multiple Organ Dysfunction Syndrome (Multiorgandysfunktionssyndrom) 335 Multiple Organ Failure (Multiorganversagen) 334, 335 Multisegmentalosteotomie, lumbale 317 Musculus – anconeus 598 – biceps femoris 804 – brachialis 568, 598 – deltoideus, Unterranddarstellung 537, 538 – extensor carpi radialis brevis 565 – – Z-förmige Verlängerung 566 – extensor hallucis longus 842 – flexor hallucis – – brevis 842 – – longus 842 – gluteus maximus 723 – gracilis, Sehnentransplantatentnahme 810 – peroneus brevis 882 – piriformis, Insertionstendinopathie 713 – quadriceps femoris – – Lateralisationswirkung 987 – – Zohlen-Zeichen 994 – rectus – – abdominis 708 – – femoris, Sehnenrefixation 92 – semitendinosus, Sehnentransplantatentnahme 810 – soleus 201, 202 – supinator 594 – supraspinatus, Querfriktionen 114 – tensor fasciae latae 722, 723, 724, 747 – tibialis posterior, Sehne siehe Tibialisposterior-Sehne – triceps – – brachii 598 – – surae 201, 202 – – – Kontraktur 972 – – – Sehne siehe Achillessehne Muskelatrophie, spinale 207 Muskelaufbautraining, funktionelles 118 Muskelbelastungstraining 118 Muskeldystrophie 922, 931 – Typ Becker 207 – Typ Duchenne 206 Muskelenergietechnik 112 Muskelfaserriss 755 Muskelkontraktion – dynamische 104 – statische/tonische 104 Muskelkraft 404 – gelenkstabilisierende 30
– manuelle 200 Muskellängenbestimmung 200 Muskellappen, gestielter 388 Muskelphlegmone 215 Muskelrelaxanzien 73 Muskelschwäche 167, 176, 178, 179, 203 – distale 207 – progrediente 207 Muskeltonus 204 – Massagewirkung 129 Muskeltransposition 398 Muskelverlängerung 209 Muskulatur – gelenkstabilisierende 30 – glatte, Tumor 248 – knienah inserierende 819 – Tumor, benigner 248 Mycobacterium – bovis 219 – tuberculosis 219 Myelographie 407 Myelom 269 – multiples 269, 270 – osteosklerotisches 271 – solitäres 270 Myelomeningozele 205, 206, 412, 998 Myelondekompressionen 458 Myelopathie – thorakale 439 – zervikale 437, 439 Myelozele 412 Mykobakterien, atypische 219 Mykobakterieninfektion 219 Myokardfibrose 309 Myokardinfarkt unter Rofecoxib-Behandlung 772 Myopathie 206 Myositis ossificans circumscripta 376 Myotome 926 Myxom 249
N Nachtschmerz 288, 1018, 1022 Nachtschweiß 428 Nackenschmerz, kindlicher 943 Nafcillin 1013 J-Nagel 746 Nagelavulsionsverletzung 683 Nagelbettverletzung 683, 873 Nagel, intramedullärer, elastischer 150 Nagelkranzfraktur 683 Nagelverletzung 682 Napoleonhut, umgekehrter 415 Napoleon-Zeichen 489
1093 Stichwortverzeichnis
NASCIS-Studie 470 NCB-Platte 546 Nebengelenk – skapulothorakales 479 – subakromiales 479 Nebenschilddrüsenadenom 177 Nebenschilddrüsengewebe, Autotransplantation 178 Nebenschilddrüsenhyperplasie 177 Nebenschilddrüsenüberfunktion siehe Hyperparathyroidismus Needling, perkutanes 508, 637 Neer-Impingement-Test 490, 492 Neer-Klassifikation, proximale Humerusfraktur 541 Neigungswinkel – radiokarpaler 621 – radioulnärer 621 Neisseria meningitidis 220 Nekrosektomie 216 Neoplasie, endokrine, multiple siehe MEN Nephrolithiasis 167 Nervendehnungstest 404, 405 Nervenkompression 364 Nervenkompressionssyndrom, Extremität – obere 633 – untere 850 Nervennaht 397, 668 Nervenschaden 397 Nervenstumpf 63 Nervenverletzung 396 – Finger 667, 668 – Lokalisierung 396 Nervenwurzeldekompression, minimalinvasive 444 Nervenwurzelläsion 396 Nervenwurzeltasche, Darstellung, myelographische 407 Nervus – cutaneus – – antebrachii lateralis 604 – – femoris lateralis 708 – digitalis plantaris communis, Einengung 845 – femoralis 442 – gluteus – – inferior, Verletzung 707 – – superior 722, 724 – ischiadicus, Läsion 733, 737 – – bei Azetabulumfraktur 699 – medianus 575, 592, 605 – – Kompression 633 – – Läsion bei distaler Humerusfraktur 577 – – Verlauf 568 – musculocutaneus 568 – – Wiederherstellung 397
– occipitalis major, Infiltration 438 – peroneus profundus 881 – – Einklemmung 850 – – superficialis, Einklemmung 850 – radialis 575, 592, 605, 607 – – Kompression 565, 635 – – Ramus – – – profundus 593 – – – profundus, Dekompression 566 – – – profundus, Kompression 565 – – – profundus, Verletzung 569 – – – superficialis 593 – – – superficialis, Verletzung 569 – – Verlauf 568 – – Verletzungshöhe 569 – suprascapularis 485 – – Blockade 438, 439 – – Kompression 536 – suralis, Transplantation 397 – thoracodorsalis 391 – tibialis posterior, Einklemmung 850 – ulnaris 562, 575, 592 – – gefäßgestielter 397 – – intraoperative Darstellung 578 – – Kompression 635 – – Läsion – – – bei distaler Humerusfraktur 577 – – – bei Olekranonfraktur 587, 589 – – Neurolyse 635 – – Subkutanverlagerung 580 – – Verlauf 568 Nervus-interosseus-anterior-Syndrom 633 Neuralgie, interdigitale 845, 850 Neurapraxie 397 Neurinom 247 Neurofibrom 156, 248 – maligne Entartung 157, 248 Neurofibromatose 140, 155–157, 248 – Tibiapseudarthrose 996 – TypI 156 – TypII 158 Neurographie 634 Neurolemmom 247 Neurolyse 397 Neuromuskuläre Systemerkrankung 200, 208-210 Neuropathie – motorische und sensorische, hereditäre 207 – sensomotorische, hereditäre, Typ I 856 Neurotisation 398 Neurotmesis 397 Neutral-Abduktionstest 487, 488 Neutral-Außenrotationstest 487, 488 Neutral-Innenrotationstest 488, 489 Neutral-Null-Methode 289, 487
M–O
Nevasier-4-in-1-procedure 509 Newport-Orthese 91 Newton 46 NF1-Gen-Mutation 156 Nichtopioidanalgetika 70 Nidus 250, 1021 Niereninsuffizienz 167 – chronische 178 – – Osteopathieerfassung 180 Nierentransplantation 179 Nominalspannung 37 Non-Bankart-Läsion 518 Normalkraft 32, 46 – Frakturstelle 44 Normalspannung 31, 46 Notfallbeatmung 343 Notfall-MRT 341 NSAR siehe Antirheumatika, nichtsteroidale Null-Durchgangsmethode 200 Nutcracker injury 877
O Oberarmamputation – Prothesenversorgung 82 – transkondyläre 67 Oberarmkompartiment 374 Oberarmstumpf, ultrakurzer 67 Oberflächenanalgesie beim Kind 74 Oberflächenoptometrie 940 Oberflächenosteosarkom 258, 261 – hochmalignes 262 Oberflächenprothese 777, 778 – bikondyläre 294, 295 – Hüftgelenk 296 – Kniegelenk 294, 295 Oberguss 125 Oberschenkelachsen-TransmalleolarachsenWinkel 976 Oberschenkelamputation 66 – Prothesenversorgung 85, 86 – proximale 66, 86 – suprakondyläre 86 – transkondyläre 66 Oberschenkel-Fuß-Achse 932 Oberschenkelkompartiment 374 Oberschenkellappen, anterolateraler 390 Oberschenkelliegeredressionsgips 1003 Oberschenkelprothese 86, 87 Oberschenkelredressionsschiene 1003 Oberschenkelstumpfdeckung, myoplastische 66 O‘Brien-Test 490, 491 Obstipation, opioidbedingte 73 Obturator-Aufnahme 695, 703, 705
1094
Stichwortverzeichnis
Ödem – idiopathisches 130 – postoperatives 130 Ödem-Taping 132 O‘Driscoll-Therapiealgorithmus bei Ellenbogenluxation 601, 602 Okzipitalisneuralgie 437 Okzipitalkondylenfraktur 451 Okzipitalwirbel 413 Okzipitozervikalregion, Fehlbildung 413 Olekranonfraktur 586 – Kompressionsverriegelungsnagel 588 Olekranonosteotomie 578, 581 Olekranonschrägfraktur 588 Oligoarthritis – frühkindliche 305 – HLA-B27-assoziierte 305 Oligosaccharidose siehe Mukolipidose Ollier-Syndrom 153, 253, 263 Omarthrose 514, 515 – Gelenkersatz 294 – Magnetresonanztomographie 498 – Röntgendarstellung 515 Ombredanne-Linie 957 Onkologie, orthopädische, Suche im Internet 9 Online-Konsultation 10 Online-Kurs 9 Online-Nachschlagewerk 9 Open-book-Beckenverletzung 351, 689, 697 Operation 4 – endoskopische 4 – technisches Umfeld 4 Operationstechnik, Suche im Internet 9 Operationszeitpunkt, optimaler 338 Opioidanalgesie, lokale, ganglionäre 240 Opioidanalgetika siehe Opioide Opioide 70, 72, 773 – beim Kind 74 – Indikationsstellung 73 – Nebenwirkung 73 – synthetische 291 Opioidrezeptoren 72 Optikusgliom 156 Organogenese 925 ORIF (open reduction internal fixation) 543 Orthese 89, 177, 292 – funktionelle 209 – Halo-zervikothorakale 95 – Hohmann/Uhlig-Einteilung 89 – hüftübergreifende 89 – ISO-Klassifikation 89 – bei neuromuskulärer Systemerkrankung 208 – im Sport 96
Orthopädie, technische 80 Orthopädische Erkrankung 4 Orthopaedics Hyperguide 9 Orthoprothese 88, 91 – bei Femurlängendefizit 980, 981 Orthoteers 9 Ortolani-Test 932 Os – acromiale 500 – capitatum, Fraktur 677 – cuboideum, Fraktur 877 – cuneiforme, Fraktur 877 – ilium, Osteotomie 720 – ischiadicum, Osteotomie 720 – lunatum (s. auch Lunatum) 677 – – magnetresonanztomographische Vitalitätsbeurteilung 190 – – Osteonekrose siehe Lunatummalazie – naviculare 875 – – Avulsionsfraktur 875, 876 – – Fraktur 875–877 – – – Einteilung 876 – – – Komplikation 877 – – Korpusfraktur 876 – – Osteonekrose 192, 193 – – Stressfraktur 193, 876, 877 – odontoideum 414, 947 – omovertebrale 946 – pisiforme, Shear-Test 620, 645 – pubis, Osteotomie 720 – sacrum 688 – – Frakturzonen 692 – trigonum 868, 869 – – Resektion 869 – triquetrum, Fraktur 677 Osseointegration 85 Ossiculum terminale 414 Ossifikation, heterotope, Prophylaxe 76 Ossifikation – desmale 360 – enchondrale 360 – enchondrale, Störung 141 – Frakturheilung 367 – heterotope 376, 435 – periartikuläre 604 – perichondrale 360 Ostase 168 Osteitis 1013 – deformans siehe Morbus Paget – fibrosa 179 O-Stellung der Beine 761, 985 Osteoarthritis siehe Arthrose Osteoarthropathie, diabetisch-neuropathische 862–865 – Druckentlastung 865 – Klassifikation 863, 864 Osteoarthrose siehe Arthrose
Osteoarthrosis interspinosa 450 Osteoblasten 164, 359 Osteoblastenaktivität 168, 180 Osteoblastom 251, 1020 – Rezidivrate 252 Osteochondrom(e) 146, 253, 1019 – gestieltes 253 – malignitätsverdächtige Veränderung 253 – multiple 152 – – maligne Entartung 152, 153 – – stammnahe 153 Osteochondromatose 153, 1020 Osteochondrose 186, 194, 435 – juvenile siehe Morbus Scheuermann – kernspintomographische Einteilung 441 Osteochondrosis dissecans – adulte 187 – Arthroskopie 187 – Ellenbogengelenk 566 – Herdanbohrung 769 – juvenile 187 – Kniegelenk 767, 769, 989 – Magnetresonanztomographie 188 – Patellofemoralgelenk 768 – Stadien 187 – Talus 869, 870 Osteodensitometrie 169, 172, 180 – Indikation 170 – Kontrollmessungen 170 – radiologische – – planare 169 – – volumetrische 169, 170 – ultraschallgesteuerte 170 Osteodystrophia deformans siehe Morbus Paget Osteogenesis imperfecta 140, 146–148, 927 – autosomal dominante 147 – autosomal rezessive 147 – Frakturbehandlung 148 – Hanscom-Einteilung 147 – Sillence-Klassifikation 147 – Typ Lobstein 146 – Typ Vrolik 146 Osteoid 164 – untermineralisiertes 176 Osteoidosteom 250, 251, 1021 Osteokalzin 168, 173 Osteoklastenaktivität, exzessive 180 Osteoklasteninsuffizienz 151 Osteoklasten 164, 165, 359 Osteolyse 140, 163, 176, 180, 270, 275 – epiphysär-metaphysäre 258 – landkartenartige 265, 266 – metaphysäre 255, 274 – milchglasartige 154
1095 Stichwortverzeichnis
– scharf begrenzte 252, 254, 255 Osteomalazie 175 – Differenzialdiagnose 176 – Therapieempfehlung, Evidenz 177 Osteomyelitis 163, 217, 227, 1013, 1014 – akute 370 – – unspezifische 1014 – chronische 370 – – unspezifische 1016 – Cierny-Mader-Klassifikation 370, 371 – Diagnostik 371 – – bildgebende 371 – bei Fraktur 370 – hämatogene 1012 – – des Jugendlichen/Erwachsenen 1015 – – des Kindes 1015 – – des Säuglings 1014 – Klassifikation 370 – metaphysäre 1014 – multifokale, chronisch rekurrierende 526 – bei Osteosynthese 370 – plasmazelluläre 1016 – Prädilektionsstellen 1012 – primär-chronische 1016 – sekundär-chronische 1016 – spezifische 1016 Osteonekrose (siehe auch Knochennekrose) 186 – epiphysäre 186 – beim Kind 954 – Magnetresonanztomographie 186, 190 – Morbus Gaucher 163 – posttraumatische 186 – subchondrale 187 – systemisch bedingte 186 Osteon 357, 358, 359 Osteopathie – nach Nierentransplantation 179 – renale 178, 179, 180 – – Differenzialdiagnose 176 Osteopenie 169, 171, 176 Osteopetrose 150 – maligne 150, 151 Osteopetrosis – congenita 150, 151 – tarda 150, 151 Osteophyten 283, 286, 289, 436 – Hüftgelenk 713, 717 Osteopoikilie 151 Osteoporose 171–173 – Definition 171 – Differenzialdiagnose 176 – geometrische Veränderungen 171 – Humerusfraktur, distale 580, 581 – Kalzitoninwirkung 165 – Knochenbiopsieindikation 173
– Laboruntersuchungen 172 – Osteodensitometrie 169 – postklimakterische 171 – präklinische 171 – primäre, Risikofaktoren 171 – Prognose 175 – Schenkelhalsfraktur 737 – Screening-Programm 172 – sekundäre 171 – Therapie 173, 175, 177 – – Konsensusleitlinien 175 – – medikamentöse 173 – – physikalische 173, 177 – WHO-Definition 169, 171 Osteoprogenitorzellen 359 Osteosarkom 258, 1022, 1023 – Chemotherapie 1022 – chondroblastisches 259 – juxtakortikales 258, 261 – Klassifikation 258 – klassisches 258–260 – – Amputation 260 – – Chemotherapie 260 – – extremitätenerhaltender Eingriff 260 – – Metastasierung 259, 260 – knienahes 1023 – multifokales 261 – parosseales 261 – periostales 262 – sekundäres 260 – strahleninduziertes 259, 260 – teleangiektatisches 261 – zentrales 258 Osteosklerose 176 – generalisierte 151 Osteosynthese – Femurfraktur, periprothetische 50 – Frakturheilung 368 – Humerusfraktur, periprothetische 58 – Infektion, postoperative 370 – Materialversagen 376, 377 – Tibiafraktur, periprothetische 56 Osteotomie – bei Morbus Panner 189 – periazetabuläre 961, 965 Osteozyten 359 Österreichische Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie 10 Österreichische Gesellschaft für Unfallchirurgie 10 Östrogenrezeptormodulatoren, selektive 174, 177 Östrogensubstitution bei niedriger Knochendichte 174 OTA/AO-Klassifikation , Beckenfraktur 690 Ottawa Ankle Rules 896 Ott-Zeichen 403
O–P
Outside-in-Meniskusnaht 801 Overhead-Aufhängung 1032 Overhead-Extensions-Repositions-Behandlung nach Krämer 959 Oxygenierung 340
P Packung 126 Painful arc 490 Palmaris-longus-Sehne, Ellenbogenbandrekonstruktion 603 Palm-up-/Speed-Test 489, 491 Panaritium 222, 657, 658 Panarthritis 223 Pankreastrauma 349 Pannus 303 Paracetamol 72, 773 – beim Kind 74 Paraplegie 207 Paraproteine 269 Paratendinitis 853 Parathormon 164, 165 – autonome Sekretion 178 – humanes, rekombinantes 174, 177 – immunreaktives 180 – Konzentration im Serum 176 – – erhöhte 177, 178, 179 – Sekretionssteuerung 177 Parathyroidektomie 177–179 – totale 178 Parecoxib 71 Parese – schlaffe 205 – spastische 204 Parierfraktur 592 Parona-Raum 658 Paronychie 657 Pascal 31, 46 Passivhand 82 Passivkorsett 421 Pasteurella multocida 221 Patella – alta 765 – baja 765 – – nach Kniegelenkendoprothese 766 – bipartita 987, 989 – Höhenbestimmung 787 – partita 764, 787 – Zuggurtungsosteosynthese 788 – – mit Kortikalisschrauben 789, 791 – – mit Sicherungs-Cerclage 790 Patellaaplasie 766 Patella-Defilee-Aufnahme 785, 987 Patelladurchblutung, postoperative 53
1096
Stichwortverzeichnis
Patelladysplasie 783 – Wiberg-Klassifikation 992 Patellaersatz 57, 778 Patellafacette, mediale, osteochondrale Läsion 784 Patellafraktur 786–788 – AO-Klassifikation 786 – Begleitverletzung 787 – Fragmentdislokation 787 – Knorpelschädigung 791 – Komplikation, operationsbedingte 791 – offene 787, 788 – Operation 787, 788 – ostoeochondrale 790 – periprothetische 53, 54 – – intraoperative 56 – – postoperative 57 – Ruhigstellung 791 Patellagleitlager, Rekonstruktion 785 Patellahochstand 765 Patellahypoplasie 766 Patellainstabilität 784 – chronische 785 Patellaknochenkern 986 Patellalängsfraktur 789 Patellalateralisation 933 Patellaluxation 783, 790 – angeborene 992 – beim Jugendlichen 993 – beim Kind 991 – chronische 783 – Funktionstests 785 – habituelle 159, 160 – Klassifikation 784 – kongenitale 766 – – Operation 767 – Luxationsweg 785 – Operation 785 – rezidivierende 785, 993, 994 – Schmerztests 785 – Zeitpunkt 784 Patellamehrfragmentfraktur 789 Patellaosteosynthese 788 – Metallentfernung 790 Patellapol, distaler, Apophysitis 989 Patellaquerfraktur 788 Patellar spur 793 Patellarsehnenansatz, Osteonekrose 196 Patellarsehnenhyperplasie, angiofibroblastische 814 Patellarsehnennaht 765 Patellarsehnenreadaptation, transossäre 792 Patellarsehnenrefixation 792 – Knochenanker 792 Patellarsehnenreflex 404, 405 Patellarsehnenruptur 765, 792
Patellarsehnentransplantat, Kreuzbandersatzplastik 809 – arthroskopische 810 Patellarsehnenüberbelastung, chronische 814 Patellarückflächenersatz 53 Patellasehnentransfer 994 Patellastabilitätstest 933 Patellasubluxation 993 Patellatiefstand 765 Patella-Tilt 764 Patellatrümmerfraktur 790 Patellazuggurtung 57 Patellofemoralgelenk siehe Femoropatellargelenk Patrick-Test 442 Pauwels-Einteilung, Schenkelhalsfraktur 739 Pavlik-Bandage 959 Payr-Zeichen 797 PCEA (patientenkontrollierte epidurale Analgesie) 76 PCIA (patientenkontrollierte intravenöse Analgesie) 76 PECH-Schema 376 Pectus – carinatum 940 – excavatum 940 Pedikel, Schraubenosteosynthese 464 Pedikelschrauben 472 – extrapedikuläre Verankerung 475 Pedobarographie 97, 864 Pektoralispresse 113 Penicillin 1013 – bei Phlegmone 215 Penicillin G 1013 – bei Pasteurella-multocida-Infektion 221 – bei Pneumokokkeninfektion 218 Perforatoren 390 Perforatorlappenplastik 389 Periarthropathie 133 Perikardtamponade 348 Periostitis 1013 Periostlappentransplantation 293 Periostreaktion 244, 1016 Periostsporn 244 Peritoneallavage 349 Peronäusmuskelatrophie 207 Peronäusorthese 90 Peronealsehnenirritation nach Kalkaneusfrakturbehandlung 894 Peronealsehnenluxation 849 Peronealsehnenverlagerung 850 Perthes-Läsion 517 Pes – adductus 975, 996 – calcaneocavus 855
– – – – –
calcaneus 858, 927, 996, 1008 cavovarus 855 cavus siehe Hohlfuß equinovarus 375 equinovarus-adductus-supinatus siehe Klumpfuß – equinus siehe Spitzfuß – planovalgus 326 – – rheumatischer 859 – planus siehe Plattfuß – transversoplanus siehe Spreizfuß PET siehe Positronen-Emissions-Tomographie Pfannenbandrekonstruktion 848, 849 Pfannendachlinie 956, 957 Pfannendachwinkel 957, 958, 960, 974 Pfannenerker 958 Pfannenöffnungswinkel 958 Pfannenrandfraktur, Schulterglenk 533, 535, 536 Phalen-Test 620, 634 Phantomschmerz 67 Phenol 256, 258 Phenylbutazon 72 Philadelphia-Zervikalstütze 95, 458 Phlebolith 256 Phlegmone 215, 222 Phokomelie 924, 948, 949 Phosphatase – alkalische 168, 176 – – erhöhte Aktivität 176, 177, 180, 181 – saure, tartratresistente, im Serum 169 Phosphatbinder 178 Phosphatdiabetes 985 Phosphathaushalt 167 Phosphatkonzentration im Serum 167, 176, 180 – erniedrigte 167, 177 Phosphatmangel 175 Phospholipase A2, Hemmung 70, 73 pH-Wert, Kalziumkonzentration im Serum 166 Physikalische Therapie 124, 290 Physiotherapie 104, 105, 313 – bei Humerusschaftfraktur 570 – bei Insertionstendinopathie am Ellenbogengelenk 566 – bei Osteoporose 173 – perioperative 107 – stationäre 135 – Verordnung 134 Phytopharmaka 775 Phytotherapie 76 Pilon-tibiale-Fraktur 899–901 – AO-Klassifikation 899 – Frakturlinienverlauf 900 – Zugang 901
1097 Stichwortverzeichnis
Pilon-tibiale-Trümmerfraktur 901 Pincer-Impingement 730, 731 Pipkin-Klassifikation, Femurkopffraktur 735, 736 Piriformis-Syndrom 713 Piritramid beim Kind 74 Pirogow-Spitzy-Amputation 65, 66 Pisiformezielaufnahme 622 Pisotriquetralarthrose 621, 623, 645 Pisotriquetralgelenk, Druckschmerz 621, 645 Pistol-hip-Deformität 730 Pitcher‘s elbow 188 Pivot central 807 Pivot-Shift-Test 807 – lateraler 600 Plagiozephalus 944 Plantarfaszienablösung 851 Plantarfasziitis 850, 851 Plantarfibromatose 853 Plantar flexion knee extension couple 201–203 – Wiederaufbau 209 Plantarflexion 200, 833 – verstärkte, bei Knieextensorenschwäche 203 Plantarflexoren 206 Plantarflexorenschwäche 203 Plantarreflex 931 Plasmozytom 269 – extramedulläres 269 Platte – palmare 672 – winkelstabile 51, 55, 672 – – anatomische 55 – – polyaxiale 51, 55 Plattenausriss 377 Plattenbruch 377 Plattenosteosynthese – Beckenringfixation 698 – epiperiostale 824 – Fingerphalanx 683 – Frakturheilung 368 – Hallux-valgus-Operation 836 – Humerus, distaler 578 – Humerusschaft 571 – minimal-invasive 55, 57 – Osteomyelitis 372 – Pilon-tibiale-Fraktur 901 – Radiusfraktur 596, 671 – Tibiaschaftfraktur 824, 825 – Ulna, proximale 588 – Unterarm 594 Plattenverschraubung bei periprothetischer Femurfraktur 51 Plattform, rotierende, Kniegelenkendoprothese 778, 779
Plattfuß 100, 846, 854 – fixierter, Test beim Kind 934 – kindlicher 855 – kongenitaler 1006 Platyspondylie 162 Plexus brachialis 485 Plexus-brachialis-Läsion 207, 396, 398, 501 – geburtstraumatische 501, 947 – traumatische 501 Plexus-brachialis-Parese – komplette 207, 947 – obere 947 – Verlagerungsoperation 208 Plexus-lumbalis-Läsion 208 Plexusparese 207 PMMA-Zement 725 Pneumarthros 819 Pneumokokken 218 Pneumokokkeninfektion 218 Pneumonie 217, 218 – Prophylaxe 107 Pneumothorax 348 Pneumothoraxdrainage 348 PNF (propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation) 122 Poland-Syndrom 949, 952 Poliomyelitis 206, 856 Pollex flexus congenitus 636 Pollizisation 67 Polyarthritis, seronegative 305 Polyarthrose 284 Polychemotherapie, neoadjuvante 272 Polydaktylie 627, 628 – Fuß 997 – Hand 952, 953 – radiale 627 – ulnare 627 – zentrale 627 Polyethylen 35 Polymyalgia rheumatica 310 Polyneuropathie – diabetische 863 – Myelom, osteosklerotisches 271 – sensomotorische, hereditäre 207 Polysaccharidadhäsin 218 Poplitealzyste 798, 994 Popliteuskomplex 804 Popliteussehne 804 Positronen-Emissions-Tomographie – Tumordiagnostik 244 – Wirbelsäulenuntersuchung 408 Postamputationssymptome 67 Postbotenkissen 94 Postdiskotomiesyndrom – lumbales 444 – Schweregrade 445 – zervikales 445
Posterolateral rotatory drawer test 601 Postpoliosyndrom 206 Poststreptokokkenarthritis, reaktive 308 Pott-Trias 428 Präarthrose 284 PRC (proximal row carpectomy) 647, 650 Prednisolontherapie, niedrigdosierte 312 Pregabalin 74 Press-fit-Pfanne 727 Pridie-Bohrung, transarthroskopische 991 Pridie-Technik 887 Probezug, mobilisierender 113 Processus – coronoideus 599 – – Fraktur 583, 587, 588, 599, 600 – lateralis tali, Fraktur 888, 890 – posterior tali, Fraktur 888, 890 – styloideus ulnae, Fraktur 597 Produktinformation 9 Pronationskontraktur 996 Pronator-teres-Syndrom 633 Propellerlappen 390 Proportionalitätsgrenze 34, 36 Prostaglandin E2 70 Prostaglandinsynthesehemmung 70 Prostata, hochstehende 693 Protein, C-reaktives 214 – Gelenkinfektion 226 – Osteomyelitis 371, 1014, 1015 Proteoglykane 285, 286, 927 Proteus-Syndrom 156 Prothese – Achsaufbau 84 – aktive 81, 82 – elektromechanische 83 – endoskelettale Bauweise 82 – Kniepassteile 85 – Modularbauweise 64, 82, 84 – myoelektrische 83, 950 – passive 82 – Passteile 82, 84 – Schalenbauweise 64, 82 Prothesenfuß 84 – elastische Rückstellkraft 84 Prothesenhand 82 Prothesenschaft 82 Prothesensystem, bipolares 317 Prothesenversorgung 81, 84 – Einflussfaktoren 81 – Planung 63 Protrusio acetabuli 158 Proxima-Prothese 296 Pseudarthrose 156, 377 – atrophe 379 – biologische Faktoren 378 – hypertrophe 377, 379 – kongenitale 158
P
1098
Stichwortverzeichnis
– mechanische Faktoren 378 – plastisch-rekonstruktive Eingriffe 379 – prädisponierende Faktoren 378 – Therapie 379 – nach Tibiaplateaufraktur 821 – nach Tibiaschaftfraktur 825 – Unterarm 598 – Weber-Cech-Einteilung 377 Pseudoachondroplasie 142 Pseudoexostose 835, 836 Pseudogicht 311 Pseudohypertrophie, Wadenmuskulatur 207 Pseudohypoparathyroidismus 167 Pseudomeningozele 396 Pseudomonas aeruginosa 221 – periprothetische Infektion 232 Pseudoparalyse, schmerzbedingte 208 Pseudospondylolisthesis 415, 446 Psoasabszess 428, 430 Psoriasis 302 Psoriasisarthritis 305, 643, 644 Psychopharmaka, Schmerztherapie 73 Psychotherapie bei regionalem komplexen Schmerzsyndrom 240 PTB (patella tendon bearing) 87 Pterygium 948 – colli 923 – cubitale 948 PTK (Prothese Tibiale Kegel) 87 PTS (prothèse tibiale supracondylienne) 87 Pubertas praecox 1019 – beim Mädchen 154 Pubmed 8 – Suchbefehle 8 Pufferabsatz 98 Punktion, intraartikuläre, Hygienemaßnahmen 774 Pyarthros 222 Pyridinolin 169, 173 Pyrilinks-D 169 – Frakturrisiko 168
Q Quadrizepsatrophie 798 Quadrizepssehnenrefixation 793 Quadrizepssehnenruptur 793 Quadrizepswinkel 785 Quenus/Kuss-Klassifikation, Lisfranc-GelenkLuxationsverletzung 880 Querfortsatzfraktur – zervikale 465 Querfraktur 362
Querfriktionen 114, 118 Querkürzung 34 Querschnittsläsion 455 Quervain-Läsion 679 Q-Winkel 785, 987 – vergrößerter 783
R Rachitis 762, 985 Radialiskompressionssyndrom – distales 619, 636, 637 – proximales 635 Radialisparese bei Humerusschaftfraktur 569 Radikulitis 446 Radiohumeralgelenk 557 Radiokarpalarthrose 614, 646 – sekundäre 646 Radiokarpalgelenk 614 Radiosynoviorthese 249, 314 Radioulnargelenk – distales 556, 592, 614 – – instabiles 597 – – Synovektomie 653 – – Verletzung 674 – proximales 581 Radius, distaler – Tumor 257 – Wachstumsfugendefekt 953 Radiusaplasie 951 Radiusfehlbildung 948 Radiusfehlstellung 675 Radiusfraktur 670 – Begleitverletzungen 670, 673 – Instabilitätskriterien 670 – intraartikuläre 672, 673 – Komplikation 675 – offene 673 – Osteodensitometrie 170 – Osteosynthese 597, 671 – proximale 581–583 – – bildgebende Diagnostik 582 – – Operation 582 – – subkapitale 583 – mit Ulnafraktur 674, 675 Radiusgelenkfläche 670 – distale 621 Radiushalsfraktur 1030, 1031 Radiushypoplasie 951 Radiusköpfchen 556 – Knopflochfehlstellung 603 Radiusköpfchenfraktur 581, 597, 600 – AO-Klassifikation 582 – mehrfragmentäre 583
Radiusköpfchenluxation 600 – angeborene 948, 951 Radiusköpfchenosteosynthese 583 Radiusköpfchenprothese 583 Radiusköpfchenresektion 583, 584 Radiusmehrfragmentfraktur 672 Radiusschaftfraktur – Plattenosteosynthese 596 – mit Ulnaschaftfraktur siehe Unterarmfraktur Radiusverkürzung 953 Radiuswulstfraktur, distale 1031 Rahmenprothese nach Botta 89 Ramping, dynamisches 119 Ramus – inferior ossis pubis 700, 702 – – Fraktur 703 – profundus nervi radialis, Druckschädigung 635 – superficialis nervi radialis, Druckschädigung 636 Random-pattern Flap 387 Raynaud-Phänomen 309 Recessusstenose 436 Recherche im Internet 8 Recoil-Mechanismus, Skapulafraktur 533 Redressionsbehandlung bei kongenitalem Klumpfuß 1001, 1002 Reflexabschwächung 405 Reflexdystrophie, sympathischesiehe Schmerzsyndrom, komplexes, regionales Reflexkriechen 121 Reflexlokomotion 120 Reflexprüfung 404 Reflexumdrehen 121 Regionalanästhesie – beim Kind 74 – postoperative 76 Rehabilitation 1050 Rehabilitationsmittel 100 Rehabilitationsphasen 117 Reibung 39 Reichsversicherungsordnung 1044 Reiter-Syndrom 308 Reithosenanästhesie 443 Remodellierung 1026 Rente – wegen Berufsunfähigkeit 1050 – wegen Erwerbsminderung 1050 – auf unbestimmte Zeit 1047 Rentengutachten 1046 Rentenversicherung, gesetzliche 1049– 1051 – Gutachten 1051 Replantation 668 Repositionstest 494, 495
1099 Stichwortverzeichnis
Resektionsarthroplastik – Fingermittelgelenk 643 – Großzehengrundgelenk 328 – rheumatische Vorfußdeformität 861 – Rhizarthrose 640 Resektionsgrenzen nach Ennekin 245 Resektionsinterpositionsarthroplastik – Hallux – – rigidus 840 – – valgus 839 – Glenohumeralgelenk 516 Resektionssuspensionsarthroplastik, – Daumensattelgelenk 322 – Rhizarthrose 640, 641 Resektionstranspositionsarthroplastik, Akromioklavikulargelenk 525 Restverformung 32 Retinaculum – extensorum – – inferius 850 – – Synovektomie 653 – flexorum 850 Retinakulumspaltung 634 Retinoblastom, erbliches 259 Retrolisthesis 436, 446 Reversed-Dwyer-Osteotomie 848 Reversed oblique intertrochanteric fracture 744 Revisionsprothese 54 Revisionsprothetik, Hüftprothese 55 Rhabdomyom 248 Rhabdomyosarkom 246, 1022 Rhachischisis 411 Rheo-Knee 85 Rheumafaktor 304, 309 Rheumaknoten 301 Rheumatische Erkrankung – bildgebende Diagnostik 302 – entzündliche 300, 303 – Therapie – – medikamentöse 312 – – operative 315 – – physikalische 313 Rheumatischer Formenkreis 300 Rhizarthrose 619, 637, 639 – Operation 640 Rhythmus, skapulohumeraler 485 – Störung 505 Ribbing-Müller-Erkrankung 144 RICE-Schema 755 Riesenzellarteriitis 310 Riesenzelltumor 255, 257 – Kürettage, Adjuvanzien 258 – Lungenmetastase 257 – sakraler 258 – der Sehnenscheide 249 – Stadien 258
– Weichteilbeteiligung 258 Rifampicin 232, 372 Rigidusfeder 839 Ringbandstenose 636 Ring-Fixateur 157 – bei Beinlängendifferenz 979 Ringzeichen 678 Rippenbuckel 418, 419, 931, 941 Rippstein-Aufnahme 958 Rippstein-II-Aufnahme 974 Risedronat 181 Risser-Zeichen 419, 420 Rockwood-Klassifikation, Kapsel-BandVerletzung, akromioklavikulare 549 Rofecoxib 71 – Herzinfarktrisiko 772 Röhrenknochen 356 Rolando-Fraktur 680 Rollator 101 Rolle, heiße 128 Rollstuhlklassifizierung 100 Romanus-Läsion 432 Röntgenanatomie, Suche im Internet 9 Röntgenbild – Halswirbelsäule 315 – Malignitätskriterien 244 – bei rheumatischer Erkrankung 302 – Tumordiagnostik 244 Roos-Test 487 Rotationsbewegung, artikuläre 111 Rotationsfehler, primärer 764 Rotationsprofil-Test 932 Rotatorenmanschette 482, 538 – Degeneration, fettige 497, 498 – Mobilisation 510 – Partialruptur 497 Rotatorenmanschettenarthropathie 516 Rotatorenmanschettendefekt 503, 525 – Einteilung 505 – Therapie 508 Rotatorenmanschettendefektarthropathie 503, 516 – Therapie 513 Rotatorenmanschettenintervall 483 – Läsion 497, 504 Rotatorenmanschettenrekonstruktion 509 – arthroskopische 509, 512 Rotatorenmanschettenruptur 506 Rote Liste 9 Roux-Hauser-Operation 994 RTS (revidierter Traumascore) 351 Rücken, hohlrunder 402 Rückenflachguss 125 Rückenmarkverletzung 340, 457 – Bobath-Therapie 119 – Methylprednisontherapie 470
P–S
Rückenoberfläche, optische Darstellung 419 Rückenschmerz 109 – kindlicher 942 – tiefsitzender 433 Rückenschule 109 Rückfuß – Arthrodese 860 – rheumatischer 859, 860 – Synovektomie 860 – Valgusstellung 833, 834, 849, 854 – Varusstellung 833, 834 Rückfußarthrodese 849 Rückfußaufrichtung, Fußorthese 209 Rückfußbereich, Amputation 65 Rückfußdeformität, rheumatoide 327 Rückfußorthese 90 Rucksackverband 93, 529, 1028 Rugby knee 195 Ruheschmerz 259, 288 Rumpf, Orthesenversorgung 89 Rumpfhaltung 402 Rundrücken 402, 938 – juveniler 425 – totaler 424 Rundstab – als Prüfkörper 32, 35 – Torsion 41
S Säbelscheidentibia 1016 SACH-Fuß (solid ankle-cushioned heel) 84 Sachverständiger 1038 Sakralisation des 5. Lendenwirbels 409, 466 Sakralwirbellumbalisation 409, 466 Sakroiliitis 306, 432, 433 Sakrumaufnahme, laterale 694 Salmonella enteritidis 221 Salter-Beckenosteotomie 960, 961, 966 Salter-Harris-Klassifikation, Epiphysenfraktur 1027 Sanders-Klassifikation – Kalkaneusfraktur 891, 892 – Osteoarthropathie, diabetisch-neuropathische 863, 864 SAPHO-Syndrom 526 Sarkom – beinerhaltende Operation 246 – hochmalignes 243, 246 – Metastasierungsrisiko 243 – niedrigmalignes 243 – strahleninduziertes 257, 258, 273 – Strahlentherapie 246
1100
Stichwortverzeichnis
Sarmiento-Braces 570, 571 Sauerbruch-Lebsche-Kineplastik 81 Sauerstoffmangel, posttraumatischer 340 Sauerstoffpartialdruck, arterieller 346 Säuglingshüfte – Abspreiztest, globaler 932 – Ortolani-Test 932 Säuglingsschiefhals 944 Sauvé-Kapandji-Operation 320 Scaled skin syndrome 217 Scarf-Osteotomie 836, 837 Schädelbasisfraktur 341, 452 Schädel-Hirn-Trauma 334, 344–347 – CT-Indikation 345 – Intubationsindikation 347 – Parese 204 – Sekundärschäden 346 – stumpfes 345 – Therapie 346, 347 – Traumamanagement 344 – Two-hit-Modell 345 Schädelläsionen, osteolytische 276 Schallkopfposition, korakoakromiale 496 Schanz-Krawatte 458 Schanz-Schrauben 42 Schanz-Wickelkrawatte 94, 944 Scharniergelenk, lockeres 562 Scharnierprothese 777 Schatzker-Klassifikation – Tibiafraktur 817 – Ulnafraktur 586 Schaukelfuß 996 Schaumstoffkragen 95 Scheibenmeniskus 991 Schenkelguss 125 Schenkelhals 738 – Biegebelastung 31 – Beanspruchung 43 – Spannungsverlauf 45 – Stressfraktur 737 – Verkürzung 965 – Verlängerung nach Morscher 965 Schenkelhalsantetorsion 957, 973 Schenkelhalsfraktur 737 – dislozierte 742 – bei Femurschaftfraktur 746 – Heilungsstörung 738 – intrakapsuläre 737 – – dislozierte 737 – des Kindes 739, 967, 1032 – Klassifikation 738 – konservative Behandlung 739 – laterale 738 – mediale 738 – Nonunion-Rate 741 – Operation 739 – Osteodensitometrie 170
– Verschraubung 740 Schenkelhalskortikalis 43 Schenkelhalspseudarthrose 742 Schenkelhalsschraube 743, 744 Scherkraft 31, 32, 39 Scherspannung 31, 32, 33, 46 Scheuthauer-Marie-Sainton-Syndrom 142–144 Schiefhals 462, 942–945 – akuter 437 – chronisch persistierender 944 – Ursache 945 Schilddrüsenhormone, Knochenstoffwechsel 165 Schilddrüsenkarzinom, medulläres 166 Schleppenabsatz 98 Schliffarthrose 646 Schlingentisch 108, 109 Schlittenprothese 777 – unikondyläre 295, 779 Schmerz – Arthritis 300 – Chondroblastom 254 – Chondrosarkom 262 – Chordom 268 – degenerativ bedingter 74 – Ewing-Sarkom 271 – Fibrom – – chondromyxoides 255 – – desmoplastisches 255, 256 – fortgeleiteter 114 – generalisierter 176 – Gutachten 1039 – Histiozytom, fibröses, malignes 255 – Knochenmetastase 273 – Knochenzyste, aneurysmatische 274 – Myelom, multiples 269 – nächtlicher 255 – – Schulter 506 – neuropathischer 74 – Osteosarkom 259 – postoperativer, progredienter 76 – sympathisch unterhaltener 240 – thorakolumbaler 942 – Tumor 1018 Schmerzdistanzierung 73 Schmerzhinken 972 Schmerzkatheter, postoperativer 76 Schmerzsyndrom, komplexes, regionales 130, 238 – interdisziplinäre Therapie 240 – nach Radiusfraktur 675 – röntgenologische Veränderungen 239 – Stadien 238 – Symptomentrias 238 – trophischen Veränderungen 239 – Typ I 238
– Typ II 238 Schmerztherapie 70 – degenerative Erkrankung 74 – im Kindesalter 74 – Morbus Paget 180 – nichtmedikamentöse 75 – Osteoporose 173 – postoperative 76, 77 – unzureichende 76 – – im Kindesalter 74 – WHO-Stufenschema 70, 72 Schmerztransmission 73 Schmetterlingsfraktur 1031 Schmetterlingswirbel 410 Schmorl-Knötchen 424, 425 Schmuckprothese 83 Schneidersitz, umgekehrter 975 Schnittverletzung 660, 661 Schnürfurchensyndrom 628, 948, 952 Schober-Ott-Zeichen 433 Schober-Zeichen 403 Schock 5, 342 – Diagnostik 342 – hämorrhagischer 334, 342 – – Beckenfraktur 350, 697 – – Stabilisierungsphase 343 – – Therapie 342, 343 – – Volumenersatztherapie 344 – kardiogener 342 – neurogener 342 Schockraum 340 Schrägfraktur 362 Schräglagedeformität 944 Schrauben, periprothetische 55 Schraubenarthrodese 867 Schraubenepiphyseodese 970 Schraubenkopfdislokation 544 Schraubenosteosynthese 56 – Beckenringfixation 698 – Os naviculare 876 – Processus coronoideus 588 – Talushals 887 – Tarsometatarsalgelenk 881 Schrauben-Plättchen-System, Epiphyseodese, temporäre 978 Schrauben-Stab-System 461 Schraubpfanne 727 Schrottschussschädel 270 Schubkraft 32, 46 Schublade – Handgelenk 619 – hintere 493, 806 – Humeruskopf 493 – Kniegelenk 806 – vordere 493, 832 – Sprunggelenk 832 Schubspannung 31, 32, 46
1101 Stichwortverzeichnis
Schuherhöhung 977 Schuhranderhöhung 99 Schuhversorgung, stadienadaptierte , bei diabetischem Fußsyndrom 865 Schuhzurichtung – orthopädische 97, 291 – nach Zehenamputation 88 Schulter – Diagnostik 486, 495, 497, 499 – Muskeltests 487 – Neutral-Null-Methode 487 – Untersuchung 943 Schulter-Arm-Lähmung, geburtstraumatische 947 Schulter-Arm-Prothese 82 Schulterbandage 82 Schulterbereich, Amputation 67 – Prothesenversorgung 82 Schulterbeweglichkeit 143, 934 Schulterblattdistalisierung 946 Schulterendoprothese 317, 515, 516, 544 – inverse 513 – Resektion 516 Schultergelenk (siehe auch Glenohumeralgelenk) 478 – Arthrodese 502 – Arthroskopie 506, 508 – Bewegungseinschränkung, Kapselmuster 114 – Elevation, physiotherapeutische 106 – Exartikulation, Prothesenversorgung 82 – Fraktur, periprothetische 58 – rheumatische Erkrankung 317 – Synovektomie 317 – Zugang 537 Schulterkappe 82 Schulterluxation – habituelle 947 – hintere 518, 519, 523 – – Humerusfraktur 540 – – Reposition 520 – traumatische 517, 521, 523 – vordere 516, 522 – – Reposition 519 Schultermuskulatur 479, 482 – Fehlbildung 500 Schulterorthese 93 Schulterschmerz 499 – beim Kind 943 – nächtlicher 506 – zervikogener 499 Schultersonographie 506 Schulterstabilität 934 Schultersteife, sekundäre 514 Schutzosteosynthese 55, 246, 274 Schutzschmerz 114 Schwanenhalsdeformität 656
Schwanenhalsring 93 Schwannom 158, 247 Schwann-Zellen 156 Schweißdrüsenabszess 222 Schweizer Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie 10 Schwerbehindertenrecht 1051, 1052 Schwimmeraufnahme 456 Schwungphase des Ganges 107 – mikroprozessorgesteuerte 85 SCIWORA (Spinal Cord Injury without radiologic Abnormalities) 341 Scotty dog 415 Segmentkyphose 456 Segmenttransport 158 – bei Pseudarthrose 380 Segmüller-Lappen, neurovaskulärer 663 Segond-Fraktur 817 Sehnenabriss 755 Sehnen-Knochen-Verankerung, Festigkeit 511 Sehnenreflexe, verminderte 206 Sehnenscheideninfektion (s. auch Tendovaginitis) 658 Sehnenscheiden-Riesenzelltumor 249 Sehnenstumpfadaptation 665 Sehnentransposition 210 – bei eingeschlagenem Daumen 626 – bei Hackenfuß 858 – Schulter 511 Sehnenüberlastungsschaden 565 Sehnenverkürzung 210 Sehnenverletzung, Hand 664 Semimembranosuszyste 994 Semitendinosusplastik 810 Semitendinosustransplantat 532 Senkfuß siehe Plattfuß Senkungsabszess 428 Sensibilitätsprüfung 404 Sepsis 335 Sequester 1016 Sesambeinarthrose 645 Sesambeinfraktur 875 Sesambein-Release 836, 837 Sesambeinresektion 645, 845 Sesamoiditis 645 Shaving 292 Shear fractures, Taluskörper 888, 890 Shear-Test 620, 645 Shenton-Linie 905 Shin splints 364 Shoulder-shrug test 526 Sichelfuß 927, 974, 975, 996, 1001 Silfverskiöld-Test 972 Silikon-Liner 87 Silikon-Spacer 654, 655 Silikonsynovialitis 654, 655
Silikonzehenprothese 88 Single-Photon-Emissions-CT-Technik 407 SIRS (Systemic inflammatory Response Syndrome) 334, 335 SIRS-MODS-CARS-Paradigma 335 S1-Ischialgie 443 Sitz-Hock-Gips nach Fettweis 959, 960 Skaphoid – Druckschmerz 616 – Rotationssubluxationsfehlstellung 641 Skaphoiddruckpunkt 617 Skaphoidexstirpation 647, 648 Skaphoidfraktur 640, 671, 675–677, 679 Skaphoidnekrose 650 Skaphoidpseudarthrose 641, 646 Skaphoid-Shift-Test 618 Skaphoid-Trapezium-Trapezoideum-Gelenk 616 Skapula 478, 479 – Bewegungsebenen 485 – Kombinationsverletzung 536 Skapuladeformität 946 Skapulafehlbildung 499 Skapulafortsatzfraktur 535 Skapulafraktur 532–536 – Bruchlinienverlauf 533, 534 – Klassifikation 533 – Nervenkompression 536 – Operation 537 – Recoil-Mechanismus 533 – thorakale Begleitverletzungen 537 Skapulahalsfraktur 536, 539 Skapulahochstand 946 Skapulapseudarthrose 535 Skelettdysplasie 140 Skeletthyperostose, diffuse, idiopathische 450 Skelettreife 420, 977 Skelettsystemerkrankung 164 – angeborene 140 Skelettszintigraphie 180, 833 – Tumordiagnostik 244 Skeletttuberkulose 428 Skidaumen 623, 645, 684 Skip-Metastasen 260 Skischanzenzeichen 931 Sklerodermie, systemische 309, 310 Sklerosierung, subchondrale 187, 282, 283, 289 – Hüftgelenk 713, 714 Skoliometer 418, 419 Skoliose 143, 145, 416 – adoleszente 417, 422 – adulte 448 – degenerative 417, 448 – fibropathische 417, 424 – funktionelle 416
S
1102
Stichwortverzeichnis
– Fusionsbereich 422, 423 – idiopathische 417–420 – infantile 417, 422 – juvenile 417, 422 – kongenitale 410, 411 – Lenke-Klassifikation 418, 423 – Management 413 – Marfan-Syndrom 158, 159 – Messung nach Cobb 420 – myopathische 417, 423 – Nachbehandlung 424 – Neurofibromatose 155, 156 – neuropathische 417, 423 – Neutralwirbel 420 – Operationsindikation 449 – Therapie 422, 423 – – operative 422 – Orthese 96 – osteogene 417, 423 – Pseudoachondroplasie 142 – Röntgenaufnahme 422 – – Leitlinie 419 – Scheitelwirbel 420 – Segmentblockierung 419 – strukturelle 416 Skoliosewinkel 419 SLAC-Wrist (scapholunate advanced collapse) 646, 647, 679 SLAP-Läsion (superior labral anterior to posterior) 518 SL-Dissoziation 678 Sleeve 56 Slow acting symptomatic drugs in osteoarthritis 75 SNAC-Wrist (scaphoid-nonunion advanced collapse) 646, 647 S-N-Diagramm 38 Snowboarder‘s fracture 884, 888, 890 Sohlenkontakt 108 Sohlenversteifung 98 Sonographie – Achillessehne 908 – bei rheumatischer Erkrankung 302 – Bizepssehnenlongitudinalschnitt 497 – Fuß 833 – Schulter 506 – Sulkusschnitt 497 – suprapatellarer Schnitt 290 – Transversalschnitt, palmarer 623 – Tumordiagnostik 244 Spacer 320, 322, 655 Spacer-Bruch 656 Spaltfehlbildung 205 Spaltfraktur, tibiale, proximale 819 – Stabilisierung 820 Spaltfuß 630 Spalthand 629, 630
Spalthauttransplantat 386 Spannungs-Dehnungs-Diagramm 35, 36, 37 Spannung 31, 32, 46 – inhomogenes Material 34 – Maximalwert 36 Spannungspneumothorax 348 Spastik 119, 120 Spastizität 200, 204 – Skala 200 Spätinfektion, periprothetische 228, 230, 231 Spätsynovektomie 318, 860 SPECT (Single-Photon-Emissions-CTTechnik) 407 Spiegelhand 627 Spinalkanalstenose – absolute 447 – angeborene 446 – degenerative 446, 447 – Dekompressionsoperation 448 – Injektionstherapie 448 – knöcherne 447 – Lokalisation 447 – lumbale 141, 142, 446 – Operationsindikation 448 – postoperative 446 – relative 447 – Schmerzentstehung 446 Spinalnervenanalgesie – lumbale 443 – zervikale 438 Spina-scapulae-Fraktur 535 Spina bifida 926, 998 – aperta 411 – cystica 411, 412 – occulta 412, 926 – radiologische Charakteristika 412 Spindelzellen 265 Spindelzelllipom 247 Spindelzellsarkom, hochmalignes 259 Spiralfraktur 362, 363, 682, 683 Spitzfuß 203, 858, 996 – nach Amputation am Fuß 64, 65 – Bewegungsablauf 203 – funktioneller 858 – Hemiparese 205 – schlaffer 858 – spastischer 858 Spitzfußfehlstellung nach Rückfußkorrektur 848 Spitzfußhinken 972 Spitzfußprophylaxe 90, 106 Spondylarthritis 306 – zervikale 303 Spondylarthropathie, seronegative 431 Spondylitis 427, 1013
– ankylosans siehe Morbus Bechterew Spondylodese 416, 448 – dorsale 423 – dorsoventrale 427, 431 – interkorporelle, ventrale 474 – lumbale 443, 444 – okzipitozervikale 461 – ventrale 423 Spondylodiszitis 427, 1013 – infektiöse 427, 428 – Kontrastmittel-Computertomographie 429 – Magnetresonanztomographie 429, 430 – Operationsindikation 430 – postoperative 446 – Punktion, CT-gestützte 431 – Röntgenaufnahme 429 – tuberkulöse 428, 429 Spondylolisthese 32, 160, 414 – degenerative 441, 449 – pathologische 414 – Röntgenbild 415 – Schweregrad 415 Spondylolisthesis traumatica 414 Spondylolyse 414, 416 Spondyloptose 414, 415 Spondylose 435 Spongiosa 356 – Elastizitätsmodul 42 Spongiosaplastik – endogene 749 – transpedikuläre 472 Spongiosaschraube, kanülierte 740 Spongiosasklerosierung 180 Spongiosaverdichtung 30 Spontanschmerz 238 Sportorthese 96 Sportverletzung 754 Spreizfuß 846, 858 – Röntgenaufnahme 835 Spreizfußhyperkeratose 858 Sprengel-Deformität 499, 946 Spritzenabszess 215, 217 Sprunggelenk 996 – Arthritis, rheumatoide 326 – Arthrodese 210, 327, 846, 860, 867, 868 – – arthroskopisch assistierte – – Fußeinstellung 867 – Dorsalextension 200, 201 – laterale Aufklappbarkeit 832 – oberes 866, 884 – – Arthritis, rheumatoide 326 – – Arthrose 866, 867 – – – Umstellungsosteotomie 872 – – Aufklappbarkeit, laterale 896 – – Bandapparat 894 – – Bandrekonstruktion 898
1103 Stichwortverzeichnis
– – Bandverletzung 894, 897 – – Distorsionstrauma 894, 897 – – – rezidivierendes 899 – – Endoprothese 860, 867, 871 – – – fehlgeschlagene 867 – – – Kontraindikationen 872 – – Fraktur 902, 904-907 – – Frühsynovektomie 860 – – Gelenkspalt 832, 905 – – Impingement 868 – – Instabilität 832, 897–899 – – Knorpelverletzung 905 – – lateraler Kollaps 848 – – Luxationsfraktur 906 – – Magnetresonanztomographie 867 – – Verletzungsmechanismus 902, 903 – – radiologische Stresstests 897 – – Röntgenaufnahme 892, 896, 905 – – Spätsynovektomie 860 – – Synovektomie 327 – – Therapie 897 – – Totalendoprothese 849 – – Untersuchung – – – beim Kind 934 – – – radiologische 867 – – Valgusarthrose 849 – – Verletzung 894, 895 – – Verletzungsmechanismus 902, 903 – Röntgenaufnahme 867, 886 – Übergangsfraktur 1034 – unteres 884 – – Bewegungskombination 835 – – Tripelarthrodese 855 Sprunggelenkendoprothese 327 Sprunggelenkfraktur 905, 1033 Sprunggelenkorthese 89, 90 Sprungschanzenphänomen 415 Spül-Saug-Drainage, Sehnenscheide 659 Spur sign 705 SSSC (superior shoulder suspensory complex) 539 S2-S5-Syndrom 443 Stabilisationsphase, postoperative 118 Stabilisierung, atlantoaxiale 315, 316 Stahl, rostfreier, Festigkeitseigenschaften 35 Stahldraht-Cerclage, Patella 789 Stammzellen, mesenchymale, pluripotente 293 Stammzellentransplantation 162 Standphase 97, 107 – Drehmomente 202 – mikroprozessorgesteuerte 85 Stanger-Bad 126, 132 Staphylococcus – aureus 217, 224 – – Gelenkinfektion 224, 227
– – E-Laktamase-Produktion 217 – – methicillinresistenter 217 – – oxacillinresistenter 217 – – Resistenzentwicklung 217 – – Spondylodiszitis 427 – epidermidis 217 Staphylokokken 217 – Koagulase-negative 217 – Koagulase-positive 217 – periprothetische Infektiobn 232 Status, neuroorthopädischer 200 Stauchungsschmerz 428 Stecher-Aufnahme 622 Stehen 201 – dynamisches 201 Stehhilfe 101 Steindler-Operation 857 Steinmann-Zeichen 797, 798 Stellung, atemerleichternde 107 Stem 55 Stemmführung 115 Stemmübung 115 Stener-Läsion 623 Sternalpelotte 95 Sternoklavikulararthrose 526, 549 Sternoklavikulargelenk 479, 485, 549 – Instabilitätsgrade 549 – Verletzung 531 Sternoklavikularluxation 531, 550 – Repositionstechnik 532, 550 Stieda-Pellegrini-Schatten 807 Still-Syndrom 304 Stimulation, Bobath-Konzept 120 Stoppa-Zugang 707, 708 Stoßwellentherapie – Insertionstendinopathie 566 – Pseudarthrose 380 Strahlentherapie 246 Straight-line-graph-Methode, Wachstumsberechnung 978 Streckapparat, Funktionsprüfung 787 Streckgrenze 36, 37, 47 Strecksehne – Spontanruptur 665 – Verletzung 664, 665 Strecksehnenfach, erstes, Spaltung 638 Streptococcus – agalactiae 218 – pneumoniae siehe Pneumokokken – pyogenes 218 Streptokokken 218 – Hämolyseverhalten 215, 218 Streptokokkeninfektion 309 – periprothetische 232 Streptolysin O 218 Stress shielding 42 Stressfraktur 149, 363, 364
– Lendenwirbel 942 – metatarsale 882 – Os naviculare 876, 877 – prädisponierende Faktoren 364 – Schenkelhals 737 Stress-Test – Handgelenk 620 – radiologischer, oberes Sprunggelenk 897 Strontiumranelat 174, 177 Strut allografts 50, 51 STT-Arthrodese 649, 650 STT-Arthrose 640, 642 STT-Gelenk (Skaphoid-Trapezium-Trapezoideum-Gelenk) 616 Stufenlagerung, intermittierende 442 Stulberg-Klassifikation, Morbus Perthes 962 Stumpfbildung 663 Stumpfdeckung, myoplastische 63, 66 Stumpfkappenplastik 67 Stumpfkonstruktion 63 Stumpflänge 62 Stumpfperforation 67 Stumpfschmerz 67 Styloiditis radii 637 Subakromialenge 491 Subakromialraum, Zugang 509 Subakromialsyndrom 502, 505 – adhäsives 502 – Dekompressionsoperation 508 – Therapie 507, 508 Subluxatio genus congenita 760 Subluxation – atlantoaxiale 303, 304 – – rotatorische 944 – atlantookzipitale 303 Subtalargelenk 996 – Arthrodese 849 – Arthrose 846, 872 – – nach Kalkaneusfraktur 894 – Luxation 884, 886, 890 – – Therapie 889 Suchmaschine 8, 9 Sudeck-Dystrophie nach Lisfranc-Luxationsverletzung 882 Sulcus capitulotrochlearis 581 Sulcus-ulnaris-Syndrom 635 Sulfasalazin 312 Sulfonamide 71 Sulkuszeichen 493 Sunburst pattern 256, 262 Superantigen 217, 218 Superior shoulder suspensory complex 539 Supination fracture line 882 Supinationsdefizit 951
S
1104
Stichwortverzeichnis
Supinationskontraktur 996 Supinatorsyndrom 635 Supraspinatussehnenansatz, Druckschmerzhaftigkeit 114 Suralislappen 388 Suspensionsarthroplastik bei Hallux malleus 842 Sustentaculum tali 890 Swanson-Klassifikation, Handfehlbildung 624 Swanson-Silastik-Spacer 320, 655 Symbrachydaktylie 629, 630 Syme-Amputation 65 Symmetriestörung, kopfgelenkinduzierte 945 Sympathikolyse 240 – durch manuelle Lymphdrainage 131 Symphalangie 627 Symphysendissoziation 696 Symphysensprengung 689 Symphysitis pubis 755 Sympodie 924 Synchondrose, ischiopubische 195 Syndaktylie 624, 629, 924 – Finger 948, 952 – Zehen 997 Syndesmoseninsertionsligamentopathie 997 Syndesmosenruptur 905 Syndesmosenstabilität 905 Synostose radioulnare – angeborene 948, 950, 951 – posttraumatische 598 Synovektomie 249, 319, 324, 325 – arthroskopische 317, 318, 319, 327, 860 – Ellenbogengelenk 558 – erweiterte 318 – Fuß 860 – Hand 652 – oberes Sprunggelenk 860 – offene 319, 324 – totale 322 Synovialitis 290, 304 – purulente 223 Synovialsarkom 245 Synovialzyste 442 Synoviorthese 314, 318 Synovitis, villonodulläre, pigmentierte 248 SYSADOA (Slow acting symptomatic drugs in osteoarthritis) 75 Systemic inflammatory Response Syndrome 334, 335 Systemische Sklerose, progressive 309, 310 Szintigraphie – Infektion, periprothetische 229 – Pseudarthrose 379
– – – – – –
Osteomyelitis 372 Osteoporosediagnostik 173 statische 407 Stressfrakturnachweis 364 Tumordiagnostik 264, 267, 1018 Wirbelsäulenuntersuchung 407
T Tabatière – Druckschmerz 616 – Schwellung 641 Talonavikulargelenk 847, 875, 877, 884 – Arthritis, rheumatoide 326, 327 – Arthrose 193, 846, 872 Talus 884 – Durchblutung 885 – Lateralkippung 897 – Lateralverschiebung 905 – verticalis 1006 Talusdom – oteochondrale Verletzung 887, 889 – subchondrale Aufhellung 886 Talusexstirpation 65 Talusfraktur 884–886 – Klassifikation 885 Talushalsfraktur 885, 887 – Klassifikation 885 – Komplikation 885, 889 – Schraubenosteosynthese 887 Talushalsosteoidosteom 250 Taluskopffraktur 885, 886 – Komplikation 889 Taluskörperfraktur 888 – Therapie 887 Talusläsion, osteochondrale 869–871 – Herdanbohrung 871 – Klassifikation 870 – posttraumatische 870 – Therapie 871 Talusluxationsfraktur 886 Talusosteonekrose – aseptische 869 – nach Taluskopffraktur 889 Talustrümmerfraktur 889, 890 Talusvorschub 832, 896, 897 Targeted muscle reinnervation 82 Targeted sensory reinnervation 82 Tarsaltunnelsyndrom 327, 850 Tarsometatarsalgelenk (siehe auch LisfrancGelenk) 875, 879, 996 Tarsometatarsalgelenk I – Arthrodese 837 – Instabilität 835, 837 Tarsuskeilentnahme, dorsale 858
TAR-Syndrom (thrombocytopenia-absent radius syndrome) 951, 952 T-Arthrodese 858 Technische Orthopädie 80 Teilarthrodese – interkarpale 649 – mediokarpale 647, 648 – radioulnare 653, 654 Teilbad 126 – hydroelektrisches 132 Telemedizin 9 Teleskopnagel 150 Tender points 311 Tendinose 502, 565 Tendinosis calcarea 504, 506, 507 – Needling 508 – Resorptionsphase 506 Tendovaginitis stenosans 636 – Daumen 645 – DeQuervain 614, 619, 637 TEN-Nagel 529 Tennisellenbogen 565 Tenodese, Bizepssehne, lange 513 Teratogen 923 Teriparatid 174, 177 Terrible-triad-Verletzung 600, 604 Terry-Thomas-Zeichen 678 Tetanie 167 Tetanospasmin 220 Tetanus 220 Tetanustoxoid 220 Tetraparese 204, 205 – infantile 999 TFCC (triangulofibrokartilaginärer Komplex) 614, 670, 674 TFCC-Läsion 623 TFCC-Load-Test 620 T-Fraktur, azetabuläre 704 Thawing shoulder 514 Thenarmuskulaturhypotrophie 639 Thenarraum 659 Therapiesohle, neuroreflektorische 97 Therapie – nach Brügger 116 – physikalische 124, 290 Thermotherapie 127 – durch Ultraschall 133 Thomas-Handgriff 712 Thomas-Schiene 92 Thomas-Test 933 Thompson-Unterarmzugang 593, 594 Thoracic-outlet-Syndrom 487 Thorakalorthese 95 Thorakalsyndrom 435 Thoraxdrainage 348 Thoraxtrauma 347 Thrombelastographie 342
1105 Stichwortverzeichnis
Thromboseprophylaxe, physiotherapeutische 107 Tibia – antecurvata 995 – – et vara 995 – distale, Dysplasie 982 – Innenrotationfehler 976 – recurvata et valga 995 – Säbeldeformität 154 – Überbelastungsreaktion 364 – Umstellungsosteotomie, valgisierende 776 – vara 983, 994 – – et antetorta 995 Tibiaaplasie 982 Tibiaaußenrotationsfehlstellung 973, 976 Tibiaepiphyse, proximale, Osteochondrose 196 Tibiaepiphysenfuge, proximale 978 – Wachstumsstörung 984 Tibiafehlbildung, longitudinale 982 Tibiafraktur – distale – – AO-Klassifikation 899, 900 – – beim Kind 1033 – metaphysäre, beim Kind 1033 – periprothetische 53–55 – – Behandlungsalgorithmus 57 – proximale 816–820 – – AO-Klassifikation 816, 817, 823 – – Implantatwahl 820 – – intraartikuläre Stufenbildung 818 – – offene 819 – – Operation 819 – – postprimäre Osteosynthese 819 – – Schatzker-Klassifikation 817 – – Schutzosteosynthese 819 – – Zugang 820 Tibiagelenkfläche, distale, Zertrümmerung siehe Pilon-tibiale-Fraktur Tibiahistiozytom, fibröses, malignes 266 Tibiahypoplasie 982 Tibiainnenrotation 973 Tibiainnentorsion 196 Tibiakopftraktion 1032 Tibiakopfverletzung, Meniskusverletzung 794 Tibialis-anterior-Loge, Faszienhernie 373 Tibialis-posterior-Reflex 404, 405 Tibialis-posterior-Sehne – Degeneration 849 – Dysfunktion 848, 854 – Insuffizienz 847, 849 – Ruptur 847 – Tenosynovektomie 848 – Tenosynovitis 848 – Überlastungsreaktion 847
Tibiamarknagelung 824, 825 Tibiaplateau, mediales, Stressfraktur – – – periprothetische 53 Tibiaplateaufraktur 815, 818–820 – Defektauffüllung 820 – Dislokation, postoperative 821 – Implantatwahl 820 – Klassifikation 816 – Komplikation 820 – postprimäre Osteosynthese 819 – Schutzosteosynthese 819 – Zugang 820 Tibiapseudarthrose 30, 995, 996 – kongenitale 155, 157, 379 Tibiaresektion, KniegelenkendoprothesenImplantation 781 Tibiaschaftfraktur 821–826 – AO-Klassifikation 823 – beim Kind 1033 – isolierte 823 – offene 821, 822, 824 – Operationszeitpunkt 824 – Weichteilverletzung 821 Tibiaschaftspiralfraktur, nicht verschobene, bei Kleinkindern 1033 Tibiastressfraktur 363 Tibiastückfraktur , distale, anterolaterale 1034 Tibiatorsion 200, 932 Tibiaverbiegung, anterolaterale, kongenitale 156 Tibiaverkrümmung 994, 995 Tibiaversion 972, 973 Tibiofibulargelenk, distales – fluoroskopische Untersuchung 897 – Inkongruenz, posttraumatische 907 – Verletzung 906 Tiefenschmerz 238 Tierbiss 221 Tile-Klassifikation, Beckenfraktur 350, 690 Tilidin/Naloxon 72 Tillaux-Fraktur, juvenile 1034 Titan 35 Titanhalterungsschraube, intramedulläre 85 Titanschrauben 887 TNF-D-Blocker 434 TNM-Klassifikation 242, 243 Todesursache 334 Todeszeit 334 Tönnis-Dreifachbeckenosteotomie 720 Torsion 41, 973 – femorale 973 Torsionsbelastung 33, 35, 41 Torsionsspannung 41 Torticollis siehe Schiefhals Toxic shock syndrome 216, 217
Toxin – erythrogenes 217, 218 – exfoliatives 217 Tracheobronchialtrauma 348 Tractus iliotibialis 747 Trägheitsmoment 40, 41, 47 Trainingstherapie, medizinische 117 – Untersuchungen 118 Tramadol retard 72 Tramal beim Kind 74 Tränenfigur 958 Transfermetatarsalgie 845 Translation, artikuläre 111 Transmalleolarachse 932 Transplantation, osteochondrale 567 Transpositionsoperation bei Armplexusparese 501 Transversalknochen 629 Transversalschnitt , sonographischer, palmarer 623 Trapezektomie 640, 641 Trauma 334–337 – Erstbeurteilung 340 – initiales Assessment 338, 339 – Kinematik 340 – maxillofaziales 347 – Two-hit-Modell 336 – Zweitbeurteilung 341 Trauma-ABC 338 Trauma Injury Severity Score 351, 352 Traumamanagement 334 – state of art 344 Traumascore, revidierter 351 Traumasystem 337 Trauma-Team 338, 339 Traumaversorgung 336 – ABCDE-Schema 340 – Anmeldephase 338 – Patientenübergabe 340 Trendelenburg-Gang 972 Trendelenburg-Hinken 972 Trendelenburg-Test 931 Trendelenburg-Zeichen 402, 712, 972 Treppensteigen mit krankem Bein 108 Triangulofibrokartilaginärer Komplex siehe TFCC Trias, tödliche 336 Trichterbrust 940 Tripelarthrodese 855, 857 Trisomie 923 Trisomie 21 159, 923 TRISS (Trauma Injury Severity Score) 351, 352 Trizepssehne – distale 607 – Reinsertion 606, 607 – Ruptur, distale 607
S–T
1106
Stichwortverzeichnis
Trochanterhochstand 965 Trochanter major – innere Beanspruchung 43 – knöcherner Aufbau 43 – Osteotomie – – bei Kocher-Langenbeck-Zugang 707 – – tangentiale 731 – Zugbelastung 31 Trochlea humeri 556, 575 – ventrale Abkippung 575 TRPV1 70 Trümmerfraktur 362 – intraartikuläre, tarsometatarsale 881 – metatarsale 882 – Talus 889, 890 Tschauner-Hüftinstabilitätstest 933 Tschauner-Kurve 957 Tscherne-Oestern-Frakturklassifikation 366, 367, 384 T-Score, Knochendichte 170, 171 TSS (Toxic shock syndrome) 216, 217 TSS-Toxin 217 Tubby-Operation 857 Tuber calcanei 890, 909 Tuberculum adductorium 804 Tuberculum-majus-Fraktur 547, 548 Tuberculum-minus-Fraktur 547, 548 Tuberkulose 430, 1016 Tuberöse Sklerose 248 Tuberositas – calcanei, Avulsionsfraktur 890, 893 – ossis metatarsalis V 882 – radii 604, 605 – tibiae – – Apophysitis 988 – – Avulsion 1033 – – Osteochondritis 195 – – Schwenkung 994 TUBS 516 Tubulopathie, renale 176 Tumornekrose, chemotherapiebedingte 260, 261 Tumor 242–249 – Ausdehnung, itrakompartimentale 1018 – benigner 242 – Biopsie 244, 1019 – – Standards 245 – Chemotherapie 246 – desmoidaler 1022 – Diagnostik 243, 244, 1018 – entzündungsbedingter 214 – intermediärer 242 – Klassifikation 242 – maligner 242, 1022 – – Anamnese 244 – – Metastasensuche 244 – – Staging 242, 1018
– – Ursprungsgewebe 1022 – neuroektodermaler, primitiver 271 – notochordaler 267 – Pseudokapsel 245 – sakraler 267 – Schmerzanamnese 1018 – sphenookzipitaler 268 – Strahlentherapie 246 – Szintigraphie 1018 – Therapie 245 – unklaren Ursprungs 249 – im Wachstumsalter 1018 Tumorresektion 245 – intraläsionale 245 – marginale 245 – radikale 245 – weite 245, 261, 262, 264, 266–268, 272, 274 Tumorzellen, wasserhell-blasige 265 Tunnelaufnahme nach Frick 768 Turner-Syndrom 923 Typ-l-Kollagen 357 Typ-I-Kollagen-Propeptid 173 Typ-I-Kollagen-Telopeptid im Serum 169 Typ-I-Prokollagen-Propeptid 168
U Übergangsfraktur 1031, 1033 – im Sprunggelenksbereich 1034 Übergangswirbel 409 Übergewicht, Gonarthroserisiko 284, 286 Überlastungsfraktur, kniegelenknahe 989 Überlastungsreaktion 194 Ulnafehlbildung 948 Ulnafraktur 592 – proximale 584–589 – – AO-Klassifikation 585, 586 – – extraartikuläre 586 – – Fragmentdislokation 586 – – intraartikuläre 586 – – intramedulläre Nagelung 588 – – Komplikation 589 – – Mayo-Klassifikation 586 – – mehrfragmentäre 585 – – Oberarmgips 587 – – Operation 587 – – Plattenosteosynthese 588 – – Schatzker -Klassifikation 586 – – Unfallmechanismus 586, 587 – – Zuggurtungsosteosynthese 587, 597 – bei Radiusfraktur 674, 675 Ulnagelenkfläche, proximale 556 Ulnahypoplasie 952 Ulna-Minus-Variante 649
Ulna-Plus-Variante 649, 675 Ulnaquerfraktur 587 Ulnardeviation der Finger 324 Ulnarisdekompression 560 Ulnaschaftfraktur mit Radiusschaftfraktur siehe Unterarmfraktur Ulnaschrägfraktur, proximale 587 Ulnaverkürzungsosteotomie 675 Ulnohumeralgelenk 557 Ultraschalltherapie 133, 134 – Indikation 134 Umkehrplastik nach Borggreve 88, 1023 Umlagerung 106 Umstellungsosteotomie – Femurkopfnekrose 191 – Gonarthrose 775, 776 – Morbus Blount 196 – Sprunggelenkarthrose 872 Unfallbild, Direktübertragung 10 Unfall 1047 Unfallversicherung – gesetzliche 1038, 1044–1046 – – Beweisanforderungen 1045, 1046 – – Kausalitätstheorie 1045 – – konkurrierende Schadensursachen 1045 – – Leistungen 1044 – private 1044, 1047 – – Leistungen 1047, 1048 Unfallversicherungsträger 1054 Unkotomie 460 Unterarm – Gefäßverlauf 592 – Grünholzfraktur 1026 – Kompartmentsyndrom 589, 597 – Logendruckmessung 592 – Nervenverlauf 592 – Röntgenaufnahme 593 – Zugang 593 Unterarmamputation 67 Unterarmfehlbildung, transversale 950 Unterarmfraktur 589, 674 – AO-Klassifikation 590, 670 – Fixateur externe 594 – intramedulläre Osteosynthese 594 – beim Kind 1031 – komplette 596 – Komplikation 597 – konservative Therapie 593 – Operation 593 – ossäre Defekte 597 – Plattenosteosynthese 594 – Reposition 595 Unterarmgehstütze 291 Unterarmknochenaplasie 949 Unterarmpronation 616 Unterarmpseudarthrose 598
1107 Stichwortverzeichnis
Unterarmrefraktur 598 Unterarmrotation 589 Unterarmstumpf – Prothesenversorgung 81, 83 – ultrakurzer 67 Unterarmsupination 616 Unterarmverriegelungsnagel 594 Unterguss 125 Unterschenkel, distaler, Epiphysenfraktur 1027 Unterschenkelamputation 65 Unterschenkelentlastungsorthese 90 Unterschenkelfraktur – distale 825 – Fibulaversorgung 825 – geschlossene 822, 824 – Komplikation 825 – offene 822 – Reposition 825 Unterschenkelknochenaplasie 949 Unterschenkelkompartiment 374 Unterschenkelkompartmentsyndrom 821 Unterschenkelkurzprothese 87 – Liner-Technik 87 – Weichwandschafttechnik 87 Unterschenkelorthese 209 Unterschenkelprothese 87 – Fuß 84 – mit Oberschaft 88 – Sprintfuß 85 Unterschenkelverkrümmungen im Kleinkindesalter 994 Untersuchung, kinderorthopädische 930, 931 Untersuchungsbefund, gutachterlicher 1039 Untersuchungstechnik, apparative, gutachterliche 1040 Unterwassermassage 130 Urethraverletzung 341 Urheberrecht, Gutachten 1041 Urogenitaltraktverletzung bei Beckenringfraktur 699
V VACOped 91 Vakuumphänomen, radiologisches 436 Vakuumstützorthese 90 Vakuumversiegelung 386 Valdecoxib 71 Valgusgonarthrose 326, 776, 777 Vallaix-Druckpunkte 442 Vancouver-Klassifikation periprothetischer Femurfrakturen 50
Varusgonarthrose 776, 777 Varus-valgus-constrained-Kniegelenktotalendoprothese 224 Vaskulitis 310 Vena – cephalica 485 – epiphysealis 1012 Vencouver-Typ-B1-Fraktur 50 – radiologischer Verlauf 52 Vencouver-Typ-B2-Fraktur 50 Vencouver-Typ-B3-Fraktur 50 Vencouver-Typ-C-Fraktur 50, 51 Verbrennung 661, 662 – Antibiotikatherapie 222 – Pseudomonas-aeruginosa-Infektion 221 Verbrennungsgrad 662 Verformung – elastische 31, 34, 39–41, 46 – plastische 37, 46 Verkalkung – ektope 168 – extraossäre 179 Verlagerungsoperation bei Plexus-brachialis-Parese 208 Verlängerungsosteotomie 150 Verletzung 4 – elektrische 662 – Schweregradeinteilung 351 – urogenitale 351 – Versorgung, Entscheidungsprozess 4 Verletzungsbild, Direktübertragung 10 Vermessung, ganganalytische 97 Verriegelungsmarknagel, anterograder 749 Verschlimmerung einer Gesundheitsstörung 1046 Verschlusskrankheit, arterielle, periphere 866 Version 972 – femorale 973 – tibiale 972, 973 Vertebra plana 277, 425 Vertebra-prominens-Wand-Abstand 433 Vertebroplastie 173, 472 Verweisungsberufe bei Berufsunfähigkeit 1049 Verzerrung 35 Vestibulokochlearisschwannome, beidseitige 158 Vibration 129 Vickers-Verfahren 35, 38, 626 Vierer-Zeichen 442 Viskoelastizität 38, 47 Vitamin D 165, 177, 179, 181 Vitamin D3 – Bedarf 176 – Konzentration im Serum 176
T–W
– Metabolisierungsstörung 175, 178 Vitamin-D-Mangel 167, 171, 175 Vitamin-D-Mangel-Rachitis 985 Vojta-Therapie 120, 121 Volkmann-Dreieck, Fraktur 906 Vollbad 126 – hydroelektrisches 132 Vollblitzguss 125 Vollguss 126 Vollhauttransplantation 661 Volumenersatz 340, 343 Volumenersatztherapie, bedarfsgerechte 344 Vorderhornzellendegeneration 207 Vorfuß 832–835 – Belastungsaufnahme 833 – Plantarflexionsstellung 855 – Pronation 833, 834 – rheumatischer 859, 861 – Röntgenaufnahme 835 – Rotationsbewegung 877 – Säulenmodell 879 – Supination 833, 834, 877 – Supinationskontraktur 327 Vorfußbereich, Amputation 64, 858 Vorfußdeformität 996 – rheumatische 328, 843, 845, 861 Vorfußkorrektur, komplexe rheumatische 861 Vorfußpronation 877 Vorfußschmerz 859 Vorknorpel, mesenchymaler 925
W Wachshaut 238 Wachstumsberechnung 978 Wachstumsbeurteilung 930 Wachstumsfaktoren, Knochenbildung 164, 165 Wachstumsfugenknorpel 1027 Wachstumsfugenverletzung 1026 – dislozierte 1028 Wachstumsregion, epiphysär-metaphysäre 1027 Wachstumsschmerzen 970 Wachstumsunterbrechung 924 Wadenmuskelverlängerung 858 Wadenmuskulatur, Pseudohypertrophie 207 Wadenwickel 126 Wahleingriff 5 Walker-Zyste 206 Wärmetherapie 127 Wartenberg-Syndrom 619, 636, 637
1108
Stichwortverzeichnis
Waterhouse-Friderichsen-Syndrom 220 Watschelgang 176 Watson-Test 618, 678 Weber-Cech-Pseudarthroseneinteilung 377 Weber-Einteilung, Verletzung des oberen Sprunggelenks 903, 904 Wechselbeanspruchung 38 Wechselstrom 132 Wegeunfall 1044, 1045 Weichteilangiome 253 Weichteilchondrom 248 Weichteildeckung, Zeitpunkt 392 Weichteildefekt 660 Weichteilgewebeerkrankung, rheumatische 300 Weichteilinfektion 214 – Antibiotikatherapie 221 – begünstigende Faktoren 214 – Mikrobiologie 217 – Therapieempfehlungen 222 Weichteilmantel, peripatellarer 787 Weichteilmyxom 249 Weichteilosteochondrom 248 Weichteil-Release – bei Armplexusparese 501 – bei Hüftgelenkluxation 210 Weichteilrheumatismus 311 Weichteilsarkom 242, 243 Weichteilschaden 384, 385 Weichteilschwellung – Chondrosarkom, mesenchymales 265 – posttraumatische 375 Weichteiltumor 242 – benigner 243, 247 – – der glatten Muskulatur 248 – – Resektion 245 – chondroossärer, benigner 248 – fibröser 247, 249 – lipomatöser 247, 249 – maligner 249 – – Brachytherapie 246 – – Therapie 245 – – TNM-Klassifikation 243 – neuraler, benigner 247 – bei Osteosarkom 259 – perivaskulärer 248 – synovialer 248 – vaskulärer, benigner 248 Weichteiluntersuchung 301 Weichteilverkalkung 167, 178, 179 Weichteilverletzung 660 – Klassifikation 366 – offene Fraktur 367 Weichwandschafttechnik 87 Werdnig-Hoffmann-Muskelatrophie 207
Werkstoff, metallischer, Kaltverfestigung 37 Wernicke-Mann-Hemiplegie 106, 120 Western and Ontario McMasters University Osteoarthritis Index 289 West-Point-Röntgenaufnahme 499 Wheeless Textbook of Orthopaedics 9 WHO-Stufenschema, Schmerztherapie 70, 72 Wiberg-Klassifikation, Patelladysplasie 992 Wickel 126 Wide Area Packs 9 Widerstandsmoment – äquatoriales 32, 47 – axiales 32, 40, 47 – polares 33, 41, 47 Wilson-Test 768 Windschlagphänomen 999 Winkel, skapholunärer 621 D-Winkel 957 E-Winkel 956, 957 Wirbelbogenosteoblastom 251 Wirbelbogenschlussstörung 143, 926 Wirbeldeckplatteneinbruch 171 Wirbeldislokation, Reposition 472 Wirbeldrehgleiten 441, 446 Wirbelfehlbildung 409, 410 Wirbelfraktur – AO-Klassifikation 467–469 – ASIA-Klassifikation 468 – Denis-Klassifikation 469, 470 – Magnetresonanztomographie 471 – Szintigraphie 408 – thorakolumbale 470 – Ursache 466 Wirbelkompressionsfraktur 362 Wirbelkörper – Berstungsfraktur 467 – – inkomplette 473 – Keilimpressionsfraktur 467, 471, 473 – ovaläre 161 – Rotationsasymmetrie 402 Wirbelkörperchordom 268 Wirbelkörperdeformierung, osteoporosebedingte 172 Wirbelkörperfraktur 425, 474 – Osteodensitometrie 170 – osteoporotische 173 Wirbelkörperhämangiom 256, 257 Wirbelkörpersinterung 171, 173 Wirbelkörperumbau 306 Wirbelmyelom, solitäres 271 Wirbelsäule 402 – Asymmetrie 941 – Beweglichkeit 403 – bidlgebende Diagnostik 941 – Distraktionsverletzung 467
– – – – – – –
Entfaltbarkeit 403 Entwicklung 938 – embryonale 926 Extensions-Distraktions-Verletzung 469 Fehlbildung 409, 410 – Operationszeitpunkt 411 Flexions-Distraktions-Verletzung 469, 474 – Formationsstörung 410 – Inklination 403 – klinische Untersuchung 301 – Klopfschmerz 403, 428 – Kompressionsverletzungen 467, 469 – Lotbestimmung 418 – Magnetresonanztomographie 941 – Reklinationsschmerz 403 – Röntgenaufnahme 941 – Röntgenbild 406 – – Messlinien 406, 407 – Rotationsverletzung 467, 469 – Säulenkonstruktion 450 – Scherkräfte 32 – Segmentationsstörung 410 – Segmentblockierung 419 – Szintigraphie 407 – thorakolumbale 466 – Untersuchung 940, 941 – – beim Kind 931 – Verkürzung, dorsale 427 – Verlängerung, ventrale 427 – Wachstumsverhalten bei Neurofibromatose 157 Wirbelsäulendeformität – Behandlung 211 – Duchenne-Muskeldystrophie 207 – neuromuskuläre Systemerkrankung 211 – Operationsziele 212 – Osteogenesis imperfecta 147, 150 – Osteoporose 172 Wirbelsäulenerkrankung, degenerative 435 – 3-Stufen-Modell 436 Wirbelsäulenfehlbildung 206 – pränatale Diagnostik 412 Wirbelsäulenfunktion, physiologische, Zahnradmodell 116 Wirbelsäulenganzaufnahme 419 Wirbelsäulenmobilisation 123 – hubarme 124 Wirbelsäulenorthese 94 Wirbelsäulentumor 251 Wirbelsäulenverletzung 470 – diskoligamentäre 470 – Erstversorgung 469 – Operationszeitpunkt 471 – Therapie 470 – – Evidenz 472
1109 Stichwortverzeichnis
– Zugang 471 Wolff-Gesetz 30, 45 WOMAC-Score (Western and Ontario McMasters University Osteoarthritis Index) 289 Woodward-Operation 946 Wright-Klassifikation, periprothetische Humerusfraktur 58 Wright-Test 487 Wrisberg-Ligament 803 Wulstfraktur 1026 Wundbehandlung, offene 386 – nach Fasziotomie 914 Wundheilungsstörung 323 – nach Kalkaneusfrakturbehandlung 894 – postoperative 214 Wundinfektion – postoperative 217, 221, 222 – Pseudomonas aeruginosa 221 Wundinfiltration beim Kind 74 Wundkontamination, offene Fraktur 367 Wundverschluss 385, 386 Wurzelreizsyndrom 405 Wurzelsyndrom – lumbales 442 – – Etagendiagnostik 443 – – hohes 442, 443 – pseudoradikuläres 441 Wurzeltod 442
X Xanthom, fibröses, malignes 250 X-Stellung der Beine 762, 763
Y Yergason-Test 489, 491 Y-Fuge 958 Young/Burgess-Klassifikation, Beckenfraktur 690, 691
Z Zahnradmodell, Wirbelsäulenfunktion, physiologische 116 Zahnschlagverletzung 665 Zahnüberzahl 142 Zehenabgang 832 Zehenamputation 64, 88, 323
Zehendeformität 996, 997 Zehenfraktur 873 – dislozierte 874 – mit Nagelbettverletzung 873 – offene 874 Zehengrundgelenk – Arthritis, rheumatoide 326 – Luxation 861 – Subluxation 328, 845 Zehenorthese 90 Zehenrolle 98 Zehenspitzengang 1008, 1009 Zehenstressfraktur 873 Zementiertechnik 725 Zentrum-Ecken-Winkel 957, 958, 974 Zentrum-Erker-Winkel 714 Zentrum-Kollum-Diaphysen-Winkel 957, 974 Zerebralparese, infantile 204, 1008 – Bobath-Therapie 119 Zervikalorthese 94 Zervikalsyndrom 435, 436 Zervikobrachiales Syndrom 437 Zervikobrachialgie 435 Zervikookzipitaler Übergang, Ruhigstellung 94 Zervikozephales Syndrom 437 Zervikozephalgie 435 Zipp-Klassifikation, Chopart-GelenkLuxation 878 Zirkumduktionshinken 972 Zohlen-Test 933 Zohlen-Zeichen 994 Zoledronsäure 181 Z-Plastik 632 – doppelte 626 Z-Score, Knochendichte 170 Zugang – iliofemuraler, erweiterter 708 – ilioinguinaler 707, 708 Zugbelastung 31, 32 Zugfestigkeit 35, 36, 47 Zuggurtungs-Cerclage 656 Zuggurtungsosteosynthese 56 – Patella 56, 788 – Ulna, proximale 587, 597 Zugschraubenosteosynthese 682 Zusatzbezeichnung 10 Zwei-Etagen-Ulnafraktur 596 Zweischalenentlastungsorthese 865 Zwerchfellruptur 348 Zwergwuchs 140 – diastropher 142 – disproportionierter 922 – Morbus Maroteaux-Lamy 162 Zwipp-Klassifikation, Kalkaneusfraktur 891
W–Z
Zylinder, osteochondraler, autologer 189 Zyste – karpale siehe Ganglion – subchondrale 282, 283, 289 Zytostatika 246